Bittschriften Und Gravamina: Politik, Verwaltung Und Justiz in Europa 14.-18. Jahrhundert (Schriften Des Italienisch-deutschen Historischen Instituts in Trient, 19) (German Edition) 3428118499, 9783428118496


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Bittschriften Und Gravamina: Politik, Verwaltung Und Justiz in Europa 14.-18. Jahrhundert (Schriften Des Italienisch-deutschen Historischen Instituts in Trient, 19) (German Edition)
 3428118499, 9783428118496

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CECILIA NUBOLAI ANDREAS WÜRGLER (Hrsg.)

Bittschriften und Gravamina

Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 19

Bittschriften und Gravamina Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14. -18. Jahrhundert)

Herausgegeben von

Cecilia Nubola Andreas Würgler

Duncker & Humblot . Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient Petizioni, ,gravamina' e suppliche nella prima eta moderna in Europa/ Petitionen, Gravamina und Suppliken in der frühen Neuzeit in Europa Tagungen Trient, 25. - 26. November 1999 Trient, 14. - 16. Dezember 2000

Leiter der Tagungen Ceci1ia Nubo1a Andreas Würgler

Italienische Ausgabe Suppliehe e "gravamina". Politica, amministrazione, giustizia in Europa (secoli XIV -XVIII) (Annali dell'Istituto storico ita1o-germanico in Trento. Quademi, 59) i1 Mulino, Bologna 2002

Übersetzungen von Anja Brug Ellen Dilcher Nicole Reinhardt

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 3-428-11849-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis

Cecilia Nubola und Andreas Würgler Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Würgler Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

17

Cecilia Nubola Die" via supplicationis" in den italienischen Staaten der frühen Neuzeit (15.-18. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Erster Teil Bitten und Antworten: die Verwaltung von Suppliken Gian Maria Varanini "An den prächtigen und mächtigen Herrn". Suppliken an italienische Signori im 14. Jahrhundert zwischen Kanzlei und Hof: Das Beispiel der Scaliger in Verona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . "

95

Nadia Covini Die Behandlung der Suppliken in der Kanzlei der Sforza: Von Francesco Sforza bis Ludovico il Moro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 133 Andre Holenstein "Ad supplicandum verweisen". Supplikationen, Dispensationen und die Policeygesetzgebung im Staat des Ancien Regime . . . . . . . . . . 167 Marina Garbellotti Die Privilegien des Wohnsitzes. Suppliken von Bürgern, Einwohnern und Fremden an den Rat von Rovereto (17.-18. Jahrhundert) .... 211

6

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil

Bitten und Beschwerden im Kontext von Recht und Gerichtsbarkeit

Karl Hilrter Das Aushandeln von Sanktionen und Normen. Zu Funktion und Bedeutung von Supplikationen in der frühneuzeitlichen Strafjustiz .. 243 Irene Fosi "Beatissimo Padre". Suppliken und Denkschriften im barocken Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Renate Blickle Interzession. Die Fürbitte auf Erden und im Himmel als Element der Herrschaftsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 293 Dritter Teil

Bitten und Begehren: Konflikte mit Suppliken

Diego Quaglioni "Universi consentire non possunt". Die Stratbarkeit von Körperschaften in der Lehre des gemeinen Rechts ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Christian Zendri »Consuetudo legi praevalet". Gewohnheitsrecht und Gesetz im Kommentar von Ulrich Zasius a D. 1,3,32 . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Angela De Benedictis Bitten, Vereinbaren, Widerstand leisten. Politik als Kommunikation im Frankreich des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Laura Turchi Fürstliches Recht und Gemeinde. Die Ercole II. d'Este vorgelegten kommunalen Statuten (1534-1535) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Harriet Rudolph »Sich der höchsten Gnade würdig zu machen". Das frühneuzeitliche Supplikenwesen als Instrument symbolischer Interaktion zwischen Untertanen und Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Giorgio Politi Gravamina und besondere Charakteristika der europäischen Sozialgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

Einführung Von Cecilia Nubola und Andreas Würgler

"Den Autoritäten zu schreiben", ihnen Bittgesuche und Beschwerden zuzuschicken, ist eine noch heute weit verbreitete Praxis. Sie entspricht dem Bedürfnis, eine unmittelbare und direkte Verbindung zum Inhaber der Amtsgewalt herzustellen. Tatsächlich hat diese Form der Kommunikation ihre Ursprünge in Machtkonzeptionen, in einer seit langem bestehenden "politischen Sprache" und ist in ganz unterschiedlichen Lebensformen und Kulturen zu finden l . Im Zentrum unseres Forschungsinteresses stehen Bittgesuche (Suppliken) und Beschwerden (Gravamina) und somit bestimmte Typen von historischen Quellen, die man zunächst und sehr allgemein gefaßt, als von Einzelnen, Gemeinschaften, Territorialständen, Parlamenten erarbeitete Dokumente definieren könnte, die an die politischen oder religiösen Autoritäten gerichtet waren, um Bitten, Nöte, Klagen und Anzeigen zu formulieren. Gerade die Anpassungsfähigkeit und Verschiedenartigkeit sind für das "System der Suppliken" charakteristisch. In der europäischen Gesellschaft des Ancien Regime stellten Suppliken und Gravamina eines der wichtigsten Mittel der politischen Kommunikation zwischen Regierten und Regierenden im Bereich der Politik, der Institutionen, der Justiz, der Verwaltung und der "Policey" dar2. Das Interesse der Geschichtsschreibung an einer solchen Dokumentation hat sich in den letzten Jahren verstärkt, da sich die Bittschriften und Beschwerden an der Schnittstelle verschiedener Forschungsgebiete befinden: Rechts- und Sozialgeschichte, Religionsgeschichte, Geschichtsschreibung über den "modernen Staat" und die Konflikte sowie Anthropologie, Linguistik und politische Philosophie). R. Zelnick-Ahramovitz, Supplication and Request: Application by Foreigners to the Athenian Polis, in: Mnemosyne, 51 (1998), S. 554-573; 0. Guerod, Enteuxeis: requetes et plaintes adressees au roi d'Egypte au IIIe siede avantJ.-c., Hildesheim 1988; C. Römer, Osmanische Festungsbesatzungen in Ungarn zur Zeit Murads 111.: dargestellt anhand von Petitionen zur Stellenvergabe, Wien 1995; L.5. Roherts, The Petition Box in 18th Century Tosa, in: Journal ofJapanese Studies, 20 (1994), S. 423-458. Vgl. den Aufsatz von A. Holenstein in diesem Band. ) Vgl. dazu die Beiträge von C. Nubola und A. Würgler in diesem Band. Ausgangspunkt der dahingehenden Forschungen bilden in den deutschsprachigen Ländern

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Cecilia Nubola und Andreas Würgler

Man kann eine erste Unterscheidung zwischen zwei Arten von Dokumenten, nämlich den Gravamina auf der einen und den Suppliken auf der anderen Seite, versuchen, wobei sehr wohl Klarheit darüber herrscht, daß jede Form der Klassifizierung zur Vereinfachung und zur Verkürzung neigt. Vor allem bezüglich Verfassern und Inhalten, Adressaten und Zielen lassen sind einige Unterschiede feststellen 4 • Die Gravamina wurden anläßlich bestimmter institutioneller Momente formuliert - vor oder zu Parlamentssitzungen, Landtagen und Reichstagen oder im Rahmen von Verfahren und Einrichtungen der Gemeinden; sie waren an die obersten Autoritäten - Fürsten, Souveräne, Territorialherren - gerichtet, um die Anerkennung oder die Abänderung von Gesetzen, Vorschriften, Erlassen oder sogar die Befreiung, ein Privileg, die Anerkennung von Freiheiten oder Verträgen einzufordern. Gravamina wurden kollektiv getragen und behandelten vorwiegend Probleme, die als von allgemeinem Interesse betrachtet wurden oder von besonderer Bedeutung für bestimmte Gesellschaftsschichten waren. Zugleich weist der Begriff Gravamina auf Beschwerden und Anfragen hin, die anläßlich von Aufständen und Erhebungen in den Städten oder auf dem Land oft in Form von Listen formuliert wurden.

Im Gegensatz dazu entstanden Suppliken (oder Supplikationen) für gewöhnlich unabhängig von bestimmten institutionalisierten Anlässen oder Phasen größerer Auseinandersetzungen (Aufständen); vielmehr wurden sie von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen, die sich ad hoc gebildet hatten, verfaßt; darin die Aufsätze von C. Ulbrich und 0. Ulbricht in: W Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte?, Berlin 1996, sowie die Aufsätze von R. Blickle, R. Fuhrmann, B. Hodler, A. Holenstein, B. Kümin, A. Würgler in: P Btickte (Hrsg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa (Historische Zeitschrift. Beihefte, 25), München 1997. In Hinsicht auf die Sozialgeschichte vom Beginn der Moderne an bis in die Gegenwart, vgl. L.H. van Voss (Hrsg.), Petitions in Social History (International Review of Social History, 46, Supplement 9), Cambridge 2001, im besonderen die Aufsätze von A. Würgter, Voices from among the "Silent Masses". Humble Petitions and Social Conflicts in Early Modern Central Europe, S. 11-34, sowie C. Nubola, Supplications between Politics andJustice: The Northern and Central Italian States in the Early Modern Age, S. 35-56. In Hinsicht auf England, vgl. B. Kümin / A. Würgter, Petitions, Gravamina and the Early Modern State: Local Influence on Central Legislation in England and Germany (Hesse), in: Parliaments, Estates, and Representation / Parlements, Etats et Representation, 17 (1997), S. 39-60; D. Zaret, Origins of Democratic Culture. Printing, Petitions, and the Public Sphere in Early Modern England, Princeton NJ 2000. In bezug auf Frankreich, vgl. A. Farge / M. Foucautt, Le desordre des familles. Lettres de cachet des Archives de la Bastille, Paris 1982; speziell für die Cahiers de doleances P Grateau, Les Cahiers de doleances. Une relecture culturelle, Rennes 2001. A. Würgter, Suppliken und Gravamina. Formen und Wirkungen der Interessenartikulation von Untertanen in Hessen-Kassel 1650-1800, in: S. Wein/urter / M. Sie/arth (Hrsg.), Geschichte als Argument. 41. Deutscher Historikertag in München, 17.-20. September 1996, München 1997, S. 105-106; A. Würgler, in diesem Band.

Einführung

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wurden den Autoritäten, von der nahegelegendsten, wie etwa dem städtischen Rat, bis zur entferntesten in Form des Herrschers oder der Zentralverwaltungen, bestimmte Bedürfnisse unterbreitet, verbunden mit der Hoffnung auf unmittelbare Hilfe: wirtschaftliche Unterstützung, einen Arbeitsplatz, eine Verwaltungserlaubnis, die Minderung oder den Erlaß einer Strafe, das Eintreten gegen Mißbräuche und Ungerechtigkeiten. Letztlich konnte jeder Aspekt des persönlichen, wirtschaftlichen, sozialen, politschen und kulturellen Lebens von Individuen und Gruppen Gegenstand eines Bittgesuchs werden. Betrachtet man die via supplicationis als Grundlage zum Verständnis einiger Kommunikationsformen zwischen Regierenden und Regierten, die auf jeder Ebene der Macht tief eingefügt ist, offenbart sich sofort und unmittelbar, daß diese Thematik viele mögliche Zugänge miteinander verbindet. Um diese Themen zu vertiefen, wurde 1998 im Centro per gli studi storici italo-germanici in Trento (ITC-isig) das Forschungsprojekt "Petizioni, ,gravamina' e suppliche nella prima eta moderna in Europa (secoli XIV-XVII!)" ("Petitionen, ,gravamina' und Bittgesuche zu Beginn der Modeme in Europa [14.-18. Jahrhundert]") ausgearbeitet und anschließend als von Cecilia N ubola (ITC-isig) und Andreas Würgler (Historisches Institut der Universität Bern) koordiniertes Projekt weiterentwickelt. Dazu hielt das Institut zwei Tagungen ab (25.-26. November 1999 und 14.-16. Dezember 2000), deren Beiträge im vorliegenden Band vereint sind. Die Supplik setzt die Annahme ungleichmäßiger Machtbeziehungen voraus, erkennt die Distanz zwischen Regierten und Regierenden an, präsentiert sich als demutsvolle Bitte, um von seiten des Fürsten ein ,gnädiges' Zugeständnis, ein Vorrecht zu erhalten oder gar eine wohlwollende und väterliche Intervention zu erreichen, wobei die eigene Unfähigkeit, Ohnmacht und Armut stets akzeptiert wird. So wie das demütige Verhalten auf der Ebene des Einzelnen die Anerkennung der Hierarchie der sozialen Rangordnung oder der Geschlechterrollen als vorbestimmt und ,natürlich' implizieren kann, so kann es auf der Ebene der Gemeinschaft Zeichen der Annahme und Anerkennung der Herrschaft sein. Zwar gibt es eine Anwendung des "demutsvollen Anflehens", die rein rhetorisch und Mittel zum Zweck ist: Aber hinter den kodifizierten und offensichtlich immer gleichen Notariatsformeln, die in schematisierter Rechts- oder Verwaltungssprache gehalten sind, können sich aus politischer und sozialer Sicht innovative oder gar "revolutionäre" Vorschläge verbergen. Folglich wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise sich im Laufe der Zeit das Verhältnis zwischen Supplik als Zugeständnis des Herrn und Supplik als Recht des Bittenden äußert. Mit anderen Worten gilt es herauszufinden, wie die Bittschrift innerhalb von Gesetzen, Verordnungen, Justiz- oder Verwaltungsvorgängen Anerkennung erfährt und formalisiert wird. Und wie sie umgekehrt in gewisser Weise in kein klar kodifiziertes Verfahren integriert ist,

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Cecilia Nubola und Andreas Würgler

umso mehr da sie einen geschützten, der Herrschaft, der Ermessensfreiheit, dem politischen ,Nutzen' vorbehaltenen Bereich bildet. Dementsprechend verweisen die rhetorischen Formen auf die textlichen Aspekte des Dokuments. Tatsächlich werden Sprache und Aufbau der Bittschriften vom Gebrauch von kodifizierten und stereotypen Formeln und Formularen beeinflußt, die im Laufe mehrerer Jahrhunderte nur wenig variiert werden 5 • Trotz formaler Gestaltung offenbart der Inhalt dieser Dokumente sehr wohl Wahrheit und Unmittelbarkeit, auch wenn nicht davon auszugehen ist, daß man ihnen die Umstände, die Geschehnisse dergestalt entnehmen kann, wie sie geschehen sind. Die Analyse bestimmter Dokumententypen wie Bittgesuche und Petitionen muß demnach den Problemen der Quellenhermeneutik Rechnung tragen 6• Aus diesen Gründen müssen die Texte innerhalb der sozialen Zusammenhänge, der institutionellen Abläufe, der symbolischen - oder in hohem Maße praktischen - Modalitäten von Auseinandersetzungen eingeordnet werden, und es gilt zu beachten, wer schreibt und an wen die Schreiben gerichtet sind, zumal sich mit der Änderung der Bezugsperson und des Vorgehens, auch die Strategien wandeln, mittels derer man Antworten erwirken wollte, die den vorher festgelegten Zielen möglichst nahe kamen7 • So scheint es, als könnten wir in diesem Zusammenhang eine Bemerkung von Antonio Marongiu heranziehen, die in eindrucksvoller Weise die Bedeutung von .supplica" in vielen Dokumenten des 16. und 17. Jahrhunderts durch Beispiele erläutert: •... im übrigen wird die ,Petition of Rights', die auch ein ausdrücklicher Akt der Anklage und des Protestes gegen die Regierung und somit gegen den gleichen Herrscher ist, im englischen Parlament des Jahres 1628 wie eine ,demütige Bitte' vorgelegt"8. 5 Bezüglich der Bedeutung des römischen Rechts und der päpstlichen Kanzlei im Zusammenhang mit der Herausbildung der Terminologie, der Praxis des Erbittens und mit der Entstehung der von Kanzleien und staatlichen Institutionen rezipierten Vorbilder, siehe H. Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1975. Was die Verwaltung der Bittschriften in der päpstlichen Kurie betrifft, siehe auch die Beiträge von 1. Fosi und C. Nubola in diesem Band. 6 Ein beispielhafter Fall von tiefgreifender .Entmystmzierung" des .wahrheitsgemäßen" Inhalts des Dokuments offenbart sich in den an den französischen Souverän gerichteten Gnadengesuchen, die von NZ. Davis, Fiction in The Ar~pives. Pardon Tales and Their Tellers in Sixteenth-Century France, Stanford 1987 (dt. Ubers.: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin 1988) untersucht worden sind. Vgl. die Diskussion zu diesem Thema bei A. Würgler, in diesem Band. Vgl. die Beiträge von H. Rudolph und G. Politi in diesem Band. 8 •.•. del resto, e presentata come ,umile preghiera' nel parlamento inglese del 1628 la ,Petizione dei diritti' che pure e un esplicito atto di accusa e di protesta contro il governo ed anzi contro 10 stesso sovrano", A. Marongiu, J ean Bodin e la polemica sulle assemblee di ,stati', in: ders., Dottrine e istituzioni politiche medievali e

Einführung

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Der durch die Bittschriften gebildete, besondere Beobachtungswinkel erlaubt die Vergegenwärtigung wichtiger Aspekte der Struktur der Institutionen: Entstehungsprozesse, Rationalisierung, Ausweitung der Befugnisse einzelner Sekretäre, von Kanzleien und Verwaltungs-beziehungsweise Justizapparaten. Diese Entwicklung bringt oft stattliche, oft bruchstückhafte und zerstreute Hinterlassenschaften in Form von Dokumenten und Archivrnaterial mit sich. Viele Texte des Bandes bringen genau die vordringliche Notwendigkeit und zugleich die Schwierigkeit ans Licht, die Archivbestände zu rekonstruieren und ,virtuell' oder in der Praxis wieder zusammenzufügen, ihre Herkunft, die Ämter und Institutionen, auf die sie sich beziehen, zu bestimmen und Dokumentteile zu verbinden, die dieselbe ,Praxis' betreffen, aber von gleichzeitigen oder späteren ,Archivneuordnungen' zerstreut wurden9 . Die Bestimmung der Kompetenzen der einzelnen Ämter und eine deutlichere Trennung von Politik, Verwaltung und Justiz, ebenso wie die Regelung des Weges der Bittschriften - die die Modalitäten von ,Fragen' und ,Antworten' präzisiert - sind Jahrhunderte dauernde Prozesse. Deshalb erscheint es wichtig, innerhalb der definierten historisch-institutionellen Zusammenhänge Abläufe aufzuzeigen, die ausgehend von den spätmittelalterlichen Kanzleien lo zur Verwaltung des 18. Jahrhunderts (Policey)ll führen, und die Verbindungen auszumachen, die die Fähigkeit der Durchdringung und deren Kontrolle in immer zahlreicheren Bereichen des täglichen Lebens mit dem Anwachsen der Gesetzgebung und mit der Zunahme der Bittschriften verknüpfen. Unterschiedliche viae supplicationis geben einerseits die spezifische Machtorganisation und deren Aufsplitterung in vertikaler oder horizontaler Richtung und andererseits den Grad der Bürokratisierung in der Verwaltung wieder 12 • Auf solche Weise sollten auch die Bittschriften als integrierender Bestandteil der Justizpraxis betrachtet werden, umso mehr als sie direkt in jede Phase des Zivil- oder Strafprozesses eingreifen: Entsprechend kann von einer Bittschrift ein Strafverfahren ausgehen; die Bittschrift wird dazu genutzt, Beschwerden hinsichtlich Gliederung und Verlauf eines Prozesses sowie der Vollstreckung der Strafe vorzubringen. Mit Hilfe der direkt an den Fürsten - oder an die je nach Schwere der Straftat zuständigen Gerichte - adressierten Gnadengemoderne. Raccolta, Mailand 1979, S. 342, Anm. 39. Das Zitat ist dem Beitrag von A. De Benedictis in diesem Band entnommen. Vgl. die Beiträge von G. Varanini, N. Covini, I. Fosi, L. Turchi in diesem Band. 10 Vgl. die Beiträge von G. Varanini und N. Covini in diesem Band. 11 Vgl. den Beitrag von A. Holenstein in diesem Band. 12 Vgl. A. Würgter, Suppliche, istanze, e petizioni alla Dieta della Confederazione svizzera nel XVI secolo, in: C. Nubota / A. Würgter (Hrsg.), Suppliehe e »gravamina". Politica, amministrazione, giustizia in Europa (secoli XIV-XVIII), (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 59) Bologna 2002, S. 147-175.

Cecilia Nubola und Andreas Würgler

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suche ist es nach dem Urteilsspruch möglich, Straferlaß oder noch einfacher Strafminderung zu erhalten 13. Die Supplik ist keineswegs auf die Form der persönlichen, direkten Beziehung zwischen einem Bittenden (oder einer Gruppe Bittender) und der Autorität beschränkt. Die Fürbitte (Interzession), das heißt die Bittschrift, die zu Gunsten anderer, insbesondere als Intervention vorgebracht und versandt wurde, um im Bereich der Strafjustiz Gnade zu erlangen, eröffnet die Möglichkeit, den darin eingeschlossenen weitreichenden Zusammenhang familiärer, sozialer sowie politischer Natur hervorzuheben: zunächst die Familie des Angeklagten, die Nachbarschaft, die gesamte Gemeinschaft, die örtlichen Autoritäten l4 . Fürsprecher, männliche und oft auch weibliche Schutzherrn, Vermittler, Persönlichkeiten oder pressure groups schritten je nach deren eigener Rolle und der eigenen sozialen Stellung auf ganz unterschiedliche Arten und auf verschiedenen Stufen und Ebenen des Supplikationsverfahrens ein l5 • Einer der möglichen Gesichtspunkte, unter dem sich Suppliken und Gravamina im Bereich von Verwaltung, Justiz und Politik verbinden lassen, ist die Methode des Aushandelns und Vereinbarens. Aushandeln und Vereinbaren, negoziare und pattuire, bilden die Grundlage: sei es für die persönlichen Beziehungen mit der Autorität (der private Bittbrief an den Fürsten oder an die städtischen Räte), sei es für das Verhältnis mehr institutioneller Natur zwischen verschiedenen Autoritäten ebenso wie innerhalb unterschiedlicher Autoritätsebenen (die Gemeinden mit dem Fürsten, die Stände bei Versammlungen). Es wurden Normen, Strafen, Urteile im Gebiet von Verwaltung und Justiz verhandelt und Rechte, Privilegien, Zugeständnisse im juristisch-politischen Bereich vereinbart. Politische Konzeptionen in der Art von Abmachungen und Verträgen bilden im Ancien Regime das Fundament der Gesellschaft ebenso wie der sozialen und politischen Beziehungen. In diesem Zusammenhang stellen Bittschriften ein hochbedeutsames Instrument zur gewaltlosen Lösung von Konflikten zwischen Fürsten, Körperschaften und Gemeinden dar l6 . 13

Band.

Vgl. die Beiträge von di N. Covini, K. Härter, I. Fosi, H. Rudolph in diesem

Vgl. den Beitrag von R. Blickle in diesem Band. Vgl. die Beiträge von di I. Fosi und R. Blickle in diesem Band. 16 Die allgemeinere Thematik der Bedeutung von Suppliken und Gravamina innerhalb der Prozesse der "politischen Kommunikation" wurde anläßlich des dritten Kongresses des Projekts "Petizioni, ,gravamina' e suppliche nella prima eta moderna in Europa (secoli XIV-XVIII)" behandelt, der vom 29. November bis 1. Dezember 2001 in Trient stattgefunden hat, vgl. den Tagungsband C. Nubota / A. Würgter (Hrsg.), Forme della comunicazione politica in Europa nei secoli XV-XVIII. Suppliche, gravamina, lettere / Formen der politischen Kommunikation in Europa vom 15.-18. Jahrhundert. Bitten, Beschwerden, Briefe (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. ContributilBeiträge, 14), Bologna / Berlin 2004. 14

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Einführung

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Die verschiedenen Arten von Bittschriften, sowohl jene eher alltäglichen wie auch jene mit komplexeren politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Inhalten, setzen - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - die Anwendung von Verhandlungs- und Tauschstrategien voraus, innerhalb derer der Bittsteller eine aktive Rolle spielt. Freilich sind die Grenzen des Tausches gleichermaßen wie der juristisch-politische Rahmen, innerhalb dessen Vereinbarung und Verhandlung stattfinden können, in gewisser Weise von den Autoritäten vorbestimmt und werden im Laufe der Zeit zunehmend reduziert und nachhaltig in Frage gestellt; indes ist der Raum des politischen Tausches nicht unveränderlich, und wenn Verhandlung die Autorität stärkt, kann sie auch die Gemeinden und die Stände festigen. Solchermaßen wurde in den Herzogtümern der Este um die Mitte des 16. Jahrhunderts etwa das Verhältnis zwischen dem Fürsten und den Gemeinden verschiedentlich über die Vorlage und die Verhandlung der Verträge definiert, die zahlreiche - in Form von Petitionen und Bittschriften präsentierte - Gesuche enthielten: die Bestätigung der Statuten und Privilegien, der Erlaß der Schulden, die Befreiung von einigen Abgaben, Steuerentlasten, Begnadigungen und Aufhebung von Urteilen, die während der vorhergehenden Herrschaft ausgesprochen worden waren l7 • Es sind nicht allein die Korporationen und die Institutionen, die ihre Vorrechte verteidigen. Gleichermaßen sind sich Männer und Frauen der verschiedensten sozialen Schichten bewußt, daß sie Privilegien erbitten (und erhalten) können, die auf dem Status, auf dem Beruf, auf der Rechtslage gründen. So erlaubt es etwa die Rechtslage eines »Bürgers", - im Gegensatz zu den einfachen Bewohnern oder den Fremden -, Rechte oder bevorzugte Behandlung zu erbitten bzw. zu fordern 1K • Unterschiedliche Formen des Aushandelns oder der Vereinbarung bilden die Basis des Rechtssystems. Die Erlangung einer »Gnade" ist nicht einfach das Zugeständnis einer Gunst oder eines Erlasses, sondern der Handel mit Strafen im Bereich des Zivil- und Strafrechts l9 • Abmachen und Vereinbaren konstituieren die Grundlagen der sozialen Ordnung und des Zivillebens; als solche können sie nicht als vom Fürsten nach Belieben widerrufbare »Privilegien" betrachtet werden, vielmehr entsprechen sie einer elementaren Verpflichtung der Justiz (die Einhaltung der Verträge bezeichnet eine wichtige Demarkationslinie, die den gerechten Fürsten vom Tyrannen unterscheidet)20. Gerade auf dem Gebiet der Verteidigung oder der Verweigerung von Vereinbarungen und Verträgen als grundlegender KommuVgl. den Beitrag von L. Turchi in diesem Band. Vgl. den Beitrag von M. Garbellotti in diesem Band. 19 Vgl. den Beitrag von K. Härter in diesem Band. 20 M. Turchetti, Tyrannie et tyrannicide de I'antiquite a nos jours, Paris 2001. 17

1K

Cecilia Nubola und Andreas Würgler

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nikationsform zwischen Fürst und Untertanen schärfen sich die Waffen des politisch-juristischen Denkens zu Beginn der Moderne21 • Den Gravamina kommt nicht nur innerhalb der gewöhnlichen politisch-legislativen oder rechtlichen Abläufe, sondern auch bei Revolten und Erhebungen eine große Bedeutung zu, da sie die Notwendigkeit des Ungehorsams und des Aufstands begründen und rechtfertigen, die Forderungen der Revoltierenden den Autoritäten darlegen, - wenn nicht gar eine "Weltsicht" , eine politische Kultur im weiteren Sinne ausdrücken. Demgemäß ergeben sich die ThemensteIlungen bezüglich der Verhältnisse zwischen Suppliken und Gravamina einerseits, und Widerstand und Aufbegehren andererseits. Fehlende Anerkennung der Vereinbarungen und Verträge, als ungerecht und schädlich für Rechte, Privilegien, Traditionen betrachtete Handlungen, letztlich die Forderung nach dem Prinzip consuetudo legi prevalet 22 und schließlich die vergebliche Ausschöpfung der normalen und gesetzlichen Wege des Widerspruchs oder der Verhandlung: Dies sind einige der Gründe, die den Aufstand, den Widerstand gegen die Autorität rechtfertigen können23 • Gemeinhin wird die Anwendung von Gewalt als ultima ratio präsentiert und von den Protagonisten in die unmittelbare Folge nach der Einbringung der Gravamina gestellt, als äußerste, aber unvermeidbare Ausdrucksform des Protestes24 • Umgekehrt erweist sich aus Sicht der Autoritäten die Majestätsbeleidigung als schrecklichstes Verbrechen, ein immer umfassenderes, weitreichenderes Vergehen, das genutzt wird, um jede Form und jeden Ausdruck des Protestes oder des Dissidententurns zu verfolgen und zu unterdrücken 25 . Genau in diesem Zusammenhang, in der Bestimmung der Beziehungen zwischen Fürst und Gemeinschaft wird das Problem entscheidend, ob es zulässig ist, eine ganze Gemeinschaft für einen Aufstand zu bestrafen - mit anderen Worten das Problem des Verhältnisses zwischen individueller und gemeinschaftlicher strafrechtlicher Verantwortung. In der Zeit des Umbruchs vom Vgl. den Beitrag von A. De Benedictis in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Ch. Zendri in diesem Band. 23 Zancarini (Hrsg.), Le Droit de resistance XIIe-XXe siede, Fontenay-St. Cloud 1999; A. De Benedictis / K.-H. Lingens (Hrsg.), Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.-18. Jahrhundert) / Sapere, coscienza e scienza nel diritto di resistenza (XVI-XVIII sec.), (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 165) Frankfurt a.M.2003. 24 P. Blickle (Hrsg.), Resistance, Representation, and Community (The Origins of the Modern State in Europe, 13th-18th Centuries, E), Oxford 1997. Vgl. auch H. Rudolph in diesem Band. Das Verhältnis zwischen Suppliken/Gravamina und Revolten war Thema des 4. Kongresses, der vom 23. bis 25. Januar 2003 in Trient stattgefunden hat. 25 M. Sbriccoli, Crimen laesae maiestatis. Il problema del reato politico alle soglie della scienza penalistica moderna, Mailand 1974. 21

22

rc.

Einführung

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Mittelalter zur Modeme setzt sich das rechts politische Denken mit Thematiken von unmittelbarer Dringlichkeit auseinander - wozu jene der Definition der Gemeinschaft, der konkreten und symbolischen Formen der Gemeinschaftsentscheidungen zählen, die Akte des Widerstands ausgelöst haben (von der Mehrheit der zusammengekommenen Mitglieder getroffene Entscheidungen, das Läuten der Glocken und anderes), wie auch jenes schwerwiegende Problem der Bestrafung Unschuldige~6. An dieser Stelle möchten wir uns bei allen Personen bedanken, die auf unterschiedliche Weise an der Forschungsgruppe "Petitionen, Gravamina und Suppliken in der Frühen Neuzeit in Europa 04.-18. Jahrhundert}" / "Petizioni, ,gravamina' e suppliche nella prima eta modema in Europa (secoli XIV-XVIII)") teilgenommen haben und die im Laufe der Seminare, ebenso wie während der Begegnungen und Diskussionen zur wissenschaftlichen Konzeptualisierung des Projektes und zu seiner Verwirklichung beigetragen haben. Aufrichtiger Dank geht an Paolo Prodi für die Forschungsperspektiven, die er im Verlauf der Seminare eröffnet hat, die für uns eine entscheidende wissenschaftliche Referenz darstellten. Besonderer Dank geht an Diego Quaglioni und an das Dipartimento di Scienze Giuridiche dell'Universita degli Studi di Trento für den wissenschaftlichen Beitrag und die finanzielle Unterstützung der Konferenz im Jahre 2000. Danken möchten wir Mario Sbriccoli, Germano Gualdo, Daniele Marchesini sowie Paola Repetti, deren Beiträge, auch wenn sie nicht in diesen Kongressakten eingeschlossen sind, die Seminare und die im Band enthaltenen Aufsätze belebt und angeregt haben. Im Vergleich zur italienischen Version des Tagungsbandes sind zwei Änderungen anzuzeigen: Einerseits fehlt der Beitrag von Andrea Griesebner, weil er schon auf Deutsch veröffentlicht wurde27 ; andererseits wurde der Beitrag von Andreas Würgler zur zweiten Tagung (2000) ersetzt durch jenen der ersten Tagung (1999), der auf Italienisch in den "Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento" erschienen ist2K • Damit einher geht unser Dank an das Redaktionsteam: Adalberta Bragagna, Friederike Oursin, Chiara Zanoni Zorzi. Zuletzt gilt es Giorgio Cracco, dem Direktor des Centro per gli studi storici italo-germanici in Trento, unseren Dank ausdrücken. Er hat das Projekt 2(,

Vgl. den Beitrag von D. Quaglioni in diesem Band.

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A. Griesebner, .In via gratiae et ex plenitudine potestatis". Strafjustiz und

landesfürstliche Gnadenakte im Erzherzogtum Österreich unter der Enns des 18. Jahrhunderts, in: Frühneuzeit-Info, 11 (2000),2, S. 13-27. 2H A. Würgter, Suppliche e ,gravamina' nella prima eta moderna: la storiografla di lingua tedesca, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, 25 (1999), S. 515546.

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Cecilia Nubola und Andreas Würgler

unterstützt und die Herausgabe der Akten in der Reihe des ITC-isig ermöglicht. Der vorliegende Band ist die Übersetzung des ersten 29 Bandes eines Publikationsprojekts. Im zweiten Band sind die Akten des 3. Seminars der Reihe erschienen, das zum Thema "Bitten, Beschwerden, Briefe. Formen der politischen Kommunikation in Europa 05.-18. Jahrhundert)" im Dezember 2001 stattgefunden hat. Der dritte Band schließlich wird die Beiträge des letzten internationalen Kongresses im Rahmen dieses Projektes enthalten. Er fand vom 23. bis 25. Januar 2003 in Trient statt zum Thema "Praxis des Widerstandes. Suppliken, Gravamina und Revolten in Europa 05.-18. Jahrhundert)".

29 Die italienische Version erschien im November 2002: C. Nubola / A. Wiirgler (Hrsg.), Suppliche e "gravamina". Politica, amministrazione, giustizia in Europa (secoli XIV-XVIII), (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 59) Bologna 2002, 581 S. Die Bände zwei (»Forme della comunicazione politica I Formen der politischen Kommunikation") und drei (in Vorbereitung) enthalten die Beiträge in ihrer jeweiligen Originalsprache (italienisch, deutsch, englisch oder französisch).

Bitten und Begehren Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung

Von Andreas Würgler

Wer nicht befehlen kann, muß bitten. Wer nicht in der Lage ist, eigene Interessen mit Befehlsgewalt durchsetzen zu können, sieht sich gezwungen, Bitten und Begehren zu formulieren. Selbst wenn die Redeanteile zwischen Befehlenden und Bittenden auch in der Frühneuzeit ungleich verteilt gewesen sein dürften, so wird es angesichts der quantitativen Relation zwischen Herrschern und Untertanen nicht überraschen, daß massenhaft Bitten und Begehren geäußert worden sind, von denen eine stattliche Menge als Bittschriften überliefert sind. Solche Suppliken und Gravamina, oder wie sie in der Sprache der Zeit auch immer genannt wurden, sind als Quellen für die Geschichtswissenschaft von großem Interesse, weil sie ein inhaltlich und sozial überaus breites Spektrum von Interessenartikulationen dokumentieren. Die Vielfalt der Inhalte reicht vom alltäglich-banalen, unterwürfig vorgetragenen Gesuch um minimale Steuerreduktion bis zum politisch brisanten, mit bisweilen revolutionärem Pathos formulierten Begehren nach Einführung einer neuen Herrschaftsordnung, vom individuell-privaten Ego-Dokument bis zur kollektiven Wortmeldung angeblich .stummer Massen". Weil alle supplizieren durften - unabhängig von sozialer, ethnischer und regionaler Herkunft, von Alter, Stand und Geschlecht, von Rechtsstatus, Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit - stand die via supplicationis allen Einzelpersonen und Paaren gleichermaßen offen wie allen Arten von Kollektiven. Dementsprechend umfaßt die Bandbreite der sozialen Träger einzelne Arme, Witwen und Waisen ebenso wie ad hoc organisierte Massenbewegungen, informelle Gruppen, Zünfte, Gemeinden und Landstände ebenso wie Adelige, Kleriker, Bauern und Bürger. Dieser Fülle von Trägern und Erscheinungsformen artikulierter Interessen haben verschiedene historisch arbeitende Disziplinen und verschiedenste Richtungen innerhalb der Geschichtswissenschaft ihre - allerdings bisher meist noch eher bescheidene - Aufmerksamkeit gewidmet. Deren Ergebnisse sollen hier zusammengestellt werden. Der folgende Überblick über die deutschspra-

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chige Forschung! der letzten zwanzig bis dreißig Jahre zu Gravamina und Suppliken versucht - wenigstens kursorisch - Rechtsgeschichte, Historische Kriminalitätsforschung, Untersuchungen zur sogenannten "guten Policey", "Gender Studies", Mentalitäts- und Kirchengeschichte, Wirtschafts-, Technikund Kulturgeschichte zu berücksichtigen. Im Zentrum jedoch stehen die Arbeiten zum ländlichen und städtischen Protest sowie zur Ständegeschichte, weil in diesen beiden Feldern die Arbeit mit und die Reflexion über die beiden Quellentypen am intensivsten vorangetrieben wurde2• Nach der begrifflichen Präzisierung der Termini Gravamina bzw. Suppliken und einigen Hinweisen zur Quellensituation im ersten Teil skizziere ich im zweiten kurz die verschiedenen Forschungsfelder. Dann bilanziere ich im dritten Teil die inhaltlichen Erträge dieser Arbeiten im Hinblick auf die Frage nach Für die deutsche Fassung dieses imJ ahr 2000 in italienischer Sprache erschienen Aufsatzes (A. Würgler, Suppliche e ,gravamina' nella prima eta moderna: la storiografia di lingua tedesca, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Tremo / Jahrbuch des Italienisch-deutschen Historischen Instituts in Trient, 25 [1999], S. 515-546) wurde die Bibliographie ergänzt. Dabei wurden nachträglich gefundene Titel mit Erscheinungsjahr bis und mit 1999 in den Anmerkungen stillschweigend an ihrem systematischen Ort hinzugefügt. Titel mit Erscheinungsjahr 2000 folgende hingegen werden im kommentierenden Nachtrag am Schluß des Artikels mitverzeichnet. In der Regel wird nur auf deutschsprachige Titel verwiesen. Für die fortgeschrittene Diskussion über Suppliken und Petitionen vor allem in England vgl. die Hinweise in B. Kümin / A. Würgler, Petitions, Gravamina and the Early Modern State: Local Influence on Central Legislation in England and Germany (Hesse), in: Parliaments, Estates, and Representation / Parlements, Etats et Representation, 17 (1997), S. 39-60. 2 Jedenfalls so weit ich sehe. Allerdings stammt der letzte breite Überblick zur Protestforschung von 1988: P Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft (1300-1800), München 1988 und die Bibliographie von P Blickle, Bauernunruhen und Bürgerprotest in Mitteleuropa 1300-1800. Forschungsüberblick und Bibliographie, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 126 (1990), S 593 -623. Vgl. allerdings die Hinweise bei A. Holenstein, Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg, München 1996, S. 103-112, sowie W Troßbach, Bauern 1648-1806, München 1993, S. 78-87; M. Weber, Bauernkrieg und sozialer Widerstand in den östlichen Reichsterritorien bis zum Beginn des 30jährigen Krieges, Tle. 1 und 2, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte, 1 (1993), S.11-53, sowie 2 (1994), S. 7-57; P Blickle, Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: W Troßbach / C. Zimmermann (Hrsg.), Agrargeschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 1998, S. 7-32; M. Häberlein, Einleitung, in: M. Häberlein (Hrsg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Sudien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.-18. Jahrhundert), Konstanz 1999, S. 9-32; A. Würgler, Diffamierung und Kriminalisierung von "Devianz" in frühneuzeitlichen Konflikten. Für einen Dialog zwischen Protestforschung und Kriminalitätsgeschichte, in: M. Häberlein (Hrsg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne, S. 317-347, sowie A. Würgler, Art. Soziale Konflikte, in: Historisches Lexikon der Schweiz, im Druck (Elektronische Version: www.dhs.ch); franz. Übersetzung: Conflits sociaux, in: Dictionnaire historique de la Suisse, Bd. 3,2004; it. Übersetzung: Conflitti sociali, in: Dizionario storico della Svizzera, Bd. 3, 2004.

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dem Wert der Quellen für die Analyse von Interessenartikulationen in sozialen Konflikten - gesondert nach Gravamina und Suppliken -, um daran im vierten Teil methodisch-quellenkritische Überlegungen anzuknüpfen. Daraus möchte ich abschließend einige Forschungsperspektiven skizzenhaft entwickeln.

I. Begriffe und Quellen Mit Suppliken und Gravamina werden zwei in der Regel schriftliche Formen benannt, in denen sich Untertanen an Obrigkeiten wenden konnten. Das berühmteste Beispiel für Gravamina dürften die französischen "cahiers de dole an ces " von 1789 sein, die Klagen, Beschwerden und Forderungen der drei Stände in Frankreich. Diejenigen des Dritten Standes wurden an Versammlungen in den Gemeinden zusammengetragen, dann in den Baillages konzentriert und schließlich anläßlich der Etats Generaux neben denjenigen des ersten und zweiten Standes dem König übergeben. Dieses Muster spiegelt bekanntlich die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Praxis ständischer Formen der Repräsentation und Partizipation, wie sie mit Varianten im Detail in ganz Europa in Übung waren. Gravamina im eigentlichen Sinne sind also kollektiv verfaßte Beschwerden, Klagen und Wünsche, die an speziellen institutionalisierten Gelegenheiten - meist Ständeversammlungen - gegenüber der ObrigkeitlRegierung schriftlich formuliert wurden}. Der Begriff "Gravamen" wurde von den Zeitgenossen und in der Geschichtswissenschaft aber auch übertragen auf Klagen und Beschwerden im Kontext schiedsgerichtlicher und gerichtlicher Verfahren, ja sie wurden zum allgemeinen Ausdruck für kollektive Interessenartikulationen von Untertanen (und mediaten Herrschaften) gegenüber der Obrigkeit. Insbesondere wurden auch die in Revolten formulierten bäuerlichen Beschwerden als Gravamina bezeichnet. Hier tritt als Anlaß der Aufstand sozusagen an die Stelle der Ständeversammlung. Typisch ist ihr gehäuftes Auftreten in Form von Listen. In den Quellen finden sich die Termini: Gravamen/Gravamina, Beschwerden, Anliegen, Artikel, Klagpunkte, Beschwerungspunkte, Desideria, Petita, seltener auch Petition oder Supplik, u.a.m. Vgl. J.]. Maser, Von den Teutschen Reichs-Stände Landen ... , Frankfurt am Main 1769, Nachdruck Osnabrück 1967/68, S. 1189 f.: "Landes-Beschwerden" sind "eines Landes habende Gravamina". "Hinwiederum seynd Landes-Beschwerden Klagen derer Land-Stände und Unterthanen über Unterlassung desjenigen, was der LandesHerr, oder die Seinige, nach der Landes-Verfassung zu thun schuldig seynd, oder über Begehung solcher Dinge, welche der Landes-Verfassung zuwider, denen Rechten der Unterthanen nachtheilig, oder sonsten dem Land und dessen Eingesessenen schädlich seynd; worinn also die Land-Stände und Unterthanen ein wahres und völliges Recht haben, zu verlangen, daß der Regent etwas thue oder unterlasse".

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Sehr viel allgemeiner um nicht zu sagen universaler4 sind Suppliken oder Supplikationen - in den Quellen je nach Region und Jahrhundert auch: Bitte, Bittschrift, Bittzettel, Klagzettel, Memorial, Gesuch, Ansuchen, Anbringen, Vorstellung usw., in der Schweiz auch Ansprache genannt. Die seit dem 18. Jahrhundert gesammelten Rechtssprichwörter behaupten gar: "Supplizieren und Appellieren ist niemand verboten"5. Die Rechtsgeschichte unterscheidet der Sache nach Gnaden- von Justizsuppliken 6, woran sich aber weder die Termini in den Quellen noch die Forschung halten. Bei Gnadensuppliken handelt es sich um individuelle oder auch kollektive Bitten an Höhergestellte - sehr oft den Landesherrn - um eine Gunst, Gnade oder Hilfe. Justizsupplikationen dagegen beziehen sich auf rechtliche oder administrative Belange und richten sich in der Regel gegen einen Gegner, sei e!; in einem extrajudizialen Verfahren, sei es im Sinne eines römisch-rechtlich formalisierten Rechtsmittels im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens. Im zweiten Fall nähert sich die Justizsupplik dem Rechtsmittel der Appellation oder Revision7 • Suppliken können von jedermann und jederfrau jederzeit an jeden gerichtet werden und enthalten in der Regel nur eine Bitte zu einer Sache. An wen wurden diese Suppliken adressiert? Bittschriften waren ja sinnvollerweise nur an diejenigen zu richten, die aus persönlicher oder offizieller Machtposition heraus fähig und in der Lage waren, eine Gunst oder Gnade zu erweisen. Diese Fähigkeit nahm mit zunehmender Macht und zunehmender Höhe in der herrschaftlichen Hierarchie zu. Daher wurden Suppliken meist von unten nach oben adressiert, oft an Vertreter von Staat oder Kirche. Doch auch im Bereich der privaten Beziehungen, seien sie beruflicher, verwandtschaftlicher oder klientelistischer Natur, ergaben sich vielfältige Notlagen und damit Gelegenheiten zum Verfassen von Bittschriften. Bittschriften unter Gleichrangigen sind nicht nur aus dem persönlichen, sondern auch etwa aus dem zwischenstaatlichen Bereich S. 43 f.

Vgl. die breiten Hinweise bei B. Kümin / A. Würgler, Petitions, besonders

5 Belege ab 1700 bei H. Neuhaus, Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert (Tle. 1 und 2), in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 28/29 (1978/1979), S. 110-190 und S. 63-97, hier Tl. 1, S. 137. G. Dolezalek, Art. Suppliken, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5,1998, S. 94-97; W Hülle, Art. Supplikationen, ebd., S. 91 f. Vgl. dagegen kritisch R. Blickte, Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat, in: W Rösener (Hrsg.), Formen der Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vorn Mittelalter zur Moderne, Göttingen 2000, S. 263-317, hier S. 281 f. Vgl.]. Weitzel, Art. Rechtsmittel, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 1990, S. 315-322; G. Buchda, Art. Appellation, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1971, S. 196-200. Diese Unterscheidung in (Gnaden-) Suppliken und (Justiz-)Supplikationen schon bei H. Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 31, 1744, Sp. 364.

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bekannt. "Bitt- und Ersuchungsschreiben" hieß im 18. Jahrhundert "ein von einer Obrigkeit an eine andere abgelassenes Schreiben, darinnen ihr von dem Zustand des Processes Nachricht gegeben, und die andere ersuchet wird, die unter ihr stehende Unterthanen zu Leistung einer Sache anzuhalten"8. Die Antwort auf die Frage, ob Bittschriften auch von oben nach unten gerichtet sein konnten, ist auch abhängig davon, ob der Begriff Bitte bzw. Supplik weit und allgemein - jede Form des Bittens vom Betteln bis hin zum Beten9 - oder eher eng und spezifisch definiert wird, etwa mit Bezug auf staatliche oder kirchliche Institutionen. Sicherlich aber können Interzessionen von Höher- an Tiefergestellte gerichtet sein. Die Terminologie des Supplizierens, die aus dem römischen Prozeßrecht zur päpstlichen Kanzlei kam, übernahmen am Ende des 15. Jahrhunderts die entstehenden Territorialstaaten im deutschsprachigen Europa, um eine Vielfalt vorhandener, traditioneller Verfahren einheitlich zu bezeichnen 10. Der Begriff "Supplik/Supplikation" verschwindet zur Zeit der Französischen Revolution anscheinend schlagartig aus dem Wortschatz. Nun heißen die Bittschriften neu Petitionen und werden zum politisch wirkungsvollen, und historiographisch breiter gewürdigten Massenphänomen im Kontext des frühen Konstitutionalismus ll . Gravamina und Suppliken lassen sich sachlich von einigen verwandten Begriffen abgrenzen, doch halten sich die Quellentermini auch hier oft nicht an diese scharfen Definitionen. Als Variante einer Supplik bezeichnet die Interzession eine Bitte für jemand anderen (in den Quellen z.B. Fürbitte, Fürsprache, Empfehlungsschreiben). Im Unterschied zu anderen Sprachen H. Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 3,1733, Sp. 1994. Vgl. auch E. Isenmann, Art. Gravamen, in: G. Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, 1996, S. 1183-1188, der davon ausgeht, daß das Vorbringen von Gravamina und Suppliken "im Verhältnis der Gleichrangigkeit, vor allem aber in dem der Subordination" vorkommen, S. 1183. Die Position, daß Suppliken immer gegen oben,gerichtet seien, bei R. Blickle, Supplikationen, S. 279. Die ganze Bandbreite der Bedeutungen von "Bitte" in: Deutsches Rechtswörterbuch, Bd. 2, 1932-1935, S. 351-353; vgl. H. Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 31,1744, Sp. 364: "Supplic ... heißt eigentlich nichts anders, als eine demüthige, flehentliche, und bewegliche Bitte, insbesondere aber eine Bitt-Schrifft ... "; ebd., Sp. 365: "Supplication ... ist ein außerordentliches Rechts-Mittel ... ". V gl. D. Hüchtker, Einvernehmen und Distanz. Auseinandersetzungen über eine Bitt- und Bettelkultur (Berlin 1770-1838), in: WerkstattGeschichte 14 (1995), S. 17-28; D. Nicholls, God and Government in an "Age of Reason", London 1995, Kap.: Prayer and Petition, S. 197-210. 10 R. Fuhrmann / B. Kümin / A. Würgler, Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in: P Blickte (Hrsg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, München 1997, S. 267-323, hier S. 287 f., 320 f.; R. Blickle, Supplikationen, S.275. 11 Vgl.].H. Kumpf, Art. Petition, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3,1984, Sp. 1639-1646. Mit weiteren Literaturhinweisen auch zum 19.Jahrhundert B. Kümin / A. Würgler, Petitions, S. 59 f.; R. Blickte, Supplikationen, S. 274-277.

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versteht man unter Petitionen im deutschen Sprachraum erst die politischen Eingaben größerer Bevölkerungsgruppen im Rahmen des Parlamentarismus im 19. Jahrhundert. Entwicklungsgeschichtlich sind Petitionen einerseits aus den ständischen Gravamina, andererseits aus den Suppliken erwachsen l2 • Der Begriff der "Klage" im engeren Sinne läßt im Deutschen an Gericht und Prozeß denken, im weiteren Sinne an "Wehklagen". Wie bei Gravamina, Suppliken und gerichtlichen Klagen handelt es sich auch bei Denunziationen um Mitteilungen an die Obrigkeit. Doch zeigen sie Gefahren oder Delinquenten bei der Obrigkeit an, statt für die eigene Person zu bitten; auch bleiben sie anonym. Sozusagen die Umkehrung von Gravamina und Suppliken stellten Enqueten und kirchliche wie politische Visitationen dar, in deren Verlauf sich die Obrigkeit bzw. Verwaltung bei ihren Untertanen sozusagen "Gravamina auf Bestellung" abholt und Gelegenheit zum Supplizieren schafft. Bezüglich der Quellensituation unterscheiden sich Gravamina und Suppliken. Gravamina sind in der Regel in Landtagsakten oder in Revoltenakten fallweise enthalten, sei es als vollständig ausfonnulierte Originale, sei es in Stichpunkten zusammengefaßt. Wo überlieferte Gravamina fehlen, lassen sich ihre Inhalte auch über die obrigkeitlichen Anworten (Resolutionen) oder Berichte erschließenD. Suppliken dagegen können erstens in speziellen Sammlungen von Originalsuppliken archiviert worden sein, wobei die Systematik häufig unklar ist; etliche dieser Bestände scheinen auch erst im 19. Jahrhundert kreiert worden zu sein 14. Zweitens trifft man vereinzelte Suppliken im Original oder in zeitgenössischer Abschrift in den Sachakten zu allen nur denkbaren Themen l5 • Drittens finden sich Infonnationen über Suppliken in Fonn von Suppliken-protokollen bzw. -registern (z.T. integriert in Ratsprotokollen), die nur ein kurzes Regest mit Angaben zur supplizierenden Person, Inhalt der Bitte und in der Regel einem ].H. Kumpf, Art. Petition. 13 Ausführlich A. Schmauder, Württemberg im Aufstand. Der Arme Konrad 1514, Leinfelden-Echterdingen 1998. 14 So in Köln, vgl. G. Schwerhof!. Das Kölner Supplikenwesen in der Frühen Neuzeit - Annäherungen an ein Kommunikationsmedium zwischen Untertanen und Obrigkeit, in: G. Mölich / G. Schwerhoff (Hrsg.), Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte, Köln 2000, S. 473-496, hier S. 474 f.: Stadtarchiv Köln: Suppliken und Suppliken ungeordnet 1600-1794 (9 Laufmeter). In vielen Archiven fehlen dagegen solche Serien und Protokolle (z.B. Bayern: R. Blickle, Die Supplikantin und der Landesherr. Die ungleichen Bilder der Christina Vend und des Kurfürsten Maximilian I. vom rechten ,Sitz im Leben' [1629], in: E. Labouvie [Hrsg.], Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen, München 1997, S. 81-99 und S. 212-216, hier S. 214 Anm. 25). 15 Vgl. Hessisches Staatsarchiv Marburg a.d.L. (künftig: StAM). 12

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ersten Bescheid oder Bearbeitungsvennerk enthalten l6 . Vor allem diese quasi seriellen Bestände stießen - wo vorhanden - bisher auf besonderes Interesse l7 • 11. Gravamina und Suppliken in verschiedenen Forschungsfeldem

Gravamina wurden im deutschen Sprachraum zur klassischen Quelle der Ständegeschichte seit dem 19. Jahrhundert l8 • Selbst im Revival der Ständeforschung nach dem Zweiten Weltkrieg suchte man in den Inhalten der Gravamina und in den Verfahren zu ihrer Erledigung proto-parlamentarische Traditionen l9 • Mittlerweile hat sich diese Ständeforschung auch weiteren methodischen Ansätzen geöffnet20 , doch bleiben Gravamina eine nach wie vor zentrale Quellengattung21 • 16 Vgl. die Beschreibung der Quelle bei H. Neubaus, Supplikationen 1, S. 141 ff. Vgl. R. Furbmann / B. Kümin / A. Würgler, Supplizierende Gemeinden. 17 Supplikenregister der Pönitentiarie, siehe unten, Anm. 35. Vgl. H. Neubaus, Supplikationen, TIe. 1 und 2; A. Holenstein, Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung: Zur Praxis .guter Policey" in Gemeinde und Staat des Ancien Regime am Beispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), in: P Blickle (Hrsg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, München 1997, S. 325-357. 18 Z.B. B. W Pfeif/er, Geschichte der landständischen Verfassung in Kurhessen, Kassel 1834. Für Frankreich G. Picot, Histoire des Etats Generaux consideres au point de vue de leur influence sur le gouvernement de la France de 1335 a 1614,4 Bde., Paris 1872, Nachdruck Genf 1979, zitiert in: B. Hodler, Doleances, Requetes und Ordonnances. Kommunale Einflußnahme auf den Staat in Frankreich im 16. Jahrhundert, in: P Blickle (Hrsg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, München 1997, S. 23-67, hier S. 25 f. 19 Z.B. die Beiträge in: K. Bosl (Hrsg.l, Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, Berlin 1977; P Moraw, Zu Stand und Perspektiven der Ständeforschung im spätmittelalterlichen Reich, in: H. Boockmann (Hrsg.), Die Anfänge der ständischen Vertretungen in Preußen und seinen Nachbarländern, München 1992, S. 1-33; P Blickle, Perspektiven ständegeschichtlicher Forschung, ebd., S. 34-38. 20 Etwa der Prosopographie (N. Bufst, Die französischen Generalstände von 1468 und 1484. Prosopographische Untersuchungen zu den Delegierten, Sigmaringen 1992) oder der Diskursanalyse (B. Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes?: Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches, Berlin 1999). Zum Stand der ostmitteleuropäischen Ständeforschung, die in den 1990er Jahren reaktiviert wurde, vgl. den Sammelband von]. Bahlke / H-]. Bömelburg / N. Kersken (Hrsg.), Ständefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur, Leipzig 1996. 21 Vgl. die Beiträge in P Blickle (Hrsg.l, Resistance, Representation, and Community,Oxford 1997; P Blickle (Hrsg.), Gemeinde und Staat, sowie]. Pauser, Gravamina und Policey: Zum Einfluß ständischer Beschwerden auf die landesfürstliche Gesetzgebungspraxis in den niederösterreichischen Ländern vornehmlich unter Ferdinand 1. (1521-64), in: Parliaments, Estates, and Representation, 17 (1997), S. 13-38.

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Nicht nur, aber unübersehbar auch aus der Stände- und Parlamentaris musgeschichte heraus entwickelte sich die westdeutsche Revoltenforschung nach dem Zweiten Weltkrieg22 • Mit Rückgriffen auf ältere Vorbilder (Günter F ranz) stellte die erste Generation die Gravamina ins Zentrum, die von Bauern an die Herrschaften (Peter Blickle) oder an die Gerichte (Winfried Schulze) adressiert wurden. Die Attraktivität der Quelle lag darin, daß sie den in den 1970er Jahren so ersehnten "Blick von unten" auf die Ereignisse warf, den die Revoltenforschung aber lediglich für eine neue Verfassungsgeschichte, nicht aber für eine Alltagsgeschichte nutzte. Im Schnittpunkt von Ständegeschichte und Kirchengeschichte liegen die" Gravamina der deutschen Nation", also die Klagen deutscher (geistlicher) Stände gegen den päpstlichen Fiskalismus, die als eine Ursache der Reformation zu Berühmtheit gelangten2}. Überraschen mag die Feststellung, daß es keine systematischen Untersuchungen zum Begriff und Quellentyp "Gravamina" zu geben scheint. Sogar die Fachwörterbücher schweigen sich aus - mit einer Ausnahme24 . Suppliken hingegen waren lange kein wirkliches Thema der Ständegeschichte und der Revoltenforschung, sondern am ehesten noch der Rechtsgeschichte, die sich allerdings eher am Rande und vorwiegend mit der Justizsupplik als Rechtsmittel und seiner Abgrenzung gegen verwandte Phänomene, wie einleitend dargelegt, befaßte. Vereinzelt kamen Suppliken als Vorform der Petitionen beim Zugang des Einzelnen zum Staat zur Sprache25 oder es wurde als rechts theoretischer Geltungsgrund für das Supplizieren die Gnadengewalt des Herrschers eruiert26 . 22 W Schulze, Klettgau 1603. Von der Bauemrevolte zur Landes- und Policeyordnung, in: HR. Schmidt / A. Holenstein / A. Würgter (Hrsg.), Gemeinde, Reformation und Widerstand. Festschrift für Peter Blickle zum 60. Geburtstag, Tübingen 1998, S. 415431, hier S. 415 f. 2} WP Fuchs, Das Zeitalter der Reformation, in: B. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Taschenbuchausgabe, Bd. 8, München 1973, S. 54; vgl. die Diskussion der Religionsgravamina während der ganzen frühen Neuzeit, z.B. E.]. Ntkitsch, Inschriftenüberlieferung in Religions-Gravamina. Ein kleiner Hinweis auf eine bislang kaum beachtete Quellengattung des 18. Jahrhunderts, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, 43 (1991), S. 381-388. 24 Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte; Lexikon des Mittelalters. Die Ausnahme ist der sehr informative Artikel von E. Isenmann, Gravamen, der allerdings von Gravamina und Supplikationen handelt. Für den deutschen Terminus "Beschwerden" im Sinne der lateinischen Gravamina vgl. A. Würgler, Art. Beschwerden, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 2, 2003, S. 344 f. 25 HL. Rosegger, Petitionen, Bitten und Beschwerden. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte moderner Verfassungen in rechtsvergleichender Darstellung, Berlin 1908; H Sengelmann, Der Zugang des einzelnen zum Staat, abgehandelt am Beispiel des Petitionsrechts. Ein Beitrag zur allgemeinen Staatslehre, Hamburg 1965; R. Schick, Petitionen. Von der Untertanenbitte zum Bürgerrecht, 3. Aufl., Heidelberg 1996. 26 J. Steinitz, Dispensationsbegriff und Dispensationsgewalt auf dem Gebiete des deutschen Staatsrechts, Breslau 1901; K. Becker, Die behördliche Erlaubnis des

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Die Kulturhistorikerin Nathalie Z. Davis verschaffte den Gnadengesuchen von zum Tode Verurteilten im Frankreich des 16. Jahrhunderts durch ihre rhetorisch-stilistische Auswertung besondere Berühmtheit27 • In ihrer Nachfolge wurden auch für einzelne deutschsprachige Territorien die Gnadenbitten seriell durchgesehen - mit dem bemerkenswerten Ergebnis, daß rund 80% der Strafurteile aufgrund von Gnadensuppliken gemildert, rund 50% vollständig sogar vollständig erlassen worden sind 28 • Aufgrund der Fürbitten (Interzessionen) für Verurteilte, Dispensationsgesuche für Ehehindernisse und sonstiger Suppliken lassen sich auch Verwandtschaftsnetze und Klientelsysteme rekonstruieren29 • Diese Wendung von der normativ zur praxeologisch orientierten Rechtsgeschichte ist auch typisch für neue re Tendenzen am Schnittpunkt von Rechtsgeschichte und allgemeiner Geschichte, die unter der Bezeichnung "historische Kriminalitätsforschung" firmieren. Bei der seriellen Analyse von Gerichtsfällen kommen dabei auch immer Supplikationen in den Blick. Über die Gnadengesuche hinaus wird nun die Rolle vorgerichtlicher, weniger formalisierter sogenannter "summarischer Verfahren ~ ("Infrajudiciaire"), die absolutistischen Fürstenstaates, jur. Dissertation Marburg, 1970; die Art. Supplik, Supplikation, Gnade, Petition im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1 ff., 1971 ff. 27 N.Z Davis, Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Frankfurt a.M. 1991 (Stanford CA 1987); G. Schwerho/f, Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999, S. 18. Vgl. dazu die Untersuchung der Rhetorik von Suppliken, die Amsterdamer Zünfte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an den Rat gerichtet haben: M. Prak, Individual, Corporation and Society: the Rhetoric of Dutch Guilds (18th c.), in: M. Boone / M. Prak (Hrsg.), Individual, Corporate, andJudicial Status in European Cities (Late Middle Ages and Early Modern Period), Leuven-Apeldoorn 1996, S. 255-279, sowie H.FK. van Nierop, A Beggar's Banquet: The Compromise of the Nobility and the Politics of Inversion, in: European History Quarterly, 21 (1991), S. 419-443. 28 A. Bauer, Das Gnadenbitten in der Strafrechtspflege des 15. und 16.Jahrhunderts, dargestellt unter besonderer Berücksichtigung von Quellen der Vorarlberger Gerichtsbezirke Feldkirch und des Hinteren Bregenzerwaldes, Frankfurt a.M. 1996, S. 203, 207. Die Adressaten der Gnadenbitten in Vorarlberg sind auf lokaler Ebene angesiedelt, was die geringere herrschaftliche Homogenisierung des Territoriums spiegelt. Gnadensuppliken erscheinen als klassische Quellen der Kriminalitätsgeschichte bei G. Schwerho/f, Aktenkundig, S. 34. Ähnliche Analysen und Ergebnisse schon bei P Henry, Crime, justice et societe dans la Principaute de Neuchatel au XVIIIe siede (1707-1806), Neuchiitel1984, S. 464-492;].R. Watt, The Making of Modern Marriage: Matrimonial Control and the Rise of Sentiment in Neuchatel, 1550-1800, Ithaca NY 1992, S. 116-120 und S. 175-178. 29 A. Bauer, Gnadenbitten, S. 204; D.A. Christ, Zwischen Kooperation und Konkurrenz. Die Grafen von Thierstein, ihre Standesgenossen und die Eidgenossenschaft im Spätmittelalter, Zürich 1998, S. 488; D. W Sabean, Kinship in Neckarhausen 1700-1870, Cambridge 1997, S. 79-81; S. Teuscher, Bekannte - Klienten - Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500, Köln / Weimar / Wien 1998, S. 38-41 und S. 168178.

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teilweise aus Suppliken rekonstruiert werden können, immer deutlichefo. Im Zeichen des Paradigmenwechsels in der Einschätzung der Rolle der Justiz, der als Übergang von der Repressions- zur Konfliktlösungsthese beschrieben wurde, ist nun von .Justiznutzung"31 die Rede: Untertanen wählen aktiv zwischen vorhandenen institutionalisierten Konfliktlösungsangeboten. Von dieser, eher verwaltungs- und rechtsgeschichtlichen Seite her kümmert sich auch die dynamische Forschung zu Phänomenen der .guten Policey" um den wechselseitigen Umgang der Behörden und Untertanen miteinander u.a. auf dem Weg des Eingebens und Beantwortens von Suppliken, Beschwerden und Anzeigen32 • Gerade bei den Anzeigen jedoch verläßt man definitiv das für Suppliken und Gravamina postulierte Terrain der Freiwilligkeit, war doch den Amtsträgern und Untertanen in ihren Eiden in der Regel auch eine Anzeige- oder Rügepflicht auferleg~3. Anzeigen aber werden seit wenigen Jahren intensiv untersucht unter dem attraktiveren Stichwort: Denunziation34 • 30 R. Blickte, Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: P. Blickte (Hrsg.), Gemeinde und Staat, S. 241-266; A. Holenstein, Bittgesuche; B. Garnot (Hrsg.), L'Infrajudiciaire du Moyen Age al'epoque contemporaine, Dijon 1996; K. Hiirter, Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat: Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation, in: A. Blauert / G. Schwerho// (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte: Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 459-480; A. Holenstein, .Local-Untersuchung" und .Augenschein". Reflexionen auf die Lokalität im Verwaltungsdenken und -handeln des Ancien Regime, in: Werkstatt Geschichte 16 (1997), S. 19-31; C. Ulbrich, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellscha& des 18. Jahrhunderts, Wien / Köln / Weimar 1999, besonders S. 25 f., S. 153-157; R. Blickte, Supplikationen, S. 282-289. 31 Der Begriff von Martin Dinges, vgl. G. Schwerho/f, Aktenkundig, S. 90. Am Einzelfall entfaltet bei D.M. Luebke, Frederick the Great and the Celebrated Case of the Millers Arnold (1770-1779). AReappraisal, in: Central European History, 32 (1999), S. 379-408, besonders S. 402-408. 32 Vgl. dazu die in Anm. 33 genannte Literatur sowie M. Weber, Bereitwillig gelebte Sozialdisziplinierung? Das funktionale System der Polizeiordnungen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Zeitschri& der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 115 (1998), S. 420-440, besonders S. 433-438; A. Landwehr, Policey vor Ort. Die Implementation von Policeyordnungen in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: K. Hiirter / M. Stolleis (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 47-70. 33 A. Holenstein, .Local-Untersuchung"; ders., Die • Ordnung " und die .Mißbräuche" .• Gute Policey" als Institution und Ereignis, in: R. Bliinkner / B. ]ussen (Hrsg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998, S. 253-273; K. Hiirter, Inquisitionsprozeß. Zuletzt: P. Kissling, .Gute Policey" im Berchtesgadener Land. Rechtsentwicklung und Verwaltung zwischen Landschaft und Obrigkeit 1377-1803, Frankfurt a.M. 1999, S. 289. 34 Vgl. mit weiterführender Literatur A. Würgler, Verschwiegenheit und Verrat. Denunziation und Anzeige in der Berner Verschwörung von 1749, in: M. Hohkamp /

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Über die älteste Tradition - seit dem 5. Jahrhundert - und die breiteste Erfahrung - die gesamte Christenheit - im Umgang mit Suppliken verfügte die päpstliche Kanzlei in Rom (bzw. Avignon). Da erscheint es fast als zwingend, daß sich die Kirchengeschichte intensiv um die enormen Mengen überlieferter Suppliken und Supplikenregistern (seit 1334) kümmerte. Neuerdings haben sich auch Profanhistoriker und-historikerinnen - wie die Gruppe um Ludwig Schmugge für den deutschsprachigen Raum - auf Suppliken an die päpstliche Pönitentiarie gestürzt in der Hoffnung, aufgrund der zahlreichen Dispensgesuche von Ehe- oder Weihehindernissen tiefe Einsichten in die Mentalität und das Gewissen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Menschen zu erhalten35 oder deren Karrierewege zu erhellenJ6 . Dieser Ansatz erlebt in einer säkularisierten Variante z.Z. eine Hochkonjunktur in der Diskussion um die sog. Ego-Dokumente bzw. Selbstzeugnisse. Hier werden Suppliken als Selbstaussagen gelesen und gelten daher als via regia zur Erhellung individueller frühneuzeitlicher Schicksale aus allen Schichten, Berufen, Altersgruppen und beiden Geschlechtern37 ; C. Ulbrich (Hrsg.), Der Staatsbürger als Spitzel. Denunziationen des 18. Jahrhunderts im europäischen Vergleich, Leipzig 2001, S. 87-109; ].-F. Gayraud, La denonciation, Paris 1995; S. Fitzpatrick / R. Gellately, Introduction to the Practices of Denunciation

in Modern European History, in: TheJournal of Modern History, 68 (1996), S. 747 -767; G. Jerouschek / 1. Marßolek / H. Röckelein (Hrsg.), Denunziation: historische, juristische und psychologische Aspekte, Tübingen 1997. 35 L. Schmugge (Hrsg.), illegitimität im Spätmittelalter. München 1994; ders., Kirche, Kinder, Karrieren. Päpstliche Dispense von der unehelichen Geburt im Spätmittelalter, Zürich 1995; L. Schmugge I P. Hersperger / B. Wiggenhauser, Die Supplikenregister der päpstlichen Pönitentiarie aus der Zeit Pius' H. (1458-1464), Tübingen 1996; zu den Repertorien zuletzt L. Schmugge I P. Ostinelli I H. Braun (Bearb.), Repertorium Poenitentiariae Germanieum, Bd. 1: Eugen rv. (1431-1447), Tübingen 1998; F. Tamburini, Santi e peccatori. Confessioni e suppliehe dai Registri della Penitenzieria dell'Archivio Segreto Vaticano (1451-1586), Mailand 1995. 36 Dazu die von Schmugges Doktoranden verfaßten Monographien: A. Meyer, Zürich und Rom. Ordentliche Kollatur und päpstliche Provisionen am Frau- und Großmünster 1316-1523, Tübingen 1986, S. 25-114; C. Hesse, St. Mauritius in Zofingen. Verfassungsund sozialgeschichtliche Aspekte eines mittelalterlichen Chorherrenstiftes, Aarau 1992, S. 150-174; B. Wiggenhauser, Klerikale Karrieren. Das ländliche Chorherrenstift Embrach und seine Mitglieder im Mittelalter, Zürich 1997, S. 186-195. J7 W Schulze, Vorüberlegungen, in: W Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte?, Berlin 1996, S. 11-30, besonders S. 21-23, 28; dort auch 0. Ulbricht, Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, S. 149-174, vor allem S. 161-166. Skeptisch: C. Ulbrich, Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, ebd., S. 207-226, besonders S. 216; A. Holenstein, Bitten um den Schutz. Staatliche Judenpolitik und Lebensführung von Juden im Lichte von Schutzsupplikationen aus der Markgrafschaft Baden{-Durlach) im 18. Jahrhundert,

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Als eigentlicher Pionier der Erforschung von Suppliken unter den deutschen Historikern muß aber Helmut Neuhaus gelten. Er analysierte in den 1970er Jahren aus verfassungsgeschichtlicher Perspektive die Suppliken an den Reichstag und die Bildung des sogenannten "Supplikationsausschusses". Ergänzend legte er auch eine quantitative Studie zum Supplizieren in einem Territorium des 16. Jahrhunderts vo2 8 . Eine Verbindung der bei den Quellengattungen erfolgte - abgesehen von einem ersten Versuch bei Neuhaus 39 - erst in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren in zwei Forschungsprojekten von Peter Blickle. Im ersten Projekt, "Resistance, Representation, and Community", wurde in stände- und revoltengeschichtlicher Perspektive u.a. mit Rückgriff auf Gravamina und zum Teil auch Suppliken der Beitrag der Untertanen zur Entstehung des modernen Staates in Europa eruiert40 . Das zweite Projekt, "Gemeinde und Staat im Alten Europa "41, fokussierte auf die Einflußmöglichkeiten der Untertanen und Stände auf die staatliche Gesetzgebung bzw. die "gute Policey" mittels Gravamina und nun vor allem auch mittels Suppliken42 •

in: R. Kießling / S. Ullmann (Hrsg.), Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit, Berlin 1999, S. 97-153; G. Schwerhof!. Kölner Supplikenwesen, S. 482 f. 38 H. Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1975; H. Neuhaus, Supplikationen, TIe. 1 und 2. 39 H. Neuhaus, Supplikationen, Tl. 2, S. 83-88. Dazu auch die anregende, aber sehr vage Skizze von R. lüfte, Sprachliches Handeln und kommunikative Situation. Der Diskurs zwischen Obrigkeit und Untertanen zu Beginn der Neuzeit, in: H. Hundsbichler (Red.), Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Wien 1992, S. 159-181. Vgl. die Lokal- und Landesgeschichte sowie die Biographik, die seit jeher Suppliken und Gravamina als punktuelle Informationslieferanten nutzten, vgl. die Hinweise am Beispiel Hessen bei R. Fuhrmann / B. Kümin / A. Würgler, Supplizierende Gemeinden, S. 305 f.; A. Holenstein, Bitten um den Schutz, S. 97-153. 40 P Blickte (Hrsg.), Resistance. 41 Das erste Projekt wurde 1988-1993 von der European Science Foundation, das zweite 1993 -1996 vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung unterstützt. 42 Die Anregung, sich den Suppliken besonders zu widmen, kam von R. Blickle, vgl. P Blickte, Einführung: Mit den Gemeinden Staat machen, in: P Blickte (Hrsg.), Gemeinde und Staat, S. 1-20, hier S. 14 (bayerisches Archivmaterial). Vgl. die weiteren Beiträge in diesem Band sowie die Abstracts der Vorträge von P. Blickle, R. Blickle, B. Kümin, H. Neuhaus und A. Würgler in der Sektion "Supplizieren. Zur Politik der Untertanen", dokumentiert in: S. Wein/urter / M. Sie/arth (Hrsg.), Geschichte als Argument, 41. Deutscher Historikertag, München 17.-20. September 1996, S. 104-108; B. Kümin / A. Würgler, Petitions.

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IH. Inhaldiche und methodische Resultate Die große Bedeutung der Gravamina und Suppliken hat verschiedene Aspekte, die am Beispiel der Revoltenforschung weiter ausgeführt werden sollen. Zuerst kommen anhand der Gravamina diejenigen des Inhalts (Ursachen, Ziele, Legitimation) und des typologisierenden Vergleichs zur Sprache, um dann die neuen Tendenzen der Forschung zu skizzieren. Dann werden die Vorteile des Einbezugs von Suppliken erörtert, die Wirkungen von Suppliken und Gravamina und schließlich deren Entstehung, Niederschrift und Eingabe thematisiert. 1. Gravamina

Insgesamt erbrachte die Revoltenforschung seit den 1970er Jahren eine erhebliche Korrektur des gängigen Bildes der deutschen Geschichte. Untertanen wurden nun neu als historische Subjekte beschrieben, die an der Ausformung des Staates und der Gesellschaft aktiv beteiligt waren. Revolten gehören nun - im Widerspruch zum Topos des gehorsamen deutschen Untertanen - zur politischen Kultur, sie gelten als Strukturelement der ständischen Gesellschaft4}. Ob die nach dem revolutionären Bauernkrieg von 1525 definitiv kriminalisierten Unruhen44 allerdings die historische Entwicklung Richtung Moderne befördert haben, wird aufgrund ihrer meist eher defensiven formulierten Ziele kontrovers diskutiert. Immerhin wurde die Entstehung der Menschenrechte mit den vor allem gerichtlich ausgetragenen Protestbewegungen in Verbindung gebracht45 , und die These lanciert, die Entstehung der politischen Öffentlichkeit könne nicht ohne die städtischen und ländlichen Protestbewegungen geschrieben werden46 • Auch die Verfestigung der Werte Eigentum, Freiheit und Partizipation wurde verschiedentlich den Unruhen zu Gute gehalten 47 • 4} P Blickte, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch, München 1981; ders., Unruhen, S. 2, 4 f., 97. Zuletzt: W Te Brake, Shaping History. Ordinary People in European Politics, 1500-1700, Berkeley CA 1998. 44 W Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart-Bad Cannstadt 1980, S. 73 f.; P Blickle, The Criminalization of Peasant Resistance in the Holy Roman Empire, in: The Journal of Modern History, 58 (1986), Supplement, S. 88-97. 45 W Schulze, Der bäuerliche Widerstand und die Rechte der Menschheit, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, S. 42-64; vgI. P Blickle, Agrargeschichte, S. 21. 46 P Blickle, Agrargeschichte, S. 21 über die These von A. Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995. 47 P Blickle, Unruhen, S. 109, mit Rückgriff auf die Arbeiten von R. BlickIe.

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Doch nun soll der Blick auf die Inhalte der Gravamina konzentriert werden. a) Inhalt, Vergleich und Typologie Über Inhaltsanalysen der Gravamina lassen sich zentrale Fragen der Revoltenforschung aus der Perspektive der Aufständischen differenziert beantworten. Die Generalisierung ihrer Inhalte fällt angesichts der heterogenen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialstrukturen im Reich und in der Eidgenossenschaft nicht leicht. Die Frage nach den Ursachen ländlichen Protests brachte Peter Blickle in der bisher umfassendsten Synthese 1988 auf die Formel "Neuerungen provozieren Unruhen". Neuerungen können die Steuern, Frondienste, Feudalabgabe, aber auch die Religion bzw. Konfession48 , herrschaftliche Eingriffe in die Gemeindeautonomie oder kommunale Nutzungsrechte und vieles andere mehr betreffen49 . Die Analyse der Gravamina erlaubt es, über die obrigkeitliche Optik hinaus, die als Revoltenursache oft pauschal die "angeborene Rebellionsneigung" der Untertanen unterstellte, zu differenzierten Aussagen über das Gewicht politischer, rechtlicher, sozialer, ökonomischer, religiöser und weiterer Faktoren zu gelangen. Dasselbe gilt analog zu den Zielen. Aufgrund der Texte lassen sich systemkonforme oder systemsprengende Vorstellungen differenzieren. Die Regel waren eher reformistische, konservativ scheinende Positionen. Revolutionäre Sprengkraft enthielten Gravamina nur ausnahmsweise (Deutschland 1525, Oberösterreich 1594 und 1626, Schweiz 1653) im Rahmen von Bauernkriegen. Sie waren meist verknüpft mit Plänen über bessere Formen politischer Organisation und gingen damit weit über die üblichen Beschwerden hinaus, die im Prinzip mit Verweis auf das "Alte Recht" lediglich die Abstellung mißbräuchlicher Neuerungen verlangten. Kreative, oder um mit Charles Tilly zu sprechen, proaktive Ziele waren zwar eher sekundär und zum Teil unter den altrechtlichen Legitimationsfiguren versteckt, doch gab es sie auch, z.B. die EntfeudaIisierung der Gesellschaft, die "Utopie vom freien Dorf", die politische Repräsentation in landständischen Gremien oder die Republik, was mit der Formel" Turning Swiss" von T. Brady ausgedrückt wurde50 • Der Vergleich von Gravaminakatalogen verschiedener Unruhen in derselben Region oder in mehreren Regionen und Epochen führte zur Bildung von Revoltentypen aufgrund des Kriteriums der Hauptursache: Steuer-, Hungerund Glaubensrevolte; Rebellionen gegen Grund-, Gerichts- oder Leibherr48 49 50

Ebenda, S. 80-82. Für die Schweiz vgl. A. Würgler, Art. Soziale Konflikte. P Blickle, Unruhen, S. 84-86.

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schaft51 . Gravamina eignen sich vorzüglich, um - im Vergleich mit weiteren Quellen - den Erfolg jedes einzelnen Protestes differenziert einzuschätzen. Das vollständige oder teilweise Fehlen von Gravaminakatalogen zu bestimmten Revolten stimulierte die Suche nach methodischem Ersatz. Angeregt von der englischen (E.P. Thompson) und französischen (Y.M. Berd:) Protestforschung sowie von ethnologischen Arbeiten wurden nun auch die Aktionen der Bauern auf die ihnen inhärenten Ziele hin decodiert, bzw. als Handlungsdialoge gelesen52 • b) Neue Tendenzen Die Revoltenforschung nahm in den 1990er Jahren quantitativ bedeutende Dimensionen an 53 , ohne allerdings im Zentrum aktueller allgemeingeschichtlicher Methodendiskussionen zu stehen. Neben der Vertiefung bewährter Ansätze54 fallen die neuen Tendenzen auf: die Anwendung von Konzepten aus Anthropologie55 , Micro-storia56 , Gender 51 Natürlich gibt es noch weitere Typologisierungsversuche, etwa nach den Kriterien der sozialen Trägern des Protestes: Bauern-, Bürger-, Gesellenunruhen usw. oder nach den Hauptgegnern: antifeudal, antietatistisch, antiklerikal, antijüdisch etc. Noch ungenügend in diesen Vergleich einbezogen seien die Unruhen aus dem ostelbischen Raum, M. Weber, Bauernkrieg 1, S. 11 f., 15 (S. 51 f. für die polnischsprachige Forschung zu ehemals deutschen Gebieten). 52 A.Suter, "Troublen" im Fürstbistum Basel (1726-1740), Göttingen 1985; W Troßbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648-1806, Weingarten 1987. 53 A. Würgler, Diffamierung; vgl. auch P. Blickle, Agrargeschichte. 54 Etwa die Auswertung von Gravamina bei A. Schmauder, Württemberg, oder die die Untersuchung von Untertanenprozessen in allgemeingeschichtlicher (5. von Below / 5. Breit, Wald - von der Gottesgabe zum Privateigentum: gerichtliche Konflikte zwischen Landesherren und Untertanen um den Wald in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1998; I Lau, Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der frühen Neuzeit, Bern 1999; M. Fimpel, Reichsjustiz und Territorialstaat. Württemberg als Kommissar von Kaiser und Reich im Schwäbischen Kreis [1648-1806], Tübingen 1999) oder rechts geschichtlicher Perspektive (]. Mauer, Der "Lahrer Prozeß" 1773-1806. Ein Untertanenprozeß vor dem Reichskammergericht, Köln / Weimar / Wien 1996; R. Sailer, Untertanenprozesse vor der Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Köln 1999). 55 Z.B. P. Burgard, Tagebuch einer Revolte: ein städtischer Aufstand während des Bauernkrieges 1525, Frankfurt a.M. / New York 1998; M. Zürn, "Ihr aigen libertet". Waldburg, Habsburg und der bäuerliche Widerstand an der oberen Donau 1590-1790, Tübingen 1998, sowie die Beiträge der Potsdamer Arbeitsgruppe "Gutsherrschaft", z.B. in:]. Peters (Hrsg.), Gutsherrschaft als soziales Modell, München 1995;]. Peters (Hrsg.), Konflikt und KontrolIe in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit, Göttingen 1995. 56 Z.B. M. Hohkamp, Herrschaft in der Herrschaft. Die vorderösterreichische Obervogtei Triberg von 1737 bis 1780, Göttingen 1998.

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HistorY7, politischer Sozialgeschichte58 und politischer KultUr'9, die Einbettung der Revoltenereignisse in alltägliche politische, soziale und ökonomische Strukturen bzw. Interaktionsmuster60 und schließlich besonders prominent die detailliertere Erforschung des "Innenlebens" von Protestbewegungen. Gerade hier können Suppliken vielfältigen Aufschluß geben über die Verschränkung persönlicher und gruppenbezogener Konfliktlinien etwa zwischen Vollund Halbbauern, zünftigen und unzünftigen Handwerkern, verschiedenen Klientelsystemen etc. 61 • Damit entkräftete die Revoltenforschung den Vorwurf, sie verfalle durch ihre Konzentration auf den Quellentyp Gravamina einer zu simplen, rein dichotomischen Vorstellung von Herrschaftsverhältnissen62 . 57 A. Suter, Die Träger bäuerlicher Widerstandsaktionen beim Bauernaufstand im Fürstbistum Basel 1726-1740: Dorfgemeinde - Dorfrauen - Knabenschaften, in: W Schulze (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse, Stuttgart 1983, S. 89-111; C. Ulbrich, Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland, in: R van Dülmen (Hrsg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1990, S. 13-42; W Troßbach, .Rebellische Weiber"? Frauen in bäuerlichen Protesten des 18. Jahrhunderts, in: H. Wunder / C. Vanja (Hrsg.), Weiber, Menschen, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800, Göttingen 1996, S. 154-174. 58 A. Suter, Der schweizerische Bauernkrieg von 1653. Politische Sozialgeschichte - Sozialgeschichte eines politischen Ereignisses, Tübingen 1997. 59 A. Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800), Stuttgart I New York 1991; H. Gabel, Widerstand und Kooperation. Studien zur politischen Kultur rheinischer und maasländischer Kleinterritorien (16481794), Tübingen 1995; A. Würgler, Politische Kultur in der "Provinz" zur Zeit der Aufklärung: Unruhen und politische Öffentlichkeit in Süddeutschland, in: H.E Bädeker / E Franfois (Hrsg.), Aufklärung I Lumieres und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung, Leipzig 1996, S. 79-104; R von Friedeburg, Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit: Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1997. 60 EE Weber, Städtische Herrschaft und bäuerliche Untertanen in Alltag und Konflikt. Die Reichsstadt Rotrweil und ihre Landschaft vom 30jährigen Krieg bis zur Mediatisierung, 2 Tle., Rotrweill992; H. Berner, Gemeinden und Obrigkeit im fürstbischöflichen Birseck. Herrschaftsverhältnisse zwischen Konflikt und Konsens, Liestal 1994; N. Landolt, Untertanenrevolten und Widerstand auf der Basler Landschaft im 16. und 17. Jahrhundert, Liestall996; A. Würgler, Diffamierung. 61 Vgl. schon A. Suter, Träger; ders., Troublen; W Troßbach, Soziale Bewegung; ]. Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1990, S. 160-190, sowie jetzt D.M. Luebke, Factions and Politics in Early Modern Germany, in: Central European History, 25 (1992), S. 282-301, ders., His Majesty's Rebels. Communities, Factions, and Rural Revolt in the Black Forest, 1725-1745, Ithaca NY I London 1997; M. Weber, Rotrweil; H. Berner, Gemeinden und Obrigkeit; Re. Head, Early Modern Democracy in the Grisons. Social Order and Political Language in a Swiss Mountain Canton, 1470-1620, Cambridge 1995; A. Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit; N. Landolt, Untertanenrevolten; M. Zürn, Libertät; A. Würgler, Diffamierung. 62 D. W Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1990, S. 38 f.

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Integrierten diese Ansätze Gravamina und immer öfter auch Suppliken zwar ins Quellensampie, so führte dies noch nicht zur einer Reflexion des Quellentyps. Dagegen wies eine eher an politischen und kulturgeschichtlichen Modernisierungsprozessen interessierte Studie auf das Phänomen hin, daß nach Vorläufern wie den Zwölf Artikeln im Deutschen Bauernkrieg 1525 63 seit dem 17. und v.a. 18. Jahrhundert immer häufiger Suppliken und Gravamina im Druck erschienen. Die Untertanen und Protestbewegungen versuchten offensichtlich mit diesem Appell an die entstehende öffentliche Meinung, die Regierungen oder Gerichte zu beeinflussen. Die Obrigkeiten reagierten mit intensivierten Zensurmaßnahmen auch gegen Zeitungen und Zeitschriften, weil diese anfingen, die gedruckte Kritik der Untertanen mit Berichten, Paraphrasierungen oder gar mit dem Abdruck ganzer Gravaminalisten, die sie mitunter vorsichtig kommentierten, einem breiten Publikum zu vermitteln. Daraus konnte sich ein öffentliches Räsonnement über politische Angelegenheiten entwickeln64 • Im Reich spielten hierin die Reichsgerichte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Verschiebt man den Fokus von den spektakulären Fällen bäuerlichen Protestes auf den Alltag zwischen den Revolten oder auf Regionen, die scheinbar immer ruhig waren, so kommen alltäglichere Formen des Konfliktaustrages zwischen Untertanen und Obrigkeit in den Blick. DDR-Historiker entwikkelten - vielleicht gezwungen von der ostelbischen Revoltenarmut, die sich in der Archivsituation spiegelte, und methodisch angeregt vom Historischen Materialismus - schon in den 1960er Jahren den Begriff der "niederen Formen des Klassenkampfes" (Kurt Wernicke in Anlehnung an Boris Porsnev)65. Die westdeutsche Protestforschung integrierte ihrerseits teilweise die gerichtlichen Austragungsformen, und Winfried Schulze prägte die Formel von der "Verrechtlichung sozialer Konflikte "66. Zur Kontextualisierung der Revolten haben sich in den 1990er Jahren besonders die Suppliken als wichtige und bisher massiv unterschätzte Quellengruppe erwiesen67 . 63 P Blzekle, Die Revolution von 1525,3. AufL, München / Wien 1993, S. 23 ff.; ders., Der deutsche Bauernkrieg. Die Revolution des Gemeinen Mannes, München 1998. 64 A. Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit; ders., Das Modernisierungspotential von Unruhen im 18. Jarhrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 21 (1995), S.195-217. 65 Vgl. G. Vogler, Bäuerlicher Klassenkampf als Konzept der Forschung, in: W Schulze (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse, Stuttgart 1983, S. 23-40. 66 W Schulze, Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: W Schulze (Hrsg.), Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1982, S. 276-308. VgL insbesondere die Arbeiten von W. Troßbach. 67 Für die serielle Auswertung der Suppliken in der Revoltenforschung vgl. die Pionierarbeit von T Robisheaux, Rural Society and the Search for Order in Early Modern Germany, Cambridge 1989. Zu Suppliken außerdem: E. Elbs, Owingen 1584. Der erste Aufstand in der Grafschaft Zollern, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte,

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2. Suppliken und Gravamina

Die Integration der Suppliken in den älteren Zugang der Stände- und Revoltenforschung über die Gravamina wurde aber am deutlichsten im erwähnten Projekt "Gemeinde und Staat" vollzogen. Die Leitfrage, welchen Einfluß die Untertanen auf die Entstehung des modemen Staates und insbesondere auf seine Gesetzgebung ausgeübt haben, versuchte das Projekt nicht nur über den Vergleich von Gravamina (Input) und Landtagsabschieden (Output) zu klären68 . Vielmehr wurden erstens auf der Output-Seite der Gesetzgebung auch die Landes- oder Policeyordnungen und Mandate einbezogen. Zweitens konnte auf der Input-Seite durch die Integration der Suppliken in die Untersuchung das Problem umgangen werden, daß Gravamina nur von sozial, ständisch und rechtlich limitierten Kreisen und nur anläßlich von Ständeversammlungen, deren Einberufung überdies vom Willen des Fürsten abhängig war, formuliert werden konnten. Es zeigte sich, daß ein beträchtlicher Teil der frühneuzeitlichen (Policey- )Gesetze aufgrund von Suppliken initiiert, modifiziert, revidiert und kassiert wurde. Das bezeugen sowohl viele Gesetzespräambeln als auch die Akten zur Entstehung der Gesetze. Besonders wenn sich Suppliken und Gravamina in ihren inhaltlichen Anliegen ergänzten, konnten sie den Handlungsdruck auf die Regierung verstärken. Bemerkenswert an diesen Aktivitäten der Untertanen und Landstände ist der primär kooperative, nicht konfrontative Charakter. In Suppliken und Gravamina begehrten die Untertanen nicht die Veränderung der Herrschaftsverhältnisse, vielmehr äußerten sie an die Adresse der Herrschaft den" Wunsch nach Ordnung" bzw. nach guter Policel9 • Radikaler wurden die Beschwerden der Untertanen jedoch im Kontext von Revolten, die aus dieser Optik als Indizien für eine Blockierung der üblichen Kommunikationswege 17 (1981), S. 9-127; H. Berner, Gemeinden und Obrigkeit; N. Landolt, Untertanenrevolten, S. 137-143; M. Zürn, Libertät, und weitere Hinweise auf Literatur bei A. Holenstein, Bauern, S. 108 f. 68 Vgl. P Blickle, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des Gemeinen Mannes in Oberdeutschland, München 1973. 69 A. Würgler, Desideria und Landesordnungen. Kommunaler und landständischer Einfluß auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650-1800, in: P Blickle (Hrsg.), Gemeinde und Staat, S. 149-207, S. 203-207 [Zitat], sowie R. Fuhrmann, Amtsbeschwerden, Landtagsgravamina und Supplikationen in Württemberg zwischen 1550 und 1629, ebd., S. 69-147; A. Holenstein, Bittgesuche; P. Blickle, Einführung, S. 14 f. Vgl. P Blickle / S. Ellis / E. Österberg, The Commons and the State: Representation, Influence, and the Legislative Process, in: P Blickte (Hrsg.), Resistance, S. 115-153, hier S. 125 f., 132-138. Zugespitzt bei H.R. Schmtdt, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift, 265 (997), S. 639-682, hier S. 673-678. Jetzt auch M. Weber, Sozialdisziplinierung?, S. 433-438.

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über Suppliken und Gravamina erscheinen70 . Suppliken und Gravamina bieten aber nicht nur Einsichten in den politischen Einfluß der Untertanen auf die Gesetzgebung, sondern auch in Formen der staatlichen Kommunikation und Informationsbeschaffung. Da dem frühneuzeitlichen Staat noch keine flächendeckende Bürokratie und ein nur bedingt effizientes Kommunikationssystem zur Verfügung standen, erfüllten Bittschriften und Beschwerden wichtige Informationsfunktionen über die Wirksamkeit und Akzeptanz alter wie neuer Gesetze, über die Disziplin und Kompetenz lokaler Beamter, über die Sorgen und Nöte der Untertanen. Wie in den politischen und kirchlichen Visitationen7l , schöpfte der Staat hier Informationen ab. Zwar liefern Suppliken und Gravamina nicht so flächendeckende, systematische und durch Fragen der Verwaltung strukturierte Daten, dafür aber spontane Äußerungen der Untertanen, die den Vorteil haben, auch Antworten auf nicht-gestellte Fragen zu bieten und zudem die Dringlichkeit der Probleme aus der Perspektive der Untertanen zu gewichten. Suppliken und Gravamina waren demnach - aus der Perspektive des Staates - ein Mittel zur Verfolgung des Prinzips "conoscere per governare"72. Die Integration von Suppliken als Quelle zur Erforschung von Untertanenkonflikten bringt vor allem auf vier Ebenen Vorteile: Universalität: Suppliken sind universeller und alltäglicher als Gravamina, weil sie sowohl informell als auch in relativ formalisierten administrativen oder gerichtlichen Verfahren permanent vorgebracht werden können. Sie sind nicht an eskalierende Konfliktsituationen (Revolten) oder vorhandene, korporativ verfaßte Organisationen (Gemeinden, Landschaften, Landstände) gebunden, sondern können auch kollektiv von spontanen Gruppenbildungen, Nachbarschaften etc. oder immer auch individuell von Einzelpersonen beiden Geschlechts und jeglichen Alters eingereicht werden, auch wenn nach bisherigem Kenntnisstand mehr Männer als Frauen, mehr Hausväter als Jugendliche von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben73 • 70 H. Neuhaus, Supplikationen, 11. 2, S. 79; P. Blickte, Conclusions, in: P. Blickle (Hrsg.), Resistance, S. 325-338, besonders S. 332-336. Vgl. W Reinhard, Geschichte der Staats-gewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 222-227. 7l Vgl. K. Krüger, Politische Ämtervisitationen unter Landgraf Wilhelm IV., in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 27 (1977), S. 1-36; A. Würgler, Desideria, S. 191. 72 C. Nubola, Conoscere per governare: la diocesi di Trento nella visita pastorale die Ludovico Madruzzo (1579-1581), (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Monografie, 20) Bologna 1993.

73 In den bisher ausgewerteten Samples überwiegen die Männer: A. Holenstein, Bittgesuche, S. 330-340; A. Holenstein, Bitten, S. 110; H. Neuhaus, Supplikationen, 11. 1, S. 130; G. Schwerhof/. Kölner Supplikenwesen, S. 482. Fraglich scheint z.B., in welchen Fällen Frauen an ihren EhemännernlHausvätern vorbei supplizierten (supplizieren durften), denn unter den Suppliken von Frauen stammen auffallend viele von Witwen.

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Konfliktdynamik: Viele gesellschaftliche Probleme tauchen zuerst in individuellen oder Gruppen- und Gemeindesuppliken auf und verdichten sich nur beim zu langen Ausbleiben einer Lösung zu landständischen Gravamina oder gar offenem Protest. Die verschiedenen Quellensorten können also Auskunft über die Eskalationsstufe eines Streites geben74 . Konfliktstrategien: Gravamina und Suppliken spiegeln zwei verschiedene Kanäle zur Konfliktbewältigung bzw. Interessendurchsetzung, zwischen denen die Akteure (bis zu einem gewissen Grade jedenfalls) strategisch wählen können. Durchsetzungsgrad: Der nicht einfach zu messende Durchsetzungsgrad der Interessenartikulationen von Untertanen s'ollte nicht nur im Kontext spektakulärer oder gewaltsamer Aktionen gesucht werden, sondern auch im Bereich der sanften via supplicationis. Denn Suppliken lösten einen guten Teil des Regierungs- und Verw~ltungs­ handelns aus. So beriet der Geheime Rat des Landgrafen von Hessen-Kassel im Jahr 1594872 Suppliken75, im Jahr 1787 dürften es um die 4.000 gewesen sein76 , in der Reichsstadt Köln wurden 1723 rund 800 Suppliken an den Rat gerichtet. Dies bedeutete, daß der fürstliche Geheimrat bis zu 60, der städtische Magistrat durchschnittlich fünf Suppliken pro Sitzung erledigte77 • Angesichts dieser Massen von Suppliken und angesichts des Raumes, den ihre Behandlung in Geheimratsakten und Ratsprotokollen einnimmt, fragt man sich unwillkürlich: was haben Regierungen und Magistrate - außer Suppliken zu beantworten - sonst noch gemacht? Diese Zahlen zeigen, daß die Untertanen nicht bloß wehrlose Objekte der Policeygesetzgebung waren, sondern vielmehr eine Art "Thematisierungsmacht"78 beim politischen agenda-setting besaßen - und zwar nicht nur in den Territorien und Reichsstädten, sondern sogar im Reich, sind doch im 16. Jahrhundert etliche Geschäfte durch Untertanensuppliken in den Reichstag gelangr1 9• 74 Vgl. auch das Verlaufsmodell für Unruhen von P. Bierbrauer, Bäuerliche Revolten im Alten Reich. Ein Forschungsbericht, in: P. Blickte (Hrsg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980, S. 1-68, hier S. 44 und die Diskussion darüber bei P. Blickte, Unruhen, S. 82-84. 75 H. Neuhaus, Supplikationen, 11.1, S. 121 (543 Gnaden-, 283 Justizsupplikationen und 46 Interzessionen). 76 StAM, Protokolle 11, Kassel Cc 7, Bd. 2a (1787), eigene Extrapolation aufgrund der Auszählung der Monate Januar und Februar. 77 G. 5chwerhol/. Kölner Supplikenwesen, S. 474-476. 78 A. W ürgler, Desideria, S. 171. 79 H. Neuhaus, Art. Supplikationsausschuß, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5, 1998, S. 92-94.

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Die Verwaltungen versuchten den enormen Andrang von Bittschriften mit nSupplikenordnungen" zu kontrollieren 80 oder eigene Gremien oder Behörden zur Behandlung von Suppliken zu etablieren, wie etwa dem interkurialen nSupplikations-Ausschuß" des Reichstages (1521 bis zum frühen 17. Jahrhundert)81. Suppliken konnten mithin zur Bildung von Institutionen führen. Ein guter Teil der Suppliken wurde durch gesetzlich geregelte Verfahren provoziert: So mußte um Bürgeraufnahme, Verleihung eines Judenschutzbriefes, Erteilung bzw. Bestätigung von Druck-, Handwerks- und Zunftprivilegien oder die Erlaubnis zur Anwendung neuer Techniken oder Geräte suppliziert werden 82 • Diesen Umstand könnten die Kultur-, Wirtschafts- und Technikgeschichte nutzen, um Innovationen jeder Art auf die Spur zu kommen. Z.B. ist die Erfindung der periodischen Zeitung im Jahre 1605 nur dank einer Supplik dokumentiert83 . a) Komplexität der Wirkungen Die Wirkungen der Suppliken konnten freilich vielfältig und komplex ausfallen. Besonders effektiv scheinen sie gewesen zu sein, wenn sie sich - in Territorien mit Landtagen - inhaltlich mit landständischen Gravamina deckten, womit Synergieeffekte auftraten. Weniger effizient waren Suppliken zwangsweise dann, wenn sich verschiedene Suppliken und/oder Gravamina gegenseitig ausschlossen, wie etwa ein individuelles Gesuch zur privilegierten Ausübung eines Handwerks und die sofort eintreffende Gegensupplik der betroffenen Zunft mit ihrem Nahrungsargument; diese Konkurrenzsituationen versetzten die Obrigkeit in die Rolle des Schiedsrichters, wodurch sich ihre Autorität stabilisieren mochte. Allerdings war es für alle beteiligten Parteien attraktiver, den 80 R. Fuhrmann / B. Kümin / A. Würgter, Supplizierende Gemeinden, S. 312 f.; N. Landolt, Untertanenrevolten, S. 142. 81 H. Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß, S. 154-183, S. 301-308. In der Reichsstadt Köln dagegen blieb die Einführung eines eigenen nSupplications Meisters" oder eines Supplikenausschusses im späten 16. Jahrhundert in der Planungsphase stecken, G. Schwerhoff, Kölner Supplikenwesen, S. 485-488. 82 Vgl. R. Fuhrmann / B. Kümin / A. Würgter, Supplizierende Gemeinden, S. 312 f. Zu Schutzsupplikationen von Juden vgl. A. Hotenstein, Bitten; ein Beispiel für Druckprivilegien H.-]. Koppitz, Die Privilegierung von Klopstocks Messias-Ausgaben von 1780 (1781) durch Kaiser Joseph 11., in: Gutenberg-Jahrbuch, 65 (1990), S. 205-212; zu Gewerbefragen K. Simon-Muscheid, Handwerkszünfte im Spätmittelalter. Zunftinterne Strukturen und innerstädtische Konflikte, Bern / Frankfurt a.M. 1988, S. 293-296. 83 ]. Weber, nUnterthenige SupplicationJohann Caroli / Buchtruckers". Der Beginn gedruckter politischer Wochenzeitungen im Jahre 1605, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 38 (1992), S. 257-265;]. Weber, Avisen, Relationen, Gazetten: Der Beginn des europäischen Zeitungswesens, Oldenburg 1997.

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Konflikt mittels Suppliken in einem kostengünstigen summarischen Verfahren relativ schnell zu einem Vergleich zu führen, als sich in einen langwierigen und teuren gerichtlichen Prozeß zu verwickeln. Das sahen auch die Zeitgenossen so, will man den Rechtsprichwörtern glauben: "Es ist besser ein magerer Vergleich, denn ein feistes Urteil". Der Kostenaspekt scheint dabei das Hauptargument gewesen zu sein: "Wer will hadern um ein Schwein, der nehme die Wurst und laß es seyn"84. Suppliken in der Form von Gesuchen um Dispens konnten, wurden sie zahlreich gewährt, die generelle Gültigkeit einer Norm aushöhlen und damit die Akzeptanz der Norm in der Bevölkerung schwächen oder im Bereich der Steuern die herrschaftlichen Einkünfte schmälern: Der Graf von Hohenlohe erfüllte am Ende des 16. Jahrhunderts 72% der Suppliken um Steuererleichterung und gar 96% der Gesuche um Holz- und Getreide85 • Der große Aufwand, den frühneuzeitliche Staaten zur Beantwortung von Suppliken betrieben haben, könnte sich partiell gelohnt haben, weil die via supplicationis eine Ventilfunktion für sozialen Unmut wahrnehmen konnte. Daß die Bevölkerung das obrigkeitliche Angebot, Suppliken entgegenzunehmen und zu beantworten, so rege benutzte, belegt dessen integrierende Wirkung auf die Untertanen und zugleich seine stabilisierende Wirkung auf die Autorität der Obrigkeit, wie für das junge Herzogtum Württemberg oder die Reichsstadt Köln im 16. Jahrhundert vermutet wurde86 • Die Praxis des Supplizierens wurde als Hauptkommunikationsweg zwischen Untertanen und Fürst im paternalistischen Herrschaftsstil eines Kleinterritoriums gekennzeichnet87 , und stellte im Verständnis der Zeit ein "Schiedsverfahren quasi auf dem Verwaltungswege" dar, das kostengünstiger und schneller entscheiden konnte als die Gerichte88 • Herrschaftsstabilisierend wirkten Suppliken insofern, als sie das Gnadenrecht als Reservatrecht des Herrn akzeptierten. Auch das Recht, Dispensationen zu erteilen, also auf eine Supplik hin in besonderen Fällen die allgemeine Geltung eines Gesetzes punktuell außer Kraft zu setzen, war ein Ausfluß eines klassischen Herrschaftsrechtes, nämlich der gerade für den frühneuzeitlichen Staat elementaren Gesetzgebungsgewalt {potestas legislatoria)89. Das durch Suppliken ausgelöste staatliche Handeln konnte durchaus ambivalenten Charakter aufweisen. So wurden die Behörden nicht selten mittels 84 ].F Eisenhart, Grundsätze der deutschen Rechte in Sprüchwörtern mit Anmerkungen erläutert, Helmstedt 1759, S. 466 und 468. Vgl. R. Blickle, Laufen gen Hof; A. Holenstein, "Local-Untersuchung"; R. Blickte, Supplikationen; B. Garnot (Hrsg.), L'infrajudiciaire, sowie M. Fimpel, Rechtsschutz. 85 T Robisheaux, Rural Society, S. 172 f. und S. 237-242. 86 R. Fuhrmann / B. Kümin / A. Würgler, Supplizierende Gemeinden, S. 287-290 (Württemberg); G. Schwerhoff, Kölner Supplikenwesen, S. 490. 87 T Robisheaux, Rural Society, S. 191-197, S. 232-236. 88 H. Neuhaus, Supplikationen, TI. 1, S. 160. 89 ]. Steinitz, Dispensationsbegriff, S. 50 f.; A. Holenstein, Bittgesuche, S. 357.

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Suppliken oder Denunziationen genötigt, Hexen- oder Bettlerjagden zu veranstalten90 • Die von Arlette Farge und Michel Foucault berühmt gemachten "Festsetzungen" (en/ermements) im Paris des 18. Jahrhunderts, bei denen Eltern oder Eheleute mittels Suppliken eine lettre de cachet veranlaßten, um mißliebige Kinder oder Gatten gegen Bezahlung der Kosten ins Gefängnis abzuschieben, zeigten, daß diese berüchtigten Lettres de cachet weniger ein Terrorinstrument in der Hand des absolutistischen Königs, als vielmehr ein Angebot der königlichen Verwaltung an die Untertanen darstellte, die von ihren familiären Konstellationen überfordert waren91 • Bis zu 96% aller Lettres de cachet sollen auf Bitten von Untertanen erlassen worden sein92 • Ähnliche Festsetzungen sind auch aus Frankfurt am Main um 16009\ oder aus der Markgrafschaft BadenDurlach im 18. Jahrhundert bekannt94 • Farge und Foucault sprachen vom Verlangen der Bevölkerung nach autoritativer Entscheidung familiärer Konflikte durch den Staat95 . Diese empirische Einsicht stimulierte Foucault zu einer theoretischen Wende in seinem Machtbegriff, die als Übergang vom Konzept der "Disziplin" zu demjenigen der "Gouvernementalite" (Regierungskunst) skizziert wurde 96 • b) Entstehung, Niederschrift und Eingabe von Suppliken und Gravamina Soviel wir über den Inhalt von Gravamina und Suppliken wissen können, so wenig erfahren wir in der Regel über ihre Entstehung und Niederschrift97 • 90 Vgl. A. Blauert, Hexenverfolgung in einer spätmittelalterlichen Gemeinde. Das Beispiel KrienslLuzern um 1500, in: Geschichte und Gesellschaft, 16 (1990), S. 8-25, hier S. 24 f.; vgl. den Hinweis bei G. Schwerho/l, Kölner Supplikenwesen, S. 490; E. Flückiger, Art. Bettelwesen, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 2, S. 358 f. 91 A. Farge / M. Foucault, Familiäre Konflikte. Die .Iettres de cachet", Frankfurt a.M. 1989 (Orig. Paris 1982). 92 C. Quitel, "De par le Roy". Essai sur les lettres de cachet, Toulouse 1981, S. 25 f., zitiert bei B.E. Strayer, Lettres de cachet and social control in the Ancien Regime (16591789), New York 1992, S. XXI. 93 Z.B. Stadtarchiv Frankfurt am Main, Ratssupplikationen 1601, Bd. 11, fol. 172r173v und 203. 94 Diesen Hinweis verdanke ich Andre Holenstein. 95 A. Farge / M. Foucault, Familiäre Konflikte, S. 273. 96 Ebd.; vgl. etwa M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1977, Tl. 3; den., La ,Gouvernementalite', in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 3, Paris 1994, S. 635-657. Die Einschätzung einer theoretischen Wende bei T Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin / Hamburg 1997, S. 143. 97 Vgl. R. Fuhrmann / B. Kümin / A. Würgler, Supplizierende Gemeinden, S. 321 f. Zu den kollektiven Suppliken N. Landolt, Untertanenrevolten, S. 140 f.; zu den individuellen C. Ulbrich, Bittstellerinnen, S. 217.

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Da Gravamina kollektive Interessenartikulationen darstellen, müssen sie im Prinzip auch kollektiv verfaßt worden sein. In aller Regel wurden sie von den Gemeinden oder deren Repräsentanten gesammelt und zusammengestellt, was nicht immer ohne Zwang gegenüber Minderheitspositionen ablief. Je nach der räumlichen Reichweite konnten mehrere Ortsteile, Viertel oder Zünfte innerhalb einer Gemeinde oder auch mehrere Gemeinden oder mehrere Ämter sei es auf Vollversammlungen, sei es an Treffen von (gewählten) Deputierten die einzelnen Gravamina aufeinander abstimmen. Als Protokollant diente eine schreibkundige und vertrauenswürdige Person aus den eigenen Reihen, sei es ein Pfarrer, Lehrer, Dorfvorsteher, Stadtschreiber etc. oder ein bezahlter Schreiber bzw. Advokat. Genauso dürften auch Suppliken ganzer Gemeinden, Städte oder Ämter entstanden sein. Bei den Suppliken konnten aber auch informelle oder ad hoc entstandene Gruppen, wie z.B. die Unverheirateten, die Anwohner einer bestimmten Straße, die Hintersassen eines Dorfes usw. handeln. Zudem gibt es die große Zahl individueller Suppliken. Hier ist wohl davon auszugehen, daß die meisten von professionellen Schreibern oder Amtleuten 98 ausgestellt wurden, folgen sie doch einem formalen Schema und beachten die korrekten Anredeformeln, die Schreibkenntnisse bloß bescheidener Art überfordert hätten. Immer wieder wird man aber ungelenk gekritzelte, individuell geschriebene Stücke finden können. Die Kosten der Schreibarbeiten scheinen kein wesentlicher Hinderungsgrund gewesen zu sein. Die Eingabe von Gravamina und Suppliken war ein wichtiger, mit politischer Symbolik aufgeladener Moment. Gravamina und kollektive Suppliken wurden immer wieder von großen Menschenmengen im Rahmen regelrechter Demonstrationen übergeben. Der Aufmarsch hunderter Männer und teilweise auch Frauen sollte den Anliegen Sichtbarkeit und Nachdruck verleihen 99 • Die öffentliche Inszenierung sollte zudem auch verhindern, daß einzelne Überbringer der Beschwerden zu Rädelsführern gestempelt und kurzerhand eingekerkert wurden 100, was nicht selten geschah, obwohl Suppliken, ständische Gravamina und teilweise auch Gravamina von Protestbewegungen als legale Formen der Interessenartikulation galten. Auch die obrigkeitlichen Adressaten von Suppliken und Petitionen nutzten die der Übergabe inhärente Symbolik, etwa indem sie ihre Ablehnung dadurch augenfällig demonstrierte, daß sie die öffentlich überreichte Bittschrift - z.B. der Genfer Bürger 1707 - sofort und So N. Landolt, Untertanenrevolten, S. 138 für Basel. R. Btickte, Supplikantin, S. 84 f. Ausführlich jetzt R, . Btickte, Supplikationen, S. 297-312. Vgl. die Hinweise bei A. Würgter, Unruhen und Offentlichkeit, S. 157-161, S. 260 f., ders., Politische Kultur, S. 85 f. 100 Beispiele bei A. Würgter, Diffamierung, S. 325. 98

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ungelesen ins Feuer warf lOl • Um solchen Enttäuschungen vorzubeugen, mußte mit Vorteil das zum Teil komplizierte Regelsystem von ungeschriebenen und oft lokalspezifischen Verhaltensmustern, das für die Eingabe von Bitten galt, beachtet werden l02 • Auch individuelle Suppliken konnten in sehr verschiedener Weise überbracht werden. Auffallend ist das große Verlangen, die Suppliken persönlich beim Herrscher abzugeben. Dieses "Laufen gen Hof" führte bisweilen zu bemerkenswert weiten Reisen. Den Hessen-Kasselischen Untertanen wurde 1733 und 1739 wiederholt untersagt, zur Einreichung von Bittschrif~en eigens nach Stockholm zu reisen, wo der Landgraf von Hessen-Kassel als König von Schweden residierte !03. Doch selbst das Angebot, die Suppliken per Post zuzustellen - wobei echten Armen das Porto erlassen wurde -, vermochte das Laufen gen Hof bzw. in die Kanzlei nicht gänzlich zu verdrängen lO4 • Bekannt sind auch die besonderen Anlässe, bei denen sich die Untertanen dem Herrscher kniefällig nähern und devote Suppliken übergeben konnten: Messebesuch lO5 , Herrscherreisen, Huldigungen, Jagden, politische Visitationen usw.

IV. QueUenkritische und methodische Bemerkungen Bei aller Reichhaltigkeit der Quellen, vor allem der Suppliken, sollte man nicht vergessen, daß die tendenzielle Zunahme überlieferter Suppliken möglicherweise nur die zunehmende Verschriftlichung der Verfahren spiegelt. Denn viele Bitten konnten auch mündlich beschieden werden, z.B. in der klassischen Form der Audienz des Landesherrn oder nachgeordneter Behörden. Die Sup101 R. Braun, Das ausgehende Ancien Regime in der Schweiz, Göttingen / Zürich 1984, S. 266. 102 Am Beispiel der Stadtrepublik Bern um 1500 entfaltet von 5. Teuscher, Soziabilität, S. 218-234. Zu den Problemen des Zugangs zur Herrschaftvgl. auch V Groebner, "Gemein" und .Geheym". Pensionen, Geschenke, und die Sichtbarmachung des Unsichtbaren in Basel am Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 49 (1999), S. 445-469, hier S. 453. IOJ Verordnung 11.122.VII.1733, in: Casselische Zeitung / von Policey, Commercien, und andern dem Publico dienlichen Sachen, Nr. XXXIX 28.IX.1733, S. 305 f. Wiederholung: ebd., Nr. XLVIII 30.xU739, S. 379 f. und dasselbe nochmals ebd., Nr. XLIX 7.XII.1739, S. 387 f. Vgl. vor allem R. Blickte, Laufen gen Hof. 104 Suppliken sollten nach dem Regierungs-Ausschreiben 3 .VII.1773 per Post eingegeben werden (Sammlung fürstlich hessischer Landes-Ordnungen und Ausschreiben, Bd. 6, bearb. von c'G. Apell, Kassel [0.].], S. 700); die Postporto-Ordnung 26.VIII.1784 ermöglichte den erwiesener Maßen Armen, ihre Suppliken portofrei auf dem Postweg zu spedieren, ebd., S. 1164. 105 Vgl. die Zusammenstellung bei R. Blickte, Supplikationen, S. 294-296; 5. Teuscher, Soziabilität, S. 140; sowie D.M. Luebke, Frederick, S. 402,406.

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plikenordnungen der Landgrafschaft Hessen-Kassel oder die Praxis in der Stadtrepublik Basel bezeugen die Popularität des mündlichen Weges noch im 17. und 18. Jahrhundert lO6 • Doch auch mit den im Voll text überlieferten Suppliken ist quellenkritisch umzugehen. Sie sollten nicht als ideale Ego-Dokumente behandelt werden, ohne ihren funktionalen (es geht um konkrete und begrenzte Anliegen) und formalisierten (die Regeln der Supplikenordnungen sind zu befolgen) Charakter ebenso zu bedenken wie die Tatsache, daß sich in den allermeisten Fällen ein Schreiber zwischen Supplikant und Adressat (und Historiker bzw. Historikerin) schiebt. Professionelle Schreiber aber orientierten sich an den Gestaltungsregeln für Bittschriften, wie sie die jeweiligen Supplikenordnungen aufstellten, an der seit dem 16. Jahrhundert breiten Anleitungsliteratur zum Briefeschreiben 107 und - last hut not least - an den Wertvorstellungen der Adressaten (also den Obrigkeiten). Daher konnte professioneller Einfluß die Argumente und Normen, mit denen Supplizierende ihre Anliegen vertraten, fundamental verändern, wie Renate Blickle an einem Beispiel aus den 1620er Jahren eindrücklich demonstriert hat: Die Supplikantin aus Bayern wechselte unter Fremdeinfluß von ihren Gerechtigkeits- und Gleichbehandlungsargumenten zur obrigkeitlich erwarteten Gehorsams- und Reuerhetorik - es lohnte sich lO8 • Verständlicherweise wird der Wahrheitsgehalt des Inhalts von Suppliken in der Forschung kontrovers beurteilt, je nachdem welche Art von Suppliken und Verfahren untersucht wurden lO9 • Auch beim Formulieren der Gravamina 106 R. Fuhrmann / B. Kümin / A. Würgler, Supplizierende Gemeinden, S. 306-313; N. Landolt, Untertanenrevolten, S. 139. Die Wörterbücher des 16. Jahrhunderts gehen

noch von mündlichen Bitten aus und nennen .Supplication Libellus" für Bittbrief (J.

Maaler, Die Teütsch spraach ... Dictionarium Germanicolatinum novum, Zürich 1561, Nachdruck Hildesheim / New York 1971, fol. 396v und 7Ov; P Dasypodurs, Dictionarium

latinogermanicum ... , Straßburg 1526, Nachdruck Hildesheim / New York 1974, fol. 297r und 435v. K. Stieler, Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz ... , Nürnberg 1691 sagt nichts zu diesem Aspekt), dagegen beschreiben Lexika im 18. Jahrhundert (H. Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 31, 1744, Sp. 367) Suppliken als schriftliche oder mündliche Bitten; erst um die Wende zum 19. Jahrhundert verliert sich der Hinweis auf die mögliche mündliche Form (J.c. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart ... ,2. Aufl., 1801, S.506). 107 Z.B. F Frangk, Ein Cantzley und Titel buechlin, Wittenberg 1531, Nachdruck Hildesheim 1979. 108 R. Blickle, Supplikantin, vor allem S. 93-99. Vgl. C. Ulbrich, Bittstellerinnen, besonders S. 218 ff.; O. Ulbricht, Supplikationen, S. 157-160; G. Schwerhoff, Kölner Supplikenwesen. 109 Während N.Z. Davis von "Fiktion" spricht, betont A. Holenstein, Bitten, S. 108 f., ihre relativ hohe Authentizität. Die Differenz könnte aber durchaus im jeweiligen Quellenkorpus liegen: Davis untersuchte Gnadenbitten von zum Tode Verurteilten im Königreich Frankreich. Die Extremsituation und die Anonymität dürften hier Fiktion

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von Protestbewegungen muß mit Fremdeinfluß gerechnet werden, auch wenn er nicht immer so klar rekonstruierbar ist wie im Fall der Beschwerde von Bauern aus dem Südschwarzwald 1790. Der Advokat der Bauern eliminierte alle Bibelstellen, mit denen die Bauern im ihre radikalen Anliegen begründeten, um sie durch seiner Einschätzung nach erfolgversprechendere, altrechtliche Argumentationsfiguren zu ersetzen llO . Die Rechtsgeschichte hat die Vielfalt der Quellentermini für Bittschriften mit guten Gründen auf die Begriffe Gnadensupplik und Justizsupplikation reduziert. Doch sollte dies empirisch angelegte Studien nicht davon abhalten, die im jeweiligen Untersuchungsraum und-zeitabschnitt verwendeten Bezeichnungen für Suppliken und Gravamina genau zu registrieren. Die Benennungen waren nämlich, weil sich dahinter Rechtsanspruche verbergen konnten, oft Gegenstand des politischen Streits. So nannte der Landgraf von Hessen-Kassel um 1700 die Gravamina der Landstände nur "angeliehe Gravamina" oder "Desideria". Er machte damit deutlich, daß er die Rechtmäßigkeit der landständischen Anliegen nicht anerkannte, denn im Verständnis des 18. Jahrhunderts waren Gravamina "rechtmäßige" Klagen, die sich auf Pflichten des Herrschers bezogen, während Desideria lediglich an den Landesherrn gerichtete Wünsche ohne Anspruch auf Erfüllung bezeichneten 1l1 • Ein Anweisungsbuch zum Briefeschreiben aus dem 16. Jahrhundert riet den supplizierenden Untertanen: "diesen vnderschiet hie [zu] mercken / das die vndertanen flehen bitten vnd ruffen / wogegen die Oberkeit vnd Herrschafft an dem stat / gebieten / befehlen! wollen / begehren odder synnen / Vnd zimpt keinem vnderthanen / ... an die Oberkeit / ... dieser wort zubrauchen / es sey im schreiben odder reden. "112.

eher ermöglichen, als in den vergleichsweise belanglosen Anliegen in kleinräumigen Strukturen mit gut ausgebautem amtlichen Berichtwesen (Baden-Durlach). 110 C. Ulbrich, Rheingrenze, Revolten und Französische Revolution, in: V Rödel (Hrsg.), Die Französische Revolution und die Oberrheinlande, 1789-1798, Sigmaringen 1991, S. 223-244, hier S. 238. 111 Vgl. J.]. Moser, Landen, S. 1190: "Landes-Desiderien aber seynd Bitten, Vorstellungen und Vorschläge derer Land-Stände und Unterthanen, daß der LandesHerr oder die Seinige, etwas thun oder unterlassen mögen, welches nicht als eine Schuldigkeit gefordert werden kann, da mithin die Land-Stände und Unterthanen, es zu begehren, kein vollkommenes Recht haben". Zu den Gravamina vgl. Anm. 3. 112 F Frangk, Cantzley, foI. Avüi, Hervorhebung A.W. Zu den ständisch-hierarchischen Sprachformen für Bittschriften im 18. Jahrhundert vgl. z.B. /.5. Pütter, Anleitung zur juristischen Praxis, wie in Teutschland sowohl gerichtliche als außergerichtliche Rechtshändel oder andere Canzley-Reichs- und Staats-Sachen schriftlich oder mündlich verhandelt, und in Archiven beygelegt werden, 4. Aufl., Göttingen 1780, 1. Aufl. 1753, § 85.

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V. Perspektiven

Im Kontext sozialer Konflikte ermöglichte die Integration der Suppliken in die vor allem mit Gravamina arbeitende Stände- und Revoltenforschung, auch alltägliche Konflikte auf niedrigerem Niveau in die Untersuchungen einzubeziehen. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, daß daraus sowohl bezüglich der Konfliktdynamik als auch bezüglich der Konfliktstrategien eine bessere Verortung der Revoltenereignisse in die politischen, sozialen und kommunikativen Strukturen möglich wird. Gerade über die konkurrierenden Suppliken lassen sich auch die innergesellschaftlichen Spannungen in ihrer Vielfalt und Dynamik besser erfassen. Insofern verspricht eine integrative Herangehensweise, die über die Suppliken und Gravamina hinaus auch die Gerichtsakten und Visitationen usw. einbezieht und die Quellen in ihren praktischen Entstehungsund Wirkungskontext einbettet, weitere Ergebnisse bei der Erforschung nicht nur manifester sozialer Konflikte, sondern auch alltäglicher Streitigkeiten. In dieser Richtung von der Revolte zum Alltag und zur Alltagsgeschichte der politischen Kommunikation ist die Revoltenforschung zur Zeit unterwegs. Sie reiht sich damit ein in den generellen Trend der letzten fünfzehn Jahre, statt nur Normen und Institutionen vermehrt die Praxis der Herrschaft und die Handlungen der Akteure zu untersuchen und herausragende Ereignisse mit den Alltagsstrukturen und der politischen Kultur zu vermitteln 113 • Das große Potential der Quellentypen Gravamina und Suppliken zur Erforschung nicht nur der Revolten, sondern der frühneuzeitlichen Geschichte im allgemeinen dürfte klar am Tag liegen, handelt es sich doch um vergleichsweise spontan und freiwillig von breiten Bevölkerungskreisen in großen Mengen erzeugte und von staatlicher Seite ernsthaft bearbeitete Quellen, die tatsächlich erfolgte Handlungen, also die Praxis dokumentieren I 14. Sie bilden daher ein unschätzbares Gegengewicht zu der herrschaftlichen Optik, die den meisten anderen Quellentypen inhärent ist, und zu rein normativen, nur den Sollenszustand postulierenden Quellen. So können selbst die in den einzelnen Territorien für Suppliken und Gravamina jeweils verwendeten Termini - vor allem wenn sie umstritten sind - Indizien sein für das (sich verändernde) Machtverhältnis zwischen Untertanen bzw. Landständen und 113 VgI. M. Dinges, .Historische Anthropologie" und .Gesellschaftsgeschichte". Mit dem Lebensstilkonzept zu einer .Alltagskulturgeschichte" der frühen Neuzeit?, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 24 (1997), S. 179-214; H.R. Schmidt, Sozialdisziplinierung?; A. Suter, Theorien und Methoden für eine Sozialgeschichte historischer Ereignisse, in: Zeitschrift für Historischen Forschung, 25 (1998), S. 210-243; G. Göhter, Wie verändern sich Institutionen? Revolutionärer und schleichender Institutionenwandel, in: G. Göhter (Hrsg.), Institutionenwandel, Opladen 1997, S. 21-56. 114 R. Fuhrmann / B. Kümin / A. Würgter, Supplizierende Gemeinden, S. 319; B. Kümin / A. Würgter, Petitions, S. 42-45,58 f. VgI. 0. Ulbricht, Supplikationen, S. 149; skeptischer zum Grad der Freiwilligkeit C. Ulbrich, Bittstellerinnen, S. 223.

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Obrigkeit. Selbstverständlich haben auch Suppliken und Gravamina als Quellen ihre Grenzen - zu nennen wären die oft lückenhafte, zudem nur die schriftlich festgehaltenen Vorgänge umfassende Überlieferung, der unklare Anteil von Supplizierenden und Schreibern bzw. Juristen an der Niederschrift, die interessengeleitete funktionale Zweckgebundenheit. Doch trotz dieser quellenkritischen Einwände erhielten Gravamina und Suppliken in den 1990er Jahren über die primär an Informationen zu Ereignissen und Personen interessierte Lokal- und Landesgeschichte hinaus vermehrte Beachtung. Die Vielfalt der Forschungsrichtungen und Fragestellungen, die mit Suppliken arbeiten (könnten), unterstreicht deren Bedeutung und verweist auf deren großes Potential: Die Kirchen- und Mentalitätsgeschichte vermißt das Gewissen des frühneuzeitlichen Sünders; die erweiterte Biographik rekonstruiert mit den als Ego-Dokumente verstandenen Suppliken Lebensläufe kleiner Leute; die Genderforschung trifft auf vergleichsweise viele Zeugnisse von Frauen in einem Kontext, der gleichwohl "gendered" bleibt; die praxisorientierte Rechtsgeschichte, die Historische Kriminalitätsforschung und die Untersuchungen zur Praxis der "guten Policey" entdecken die außergerichtlichen summarischen Verfahren und die Justiznutzung; die Sozialgeschichte analysiert die alltäglichen Konflikte innerhalb der Untertanen und zwischen Herrscher und Untertanen; Prosopographie und Historische Anthropologie kommen dank der Fürbitten und Interzessionen Verwandtschafts-, Freundschafts- und Klientelbeziehungen auf die Spur; Kultur-, Wirtschafts- und Technikgeschichte entnehmen den Suppliken um Privilegien (wir würden heute sagen: um Patente und Lizenzen) wertvolle Informationen über Innovationen nicht nur im Bereich der periodischen Presse. Nicht nur aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts sind Suppliken und Gravamina ein wichtiges Element der Kommunikation in der vormodernen Gesellschaft. Ihre Bedeutung spiegelt sich in den vielen publizistischen Formen - vom Maueranschlag (affiche) bis zum Flugblatt - und in ihrer variantenreichen Behandlung durch die zeitgenössische Belletristik. "Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften!" jammert der Prinz in der Eingangsszene von Gotthold Ephraim Lessings "Emilia Galotti" (1772). Diese Aussage bezieht sich natürlich auf des Prinzen Arbeitsalltag, doch in abgeschwächter Form könnte sie auch äußern, wer die klassischen Texte der frühneuzeitlichen deutschen Literatur mit Blick auf Suppliken und Bittszenen durchgeht, auch wenn das Motiv nicht überall so dominant ist wie etwa in Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas" (1810)115. Falls dies noch nötig wäre, könnten sol115 Vgl. etwa auch zur Parodie einer Supplikation an den Papst, verfaßt vom Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer: E. Rummel, A Little-known "Petition" and "Papal Rescript": From the Pen of Willibald Pirckheimer?, in: Archiv für Reformationsgeschichte , 85 (1994), S. 309-3 15; S. Franck, "Klagbrieff oder Supplikation" (1529), in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. 1, Bern 1993, S. 221-235 (es handelt sich um eine Übersetzung der englischen Vorlage von 5. Fish,

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che Hinweise jene Forschungen bestärken, die das Bitten und Begehren als Habitus und soziale Praktik, die Suppliken und Gravamina als Mittel der "politischen Kommunikation in der ständischen Gesellschaft"116 thematisieren.

Nachtrag Dezember 2003 Seit Redaktionsschluß der italienischen Fassung dieses Aufsatzes (Oktober 2000) erfreuten sich Suppliken und Gravamina einer erstaunlichen Konjunktur in der historischen Forschung. Im folgenden sollen die für das hier behandelte Thema einschlägigen Publikationen der Jahre 2000-2003 nachgetragen und ganz knapp vorgestellt werden 117 • Zunächst fällt auf, daß sich die neueren Forschungen zu Suppliken und ähnlichen Quellengattungen noch vorwiegend auf der Stufe von Aufsätzen in Sammelbänden und einzelnen Kapiteln in Dissertationen bewegen, während Monographien zum Thema (noch) fehlen. Zu den wichtigsten Sammelbänden, die auch Beiträge zum deutschsprachigen Raum enthalten - wenn auch nicht in deutscher Sprache - gehören das von Lex Herma van Voss herausgegebene Themenheft "Petitions in Social History" , das Beiträge zum 16. bis 20. Jahrhundert und zu nahezu allen Kontinenten enthält l18 • Zeitlich und räumlich enger gefaßt, dafür interdisziplinärer ausgerichtet - sozial-, kultur-, politik- und rechtsgeschichtlich - präsentiert sich dagegen der erste Tagungsband des Supplikenprojekts TrientlBem, der italieA Supplicacyon for the Beggars); Jean Paul, Bittschrift aller deutscher Satiriker an das deutsche Publikum (1784), in: ders., Sämtliche Werke, Abteilung 11, Bd. 1, München 1974, S. 532-569; Fr. Schiller, Wilhelm Tell (1804). Auf einer anderen Ebene wäre auch die Funktion vieler Literaten und Künsder als Supplikenschreiber (ein besonders berühmtes Beispiel ist Voltaire, wie seine edierte Korrespondenz zeigt) nähere Betrachtung wert. 116 A. Würgler, Desideria, S. 168. Vgl. G. Schwerhoff, Kölner Supplikenwesen, S. 473; R. Blickte, Supplikationen (Titel des Sammelbandes). 117 Auch der Nachtrag verzeichnet vor allem deutschsprachige Publikationen. Einige, aber nicht alle der im Jahre 2000 erschienenen Titel konnten bereits für die Ende 2000 publizierte italienische Fassung verwertet werden. Daher umfaßt der Nachtrag die Jahre 2000-2003. Zur sehr ausdifferenzierten Forschung über "Petitions" im angelsächsischen Raum vgl. D. Zaret, Origins of Democratic Culture: Printing, Petitions, and the Public Sphere in Early Modern England, Princeton NJ 2000. In den Zeitschriften "Historical Journal" und "Parliamentary History" erscheinen öfters Ausätze zu Petitionen. 118 L. Heerma van Voss (Hrsg.), Petitions in Social History (International Review of Social History, 46, Supplement 9), Cambridge 2001. Die Aktualität des Supplizirens im 20. Jahrhundert bezeugt die Untersuchung von D. Fassin, La supplique. Strategies rhetoriques et constructions identitaires dans les dem an des d'aide d'urgence, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales, 55 (2000), S. 955-981, zum Frankreich der 1990er Jahre.

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nischen, 2002 erschienenen Fassung des vorliegenden Bandes !19. Er widmet sich politischen, juristischen und administrativen Aspekten der Geschichte des Supplizierens in Italien, Deutschland, Österreich, der Schweiz und Frankreich. Auf das europäische Hoch- und Spätmittelalter bezieht sich der Sammelband der Ecole franc;aise de Rome, der die Suppliken im Zusammenhang des Regierens mittels Gnade thematisiert l20 • Im Titel von Monographien hingegen sucht man in dieser Zeit vergeblich nach Suppliken und Gravamina. Offensichtlich haben entsprechende Untersuchungen (noch) nicht Buchformat erreicht, abgesehen von Ausnahmen. Doch dürften nicht alle hinter dem Fachterminus "Sollicitatur" eine Sonderform der Bitte erkennen: Die Sollicitatur, hält Bengt Christian Fuchs in seiner Dissertation fest, "war eine durch die Prozeßpartei persönlich oder einen Verfahrensbevollmächtigten vorgebrachte Bitte an Bedienstete des Reichskammergerichts, ihre rechtsanhängigen Verfahren einer raschen Erledigung zuzuführen" 121. Die Sollicitatur entwickelte sich, obwohl in gefährlicher Nähe zur Korruption angesiedelt, zu einem regelrechten Bestandteil des Verfahrens am Reichskammergericht. Parteien, die nicht "sollicitierten" , ließen den Prozeß ruhen. Symptomatisch erscheint dabei, daß sozial hochgestellte Prozeßparteien ihre Bitten mit Vorliebe an Präsidenten und Kammerrichtern adressierten, während sich Bauern und arme Parteien eher an das Hauspersonal und die Kanzleibediensteten hielten. Rechts- und kriminalitätshistorische Arbeiten diskutieren häufig das Aushandeln von Strafen vor Gericht mittels Bitt- und Gnadengesuchen 122 , 119 C. Nubola I A. Würgler (Hrsg.), Suppliche e gravamina. Politica, amministrazione, giustizia negli Stati Italiani e nel Sacro Romano Impero (secc. XIV-XVIII), (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 59) Bologna 2002. 120 H. Millet (Hrsg.), Suppliques et requetes: le gouvernement par la grace en occident (XIIe-XVe siede), Rom 2003. 121 B. C Fuchs, Die Sollicitatur am Reichskammergericht, Köln I Weimar I Wien 2002, S.2. 122 M. Dinges, Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: A. Blauert / G. Schwerhoff (Hrsg), Kriminalitätsgeschichte, S. 459-480; CA. Ho//mann, Außergerichtliche Einigungen bei Straftaten als vertikale und horizontale soziale Kontrolle im 16. Jahrhundert, ebd., S. 563-579; H. Rudolph, Kirchenzucht in geistlichen Territorien. Das Fürstbistum Osnabrück vom Westfälischen Frieden bis zu seiner Auflösung (1648-1802), ebd., S. 627-645; A. Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien I Köln I Weimar 2000, Register Stichwort: Gnadengesuche; U. Henselmeyer, Ratsherren und andere Delinquenten. Die Rechtsprechungspraxis bei geringfügigen Delikten im spätmittelalterlichen Nürnberg, Konstanz 2002, S. 136-155 ("Herrschaft im Dialog", S. 155); H. Rudolph, .Eine gelinde Regierungsart". Peinliche Strafjustiz im geistlichen Territorium. Das Hochstift Osnabrück (1716-1803), Konstanz 2000; CA. Ho//mann, Nachbarschaften als Akteure und Instrumente der sozialen Kontrolle in urbanen Gesellschaften des sechzehnten Jahrhunderts, in: H. Schilling (Hrsg.), Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen

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Forschungen zur "guten Policey" thematisieren anhand von Fallbeispielen oder kleineren Serien Aspekte der Kommunikation zwischen Untertanen und Verwaltung 123 oder den Einfluß der Untertanen auf die Gesetzgebung im Medium der Supplikation 124 und die neue Militärgeschichte nutzt Suppliken und Klagen für Untersuchung des Verhältnisses zwischen Bevölkerung und Besatzungstruppen 125 • Die Denunziation als - anonyme Anzeige - verkörpert einen Sonderfall der Supplik und erfreut sich des anhaltenden Interesses kommunikations historischer Studien l26 . Europa / Institutions, Instruments, and Agents of Social Control and Discipline in Early Modern Europe, Frankfurt a.M. 1999, S. 187-202; S. Pahl, Schuldmindernde Umstände im römischen Recht. Die Verhandlungen des Totschlages im Herzogtum Württemberg im 16. Jahrhundert, in: H. Rudalph / H. Schnabel-Schüle (Hrsg.), Justiz = Justice = Justicia? Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa, Trier 2003, S. 235-256. 123 A. HaIenstein, Gute Policey und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Regime. Das Fa1lbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), 2 Bde., Tübingen 2003, Bd. 1, S. 282-305; ders., Klagen, Anzeigen, Supplizieren. Kommunikative Praktiken und Konfliktlösungsverfahren in der Markgrafschaft Baden im 18. Jahrhundert, in: M. Erikssan / B. Krug-Richter (Hrsg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.-19. Jahrhundert), Köln / Wien / Weimar 2003, S. 335-369; A. Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt a.M. 2000. 124 P. Blickle, Beschwerden und Polizeien. Die Legitimation des modernen Staates durch Verfahren und Normen, in: P. Blickte / P. Kissling / H.R. Schmidt (Hrsg.), Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland, Frankfurt a.M. 2003, S. 549-568; P. Dubach, Policey im Konflikt. Gesetzgebung und Widerstand im hochstiftisch-augsburgischen Pflegamt Rettenberg, ebd., S. 343-391; vgl. auch das Register Stichwort: Supplik. 125 M. Meumann, Kriegsfolgen und militärische Lasten als Konfliktpotential im 17. Jahrhundert: Bilanz der Forschung und Ansätze zu einer Typologie des Widerspruchs, in: W Freitag (Hrsg.), Politische, soziale und kulturelle Konflikte in der Geschichte von Sachsen-Anhalt, Halle a.d.S. 1999, S. 127-145; ders., Beschwerdewege und Klagemöglichkeiten gegen Kriegsfolgen, Okkupation und militärische Belastungen im Reich und in Frankreich um die Mitte des 17. Jahrhunderts, in: H. Duchhardt (Hrsg.), Krieg und Frieden im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit: Theorie, Praxis, Bilder / Guerre et paix du moyen age aux temps modernes: Theories, pratiques, representations, Mainz 2000, S. 247-269. 126 Dazu M. Weber, "Anzeige" und "Denunciation" in der frühneuzeitlichen Policeygesetzgebung, in: K. Hiirter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 583-609; M. Hahkamp / C. Ulbrich, Wege zu einer inter- und intrakulturellen Denunziationsforschung, in: dies. (Hrsg.l, Der Staatsbürger als Spitzel. Denunziationen des 18. Jahrhunderts im europäischen Vergleich, Leipzig 2001, S. 923; R. Blickle, Denunziation. Das Wort und sein historisch-semantisches Umfeld: Delation, Rüge, Anzeige, ebd., S. 25-59; M. Hahkamp, Denunziationen für und gegen die Obrigkeit: Konstanz am Ende des 18. Jahrhunderts, ebd., S. 61-85; A. Würgler, Verschwiegenheit und Verrat. Denunziation und Anzeige in der Berner Verschwörung von 1749, ebd., S. 87-109; A. HaIenstein, Normen und Praktiken der Anzeige in der Markgrafschaft Baden-Durlach in der zweiten Hälfte des l8.Jahrhunderts, ebd., S. 111-

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Auf breiter Basis quantifizierende Zugänge sind noch die Ausnahme. Mit Erfolg erprobt wurden sie von Erika Flückiger Strebel am Beispiel der Armenfürsorge im Stadtstaat Bern des 18. Jahrhunderts. Allerdings zeigt sich gerade hier wieder in aller Schärfe das Überlieferungsproblem, konnte die Autorin doch nur auf die in den Protokollen der Verwaltung festgehaltenen Supplikations-Vorgänge zurückgreifen, nicht aber auf integrale Bittschriften jener Untertanen, die um Armenunterstützung einkamen. Originalsuppliken (sofern die Bittgesuche überhaupt schriftlich festgehalten worden waren) scheinen überhaupt nicht überliefert worden zu sein 127 • Für den deutschsprachigen Raum fehlen noch Untersuchungen von großen Serien nach textlichen Kriterien, wie sie etwa Paola Repetti aufgrund einer Stichprobe von 1646 Suppliken aus Parma (1594-1731) vorgelegt hat l28 • Hier liegt noch Potenzial brach. Hingegen werden Suppliken für biographische Studien öfter implizit oder explizit herangezogen 129• Für die deutschsprachige Ständeforschung bestätigt Kersten Krüger in seiner aktuellen Zusammenfassung die Rolle der Gravamina oder Beschwerden für die Entstehung, Funktion und Konfliktlösung im Rahmen landständischer Verfahren, ohne allerdings wesentlich neue Aspekte hinzuzufügen 130 . Einen 146; D. Hüchtker, Das "Räubergesindel" und die Unruhen in der Zeit der Französischen Revolution. Die Bedeutung von Anzeigen, Gerüchten, und regelmäßigen Berichten für die Kommunikationspraxis der badischen Verwaltung am Ende des 18. Jahrhunderts, ebd., S. 147-194; G. Mahlerwein, Denunziationen in der Kurpfalz in der Zeit der Französischen Revolution: ein FaIlbeispiel, ebd., S. 195-201. A. Würgler, Conspiracy and Denunciation: A Local Affair and its International Publics (Bern 1749), in: f. van Horn Melton (Hrsg.), Cultures of Communication from Reformation to Enlightenment. Constructing Publics in the Early Modern German Lands, Aldershot 2002, S. 119-131. 127 E. Flückiger Strebei, Zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie: Armenfürsorge auf der bernischen Landschaft im 18. Jahrhundert, Zürich 2002. 128 P Repetti, Scrivere ai Potenti. Suppliche e memoriali a Parma (secoli XVIXVIII), in: A. Messerli / R. Chartier (Hrsg.), Lesen und Schreiben in Europa 1500-1900. Vergleichende Perspektiven, Basel 2000, S. 401-428. 129 Z.B. M. Hochedlinger, Die Ernennung von Johann Baptist Homann zum kaiserlichen Geographen im Jahre 1715, in: Cartographic Helvetica, 24 (2001), S. 37-40 (mit Transkription einer Supplik); R. Keyler, " ... euer fürstlich gnaden underthoniger gehorsamer pawmaister Hainrich Schikhardt manu propria subscripsi": Drei Suppliken Heinrich Schickhardts an die Herzöge Friedrich [1593-1608] und Johann Friedrich [1608-1628] von Württemberg, in: R. Kretzschmar (Hrsg.), Neue Forschungen zu Heinrich Schickhardt, Stuttgart 2002, S. 171-178. 130 K. Krüger, Die landständische Verfassung, München 2003, S. 11. Allerdings widmet Krüger den Gravamina im weiteren keine vertiefte Betrachtung. Sie figurieren nicht eigens unter den Forschungskontroversen. Im Index finden sich Hinweise unter den Stichwörtern: Gravamina, Beschwerden. Vgl. für Frankreich den innovativen Ansatz von Marie-Laure Legay, die den Funktionswandel der Provinzial stände des Artois im 17. und 18. Jahrhundert aufgrund der Gravamina, deren Übergabe und Bedeutung präzise

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entsprechenden Hinweis auf die Supplikationen platzierte Helmut Neuhaus in seiner Überblicksdarstellung des Reiches {und des Reichstages)13!. Im Bereich der Revoltenforschung gehören Suppliken und vor allem Gravamina nach wie vor zu den zentralen Quellenbeständen. Insbesondere fällt auf, daß der Fokus nicht mehr ausschließlich auf spektakuläre Revolten, sondern vermehrt auf die verschiedenen Formen von Protest und Kritik gerichtet ist, von denen die Gewaltanwendung in der offenen Rebellion nur die letzte Eskalationsstufe darstellt. Dadurch werden Petitionen, Konsultationen und Verhandlungen zwischen Herrschenden und Beherrschten für die Analyse der Partizipationsansprüche der städtischen Bevölkerung prominenter berücksichtigt, wie Christopher R. Friedrichs in seiner Überblicksdarstellung für Europa allgemein herausarbeitet 132 . Dies gilt ebenso für verschiedene Lokalstudien im städtischen oder ländlichen Bereich. So rekonstruiert Urs Hafner aus den Gravamina und Suppliken des 17. und 18. Jahrhunderts die "bürgerschaftliche Mentalität" der oberschwäbischen "Reichsstadt als Republik" im Sinne Machiavellis 133 , Philipp Dubach analysiert anhand von Beschwerden und Eingaben die Konflikte um den Einfluß der Untertanen auf die Gesetzgebung in eidgenössischen Appenzell und im bischöflich-augsburgischen Rettenberg des 16. Jahrhunderts 134 . Räumlich auf den Oberrhein konzentrieren sich die akribische Ausbreitung der verschiedenen Bundschuhprogramme um 1500 durch Thomas Adam 135 , die Auslotung weiblicher Handlungsspielräume beim Artikulieren und Ausagieren von Protest im 18. Jahrhundert durch Sabine Allweier 136 und die Behandlung zahlreicher Konflikte im Odenwald vom 15. bis ins 18. Jahrhundert durch Ralf Fetzer 137 • Schon mit Blick auf das 19. Jahrhundert analysiert, M.-L. Legay, Les Etats provinciaux dans la construction de l'etat moderne aux XVIIe et XVIIIe siedes, Genf 2001. 131 H. Neuhaus, Das Reich in der frühen Neuzeit, 2. Aufl., München 2003. 132 CR. Friedrichs, Urban Politics in Early Modern Europe, London 2000. Vgl. dazu den Review Essay von M. Prak, Peasants, Citizens, and Politics in Pre-democratic Europe, in: Journal of Early Modern History, 6 (2002), S. 73-80. m U. Hafner, Republik im Konflikt. Schwäbische Reichsstädte und bürgerliche Politik in der frühen Neuzeit, Tübingen 2001, S. 146-186 und S. 260-272. !H P Dubach, Gesetz und Verfassung. Die Anfänge der territorialen Gesetzgebung im Allgäu und im Appenzell im 15. und 16. Jahrhundert, Tübingen 2001, vor allem S. 110-114 und 119-128, sowie Register Stichwort: Suppliken. ll5 T. Adam,Joß Fritz- das verborgene Feuer der Revolution. Bundschuhbewegung und Bauernkrieg am Oberrhein im frühen 16. Jahrhundert, Ubstadt-Weiher 2002. 136 S. Allweier, Cannaillen, Weiber, Amazonen. Frauenwirklichkeiten in Aufständen Südwestdeutschlands 1688-1777, Münster / New York / München 2001; dies., Frauen im Aufstand. Pforzheimer Privilegienstreit 1726 und Freiburger Weiberkrieg 1757, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 150, (2002), S. 279-293. 137 R. Fetzer, Untertanenkonflikte im Ritterstift Odenheim vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des alten Reiches, Stuttgart 2002; ders., Der Kampf um den Wald.

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behandeln Barbara Weinmann und Rolf Graber die Forderungskataloge, die aus den Unruhen der 1790er Jahre auf der Zürcher Landschaft überliefert sind 138 • Dagegen basiert die Summe der französischen Protestforschung, dieJean Nicolas vorlegte, von ihren quantitativen Zugriff her nicht auf Suppliken und Gravamina. Nicolas (und seine zahllosen Zuträger) erfaßten in jahrzehntelanger Arbeit für die Jahre 1661-1789 innerhalb der heutigen Grenzen Frankreichs insgesamt 8.500 »Rebellionen« , d.h. Protestereignisse, bei denen mindestens vier, nicht aus einer Familie stammenden Akteure Gewalt gegen staatliche Organe einsetzten. Die anläßlich dieser Protestereignisse - von Revolten kann ja nicht eigentlich die Rede sein - artikulierten Forderungen der Rebellen wurden meist auf Basis von (Presse)Berichten über die Protestereignisse verzeichnet. Eine spezielle Untersuchung der Rhetorik der rebellischen Forderungen aufgrund der von ihnen oder in ihrem Namen verfaßten Texte, also der Suppliken und Gravamina, sucht man vergeblich 139 • Dafür erfuhren die Cahiers de doleances von 1789 eine sehr eingehende neue Lektüre in kulturhistorischer Perspektive durch Philippe Grateau, der die Entstehungskontexte der Cahiers de doleances minutiös rekonstruiert und damit deren Autoren und Inhalte präziser zu definieren vermag l40 • Der Titel eines Artikels von Herman Rebel »What Do Peasants Want Now?" ließe eigentlich eine vertiefte Beschäftigung mit Suppliken und Gravamina im Rahmen der »Swiss and South German Rural Politics, 1650-1750" vermuten, thematisiert jedoch in reichlich polemischer Art und Weise vor allem den methodisch-theoretischen Gegensatz zwischen symbolistisch-akteurszentrierten, ereignisbezogenen und ökonomisch-marxistischen, strukturorientierten Interpretationen 141. Frühneuzeitliche Auseinandersetzungen zwischen Obrigkeiten und ihren Untertanen um Waldnutzung und Waldeigentum im Kraichgau, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 150 (2002), S. 161-183. 138 B. Weinmann, Eine andere Bürgergesellschaft. Klassischer Republikanismus und Kommunalismus im Kanton Zürich im späten 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 2002, S. 117-142; R. Graber, Zeit des Teilens. Volksbewegungen und Volksunruhen auf der Zürcher Landschaft 1794-1804, Zürich 2002. Vgl. auch die zahlreichen Aufsätze Grabers zum Themenfeld, z.B. R. Graber, Alte oder neue Freiheit? Qualitative Veränderungen der Protestziele und des Protestverhaltens 1794 bis 1798. Die Zürcher Landschaft als Beispiel, in: C. Simon (Hrsg.), Blicke auf die Helvetik / Regards sur I'Helvetique, Basel 2000, S. 67-93. 139 ]. Nicolas, La rebellion franc;aise. Mouvements populaire et conscience sociale (1661-1789), Paris 2002, S. 9, 15,23,30-36. VgI. dagegen die präzise Beschreibung der Entstehung, Eingabe und Beantwortung von Beschwerden (allerdings unter Verzicht auf quantitative Aussagen) bei Y.-M. Berci, Revoltes et revolutions dans I'Europe moderne (XVIe-XVIIIe siecIes), Paris 1980, S. 10-17. 140 P Grateau, Les cahiers de doleances. Une relecture culturelle, Rennes 2001. 141 Rebels Aufsatz ist eine überlang geratene, angestrengt-polemisch wirkende, stark von Mißverständnissen geprägte Rezension der (oben erwähnten) Arbeiten von D.M. Luebke, His Majesty's Rebels, sowie A. Suter, Der schweizerische Bauernkrieg, wie die

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Insgesamt, so scheint es, verlagerte sich der Schwerpunkt der Beschäftigung mit Beschwerden von den Gravamina zu den Suppliken bzw. von der Ständeund Revoltenforschung zur Geschichte der Kriminalität und der guten Policey. Zudem werden nach wie vor die diversen Supplikenbestände in den vatikanischen Archiven erschlossen und aufgearbeitee 42 , wobei neben dem Gewissen der Supplikanten auch deren Karrieren und Universitätsbesuche großräumig ausgewertet werden l43 • Noch vergleichsweise wenig Beachtung finden die Suppliken und Gravamina seitens der Literatur- und Religionswissenschaft im deutschen Sprachraum, nimmt man die auch hier führende englische oder englischsprachige Forschung zum Maßstab. Gerade im Bereich der Satiren, Persiflagen, Kontrafakturen von Suppliken und Gravamina dürfte auch für den deutschsprachigen Raum noch manche Entdeckung zu machen sein. Ein weiteres offenes Feld stellen die privaten Suppliken dar, die nicht an den Staat oder die Kirche, sondern an Privatpersonen gerichtet wurden. Sei es daß sich die Schreibenden Unterstützung, Rat, Empfehlung erhofften, sei es daß sie um eine Anstellung, Beförderung oder einen Auftrag einkamen. Erste Einsichten in diesen Bereich des Bittens verspricht der Sammelband der Trienter Tagung über Bitten, Beschwerden und Briefe l44 •

ausführlichen Antworten von Luebke und Suter deutlich machen: H. Rebe!, What Do Peasants Want Now? Realists and Fundamentalists in Swiss and South German Rural Politics, 1650-1750, in: Central European History, 34 (2001), S. 313-356; D.M. Luebke, Symbols, Serfdom, and Peasant Factions: A Response to Hermann Rebel, ebd., S. 357383; A. Suter, Theories and Methods for a Social History of Historical Events: Reply to Hermann Rebel, ebd., S. 383-418. 142 Vgl. dazu die Erschließungsarbeiten von Ludwig Schmugge (Zürich) und seinen Mitarbeitern: Repertorium poenitentiariae Germanicum. Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, hrsg. vom Deutschen Historischen Institut in Rom, bearb von Ludwig Schmugge u.a., bisher 5 Bände [von Eugen IV. bis Paul 11. 1431-1471], Tübingen 1996-2002. 143 Vgl. L. Schmugge, Über die Pönitentiarie zur Universität, in: C. Hesse u.a. (Hrsg.), Personen der Geschichte - Geschichte der Personen. Studien zur Kreuzzugs-, Sozial- und Bildungsgeschichte. Festschrift für Rainer Christoph Schwinges zum 60. Geburtstag, Basel 2003, S. 255-268. Dazu auch: J. Schmutz, Erfolg oder Mißerfolg. Die Supplikenrotuli der Universitäten Heidelberg und Köln 1398-1425, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 23 (1996), S. 145-167. 144 Der Sammelband ist soeben erschienen C. Nubota / A. Würgter (Hrsg.l, Forme della comunicazione politica in Europa nei secoli XV-XVIII. Suppliche, gravamina, lettere / Formen der politischen Kommunikation in Europa von 15. bis 18. Jahrhundert. Bitten, Beschwerden, Briefe (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. ContributilBeiträge, 14), Bologna 2004.

Die "via supplicationis" in den italienischen Staaten der &ühen Neuzeit (15.-18. Jahrhundert)* Von Cecilia

Nubola*~'

"Diejenigen, die die Suppliken abzuschaffen gedenken, würden das gesamte System des Staates umstürzen". Diese Betrachtung, die einem anonymen Bericht des 17. Jahrhunderts über die politische Organisation des Herzogtums Parma und Piacenza entnommen ist, gibt ausdrücklich die grundlegende Bedeutung wieder, die den Suppliken für das Staatsgefüge beigemessen wurde l . Gemeinhin ist es möglich, anband der petizioni [Beschwerden] und suppliche [Suppliken] einige grundsätzliche Formen und Modalitäten der Kommunikation zwischen Gesellschaft und Institutionen im Ancien Regime zu überprüfen und Mechanismen der Vermittlung, der Unterdrückung, der Anerkennung oder der Vereinbarung nachzuvollziehen, die als Antwort auf die Gesuche aus der Gesellschaft von seiten der Fürsten, Herrscher oder Magistraturen umgesetzt wurden. Die Supplik an sich ist ein sehr vielseitiges Instrument, das alle Gesichtspunkte sozialer, institutioneller, administrativer sowie gerichtlicher Art durchdringt; "supplicare", "erbitten" also, verweist auf verschiedene Auffassungen von Autorität und Souveränität sowie auf besondere Machtverhältnisse zwischen Regierenden und Regierten. Deshalb ist es notwendig, die Kenntnisse über die Beziehungen und die Abweichungen innerhalb der unterschiedlichen

* Aus dem Italienischen von Anja Brug. ** Die vorliegende Arbeit nimmt noch einmal meinen Aufsatz .Supplications be-

tween Politics andJustice: The Northern and Central Italian States in the Early Modern Age" auf, der in L.H. van Voss (Hrsg.), Petitions in Social History (International Review of Social History, 46. Supplement 9), Cambridge 2001, S. 35-56 erschienen ist . • Coloro che pensassero di togliere le suppliche rovescerebbero tutto il sistema dello stato", Anon., Sistema politico universale delli Ducati di Parma e Piacenza, in: 5. Di Nota (Hrsg.), Le istituzioni dei Ducati parmensi nella prima meta del Settecento, Parma 1980, S. 109; P Repetti, Scrivere ai potenti. Suppliche e memorali a Parma (17.19. Jahrhundert), in: Scrittura e civilita, 24 (2000), S. 295-358. Der gleiche Aufsatz mit marginalen Änderungen wurde publiziert in: A. Messer!i / R. Chartier (Hrsg.), Lesen und Schreiben in Europa 1500-1900, Basel 2000, S. 401-428.

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Anwendungsbereiche der Suppliken sowohl aus Sicht der Bittsteller als auch von den Antworten der Institutionen ausgehend zu vertiefen. Der Begriff "supplica" beziehungsweise "Bittschrift" wird in seiner gebräuchlichsten Bedeutung für die Briefe (oder für die Dokumentation) verwendet, die einzelne Untertanen und Bürger oder organisierte und anerkannte Gruppen an die Autoritäten richteten, um Gnade, Gefallen oder Privilegien zu erbitten, oder gar um auf Ungerechtigkeiten und Mißbräuche aufmerksam zu machen; Dokumente, die ein juristisches Verfahren und einen Verwaltungsvorgang einleiten oder die eine bestimmte Praxis in Büros, Gerichten, Magistraturen und Kanzleien einführen2• Wie in den anderen europäischen Staaten stellt auch in den nord- und mittelitalienischen Staaten der frühen Neuzeit} die Suche nach einer direkten Verbindung zu den Autoritäten mittels Beschwerden und Suppliken eine der Hauptmodalitäten der Machtverhältnisse und der Kommunikation zwischen Regierten und Regierenden dar. Auf diesem Weg werden besondere Abkommen mit Einzelnen oder mit Gruppen getroffen, man vereinbart die Achtung von Statuten, Gebräuchen und lokalen oder ständischen Privilegien; es werden ad personam Gnaden, Straferlasse und Unterstützungen sowie Aufschub von Zahlungen und Gesetzesvollzug gewährt. Eine - im italienischen Fall- durch die Kleinstaaterei geförderte Machtausübung in Form von Protektion, Paternalismus und Personalismus brachte die Untertanen dazu, eher den Weg der Suche nach einem Abkommen, einer Vermittlung oder einer Kompromißlösung vorzuziehen, als auf gewalttätigere Formen der Opposition und der Rebellion zurückzugreifen, denen es, auch wenn es sie in großer Zahl gab, nur selten gelang, über das lokale oder städtische Umfeld auszugreifen. 2 Für allgemeine historiografische Hinweise, vgl. A Würgler, Suppliehe e "gravamina" nella prima eta moderna: la storiografia di lingua tedesca, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, 25 (1999), S. 515-546, vgl. die deutschsprachige Version in diesem Barrd, S. 17-52; vgl. auch Jers., Voices from among the .Silent Masses": Humble Petitions and Social Conflicts in Early Modern Central Europe, in: L.H. van VoJS (Hrsg.), Petitions in Social History, S. 11-34; die Aufsätze von R. Blickle, R. Fuhrmann, B. Kümin, A. Würgler und A. Holenstein in: P Blickle (Hrsg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, München 1997, S. 241-357; D. Zaret, Origins of Democratic Culture. Printing, Petitions, and the Public Sphere in Early Modern England, Princeton NJ 2000; N.2. Davis, Fiction in The Archives. Pardon Tales and Their Tellers in Sixteenth-Century France, Stanford CA 1987 (deutsche Übersetzung: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin 1988). } Zu den italienischen Staaten wurden trotz des Reichtums der städtischen und lokalen Archive bisher keine spezifischen Forschungen über Beschwerden und Suppliken durchgeführt. An dieser Stelle sollen lediglich einige Forschungsaspekte und Fragestellungen allgemeiner Art aufgezeigt werden. In bezug auf eine Einführung und eine allgemeine Bibliografie zu den italienischen Staaten der frühen Neuzeit, vgl. G. Chittolini / A. Molho / P Schiera (Hrsg.), Origini dello Stato. Processi di formazione statale in Italia fra medioevo ed eta moderna (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 39), Bologna 1994.

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I. An wen supplizieren? Der Herrscher - Vater und Fundament der Gerechtigkeit Um die Entwicklung der Suppliken, die als bevorzugte Kommunikationsmittel zwischen Untertanen und Autoritäten angesehen werden, zu verstehen, ist es hilfreich, kurz die Idee des Königtums, dessen Eigenheiten, Mythos und Darstellung in der philosophisch-politischen Literatur, in konkreten sozialen Verhaltenweisen und in der Regierungspraxis zu betrachten. Der Herrscher ist stets Vater, Richter, Gesetzgeber, Bezugspunkt der Gerechtigkeit und Gleichheit, an den sich die Untergebenen wenden; damit diese Vorstellungen, gleichermaßen wie konkrete Praktiken der Macht bestehen können, dürfen diese nicht mit einer anonymen oder allgemeinen Institution verbunden werden, sondern müssen in einer lebenden Person verkörpert sein, jener des Oberhauptes, des obersten Repräsentanten einer Gemeinschaft, einer geschlossenen Einheit, eines Staates4 • Daraus ergibt sich, daß die Suppliken vorzugsweise direkt an die höchste Autorität gerichtet werden, auch wenn die Bittsteller wohl wissen, daß die Gesuche Filter und Verfahren durchlaufen und von untergeordneten Funktionären und eigens beauftragten Magistraturen bewertet werden. Auf jeden Fall sollte der Fürst niemals mit dem Apparat der Gerichtshöfe, Parlamente, oder Magistraturen jeglichen Grades verwechselt werden; dies kann zumindest teilweise erklären, warum in den Beschwerden und den Suppliken auch in Momenten schwerster Konflikte, wie etwa im Zusammenhang mit Aufständen, ausgeschlossen ist, daß der Fürst direkter Verantwortlicher der Ungerechtigkeiten ist, gegen die man sich auflehnt; alle Verantwortung muß auf untergeordnete Personen und Chargen, wie beispielsweise korrupte Funktionäre fallen, während das von Vertrauen und Gehorsam geprägte, kindliche Verhältnis zum Herrscher bewahrt bleibt, gar bekräftigt wird. Gesetze oder Funktionäre können ungerecht und korrupt sein, niemals aber der Herrscher. Es ließen sich zahllose Beispiele dafür anführen, umso mehr da von seiten der Bittsteller - entweder richteten sie Suppliken an die obersten Autoritäten als letzte Möglichkeit, um Gerechtigkeit zu erlangen, oder der Aufstand hatte bereits begonnen - die Notwendigkeit besteht, sich nach genauen Verhaltensregeln zu richten, die rechtlicher, symbolischer, gleichermaßen wie überwieHinsichtlich der Rituale der Macht, vgl. D.I. Kertzer, Riti e simboli del potere, Rom / Bari 1989. In bezug auf einige Beispiele für Funktionen und Machtbereiche, die zugleich praktischer wie symbolischer Art sind, vgl. die Briefe an den Präsidenten der Französischen Republik in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in: Y-M. Beret, Le roi cache. Sauveurs et imposteurs. Mythes politiques populaires dans l'Europe moderne, Paris 1990, S. 412-415; in bezug auf Italien: C. Zadra / G. Fait (Hrsg.), Deferenza rivendicazione supplica: le lettere ai potenti, Paese 1991. In Hinsicht auf eine der von der Supplik angenommenen Formen in der zeitgenössischen Gesellschaft, vgl. D. Fassin, La supplique. Strategies rhetoriques et constructions identitaires dans les demandes d'aide d'urgence, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales, 55 (2000),5, S. 955-981.

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gend strategischer und praktischer Natur sind. Als bemerkenswertes Beispiel in diesem Sinne kann die Deutung - oder die vielen Deutungsschlüssel - der "politischen Treue", des Volkes während der entscheidendsten Erhebung im Italien des siebzehnten Jahrhunderts, der Revolte von Neapel in den Jahren 1647/48, gelten5• Im Juli 1647, in den ersten Phasen des Aufstandes unter der Führung von Masaniello, war das Verhalten des neapolitanischen Volkes gegenüber den Autoritäten Grund für Verwirrung und unterschiedliche Interpretationen; der Herzog d'Arcos, Vizekönig von Neapel, berichtete in einem an den spanischen Herrscher gerichteten Brief lebhaft von den unterschiedlichen Verhaltensweisen seitens des Volkes von Neapel zum einen dem lokalen Adel, zum anderen den zentralen Autoritäten gegenüber: "Die Ursache von all diesem ist der tödliche Haß, den die unzählbare Bevölkerung von Neapel und das Königreich gegen den Adel empfinden und der sich verständlicherweise wegen der Gewalttaten, die dieser ihnen angetan hatte, und wegen der drückenden Steuerlast, die es allein nicht tragen kann, angestaut hat. Und solchermaßen ist der Haß, wie ein lang in ihren Herzen gehegtes Gefühl, bei der ersten Gelegenheit mit ausgesprochen gewalttätiger Wirkung herausgeplatzt; in Wahrheit aber hat das Volk nachdrückliche Loyalität und Liebe für Ihre Majestät gezeigt. Sie senkten ihre Fahnen vor den Porträts Eurer Majestät, die sie zuvor aus den gebrandschatzten Häusern herausgeholt hatten, und riefen immer wieder ,Es lebe der König' und ,Es lebe Spanien'. Selbst mir gegenüber zeigten sie keinen Haß, weil sie zugleich ,Es lebe der Herzog d'Arcos' riefen. Dennoch befindet man sich in offenkundiger Gefahr und die Dienstbarkeit Eurer Majestät ist in den Händen eines wütenden Volkes, das einem Mann [Masaniell01 von niedrigem Stand, ohne Verstand und Vernunft gehorcht"6.

Während sich also der Haß des Volkes gegen die lokalen Mächte richtet, so scheint dessen Verhalten dem spanischen Herrscher und dessen unmittelbarem Vertreter in Neapel gegenüber durch Gefühle wie ,Loyalität' und ,Liebe' geprägt 5 Bezüglich des neapolitanischen Volkaufstands der Jahre 1647 bis 1648, vgl. besonders F. Benigno, Specchi della rivoluzione. Conflitto eidentita politica nell'Europa moderna, Rom 1999, S. 199-285. 6 .L'origine di tutto queste eI'odio mortale che I'innumerevole Popolo di Napoli e il Regno nutrono contro la Nobilta, giustamente accumulato per le violenze che essa gli ha inflitto, e per l' oppressione delle gabelle che con le sue forze non puo sostenere. E COS!, come sentimento a lungo covato nei loro cuori, I' odio e esploso al prime colpo con reazioni tanto violente; ma il popolo ha mostrato in verita ferma lealta e amore per la Vostra Maesta. Inchinando le sue bandiere davanti ai ritratti di Vostra Maesta, tolti dalle stesse case che hanno bruciato e dicendo sempre viva il Re e viva la Spagna. Anche nei miei confronti non hanno mostrato odio perehe nello stesso tempo hanno detto sempre viva il duca d' Areos. Si resta sempre tuttavia in evidente perieolo ed il servizio di V.M. e nelle mani di un Popolo furioso che obbedisee ad un uomo basso, senza giudizio e ragione [Masaniello1", Brief des Herzogs d'Arcos, Vizekönig von Neapel, an den König von Spanien, Neapel, 15. Juli 1647, veröffentlicht im Anhang von R. Villari, Per il re 0 per la Patria. La fedelta nel Seicento, Rom / Bari 1994, S. 150-151.

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zu sein. Die symbolischen Gesten der Treue dem Herrscher gegenüber können verschieden interpretiert werden, geben aber mit Sicherheit auch im Moment der größten Aufruhr den Versuch wieder, auf Distanz zu gehen oder den Vorwurf der Rebellion und der Majestätsbeleidigung zu vermeiden7 ; umgekehrt machen sie den Handlungswillen deutlich, die Gerechtigkeit wiederherzustellen und zwar im Namen des spanischen Königs und nicht gegen ihn. In der gleichen Weise können unterschiedliche und widersprüchliche Kräfte, Bestrebungen und Kampfziele im Grundsatz der Loyalität zur obersten Autorität einen Punkt gemeinsamer Gesinnung finden. Tatsächlich aber verliert im Verlauf des Aufstands, wenn dessen politische Ziele klarer und radikaler werden, das Prinzip der ,Treue' zur Monarchie seinen positiven Charakter, den es in der Anfangsphase der Erhebung hatte, um vielmehr zur Ursache "grausamer Knechtschaft" zu werden, "die eine extreme Armut hervorbringt", zu einem Prinzip des Todes also, dem als Gegenstück die politische Form der Republik gegenübergestellt wird, die Freiheit anstelle der Tyrannei8 • Das hier erwähnte Prinzip der Treue zum Herrscher, bildet einen der Hauptpunkte einer verbreiteten politischen Kultur. In den der Figur des "guten Fürsten", der "guten Regierung", der "Regierung des Hauses" (in bezug auf die oeconomia) gewidmeten Abhandlungen - Themenbereiche, die im Laufe der frühen Neuzeit eine große Entwicklung erfuhren - wird der Fürst wie der Vater jener Gemeinschaft von Familien geschildert, aus denen sich der Staat zusammensetzt; seine Fähigkeiten müssen mit denen eines guten Familienvaters übereinstimmen: vor allem gerecht und immer auf das Wohlergehen derer bedacht, die ihm in Anerkennung der ,natürlichen' und vorbestimmten Rollen und Hierarchien anvertraut sind. Darüber hinaus wird der Fürst als oberster Richter, Friedensstifter, schiedsrichterliche Instanz, Quelle von Gerechtigkeit und Gnade beschrieben, an den man sich wendet, um Gefallen und Vorrechte, Abweichungen von Gesetzen und Normen, Ausnahmen, Aufschübe zu erlangen, bis hin zum gewichtigsten Bittgesuch, nämlich jenem um Gnade im Sinne der Aufhebung eines Todesurteils9 • Zum juristischen Begriff der Straftat der Majestätsbeleidigung und zu seinem politischen Gebrauch, vgl. M. Sbriccoli, Crimen laesae maiestatis. TI problema del reato politico alle soglie della scienza penalistica moderna, Mailand 1974. Dabei handelt es sich um Vorstellungen, die in einer Schmähschrift mit dem Titel "Ragionamento di Tomaso Aniello [Masaniello] Generalissimo per eccitare il suo Popolo napoletano alla liberta", dargelegt sind; sie ist publiziert im Anhang in: R. Villari, Per il re 0 per la Patria, S. 67 -72, hier S. 69. Zu den zahllosen Schriften bezüglich der Analysen der europäischen Revolutionen der vierziger Jahre des 17. Jahrhunderts, von denen viele von italienischen Autoren stammen, vgl. P Burke, Some SeventeenthCentury Anatomists of Revolution, in: Storia della Storiografia, 22 (1992), S. 23-35. 9 D. Frigo, La dimensione amministrativa nella riflessione politica (secoli XVIXVIII), in: Istituto per la scienza dell'amministrazione pubblica (Hrsg.), l' amministrazione nella storia moderna, Mailand 1985, Bd. 1, S. 21-94; A.M. Hespanha, Justi Comai, Einwohner von Rovereto, von der Zahlung des /rontano befreit wurde, erscheint folgende Klausel: "per se et sucessori del medemo promettendo et obligando per mantenimento et osservanza di quanto sopra li beni della magnifica citta" [für sich und seine Nachkommen versprechend und sich verpflichtend die Erhaltung und Beachtung dessen, was zum Wohl der prächtigen Stadt gereicht], ASTn, Atti dei notai, Rovereto, Pietro Malinverno, b. XVII (1717-1718), 7.}anuar 1717. 77 BCR, Ar.C. 69.25, Atti del Consiglio di Rovereto dell'anno 1682-1683, fol. 8r, 30. Mai 1682: "non havendo ciavoir qu'ils conserveront leurs subjects, les perseveront de toutes oppressions, leur feront justice, et autres semblables articles, contenans obligations reciproques des uns envers les autres, aux roys de bien regir et regner, aux subjects de bien obeir et reverer"2}. Wenn es dann passiert, daß die "charges capitulees" - das Vertragswerk, aufgrund dessen die Untertanen dem König Zepter und Krone überreicht haben - nicht respektiert werden, wenn sich der König wie ein Tyrann verhält, dann geschieht es, daß die Könige "perdroyent leur royaute, et leurs subjects rentreroyent en leur premiere liberte". Es lassen sich zahlreiche Beispiele solcher Situationen anführen. Aber es ist die "Normalität" - Coras nennt es "toute raison"24 - eines Fürsten "bon naturel et bien ne", daß er handelt, indem er zu den "communications, pourparlers, conventions, accords et capitulations" steht. Für Coras muß dies die Gabe seines Fürsten Heinrich 11. sein, zumal ansonsten sein gesamter Gedankengang, seine ganze "Question" keinen Sinn hätte. Es muß die Ordnung sein, die die damalige Regierung Frankreichs charakterisiert, wo Generalstände, Parlamente Pairs, das Recht und die Pflicht haben müssen, mit dem König für das Volk zu verhandeln. Tatsächlich war die Ordnung nicht mehr so wie zu Anfang, als die Fürsten Gallien einzig mit Hilfe ihrer Untergebenen von der Tyrannei der Römer befreit hatten. Damals hörten und vernahmen die Fürsten "les plainctes et doleances" in den Ständeversammlungen (die 2} ]. de Coras, Question politique, S. 6. 24 Es handelt sich um die raison des Naturrechts, auf das neuerlich D. Quaglioni, L'appartenenza a1 corpo politico da Bartolo in: P Prodi / W Reinhard (Hrsg.), Identita collettive tra Medioevo ed Eta Moderna, Bologna 2002, S. 231-240, aufmerksam gemacht hat.

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sich aus Adligen und routuriers zusammensetzte), und die Stände äußerten ihrerseits ihre Bedürfnisse. Hier sprach man nicht von besonderen Verträgen von Privatleuten, "mais des affaires et negociations politiques et d'estats, tant guerrieres que civiles". Diese Art, miteinander zu kommunizieren, war indes nicht kontinuierlich wie in den Anfängen, vielmehr setzte sie sich in unbeständiger Weise fort - sei es in den Ständeversammlungen, sei es in den Parlamenten, sei es im Verhältnis zu den zwölf Pairs -, während sie "un grande desordre et confusion" verursachte: "Car aujourdhuy tout moyen est oste au peuple de donner aentendre ason prince ses doleances, at au contraire, le roy voulant quelque chose de son peuple, l' a demande par moyens extraordinaires de contraincte, qui cause un mescontentement et infini desdain du peuple envers son prince"25.

Die Verantwortung dafür fällt auf die "notables fabricateurs de paradoxe" zurück. Wenn die Stände, die Parlamente oder die Pairs dem Willen des Königs in der Debatte über Staatsangelegenheiten, Krieg, die Erhebung neuer Abgaben oder über das Verfügen neuer Edikte und Erlässe Widerstand leisteten; wenn sie ihm erklärten - und zugleich die Gründe dafür aufzeigten -, daß seine Absicht sich nicht verwirklichen ließe, "selon droict et justice"; wenn sie von den zahlreichen vom König eingebrachten Fragen, nur einigen zustimmen könnten und anderen nicht; in solchen Fällen, also wenn sie sich mit dem König nicht einverstanden erklärten "et rendu le roy flexible au point de la verite", würden sie des Verbrechens der Majestätsbeleidigung angeklagt werden 26 . Für die "paradoxeurs" bedeutete Widerstand im oben bereits erläuterten Sinn, Aufständische gegen den König zu sein und sich somit des Verbrechens der Majestätsbeleidigung schuldig zu machen. Es interessieren sie weder die exempla der Geschichte noch der Respekt vor den Gebräuchen und den Gewohnheiten Frankreichs. Genausowenig ist es für sie von Belang, daß der König im Verlauf der Krönungszeremonie mit einem feierlichen Eid verspricht, sein Volk in Frieden und Ruhe zu erhalten, seine Vorrechte zu beachten, seine Untertanen nicht mit Abgaben zu überlasten und die neuen Zuschüsse zu beseitigen. Mit diesen Artikeln erhielten Stände, Parlamente und Pairs nIes roys dedans les bornes de justice". Und wenn die Könige diese später überschreiten wollten oder die Absicht bekundeten, sie zu verletzen, übten die Untertanen, 25 ]. de Coras, Question politique, S. 9. 26 Ebd., S. 12. Bereits Philippe de Commynes hatte in seinen • Memoires " berichtet, daß am Vorabend der großen Ständeversammlung von Tours (1484) und selbst nach deren Abschluß einige behaupteten, von einer Ständeversammlung zu sprechen, wäre ein Vergehen der Majestätsbeleidigung, und dass dies bedeuten würde, die Autorität des Königs zu verkleinern:]. Krynen, L'empire du roi. Idees et croyance politique en France, XIIIe-XVe siede, Paris 1993, S. 439.

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die Stände, die Parlamente, die Pairs ihr .justes remontrances" aus, um dies zu verhindern, um das Gemeinwohl zu bewahren und um das Königreich zu verteidigen. Genau sie werden nun als Rebellen betrachtet und als der Majestätsbeleidigung schuldig angesehen. Und dies gilt gleichermaßen für die bannes viffes, die ihre verbrieften Privilegien und Vorrechte geltend machen wollen, die ihnen von den Königen teils aus Großzügigkeit, teils vertraglich zugestanden worden waren, wie La Rochelle, Marseilles, Arles in der Provence, Orleans und La Guyenne27 • Die .paradoxeurs" wollen nicht zugeben, daß, wenn der König und seine Amtsträger die verliehenen Privilegien gefährden, die Stände gravamina unterbreiten können, mittels derer sie die Rückgabe der Privilegien fordern - so wie es in den Königreichen Kastilien, Aragon, Katalonien, Granada und anderen Herrschaftsgebieten des spanischen Königs üblich ist, ebenso wie in Portugal, England, Schottland, Navarra und Bearn und in den kaiserlichen Städten in Deutschland28 • Wenn der König die .justes remontrances et humble insistances", die .humble resistances et raisonnable remonstrances" annimmt, dann ist er den .paradoxeurs" zufolge kein König mehr. Sie setzen alles daran, den König davon zu überzeugen: .Les flagorneurs ont le style assez coulant, pour persuader aux princes queleurs volontez doivent estre franches et souveraines, que toutes choses doivent fleschir 27 ]. de Coras, Question politique, S. 17-18. Daß die Anschuldigung der Rebellion von Coras als Paradoxon abgelehnt wurde, ist nicht von E. Gaspan·ni, A l'on:e pensee manarcomaque: La .Question politique" de Jean de Coras (1570), in: Revue de la Recherche Juridique, 2 (1995), S. 669-683, erkannt worden, der wiederholt .droit a la resistance" mit .droit a la rebellion" gleichsetzt, ebd., S. 670. Die Gleichsetzung von Widerstand und dem crimen laesae maiestatis der Rebellion hatte eine Rechtstradition, die sehr viel weiter zurückreichte als die Anklagen der .paradoxeurs". Jean de Coras wußte dies sehr wohl und benutzte deshalb Leitgedanken, die von einer gleichfalls fest begründeten Rechtstradition ausgearbeitet worden waren. Nach wie vor grundlegend bezüglich der rebellio als Verbrechen der Majestätsbeleidigung ist M. Sbriccoli, Crimen lesae maiestatis. problema del reato politico alle soglie della scienza penalistica moderna, Mailand 1974. In Hinsicht auf die Gleichung Widerstand leisten - sich auflehnen vgl. D. Quaglioni, .Rebellare idem est quam resistere". Obeissance et resistance dans les glosses de Bartolo a la constitution .Quoniam nuper" d'Henri VII (1355), in: ].-c. Zancarini (Hrsg.), Le Droit de resistance, XIIe-XXe siede, Paris 1999, S. 35-46, sowie der Beitrag von D. Quaglioni in diesem Band. Bezüglich der Zugehörigkeit solcher Fragen zu institutionellen Erfahrungen mit den Königen - wie jene, in der sich Jean de Coras befand - zwischen 15. und 18. Jahrhundert, A. De Benedictis, Politica, governo e istituzioni, S. 307 -327. 28 ]. de Coras, Question politigue, S. 19-21. In Hinsicht auf diese Verfahrensweisen und Konzepte, siehe die wichtigen Uberlegungen von A. Black, Der verborgene Ursprung der Theorie des Gesellschaftsvertrages. Die in der Entwicklung befindliche Sprache des Contractus und der Societas, in: P Prodi (Hrsg.), Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1993, S. 31-48.

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devant eux, qu'on leur doibt obeir sans demander pourquoy ne comment, que les corps, les biens, et les vies de leurs subjects sont a eux" 29.

Es handelt sich um Argumentationen, die, gleichwohl sie für Coras ein Paradoxon darstellen, für einen König hingegen äußerst verlockend sein können. Aber Coras hatte im Voraus vor "notre seducteur" , dessen bekannten Bestechungsmethoden und dessen parteiischen Begründungen gewarnt. Gerade deshalb mußte klar sein: "le roy ne delaissera d' estre roy pour obeir ala raison, et prendre en bonne part les remonstrances et humbles insistances que luy feront ses subjects de bonne sorte et avec la reverence qu'ils luy doivent"30. Ein anderes Verhalten des Königs hätte sein office in das eines Tyrannen verwandelt: "Car celui est roy qui regit et administre son royaume avec regle, prudence et conseil, qui ne se croit soymesme, n'obeit a ses sensualitez, mais modere toutes choses selon la raison. Au contraire le tyran est celui qui mesprise le conseil, qui ne croit qu'a luymesme, obeissant a son appetit, et rejectant en arriere toute raison"31.

Doch das Abgleiten in die Tyrannis hätte freilich Folgen gehabt, zumal es selbstverständlich die politische Kommunikation zwischen König und Untertanen unterbrochen hätte: "S'il veut de roy devenir tyran, c'est l'interes des subjects, qui ont droict d'y contredire, et par tous moyens s' essayer de maintenir leur prince en roy et non en tyran, et proeurer envers luy qu'il soit accompagne d'un bon conseil, moderant toutes ses actions, le reduisant au cerne de la raison, et chassant d' autour de luy tels flateurs que nostre paradoxeur"32.

11. Ton und Argumentation der "Question politique" offenbarten sicherlich eine von der "causa di religione", der "Sache der Religion" vorn'ehmlich bestimmte Radikalität, wenn auch nicht ausschließlich. Die grundlegenden Motive indes waren Teil einer Überlegung, die dem Beginn der Kriege voranging und von daher weit weniger dramatisch war und dabei stets darauf ausgerichtet war, 29 J. de Coras, Question politique, S. 25. 30 Ebd., S. 21. 31 Ebd. 32 Ebd. Die Bestimmung tyrannischer Verhaltensweisen lebte von einer langen Erkenntnistradition: D. Quaglioni, L'iniquo diritto. "Regimen regis" e "ius regis" nell'esegesi di I Sam. 8, 11-17 e negli "specula principum" del tardo Medioevo, in: A. De Benedictis (Hrsg.l, Specula Principum, Frankfurt a.M. 1999, S. 209-242. Bezüglich der Gedankenwerke über die Tyrannenherrschaft in Frankreich vor 1572 siehe jetzt auch M. Turchetti, Tyrannie et tyrannicide de I'Antiquite a nos jours, Paris 2001, S. 409-417.

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eine Vorbedingung zu schaffen, in der das Verhalten des Souveräns nicht in das eines Tyrannen umschlagen konnte. Der Kanzler Michel de L'Hospital - ihm war J ean de Coras zutiefst verbunden - hatte es verstanden, den Dialog zwischen Fürst und Untertanen zu fördern, und dies in einer Situation, die sich ohnehin als schwierig und komplex erwies, als er im Dezember 1560 anläßlich der Eröffnung der Generalstände von Orleans seine Rede hielt. Seit etwas weniger als achtzig Jahren hatten sich die Stände nicht mehr versammelt, und es war gerade dieser lange Zeitraum, der das Fehlen eines offiziellen und öffentlichen Kommunikationskanals zwischen König und Untertanen spürbar machte:

.E certo che gli antichi re solevano spesso tenere gli Stati, l' assemblea di tutti i loro sudditi 0 dei loro delegati. E il tenere questa riunione altro non e che comunicare tra re e sudditi circa le questioni piu importanti, ricevere i loro avvisi e consigli, ascoltare le loro suppliche e le loro lagnanze e provvedervi adeguatamente. Cio si chiamava anticamente 'tenere il parlamento' e ancora oggi tale espressione viene usata in Inghilterra e in Scozia"33. Darüber hinaus, bekräftigte de L'Hospital - und fand in Sueton eine beredte Stütze - mit aller Kraft die Notwendigkeit zu kommunizieren, daß die Ständeversammlung allein den Tyrannen verdächtig sein konnte: .L'usanza di non lasdarsi vedere dal proprio popolo e di non comunicare con esso e barbara e mostruosa: Nec visu fadlis, nec dictu affabilis ulli"H. Die Erwartung an die Ständeversammlung war sehr hoch, und man durfte sie nicht abreißen lassen: .Da ultimo i diro come il re e la regina desiderino che in tutta sicurezza e liberta voi presentiate loro le vostre suppliche, le vostre lagnanze e altre richieste, le quali essi riceveranno benignamente e graziosamente e vi provvederanno in maniera tale che vi accorgerete come es si abbiano piu riguardo del vostro benessere che del loro. E questo e il compito del buon sovrano",5. 33 .Es ist sicher, daß die früheren Könige gewöhnlich die Stände einberiefen, die Versammlung all ihrer Untertanen und ihrer Gesandten. Und das Abhalten dieser Zusammenkunft bedeutet nichts anderes, als die Verständigung zwischen König und Untertanen über die wichtigsten Fragen, deren Ratschläge und Ansichten zu empfangen, deren Bitten und deren Klagen anzuhören und sich entsprechend darum zu kümmern. In der Vergangenheit nannte man dies ,tenere il parlamento' und noch heute wird dieser Ausdruck in England und Schottland verwendet", Rede von Michel de I'Hospital anläßlich der Eröffnung der Versammlung der Generalstände in Orleans am 13. Dezember 1560, vgl. R. Repetti, L'educazione di un .re fanciullo": Michel de I'Hospital e la consacrazione di Francesco 11 (1559), Genua 1995, S. 261-279, hier S. 264. 34 .Die Gewohnheit, sich beim eigenen Volk nicht blicken zu lassen und sich nicht mit ihm zu verständigen, ist barbarisch und fürchterlich: Nec visu facilis, nec dictu affabilis ulli", hier bezogen auf Sueton, Vita dei dodici Cesari, VII, 4, 8: Discorso pronunciato da Michel de I'Hospital, S. 267. ,5 .Zum Schluß werde ich sagen, daß der König und die Königin wünschen, daß ihr ihnen in aller Sicherheit und Freiheit eure Bittschriften, eure Klagen und andere

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Wie bekannt ist, mußte der Kanzler sich am Vorabend des Ediktes von Saint-Maur ins Privatleben zurückziehen, wozu ihn die Unmöglichkeit zwang, die Suche nach Frieden zu jeder Bedingung voranzutreiben, und somit weiterhin die Kommunikation zwischen Souverän und Untertanen zu fördern. Er stellte fest, daß seine Arbeit von Seiten des Königs und der Königin nicht mehr geschätzt wurde und es unmöglich war, sich mit den neuen Herrschenden auseinandersetzen: Alles schien unausweichlich auf den Krieg und auf den Ruin des Vaterlandes hinzuführen 36 • Die Debatte über die Rolle der Stände und solchermaßen über die Möglichkeit! die Zulässigkeit von Bittschriften und Anfragen an den Souverän wurde von Situationen genährt, die die von Jean de Coras und von Michel de L'Hospital erlebten Vorgänge wiederholten und verstärkten. Nach dem Blutbad der Bartholomäusnacht und den Reaktionen der Hugenotten, die mit aller Deutlichkeit dazu aufforderten, zu den Waffen zu greifen, bedingte die Betonung der klaren Überlegenheit des Souveräns gegenüber den Konfliktparteien für viele, die überaus entschlossene Bekräftigung dessen, was schon andere seit einiger Zeit vertraten, nämlich die Pflicht, dem Befehl eines Souverän zu gehorchen, der den Klagen der Untergebenen nicht Rechnung trüge. Wie wir wissen, galt dies bei Jean Bodin auch für die Magistraten und für die Stände. Im 4. Kapitel des 3. Buches über die "Republique" ("Über den Gehorsam, den der Magistrat den Gesetzen und dem souveränen Fürsten schuldet") schreibt Bodin: "Nun haben wir gesagt, der Fürst ist an einen seinem Volk gegenüber geleisteten Eid gebunden und hat selbst dann, wenn er durch keinen Eid dazu verpflichtet ist, die Verfassungsgesetze des Landes zu achten, in dem er Souverän ist. Hieraus darf man aber nicht den Schluß ziehen, daß der Magistrat im Falle eines derartigen Pflichtverstoßes des Fürsten nicht zu gehorchen brauche. Denn es ist nicht seines Amtes, darüber zu rechten oder in irgendeiner Weise dem in den irdischen Gesetzen zum Ausdruck gebrachten Willen seines Fürsten, der von ihnen abweichen kann, zuwiderzuhandeln. Stellt aber der Magistrat fest, daß der Fürsr ein höchst gerechtes, nutzbringendes Edikt aufhebt und durch ein anderes weniger gerechtes und dem gemeinen Nutzen weniger zuträgliches ersetzt, dann kann er dessen Ausführung solange aufschieben, bis er seine Bedenken vorgetragen hat, was er nicht nur ein-, sondern zwei- und dreimal zu tun verpflichtet ist. Besteht der Fürst dennoch auf dem Vollzug, so hat der Magistrat das Edikt auszuführen, im Fall einer bei weiterem Aufschub drohenden Gefahr sogar schon bei der nächsten Aufforderung"37. Anträge vorlegt, die sie wohlwollend und großzügig in Empfang nehmen werden und sich in solcher Weise darum kümmern werden, daß ihr bemerken werdet, daß sie auf euer Wohlergehen mehr Rücksicht nehmen als auf das ihre. Und dies ist die Aufgabe eines guten Souveräns", Rede von Michel de l'Hospital, S. 279. 36 R. Repetti, Michel de L'Hospital (1505-1573): parabola di una carriera, in: R. Repetti, L'educazione di un "re fanciullo", S. 65-66. 37 ]. Bodin, Sechs Bücher über den Staat, 2 Bde., übers. von B. Wimmer und hrsg. von Pe. Mayer-Tasch, Bd. 1, München 1981, S. 466.

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Voller Spott über den eigentlichen Nutzen von Bittschriften und Gesuchen verleiht Bodin der entschiedenen Behauptung Nachdruck, wenn er zu bestreiten versucht, daß die Stände den Teil einer demokratischen Regierung eines Frankreichs konstituieren könnten, das sich als aus Monarchie, Aristokratie (die Parlamente) und eben Demokratie zusammengesetztes Regime darstelle: .Man hat sich auch nicht gescheut, zu behaupten und auch noch schriftlich zu verbreiten, daß auch Frankreichs Verfassung eine Mischung aus den drei Staatsformen sei, wobei das Parlament von Paris gewissermaßen das aristokratische, die drei Stände das demokratische und der König das monarchische Element verkörperten. Diese Ansicht ist nicht nur absurd, sondern [geradezu] todeswürdig. Denn es ist ein Verbrechen der Majestätsbeleidigung, die Untertanen als Teilhaber des souveränen Fürsten hinzustellen. Wie weit ist es denn her mit den Merkmalen der Demokratie, bei der Versammlung der drei Stände, wo sie doch als einzelne Individuen und in ihrer Gesamtheit auf den Knien ihre Anliegen in Form demütiger Bittgesuche und flehentlicher Bitten an den König herantragen, der sie nach Gutdünken annehmen oder auch zurückweisen kann? Wo bei der Versammlung der drei Stände oder selbst des Volkes, unterstellt, es ließe sich an einem einzigen Ort versammeln, soll denn die Mitbestimmungsmacht des Volkes als Gegengewicht zur Macht des Monarchen sein, wenn es doch an ihn ,suppliziert', ihn ,ersucht' und ihm in Ehrerbietung gegenübertritt? Eine derartige Versammlung bedeutet [doch] alles andere als eine Minderung der Macht der souveränen Fürsten, ja mehrt sie sogar noch beträchtlich! Welch größere Ehre, Machtsteigerung und Mehrung seines Glanzes könnte ihm widerfahren als unzählige Fürsten und Mächtige und ein zahlloses Volk von Menschen jeglicher Art und jeden Standes sich ihm zu Füßen zu werfen und seiner Majestät huldigen zu sehen? Beruhen denn nicht Ehre, Ruhm und Macht des Fürsten allein auf dem Gehorsam, der ihnen erwiesenen Huldigung und der Pflichterfüllung ihrer Untertanen?"38.

Alles dies stand in der ersten Ausgabe der .Six livres de la Republique" (1576). Aber am Ende desselben Jahres 1576 legte Heinrich III. gegenüber den Ständen von Blois ein derartiges Verhalten an den Tag, daß es Bodin veranlaßte, seine Meinung zu ändern und zu glauben, daß diese Haltung .Natur, Gewohnheit und Verhalten eines Despoten, wenn nicht gar eines Tyrannen"39 enthülle. Demnach definierte er in der Ausgabe der .Republique" von 157840 seinen Standpunkt gegenüber den Ständen und den Bittschriften an den Souverän neu, die anläßlich ihrer Zusammenkünfte vorgelegt wurden. Er spricht davon mit Betonungen, die auf eine Auffassung von ihrer Rolle verweisen, wie sie bereits von de L'Hospital und de Coras ausgedrückt wurde: .Hingegen hat ein rechtmäßiges Königtum kein sichereres Fundament, als die Ständeversammlung des Volkes, Korporationen und Kollegien. Denn wenn Abgaben zu erheben und Truppen zusammenzuscharen sind, und der Staat gegen die Feinde zu verteidigen ist, so gelingt dies nur, mit Hilfe der Ständeversammlung des [ganzen] 38 Ebd., S. 328-329. 39 M. Isnardi Parente, Introduzione, in: ]. Bodin, I sei libri dello Stato, hrsg. von M. Isnardi Parente, Turin 1964, S. 12. 40 Ebd., S. 13.

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Volkes, jeder Provinz, jeder Stadt und jeder Gemeinde. Die Erfahrung lehrt denn, daß gerade diejenigen, die für die Abschaffung der Ständeversammlungen der Untertanen sind, im Notfall sich keinen anderen Rat wissen, als um Hilfe bei den Ständen und Gemeinden zu bitten, die mit vereinten Kräften ihren Fürsten beistehen und sie verteidigen. Gerade bei der Versammlung der Generalstände aller Untertanen verhandelt man in Gegenwart des Fürsten über die den Staat als Ganzes und seine Glieder betreffenden Angelegenheiten; dort werden die berechtigten Klagen der gepeinigten Untertanen laut und vernommen, während sie sonst dem Fürst nie zu Ohren kommen, dort werden die räuberischen und erpresserischen Machenschaften aufgedeckt, die ohne Wissen der Fürsten in ihrem Namen begangen werden. Unbeschreiblich aber ist das Gefühl der Zufriedenheit der Untertanen, ihren König in der Ständeversammlung vorsitzen zu sehen und wie stolz sie sind, von ihm gesehen zu werden. Wenn er ihre Klagen anhört und ihre Bittgesuche entgegennimmt, so preisen sie sich zutiefst glücklich, Zutritt zu ihren Fürsten gehabt zu haben, auch wenn ihre Bitten häufig abschlägig beschieden werden"41.

Es war nicht das einzige Entgegenkommen, zu dem Bodin durch das Ergebnis der Stände von Blois veranlaßt wurde. In der Ausgabe von 1578 führte er eine neue Widmungsschrift an Monsignor Du F aUf, signore von Pibrac, ein, in der ihm die Schilderung der vergangenen Begebenheiten - wie es Margherita Isnardi Parente ausdrückte - dazu diente, "sich gegen die Anschuldigung, für den Absolutismus zu sein, zu verteidigen und seine praktische und konkrete Unterstützung des Rechts auf Widerstand zu zeigen"42.

III. Die Akteure des politischen Handelns in der Frühen Neuzeit waren sich der Rolle der Bittschriften voll bewußt, sei es in Bezug auf Frankreich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, sei es hinsichtlich kleinerer territorialer und politischer Einheiten43 . Es ist kein Zufall, daß noch vor der systematischen Erforschung der Bittschriften der letzten Jahren der italienische Wissenschaftler, der seine gesamte Forschung der Analyse der den Ständeversammlungen und anderer Vertretungen zugrundeliegenden Prinzipien widmete, bis in die Tiefe verstanden hätte, daß hinter dem Begriff "Bittschriften" wirksame Mittel der Kommunikation zwischen Souverän und Untertanen standen. Gerade in bezug 41 ]. Bodin, Sechs Bücher über den Staat, Bd. 1, S. 544. Auf den Ausschnitt und die damit verbundenen Fragen wurde jüngst neuerlich verwiesen von D. Quaglioni, .Corpus", "universitas" , pluralita di corpi: alle radici di un archetipo giuridico-istituzionale, in: D. Zardin (Hrsg.), Corpi, .fraternita", mestieri nella storia della societa europea, Rom 1998, S. 39-49, insbesondere S. 43-49. 42 M. Isnardi Parente, Introduzione, S. 13. 43 Wie beispielsweise die städtische Realität, mit der ich mich befasst habe in: A. De Benedictis, Repubblica per contratto. Bologna: una citta europea nello Stato della Chiesa (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Monografie, 23), Bologna

1995.

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auf den französischen Kontext, auf den oben kurz hingewiesen wurde, und folglich auch im Vergleich mit anderen Königreichen, legte Antonio Marongiu vor Jahren Aussagen nieder, die noch heute ein starkes Interesse in sich tragen und Forschungsabläufe aufzeigen - auch wenn sie, wie man es formulieren könnte, der "traditionellen politischen Geschichte" zuzurechnen sind. Seiner aufmerksamen Lektüre von Michel de L'Hospital, zum Beispiel, entging nicht, daß der Kanzler die Stände als den Ort par excellence der Kommunikation zwischen Souverän und Untertanen wahrnahm 44 ; und er stellte auch die Veränderung in der Bewertung bei Jean Bodin fest 45 . Zum Abschluß dieser kurzen Betrachtungen möchte ich eine Anmerkung von Marongiu über die weitreichende Auswirkung der Bezeichnung vieler Urkunden des 16. und 17. Jahrhunderts als Bittschriften noch einmal aufnehmen: "letztlich wurde als ,demütige Bitte' im englischen Parlament von 1628 die ,Petition der Rechte' vorgelegt, die ein ausdrücklicher Akt der Anklage und des Protestes gegen die Regierung und mehr noch gegen den Souverän selbst ist"46. Und parallel dazu möcht ich daran erinnern, was Virgilio Malvezzi, ein im Europa der dreißiger Jahre bereits sehr bekannter politischer Autor, 1634 in einem Philipp IV. gewidmeten Werk niedergeschrieben hat; seit einiger Zeit am Hof und dem Grafen Herzog Olivares sehr nahestehend, warnte er am Beispiel des verfolgten David die Favoriten des Fürsten: "Si ricordino che l' offizio del privato e offizio di angelo. Deve port are le suppliche de' sudditi al signore, e riportare le grazie del signore a' sudditi. Colui che fa in contrario e un demonio, non e un angelo"47.

44 A. Marongiu, Jean Bodin e la polemica sulle assemblee di "stati", in: A. Marongiu, Dottrine e istituzioni politiche medievali e moderne. Raccolta, Mailand 1979, S. 322, 329-350. 45 Ebd., sowie den Aufsatz:]. Bodin e le assemblee di "stati" , ebd., S. 313-328.

A. Marongiu, Jean Bodin e la polemica, S. 342, Anm. 39. 47 "Erinnern Sie sich daran, daß das o/fizio del privato das Amt eines Engels ist.

46

Er muß dem Signore die Bittschriften der Untertanen und die Gnade des Signore den Untertanen überbringen. Derjenige, der das Gegenteil tut, ist ein Teufel und kein Engel", V Malvezzi, Davide perseguitato, hrsg. von D. Aric, Rom 1997, S. 37.

Fürstliches Recht und Gemeinde Die Ercole 11. d'Este vorgelegten kommunalen Statuten (1534·1535)*

Von Laura Turchi**

I. Eine Demonstration fürsdicher Großzügigkeit

Als nach dem Tod von Alfonso I. dessen Erbe und Erstgeborener Ercole zum neuen Herzog von Ferrara, Modena und Reggio erhoben wurde, war es - wie es sich für jeden neuen Herzog gehörte - Ercoles erste Aufgabe, nach den Bestattungsfeierlichkeiten zu Ehren seines Vaters am 2. November 1534 und nach der Zeremonie anläßlich der Übernahme des Herzogtums, die Gesuche der Gemeinden in seinem Herrschaftsgebiet entgegen zu nehmen. Ludovico Antonio Muratori beschrieb jenes Ereignis in seinen zwei Jahrhunderte später gedruckten "Antichita estensi" mit folgenden Worten: "Danach widmete sich der neue Herzog der Regierung seines Volkes, indem er zunächst Liberalität gegenüber dem Volk und der Kommune von Ferrara walten ließ, die er zudem reich beschenkte und der er zahlreiche Gnaden erwies. Nicht weniger waren jene Gaben, die er den anderen Städten und Gemeinden seines Herrschaftsgebietes zugestand, als er alle Abgesandten, die gekommen waren, um ihr Mitgefühl über den Tod seines Vaters auszudrücken und um sich an seiner Einsetzung als Herzog zu erfreuen, hochzufrieden nach Hause schickte. Danach machte er am Weihnachtstag desselben Jahres vielen privaten Personen und besonders seinen Höflingen und Vertrauten Geschenke im Wert von 50.000 Golddukaten, teils in Form von Immobilien, teils als Dinge, Geld und andere wertvolle Gegenstände"!.

* Aus dem Italienischen von Anja Brug.

Abkürzungen: Archivio Storico Comunale di Carpi = ASCCa; Archivio Storico Comunale di Modena = ASCMo; Archivio di Stato di Ferrara = ASFe; Archivio di Stato di Modena = ASMo; Archivio di Stato di Reggio = ASRe; Archivio Notarile Antico = ANA; Archivio Segreto = AS; Cancellieri, Consiglieri, Segretari, Referendari = CCSR; Leggi e Decreti = LD; Mandati in volume = Mandati. ** Ich danke Mario Bertoni, der mir mit seinem Sachverstand zur Seite gestanden hat. "Si applico poscia il Duca novello al governo de' suoi popoli, con dar principio dall'esercizio della Liberalita verso il Popolo e Comune di Ferrara, a cui fece moIti doni, e concedette non poche grazie. Ne minori furono quelle, eh 'egli comparti all'altre Citta e Terre del suo dominio, con rimandare alle lor case ben contenti tutti gli Oratori d'esse, ehe erano venuti a condolersi della morte del padre e a ralegrarsi dell'assunzione sua

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Dies war ein typischer Ausdruck fürstlicher Freigiebigkeit. Die von dem Historiker der Este vorgenommene Betonung der Großzügigkeit des neuen Herzogs gibt indessen einen exakten historischen Umstand wieder. Tatsächlich war der Staat der Este erst seit kurzem einer sehr harten, von Kriegen geprägten Zeitspanne entkommen. Mit einem Schiedsspruch Kaiser Karls V. war den Kriegen ein Ende gesetzt worden: Karl hatte 1531 Alfonso I. die Herzogtümer Modena und Reggio erneut zugesprochen. Doch nach drei Jahren herrschte in der Garfagnana noch immer Aufruhr, und der bewaffnete Kampf zwischen dem estefreundlichen und dem papstfreundlichen Lager teilte weiterhin das Frignano, während sich die letzten Getreuen der Grafen Pio, den einstigen Signori von Carpi, in der Burg von Novi verschanzt hielten, und ihre Zuflucht erst im]ahre 1537 verließen. Ein weiterer, entscheidender Umstand machte die Position des neuen Herzogs unsicher: Erst im]anuar des] ahres 1539 entschloß sich Papst Paul III., das Vikariat über Ferrara erneut den Este zuzugestehenallerdings mit einem jährlichen Zensus von gut 7.000 Dukaten, der zusätzlich zu den als Entschädigung für Kriegsverluste geforderten 180.000 Dukaten, erhoben wurde2 • Die unterworfenen Gemeinden waren ausgelaugt durch die Plünderungen der kaiserlichen und päpstlichen Truppen, die oftmals auf ihre Kosten einquartiert worden waren, verarmt durch die drückende Steuerlast, die ihnen aufgrund des Krieges aufgebürdet worden war, und erschöpft von den Kämpfen der Parteien. Sie erbaten von Ercole II. zunächst den Erlaß der während der Herrschaft des Papsttums und des Kaisertums bei der herzoglichen Familie in Form von noch nicht beglichenen Abgaben und Zöllen angehäuften Schulden', zudem eine Steuers tun dung für einige]ahre, um die eigene Wirtschaft wieder zu normalisieren und schließlich Senkungen der in al ducato. Poscia nel giorno sacro del Natale d'esso Anno 1534 fece donativi a mohe persone private, e spezialmente a' suoi Cortigiani e familiari per cinquanta mila Ducati d' oro, parte in istabili, parte in robe, danari, ed altre cose di prestigio", L.A. Muratori, Delle antichita estensi ed italiane, 2 Bde., Modena, Stamperia ducale, 1717-1740, Nachdruck Bologna 1984, Bd. 2, S. 364. A. Frizzi, Memorie per la storia di Ferrara, 5 Bde., Ferrara, Pomatelli 1791-1809, Bd. 4, S. 335-336. , Reggio verblieb von 1512 bis 1523 unter der Herrschaft des Papstes, was für Modena zwischen 1510 und 1527 galt. Den einzigen Gesamtüberblick über den Staat der Este während der Kriege in Italien liefert A. Frizzi, Memorie per la storia, S. 176-313. Über Modena und Reggio unter der Herrschaft des Papstes, 0. Rombaldi, n governo ecdesiastico (1512-1523), in: Ludovico Ariosto: il suo tempo, la sua terra, la sua gente, Reggio Emilia 1974, S. 17-53; den., Frignano e Modena durante il governo pontificio (1510-1527), in: Pavullo eilMedio Frignano, Modena 1977, S. 51-68. Bezüglich der Grafschaft von Carpi und der Garfagnana, vgl. A. Sabattini, Alberto III Pio. Politica, diplomazia e guerra del conte di Carpi. Corrispondenza con la corte di Mantova, 1506-1511, Carpi 1994, sowie C. De Sle/ani, Storia dei comuni di Garfagnana, in: Atti e memorie della Deputazione di storia patria per le province modenesi, 7 (1925),2, S.207-218.

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Zukunft zu zahlenden Steuern. Darüber hinaus forderten jene die Bestätigung der ihnen von den Vorgängern des Herzogs zugestandenen herzoglichen Statuten und Dekrete, sowie Gnade für alle in den vorhergehenden Jahren verfügten Geld- und Leibesstrafen. Solche Anträge entsprachen den Gepflogenheiten in der Ertragslogik, die in den Regionalstaaten und den Königreichen zwischen dem Spätmittelalter und der Moderne vorherrschte4 • Wenn die außergewöhnliche Beharrlichkeit, mit der der Appell an die Nberalitas des neuen Herzogs gerichtet wurde, indessen in der Not der Nachkriegsjahre begründet lag und durch die heikle politische Lage möglich geworden war, in der sich das Herrschaftsgebiet befand, so ist anzunehmen, daß sich darin das alte Thema der Beziehung zwischen dem Fürsten und den unterworfenen Gemeinden und ein erster Entwurf einer genaueren und zentralisierteren Kontrolle der Steuern und der Rechtssprechung in den Herrschaftsgebieten verbanden. Dies wird von in ihrer Art vollkommen neuen historischen Quellen bestätigt, die die Statuten ermöglichten - als Indikatoren eines erfolgten Bruchs mit der Vergangenheit und dies nicht nur in formaler Hinsicht.

11. Eine QueUe und ihre Abschrift Zugeständnisse an Gemeinden und Privatpersonen waren bisher in Kanzleibänden gesammelt worden, die sich primär anhand von dynastischen und chronologischen Kriterien unterschieden. Gemeinhin hatte bis zu jenem Zeitpunkt jeder neue Signore ein Register begonnen, das Bestätigungen alter ebenso wie neue Verordnungen enthielt, die mit seiner Ernennung in Kraft gesetzt wurden; diesen Verfügungen hätten im Laufe der Zeit weitere angegliedert werden können, ohne daß es notwendig gewesen wäre, sie in getrennten Hinsichtlich eines bedeutsamen Vertragsabschlusses zwischen einer Stadt und ihrem Fürsten zwischen Spätmitte!alter und Neuzeit, vgl. A. De Benedictis, Repubblica per contratto. Bologna: una citta europea nello Stato della Chiesa (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Monografie, 23), Bologna 1995. Als außerordentlich nützlich für die Autorin haben sich jene auf die juristische Einordnung von den Gemeindeverträgen ähnlichen Quellen bezogenen Seiten erwiesen, wie etwa die Vereinbarungen anläßlich der Unterwerfung, in: L. Mannori, Il sovrano tutore. Pluralismo istituzionale e accentramento amministrativo ne! Principato dei Medici (secf. XVI-XVIII), Mailand 1994, S. 41-54. In bezug auf die politisch-institutionelle Geschichte erweist sich]. Grubb, Firstborn of Venice. Vicenza in the Early Renaissance State, Baltimore MD / London 1988, als nach wie vor recht anregend; hinsichtlich der europäischen Monarchien, vgl. ].H. Elliott, A Europe of Composite Monarchies, in: Past and Present, 137 (1992), S. 48-71, absichtsvoll erneut aufgegriffen in: M. Folin, Il sistema politico estense fra mutamenti e persistenze (secoli XV-XVIII), in: Societa e storia, 20 (1997),77, S. 505-549, um die Geschichte des Staates der Este mit Hilfe des Interpretationsmusters des composite state neu zu lesen. Vgl. dazu auch E. Fasano Guarini, ~Etat moderne" et anciens Etats italiens. Elements d'histoire comparee, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 45 (998), 1, S. 33-34.

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Bänden zu sammeln5. Solche bislang üblichen Bände verfügen über weitaus größere Formate und weichen im Aufbau entschieden von jenem Register ab, in dem die Konzessionen von Ercole II. an die Gemeinden erfaßt sind. Tatsächlich sollte in diesem Register erstmals ausschließlich jene, neue Art von Dokumenten gesammelt werden, die statt in Gestalt von Dekreten in der Form von Verträgen verzeichnet wurden und entsprechend am unteren Rand jeder einzelnen Bittschrift mit den Erlassen versehen waren. Die Abschriften der Petitionen und der herzoglichen Entscheidungen drückten solchermaßen die geschäftliche Seite der Beziehung zwischen dem Herzog und den verpflichteten Gemeinden aus; dieser Aspekt war bis zu jener Zeit zunächst verborgen und danach in die Dekret-Formel überführt worden6 : Im ältesten Register der uns überlieferten fürstlichen Verordnungen aus dem späten 14. Jahrhundert offenbart der Wortlaut der Vergünstigungen für Einzelne oder Gemeinschaften von Seiten des Herzogs in keinem Moment den Anlaß, aus dem sie erwuchsen; vielmehr wird auf diese Weise der endgültige Beschluß des Signore hervorgehoben7 • Ab dem Zeitalter Niccolos III. (1393-1441) fand die 5 ASMo, Cancelleria, LD, sezione B. Bezüglich der Archivreihe, U. Dallari, Inventario sommario dei documenti della Cancelleria ducale estense (sezione generale) ne! regio Archivio di stato di Modena, Modena 1927, S. 262-263, sowie P. Di Pietro, La Cancelleria degli Estensi ne! periodo ferrarese (1264-1598), in: Atti e memorie della Deputazione di storia patria per le province modenesi, 10 (1975), 10, S. 91-99, die zuerst die grundsätzlich den Kammerarchivalien entsprechende Art der Sezione A und hingegen für die Sezione B die Art der Kanzleiarchivalien erkannt hat, was M. Fo/in, Note sugli officiali negli stati estensi (secoli XV-XV!), in: F Leverotti (Hrsg.), Gli officiali negli stati italiani der Quattrocento (Annali della Scuola normale superiore di Pisa, IV. Quaderni, 1), Pisa 1997, S. 140-142, Anm. 13-18,30, bestätigt, der nicht nur die den Kanzleiregistern entsprechende Art der Register VIA und VIIA feststellt, sondern auch die künstliche Schaffung der Archivreihe .Leggi e Decreti" am Ende des 19. Jahrhundert hervorhebt. Neben den Bänden IB-VIB - auch diese definierte er als nach Art der Kanzleireihen verfaßte Dokumente des 15. Jahrhunderts - wurden der Autorin zufolge sicher auch die Bände XIIIB-XVIIB, XIXB-XXB und XXXbisB in der Art der Kanzleireihen erstellt. Den von Riccardo Vaccari durchgeführten Forschungen zufolge war Bd. XXIbisB, der im Inventar des Dallari als Inhaltsverzeichnis des Bandes XXIB angegeben war, bereits Anfang der sechziger Jahre des gerade vergangenen Jahrhunderts nicht mehr vorhanden, als die gesamte Reihe aus konservatorischen Gründen mikroverfilmt wurde. 6 ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, Herculis 11 capitulorum comunitatum registrum. 1523 ad 1545. Die gegenwärtige Nummerierung des Registers besteht sowohl auf der recto- als auch auf der verso-Seite der Blätter in fortlaufenden arabischen Zahlen. Deshalb kann der bei P. Di Pietro, La Cancelleria degli Estensi, S. 95 vorgeschlagenen Datierung nicht zugestimmt werden, die sich neben der fraglichen, von Dallari ausgeführten Neuordnung zudem auf das Ursprungsdatum des ersten in das Register übertragenen Vertrags beruft. ASMo, Cancelleria, LD, reg. IB, Nicolai 11 et Alberti decreta. 1379 ad 1393. Der Band ist sowohl nach Art von Kammerregistern wie auch nach der von Kanzleiregistern verfaßt, da die Dekrete den Randvermerk des Empfängers tragen: .ad Cameram" oder

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Existenz von Bittschriften sodann in den Verordnungen des Herzogs zunehmende Erwähnung; unter Borso d'Este (1450-1471) bereits erschienen sie darin als Regest; es war jedoch während des Herzogtums von Ercole I. (1471-1505), als die herzoglichen Schreiber als erste in die herzoglichen Register, die Kopien der Erlasse enthielten, regelmäßig nicht nur Einzelgesuche und Gemeindeeingaben, sondern auch die beigefügten Unterlagen, die zur Entscheidung des Signore beigetragen hatten, als Abschriften niederlegten: Berichte der Beamten am Hof oder im Hoheitsgebiet, die die Aufgabe hatten, sich über den jeweiligen Fall zu informieren, sowie mögliche Dekrete der Vorgänger, von denen zumindest das Datum und die Kurzfassung, wenn nicht gar der gesamte Text unterbreitet wurden. Innerhalb einer derartigen Kanzleipraxis bildete die wörtliche oder doch ausführliche Übertragung der früheren Schenkungen von Seiten des Signore weder ein einfaches bekräftigendes Zitat noch eine unangreifbare, weil selbstreferenzielle Bestätigung. Vielmehr stellte sie die schriftliche Fassung eines für das Zeitalter des Gemeinrechts typischen Grundsatzes dar, wonach die Gesetze umso ehrwürdiger und geachteter sein sollten, je älter sie waren; deshalb lud sich die Niederschrift mit all der in der dynastischen Kontinuität ausgedrückten Legitimierungsgewalt auf; nicht ohne Grund dienten zwei der Gemeinplätze in der Lobesdichtung und in der politischen Propaganda der Este des 15. und 16. Jahrhunderts - die eindrucksvolle Vergangenheit der Fürstenfamilie und deren ununterbrochene, jahrhundertealte Regierung - als Garantie für die Beständigkeit der Herrschaft8 • Der Band mit Ercoles Konzessionen an die Gemeinden durchbrach mithin diese Art der Vergangenheitsbezogenheit, um statt dessen ein neues historisches und richtungsweisendes Kapitel in jenen Vertragswerken der Städte und Gemeinden aufzuschlagen, die Alfonso I. von 1523 an - mit dem Beginn der militärischen Rückeroberung der während der italienischen Kriege verlorenen Gebiete der Este also - abgeschlossen hatte. In einer besonders konservativen politischen und kulturellen Lage, die von der Hochachtung der Geschichte gleich ob wirklich oder erdacht - geprägt war, bedeutete dies ohne Zweifel nad Cancellariam", vgl. P Di Pietra, La Cancelleria degli Estensi, S. 93-94, die folglich die Entsteh ung einer Kanzleireihe für das Ende der sechziger Jahre des 14. Jahrhunderts annimmt. Der bekannteste Fall in diesem Sinne ist die eindrucksvolle Erstellung eines Stammbaums, die Ercole 11. und später sein Sohn Alfonso 11. anläßlich der Auseinandersetzung zwischen den Este und den Medici wünschten, während der die Genealogen von Seiten der Este auf dem jahrhundertealten Bestehen des Familiennamens und der Fortdauer seiner Herrschaft beharrten, um damit im Vergleich zu den F10rentiner Herrschern den weit größeren Ruhm und folglich das Recht auf den Vorrang für ihre Gesandten während des Zeremoniells am kaiserlichen Hof zu begründen. Bezüglich der Streitigkeit um das Vorrecht, vgl. V Santi, La precedenza tra gli Estensi e i Medici e l'Historia de' Principi d'Este di G. Battista Pigna, in: "Atti delIa Deputazione ferrarese di storia patria", 9 (1897), S. 37-122.

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eine tiefgreifende, innovative Willenserklärung9• Dies gilt umso mehr, als in der politischen Wahrnehmung des neuen Herzogs und seiner höchsten Beamten die italienischen Kriege als wahrhaft gravierender Einschnitt empfunden wurden, als Kluft, die zumindest hinsichtlich der Regierungspraxis unmöglich wieder zu schließen war. Deshalb verband das Register die Verträge aus den Jahren 1534 bis 1535 mit jenen, die Alfonso I. zwischen 1523 und 1527 bewilligt hatte, wobei diese Verknüpfung - wie es für die Kanzleiregister mit Kopien bezeichnend war - ohne alphabetische oder chronologische Ordnung geschah. Nachdem die Besonderheit des Dokuments innerhalb der Archivalien hinreichend verdeutlicht wurde, gilt es dennoch einige Bemerkungen zu machen: Zunächst einmal wurde das Vorhaben nicht zu Ende geführt, was sich zum einen darin manifestiert, daß sich in dem Register weder für die Gemeinden der Garfagnana noch für das Herzogtum Ferrara Vertragswerke finden lassen lO ; zum anderen bestätigt der spätere fiskalische Gebrauch des Bandes in der Kammer, daß das Unternehmen nicht in Gänze durchgeführt wurde. Wir wissen 9 Unbedingt zu verweisen gilt es auf R. Bi1.1.Occhi, Genealogie incredibili. Scritti di storia nell'Europa moderna (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Monografie, 22), Bologna 1995. Hinsichtlich der Este vgl. auch L. Turchi, Matrimoni e memoria genealogica fra tardo Medioevo ed eta moderna, in: A. Spaggiari / G. Trenti (Hrsg.), Lo Stato di Modena: una capitale, una dinastia, una civilta nella storia d'Europa, Atti del convegno, Modena 25.-28. März 1998,2 Bde., Modena 2001, Bd. 2, S. 801832. 10 Ein kleiner, aber bedeutsamer Fingerzeig auf solche Vertragswerke befindet sich im ASMo, Cancelleria, LD, reg. XXB, Civilitatum et exemptionum registrum. 1543 ad 1560, eingefügt auf S. 49. Es handelt sich um die Bittschrift von vier Notaren des Vikariats von Camporgiano: geschrieben am 30. Oktober 1543 bezog sich diese Bittschrift auf den Erlaß von Ercole vom 11. Dezember 1534, den das Vikariat wiederum erhalten hatte. Diese Bittschrift muß dem Kontext neuer Anordnungen für die Regierung des Vikariats angegliedert werden, der von 1543 an nicht acht presidenti, sondern sindaci vorstanden; E. Angiolini, Le vicarie e gli statuti giurisdizionali della Garfagnana estense, in: La Garfagnana dall'avvento degli Estensi alla devoluzione di Ferrara, Atti del quarto convegno di studi storici, Castelnuovo 11.-12. September 1999, Modena 2000, S. 178. Bezüglich der Vertragswerke der Garfagnana, siehe unten, Anm. 14. Als weniger klar erweist sich der Fall der Gemeinden in der Umgebung Ferraras - abgesehen von den Festungen von Bergantino, Melara, Bariano und Trecenta, die bis zum Zeitalter Napoleons unter der Rechtssprechung des Bischofs von Ferrara verblieben; vielleicht gerade weil sie nicht die Form eines Vertrags hatten, konnten sich die herzoglichen Briefe schließlich weder in den Archivalien der Kanzlei noch - wie zu sehen sein wird - in der Kammer aufbewahren. Sie waren an Albinea und Montericco, den Lehnsgütern der Manfredi, gerichtet, auf den 26. Januar 1535 datiert und behandelten die Staatsbürgerschaft, die Schätzung und die Übernahme einiger Verordnungen aus den Statuten der Stadt Reggio in die örtlichen Verfügungen, vgl. T Bacchi, Territorio ferrarese, sowie A. Campanini, Albinea, beide in: A. Vasina (Hrsg.), Repertorio degli statuti comunali emiliano-romagnoli (secc. XII-XVI), 2 Bde., Rom 1997/98, Bd. 2, S. 38, 228. In bezug auf die Bitten um Bestätigung der in die Verträge der Jahre 1534 bis 1535 eingefügten Statuten, siehe weiter unten.

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zwar nicht, warum das Abschreiben der Verträge unterbrochen wurde, sicher ist aber, daß das Buch in die herzogliche Kammer überging, zumal die darin verzeichneten Verträge in vielen Fällen steuerliche Zugeständnisse umfaßten. Möglicherweise war der Band sogar für das dazugehörige Archiv - die sogenannte Libraria della Camera, die vom in der Zuständigkeit der Kanzlei liegenden Geheimarchiv der Este abgetrennt war - vorgesehen l1 . Nach einer ersten der Kanzlei entsprechenden Verwendung wurde das Buch an seinem neuen Aufbewahrungsort dazu genutzt, die Abrechnung der herzoglichen massaria [Verwaltung] von Modena für die Jahre 1537 bis 1547 und einige wichtige Verträge über die Verpachtung der herzoglichen Zölle im Herrschaftsgebiet festzuhalten 12. Weitere Erkenntnisse liefert darüber hinaus eine nur wenig ältere, aus der Kammer stammende Quelle. Dieses Dokument legt dar, wie man zur Fülle all der in dem Register verzeichneten Unterlagen gelangte, wie das Buch vorbereitet wurde, und offenbart die Voraussetzungen seiner geänderten Bestimmung; des weiteren liefert es uns einige Vertragswerke, die die Urkundenbeamten von Ercole II. nicht rechtzeitig abschreiben konnten. Die Maße und der Trockenstempel auf den Seiten weisen die Quelle sogleich als ein aus den 11 Zur Libraria della Camera vgl. F Valenti, Introduzione, in: Archivio di Stato di Modena, Archivio segreto estense. Sezione "Casa e stato". Inventario (Pubblicazioni degli Archivi di Stato, 13), Rom 1953, S. XVIII; G. Guerzoni, Le corti estensi e la devoluzione di Ferrara nel 1598, Modena 2000, S. 99 und 101. 12 G. Guerzoni, Le corti estensi, auf den S. 111-113 befinden sich die mit dem Datum 11. Dezember 1536 in Modena niedergeschriebenen Veträge, die ausschließlich steuerlichen Inhalts sind; es folgt auf den S. 114-118 und - in abweichender Handschrift - auf den S. 119-125 die Dokumentation des Abkommens, das 1545 von der herzoglichen Kammer mit der "terra separata" von Rubiera in Bezug auf die Bezahlung der spelta [Spelze] erreicht wurde, vgl. dazu unten, Anm. 38; auf den S. 126-137 ist das" Compendio dele intrate dela ducale Massaria et gabelle e tasse de Modena, prencipiando l' anno 1541 et eciam le spese ordinarie Massariae" [Kompendium über die Einnahmen der herzoglichen massaria und Zölle und Steuern von Modena, beginnend im Jahr 1541 und auch die gewöhnlichen Ausgaben der Massaria] dargelegt, das tatsächlich die Jahre zwischen 1537 und 1541 abdeckt und 1543 zusammengestellt wurde. Nach den Verträgen von Montecchio vom 17. Juni 1527, die irrtümlich neu geschrieben worden waren, und jenen unvollendeten vom 18. November 1534, auf den S. 138-141,142-146, ist der Anfang des Pachtvertrags über zwanzig Jahre von Francesco Maria della Seta zu lesen, der den Einzug aller Erträge der herzoglichen massaria in Reggio einschloß, dessen Datierung aber leider nicht bekannt ist; anschließend wird der Pachtvertrag über fünf Jahre von Silvestro Sorboli offengelegt, der die Zölle und die Saline in Bagnacavallo betraf und 1552 vereinbart wurde. Genau diese Art Verträge machte es erforderlich, daß eine schöne Kopie im Archiv der Kammer hinterlegt wurde, siehe ebd., S. 99. In bezug auf die Dokumente der Kammer vgl. ebd., S. 117-121, 123-124, 139-145, 148-149, sowie G. Guerzoni, La Camera ducale estense tra Quattro e Cinquecento: la struttura organizzativa e i meccanismi operativi, in: A. Prosperi (Hrsg.l, Storia di Ferrara, Ferrara 2000, S. 168-176.

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Jahren 1533 bis 1535 stammendes Register der herzoglichen Kammer aus; die Datierung und die vielen darin ungeregelt wechselnden Schriften deuten darauf hin, daß der Nutzen seiner Abfassung überwiegend praktischer Natur war: Es diente dem Vermerk der erteilten Steuerbefreiungen und somit dem Zweck der Einziehung und Prüfung der Rechnungen. Wurde der Band bis Dezember 1534 dazu gebraucht, die aus der herzoglichen Kanzlei und vom Giudice dei Savi aus Ferrara stammenden Zahlungsanweisungen regelmäßig zu notieren, so wurden anschließend viele von Ercoles Vorträgen darin eingetragen IJ • Der Beginn der Kopiertätigkeit ist sicher kurz vor den Verhandlungen zwischen dem Herzog und den Botschaftern der Gemeinden anzusetzen, die wegen der Übernahme des Herzogtums in die Hauptstadt gekommen waren. Tatsächlich sah die Praxis der Gesandtschaften der Gemeinden vor, daß die Vertreter der erwähnten Orte, nachdem sie die Antworten auf die vorgelegten Steuerverträge erhalten hatten, sie den für ihre Gemeinden zuständigen Verwaltungen oder herzoglichen Kämmereien im Herrschaftsgebiet überreichen sollten. Letztere fertigten Kopien davon an, um die Originale erst dann endgültig den Gemeinden zu überlassen. In der Kammer von Ferrara wartete man demnach vornehmlich darauf, daß die Kämmereien der Herrschaftsgebiete ihrerseits Exemplare der gerade abgeschriebenen Vertragswerke schickten. Der vornehmlich Steuern betreffende Inhalt der Statuten trägt folglich dazu bei zu klären, warum die Verträge - anders als ein Großteil der die Regierung des Hoheitsgebietes betreffenden Dokumente - nicht in die Kanzleien der von den Este in die unterworfenen Gegenden gesandten governatori [Statthalter] und podesta [Stadtvögte] Eingang fanden und vielmehr in die herzoglichen Kammern des Herrschaftsgebietes gelangten: Die Kanzleien waren als überaus gewichtige Angelpunkte für Geldfluß und Verwaltungskontrolle wirksam, was darin begründet lag, daß Verwalter und Kämmerer angehalten waren, am Ende ihrer Amtszeit die eigenen Rechnungsbücher der Buchhaltung der herzoglichen Kammer in Ferrara zur Überprüfung vorzulegen. Dies läßt auch den tieferen Grund vermuten, warum in keinem der beiden Bände Vertragswerke der Garfagnana zu finden sind: Zunächst waren die Vikariatsverwaltungen der Garfagnana keineswegs verpflichtet, sich mit herzoglichem Salz zu versorgen, und beschafften es sich gewöhnlich in Pisa; ferner vertraute die Regierung der Este in den beiden wichtigsten Vikariaten, in Castelnuovo und Camporgiano, die Steuereinnahme in vollem Umfang dem Wirken der in die örtlichen "Lokalparlamente" gewählten Vorsitzenden und Bürgermeister an. Darüber hinaus hatten die Vikariate, seitdem sie sich der Familie der Este (1446) untergeordnet hatten, eine Befreiung von allen gemeinhin dem Signore zustehenden Zöllen auf den Transport von Futtergetreide und Vieh sowohl lJ ASMo, Camera, Mandati, reg. 46; die ersten verzeichneten Statuten sind jene an San Felice gerichteten Erlasse vom 10. Dezember 1534, vgl. fol. 49r-50r.

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innerhalb als auch außerhalb der Provinz genossen, was erklärt, weshalb im Fall der Garfagnana das Verwaltungs- und Informationsnetz fehlte, auf dem die Erstellung der beiden Register basierte. Anders als zur Camera gehörten zur herzoglichen Kanzlei keine über das Herrschaftsgebiet verteilten Zweigstellen, die gleichermaßen den Kämmereien wie den Verwaltungen zur Verfügung standen. Deshalb bedienten sich Statthalter und Stadtvogt vorwiegend der in den Stadt-und Gemeindearchiven befindlichen Unterlagen, die von den dort ansässigen Urkundenbeamten gewissenhaft auf den neuesten Stand gebracht worden waren. Der Grund dafür lag darin, daß die persönlich von ihren Vorgesetzten ausgewählten Kanzler der Statthalter nach Vollendung ihrer Aufgabe die gesamten während dieser Zeit entstandenen Dokumente mitnahmen. Folglich wurde - um auf den erläuterten Fall zurückzukommen - dort, wo die Kammern im Hoheitsgebiet keinen Beitrag zur Erfassung der Quellen leisten konnten, ein Informationskreislauf aufgebaut, der von Ferrara bis zu den fürstlichen regimina Modenas und Reggios, zu den Statthaltereien des Frignano und der Garfagnana ebenso wie zu den untergebenen Stadtvogtei reichte und schließlich in Kanzleien von Städten, Provinzen und Gemeinden endete l4 • Wenngleich wir noch keine Vorstellung davon haben, in welchem Umfang die Tätigkeit in der Kanzlei beziehungsweise das Kopieren der Verträge von der Arbeit in der Kammer abhing, so gilt es doch als sicher, daß die Handlungen miteinander verknüpft und Teil der gleichen Verwaltungspraxis waren l5 . Die spä14 In bezug auf die Garfagnana vgl. E. Angiolini, Le vicarie e gli statuti, ebenso wie unten, Anm. 38. Das einzige vollständig erhaltene Archiv eines Statthalters ist jenes der Garfagnana, das gegenwärtig im Staatsarchiv von Massa verwahrt wird; es ist von besonderer Bedeutung, da in dieser Provinz das Verwaltungsnetz einer Camera fehlte. Unter Vorbehalt von Untersuchungen des im Staatsarchiv von Modena befindlichen Carteggio dei rettori, ist dies also das einzige herzogliche Archiv, das die Vertragswerke der Garfagnana von 1534 verwahrt haben kann. Was die anderen Beamten der Kammer betrifft, wurden die Statuten aus Carpi vom Amt des Niccolo Maria Coccapani, dem Gemeindeschreiber, sichergestellt, obwohl die Gemeinde über eine herzogliche camerlengheria [Kämmerei] verfügte. Auch die herzoglichen massarie von Modena und Reggio sowie der Schreiber von Cotignola entsendeten Vertragswerke nach Ferrara. 15 Auch wenn eine direkte Herkunft nicht ganz sicher ist, so ist sie doch wahrscheinlich, obwohl das Register XIXB, in ASMo, Cancelleria, LD, beinahe all das enthält, was sich in ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, befindet; bis auf den durch Ausrufer verbreiteten Erlaß vom 9. November 1534, mit dem in Ferrara der Giudice dei Savi, Leiter des Stadtrats, die am Tag zuvor von der Stadt erhaltenen Zugeständnisse für vollstreckbar erklärte. Das Kanzleibuch enthält darüber hinaus die Verträge, die 1523 und 1534 in Reggio wieder geschrieben wurden, dazu jene von 1523 für Canossa, Querciola, San Romano, Montalto, Pavullo, Quattro Castella, Albinea, Rubiera und San Paolo, die Eingabe von Ligonchio aus dem Jahr 1525 sowie jene ohne Datum aus Montericco; Montericco scheint in diesem Fall die Bittschrift unabhängig von Albinea verfaßt zu haben, mit dem es das Lehnsgut eines der Zweige der Grafen Manfredi bildete. Für

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tere der beiden Methoden hatte allerdings die Bedeutung einer Bestätigung von Seiten der Regierung, woran der früheren offensichtlich nicht gelegen war. IH. Die Regierungskreise

Zumindest bis April 1535 ließ Ercole H. nicht ab, auf die Gesuche seiner Untertanen einzugehen; bis die nahegelegene Stadt Modena die heikle Lage der Grafschaft Carpi ausnutzte - sie wurde immerwährend von den aufständischen Verbündeten der Grafen Pio bedroht - und sich als besonders widerspenstige untergebene Gemeinschaft erwies. Noch im Dezember 1536 wurden neue Verträge unterzeichnet, die in dem einzigen Kanzleibuch vermerkt sind - zu einem Zeitpunkt, als sich die Kammer den Band allerdings bereits angeeignet das Jahr 1527 lassen sich darin die Vertragswerke von Montecchio und Carpi entdekken, während man für das Jahr 1534 jene von Finale, dem heutigen Finale Emilia und Comacchio lesen kann. Die 1534 Sarzano, dem heutigen Casina, gewährten Verträge sind darin in ihrer Gesamtheit vorhanden, während sich im Buch der Camera nur ein Vertrag finanziellen Inhalts befindet. Auf das Jahr 1536 gehen jene dort hinsichtlich Modena und Nonantola verzeichneten Verträge zurück. Beide Register umfassen für das Jahr 1534 die Verträge von Ferrara, Modena, Castelnuovo bei Parma, Minozzo, Albinea, Mozzadella, Montericco und Borzano, Gombola, Savignano, Nonantola, San Felice, Cento und la Pieve, Bagnacavallo, Cotignola und Carpi, sowie aus demjahr 1535 die Eingaben, die Toano und Cavola vorlegten, dazu Minozzo (heute Villa MinozzoJ, Maranello, Sestola und Montecuccolo, Montese und Semese, die die podesteria von Montecuccolo bildeten, sowie Prignano und Pigneto, Medolla, Polinago, Montefiorino, Montetortore, Castelvecchio di Modena und schließlich Bagnacavallo. Sie enthalten darüber hinaus die einzigen Steuerbefreiungen, die sie von folgenden ville des Umlands der Stadt Reggio zwischen 1534 und 1535 erhalten haben: Quattro Castella, Querciola, Pavullo, Canossa, Viano, Peligna und San Romano, Montalto, Minozzo, Baiso, Carpineti, Montecastagneto, San Paolo, Levizzano, Busana, Castelnuovo Sopra, Argine, San Valentino, Rebecco und Croano, Casteldardo und Bebbio, Sologno und Cerelio, Felina, Bismantova, Sarzano. Die Reihe schließt das entsprechende Statut vom 18. Dezember 1536 für die Bewohner des Lehnsgutes von Giulio Boiardo, das Scandiano, Gesso, Torricella, Arceto, Casalgrande, Dinazzano und Montebabbio umfasste. Einen Sonderfall innerhalb der Gemeinden stellt Cotignola dar, das mehrere Male verloren und wieder erobert worden war; beide Register enthalten die Verträge von Cotignola der Jahre 1502, 1505, 1527, 1534 und der einzelne Vertrag von 1541. Mehr als einmal richteten Modena (1534, 1536), Nonantola (1534, 1536), Minozzo (zweimal im Jahre 1534 und einmal 1535), Bagnacavallo (zweimal 1534 und einmal im Jahre 1535J Bittschriften an Ercole 11. Den bereits hinsichtlich des Bandes der Camera erwähnten re/erenti territoriali [Gebietsbeamtenl müssen noch bezüglich des Bandes der Kanzlei die herzogliche Saline von Reggio ebenso wie der Gemeindeschreiber von Modena hinzugefügt werden. Die beiden beschriebenen Informationsnetze haben freilich nicht nur in Hinsicht auf Ercoles Vertragswerke Gültigkeit; bezüglich Alfonsos Vertragswerken vgl. unten, Anm. 19. Die wenigen Verträge der Jahre 1547 und 1555, die sich in den Kanzleiregistern XXB und XXIB der Reihe .Leggi e Decreti" befinden, bleiben hier ungeachtet, da es sich um für die Kanzlei von Ercole 11. ungewöhnliche Ausnahmen handelt, die mit aller Kraft an recht unpassenden Stellen plaziert wurden.

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hatte. Nicht zufällig ist der Großteil jener Anträge steuerlicher oder finanzieller Art, selbst wenn die Anfragen wichtige Aspekte der Rechtssprechung aufweisen. Die veränderte Bestimmung des Bandes erscheint vor allem vor dem Hintergrund des zwischen Kanzlei und Kammer beständig herrschenden Austausches von Menschen und Informationen keineswegs ungewöhnlich. Die Fenster beider Institutionen gingen auf den Hof des herzoglichen Palastes von Ferrara hinaus, beide befanden sich neben dem Sitz des städtischen Consiglio dei XII Savi, neben den Räumen des herzoglichen Consiglio di giustizia sowie unweit des Geheimarchivs der Este, das zu jener Zeit noch im Turm von Rigobello untergebracht war, bevor dieser bald darauf - im Jahre 1553 - einstürzte l6 • Die alltäglichen Kompetenzstreitigkeiten zwischen den beiden Hoforganen waren die natürliche Folge ihrer eng verknüpften Tätigkeitsfelder, und die von Ercole 1. erstmals 1473 erlassenen und 1502 bekräftigten Anordnungen reichten nicht aus, um die Konflikte beizulegen 17 • In dieser anhaltenden Auseinandersetzung 16 Innerhalb der unter juristischen Gesichtspunkten bedeutsamsten Bittschriften, die von Modena aus steuerlichen und finanziellen Gründen vorgelegt wurden, war das Gesuch, der Stadt den Maggior Magistrato zuzugestehen, der die Gerichtsbarkeit über die ganzen Umgebung innehatte; Reggio verfügte bereits ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert über einen Maggior magistrato und konnte somit einen Großteil der zentralen Besteuerung auf die Bodenschätzung übertragen und sich zugleich gegen die Angriffslust von Feudalherrn Modenas, wie den Boschetti, den Rangoni und den Cesi verteidigen, vgl. ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, S. 111-113. Der Sitz der XII Savi grenzte an Kanzlei und Kammer des Jahres 1474, vgl. dazu L. Turchi, La giustizia del principe: magistrature sovrane dei duchi d'Este fra XV e XVI secolo, tesi di dottorato, Universität Venedig, 1993/94, 2 Bde., Bd. 1, S. 298, Bd. 2, S. 555; dies., Istituzioni cittadine e governo signorile a Ferrara (fine sec. XIV - prima meta sec. XVI), in: A. Prosperi (Hrsg.), Storia di Ferrara, S. 150; T Thuoy, Herculean Ferrara. Ercole I d'Este (1471-1505) and the Invention of a Ducal Capital, Cambridge 1996, S. 66-67, 75. In bezug auf den Turm von Rigobello, ASMo, Cancelleria, CCSR, b. lOb, fase. 1, sottofase. 1, Minute e lettere ducali ad Alessandro Guarini. 1536-1556, ep. 1553,27. Oktober, sowie ASMo, Cancelleria, AS, sez. 11, b. 7, ep. 1553, Guarini an den Herzog 26. Oktober: .Si e trovato ch'el volto del Conseglio sopra il quale erano le scritture dell'archivo e roinato del tutto et andato a terra ... « [Man hat gefunden, daß das Ansehen des Consiglio, von dem die Schriften des Archivs handelten, vollkommen ruiniert und zu Boden gegangen ist ... ]. Zu jener Zeit versammelten sich die Justizräte unmittelbar in der Nähe des Geheimarchivs; Recht sprachen sie indessen in der Loggia der Kanzlei, wie sich den Akten ihrer Notare entnehmen läßt. 17 ASMo, Camera, Cancelleria della Camera, b. 87/24, ep. 1502,29. Oktober. Ercole I. benachrichtigte den Collaterale generale agli stipendi [Allgemeinener Verdienstverwalterl, daß die Notare der Kammer teilweise Arbeit und Verdienste der Schreiber übernahmen, und bat ihn, die Bestimmung von 1473 einzusetzen. Danach sollten Sekretäre und Schreiber alle Akten bezüglich der Lehensgüter, der Verpachtung der gabella grande di piazza [der großen Zollabgabe des Platzes] sowie der Abgaben für Wein, Schlachtfleisch und Nutzholz in Ferrara aufsetzen. Darüber hinaus war es ihre Aufgabe, in bezug auf die dazio della penna [Steuer der Schreibfeder] des Justizpalastes in Ferrara Akten aufzusetzen. Hinsichtlich der Lehnsakten sollten sie den gesamten Verdienst, bezüglich der restlichen Akten nur 80% erhalten. Die Arbeit der Notare der Kammer hingegen

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kam letztlich die komplexe Dialektik zwischen den beiden wichtigsten mittelalterlichen Anweisungen zur Bestätigung öffentlicher Dokumente als geltende Gesetze zu Tage: die Bestimmung des Notariats und jene der Kanzlei l8 • Da die Weisungen von Ercole I. die Grenzen nur nach rein inhaltlichen Kriterien und zur Wahrung der jeweiligen Verdienste der Kammer und der Kanzlei absteckten, gereichten sie nicht zu einer Konfliktlösung, und dies noch weniger in dem Bereich, der als die Trennungslinie schlechthin zwischen Kammer und Kanzlei der Este betrachtet wurde: die Justizverwaltung. Außerdem beweisen die auf uns gekommenen Register mit fürstlichen Dekreten die originäre Vermischung der Zuständigkeiten zwischen den beiden Organen; für das 16. Jahrhundert belegt dies die in der Libraria della Camera und in der Kanzlei verbreitete Gewohnheit, die jeweiligen Register auszutauschen, um die tägliche Arbeit beenden zu können l9 • Im übrigen bildeten sich im 16. Jahrhundert viele der herzoglichen Urkundenbeamten in der Kammer, was in besonderem Maße für die Schreiber des herzoglichen Consiglio di giustizia galfo. hätte die livelti [Erbpachten], die Nutzungsvereinbarungen, die Bodenpacht und die "dauerhaften" Pachten umfaßt, deren gesamten Ertrag sie einbehalten sollten. Auch die Verpachtung der Zölle und der Abgaben in Modena, Reggio, San Felice, Finale, Argenta, in der Romagna, in Riviera di Filo und in den Tälern von Comacchio sollten in ihrem Zuständigkeitsbereich sein, ebenso wie die Steuer der großen Zollabgabe von Ferrara und die Kämmerei von Este, wobei die aus der Abfassung der Akten herrührenden Einnahmen zu 50% an die Gerichtsschreiber gehen sollten. 18 Vgl. diesbezüglich 1. Lazzarini, Gli officiali del marchesato di Mantova, in: F. Leverotti (Hrsg.), Gli officiali negli stati italiani del Quattrocento, S. 85. 19 Die hier erwähnte Gewohnheit ist beispielsweise für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts belegt von ASMo, Cancelleria, LD, reg. XVIIB, Exemplum decretorum Alphonsi I Ferrariae Mutinae ducis anno 1506, wo auf den S. 576-579 ein "Decretum gratiarum concissarum a Serenissimo duce Alphonso primo magnificae comunitati Mutinae tempore quo civitatem ipsam recuperavit exemplatum per me Alphonsum Maurum a quodam registro in Bibliotheca ducalis Camarae existenti ad chartam 27 inscripto: Libro di gratie fatte per il nostro signore di piu anni a piu comuni et persone particulari" [Buch der Gnaden, die unser Herr seit mehreren Jahren mehreren Gemeinden und besonderen Personen erwiesen hat] zu finden ist. Die abgeschriebenen Verträge sind jene am 13. März 1527 an die Modeneser gerichteten Verfügungen und sie befinden sich im Register XIXB, auf den S. 55-57. Dies läßt es möglich erscheinen, daß auch für die Verträge von Alfonso L die Gerichtsschreiber von Ercole 11. an einem Gemeinden und Privatpersonen gewidmetem Buch der Kammer arbeiteten und daß das Reg. 46 dei Mandati ursprünglich in der Libraria delta Camera aufbewahrt wurde. 20 Für das 16. Jahrhundert konnten von der Autorin bisher Francesco Benvenuti, Giovanni Cagnaccini, Nicola Caprili, Ruggero Caprili, Bartolomeo Costabili, Francesco Curioni, Girolamo Dal Ponte und Giambattista Stabellini aufgefunden werden, deren Aktenbündel in ASFe, ANA bewahrt werden. Für die Ausbildung der Notare in der Kammer ist ein den Erinnerungen von Agostino Mosti - er war Page und später Höfling von Ercole IL, unter Alfonso IL sodann Prior des Hospizes von Sant'Anna in Ferrara - entnommener Ausschnitt bezeichnend: " ... in essa Camera ducale si allevavano per contisti sotto i mastri principali figlioli de' buoni cittadini, che si facevano alcun de'

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Das hohe Maß an die Regierungspraxis betreffenden Neuerungen, die das Register mit Ercoles Veträgen aufweisen sollte und tatsächlich wiedergab, kann die herzoglichen Sekretäre veranlaßt haben, es unvollendet zu lassen; eine wichtige Rolle spielten sicher auch die Mängel im Verwaltungs- und Informationsnetz, von dem die Erstellung eines solchen Registers aber im wesentlichen abhing: Gemeint ist letztlich der Umstand, daß Verwalter und Kämmerer des Hoheitsgebietes aII jene Verfügungen der Signori - Anordnungen, Briefe oder Vertragswerke - nicht unbedingt notierten, die nicht von finanzieller Relevanz waren, genausowenig wie sie nach Ende ihrer Amtszeit der herzoglichen Kammer die Register immer zurückgaben. Die in den Vikariatsverwaltungen der Garfagnana bestehende Möglichkeit, sich mit nicht herzoglichem Salz zu versorgen, ebenso wie das örtliche Monopol auf den Einzug indirekter Steuern erklären des weiteren, warum diese Gegenden in unserem Register keinerlei Erwähnung fanden21 • Dennoch bedeutete der Band das Aufkommen einer neuen Angewohnheit innerhalb der Kanzlei, die dem Buch mit Gemeindeverträgen von 1559 bis 1580 des nachfolgenden Herzogs, Alfonso H., zu entnehmen sind; dies läßt sich gleichermaßen für die 1592 erfolgte Erstellung eines dritten Registers gleichen Typs - es ist heute leider verloren - konstatieren, ebenso wie für ein Register, das es erlaubte, Stelle für Stelle den Vertragswerken der untergeordneten Gemeinden nachzugehen, die ganz verstreut in Bänden bewahrt wurden, welche wiederum Dekrete aus der Zeit vor Ercole H. enthielten22 • Ioro valenthuomini ed erano ben disciplinati da' Fattori ducali, quali costumavano di donare a detti giovani - che non avevano altro salario - per buon pezzo due 0 tre volte l'anno qualche onesta mercede, mediante molti straordinarii che devolvevano fra l' anno in essa Camera ... " [ ... in dieser herzoglichen Kammer wurden unter den wichtigsten Meistern Söhne guter Bürger aufgezogen, von denen einige tüchtige Männer wurden und von herzoglichen Gutsverwaltern gut diszipliniert worden waren, welche besagten Jungen - die kein anderes Einkommen hatten - gewöhnlich zwei- oder dreimal im Jahr manche anständige Gabe schenkten, aufgrund vieler außerordentlicher Arbeiten, die sie innerhalb des Jahres in dieser Kammer geleistet hatten ... ]; A. Solerti (Hrsg.), La vita ferrarese nella prima meta del secolo decimosesto descritta da Agostino Mosti, in: Atti e memorie della Regia deputazione di storia patria per Ie province di Romagna, 3. Folge, 10 (1892), S. 187. 21 Die· überlieferten Dokumente bezüglich der Tätigkeit der Verwaltungen in Modena, Reggio und Lugo di Romagna befinden sich unter den jeweiligen Stichworten in der Archivreihe der Kammer Amministrazione jinanziaria dei paesi, die in recht unterschiedlichem Erhaltungszustand im Staatsarchiv von Modena verwahrt werden. G. Guerzoni, Le corti estensi, S. 95-96 hebt hervor, daß dieser Dokumentenbestand seinen Ursprung im späten 19. Jahrhundert hat und das erste Mal in: Ministero dell'Interno (Hrsg.), Relazione sugli archivi di stato italiani 0874-1882), Rom 1883 erschienen ist; wie der Dokumentenbestand nLeggi e Decreti", ist dieser also das Ergebnis einer Rechts- und Regierungsauffassung, die von jener der herzoglichen Sekretäre, Berater und Verwalter des 16. Jahrhunderts weit entfernt war. 22 ASMo, Cancelleria, LD, reg. XXIIIB, Registrum capitulorum communitatum ipsorumque confirmationum ab Alphonso 11 Ferrariae Mutinae etc. duce concessarum

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Letztlich gilt es, das Urteil neu zu überdenken, wonach die Serie der Verordnungen der Fürsten ein "heterogenes Meer" aus Zugeständnissen an Privatpersonen und Gemeinden "von eher seltener normativer Tragweite" sei, das in sich einzig in chronologischer Art und Weise gegliedert ist23 • Sicher läßt sich kaum verhehlen, daß es sich in wenigen Fällen um Maßnahmen von weitreichender Bedeutung handelte, wobei sich dies auch für ähnliche Fälle, wie dem der Este, feststellen läßf4 • Daß sie nicht von allgemeingültiger Relevanz sind, macht die vielen Erlasse, die an Einzelne, an bestimmte Gemeinschaften oder gar an aus ihrem Zugehörigkeitsbereich herausgelöste Gemeinden gerichtet waren, trotzdem juristisch keineswegs unbedeutend: Zum einen gingen sie aus Verfügungen von Signori und demnach Entscheidungen hervor, die in jedem Fall Gesetzeswert hatten und nach einer gen auen kompositorischen Logik ausgerichtet waren; zum anderen sind sie - heute wie damals - ohne die Ergänzung durch Dokumente, die nicht aus höfischen Institutionen herrühren, die Dekrete aber bedingten, kaum zu verstehen 25 • Es sollte also keinesfalls vergessen werden, daß die Verordnungswerke der Signori in ihrer Gesamtheit die logische Ergänzung der Statuten von Städten und Gemeinden bildeten: ab anno 1559 ad 1580, sowie reg. XXXbisB, Compendio di decreti gratie et esentioni concedute a diverse comunita et ad altri. 1392-1592. Das Register XXmB ist in seiner Gesamtheit nach dem Vorbild aus der Kanzlei des Registers XIXB erstellt worden, demgegenüber es in der Abfolge stimmiger erscheint und zudem die auf die Einsetzung des neuen Herzogs folgenden Vertragswerke enthält; allein für das Jahr 1580 ist eine Unterbrechung auszumachen. Im Verzeichnis werden die Gemeinden ohne Ordnung nacheinander aufgezählt und bezüglich jeder Gemeinde werden die sie betreffenden Register sowie das erste Blatt jeder Verordnung erwähnt. Solchermaßen liefert uns das Verzeichnis Informationen über verlorene Bände mit Dekreten der Signori, wie jene von 1392,1471 und 1592. Aus nicht gleich erkennbaren Gründen bezieht es nicht Dekrete aus den Jahren vor 1392 ein; unter Umständen diente diese Jahresangabe als Zeitpunkt a qua, zumal sie genau zwei Jahrhunderte dem in der Zwischenzeit verfaßten Register vorausging. Dementsprechend befinden sich auch im Register IB der gleichen Reihe die Jahre 1379 bis 1393 betreffende Dekrete. 23 M. Falin, Il sistema politico estense, S. 509-510. Ein solches Gesamturteil erscheint uns von jenem über die Lage im 15. Jahrhundert beeinflußt zu sein, für die es indessen offenkundig eher gerechtfertigt war. 24 Vgl. auch die in Teilen übereinstimmenden Bewertungen zu den Dekreten der Gonzaga von 1. Lazzarini, Fra un principe e altri stati. Relazioni di potere e forme di servizio aMantova nell'eta di Ludovico Gonzaga, Rom 1996, S. 25: .Folglich sind die Dekrete formalisierter Ausdruck des Willens des Signore gegenüber einzelnen, nützliche Nachweise des Verhaltens der Gonzaga gegenüber verschiedenen Persönlichkeiten der eigenen Entourage und gegenüber den Untertanen der Dynastie"; die Autorin erkennt dort auf S. 19 den Dekreten die Funktion der "natürlichen Ergänzung" der Statuten zu. 25 In Hinsicht auf die Gefahren der ausschließlich anhand von Quellen der Signori vorgenommenen Untersuchungen, vgl. 1. Lazzarini, Un'Italia di feudi e di citta? Alcune considerazioni intorno al caso ferrarese, in: Societa e storia, 14 (1991),51, S. 125-152, insbesondere S. 138-139.

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Als Werk von nicht zum Hof gehörenden Rechtsgelehrten und Notaren kam die Zusammenstellung letzterer Statuten den ortsspezifischen Erfordernissen nach, während die erstgenannten Erlasse zumeist von Juristen und Notaren der lokalen Kollegien unter dem Druck der herzoglichen regimina in den Städten Reformen unterzogen wurden. Beide Verordnungen wiederum wurden von den herzoglichen Ratgebern ad hoc mittels Textzusätzen verbessert, und dies geschah nicht nur in Voraussicht auf die Bestätigung durch den Signore, sondern auch nach deren Billigung. Oft waren es die gleichen Gemeinschaften, die in Hinblick auf ihre eigenen Interessen ähnliche Eingriffe anregten. Freilich verschleiert die tatsächlich in den Dekreten angewandte feste Formel diese Wirklichkeit und zielt darauf, die völlige Unabhängigkeit von den nach dem Willen des Souveräns und seiner Vorgänger entstandenen Gesetzen hervorzuheben; deshalb kann die Form nicht widerspiegeln, wie stark diese Dokumentensammlung und die Statuten miteinander verknüpft sind. Auch wenn sowohl jene, die Zugeständnisse genossen, als auch die Rechtsgelehrten der Zeit - gleich, ob sie am Hofe tätig waren oder nicht - über recht unterschiedliche Kenntnisse der Rechtssprechung verfügten, so mußten sie sie dennoch im Geiste immer wieder mit dem Geflecht aus Dokumenten in Verbindung bringen, das abgesehen von den Statuten, öffentlich ausgerufene Erlasse - diese waren zumeist an ganz bestimmte Teile des Herrschaftsgebietes (Gemeinden oder Provinzen) gerichtet - sowie herzogliche Briefe einschloß. Die öffentlich ausgerufenen Erlasse und die Briefe wurden mit dem Stellenwert von ri/ormagioni [Verbesserungen] in die Gebietsstatuten übertragen, wenn sie als besonders relevant erachtet wurden. All dies geschah zu Ehren einer von jedermann geteilten politischen Kultur, die ein Herrscherbild vorsah, wonach der Souverän den Anliegen eines jeden Untertanen nachkam, und die eine Rechtsordnung implizierte, die gleichmäßig verteilter Gerechtigkeit mehr Bedeutung beimaß als jedem (unwahrscheinlichen) Willen zum systematischen Einsetzen von Normen und Verwaltungs akten. Demnach erscheint es weit sinnvoller, in den fürstlichen Verordnungen der Este unter der Oberfläche der kaum differenzierten, jahrhundertealten formalen Ambiguität Zeiträume definierende Einschnitte auszumachen und somit historische Momente zu ermitteln, in denen neue Richtungen eingeschlagen wurden - hin zur gegenseitigen Einflußnahme von verschiedenen Arten der Dokumentation und unterschiedlicher Regierungspraxis 26 • Genau ein solcher Wendepunkt war die von Ercole 11. und seinen hohen Beamten angestrebte Aufwertung der Gemeindeverträge; zweifellos stützte 26 Siehe diesbezüglich, wenn auch vorausgegangene Zeiträume betreffend, A. Bartoli Lange/i, La documentazione deg1i stati italiani nei secoli XIII-XIV: forme, organizzazione, personale, in: Culture et ideologie dans 1a genese de l'etat moderne, Actes de 1a tab1e ronde, Rom 15.-17. Oktober 1984, Rom 1985, S. 35-55, sowie 1. Lazzarini, Fra un principe, S. 31.

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sie sich auf die dem Erlaß anhaftende Eigenart eines Dekrets, zeichnete sich allerdings für den außergewöhnlichen Moment ihrer Verwirklichung als Lösung für die unvorhersehbaren Gegebenheiten für den Staat der Este aus; dazu gehörten die Notwendigkeit, sich in den fünfzehn Jahre zuvor verlorenen Gebieten neu zu behaupten, und - allgemeiner ge faßt - die neuen politischen Konflikte, auf die italienische und europäische Regierenden zu jener Zeit hingewiesen haben. Nicht umsonst lassen sich für die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts eine Zunahme der städtischen Rote in Italien, die Genese neuer eigenständiger Gerichte und die Entstehung einiger versuchter oder gar realisierter Gesetzesreformen feststellen27 • Im Hinblick darauf erhielt auch die erkennbare Stärkung in den hohen Verwaltungsebenen des Hofes der Este im Laufe der ersten Jahrzehnte und insbesondere in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts neue Bedeutung. In der Kammer wurden die Verwaltungsabläufe des Steuereinzugs vervollkommnet: Von 1511 an setzte sich die Steuereinnahmestelle aus zwei Steuereinnehmern, einem Notar und zwei Amtsdienern zusammen, während sie in den achtziger Jahren des vorhergehenden Jahrhunderts nur einen Steuereinnehmer und einen Notar gezählt hatte. 1513 wurde das Officio dei ribelli - es war verantwortlich für die Leistungen und die Rechtsprechung über Schadensfälle im Gebiet um Ferrara - seinerseits mit einem Steuereinnehmer ausgestattet, bis im Jahre 1544 in die Reihen der Lohnempfänger des Herzogs ein Generalsteuereinnehmer eingesetzt wurde28 . Für den Beginn des Jahrhunderts belegen die Quellen die Gewohnheit der Gebietsverwalter, den Umfang der Güter der Verurteilten zu überprüfen, um die entsprechenden Listen anschließend an den Herzog und seine Sekretäre zu senden, was wiederum als zusätzliche Kontrolle der Arbeit der herzoglichen Beamten diente, die in den Provinzen Geldbußen und Strafen einzutreiben hatten29 • Angesichts solcher Auskünfte fiel es leichter, 27 In bezug auf die italienischen Staaten sei lediglich auf G. Cozzi, Repubblica di Venezia e stati italiani. Politica e giustizia dal secolo XVI al secolo XVIII, Turin 1982 verwiesen; was einen Staat wie jenen der Gonzaga betriffr, wäre ein vergleichender Ansatz von seiten der mit der Geschichte des Staates der Este befaßten Historiker durchaus sinnvoll, vgl. pp Merlin, Giustizia, amministrazione e politica nel Piemonte di Emanuele Filiberto. La riorganizzazione del Senato di Torino, in: Bollettino storico-bibliografico subalpino, 30 (1982), S. 35-94, sowie ders., Gli Stati, la giustizia e la politica nel ducato sabaudo nella prima meta del '500, in: Studi storici, 29 (1988), S. 503-525. Hinsichtlich der rote vgl. A.K. Isaacs, Politica e giustizia agli inizi del Cinquecento: l'istituzione delle prime rote, in: M. Sbriccoli / A. Bettoni (Hrsg.), Grandi tribunali e rote nell'Italia di antico regime, Mailand 1993, S. 341-386. 28 G. Guerzoni, Le corti estensi, S. 102. Die Ursprünge der Camera und des Qfjicio dei ribellibetreffend, vgl. T Dean, Terra e potere a Ferrara nel tardo Medioevo. TI dominio estense: 1350-1450, Modena I Ferrara 1990, S. 66-68, sowie für das 15. Jahrhundert, L. Turchi, Istituzioni cittadine e governo signorile a Ferrara, S. 145-146. 29 ASMo, Cancelleria, CCSR, b. 5a, fase. Girolamo Magnanini segretario, ep. 1507, Alfonso I. an Magnanini, 5. November.

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zwischen Gnade oder Strafe zu entscheiden, wobei die wirtschaftlichen Vorteile beider Optionen berücksichtigt wurden. Wie wir wissen, mußte selbst im Fall einer Gnadenerweisung der Bittsteller Zahlungen leisten: etwa in Form von Vergütungen für die die Gesuche verfassenden Notare, als Abgaben an die herzogliche Kanzlei sowie als Kosten für den Gnadenakt, ohne die lediglich partiellen Erlasse von Geldstrafen oder auch die Abwandlung von Körperstrafen in weniger ehrenrührige Geldbußen zu berücksichtigen. Auch für die Kanzlei waren die vierziger Jahre des 16. Jahrhunderts ein bedeutsamer Moment des Umbruchs. Das Kanzleiregister, mit dem wir uns beschäftigen, wurde wahrscheinlich von 1541 an erstellt, wobei im Vergleich zum Register der Kammer eine weitreichendere Sammlung von Unterlagen und darüber hinaus die Verträge von Alfonso hinzugezogen wurden30 • 1545 wurden im Auftrag des herzoglichen Sekretärs, Giovanni Battista Saracco, der ab 1523 als Kammernotar tätig war und von 1530 an das Amt des conservatore [Konservators] des herzoglichen Archivs innehatte, für das Geheimarchiv der Este zwei neue Inventare vorbereiter3 1• Saraccos Wirken und der Einsatz des Notars der Conservatoria [Grundbuchamt] - diese Verwaltungsstelle war der Leitung des Geheimarchivs von den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts an übergeordnet - brachten letztlich eine Reihe von im frühen 16. Jahrhundert unternommenen Versuchen zur Neuordnung der alten herzoglichen Dokumente zur Vollendung. Bereits 1508 hatte der Notar Bartolomeo Silvestri versucht, das 20 Jahre alte Archivinventar des Conservator Iurium Pellegrino Prisciani abzuschließen. Die Tätigkeit war jedoch bald wieder unterbrochen worden, und der Geheim- und Rechtsberater Gianfrancesco Calcagno, als er seinerseits zum Konservator der herzoglichen Rechte ernannt wurde, gab 1517 beim Amtsnotar Antonio Bailardi ein neues Inventar in Auftrag. Möglicherweise aufgrund des Todes von Calcagno blieb auch dieses Inventar unvoll30 Dies kann im Augenblick als Hypothese betrachtet werden, und zwar auf der Grundlage des überlieferten Statuts von Cotignola aus dem Jahr 1541 sowohl im Kanzlei- wie auch im Kammerregister (wo alle Statuten aus Cotignola eine spätere Hinzufügung zu sein scheinen und mit einer wesentlich akkurateren Schrift niedergelegt wurden als die anderen). Darüber hinaus ist bekannt, daß sich bereits 1543 - dem Datum der Erstellung des .compendio" der Verwaltung Modenas - das Buch in der Kammer befunden hat. Des weiteren gibt es einen letzten, möglichen Hinweis. Das Verzeichnis von 1592 erwähnt unter den Dekreten an die Gemeinden enthaltenden Registern ein .libro 1506, 1540". Wenn es sich dabei um Zugeständnisse von Alfonso anläßlich seiner Erhebung zum Herzog handelte, die tatsächlich bis 1506 andauerten, ließe sich annehmen, daß die Dekrete von dreißig Jahren zuvor 1540 nach wie vor als gültig betrachtet wurden, und daß der Schreiber am Ende des Jahrhunderts sie weiterhin in Erinnerung halten wollte. 31 In bezug auf die Inventare ebenso wie auf den Archivar Saracco, vgl. F Valenti, Introduzione, S. XVI·XVIII. Hinsichtlich seiner Tätigkeit als Notar ab 1523, vgl. ASMo, Cancelleria, CCSR, b. 6a, fase. Antonio Costabili, ep. 1523, Costabili an den Herzog, 29. April.

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endee z. Bekanntlich war das einzige beinahe fertiggestellte Register das von Saracco bestellte Inventario maior aus dem Jahre 1545; diesem schloß sich ein weiteres an, das wesentlich kürzer und wohl aufgrund unvorgesehener Ereignisse vorbereitet worden war. Jenes unter Prisciani erarbeitete berühmte Inventar des späten 15. Jahrhunderts spiegelt gewiß nicht den Aufbau des Archivs der Este wider, vielmehr legt es die Leistung seines ersten Konservators offen, der zu Richtlinien angeregt worden war, die sich von jenen der Vergangenheit aufs stärkste unterschieden; Prisciani reformierte und erweiterte vor allem die Reihe der Investiturkataster, die die alten Besitzrechte der Este über das Herrschaftsgebiet bezeugte, und schloß - entsprechend seiner Tätigkeit als Historiker und Verteidiger der Rechte des Geschlechts - darin auch jene Niederschriften ein, die die Autorität der Este über seit langem verlorene Territorien bestätigten: Dazu zählen die Mark Treviso, das Gebiet um Padua und nicht zu vergessen das Polesine di Rovigo, das 1484 nach beinahe drei Jahren Krieg an Venedig abgetreten werden mußte. Die maßgeblichen Merkmale von Priscianis Register blieben allerdings im großen Inventar von 1545 bestehen, gerade auch bezüglich der Vertrautheit mit dem Herrschaftsgebiet: Während die Garfagnana nicht dokumentiert ist, füllen die Unterlagen, die das 60 Jahre zuvor an Venedig gefallene Polesine di Rovigo betreffen, zwei Kisten; der von Este beherrschte Teil der Romagna nimmt indessen eine ganze Kiste ein, ebenso wie die wesentlich größeren Herzogtümer Modena und Reggio. Und doch ist der den letztgenannten Gebieten gewidmete Teil weitaus vollständiger als in dem früheren Register aus dem 15. Jahrhundert und liefert eine Vorstellung der Ära von Ercole I. Demnach waren die auf die Zeit von Alfonso I. zurückreichenden Dokumente bei der Neuordnung nicht berücksichtigt worden und lagen möglicherweise gesammelt in Kanzlei und Archiv33 • 32 F Valenti, Introduzione, S. XIV-XVI. }} ASMo, Cancelleria, AS, II, vo1. 2, fo1. 12r-32v. Das Inventar von Prisciani wurde am 4. Januar 1488 begonnen. Auffol. 32v-33r befindet sich die Fortsetzung des Inventars, die der Notar Bartolomeo Silvestri erarbeitet hat; es folgt auf fo1. 36r-52v das 1517 von Calcagno bestellte Inventar, das exakt den Inhalt von fünf Kisten wiedergibt, die Ferrara gewidmet sind; indessen enthält das Inventar keinerlei Anm. zu Dokumenten, die die anderen Gebiete betreffen. Bei ASMo, Cancelleria, AS, I, 3 und 4 handelt es sich um die von Saracco in Auftrag gegebenen Inventare; in Bd. 3 wurden Carpi betreffend weiße Blätter frei gelassen, zumal Carpi ein Gebiet einschloß, das in seiner Gesamtheit erst 1527 erworben wurde; das gleiche gilt für Finale, das von Modena ausgegliedert war und ab den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts ohnehin als zu Ferrara gehörig angesehen wurde; siehe L. Turchi, Giustizia principesca e patrimoni dei sudditi. Ipotesi sulla costruzione delle identita pubbliche fra tardo medioevo e prima eta moderna nel dominio estense (secc. XV-XVI), in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, 25 (1999), S. 93-131, S. 102. Als Zeichen der größeren Aufmerksamkeit gegenüber den unterworfenen Orten - wenn auch vornehmlich für jene stärker mit der Hauptstadt verbundenen - gilt es hervorzuheben, daß sogar Argenta, das nie in das Umland einverleibt war, Comacchio, Massa Fiscaglia und Massa Lombarda einen

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Zu den herzoglichen Sekretären, die Ercoles Verträge unterzeichneten, zählten vor allem Alessandro Guarini sowie Bartolomeo Prosperi, der bereits als Ercoles Sekretär gedient hatte, als jener noch Kronprinz war. Unterstützt von Opizo Remi, verkörperten sie eine neue Ordnung der Kanzleiführung, die anstelle der im 15. Jahrhundert üblichen Konzentration der gesamten Entscheidungsgewalt auf der Figur eines einzigen Vorstehers - zumeist engen Vertrauten des Herzogs - die Zusammenarbeit mehrerer Sekretäre anstrebte34 • Solcherart begegnete man der zunehmenden Arbeitslast und suchte zugleich, eine Vermischung der Aufgaben des Sekretärs und jener des Justizberaters zu umgehen, wie sie für die ersten 20 Jahre des 16. Jahrhunderts durchaus kennzeichnend war. Um diesen Wandel bezüglich der Institutionen nachvollziehen zu können, muß man sich vor Augen führen, daß der Konflikt mit Venedig und die Kriege in Italien in der Führungsschicht der Este ein tiefgreifendes Umdenken ausgelöst hatten. Erstmals waren Justiz und Recht als Regierungsinstrumente von vordringlicher Bedeutung aufgefaßt worden, gerade so, wie bis dahin die mit Hilfe der Territorialbeamten ausgeführte Vermittlung mit der örtlichen Prominenz als politisches Mittel gegolten hatte35 • Vom Ende des 15. Jahrhunderts an bis in die zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts wurden die in die Hoheitsgebiete gesandten herzoglichen commissari, die capitani deI divieto wie auch die maestri generali der ländlichen Gegenden um Modena und Reggio, der capitano di giustizia in Ferrara sowie die Ratgeber-Sekretäre am Hof zu den neuen Vertrauten des Fürsten, die damit beauftragt waren, eine im Vergleich zur Vergangenheit wesentlich repressivere öffentliche Ordnung zu wahren. Des weiteren sollten sie in der Justizverwaltung für die Beachtung der Interessen der herzoglichen Kassen sorgen und eine neue Unterstützung der Teil des Inventars füllen. Der Schutz der Interessen der herzoglichen Familie führte indes dazu, eigene Abschnitte auch dem längst verlorenen Lendinara, Cervia und Rimini zuzueignen. 34 Was die Figur und die Tätigkeiten des re/erendario [Vorstehers] im 15.Jahrhundert betrifft, vgI. L. Turchi, La giustizia del principe, Bd. 1, S. 252-259. Hinsichtlich des Vorstehers Paolo Antonio Trotti und seiner Brüder, siehe M. Folin, Feudatari, cittadini, gentiluomini. Forme di nobilta negli stati estensi fra Quattro e Cinquecento, in: L. Antonielli I C. Capra IM. In/elise (Hrsg.), Per Marino Berengo. Studi degli allievi, Mailand 2000, S. 34-75. G. Guerzoni, Le corti estensi, S. 91, merkt an, daß wenigstens ab den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts das Gehalt der Gerichtsschreiber gegenüber jenem der Sekretäre leicht abnahm. Dies erscheint durchaus glaubwürdig: Sofern es sich um Niederschriften in akkurater Schrift handelte, offenbaren die Verträge des Kanzleibandes zahlreiche, einfache, beim Abschreiben entstehende Fehler, was als mögliches Indiz auf die rein ausführenden Aufgaben betrachtet werden kann, die ihnen oblagen. 35 Bezüglich der Beamten der Este in den Städten oder in den Gemeinden, vgI. M. Folin, Note sugli officiali, S. 99-125, sowie ders., Il sistema politico estense, S. 538549.

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örtlichen Erstellung von Statuten garantieren36 • Nachdem in der Modena und Reggio betreffenden Rechtssache gegen den Papst die endgültige Rolle der fürstlichen Berater festgestellt worden war, ließen die in der Rechtssprechung erfahrenen Ratgeber-Sekretäre ab Mitte der dreißiger Jahre eine neue Aufwertung des Consiglio di giustizia gegenüber der Kanzlei zu, die freilich im Rahmen einer engen Zusammenarbeit zu sehen ist. Die regelmäßigen "Ratsversammlungen" von Sekretären und Ratgebern - sie waren oft mit der Einberufung des Ratgebers der Kammer respektive von Fachmännern für außerordentliche Probleme verbunden - wurden demnach zum Angelpunkt der Innenpolitik. Die Kanzlei wiederum erweiterte ihre traditionelle Funktion, die Informationen der einzelnen rettori [Gemeindevorsteher] vor Ort zu sammeln und auszuwählen. Unter diesen Gegebenheiten und angesichts dieses Regierungsverständnisses, wie es sich in den vorangegangenen zehn Jahren herausgebildet hatte, muß die Entscheidung getroffen worden sein, die Verträge zwischen den unterworfenen Gemeinden und dem Fürsten in einem einzigen Register zu sammeln und die Vertragswerke der Jahre 1523 und 1527 als Gründungsmoment der Herrschaft festzuhalten 37 • IV. Die Gesuche der Gemeinden und die Rechtsordnung des Fürsten

Zwischen den Vertragswerken der zwanziger Jahre und jenen der Jahre 1534 und 1535 gibt es einige elementare Unterschiede, die auf die Diversität des jeweiligen historischen Moments, in dem sie abgefaßt wurden, zurückzuführen sind. Alle Gemeinden erbaten von Ercole 11. den Erlaß der in den 36 L. Turchi, La giustizia del principe, Bd. 1, S. 340-343; dies., Istituzioni cittadine, S. 147, 150. In Hinsicht auf die Beziehung der commissari zu den Gemeindebeamten, vgl. für das 15. Jahrhundert, M. Fo/in, Note sugli officiali, S. 114-115. Die Karriere eines berühmten commissario vom Ende des 15. Jahrhunderts, Beltramino Cusatro, betreffend, vgl. D.S. Chambers / T Dean, Clean Hands and Rough Justice. An Investigating Magistrate in Renaissance Italy, Ann Arbor MI 1997. 37 ASMo, Cancelleria, CCSR, b. 8b, fase. Lettere di Bartolomeo Prosperi segretario, sowie b. 9, fase. Lettere a Bartolomeo Prosperi segretario. 1531-1552, in Hinsicht auf zahlreiche Zeugnisse, die die consulte [Beraterstäbel von 1535 bis in die frühen vierziger Jahre betreffen; siehe b. lOb, fase. Alessandro Guarini 1534-1550, in bezug auf Beispiele für Beratungen mit den Hauptverwaltern an der Spitze der Kammer. Weitere Nachforschungen in den Dokumentenbeständen mit den Briefwechseln der Kammer haben zu keinen Ergebnissen geführt. Aus dem Zeitalter von Alfonso 1. und jenem von Ercole H. rühren die einzigen beiden Register mit Ernennungspatenten der Beamten der Este, die für das 16. Jahrhundert verblieben sind: ASMo, Cancelleria, LD, regg. VHA Alphonsi I officiorum publicorum registrum. 1505 ad 1534, VlllA Herculis II officiorum publicorum registrum. 1534 ad 1559. Auch wenn das Kanzleiregister XIXB in einen Zusammenhang eingeordnet werden kann, so ist doch nicht bekannt, wann der Auftrag für seine Erstellung gegeben wurde.

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vorangegangenen Jahren entstandenen Schulden. Dazu zählten insbesondere jene, die die Gemeindebeiträge für das herzogliche Salz, die Vertragsgebühren, die Mahlsteuer sowie die Abgabe der spelta betrafen. Neben den Strafgeldern handelte es sich dabei um die wichtigsten, aus dem Herrschaftsgebiet stammenden Einnahmen. Während die direkten Steuern auf die Grundrente lokal eingefordert und verwaltet wurden, verfügte die herzogliche Kammer über das Alleinrecht auf jene indirekten Abgaben; diese waren einfacher einzutreiben und riefen seltener Auseinandersetzungen mit den unterworfenen Gemeinwesen hervor - besonders was die Streitigkeiten über die Aktualisierung der Bodenschätzungen zwischen den Städten und ihrem Umland betraf. Anders als der Vorgänger, der sich den soeben besiegten Untertanen gegenüber freigiebiger zeigte, beschränkte sich der neue Herzog auf das Zugeständnis, die Hälfte der Schulden auf die Steuern zu erlassen und verlangte die Zahlung der verbleibenden Summe in drei oder fünf jährlichen Raten. Es kommt einem Eingeständnis der großen Schwierigkeiten in der Salzlieferung an die Gemeinden gleich - bedingt durch die unbeständige politische Lage und den Wettbewerb zwischen dem päpstlichen Salz aus Cervia und jenem heimlich in Comacchio hergestellten der Este -, daß der neue Herzog nicht anders konnte, als die auf das niemals am Zielort angekommene Salz entstandenen Schulden in toto zu erlassen und die Hälfte der für das tatsächlich erhaltene Salz anhängigen Summen in Ratenzahlung zu fordern 38 • Der Nexus zwischen 38 Die spelta war eine jährliche Zahlung eines Teils der Ernte in Form von Naturalien. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kam das Salz zum Teil aus den päpstlichen Salinen von Cervia, während der Anteil der Este aus der heimlichen Förderung der Salinen von Comacchio stammte. Dieser Anteil wurde von den herzoglichen Salinen in Modena und Reggio ebenso wie mit Hilfe von privaten Auftragnehmern verteilt; in Cento, Finale, San Felice und Argenta übernahmen die herzoglichen Kämmereien diese Aufgabe; Argenta hatte im 15. Jahrhundert gleichfalls über eine eigene Saline verfügt. Adria, Ariano, Brescello, Castelnuovo bei Parma und die Garfagnana hingegen hatten das Recht, sich mit Salz ihrer Wahl zu versorgen; siehe G. Guerzoni, 11 sale comacchiese dall'orbita veneziana a quella papale, in: F Cecchini (Hrsg.), Fratello sale. Memorie e speranze dalla salina di Comacchio, Venedig 1997, S. 61-71. Das Frignano wiederumtrotz des Dekrets über die Abtrennung von Modena durch Alfonso 1., der 1505 die Verordnung von Ercole I. von 1494 bestätigte und erweiterte - beschaffte sich das Salz weiterhin in Modena, leitete aber dessen Verteilung mit Hilfe der massari delle ville und des herzoglichen commissariato in Sestola, das darüber hinaus mit dem Einzug der Steuern befaßt war, ASMo, Archivio Campori, b. 73, fol. 31v-39v. Den Hauptmännern der Stadtteile und den massari delle ville in den umliegenden Gebieten - einschließlich jener von Lehnsherrn verwalteten - oblag die Aufgabe, Geld einzusammeln, das Salz in verschiedenen Raten zu bezahlen und schließlich jedes Jahr dem salinaro eine aktualisierte Liste mit der Einwohnerzahl der Gemeinde auszuhändigen. Als Beispiel für das Gesagte seien hier die ordines des Signore bezüglich der Saline von Modena erwähnt; sie waren 1435 erlassen worden und wurden ursprünglich im ASCMo, Camera segreta, Statuti, ms 13, aufbewahrt. Der Titel .Ordines et capitula cum illis additionibus, conventionibus etf. salinae nostrae civitatis Mutinae", wie ihn G. Lucchi, Camera segreta, Modena 1963, auf S. 16, wiedergibt, läßt sich in dieser Form nicht im Dokument

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Steuern und Rechtsordnung, die Unmöglichkeit einer klaren Trennung der Tätigkeit von Kammer und Kanzlei sowie der Umstand, daß sich für die Hoforgane der Briefwechsel der Statthalter und Stadtvögte auf der einen und jener der Verwalter und Kämmerer auf der anderen Seite als zutiefst miteinander verwoben erwiesen, und schließlich das Vorhandensein von Registern für die Verträge Ercoles - eines in der Kammer und ein anderes in der Kanzlei: All dies sind grundlegende Aspekte, die einige Eigenarten der herzoglichen Justiz der Este und ihres wichtigsten Instruments, der Bittschrift, aufzeigen werden. Für den Augenblick jedoch, bevor diese Kernpunkte erläutert werden können, gilt es, den Inhalt der Vertragswerke an sich zu analysieren. Überlicherweise wurde jeder neu ernannte Fürst um den Erlaß aller Urteile und Verbannungen gebeten. Diesem Anliegen kam Ercole mit Hilfe der Verfügungen nach, wobei er Freigiebigkeit und Gnade in - verglichen mit der Regierungstradition der Este - außergewöhnlicher Weise miteinander verband. Mit einer Tilgung, die die Rechtmäßigkeit der jüngsten päpstlichen Vergangenheit aufhob, hatte sein Vorgänger alle vor der Rückeroberung erlassenen Urteile außer jenen für Mord und andere Bluttaten für nichtig erklärt. Ercole hingegen differenzierte zwischen Geldbußen und körperlichen Strafen, zu denen selbstverständlich die Verbannungen zählten. Die Mehrzahl der Fälle wurde zu einem Teil ohne Gegenleistung vergeben, während ein anderer Teil durch Gnade gegen Bezahlung, erst nachdem die Gegenseite zugestimmt hatte, getilgt wurde: Solchermaßen erfuhr die Strafjustiz eine langsame Loslösung aus dem Bereich fürstlicher Einnahmen. Auch der alte, für die herzogliche Rechtsordnung so bezeichnende Antagonismus zwischen Gnade und Verurteilung wurde verglichen mit der Vergangenheit auf innovative Art und Weise abgemildert. Seit der Ära von Ercole I. (1471-1505) hatten sich die Spannungen zwischen den die Gebiete verwaltenden Kommissaren und der Kanzlei gerade aufgrund der allzu einfinden. In einem zweiten Original werden sie unter dem Titel "Ordo Saline Mutine" geführt, vg1. ASMo, Camera, Mandati, reg. 3 (1434-1435), fo1. 1l0r-1l2v, zusammen mit gleichartigen Verordnungen für die Saline in Argenta. Die ordines von 1435 waren noch im 16. Jahrhundert gültig, wie sich sowohl den Berechungen im ersten Original- sie reichen bis zum Jahr 1500 - als auch einer Abschrift aus dem 16. Jahrhundert entnehmen läßt, die im ASMo, Camera, Massaria di Modena, b. 11 enthalten ist. Bezüglich dieser Dokumentation und allgemeiner über die Ursprünge der Saline von Modena, vg1. G. Trenti, 11 sale di Nicolö. Terre e uomini nelle "Rationes" della Salina di Modena. 14201437, Modena 2001, vornehmlich S. 60-62. Besonders bezeichnend für den Widerstand seitens Ercole 11., die aus dem herzoglichen Alleinanspruch auf das Salz und aus der Salzsteuer herrührenden Erträge zu erlassen, sind die Niederschriften an die Gemeinden von Modena und Reggio gleichermaßen wie an die Grenzgemeinde von Castelnuovo bei Parma: vg1. ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, fo1. 72, 76, 78v-79r, 86r-89v, 92, 103r-l04r, 121v-123r, sowie ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, S. 18,20-21,22-25, 35,39-40,45,46-51.

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träglichen, in Ferrara verfügten Straferlasse zugespitzt. Diese Begnadigungen nahmen dem Wirken der fürstlichen Treuhänder das Gewicht, umso mehr als die Geldmittel massiv reduziert wurden, die nötig waren, um insbesondere in den problematischen Grenzgebieten einen angemessenen repressiven Apparat aufrecht zu erhalten39• Infolge ihrer Verwicklung in die das politische Gefüge Italiens zutiefst erschütternden Kriege und der damit verbundenen stetigen Jagd nach finanziellen Mitteln, hatten weder Ercole 1. noch in der ersten Zeit Alfonso 1. (1505-1534) den wirklichen Erfordernissen der autoritären, von ihnen selbst eingesetzten Rechtssprechung Aufmerksamkeit gewidmet. Ercole II. hingegen führte - kaum zum Herzog erhoben - einen harten Kampf gegen das Banditentum, womit er allerdings der in den zwanziger und dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts gewünschten Strategie seines Vaters, die Fehden zu befrieden, entgegenstand 40 • In Erwartung des erhofften Gehorsams und der gewünschten Unterordnung und trotzdem sie wiederholt darauf beharrt hatten, von genau dieser Bürde "entlastet" zu werden, waren die Gemeinden letztlich doch gezwungen, die herzoglichen Garnisonen in den Herrschaftsgebieten zu unterhalten 41 • Zur gleichen Zeit - mit den Gemeindeerlassen der Jahre 1534 und 1535 beginnend - schickte sich der Herzog an, außergerichtliche Konfliktlösungen zu nutzen. Dies bot sich an, wenn es das Verhalten der Untertanen zu disziplinieren galt, ohne daß die fürstlichen Kassen Einbußen erlitten. Und obgleich man hinter seinen Entscheidungen die Farbe des Goldes glitzern sehen konnte 42 , wurden Frieden und Gnade in einer Art 39 Ausgesprochen erhellend hinsichtlich der Briefwechsel der commissan° im Zeitalter von Alfonso, etwa bezüglich des Frignano, sind: ASMo, Cancelleria, Rettori, Frignano, bb.l, Ibis, 2. Darin wird offensichtlich, daß Geldbußen die überwiegenden Einnahmen der commissari bildeten und zugleich jene Mittel waren, auf die man zurückgriff, um die Gehälter der in ihren Diensten stehenden Dienern und Soldaten zu bezahlen. 40 L. Turchi, La giustizia del principe, Bd. 2, S. 506-509. Ähnlichkeiten offenbaren sich im zu Piacenza gehörenden Val Nure, wo die Parteienkämpfe in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer zunehmenden Beteiligung der commissari und der päpstlichen Legaten an den friedlichen Einigungen führten; hier geschah dies auch dank der immer entschiedeneren Vermittlungsrolle der einflußreichen Persönlichkeiten vor Ort, vgl. Do Andreozzi, Nascita di un disordine. Una famiglia signorile e una valle piacentina tra XV e XVI secolo, Mailand 1993, S. 231-273,291. 41 Als neue Hinweise in diesem Sinne können - neben jenen der in der Romagna gelegenen Gemeinden von Bagnacavallo und Cotignola - die Erlasse an die zu Reggio und Modena gehörenden Berggemeinschaften gelten. 42 Bewußt wurde noch einmal auf F Leverotti, "Governare a modo e stillo de' Signori" Osservazioni in margine all' amministrazione della giustizia al tempo di Galeazzo Maria Sforza duca di Milano 0466-76), in: Archivio storico italiano, 152 (994), S. 3-134, auf S. 43 zurückgegriffen. Leverotti betrachtet als charakteristische Merkmale der Rechtsordnung der Signori eine "ausgeprägte Machtkonzentration " und darüber hinaus eine "juristisch rückständige Lage" (ebd., S. 6), besonders im Vergleich mit der Rechtsordnung der oligarchischen Republiken des Spätmittelalters, in der diejustiz zum reinen Instrument der politischen Macht wurde. Auf der Grundlage des Falls der Este °

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Demonstration der Güte vereint, die von seiten der Regierten die Annahme ihres Status als Untertanen voraussetzte 43 • Wenn der Erlaß der Geldstrafen ohne Gegenleistung - wie zum Beweis der althergebrachten und immerwährend lebendigen liberalitas - als die Autorität des Fürsten legitimierendes Merkmal bestehen blieb, wurde auf dem Wege der außergerichtlichen Einigung zwischen Privatpersonen [pace privata], die ungefähr die Hälfte der Erlasse als alleinige Bedingung zum Erhalt der Begnadigung auferlegte, für die Untertanen nach und nach ein auf die Bittschrift ausgerichteter Verfahrensweg mit recht geringen Kosten für sie selbst und unmittelbaren Vorteilen für die herzoglichen Finanzen aufgetan. Andererseits machen die schwierige politische Situation des Herrschaftsgebietes der Este in jenen Jahren ebenso wie die Kraft der Rituale der gemeinsamen Versöhnung in der Vorstellung und im täglichen Leben der Menschen jener Zeit allzu deutlich, warum der in den Gemeindeverträgen von der außergerichtlichen Einigung zur Gnade weisende Weg weder zwingend noch ausschließlich war44 • Deshalb lag in der anderen Hälfte der diesbezüglichen erscheint mir eine andere Bewertung möglich: Abgesehen von zufälligen Umständen ebenso wie der Feinfühligkeit einzelner Signori, mutet die institutionelle Schwäche, die auch für Leverotti die republikanische Rechtsordnung mit der fürstlichen verbindet, nicht ausschließlich der Willkür des einzelnen Souveräns und einer pathologischen Norwendigkeit, mit dem Ziel der militärischen Verteidigung oder des höfischen Prunks Geld anzuhäufen, geschuldet an. Vielmehr glaube ich, daß ein zunächst zwischen den Herrschaftsstaaten Nord- und Mittelitaliens ausgeführter Vergleich vor Augen führen würde, welche Bedeutung deren unterschiedlicher Ursprung bei der Beurteilung ihrer Rechtspolitik hätte; des weiteren würde eine solche Konfrontierung Forschungsergebnisse und -modelle in Frage stellen, die sich unter Annahme konkreter Situationen und ganz unterschiedlicher Regierungsformen - erwa jene in Venedig und Florenz - ergeben hatten. Der Staat der Este entstand aus den weit verstreuten Besitztümern, die von der regierenden Familie in der Umgebung von Padua, im Raum Ravenna und schließlich in der Gegend um Ferrara zusammengetragen wurden. Das ausgeprägt auf Vermögen ausgerichtete Gebaren, das die Este gegenüber den von ihnen regierten Gebieten äußerten, wird solchermaßen als ein ihre Herrschaft über lange Zeit bestimmendes Merkmal aufgefaßt, das ihre Rechtsordnung zu charakteristischen Entwicklungen beförderte, wobei sich diese gegenüber den zu jener Zeit in den Staaten republikanischen Ursprungs anzutreffenden Veränderungen als nicht notwendigerweise rückständiger erwiesen. Bezüglich all dieser Fragen siehe auch weiter unten in diesem Aufsatz. 43 Eine umfassende Untersuchung bezüglich der Bedeutung der friedlichen Einigungen als außergerichtliches Instrument und später als regelrechter Justizmechanismus betreffend, vgl. M. Bellabarba, Pace pubblica e pace privata: linguaggi e istituzioni processuali fra Cinque e Seicento nell'Italia moderna, in: M. Bellabarba / G. Schwerho// / A. ZOl7.i (Hrsg.l, Criminalira e giustizia in Germania e in Italia. Pratiche giudiziarie e linguaggi giuridici tra tardo Medioevo ed Eta moderna (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. ContributilBeiträge, 10, Bologna 2001, S. 189-213. 44 So wurden erwa die Einwohner von Nonantola aufgefordert, die friedliche Einigung vorzulegen, um auf diese Weise die Tilgung der Geldstrafen zu erreichen, ohne eine Bittschrift unterbreiten zu müssen, während angesichts von Strafurteilen die Beifügung der friedlichen Einigung an das Gnadengesuch verlangt wurde. Wenn sie

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Gemeindeverfügungen die nachdrückliche Betonung der Kanzlei abwechselnd auf Einigung und Bittschrift; zudem forderte die Kanzlei etwa die friedliche Einigung über den Erlaß der Geldstrafen, nur um das soziale Gefüge der Bergdörfer und Landgüter im Grenzgebiet zu festigen. Umgekehrt schloß die Kanzlei die Einigung in manchen Fällen zugleich völlig aus, um statt dessen in den städtischen Zentren einzig das Gnadengesuch vorzuschreiben, und somit dort, wo der institutionelle Apparat eine wesentlich entschiedenere Einsetzung neuer Verordnungen möglich machte. Wie schon im Zeitalter von Alfonso I. war es in den Augen des Herzogs, seiner Sekretäre und seiner Justizberater weiterhin entscheidend, die aktive Beteiligung der Untertanen an dem allumfassenden Befriedungswerk zu erhalten, das die Regierten mit ihren alten Signori versöhnen sollte; und dies nicht nur weil die friedliche Einigung Strafprozesse voller Verfahrensschwierigkeiten lösen und zugleich den Gemeinden die Mitglieder zurückgeben konnte, die sich von ihnen entfernt hatten, sondern auch aufgrund jener engen Beziehung zwischen Akten der Versöhnung und religiöser Vergebung, die die Bereitschaft der Einzelnen ebenso wie der Familien, die friedliche Einigung zu erbitten und anzunehmen, mit Sinn erfüllte45 • Anders als bei den großen Friedensschlüssen während der Ära Alfonsos jedoch waren es nun die herzoglichen Institutionen der Kanzlei und des Consiglio di giustizia, die eine Begrenzungslinie zwischen den Umständen zogen, die vornehmlich einer friedlichen Einigung bedurften, und jenen Fällen, die die Anwendung der Bittschrift ermöglichten. Dabei stützte die Aufhebung der Urteile vom herzoglichen massaro der Romagna erhalten wollten, mußten die Einwohner von Bagnacavallo diesem die von der Gegenseite gewährte friedliche Einigung zeigen, während sie das Begnadigungsverfahren bei der Kanzlei von Ferrara einleiteten. In der gleichen Weise wurden die Bewohner der Stadtvogtei von Sestola im Frignano ebenso wie die Einwohner von Cento behandelt, wobei sie sich allerdings unter Umständen zur Tilgung der Urteile sowohl an commissano von Sestola als auch an die Kammer in Ferrara wenden mußten. In Modena wiederum wurde für die Strafurteile einzig das Gesuch um Gnade gegen Bezahlung gefordert, ohne die außergerichtliche Einigung beifügen zu müssen. Freilich erwies es sich als einfacher, die neuen Richtlinien der Regierung in der zweiten Stadt des Herrschaftsgebiets und nicht in den Berggegenden oder an der Grenze zum Kirchenstaat anzuwenden. Finale, San Felice, Comacchio, Cotignola, Montecchio und Minozzo hingegen behielten die die Bittschrift vorbereitende friedliche Einigung lediglich in der Strafjustiz bei: vgl. ASMo, Camera, Mandati, reg. 46; ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, ad vocem. Was einen Vergleich mit den Erlassen von Alfonso I. in den zwanziger Jahren hinsichtlich dieser Thematik angeht, so sollten die Eingaben von Modena, Montecchio und Cotignola aus dem Jahr 1527 im Register XIXB, auf den S. 15,55-57,77-84,107-110,138-141 herangezogen werden. Die Petition von Cotignola befindet sich gleichfalls im Register der Kammer, sie fol. 125r-127v. 45 G. Angelozzi, Interpretazioni della penitenza sacramentale in eta moderna, in: Religioni e Societa, 2 (1986), S. 73-87; 0. Niccoli, Rinuncia, pace, perdono. Rituali di pacificazione della prima eta moderna, in: Studi storici, 40 (1999), S. 219-261.

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man sich stets auf die sehnlichst erhoffte Befreiung von den Verbindlichkeiten, die die Schuldigen bei der herzoglichen Kammer offen hatten. Verschiedene Gemeinden, die es nicht gewohnt waren, mit der Rechtsprechung in traditioneller Weise Geldzahlungen zu verbinden, vereinten ihrerseits in ihren Verträgen ausdrücklich Gesuche um Erlaß der Steuerrückstände sowie um gerichtliche Begnadigungen46. In den unmittelbar folgenden Jahrzehnten sollte sich die Begnadigung, sowohl für den Herzog wie auch für seine Untertanen, als bevorzugte Lösung der Verfahren erweisen. Dies gilt besonders in Anbetracht der Ungewißheit und der langen Dauer der Strafprozesse, die - selbst wenn im Schnellverfahren durchgeführt - faktisch der Anwendung rechtlicher Mittel untergeordnet waren. Dazu zählen etwa Anträge auf Prozeßeinstellung, Einsprüche gegen einen der Befangenheit verdächtigen Richter, weitere Bittschriften und anderes mehr. Zumindest konnten kraft der Gnadengewährung teilweise Familienbesitztümer vor der drohenden Beschlagnahme bewahrt werden (die Konfiszierung galt bei crimina atrocia ebenso wie bei schwersten Bluttaten). Des weiteren erhielten derlei die Besitzer durch die Tilgung der Verbannungen und Urteile die notwendige Bewegungsfreiheit, um ihre Güter vor feindlichen Angriffen zu verteidigen, und schließlich verhalf die Verbreitung der Gnadenpraxis dazu, daß auch die Besitztümer der Begnadigten geschützt werden konnten. Letztlich wäre der Fürst aufgrund der Begnadigungen nach und nach wie der wahre Garant der öffentlichen Ordnung und der sozialen Eintracht erschienen, zumal die gemeinschaftlich kohäsive Kraft der großen, im Beisein der rettori der Este gefeierten friedlichen Vereinbarungen in Myriaden von von oben für Einzelne erlassene Zugeständnisse aufgeteilt wurde. Mit Hilfe der Begnadigung wollten Ercole H. und mehr noch sein Sohn Alfonso H. in all ihren Staaten als die einzigen Halter der Gerechtigkeit erscheinen, wie es für die Stadt Ferrara und ihr Gebiet schon lange geschah, allerdings mit Modalitäten, die - selbst wenn man die Anwendung der Bittschriften in Betracht zog - auf eine vollkommene Durchdringung zwischen der Stadtverwaltung Ferraras und dem Hofapparat gezählt hatten, wie sie anderswo unerreichbar gewesen wäre47 • Sogar die auf uns gekommenen Kanzleiregister bezeugen die zunehmende Nutzung des Instruments der Begnadigung, die mit der Entstehung neuer Archivreihen für 46 In dieser Weise verfuhren beispielsweise Modena und Nonantola am 19. und 26. November 1534 wie auch, in der Gegend von Reggio, Minozzo am 2. Dezember, vgl. ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, fo!. 61v-62v Modena betreffend, fo!. 79r-80r in bezug auf Minozzo und fo!. 109r-llOv in Hinsicht auf Nonantola. Nonantola versandte neuerlich Bittschriften am 11. Dezember 1536 und erhielt den Erlaß aller Geldstrafen, die in der Zwischenzeit ergangen waren, aber noch der Einsetzung des neuen Herzogs in der Gemeinde vorausgingen, vg!. ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, S. 90-91. 47 In bezug auf Ferrara, siehe L. Turchi, Istituzioni cittadine, S. 150-154.

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einige genau bestimmte Kasuistiken - etwa die Genehmigungen zum Tragen einer Waffe - einherging48 • Die Verhandlungen zwischen Fürst und Gemeinden gelangten zu einem Komprorniß auf einem anderen wichtigen Gebiet der Strafeinkünfte: den Beschlagnahmungen. Bezüglich der eindringlichen Bitten der Städte Ferrara und Reggio versicherte der Herzog, er hätte sich - im Unterschied zu den Vorgängern - den Bestimmungen in den Statuten der Städte angepaßt, als er den Erben der Verurteilten die Hälfte der konfiszierten Güter überließ49 • Das von den Gemeinden vorgebrachte Anliegen, doch alle Gnaden "frei " oder besser umsonst zu gewähren, wurde andererseits in den Verfügungen von Ercole Ir. schlichtweg nicht erwähnt, und mehr noch verschwiegen. Die wirtschaftlichen Einbußen, die der Herzog durch den kostenfreien Erlaß der Geldstrafen hervorgerufen hatte, ebenso wie die wegen des Verzichts auf die Hälfte der beschlagnahmten Güter fehlenden Einnahmen behob man letzten Endes durch die Einkünfte, die von den Strafminderungen herrührten: diese erfolgten gegen Bezahlung, umso mehr, als man bei diesen Erlassen bewußt auf die Kennzeichnung "libere" , "frei" , verzichtete50 . 48 Solcher Art sind gleichfalls die folgenden Kanzleiregister des Dokumentenbestands "Leggi e Decreti": Das Register XXB enthält Bescheinigungen der Bürgerschaft Ferraras und Steuerbefreiungen ab 1543, während die Register XXIB und XXIIB neben weiteren Bescheinigungen der Bürgerschaft Ferraras für die Jahre 1555 bis 1556 und 1557 bis 1579 Steuerbefreiungen, Schutzbriefe für aufgrund von Schulden oder Straftaten Verurteilte sowie Waffenscheine bewahren. Mit Beginn der Regierung von Alfonso 11. wurden die Waffenscheine ausgegliedert, um die Kanzleireihe "Licenze di porto d'armi" zusammenzustellen, die heute allein in zwei Registern besteht, die ausschließlich diese Art von Akten für die Jahre 1560 bis 1563 und 1563 bis 1587 beinhalten. Hier gilt es folglich die Chronologie zu prüfen, die P. Di Pietro, La Cancelleria degli Estensi, S. 95, vorschlägt; sie siedelt im Jahre 1505 die Entstehung einer Kanzleireihe von Bescheinigungen der Bürgerschaft Ferraras und Steuerbefreiungen an, auch wenn sie das Register XVIIIB schlüssig als das erste aus der Reihe erkennt, das auf uns gekommen ist und das nach Ansicht der Autorin im 16. Jahrhundert in den Bänden XXB aus dem Zeitalter von Ercole ebenso wie in den Bänden XXVB-XXVIIB aus der Epoche Alfonso 11. (15591598) seine Fortsetzung fand. Zudem bleibt die Verbindung zwischen den Registern XXIB und XXIIB unsicher, die inhaltlich teilweise übereinstimmen. 49 ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, S. 6, Vertrag 11 in bezug auf Reggio, S. 71, Vertrag 1 in Hinsicht auf die Gemeinde von Ferrara, deren Verträgen sich auch im ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, fo1. 118v-119v befinden. Der Herzog verweigerte der Gemeinde von Ferrara hingegen die Befugnis, die Güter der Fremden und all jener, die ohne Erben verstarben, einzuziehen. 50 Die zwanziger und dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts markierten auch in der Gegend um Piacenza einen Wendepunkt in bezug auf die Kosten für Begnadigungen analog zu jenem im Herrschaftsgebiet der Este: Das Pontifikat von Clemens VII. war in der Tat "sehr wichtig für das gesamte Steuersystem des Kirchenstaats und der Anfang eines ständigen Anstiegs der staatlichen Besteuerung und eines Angriffs auf die Befreiungen", vgl. D. Andreozzi, Nascita di un disordine, S. 243 und allgemeiner gefaßt S.242-244.

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Besonders auffallend an diesen Veträgen ist die beständige Ausgewogenheit zwischen fürstlicher Generosität, politischer Vereinbarung und Milde, die ganz offensichtlich wichtiger Teil eines Zeitalters des Übergangs zwischen alten und neuen Zugeständnissen von Seiten der Regierung waren. In der traditionellen Ausdrucksweise und somit höchst zwingend in der Sprache der auf die Gemeindeeingaben folgenden Konzessionen vermitteln die Verträge eine erste, wichtige Unterscheidung zwischen der neuen Bekundung von Gnade und dem althergebrachten Ausdruck von Freigiebigkeit, wobei grazia und liberalita sehr wohl eingegliedert sind: Solchermaßen ausgezeichnet, erweitert sich das Instrumentarium des Fürsten und verringert keineswegs die eigenen Mittel im Namen eines teleologischen Weges in Richtung einer Homogenisierung von Vorschriften und Verwaltung. Das von Ferrara überreichte und mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Giudice dei Savi - er war herzoglicher Berater und zugleich Vorsitzender des Stadtrats - verfaßte Vertragswerk der Bittschriften gibt wieder, was es hier darzulegen gilt; da die Regierung der Hauptstadt wesentlich tieferen Einblick in die ideologischen und finanziellen Erfordernisse der herzoglichen Justiz hatte als die bei den unterworfenen Städte und die Landgüter in deren Umgebung, bat sie den neuen Signore lediglich um die Tilgung der noch nicht eingezogenen Bußgelder und Geldstrafen, wie es "in Zeiten ähnlicher Erhebung" üblich war, und ohne sich bei den strafrechtlichen Urteilen aufzuhalten. In Ferrara und in der gesamten Umgebung, wo der Gang in die Berufung möglich war, war der Erlaß der Verurteilungen im Gegenzug zur Gnade gegen Bezahlung freilich alltägliche Praxis; die Begnadigung nach Bezahlung wiederum hatte die Verwaltung der Kommune von Ferrara ergehen lassen, die - bis auf den kurzen Zeitraum des Krieges gegen Venedig (148284) - von 1472 an in die herzogliche Kammer integriert WarH: "esser messo in Camera" und verurteilt werden, wiesen in der Umgangssprache jener Gegenden die gleiche Bedeutung auf. Gerade die neuen, von Ercole 11. am 1. November 1534 erlassenen Statuten waren es, die nach dem Willen des Vaters Alfonso I. dem Gemeindeverwalter offiziell die Funktion des Aufsichtsbeamten über die gesamte mit der Justizverwaltung - und dabei vornehmlich mit jener der Strafjustiz - von Ferrara und seines Umlands verbundene Buchführung zuerkannten. Dabei hatte das Ofjicio deI cancello [Tilgungsamtl, das zur Gemeindeverwaltung gehörte und den städtischen Notaren oblag, die Aufgabe, die Einziehung der Strafgelder ebenso wie die auf die Begnadigungen von 51 In Hinsicht auf die Einverleibung der Gemeindeverwaltung in die herzogliche Kammer von 1472 und bezüglich ihrer Entwicklung im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts, vgl. L. Turchi, Istituzioni cittadine, S. 142, 145-147. Ende des 15. Jahrhunderts erbat die Stadt mehrmals vergeblich die Rückführung der Verwaltung; des weiteren bestand zwischen dem Giudice dei Savi aus Ferrara und der Camera dei ribelli eine Auseinandersetzung angesichts der Rechtssprechung über Schadensfälle, vgl. ASMo, Camera, Cancelleria della Camera, b. 87/24, epp. 1485, der Herzog an die Hauptgutsverwalter, 23. März und 8. September.

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seiten des Herzogs respektive auf die vom Giudice dei Savi erlassenen Urteile folgende vollkommene oder teilweise Streichung aufmerksam zu überwachen. Entsprechend sollte sich auch der Verdienst des Notars des cancello proportional nach Anzahl der eingenommenen Strafen richten52 . Denkbar anders war die Lage in den anderen Provinzen, wo die Städte und die Sitze der Stadtvogteien nicht ausschließlich nach dem Ermessen, des Fürsten umgestaltet werden konnten. Dort war es vielmehr notwendig, neuerlich Vertrauen in die Gebietsvertretungen der Kammer zu setzen - zumindest in Hinblick auf die Finanzen. Neuesten Forschungen zufolge unterstand im von den Este beherrschten Teil der Romagna die Löschung der Strafen, nachdem sie gegen Bezahlung aufgehoben worden waren, der herzoglichen Verwaltung von Lugo; hingegen machte die Verwaltung in Modena dem herzoglichen Kommissar von Sestola das cancello im Frignano streitig - neben dem Umstand, die gesamte Umgebung Modenas dahingehend zu beaufsichtigen. Was Reggio betrifft, so läßt sich lediglich vermuten, daß die Tilgung der Urteile in Händen des herzoglichen Stadtverwalters lag. Einen Ausnahmefall bildete Carpi: Dort stand der Kommissar in den ersten Jahren des Herzogtums von Ercole I1 noch dem ganzen Bereich der Begnadigungen vor - eine Befugnis, die auf die Zeit zurückgeht, als die Este die kleine Signoria in gemeinsamer Herrschaft mit den Grafen Pio regiert hatten 53 • Gegen Ende 52 Die Eingabe aus Ferrara die Tilgung von Geldbußen und -strafen betreffend befindet sich in Abs. 16 des Vertrags, siehe ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, S. 71-74, sowie ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, fol. 118v-119v. Bezüglich der Zuständigkeiten des Gemeindeverwalters und seines Notars, der mit der Tilgung der bezahlten oder durch Begnadigung aufgehobenen Urteile befaßt war, vgl .• Statuta provisiones et ordinamenta magnificae civitatis Ferrariae nuper reformata cum novissirnis provisionibus pro litium diuturnitatibus praecidendis, Ferrariae, per Franciscum Rubeum de Valentia" , 1534, lib. X, fol. 274r, 28Ov-284r. Eine jener vom Gemeindeverwalter und vom Officio deI cancello übereinstimmend angewandte Vorgehensweise wurde zu jener Zeit im herzoglichen Officio dei ribelli eingesetzt, in dem bereits ab 1461 begonnen worden war, die Ferrara und seine Umgebung betreffende Rechtssprechung über Schadensfälle an sich zu ziehen; ab circa 1520 zählte auch Finale Emilia zum contado Ferraras; in seinen Registern, wurde rechts neben den Namen der debitori [Schuldner] der Kammer- ein Begriff, der die Verurteilten beschreiben sollte - das Strafmaß angemerkt, während links Datum und Nummer der etwaigen Bittschrift verzeichnet waren, mit Hilfe derer das Strafmaß reduziert wurde, ebenso wie die an den Kanzleinotar übergebene Restzahlung; siehe ASMo, Manoscritti della biblioteca, 5: dabei handelt es sich um Fragmente von Registern aus dem Officio dei ribelli aus den Jahren 1488 bis 1532, mit Lücken hinsichtlich der Jahre 1492 bis 1504, 1507 bis 1511, aber mit Anm. bis ins Jahr 1534. Gerade die Statuten aus Ferrara sollten diese und andere Funktionen vereinen, indem sie unter die Oberaufsicht des massaro der Gemeinde gestellt wurden. 53 Was den zum Herrschaftsgebiet der Este gehörenden Teil der Romagna anbelangt, vgl. ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, fol. 68v, Bittschrift Nr. 3, des Vertrags von Bagnacavallo. In bezug auf Modena und das Frignano, vgl. ASMo, Archivio Campori, b. 73: es enthält ein Register mit Kopien von Teilen der Exemplare A, B, C der Stadtvogtei von Sestola, die auf ihre Rechte und Privilegien bezogen sind; es wurde 1545 - und damit zehn Jahre nach der Zerstörung der Burg von Sestola - vom Consiglio generale des

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des Jahres 1536 allerdings könnte sich Ercole die Verwaltung der Bittschriften aus Carpi bereits angeeignet haben. Den Verfügungen zufolge jedenfalls überprüfte er die Anordnung der Berufungsverfahren in der Romagna der Este, um sie bald darauf endgültig unter die Aufsicht seiner Kanzlei und deren Beschlagnahmungsbefugnis zu stellen. Letztlich gilt es also die Annahme zu verifizieren, daß der Strom der Bittschriften aus Carpi ab 1537 in die Hände des Kämmerers übergegangen wa~4. Frignano in Auftrag gegeben. Auf fo!. 40v ist die ep. 1542 vom 27. April verzeichnet, worin der Herzog dem massaro von Modena anordnet, sich nicht mehr mit der Tilgung der Strafen im Frignano zu befassen, sondern dies dem Commissario des Frignano zu überlassen. Dabei sollte nicht vergessen werden, daß letzterer zudem die Verteilung des Salzes, die Einnahme der entsprechenden Steuer koordinierte und als ordentlicher Zivil- und Strafrichter fungierte, entsprechend seinem Ebenbild in der Garfagnana. Leider besteht keine Kenntnis darüber, wer die Leitung des cancello in dieser Provinz innehatte, das heißt wie im Frignano der commissan'o oder der capitano di ragione, der bereits kraft seines Amtes die Strafen mit Hilfe seines Steuereinnehmer einzog. Von 1540 an jedenfalls wurde in die Garfagnana ein Steuereinnehmer der Camera geschickt; siehe ASMo, handschriftliches Inventar des Dokumentenbestands der Kammer, Amministrazione finanziaria dei paesi, unnumm. Folia, sowie G. Trenti, I funzionari estensi in Garfagnana nei secoli XV-XVI (rilevamenti d'archivio), in: La Garfagnana dall'avvento degli Estensi, S. 30. Carpi betreffend, siehe ASMo, Cancelleria, Carteggio dei rettori, Carpi, b. 1, epp. 1501, der Herzog an den commissario, 31. August und 16. September; ASCCa, b. unica, Amministrazione pubblica 1527-38, ein Statthaltererlaß vom 12. April 1527 , sowie b. unica, Grazie e privilegi, von Ercole 11. am 11. Dezember 1536 erlassene Verträge: sie enthalten den ausdrücklichen Befehl an den Statthalter, keine weiteren Bittschriften neu zu schreiben. Es gilt des weiteren zu bedenken, daß im Zeitalter der Verträge auch Finale, das längst dem Gebiet Ferraras zugehörig war, sowie San Felice und Montecchio - die zwei Gemeinden gehörten zu Modena beziehungsweise Reggio - noch über tätige Kämmereien verfügten, die ihrerseits Sammelbecken der Bittschriften gewesen sein könnten. Was die von der Verwaltung in Reggio hergestellte Dokumentation betrifft, so wird sie in: ASMo, Camera, Amministrazione finanziaria dei paesi, bewahrt; aber anders als im entsprechenden Dokumentenbestand von Modena befindet sie sich in einem Zustand relativer Verwahrlosung. 54 In Hinsicht auf Carpi und Rubiera, siehe unten, Anm. 57 und 58. Was das den Este gehörenden Teilgebiet der Romagna betrifft, sollten die am 17. November 1534 in Cotignola neu geschriebenen Verträge herangezogen werden; auch darin wird versucht, den Status der te"a separata, des abgetrennten Gebiets, zu erhalten; das heißt auch dort wurde die Eigenständigkeit gegenüber dem Zentrum der Romandiola der Este, nämlich Lugo betrieben: ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, fo!. 128r-129r; vgl. auch fo!. 125r-127v die 1527 vom herzoglichen Sekretär Opizo Remi neu geschriebenen Verträge, insbesondere die Nm. 4 und 5. Da von 1527 an die Appelle von Cotignola mit herzoglicher Ermächtigung in Lugo oder in Bagnacavallo in Auftrag gegeben wurden, während dies umgekehrt nicht geschah, gewährte man aus Gründen der Aequalitas mit Nr. 7 aus dem Jahr 1534, daß der capitano von Cotignola, doctar in utraque, eine entsprechende Funktion für die aus den beiden anderen Zentren stammenden Fälle ausüben konnte. Zu beiden Anlässen blieb Cotignola beharrlich, bis alle, die Ländereien im Umland von Lugo und Banacavallo besaßen oder sogar dort ansässig waren, Futtergetreide anbauen konnten, ohne jegliche Art Steuern zu zahlen oder gar einem größeren Beitrag an der Bodenschätzung unterworfen zu werden als jenem, den sie in der früheren Gemeinde

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Da die Ratsversammlungen der Städte von Modena und Reggio weiterhin eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem Hof wahrten, indem sie unabhängige Ströme von Bittschriften in einigen Bereichen verwalteten und einen großen Teil der lokalen Finanzen überwachten, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, daß diese Fonn der Justizverwaltung bei dem Versuch, sich im ganzen von den Este regierten Gebiet durchzusetzen, auf zahlreiche Schwierigkeiten stieß. Dies gilt umso mehr, als in dessen feinsten Verzweigungen sich neben verschiedenen Klientelnetzen zudem teils deckungsgleiche, teils gegensätzliche Informations- und Verwaltungspraktiken entgegenstanden, die - wie etwa im Falle der massari und der Kommissare - von Kammer und Kanzlei abhingen, die jede über eigene Bestimmungen für die Erstellung und Beglaubigung der Dokumente verfügte. Ein weiterer Grund für die diffizile Lage bestand indes in einer die Herrschaft der Este festigenden Eigenart des Hoheitsgebiets, und zwar in der stark differierenden Beziehung, die der Fürst, seine Minister ebenso wie die Beamten mit allen drei Städten im Herrschaftsgebiet hergestellt hatten. Zum Zeitpunkt von Ercoles Verträgen hatte Fertara seit mindestens drei Jahrzehnten den einer nord-mittelitalienischen Stadt eigenen politischen Charakter verloren und hatte sich in die nach den Vorstellungen des Fürsten geformte Hauptstadt des Staates verwandelt. Modena und Reggio hingegen konnten ihren Weg der unablässigen, mühsamen Verhandlungen mit den Herzogen fortsetzen, wobei ihre Funktion als hochbedeutende politische, juristische und wirtschaftliche Knotenpunkte innerhalb des Staates dazu bestimmt war, nicht nur mit den von Ercole Ir. angeordneten Refonnen für die Stadträte, sondern auch mit der vom Herzog vorgeschlagenen, zweckgerichteten Aufwertung der kleineren Gebietseinheiten aufeinanderzuprallen. Die Bestrebungen maßgeblicher Persönlichkeiten, die die terre separate, also die "abgetrennten Gebiete" wie Rubiera, "quasi-Städte" und ehemalige Signorien wie Carpi oder gar befestigte Zitadellen wie Brescello bewohnten - indessen es diesen Orten sowohl aufgrund der eigenen Ausgangsbedingungen als auch infolge der Entscheidungen des Fürsten unmöglich war, an die Einwohnerzahl ebenso wie an das wirtschaftliche Niveau und den politischen Rang der beiden Städte heranzureichen - wurden fortwährend vom Herzog wie ein drohendes Gespenst den Oligarchien des Rats von Modena und Reggio vor Augen gehalten; dies stand teilweise der im 15. Jahrhundert von Leonello (1441-1450) und bezahlt hatten, vgl. ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, fol. 125r-127v, Nr. 9, fol. 128r129r, Nm. 1 und 8, die ein diesbezügliches Thema behandeln. Unnötig zu erwähnen, daß der Fürst in beiden Fällen seine Ablehnung formulierte, indem er ihn zunächst mit dem Praeiuditium tertii, das heißt mit dem den anderen beiden Gemeinden dadurch entstehenden Schaden begründete, um dann die Beachtung der zwischen den Gemeinden gültigen Conventiones et contractos heranzuziehen.

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Borso d'Este (1450-1471) eingeleiteten Aufwertung der städtischen Bereiche entgegen. Demnach handelte es sich um einen hartnäckigen und diversifizierten Versuch, in allen Gegenden des Gebiets der politischen Herrschaft die politische Kraft, die Fähigkeit, Beiträge zu leisten, ebenso wie die Wege gesellschaftlichen Aufstiegs auf dem gleichen Niveau in den Dienst des Fürsten zu stellen55 . Weit entfernt davon, hier das Gelingen dieser Regierungsstrategie über einen langen Zeitraum bewerten zu wollen, gilt es lediglich anzumerken, daß die in unseren Verträgen enthaltenen, als steuerliche Argumente dienenden Erlasse, erstmals diese Regierungsstrategie darstellten. V. Der Schutz der herzoglichen Kassen

Der Umstand, daß der Fürst darauf verzichtete, die gesamten Besitztümer der wegen Mordes Verurteilten einzuziehen, um sie statt dessen den Erben in den laut Statut festgelegten Teilen zu überlassen, offenbart die Herauslösung der Strafjustiz aus den Einnahmen der fürstlichen Verwaltung. Im Gegensatz dazu sticht die nachdrückliche Verteidigung der anderen finanziell wichtigen Bereiche umso mehr ins Auge: Während Ercole H. die geltende Praxis wie auch die mit anderen Gemeinden unterzeichneten Bündnisse übernahm und diese traditionelle Anerkennung bestehender Verträge schützend vor sich stellte, eignete er sich zugleich nicht nur wieder jene Zölle an, die sein 55 Bezüglich der demographischen Hierarchisierung der drei Städte des Herzogtums Mitte des 15. Jahrhunderts, vgl. M. Ginatempo / L. Sandri, L'ltalia delle citta. popolamento urbano tra Medioevo e Rinascimento (secoli XIII-XVI), Florenz 1990, S. 87 -89, sowie hinsichtlich der Merkmale des gesamten Poge bietes im vorangegangenen Zeitalter GM. Varanini, Die Organisation des städtischen Bezirks in der Poebene im 13. und 14. Jahrhundert (Mark Treviso, Lombardei, Emilia), in: G Chittolini / D. Willoweit (Hrsg.), Hochmittelalterlich Territorialstruktur in Deutschland und Italien (Schriften des Italiensch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, 8), Berlin 1996, S. 97-171. In bezug auf eine sinnvolle Neubetrachtung dieses Themengebiets in Form eines Vergleichs zwischen Mantua, Ferrara und Mailand, vgl. 1. Lazzarini, I domini estensi e gli Stati padani: tipologie a confronto, in: G Fragnito / M. Miegge (Hrsg.), Girolamo Savonarola: da Ferrara all'Europa, Atti del convegno internazionale, Ferrara 30. März - 3. April 1998, Florenz 2001. Die Verfasserin erachtet auch die von Ferrara eingenommene Doppelrolle als Hauptstadt und Sitz des Hofes für den Verlauf der Geschichte der Este als entscheidend, umso mehr als dies zuletzt von der Wirtschaftskraft des großen, im Oststeil des Staates verwurzelten Landbesitzes unterstrichen wird. Was die terre separate und die Beinahe-Städte betrifft, gilt es unbedingt auf G Chittolini, Le ,teere separate' nel ducato di Milano in eta sforzesca, in: Milano neU'eta di Ludovico il Moro, Atti del convegno internazionale, 28. Februar - 4. März 1983,2 Bde., Mailand 1983, Bd. 1, S. 115128 zu verweisen, sowie ders., nQuasi-citta". Borghi e terre in area lombarda nel tardo Medioevo, in: Societa e Storia, 13 (1990),47, S. 3-26, nun neu herausgegeben in: G. Chittolini, Citta, comunita e feudi negli stati dell'ltalia centro-settentrionale (secoli XIV-XVI), Mailand 1996, S. 61-83, 85-104.

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Vater der Verwaltung der unterworfenen Städte abgetreten hatte, sondern weigerte sich zudem systematisch, die herzoglichen Zölle und Gebühren auf Warentransporte abzuschaffen, genauso wie er die Überwachung der Ernennung der officiali erneut für sich beanspruchte. Darin bestand der eigentliche Unterschied zwischen seinen Anordnungen und den Verfügungen seines Vaters im Bereich der Beitragszahlungen, zumal auch Alfonso I. in Hinsicht auf das Salz keine Rücksicht auf die schwierige wirtschaftliche Lage nahm, in der sich die unterworfenen Orte befanden, als er ihnen lediglich ein Drittel der durch die ausgebliebenen Steuerzahlungen angehäuften Schulden erließ und die Erstattung des verbleibenden Betrags über Jahre stundete. Indessen hatte er ihnen mit gewisser Nachsicht eines der gewöhnlich der Stadt vorbehaltenen Privilegien zugestanden: Sie konnten das herzogliche Salz zu ennäßigtem Preis erwerben56 • Ähnliche Zuwendungen wurden unter Ercole H. Vorrecht der bedeutenderen Kleinstädte, insbesondere Carpi und Rubiera, die sogar die steuerliche Unabhängigkeit von den Städten erhielten, denen sie bisher verpflichtet waren: Diese Zugeständnisse fielen allerdings zu gering aus, um deren Autonomiebestrebungen zu befriedigen, waren aber zugleich groß genug, um Löcher in die ohnehin schon von einigen Feudalinseln gekennzeichneten Steuergebiete von Modena und Reggio zu reißen. Darüber hinaus schadete die durch die allgegenwärtigen Transitzölle ebenso wie durch die Verhängung der auch für die Märkte gültigen Vertragssteuer bedingte Verzögerung des Handels ohne Zweifel vor allem maßgeblichen Persönlichkeiten im unterworfenen Gebiet wie auch den vielen in der Stadt lebenden Besitzern von Gütern im Umland. Zuletzt sollten die Bewohner von Modena und Reggio die eigenen Ansprüche hinsichtlich der Bodenschätzung abschwächen und sich zudem damit abfinden, die ihnen zugehörigen Lasten, einschließlich der mühseligen, vom Fürsten zur Vollendung großer öffentlicher Arbeiten auferlegten corvees (Frondienste) zu tragen. Anfangs zeigte sich Reggio davon wesentlich betroffener als Modena, da Alfonso I. im Augenblick der Rückeroberung größere Freigiebigkeit hatte walten lassen. Auch wenn die Stadt 1523 von allen Steuerlasten auf jene von ihren Bürgern innerhalb der Diozöse - einem Gebiet, das bekanntlich weitläufiger war als die Umgebung der Stadt - erworbenen Güter befreit worden war, darüber hinaus das Vorrecht erhalten hatte, über vier Jahre in seinem gesamten Herzogtum die o/ficia zu verteilen, und schließlich die Kürzung einiger Zölle sowie die eigenständige Verwaltung anderer Abgaben erreicht hatte, so verlor sie 1534 wieder die Aufsicht über die Ernennung der offici, und die Steuer- und 56 Erlasse dieser Art erhielten 1523 die Einwohner der zur Umgebung Reggios gehörenden Orte Canossa, Querciola, Montalto, Paullo, San Romano, Montericco, Quattro Castella und Albinea, sowie 1525 jene von Ligonchio, die ein Teil der zu Reggio gehörenden Stadtvogtei von Minozzo: ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, S. 8-11. Als wesentlich weniger freigiebig erwiesen sich die 1527 den Bewohnern von Cotignola zugestandenen Erlasse, was in der heiklen Lage des .Bodens" zwischen der Romagna der Este und dem Kirchenstaat begründet war.

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Beitragsvorteile erwiesen sich als nur von begrenzter Dauer. In der Zwischenzeit zogen sich die rauhen Verhandlungen mit der Stadvogtei von Rubiera über Schätzung, Ernte und spelte hin; Alfonso I. hatte der Stadtvogtei die steuerliche Gleichstellung der Landbewohner mit den Bürgern Reggios, den Schutz der Ländereien vor Verkäufen an Fremde und die Befreiung des örtlichen Marktes von der Vertragssteuer zugesichert57 . Modenas Führungsschicht wiederum mußte der verbissenen Gegnerschaft der einflußreichen, namhaften Bürger von Carpi entgegentreten, deren Situation jener des städtischen Vorbilds wesentlich näher lag, als dies für das ländliche Rubiera, für die terra von Rubiera, galt, und die gerade deshalb wesentlich weniger Wohltaten durch die herzogliche Gunst erfahren hatte58 • Drei Jahre nachdem es mit aller Kraft gelungen war, die eigenen Richter die gesamte Streitsache mit der herzoglichen Kammer leiten zu lassen, mußte die zweitgrößte Stadt des Staates die neuerliche Aufbürdung beinahe sämtlicher Zölle erdulden, von denen sie Alfonso I. zuvor befreit hatte; 1536 sollte sie dann endgültig auf den Maggior magistrato, auf die Gerichtsherrschaft über ihr gesamtes Umland verzichten, die Reggio umgekehrt ab ungefähr der Mitte des 15. Jahrhunderts genoß59 • Die ausgesprochen heikle, konfliktreiche Situation, die sich in den Verträgen aus Modena und Reggio hinter der mit der »Unterwerfung" verbundenen Ausdruckweise verbirgt, scheint es in den Vertragswerken mit Ferrara ganz offensichtlich nicht zu geben: Die Hauptstadt war bereits seit den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts der Finanzautonomie beraubt und brachte die Bitte vor, daß der neue Fürst die Aufsicht über die Einhaltung der statuta57 ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, S. 1-3, in bezug auf den von Reggio am 1. Oktober 1523 erbetenen Vertrag und hinsichtlich eines Erlasses vom folgenden 23. November, mit dem sich die Befreiung von den Real-, Personen- und Mischlasten auf die Güter der Bewohner Reggios auf das Gebiet der Diozöse ausbreitete, nachdem diese bereits für jene im Umland der Stadt gelegenen Gültigkeit hatte; S. 3-7 in Hinsicht der Verträge von Reggio vom 21. November 1534 und S. 92-96 bezüglich der drei Verträge von Rubiera, die am 12. und am 13. Oktober und noch einmal am 16. November des Jahres 1523 neu geschrieben wurden; die erst 1545 von der Stadt gewonnene Auseinandersetzung zwischen Reggio und Rubiera betreffend, vgl. S. 114-125. 58 ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, S. 55-57, bezüglich des Modeneser Ergebenheitspaktes gegenüber Alfonso I. vom 13. Juni 1527, ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, fo!. 61v-62v den Vertrag von 1534 betreffend; ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, fo!. 13Ov-131r in Hinsicht auf den Vertrag von Carpi vom 15. November 1534, der jenem der Unterwerfung vom 12. April 1527 gegenübergestellt ist im ASCCa, b. unica, Amministrazione pubblica 1527-38. Bezüglich der Bereitschaft der Modeneser, die Steuerprozesse vor Ort durchführen zu lassen, siehe ASCMo, Libri officii Camerae Sapientum, reg. 9 (1527-1538; 1547), fo!. 105r. 59 Der Vertrag vom 11. Dezember 1536 befindet sich im ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, S. 111-113. In bezug auf die tatsächliche Einführung des Maggior magistrato in Reggio kurz nach Mitte des 15. Jahrhunderts vgl. L. Turchi, La giustizia del principe, Bd. 1, S. 242-244.

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rischen Bestimmungen ebenso wie über den Ablauf der offici der Gemeinde verstärken und stattdessen eine ausgeglichene Führung vorziehen möge, die sowohl seinen Interessen als auch jenen der Stadtbevölkerung dienen sollte. In diesem Moment erstanden neben dem Anliegen, den längst üblichen, dem "Vorbild" des Handels mit herzoglichen o/fici folgenden Verkauf der städtischen Ämter, insbesondere hinsichtlich der magistrature di giustizia und der magistrature "de manegio", unterbinden zu lassen, die dauernde Forderung der Gemeindeverwaltung an die Stadtverwaltung und schließlich der Wunsch, die Kompetenzen des Giudice dei Savi, des obersten Schiedsrichters innerhalb des politischen und wirtschaftlichen Lebens in der Stadt, in ihrer Gesamtheit zu erhalten. Erneut appellierte die Stadt an die Großzügigkeit und die Liebe gegenüber dem Volk - Werte, die der politischen Propaganda der Este sehr am Herzen lagen -, um die Rückgabe einiger ihrer Einnahmequellen und zugleich beträchtliche Steuerbefreiungen zu erreichen; nur so hätte sie die Aufgaben von oberster Bedeutung ausführen können, die ihr gewöhnlich oblagen, wie etwa die Instandhaltung der Mauern, die direkte Besteuerung oder gar die Bewahrung des studio, die sie aber in Anbetracht der durch den Krieg hervorgerufenen Entbehrungen und der zerrütteten Verwaltung kaum mehr erledigen konnte. Die Antwort des neuen Herzogs enthielt abgesehen von Zeichen des Respekts gegenüber den Statuten die Zusicherung, einen korrekten Ablauf der Gemeindeämter gewährleisten zu wollen, Versprechungen allgemeiner Art, aber vor allem auch die ausdrückliche Absage hinsichtlich des wunden Punktes, nämlich der Steuern. Die einzigen wirtschaftlichen Vorteile, auf die die Ferraresen wirklich zählen konnten, bezogen sich auf das Fortleben des Hofes, weit mehr als auf das Fortbestehen der Stadt insgesamt: Einzig um ausreichend Waren in den Organismus des Hofes fließen zu lassen, der für die Einwohner der Hauptstadt in wesentlich größerem Maße als für die anderen Untertanen die Verkörperung des Staates implizierte, wurden den unmittelbar umliegenden Landgüter und den Gemeinden seines wirtschaftlichen Einzugsgebiets Steuerbefreiungen zugestanden60 • 60 Der Vertrag Ferraras vom 8. November 1534 befindet sich im ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, fo1. 118v-119v; ihm geht auf fo1. 117v-118r die Abschrift des durch den Ausrufer am folgenden Tag verbreiteten Erlasses des Giudice dei Savi voraus; vg1. des weiteren ASMo, Camera, Mandati, reg. 46, fo1. 49r-50r den Vertrag von San Felice vom 10. Dezember 1534 betreffend: Den Bewohnern von San Felice wurde die Befreiung von den Zöllen auf die Ausfuhr von Heu und Streu nicht zugestanden, genausowenig wie jene auf die Weiden von Finale und Bondeno; allerdings wurde der Zoll auf die in Ferrara eingehenden Waren aufgehoben. ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIXB, S. 102-104, Verträge von Finale vom 17. November 1534: Darin wird ein von Alfonso I. Finale gewährtes Privileg ausgeweitet, und Finale erhält die Befreiung von den Zöllen für den Waren transport zwischen Bondeno und der Hauptstadt. Auch wenn die Aussage zumindest zu diskutieren wäre, wonach der Hof eines aus mehreren Städten bestehenden Gebiets politischer Herrschaft "die erste Form des Staates" bildete, gibt es keinen Zweifel daran, daß diese starke symbolische Einflüsse ausübte: zunächst auf

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VI. Abschließende Bewertungen

Als die Verträge vorgestellt und neu verfaßt wurden, herrschte eine schwere Steuerkrise, die nicht nur durch den Krieg, sondern auch aufgrund der zunehmenden Erfordernisse des politischen Systems ausgelöst worden war. Daß sie sich in den folgenden Jahrzehnten sogar noch verschärfen sollte, lag auch an einer Reihe von Mißverhältnissen, die das Steuersystem der Este auszeichneten61 • Dieser Umstand erklärt mit Sicherheit, warum die Untertanen in den Einleitungen zu den Verträgen und oftmals im Text der Gesuche selbst ihren Appell uneingeschränkt an die liberalitas, und damit an die Großzügigkeit richteten, die, spontan und ohne jegliche Verpflichtung, sowohl von dem umfangreichen Schrifttum der specula principum als auch von der höfischen Lobesdichtung - ja selbst die für die Este verfaßten Festgedichte machten da keine Ausnahme - als eine der bedeutsamsten Eigenschaften jedes Signore betrachtet wurden. Dennoch offenbarte die Anrufung der Freigiebigkeit des Fürsten auch eine im Volk tief verwurzelte Denkweise, wonach die liberalitas nicht als einfache Gabe eines Einzelnen, sondern als wirkliches Kennzeichen der Regierung angesehen wurde, und sich somit in konkreten Handlungen entfalten konnte: Der Fürst verhielt sich liberaliter und verteilte somit sein Eigentum, etwa wenn er Steuerbefreiungen und -stundungen bewilligte oder wenn er mit Straferlassen auf das verzichtete, was ihm in Form von vorhandenen Rechten, Geld oder beschlagnahmten Gütern zustand. Wenn er für die Ausführung dessen eine Erwiderung verlangte, gleichwohl in kleinerer Fonn als der von ihm vergebene Vorteil, wie etwa die Kanzleigebühren für die Erledigung der Bittschriften oder die Bezahlung der für die Aufhebung von Strafen, Steuern und anderen Abgaben, so verminderte dies keineswegs die Suggestivkraft und die tatsächliche Wirksamkeit seiner Handlungen. Im vorhergehenden Jahrhundert noch als Zeichen der Bevorzugung von Seiten des Signore für privilegierte, höfische und wichtige Persönlichkeiten der Geselldie Bewohner der Stadt und jene des Umlands von Ferrara. Als "Ort des Überflusses schlechthin" bedurfte sie fortwährender Versorgung und dauerhafter Dienstleistungen, um das Gespenst der Hungersnot, das sichere Vorzeichen für den Niedergang des Staates, zu vertreiben, vgl. G. Guerzoni, Le corti estensi, S. 116-117. 61 G. Guerzoni, La corte estense 1471-1559. Aspetti economici e sociali, tesi di dottorato, Universität L. Bocconi Mailand, 1995/96; den., Angustia ducis, divitiae principum. Le vicissitudini patrimoniali estensi tra Quattro e Cinquecento, in: Tra rendita e investimenti. Formazione e gestione dei grandi patrimoni in eta moderna e contemporanea, Atti del terze convegno nazionale della Societa italiana degli Storici dell'Economia, Turin November 1996, Bari 1998, S. 57-87; G. Guerzoni / A. Usai, Relational Capital and Economic Success in Early Modern Institutions. The d'Este Courts in the Sixteenth Century, in: The European Yearbook of Business History, 2 (1999). Über die Zahlungskrise des Staates der Este siehe auch M. Folin, Gli Estensi a Ferrara nel quadro di un sistema politico composito, 1452-1598, in: A. Prosperi (Hrsg.), Storia di Ferrara, S. 48-50.

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schaft der Provinzen gefeiert, wandelte sich das Erscheinungsbild der sich in den Veträgen des Ercoles ausbreiteten liberalitas der Este, indem sie zunehmend Eigenschaften der Normalität annahm und sich potentiell an alle Untertanen richtete. Dies geschah in dem Moment, als die Bindung zwischen Hauptstadt und Herrschaftsgebiet insgesamt zunahm. Als grundlegender Wert der herzoglichen Innenpolitik bildete die liberalitas zudem das Gefilde, auf dem sich Fürst und Untertanen begegneten oder auf dem sie aneinander gerieten, einen gemeinsamen Begriff, der angewandt wurde, um Gehorsam und Furcht auf der einen, sowie wirtschaftliche Vorteile, Beitragsentlastungen und juristische Erlasse auf der anderen Seite zu verhandeln. Entstanden in einer Zeit, als in vielen italienischen und europäischen Staaten Versuche unternommen wurden, die Justiz zu reformieren, sahen die Verträge auch vor, die gewohnte und vielfältige Großzügigkeit gegenüber den Untertanen mit Verhandlungen zwischen dem Fürst und den unterworfenen Orten im Bereich der Justizverwaltung zu verbinden. So geschickt sie auch zwischen den Zeilen versteckt war, so legt ihre fortwährende Aufrechnung der durch die Trennung von Strafjustiz und liberalitas entstehenden Kosten und Gewinne doch offen, daß jener Versuch ein Unternehmen mit sehr hohem Risiko war, verbunden mit realen und symbolischen Belastungen, das heißt die Einnahmen der herzoglichen Kammer sowie den Wandel der politischen Denkweise betreffend. Gleichermaßen schwierig war es für die Untertanen, die - statt innerhalb der Konstellation aus Unterwerfung und Herrschaft zu handeln - vielmehr seit langer Zeit daran gewöhnt waren, daß jedem Eingriff in ihr Leben seitens der Macht des Souveräns ein Geldwert beigemessen wurde. Die Bestimmungen für die Formulierung dieser Bündnisse zeigen, daß sich in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts sogar im Innern der Hoforgane der Este ein allgemeines Nachdenken über die Ziele der Regierung und über konkrete, dahingehend anwendbare Lösungen anbahnte, und zwar nicht nur in Ferrara, sondern im ganzen Staatsgebiet. Tatsächlich waren die Gemeindeverträge von Ercole H. die ersten, die in einem eigens dafür vorgesehenen Kanzleiregister zusammengetragen wurden, worin die an zwei Stellen vorgenommenen Aufzeichnungen der Gemeindebittschriften und der herzoglichen Verfügungen endgültig den Platz der einstimmigen Dekrete des vorangegangenen Jahrhunderts einnahmen62 . Sie erkannten der Regierung von 62 Der Prozeß ist nachzulesen im ASMo, Cancelleria, LD, reg. XIIIB, in dem bereits im Zeitalter von Alfonso I. verschiedene Aspekte der Vertragsstruktur vorweggenommen werden; vermischt mit dem alten formalen Aufbau, innerhalb dessen in Art der chinesischen Schachtel- bis hin zum ältesten - jeder dem Dekret vorausgegangene Erlaß erneut in Erinnerung gerufen wurde. Wie auch den Registern XIVB und XVB zu entnehmen ist, wurden unter Alfonso I. mehrere Arten, die Verträge abzufassen, ausprobiert, die alle nach der fortschreitenden Auflösung der alten Dekretform ausgerichtet waren. Letztlich war es aber doch Ercole H., der für die Erstellung eines Kanzleiregisters die Form des

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Alfonso 1. die Bedeutung einer Zeiträume definierenden Zäsur zu und brachten seine Herrschaft mit jener des Nachfolgers in Verbindung, um den chronologischen ebenso wie den politischen Neubeginn zu betonen. Ihr ersehnter Ausgleich zwischen althergebrachter Freigiebigkeit und energischer Aufwertung des Herrschermonopols auf die Gesetzgebung, das heißt auf jenes ununterbrochene Abwägen von pro und contra des tournant der Regierung, machen es weniger schwierig zu verstehen, warum sie nicht zu Ende gebracht wurden. Als nicht abgeschlossenes Unternehmen eröffneten sie jedoch eine Reihe von Versuchen, die J ustiz- und Staatsverwaltung zu reformieren: von der zeitgleichen Veröffentlichung der Statuten von Ferrara, die Alfonso 1. (1534) für das neue Inventar des herzoglichen Geheimarchivs (545) vorsah, bis zur Neuordnung verschiedener Ämter der Camera und zur Verlagerung des Machtgleichgewichts zwischen den herzoglichen Schreibern und den Sekretären. Zuletzt erlebte die Ära von Ercole II. die Entstehung eines neuen herzoglichen Gerichts, das insbesondere für die Neufassung der Bittschriften zuständig war: des Consiglio di segnatura 63 • Diesbezüglich brachte der Vorgang der Verwaltung, über den man zur Formulierung der Bündnisse zwischen dem neuen Herzog und den verpflichteten Gemeinden gelangte, einige entscheidende Merkmale der Regierung des Souveräns ans Licht, die die Entwicklung des politischen und sozialen Nutzens der Bittschrift, dem Angelpunkt der fürstlichen Rechtspolitik, zu klären helfen. Als erstes und bedeutendstes, aber bis heute kaum beachtetes Kennzeichen ließe sich das Fehlen einer deutlichen Abgrenzungslinie zwischen der Tätigkeit der Kanzlei und der Arbeit der Kammer anführen - sowohl am Hof wie auch in den Provinzen. Und da der iter der Bittschriften, bedingt durch seine Art, die Beteiligung beider Hoforgane voraussetzte, erscheint es allzu wahrscheinlich, daß die vielfache Verwendung dieser Form des Dokuments - dies gilt vor allem für das 16. Jahrhundert - zumindest eine Mitursache, aber keine Folge des Umstandes war, daß sich die Zuständigkeiten der Kanzlei und jene der Kammer überlagerten. Die zunehmende Gewichtigkeit des politischen Moments in der Vertrags wählte; darin sollten die mit allen Gemeinden des Staates abgeschlossenen Bündnisse gesammelt werden. Aus den gleichen Registern geht des weiteren hervor, daß zumindest schon unter Alfonso I. der von dem Gemeindebittschriften verfolgte iter der gleiche war, der unter seinem Nachfolger offensichtlich funktionierte: Nachdem sie einmal in der Kanzlei neu geschrieben worden waren, wurden die Bittschriften in die Kammern des Herrschaftsgebietes verbracht, wo man die Gesuche kopierte, bevor die Originale an die .flehende" Gemeinde zurückgegeben wurden. In diesem Verwaltungsablauf waren freilich Zuständigkeiten und Staatsdiener von Kammer und Kanzlei miteinander verknüpft, was gleichfalls für die Bittschriften der Einzelpersonen zutraf. 63 Zu den herzoglichen Räten vgl. F Valenti, I consigli di governo presso gli Estensi dalle origini alla devoluzione di Ferrara, in: Studi in onore di Riccardo Filangieri, 2 Bde., Neapel 1959, Bd. 2, S. 19-40; G. Santini, Lo stato estense tra riforme e rivoluzione, Mailand 1987, S. 28-35; L. Turchi, La giustizia del principe; D. Grana, Gli organi centrali del governo esten se nel periodo modenese, in: Rassegna degli archivi di stato, 55 (1995),2-3, S. 304-333.

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fürstlichen Gesetzgebung, das sich daraus ergebende Streben, die Vorgänge zu beschleunigen, und die fortwährende, von den herzoglichen Räten ausgeübte Funktion der Beglaubigung und gleichzeitigen Legitimation des politischen Systems machen deutlich, warum der Bittschrift ebenso wie den außergerichtlichen Instrumentarien, etwa der friedlichen Einigung, Schiedsprüchen und ähnlichem, gemeinhin in der Justizverwaltung große Bedeutung zukam 64 . Allerdings blieb der Gebrauch der Bittschrift eben nicht auf den Rechtsbereich beschränkt. Vielmehr bewirkten ganz allgemein das schwierige Verhältnis zu den Räten und den Doktorenkollegien der untergebenen Städte, die Pflicht, sich immer auf die maßgebende Herstellung vor Ort zu beziehen - sie war von dem Ergebenheitspakt festgelegt worden - und die Unmöglichkeit, die Finanzen Modenas und Reggios sowie einen guten Teil der städtischen Verwaltungstätigkeit zu beaufsichtigen - ganz zu schweigen davon, was alles in den Vikariaten der Garfagnana oder in den Stadtvogteien des Frignano geschah - mit einem Wort also die Mühe, sich als Regierende im gesamten Staat durchzusetzen, daß die Herzoge von Ferrara es vorzogen, Hindernisse mittels reger, durchdringender und in den geölten Abläufen von Gesetzgebung und Regierung der Herrschaftsgebiete leicht zu verbergenden Verfahren und Mitteln zu umgehen. Um es noch einmal zu betonen: Die Bittschrift erwies sich als passendestes, da inhaltlich unbestimmtes Mittel. Durch sie konnten unter anderem Steuerbefreiungen, Waffenscheine oder auch Transiterlaubnisse an Einzelne und Gemeinschaften bewilligt werden. Nach der Rückeroberung zog Ercoles Vorhaben, die Provinzen wesentlich engmaschiger zu überwachen, als dies unter seinen Vorgängern geleistet wurde, von Beginn einen gewaltigen Anstieg der Tätigkeiten von herzoglicher Kanzlei und Kammer nach sich. Dabei war letztere besser gerüstet, um den neuen Anforderungen zu entsprechen. Die Kammer verfügte über zahlreiche Zweigstellen und war naturgemäß dazu bestimmt, eine Lösung für den in den herzoglichen Finanzen entstandenen, wachsenden Fehlbetrag zu finden. Darüber hinaus hatte sie das Gesamtmonopol der Gerichtseinnahmen im Gebiet von Ferrara inne und überwachte zudem einen Teil der Einkünfte in den unterworfenen Provinzen; und es blieb bisher unberücksichtigt, daß sie sich im Vergleich zur Kanzlei zwar eines kleineren, aber dafür unabhängigen Informationsflusses aus allen Teilen des Staates erfreute: gemeint sind die Briefwechsel der massari und camerlenghi mit den herzoglichen Gutsverwaltern ebenso wie die Korrespondenz, die letztere mit den Provinzkommissaren, den späteren Statthaltern, und in manchen Fällen auch mit den Stadtvögten - zumindest bezüglich die Kammer betreffender, fiskalischer Themen - unterhielten. Aus all diesen Gründen fiel es der Kammer leichter als der Kanzlei, die Arbeitsbelastung zu bewältigen, die Mitte des 16. Jahrhunderts über Jahrzehnte auf die herzoglichen Einrichtungen einströmte, und diese Last 64 In bezug auf das politische Monopol der Justiz und auf den Gebrauch von Schnellverfahren und Bittschrift, vgl. L. Turchi, Giustizia principesca.

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mittels dem Zugeständnis von immer wiederkehrenden und nach und nach dargebrachten Ausdrücken herzoglicher Gnade gegen Bezahlung in ein potentielles Anwachsen der Einnahmen des Fürsten zu überführen. Demgegenüber konnte die Kanzlei für sich die Kontrolle des aus den Provinzen ankommenden Informationenflusses, die Leitung der regelmäßigen Beziehungen mit städtischen Oligarchien und einflußreichen Persönlichkeiten der Gemeinden, mithin die Oberaufsicht der Rechtsangelegenheiten und letztlich die unersetzbare Befugnis zur Beglaubigung des herzoglichen Willens beanspruchen. Ein Großteil des Wirkens der herzoglichen Gerichte - der Consiglio di segnatura sowie der Consiglio di Giustizia - stützte sich auf das Gefüge der Kanzlei. Doch als es darum ging, die Interessen des Souveräns als Privatbesitzer, gleichermaßen wie während der beständigen Auseinandersetzung ·mit den Magistraturen und den Führungsschichten der Provinzen zu verteidigen, mußten die Richter des Hofes ein weiteres Mal den Apparat der Kammer nutzen, so daß sie überdies als wahre Mittler zwischen den beiden Einrichtungen fungierten. Zuletzt hielten die Verträge aus der Zeit zwischen 1534 und 1535 die Vorstellung von einer vielschichtigen, geradezu "gärenden" Situation fest, deren Entwicklung hier nur ausschnitthaft vorgeführt werden kann. Mit Hilfe der über das Herrschaftsgebiet verteilten camerlengherie und masserie handhabte die Kammer meist die Verwaltung der Beschlagnahmungen und der Bußgelder aufgrund von Steuervergehen. Freilich bedeutete dieser Umstand nicht immer sichere Einnahmen für den Herzog, um so mehr da Mitte des 16. Jahrhunderts die Verwaltung der herzoglichen Finanzen in den Herrschaftsgebieten vor allem in den Händen mehrerer örtlicher Auftragnehmer lag, die für die Leitung des ihnen von den herzoglichen Gutsverwaltern anvertrauten Amtes einem hohen Preis bezahlten und die folglich entschlossen waren, den größtmöglichen Gewinn in Form von Einkünften und sozialem Ansehen herauszuholen. Wie sich den Dokumenten entnehmen läßt, gelangte allerdings wenigstens ein Teil der aus den Geldstrafen im Herrschaftsgebiet stammenden Einnahmen in die herzoglichen Kassen 65 • Zudem gilt zu bedenken, daß zumindest zu Beginn 65 Die Beziehungen zwischen der herzoglichen Camera und den Kammern im Herrschaftsgebiet betreffend, vgl. oben, Anm. 53. Eine erste Sichtung des Inventars des Dokumentenbestands "Amministrazione finanziaria dei paesi" hat gezeigt, daß Strafregister aus dem 15. und 16. Jahrhundert aufbewahrt werden, die die Verwaltungen von Modena und Reggio sowie die Kämmereien von Carpi, Finale und Montecchio betreffen. Möglicherweise befinden sich unter den Bänden auch Strafregister, die oft als "libri diversi" verzeichnet sind. Erkenntnisse dieser Art gilt es mit den Ergebnissen in Verbindung zu bringen, die sich aus der Untersuchung der Dokumentenbestände der Kammer von Maleficio - sie enthalten einzig aus Ferrara stammende Unterlagenergaben, sowie aus der "Miscellanea di computisteria", die hingegen auch Dokumente aus Modena und Reggio umfaßt. Bei den das Frignano und vor allem die Garfagnana betreffenden, noch zu erforschenden Materialien handelt es sich indessen um die Dokumentenbestände der Statthalter.

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des 16. Jahrhunderts camerlengherie und masserie der Hoheitsgebiete damit begannen, regelmäßig Geldbußen und strafrechtliche Beschlagnahmungen betreffende Mitteilungen zu versenden, und somit den Versuch anstellten, die Verschuldung der herzoglichen Kassen zu verringern, zumal diese zunächst durch den Verlust des Polesine di Rovigo und wenig später mit dem Beginn dreier von Kriegen geprägter Jahrzehnte schweren Belastungsproben ausgesetzt waren. Als recht unterschiedlich erwies sich da die Lage für das Gebiet um Ferrara: In der Hauptstadt hatte die herzogliche Kammer bereits ab dem späten 15. Jahrhundert zunehmend auch die gesamten, aus der städtischen Verwaltung herrührenden Einnahmen sowie insbesondere jene mit der Justiz verknüpften Einkünfte einer Überprüfung unterzogen. Doch soll es hier nicht das Anliegen sein, die unausweichlichen, tiefgreifenden Schwierigkeiten der Regierung darzulegen, die mit der Überwachung der Kammern im Herrschaftsgebiet verbunden waren. Vielmehr gilt es an dieser Stelle, den fortwährenden, die Tätigkeitsfelder betreffenden Konflikt zwischen Kammer und Kanzlei deutlich zu machen, der vornehmlich jenes Gebiet betraf, das eines Beitrags von beiden Seiten bedurfte, nämlich den Bereich der Justizverwaltung. Aber bereits Ende des 15. Jahrhunderts hatten die in die Provinzen gesandten Sonderkommissare des Herzogs feststellen können, daß es theoretisch unmöglich war, eine repressivere Richtung der Strafjustiz neben der zentralisierenden Macht der Bittschrift ebenso wie neben der althergebrachten Staatsfinanzierung mit Hilfe der Gerichtseinnahmen bestehen zu lassen. Mit Anbeginn eines neuen Herzogtums, bemühte sich der junge Ercole H. solchermaßen, die alte Vorgehensweise bezüglich des an den Fürsten gerichteten Hilfegesuchs - auch im Tausch gegen eine bescheidene Gegenleistung - mit der Durchsetzung eines neuen Prinzips von Autorität und politisch-rechtlicher Legitimität, das im Herrscher seinen Kernpunkt fand, zu versöhnen. Daraus ergab sich eine Verbindung aus friedlicher Einigung über den Straferlaß und Gnade nach Bezahlung, die in den Statuten neben steuerlichen Zugeständnissen zu finden sind. Ercole war sich der finanziellen Notlage bewußt und blieb den Traditionen seiner Vorfahren treu, als er versuchte, jenen neuen Grundsatz zu verwirklichen und zugleich mit der durchdachten Verteidigung der Interessen der Kammer in Einklang zu bringen. Das neue Monopol auf die Gesetzgebung war in Ferrara oder mehr noch aus der historischen Erfahrung einer Stadt entstanden, in der sich seit langer Zeit städtische Magistraturen und Organe des Hofes gegenseitig durchdrungen haben. Da die Untertanen der Provinzen nichts ähnliches erfahren hatten, forderten sie, neben der Anerkennung ihrer erweiterten alten Privilegien, Statuten und örtlichen Magistraturen, eine allgemeine Bekundung von liberalitas, die ihre schwierige wirtschaftliche Lage lindern sollte. Dies war nur der erste einer Reihe von Versuchen, die die zahlreichen und widersprüchlichen Notwendigkeiten der Regierung den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Erfordernissen anpassen sollten, jenen aber oftmals entgegenstanden und manches Mal allzu weit von ihnen entfernt waren.

"Sich der höchsten Gnade würdig zu machen" Das frühneuzeidiche Supplikenwesen als Instrument symbolischer Interaktion zwischen Untertanen und Obrigkeit

Von Harriet Rudolph

Die Supplik ist in den letzten Jahren ins Zentrum der historischen Analyse getreten 1. Das ist kein Zufall. Die Frühneuzeitforschung orientierte sich zunehmend darauf, nach der Bedeutung der Unterschichten als historische Akteure zu fragen. Diese Orientierung legt es nahe, die spezifischen Praktiken zu untersuchen, mit denen Untertanen ihre Interessen zu artikulieren und durchzusetzen versuchten. Eine wichtige Form der Interessenartikulation, die in der Frühen Neuzeit über Besitz- und Standesgrenzen hinweg angewandt wurde, verkörperte das Supplikenwesen2 • Die Analyse dieser Quellengattung, Zum Begriff Supplik allgemein G. Dolezalek, Art. Suppliken, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5, 1998, Sp. 94-97; Zedlers Universal-Lexikon, Bd. 41, 1732, Sp. 364-72; W Hülle, Das Supplikenwesen in Rechtssachen. Anlageplan für eine Dissertation, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., 90 (1973), S. 194-212; H. Neuhaus, Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen - Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 28 (1978), S. 110-190; 29 (1979), S. 63-97; 0. Ulbricht, .Angemaßte Leibeigenschaft". Supplikationen von schleswigschen Untertanen gegen ihre Gutsherren zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Demokratische Geschichte 6 (1991), S. 11-34; ders., Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: W Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 149-174; R. Fuhrmann / B. Kümin / A. Würgler, Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in: P Blickle (Hrsg.): Gemeinde und Staat im Alten Europa (Historische Zeitshrift. Beihefte, NF 25), München 1998, S. 267 -323, besonders S. 267-269; A. Holenstein, Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung. Zur Praxis .guter Policey" in Gemeinde und Staat des Ancien Regime am Beispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), in: P Blickle, Gemeinde, S. 325-357. Auch innerhalb der rechtshistorischen Forschung wurde diese Quellengattung inzwischen in das Zentrum einer Analyse gestellt: A. Bauer, Das Gnadenbitten in der Strafrechtspflege des 15. und 16. Jahrhunderts, dargestellt unter besonderer Berücksichtigung von Quellen der Vorarlberger Gerichtsbezirke Feldkirch und des Hinteren Bregenzerwaldes, Frankfurt a.M. 1996. 2 Unter dem Begriff Supplikenwesen fasse ich zunächst die Bittschriften, die Untertanen oder ihre Interessenvertreter an die Obrigkeit einreichten sowie die obrigkeitlichen Reaktionen auf die Gesuche. Dazu gehören aber auch die Rechtsnormen,

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des benutzten Vokabulars, der Argumentationsmuster und übermittelten Inhalte, erlaubt es, das Kräftepotential zu eruieren, das sich Bittsteller in einer konkreten historischen Situation zuschrieben. Sie zeigt auch, wie stark die Untertanen mit dem Rechts- und Verwaltungssystem ihres Territoriums vertraut waren oder welches soziale Kapital sie in einer problematischen Situation für sich nutzbar zu machen wußten. Die obrigkeitliche Reaktion auf die Supplik macht deutlich, inwiefern die Selbstwahrnehmung des Angeklagten/Advokaten der Einschätzung von Justiz und Staat entsprach, welchen Erfolg das Gesuch zeitigte und welche Motive für die Entscheidung ausschlaggebend waren. Supplizieren umfaßte weit mehr Formen der Aktion, als es der Begriff selbst

(supplicare - anflehen) nahe legt. In Suppliken wurde nicht nur gebeten und

gefleht, sondern verhandelt, taktiert, gefordert, gedroht. Hier wurden Rechtspositionen markiert, Verhandlungsmasse offeriert und Verhandlungsbedingungen gestellt. Im Rahmen meiner Untersuchungen zur Peinlichen Strafjustiz in einem geistlichen Territorium zeigte sich, daß die Supplik im Strafverfahren des 18. Jahrhunderts oft als Instrument der Verteidigung des Delinquenten fungierte, da die formelle Verteidigung durch einen Defensor entweder stark beschränkt oder überhaupt nicht zugelassen war. Sowohl das Rechtsverfahren als auch das Rechtsurteil wurden auf diese Weise zwischen Obrigkeit und Untertanen ausgehandelt4 . Eine Supplik ist per se Ausdruck eines Konfliktes 5• Ein zentrales Instrument der Konfliktregelung stellte in der Frühen Neuzeit das Supplikenwesen dar. Dies die diesen Kommunikationsprozeß zwischen Untertanen und Obrigkeit regelten und die gerade im 18. Jahrhundert ausdifferenziert wurden. Dazu gehören schließlich auch die Akteure: die Bittsteller, die Produzenten der Bittschriften sowie Beamte und Landesherren im frühneuzeitlichen Staat. } Vgl. dazu H. Rudolph, .Eine gelinde Regierungsart" . Peinliche Strafjustiz im geistlichen Territorium, das Fürstbistum Osnabrück (1716-1803), (Konflikte und KulturHistorische Perspektiven, 5) Konstanz 2001. 4 Im Rahmen einer formalen Verteidigung konnte der Defensor auf das Ermittlungsverfahren keinen Einfluß nehmen, da er erst nach Abschluß der Klage seine Arbeit aufnehmen durfte. Während er nur eine, im Höchstfall zwei Verteidigungs schriften verfassen durfte, konnten Suppliken jederzeit und auch wiederholt eingereicht werden. Mit Hilfe einer Supplik konnte der Delinquent zum Beispiel erreichen, daß ein bestimmter Zeuge gehört oder verworfen, das Verfahren beschleunigt oder die Untersuchungshaft ausgesetzt wurde. Am Prozeß der Aushandlung waren dabei nicht nur Obrigkeit und Täter oder dessen soziales Umfeld beteiligt. Auch Opfer oder .beleidigte" Gemeinden versuchten, über Suppliken Form und Ausmaß der Sanktionierung mitzubestimmen. 5 Konflikte entstehen als Folge der Ungleichheit zwischen mindestens zwei Parteien, die durch Individuen, soziale Gruppen, Schichten oder Klassen repräsentiert werden können. Die Ungleichheit kann sich auf Besitz, Machtpotentiale, Integrationsgrade in das soziale Umfeld oder spezifische Fähigkeiten beziehen. Ein Konflikt entsteht vor allem dann, wenn Teile der Gesellschaft ihren Anteil an einem knappen Gut gegen den

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möchte ich am Beispiel eines konkreten Falles demonstrieren, des sogenannten Gesmolder Bauerntumultes von 17946 • Dieser zunächst gewaltsam, schließlich von Seiten der Untertanen gewaltlos ausgetragene Konflikt zog sich insgesamt über fünf Jahre hin. Die vielfältigen Konfliktebenen und politischen Bezüge, die sich bei diesem Vorfall überlagerten, können im Rahmen dieses Beitrages nur angerissen werden. Ich konzentriere mich auf die Bedeutung, die dem Akt des Supplizierens bei der Regelung eines Herrschaftskonfliktes zukam, dem schon aufgrund seines Datums eine hohe Brisanz inne wohnte7 • Mein Beitrag gliedert sich in drei Teile. Ich schildere zunächst die Ereignisse des Ausgangskonfliktes und frage nach seinem sozio-politischen Kontext im Alten Reich. In einem zweiten Teil analysiere ich die im Verlauf des Konfliktes eingereichten Suppliken. Hierbei stehen folgende Fragen im Vordergrund: Wer supplizierte überhaupt? Wer verfaßte die Suppliken? Welche Argumentationsmuster wurden gebraucht, welche Inhalte transportiert? Welche Ziele verfolgten die Bittsteller? Wie sah die obrigkeitliche Reaktion auf die Bittschriften aus? Hier geht es vor allem auch um jene Kriterien, die den Ausschlag für die Entscheidung über ein Gesuch gaben. Im dritten und letzten Teil ich ein theoretisches Modell vorstellen, das die gesellschaftliche Ordnungsfunktion und die innere Logik aufzeigt, dieder sozialen Praxis des Supplizierens innewohnte. Dieser Abschnitt zielt auf eine grundsätzliche Bewertung des Supplikenwesens in der Frühen Neuzeit.

Willen anderer ausbauen wollen, die sich gegen diese Absicht zur Wehr setzen. Es gibt verschiedene Formen des Konfliktaustrags: gewaltsame und gewaltlose, ungeregelte und geregelte, konfliktlösende und konfliktregelnde. Zum hier verwendeten Konfliktbegriff vgl. R. Dahrendor/, Konflikt und Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft, München 1972, S. 20-47, besodenrs S. 23; allgemein T Bonacker, Konflikttheorien. Eine sozialwissenschaftliehe Einführung mit Quellen, Opladen 1996; sowie die betreffenden Artikel in: W Fuchs-Heinritz / R. Lautmann /0. Rammstedt / H. Wienold (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, 3. Aufl., 1995, S. 356-358. V gl. auch eh. van den Heuvel / G. van den Heuvel, Begrenzte Politisierung während der Französischen Revolution. Der .Gesmolder Bauerntumult" von 1794 im Hochstift Osnabrück, in: H. Berding (Hrsg.): Soziale Unruhen in Deutschland (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 12), Göttingen 1988; dies., Reaktionen auf die Französische Revolution im Hochstift Osnabrück, in: Osnabrückische Mitteilungen, 94 (1989), S. 195-218. Mit dem Begriff Herrschaftskonflikt ist ein Konflikt zwischen Vertretern unterschiedlicher sozialer Schichten gemeint, der daraus resultiert, daß eine Partei ihre schichtspezifischen Handlungskompetenzen in der Wahrnehmung und zum Nachteil der anderen Partei überschreitet. Vgl. dazu H. Berding, Soziale Protestbewegungen in Deutschland zur Zeit der Französischen Revolution, in: H. Reinalter, Französische Revolution, S. 93-107, hier S. 94 f.

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I. Der Gesmolder Bauerntumult

1. Ereignisse Am 11. August 1794 kommt es im Gesmolder Freien Hagen zu einer Schlägerei zwischen dem Müller der Krusemühle,Johann Friedrich Möller, und dem Knecht der Gesmolder Schlossmühle8 • Der Besitzer des Gutes Gesmold und Grundherr dieser beiden Untertanen, Freiherr Friedrich von Hammerstein, ist mit Möller ohnehin gerade in einen Rechtsstreit verwickelt. Er nutzt deshalb die willkommene Gelegenheit, den Krusemüller mit drakonischen Strafmaßnahmen einzuschüchtern. In einer Verhandlung des Patrimonialgerichtes am 26. August 1794 verurteilt von Hammerstein Möller zu acht Tagen Gefängnis bei Wasser und Brot, zur Zahlung der Gerichtskosten und zu einem Schmerzensgeld an den Mühlenknecht. Die Strafe wird sofort vollzogen. Diese willkürliche und vollkommen überzogene Sanktion erregt sofort den Protest der Gesmolder Untertanen, die sich darauf bei der Land- und Justizkanzlei beschweren9• Die Kanzlei, oberste Justizbehörde des Hochstiftes und Appellationsinstanz für die grundherrliche Rechtsprechung, reagiert sofort. Sie fordert von Hammerstein schriftlich auf, den Müller freizulassen. Der Grundherr denkt überhaupt nicht daran. Daraufhin stürmen am 1. September 1794 einige hundert Bauern das Gesmolder Wasserschloß. Bewaffnet mit Gewehren, Mistgabeln, Knüppeln und Äxten befreit die Menge den Müller aus dem Turm und reißt diesen anschließend bis auf die Grundmauern nieder. Außerdem erpressen die Bauern von ihrem Grundherrn eine Reihe von Vergünstigungen. So wollen sie zum Beispiel ihre Pachtgelder in Zukunft nicht mehr in Gold, sondern in gängiger Münze zahlen. Dazu fordern sie für jeden Beteiligten Branntwein, Brot, Schinken und 10 Reichstaler. Von Hammerstein bleibt angesichts der Übermacht der Menge nicht anderes übrig, als auf die Forderungen einzugehen. Mit der Bemerkung, so solle es in Zukunft jedem gehen, "der seinen Eigenbehörigen die Haut über die Ohren ziehen wolle", und unter demonstrativen Gewehrschüssen, ziehen sich die Bauern zurück lO • Von Hammerstein flieht sofort aus dem Hochstift, nicht ohne zuvor jedoch den Vorfall bei der Land- und Justizkanzlei anzuzeigen. 8 Der Schloßknecht hatte versucht, Möller das Wasser abzugraben. Die Überlieferung zu diesem Fall findet sich in Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück (künftig: StAOS), Dep. 55b und Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 54. Zur Entwicklung der Behörde und zu ihrem Aufgabenprofil eh. van den Heuvel, Beamtenschaft und Territorialstaat. Behördenentwicklung und Sozialstruktur der Beamtenschaft im Hochstift Osnabrück 1550-1800 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen, 24), Osnabrück 1984; zu ihrer Rolle bei der Strafjustiz H. Rudolph, Regierungsart, Kap. C.III.1. 10 StAOS, Dep. 55b, Nr. 2639, Protokoll des Gutsverwalters über die Abläufe am 1. September.

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Die Behörde ist im Zwiespalt. Seit Jahrzehnten streitet sie mit von Hammerstein vor dem Reichskammergericht um das Ausmaß seiner Gerechtsame. Den jüngsten Höhepunkt des Konfliktes verkörpert die Weigerung von Hammersteins, den Müller auf Geheiß der Kanzlei freizulassen. Mit einer gewissen Schadenfreude stellt die Behörde deshalb fest, daß sich von Hammerstein den Tumult selbst zuzuschreiben habe 11 • Anderseits können die Justizräte diesen Akt untertänischer Selbstjustiz auch nicht ohne Weiteres hinnehmen. Ihrer Ansicht nach wäre es die Pflicht der Untertanen gewesen, sich erneut an die Kanzlei zu wenden. Um die "aufrührerische Thathandlung" zu untersuchen, zitiert die Justizkanzlei am 4. September 1794 deshalb sechs der am Aufstand beteiligten Bauern zum Verhör nach Osnabrückl2 • Die Isolation der »Rädelsführer" von ihrem sozialen Umfeld und ihre sofortige und exemplarische Bestrafung soll dem Aufruhr die Führung nehmen und so eine Ausweitung des Konfliktes verhindern. Der Plan der Beamten schlägt fehl; er erweist sich sogar als kontraproduktiv. Die Vorgeladenen erscheinen nicht, wie angenommen, allein in der Stadt. Sie werden von 300 weiteren Bauern begleitet, die sich »in offenbaren und beispiellosen Trotz der Obrigkeit" 13 vor der neuerbauten Justizkanzlei aufbauen. Die Menge gibt vor, lediglich erschienen zu sein, um sicherzustellen, daß kein Unrecht geschehe. Sie fordern, daß das, was ihren Nachbarn passiere, auch ihnen widerfahren solle. Nach Ansicht der Kanzlei geht es den Bauern darum, jede Bestrafung zu verhindern, wenn nötig auch mit Gewalt l4 • Da sich der Anlaß des Aufmarsches in Windeseile in der Stadt verbreitet, wächst die Menge schnell auf 1.000 Menschen. Die Drohung der Kanzlei, wenn die Untertanen nicht sofort nach Hause gingen, werde man sie als» Widersetzige" ansehen und dementsprechend mit ihnen verfahren, verpufft wirkungslos l5 . Einer derartigen Übermacht ist die Territorialregierung nicht gewachsen, zumal die Justizkanzlei den »hiesigen Pöbel" - die städtischen Unterschichten - als besonders gewaltbereit einschätzt l6 . Oberstes Ziel aller Aktionen der Territorialbehörden muß es deshalb sein, eine weitere Eskalation der Situation zu vermeiden 17 • In Abstimmung mit dem Geheimen Rat beschließt die Kanzlei erstens, die Untersuchung 11 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 65, Bericht des Geheimen Rates an den Landesherrn vom 27. September 1794. 12 Im folgenden StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 87-94. 13 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 89. 14 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI, 93 f. 15 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 111. 16 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 15. 17 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 33, Bericht des Geheimen Rates an den Landesherrn vom 11. September 1794; im Folgenden vgl. auch eh. van den Heuvel / G. van den Heuvel, Politisierung, S. 115.

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des Vorganges wieder auf das Land zu verlagern. Zweitens erscheint es den Beamten klüger, zunächst bei Kurhannover militärische Unterstützung anzufordern, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Zufrieden über den erreichten Teilerfolg ziehen die Bauern mitsamt den Vorgeladenen ab. In den folgenden Wochen und Monaten verfolgt die Kanzlei eine doppelte Strategie. Einerseits strengt sie vor dem Reichskammergericht eine Klage gegen den Grundherrn Friedrich von Hammerstein an. Damit soll den Untertanen signalisiert werden, daß die Obrigkeit Rechtsbrüche unabhängig von der sozialen Stellung der betreffenden Person bestraft l8 . Andererseits richtet die Kanzlei eine Untersuchungskommission ein, die die Hauptverantwortlichen für den Tumult ermitteln und einer gebührenden Bestrafung zuführen so1l19. Aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen mit Frankreich ziehen sich die Ermittlungen bis 1796 hin. Am Ende verurteilt die Justizkanzlei insgesamt elf Bauern: drei davon lediglich zu Geld-, acht zu Freiheitsstrafen zwischen einigen Wochen und drei Jahren20 • Die Urteile werden jedoch nicht sofort und auch nur zum Teil vollzogen. Das Ausmaß der tatsächlich vollzogenen Sanktion ist das Ergebnis eines Kommunikationsprozesses zwischen Untertanen und Obrigkeit, der jedoch nicht erst nach Publikation des Urteils, sondern bereits während des Rechtsverfahrens einsetzt. Schon zwei Tage, nachdem die Untersuchungskommission ihre Arbeit aufgenommen hat, am 8. September 1794, trifft die erste Supplik beim Geheimen Rat in Osnabrück ein. 2. Strukturen

Der Gesmolder Bauemtumult von 1794 ist kein singulärer Fall. Er ordnet sich ein in die lange Reihe gewaltsam ausgetragener Konflikte zwischen Untertanen und Obrigkeiten im Alten Reich. Der Fall liegt im Fadenkreuz von zwei strukturellen Faktoren, die eine zentrale Bedeutung für die Ursachen, Ablaufmuster und Regulierungsmechanismen von gewaltsamen Auseinandersetzungen 18 Im Bericht des Geheimen Rates an den Landesherrn heißt es dazu, daß von Hammerstein angeklagt werden solle, "damit die unruhigen Unterthanen sich überzeuget sehen, daß die Nichtbefolgung gerichtlicher Erkenntnisse durchgängig geahndet werde", StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 65. Außerdem bietet der Vorfall eine willkommene Gelegenheit, die staatliche Sanktionskompetenz auf Kosten der grundherrlichen auszuweiten. Ziel der Klage ist deshalb der vollständige Entzug der Patrimonialgerichtsbarkeit, der allerdings nicht erreicht wurde. 19 Die Untersuchungskommission wird aus dem Kanzleidirektor Lodtmann, dem Kanzleirat Dykhoff sowie dem Kanzleisekretär Docem gebildet. 20 Eine dreijährige Zuchthausstrafe verkörpert im Vergleich zu anderen Beispielen eine hohe Sanktion. So lag laut Kuhn die höchste Strafe für ein derartiges Vergehen, die in Württemberg in diesem Zeitraum verhängt wurde, bei einem Jahr; A. Kuhn, Volksunruhen in Württemberg 1789-1801 (Aufklärung und Revolution. Beiträge zur Geschichte des bürgerlichen Zeitalters, 2), Stuttgart 1991, S. 20.

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am Ende der Frühneuzeit besaßen: 1. der Herrschaftskonflikte im Alten Reich21 , 2. der Auswirkungen der Französischen Revolution auf deutschem Boden22 • Helmut Berding unterscheidet vier Formen frühneuzeitlicher Herrschaftskonflikte: Bauernrevolten, Bürgerproteste, Handwerkeraufstände und Unterschichtentumulte23 • Bauernrevolten sind nicht nur die häufigste Form des gewaltsamen Herrschaftskonfliktes in der Frühen Neuzeit, sie sind ein wesentliches 21 Zu diesem Problemkomplex stellvertretend W Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Gesellschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau, 6), Stuttgart 1980; W Troßbach, Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet 1648-1806 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, 52), Darmstadt 1985; ders., Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648-1806, Weingarten 1987; P Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft, 1300-1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 1), München 1988; A, Herzig, Unterschichtenprotest in Deutschland 1790-1870, Göttingen 1988; H Gabel, Widerstand und Kooperation. Studien zur politischen Kultur rheinischer und maasländischer Kleinterritorien (16481794), Tübingen 1995; H-P Ullmann (Hrsg.), Protest und Widerstand (Geschichte und Gesellschaft, 21, Hbd. 2), Göttingen 1995; A. Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit: Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert (Frühneuzeit-Forschungen, 1), Tübingen 1995; D.M. Luebke, His Majesty's Rebels: Communities, Factions, and Rural Revolt in the Black Forrest, 1725-1745, Ithaca NY 1997; neuerdings auch M. Häberlein (Hrsg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.-18. Jahrhundert), (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven, 2) Konstanz 1999. 22 Vgl. dazu]. Voss (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution, München 1983, S. 98 f.; H Berding / E. Franfois / H-P Ullmann (Hrsg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution, Frankfurt a.M. 1989; A. Herzig / 1. Stephan / HG. Winkler (Hrsg.), Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland und das Reich, 2 Bde., Hamburg 1989; E. Fehrenbach, Bäuerlicher Widerstand und ländliche Gesellschaft zur Zeit der Französischen Revolution, in: P Hütlenberger / H. Molitor (Hrsg.), Franzosen und Deutsche am Rhein: 1789-1918-1945 (Düsseldorfer Schriften zur neueren Landesgeschichte und zur Geschichte NordrheinWestfalens, 23), Essen 1989, S. 83-89; V. Rödel (Hrsg.), Die Französische Revolution und die Oberrheinlande (1789-1798), (Oberrheinische Studien, 9) Sigmaringen 1991; H Reinalter (Hrsg.), Die Französische Revolution, Mitteleuropa und Italien (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle "Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770-1850, 6), Frankfurt a.M. 1992; M. Martin, Revolution in der Provinz. Die Französische Revolution in Landau und der Südpfalz (Schriftenreihe zur Geschichte der Stadt Landau in der Pfalz, 2), Landau 1995. 23 H Berding, Soziale Protestbewegungen in Deutschland zur Zeit der Französischen Revolution, in: H Reinalter (Hrsg.), Revolution, S. 93-107, hier S. 94-96. Während die ersten drei Formen eindeutige, klar abgrenzbare Konfliktarten verkörpern, scheint die letzte eine Art Sammelbecken für alle übrigen Formen zu sein. Vgl. dazu auch die Unterscheidung der Konfliktformen nach der Austragsart bei Gabel, die allerdings in der Praxis nur begrenzt sinnvoll erscheint, da sich gewaltsamer Konfliktaustrag, Austrag vor dem RKG oder innerhalb des Beschwerde- und Petitionsrechtes häufig überschneiden, so auch im vorliegenden Fall; H Gabel, Bäuerlicher Widerstand im Raum zwischen Maas und Niederrhein im Zeitalter der Französischen Revolution, in: V. Rödel (Hrsg.), Die Französische Revolution, S. 45-66, hier S. 60.

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Kennzeichen der ständischen Gesellschaft24 • Die vielfältigen Ursachen solcher Konflikte lassen sich zumeist auf ökonomische Sachverhalte zurückführen. So auch hier: Ausgangspunkt des Konfliktes war zum einen der Rechtsstreit zwischen dem Grundherrn Friedrich von Hammerstein und dem Müller Möller um die Bezahlung der Reparaturkosten für die Mühle, zum anderen die Knappheit der Produktionsressource Wasser, die zum Zeitpunkt der tätlichen Auseinandersetzung offenbar nicht zum Betreiben beider Mühlen ausreichte. Das Abgraben des Wassers kam in der Frühen Neuzeit bekanntlich so häufig vor, daß dieser Vorgang sogar eine sprichwörtliche Qualität erhielt. Im 18. Jahrhundert nahmen die gewaltsam ausgetragenen Konflikte zwischen Untertanen und Grundherrschaft sowie zwischen Untertanen und Territorialgewalt durch einschneidende sozioökonomische und politische Veränderungen ZU25 • Das stärkere Regelungsbedürfnis des Staates im Zuge der intensivierten Territorialisierung kollidierte mit althergebrachten Rechten und Produktionsweisen der Bauern. Der erhebliche Lastenanstieg durch wachsende finanzielle Bedürfnisse des frühmodernen Staates und das gleichzeitig auftretende Bevölkerungswachstum führten zu einer Verknappung der Ressourcen. Die daraus resultierenden Konflikte wurden einerseits gewaltsam, andererseits auch vor den inzwischen weitgehend etablierten territorialen wie supraterritorialen Rechtsprechungsinstanzen ausgetragen. Die im Zuge der neueren Reichskammergerichtsforschung ausgewerteten Prozeßakten spiegeln eine Vielzahl solcher Herrschaftskonflikte26 • Selbst dort, wo es nicht zu einer Klage vor dieser Instanz kam, drohten Untertanen häufig damit. Dies war auch in Osnabrück der Fall. Das Reichskammergericht war nicht nur für seine untertanenfreundliche Rechtsprechung bekannt, sondern seine Entscheidungen wurden von der Territorialherrschaft auch als Eingriff in die eigene Gerechtsame gesehen. Deshalb waren die Reaktionsmuster der Osnabrücker Justizkanzlei stark von 24 Für Peter Blickle sind Bauernunruhen der ständischen Gesellschaft" wesenhaft, weil sie vor Ausbildung der Stände noch nicht und nach Auflösung der Stände nicht mehr stattfinden« (ders., Unruhen, S. 5). Allerdings ist die absolute Beschränkung dieses Phänomens auf die Ständegesellschaft heute nicht mehr haltbar. Agrarrevolten kennt auch die jüngste Vergangenheit. Trotz auf der Hand liegender Differenzen gibt es in bezug auf Ursachen, Ablaufmuster und Symbolgehalt der Aktionen bemerkenswerte Parallelen zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart, die einen systematischen Vergleich lohnen würden. 25 Siehe auch H. Berding, Soziale Protestbewegungen, S. 95 f. 26 Vgl. dazu ausführlich R. Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 33), Köln 1999; sowie H. Gabel, Bäuerlicher Widerstand, S. 62-64; C. Ulbrich, Rheingrenze, Revolten und Französische Revolution, in: V. Rödel (Hrsg.), Die Französische Revolution, S. 223244, hier S. 227 f.; sowie W Troßbach, Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger, illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied (Deutschlands 18. Jahrhundert, Studien 1), Fulda 1991, besonders S. 62-140,263-423, hier S. 130-140.

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dem Ziel geprägt, ein Rechtsverfahren auf Reichsebene zu vermeiden. Die tatsächliche oder nur vermeintliche Intention einer RKG-Klage auf Seiten der Bauern betrachteten die Räte geradezu als »staatsfeindlichen" Akt und reagierten sofort27 • Im Zuge der Verrechtlichung wurde das staatliche Gewaltmonopol nicht nur verstärkt propagiert, sondern - zumindest im Hochstift Osnabrück - auch verstärkt durchgesetzt. Die gewaltsame Selbsthilfe der Gesmolder Untertanen konnte die Territorialregierung deshalb nicht dulden28 • Allerdings ging sie bei der Sanktionierung äußerst vorsichtig zu Werk, um eine Verlagerung des Konfliktes auf die Reichsebene sowie eine gewaltsame Eskalation zu vermeiden. Das Hochstift besaß keine eigenen Truppen; in der Stadt Osnabrück lag lediglich eine kleine hannoversche Garnison, die bei einer bewaffneten Auseinandersetzung mit den Bauern keine ernsthafte Gegenwehr hätte bieten können. Die Territorialisierung führte jedoch nicht nur zu Herrschaftskonflikten zwischen Untertanen und »Staat", sondern auch zwischen Territorium und Grundherrschaft. Die zunehmende Einschränkung der grundherrlichen Jurisdiktionskompetenzen durch staatliche Rechtsprechungsinstanzen forderte den Widerstand der Grundherren heraus. Gerade im Hochstift Osnabrück war die Hochgerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert bereits stark zentralisiert. Die einzige Grundherrschaft, die sich wenigstens Teile des Halsrechtes bewahren konnte, war der Freie Hagen Gesmold29 • Schon vor dem Gesmolder Bauerntumult war 27 So bittet der Geheime Rat den Reichshofratsagenten Matolei zu Wetzlar am 21. November 1794, einen Prozeß der Bauern gegen ihre Landesherrschaft zu verhindern oder - wenn dies nicht möglich sei - zu einer schnellen Entscheidung zu bringen, da die Bauern beabsichtigten, das Verfahren innerhalb des Territoriums durch die Klage zu verzögern. StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 54, BI. 124-126. Zur Bewertung einer Untertanenklage vor dem RKG vgl. auch schon bei C. Ulbrich, Rheingrenze, S. 228 f. 28 Auch die Untertanen hatten zunächst eine gewaltlose - verrechtlichte - Regelung des Konfliktes vorgezogen und die Justizkanzlei um Unterstützung angerufen. Erst als der Grundherr auf deren Mandat zur Freilassung Möllers nicht reagiert, stürmen die Bauern das Schloß. Dieses Verhalten ist in sich soweit logisch, als der Müller bereits mehrere Tage im Turm gesessen hatte. Ehe die Territorialbehörde weitere Schritte eingeleitet hätte, wäre die gesamte Gefängnisstrafe bereits abgesessen gewesen. Wenn die Bauern den Vollzug des ihrer Ansicht nach unrechtmäßigen Urteils verhindern wollten, mußten sie in dem Moment handeln, als der Rechtsweg zwar theoretisch erfolgreich war, aber ohne exekutive Wirkung blieb. 29 Vgl. dazu die Verordnungen, die Gerechtsame des Hauses Gesmold betreffend, in: Codex Constitutionum Osnabrugensium oder Sammlung von Verordnungen, generellen Bescheiden, Reskripten und anderen erläuternden Verfügungen, welche das Hochstift Osnabrück betreffen (künftig: CCO), 2 Theile, Osnabrück 1783-1819, Th. 1, S. 11. Der Besitzer des Gutes Gesmold hat das Recht auf Ge- und Verbot, jedoch nicht auf die Bestrafung peinlicher Verbrechen. Hier darf er lediglich den Arrest vornehmen und muß den Verdächtigen dann auf dem Amt Grönenberg abliefern, in dessen Gebiet der Freie Hagen liegt. Nur bei Totschlag und Landesverrat darf die Territorialgewalt

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es mehrfach zu Justizstreitigkeiten zwischen der Kanzlei und dem Grundherren gekommen, die zur Klage von Hammersteins vor dem Reichskammergericht geführt hatten 30 . Jetzt sah die Kanzlei die Gelegenheit gekommen, sich der ungeliebten grundherrlichen Strafkompetenz gänzlich zu entledigen. Unter Verweis auf die in zweifacher Hinsicht geübte Rechtswillkür klagte die Kanzlei vor dem Reichskammergericht auf Entzug der Strafkompetenz31 . Allerdings erfolglos: Das Reichskammergericht entschied erneut zu Gunsten des Grundherrn: Das Urteil gegen den Müller wurde als rechtmäßig und zudem keineswegs als Eingriff in die landesherrliche Jurisdiktionskompetenz gewertet'2. Die konfliktträchtige Situation wurde noch verschärft durch das Ereignis der Französischen Revolution 1789. So ist im Reich ab dem Sommer 1789 eine spürbare Zunahme der gewaltsamen Konflikte zu bemerken". Die Forschung hat festgestellt, daß sich die gewaltsamen Aktionen der Untertanen gegen ihre Obrigkeit erst im Laufe des Jahres 1794 mit politischer Programmatik aufludenH • Das gilt in wohl besonders starkem Maße für den Gesmolder Bauerntumult. Das - für die Befreiung des Müllers keineswegs notwendige - Niederreißen des Turmes verkörpert eine Art Bastille-Sturm en miniature 35 • Dieser Handlung kommt eine hohe symbolische Bedeutung zu, da der Turm als Sanktionsinstrument ein zentrales Herrschaftsinstrument darstellte. Mit seiner Zerstörung weisen die Bauern die grundherrliche Sanktionskompetenz zurück. Vereinzelt erhobene Forderungen der Bauern nach "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" und nach Aufhebung der Leibeigenschaft sprechen dafür, daß es bei diesem Vorfall um weit mehr als um die Befreiung eines zu Unrecht eingekerkerten Müllers ging und daß zumindest einige der beteiligten Akteure sich am Pariser Beispiel orientierten. Auch die Tatsache, daß sich der zunächst lokale Konflikt derart schnell ausgebreitet und unterschiedliche soziale Schichten mobilisiert hatte, spricht für eine "revolutionäre" Grundstimmung. So waren bei der Erstürmung des Gesmolder Schlosses nicht nur Untertanen des Freien Hagens, sondern auch benachbarter Grundherren dabei gewesen. In der Stadt Osnabrück hatten sich den Bauern sofort städtische Unterschichten angeschlossen. selbst in den Freien Hagen eindringen und Verhaftungen durchführen. Ebd., S. 804 und 810. 30 Vgl. dazu CCO, 111. 1, S. 810-813 und 1730-1732. Der Prozeß hatte sich über Jahrzehnte hingezogen und am Ende die Jurisdiktionskompetenz von Hammersteins bestätigt. 31 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 54, BI. 74-82, besonders 81. 32 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 54, BI. 452-464. " H. Berding, Soziale Protestbewegungen, S. 97. 34 So u.a. M. Martin, Revolution in der Provinz, S. 50. 35 Anderes Beispiel bei A. Kuhn, Volksunruhen, S. 15. Im Übergabeverzeichnis des Gutes von 1664 (CCO, Th.l, S. 804) wird der Turm als stellenweise 8 Fuß dick geschildert. Seine Zerstörung erforderte damit durchaus einen erheblichen Aufwand.

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Wenngleich bei den Aktionen der Untertanen letztlich fraglich bleiben muß, wie stark diese tatsächlich durch die Rezeption der Französischen Revolution geprägt wurden, so ist deren Bedeutung für die Reaktionen der Obrigkeit zweifellos als hoch zu bewerten. Die Angst vor "französischen Verhältnissen", vor einem "Umsturz der Landesverfassung"36 wurde durch das Beispiel der Französischen Revolution erheblich verstärkt, zumal in Osnabrück gleichzeitig weitere unter dem Label "Widersetzlichkeit" gefaßte Delikte abgeurteilt werden mußten37 • So wird verständlich, weshalb die Territorialregierung schon kurz nach Beginn des Tumultes von Kurhannover Truppen anforderte. Sämtliche Aktionen der Kanzlei im Zusammenhang mit der Sanktion für die am Tumult beteiligten Rädelsführer wurden bis zu dem Zeitpunkt ausgesetzt, an dem die militärische Verstärkung eintraf, um dann zunächst um so härtere Sanktionen auszusprechen. Entscheidend ist hierbei, daß weniger der Akt der Selbstjustiz - das Erstürmen und teilweise Plündern des Schlosses - sanktioniert wurde, sondern weit eher der Aufmarsch und die damit indirekt erzwungene Herausgabe der vorgeladenen Bauern. Auch die lange Dauer des Rechtsverfahrens dürfte den militärischen Auseinandersetzungen mit Frankreich als Folge der Französischen Revolution zuzuschreiben sein, in die das Hochstift durch Truppendurchmärsche und Einquartierungen einbezogen wurde. Wie hoch die Einflußpotentiale dieser beiden Faktoren im Verhältnis zueinander sind, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit bestimmen. Entscheidend ist: Das Zusammenwirken beider determinierte die Handlungsspielräume von Untertanen und Obrigkeit. Es verteilte die Rollen und prägte die Aktionen beider Seiten bis hin zu den gewählten Konfliktaustragsmustern und Befriedungsstrategien. Obwohl in der Praxis schwer abgrenzbar, wäre hier zu unterscheiden zwischen "objektiven, faktischen" Auswirkungen, wie zum Beispiel dem bewaffneten Konflikt mit Frankreich, der militärische Ressourcen band, die damit für den Einsatz bei inneren Konfliktfällen ausfielen, und "subjektiven" Faktoren wie der Wahrnehmung/Bewertung des Ereignisses Französische Revolution. Das Beispiel der Französischen Revolution schürte auf Seiten der Osnabrückischen Territorialregierung beträchtliche Umsturzängste und prägte damit die im folgenden vorgestellten Reaktionsmuster entscheidend 38 . Die StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 54, BI. 93. }7 So war zum Beispiel kurz zuvor erst ein stadtosnabrückischer Untertan wegen widersetzlichen Verhaltens zum Zuchthaus verurteilt worden, der nun vom Landesherrn forderte, die Richter dieses Territoriums als " Bösewichter, Tyrannen und Betrüger" allesamt köpfen zu lassen, wenn er eine Revolution wie jene in Frankreich vermeiden wolle. Fall in: StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 55, BI. 6 f. 38 Gleichzeitig scheint jedoch der Verweis auf die gemeinwohlschädlichen Folgen der Französischen Revolution auch zur Legitimierung des eigenen - harten - Vorgehens gegen die Untertanen instrumentalisiert worden zu sein. Die Abgrenzung tatsächlich 36

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Bauern scheinen sich dagegen lediglich anfangs - beim Sturm auf das Gesmolder Wasserschloß und beim Aufmarsch vor der Justizkanzlei - partiell an französischen Vorbildern orientiert zu haben39 . Der punktuelle Verweis auf die Französische Revolution erweist sich eher als "Verbalradikalismus"4o. Für beide Seiten gilt: Die in der Frühen Neuzeit etablierten Mechanismen der gewaltfreien Konfliktregulierung bleiben trotz der Französischen Revolution in Kraft. Wie diese konkret aussahen, wird im folgenden Abschnitt dargestellt. 11. Suppliken und obrigkeidiche Reaktion

1. Die Untertanen Im Zusammenhang mit dem Gesmolder Bauerntumult sind insgesamt 35 Suppliken überliefert. Die Bittschriften lassen sich nach verschiedenen Kriterien kategorisieren: nach den Begünstigten, nach den Initiatoren, nach dem Zeitpunkt, nach den intendierten Ergebnissen. Verteilung der Suppliken auf die Supplikanten, Gesmolder Bauemtumult, Hochstift Osnabrück 1794-179941 Supplikanten

1 (Werries) 1 (Ostenfeld)

2 (Gebrüder Stockau)42 6 (verschiedene)43 1 (Rolfs) 1 (Gemeinheit Holte)

eingereichte Suppliken 12

7 6

3 2 1

vorhandener Ängste als Handlungsmotiv von vermeintlich bestehenden und nur vorgeschobenen erscheint in der Praxis schwierig. 39 Auf diesen Unterschied zwischen Obrigkeit und Untertanen verweist auch schon C. Ulbrich, Rheingrenze, S. 237 und 239. 40 Im folgenden H. Gabel, Bäuerlicher Widerstand, S. 62 und 64.

41 In der folgenden Ausstellung ist dargestellt, wie oft jeder der Betroffenen suppliziert hat, unabhängig davon, ob es sich um ein Einzel- oder ein Sammelgesuch handelt. Deshalb ist die Summe der Supplikationsvorgänge höher als die oben ange· gebene Gesamtsumme von 35 Suppliken. 42 Die Gebrüder Stock au sowie deren Ehefrauen supplizierten regelmäßig gemeinsam. 43 Hierbei handelt es sich um die Untertanen Meinersmann, Wemhoff, Bierbaum, Gartmann, Sundermeier und pöhler.

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Die Tabelle verdeutlicht, daß für alle Supplikanten mehrfach Bittschriften eingereicht wurden. Die Coloni Werries und Ostenfeld sowie die Gebrüder Stockau supplizierten sogar ausgesprochen häufig. Diese Tatsache belegt, daß die Suppliken anfangs nicht den gewünschten Effekt zeitigten. Auf die Gründe dafür wird im folgenden einzugehen sein. Von den überlieferten Suppliken beziehen sich 31 Suppliken auf einzelne Personen, 4 aufPersonengruppen. Solche Sammelsuppliken sind im Zusammenhang mit der Strafjustiz sonst sehr selten überliefert. Im vorliegenden Konfliktfall können sie als Ausdruck eines Gemeinschaftsgefühls gewertet werden, das sich aus der kollektiven Frontstellung der Holter Untertanen gegen diejustizkanzlei gespeist haben dürfte. Dabei fällt auf, daß sich jene beiden Bauern, die am häufigsten supplizierten, an diesen Gemeinschaftsaktionen nicht beteiligten. Ostenfeld und Werries waren den übrigen Angeklagten sowohl in bezug auf die Besitzverhältnisse als auch auf die soziale Rangstellung innerhalb der Gemeinde überlegen44 • Daß diese soziale Schicht häufig eine besonders hohe Ausdauer beim Aushandeln der Strafe bewies, läßt sich auch beim Supplikenwesen im Zusammenhang mit der peinlichen Strafjustiz feststellen. Hierfür dürften die höhere Vertrautheit im Umgang mit Recht und Justiz sowie die stärkeren Kontakte zu der entsprechenden Berufsschicht verantwortlich gewesen sein. Hinzu kommt, daß diese Delinquenten eine weit höhere Verhandlungsmasse in den Aushandlungsprozeß einbringen konnten. Sie konnten sozial hochgestellte und deshalb vertrauenswürdige Bürgen stellen45 ; sie konnten Kautionen bieten, Gegenleistungen offerieren oder auch - als besonderen Gnadengrund - auf ihre Verdienste um das Gemeinwohl verweisen. Allerdings verfügten im vorliegenden Fall alle Angeklagten über ein gewisses Vermögen. Dies zeigt schon die Höhe der am Ende ausgehandelten Geldstrafen, die einen Teil der Gefängnisstrafe ersetzten. Sie lag in jedem Fall deutlich über 100 Reichstaler. Alle für ihre Teilhabe am Tumult bestraften Personen waren im Hochstift angesessen. Bei der Selektion dieser Untertanen als Sanktionsobjekte handelte es sich um eine bewußte Sanktions strategie der Osnabrücker Justizkanzlei. Sie zielte darauf ab, sozial einflußreiche Personen zu isolieren 44 Von Werries heißt es zum Beispiel, er besitze mehr Vieh als "manche ganze Baurschaft" und beliefere fast alle im Land stationierten Preußischen Truppen mit Nahrungsmitteln. Sowohl Werries als auch Ostenfeld boten Kautionen von mehreren Tausend Reichstalern an, um aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden, StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 251. 45 Das höhere soziale Kapital zeigte sich an der Zahl und dem Umfang der beigefügten Zeugnisse. Während der Pfarrer für Ostenfeld ein sehr umfangreiches und von Sympathie getragenes Leumundszeugnis verfaßte, brachte er für den verurteilten Pöhler gerade einmal zehn Zeilen zu Papier, in denen er lediglich den angegriffenen Gesundheitszustand des Delinquenten bestätigte, StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 390 und 430.

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und somit dem Aufstand die Führung zu nehmen. Die Beteiligung gerade dieser Klientel an dem Tumult erschien der Kanzlei als besonders gefährlich, da sie davon ausging, daß die lokale Unterschicht ihr Handeln am Vorbild der lokalen Oberschicht ausrichtete46 • Den größten Teil der Suppliken reichten die Angeklagten selbst ein; nur acht Bittschriften wurden durch andere Personen initiiert. Hierbei handelte es sich um die Ehefrauen und die Gutsherren der Angeklagten sowie in einem Fall um eine ganze Gemeinde. 47 Entsprechend den rechtlichen Vorgaben, die im Hochstift für das Supplikenwesen galten, sind die Suppliken von professionellen Advokaten verfaßt worden 48 • Dies belegen nicht nur die formalen Übereinstimmungen, sondern auch der Vergleich von Sprachstil und Argumentationsgehalt49 . Mit wenigen Ausnahmen verwenden die Verfasser die gängigen Anredeformen und Einleitungs- sowie Endfloskeln50 • Die Suppliken beginnen regelmäßig mit einer kurzen Schilderung des Sachverhaltes. Danach entwickelt der Verfasser mögliche Verteidigungsstrategien oder führt Strafmilderungsgründe an. Am Ende wird die gesamte Argumentation in Kurzform rekapituliert und noch einmal allgemein an die Gnade des Landesherrn appelliert. Die überlieferten Suppliken lassen sich in zwei Gruppen unterteilen, die sich hinsichtlich der Argumentationsstrategien und der angestrebten Ziele stark unterscheiden. Die erste Gruppe bilden jene fünf Suppliken, die vor 46 So wertet die Kanzlei die herausgehobene soziale Stellung eines Angeklagten als besonderen Strafschärfungsgrund, da dieser aufgrund seines Bildungsstandes die Verwerflichkeit seines Handelns hätte einsehen müssen und durch sein schlechtes Beispiel weniger gebildete Untertanen erst zur Straftat verleitet habe, StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 343. 47 Der Befund unterscheidet sich wesentlich von den übrigen Suppliken in Strafsachen. Hier supplizierte nur die Hälfte der Angeklagten oder Verurteilten selbst. 48 Die Suppliken sollten nicht nur von Advokaten verfaßt, sondern auch signiert werden, damit der betreffende Advokat bei Falschaussagen haftbar gemacht werden konnte. Die Advokaten waren verpflichtet, alle in der Supplik getroffenen Behauptungen selbst auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, was sich in der Praxis jedoch nicht umsetzen ließ. Edikte in: CCO, Ib. 1, S. 176 und S. 856-858. 49 Nicht zuletzt weisen die zitierten Rechtsquellen und zeitgenössischen juristischen Schriften sowie Versatzstücke aus dem Naturrecht eindeutig darauf hin, daß die Verfasser über juristische Bildung verfügten. So wird zum Beispiel argumentiert, daß es in der "Natur der Sache" läge, daß derjenige, der den Anlaß zu einer Straftat bietet, nicht härter bestraft werden kann, als der, der sie ausführt, StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 250. Vgl. dazu allgemein W Neusüß, Gesunde Vernunft und Natur der Sache. Studien zur juristischen Argumentation im 18. Jahrhundert (Schriften zur Rechtsgeschichte, 2), Berlin 1970. 50 Adressiert sind die Suppliken an den Landesherrn; eingereicht wurden sie beim Geheimen Rat. Zwar hatte dieser schon zu Beginn des Verfahrens versucht, alle Bittsteller sofort an die Landes- und Justizkanzlei zu verweisen, war damit jedoch gescheitert.

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dem Urteilsspruch eingereicht wurden und auf das Rechtsverfahren Einfluß zu nehmen versuchten. Die zweite Gruppe mit dreißig Suppliken wurde nach Abschluß des Verfahrens eingereicht. Sie zielt im wesentlichen darauf ab, das verhängte Strafmaß zu mildern oder die Rahmenbedingungen des Strafvollzugs zu verbessern. Die bereits erwähnte erste Supplik unterscheidet sich von den später eingereichten dadurch, daß hier eine ganze Gemeinheit als Bittsteller auftritt. Sie ist als direkte Reaktion auf den Beginn der Ermittlungen durch die Untersuchungskommission zu verstehen. In ihrem Gesuch verfolgen die Bauern eine doppelte Argumentationsstrategie. Eingangs betonen sie zunächst, daß sie der Obrigkeit vertrauen und sich der Untersuchung stellen wollen. Danach formulieren sie jedoch Bedingungen, wie die Untersuchung abzulaufen habe. So solle anstelle des Kanzleirates Dykhoff ein Mitglied des Geheimen Rates die Untersuchungen führen, da Dykhoff eine" widrige Gesinnung" gegenüber den Eingesessenen hege51 • Auf diese Weise versuchen die Bauern, die beiden TerritorialbehördenJustizkanzlei und Geheimer Rat gegen einander auszuspielen. In eindeutig manipulativer Absicht betonen sie, daß ihr Vertrauen in die "hohe Regierung" - das heißt in den Geheimen Rat - so groß sei, daß sie hier nicht mit persönlicher Vorteilsnahme rechnen würden. Außerdem fordern die Bauern, daß ihnen alle Verhörprotokolle zur Bestätigung vorgelegt werden52 • Die Supplik schließt mit dem ultimativen Hinweis, daß man die Untersuchung andernfalls boykottieren werde. Die Argumentationsmuster und der provokative Tenor der Supplik zeigen deutlich, daß den Bauern die beschränkten strategischen Machtmittel bewußt sind, die der Territorialregierung im Moment zu Verfügung stehen. Die schwache Position der Justizkanzlei, von der die Untertanen ausgehen und die sie für sich auszunutzen versuchen, wird auch von der Behörde selbst als solche wahrgenommen. Um das Gesicht zu wahren, lehnt die Kanzlei das Gesuch zwar ab, dennoch setzt sie angesichts des solidarischen Schweigens der ganzen Gemeinde die weitere Untersuchung des Tumultes vorerst aus. Erst als das bei der Hannoverschen Regierung beantragte Militär Anfang November 1794 im Hochstift eintrifft, kann die Untersuchungskommission ihre Ermittlungen fortsetzen. Am 28. November 1794 werden zwei der Hauptverdächtigen, die Coloni Werries und Ostenfeld, im Osnabrücker Zuchthaus in Untersuchungs51 Dykhoff war in einen Rechtsstreit mit der Gemeinheit Holte verwickelt, da es bei der Markenteilung der Holter Mark zu Differenzen gekommen war. Der Vorwurf der Parteilichkeit war somit nicht aus der Luft gegriffen, StAOS, Rep. 100, Abschn. 306,

Nr. 43, BI. 26.

52 Die Forderung wird damit begründet, daß der Kommissionssekretär angeblich schwerhörig sei und sich deshalb leicht Fehler einschleichen könnten. Die Bauern wagen es zwar nicht, Kanzleibeamten offen bewußte Fälschungsversuche zu unterstellen, aber genau darauf läuft ihre Argumentation natürlich hinaus.

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haft genommen. Das starke Militäraufgebot, das bei dieser Aktion eingesetzt wird, soll nicht nur möglichen Widerstand gegen die Festnahme verhindern. Thm kommt vor allem eine symbolische Funktion zu: Dem gewaltsamen Aufbegehren der Untertanen begegnet die Obrigkeit mit Gewalt. Das Militär dient der demonstrativen Zurschaustellung des zugunsten der Obrigkeit veränderten Kräfteverhältnisses . Die Inhaftierung löst eine erste Reihe von vier Suppliken aus, in denen der Colonus Werries sowie dessen Ehefrau zwischen Mitte Dezember 1794 und Februar 1795 zunächst um die Beendigung des Verfahrens und später um die Aufhebung der Untersuchungshaft ersuchen53 • Hier werden zwar keine Bedingungen mehr gestellt, dennoch verkörpern die Texte eher Beschwerden denn Gnadengesuche. Vor allem in seiner ersten Supplik beschwert sich Werries über die "injustificable Behandlung" durch die Justizkanzlei. Er sei nicht nur in der Nacht "aus dem Bette gerissen, und durch 22 Mann Cavallerie und Infanterie" ins Zuchthaus verschleppt worden, sondern man habe ihm noch nicht einmal einen konkreten Tatvorwurf gemachf 4 • Werries betrachtet das Verfahren der Kanzlei als gleichermaßen unrechtmäßig wie ungerecht, da er weder bei der Erstürmung des Gesmolder Schlosses, noch bei dem Aufmarsch in der Stadt Osnabrück selbst dabei gewesen war. Fordert Werries im ersten Teil der Supplik lediglich Rechte ein, die ihm seiner Ansicht nach ohnehin zustehen, so bittet er im zweiten Teil um eine Gnadenentscheidung. Mit einer sehr emotiven Schilderung der persönlichen Notlage des Angeklagten soll an das Mitleid der Adressaten appelliert werden. Die Supplik schildert ausführlich die schlechte Gesundheit des Inhaftierten55 • Werries hochschwangerer Ehefrau wird der sichere Tod vorausgesagt, falls ihr Mann nicht aus der Untersuchungshaft entlassen werde. Gängige Geschlechterstereotypen dienen dazu, die schwierige Situation einer Ehefrau auszumalen, die ohne jede Schuld unter den Folgen der Sanktion leidet56 . So verursache die Jatale Lage einer Frau", die die Führung des gesamten Hauswesens den Dienstboten überlassen müsse, unweigerlich hohe finanzielle Verluste 57 • Am 53 Zwischen Dezember 1794 und Februar 1795 suppliziert Werries viermal (16. Dezember 1794,31. Dezember 1794,26. Januar 1795 und 28. Februar 1795). Die ersten beiden Suppliken werden in seinem Namen, die letzten beiden im Namen seiner Frau eingereicht. 54 Nicht einmal ein Corpus delicti oder auch nur Indizien einer Tat seien vorhanden, StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 132. 55 Ein ärztliches Attest soll den lebensbedrohlichen Zustand belegen. 56 Vgl. dazu ausführlich C. Ulbrich, Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft, in: W Schulze, Ego-Dokumente, S. 207-226. 57 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 134.

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Ende nimmt der Verfasser beide Argumentationsstränge noch einmal auf: Er appelliert an die "landesväterliche(r), landesfürstliche (r) Huld und Milde" und fordert gleichzeitig, daß Werries "rechtlicher Ordnung nach gehört und gerichtet werde"58. Die folgenden drei Suppliken argumentierten ähnlich. Allerdings heben sie stärker auf die Bereitschaft des Angeklagten ab, sich dem Urteil der Kanzlei zu beugen, wenn man ihn aus der Untersuchungshaft entlasse. Die Betonung liegt jetzt eindeutig auf der prekären persönlichen Situation des Angeklagten. Mit drastischen Schilderungen des bevorstehenden finanziellen und gesundheitlichen Ruins einer ganzen Familie und ihrer Stätte soll die als unbillig empfundene Härte von Untersuchungshaft und Strafverfahren für Werries verdeutlicht werden. 1795 wird das Hochstift zunehmend in die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Frankreich einbezogen. Die Organisation der Einquartierung und Versorgung der fremden Truppen erscheint der Territorialregierung wichtiger als die Bestrafung einiger" Tumultanten" , deren geprobter Aufstand längst im Sande verlaufen ist. Die Justizkanzlei läßt Werries und Ostenfeld deshalb vorübergehend frei. Erst Ende des Jahres 1796 kann der Strafprozeß gegen die "Rädelsführer" des Aufstandes abgeschlossen werden. Der Strafvollzug der gefällten Urteile löst die zweite Reihe von Suppliken aus, an der sich jetzt alle Verurteilten - wenn auch unterschiedlich stark - beteiligen.

Vergleicht man die 1797 eingereichten Suppliken mit jenen aus den Jahren 1794-1795, so zeigt sich eine deutliche Veränderung der Argumentation. Jetzt

wird mit wenigen Ausnahmen nicht mehr die Unrechtmäßigkeit des Verfahrens kritisiert und ein vollständiger Verzicht auf die Sanktion gefordert, als vielmehr das Vergehen eingeräumt und lediglich um eine mildere Bestrafung gebeten. Hatte Werries 1795 noch jeden Vorwurf, das Recht gebrochen zu haben, zurück gewiesen, so wird sein Verhalten in seiner Supplik vom 30. Januar 1797 immerhin als "eine Unbesonnenheit" bezeichnet, die aufgrund seines ansonsten "stets ruhig.friedfertigen LebenswandeHs)" eine einmalige Entgleisung darstelle59 . Auch in den übrigen Suppliken nimmt die Frage eines grundlegenden Gesinnungswandels der Delinquenten breiten Raum ein. Die Mitwirkung am Tumult wird bereut, die Strafbarkeit der eigenen Handlungsweise eingesehen. Mit der prinzipiellen Akzeptanz der Sanktionskompetenz der Kanzlei wird die verletzte Rechtsordnung wiederhergestellt, die gebrochene Rechtsnorm bestätigt. Der Obrigkeit soll der Eindruck vermittelt werden, daß ihr auch bei einer Reduzierung des Strafmaßes in Zukunft keine Gefahr von den Verurteilten droht. 58 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 135. 59 Der gute Leumund des Verurteilten wird durch sechs Atteste belegt.

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Noch etwas ist neu: Zum zentralen Argument, mit dem die Milderung der Strafe gerechtfertigt werden soll, avanciert nun das gemeine Wohl. Es geht nicht mehr nur um die Situation des einzelnen Delinquenten oder einer Gemeinde, es geht um den Staatsnutzen: So argumentiert der Verfasser einer Supplik, daß die für seinen Klienten verhängte Haftstrafe schon deshalb nicht vollzogen werden solle, weil selbst dem Staat "mehr daran gelegen [sei], sich einen getreuen Unterthan zu erhalten, als demselben seine ganze moralische und durch diese auch den ganzen Werth seiner physischen Existenz zu rauben. "60 Dieser Tenor zeichnet auch die Leumundsatteste aus, die den Suppliken beigefügt sind. In seinem Zeugnis für den Colonus Ostenfeld stellt der örtliche Pfarrer fest: "Dem Colonus Ostenfeld kann ich das Zeugniss einer uneigennützigen Bereitwilligkeit für das allgemeine Beste zu würken nicht versagen. Er hat Sinn und Gefühl für das Gute, bietet gern seine Hand zur Unterstützung guter Anstalten. "61 So habe er zum Beispiel "bey der Theuerung des 1795sten Jahres auf alle Art und Weise nach dem gnädigen Willen der hohen Regierung für die Armen gesorgt"62. Ostenfelds Freilassung aus der Untersuchungshaft erweist sich damit im nachhinein auch für die Obrigkeit als Gewinn. Erworbene Verdienste um das Gemeinwohl sollen außerdem die besondere Gnadenwürdigkeit des Delinquenten herausstellen. Wenngleich die Delinquenten inzwischen einsehen, eine Bestrafung verdient zu haben, so stellen sie die verhängten Sanktionen doch als unverhältnismäßig hart dar: So führt Werries aus, daß er schon "16 Wochen im Kerker geschmachtet, und dadurch unendlichen Schaden und Schmach gelitten "63 habe. Andere Suppliken betonen die unterschiedliche Bewertung der Strafen in den Augen der Untertanen und der Obrigkeit. Aus der Perspektive der Untertanen verkörpern bereits das diskriminierende Strafverfahren und die dafür aufzubringenden Kosten eine empfindliche Sanktion. Auch die verhängte Haft wird unterschiedlich bewertet. Zwar betrachte die Obrigkeit die "Verbesserungs-Anstalt" als nicht entehrend, für die Delinquenten bedeute der Aufenthalt dort jedoch einen "unauslöschlichen Schandfleck ... gegen StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 252. StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 54, BI. 389 f., hier S. 390 (Attest des Pfarrers Heinrich Gottfried Bernhard Franke, 24. April 1797). Die Beschreibung der vielfältigen Vorzüge und hohen Verdienste Ostenfelds um das Gemeinwohl nimmt zwei Seiten ein. Der Pfarrer berichtet außerdem, daß Ostenfeld dafür gesorgt habe, daß die öffentlichen Gebäude der Gemeinheit instandgesetzt wurden. Ostenfeld habe sich zudem stark beim Bau des Witwenhauses engagiert. Aufgrund der Haftstrafe drohe nun das ganze Projekt zu scheitern. Damit wird erneut betont, daß die Freilassung des Delinquenten auch im Interesse des Gemeinwohls wäre. 62 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 389. 63 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI, 249. 60

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die ausdrückliche Absicht des Richters", da die Bauern keinen Unterschied zwischen Zuchthaus und Verbesserungsanstalt sähen64 • Von Supplik zu Supplik wird die Frage des Gesundheitszustandes der Delinquenten als immer dringlicher geschildert. Wer keine schweren Gesundheitsschäden vorzuweisen hat, malt zumindest die schädlichen Folgen des Gefängnisaufenthaltes aus. Die schlechte Ernährung im Gefängnis, der Mangel an Bewegung und an frischer Luft führe dazu, daß die Arbeitskraft der Delinquenten ruiniert und damit ihnen selbst, ihrer Familie und dem Staat unnötiger Schaden zugefügt würde. In diesem Zusammenhang verweisen die Delinquenten besonders gern auf ihren herausgehobenen sozialen Status. Während die Lebensbedingungen im Gefängnis für Angehörige der Unterschicht keine einschneidenden Folgen hätten, da diese Klientel ohnehin nichts besseres gewohnt sei, bedeuteten sie für Angehörige bessergestellter Schichten eine ernstzunehmende Gefahr und damit eine viel höhere Sanktion. Auch deshalb müsse die Strafe unbedingt gemildert werden.

2. Die Obrigkeiten Jede beim Geheimen Rat eingereichte Supplik wurde der Justizkanzlei zum Gutachten überstellt. Die Behörde prüfte die in der Supplik aufgestellten Behauptungen zunächst auf ihren Wahrheitsgehalt. Leumundszeugnisse sowie die wirtschaftliche und persönliche Situation des Delinquenten oder seiner Angehörigen ließ die Kanzlei durch Anfragen bei lokalen Obrigkeiten verifizieren. In gravierenden Fällen prüfte der Leibphyszkus den Gesundheitszustand der Bittsteller, wenn dieser als Gnadengrund angegeben worden war. Saß der Supplikant in Haft, so wurde ein Führungszeugnis des Zuchthausintendanten verlangt, da das Verhalten des Verurteilten während des Strafvollzugs ebenfalls in die Entscheidung einfloß.

In den Gutachten schilderte die Kanzlei zunächst kurz den Fall, ging dann ausführlich auf die in der Supplik angeführten Gnadengründe ein und formulierte anschließend ein Votum, ob und in wie weit der Landesherr dem Gesuch entsprechen solle. Das Gutachten der Kanzlei samt einer kurzen Stellungnahme des Geheimen Rates wurde anschließend dem Landesherrn zur Bestätigung vorgelegt. Der Landesherr folgte in seiner Entscheidung fast immer dem Kanzleivorschlag65 • Wann der Entscheid an den Supplikanten erging, richtete sich StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 252. 65 Am Ende des 18. Jahrhunderts delegierte der Landesherr Friedrich von York die Gnadenpraxis teilweise an die Territorialbehörden. Ab 1784 durfte der Geheime Rat ohne Rücksprache mit dem Landesherrn bei Gefängnisstrafen unter einem Jahr selbständig Strafnachlaß gewähren; ab 1788 konnte er ein Viertel der verhängten Geld- oder Freiheitsstrafe erlassen. Als Friedrich von York 1788 per Edikt verbieten 64

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vor allem danach, wie schnell das Gutachten der Kanzlei vorlag 66 . Ob einer Supplik in Strafsachen stattgegeben wurde, hing sowohl von Faktoren ab, die der Delinquent durch sein Verhalten sowie durch die Bittschrift selbst beeinflussen konnte, als auch von strukturellen Rahmenbedingungen, die außerhalb seines Steuerungsbereichs lagen. Obwohl die lokalen Behörden die persönliche Notlage bestätigten, die der Colonus Werries in seinen Suppliken schilderte, lehnte die Kanzlei die Gesuche ab, "so mislich und traurig auch die Lage seyn mag"67. Ein Vergleich mit anderen Supplikationsvorgängen zeigt, daß sich der Vorwurf von Verfahrensfehlern oder das prinzipielle Infragestellen der Sanktionskompetenz der Justizkanzlei regelmäßig negativ auf den Bescheid auswirkten. In diesem Fall dürfte die Ablehnung jedoch vor allem in den Rahmenbedingungen des Konfliktes begründet gewesen sein. Das Kanzleigutachten vom 18. November 1794 enthüllt die Gründe für die unnachgiebige Haltung der Kanzlei. Die Behörde berichtet, daß die Bauern das Versammlungsverbot mißachtet hätten, das per landesherrliches Dekret vom 24. September 1794 im Hochstift verhängt worden war68 . Doch nicht nur das: Die Bauern hätten sogar Schriftsätze aufgesetzt, Gelder gesammelt und Deputierte bestimmt, um am Reichskammergericht gegen die Obrigkeit zu klagen69 • Außerdem fürchtete die Kanzlei, daß diejenigen Untertanen, denen eine Bestrafung durch die Obrigkeit drohte, außer Landes fliehen und damit die Sanktion vereiteln könnten. Diese Aktivitäten waren nach Ansicht der Kanzlei nicht nur "verrätherisch und gefährlich", sondern überhaupt "auf die Vernichtung der gemeinen Ruhe und Sicherheit, auf den Umsturz der Landesverfassung und aller obrigkeitlichen Authorität" gerichteeo. Unter diesen Bedingungen mussten die Bittschriften unabhängig von den in ihnen vermittelten Inhalten erfolglos bleiben. Warum wurden Wer ries und Ostenfeld dann im April 1795 dennoch freigelassen? Die Kanzlei begründet diese Entscheidung offiziell damit, daß die Familien der Inhaftierten durch die Kriegsfolgen besonders hart getroffen wollte, daß Untertanen sich direkt an ihn wenden, verhinderte Justus Möser dieses Vorhaben mit dem Argument, daß "eine gänzliche Ausschließung von allem unmittelbaren Zutritt, der doch im äussersten Nothfall jedem Unterdrückten billig offen bleibt, für grausam gehalten wird", StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 50, BI. 56-60, hier BI. 57. In Hannover waren schon 1718, 1725 und 1734 derartige Verordnungen erlassen worden. Dazu W. Hülle, Supplikenwesen, S. 206. 66 Die Reaktionszeit lag zwischen etwa einer Woche und zwei Monaten. 67 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 139. 68 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 54, BI. 114 f., Publikandum zu Bissendorf vom 5. September 1794, Achelwinden, Gesmold und Holte; siehe auch BI. 241, Landesfürstliches Patent gegen diejenigen, welche Unruhe stiften, vom 22. September 1794. 69 Im folgenden StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 54, BI. 93. 70 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 54, BI. 93.

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worden seien. Zu diesem Zeitpunkt war nicht absehbar, wann die Untersuchungen im Fall Gesmold abgeschlossen werden würden. Eine monatelange Untersuchungshaft erschien offenbar selbst der Kanzlei als unbillig und ökonomisch schädlich. Den entscheidenden Ausschlag dürften allerdings auch hier die veränderten Rahmenbedingungen gegeben haben. Die Brisanz des Herrschaftskonfliktes trat gegenüber dem Reichskrieg gegen Frankreich notwendig in den Hintergrund, zumal ersterer inzwischen merklich an Schärfe eingebüßt hatte. Die politischen Spannungen, die im Sommer 1794 an mehreren Orten des Hochstifts aufgeflackert waren, hatten sich gelege!. Vor dem Hintergrund der Getreidekrise im Frühjahr 1795 bildete die Versorgung von Bevölkerung sowie im Hochstift stehenden Truppen den Schwerpunkt der Regierungstätigkeit. Die Freilassung gerade dieser beiden Inquisiten dürfte der Kanzlei schon deshalb als sinnvoll erschienen sein, da beide Nahrungsmittellieferanten mit durchaus erheblichen Kapazitäten waren72 • Dennoch war die Osnabrücker Justizkanzlei unter keinen Umständen bereit, völlig auf die Bestrafung der Urheber des Tumultes zu verzichten. Sobald sich die Lage entspannt hatte, wurde das Ermittlungsverfahren abgeschlossen und Klage erhoben. In den am Ende des Jahres 1796 verhängten Sanktionen dokumentieren sich die Grundgedanken des Strafzwecks am Ende der Frühen Neuzeit: Die relativ hohen Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren waren klar durch den Gedanken der Abschreckung bestimmt und zwar sowohl im Sinne einer Spezial- als auch im Sinne einer Generalprävention. Der bewußte Verzicht auf das Zuchthaus zeigt dagegen, daß die Behörde die Verurteilten für besserungsfähig hielt. Obwohl im Verlauf des Verfahrens mehrfach betont worden war, daß die Tumultanten ncriminaliter" bestraft werden sollten, unterschied die Kanzlei offenbar doch klar zwischen jenen Untertanen, die einmal durch widersetzliches Verhalten aufgefallen waren, und gewöhnlichen Verbrechern wie Dieben oder Räubern, bei denen die verhängten Sanktionen weit stärker 7! So hatte das Reichskammergericht die Klage der Bauern inzwischen abgelehnt. Mit einem klugen Schachzug war es der Kanzlei gelungen, das zunächst starke Band der innerdörflichen Solidarität zu sprengen. Da auch nach intensiven Ermittlungen nichts über die vermeintlichen "Rädelsführer" des Konfliktes herauszubringen gewesen war, hatte die Kanzlei eine hohe Geldstrafe für die ganze Gemeinheit verhängt, die entsprechend der Besitzklassen auf die einzelnen Untertanen umgelegt werden sollte. Außerdem sollte die Gemeinde die nicht unerheblichen Kosten des Militäreinsatzes tragen. Damit wären auch jene Untertanen bestraft worden, die an dem Aufruhr in keiner Weise beteiligt gewesen waren. Es überrascht deshalb nicht, daß diese Klientel nun doch zur Aussage bereit war. 72 Ostenfeld war darüber hinaus auf lokaler Ebene für die Organisation und die Verteilung der Getreidevorräte zuständig. In einem Attest für Ostenfeld berichtete der Pfarrer 1797, daß Ostenfeld 1795 die komplette Versorgung der Gemeindearmen mit Nahrungsmitteln gewährleistet habe. Die Freilassung aus der Untersuchungshaft erwies sich damit im nachhinein tatsächlich als sinnvoll.

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auf den Ausschluß aus der Gesellschaft zielten73 • Die angekündigte Gleichbehandlung erwies sich im nachhinein als verbale Drohgebärde, die weitere Gewalt von Seiten der Untertanen verhindern sollte. Kaum waren die Urteile publiziert, trafen auch schon die ersten Suppliken ein. Die erste Flut der Bittschriften, die der Kanzlei regelmäßig zum Gutachten überstellt wurden, lehnten die Beamten rundheraus ab. Erst im Juni 1797, nachdem der Landesherr der Kanzlei zu verstehen gegeben hatte, daß er einer Begnadigung der Delinquenten prinzipiell nicht abgeneigt sei, war die Behörde bereit, die Strafmaße wenigstens in einigen Fällen zu mildern74 • Bei fünf Delinquenten (die Coloni Meinersmann, Wemhof und Gartmann sowie die Gebrüder Stockau) plädierte die Kanzlei für eine vorzeitige Beendigung der Haft. Allerdings wurden die Männer nicht sofort, sondern erst nach weiteren Wochen entlassen, so daß sie am Ende dennoch einen Großteil der Haft verbüßt hatten. Durch den positiven Bescheid auf ihr Gesuch waren sie jedoch ruhig gestellt worden. In vier weiteren Fällen (die Coloni Ostenfeld, Rolfs, Werries und Sundermeier) lehnte sie eine Begnadigung weiterhin ab. Allerdings erzielten auch diese Delinquenten mit ihren Suppliken wenigstens einen Teilerfolg, da ihnen gewisse Hafterleichterungen gewährt wurden 75 • Das Kanzleigutachten vom 26. Juni 1797 enthüllt, welche Kriterien die Kanzlei bei der Entscheidung darüber ansetzte, ob ein Delinquent eine Begnadigung verdient hatte. Von zentraler Bedeutung war die Akzeptanz der Rechtsordnung, die nicht nur in der Supplik, sondern auch im Verhalten des Delinquenten zum Ausdruck kommen mußte. So wurde positiv angerechnet, wenn der Betreffende sich freiwillig gestellt hatte, die Strafe akzeptierte und Reue über sein Fehlverhalten erkennen ließ76 • Die so dokumentierte Akzeptanz der Rechtsordnung stellte die Voraussetzung dafür dar, daß sich der Delinquent in Zukunft normkonform verhalten würde77 • Bei den Delinquenten Stockau und Meinersmann gab der erkennbare Gesinnungswandel, der sich in der explizit geäußerten Reue sowie dem bekundeten Besserungswillen zeigte, den StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 241. VgI. im folgenden StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 87-94. 75 So durften den Gefangenen von nun ab Nahrungsmittel gebracht werden, sie durften häufiger an die Luft und sich mehr bewegen. Die Kanzlei verweist explizit darauf, daß die karge Zuchthauskost (Hülsen-Gemüse und Speck) bei Leuten, die bessere Kost gewohnt seien, sowie der Mangel an Luft und Bewegung sich bereits nachteilig auf die Gesundheit ausgewirkt hätten, StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 378. 76 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 87-94 und BI. 318. 77 Wer sich dagegen öffentlich über den Tumult gefreut und während der Inquisition .durch sein freches Leugnen besonders strafbare und verwegene Gesinnungen an den Tag gelegt" hatte, konnte zunächst nicht auf eine Begnadigung hoffen, StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 293. 73

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Ausschlag für das positive Votum der Kanzlef8. Bei Gartmann und Wemhof stellten die Beamten fest, daß zwar derartige Gründe für eine Begnadigung nicht vorhanden, aber auch "nachtheilige Folgen dabey nicht zu besorgen"79 seien. Unausgesprochen blieb dabei, daß auch der Staat von einer vorzeitigen Entlassung der Delinquenten profitierte, schließlich war das Osnabrücker Zuchthaus zu diesem Zeitpunkt bereits überfüllt80. Im Fall Rolfs kam eine Begnadigung deshalb nicht in Frage, weil dieser sich dem Urteil der Kanzlei nicht gefügt und sogar an das Reichsgericht appelliert hatte. Die Kanzlei stellte dazu fest: "Ein Mensch, der so wenig zeigt, daß er seine Vergehen erkenne und bereue, erregt wegen seines künftigen betragens immer einige besorglichkeit, und ist, wenn er in der folge nicht ein anders Verhalten zeiget, zu einiger Begnadigung unsers erachtens nicht zu empfehlen"81.

Bei Werries wirkte sich negativ aus, daß er im Zuchthaus die Arbeit verweigert und keinerlei Reue über sein Vergehen gezeigt hatte. Deshalb sollte ihm nach Ansicht der Kanzlei zunächst klar gemacht werden, daß er sich durch sein Verhalten, besonders durch fleißige Arbeit "Euer Königlichen Hoheit höchsten Gnade würdig zu machen habe"82. Gnadenakte wurden damit nicht im Gießkannenprinzip über die Untertanen verteilt; sie setzten eine entsprechende Gegenleistung des Delinquenten voraus. Im Fall Ostenfeld bemerkte die Kanzlei: "Zwar haben wir keine besondere Ursache, bey seinen GesinnungsÄußerungen in der Folge von ihm Gefährlichkeiten zu besorgen", aber aufgrund der Größe des Vergehens und der erkannten Strafe habe er als Letzter eine Begnadigung verdient. Außerdem könnten "unterdessen unvorhergesehene Umstände eintreten ... , welche die Entlassung eines Menschen bedenklich machten, der gezeigt hat, daß er fähig gewesen für Ausführung seiner Absichten viele hundert Menschen zusammen zu bringen, und zu den gewaltsamsten Maasregeln zu verleiten"83. Die herausragende Rolle, die Ostenfeld während des Tumultes gespielt hatte, und die potentielle Gefahr, die von ihm ausging, sprachen hier klar gegen eine Begnadigung. Als Reaktion auf die Ablehnung reichten die in Haft verbliebenen vier Delinquenten jedoch weitere Suppliken ein. Mit Erfolg: Auch im Falle von 78 Außerdem wurde die persönliche Notlage angerechnet, die in den Suppliken immer dramatischer geschildert worden war. 79 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 376. 80 In anderen Fällen dürfte auch die Einsparung der Atzungskosten ein Grund für die vorzeitige Entlassung von Delinquenten gewesen sein. Dies traf hier nicht zu, da die Häftlinge diese Kosten aus ihrem eigenen Vermögen zu zahlen hatten. 81 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 54, BI. 376 f.

82 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 377. 83 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 377.

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Rolfs, Werries und Ostenfeld wandelte der Landesherr entsprechend dem Votum der Kanzlei die noch verbleibende Haftzeit in eine Geldstrafe um, ein Verfahren, daß die Delinquenten als Alternative zu einem bloßen Straferlaß schließlich selbst vorgeschlagen hatten. Positiv wirkte sich hier ebenfalls aus, daß sich Grundherren, Pastoren oder auch die ganze Gemeinde ausdrücklich für die Freilassung der Delinquenten eingesetzt hatten. Damit erwies sich auch das soziale Kapital, daß der Delinquent zu seinen Gunsten in den Aushandlungsprozeß einbringen konnte, als entscheidender Einflußfaktor. Im November 1797 saß nur noch ein Delinquent in Haft. Nach weiteren Suppliken und Interzessionen seines Grundherrn kam auch der Colonus Sundermeier frei. Die Kanzlei begründete diesen Schritt damit, daß an seiner "Sinnesänderung" nicht gezweifelt werden könne und außerdem die "nahe Aussicht auf einen allgemeinen Frieden auch die Hoffnung zu fortdauernder Ruhe zu sichern scheint"84. Auch hier zeigt sich damit der Einfluß, den strukturelle Rahmenbedingungen wie überterritoriale politische Großwetterlagen auf die Entscheidung in einem einzelnen Gnadenfall haben konnten. Allerdings schlug die Kanzlei vor, "einige Beschränkungen und Vorkehrungen" zu treffen, da Sundermeier der "Urheber und Beförderer des ganzen tumultarischen Vorgangs" sei85 . So könne der Delinquent zwar gegen die Summe von etwa 300 bis 400 Reichstalern vorerst entlassen werden, jedoch nur unter der Maßgabe, daß er bei Bedarf "ohne weitere Untersuchung" sofort wieder eingesperrt werden könne86 . Eine derartige Einschränkung eines Gnadenaktes ist für das Hochstift Osnabrück in keinem anderen Gnadenfall in Strafsachen überliefert. Dies belegt die Brisanz, die die Kanzlei auch drei Jahre nach dem Vorfall dem Gesmolder Bauerntumult noch zuschrieb. Mit der Entlassung der Delinquenten war das Supplizieren jedoch keineswegs beendet. Auch über die ersatzweise verhängten Geldstrafen sowie über die Bezahlung der Verfahrenskosten wurde per Supplik und Bescheid weiter zwischen Untertanen und Obrigkeit verhandelt87 . So erreichte der Colonus Werries, daß die ursprünglich verhängte Ersatzstrafe von 170 Reichstalern auf 150 Reichstaler und schließlich auf 120 Reichstaler gesenkt wurde88 . Insistieren zahlte sich damit aus. Dieses Phänomen gilt allgemein für das Suppli84 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 429. Die Behörde spielt auf den Frieden von Campo Formio vom 17.-18. Oktober 1797 sowie möglicherweise auch auf den ab dem 9. Dezember beginnenden Rastatter Gesandtenkongreß an. 85 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 428 f. 86 Als weitere Absicherung sollte Sundermeier eine Kaution von 1.000 Reichstalern stellen. 87 So bat der Colonus Rolfs noch 1799 um einen Zahlungsaufschub. 88 StAOS, Rep. 100, Abschn. 306, Nr. 43, BI. 393.

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zieren in Strafsachen89 • Auch im Zusammenhang mit der Abstrafung anderer Delikte erreichten die Bittsteller häufig erst nach mehrfachen Versuchen eine Milderung der Strafe. Entsprach das Ausmaß der Strafsenkung nicht ihren Erwartungen, supplizierten sie erneut und häufig auch erfolgreich. Auf diese Weise wurden die Vorstellungen der Obrigkeit und jene der betroffenen Untertanen über Form und Ausmaß der Sanktion schrittweise einander angeglichen. Diese Praxis der schrittweisen Aushandlung von Sanktionen kann als spezifisch frühneuzeitlich bewertet werden. Im Vergleich zum heutigen Rechtssystem scheint sie auf den ersten Blick von Willkür und Regellosigkeit gekennzeichnet. Welchen Sinn konnte ein Rechtsurteil haben, das immer wieder zugunsten des Delinquenten nachgebessert wurde und damit als nahezu beliebig erscheinen mußte? Welche Motive verbargen sich hinter dieser Form der Strafpraxis? Um diese Fragen zu klären, erscheint es sinnvoll, sich eines soziologischen Modells zu bedienen, das jene Praktiken zu erfassen und zu deuten versucht, auf deren Grundlage Gesellschaft entsteht und funktioniert: das Modell der symbolischen Interaktion. III. Das Supplikenwesen als Instrument symbolischer Interaktion

Unter symbolischer Interaktion versteht man den aufeinander bezogenen Austausch von Handlungen durch die Mitglieder einer Gesellschaft im Zuge eines Kommunikationsprozesses, der auf der Basis allgemein akzeptierter und übereinstimmend bewerteter Symbole, Rituale und Deutungsmuster abläuft 9O • Entscheidend ist dabei, daß der Adressent seine Aktionen an den Erwartungen und Bewertungen des Adressaten ausrichtet, um dadurch einen Vorteil zu erlangen. Dies setzt voraus, daß er sich in die Vorstellungswelt und die Handlungsmotivationen seines Gegenübers einfühlen kann. Die Fähigkeit dazu kann er entweder im Laufe seines eigenen Sozialisationsprozesses lernen, oder er kann sich eines Mittlers bedienen, der den Transfer an seiner Stelle leistet91 • Die H. Rudolph, Regierungsart, Kap. G.III.4. H. Blumer, Symbolic Interactionism. Perspective and Method, Upper Saddle River NJ 1996, S. 1; ders., Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus, in: E. Hora (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1, 2. Aufl. Reinbek b.H. 1975; G.H. Mead, Sozialpsychologie, Neuwied 1978; H. Steinert (Hrsg.), Symbolische Interaktion. Arbeiten zu einer reflexiven Soziologie, Stuttgart 1973; W Fuchs-Heinritz / R. Lautmann / 0. Rammstedt / K. Wienold (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie, S. 308 f. Der Begriff Handlung meint hier ausschließlich intentionale und zielgerichtete Verhaltensformen. Diese können verbaler, gestischer, symbolischer oder anderer Art sein. 91 Im Rahmen des Supplikenwesens übernehmen häufig juristisch gebildete und mit den Abläufen der Territorialbürokratie vertraute Advokaten diese Aufgabe. 89

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Analyse der Supplikenserie des Colonus Werries zeigt einen solchen Lernprozeß. Der Advokat, der die Suppliken verfaßte, glich die Inhalte seiner Argumentation mit jeder neuen Supplik immer stärker an die Erwartungen der Obrigkeit an. Die zuerst empörte Beschwerde über ein unrechtmäßiges Verfahren wurde am Ende zur untertänigen Bitte um eine Milderung der Strafe. Weshalb blieben dann auch jene Suppliken erfolglos, die die Erwartungen der Obrigkeit in starkem Maße bedienten? Der Grund liegt darin, daß das Supplizieren nur eine Form der Interaktion zwischen Untertanen und Obrigkeit darstellte. Gleichzeitig liefen andere Austauschprozesse von Handlungen ab, die entgegengesetzte Informationen transportierten: Die verbale Unterwerfung unter die Rechtsordnung, die der Delinquent in seiner Bittschrift vornahm, reichte dann nicht aus, wenn er durch sein widersetzliches Verhalten im " VerbesserungsHaus" die übermittelten Inhalte als bloße Argumentationsstrategie entlarvte. Die besondere Brisanz des Gesmolder Herrschaftskonfliktes, der durch seine zeitliche, formale und inhaltliche Nähe zu den revolutionären Ereignissen in Frankreich von der Territorialregierung als systemgefährdend verstanden wurde, führte dazu, daß der in den Suppliken angedeutete Gesinnungswandel des Delinquenten von den Beamten besonders kritisch überprüft und letztlich als Täuschungsmanöver enttarnt wurde. Diejenigen Delinquenten, bei denen auch das Führungszeugnis des Zuchtmeisters auf Einsicht und Reue deutete, wurden dagegen vorzeitig aus der Haft entlassen. Aber selbst im ersten Fall kam den Suppliken bei der Regelung des Konfliktes eine zentrale Funktion zu. Das Supplizieren an die Obrigkeit erwies sich als etabliertes Ritual, mit dem die Untertanen die Akzeptanz der Herrschaftsverhältnisse bestätigten, indem sie ihren Landesherrn als obersten Richter anriefen. Das wiederholte Supplizieren kann als symbolische Geste der Unterwerfung unter die Entscheidungsgewalt der Obrigkeit verstanden werden, die durch den Tumult in Frage gestellt worden war. Die Suppliken verkörperten ein Kommunikationsangebot an die Obrigkeit: Der zunächst gewaltsam ausgetragene Konflikt wurde auf die verbale Ebene transferiert und somit entschärft. Dies gilt bereits für die erste Supplik, in der die Untertanen von Holte den Boykott der Ermittlungen nur für den Fall androhten, daß die Obrigkeit den per Supplik scheinbar untertänig vorgetragenen Wünschen nicht nachkam. Auch die Obrigkeit richtete ihr Verhalten gegenüber den Untertanen an deren Erwartungen und Bewertungen aus. Trotz der Vielzahl der Suppliken erteilte die Kanzlei im vorliegenden Fall regelmäßig Bescheide, obwohl dies einen nicht unerheblichen Arbeitsaufwand für die Behörde bedeuteten. Dahinter steht sehr wahrscheinlich die Einsicht, das eine erneute Eskalation des 92 Bei anderen Fällen untersagten die Territorialbehörden den Delinquenten mitunter ausdrücklich, wiederholt zu supplizieren. Dennoch eingereichte Bittschriften wurden dann folgerichtig ignoriert.

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Konfliktes verhindert werden konnte, wenn der Kommunikationsprozeß als verbale Form des Konfliktaustrages aufrecht erhalten wurde. Während sonst in der Regel keine Gründe für eine Ablehnung eines Gesuches kommuniziert wurden, erhielten hier die Delinquenten mitunter sogar eine Begründung der Bescheide. Indem die Obrigkeit ihre Handlungsmotive offen legte, gab sie den Untertanen die Chance, diese mit einem entsprechenden Auftreten zu bedienen. So enthielt die Aufforderung an Werries, sich durch sein verändertes Verhalten erst der Gnade würdig zu zeigen, das implizite Versprechen, daß der Landesherr ihn dann auch tatsächlich begnadigen würde. Dadurch entstand auf Seiten des Delinquenten eine Erwartungshaltung, die am Ende durch seine Freilassung bestätigt wurde. Jede neue Supplik verstärkte den Handlungsdruck auf der Seite des Adressaten. Dies galt vor allem dann, wenn sich der Supplikant als ergebener Untertan von gutem Leumund präsentierte, dem nur ein einziger Fehltritt nachgewiesen werden konnte. Von Seiten der Bittsteller wurde ein positiver Bescheid dann, wenn nicht erwartet, so doch zumindest erhofft. Schließlich schien ein christlicher Landesherr zwar nicht rechtlich, dafür aber zumindest moralisch verpflichtet, sich gegenüber den Untertanen als milder, Vergebung und Barmherzigkeit übender Landesvater zu präsentieren, der auf das Wohl seiner Untertanen bedacht ist93 • Blieb das Supplizieren auf Dauer ohne jeden Erfolg, bestand außerdem die Möglichkeit, daß die Untertanen andere Methoden wählten, um ihre Interessen durchzusetzen. Um ihre Kompromißbereitschaft zu signalisieren, sagte die Kanzlei im vorliegenden Fall zunächst Hafterleichterungen zu, die das Strafmaß selbst nicht tangierten. Die Delinquenten konnten so wenigstens einen Teilerfolg verbuchen, der weitere Gesuche als sinnvoll erscheinen ließ. Die bevorstehende Entlassung kündigte die Kanzlei den Bittstellern mehrere Wochen zuvor an. Die Untertanen wurden damit ruhiggestellt, ohne daß die zugestandene Strafmilderung tatsächlich einschneidend gewesen wäre. Während die Kanzlei die Durchsetzung der verhängten Sanktionen zunächst für unabdingbar hielt, war der Landesherr viel eher geneigt, die Strafen auf dem Gnadenweg zu mildem. Das Gnadenwesen bot dem Landesherrn die Möglichkeit, sich der Loyalität seiner Untertanen zu versichern. Mit der Bestätigung der hohen, in ihrer Selektivität willkürlichen Strafen hatte er ohnehin genügend Spielraum für einen Gnadenakt geschaffen, mit dem die widerspenstigen Untertanen an die Obrigkeit gebunden werden sollten. Indem der Gnadenakt an Gegenleistungen geknüpft und ein bestimmtes Maß nicht überschritten wurde, setzten sich Justiz und Staat auch nicht dem Vorwurf reiner Rechtswillkür aus. Im vorliegenden Fall wurden die Freiheitsstrafen 93 Vgl. allgemein P Münch, Die ,Obrigkeit im Vaterstand' - Zur Definition und Kritik des ,Landesvaters' während der Frühen Neuzeit, in: Daphnis 11 (1982), S. 1540.

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nicht völlig erlassen, sondern vielmehr ein Teil in Geldstrafen umgewandelt. Das ursprünglich verhängte Strafmaß blieb pro forma bestehen, lediglich die Sanktionsform wurde verändert, um die negativen Folgen der Sanktion zu mildern. Herrschaft wurde nicht nur über die negative Motivation durch repressive Zwangsmaßnahmen, sondern auch über die positive Motivation in Form von Begünstigungen wirksam. Begünstigt wurde dabei der Untertan, der sein Interesse artikulierte und es gleichzeitig verstand "sich der höchsten Gnade würdig" zu zeigen. VI. Zusammenfassung

Das frühneuzeitliche Supplikenwesen stabilisierte die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, indem es Konflikte zwischen Herrschaft und Untertanen durch hochgradig geregelte Kommunikationsprozesse kanalisierte und somit ihrer systemgefährdenden Potenz beraubte. Dies lag sowohl im Interesse der Obrigkeit, als auch im Interesse der Untertanen. Ausübung von Herrschaft war damit kein einseitig gerichteter Prozess - etwa von oben nach unten - sondern ein komplexes Gefüge von Akzeptanz und Widerstand, von Repression und Belohnung. Die Strafe für einen Rechtsbruch, die nicht einseitig von oben verhängt, sondern zwischen Obrigkeit und Untertanen im Zuge eines Supplikationsverfahrens ausgehandelt worden war, vereinte diese diametral entgegengesetzten und gleichzeitig komplementären Herrschaftsinhalte. Dabei bedienten Obrigkeit und Untertanen sich eines Kanons weitgehend festgelegter symbolischer Verhaltensweisen, wobei der Untertan in der Regel am erfolgreichsten war, der die Erwartungen seiner Obrigkeit mindestens scheinbar zu bedienen wußte. Durch die Verlagerung des Konfliktes auf die Verhandlungsebene wurde dieser entschärft und den Untertanen der Eindruck vermittelt, ihre Interessen wenigstens teilweise durchgesetzt zu haben 94 • Mit dem im Laufe des Konfliktes immer gezielter eingesetzten Repertoire an Unterwerfungsgesten vermittelten aber auch die Untertanen ihrer Obrigkeit die Illusion der Herrschaftsakzeptanz, um eine Strafminderung zu erreichen. Von einer tatsächlichen Akzeptanz im Sinne eines Eingestehens der eigenen Schuld ist jedoch bei keinem der Sanktionsobjekte auszugehen. Der Herrschaftskonflikt wurde durch das stufenweise Aushandeln der Sanktion deshalb keineswegs gelöst. Er wurde lediglich geregelt. Auch insofern handelte es sich um einen symbolischen Austausch von Handlungen, in dessen Ergebnis im Wesentlichen der Status quo an te bestätigt 94 Hatten die Untertanen zu Beginn jede Bestrafung gewaltsam verhindern wollen, waren sie am Ende froh, wenigstens eine Senkung des Strafmaßes erreicht zu haben, obwohl diese - objektiv gesehen - in den meisten Fällen eher gering war und zudem zumeist im Interesse des frühneuzeitJichen Staates lag.

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wurde. Ein wichtiges Instrument dieser symbolischen Konfliktregelung stellte das Supplikenwesen dar, dessen befriedende Funktion hier am Beispiel des Gesmolder Bauerntumultes beleuchtet wurde.

Gravamina und besondere Charakteristika der europäischen Sozialgeschichte'" Von Giorgio Politi

Der große thematische, räumliche und zeitliche Bogen der in diesem Seminar vorgestellten Themen sowie die semantische und inhaltliche Spannbreite der hier aufgerufenen Begriffe scheinen auf den ersten Blick berechtigten Anlaß zur Befürchtung zu geben, einer gewissen Richtungslosigkeit zu unterliegen: Fragen wir uns daher - wie es heute von der Geschichtswissenschaft erwartet wird - vor allem nach dem gemeinsamen Bezugsrahmen der hier vorgelegten detaillierten Studien. Für meinen Teil bin ich davon überzeugt, daß ein solcher gemeinsamer Nenner nicht nur existiert, sondern daß er zudem zu den dauerhaften und grundlegenden Elementen gehört, die in ihrer wechselseitigen Verknüpfung die wahre und eigentliche Identität der europäischen Geschichte ausmachen, und zwar entlang der gesamten Zeitspanne, in der sie sich als solche von der Antike bis heute entwickelte. Ich glaube zudem, daß diese besonderen Merkmale ausdrücklich genannt werden müssen, um dem Widerstand hinsichtlich grundlegender Abstraktion entgegenzutreten, der heute, nicht immer aus guten Gründen, die alltägliche Arbeit der historischen Forschung kennzeichnet. Es scheint mir kein Zweifel zu bestehen, daß eines der wichtigsten Kennzeichen der europäischen Geistes-, Politik-, und Institutikonengeschichte die verantwortliche und transzendentale Natur politischer Herrschaft ist l . Im Spannungsfeld dieser von einander abhängenden Faktoren bedeutet das Prädikat der Verantwortlichkeit, daß jeder, der, wie, wann und wo auch immer in

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Aus dem Italienischen von Nicole Reinhardt.

Um leicht vorhersehbaren und durchaus berechtigten Einwänden vorzubeugen, möchte ich hier präzisieren, daß ich unter .Europa" keinen in geographischen Begriffen zu umreißenden Raum verstehe, sondern eine bewegliche Auseinandersetzung, oder, wenn man so will, ein System komplexer Interaktion. Sicher übten die Umweltbedingungen des europäischen Raums direkten Einfluß auf die besonderen Wechselfälle seiner historischen Enrwicklung aus, doch nicht weniger deutlich ist auch, daß dies genauso auf viele andere Faktoren zutrifft und vielleicht weder norwendiger noch hinreichender Natur ist. Unter dem Blickwinkel dieser Anmerkung ist auch die Neue Welt mit vollem Recht ein Teil der europäischen Geschichte.

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Europa Herrschaft ausübte, dies nur unter der Bedingung tun konnte, daß er jemandem Rechenschaft darüber ablegte. Man ahnt schon, daß dieser .jemand" je nach Zeit, Raum und Umständen grundsätzlich andere Gestalt annahm, doch unumstößlich ist, daß es diesen .jemand" geben mußte: in Form einer Versammlung von Baronen oder privilegierter Körperschaften, als Ältestenrat oder Versammlung von Familienoberhäuptern, als Repräsentatiwersammlung oder aufgebrachte Menschenmasse. Sicherlich läßt sich leicht einwenden, daß diese Bedingung nicht immer und überall erfüllt wurde. In diesen Fällen jedoch endete die Legitimierbarkeit und Legitimität der Herrschaft im eigentlichen Sinne und verwandelte sich in etwas, wofür die europäische Tradition andere Begriffe fand, wie jene der Willkür und Tyrannei, die mit vollem Recht zu beseitigen waren. Das Prädikat der Transzendenz bedeutet andererseits, daß die immer wieder angerufene Verantwortlichkeit derjeniger, die Herrschaft ausüben, sich auf eine Tafel apriori existierender, unveränderlicher und auf empirischer Ebene unabhängiger Werte bezieht, nach denen sich das politische Handeln zu richten hat und deren konkrete Umsetzung sie verkörpert. Es handelt sich also um ein Wertesystem, das immer metahistorisch und oft auch metaphysisch ist. Dabei ist es nebensächlich, ob dieses System ausdrücklich formuliert wird oder implizit existiert, ob es schriftlich fixiert oder durch mündliche Tradition weitergegeben wird, oder ob es technisch in juristischen Normen kodifiziert ist oder in spezifischen Handlungspraktiken, die Gegenstand der kulturellen Anthropologie sind 2 • Die eigentümliche Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit, verstanden als empirische Realität, erweist sich als tiefliegendes Wesensmerkmal des gesamten westlichen Denkens3 • Es macht seine demiurgische Kraft aus, aber auch seine Es ist hier nicht der Ort, sich über ein weiteres besonderes Merkmal der europäischen Geschichte auszulassen, das früher oder später systematische Überlegungen verdient und das in folgenden Worten von Perry Anderson eindringlich dargestellt wurde: •... die Parzellierung der Souveränität im frühmittelalterlichen Europa führte einerseits überhaupt zur Konstituierung einer eigenen ideologischen Ordnung. Die Kirche nämlich, die in der Spätantike immer direkt in die Staatsmaschinerie eingegliedert und ihr untergeordnet war, wurde jetzt, innerhalb des feudalen Gemeinwesens, eine völlig selbständige Institution ... Wegen der Aufteilung der Zwangsgewalt, die dem aufkommenden westlichen Feudalismus eigen war, konnte die Kirche ihre eigenen Interessen als Körperschaft verteidigen, wenn nötig sogar mit bewaffneter Gewalt von einer territorialen Basis aus. Daher waren institutionelle Konflikte zwischen laizistischen und religiösen Herrschaften im Mittelalter verbreitet: das Ergebnis war ein Riß in der Struktur der feudalen Legitimität, der beträchtliche kulturelle Folgen für die spätere geistige Entwicklung hatte", PAnderson, Von der Antike bis zum Feudalismus, Frankfurt a.M. 1978, S. 179-180. 3 Der oben gemachten Anmerkung folgend, überlappen sich hier die Begriffe .Europa" und • Okzident " . Für dieses Begriffspaar wesentlich ist seine Beweglichkeit

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Gefährlichkeit und Widersprüchlichkeit, die in Doppelmoral und psychischer Spaltung bis hin zur systemischen Negation des Ichs liegt und zu wirklichen geistigen Erkrankungen führt, die, so scheint es, unserem Kulturkreis eigen sind. Das Orwellsche "Doppeldenk" , als geniale Eingebung einer negativen Utopie unserer Gegenwart, spielt genau auf die extremen Auswirkungen dieses ewigen Gegensatzes zwischen unbezwingbarer Kontingenz einerseits und oberster normativer Instanz andererseits an, ohne welche die europäische Zivilisation, zur Schande ihres angeblichen und vorgeblichen Empirismus, sich selbst nicht wiedererkennt. Das westliche Denken scheint mir zudem das einzige zu sein, welches eine Metaphysik entwickelt hat, wobei es sekundär ist, ob sich diese mehr oder minder religiös oder individuell beschreiben läßt. Es ist in der Vergangenheit viel gestritten worden, ob die anderen großen Denksysteme der Menschheit als Philosophie bezeichnet werden können. Ich denke nicht, ohne daß diese Einschätzung mit einer irgendwie gearteten Wertung verbunden wäre. Vielmehr bin ich der Auffassung, daß wahrer Respekt als wesentliche Voraussetzung authentischer Wertschätzung des Anderen dort beginnt, wo man sich von der Vorstellung verabschiedet, auf der Grundlage der Ähnlichkeit in bezug auf rein ethnozentrische Parameter zu urteilen. Vom Anfang der ersten Überlieferung bis zum heutigen Tag, vom ersten vorsokratischen Schimmern bis zum Neoidealismus, wie auch in den empirischen und Naturwissenschaften dreht sich das westliche Denken um eine einzige Frage: was ist das Sein? In anderen Worten heißt das, daß der harte Kern und die Antriebskraft der Philosophie in allen ihren Entwicklungsrichtungen von der Ethik bis zur Politik immer das Problem des Seins in positiver wie negativer Hinsicht war, und dies selbst in Denkschulen, welche die Wissbarkeit verneinen, indem sie zwar die Möglichkeit der Beantwortung leugnen, nicht aber den Sinn der Frage selbst. Genau diese philosophische Frage wird man vergeblich in der chinesischen und indischen Kultur suchen, für die das ontologische Problem ganz einfach nicht besteht. Das Sein ist oder ist nicht, das, was es ist, und es muß nicht erkannt, sondern erfahren werden. Der Ausgangspunkt dieser Denksysteme ist also ein anderer, nämlich die Erkundung der Art und Weise, wie sich der Einzelne zur Welt stellt, sei es, um sich in ihr einzuordnen oder sich ihr zu entziehen. Für diese Denksysteme ist die Bezeichnung" Wege", im Sinne geeigneter "Verfahren" zur Erlangung eines praktischen Ziels, angebrachter. Ihre Wortführer sind eher als Meister denn als Philosophen zu bezeichnen. Genau diese Eigenschaft der großen östlichen Denksysteme befriedigt heutzutage vor in Raum und Zeit um ein vorgestelltes Zentrum, was bedeutsamen Austausch mit angrenzenden und entfernten Gebieten nicht behindert.

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allem jene Mitglieder der westlichen Gesellschaft, die mit der gegenwärtigen Krise der großen Transformationsprozesse nicht zurecht kommen. Von der Welle östlicher Spiritualität wird aber meines Erachtens immer nur eine kleine Minderheit erfaßt werden. Auch in vergangenen Jahrhunderten erhielt der Okzident immer wieder wichtige Anstöße aus dem Orient, die er sich jedoch immer durch Umwandlung anzueignen wußte: es genügt in diesem Zusammenhang der Hinweis darauf, wie das neoplatonische Denken als wichtigste Quelle westlicher Mystik die Wiedervereinigung des Einzelnen mit dem Universum in die Begriffe einer direkten Betrachtung und Erfahrung des Göttlichen übersetzte, die daher bis heute in intellektualisierter Form innerhalb der bekannten Umrisse der Metaphysik des Seins verstanden wird. Ich möchte mich hier nicht mit fremden Federn schmücken. Daß die an Verantwortung gebundene Ausübung von Herrschaft ein typisches Merkmal Europas ist, habe nicht ich entdeckt. Es handelt sich vielmehr um einen ehrwürdigen Gemeinplatz der Institutionengeschichte, den ich mir vor über dreißig Jahren in einem einfachen Handbuch für Studenten aneignete und dem hier endlich der gebührende Respekt gezollt werden soll für die großen Impulse, die von ihm auf die italienische Geschichtsschreibung ausgingen, indem es provinzielle Begrenzungen überschritt und sich einer Aufgabe widmete, die uns auch heute noch aufgetragen ist und für die wir heute besser gerüstet sind - die Überwindung der nationalen Geschichtsschreibung und die Formulierung eines (möglichen) historischen Gedächtnisses Europas. Ich übertreibe sicherlich nicht, wenn ich behaupte, daß wir ohne die drei Bände von "Lo Stato moderno « heute nicht hier diskutieren würden, oder zumindest würden wir es mit sehr verschiedenen und weniger ergiebigen Begriffen tun4 • Ich habe auf die "Entprovinzialisierung" angespielt: Dies muß jedoch präzisiert und mit Inhalt gefüllt werden, soll es nicht zu einem einfachen Schlagwort verkommen. Der besondere Beitrag dieses Vorgehens bestand - zumindest für mich - darin, daß es beinahe brutal all jene zwang, die unter den gewohnten Vorzeichen des Staats als Kunstwerk sich im italienischen historiographischen Kontext mit städtisch-kommunalen Traditionen befaßten, sich mit der übermächtigen europäischen Wirklichkeit auseinander zu setzen, die auf den nicht immer ganz zutreffenden aber dafür gängigen Begriff der feudalen Repräsentativinstitutionen gebracht wird, und diese vor dem Hintergrund der ihnen eigenen sozialen und ständischen Struktur zu verstehen: Reichstage, Parlamente, General- und Provinzialstände, cortes - alles Begriffe, die bis dahin vielen italienischen Historikern größtenteils unbekannt waren, so wie auch ihr Interesse für die Stadtstaaten Mittel- und Norditaliens in der frühen Neuzeit überhaupt nur schwach ausbildet war.

E. Rotelli / P Schiera (Hrsg.), Lo Stato moderno, 3 Bde., Bologna 1971-1974.

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Wenn ich diese Jahre in Erinnerung rufe und die seither - in und außerhalb Italiens - getane Arbeit betrachte, kann ich nicht umhin, eine gewisse Befriedigung zu empfinden. Nicht nur weil wir heute kaum noch Parlamente mit Generalständen verwechseln, wie es damals selbst vielen Experten unterlief, sondern auch weil die gesamte Welt der europäischen politischen und sozialen Institutionen uns heute viel besser bekannt ist. Zugleich ging die Tendenz zurück, Forschungsergebnisse in vorgefertigte, rigide Fortschrittsmodelle zu pressen, wodurch der Spannung zwischen empirischen Einzelfall und allgemeinem Muster das ihr eigene kreative Potential zurückgegeben wurde. Wir sind heute in der angenehmen Lage, nicht mehr richten zu müssen: weder müssen wir in diesen Einrichtungen mehr oder minder gelungene Vorläufer heutiger Systeme repräsentativer Demokratie, Bannerträger der Freiheit, unerschrockene Kämpfer gegen den Despotismus sehen, noch beschränkte und bedrückende Festungen egoistischer Privilegien kurzsichtiger Minderheiten, die sich der Unterdrückung der Mehrheit verschrieben hatten, und die den Reformbestrebungen des modernen Staates entgegenstanden, od~r wiederum (das ist eine neuere Tendenz) als Vorreiter lokaler Selbstbestimmung, wobei die Konnotation je nach Geschmack den oben umschriebenen Richtungen entspricht. All dies ist als sinnloses Unterfangen abzulehnen, vielmehr gilt es, statt Werturteile zu formulieren, funktionale Bewertungskriterien heranzuziehen. Wie viele Gegenstände dieser vielfältigen sozialen und institutionellen Welt waren sie bisweilen, je nach Zeit und Ort, zugleich das eine und das andere. So begegnet uns die Figur des Lehnsherren, wie wohl bekannt ist, abwechselnd im Gewand des wohltätigen Beschützers oder als zu stürzender Tyrann: In historischer Hinsicht von Belang ist die Frage nach dem" wann", "warum" und "weshalb" seines Erscheinens in der einen oder anderen Form. In anderen Worten: das wahre Problem besteht darin, den Grad der Funktionalität dieser Figuren und Einrichtungen als Abbildungsfläche sozialer Veränderungen einer Gesellschaft und der in ihr bestehenden Herrschaftsordnung zu einem gegebenen Zeitpunkt zu bestimmen. Dazu gehört ihre Fähigkeit, den alltäglichen Austausch zwischen Regierenden und Regierten sowie mit allen anderen Trägern dynamischer sozialer Entwicklung herzustellen, die langsame oder schnelle Veränderungen erzeugten und die zweifellos ein weiteres Charakteristikum der europäischen Geschichte darstellen. Der europäische Raum stellt insofern einen einzigartigen Fall der Menschheitsgeschichte dar, als er Schauplatz des einzigen ununterbrochenen wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses mit hohem Tempo und über einen langen Zeitraum hin ist. Diese Entwicklung löste notwendigerweise eine ununterbrochene soziale Aufstiegsdynamik aus, die alle Institutionen besonders intensiv und häufig vor neue Herausforderungen stellte. Es soll hier keineswegs unterstellt werden, daß diese soziale Dynamik immer gleichmäßig alle Teile Europas erfaßt habe. Die dauernde Interaktion der verschiedenen Gebiete und die verschiedenen Entwicklungstendenzen

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setzten sich jedoch durch ihre zeitliche Abfolge letztlich subjektiv und objektiv zu einem systemischen, kumulativen Prozeß zusammen. Auch hier muß der Blick über den rein institutionellen Betrachtungsrahmen hinausgehen, um die erst im Keimzustand sich befindenden Einrichtungen hinter den Forderungen und ihren Trägern zu erkennen: es sind die komplexen Legitimationszwänge beim Ausbruch städtischer und ländlicher Konflikte herausgearbeitet worden, ebenso die zwar nicht institutionalisierten, doch aber stark kodifizierten und ritualisierten Abläufe verschiedener Aufstände, wie z.B. die französischen ländlichen Revolten im 17. Jahrhundert. Es wurde gezeigt, wie unter bestimmten Umständen die Rebellion den Platz eines primitiven noch nicht existenten Systems der Rechtspflege einnahm, oder umgekehrt, wie Rechtsstreitigkeiten zuvor stattgefundene politische und soziale Auseinandersetzungen ersetzten. Mit einem Wort, die Einrichtungen, von denen die Rede ist, stellen nur die sichtbare Spitze eines komplexen Systems von Lösungsmöglichkeiten dar, und zu diesen gehört mit vollem Recht das Mittel der Denk- oder Bittschriften und Suppliken. Es handelt sich hier um Werkzeuge einer Welt, die - wie wir heute erkennen - in der alltäglichen Praxis ständig gegen die eigenen Idealvorstellungen ewiger Unveränderlichkeit verstieß, die in der Vergangenheit von einem großen Teil der Geschichtswissenschaft für bare Münze genommen worden sind. Doch mehr noch: Der Anstieg der Untersuchungen und der Kenntnisse in bezug auf ökonomischer, sozialer, geistesgeschichtlicher, politischer und institutioneller Phänomene, die in diesem Zusammenhang für die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen europäischen Gesellschaften von Belang sind, ging einher mit dem langsamen Verschwinden der bis weit in die sechziger Jahre hinein in den Geschichtswissenschaften allgegenwärtigen nationalstaatlichen Obsession. Diese war unfähig, die Vergangenheit anders als durch das im 19. Jahrhundert entstandene Prisma modellhafter Staatlichkeit zu erfassen, was sich in einem wahren Kult um den Absolutismus niederschlug, der zum einzig wahren Weg hin zum sogenannten modernen Staat erkoren wurde. Diese Vorliebe war ideologisch geprägt und trug der Empirie kaum Rechnung, wenn man bedenkt, daß dieses vorgebliche Modell sich nur in einem europäischen Land durchsetzte, und dies nur für einen kurzen Zeitraum und mit ausgesprochen fragwürdigen Ergebnissen, was Effizienz und Qualität angeht. Alle unsere Überlegungen deuten in dieselbe Richtung: es bedeutet nicht, wie oft ahnungslos verkündet wird, das Ende der Ideologien, sondern das Ende der Geschichte als Vorhersehung. Nebukadnezar kann nicht mehr auf Daniel zurückgreifen und ist gezwungen, nicht seine Träume, sondern die Wirklichkeit zu befragen; nicht wohin diese gehen sollte, sondern, wohin sie wirklich geht, hoffend, daß sie dies in einer bestimmten wünschenswerten Richtung tut. Daher sind wir heute in der Lage in keineswegs beliebiger Weise, verschiedene Wege auch im Hinblick auf die Entwicklung von Staatlichkeit zu begreifen:

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"Wie ein erratischer Block steht das Heilige Römische Reich deutscher Nation als Verfassungsgebilde vom 9. bis zum 19. Jahrhundert in der Landschaft der europäischen Staaten und im Kontinuum der europäischen Geschichte. Es ist weder eine Monarchie noch eine Republik, kein Staatenverband und keine Feudalaristokratie, sondern es versteht sich selbst vor allem als Imperium der Christenheit, das seine Autorität nicht aus der politischen Macht nimmt, sondern aus einem religiösuniversalen Selbstverständnis dieser Christenheit ... In einer Zeit, in der es sonst nur Monarchien oder Republiken gab, hat Pufendorf dieses Reich ein Monstrum genannt und damit gezeigt, daß es eben mit staatlichen Normen nicht zu fassen ist. Aber die Deutschen, die dieses Reich nicht aus eigener Schöpfung, sondern aus römisch-fränkischer Tradition innehatten, haben sich stets mit diesem Reich identifiziert, es ist die politische Form gewesen, welche diesem an Raum und Völkerschaften unüberschaubaren Gemenge doch Selbstverständnis, Einheit und Bestand zu geben vermochte"'.

Das Ende teleologischer Sichtweisen nötigt zu einer Neuinterpretation auch einer Reihe anderer Phänomene. Neben der ununterbrochenen wirtschaftlichen Entwicklung und der dauerhaften sozialen Dynamik erscheint die außergewöhnliche zeitliche wie räumliche Dichte von Konflikten im weitesten Sinne, die latent, offen, friedlich oder gewalttätig, gerichtlich oder außergerichtlich, zwischen Individuen oder zwischen Gruppen ausgetragen werden, als weiteres Merkmal der europäischen Geschichte. Diese müssen natürlich als ein Bündel von Mitteln angesehen werden, welche die notwendige Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Herrschaft aufrechtzuerhalten oder häufiger noch wiederherzustellen vermochten, wenn diese durch veränderte Umstände zurückgegangen war oder plötzlich ungenügend erschien. Dies trifft auf den Großteil der Denkschriften zu, auf Verträge, Gravamina, Zivilprozesse, aber auch auf viele deviante Verhaltensweisen bis hin zu den großen Traumata, die Europa schon immer zur Mutter der Revolutionen machten. Auch hier muß man sich vor Augen führen, daß das Subjekt - selbst die als Subjekt vorgestellte kulturelle Tradition oder historische Erinnerung - weit mehr erfaßt als die konkreten Phänomene selbst, die lange latent bestehen, bis sie zum erforderlichen Moment aufgerufen werden können. Man kann sich lange der Illusion hingeben, die Vergangenheit verdrängt zu haben und unangebrachte Triumphe in der langue duree feiern. Die soziale Dynamik kommt nicht unbedingt sofort zum Tragen, doch wenn, dann gründlich. Es ist sicherlich kein Zufall, daß der Zeit des größten revolutionären Umsturzes in Europa eine unter umgekehrten Zeichen stehende Zeit vorausging, während der sich ganze Generationen von Herrschern in dem Glauben wiegen konnten, daß es ihnen gelungen war, sich der äußeren Beschränkung ihrer Gewalt zu entledigen. Grund dieser Täuschung waren ohne Zweifel die grundlegenden Umwälzungen in allen europäischen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 17. H. Angermeier, Die Reichsreformation, 1410-1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984, S. 13.

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Giorgio Politi

Jahrhunderts, das unter diesem Gesichtspunkt als die eigentliche Wiege der heutigen Welt erscheint. Fast überall wurde die ständische Ordnung, die aus der vor allem den privilegierten Teilen der europäischen Gesellschaften auferlegten Umstrukturierung im Zuge der territorialstaatlichen Entwicklung im 14. und 15. Jahrhundert entstanden war, deutlich geschwächt, um schließlich jede gesellschaftlich strukturierende Bedeutung zu verlieren. Folglich funktionierte auch der gesamte institutionelle Rahmen, der sich auf diese Grundlagen stützte und innerhalb dessen Kommunikation und Austausch zwischen Regierung und Gesellschaft gewährleistet waren, nicht mehr und verlor so jeden Sinn. Eine ganze Zeit bestanden Räte jeder Art, Verwaltungs- und Gerichtshöfe, Ständeversammlungen und cortes fort, es war dem mehr oder minder aufgeklärten Fürsten jedoch ein leichtes, sie schmerzfrei auszuschalten, selbst dort, wo einige Jahre zuvor weit bescheidenere Eingriffe vor der Androhung drastischer Auflehnung versandet waren. So konnte sich der erste Bourbone auf dem spanischen Thron mit einem Federstrich eines der am besten verankerten und angesehensten europäischen Systems lokaler Privilegiensicherung - des katalanisch-aragonesischen - entledigen, dessen Reaktion auf weniger schwerwiegende Gefährdungen zuvor den persönlichen und politischen Sturz von Olivares herbeigeführt hatte. Auch in einem Stadtstaat wie Mailand läutet die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts das Ende der Zeit lokaler Herrschaft ein, verstanden als Grundlage und Ausdruck eigenständiger Vertretungsansprüche gegenüber dem Fürsten: die verschiedenen Vertreter des Stadtadels verstanden sich nunmehr selbst als einer umfassenderen herrschenden Schicht zugehörig, woraus sich Prestige und Reichtum ableiten ließen. Die alten städtischen Versammlungen, in denen die meisten von ihnen durchaus weiter saßen, bestanden eine Weile fort, waren jedoch nicht mehr Träger einer bedeutsamen sozialen oder städtischen Wirklichkeit. Es handelte sich um leere Hülsen, die bestens von anderen, geeigneteren Werkzeugen ersetzt werden konnten. Die Suche nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten der sich andeutenden individualistischen, de-institutionalisierten Gesellschaft, die sich horizontal, nach Kriterien wirtschaftlicher Macht ordnete, war schon damals voll im Gange.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Renate Blickle, Bern Nadia Covini, Mailand Angela De Benedictis, Bologna Irene Fosi, Chieti Marina Garbellotti, Trient Karl Hiirter, Frankfurt a.M. Andre HaIenstein, Bern Cecilia Nubola, Trient Giorgio Politi, Venedig Diego Quaglioni, Trient Harriet Rudolph, Trier Laura Turchi, Modena Gian Maria Varanini, Verona Andreas Würgler, Bern Christian Zendri, Trient