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German Pages 386 [387] Year 1992
Statuten, Städte und Territorien zwischen Mittelalter und Neuzeit in Italien und Deutschland
Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 3
Statuten, Städte und Territorien zwischen Mittelalter und Neuzeit in Italien und Deutschland
lIerausgegeben von
Giorgio Chittolini Dietmar Willoweit
Duncker & Humblot . Berlin
Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient Die Statuten der deutschen und italienischen Städte 30. Studienwoche Leiter der Studienwoche Giorgio Chittolini Dietmar Willoweit Italienische Ausgabe Statuti citta territori in Italia e Gerrnania tra medioevo ed eta modema (Annali dell'Istituto storico italo-gerrnanico in Trento. Quademo 30), il Mulino, Bologna 1991 Übersetzung der italienischen Texte Judith Elze
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Statuten, Städte und Territorien zwischen Mittelalter und Neuzeit in Italien und Deutschland: il Mulino, Bologna, 1991 / [Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient]. Hrsg. von Giorgio Chittolini ; Dietmar Willoweit. [Übers. der ital. Texte Judith Elze]. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient; Bd. 3) ( ... Studienwoc4e / Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient; 30) (Annali dell'Istituto Storico Italo-Gerrnanico in Trento ; Quademo 30) Einheitssacht.: Statuti citta territori in Italia e Gerrnania tra medioevo ed eta modema (dt.) ISBN 3-428-07333-9 NE: Chittolini, Giorgio [Hrsg.]; EST; Istituto Storico Italo-Gerrnanico (Trento): Schriften des Italienisch-Deutschen ... ; Istituto Storico Italo-Gerrnanico (Trento): .... Studienwoche; Istituto Storico ItaloGerrnamico (Trento): Annali dell'Istituto Storico ...
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 3-428-07333-9
Inhaltsverzeichnis
Giorgio Chittolini Statuten und städtische Autonomien. Einleitung ....................... ..............
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Dietmar Willoweit Stadt und Territorium im Heiligen Römischen Reich. Eine Einführung.................................................................................. .........
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Gerhard Dilcher Landrecht - Stadtrecht - Territoriales Recht ............... ..... ........ ..... ...........
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Elena Fasano Guarini Die Statuten der Florenz untetworfenen Städte im 15. und 16. Jahrhundert: Lokale Reformen und Eingriffe des Machtzentrums ....... ............ ............ ........................ ........................ ..............
53
Friedrich Ehel Gesetzgebung und Vetwaltungshoheit in ausgewählten mittel- und ostdeutschen Städten während des Mittelalters ...... .................
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Mario Ascheri Statuten, Gesetzgebung und Souveränität: Der Fall Siena........ ...... ......... 113 A ngela De Benedictis Die Bologneser Statuten zwischen Körperschaften und Landesherrn .................................................................................................. 157 Hans Schlosser Statutarrecht und Landesherrschaft in Bayern ......... .. ............................... 177 Gian Maria Varanini Die Statuten der Städte der venezianischen Terraferma im 15. Jahrhundert ............................................................................................ 195 Claudia Storti Storchi Betrachtungen zum Thema "Potestas condendi statuta".......................... 251 Wilhelm Janssen Städtische Statuten und landesherrliche Gesetze im Erzstift Köln und im Herzogtum Kleve (1350-1550) ............................................. 271
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Inhaltsverzeichnis
Isabella Lazzarini Das Stadtrecht in einer städtischen Signorie: Die Mantuaner Statuten von den Banacolsi bis zu den Gonzaga 0313-1404) ....................... 295 Pirmin Spieß Willkür, Statuten und Landesherrschaft in der spätmittelalterlichen Stadt Südwestdeutschlands ..................................................... 325 Rodolfo SaveUi "Capitula", "regulae" und Rechtspraxis in Genua während des 14. und 15. Jahrhunderts .................................................................... 343
Statuten und städtische Autonomien Einleitung Von Giorgio Chittolini
Bei einem Thema mit einer so reichen historiographischen Tradition, wie es bei dem Gegenstand dieses Seminars gerade der Fall ist, können sich diese Seiten als Einführung zu den viel umfangreicheren und detaillierteren Beiträgen der Referenten nur darauf beschranken, einige Ausgangspunkte kurz zu umreißen, die sich auf die Geschichte der städtischen Gesetzgebung beziehen, und diese insbesondere hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Bedeutung darzustellen, welche sie dank der herausragenden politischen Stellung der Stadt in Nord- und Mittelitalien gegen Ende des Mittelalters und in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit erreichen oder erhalten konnte. 1. Städtische Statuten finden sich in ganz Europa. Doch bewirkt das besondere Gewicht, das die Stadt im kommunalen Italien erhält, daß sie vom Standpunkt der Rechtsgeschichte aus eine Rolle ersten Ranges spielt - dieselbe, die sie auch von einem politischen und territorialen Standpunkt aus innehat: Sie führt unter den gegebenen Voraussetzungen eine eigene und innovative Gesetzgebung ein, welche - als Element der Koordination und der Regelung von allgemein gebräuchlichen Rechtssystemen - einen wesentlichen Stellenwert besitzt. Diese zentrale Rolle wird im übrigen Europa in erster Linie von anderen politischen Kräften eingenommen: vom Kaiser, den Königen, den Territorialfürsten. Die städtische Gesetzgebung im Bereich des kommunalen Italiens scheint tatsächlich durch eine ausgeprägte Vorrangsstellung charakterisiert zu sein, die sie gegenüber anderen Gesetzesquellen erlangt hat - und zwar insbesondere wegen der Wirksamkeit, mit der sie sich durchzusetzen vermag, wegen des Umfanges und der tendenziellen Allgemeingültigkeit ihrer Inhalte, ihrer Fähigkeit, sich über das Territorium auszubreiten und auch für letzteres Gesetz zu werden.
2. Mit den sich durchsetzenden Regionalstaaten im 14. und 15. Jahrhundert stellt sich die Gesetzgebung der Fürsten und der ,herrschenden' Städte über die Gesetzgebung der nunmehr unterworfenen Städte. Die Statuten letzterer werden "reformiert"; die potestas statuendi und die gesetzgeberische Produktion der städtischen Regierungsorgane werden eingegrenzt und kontrolliert. Nichtsdestotrotz behalten die statutarischen Normen und rijormagioni (Stadtrechtsreformationen) im 15. und 16. Jahrhundert-wenn auch in den einzelnen Staaten in verschiedenem Maße - im Rahmen des weitergefaßten Gemeinen Rechtes
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neben den Fürstendekreten als deren substantielle Ergänzung in vielen Bereichen ihre Gültigkeit - Bereiche, die von den städtischen ,Körpern' (Ratskollegien) mitunter nicht ohne Konflikte und Streitigkeiten energisch verteidigt und ausgedehnt werden. Im Statut sehen die Stadtbürger (cives) nicht nur das Produkt und das Symbol der alten Autonomie, sondern sie finden darin objektiv Mittel der gesetzgeberischen Tätigkeit, die noch immer im Stande sind, städtischen Instanzen und Interessen Ausdruck zu verleihen, und insbesondere weite Bereiche der lokalen Neuerungen Rechtspraxis nach alten und erprobten Vorgehensweisen zu regeln. 3. Die Wirksamkeit des Statuts und der riformagioni (des "städtischen Rechtes") resultiert vor allem aus den engen städtischen und patrizischen Verbindungen innerhalbder Schicht der Rechtsgelehrten (und der Kollegien der Doktoren des Rechts), die einschneidend und mit weitreichenden Kompetenzen auf lokaler Ebene wirken. Dasselbe geschieht durch den im städtischen Bereich gegebenen Zusammenhang der verschiedenen Institutionen (Regierungsorgane, Gerichtshöfe) sowie der Verfahren und Praktiken, die innerhalb der neuen regionalen Ordnungen noch in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit von erheblicher Bedeutung bleiben. 4. Der Niedergang des Statuts geht also nur sehr langsam vor sich. Selbst im 17. und 18. Jahrhundert bleibt die Gültigkeit vieler seiner Normen unangezweifelt; trotz jener Tendenzen zur ,vereinheitlichung' des Rechts, behält das Statut zu seiner ,Regionalisierung' oder ,verstaatlichung', die oft betont werden - Tendenzen, weiche immerhin das Gewicht des jus proprium verringern, indem sie dessen besondere städtische Konnotationen schwächen - im letzten Abschnitt des Ancien Regime wegen seiner herausragenden Rolle in der städtischen Tradition und Realität in Vergangenheit und Gegenwart nicht nur Gültigkeit, sondern gewinnt sogar angesehene und überzeugte Verteidiger. I. Einige Eigenschaften der städtischen Statuten in Italien
Die städtischen Statuten stellen, wie oben erwähnt, in den Jahrhunderten des hohen und späten Mittelalters ein allgemeines europäisches Phänomen dar: als Wiederspiegelung des Wachstums der Städte, der neuen Eigenarten der städtischen Gesellschaft und ihrer sozialen und politischen Organisationsformen 1. j. Gilissen, Introduction historique au droit, Bruxelles 1979, S. 80-81, 286-288; (und ders., La loi et la coutume dans l'histoire du droit depuis le haut Moyen Age, in: Rapports generaux, VIeme Congres international de droit compare, Hambourg 1962, Bruxelles 1964, S. 63-66, 73-75); A. Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte, I, Mittelalter (1100-1500), hrsg. von H. Coing, München 1973, S. 517799, insbes. S. 573 ff., (für Italien), S. 606 ff. (für Deutschland), und passim; R.C. van Caenegem, Das Recht im Mittelalter, in: Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, Fribourg / München 1980, S. 609-657, insbes. S. 625-627; H. Coing, Europäisches Privat-
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Aber eine vergleichende Betrachtung erlaubt es, einige besondere Eigenschaften hervorzuheben, welche das Phänomen der Statutengesetzgebung in Nordund Mittelitalien kennzeichnen, als Folge der größeren Bedeutung, die hier das Wachstum der Städte besitzt. Dies sind die Frühzeitigkeit, der Umfang und die Vielzahl der Statuten; die juristische und politische Geltungskraft, mit der diese sich zu anderen Gesetzesquellen, die bereits vorher existierten oder gleichzeitig vorhanden sind, in ein Verhältnis setzen; der Reichtum und die fortschreitende Verbreitung ihrer Normen, die sich auf eine Gesellschaft, eine Wirtschaft, auf politisch-territoriale Ordnungen zu beziehen vermögen, welche sehr viel ausgedehnter und umfassender sind als die der städtischen "Inseln" jenseits der Alpen. Mit ihren Möglichkeiten zur Ausarbeitung und zur Anwendung eines eigenen Rechtes, sowie mit ihrer Fähigkeit, jenen besonderen Organismus zum Leben zu erwecken, welcher als Stadtstaat in Erscheinung tritt, leitete die italienische Stadt Prozesse der Vereinigung, der Koordination, der Bildung neuer Strukturen ein, denen eine äußerst lange Dauer bestimmt sein sollte: Prozesse, die sich im übrigen Europa ebenso wie sie verschiedene Formen politischer Organisation hervorriefen, genauso auf dem Gebiet des Rechts unterschiedlich auswirkten, in anderen Formen der Gesetzgebung und in der Schaffung und Förderung anderer "Rechte". Diese Andersartigkeit spiegelt sich im übrigen auch gut in den voneinander abweichenden Vorstellungen wieder, wie die verschiedenen historiographischen Traditionen in den einzelnen Ländern ganz allgemein das Aufkommen des "Stadtrechtes" nach dem Jahr 1000 und in den folgenden Jahrhunderten illustriert haben. Für Europa und insbesondere für Deutschland hat man dem Vorhandensein eines nicht geschriebenen Gewohnheitsrechtes als einem wesentlichen Element der Rechtsentwicklung besonderes Gewicht beigemessen, eines Rechtes, das in der Gesellschaft lebendig ist ("ratio vivens"), das nicht vom Gesetzgeber ,geschaffen' sondern vom Richter ,gefunden' wird und das außerhalb der willkürlichen Eingriffe des letzteren steht: ein Recht, das als das "gute, alte Recht" bezeichnet wird 2 . Dies ist ein Bild, auf dessen Hintergrund sich nach der "großen Pause" der Gesetzgebung in den vorhergehenden Jahrhunderten und im Gegensatz zur "unbewußten (Fort)Entwicklung" des Rechts, die neue, obrecht, I, Älteres Gemeines Recht (1500-1800), München 1985, S. 105 ff.; M. Bel/omo, L'Europa del diritto comune, 4. Aufl., Roma 1989, S. 61 ff. Nach dem klassischen Aufsatz von F. Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift, CXX (1919) (neu veröffentlicht als Buch Tübingen 1952), und der ausführlichen Diskussion, die darauf gefolgt ist (Hinweise in: K. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, 9. Aufl., Opladen 1989, II, S. 253-255) vgl. man H. Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, LXXV (1958), S. 207-251; K. Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts, Sigmaringen 1968, S. 309-335; G. Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter, Köln / Wien 1971; H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, I: Frühzeit und Mittelalter, 2. Aufl., Karlsruhe 1962, S. 25, 235; A. Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, S. 520-525;]. Gilissen, La coutume, Turnhout 1982, S. 12 ff. Vgl. auch AJa. Gurevic", Le categorie della cultura medioevale (1972), Torino 1983, S. 163 ff., 174-176, 188-193.
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gleich weitgehend durch das Gewohnheitsrecht genährte "bewußte (Rechts) Schöpfung" abhebt. Dabei ist das Bewußtsein der historischen Wende, die durch die "Wiederbelebung" der Gesetzgebung 3 hervorgerufen wird, besonders ausgeprägt - einer Wende, welche sich auch in der Erscheinungsform des neuen Rechts als geschriebenem Recht ausdrückt 4 und die außerdem durch die Bildung des Stadtrechts wegen seiner neuartigenEntstehungsweise und wegen seiner spezifischen Inhalte bestimmt ist. Gemeint ist das "Stadtrecht", das zwar als bezeichnendes, aber vielleicht nicht zentrales Element in einem Gesamtrahmen verstanden wird, in dem sowohl die Grundelemente - das "gute, alte Recht" und das "Gewohnheitsrecht" oder die coutumes (Provinzialgesetze) - als auch andere Akteure der Bildung neuer Gesetze und der verschiedenen Formen von Gesetzgebung - das Reich zum Beispiel, aber vor allem auch die Fürsten sowie die kleineren Territorialherren - große Bedeutung und großes Gewicht besitzen. Es ist also ein Rahmen, in dem das Stadtrecht, obgleich es in Form und Inhalt als relativ innovativ erscheint (insoweit es ein Recht ist, welches abhängig von einer städtischen Gesellschaft, ihren Verhaltensweisen, Interessen und Zielen geregelt wird)5 weiterhin stark von Gewohnheitse1ementen geprägt ist, oder einer stadtfremden Herkunft entspringt, und doch in einem sehr viel weitergefaßten System enthalten ist und darauf begrenzt bleibt, sofern es nicht in eine untergeordnete und zweitrangige Position gerät6 . Für Deutschland vgl. insbesondere W. Ehel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. Aufl., Göttingen 1958, S. 42 ff.; H. Krause, Gesetzgebung, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte, I, Berlin 1971, Sp. 1606-1615; allgemeiner vgl.]. Gilissen, Introduction historique au droit, S. 277 ff.; L. Genicot, La loi, Turnouth 1977, S. 22-28; R.C. van Caenegem, Das Recht im Mittelalter, S. 621 ff. Unter den jüngeren Beiträgen vgl. H. Keller, Oberitalienische Statuten als Zeugen und als Quellen für den Verschriftlichungsprozeß im 12. und 13. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, XXII (988), S. 286-314, und G. Dilcher, "Hell, verständig, für die Gegenwart sorgend, die Zukunft bedenkend". Zur Stellung und Rolle der mittelalterlichen deutschen Stadtrechte in einer europäischen Rechtsgeschichte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, CVI (989), S. 12-45, 36-39; vgl. aber auch E. Cortese, La norma giuridica. Spunti teorici nel diritto comune classico, II, Milano 1964, S. 355-362; L. Genicot, La loi, S. 37 und Bibliographie; Recht und Schrift im Mittelalter, hrsg. von P. Classen, Sigma ringen 1977. Man vergleiche vor allem den Band: La ville, III, Le droit prive, Bruxelles 1957 (Recueils de la Societe Jean Bodin, VIII), und neben den Beiträgen über verschiedene europäische Gebiete insbes. den umfassenden Aufsatz von]. Gilissen, Le droit prive des villes vu sous l'angle de l'histoire comparative, S. 5-20, zusammen mit den Beobachtungen von G. Dilcher, "Hell, verständig", S. 18-19. 6 Vgl. vor allen Dingen für Deutschland die Neuuntersuchung der deutschen Historiographie jüngsten Datums von G. Dilcher, "Hell, verständig", (und im vorliegenden Band: ders., Landrecht - Stadtrecht - Territoriales Recht, S. 49-52). Für die sehr begrenzte Bedeutung, die dem Stadtrecht in einigen allgemeinen Rechtsgeschichtsabhandlungen beigemessen wird, vgl. zum Beispiel]. Gilissen, Introduction historique au droit, S. 277, oder F. Olivier Martin, Histoire generale du droit fran~ais des origines a 1789,
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In Italien wird der Erfolg der Statutengesetzgebung in der Historiographie - wenigstens in jener, die geneigt ist, die Betrachtung der Geschichte des Rechts und der Gesetzgebung in Zusammenhang mit der Geschichte der politischen und institutionellen Verfassungen zu sehen 7 - häufig als ein sehr umfassendes und bezeichnendes Phänomen gedeutet - vielleicht auch wegen der scientia juris, die in den Statuten ihren Ausdruck findet, wegen der besonderen politischen Bedeutung des Statuts und wegen der Macht, zu deren Erhalt es beiträgt. Dieses so bedeutende Phänomen der Statutengesetzgebung verdeckt völlig den Blick auf den Hintergrund und besetzt fast das ganze Bild, so weit, daß sich vielleicht auf lange Sicht die Proportionen und Maße in der Forschung verändern, so daß das Gewohnheitsrecht8 oder andere Rechte außer dem Stadtrecht oder die einfache Tatsache der Wiederaufnahme der "Gesetzgebung" - die im allgemeinen tatsächlich im kommunalen Raum neben den städtischen Kommunen keine Entscheidungsträger vergleichbarer Bedeutung hat - in den Abhandlungen über das Recht im 12.-14. Jahrhundert sehr viel weniger Platz einnehmen. Diese starke Aufmerksamkeit gegenüber dem Statut und der städtischen Gesetzgebung im allgemeinen - und die entsprechend geringere AufmerksamParis 1925, S. 414-416 oder in anderer Hinsicht S. Reynolds, Kingdoms and communities in Western Europe, 900-1300, Oxford 1984, S. 19,52-53. Für die ideologischen Motivationen, die andererseits zu anderen Zeiten dazu beigetragen haben, die Aufmerksamkeit der Historiker auf die "Stadtrechtsforschung" zu ziehen, vgl. K. Kroeschell, Stadtrecht und Stadtrechtsgeschichte, in: Studium generale, 16 (1963), S. 481-488, jetzt auch in: Die Stadt des Mittelalters, II, hrsg. von C. Haase, Darmstadt 1972, S. 281-299. Die Statuten bieten bekanntermaßen ein reiches Feld für Untersuchungen, denen sich sehr unterschiedliche und differenzierte Forschungsrichtungen - und methodologische Richtungen - gewidmet haben und widmen. Für einige jüngere Beiträge in einer heute sehr lebhaften Debatte gilt, daß sie sich gegen eine als übertrieben beurteilte Aufmerksamkeit hinsichtlich der Verbindung von Norm - Recht - Ordnung zur Wehr setzen und eine nicht vorab durch die "juristische Erfahrung" bedingte Analyse der scientia jurisfür nötig halten, vgl.: G. Cassandro, La genes i dei diritto comune, in: ndiritto comune e la tradizione giuridica europea. Atti dei convegno di studi in onore di Giuseppe Ermini, Perugia 30-31 ottobre 1976, Perugia 1980, S. 51-59; G. Paradisi, n problema dei diritto comune nella dottrina di Francesco Calasso, ebd., S. 167-300; U. Santarelli, ,Ius commune' e ,iura propria': strumenti teorici per l'analisi di un sistema, in: Studi in memoria di Mario E. Viora, Roma 1990, S. 638 (und ders., Riflessioni sulla legislazione statutaria d'Italia, in: Atti del terzo Convegno delle Societa StoricheToscane, Castelfiorentino 1982, S. 143-147); M. Ascheri, Un'ipotesi di intervento, in: Nuova rivista storica, LXIX (1985), s. 95-106; ders., Statuten, Gesetzgebung und Souveränität: der Fall Siena, im vorliegenden Band; V. Piergiovanni, Statuti e riformagioni, in: Civilta comunale: Libro, scrittura, documento. Atti deI Convegno, Genova 8-11 novembre 1988, Genova 1989, S. 81-98; M. Bellomo, L'Europa dei diritto comune, S. 86-89, 152 ff.; C. Storti Storchi, Considerazioni in tema di statuti, in Vorbereitung. (Ich danke der Autorin dafür, mir die Lektüre des Manuskriptes ermöglicht zu haben, sowie dafür, den vorliegenden Aufsatz gelesen und mit mir diskutiert zu haben). 8 Zu der relativ geringen Aufmerksamkeit, welche die italienischen Historiker dem Gewohnheitsrecht gewidmet haben, vgl. zum Beispiel j. Gilissen, La coutume, S. 18, Anm.22.
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keit gegenüber den anderen, oben genannten Aspekten - findet ihren Grund und ihre Berechtigung im übrigen in einigen allgemein bekannten Eigenschaften, welche, wie schon angedeutet wurde, die Besonderheit und Bedeutung der Statutengesetzgebung charakterisieren; zu diesen Eigenschaften gehört u.a.: a) die Bedeutung, die sie im Rahmen des ,Rechtes der Stadt' erlangt als freie Schöpfung eines politisch autonomen Organismus, welcher dazu in der Lage ist, sie gegenüber anderen Gesetzesquellen durchzusetzen, die an anderer Stelle zusammenfließen, um das "Stadtrecht" zu bilden; b) die relative Originalität und der Umfang der Inhalte des statutarischen Rechtes; c) ihre starke Durchsetzungskraft und Fähigkeit zur territorialen Ausbreitung. a) Die Beschäftigung mit dem sogenannten "diritto urbano" (Stadtrecht) ist in den italienischen Darstellungen zur Geschichte der städtischen Kommune in Italien weitgehend identisch mit der Behandlung der Statuten und der städtischen Gesetzgebung. Und dies trifft auch zu, obwohl die beiden Begriffe des "diritto urbano" und der "statuti cittadini" nicht hundertprozentig übereinstimmen, denn einerseits bezeichnet der Ausdruck "statuti cittadini" im weiteren Sinne einer städtischen Gesetzgebung - ungeachtet einer vielleicht zu schematischen und oberflächlichen Anwendung - ein buntes Miteinander von Gesetzen, die in unterschiedlichen Formen, von verschiedenen kommunalen Organen und Magistraten und mitunter - im Zuge einer noch unpassenderen Anwendung - von Körpern und Organismen erlassen wurden, die sogar außerhalb der eigentlichen Kommune standen, wenn sie auch in den politischen Horizont der Stadt einbezogen waren, wie popolo, Zünfte und Handelsorganisationen. Und andererseits läßt sich gut erkennen, daß dieselbe kommunale Gesetzgebung aus einer Vielfalt von Komponenten verschiedener Herkunft - z.B. vom Gewohnheitsrecht - gebildet ist, und daß sie doch implizit oder explizit andere Rechtsebenen und einen weitergefaßten juristischen Horizont voraussetzt. Der Begriff "Stadtrecht" (oder ähnlich) herrscht dagegen bekanntermaßen in den Abhandlungen vor, die die Länder nördlich der Alpen betreffen: dies vielleicht vor allem deshalb, weil die Quellen, aus denen es sich zusammensetzt, noch differenzierter und heterogener sind und sich schlecht dazu eignen, auf einen einheitlichen Begriff von städtischer Gesetzgebung oder Statut zurückgeführt zu werden; insbesondere aber, weil zahlreiche unter ihnen nicht aus einer autonomen Gesetzesinitiative der Stadt hervorgehen und auch nicht immer Zeugnisse von Gewohnheiten, Praktiken und lokalen Vorgehensweisen sind, die sich autonom entwickelt hätten, sondern weil sie von Obrigkeiten festgelegt werden, die außerhalb der Stadt stehen und ihr übergeordnet sind - in Form von Privilegien und "Handfesten", oder von Chartes de franchise und Ordonnances, welche vom Kaiser, bzw. vom König oder von Grafen, Fürsten und Bischöfen, usw. zugestanden und erlassen werden. Es handelt sich hier also um ein Stadtrecht, das sich aus äußerst unterschiedlichen Quellen zusammensetzt und von verschiedenen Obrigkeiten geschaffen wird; "städtisch" ist es also nicht als Ausdruck der Fähigkeit der Stadt, Statuten zu erlassen, und ihrer politischen Autonomie, sondern städtisch ist es einzig und allein - stamme
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es nun aus der Stadt selbst oder von außerhalb -, weil es sich auf die Personen, die Dinge und die Regierung der Stadt selbst bezieht9 . Die "statutarische" Einfärbung ist schwächer und blasser - das Zeichen einer nur wenibg ausgeprägten gesetzgebenden Autonomie und ihrerseit, eine Folge der untergeordneteren Randposition der Stadt nördlich der Alpen innerhalb größerer politischer Ordnungen, welche die herrschenden Organisationsstrukturen der Gesellschaft bilden: Strukturen, an denen, um die Worte Otto Brunners zu verwenden, "Aufstieg und Ausbreitung der Städte grundsätzlich nichts ändern", so daß die städtische Verfassungsgeschichte "in den Bereich der Verfassung der ,Herrschaften' im Lande gehört ,,10. Autonomie und politische Macht im ,kommunalen' Italien erlaubten dagegen der städtischen Kommune, einen intensiven Prozeß der Gesetzesproduktion einzuleiten, der unabhängig von fremden Normierungen und fähig war, bereits existierende Elemente in sich aufzunehmen - ein Prozeß, der in verschiedenen Formen in breves, riformagioni, regulae und Statuten Gestalt annahm, was mit Hilfe einer Mehrzahl von Organen - regelrechten statutari EVerfassern von Statuten), Ratskollegien, verschiedenen Magistraten oder dempopolo- auf alles andere als organische und lineare Weise durchgeführt wurde. Eine solche Gesetzesproduktion machte sich sowohl aufgrund der Art und Weise ihrer Herstellung als auch aufgrund ihrer spezifischen Inhalte für lange Zeit zur Zielscheibe der Kritik von seiten namhafter Juristen und Doktoren 11 . Aber die Autonomie und politische Macht der Kommune vermochten seit dem 13. Jahrhundert einen immer breiteren Einfluß auszuüben, und zwar insbesondere dadurch, daß sie den Stand der Juristen selbst in das eigene Umfeld einbezogen. Diese wurden dazu veranlaßt, das Statut als Gegenstand und Mittel ihres eigenen Wirkens zu akzeptieren. So setzten sie sich auf der einen Seite die gigantische theoretische Aufgabe, das jus proprium und das jus commune miteinander zu versöhnen, und auf der anderen Seite bemühten sie sich im konkreten Rechtsleben der kommunalen Welt, das Statut in der Anwendung der scientia juris, in der Rechtswissenschaft und in der Interpretation 12 als Bezugspunkt und als Prinzip zur Orientierung zu verwenden. Auf diese Weise Zu den verschiedenen Elementen, die auf deutschem Gebiet das Stadtrecht bilden, vgl. zum Beispiel außer den im vorliegenden Band veröffentlichten Beiträgen R. Scbroeder / von Künßberg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Leipzig 1927, S. 379-757; H. P!anitz, Die deutsche Stadt im Mittelalter, Graz / Köln 1965, S. 332-342; H. Mitteis / H. Lieberieb, Deutsche Rechtsgeschichte,16. Aufl., München 1981, S. 275-276; H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, I, S. 355-358. 10 O. Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl., Wien 1965, S. 187,349; vgl. G. Droege, Die Stellung der Städte, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, I: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 177-188. 11 H. Coing, Europäisches Privatrecht, S. 137 ff.; M. Bellomo, Societa e istituzioni in Italia dal Medioevo agli inizi dell'eta moderna, 5. Aufl., Catania / Roma 1991, S. 373 ff. 12 M. Sbriccoli, L'interpretazione dello statuto. Contributo allo studio della funzione dei giuristi nell'eta comunale, Macerata 1969; vgl. auch weiter unten, S. 27 ff.
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trugen sie entscheidend dazu bei, dem Statut nicht nur eine beträchtliche Geltungssteigerung, sondern einen konkreten Anwendungs~ und Einsatzbereich zu geben, und sie stärkten die Rolle der Stadt als autonomem Urheber oder Regulator des Rechtes J3 - eines insgesamt "städtischen", im wesentlichen "statutarischen" Rechtes, das eine eigene und besondere Frucht der kommunalen Gesellschaft und von deren eigenen und verschiedenartigen Formen politischer Organisation ist. Es ist ein Recht, das als charakteristisches Element der Stadt verstanden wird, das der eigentlichen Natur der Stadt entspricht, wenn - um die Formulierung von Brunetto Latini zu verwenden - "cittade e uno raunamento de gente fatto per vive re a ragione; onde non sono detti cittadini d'uno medesimo comune perche siano insieme raccolti entro ad un muro, ma quelli che insieme sono raccolti a vive re ad una ragione" [die Stadt ... eine Ansammlung von Menschen ist, dazu gemacht, daß man nach dem Recht lebt; daher sind Menschen nicht Bürger einer selben Kommune, damit sie innerhalb einer Mauer versammelt sind, sondern damit sie nach einem Recht leben"j14. b) Eine Folge sowohl der größeren Autonomie als auch der größeren Reife und sozialen und politischen Komplexität des städtischen Organismus in Italien ist die Originalität und die Fülle der Inhalte, welche die städtische Gesetzgebung in fortschreitendem Maße in sich aufzunehmen sucht oder jedenfalls zu ordnen versteht. Wenn sich in zahlreichen europäischen Ländern das Stadtrecht überwiegend durch seine privatrechtlichen Aspekte zu charakterisieren scheint und oftmals in enger Verbindung mit dem jus mercatorum15 gesehen wird - man erreicht zum Beispiel in Deutschland eine wesentliche Erweiterung seiner Inhalte erst mit den späten rejormationes des 15. und 16. ]ahrhunderts l6 13 Ebd., S. 35 ff.; M. Bel/omo, L'Europadei dirittocomune, S. 186-189; und ders., Societa e istituzioni, S. 377-386; v. Piergiovanni, Statuti e riformagioni, S. 89, 91; D. Quaglioni, Legislazione statutaria e dottrina della legislazione nel pensiero giuridico dei Trecento italiano: le "Quaestiones statutorum" di Alberico da Rosate, jetzt in: D. Quaglioni, "Civilis sapientia". Dottrine giuridiche e dottrine politiche fra medioevo ed eta moderna, Rimini 1989, S. 35-75.
14 Zitiert in M. Ascheri, Statuten, Gesetzgebung und Soveränität, S. 153. 15 ]. Gilissen, Le droit prive des villes, insbes. S. 14-2, (und auf S. 11 die Bemerkung, daß Stadtrecht dort vorliegt, wo "un noyau important de marchands, vivant au milieu d'une population rurale dont l'activite dominante est agricole" vorhanden ist); ders., La loi et la coutume, S. 73 (mit Hinweis auf den berühmten Aufsatz von]. Pirenne, L'origine et les constitutions urbaines au Moyen Age, in: Revue historique 1895, und dann in ders., Les villes et institutions urbaines, I, Bruxelles 1939); H. Planitz, Die deutsche Stadt, S. 332 ff.; W. Schlesinger, Burg und Stadt, in: Festschrift Theodor Mayer (1954), jetzt in: ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Göttingen 1963, H, S. 92 ff.; Ph. jones, La storia economica. Dalla caduta dell'Impero romano al secolo XIV, in: Storia d'Italia Einaudi, H/2, S. 1469-1810, S. 1528. Dementsprechend ist der städtischen Gesetzgebung in den Abhandlungen, die sich auf die ,Quellen des Handelsrechtes' beziehen, viel Raum gewidmet: H. Pohlmann, Die Quellen des Handelsrechts, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, I, S. 801-803. 16 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 189 ff.; H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, H, Karlsruhe 1966, S. 368 ff.; A. Wolf, Die Gesetzgebung, S. 611-612.
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- so präsentiert sich die Statutengesetzgebung in Italien bereits zu einem früheren Zeitpunkt tendenziell weiter gefächert und vielfältiger: Sie ist beispielsweise weniger durch privatrechtliche und merkantile Charakterzüge bestimmt; im Gegenteil - sie umfaßt als Ausdruck einer Gesellschaft, die schon im Ursprung in verschiedene Stände (mit einer starken Präsenz von Grundbesitzern, von domini di contado und kleineren Lehensinhabern, usw.) unterteilt war, und als Ausdruck eines politischen Organismus, der beinahe souveräne Vorrechte bei der Regierung über territoriale Bereiche und umfangreiche, differenzierte soziale Gruppen besitzt, äußerst verschiedene Inhalte. Ebenso weitet sie ihre Aufmerksamkeit tendenziell auf den gesamten juristischen Horizont aus, innerhalb dessen sich das städtische Leben abspielt: mit Normen, die sich sowohl auf die Ämter und die Regierung der Kommune als auch auf die kirchlichen Institutionen beziehen, auf den Grundbesitz und die (Pacht-)Verträge im Bereich der Landwirtschaft, auf die Gerichtsverfahren und auf viele andere Bereiche. Der von der Statutengesetzgebung abgedeckte Bereich wird sogar nach und nach erweitert und durch die besonderen Statuten der Zünfte und der Handelsorganisationen usw. vervollständigt. Dies alles hat nicht verhindert, daß der Komplex der städtischen Gesetzgebung zahlreiche Lücken und Unvollständigkeiten aufwies - nicht zuletzt eine Folge ihrer langsamen und mühevollen Herausbildung, die durch die Entwicklung der kommunalen Institutionen selbst bedingt war, und des komplexen politischen Spiels, das mit der Ausarbeitung der Gesetze verbunden war und das sich z.B. in gewollten Weglassungen und absichtlichem Stillschweigen äußerte, so daß dem direkten politischen Eingriff der vorherrschenden Gruppen durch Dekrete der ordentlichen Regierungsorgane sowie durcch Erlasse von Kommissionen, Magistraten und Sondereinrichtungen ein offenes Feld verschafft wurde l7 ; außerdem mit Dissonanzen und nicht geordneten Hierarchien in der Abhängigkeit zwischen den verschiedenen Gesetzgebungen 18; und mit dem beständigen - weniger ausgesprochenen, doch umso leichter vorauszusetzenden - Hinweis auf das jus communel9 . Aber trotz aller Mängel und Unvollkommenheiten kann man der Gesetzgebung der Stadt vielleicht doch, dank der vorzüglichen Mitarbeit der Juristen, die Fähigkeit zugestehen, einen Bezugs- und Orientierungspol gebildet zu haben bei der Anwendung des Rechtes 17 Bezeichnende Beispiele lassen sich den Untersuchungen der Prozesse der Statutenproduktion entnehmen, die im vorliegenden Band für Genua und Siena durchgeführt worden sind, jeweils von R. Savelli, "Capitula", "regulae" und Rechtspraxis in Genua während des 14. und 15. Jahrhunderts, und von M. Ascheri, Statuten, Gesetzgebung und Souveränität. 18 Nach A. Lattes, Il diritto commerciale nella legislazione statutaria delle citta italiane, Milano 1884, vgl. A. Padoa Schioppa, Giurisdizione e statuti delle arti nella dottrina deI diritto comune, in: Studia et Documenta historiae et iuris, XXX (964), s. 179234; M. Ascheri, Giustizia ordinaria, giustizia di mercanti e la Mercanzia a Siena nel TreQuattrocento, in: Tribunali, giuristi e istituzioni dal Medioevo all 'eta moderna, Bologna 1990, S. 23-54. 19 M. Ascheri, Statuten, Gesetzgebung und Souveränität, S.151.
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auf nicht direkt disziplinierte und regulierte Bereiche gebildet zu haben: ein starker Impuls zur Verbreitung und Ausdehnung der durch das Recht gegebenen Prinzipien. c) Schließlich muß - weiterhin als Folge der großen Expansionskraft der italienischen Kommune, ihrer Fähigkeit, eine ausgedehnte territoriale Herrschaft zu schaffen - die große Ausstrahlung der Gesetze der Stadt auf das Territorium hervorgehoben werden sowie die Vorherrschaft, welche sie dort letztlich ausübten. In anderen Ländern Europas neigt das Stadtrecht viel eher dazu, seinen Anwendungsbereich auf die Städte und ihre Bewohner (cives, burgher, citoyens, usw.) zu beschränken, neben einem umfassenderen Recht (Landrecht, droit regional, uswyo, das sich von dem städtischen unterscheidet und für andere politische und territoriale Körper in ausgedehnteren Gebieten (territorium, Land, pays)21 gilt, in denen die Stadt einen besonderen Bezirk bildet, einen "geschlossenen Rechtsbereich" , "eine Insel ... als Bezirk eigenen Rechts im umgebenden Lande"22, und dies immer im Rahmen anderer "Territorialrechte" (des Königreiches, des Imperiums, USW.)23. In Italien erweist sich das Statutenrecht gegenüber anderen, die in demselben städtischen Bereich konkurrieren mit größerer Durchsetzungskraft ausgestattet, und es zeigt eine stark ausgeprägte Tendenz, seinen Geltungsbereich über die Mauern der Stadt hinweg in ein weites Umfeld auszudehnen, wobei es sich auch hier in eine Vorrangstellung bringt, gegenüber dem Feudalrecht zum Beispiel, oder den Normierungen von einzelnen Organismen (Statuten der castra, der ländlichen Kommunen, USW.)24. Das Statutenrecht übt einen solchen Einfluß aus, daß es sogar im Rahmen jenes Stadtstaates, den das städtische Zentrum politisch kontrolliert, eine einheitliche territoriale Gesamtheit ins Leben ruft, die tendenziell auch vom Standpunkt der Gesetzgebung aus einheitlich ist, in das andere "Rechte" im allgemeinen untergeordnet sind. Dem städtischen Statut wird der Charakter eines "Provinzialrechtes" zuerkannt, da jede 20 K. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, 9. Aufl., Opladen 1989, I, S. 279-280; H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, I, S. 354-355; A. Wolf, Die Gesetzgebung, S. 522n, 549n. Im Bereich des Landrechts kann man hinsichtlich kleiner Städte kaum von einem wirklichen und eigentlichen "Stadtrecht" sprechen, es handelt sich eher um ein allgemein "privilegiertes" Recht:]. Gilissen, Le droit prive, S. 16-17; dies gilt für verschiedene Städte Südfrankreichs: P.e. Timball, Le droit prive dans le Midi de la France, in: La Ville, III: Le droit prive, S. 115-123. 21 Für die Prägnanz des Begriffes ,Territorium' vgl. D. Willoweit, Rechtsgrundlagen und Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, Köln / Wien 1975, insbes. S. 274 ff. 22 Jeweils in H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, II, S. 368, und K. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, II, S. 59. 23 Für Deutschland vgl. D. Willoweit, Stadt und Territorium im Heiligen Römischen Reich. Eine Einführung, im vorliegenden Band, S. 39 ff.; O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., Baden Baden 1988, S. 105-106. 24 Für Siena vgl. M. Ascheri, Statuten, Gesetzgebung, und Souveränität.
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Stadt "praesertim in civitatibus Lombardiae ... habet jus ad instar provinciae"25 (man kann die Statutengesetzgebung vielleicht mit dem Landrecht vergleichen), ebenso wie der städtische contado in gewisser Weise als italienische Entsprechung des "Landes" oder "Territoriums" erscheint, denn "cum ... civitates habent sua regimina, singula civitas habetur pro una provincia"26. In Italien scheinen sich also die von der Kommune erlassenen städtischen Statuten zusammen mit denen anderer Organe und Körperschaften der Stadtregierung durch eine im Vergleich zu ähnlichen, weitgehend innovativen Gesetzen europäischer Nachbarländer spezifische Originalität und Neuheit von Inhalten auszuzeichnen 27 . Sie sind außerdem dadurch gekennzeichnet, - uhd dies vielleicht noch eher -, daß sie in der Stadt und im Territorium vorherrschende und regulierende Rechtsstrukturen schaffen, oder zumindest eine Orientierung zu den üblichen Normensystemen darstellen - eine Funktion, die in anderen Ländern in dieser Form durch die Gesetzgebung nicht wahrgenommen wurde, oder zumindest in sehr viel begrenzterem Rahmen parallel zu anderen Ordnungen. Bei der Statutengesetzgebung lassen sich, wie erwähnt, leicht Heterogenität, Unvollständigkeit und Lückenhaftigkeit feststellen; ebenso ist die enge Komplementarität zu einem Gemeinen Recht sichtbar, das auch immer als integrierender Teil, als vom juristischen Horizont nicht wegzudenkendes Element verstanden wird 28 ; es wäre wohl ziemlich schwierig, der Statutengesetzgebung den Charakter eines organischen Normsystems oder eines ,prägenden' Elements einer "tendenziell vollständigen" kommunalen juristischen Ordnung zuzuschreiben 29 . Trotzdem hat man den Willen der commune civitatis gut herausgearbeitet, "eine normative Macht auszuüben, welche die gesamte Disziplin des städtischen Lebens programmatisch umfassen" wollte. Desgleichen ist hervorgehoben worden, daß "dieser Versuch sich tatsächlich 25 So schreibt L. Caroelli, Disquisitiones juridicae ... , Mediolani 1728, S. 224, indem er eine additio von Parisi zu Bartolo anführt, zitiert in: A. Visconti, La pubblica amministrazione nello stato milanese durante il predominio straniero 0541-1796), Roma 1913, 5.118. Nicht anders G. Verri, "Quoniam Langobardia nostra, post adeptam a singulis civitatibus libertatem ... , in varia themata divisa est, hinc factum est ut singulae sibi jus dicere voluerint, suasque leges pro modo territoriorum extendere" (G. Verri, Prodomus de origine et progressu juris mediolanensis zu den Constitutiones domini mediolanensis, Mediolani 1747, S. 106). 26 A. Visconti, La pubblica amministrazione (L. Caroelli, Disquisitiones juridicae, S. 187, der Bartolo zitiert [Cornm. super C. 7, 33, 12]). 27 G. Dilcher, "Hell, verständig"; abervgl. auch F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 108 ff. 28 Vgl. noch die jüngere Arbeit von M. Bellomo, L'Europa del diritto comune, S. 186188. 29 Für den Charakter dertendenziellen Vollständigkeit der kommunalen juristischen Ordnung, einer tendenziellen Orientierung, "aber auf lebendigere und wesentlichere und - ich würde sagen - moralischere Weise als jene, für die man, wenn man es auch anders versteht, den modernen Staat verherrlicht", vgl. U. Nicolini, L'ordinamento giuridico dei comune medioevale, in:Jus, XIX (968), 5.1-37, auf den 5.36-37, jetzt in: ders., Scritti di storia dei diritto italiano, Milano 1983, S. 433-469, S. 468-469.
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als siegreich erwies, so sehr, daß in das Statut schließlich die schriftlichen Gewohnheiten und in die Kommune die legum periti aufgenommen und einzuverleibt werden konnten"30. Letzteres ist ein wesentlicher Aspekt, weil er über die Fähigkeit des Statuts Aufschluß gibt, eine konkrete - wie bereits dargelegt - und eine dauerhafte - wie weiter unten noch erläutert werden wird - Anwendung zu finden, die von der Theorie und der Jurisprudenz sogar gebieterisch glaubhaft gemacht und gefördert wurde. Trotz ihrer Begrenztheit in vielen Bereichen gewinnt die städtische Gesetzgebung der kommunalen Zeit in ihrem konkreten und effektiven Handeln den Charakter einer klaren und gehaltvollen Gesetzesquelle, die wirkungsvoller und reifer Ausdruck eines politischen Systems und eines territorialen Organismus ist, die ganz und gar eigene Züge tragen. Sie ist so gegen Interferenzen und Verzerrungen von seiten einer Theorie der rigiden und strengen Interpretation geschützt3! und zugleich offen für Bereicherungen und Ergänzungen in der fortschreitenden Anpassung an neue Bedürfnisse "ohne radikale Umstürze"32; fähig, sich zu behaupten und auch nach dem Untergang der kommunalen Freiheiten sehr lange weiterzubestehen (Leicht konnte schreiben, daß "von 1200 bis 1700 der Großteil des neuen italienischen Rechtes sich aus den Statuten unserer größeren Kommunen entwickelt hat")33. Daher leitet sich also jener grundlegende Begriff des Statuts der Stadt als eigene Schöpfung ab, als kräftiger und vitaler Normenkörper und als lebendiger Organismus, den es zu schützen und zu bewahren galt, der auch nach dem Verlust der Unabhängigkeit (und dies kann man gut im vorliegenden Band erkennen) - auf die folgenden Zeiten übertragen wird 34 . Das städtische Statut war ein kostbares Erbe, welches als Zeugnis und Schutz der Autonomie sowie als wirksames Rechtsinstrument gegen andere politische Kräfte und andere Ordnungen zu verteidigen war. ll. Städtische Statuten und RegionaJstaaten
Die Bedeutung des städtischen Statuts und der städtischen Gesetzgebung erfuhr allerdings bekanntermaßen durch die Krise der freien Kommunen und durch das Entstehen und die fortschreitende Festigung der Regionalstaaten im 14. und 15. Jahrhundert eine tatsächliche Einschränkung, als sich nämlich auf der einen Seite das neue Gesetz des Fürsten oder der herrschenden Stadt geM. Bel/oma, Societa e istituzioni, S. 350. M. Sbriccoli, L'interpretazione delle statuto, insbes. S. 407 ff.; V. Piergiovanni, Statuti e riformagioni, S. 87 ff. 32 Ebd., S. 95. 30
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P.S. Leicht, Storia dei diritto italiano. Le fonti, 4. Aufl., Milano 1956, S. 188. 34 Man vergleiche, was Ascheri über das letzte Statut Sienas geschrieben hat, welches in der Mitte des 16. Jahrhunderts ausgearbeitet und erlassen wurde, "wenige 33
Jahre vor dem Zusammenbruch der Republik ... : immer noch einen gewaltigen Akt des politischen Vertrauens und des Bewußtseins der eigenen kulturellen und öffentlichen Traditionen ... " (M. Ascheri, Statuten, Gesetzgebung und Souveränität, S. 147).
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genüber der Gesetzgebung der Kommune - ihrer Organe, der städtischen ,Körper' - durchsetzte, und auf der anderen Seite die potestas statuendi der unterworfenen Städte eingeschränkt wurde, während das Statut selbst innerhalb der neuen Ordnungen reformiert und geregelt wurde. Dies stimmt im übrigen mit entsprechenden Phänomenen überein, die im späten Mittelalter auch in anderen europäischen Ländern festzustellen sind, wo gleichzeitig mit dem Anwachsen der Macht von Herrschern und Territorialfürsten die an sich schon begrenztere städtische Autonomie noch schwächer wird. Und analog zu dem, was für Europa festgehalten worden ist - insbesondere von einer gegenüber dem Prozeß der Staatsbildung aufmerksamen Geschichtsschreibung 35 -, hat man häufig auch in Italien das Gewicht des Eingriffs von seiten des Signore, und dann des Fürsten 36 mit Nachdruck unterstrichen. Auf der einen Seite hat man das Aufkommen einer "staatlichen" Gesetzgebung hervorgehoben, die neu und anders ist; auf der anderen Seite ist insbesondere bezüglich der Statuten und der Normierungen der unterworfenen Städte bemerkt worden, daß sich schon im Laufe des 14. Jahrhunderts frühzeitig einige Prinzipien allgemeinen Charakters durchgesetzt haben, die dann gültig bleiben sollten: so die Notwendigkeit der Bestätigung von seiten des Fürsten selbst, damit die Statuten und Normierungen gültig sein konnten; dann die vom Fürsten bei Statutenüberarbeitungen und bei neuen Beschlüssen ausgeübte Kontrolle; und insbesondere der Vorrang der fürstlichen Gesetzgebung im Falle einer Uneinigkeit - sei es, weil in der Rangordnung der Quellen das Gesetz des Fürsten überwog, sei es, weil sich die voluntas principis sowohl in der Interpretation als auch als ein sozusagen außerhalb der Rangordnung stehendes Element durchsetzte: ("salva semper in omnibus et singulis voluntate et dispositione domini nostri")37. 35 Für den deutschen Raum vgl. außer den im vorliegenden Band gesammelten Beiträgen (und insbes. D. Willoweit, Stadt und Territorium; W.]anssen, Städtische Statuten und landesherrliche Gesetze im Erzstift Köln und im Herzogtum Kleve [1350-1550], S. 293-294, Anm. 98-102), W. Ebel, Geschichte der Gesetzgebung, S. 57 ff.; A. Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, S. 533-534 C"Die Gesetzgebung hat die europäischen Territorialstaaten in wesentlichen Elementen überhaupt erst geschaffen. Insofern ist die Geschichte der Gesetzgebung eine Geschichte von Entstehung und Organisation des modernen Staates"); Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung, hrsg. von D. Willoweit, Berlin 1984 (Der Staat, Beiheft 7) und insbes. W.]anssen, " ... na gesetze unser lande ... ". Zu territorialen Gesetzgebungen im späten Mittelalter, S. 7-61. Vgl. auch]. Gilissen, Introduction historique au droit, S. 181, 221 ff., 288 ff.; A. Cavanna, Storia dei diritto moderno in Europa, I: Le fonti e il pensiero giuridico, Milano 1979, S. 6674; und eine jüngere Neuuntersuchung zu dem Thema: Renaissance du pouvoir legislatif et genese de l'Etat, hrsg. von A. Gouron / A. Rigaudiere, Montpellier 1988. 36 A. Marongiu, Storia dei diritto pubblico. Principi e istituti di governo in Italia dalla meta dei IX aHa meta dei XIX secolo, Milano 1956, S. 150 ff.; G. Ermini, Corso di diritto comune, I: Genesi ed evoluzione storica. Elementi costitutivi. Fonti, 3. Aufl., Milano 1962, S. 38 ff.; G. Astuti, La formazione dello stato moderno in Italia, Torino, 0.]. (1957), s. 5057 ff.; M. Bel/omo, Societa e istitiuzioni, S. 264 ff. 37 Dies ist insbes. im Staat der Visconti der Fall. Vgl. dazu jetzt neben den Untersuchungen von Cognasso und Barni - F. Cognasso, Note e documenti sulla formazione dello Stato visconteo, in: Bollettino della Societa pavese di storia patria, XXIII (1923), S. 1-49;
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Tatsächlich fanden diese Prinzipien insbesondere in der Phase der ersten Anerkennung der ,mehrstädtischen' territorialen Signorien in mitunter sehr einschneidender Form ihre Anwendung 38 . Andererseits riefen sie heftigen Widerstand und Abwehr von seiten der Städte hervor, die im Statut und in der potestas statuendi sowohl ein aussage kräftiges Symbol der alten, nicht nur normativen, sondern im weiteren Sinne politischen Freiheit als auch ein grundlegendes Instrument zum Schutz der städtischen Autonomien sahen C"nam ista statuta", so schrieb Alberico da Rosate, "communiter fiunt ad tuitionem et defensionem reipublicae et civitatum")39. Die Verteidigung des Statuts - und der MöglichkeiG. Barni, La formazione interna dello stato visconteo, in: Archivio storico lombardo, Neue Folge, VI (941), S. 47-51- C. Sto71i Storchi, Aspetti generali della legislazione statutaria in eta viscontea, in: Legislazione e societa nell'Italia medioevale: Per il VII Centenario degli Statuti diAlbenga (288), Albenga, 21-23 ottobre 1988, Bordighera 1990, S. 307-321; und G.P. Massetto, Le fonti del diritto nella Lombardia dei Quattrocento in: Rencontres de Milan 0-3 octobre 1987). Milan et les Etats Bourguignons: Deux ensembles politiques princiers entre MoyenAge et Renaissance 04-16 s.), Louvain 1988, S. 49-65 (auf S. 59 der im Text zitierte Satz, der aus den Statuten von Soncino stammt). Zu entsprechenden Richtungen, die sich in Florenz im 14. und 15. Jahrhundert entwickelt haben, vgl. L. Ma71ines, Lawyers and Statecraft in Renaissance Florence, Princeton 1978, S. 139 ff.; G. Chittolini, La formazione dello stato regionale e le istituzioni dei contado. Sec. XIII-XV, Torino 1979, S. 293 ff.; jetzt auch A. Zorzi, L'amministrazione della giustizia penale neUa Repubblica fiorentina. Aspetti e problemi, Firenze 1988, S. 9 ff., und L. Mannori, L'amministrazione dei territorio nella Toscana granducale, Firenze 1988. In der venezianischen Terraferma, "wo die Hierarchie der Quellen in den Statuten nicht reformiert werden wird", bleibt die Bestätigung des Vorranges der venezianischen Macht- wenn überhaupt - der Formel überlassen: "salva tamen commissione ipsius domini potestatis" (so zum Beispiel in den Statuten Bergamos) mit Bezug auf die ,Kommissionen' der Rektoren (G. Cozzi, La politica dei diritto nella Repubblica di Venezia, in: Stato, societa e giustizia nella Repubblica veneta, hrsg. von G. Cozii, Roma 1980, Bd. I, S. 15-152, neu veröffentlicht in: G. Cozzi, Repubblica veneta e antichi stati italiani, Torino 1982, S. 217-318 [hieraus wird zitiert], S. 269 und 274 ff.). Für den Kirchenstaat, wo die Beziehung zwischen jusproprium, Kommunalrecht und Herrscherrecht wegen der doppelten, geistigen und weltlichen Natur der päpstlichen Macht eine besondere Form annimmt, vgl. G. Ermini, Diritto romano comune e diritti particolari neUe terre deUa chiesa, Milano 1975; für Bologna vgl. A. De Benedictis, L'applicazione degli statuti bolognesi dei 1454 nella pratica giudiziarioamministrativa dei '600-'700, Bologna 1989, S. 20-22; für Mantua vgl. im vorliegenden Band 1. Lazzarini, Das Stadtrecht in einer städtischen Signorie: Die Mantuaner Statuten von den Bonacolsi bis zu den Gonzaga 0313-1404). 38 Zusätzlich zu den oben erwähnten Werken vgl. im vorliegenden Band für den venezianischen Raum - insbes. zunächst über das Werk der Scaliger und dann der Venezianer in Treviso im 14. Jahrhundert - G.M. Varanini, Die Statuten der Städte der venezianischen Terraferma im 15. Jahrhundert (S. 200 ff.; S. 238 ff. für die erste venezianische Phase im 15. Jahrhundert); für das Gebiet der Toskana vgl. E. Fasano Guarini, Die Statuten der Florenz unterworfenen Städte im 15. und 16. Jahrhundert: Lokale Reformen und Eingriffe des Machtzentrums (S. 67 ff. und S. 74 auch wegen der Geschlossenheit, des Umfanges und "der lang anhaltenden Wirksamkeit dieses Statutenkomplexes und der zu Beginn des 15. Jahrhunderts entwickelten Jurisdiktionen"). 39 Zitiert in: V. Piergiovanni, Statuti e riformagioni, S. 86; D. Quaglioni, Legislazione statutaria e principi di governo deUa Civitas. Il ca so di Sassari, in: Gli statuti sassaresi. Economia, societa, istituzioni a Sassari nel Medioevo e neU'eta moderna, hrsg. von A. Mattone / M. Tangheroni, Sassari 1987, S. 177-190.
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ten, Gesetze zu erlassen - blieb ein wesentliches Anliegen, das die allgemeineren ,Freiheits'-Ansprüche kennzeichnete und für sehr lange Zeit Anlaß und Gegenstand von Forderungen und Bittgesuchen war, in deren Stil und Form die alte Statuten-Gesetzgebung mit ihrer Unordnung und ihrer Lückenhaftigkeit sogar den Charakter eines organischen und vollständigen Gesetzeskörpers mit präzisen städtischen Charakteristika anzunehmen scheint 40 • Ein Beispiel für die Energie und Hartnäckigkeit dieser Ansprüche, die im übrigen in der Theorie nicht ohne Echo bleiben 41, bieten einige Episoden, die den Wert, der dem Statut beigemessen wurde und das zähe Festhalten der cives an ihrer Gesetzgebung noch in einer Epoche bezeugen, da die Zeiten der freien Kommune nur noch eine ferne Erinnerung waren. So forderten in der Lombardei einige Städte bei der Machtergreifung Francesco Sforzas, daß die Gesetzgebung der Visconti vollkommen oder zum größten Teil abgeschafft werden sollte: das ganze umfangreiche Werk, für das sich Generationen von Doktoren, Juristen und Kanzlern abgemüht hatten. Eine ähnliche Forderung wurde von Pavia in den Unterwerfungsverträgen unter Ludwig XII. von Frankreich am Ende des Jahrhunderts wiederholt - hier wurde in die Abschaffungsforderung der Großteil der Dekrete der Sforza mit aufgenommen 42 • Das war eine beeindruckende Fülle von Gesetzen, Edikten und Ordnungen, die - nach den Vorstellungen der Visconti und der Sforza - die Grundlage für die juristische und politische Organisation des Staates bilden sollten. Aber alles dies schien der Stadt wie eine Art überflüssige oder schädliche Wucherung, die man mit einem Federstrich ausradieren konnte, ohne daß deshalb eine juristische Ordnung beschnitten oder verkleinert worden wäre, die im Statut weiterhin ihre Grundlage würde haben können 43 . Solche Ansprüche, die allerdings in besonderen Situationen entstanden waren, konnten nicht akzeptiert werden. Aber in ihnen ließen sich radikale Auffassungen nicht nur deshalb ausdrücken, weil sie auf einer abstrakten Forderung nach Autonomie beruhten, sondern auch, weil in jenem allgemeinen ,Modell' des Regionalstaates, wie er sich - in der Lombardei und später in der Toskana sowie im Veneto - gebildet hatte, grundSätzlich eine umfassende, alte und neue, städtische Gesetzgebung anerkannt war und ihre Gültigkeit 40 Vgl. zum Beispiel G. Ortalli, Il ruolo degli statuti tra autonomie e dipendenze: Curzola e il dominio veneziano, in: Rivista storica italiana, XCVIII (1986), S. 195-220. 41 Vgl. im vorliegenden Band C. Storti Storebi, Überlegungen zum Thema "Potestas condendi statuta", S. 268-270; dies., Aspetti generali della legislazione statutaria in eta viscontea, S. 307-321; und außerdem A. Mazzacane, Lo stato eil dominio nei giuristi veneti nel secolo della Terraferma, in: Storia della cultura veneta, hrsg. von G. Arnaldi / M. Pastore Strocchi, Bd. IIIIl, Vicenza 1980, S. 577-650. 42 G. Chittolini, Governo ducale e poteri locali, in: Gli Sforza a Milano e in Lombardia, e i loro rapporti con gli Stati italiani ed europei, Convegno internazionale, Milano 18-21 maggio 1981, Milano 1982, S. 27-41, S. 36 ff. 43 Für entsprechende Beispiele vgl. C. Storti Storebi, Überlegungen zum Thema "Potestas condendi statuta", Anm. 62-64.
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behielt. Ebenso wie die Stadt vom politischen, administrativen, steuerlichen und gerichtlichen Standpunkt aus in den Ordnungen des Regionalstaates weite Autonomiebereiche beibehielt, genauso bewahrte ihr Gesetz seine Gültigkeit44 - in einer bestimmten Beziehung zum Gesetz des Fürsten, die von Mal zu Mal in weiten Bereichen neu zu definieren und zu prüfen war - denn jene Autonomiebestrebungen konnten in vielen konkreten Fällen fruchtbar angewandt und ausgedehnt werden. Als Ausdruck einer städtischen Gesetzgebung wurden die Statuten sicherlich auch weiterhin selbst nach den Reform- und Revisionseingriffen, denen sie nach und nach unterzogen wurden, wahrgenommen. Die hier gesammelten Aufsätze erweitern unser Wissen über diesen umfassenden und fortdauernden Revisionsprozeß, indem sie für die verschiedenen Staaten die unterschiedlichen Verfahren, die verschiedenen Interventionsphasen und die unterschiedliche Qualität und Intensität der Eingriffe selbst deutlich machen. Man scheint zum Beispiel für frühere Phasen eine größere Intensität feststellen zu können (im 14. Jahrhundert sowohl von seiten Mailands und der Signorien im Veneto als auch von seiten Venedigs und Trevisos, zu Beginn des 15. Jahrhunderts ausgehend von Florenz. Im 15. Jahrhundert scheint der Rhythmus sanfter und gemäßigter gewesen zu sein; von erneuter Intensität wird er dagegen im Veneto und vor allem in der Toskana seit den ersten Jarhzehnten des 16. Jahrhunderts). Dieser Revisionsprozeß schloß jedoch normalerweise nicht die weitreichende und fortgesetzte Beteiligung der cives- durch die von der Stadt ernannten Juristen oder die Mitglieder des lokalen Kollegiums der Rechtsgelehrten - aus, und er bewahrte und bestätigte die alte städtische Gesetzgebung in weitem Maße. Jene überarbeiteten Ausgaben der Statuten, die nicht selten gewissermaßen das Siegel des Fürsten, das seine Autorität als lex animata verkündete, trugen, waren oft das Ergebnis der Arbeit von Juristen, welche einen Großteil der Gesetzgebung städtischer Inspiration bewahrten und weiterführten. Dies beweist im übrigen auch die Tatsache, daß die Statuten weiterhin als Ausdruck der städtischen Gesetzgebung eingeschätzt wurden, und das zähe Festhalten der cives am Statut - auch nachdem die Überarbeitung des Statuts der Prüfung und der Anerkennung durch den Fürsten unterzogen wurde. Außerdem gab es weiterhin eine städtische Gesetzgebung, die dank einer allgemein anerkannten Entscheidungskompetenz von städtischen Organismen in Form von Beschlüssen und Erlassen ausgeübt wurde. Auch diesbezüglich 44 La crisi degli ordinamenti comunali e le origini dello stato dei Rinascimento, hrsg. von G. Chittolini, Bologna 1979, Introduzione, S. 33-40; ders., La formazione dello stato regionale, S. XXI-XXXII. Zu den Verträgen, welche für diese gegenseitige Ergänzung die Grundlage bildeten, und zu einigen theoretischen Überlegungen über die Beziehung zwischen den städtischen Autonomien (mit ihrem eigenen Recht) und fürstlichen Verordnungen, zwischen dominium politicum und dominium regale, vgl. A. De Benedictis, Repubblica per contratto: Una citta (Bologna) nello stato (pontificio), in: Scienza e politica, 4 (990), S. 59-72 (auch für Hinweise zu dem gleichzeitigen europäischen politischen Gedanken und zu der diesbezüglichen Geschichtsschreibung); A. Mazzacane, Lo stato e il dominio nei giuristi veneti; G.M. Varanini, Die Statuten, S. 244, 248 passim. Man vergleiche auch: Societa e corpi, hrsg. von P. Schiera, Napoli 1986.
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zeigen die Aufsätze des vorliegenden Bandes die Unterschiedlichkeit der Beschlußformen sowie der Kontrollverfahren auf: ein Filter, der doch eine Gesetzesproduktion, die das Werk eines starken und zur Verteidigung bereiten Standes von Patriziern und Doktoren war, nicht behindern konnte, und die zu den Statuten eine wichtige Ergänzung bildete (ob sie nun in letztere formal eingebunden wurde oder nicht)45. Was auf der anderen Seite die regionale Gesetzgebung betrifft, welche die Statuten hätte ersetzen und erneuern sollen, so ist gut bekannt, daß das Prinzip, den gesamten Gesetzesapparat dem Willen des Fürsten zu unterstellen, und die erklärte Vorrangigkeit seines Gesetzes nicht immer zu der tatsächlichen Fähigkeit (und dem Willen) führten, organische und erschöpfende Normierungen ins Leben zu rufen. Grundätzlich galt das Prinzip, daß Dekrete, Erlasse der Dogen und Herzöge (ducali), sowie Patente im Falle von Streitigkeiten überlegen sein sollten; es war jedoch eine ganz andere Sache zu verfolgen, wieviel eigenen Raum jene Normierungen in den verschiedenen Bereichen tatsächlich einzunehmen imstande waren. Der abgedeckte Bereich erscheint im 15. Jahrhundert begrenzt und ungleichmäßig. Dekrete und Erlasse der Dogen und Herzöge erwiesen sich nicht selten "eher als Maßnahmen in Notfällen oder als besondere Eingriffe in bestimmten Fragen, denn als systematische und programmatische Koordination", indem sie "eine im allgemeinen unzusammenhängende, fragmentarische und unkoordinierte Gesetzgebung" ins Leben riefen, "die darauf gerichtet war, die Bedürfnisse zu stillen, welche die Lebenswirklichkeit hervorrief und wiederholte, d.h. die Bedürfnisse des Augenblicks zu befriedigen" und diese nicht ohne Unsicherheiten und Sinnesänderungen46 . Dabei ist vielleicht die Tatsache nicht ohne Bedeutung, daß diese fürstliche Gesetzgebung nur wenig, eher spät und schlecht und wenn überhaupt, dann auf Initiative von Privaten hin 47 geordnet bzw. schlecht geordnet befolgt wurde 48 • Bezüglich des 45 Zu all diesem - auch für weitere bibliographische Hinweise - verweise ich direkt auf G.M. Varanini, Die Statuten, und auf E. Fasano Guarini, Die Statuten der Florenz unterworfenen Städte (S. 62 ff., 75 ff., 87 ff.); dies., Citta soggette e contadi nel dominio fiorentino tra Quattro e Cinquecento: il caso Pisano, in: Ricerche di storia moderna I, hrsg. von M. Mirri, Pisa 1976, S. 1-94. Man vergleiche auch für andere italienische Gebiete die in Anm. 3 angeführten Untersuchungen (insbes. für den "Stato di Milano" C. Storti Storchi, Aspetti generali della legislazione statutaria in eta viscontea; für Bologna A. De Benedictis, L'applicazione degli statuti bolognesi del 1454). 46 G.P. Massetto, Le fonti dei diritto, S. 52-53; M. G. Di Renzo Villata, La vita dei diritto nella Milano dei tardo Quattrocento, in: Milano nell'eta di Ludovico il Moro. Atti dei convegno internazionale, 28 febbraio - 4 marzo 1983, Milano 1983, I, s. 147-169, auf S.147. 47 G.M. Varanini, Die Statuten (S. 238-240. Anm. 162-165, S. 242-243 Anm. 175-178); l. Lazzarini, Das Stadtrecht. Im übrigen scheint im Mailänder Herrschaftsbereich die Verpflichtung, die Dekrete in den Statutenband einzugliedern ("volumus in volumine statutorum inseri ... et pro lege municipali haberi"), "das Bewußtsein des ,princeps' widerzuspiegeln, daß auf diese Weise das Dekret eine größere Autorität erlangen konnte": G.P. Massetto, Le fonti dei diritto, S. 60. 48 G.P. Massetto, Le fonti del diritto, S. 61.
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"Stato di Milano" vom 14. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts kann man auch von einer "grundsätzlichen Erfolglosigkeit der gesetzgeberischen Politik" der Fürsten und bezüglich der venezianischen Republik von einer "Nicht-Rechtspolitik" sprechen49 . In der weiten, verschwommenen Gesetzgebung, welche die verschiedenen städtischen oder fürstlichen, neuen oder überkommenen Gesetzesquellen auf diese Weise bildeten, erwies sich der Raum als sehr groß, der einem ,ergänzenden' jus vorbehalten blieb, das sowohl aus dem Statutenrecht als auch aus dem Gemeinen Recht bestand, die eng miteinander verknüpft weniger in einem hierarchischen als vielmehr in einem sich gegenseitig ergänzenden Verhältnis standen. Dieser Raum ließ sich durch juristische Mittel ausdehnen: in der Anwendung und in der Interpretation von unsicheren und kontrastierenden Normen, wie bald deutlicher aufgezeigt wird, und mit der Möglichkeit zu unterschiedlichen Entscheidungen und Interpretationen. Außerdem ließ sich der Raum der Gesetzgebung, immer dann wenn in periodischen Abständen die Beziehungen zwischen den Städten und den Fürsten neu ausgehandelt wurden - eine Begleiterscheinung der wechselhaften Gegebenheiten des italienischen Systems seit der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zu den ,Kriegen Italiens' -, durch politische Macht ausdehnen, oder durch die ständig auftretenden Gelegenheiten, in denen sich immer wieder das Problem stellte, in besonderen Fragen die unsicheren Grenzen zwischen zentraler Regierung und lokalen Mächten zu definieren. ,Offensichtlich' eigenmächige Eingriffe des Fürsten, welche die Vereinbarungen mit den unterworfenen Städten in Verwaltungs- und Regierungsfragen ,brachen' (so zum Beispiel im Staat der Visconti und Sforza wegen der Verleihung von unverdienten, kommissarischen Befugnissen an Verwalter und Richter, welche die Beamten über das Statut gestellt hätten), oder ,ungebräuchliche' Verfahren in der Justizverwaltung (etwa in der venezianischen Terraferma wegen des zu ausgedehnten Gebrauchs des arbitrium durch die Rektoren und wegen Einmischung der venezianischen Magistrate), oder städtische Forderungen nach einer ,strengen' Anwendung des Statuts im Verfahren (gegen die Tortur zum Beispiel oder zu Gunsten von Richterkollegien, welche an Ort und Stelle mit weiten Befugnissen ernannt worden waren), oder das Verlangen der Stadt nach Ausweitung ihrer Normen auf Ländereien und Siedlungen des Territoriums;o: Diese und tausend andere Anlässe offenbarten vielfältige Gelegenheiten zu Streitigkeiten, Rekursen und Bittgesuchen. In dem 49 Ebd., S. 53 (und außerdem S. 50 und S. 61, wo bemerkt wird, daß "die fürstlichen Verordnungen nicht immer in dem Maße auf die juristische Wirklichkeit eingewirkt haben, wie es die Formeln, durch welche ihnen das Siegel der Entschiedenheit auferlegt wurde, hätten vermuten lassen"); G.M. Varanini, Die Statuten (S. 197, Anm. 7).
;0 Für einige Ereignisse vgl. G. Chittolini, L'onore dell'officiale in: Florence and Milan: comparisons and relations. Acts of two Conferences at Villa I Tatti in 1982-84, hrsg. von S. Bertelli / N. Rubinstein / C.H. Smyth, Florence 1990, I, S. 101-133, S. 119; G. Cozzi, La politica dei diritto, S. 277; A. Liva, La gerarchia delle fonti dei diritto nelle citta dell'Italia centrosettentrionale, Milano 1976, S. 145-146; A. Viggiano, Istituzioni e politica del diritto nello stato territoriale veneto dei Quattrocento, in: Crimine, giustizia e societa vene ta
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ununterbrochenen Dialog zwischen der zentralen Regierung und den lokalen Mächten, der für das politische System der Regionalstaaten so charakteristisch und wichtig ist, um die jeweiligen Autoritätsbereiche nach und nach definieren zu können, nimmt der Bereich des Rechts einen breiten Raum ein, und eben in jenem Dialog wurde der Anwendungsbereich des Statuts oder bestimmter statutarischer Normen festgelegt. Das Bild, das daraus entsteht, erscheint nach Perioden, Regionalstaaten und Sektoren des Rechts sehr veränderlich und differenziert; davon geben die im vorliegenden Band gesammelten Beiträge eine gute Vorstellung. Ohne sie wegen ihrer unterschiedlichen Perspektiven in der Forschung nachzuerzählen, oder sie auf ein einheitliches Bild zu reduzieren, läßt sich vielleicht allgemein die beachtliche Beibehaltung des jus proprium im Privatrecht für den Bereich der Mitgift und Erbfolge, für die Beziehungen zwischen den Ehegatten, das Familienrecht im allgemeinen und die verschiedenen Arten von Verträgen insbesondere im landwirtschaftlichen Bereich - festhalten. Hier griff der Herrscher nur höchst vorsichtig und vereinzelt ein. Die Eingriffe im empfindlichen Bereich der Justizverwaltung blieben nicht selten partiell und unsystematisch angesichts einer lokalen Rechtspraxis, die sich standhaft gegenüber Einmischungen und Veränderungen behauptete 5I, oder auch in Fragen bezüglich der Steuern, der Abgaben und des Handels oder insbesondere bezüglich der Beziehungen zum contado, über den das städtische Statut in der Poebene ein Großteil der alten Wirksamkeit zu behalten - bzw. in der Mitte des 15. Jahrhunderts zurückzuerobern - scheint52 . Die historische Rekonstruktion von Fasano Guarini läßt Eingriffswillen und -fähigkeit der florentinischen Regierung bereits im 15. und mit wachsender Energie im 16. Jahrhundert schärfer hervortreten - in der zweiten Phase nicht ohne Parallelen zur Republik Venedig -, und zwar auch infolge der eingeschlagenen Forschungsperspektive, die nicht nur nell'etä moderna, hrsg. von L. Berlinguer / F. Colao (La "Leopoldina", Criminalitä e giustizia criminale nelle riforme dei '700 europeo, 9), Milano 1989, S. 309-356, S. 319 ff.; A. Zorzi, Giusdicenti e operatori di giustizia nello stato territoriale fiorentino dei XV secolo, in: Ricerche storiche, XIX (1989), S. 517-552, S. 540-541; M. Bellabarba, Istituzioni politicogiudiziarie nel Trentino durante la dominazione veneziana. Incertezza e pluralitä dei diritto, in: Le politiche criminali nel XVIII secolo (La "Leopoldina", 11), Milano 1990, S.175-231. 51 Man vergleiche weiter unten, S. 29-30. 52 G. Cozzi, La politica dei diritto, S. 275 ff.; C. Povolo, Aspetti e problemi deli 'amministrazione della giustizia penale nella Repubblica di Venezia, secoli XVI-XVII, in: Stato, societä e giustizia, Bd. I, S. 153-258, S. 180 ff; G. Chittolini, La formazione dello stato regionale, S. XXII ff.; ders., Legislazione statutaria e autonomie nella pianura bergamasca, in: Statuti rurali e statuti di valle. La provincia di Bergamo nei secoli XIII-XVIII. Atti del Convegno, hrsg. von M.R. Cortesi, Bergamo 1984, S. 93-114; A. Liva, La gerarchia delle fonti dei diritto, S. 147-148; A. De Benedictis, L'applicazione degli statuti, S. 20-21. Zu der Andersartigkeit der Verhältnisse in der Toskana und der "tiefen und im wesentlichen unwiderruflichen Zäsur", die durch die florentische Herrschaft in die Beziehungen Stadt/ contado eingebracht wurde, vgl. E. Fasano Guarini, Die Statuten der Florenz unterworfenen Städte, S. 72.
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auf die Produktion von Normen, sondern auch auf die Einführung neuer Regierungseinrichtungen in den unterworfenen Städten hinweist, auf die Vervielfältigung der zentralen Kontrollorgane sowie auf die Intensivierung von deren Tätigkeit und auf die administrativen und juristischen Praktiken, die "ihre Veränderungen häufig schweigend"S3 vollzogen. Es handelt sich dabei um grundlegende Aspekte, wie Varanini bemerkt, vor allem, wenn man sich die Frage nach der politischen Substanz des Verhältnisses zwischen den Städten und den Fürsten stellt54 , das sicherlich nicht nur durch die Gesetzgebung und durch die Rechtspolitik bestimmt wird. Auf der anderen Seite ist die Tatsache, daß das Statut bis ins ausgehende 16. Jahrhundert einmütig und eindringlich in vielen unterworfenen Städten beschworen wird, nicht ohne Bedeutung und diese Beschwörung klingt auch nicht wie eine sterile Sehnsucht nach längst überholten Ordnungen. Das Statut blieb in der städtischen politischen Ideologie das Symbol für einen Zustand der Freiheit, der damals zwar verloren aber innerhalb der unsicheren Entwicklungen des italienischen Systems vielleicht nicht unwiederbringlich verloren war. Es blieb weiterhin das Modell jener autonomen kommunalen Herrschaft, welche sich die cives auch innerhalb der Regionalstaaten zu beanspruchen berechtigt fühlten. Aber auch im konkreten und alltäglichen Rechtsleben behielt jenes ,Statut', welches der Magistrat im Moment der Amtsübernahme zu befolgen und anzuwenden beschwor, durch viele seiner Normen und durch hinzugefügte Verordnungen eine reale Wirksamkeit. Und zwar sowohl, weil ihnen ein Großteil der ohnehin gebräuchlichen Gesetzgebung anvertraut blieb, als auch, weil diese Gesetzgebung, die in vielen Teilen besonders vom Stadtrecht beeinflußt wurde, weiterhin für die Bedürfnisse und Interessen der Stadt selbst und der cives ein funktionales Instrument war, da man entweder mit Hilfe ihrer unzweifelhaften Gültigkeit oder über scharfsinnigere und verschlungenere Wege, welche sich von Mal zu Mal aufgrund der Unsicherheit der Ordnung und des Schwankene der Kräfteverhältnisse zum Fürsten eröffneten, auf sie zurückgreifen konnte. So wie also die Autonomie der freien Kommune eine vielfältige und umfangreiche städtische Gesetzgebung hervorgebracht hatte, so blieb ihre Fortdauer ein vielsagendes Anzeichen für die starke Präsenz der Stadt im Spiel um das Gleichgewicht eines regionalen Staates. Dabei ist es von Bedeutung, daß auch die Rechtsgeschichte, die Geschichte ihrer Inhalte und ihrer Produktionsweisen, davon Zeugnis gibt 55 . Andererseits versteht man diese Fortdauer bes53 E. Fasano Guarini, Die Statuten der Florenz unterworfenen Städte, S. 75. Zu den Richtungen der florentinischen Politik - im oben erwähnten Sinne, wie mir scheint - vgl. auch M. Ascheri, Firenze dalla Repubblica al Principato: la motivazione della sentenza e I'edizione delle Pandette, in: ders., Tribunali, giuristi e istituzioni, S. 55-83; A. Zorzi, L'amministrazione della giustizia, S. 65 ff.; L. Mannori, L'amministrazione dei territorio nella Toscana granducale. 54 G.M. Varanini, Die Statuten, S. 248-250. Vgl. auch l. Lazzarini, Das Stadtrecht in einer städtischen Signorie. 55 Für das anders geartete Verhältnis zwischen städtischer und fürstlicher Gesetzgebung - und zwischen Stadt und Fürsten - in anderen europäischen Gebieten im 15. und
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ser, wenn man die Möglichkeiten der Einbindung und des Zusammenlebens jener Gesetzgebung mit den neuen Ordnungen unter dem Gesichtspunkt der umfassenden politischen Verständigung betrachtet, welche sich zwischen der Macht des Fürsten und der urbanen Gesellschaft bildete, wobei letztere, sich des Anachronismus der Verteidigung der vollen Freiheit bewußt, nicht nur das dominium des Fürsten anerkannte (insofern es mit dem Recht der civitas in Verbindung gesetzt und mit ihm abgestimmt worden ist)56, sondern mit diesem nach Formen und Möglichkeiten der Einigung suchte, oftmals im Sinne einer Neuordnung der Macht zum Nutzen der Hegemonie jener Aristokratien, die sich inzwischen als Ausdruck und Repräsentanz der städtischen Welt verstanden57 . "Die städtischen Patriziate und die Juristen, die davon einen wesentlichen Bestandteil ausmachten, sehen sich also in der Lage, die Anpassung der Bereiche der Gesetzgebung innerhalb festgelegter Freiheits- und Autonomiegrenzen bestimmen zu können, die aber dem politischen Umfeld und dem Interesse an der Verteidigung des sozialen status quo angepaßt" waren, und innerhalb dieser Grenzen hatten sie die Möglichkeit, eine breite Tätigkeit in der Neubildung oder Verteidigung des eigenen Rechts oder im wohlüberlegten Ausgleich mit dem des Fürsten auszuüben 58 . ill. Juristen und städtische Institutionen im 15. und 16. Jahrhundert
Wenn die Rolle der Statuten und der städtischen Verordnungen eine solche Bedeutung hatte, dann deshalb, weil neben ihrer formalen Gültigkeit andere Law-Makers, andere ,Gesetzesquellen' anscheinend wesentlich dazu beigetra16. Jahrhundert vgl. zum Beispiel - neben den im vorliegenden Band für Deutschland gesammelten Beiträgen Cinsbes. D. Willoweit, Stadt und Territorium; H. Schlosser, Statutarrecht und Landesherrschaft in Bayern, S. 193 f., Anm. 55-60) - I-M. Cauchies, Les sources du droit dans les Pays-Bas bourguignons, in: Milan et les Etats bourguignons, S. 35-46, auf S. 41-42. ;6 G.M. Varanini, Die Statuten, S. 225 (mit Hinweis auf A. Mazzacane, Lo stato e il dominio nei giuristi veneti, S. 598 ff.). Vgl. auch Anm. 44. 57 A. Ventura, Nobilta e popolo nella societa veneta dei '400 e '500, Bari 1964, S. 39 ff; G. Chittolini, Einleitung zu: La crisi degli ordinamenti comunali, S. 42-47. 58 Dies schreibt für die venezianische Terraferma G.M. Varanini, Die Statuten, S. 224 ff. Für das Bild der Beziehungen zwischen den städtischen Aristokratien und der venezianischen Regierung im 15. Jahrhundert verweisen wir auf die - ebd. zitierten Untersuchungen jüngeren Datums von Varanini selbst sowie von M. Knapton,]. Law,].S. Grubb und anderen. Geneigter, die von Venedig auf das Herrschaftsgebiet ausgeübte Kontrolle hervorzuheben, ist A. Ventura, Politica dei diritto e amministrazione della giustizia nella Repubblica Veneta, in: Rivista storica italiana, XCIV (982), S. 589-608; die Übereinstimmung zwischen Herrschenden und Beherrschten verdeutlicht mehr G. Cozzi, Ambiente veneziano e ambiente veneto. Für den Stato di Milano zur Zeit der Sforza gibt es Hinweise bei G. Chittolini, Governo ducale e poteri locali, und ders., Di a1cuni aspetti della crisi dello stato sforzesco, in: Milan et les Etats bourguignons, S. 21-34; für die spanische Zeitvgl. die Anm. 73 und 87. Für die Toskana vgl. im vorliegenden Band E. Fasano Guarini, Die Statuten der Florenz unterworfenen Städte, sowie die dort angeführte Bibliographie.
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gen haben, ihren Bestand zu erhalten und darüber hinaus ihre Tragfähigkeit zu erweitern59 . So trugen letztere dazu bei, dem "städtischen Recht" auch in jenem ,ungeschriebenen Recht', welches doch äußerst wirksam war, noch mehr Geltung und Dauer zu verleihen. Gemeint sind auf der einen Seite die Tätigkeit der Juristen, auf die oben bezüglich der späten kommunalen Zeit hingewiesen worden ist, in den verschiedenen Funktionen nicht nur als Gesetzgeber, sondern als ,Schöpfer des Rechts' in ihrer Eigenschaft als Richter, als in den großen Magistraturen tätige Amtspersonen und vor allem als Doktoren, interpretes und als Verfasser von consilief° und auf der anderen Seite die Institutionen, die auf verschiedene Weise vorhanden waren, den Normen eine konkrete Lebensform zu geben - von den Regierungsämtern bis zu den Gerichten, von den Berufskollegien bis zu den Universitäten -, sowie die Formen und Praktiken, in denen jenes Recht durch die Rechtsgelehrten seine Anwendung finden sollte. Dies ist ein weites Untersuchungsfeld, dal teilweise über den Rahmen des Themas hinausgeht, was aber wenigstens erwähnt werden sollte, damit die tatsächliche Rolle des Statuts und außerdem der Einfluß der Stadt und des städtischen Umfeldes besser eingeschätzt werden können, eine Rolle des Statuts, die in Italien deutlich und erkennbar ist, auch nach jener späten kommunalen Zeit, von der ausgegangen wurde, und die nach anfänglichem Widerstand die Einfügung des Statutarrechts in das kulturelle Rüstzeug der Juristen gesehen hatte, bis hin zu den ersten Jahrhunderten der Neuzeit, zu der Zeit der Regionalstaaten. Das Statut war eine reife Frucht jener robusten Wurzeln politischer Autonomie, die sich damals gebildet hatten. Das Panorama ist nun sehr verändert, denn neben den Städten und ihren Institutionen haben sich, wie man gesehen hat, in einem durch die Präsenz fremder Mächte komplizierten italienischen System neue Strukturen der Macht und der politischen Organisation, und zwar die Regierungsapparate der Regionalstaaten, sei es unter Fürsten oder als Republiken, verstärkt und ausgebildet, so zum Beispiel Ratskollegien, große Gerichtshöfe, zentrale und periphere Bürokratien. Diese Regierungsstrukturen und -institutionen greifen nun oft in verschiedenen Bereichen auf die Juristen zurück, wobei sie deren Tätigkeiten erweitern und intensivieren und auch ein Anwachsen ihrer Zahl hervorrufen. So tragen die Strukturen zur Bildung einer Schicht bei, die eine im großen und 59 Über die verschiedenen Formen der ,Gesetzesproduktion' in Europa vom Mittelalter bis zur Neuzeit vgl. die Zusammenfassung jüngeren Datums von R. van Caenegem, ]udges, Legislators and Professors, Cambridge 1987, insbes. Kap. II. 60 Für die grundlegende Rolle der Rechtswissenschaft vergleiche insbes. neben P. Koschaker, L'Europa e il diritto romano, Firenze 1962, F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte,S. 80 ff. und L. Lombardi, Saggio sul diritto giurisprudenziale, Milano 1967, insbes. S. 79 ff. und 194 ff.; A. Cavanna, Storia deI diritto moderno, S. 97 ff. und 104 ff.; M. Ascheri, I giuristi consulenti d'Ancien Regime, in: Tribunali, giuristi e istituzioni dal Medioevo all'etä moderna, Bologna 1989 (Originalausgabe: Rechtssprechung und Konsiliensammlungen, Italien, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neue ren Europäischen Privatrechtsgeschichte, II/2, München 1976, S. 1113-1221), S. 185-258 und Introduzione, ebd.
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ganzen neue Physiognomie hinsichtlich der Berufe, der ,Karrieren', der sozialen Bedingungen sowie der geographischen und politischen Tätigkeitsbereiche hat. Die Rechtsgelehrten spielen also eine aktive Rolle, wie sowohl alte Arbeiten als auch zahlreiche Untersuchungen jüngeren Datums zeigen, welche die verschiedenen sozialen, beruflichen und politisch-institutionellen Verflechtungen in ihrer kontinuierlichen Entwicklung deutlich machen. Es ist eine Rolle, die di Juristen in weitem Maße innerhalb oder in Verbindung mit den Institutionen der Regionalstaaten entwickeln in verschiedenen Funktionen als Räte, ranghohe Amtspersonen und als Mitglieder von angesehenen Magistraten, insbesondere in der Rechtsverwaltung als Richter und Berater61 . Daher stellt sich auch unter neuen Aspekten für die Jahrhunderte der frühen Neuzeit wieder das alte Problem der Beziehungen zwischen Juristen und Institutionen und politischen Kräften und das Problem des Einflusses letzterer sowohl auf die theoretischen Überlegungen der Juristen wie auf deren konkrete Aktivität als Rechtsvollzieher62 . Dies sind Themen, welche seit langem die Aufmerksamkeit der Forscher in Anspruch nehmen - und das Bild ist sicherlich gerade wegen der zahlreichen Varianten und regionalen Unterschiede nicht erschöpfend klar. Dabei wurde verschiedentlich herausgearbeitet, daß sich beispielsweise zum einen die Regionalstaaten stark auf die Doktoren stützen und gleichzeitig deren Aktivität kontrollieren und beeinflussen, zum anderen betonte man den autonomen Zusammenhalt eines Standes von großem Prestige und Einfluß. Trotzdem läßt sich ohne weiteres für verschiedene Regionen nochmals das beachtliche Gewicht der Stadt hervorheben, ein Gewicht, welches sowohl durch die vielen einheimischen, im lokalen Bereich tätigen Juristen, die oft in der städtischen Welt verwurzelt und sogar herausragende Vertreter derselben waren, ausgeübt wurde, als auch durch politische, administrative und gerichtliche, stadteigene Institutionen und Praktiken, deren bleibende Einbindung in die Stadt die Beamten und Richter nicht umhinkonnten wahrzunehmen. Diese Einbindung spürten Podestas, Rektoren und Vikare - Beamte, die in der Regel von außerhalb kamen und von der Hauptstadt bestimmt und geleitet 61 Viel Material ist aus Anlaß einiger Kongresse jüngeren Datums entstanden: "Lo stato eidottori. XV-XVIII secolo", Firenze 15-17 aprile 1988 (verschiedene Aufsätze sind veröffentlicht in: Ricerche storiche XIX [19891, S. 483-610 [vgl. die Inhaltsangabe von C. Vivoli, Lo stato eiDottori, in derselben Zeitschrift, XVIII, 1988, S. 219-229)); Sapere eie potere. Discipline, dispute e professioni nell'Universita medioevale e moderna. Il caso bolognese a confronto, Bologna 13-15 aprile 1989, Bologna 1990, 3 Bde. 62 Für einige Stichwörter zur Diskussion vgl. außer dem Band von M. Sbriccoli, L'interpretazione delle statuto, insbes. S. 31 ff., M. Cavanna, Il ruolo dei giurista nell'eta del diritto comune (Un'occasione di riflessione sull'identita dei giurista d'oggO, in: Studia et documenta historiae et iuris, XLIV (1978), S. 105-106; A. Padoa Schioppa, Sul ruolo dei giuristi nell'eta dei diritto comune: un problema aperto, Sonderdruck aus: Il diritto comune e la tradizione giuridica europea, Perugia 1980, S. 153-166; M. Bellomo, I giuristi, la giustizia, e il sistema dei diritto comune, in: Legge, giudici, giuristi. Atti dei Convegno tenuto a Cagliari nei giorni 18-21 maggio 1981, Milano 1982, S. 160 ff.; ders., L'Europa del diritto comune, S. 200-206.
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wurden - in ihrer Regierungstätigkeit, in der Justizverwaltung und in jener alltäglichen Praxis, in der die Gesetze ihre konkrete Anwendung finden sollten. Auch ohne von der wachsamen Kontrolle der ,einflußreichen Personen' (principali) der Stadt zu sprechen - einer Kontrolle, die, zwar von keiner präzisen Norm vorgesehen war, doch spürbar ausgeübt wurde 63 -, kann man aber gut den Einfluß der lokalen Gewohnheiten und der alten Traditionen feststellen: in den Ratskollegien, in den Ämtern, in den Magistraten und mit besonderer Wirksamkeit in den Gerichtshöfen für Zivil- und auch für Strafrecht. In den städtischen Gerichten wurden die consuetudines und der stylus des lokalen Gerichts weiterhin großenteils befolgt64 ; die Tätigkeit der ortsfremden Richter konnte nur mit Hilfe von einheimischen Notaren, Sachwaltern und kleineren Beamten vonstatten gehen65 ; zu demselben Gerichtshof - jenem "corte ... senza la quale non ponno esercitare la loro autoritä" (Gericht ... ohne das sie ihre Macht nicht ausüben können), wie Giovanni Botero schreibt - gehörten städtische Juristen und Doktoren, die von einer Rechtskultur genährt waren, in der Gemeines Recht und jus proprium eng miteinander verknüpft waren 66 ; und auf die Doktoren des Ratskollegiums der Stadt mußten die Ortsfremden für das consilium sapientis zurückgreifen 67 . Lokalen Richtern, oder jedenfalls von den städtischen Regierungsorganen gewählten Gerichtsbeamten wurden häufig spezielle Befugnisse, insbesondere in den Bereichen von traditionell städtischem Interesse (wie Lebensmittelversorgung, Straßen, der Bemessung des tatsächlichen Schadens [danno dato·] und Getreideversorgung) anvertraut, ob sie nun Teil des Hofes des Podestä Für einige Hinweise vgl. G. Chittolini, L'onore dell'officiale, insbes. S. 108 ff. G.P. Massetto, Le fonti dei diritto, S. 59. 65 G.M. Varanini, Die Statuten, S. 230-231; e. Povolo, Aspetti e problemi deli 'amministrazione della giustizia penale, S. 192 ff.; G. Chittolini, L'onore dell'officiale, S. 105115; E. Brambilla, Genealogie dei sapere. Per una storia delle professioni giuridiche nell'Italia padana, secoli XIV-XVI, Vortrag gehalten bei der XIII. Studienwoche des "Istituto Datini di Prato" ("Forme e evoluzione dellavoro in Europa, XIII-XVIII secolo), jetzt veröffentlicht in: Schifanoia, 8 (1989), S. 123-150, S. 141-142 Cinsbes. für die Sachwalter [causidici]) . 66 G. Cozzi, La politica dei diritto, S. 279-280. 67 Ebd., S. 280-282. Über die umfassenden Anwendungsbereiche und über die auch bindende Wirksamkeit des consilium sapientis, vgl. neben G. Rossi, Consilium sapientis judiciale. Studi e ricerche per la storia dei diritto romano canonico (secoli XII-XIII), Milano 1958; L. Lombardi, Saggio sul diritto giurisprudenziale, außerdem für die Terraferma R. Mistura, I giudici e i loro collegi. Ricerche sul territorio veneto, Padova 1986, S. 37 ff.; für den lombardischen Raum M.e. Zorzoli, Il Collegio dei giudici di Pavia e I'amministrazione della giustizia (Le basi normative, dallo Statuto visconteo alle Nuove Costituzioni) in: Bollettino della Societa pavese di storia patria, LXXXI (1981), S. 56-90; E. Brambilla, Genealogie dei sapere, S. 135 ff.; für Florenz L. Marlines, Lawyers and Statecraft, S. 94-100 . Der italienische Ausdruck "danno dato" wird von mehreren Autoren im vorliegenden Band im Sinne einer Maßnahme ländlicher Polizei verwendet. Da er ins Deutsche nur schlecht übersetzbar zu sein scheint, wird der italienische Terminus bevorzugt [Anm. d. Übersl. 63
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waren oder Mitglieder von besonderen Gerichtshöfen, Ämtern, Magistraten und "consolati" - in der wohlbekannten, unglaublichen Vielfalt von besonderen Einzelfällen68 -, ebenso wie lokalen - oder an Ort und Stelle bestimmten Richtern die Zunftgerichte und die wichtigen, aktiven Gerichte der Handelsorganisationen anvertraut waren69 . Selbst der Bereich der Appellation ließ in der Mannigfaltigkeit der Regelungen Platz für den Rückgriff auf lokale Instanzen 7o , und den Streitparteien wurden durch das Schiedsspruchverfahren oder durch geistliche Gerichtshöfe andere Wege geboten 7l . Es ist ein dichter Gesamtkörper an städtischen Institutionen, Verfahren und Praktiken, welche ihr Gewicht und ihre Wirksamkeit behielten, auch wenn die Regionalstaaten langsam Ämter und Einrichtungen entwickelten, welche diese endlich in Schranken halten sollten72 • 68 Viel wurde über die venezianische Terraferma geschrieben: vgl. G.M. Varanini, Die Statuten, S. 227 ff.; und außerdem G. Cozzi, La politica dei diritto, S. 278-293; C. Povolo, Aspetti e problem i dell'amministrazione della giustizia, S. 176-199; R. Mistura, I giudici e i loro collegi, S. 28 ff. Als Beispiel vgl. auch das für Bergamo zum Ende des 16. Jahrhunderts gebotene detaillierte Bild bei G. da Lezze, Descrizione di Bergamo e suo territorio, 1596, hrsg. von V. Marchetti / L. Pagani, Bergamo 1988, S. 152-165. Weniger bekannt, aber offensichtlich nicht viel anders steht es mit dem Stato di Milano (u. Meroni, Cremona fedelissima. Studi di storia economica e amministrativa di Cremona durante la dominazione spagnola, [Annali della Biblioteca governativa e Libreria civica di Cremona, IIIl, Cremona 1951; G. Vigo, All'ombra della Spagna: istituzioni, economia e finanza a Lodi ne11609, in: Rivista milanese di Economia, 30, aprile-giugno 1988, S. 97-123). Über die strengere Kontrolle von seiten der zentralen Magistrate in der Toskana vgl. E. Fasano Guarini, Die Statuten der Florenz unterworfenen Städte, S. 82 ff.,85 ff. (und vgl. Anm. 53). 69 Hinweise und Bibliographie bei M. Ascheri, Giustizia ordinaria, giustizia di mercanti, und A. Padoa Schioppa, Giurisdizione e statuti delle arti, S. 232. Vgl. auch M.G. Di Renzo Villata, Scienza giuridica e legislazione, S. 139-140. 70 G.P. Massetto, Le fonti dei diritto, S. 51; C. Caro Lopez, Gli auditori nuovi e il dominio di Terraferma, in: Stato, societa e giustizia nella repubblica veneta (secoli XVXVIII), hrsg. von G. Cozzi, Roma 1985, Bd. II, S. 261-278; G. Cozzi, La politica dei diritto, S. 285 ff.; A. Zorzi, L'amministrazione della giustizia, S. 19; R. Mistura, I giudici e i loro collegi, S. 55 ff. 7l G. Cozzi, La politica dei diritto, S. 283-284; A. Viggiano, Istituzioni e politica dei diritto nello stato territoriale veneto, S. 337 ff.; und allgemeiner L. Martone, Arbiter arbitrator. Forme di giustizia privata nell'eta del diritto comune, Napoli 1984. Für die geistlichen Gerichtshöfe vgl. zum Beispiel R. Bizzocchi, Chiesa e potere nella Toscana dei Quattrocento, Bologna 1987, S. 289-290. 72 Für den venezianischen Staat vgl. zum Beispiel M. Knapton, Il consiglio dei Dieci nel governo della Terraferma: un'ipotesi interpretativa per il secondo '400, in: Venezia e la Terraferma attraverso le relazioni dei rettori, hrsg. von A. Tagliaferri, Milano 1981, S. 237 -260; C. Caro Lopez, Gli auditori nuovi e il dominio della Terraferma; C. Povolo, Aspetti e problemi dell'amministrazione della giustizia penale; A. Viggiano, Istituzioni e politica del diritto nello stato territoriale veneto. Für die Toskana vgl. außer E. Fasano Guarini, Die Statuten der Florenz unterworfenen Städte, die in Anm. 53 aufgeführten Arbeiten. Vgl. auch L. Martone, Arbiter - arbitrator, S. 202 ff. und 216 ff.; A. Padoa Schioppa, Giurisdizione e statuti delle arti, S. 232-234; über die Beamten vgl. A. Zorzi, Giusdicenti e operatori di giustizia, und A. Gardi, Tecnici del diritto e stato moderno nel XVI-XVII secolo attraverso i documenti della Rota di Bologna, in: Ricerche storiche, XIX (1989), S.553-584.
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In jenen Ämtern war die Rolle der verschiedenen "Operatoren des Rechts" (operatori dei diritto) der Stadt vorrangig, von den kleinen Beamten, Notaren, Kanzlern und Sachwaltern bis zu den berühmten Doktoren des Kollegiums. Der einflußreiche Stadtbürger, der Patrizier, war häufig Rechtsgelehrter und den Rang eines dem Kollegium angehörenden Doktors betrachtete er als ein erstrebenswertes Prestige. Der Bürger als Doktor konnte nicht anders als lokal orientiert in seiner Aktivität als "Operator des Rechts" von der sozialen und politischen Rolle beeinflußt zu sein, die er innehatte. Die Gestalt des Patriziers hatte mitunter die Tendenz, sich mit der des Juristen zu vermischen oder sich sogar über sie zu stellen73 : wenn der Patrizier ein angesehener und aktiver Vertreter des städtischen politischen Lebens, als Mitglied und consiliator der Hauptinstitutionen der Regierung, der Kommissionen für die Revision der Statuten oder für die Redaktion von wichtigen Beschlüssen auftrat, wenn er ein fester Bestandteil der wichtigsten Gesandtschaften war, oder wenn er in die Justizverwaltung direkt als Richter oder als sapiens eingebunden war. Hieraus ergibt sich auch die Bedeutung, die das Kollegium der Doktoren im städtischen Leben hatte, eine - typisch italienische 74 - Institution, in der die beiden Gestalten des Juristen und des Patriziers sich vermischten und vereinigten, denn ihre Mitglieder gehörten in der Regel zum städtischen Patriziat, das sich jedenfalls die Kontrolle über die Kooptationsmechanismen vorbehielt, - ein Juristenkollegium, von dem verschiedene und direkte Regierungsfunktionen in der Stadt und besondere gerichtliche, ihm und seinen Mitgliedern eigene Befugnisse in 73 G. Vismara, Le istituzioni del patriziato lombardo, in: Storia di Milano,hrsg. von der Fondazione Treccani degli Alfieri, XI: Il declino spagnolo 0636-1706), Milano 1958, S. 223-284, jetzt in ders., Scritti di storia giuridica, III: Istituzioni lombarde, Milano 1987, S. 217-285, S. 276 ff.; C. Mozzarelli, Strutture sociali e formazioni statuali a Milano e a Napoli tra '500 e '600, in: Societa e storia, 1(978), S. 431-463; E. Brambilla, Genealogie del sapere (hebt die Stärkung der Rolle der Rechtsberater von den städtischen Kollegien während des 15. Jahrhunderts nach dem Scheitern des Versuchs der Visconti und Sforza, einen alternativen Pol von consiliatores für den Fürsten mit und um die Universität von Pavia zu bilden, hervor); für die venezianische Terraferma G.M. Varanini, Die Statuten, S. 223 ff. (und Bibliographie). Anders ist die Lage vielleicht in der Toskana: vgl. E. Fasano Guarini, Die Statuten der Florenz unterworfenen Städte, im vorliegenden Band. 74 Über die anders geartete Physiognomie der Rechtsgelehrten nördlich der Alpen, deren Rolle im allgemeinen "n'a guere retenu l'attention que dans l'entourage des princes" (A. Rigaudiere, L'essor des conseillers juridiques des villes dans la France du bas Moyen Age, in: Revue historique, LXII [1984], S. 361-390, S. 362), für ihre - wesentlich indirekteren und weniger organischen - Beziehungen zur städtischen Welt vgl. zum Beispiel neben F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 89 ff. und 215 ff., und W. Trusen, Die Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Frührezeption, Wiesbaden 1962; Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hrsg. von R. Schnurr, Berlin 1986 Onsbes. P. Moraw, Gelehrte Juristen im Dienst der deutschen Könige des späten Mittelalters [1273-1493], S. 77-168; E. Isenmann, Reichsrecht und Reichsverfassung in Konsilien reichsstädtischer Juristen [15.-16. Jahrhundert], S. 545-628); G. Strauss, Law, Resistence and the State: The Opposition to Roman law in Reformation Germany, Princeton 1986; R. van Caenegem, Judges, legislators and professors.
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einer intensiven und angesehenen Tätigkeit bekannt sind 75 . Nicht selten fanden nämlich in diesen Kollegien und in diesen Tätigkeiten Doktoren ihre Legitimation und eine erste Bewährung, denen eine glänzende Karriere an den großen Gerichtshöfen und ein bedeutender Einfluß in Rechtswissenschaft und Theorie bestimmt waren: Doktoren, die in ihrem kulturellen Rüstzeug neben der eher ,adeligen' Art auch die Erfahrungen einer städtischen Rechtspraxis beibehalten sollten76 . Was oben gesagt wurde, muß nicht bedeuten, daß zwischen dem Juristen der Stadt und dem Juristen des Fürsten ein unüberbrückbarer Gegensatz bestanden hätte - ebensowenig wie sich Statuten und Verordnungen der Städte nicht in eine unvereinbar antagonistische Position zu dem Gesetz des Fürsten stellten. Die Bereitschaft vieler lokal tätiger Rechtsgelehrter, städtische Instanzen anzuerkennen und darzustellen, verhinderte nicht, daß sie einen wichtigen Beitrag leisteten zu der Möglichkeit für das städtische Gesetz, "sich mit jenem Staate und jener Herrschaft zu einigen und mit ihnen zusammenzuleben, deren Existenz man nicht nur anerkennt, sondern zu deren Gunsten man das eigene Werk anbietet, indem man Fall für Fall die theoretisch und praktisch annehmbarsten Übereinstimmungen ausfindig macht"77. Die Gründe einer breiten Homogenität von Kultur, Stand und Interesse verbanden sich mit im allgemeineren Sinne politischen Gründen bei der Orientierung nach einem "vernünftigen Ausgleich" des eigenen Rechts mit dem des Fürsten in einem umfassenden Rechtssystem und in den Ordnungen des Regionalstaates - eine Orientierung, der in den langsamen Zeiten des Ancien Regime eine lange Fortdauer bestimmt war. IV. Der lange Untergang des Statuts Für die ersten Jahrhunderte der Neuzeit hat man den Akzent häufig auf Anstöße und Tendenzen gesetzt, welche die Wirksamkeit der lokalen Gesetzgebung - in Italien wie in Europa allerdings zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Rhythmen - einschränkten. Dies erfolgte insbesondere durch 75 U. Meyer-Holz, Collegia Iudicum. Über die Form sozialer Gruppenbildung durch die gelehrten Berufsjuristen im Oberitalien des späten Mittelalters, Baden-Baden 1989; M. Ascheri, I giuristi consulenti, S. 207 Anm. 69; und zusätzlich zu den in Anm. 73 erwähnten Werken M.C. Zorzoli, Il Collegio dei Giudici di Pavia; M.G. Di Renzo Villata, Scienza giuridica e legislazione nell'eta sforzesca, in: Gli Sforza a Milano e in Lombardia, S. 65-145, S. 131-133; G. Cozzi, La politica dei diritto, S. 280 ff.; R. Mistura, I giudici ed i loro collegi, S. 28 ff. und S. 104-106; A.L. TrombettiBudriesi, Gli statuti dei collegio dei dottori, giudici e avvocati di Bologna (1393-1467) e la loro matricola (fino al 1776), Bologna 1990. S. 155 (mit umfassender und auf den neuesten Stand gebrachter Bibliographie). 76 U. Petronio, Burocrazia e burocrati nel ducato di Milano dal1561 al 1706, in: Per Francesco Calasso. Studi degli allievi, Roma 1978, S. 481-561, insbes. S. 506-509. 77 G.M. Varanini, Die Statuten, S. 244; und vgl. A. Mazzacane, Lo stato e il dominio nei giuristi veneti, S. 598-604.
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die Stärkung der Rolle des Herrschers - seines Gesetzes, seiner Gerichtshöfe, seiner Institutionen, in einer Theorie, die häufig auf seine Unterstützung ausgerichtet war - in seiner Funktion der Regelung, Koordination und Vereinheitlichung des Rechts. In dem verworrenen System der Gesetzesquellen wirken jus proprium und jus commune durcheinander und sind nur schwer entwirrbar. Das Statut verliert nach und nach an Raum - wobei sich der Handlungsspielraum seiner Normen tendenziell auf die Verwaltungspolizei oder auf Gruppen privater Einrichtungen einschränkr7s - und es verliert an Farbe als Ausdruck von spezifisch städtischen Instanzen79 • Diese Instanzen äußern sich nämlich nicht mehr unbedingt im Statut (und sind mitunter der Gesetzgebung des Fürsten besser überlassen?O - ebenso wie der Schutz der ,Freiheit' und des ,Stadtstaates' nicht mehr zu genügen scheint, um die Interessen und Bestrebungen der städtischen Schichten und des Patriziats zu bewahren81 . Es handelt sich jedoch um Entwicklungen, die sich über einen langen Zeitraum erstrecken, wobei die Zeit sowie die Art und Weise des Ablaufs in den verschiedenen italienischen Staaten sehr unterschiedlich sind. Mehr als die Endgültigkeit ihres Sich-Durchsetzens beeindruckt vielleicht - in einigen Regionen zumindest - die ,lange Dauer' der alten Ordnung, das zähe Überleben des Statuts und die Langsamkeit seines Untergangs. Das Statut galt als Symbol und glorreiches Dokument einer alten Tradition der politischen Autonomie und eines eigenen Stadtrechtes, aber auch als lebendiges, mit Anmerkungen versehenes, glossiertes, interpretiertes, diskutiertes und von Doktoren und Praktikern allgemein anerkanntes lebendiges Instrument der Rechtsanwendung B2 7B A. Cavanna, Tramonto e fine degli statuti lombardi, in: Diritto comune e diritti locali nella storia dell'Europa. Atti dei Convegno di Varenna 02-15 giugno 1979), Milano 1980, S. 307-328, auf S. 310. . 79 Über die trügerische Bedeutung späterer Redaktionen oder Drucke von Statuten vgl. zum Beispiel G. artal/i, Il ruolo degli statuti fra autonomie e dipendenze, S. 118; und im vorliegenden Band E. Fasano Guarini, Die Statuten der Florenz unterworfenen Städte, S. 91-94, 95-96. BO Über die wachsende Rolle des Fürsten als "Gesetzgeber" vgl. im vorliegenden Band D. Willoweit, Stadt und Territorium; W. Janssen, Städtische Statuten und landesherrliche Gesetze, S. 292 ff.; E. Fasano Guarini, Die Statuten der Florenz unterworfenen Städte, S. 94 ff.; sowie H Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin 1986, S. 46-48; A. Cavanna, Storia dei diritto moderno in Europa, S. 66 ff. und 193 ff.; seit kurzem veröffentlicht ist D. Frigo, Principe, giudici e giustizia: mutamenti dottrinali e vicende istituzionali fra Sei e Settecento, Sonderdruck aus: Illuminismo e dottrine penali, hrsg. von 1. Berlinguer / F. Colao (La "Leopoldina", 10), Milano 1990, S. 7 ff. BI Hinweise in G. Chittolini, La citta europea tra Medioevo e Rinascimento, in: Modelli di citta. Strutture e funzioni politiche, hrsg. von P. Rossi, Torino 1987, S. 371-392, S. 389-391; für die deutschen Städte, die seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts "weniger städtisch als ständisch handelten und argumentierten", vgl. W. Janssen, Städtische Statuten und landesherrliche Gesetze, S. 291. B2 Für den "Stato di Milano" vgl. M. Cavanna, Tramonto e fine degli statuti lombardi; M.G. Di Renzo Villata, Diritto comune e diritti locali nella cultura giuridica lombarda dell'eta moderna, Sonderdruck aus: Studi in onore di Cesare Grassetti, I, Milano 1980,
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nicht nur als "pars juris communis", sondern nach allgemein bekannten und wiederholt aufgegriffenen Worten als jus commune, das "in loco statuti conditi operatur idem quod jus commune in universum", oder als jus commune "tantae potentiae in civitate sua quanta est ipsa lex communis in universo"83. Auch wenn die Theorie mit wachsender Überzeugung dem Recht des Fürsten eine vorrangige Bedeutung beimaß - und es nicht mehr als besonderes Recht gegenüber dem "jus commune romanorum", sondern als "jus commune et imperiale, quoniam princeps est imperator in regno suo" betrachtete, und wenn das Gemeine Recht selbst - "istae leges romanorum" - in den Rang eines Partikularrechts zurückgedrängt wurde, dessen Autorität nur von der Rezeption durch den Fürsten abhing84 , so erhielten doch die Gesetze der unterworfenen Städte die Würde des jus commune et imperiale zuerkannt. Dies war sicherlich nicht bei den Statuten der kleineren Zentren der Fall, wie man zuweilen "per frequens aequivocum modernorum pragmaticorum" hören konnte, aber ganz bestimmt bei den Statuten, die in der Vergangenheit zur Regierung freier Kommunen erlassen worden waren, auch wenn jene Freiheit nun seit langem bereits nicht mehr existierte. In der Praxis traf das also für alle Statuten der alten civitates zu! Dies schreibt zum Beispiel Giovan Battista De Luca, in Übereinstimmung mit anderen, angesehenen Vertretern der Rechtstheorie (De Luca scheint sich hier nicht nur durch die Verherrlichung der ,Staatlichkeit' der neuen regionalen politischen Organismen85 , sondern auch durch die Verteidigung und Beglaubigung der Gültigkeit der städtischen Gesetzgebung auszuzeichnen). Ein wenig dünn gesät - dabei wären sie von größerer Bedeutung - sind die Nachrichten über die Position, welche das Statut tatsächlich in der Praxis innehatte; darüber also, inwieweit sich die Beamten, Richter, sapientes und Doktoren, auf diese Grundlage bezogen. Dies ist ein Bereich, der noch erforscht werden muß, denn die Untersuchungen, welche darauf gerichtet sind, die Tragweite und die Grenzen des Einflusses des Statuts auf die Praxis festzustellen, sind bis heute nicht besonders zahlreich. Immerhin scheint für weite Gebiete der Halbinsel eine lange Ausdauer der städtischen Gesetzgebung in weiten Bereichen des Rechts erwiesen, ebenso wie in der Rechtsverwaltung jener Apparat an Institutionen und städtischen Praktiken, auf den oben hingewiesen S. 635-696: für Bologna vgl. A. De Benedictis, Die Bologneser Statuten zwischen Körperschaften und Landesherrn, im vorliegenden Band; dies., Jus municipale' e costituzione bolognese ,per vim contractus': argomentazione politica e scienza giuridica in Vincenzo Sacco (1681-1744), in: Jus Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte, XVI (1989), S. 1-25.
83 So zum Beispiel Orazio Carpani gegen Ende des 16. Jahrhunderts und Giulio Cesare Calvino kaum ein Jahrhundert später, beide zitiert in: M. G. Di Renzo Villata, Diritto comune e diritti locali nella cultura giuridica lombarda, S. 663 und 67l. 84 G. Ermini, Corso di diritto comune, S. 45-48, mit Verweis auf G. De Luca, Theatrum veritatis, et justitiae ... , lib. IX, pars III, De legitirna, disco X, nr. 24; und lib. XV, pars I, De Iudiciis, disco XXXV, nr. 20 (Venezia 1698, t. V, S. 267-270, auf S. 269, und T. VIII, S. 109123, auf S. 113); ders., Il dottor volgare ... Proemio, cap. IV, § 19-20 [Venezia 17401. 85 G. Ermini, Corso di diritto comune, ebd.
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wurde, nur mit beachtlicher Langsamkeit zu zerbröckeln scheint. So ist zum Beispiel für die Lombardei die Wichtigkeit des Statuts als "Magna Charta der kommunalen iurisdictio" in Cremona in der Mitte und im späten 16. Jahrhundert durch eine kürzlich erstellte Untersuchung bestätigt86 . Der Mailänder Senat, ein Organ von außerordentlicher Bedeutung in der spanischen Zeit, scheint eher Ausdruck eines Patriziats und einer städtischen Rechtskultur zu sein und nicht so sehr "der große Gerichtshof" des Staates87 In der Mitte des 18. Jahrhunderts kann Gabriele Verri noch betonen, daß "zentrale Bereiche des Zivilrechts ... - Verträge, Testamente, erbrechtliche Bestimmungen, Vermögensverhältnisse zwischen Ehegatten und Dienstbarkeit - noch heute eine vollständig statutarische Ordnung aufweisen", und daß die Statuten "alles andere als ungebräuchlich geworden sind"ss. Untersuchungen über die Rechtspraxis in Bologna oder über die Justizverwaltung im venezianischen Staate bieten unvollständige, aber gleichlautende Zeugnisse 89 . Es ist festgestellt worden, daß "die Anwendung eines allgemeinen und territorialen Systems, welches aus dem umfangreichen und umstrittenen Gemeinen Recht und aus dem noch unorganischen und sektorialen Recht des Herrschers - eines umfassenden Systems, dem schon in sich einheitliche Kriterien für eine interne Koordination fehlen - zusammengestellt war, abgewandelt und teilweise aufgehoben wurde", durch das Einströmen des kanonischen und des feudalen Rechtes sowie anderer spezieller Rechte, "durch die lokal begrenzte Gültigkeit von mehreren Gewohnheits- und besonderen (statutarischen und körperschaftlichen) Rechten, denen der unvollkommene absolute Staat die autonome und veränderliche Ordnung über breite Sektoren des Rechtes zu überlassen gezwungen war". Die theoretisch nicht in Frage gestellte Formel "lex superior derogat legi inferiori" wurde im normalen Gebrauch durch die entgegengesetzte Formulierung ersetzt: "lex specialis derogat leg i magis generali"90. Das Gefühl für die lebendige Wirksamkeit des Statuts hielt sich also sehr lange. Mitten im 18. Jahrhundert zeigte Gabriele Verri bekanntermaßen einen Ausweg aus den Mängeln der Rechtsordnungen seiner Zeit in einer "rationalen Sanierung des Statuten-Regimes", das er nicht für überholt hielt, und zu dem er nur eine Anpassung und Modernisierung vorschlug, womit er auch gegen 86 G.P. Massetto, Un magistrato e una citta nella Lombardia spagnola. Giulio Claro pretore a Cremona, Milano 1985, S. 370-372. 87 U. Petronio, Il senato di Milano: Istituzioni giuridiche ed esercizio dei potere ne! ducato di Milano da Carlo V a Giuseppe II, Milano 1972, und ders., Burocrazia e burocrati ne! ducato di Milano, in: Giurisdizioni feudali e ideologia giuridica nel ducato di Milano, in: Quaderni storici, IX (974), S. 351-402; und zuletzt A. Cavanna, Giudici e leggi a Milano nell'eta dei Beccaria, in ders., Cesare Beccaria tra Milano e l'Europa, Milano 1990, S. 168-195. ss A. Cavanna, Tramonto e fine degli statuti, S. 316. 89 A. De Benedictis, Applicazione dello statuto; dies., Stato, societa e giustizia nella Repubblica veneta. 90 A. Cavanna, Storia dei diritto moderno in Europa, S. 225.
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berühmte Antagonisten wie Ludovico Antonio Muratori polemisierte 91 . Verri schlug insbesondere die Einführung eines Lehrstuhls für Stadtrechtsgeschichte in Pavia vor92 . In den Beweggründen Verris zur Verteidigung des Statuts fand die Autonomiebestrebung des lombardischen Patrizierstandes einen extremen Ausdruck 93 . Aber es ist vielleicht bezeichnend, daß auch Scipione Maffei vorgeschlagen hatte, in Padua einen Lehrstuhl für das "jus municipale veneto" zu errichten, und daß ein weiterer Lehrstuhl "de iuribus municipalibus iuxta statuturn civile Bononiae" in Bologna im Jahre 1767 und ebenso in Padua 1769 eingerichtet werden sollten. Entsprechende Initiativen wurden in weiteren Staaten der Halbinsel vorgeschlagen und diskutiert94 . Der lange Untergang des kommunalen Rechtes, der sich über das ganze 19. Jahrhundert hinzog, scheint Italien noch einmal vom gesamteuropäischen Zusammenhang abzusetzen, wo ebendie se Instanzen bezüglich der Erhaltung des jus proprium zurückhaltender erscheinen und eher bereit mit Nachdruck für die Verteidigung anderer Gesetze und Institutionen einzutreten95 : eine extreme Widerspiegelung jener Eigenschaften, die ebenso die Rechtsgeschichte Italiens wie die Entwicklung seiner institutionellen Ordnungen kennzeichnen.
91 Ebd., S. 312-318. Über das langsame Reifen neuer Orientierungen und also - im 18. Jahrhundert - auch über die "auffällige Verbreitung ... der rechtswissenschaftsfeindlichen Ideologie" und über den "Entzug der Verantwortung des Juristenstandes" ebd., S. 307 ff.; und G. Tarello, Storia della cultura giuridica moderna, I: Assolutismo e codificazione dei diritto, Bologna 1976, S. 40 ff. und 47 ff. 92 Über die Einladung von Verri an Pasquale Garofali, zu dem Zeitpunkt Professor für Rechtsgeschichte an der Universität von Pavia vgl. M. G. DiRenzo Villata, Diritto comune e diritto locale, S. 680 (Die Einladung wurde nicht angenommen, aber das Fach wurde dann ab 1753 von einem Lehrstuhl der Mailänder palatinischen Schulen unterrichtet). 93 A. Cavanna, Tramonto e fine degli statuti lombardi, S. 317. 94 D. Marrara, Lo studio di Pisa e la discussione settecentesca sull'insegnamento dei diritto patrio, in: Bollettino storico pisano, LI! (983), S. 17-41. Zur Debatte über die Verhältnisse in der Toskana vgl. jetzt auch M. Verga, Da "cittadini" a "nobili": Lotta politica e riforma delle istituzioni nella Toscana di Francesco Stefano, Milano 1990 (La "Leopoldina", 4), S. 131 ff. und 213 ff. 95 H. Coing, Europäisches Privatrecht, I, S. 110 ff.; ders., Diritto comune e diritti locali.
Stadt und Territorium im Heiligen Römischen Reich. Eine Einführung Von Dietmar Willoweit
I. Über das Verhältnis von Stadt und Staat. Offene Fragen und historische Befunde 1. Im Rahmen seiner These von der zunehmenden Rationalität der Rechtsordnung hat Max Weber, bevor er auf die "rationale Staatsanstalt" zu sprechen kommt, auch die Stadt in die von ihm beobachtete Entwicklung eingeordnet. Zu den Merkmalen des okzidentalen städtischen Gemeinwesens habe "die Kodifikation eines besonderen rationalen Rechtes für die Stadtbürger" gehört, obwohl das Bürgerrecht noch als "ständisches Recht", nicht im Sinne des "Anstaltsprinzipes" begriffen worden seil. Was Max Weber hier mit den für sein Modell maßgebenden Kategorien beschreibt, ist nichts anderes als die Tatsache, daß die Stadt in Europa mit einem erheblichen Entwicklungsvorsprung vor dem flächenstaatlich organisierten Gemeinwesen lange Zeit den relativ modernsten Typus sozialer Organisation darstellte. Als sich das frühmoderne Städtewesen mit der ihm eigentümlichen rechtlichen Binnenordnung im 12. Jahrhundert herauszubilden begann, waren die raumübergreifenden Herrschaftsverhältnisse noch von personalen Rechtsbeziehungen geprägt. Die Geschichte des Flächenstaates beginnt - jedenfalls als ein generelles, sich kontinuierlich weiterentwickelndes Phänomen - erst im 13. Jahrhundert. Den damit gegebenen Vorsprung an "Modernität" hat die Stadt bis zum Ende des Mittelalters bewahren können. Die Progressivität ihrer Wirtschaft mit steigenden Gewinnerwartungen und Wohlstandsbedürfnissen, die frühe Schriftlichkeit ihres Rechts und dessen zunehmende Juridifizierung - all dies setzte Maßstäbe für die Entwicklung der frühmodernen Gesellschaft insgesame. Ist dies die Ausgangslage an der Schwelle zur Neuzeit, dann stellt sich allerdings die Frage, worauf es zurückzuführen ist, daß die Städte - auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung! - vom Flächenstaat überholt werden konnten. Denn es war in den M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 752 und der Beitrag von Gerhard Dilcher in diesem Band. Vgl. dazu G. Dilcher, Landrecht - Stadtrecht - Territoriales Recht, in diesem Band und ders., "Hell, verständig, für die Gegenwart sorgend, die Zukunft bedenkend". Zur Stellung und Rolle der mittelalterlichen deutschen Stadtrechte in einer europäischen Rechtsgeschichte, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 106 (1989), S. 12 ff., 32 f.
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folgenden Jahrhunderten bis zur Aufklärung der Staat, der sich als Träger einer modernen Rechts- und Sozialverfassung durchsetzte, nicht die Kommune. Der städtischen Rechtsordnung fehlte fortan der ehemals so beeindruckende Charakter des Bahnbrechenden; das Stadtbürgertum ging weitgehend auf im Status allgemeiner Untertänigkeit. Später freilich, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, haben Stadtökonomie und Stadtkultur den Flächenstaat gleichsam von innen her aufgesogen und die Landkommunen zu Residuen eher noch traditionalen Lebens degradiert. Sie scheinen nur überleben zu können, wenn und soweit sie sich städtischen Existenzformen öffnen. Der geschichtliche Wandel begünstigt weiterhin die Stadt. Doch es ist dies eine Dominanz eher ökonomischer und sozialer Art; die politischen Rahmenbedingungen bestimmt der Flächenstaat. Es folgen aus dieser durchaus paradoxen Situation weitere Fragen, die das Spannungsverhältnis zwischen Bürgerfreiheit und mittelalterlicher Herrschaft bzw. neuzeitlicher Staatsgewalt betreffen. Die Stadt verkörpert im späten Mittelalter in spezifischer Weise den Gedanken der Freiheit. Der Staat dagegen gewinnt sein profil seit dem 15. Jahrhundert als normsetzende Obrigkeit, der eine Intensivierung des Untertanenstatus mit nur geringen oder keinen Partizipationsmöglichkeiten gegenübersteht. In diesem durchaus antinomischen Verhältnis konnte die stadtbürgerliche Freiheit nur in beschränkten Formen überleben. Aber dennoch: Die Wurzeln jenes bürgerlichen Freiheitsdenkens, das sich schließlich im Staat durchsetzte, sind wohl in der Stadtkommune zu suchen3. Ist damit die historische Stärke und Kontinuität stadtbürgerlichen und staatsbürgerlichen Freiheitsdenkens bewiesen, oder handelt es sich gegenüber der stets weiter gewachsenen Macht des Staates nur um ein Korrektiv, das sich im Wechselspiel der geschichtlichen Kräfte als ein bloßes Gegengewicht erklären läßt? 2. An Gründen, sich mit der geschichtlichen Entwicklung der Beziehungen zwischen Stadt und Staat auseinanderzusetzen, fehlt es also nicht. Der historische Befund im Heiligen Römischen Reich, von dem wir auszugehen haben, ist zunächst ein doppelter: Es gibt rechtliche und soziale Gemeinsamkeiten so gut wie aller Städte, unabhängig von ihrem verfassungsrechtlichen Status; und es gibt signifikante soziale und rechtliche Unterschiede, die im Rahmen unserer Fragen im Verhältnis von Stadt und Staat besondere Beachtung verdienen. Diese Beobachtung ist weniger banal, als sie auf den ersten Blick erscheint. Es gibt, insbesondere in der spätmitte1alterlichen Stadt, vor allem Rechts- und auch einige Sozialstrukturen, welche Städte, ohne Rücksicht auf die sie umgreifenden Herrschaftsverhältnisse, als solche erscheinen lassen und vergleichbar machen 4 . Ohne dieses Faktum wäre die globale Frage nach dem Verhältnis von Stadt und Vgl. dazu die Beiträge in: Res publica. Bürgerschaft in Stadt und Staat. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. März 1987 (Der Staat, Beiheft 8), Berlin 1988. Zum folgenden vgl. besonders Pirmin Spieß in diesem Band.
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Staat nicht möglich. Gemeinsam ist allen Städten als grundlegende Voraussetzung ihrer Existenz der Stadtfrieden und das zugehörige Stadtgericht. Ganz überwiegend geht daraus eine mehr oder minder selbständige städtische Administration hervor, welche die Stadt schließlich als Modell kollektiver Autonomie im "Anstaltsstaat" erscheinen ließ. Damit korrespondierte wenigstens ein Minimun ökonomischer Mittelpunktsfunktionen in Gestalt von Markt und Gewerbe. Im Innern geordnet von Stadtrecht und Stadtgesetzgebung konnte sich das so gegebene "System" sozialer und rechtlicher Beziehungen schließlich gedanklich als juristische Person verse1bständigen. Die Vertretung durch den Rat und die Beschränkung der Haftung auf das städtische Vermögen müssen wohl als ein Modell kollektiver Großorganisation gedeutet werden, das der Anstaltsstaat später wie selbstverständlich übernahm. Im Stadtfrieden wurde auf begrenztem Raum am erfolgreichsten die Idee eines allgemeinen Friedens realisiert. Die Diskrepanz gegenüber den hochadeligen, dynastischen Erwerbsinteressen und Handlungsmaximen war offenkundig. Der Grund dafür ist zunächst natürlich im Bereich des Ökonomischen zu suchen. Konnte der Adel seinen Wohlstand nur durch Erweiterung seiner Grundherrschaften und daher durch Landerwerb fördern, so der bürgerliche Kaufmann durch Handel, der nur gedeihen konnte, wenn innerhalb und außerhalb der Stadtmauern Frieden herrschte. Doch die Schaffung eines befriedeten Binnenraumes wäre ohne gewisse Spezifika des Stadtrechts, dessen genossenschaftliche Komponente nämlich, kaum möglich gewesen. Jedenfalls für das Heilige Römische Reich nördlich der Alpen hat die deutsche Forschung seit langem die Überzeugung gewonnen, daß es vor allem die Besonderheiten der städtischen Rechtsordnung waren, in welchen sich - unter dem Schutz herrschaftlicher Privilegierung - Stadtfrieden und Bürgerfreiheit verkörperten. Damit ist die Frage nach der rechtlichen Qualität des städtischen Statutarrechts angesprochen, die nach den Ergebnissen der hier publizierten Tagung für Italien und Deutschland wohl nicht gleich zu beantworten ist. Im Anschluß an die Forschungen von Wilhelm EbeJS - im vorliegenden Band besonders betont von Pirmin Spieß - ist für die deutschen Städte grundsätzlich zwischen dem auf Herkommen beruhenden Recht einerseits und der aus Willkür und Einung hervorgehenden Satzung andererseits zu unterscheiden. Das Recht verkörpert die Beständigkeit der in die Generationenfolge eingebetteten Beziehungen zu Eigen und Erbe und es gewährleistet selbstverständlich den Schutz von Leben, Leib und Ehre. Es wird hin und wieder "gebessert", nicht jedoch als Ganzes beliebig geändert. Die Satzungen dagegen beruhen ursprünglich, wie der ältere hierhergehörende Terminus "Einung" schon sagt, auf dem Konsens der Bürger. Sie bilden städtische Sonderrechtsordnungen von
w. Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, ND der 2. Aufl. 1958, Göttingen 1988; ders., Die Willkür. Eine Studie zu den Denkformen des älteren deutschen Rechts, Göttingen 1953. Im vorliegenden Band vgl. insbesondere die Studien von Friedrich Ebe!, Wilhelm ]apssen und Pirmin Spieß.
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hoher Effektivität, da sie die jeweils besondere Situation der einzelnen Städte berücksichtigen und die Bürger durch Eid unmittelbar binden. Bürgerfreiheit manifestiert sich hier darin, daß Normen geschaffen werden können, welche auf die Lebensbedürfnisse gerade einer bestimmten Kommune zugeschnitten sind, wofür auch ein Preis zu entrichten ist: Individuelle Handlungsspielräume werden im Interesse des Ganzen beschnitten. Die Unterscheidung von Recht und Satzung ist daher vor allem deshalb von Bedeutung, weil die Einungen, Satzungen und daraus hervorgehenden Gebote Gehorsam von jedermann fordern. Sie verstehen sich als Ordnungen, heißen bald ausdrücklich so und sind als Verhaltensnormen zu begreifen - Normen für das Wirtschaften, Leben, Feiern in der Stadt. Das überkommene Recht dagegen regelt Verhältnisse, die innerhalb und außerhalb der Stadt sehr ähnlich sind. Es kommt nach elementaren zwischenmenschlichen Konflikten im Gericht zur Sprache. Gesetzgebungsakte im Bereich des Rechts wenden sich daher eher an den Richter als an den Stadtbürger, der ihrer im Alltag nicht bedarf'. 3. Über die unterschiedliche Ökonomie und Sozialstruktur der Städte, großer Handelsmetropolen einerseits, winziger Ackerbürgerstädte andererseits, brauchen viele Worte nicht verloren zu werden. Einer genaueren Betrachtung bedarf allerdings die verfassungsrechtliche Stellung der Städte im Heiligen Römischen Reich. Städte begegnen hier in zweifacher, entgegengesetzter Funktion: einmal als Objekt von Herrschaft, als Reichsstädte unter dem Kaiser, sodann als Mediatstädte in der Regel unter geistlichen oder weltlichen Fürsten oder Grafen, in ganz seltenen Fällen selbst einer Reichsstadt unterworfen; zum anderen konnten Städte, engültig nur Reichsstädte, selbst zu Landesherren aufsteigen. Vernachlässigt man den Umstand, daß auch eine Reichsstadt in der Person des Kaisers einen Herrn hatte, dann ist das Bild des deutschen Städtewesens wesentlich geprägt durch den Umstand, daß es neben der großen Zahl reichsunmittelbarer Kommunen sehr viel mehr landesuntertänige Städte, oft von erheblicher Größe und ökonomischer Kraft, gegeben hat. Zu diesem zählen z.B. solche urbanen Zentren wie Köln und Freiburg, Braunschweig und Leipzig. Ökonomischer Erfolg und sozialer Aufstieg einer Stadt in die höheren Ränge der Städtegesellschaft hatten in Deutschland noch keineswegs politische Unabhängigkeit mit der Konsequenz zur Folge, selbst einen Territorialstaat bilden zu können. Ursache. dieser durchaus auffallenden Erscheinung ist die Stärke der hochadeligen Dynastien und ihrer geistlichen Dependancen in Deutschland. Schon im 13. Jahrhundert hat man zwischen königlichen Städten und solchen Städten, die unter der Herrschaft des Adels stehen, unterschieden. Nur die ersteren waren dem Reiche steuerpflichtig.
D. Willoweit, Gesetzgebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff (Abhandlung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philolog.-historische Klasse, 3. Folge, Nr. 157) hrsg. von o. Behrends / C. Link, Göttingen 1987.
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Im 15. Jahrhundert zeigte es sich bei der Aufstellung der ersten Reichsmatrikeln, daß die Unterscheidung von Reichsstadt und landsässiger Stadt längst allgemeine Anerkennung gefunden hatte, wenn auch in Einzelfällen um den zutreffenden Status noch lange gestritten wurde. Die Unterschiede zur Situation in Italien liegen auf der Hand. Südlich der Alpen wirken die großen Kommunen schon im Hochmittelalter staatsbildend. Das entwickelte Städtewesen der Antike findet unter den günstigen wirtschaftlichen Bedingungen des Hochmittelalters besonders in Norditalien eine so vitale Fortsetzung, daß sich die hoch adeligen Dynastien in die Stadtgesellschaften integrieren müssen. Geht in Deutschland der Staat aus der Fürstenherrschaft hervor, so in Italien eine Weile früher aus dem territorialen Machtgefüge, welches sich die bedeutenderen städtischen Zentren zu schaffen vermochten. Dazu bieten nördlich der Alpen nur einige wenige rechstsstädtische Territorien eine direkte Parallele und auch sie erreichen - wie noch zu zeigen sein wird - das Niveau wirklicher Flächenstaaten kaum. Ein direkter Vergleich italienischer Stadtterritorien mit den nicht zu Unrecht so genannten "Landgebieten" deutscher Reichsstädte würde Riesen und Zwerge nebeneinanderstellen. Nur zwischen dem Oberrhein und dem Nordrand der Alpen gelingt es den großen Handelszentren Bern und Zürich im Zuge einer konsequenten antihabsburgischen Politik, den örtlichen Adel aus seinen Herrschaftspositionen zu verdrängen und Staatsgebilde aufzubauen, die den oberitalienischen vergleichbar sind. Der "Sonderweg" der Schweizerischen Eidgenossenschaft zeigt freilich, daß wir es hier mit einer für den Gesamtraum des Heiligen Römischen Reiches untypischen Entwicklung zu tun haben. Das mit diesem Bande der Öffentlichkeit übergebene Arbeitsvorhaben gewann dadurch an Komplexität. Stadt und Staat, städtische Statuten und territoriale Untertänigkeit konnten für die deutschen Reichsgebiete nördlich der Alpen nicht in derselben Weise aufeinander bezogen werden, wie dies für Italien möglich war. Die Stadt begegnet in Deutschland nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie als Statutengesetzgeber, sondern vielmehr als Betroffener dieses von den Fürsten zunehmend genutzten Gesetzgebungsinstruments. Gerade auf diesem Felde, weniger im Bereich der reichsstädtischen Gesetzgebung, sind auch die größten Forschungslücken festzustellen. Denn das Schicksal der Mediatstädte, die allmähliche Einschränkung ihrer eigenständigen Rechts- und Statutarhoheit durch die Landesherren, hat den Sieg des Fürstenstaates in Deutschland besiegelt. Die deutschen Beiträge dieses Bandes sind daher gerade dieser Problematik gewidmet. Über die reichsstädtischen Territorien liegep seit längerem genauere Forschungen vor, die im folgenden zu referieren und durch Hinweise auf die Geschichte des reichsstädtischen Gesetzgebungsrechts in der frühen Neuzeit zu ergänzen sind.
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11. Die deutschen Reichsstädte, ihr Landgebiet und ihre Statuten 1. Entstehung und Struktur der reichsstädtischen Territorien Nach ersten Vorläufern im 13. haben sich zahlreiche Reichsstädte im Laufe des 14. und 15. bis hinein in das 16. Jahrhundert Landgebiete geschaffen, deren Struktur den fürstlichen und gräflichen Landesherrschaften ähnlich war7• Re7 Dazu die wichtigste, insbesondere neuere Literatur, allgemein: K. Reimann, Untersuchungen über dIe Territorialbildung deutscher Reichs- und Freistädte, Breslau 1935;W. Leiser, Territorien süddeutscher Reichsstädte. Ein Strukturvergleich, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 38 (975), S. 967-981; G. Wunder, Reichsstädte als Landesherren, in: Zentralität als Problem der mittelalterlichen Stadtgeschichtsforschung, hrsg. von E. Meynen, Köln / Wien 1979, S. 79-91; R. Gmür, Städte als Landesherren vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Festschrift für Hans Thieme zu seinem 80. Geburtstag, hrsg. von K. Kroeschell, Sigmaringen 1986, S. 177-197; E. Isenmann, Die Stadt und ihr Umland, in: ders., Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250-1500, Stuttgart 1988, S. 231244. Nürnberg: H. Dannenbauer, Die Entstehung des Territoriums der Reichsstadt Nürnberg, Stuttgart 1928; W. Wüllner, Das Landgebiet der Reichsstadt Nürnberg, Nürnberg 1970; L. Schnurrer, Das Territorium der Reichsstadt Nürnberg, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken, 89 0977-1981), S. 91-100; Nürnberg, Bern. Zwei Reichsstädte und ihre Landgebiete, hrsg. von R. Endres, Erlangen 1990. Ulm: O. Hohenstau, Die Entwicklung des Territoriums der Reichsstadt Ulm im 13. und 14. Jahrhundert, Stuttgart 1911; E. Naujoks, Stadtverfassung und Ulmer Land im Zeitalter der Reformation, in: Ulm und Oberschwaben, 34 (955) S. 102-119; G. Neusser, Das Territorium der Reichsstadt Ulm im 18. Jahrhundert, Ulm 1964; H. Schmolz, Herrschaft und Dorf im Gebiet der Reichsstadt Ulm, in: Stadt und Umland, hrsg. von E. Maschke / ]. Sydow, Stuttgart 1974, S. 166-192. Straßburg: G. Wunder, Das Straßburger Gebiet. Ein Beitrag zur rechtlichen und politischen Geschichte des gesamten städtischen Territoriums vom 10. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 1965; ders., Das Straßburger Landgebiet. Territorialgeschichte der einzelnen Teile des städtischen Herrschaftsbereiches vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, Berlin 1967. Rothenburg: H. Woltering, Die Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber und ihre Herrschaft über die Landwehr, Teil I, 1965 (Jahrbuch des Vereins für Alt-Rothenburg 1965-66), Teil H, 1971 (Jahrbuch des Vereins für AltRothenburg 1971-72). Frankfurt am Main: Die Gesetze der Stadt Frankfurt am Main im Mittelalter, hrsg. von A. Wolf, Frankfurt a. Main 1969; ders., Gesetzgebung und Stadtverfassung. Typologie und Begriffssprache mittelalterlicher städtischer Gesetze am Beispiel Frankfurts am Main, Frankfurt a. Main 1968; B. Schneidmüller, Städtische Territorialpolitik und spätmittelalterliche Feudalgesellschaft am Beispiel von Frankfurt am Main, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 118 (982), S. 115-136; E. Orth, Stadtherrschaft und auswärtiger Bürgerbesitz. Die territorialpolitischen Konzeptionen der Reichsstadt Frankfurt im späten Mittelalter, in: Städtisches Um- und Hinterland in vorindustrieller Zeit, hrsg. von H.K. Schulze, Köln / Wien 1985, S. 99-156; dies., Frankfurter Umland politik im späten Mittelalter, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, 61 (987), S. 33-51. RottweiI: j.A. Merkle, Das Territorium der Reichsstadt Rottweil in seiner Entwicklung bis zum Schluß des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1913; A. Laufs, Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Rottweil1650-1806, Stuttgart 1963. Schwäbische Reichsstädte: P. Blickle, Zur Territorialpolitik der oberschwäbischen Reichsstädte, in: Stadt und Umland, S. 54-71; R. Kiessling, Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Köln / Wien 1989. Die norddeutschen Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen: Hf. Behr, Die Landgebietspolitik nordwestdeutscher Hansestädte, in: Hansische Geschichtsblätter, 94 (976), S. 17-37; A. Düker, LübecksTerritorialpolitik im Mittelalter, Bremen 1932; G. Fink,
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gelmäßig entschlossen sich zunächst einzelne Bürger, auch Spitäler und Klöster der Stadt, außerhalb der Mauern Güter und nutzbare Rechte durch Kauf, Pfand oder ähnliche Titel zu erwerben. Später schritten dann die Städte selbst zum planmäßigen Erwerb ganzer Herrschaften und hoheitlicher Rechte, etwa solchen an Burgen und Gerichten. In Einzelfällen gelang auch Landerwerb durch Beteiligung an erfolgreich geführten Fehden. Die Reichsstadt Nürnberg nutzte alle diese Wege, um ein nicht unbedeutendes Territorialgebilde um sich herum aufzubauen. Sehr beachtlich waren auch die Landgewinne der Reichsstädte Ulm, Straßburg, Rothenburg ob der Tauber. Andererseits vermochte es eine so bedeutende Reichsstadt wie Frankfurt am Main nicht, über den Besitz einiger Dörfer hinaus zuge langen und in die adelige Nachbarschaft einzubrechen. Auch im Vergleich nur der Reichsstädte untereinander gilt also, daß ökonomischer und politischer Erfolg nicht unmittelbar in Zusammenhang stehen. Diese auf den ersten Blick etwas überraschende Beobachtung hat wohl damit zu tun, daß der Zweck der reichsstädtischen Landgebietspolitik von vorneherein begrenzt war. Solange nur die Bürger und geistlichen Institutionen in der Umgebung der Stadt Güterbesitz an sich brachten, ging es um Geldanlage und die Erzielung von Renditen. Aber auch als die Städte damit begannen, planmäßig Grundherrschaften und Herrschaftsrechte an sich zu bringen, ließen sie sich nur von einzelnen eigennützigen Motiven leiten. Die Sicherung der Handelswege war eine Hauptsorge, die der Holzversorgung ein Nebenzweck. Auch spielt vielfach das Interesse an grundherrlichen Einnahmen eine große Rolle; die Reichsstädte Ulm und Rothenburg bestritten auf diese Weise einen erheblichen Prozentsatz ihrer Finanzeinkünfte. "Staatsbildung" als solche zu betreiben, kam den Ratsherren in Deutschland offenbar nicht in den Sinn. Diese Forschungsergebnisse werden bestätigt durch die in der Literatur anzutreffenden Feststellungen über den Status der in den reichsstädtischen Landgebieten ansässigen Bevölkerung. Es gab dort kein einheitliches Bürgerrecht, sondern nur Untertanen auf den Grundherrschaften der Reichsstadt und ihrer Patrizier, in seltenen Fällen - im Gebiet von Nürnberg und Ulm - auch einige Mediatstädte mit begrenzter Autonomie. An der Regierung des reichsstädtischen Zentrums waren die Untertanen nicht beteiligt. Ganz selten - im Ulmer Gebiet - sind bäuerliche Landstände zu beobachten. Insgesamt aber boten die "Territorien" der Reichsstädte dasselbe Bild wie die benachbarten Fürstenstaaten: Lübecks Stadtgebiet, in: Städtewesen und Bürgertum als geschichtliche Kräfte. Gedächtnisschrift für F. Rörig, Lübeck 1953, S. 243-296; E. Raiser, Städtische Territorialpolitik im Mittelalter. Eine vergleichende Untersuchung ihrer verschiedenen Formen am Beispiel Lübecks und Zürichs, Lübeck / Hamburg 1969; H. Reincke, Hamburgische Territorialpolitik, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, 38 (1939), S. 28 ff.; M. Wilmanns, Die Landgebietspolitik der Stadt Bremen um 1400, Hildesheim 1973. Mitteldeutsche Mediatstädte: L. Rammel, Grundherrschaftliche und bäuerliche Verhältnisse im Gebiet der Stadt Erfurt zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1980 (Teil 2), S. 159-180; G. BarteI, Der ländliche Besitz der Stadt Göttingen, Hildesheim 1952; H. Germer, Die Landgebietspolitik der Stadt Braunschweig bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1937.
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Herren regierten über eine schutzbedürftige, abhängige, zu Abgaben und Diensten verpflichtete Landbevölkerung. Das reichsstädtische Ratsregiment, auf welches bei weitem nicht jeder Stadtbürger Einfluß hatte, reichte dafür meist aus. Zuweilen erschloß man das Herrschaftsgebiet durch lokale Ämter, denen in Nürnberg ein besonderes "Landpflegeamt" übergeordnet war. Die geschilderten Strukturen verbieten es in der Tat, von "Stadtstaaten" zu sprechen, weil der deutsche Leser damit die griechische Polis assoziiert; allenfalls handelt es sich um "städtische", d.h. von reichsstädtischen Ratskollegien beherrschte, Staatsgebilde8 . Doch selbst diese Charakterisierung kann noch in die Irre führen. Die Stabilität der Flächenstaaten haben die reichsstädtischen Landgebiete niemals erreicht. Ablesen läßt sich ihr gewissermaßen privatrechtlichpatrimonialer Charakter am Grenzfall der Veräußerung einzelner Güter oder Rechte durch einen Stadtbürger. Diese Objekte konnten dem reichsstädtischen "Territorium" leicht verlorengehen. Mit Sicherheit geschah das, wenn sich eine Patrizierfamilie der Reichsritterschaft anschloß. In diesem Falle unterstellte sie ihren bis dahin der Stadt unterworfenen Güterbesitz der reichsritterschaftlichen Korporation, womit sich das "Territorium" der Reichsstadt verkleinerte. Von der Stabilität der italienischen Stadtterritorien waren diese Verhältnisse weit entfernt. 2. Das Gesetzgebungsrecht der Reichsstädte Die Reichsstädte entfalteten auf der Basis der schon skizzierten Rechts- und Gesetzgebungshoheit eine - soweit ersichtlich, nur selten durch den Kaiser gelenkte - Gesetzgebungstätigkeit. Deren Adressat war aber in erster Linie die Bevölkerung der Reichsstadt selbst. Gegenüber den Untertanen der reichsstädtischen Landgebiete hielten sich die reichsstädtischen Gesetzgeber, die Ratskollegien also, sehr zurück. Sie respektierten weitgehend deren Rechtsherkommen und beschränkten sich meist darauf, die herrschaftlichen Positionen in den lokalen Gerichten 7.LI besetzen. Im Prinzip nicht angetastet wurde auch die städtische Autonomie von Mediatstädten, wo es solche im reichsstädtischen Landgebiet gab. Natürlich berührte die reichs städtische Statutargesetzgebung in vieler Hinsicht auch die Lebensverhältnisse der Bevölkerung des Umlandes. Aber Gesetzgebungsaktivitäten, die umfassend und dauerhaft gerade diesen Personenkreis ins Visier genommen hätten, sind nicht bekanntgeworden. Wer sich einen Eindruck von der Gesetzgebung einer deutschen Reichsstadt verschafft, etwa anhand der von Armin Wolf herausgegebenen Gesetze der Stadt Frankfurt am Main 9 , wird die Vielseitigkeit und Regelungsdichte der erlassenen Normen über Handel und Gewerbe, innere Stadtordnung und Stadtverfassung, bewundern. Von einer systematisch angelegten, auf übergeordnete Zwecke durchgängig bezogenen Gesetzgebungstätigkeit, wie wir sie in Italien wohl schon vorfinden, kann jedoch keine Rede sein. Das ändert sich selbst in der Neuzeit W. Leiser, Territorien süddeutscher Städte, S. 974. A. Wolf, Gesetze der Stadt Frankfurt, 1969.
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dort nicht, wo Reichsstädte größere Landgebiete zu verwalten hatten. Nürnberg leitete 1479 die kodifikatorisch intensive Phase der deutschen Stadtrechtsreformationen ein lO . In den folgenden drei Jahrhunderten begnügte es sich damit, mit Neupublikationen dieser Reformation und zahllosen Ratsdekreten, die noch 1773 in einer besonderen Sammlung zusammengefaßt wurden, den überkommenen Rechtsstoff zu ergänzen und vorsichtig fortzubilden; eine große Neukodifikation seines Statutarrechts hat Nürnberg dagegen nicht in Angriff genommen 11 • Von umfassenden Gesetzgebungsvorhaben für das ganze Landgebiet ist noch viel weniger zu spüren. ill. Die Mediatstädte, ihr Umland und ihre Statuten
1. Auch die bedeutenden Mediatstädte betrieben eine Landgebietspolitik, die sich mit derjenigen der Reichsstädte vergleichen läßt. Das Bedürfnis, städtische Interessen zu wahren, war hier wie dort das gleiche. Die großen Hansestädte des Nordens - Bremen, Hamburg und Lübeck -, aber auch bedeutende Städte in Fürstenstaaten - Braunschweig, Göttingen, Lüneburg dehnten ihren Einfluß weit in das Umland hinein aus, weil sie ebenso wie die Reichsstädte danach trachteten, bürgerliche Kapitalinvestitionen zu schützen und vor allem die Handelswege zu sichern. Der vielfach bezeugte Erwerb von Burgen an strategisch wichtigen Punkten zeigt, daß diese Städte tatsächlich in hoheitliche Funktionen hineinwuchsen, betrieben sie doch mit solchen Mitteln aktive Landfriedenspolitik. In dem Augenblick jedoch, in welchem ihre fürstlichen Herren die Aufgaben flächendeckender Friedenswahrung selbst bewältigten, entfiel der Grund für eine aktive Landgebietspolitik, und es zeigte sich, daß für eine eigene Territorienbildung in den vorgegebenen Herrschaftsstrukturen jede Grundlage fehlte. Für eine über das Stadtgebiet hinausgreifende Statutargesetzgebung gab es keinen Ansatzpunkt. 2. Um so spannungsreicher und konfliktgeladener entwickelte sich das Verhältnis zwischen der Gesetzgebungsgewalt mediater Städte und dem konkurrierenden Gesetzgebungsrecht der fürstlichen Landsherren. Darüber informieren vor allem die Beiträge von Friedrich Ebel, Wilhelm Janssen und Hans Schlosser mit plastischen, bislang weitgehend unbekannten Details. Die Stadt Breslau bietet ein Beispiel für eine beständige Verzahnung der landesherrschaftlichen und kommunalen Sphäre mit der Folge daß sich fürstlicher Einfluß auch dort geltendmachen kann, wo sich andere Städte einer weitgehend freien Gesetzgebungshoheit erfreuen - im Bereich der innerstädtischen Policey. Für 10 W. Kunkel / H. Thieme, Quellen zur neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, Bd. 1, Weimar I Köln 1936, S. 1 ff. 11 D. Willoweit, Kommunale Genossenschaften als Träger des Rechts in Mitteleuropa, in: Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich (Historische Zeitschrift, Beiheft 13), hrsg. von P. Blickle, München 1990, S. 403 ff., S. 418.
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das Altsiedelgebiet des Reiches typisch sind die von Janssen und Schlosser beobachteten Entwicklungen. Das im 14. Jahrhundert voll entwickelte Statutarrecht der Mediatstädte kollidiert im 15. und 16. Jahrhundert mit dem selbstbewußt geltend gemachten landesherrlichen Gesetzgebungsanspruch. Städtische Statuten können in dieser Zeit sowohl vom örtlichen Selbstverwaltungsorgan wie auch vom Landesherrn speziell für eine bestimmte Kommune erlassen werden. Diese traditionelle Orientierung an den besonderen Rechtsverhältnissen der einzelnen Stadt wurde aber bald aufgegeben, als mit überall im Territorium verbindlichen Policey- und Landesordnungen die verhaltenssteuernde, auf die Herstellung eines einheitlichen, gehorsamen Untertanenverbandes zielende Gesetzgebung begann. Die Frage, wie sich demgegenüber das Statutarrecht der Städte behaupten sollte, wurde auch juristisch reflektiert, wie ein von Wilhelm Janssen mitgeteiltes Rechtsgutachten zeigt. Am Ende freilich erweis sich der Territorialstaat als ein überlegener Konkurrent der städtischen Gesetzgeber. Wo es im Laufe des 16. Jahrhunderts noch nicht gelungen war, die Kommunen zu einem selbstverständlichen Gehorsam gegenüber der ordnenden Legislative des Fürsten zu bewegen, dort kam es spätestens im 17. Jahrhundert, im Zeichen des heraufziehenden Absolutismus, zu direkten Eingriffen in den Bestand des städtischen Statutarrechts. Hans Schlosser zeigt am Beispiel der bayerischen Residenzstadt München, daß die Städte einer entschlossenen Nivellierungspolitik ihrer fürstlichen Landesherren jetzt nichts Gleichwertiges mehr entgegenzusetzen hatten. Dem mittelalterlichen Privilegien bestand mitsamt dem eigenen kommunalen Statutarrecht gebrach es nun an einer Legitimation, die stark genug gewesen wäre, dem absolutistischen Herrscherwillen zu widerstehen. Die Vereinheitlichung des überkommenen Rechts wie auch der polizeilichen Verhaltensnormen durch den Territorialstaat seit der Mitte des 15. Jahrhunderts ließ zwar zahlreiche Partikularitäten in den einzelnen Kommunen bestehen. Die Gesamttendenz ist aber eindeutig. Sie spiegelt den schon angesprochenen Übergang von der politischen Welt des Stadtbürgertums zu derjenigen der allgemeinen Untertänigkeit wider. Diese Entwicklung beruht wohl auf zwei Faktoren. Der eine ist jener Gesichtspunkt der "Verdichtung", auf den Wilhelm Janssen, im Anschluß an die Arbeiten von Peter Moraw, nachdrücklich hinweist. Zeugnis dafür, daß soziale Verdichtung - mit Bevölkerungswachstum, zunehmender Komplexität der ökonomischen Beziehungen und politischen Interdependenzen - im Bereich der rechtlichen Ordnung des Gemeinwesens einen Egalisierungsdruck herbeiführt, ist die ge!,chichtliche Entwicklung des Policeywesens. Voll ausgebildet zunächst im Bereich der Stadt, setzt es sich auch auf der Ebene der Territorien durch, als es gelungen war, diese von festen Residenzen aus flächendeckend zu beherrschen. Der andere Grund, welcher zu einem Niedergang des Statutarrechts der Mediatstädte geführt hat, ist die weitaus größere politische Potenz des dynastischen Fürstenstaates in Deutschland. Es waren die Residenzen des hohen Adels, nicht die Rathäuser des Bürgertums, die im Heiligen Römischen Reich den Mittelpunkt der frühmodernen Flächenstaaten bildeten.
Landrecht - Stadtrecht - Territoriales Recht Von Gerhard Dilcher
1. Die Forschungslage In der deutschen wie in der italienischen Forschung ist die Forschungslage stark von den methodischen Ansätzen der historischen Schule bestimmt. In der deutschen Forschung dienen Quellen der alten stammesrechtlichen leges von Dorfland- und Stadtrechten der Konstruktion eines Systems des deutschen Privatrechts. Das Stadtrecht kann hier nur unvollkommen in seiner Eigenständigkeit hervortreten. In Italien verfolgt die Forschung das Weiterleben des römischen und die Entfaltung des langobardischen Rechts, so dann die Entwicklung des gelehrten ius commune im Gegensatz zum ius proprium. Auch hierbei tritt der Vorrang und die Bedeutung des städtischen Statutarrechts nicht angemessen in Erscheinung. Die Bedeutung der Stadtentwicklung für die Ausbildung des europäischen, rational-legalistischen Rechtsverständnisses, wie sie schon Max Weber gezeichnet hat, kann auf diese Weise nicht geklärt werden.
2. Bisherige Erklärungsansätze Für Deutschland gibt es für das Verhältnis Landrecht - Stadtrecht folgende Erklärungsansätze: a) Das Stadtrecht ist das den wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend fortentwickelte Landrecht (Richard Schröder); b) Das Stadtrecht entwickelt sich vor allem aus kaufmännischem Gewohnheitsrecht (Hans Planitz); c) Das Stadtrecht ist ein Recht mit eigenem Charakter, gebildet aus Gewohnheit und Willkür (Einung, statutum), gekennzeichnet durch Rationalität, Mobilität und Ausrichtung auf das Ökonomische (Wilhe1m Ebel). Der Ansatz ist fortentwickelt in meinem Vortrag auf dem Bielefelder Rechtshistorikertag erschienen in "Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte - Germanistische Abteilung" 006, 1989, s. 12-45).
3. Die Entstehung des deutschen Stadtrechts Thesenartig läßt sich heute sagen: Im 12. Jahrhundert entwickelt sich in Deutschland ein Stadtrecht, das sich in inhaltlichen Normen, Charakter und Entwicklungsstand deutlich vom (noch nicht aufgezeichneten) Landrecht ab-
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hebt. In der Form kann es sowohl in ein Privileg, wie in die Aufzeichnung eines städtischen Statuts, sowohl in eine Rechtsmitteilung an eine andere Stadt wie in eine vertragsartige Vereinbarung ge faßt werden. Zur Aufzeichnung gelangen vor allem Rechtssätze, die sich vom Landrecht unterscheiden.
4. Übergang von Oralität zur Schriftlichkeit Das Stadtrecht vollzieht auf diese Weise im deutschen Rechtsbereich als erstes den Schritt von der vorherrschenden Oralität der Rechtstradition zur Schriftlichkeit aufgezeichneter Normen. Die ländliche Rechtsordnung kennt seit der Aufzeichnung der stammesrechtlichen leges einen solchen Normcharakter nicht, sondern regelt Konflikte durch kollektiven Rückgriff auf die eigene traditionale Seinsordnung (Hermann Krause: "Secundum antiquam consuetudinem, more maiorum, more solito").
5. Die Verschriftlichung des Landrechts: Der Sachsenspiegel Man könnte versuchen, durch Hinweis auf den Sachsenspiegel diese These zu widerlegen. Er ist die klassische Quelle schriftlich aufgezeichneten deutschen nicht stadtrechtlichen Rechts (Landrecht und Lehnrecht) und wirkt seinerseits auf die Stadtrechte Norddeutschlands wie Mittel- und Ostdeutschlands. Doch steht der Sachsenspiegel zeitlich im Kontext schon voll entwickelten und aufgezeichneten Stadtrechts; er enthält nur bedingt Rechtsregeln abstrakt-normativen Charakters wie die Stadtrechte. Nachdem schon früher Einflüsse der kirchlichen Bildung auf Eike von Repgow festgestellt worden sind (Guido Kisch) werden nun auch Beziehungen zu stadtbürgerlichen Kreisen festgestellt (H. Lieberwirth, P. Johanek). Außerdem wird der Sachsenspiegel heute in der europäischen Welle von Rechtsaufzeichnungen nach dem Investiturstreit gesehen (S. Gagner). Das Landrecht des Sachsenspiegels kann also nicht als Untergrund der stadtrechtlichen Entwicklung im Sinne Richard Schröders gesehen werden.
6. Die neue Ebene: Schriftlichkeit und Normstruktur Mit dem Vorliegen einer breiten Schicht von Stadtrechten und des Land- und Lehnrechtes des Sachsenspiegels ist im 13. Jahrhundert eine neue Ebene der Rechtsentwicklung in Deutschland erreicht (Hof- und Dienstrechte wie ländliches Siedlungsrecht haben hierfür nur eine sekundäre Bedeutung). Diese Aussage gilt parallel für die anderen europäischen Rechtslandschaften nördlich der Alpen - die Stadtrechte steuern hierzu die moderne Normstruktur bei, der Sachsenspiegel den Versuch einer umfassenden Aufzeichnung des gesamten Rechts. Der Hintergrund des Kirchenrechts und des römischen Rechts für diese Entwicklung ist schwer zu ermitteln, wird aber bei der Rekonstruktion des historischen Vorgangs stärker zu berücksichtigen sein.
Landrecht - Stadtrecht - Territoriales Recht
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7. Durchdringung und Verbindung von Land- und Stadtrecht Auf dieser im Laufe des 13. Jahrhunderts erreichten Ebene können sich Landrecht und Stadtrecht verbinden und durchdringen. Diese Erscheinung findet sich vor allem im Großen und Kleinen Kaiserrecht (Schwabenspiegel und Frankenspiegel) in der Verwendung von Sachsenspiegel, Schwabenspiegel u.a. in Stadtrechten, aber auch in den Versuchen, umfassende spiegelartige Aufzeichnungen von Stadtrechten herzustellen. Weniger der juristische Ursprung als Land- oder Stadtrecht, als vielmehr die Anforderungen der jeweiligen Lebensverhältnisse bestimmen jetzt die inhaltlichen Rechtsnormen dieser Aufzeichnungen. Dabei spielt der Unterschied ländlicher und städtischer Wirtschaftsverhältnisse durchaus noch eine Rolle. Die Ausbreitung von Austausch und Handel (der Ware-Geldbeziehung) von den städtischen Marktzentren über das Land führt aber zur Ausbreitung des Handelskaufs und ähnlicher Rechtsinstitute ursprünglich markt- und stadtrechtlicher Art auf das Land und macht die entsprechenden Rechtsregeln zu Bestandteilen des Landrechts.
8. Die Gesetzgebung der Territorien Die Gesetzgebung der deutschen Landesherren seit dem 13. Jahrhundert ist auf dieser Ebene der inneren Rechtsentwicklung zu verstehen. Die deutschen Landesherren verwenden die entwickelten Elemente von Stadt- und Landrecht, um zu einer Vereinheitlichung des Rechts ihrer Territorien im Sinne einer den Verhältnissen angemessenen Ordnung und im Interesse ihrer Staatsbildung zu gelangen. Sie sehen sich aber dennoch gezwungen, die unterschiedlichen Verhältnisse von Stadt und Land (wie auch der Städte unter sich) zu respektieren.
9. Das Stadtrecht als Vennittler vom archaischen germanischen zum gelehrten Recht Vor allem durch die städtische Entwicklung im 12. Jahrhundert ist also eine grundlegende qualitative Veränderung des Rechts der Rechtslandschaften nördlich der Alpen hervorgerufen worden, die auch das bis dahin "archaische" Stammes- und Landrecht verwandelt. Die neue Qualität des Rechts wird dann in der Territorialgesetzgebung aufgenommen und als Instrument der Rechtsvereinheitlichung und Staatsbildung eingesetzt. Die so in Stadt und Land erreichte qualitative Stufe der Rechtsentwicklung ermöglicht erst die Übernahme des gelehrten Rechts nördlich der Alpen (Rezeption), da nunmehr kein qualitativer Sprung von einer archaischen zu einer rationalen Rechtsordnung zu vollziehen ist.
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10. Die Rolle des mitteleuropäischen Stadtrechts in der europäischen Rechtsentwicklung Die Ausbildung des Stadtrechts hat sich damit als eine Stufe der mitteleuropäischen Rechtsentwicklung enviesen, die für die Ausbildung eines europäischen ius commune und damit der eigentümlichen Legalität der europäischen Kultur unentbehrlich erscheint. In dieser Sicht stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Landrecht und Stadtrecht neu. Das wirft zahlreiche noch ungeklärte Forschungsprobleme auf. Dazu gehört auch die Vergleichung und die Herausarbeitung der Unterschiede in der Rechtsentwicklung zwischen den Gebieten südlich und nördlich der Alpen, insbesondere im Hinblick darauf, welche Rolle die im 12. Jahrhundert in beiden Teilen Europas entstehende kommunal-urbane Lebensform für die Geschichte der Ausbildung der europäischen Rechtskultur bedeutet.
Die Statuten der Florenz unterworfenen Städte im 15. und 16. Jahrhundert: Lokale Reformen und Eingriffe des Machtzentrums Von Elena Fasano Guarini
1. Man kann von einigen Betrachtungen über die aktuelle Organisation der Archive hinsichtlich der Quellen der städtischen Statuten und, allgemeiner, der Kommunen ausgehen, welche Florenz unterworfen waren. Die Struktur der Archivfonds ist häufig das Resultat einer langen und wechselhaften Geschichte, welche ganz zu rekonstruieren in unserem Falle weder nützlich noch möglich wäre. Nicht selten jedoch erlaubt sie - wie kürzlich festgestellt wurde -, die ursprünglichen Gründe dafür herauszufinden, derentwegen diese Quellen gesammelt und aufbewahrt wurden, und auf diese Weise ihre alte praktischpolitische Funktion besser zu verstehen 1. In vielen lokalen historischen Archiven werden reichhaltige Serien von Gemeindestatuten aufbewahrt. Um uns auf die wichtigsten Städte zu beschränken: mehr als 50 Stück existieren im Staatsarchiv von Arezzo, etwa 20 im Archiv von Pisa und mehr als 40 in Pistoia 2• An diesen Orten befinden sich auch Kodizes, die in die kommunale Zeit zurückreichen; und diesen galt bisher auch das Hauptinteresse der Gelehrten. Aber die dicht gedrängte Serie der späteren Register enthüllt eine Geschichte der Statuten, die mit dem Ende der "Freiheit" nicht abgebrochen ist. Eine Untersuchung in dieser Materie für die Folgezeit der Unterwerfung unter Florenz könnte allerdings ohne den umfassenden zentralen Fonds der "Statuti delle comunita soggette" im florentinischen Staatsarchiv nicht auskommen. Aus kaum weniger als 1000 Stück bestehend, umspannt er einen Bogen von fünf bis sechs Jahrhunderten - vom 14., in manchen Fällen vom 13., bis zum 18. Jahrhundert, von der Bildung des regionalen "Staates" bis zum Niedergang der kommunalen gesetzgeberischen Aktivität im 18. Jahrhundert. Ähnliche Fonds existieren in der Toskana auch dort, wo die "Staaten" immer, wie in Siena
S. 55 ff.
Vgl. I. Zanni Rosiello, Archivi e memoria storica, Bologna 1987, insbesondere
Archivio di Stato di Arezzo (abgekürzt: ASA), Statuti e riforme, 1-56; Archivio di Stato di Pisa (abgekürzt: ASPi), Comune divisione A, 1-24; div. B, 1; div. C, 1; div. D, 12; Archivio di Stato di Pistoia (abgekürzt: ASPt), Statuti e ordinamenti, 1-43.
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und in Lucca, ein städtisches Gepräge behielten'. Dagege fällt die im Verhältnis zum Umfang des Territoriums überproportionale Größe des florentinischen Archivs und vor allem dessen zeitliche Ausdehnung auf: ein Hinweis vielleicht nicht nur auf eine größere Komplexität der Herrschaft von Florenz - einer Herrschaft auf regionaler Ebene, die sich mehrere Städte einverleibte - sondern auch auf eine andere Funktion der lokalen Statuten innnerhalb der Herrschaft von Florenz. Die Sammlung der Statuten, die in Florenz erhalten sind, ist einerseits ohne Zweifel im Laufe der Zeit, auch noch im 18. Jahrhundert, durch das Zusammenfließen von auswärtigem Material verschiedener Herkunft angereichert worden, andererseits aber durch Verluste und Überführungen in andere Orte verarmt4 ; sie hat Neuordnungen und Veränderungen erfahren. Ihre Zusammensetzung und ihre schrittweise Erweiterung jedoch hat sie in erster Linie einer Pflichtübung zu verdanken, die den verschiedenen Kommunen seit ihrer Unterwerfung auferlegt war: Sie mußten sowohl eine Kopie der gültigen wie auch aller jener Statuten, die nach und nach erlassen worden waren, nach Florenz schicken. Die Sammlung trägt noch die ursprüngliche Prägung des antiken "Archivio delle Riformagioni", zu dessen Bestandteil sie nach Beginn des 15. Jahrhunderts wurde, wie die lange Liste von Inventaren bezeugt, die ihre Struktur und den Inhalt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert dokumentieren 5 . In Siena sind 156 Register aufbewahrt, darunter befinden sich auch mehrere Kopien ein und desselben Statuts. Das Material stammt in überwiegendem Maße aus dem 15. und aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts: vgl. Archivio di Stato di Siena. Guidainventario dell'Archivio di Stato, I, Roma 1951, S. 77-121. In Lucca folgen seit 1621 und das ganze 18. Jahrhundert hindurch auf rund 30 Statuten des 15. und 16. Jahrhunderts Kopien, welche die anziani in Auftrag gegeben und bestätigt haben, in den Registern .. decreti comunitativi": 92 ländliche Statuten des 17. und 115 des 18. Jahrhunderts. Vgl. S. Bongi, Inventario del R. Archivio di Stato di Lucca, I, Lucca 1872, S. 37-49. Vgl. auch E. Fasano Guarini, Gli statuti delle comunita toscane nell'eta moderna, in: Miscellanea storica della Valdelsa, LXXXVII (981), S. 154-169. So bezeugen zum Beispiel die in der folgenden Anm. 5 genannten Inventare bis 1793 das Vorhandensein von Statuten und Reformen der Stadt und der Körperschaften von Pisa im florentinischen Fonds, die heute komplett fehlen. Das genannte Material wurde danach in das Staatsarchiv von Pisa überführt. Dies ist die auffallendste Lücke in der florentinischen Serie. Zahlreich waren die Inventare aus dem 15. Jahrhundert, die zum großen Teil von den cancellieri delle Rijormagioni hergestellt wurden. Das von Ser Filippo di ser Ugolino Pieruzzi, Archivio di Stato di Firenze (abgekürztt: ASF), Inventari vecchi 635, geht auf die Jahre 1430-44 zurück; auf 1477-78 jenes von Bartolomeo Guidi, ebd., 641 (volume miscellaneo); auf 1474 das von Bartolomeo Scala inaugurierte, ASF, Carte di corredo, 2. Auf sie folgten zu Beginn des 16. Jahrhunderts das uns als Kopie überlieferte Teilinventar von Bartolomeo Masacci, Verwalter der .. Camera deli 'Arme" , .. delle cose si ritrovavano in camera del Gonfalonier di Giustizia quando Piero Soderini fu rimosso" ASF, Inventari vecchi 636, und um die Mitte des Jahrhunderts, der .,Inventario di tutti e libri e scritture ehe si trovano insino a questo d120 di giugno nel154 5 nella Cancelleria delle Riformagioni di Sua Eccellenza al tempo di M. Jacopo Polverini, Auditore fiscale di quella" [das Verzeichnis aller Bücher und Schriften, die sich bis zum heutigen Tag, dem 20.Juni 1545,
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Das "Archivio delle riformagioni" war, so könnte man sagen, das zentrale Archiv der Stadt und des Staates von Florenz. In seinem ursprünglichen Kern imJahre 1282 gegründet, vergrößert dann zu Beginn des 15. Jahrhunderts durch die Einverleibung vorher getrennter Sammlungen - darunter eben genau jene der Gemeindestatuten - und um die Mitte des 16. Jahrhunderts neu strukturiert6 , nahm es alle grundlegenden politischen Akten auf, in denen die Macht ihre eigene Rechtfertigung und ihre eigenen Bezugspunkte fand: kaiserliche und päpstliche Privilegien, Gesetze und Verordnungen, Traktate und "geheime Praktiken" (segrete pratiche), Bestimmungen und Vereinbarungen über Unterwerfungen und eben die Statuten. Es war also in erster Linie ein praktisches Regierungsinstrument von wesentlicher Bedeutung; auf diese Art betrachteten die Kanzler das Archiv, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Schriftstücke inventarisierten und bezeichnenderweise geneigt waren, gegenüber den Dingen, die ihnen darin "antiqua dissipata et inutilia" erschienen, Gleichgültigkeit und beinahe Abneigung an den Tag zu legen 7• Ein Instrument der Praxis blieb das Archiv auch im 16. Jahrhundert nach der Machtübernahme durch das Fürstentum: Nicht selten lassen - um in dem Bereich zu bleiben, der uns hier interessiert - die an die Großherzöge gerichteten Denkschriften und Informationen auditori und Kanzler durchscheinen, die damit beschäftigt waren, Bestimmungen und lokale Statuten zu suchen und nachzuschlagen, um rechtliche und administrative Eingriffe in der Herrschaft vorzubereiten 8 . Mit der in der Cancelleria delle Riformagioni seiner Exzellenz zur Zeit von M. Jacopo Polverini, Auditore fiscale derselben, befinden] von Gabriello Simeoni, gewidmet Cosimo I., ASF, Inventari vecchi 638. Dann wurden nach einer langen Pause im 18. Jahrhundert der "Inventario di codici e filze ehe si conservano nell'Archivo delle Riformagioni di S.A.R. fatto nell'anno 1776" [im Jahre 1776 hergestelltes Verzeichnis der Codices und Aktenbündel, die im Archivio delle Riformagioni di S.A.R. aufbewahrt sind] von Giovan Francesco Pagnini (der aber nicht die Statuten der unterworfenen Kommunen mit einbeschließt), 645-646, und schließlich, im Jahre 1793, der "Inventario dell'Archivio delle Riformagioni" mit einer breiten historischen Einführung von Filippo Brunetti, 661664, angefertigt. Auf das 18. Jahrhundert gehen auch einige spezifische Repertorien der Statuten der unterworfenen Komunen zurück; ebd. 642-644. Frau Dr. Paola Benigni vom Staats archiv von Florenz danke ich für die Hilfe, die sie mir großzügigerweise zu diesem und zu anderen Punkten der Untersuchung geleistet hat. 6 Zur Geschichte des Archivio delle Riformagioni, vgl. C. Guasti, Vorwort zu: I capitoli dei Comune di Firenze, Firenze 1866, I, S. lI-XXIII; B. Barbadoro, Il primo ordinamento dell'Archivio delle Riformagioni e la conservazione degli atti consiliari dei Comune di Firenze, in: Ad Alessandro Luzio, gli Archivi di Stato italiani. Miscellanea di Studi storici, Firenze 1933, I, S. 197-204; C. Rotondi, L'archivio delle Riformagioni fiorentine, Roma 1972. Vgl. auch P. Benignil C. Vivoli, Progetti politici e organizzazione di archivi: storia della documentazione dei Nove Conservatori della Giurisdizione e Dominio fiorentino, in: Rassegna degli Archivi di Stato, XLIII [1983], S. 40-42. F. Pieruzzi, Inventari vecchi 635, sowie B. Guidi (Inventari vecchi, 641) verwenden so für die ältesten Dokumente Bezeichnungen wie: "inventarium librorum et scripturarum quae amplius ad nichilum valere possunt" oder "nullius sunt importantiae". Vgl. C. Rotondi, L'archivio delle Riformagioni fiorentine, S. 11-14. 8 Vgl. z.B. die ergebnislose, im Jahre 1549 von Jacopo Polverini durchgeführte Suche nach den alten Statuten von Pietrasanta, "sotto norne de' signori Lucchesi" (unter
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Stärkung der fürstlichen Macht und dem Heranreifen einer anderen historischpolitischen Kultur wurde jener großen dokumentarischen Sammlung sogar ein noch größerer Wert beigemessen. Im städtischen Archiv sah sein Ordner während des 16. Jahrhunderts, Gabriello Simeoni, den Ausdruck der "memoria delle cose antiche come he rede dei tempo passato et madre dei presente et dei futuro" [Erinnerung an die alten Verhältnisse als Erbe der vergangenen Epoche und Mutter der Gegenwart und der Zukunft]. Daher war für ihn das Archiv in seiner Gesamtheit ein unverzichtbares Vermögen für den "principe buono" [den "guten Herrscher"], der "ogni disordinata Repubblica acconciare et conservare ogni be ne ordinata" [jegliches ungeordnete Gemeinwesen in Ordnung bringen und jedes gut geordnete erhalten] wolle. Es war seiner Ansicht nach eine unersetzbare Schule für die Diener der öffentlichen Ordnung, "capace di far tale ogni piu rozzo ingegno Ce! quale dei continovo frequentandola vi si ammaestrasse dentro) che facilmente condurrebbe a fine lodevole ogni maggiore impresa di qualunque Stato" [dazu in der Lage, jeden noch so rohen Geist solcherart zu beeinflussen, - der sich ständig mit Archivstudien auseinandersetzt und sich so gebildet hat -, daß er ohne weiteres jede größere Unternehmung egal welchen Staates· zu einem guten Ende führen würde]9. Die Statuten der unterworfenen Kommunen fanden also in Florenz zwischen den Schriftstücken Platz, die von der machtausübenden Gewalt am eifersüchtigsten bewacht wurden und grundlegend für ihr Funktionieren und ihre Erinnerung waren: eine ursprüngliche Anordnung, welche die der Sammlung zugestandene Wichtigkeit und die Aufmerksamkeit zeigt, die ihr von seiten der florentinischen Regierung zuerkannt und zuteil wurde. dem Namen der Signori von Lucca), welche Cosimo I. reformiert und der neuen staatlichen Realität angepaßt wünschte. Aus der Antwort des auditore fiscale geht das dagegen beim Herzog anscheinend fehlende - Bewußtsein der politischen Beschaffenheit und Herkunft des Archivs hervor. Hier, so erklärt er, "vi sono solo gli statuti fatti nel tempo che quella terra e stata suddita di questa citta, et a iuditio mio non ve ne puo essere d'altra sorte, perche e' fatti in altri tempi non si son mandati ne'ricevuti, si come e' non vi sono ancora quelli d'alcune altre citta che sieno stati fatti avanti le loro submissioni" [befinden sich nur die zu einer Zeit gemachten Statuten, in der jenes Gebiet dieser Stadt unterworfen war, und meines Erachtens können auch keine Statuten anderer Art hierin enthalten sein, da die Ereignisse zu anderer Zeit weder schriftlich gesandt noch erhalten wurden, denn es gibt keine Statuten von irgendwelchen Städten, die vor deren Unterwerfung verfaßt worden wären]. ASF, Pratica Segreta, 1, ins. 16 (4 maggio 1549) und 18 (10 maggio 1549). Vgl. auch die entsprechende, von Paolo Vinta, auditore delle Riformagioni, durchgeführte Untersuchung über den verworrenen Zustand der Statuten von Montepulciano, als es darum geht, eine ihrer Rubriken, "Della Tortura et come si dia", abzuändern, ebd., ins. 76, 15 dicembre 1562. G. Simeoni, Inventario, cc. 2-3. Hieraus, aus dieser politischen Funktion, ergibt sich die Überlegenheit, welche Simeoni dem Archiv zuschreibt, mit dessen Büchern und Papieren über die antiken Bibliotheken inclusive jener von Alexandria, die einzig und allein dazu dienten, "agl' humani ingegni 0 ornamento 0 diletto" [den Menschen Zierde oder Freude] zu bieten. Wir erinnern daran, daß Simeoni im Auftrag des auditoreJ acopo Polverini wirkte, welcher einer der Juristen war, die am meisten dazu beitrugen, dem Staate der Medici unter Cosimo I. eine Form zu geben.
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Die Zusammenstellung des Fonds ist äußerst komplex und verdient einige weitere Betrachtungen. So erweisen sich zunächst die territorialen Einrichtungen, welche Statuten erließen, als zahlreich: Es gibt Städte (civitates), aber auch Siedlungen und Burgen (oppida und castra) , ländliche Gemeinden, Gemeindeverbände, sowie Gerichts- und Verwaltungsbezirke größeren Umfanges wie Kapitanate, Vikariate und Podestarien. Und schließlich konnten auch Magistrate und besondere Ämter in den einzelnen Orten - wie die Zollbehörden, die Grascia [zuständig für die Lebensmittelversorgung - d. Übers.l oder die 'uffici dei Fiumi e Fossi' [Ämter für die Flüsse und Gräben], die Zünfte und die Körperschaften, religiöse Wohltätigkeitseinrichtungen, Krankenhäuser, "Monti di Pieta'" [Pfandhäuser], Bruderschaften - eigene Statuten erhalten oder sie sich selbst geben. Auch dieses Material, mit dem wir uns hier nicht beschäftigen, ist in vielen Fällen erhalten - in eigens dafür erstellten Registern oder den Gemeindestatuten beigefügt. Unter der allgemeinen Ausdrucksweise "Statuten" sind zudem verschiedene Akten gesammelt, die man klar voneinander unterscheiden sollte, obgleich die Terminologie der Zeit eher dazu neigt, sie durcheinanderzuwerfen. "Statuten" werden die umfassenden Kodizes genannt, zu denen in mehr oder weniger geordneter Einheitlichkeit - um die in den Einleitungen übliche Terminologie zu verwenden - die "leges statuta provisiones reformationes et ordinamenta" zusammengefaßt sind, welche die gesamte Regierung der Gemeinden, das öffentliche Recht sowie das Zivil- und Strafrecht betreffen, die in ihnen Geltung besitzen, sofern sie eine Besonderheit gegenüber dem allgemeingültigen Recht aufweisen. Aber auch einzelne Verfügungen oder Komplexe von Verfügungen werden so genannt, wenn sie dauerhafte und allgemeine Gültigkeit erhalten: so zum Beispiel die "statuti del vestire" [Gesetze zur Bekleidung], oder die "leggi suntuarie" [Gesetze zur Eindämmung des übermäßigen Luxus], welche in den 4üer Jahren des 16. Jahrhunderts in allen Gemeinden veröffentlicht werden. Weiterhin die "Statuten", welche die Märkte regeln, oder die Erlasse, mit denen die ländlichen Gemeinden bis ins späte 18. Jahrhundert hinein das Recht ihrer Bewohner einschränken, Schweine und Ziegen zu halten und diese auf öffentlichem Land weiden zu lassen. Tatsächlich war auch in der Toskana wie in anderem Zusammenhang - die Entscheidung über die statutarische Gesetzgebung nicht von Anfang an klar von der gewöhnlichen beschließenden Tätigkeit der Ratskollegien, welche in den einzelnen Gemeinden das "universale" [die Gesamtheitl repräsentierten, zu unterscheiden lO • Daher fehlte es von seiten letzterer nicht an Versuchen, die vollständige Gleichwertigkeit der zweiten mit der ersten zu erwirken. So legten die Statuten von Pistoia imJahre 1435 fest: "quod de cetero omnes et singulae reformationes et provision es editae seu factae et quae de novo fierent in Consilio populi civitatis Pistorii vel per quoscumque alios
10 Über die juristischen Voraussetzungen zu dieser statutarischen Tätigkeit vgl. L. Mannori, L'amministrazione del territorio nella Toscana granducale. Teoria e prassi di
governo fra antico regime e riforme, Firenze 1988, S. 15-16.
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habentes auctoritatem a dicto Consilio habeantur pro lege et observari debeant inviolabiliter tamquam statuti populi ejusdem civitatis"l1.
Derartigen Versuchen war aber kein Erfolg beschieden. In diesem besonderen Fall war der Rubrik nur ein kurzes Leben vergönnt: In den nachfolgenden, kompletten Statuten Pistoias, die aus dem Jahre 1451 stammen, findet sich keine Spur mehr von dieser Bestimmung 12 • Im Herrschaftsbereich von Florenz konnte nämlich der lokale Erlaß, wie man in Kürze deutlicher erkennen wird, Ansehen und Geltungskraft eines Statuts nur erhalten, wenn er einem bestimmten Verfahrensweg folgte - und zwar jenem Weg, der allS der Peripherie nach Florenz führte. Zusammen mit den Statuten - manchmal direkt eingefügt, manchmal in eigenen Registern - sind schließlich die "riforme" überliefert, oder genauer gesagt die Protokolle der Verfahren, welche die periodischen "squittini" [Überprüfungen der Amtsbewerber hinsichtlich der erforderlichen Eigenschaften für die Aufstellung zur Wahl] und Erneuerungen der "borse" begleiteten, in die nach dem in der Toskana schon während des 14. Jahrhunderts verbreiteten Wahlsystem 13 - immer die Namen von jenen Personen auf einen Zettel eingetragen wurden, die man für geeignet hielt, die städtischen Ämter zu bekleiden, wobei die Zettel dann nach dem Prinzip der raschen Ämterotation (aus der "borsa") gezogen wurden. Es handelt sich um Material von erheblichem institutionellem Interesse. Anläßlich der "riforme" wurden nämlich auch durch Bestätigung oder Revision die Kriterien für die Zulassung zu den verschiedenen Ämtern und zur "imborsazione" [Einwerfen der Namenszettel in die Urnen] festgelegt, sowie die Normen, welche die gleiche Dauer wie die "borse" besitzen sollten, über die Zusammensetzung der Regierungsorgane und die Pflichten, Rechte und Verbote der Magistrate. Obwohl der florentinische Fonds an Statuten alles andere als frei von Lücken ist, folgen darin die Normreformen für ein und dieselbe Gemeinde, ob städtisch, einen Burgbezirk betreffend oder ländlich, und für ein und denselben Verwaltungs- und Gerichtsbezirk alle drei bis fünf Jahre zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufeinander und bilden dichte, regelrechte Serien. Zahlreich sind auch die einzelnen Statuten, welche die Sammlung der vorher existierenden kommunalen Gesetze anreichern oder verändern. Insbesondere im Falle bedeutenderer Städte oder Gebiete geschieht es recht leicht, daß in größeren Intervallen auch umfassende neue Statutenkodizes aufeinanderfolgen, die auf die teilweise Erneuerung, auf die Neuordnung und die Neuformulierung jener Gesetze abzielen. Manchmal stimmt ihre Redaktion mit grundlegenden politischen und institutionellen Umbrüchen überein; manchmal dagegen scheint sie von flüchtigeren Gründen juristischer Natur abzuhängen. Statuti di Pistoia, anno 1435, libro 1, rubrica 26, AsPt, Statuti e ordinamenti, 15. ASF, Statuti comunita soggette, 597. 13 Vgl. die umfangreiche Untersuchung des florentinischen Wahlsystems in G. Guidi, Il governo della citta-repubblica di Firenze dei primo Quattrocento, Firenze 1981, I, S. 149-355, III, S. 15-57 für die größeren Zentren des Bezirkes. 11
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Ein derartiger Fonds lädt zu einem nicht einfachen Unternehmen ein, das bis heute nur teilweise in Angriff genommen worden ist. Er würde es erlauben, die Statuten in ihrer diachronischen Dimension zu betrachten, die Kräfte zu untersuchen, nach denen sie sich im Laufe der Zeit verändern, und dies in zwei Richtungen. Ausgehend von den Statuten läßt sich selbstverständlich, wie es auch wirklich schon mehrfach unternommen worden ist, die Geschichte der Institutionen und der lokalen Regierung rekonstruieren, die deren Entwicklung lenkt und reflektiert. Für diese Geschichte stellen sie sicherlich eine bevorzugte, wenn auch nicht ausreichende Quelle dar. Man kann auf einer allgemeineren Ebene die Änderungen der Normen untersuchen, die in den Städten und auf dem Lande das kollektive Leben, die inneren Verhältnisse in den Gemeinden, die städtischen und die ländlichen Sicherheits maßnahmen bestimmen 14 . Aber die neuen Beschlüsse und die "correctiones", "additiones" , "diminutiones" , die Neuordnungen und Neuformulierungen spiegeln nicht nur den Wandel der Institutionen wider. Sie betreffen, zwar langsamer und weniger deutlich wahrnehmbar, auch Normen im straf- und zivilrechtlichen Bereich. Mit der Zeit verändern sie die Struktur und Sprache der alten ein- schlägigen Statutensammlungen. Auf diese Weise machen sie es möglich, daß man jene Historisierung des Rechtes, jene Anpassung an die Veränderungen der Zeit und der Umstände im Rahmen des grundSätzlichen Festhaltens an den ursprünglichen Formen beobachten kann, auf deren Wichtigkeit und deren politische Verwicklungen schon vor längerer Zeit Mario Sbriccoli die Aufmerksamkeit gelenkt hat, als er mit Nachdruck auf die Bedeutung der intetpretatio aufmerksam machte 15 . Ein derartiges Unterfangen würde allerdings viel Zeit und Mühe kosten und könnte nur im Rahmen einer sinnvollen Auswahl von territorial begrenztem Umfang in Angriff genommen werden. Das Vorhandensein des florentinischen Fonds selbst und seine Zusammensetzung führen aber auch dazu, sich einige Fragen vorab zu stellen. Was sind die politischen Gründe für sein Entstehen und was die Mechanismen seines Wachstums? Welche Funktionen und Folgen hat, auf juristischer sowie institutioneller Ebene, dieser jahrhundertelange Fluß von peripheren Statuten verschiedener Art nach Florenz? Es handelt sich wohlgemerkt nicht um Probleme archivarischer sondern um solche historischer Natur. Die Bildung und Entwicklung des Fonds ist nämlich, wie erwähnt, mit der Bildung und Entwicklung der florentinischen Herrschaft verbunden. Sie erlaubt also, über die strukturellen Eigenschaften und über die Geschichte des regionalen politischen Systems nachzudenken, das Florenz seit dem 14./15. Jahrhundert ins Leben ruft. Ich habe in diesem Zusammenhang nicht gezögert, von "Staat" zu sprechen, einem Begriff, der heute für jene Epoche umstritten ist, wenn ich auch bewußt davon abgesehen habe, den Ausdruck 14 Vgl. die Beobachtungen von G. Tacci, Einleitung zu: Le comunitä negli Stati italiani d'antico regime, hrsg. vom selben, Bologna 1989, S. 21-27. 15 M. Sbriccali, L'interpretazione dello Statuto. Contributo allo studio della funzione dei giuristi nell'etä comunale, Milano 1969.
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"moderner Staat" zu gebrauchen. Aber welche Terminologie und welchen begrifflichen Apparat man auch immer verwenden mag, mir scheint im Falle von Florenz die Idee des "Systems" von grundlegender Bedeutung, d.h. das Zusammenwachsen eines ohne Zweifel sehr klar gegliederten Territoriums um Florenz unter der Regierung dieser Stadt, das aber mit eigenen durch einen besonderen Zusammenhalt gekennzeichneten Strukturen ausgestattet ist, mit einer eigenen - fast könnte man sagen - "Konstitution", insofern es sich um einen territorialen Gesamtkomplex handelt. 2. In diesem System, in einem hoch urbanisierten Gebiet, wie es die Toskana des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit darstellt, nehmen die Städte offensichtlich einen bedeutenden Platz ein. Gerade die Anordnung, die sie in seinem Inneren angenommen haben, und die Veränderungen, welche diese Anordnung im Verlauf der Zeit erlebt hat, erlauben es, einige umfassende strukturelle Aspekte und grundlegende Entwicklungen in diesem System zu begreifen. Eben diese Aspekte und Entwicklungen bezeugen auch die sich verändernden Eigenschaften der städtischen Statuten. Zunächst muß jedoch erwähnt werden, daß sich diese im Staat von Florenz typologisch nicht deutlich von der großen Masse der Statuten der unterworfenen Gemeinden unterscheiden. Sicher sind sie noch immer nicht nur administrativer sondern auch gerichtlicher Art, wenn wir die alten, ein wenig abstrakten Klassifikationskriterien von P.S. Leicht verwenden wollen l6 . Neben dem Buch über die Ämter, das je nach Komplexität der Regierungsorgane in variablem Umfang, nirgends fehlt, neben jenem über den danno dato, welches auch in kleinen Gemeinden in lokaler Verfügungsgewalt bleibt, beinhalten sie auch immer die Bücher über das Zivil- und Strafrecht - "De causis civilibus" und "De maleficiis" -, die sowohl die Verfahren wie das materielle Recht umfassen. So lebt in den Städten ein ius proprium fort, das - wie Pompeo Neri l7 feststellte - ursprünglich unabhängig, mitunter sogar älter als das florentinische und nicht "abweichungs- und widerspruchsfrei gegenüber diesem" war. Ganz anders verhält es sich wohlgemerkt mit den Statuten der einzelnen ländlichen Gemeinden, die auf die Regelung der wenigen lokalen Ämter und, wie gerade erwähnt, auf die Sammlung der Normen beschränkt sind, welche sich auf den danno dato und die Sicherheitsrnaßnahmen auf dem Lande beziehen. Die Statuten der zahlreichen "terre" [Siedlungen] und der Burgen, die im Staat von Florenz verstreut sind, können jedoch ebenso umfangreich wie die städtischen Statuten sein. San Miniato, Prato, Colle, San Gimignano, Pescia in Valdinievole, Anghiari P.S. Leicht, Storia dei diritto italiano. Le fonti, Milano 1939. P. Neri, Discorso primo tenuto nell'adunanza dei deputati alla compilazione di un nuovo codice delle Leggi municipali della Toscana sotto di' 31 maggio 1747, in: G.B. Neri Badia, Decisiones et responsa juris, Florentiae 1776, II, S. 501-502. Heute ist der Text neu herausgegeben in M. Ver.ga, Da "cittadini" a "nobili" . Lotta politica e riforma delle istituzioni nella Toseami di Francesco Stefano, Milano 1990, S. 322-323. 16 17
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im Gebiet von Arezzo, Fivizzano in der Lunigiana, Castrocaro und andere Burgen der florentinischen Romagna - die Liste ließe sich durchaus fortführen 18 - besitzen Statuten, welche sich auch auf das Zivil - und Strafrecht, und innerhalb des Strafrechtes bis hin zu den Blutstrafen erstrecken. Auch hier gibt es also ein jus loeale, dessen Gültigkeit und, wie wir in Kürze sehen werden, dessen Erneuerbarkeit Florenz anerkennt. Die grundsätzliche Übereinstimmung zwischen den städtischen Statuten und den Statuten der "terre" hat historische Gründe. Sie spiegelt einige spezifische Eigenschaften der Urbanisation und der kommunalen Entwicklung auf dem von Florenz hegemonisierten und dann beherrschten Gebiet der Toskana wider. Hier übersteigen die - wenn wir so sagen können - "historischen" Städte, d.h. die Zentren, denen in der Praxis und der vorherrschenden juristischen Theorie aufgrund ihrer bischöflichen Einrichtungen 19 der Titel einer Stadt zugesprochen wird, nicht den Rahmen bestimmter begrenzter Dimensionen. Der Tendenz nach größer als die winzigen deutschen Städte, sind sie doch, insbesondere nach der Krise des 14. Jahrhunderts, weit entfernt von den Dimensionen einer Stadt wie Florenz und zu keiner Zeit vergleichbar mit den venetischen und lombardischen Städten 20. Städtische Funktionen werden dafür auch durch das Zusammenwirken kleinerer Zentren erfüllt, die anders als jene doch 18 Vgl. die im Appendix aufgeführten Listen in E. Fasano Guarini, Lo stato mediceo di Cosimo I, Firenze 1973, S. 83-107. 19 Das Verhältnis zwischen Stadt und Bischofssitz war in Wirklichkeit unter den Juristen Gegenstand langwährender Diskussionen, hierzu vgl. P. Fagnani, Commentaria in secundum librum Decretalium, Coloniae Agrippinae, 1676, Halbbd. 3 Teil2a, S. 37 und die hier zitierten juristischen Quellen. Für den toskanischen Gebrauch vgl. auch M.A. Savelli, Summa diversorum tractatuum, Parmae 1717, I, 238-239. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts sind außer Florenz und Fiesoie (das nicht mehr als Stadt betrachtet wird) Pisa, Arezzo, Volterra und Cortona Bischofssitze: Vgl. Italia sacra sive de episcopis Italiae, hrsg. von F. Ughelli / N. Coletti, III, Venetiis 1718. Über die Verbindung zwischen den Städten und Diözesen vgl. nun auch G. Chittolini, "Quasi-citta". Borghi e terre in area lombarda nel tardo medioevo. in: Societa e storia, 47 (990), S. 6 ff. 20 Bei der Volkszählung von 1551-52 zählte Pisa circa 8.500 Einwohner 00.000 mit einbezogenen Vororten), Arezzo circa 7.000, in Pistoia und Borgo S. Sepolcro sind zwischen 6.000 und 7.000 bezeugt. Cortona hat wenig mehr als 5.000 und Volterra etwas über 2.500 Einwohner (4.300 mit Vororten). Zudem gibt es "terre", die eine größere Bevölkerungszahl aufweisen als einige Städte: Prato mit 5.800 Einwohnern (6.800 mit Vororten); Pescia (4.000); Montepulciano (3.150 und über 5.000 mit den Vororten). Florenz dagegen (die von Mauern umgebene Stadt) erreicht an die 60.000. Die Daten der Volkszählung finden sich in der Biblioteca Nazionale di Firenze, Magliabechiani, II, I, 20. Von jeder Gemeinde einzeln bietet die Angaben E. Repetti, Dizionario geografico fisico storico della Toscana, 6 Bde., Firenze 1833-1846. Vgl. auch L. DeI Panta, Una traccia di storia demografica della Toscana nei secoli XVI -XVIII, Firenze, 1974. Für einen Vergleich mit den Städten der venezianischen Terraferma (von 15.000 Einwohnern in Udine bis zu 50.000 in Verona) und der Lombardei, vgl. außerdem klassischen Werk von]. Beloeh, Die Bevölkerungsgeschichte Italiens, 3 Bde., Berlin 1937-1961, E. Sonnino, Bilanci demografici di citta italiane: problem i di ricerca e risultati, in: La demografia storica delle citta italiane, Bologna 1982, S. 53-67 und heute M. Ginatempo / L. Sandri, L'Italia delle citta. Il popolamento urbano tra Medioevo e Rinascimento (secoli XIII-XVI), Firenze 1990.
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nicht weniger bevölkert sind, und deren soziale Schichtung nicht weniger komplex ist als die der Städte. Vom 12. bis 14. Jahrhundert haben auch sie den Status einer freien Kommune innegehabt. Nicht ohne Bedeutung ist die Tatsache, daß eine gewisse Anzahl dieser Zentren dann im 16./17. Jahrhundert zum Bischofssitz und in den Rang einer Stadt erhoben werden: ein Phänomen, welches auch Gründe anderer Natur hat, aber die Bestrebungen der "terre" in kultureller Hinsicht belohnt und nicht zufällig in der florentinischen Toskana sehr viel häufiger vorkommt als in jeder anderen Region Italiens 21 . Auf der anderen Seite finden die Statuten der ländlichen Gemeinden, wenn sie auch in ihren elementaren Eigenschaften nicht mit den städtischen Statuten vergleichbar sind, doch eine Art Ergänzung in letzteren, welche sich auf das Zivilrecht und mitunter auf das Strafrecht der Podestarien und der ländlichen Vikariate erstrecken. Gerade durch die Statuten der Bezirke, die mit eigenen föderativen Regierungsorganen versehen sind, werden jene Gemeinden von Florenz zu administrativen und rechtlichen Zwecken vereint - in vielen Fällen geschieht dies schon zum Zeitpunkt ihrer Unterwerfung oder jedenfalls in der ersten Organisationsphase der Herrschaft. Die Untersuchung des differenzierten Netzes, in dem sich das lokale Recht des Staates von Florenz artikuliert, führt also nicht nur zu den ursprünglichen Eigenschaften seines städtischen Systems, sondern auch zu seinen Anfängen als Staat, zu der Art und Weise und zu den Formen, auf welche dieser sich gründete. Tatsächlich erhält das Problem der Statuten in den offiziellen Akten, welche die Bedingungen festhalten, die Florenz im Moment der Unterwerfung an die städtischen und ländlichen Gemeinden und die Burgen stellte, immer oder fast immer, eine speZifische Bedeutung, ob es sich nun um zweiseitige Abkommen und Vereinbarungen über Unterwerfung handelte wie im Falle von Pistoia, "soda no bilis et foederata" im Jahre 1401, oder um Verordnungen, welche infolge von Erwerbung oder Eroberung einseitig von den floren tin ischen Ratskollegien erlassen wurden, wie es bei Arezzo im Jahre 1384 der Fall war 22 • Dies geschieht unter zwei Aspekten, die nach allem, was bisher bemerkt wurde, nicht schwer zu unterscheiden sind. Florenz erkennt, soweit es vorhanden ist, das jus proprium der wichtigsten Gemeinden an, nach dem die florentinischen Rechtsprechenden das Zivil- und das Strafrecht verwalten müssen. Es sieht auf der anderen Seite in den Statuten die Grundlage der lokalen Selbst21 Drei "terre" werden im Laufe des 16. Jahrhunderts zu Bischofssitzen und zu städtischem Rang erhoben (Borgo S. Sepolcro 1515, Montepulciano 1561, Colle Valdelsa 1592). Zwei weitere erhalten im Laufe des 17. Jahrhunderts dieselben Vergünstigungen: San Miniato 1622 und Prato 1653. Pescia schließlich wird imJahre 1699 zur Stadt und 1726 Bischofssitz. Vgl. Italia sacra; E. Repetti, Dizionario, ad vocem. 22 Ursprüngliche Akten, Vereinbarungen der Unterwerfung, Verordnungen, die in Florenz gesammelt sind in: ASF, Capitoli, 1-64. Für die ersten 15 Register vgl.: I Capitoli dei Comune di Firenze. Inventario e regesto a cura di C. Guasti, Firenze 1866, 2 Bde. Auch die Vereinbarungen waren Teil des alten "Archivio delle Riformagioni".
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verwaltung, den Kodex, der die entsprechenden Formen und Regeln festlegt. In diesem Sinne und innerhalb dieser Grenzen. - "ad suam gubernationem"23 - weitet Florenz die potestas statuendi auch auf die ländlichen Gemeinden aus, die diese zuvor nicht besaßen, da sie Teil der alten städtischen contadi waren. Auf beiden Ebenen neigen die Vereinbarungen dazu, zwei Prinzipien festzulegen, die sich wechselseitig überlagern und dabei zum Teil gegenseitig aufheben: auf der einen Seite das Recht der Gemeinden, eigene Statuten zu bewahren, zu erneuern oder sich innerhalb der genannten Grenzen Statuten zu geben. Auf der anderen Seite besteht die Pflicht, die Anerkennung von der herrschenden Stadt zu erbitten - in manchen Fällen gilt dies ein für allemal, in anderen muß die Bitte periodisch, in mehr oder minder großen Abständen wiederholt werden 24 . Die Einführung dieser Verpflicht ist einer der springenden Punkte, welche klar und deutlich den Übergang von einem Verhältnis formaler Schutzherrschaft, durch das sich im Laufe des 14. Jahrhunderts die florentinische Hegemonie häufig ausdrückt, zur vollkommenen Unterwerfung kennzeichnet. So ist, um ein Beispiel zu nennen, in den Vereinbarungen, durch welche die Kommune von San Gimignano gegenüber der Kommune von Florenz in dem Akt aus dem Jahre 1348 einwilligt Florenz eine dreijährige Machtbefugnis balia auszustellen 25 , ausdrücklich die Gültigkeit der alten und neuen lokalen Statuten 23 Dies ist der Begriff, der in der politischen Terminologie in der Toskana im 14./15. Jahrhundert dem Begriff jurisdictio entgegengesetzt war: vgl. bezüglich der Statuten von Florenz R. Fubini, Osservazioni sugli "Historiarum Florentini populi libri XII" di Leonardo Bruni, in: Studi di storia medievale e moderna per Ernesto Sestan, Firenze 1980, I, S. 416417 und 423-424; ders., Classe dirigente ed esercizio della diplomazia nella Firenze quattrocentesca, in: I ceti dirigenti nella Toscana del Quattrocento, Firenze 1987, S. 158163. Wenn einerseits die Unterscheidung zwischen "Rechtssprechung" und "Verwaltung" oder "Wirtschaft" zu fehlen scheint, deren spätere Geschichte L. Mannori, L'Amministrazione, S. 165 ff., rekonstruiert hat, ist andererseits die Unterscheidung zwischen "Rechtssprechung" und "Regierung" deutlich zu sehen. 24 Vgl. z.B. die Information von Paolo Vinta an den Herzog am 15. Oktober 1562, bezüglich Montepulciano, das offenbar "per capitulatione come anco alcune altre terre d'approvar una volta sola li suoi statuti et quella serve in perpetuo ... " [durch Kapitulation wie einige andere "terre" seine Statuten nur ein einziges Mal bestätigen lassen muß, und das gilt dann fortwährend ... l (ASF, Pratica Segreta, 6, ins. 76, c. 631). Die Approbation wurde trotzdem für jedes neu erlassene Statut neu gefordert; fehlte sie, so galt es nicht für gültig. An diese Approbation war die Zahlung einer Abgabe geknüpft, die seit 1581 pflichtgemäß vom Auditore delle Riformagioni registriert wurde (vgl. Repertorio dellibro primo dell'approvazione degli Statuti dal1581 al 1610, ASF, Auditore delle Riformagioni, 298). 25 Das heißt: einer Kommission von Florentiner Bürgern außerordentliche Befugnis zu verleihen bezüglich der Reform der "borse" , denen die Mitglieder der lokalen Ratskollegien und Magistrate entnommen wurden. Zu Beginn war diese Machtbefugnis (balie) zeitgebunden. Die Anerkennung endgültiger Vollmachten (balie) - wie in Pistoia imJahre 1401- ist die Form, in der manchmal der Übergang zu einer tatsächlichen Form der Unterwerfung stattfindet. Vgl. die Beispiele, die untersucht sind von G. Guidi, Il governo della cittä-repubblica, III, S. 15-57. Für Pistoia vgl. auch D. Herlihy, Pistoia nel Medioevo e nel Rinascimento (1200-1430), ital. Übers. Firenze 1972, S. 240-266. Über den Begriff der "balia" vgl. G. Masi, Verso gli albori dei Principato in Italia, Bologna 1936, S. 100 ff.
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jenseits von jeglicher florentinischer Einmischung bekräftigt 26 . Fünf Jahre später dagegen, als die siegreiche Belagerung zu Ende ging, die zur endgültigen Kapitulation der "terre" führte, war die Anerkennung seiner potestas statuendi unumgänglich mit der Pflicht verbunden, alte und neue Statuten zur Billigung der Kommune von Florenz vorzulegen. Desgleichen verletzten in Arezzo und Pistoia die zwar weitreichenden aber zeitlich begrenzten Vollmachten Cbalie), die Florenz zur Reform der städtischen Ämter und zur Wahrung der öffentlichen Ordnung im Laufe des 14. Jahrhunderts zugestanden wurden, die Autonomie im Bereich der Statuten nicht, während sie dann im Moment der endgültigen Unterwerfung eine drastische Einschränkung erfuhr. Die Autonomie fiel zum Beispiel in den Verfügungen, die Arezzo im Jahre 1384 aufgezwungen wurden, einem dreifachen Angriff zum Opfer 27 . Damals wurde bestimmt, daß die Statuten von Arezzo durch die herrschende Stadt anerkannt werden mußten, daß daneben auch die vom capitano di custodia bei der Ausübung seiner gerichtlichen Funktionen bezüglich Arezzo erlassenen Verordnungen angewandt werden mußten, daß schließlich der capitano - ein in Florenz gewählter florentinischer Bürger - nach seinem Dafürhalten und ohne jegliche "solennita" [Feierlichkeit] verurteilen dürfe, wer den "pacifico stato" [den friedlichen Zustand] der Stadt und ihres Umlands Ccontado) störte oder danach trachtete, die Herrschaft von Florenz zu beseitigen. Eigenartig und unter bestimmten Gesichtspunkten schwer zu fassen ist der Fall Pisa. Die Kapitulation von 1406, die von Florenz nicht mit der Kommune und dem pop%, sondern mit einer "parte" [Seite, Partei] vereinbart wurde, erwähnt keine Statuten 28 . Die wenige Tage später von der Signorie und den florentinischen Ratskollegien erlassenen Verordnungen beschränkten sich darauf festzulegen, daß der capitano di custodia und der Podesta ihre Rechtssprechung "in civilibus et criminalibus secundum statuta communis Pisarum et in casibus in quibus statuta non disponeant ... secundum Jus commune,,29 auszuüben haben. Diese Verfügung war im 15./16. Jahrhundert unter den Juristen 26 "Item quod omnia et singula statuta ordinamenta et reformationes Comunis et populi Sancti Geminiani ... sint firma et rata et pro firmis et ratis habeantur et teneantur per ipsum Comune et regimen dictae Civitatis Florentiae et plenam obtineant et habeant firmitatem prout et sicut dicto populo et comuni Sancti Geminiani videbitur et placebit. Et quod dictum Comune et populus dictae terrae Sancti Geminiani possit et sibi liceat ... facere et condere, componere et ordinare omnia et quaecumque statuta, ordinationes et reformationes quae et quoties dicto populo et Comuni videbitur et placebit et quod dictum Comune et populus civitatis Florentiae vel aliquis ipsorum officialis vel rector nullo modo possit vel debeat se de predictis vel in predictis intromittere, vel ipsa statuta, ordinamenta seu reformationes, aut aliquid eorum ve1 earum, modo aliquo cassare revocare vel annullare, seu alicui ipsorum aliquid addere vel mutare vel diminuere non obstante concessione ve1 attributione supra dicta" (ASF, Capitoli di Firenze, registri, 11, c.45 r. und V., zusammengefaßt in: I capitoli dei Comune di Firenze, II, S. 61-63). 27 I Capitoli dei Comune di Firenze, I, S. 380. 28 ASF, Capitoli di Firenze, registri 58, c. 67. 29 Ebd., cc. 4 ff.
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Gegenstand aufmerksamer Untersuchungen und sich widersprechender Interpretationen. Dabei scheinen ganz allgemein gegensätzliche Vorstellungen über die Rechtsordnungen in den neuen territorialen Systemen und die Beziehungen zwischen den unterworfenen Städten und der herrschenden Stadt aufzutauchen. So diskutierte man vom Falle Pisa eingehend darüber, ob man unter jus commune das Recht der Statuten von Florenz oder das Römische Recht zu verstehen habe, und ob "loca inferiora superioribus constitutionibus ... gubernentur ac regantur", wie zu Beginn des 15. Jahrhunderts Ludovico Pontano behauptet hatte, oder ob stattdessen, wie viel später Decio befürwortete, jene Städte, die über eigene Statuten verfügten, "licet superiorem recognoscunt eorum statutis non astringuntur,,30. Aber die Klausel, welche die Statuten von Florenz in der Praxis von der Rangfolge der Quellen ausschloß und den pisanischen Statuten eine vollkommen eigenständige Geltung zuerkannte, stellte an sich nichts Außergewöhnliches dar: Sie erschien zum Beispiel auch in den Vereinbarungen über die Unterwerfung von Arezzo im Jahre 1384 oder auch, wie derselbe Decio erwähnt, in jenen von Volterra. Allerdings entging den Juristen der entscheidende Aspekt der pisanischen Anomalie: die Tatsache nämlich, daß man im Jahre 1406 von den gültigen Statuten sprach, nicht aber von der Möglichkeit, diese zu erneuern oder, andersherum betrachtet, von der Pflicht, die Approbation dafür von Florenz zu erbitten 31 . Erst in den Vereinbarungen, die im Jahr 1509 die Wiedereroberung der Stadt nach ihrer langen Rebellion besiegelten, wurde ausdrücklich "l'autorita et potesta a detti cittadini pisani di poter fare statuti a loro beneplacito" gewährt (den obengenannten Bürgern von Pisa die Vollmacht und Befugnis [gewährt], nach ihrem Gutdünken Statuten erlassen zu können), 30 L. Pontano, Consilia, ed. Venetiis 1581, cons. 218; F. Decio, Consilia, ed. Venetiis 1552, cons. 429, 469 und mit Hinweis auf Volterra, cons. 486. Später wurde das Thema spezifizierter wieder aufgenommen von V Valsecchi, Epistola deveteribus Pisanae civitatis constitutis, Firenze 1727. Für ein vollständigeres Bild über die Debatte vgl. R. Celli, Studi sui sistemi normativi delle democrazie comunali, secoli XII-XV, I: Pisa, Siena; Firenze 1976, S. 121-144. Über die Frage, ob das jus commune der herrschenden Stadt auf die unterworfenen Städte ausgeweitet werden sollte, war die Diskussion unter den Juristen sehr umfassend. Vgl. zum Beispiel G. Menochio, De praesumptionibus, coniecturis, signis et indiciis commentaria, 1. ed. Sumptibus Sanuchis Chouet 1670 I.II Praes. VI, S. 138 ff.; D. Tuschi, Practicarum conclusionum iuris in omni fora frequentiorum ed Lugduni 1661, litera conclusio 541, und für die Toskana M. A. Sabelli, Summa diversorum tractatu um, ed. Venetiis, 1748 t. IV, lit. 5 nn. 22-23. 31 Im cons. 429 erwähnt Decio, daß die "statuta pisana edita fuerunt eo tempore quo civitas pisana erat libera et civitas Florentiae non erat superior". Aber es kommt ihm darauf an, die ursprüngliche vollständige Autonomie von den florentinischen Gesetzen zu zeigen, und im Lichte dieser Autonomie zu klären, in welchem Sinne der Rückgriff auf das jus commune zu verstehen sei. Es interessiert ihn dagegen gar nicht, die Ungewöhnlichkeit des Falles Pisa gegenüber der in der Florentiner Herrschaft üblichen Praxis hervorzuheben. Auf dieselbe Weise verfährt - wobei er Decio auch zitiert - V. Valsecchi, Epistola, S. 17: "Ex quibus patet Florentinos Pisanis autonomias seu prapriarum legum usum, usumque juris communis, ubi nihil eorum leges statuunt, reliquisse, nulloque modo legibus quibus florentina ipsa civitas utebatur ac hodie etiam utitur eos obstrinxisse; id quod notat etiam Philippus Decius, aliique passim jureconsulti recentiores".
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wobei sie wohlgemerkt der Kontrolle von Florenz unterstellt wurden 32 . Das anfängliche Schweigen verhinderte tatsächlich nicht die Verkündung von statuta nova und novissima in der Stadt, die auf bestimmte Materien begrenzt blieben 33 . Es erklärt aber vielleicht im Falle Pisas das Fehlen von umfassenden Redaktionen, von Kodifikationen, wenn wir es unrichtig formulieren, die in die Zeit nach dem Ende der "Freiheit" fallen. Die mit Ausnahme Pisas den unterworfenen Städten und Gemeinden auferlegte Pflicht, die eigenen Statuten der Approbation durch die herrschende Stadt zu unterziehen, ist an sich keine spezifische Eigenschaft der florentinischen Herrschaft. Im Gegenteil, die Notwendigkeit der Approbation der neuen signori, Fürsten oder Städte wurde zu einer allgemein anerkannten Norm 34 . Einige Rechtshistoriker haben darin eine Kontinuität der Praktiken und juristischen Normen der Vergangenheit gesehen: Die Idee des Statuts selbst, so ist festgestellt worden, implizierte ursprünglich die Anerkennung durch eine höherstehende Autorität 3s . Die Frage ist jedoch berechtigt, ob diese den unterworfenen Gemeinden auferlegte Verpflichtung wirklich einfach der gebotenen, beinahe symbolischen Anerkennung einer neuen superioritas gleichkam, oder ob sie nicht eher eine wirkliche Verlagerung der jurisdictio darstellt in Vorstellung und Herz der politischen Macht zwischen Mittelalter und früher Neuzeit, wie Pietro Costa unterstrichen hat36 . Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob diese Verlagerung nicht das sichtbare Zeichen der Einführung neuer Herrschaftsformen ist, welche in der Begrenzung der potestas statuendi einen klaren Ausdruck fanden, ohne sich jedoch in ihr zu erschöpfen. Wenn es so ist, dann muß die Aufmerksamkeit sich jenseits des formalen Prinzips der Approbation auf die konkreten Formen richten, in denen diese sich verwirklichte, und auf die Instrumente, die man dafür heranzog. Auf diesem Wege wird es vielleicht möglich sein, nicht nur einige der umfassenden Eigenschaften des territorialen, 32 ASF, Capitoli di Firenze, registri, 47, c. 36. DerText der Bedingungen ist im Anhang veröffentlicht bei: G. Benvenuti, Storia dell'assedio di Pisa, Pisa 1969, S. 129-146. 33 Vgl. insbesondere die Statuta nova von 1476, welche die Zivilklagen in erster Instanz und in der Berufung betrafen, ASPi, Comune div. B, 4, cc. 45 ff., veröffentlicht von A. Era, Statuti pisani inediti dal XIV al XVI secolo, Sassari 1932, S. 79-101, denen die Statuta novissima von 1516 folgten in: ASPi, Comune div. B, 5, cc. 17-28, veröffentlicht von A. Era, Statuti pisani, S. 101-105. Es ist nicht unmöglich, in den Reformen noch andere statutarische Verfügungen zu finden, die nicht in der Sammlung von A. Era aufscheinen: vgl. z.B. jene von 1438, die sich auf Schulden von Bauern beziehen, in: ASPi, Comune div. B, 1, c. 33. Sie sind allerdings nicht zahlreich. 34 Vgl. L. Mannori, L'amministrazione, S. 11-15. 35 Vgl. E. Besta, Fonti: Legislazione e scienza giuridica dalla caduta dell'Impero romano al secolo decimosesto, in: Storia dei diritto italiano, hrsg. von P. Dei Giudice, Milano 1925, I, 2. Teil, S. 477-487. Vgl. auch F. Ca lasso, Medio Evo dei diritto: Le fonti, Milano 1954, S. 419-426 und 496-501. Heute liegt die Betonung mehr auf der Autonomie des jus proprium: vgl. z.B. A. Cavanna, Storia del diritto moderno in Europa. Le fonti e il pensiero giuridico, I, Milano 1982, S. 59-65. 36 P. Costa, ]urisdictio. Semantica dei potere politico nella pubblicistica medievale (1100-1433), Milano 1969.
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von Florenz eingeführten Systems herauszufinden, sondern auch spätere Entwicklungs phasen desselben jenseits der juristischen Kontinuität zu erkennen. 3. Daß das Problem der Autonomie, die hinsichtlich der Statuten der lokalen Aktivität überlassen wurde, und der vom Zentrum ausgeübten Kontrolle in dem weiter gefaßten Rahmen der Herrschaftsausübung betrachtet werden muß, zeigt sich deutlich im Falle des florentinischen Staates, wenn man die "Statuta Populi et Communis Florentiae" durchblättert, die im Jahre 1409 von Giovanni di Montegranaro ausgearbeitet und 1415 von Paolo di Castro revidiert wurden 37 . Es ist hier nicht der Ort, weiter auf die komplexen Geschehnisse, die im Zusammenhang mit ihrer doppelten Redaktion stehen - deren politische Bedeutung kürzlich von Riccardo Fubini beleuchtet worden ist 38 - und der reprobatio, deren Gegenstand das fünfte Buch war, einzugehen, aus Gründen, die nichts mit den Problemen zu tun haben, welche uns hier interessieren. Ebensowenig können wir uns über die bedeutenden Unterschiede zwischen den bei den Texten auslassen, auf die auch Fubini die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Sie betreffen, abgesehen von einigen spezifischen Punkten, die innere Ordnung und die politischen sowie ideellen Beweggründe, und nicht den Inhalt der Normen, auf die wir uns hier beziehen. Es ist jedoch erwähnenswert, daß der eigentliche Grund des mühevollen und umstrittenen Unternehmens, wie es das Proömium von 1409 feststellte und wie es mit einigen allerdings bedeutenden Abweichungen, das von 1415 bekräftigen sollte, in der territorialen Ausbreitung von Florenz lag, das in den vorhergehenden Jahrzehnten "plurima non solum castella, sed et civitates ditioni suae subiecerat". Nach den intensiven Jahren des Aufbaus, welche Gene Brucker als die Jahre des state-building bezeichnet hat, die von tiefgehenden Neuerungen auf politischer, fiskalischer und administrativer Ebene gekennzeichnet sind 39 , wurde es notwendig, die "leges et constitutiones", welche sich ohne Ordnung vervielfacht hatten, zu sammeln und zu einem zusammenhängenden Bild zusammenzufügen: "quod in omnibus 37 Der Text von 1415 ist in der Ausgabe aus dem 18. Jahrhundert gut bekannt, Statuta Populi et Communis Florentiae publica auctoritate collecta castigata et praeposita, anno salutis MCCCCXV, 3 Bde., Friburgi [aber Firenze, CambiagilI777-1781. Die Redaktion von 1408-9 findet sich in: ASF, Statuti del Comune di Firenze, 23. 3H R. Fubini, Classe dirigente, S. 158-163. Zu den beiden Statutenredaktionen vgl. auch G. Chittolini, La formazione, S. 294 ff.; G. Guidi, Il governo, I, S. 62-84; A. Zorzi, L'amministrazione della giustizia penale nella Repubblica fiorentina. Aspetti e problemi, Firenze 1988, S. 11-20. Für den politischen Zusammenhang, in dem sie ihren Ursprung hatten, vgl. L. Martines, Lawyers and Statecraft in Renaissance Florence, Princeton (N.J.) 1968, S. 185 ff. Zu dieser Epoche vgl. auch M. Luzzati, Firenze e la Toscana nel Medioevo. Seicento anni per la costruzione di uno Stato, Torino 1986, S. 165-188. 39 G. Brucker, The Civic World ofEarly Renaissance Florence, Princeton 1977, S. 187 ff. Vgl. auch M.A. Becker, Florence in Transition, Baltimore 1968, II, S. 201 ff. Zu den Eingriffen im Bereich der Finanzen vgl. auch A. Molho, Florentine public finances in the Early Renaissance, 1400-1433, Harvard 1971, und zum Katastervon 1427 E. Conti, L'imposta diretta a Firenze nel Quattrocento 0427-1494), Roma 1984, insbes. S. 119-137.
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negotiis", so schrieb man 1409, "et maxime in gubernatione regnorum civitatumque potentum necessarius est ordo et ut certa stabilisque rebus gerendis forma sit attributa,,40. Wenn auch "reprobati" (aus Gründen, die anscheinend nichts mit der Regierung des Territoriums zu tun haben), sind die Florentiner Statuten also, was die Herrschaft betrifft, nicht Ausdruck eines politischen Vorhabens, sondern das Bild eines im Aufbau begriffenen Gebäudes. Sowohl die eine als auch die andere Redaktion enthält eine Rubrik De legibus - 1409 an hervorragender Position, 1415 an den Beginn des V. Buches verschoben, als ob man ihre Bedeutung abschwächen wollte -, welche in ihren Grundzügen die "Rechtspolitik" der Stadt Florenz bei ihrer Herrschaftsausübung definiert. Diese scheint von zwei Polen angezogen zu werden: auf der einen Seite von dem Willen, "urbem nostram florentinam cum toto eius territorio legibus nostris" zu verwalten und zu regieren, auf der anderen Seite von der Achtung vor den lokalen Statuten, sobald diese von der herrschenden Stadt revidiert oder bestätigt waren (" ... nisi et quatenus loca nostri territorii propriis militarent legibus, iuribus vel statutis quae tarnen nostra auctoritate confecta aut confirmata fuerint,,)41. Man kann trotzdem nicht sagen, daß aus den florentini~ sehen Statuten eine vollendete juristische Regelung des neuen territorialen Komplexes hervorgegangen wäre. Nur in wenigen Fällen sind Form und Inhalt der florentinischen Hoheitsgewalt über die unterworfenen Städte und Gebiete, der translatio dominii definiert, um einen in Bezug auf Pistoia verwendeten, sicherlich an Nebenbedeutungen reichen Ausdruck wieder aufzunehmen 42 . Ebensowenig wird in diesem Zusammenhang die Beziehung zwischen dem jus commune und dem jus proprium von Florenz sowie dem jus proprium der unterworfenen Gemeinden geklärt - eine Frage, die, wie wir gesehen haben, in den Augen der Juristen eine Kernfrage war. Mehr als durch spezifische juri40 Redaktion aus dem Jahre 1409, ASF, Statuti dei Comune di Firenze 23, rub. 1, c. Ir. Der Hinweis auf das Wachstum des Staates erscheint - zum Teil in anderen Worten auch in dem entsprechenden Proömium von 1415. 41 Wir zitieren aus der gedruckten Ausgabe der Statuta. Hier handelt es sich um die Rubrik "De legibus" die erste des V. Buches, trattato I, v. H, S. 479. Die Rubrik fährt fort, indem sie das Territorium auf umfassendeWeise definiert, so daß verschiedene Realitäten und verschiedene juristische Umstände miteinbezogen werden: "Territorium autem praedictum et loca eius decernimus fore civitates, terras, castra, oppida et villas, mare, portus, insulas, padules, aquas, valles, alpes, montaneas, et loca quaecumque quae per nos quomodolibet et nostro nomine reguntur, gubernantur, tenentur et possidentur et in futurum favente altissimo acquirentur, et nostris legibus legari, unire et affici omnes nostrae iurisdictioni, potestati, dominioque quomodolibet subiectos et in futurum subiciendos iubemus". Der Umschreibung des Territoriums unter der Florentiner Regierung folgt jedoch erneut der Bezug auf die Pluralität und Besonderheit der lokalen Statuten: "Salvis sem per specialibus statutis et iuribus locorum singularium nostri territorii, quae nostra auctoritate facta vel confirmata fuerint, quae tune suis locis serventur, et salvis in omnibus praedictis consuetudinibus cuiusque dictorum locorum." 42 De dominio et jurisdictione civitatis Florentiae in civitate et comitatu Pistorii, Buch V, Traktat IV, Rubrik XXXI, Statuta, III, S. 557. Vgl. auch die Rubrik XVIII im demselben Traktat, "Quod civitas Aretii sit in perpetuum de comitatu Florentiae".
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stische Normen werden die Verordnungen der Herrschaft durch die Präsenz neuer Institutionen modifiziert, die auf dem Territorium Verfügungsgewalt innehaben. Die florentinischen Statuten von 1409-1415 sehen in erster Linie die Existenz einiger städtischer Magistrate mit vorwiegend militärischen Funktionen vor; oder besser: sie sanktionieren diese, da es sich um bereits existierende Institutionen handelt, - wie die Zehn von Pisa und die Sechs von Arezzo -, die damit beauftragt waren, die Verteidigung des Territoriums und zugleich seine Unterwerfung zu sichern. Die Sechs von Arezz0 43 , deren Jurisdiktion zu Beginn des 15. Jahrhunderts auch auf Pistoia, San Miniato, Castrocaro, Volterra und Montepulciano ausgedehnt wurde, müssen die Befestigungen in ihrem weiten Zuständigkeitsbereich beaufsichtigen. Ihnen obliegt es, "facere fieri illa laboreria et aedificia quae crediderint expedire", wobei sie den Gemeinden die Ausführung der Aufgaben überlassen. Sie müssen "indicere et imponere" und so die Ausgaben und die Arbeit auf die lokale Bevölkerung verteilen. Ferner haben sie für die Bewaffnung der Burgen, Felsen und Zitadellen und für deren Bewachung durch Zwangsleistungen oder durch die Erneuerung von "provisionati" zu sorgen, deren Kosten ebenfalls den Gemeinden auferlegt werden. In diesem Bereich können die Sechs - sowie in Pisa die Zehn 44 - auf eine Zwangsgewalt zurückgreifen, und sie haben die Macht, zeitlich begrenzte oder dauerhafte "provisiones et ordinamenta" zu erlassen, auch wenn diese - so heißt es im florentinischen Text ausdrücklich - von lokalen Statuten, Verfügungen, Reformen und Gewohnheitsrechten abweichen45 . Grundlegende Funktionen sind also den Gemeinden überlassen (und werden dies für lange Zeit bleiben). Aber auf dem 43 Für die Sechs von Arezzo vgl. Statuta, V, H, Rubriken 59-92. Die Gründung des Magistrats, der anfangs nur dazu da war, die Befestigungen Arezzos und des aretinischen Territoriums zu beaufsichtigen, ging auf das Jahr 1386 zurück. 1407 waren die Sechs von Arezzo und die Sechs von Pistoia zu einem einzigen Amt mit beide Territorien umfassender Jurisdiktion zusammengefaßt worden. Weitere entsprechende Verschmelzungen waren in den darauffolgenden Jahren bestimmt worden. Vgl. G. Guidi, Il governo, III, S. 224-225. 44 Für die Zehn von Pisa vgl. Statuta, V, H, Rubriken 93-105. Außer den militärischen Aufgaben haben die Zehn allerdings auch Gewalt (balia) "super cursu monetae", ebd., Rubrik 94. Vgl. auch G. Guidi, Il governo, III, S. 241-244. 45 Statuta, V, H, Rubrik 79: Die Sechs dürfen "providere, et ordinare provisiones, et ordinamenta facere perpetua vel temporalia, poenalia vel praecisa et quae fecerint corrigere et revocare ac etiam reformare in omnibus et per omnia et prout et sicut eis videbitur et placebit, imponendi etiam poenas et multas, et universaliter omnia facere possint providere et ordinare pro praedictis que posset totum commune Pistorii et opportuna consilia dicti communis. Non obstantibus in praedictis et quolibet praedictorum quibuscumque statutis, ordinamentis vel reformationibus communis Pistorii quae praedicta aliter, vel alio modo fieri decreverint et omni stilo vel consuetudine aut observantia camerae dicti communis Pistorii quibus quo ad haec intelligatur esse et sit generaliter et specialiter derogatum". Dies war der mit der Bildung der Herrschaft selbst verbundene Beginn der zugleich jurisdiktionellen wie ökonomischen Kontrolle, die von Florentiner Magistraten gegenüber den unterworfenen Gemeinden ausgeübt wurde und deren weitere Entwicklungen untersucht worden sind von L. Mannori, L'amministrazione.
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Gebiet der Verteidigung - das seit den ersten territorialen Einverleibungen ein vorrangiger Bereich der Regierungen der herrschenden Stadt war (und das noch Machiavelli zusammen mit dem Bereich der Rechtskorrektur als eine der grundlegenden Aufgaben des Fürsten (signore) gegenüber den Untergebenen erscheinen wird)46 - werden frühzeitig Strukturen verwirklicht, die sowohl auf Regierungsebene wie auf der Ebene der potestas statuendi die jeweilige lokale Autonomie überschreiten. Noch offensichtlicher zeigt sich das Aufkommen eines neuen institutionellen Rahmens, wenn man den zweiten, von Machiavelli genannten Regierungsbereich, das "Korrigieren", d.h. die ]ustizverwaltung, betrachtet. Diesem ist das ganze IV. Traktat des V. Buches, "De officiis extrinsecis", gewidmet 47 • Der Titel allein ist schon bedeutungsvoll. Wie bereits jener des II. Traktats, "De officiis civium", enthüllt er den eigentlichen Zweck der Statuten von 1409-1415, in denen das Territorium nur erscheint, insofern es Objekt der Florentiner Behörden ist. Außerdem macht es einen grundlegenden Aspekt in der translatio dominii klar: die Umbildung der ]ustizbehörden, welche die Kommunen bisher auswärtigen Richtern eigener Wahl innerhalb des Bereiches der Stadtmauern und eigenen Bürgern in den contadi anvertraut hatten, in Florentiner Behörden, über die die herrschende Stadt verfügt und bestimmt, indem sie sie dem eigenen Wahl system gemäß den Mitgliedern der eigenen Führungsschicht zuteilt. Auch in diesem Fall ordnen und bestätigen die Statuten, so innovativ sie als politischer Faktor auch sein mögen, in den einzelnen Verfügungen eher, als daß sie ex novo festlegen würden. Schon die Vereinbarungen über die Unterwerfung hatten festgelegt, wie wir gesehen haben, daß die Statthalter, die capitani, Vikare, Podestas - im gesamten Herrschaftsgebiet Florentiner Bürger sein mußten, und sie hatten die Regeln bestimmt, an die sich jene in ihrem Wirken halten sollten. 46 Vgl. z.B. N. Machiavelli, Parole da dirle sopra la provisione dei danaio, in: N. Machiavelli, Arte della guerra, hrsg. von S. Bertelli, Milano 1961, S. 59: " ... gli uomini non possono e non debbono essere fedeli servi di quello signore da el quale e' non possono essere ne difesi ne corretti" [. .. die Menschen können und dürfen keine treuen Diener desjenigen Signore sein, von dem sie weder verteidigt noch korrigiert werden können]. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß nach Machiavelli Florenz sich diesen Pflichten nicht gestellt hat, und daß sich gerade auf diesem Gebiet Machiavellis Kritik an der Politik der Stadt entwickelt. 47 Das bezeichnet die "Außen"-Ämter, die im Territorium ausgeübt wurden und die den "Innen-"Ämtern, welche in der Stadt ausgeübt wurden, gegenübergestellt waren. Im Unterschied zu den "Innen-"Ämtern brachten die "Außen-"Ämter außer den normalen Gehaltsbezügen ein Extragehalt mit sich, das zu Lasten der betroffenen Gemeinden ging. Diese Ämter waren also nicht nur Regierungswerkzeug, sondern auch Einnahmequelle für die Stadtbürger. Vgl. die von dem Bericht aus dem Jahre 1551 gelieferten Daten, veröffentlicht von A. D'Addario, Lo Stato fiorentino alla meta dei '500, in: Archivio Storico Italiano, LXXXI (1963), S. 362-456. Für einen Vergleich mit der venezianischen Terraferma vgl. A. Ventura, Considerazioni sull'agricoltura veneta e sulla accumulazione originaria dei capitale nei secoli XVI e XVII, in: Studi storici, IX (1968), S. 681-682; A. Tagliajerri, Epilogo, in: Relazioni dei rettori veneti in terraferma, XIV, hrsg. vom Istituto di Storia Economica dell'Universita di Trieste, Milano 1979, S. 572-574.
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Die Spur dieser ursprünglichen Abkommen, die von Gemeinde zu Gemeinde variierten, findet sich noch deutlich in den Verordnungen des 15. Jahrhunderts, welche nicht der Festlegung allgemeiner Normen, sondern spezifischer Bedingungen gewidmet sind, die sich von Ort zu Ort unterscheiden. Und trotzdem ergibt sich aus den festgesetzten Bemühungen, die rechtlichen Bestimmungen in einem einzigen Komplex zusammenzufassen, die in den vorhergehenden Jahrhunderten ungeordnet geblieben waren, klar und deutlich das Bild eines Systems, innerhalb dessen die lokalen Autonomien noch einmal eine Begrenzung erfahren und die Befugnisse der unterworfenen Städte beschnitten werden. Dies geschieht im wesentlichen aus zwei Gründen. In den jeweiligen Rubriken "De officiis extrinsecis" wird Fall für Fall festgelegt: die territoriale Ausbreitung der verschiedenen Jurisdiktionen, die Art der zivil- und strafrechtlichen Befugnisse der Florentiner Richter, ihre Aufgaben und Pflichten, die Gesetze und Verbote, die sie beachten müssen, und der Gerichtsstand für Geldstrafen, welche sie androhen, die Zusammensetzung ihrer jamilia, ihr Einkommen, die Dauer ihrer Amtszeit, die Arten der Überprüfung, der sie am Ende der Dienstzeit unterworfen sind. So wird der lokalen potestas statuendi ein grundlegender Bereich der Statuten von unterworfenen Städten und Gemeinden entzogen und nun in Florenz geschrieben: nämlich der Bereich, welcher die balia und das offitium des capitano und des Podestä definiert. Er wird auch weiterhin als kennzeichnender Bestandteil in den lokalen Statutensammlungen erscheinen, sich aber zunehmend den florentinischen Normen anpassen müssen. Die Definition der Rechtssprechung - der einzelnen Befugnisse und des territorialen Umfangs - bestätigt außerdem die neue Bezirksaufteilung im Herrschaftsgebiet: eine Bezirksaufteilung, die Giorgio Chittolini zu Recht von einem präzisen politischen Konzepts geprägt erschien, das dazu diente, die vorhergehenden territorialen Systeme aufzulösen, an deren Spitze die nunmehr Florenz unterworfenen Städte gestanden hatten 48 • Auf diese Weise wird sowohl die strafals auch die zivilrechtliche Jurisdiktion der Gerichte, die ihren Sitz in den Städten hatten, drastisch reduziert. Ein extremer Fall sind die Gerichte von Pisa, deren Kompetenz in beiden Bereichen nicht über den Rahmen der engsten Vororte hinausgeht; aber auch in Pistoia und in Arezzo - um nur die größeren Zentren zu erwähnen - umfaßt die Strafgerichtsbarkeit der capitani einen kleineren Bereich als die alten contadi, und die Zivilgerichtsbarkeit der Podestäs umschließt nur wenige Meilen Land, die der Stadtregierung direkt unterstehen, 48 G. Cbittolini, Ricerche sull'ordinamento territoriale dei dominio fiorentino agli inizi dei secolo XV, in: La formazione dello Stato regionale e le istituzioni dei contado. Secoli XIV e XV, Torino 1979, S. 292 ff. Für allgemeinere Beobachtungen vgJ. auch ders., La cittii europea tra Medioevo e Rinascimento, in: Modelli di cittii. Strutture e funzioni politiche, hrsg. vonP. Rossi, Torino 1987, S. 379-383. G. Cbittolini, Cities, "city-states" and regional states in north-centralltaly, in: "Theory and Society" 18(989), S. 689-706. Zur Neuorganisation des contado von Pisa vgJ. E. Fasano Guarini, Cittii soggette e contadi nel dominio fiorentino tra Quattro e Cinquecento: il caso pisano, in: Ricerche di storia moderna, I, hrsg. von M. Mirri, Pisa 1976.
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also den Gürtel der "cortine" [nahes Umland]49. Zur gleichen Zeit wird der Anwendungsbereich der städtischen Statuten grundlegend verkleinert. Ihnen sind nun außer den begrenzten Sammlungen administrativer Normen, die sich auf die Gemeinden des contado beziehen, die umfassenderen Statuten der Vikariate und der ländlichen Podestarien gegenübergestellt, denen sich in den allgemeinen Gerichtsverfahren und in den wesentlichen Rechtssachen selbst die von Florenz entsandten Statthalter anpassen müssen; wo aber die Statuten schweigen, greifen die Statthalter auf jene der nun herrschenden Stadt zurück. Beim heutigen Forschungsstand ist es nicht leicht zu sagen, inwieweit die neuen Statutenfestlegungen ländlichen Interessen und Stimmen Ausdruck verschafften, die vorher kein Gehör gefunden hatten, inwieweit sie demgegenüber von den Florentiner Statthaltern geprägt wurden, die sich zusammen mit den lokalen Vertretern an ihrer Ausarbeitung beteiligten, oder inwieweit diese Statuten von Mustern und Abschriften (copiaticci) beeinflußt waren, auf deren stillschweigende Zirkulation einige Wissenschaftler hingewiesen haben 50 . So läßt zum Beispiel die Wiederholung gemeinsamer Wendungen in den Verordnungen der Podestarien des contado von Pistoia und des contado von Pisa an eine Inspiration von außen denken 51 . Nicht ohne Bedeutung ist die Tatsache, daß in diesen Statuten eine Klausel auftritt, die im Falle ungeklärter Rechtsfragen auf die Statuten von Florenz verweist, die aber in den Verordnungen der unterworfenen Städte fehlt. Sicher ist in jedem Falle, daß das neue Netz von ]urisdiktionen und die neue Statutenlandschaft, die aus den florentinischen Verordnungen von 1409-1415 hervorgingen, die alte Vorrangstellung der Städte und die alten Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Städten und contadi verändern. Damit beginnen Konflikte, die sehr lange anhalten sollten52 . Noch im]ahre 1530, zum Zeitpunkt des Überganges von der Republik zum Fürstentum, wird Arezzo das Recht verteidigen, eigene Richter in seinen Ex-contado zu entsenden, ortsansässige Richter, die aus der städtischen Führungsschicht stammen und sich selbstverständlich dafür einsetzen, Interessen zu vertreten, deren Teilhaber 49 E. Fasano Guarini, Lo stato mediceo, S. 94-95 und 102-103, mit einer Karte, veröffentlicht und herausgegeben vom Centro Nazionale delle Ricerche, Il granducato di Toscana alla morte di Cosimo I (1574). Vgl. auch G. Chittolini, Ricerche sull'ordinamento territoriale. 50 G. Masi, Verso gli albori, S. 37, der sich aber nicht so sehr auf die ländlichen als vielmehr auf die städtischen Statuten bezieht. 51 Vgl. die Statuten der Podestarien von Vicopisano (ASF, Statuti comunita soggette, 929), Cascina (ebd., 153), Ripafratta (ebd., 713), Lari (ebd., 382), Peccioli (ebd., 559), Palaia (ebd., 407) für den contado von Pisa; sowie die Statuten der Podestarien von Larciano und Serravalle (ebd., 843), Montale und Agliana (ebd., 457 und 1) und Tizzana (ebd.,885). 52 Zur Organisation der contadi zur Zeit der freien Kommune vgl. für Pisa K. Shimizu, L'amministrazione dei contado pisano nel Trecento attraverso un manuale notarile, Pisa 1976, und für Pistoia D. Herlihy, Pistoia nel Medioevo e nel Rinascimento (1200-1430), ital. Übers., Firenze 1972, S. 43-50.
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sie selbst sind53 . Während des gesamten 16. Jahrhunderts sind die potestas statuendi und die potestas judicandi in Bereichen wie dem danno dato, der Vergabe von Ländereien und der Auflösung von landwirtschaftlichen Verträgen, ein natürlicher Boden für den Zusammen prall von städtischen Interessen und der "effrenata audacia rusticorum", ein Gegenstand des Streites zwischen Pisa und den Gemeinden des Pisaner Umlandes, der je nachdem unterschiedlich ausgeht 54 . Aber die im 14. und 15. Jahrhundert durchgeführten Neuerungen weisen in den Beziehungen zwischen Stadt und Land auf eine tiefe und im wesentlichen unwiderrufliche Zäsur. Vielleicht liegt hierin der entfernte Grund dafür, daß das Großherzogtum Toskana die Prozesse später nicht erleben wird, welche auf der Terraferma von Venedig sowie im Staate von Mailand im Verlauf des 16. Jahrhunderts zur Gründung von Institutionen - den "corpi territoriali" - führten, die gegen die Städte gerichtet waren und in ausgereifter Form die Instanzen der ländlichen Gemeinden vertraten 55 . Die Florentiner Statuten von 1409-1415 zeigen im Rahmen der zeitgenössischen Gesetzgebung der italienischen Staaten ganz außergewöhnliche Aspekte. So wird zum Beispiel in dieser Zeit von jenem anderen "Staat" städtischen Ursprungs, der im 14. und 15. Jahrhundert eine regionale Entwicklung erfährt, der Republik Venedig, kein entsprechender Plan verfolgt. Hier wird das Problem einer neuen Statutenredaktion, der die Sammlung und Revision der commessioni, welche die Befugnis der Statthalter im Herrschaftsgebiet regelten, irgendwie eine regionale Dimension verleihen sollte, erst mehr als 100 Jahre später angegangen, und auch dann, ohne daß ein konkretes Resultat erreicht wurde 56 . Es wäre zu wenig, hinter der 53 Capitoli fra la Santita di N.S., P.P. elemente VII e la citta di Arezzo, 1530, in: ASF, Pratica segreta, 175. 54 E. Fasano Guarini, Citta soggette e contadi, S. 8-13. 55 Erst seit kurzem sind die "territorialen Körper" Gegenstand der Forschung; vgl. insbesondere C. Porqueddu, Le origini delle istituzioni "provinciali" nel Principato di Pavia, in: Annali di storia pavese, 2-3(980), S. 9-35; ders., Gli ordinamenti deI Principato di Pavia tra la fine deI Cinquecento e la meta deI Settecento, in: Bollettino della Societa pavese di Storia Patria, LXXXI (981), S. 176-205; G. Chittolini, Contadi e territori: qualche considerazione, in: Studi bresciani, 12 (1983), S. 33-48; und ebd. die spezifischen Untersuchungen von D. Parzani, A. Rossini, M. Occhielli, B. Molteni, C. Porqueddu; M. Knapton, Il territorio vicentino nello Stato veneto deI '500 e primo '600: nuovi equilibri politici e fiscali, in: Dentro 10 "stado italico" - Venezia e la terraferma fra Quattro e Seicento, hrsg. von G. Cracco / M. Knapton, Trento 1984, S. 33 ff.; S. Zamperetti, I "sinedri dolosi" . La formazione e 10 sviluppo dei Corpi territoriali nello Stato regionale veneto tra '500 e '600, in: Rivista storica italiana, XCCXIX (987), S. 289-320. 56 Für einen Vergleich mit der Republik Venedig verweise ich an erster Stelle auf den Aufsatz von G. M. Varanini im vorliegenden Band. Grundlegend bleibt aber auch G. Cozzi, La politica deI diritto nella Repubblica di Venezia, in: Stato societa e giustizia nella repubblica veneta, sec. XV-XVIII, hrsg. vom selben. Roma 1980, S. 17-152 (über den Versuch einer Reform in den Statuten, der in den 30er Jahren des Jahres 1500, als Andrea Gritti das Dogenamt innehat, stattfindet, S. 122-152). Der Aufsatz ist neu veröffentlicht in: G. Cozzi, Repubblica di Venezia e stati italiani. Politica e giustizia dal secolo XVI al secolo XVIII, Torino 1982, S. 217-318. Vgl. auch C. Povolo, Aspettieproblemidell'amministrazione della giustizia penale della repubblica di Venezia. Secoli XVI-XVII, in: Stato societa e
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Unterschiedlichkeit der beiden Geschichtsverläufe nur unmittelbar politische Gründe zu sehen und nicht auch eine unterschiedliche Einstellung gegenüber dem bestehenden Recht von seiten des venezianischen Patriziats, dem jeder Gedanke an eine juristische Weiterentwicklung fremd war, das die Gleichheit und den arbitria [die Entscheidungsgewaltl der Richter hartnäckig verteidigte, und von seiten des florentinischen Patriziats, welches der Welt der Juristen kulturell wesentlich näher stand 57 . Aber die Sammlung der Florentiner Verordnungen aus dem 15. Jahrhundert ruft unbestreitbar das Bild eines territorialen Rechtsystems hervor, das viel geschlossener und vollkommener, viel stärker vom Zentrum her neu strukturiert, weniger respektvoll gegenüber den alten städtischen Vorrechten und den vorher existierenden Bindungen zwischen Stadt und Land ist, als das von Venedig beherrschte System. Hierin lassen sich ohne Zweifel die Folgen von materiellen Gegebenheiten erkennen, wie es der unterschiedliche Charakter der Urbanisation im Gebiet des Veneto und dem der Toskana darstellt, und wie es auch die klarere demographische und ökonomische Überlegenheit, die hier die herrschende Stadt über die benachbarten städtischen Zentren besitzt zum Ausdruck bringt. Aber es ist auch der Reflex einer politischen Vorstellung, die von einer Führungsschicht verfolgt wird, welche frühzeitig am Territorium und der "Territorialisierung"58 interessiert ist. Diese Führungsschicht ist charakterisiert durch einen entschiedenen Hegemoniewillen gegenüber den herrschenden Bevölkerungsgruppen in den unterworfenen Städten, denen sie von der Struktur, den ökonomischen Interessen, der Kultur und auch vom Recht her näher stand, als es dies beim venezianischen Patriziat gegenüber dem Adel der venezianischen Terraferma der Fall gewesen wäre. 4. Obwohl es in Florenz keine anderen umfassenden Statutenredaktionen gegeben hat und daher die Voraussetzungen für einen angemessenen Vergleich fehlen, konnte doch im Laufe der Untersuchung, die lang anhaltende Wirksamkeit dieses Statuten komplexes und der zu Beginn des 15. Jahrhunderts entwickelten Jurisdiktionen festgestellt werden 59 . Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert verängiustizia, S. 155-258. Für die juristische Reflexion über den Staat vgl. A. Mazzacane, Lo stato e il dominio nei giuristi veneti durante il "secolo della terraferma", in: Storia della cultura veneta. Dal primo Quattrocento al condlio di Trento, I, Venezia 1980, S. 577-650. 57 Für Florenz vgl. 1. Martines, Lawyers and Statecraft; für Venedig vgl. die abschließenden Bemerkungen von G. Cozzi in: La politica deI diritto, S. 146-152. 58 Den Begriff und die Idee des Begriffes entnehme ich V. Barel, La ville medievale, systeme sodal, systeme urbain, Grenoble 1975, wo der Übergang vom "mittelalterlichen städtischen System" zum "territorialen System" eben am Beispiel der Toskana als erstem Fall exemplarisch erklärt wird. 59 Ich verweise auf meine Arbeit: Lo stato mediceo, S. 73-79. Hier betrachten wir nur den Staat von Florenz und nicht auch den "neuen Staat" von Siena. Dieser wurde bekanntermaßen durch Philipp H. imJahre 1557 an Cosimo I. als Lehen vergeben - mit dem ersteren in der Person des Herzogs vereinigt, blieb dabei aber eine autonome politische Entität.
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derte sich der Umfang des "Staates von Florenz" durch neue territoriale Erwerbungen; in einigen Gebieten wurde die Verteilung der Podestarien und Vikariate neu vorgenommen; aber erst die von Pietro Leopoldo in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts. verwirklichten Reformen wandelten das Netz der Gerichte und die konkrete Aufteilung der Verwaltung des Territoriums auf grundlegende Weise um, indem sie die Prinzipien veränderten, auf denen diese basierten6o . Zugleich hat man jenseits dieser strukturellen Kontinuität einige offensichtliche institutionelle Umgestaltungen feststellen können, die sich an markanten Wendepunkten verdichtet haben. So hat man hervorgehoben, die zentralen Kontrollorgane, sei es im Gerichts- oder im ökonomischen und Verwaltungsbereich, während des 15. und 16. Jahrhunderts vervielfältigt wurden und unter dem Prinzipat von Cosimo 1. eine tendenzielle Umgestaltung von städtischen Magistraten in bürokratische und fürstliche Machtinstrumente erfahren haben 61 . Nur wenig in ihrer Kontinuität und den oft stillschweigenden Veränderungen bekannt sind die gerichtlichen und administrativen Praktiken, die konkreten Regierungsformen. Und doch erlauben gerade diese, in ihrer vielschichtigen Entwicklung politische Prozesse und Veränderungen der Machtverhältnisse zu erfassen, die zwar weniger augenfällig, aber dennoch ebenso tiefgreifend waren wie jene, die durch die großen institutionellen Veränderungen hervorgerufen wurden. Dies gilt auch für die Vorgehensweisen bei der Revision und Approbation der lokalen Statuten und für die - mitunter nicht linearen - Veränderungen, die diese im Laufe der Zeit erfuhren, und die wir nun näher zu untersuchen beabsichtigen, wobei wir im wesentlichen von den Fällen der drei wichtigsten unterworfenen Städte - von Pisa, Arezzo und Pistoia - ausgehen werden. Es ist notwendig, wieder zwischen Statuten im eigentlichen Sinne und Reformen zu unterscheiden. Unterschiedlich sind nämlich in beiden Fällen - sowohl im lokalen Bereich wie auch in Florenz - die Organe für die Ausarbeitung und Kontrolle sowie die angewandten Verfahrensweisen. 60 Die 1773 durchgeführte Reform der Gerichtshöfe ist, begrenzt auf das Territorium Sienas, kürzlich untersucht worden von F. Colao, Post tenebras spero lucem. La giustizia criminale senese nell'eta delle riforme leopoldine, Milano 1989. Fürdie Gemeindereform, die in den direkt darauffolgenden Jahren angegangen wurde, vgl. heute, außer der älteren Arbeit von A. Anzilotti, Decentramento amministrativo e riforma municipale in Toscana sotto Pietro Leopoldo, Firenze 1910, die Darstellung von B. Sordi, L'amministrazione illuminata. Riforma delle comunita e progetti di costituzione nella Toscana leopoldina, Milano 1991. 61 Außer der klassischen Untersuchung von A. Anzilotti, La Costituzione dello Stato fiorentino sotto il Duca Cosimo I de' Medici, Firenze 1910, vgl. die Zusammenfassung von F. Diaz, Il granducato di Toscana - I Medici (Storia d'Italia, unter der Leitung von G. Galasso, XIII), Torino 1976, (insbesondere S. 85-109); E. Fasano Guarini, Potere centrale e comunita soggette nel Granducato di Cosimo I, in: Rivista storica italiana, LXXXIX (977), S. 490-538; ders., Considerazioni su giustizia stato societa nel Ducato di Toscana dei Cinquecento, in: Florence and Venice: comparisons and relations - Il Cinquecento, Firenze 1980; L. Mannori, L'amministrazione, passim.
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Über die Modalitäten und das Instrumentarium zur Approbation der eigentlichen Statuten sagen die Florentiner Statuten von 1409-1415 nichts aus. Nichtsdestotrotz wissen wir, daß das Recht der Approbation, welches der Kommune von Florenz durch die Unterwerfungs bedingungen zuerkannt wurde, zu einem frühen Zeitpunkt direkt von Prioren und Kollegien ausgeübt wurde; dann - ab ungefähr 1380 - wurde es vier "Approbations-"Bürgern übertragen, die ab 1415 aus der "borsa" der Zweihundert gezogen wurden, welche nur herausragenden und einflußreichen Mitgliedern der Oligarchie vorbehalten war62 . Durch die Statuten wird dagegen die Pflicht der Gemeinden bekräftigt, einen Antrag vor der Erneuerung der "borse" für die Ämter an Florenze zu richten, weiterhin die mögliche Teilnahme an der Tätigkeit florentinischer "Reformatoren", sowie die notarielle Beglaubigung der Akten von seiten des florentinischen Notars der riformagion 163 • Daß bei den Vorgängen unterschiedliche Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist vielleicht nicht ohne Bedeutung. Die Approbation, die den Statuten der unterworfenen Gemeinden durch die herrschende Stadt gewährt wurde, war sicherlich ein wichtiger und feierlicher Akt, der die gesamte übergeordnete Autorität des dominanten Stadtstaates ausdrückte. Wie wir im folgenden sehen werden, bot dieser Anlaß nicht selten auch die Gelegenheit zu grundlegenden Eingriffen in das jus proprium der untergebenen Städte. Die Revisionen der Statuten erfolgten allerdings zu unregelmäßigen, nicht immer naheliegenden Zeitpunkten und bildeten häufig ein Moment nicht so sehr der Erneuerung als vielmehr der Neuordnung und Regelung. Die Reformen dagegen boten regelmäßig die Gelegenheit, nicht nur die Männer konkret auszuwählen, welche die lokalen Regierungen übernehmen sollten, sondern auch die institutionellen Ordnungen und die Modalitäten der Bildung der führenden Schichten zu verändern, indem neue Normen eingeführt wurden, welche den Zugang zu den Ämtern und die Struktur der Regierungsorgane festlegten. Als ein entscheidender Punkt im Leben der Gemeinden waren sie Gegenstand beharrlicher Eingriffe von seiten von Florenz. Eine Analyse der Veränderungen, welche dieser Eingriff im Laufe der Zeit erfuhr, erlaubt es daher, unterschiedliche Phasen in der florentinischen Politik gegenüber dem Herrschaftsgebiet zu erkennen. In einer ersten Phase, im Laufe des 14. und des 15. Jahrhunderts, wurde die Gestaltung der neuen "borse" für die Ämter der unterworfenen Städte und die 62 G. Guidi, Il governo, III, S. 170-171. Guidi stützt sich auf den Text einiger Beschlüsse von 1414. Fälschlicherweise bezieht er allerdings die Rubrik 238 des V. Buches, Traktat I der Statuta (In, S. 730) auf die mit der Approbation der Statuten des contado und des Bezirkes beauftragten Bürger, während sie in Wirklichkeit die Auslosung des Notars "ad offitium approbatorum statutorum artium civitatis Florentiae" betrifft. 63 Statuta V, I, 240, III, S. 731,die von der "extractio de aliquo seu dealiquibus civibus Florentinis pro mittendo ad reformandum aliquam terram comitatus seu districtus Florentiae" spricht. Die Tätigkeit florentinischer "Reformatoren" konnte nur per Antrag stattfinden, der von der Gemeinschaft und der interessierten Kommune an das Priorat gerichtet wurde. Vgl. auch G. Guidi, Il governo, III, S. 171-172.
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Redaktion der diesbezüglichen capitoli in den wichtigeren urbanen Zentren meist den florentinischen riformatori anvertraut. Dies war eine Antwort auf die Schwierigkeiten des state-building, in mancher Hinsicht aber auch die Fortsetzung von Praktiken aus der Vergangenheit. Die Tatsache wurde bereits angedeutet, daß im 14. Jahrhundert64 die nahegelegenen städtischen Kommunen, die durch erbitterte Städtekonflikte destabilisiert waren, häufig Florenz die Autorität verliehen, für die Erneuerung der borse und die Verteilung der Ämter zu sorgen, indem dieser Stadt eine Art Schiedsrichterrolle im Streit der städtischen Parteien zuerkannt wurde. Auf diese Weise fand mehr oder weniger freiwillig eine Hegemonie Anerkennung, die aus diesen Praktiken nur noch weitere Nahrung zog. So wurden 1373, 1376 und 1383 in Pistoia die Reformen von den "ambaxiatores" durchgeführt, welche die Kommune von Florenz "tamquam pius pater de salute Pistoriensium ac eorumdem libertate sollicitum" entsandt hatte, damit sie ein unwiderrufliches Schiedsspruchverfahren unter den "parti" durchsetzen 65 . In der Krise der 90er Jahre hervorgerufen durch den politischen Druck der Visconti, wurde das System wieder aufgenommen, als Florenz im Jahr 1402 ständige Herrschaftsrechte (balia) über Pistoia und dessen Territorium erhielt: Nunmehr waren diese nicht mehr "ambaxiatores", sondern Bürgern anvertraut, die "deputati et electi per Magnificum Commune Florentiae in reformatores et ad reformandum Civitatem Pistorij" waren 66 . Auch in Arezzo wurden die ersten Ämterreformen - also die Reformen von 1387, 1390, 1393, 1396 - nach der Erwerbung der Stadt von florentinischen Reformatoren durchgeführt67 . Wenig weiß man über die Institutionen in Pisa in den Jahren unmittelbar nach der militärischen Eroberung von 1406, abgesehen von der Tatsache, daß verschiedene lokale Ämter direkt Florentiner Bürgern anvertraut wurden. Es scheint auch hier so zu sein, daß die Bestimmung und die Verteilung der den Pisaner Bürgern überlassenen Ämter von den florentinischen Regierungsorganen - in der ersten Zeit von der Signorie selbst, die mit den Zehn von Pisa zusammenwirkte - abhing. In diesem Fall kann man allerdings nicht von einer Kontinuität mit der Vergangenheit sprechen. Die See64
Vgl. S. 8.
Das Zitat, welches sich auf die Vereinbarungen von 1373 bezieht, stammt aus: I Capitoli dei Comune di Firenze, I, S. 13. Für die Vereinbarungen von 1376 und 1383 vgl. ebd., S. 19 ff und 22 ff. Die Texte dieser beiden letzteren Reformen befinden sich auch in: ASF, Statuti comunita soggette, 595, c. 2 ff. und c. 15 ff. Zu diesen Problemen insgesamt vgl. die Einleitung von M. Dedola, Istituzioni e societa a Pistoia nell' eta di transizione dalla repubblica al principato, tesi di laurea dattiloscritta, Fac. di Lettere e Filosofia, Univ. di Pisa, a.a. 1987-88. Vgl. auch D. Herlihy, Pistoia nel Medioevo e nel Rinascimento, S. 249, und G. Guidi, Il governo, III, S. 18 ff. 66 Die borsemit den jeweiligen capitoli(Normen) wurde imJahre 1401 (ASPt, Statut i ed ordinamenti, 29, c. 1 ff.), imJahre 1402 (ebd., c. 19 ff.) und im Jahre 1403 (ebd., c. 27 ff. und ASF, Statuti comunita soggette, 595 c. 24 ff.) von florentinischen Reformatoren neu geschaffen. Die Vereinbarungen zwischen Florenz und Pistoia aus dem Jahre 1401 befinden sich in ASF, Capitoli 54, c. 15 ff. 67 Die Protokolle der Reformen von 1387, 1390, 1393, 1396 sind aufbewahrt in: ASA, Statuti e riforme, 4. Vgl. auch G. Guidi, Il governo, III, S. 40-45. 65
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republik hatte eine tatsächliche Unabhängigkeit von Florenz genossen und vorher keinerlei Praxis der oben geschilderten Art erfahren. Die Vorgehensweise von 1406 stellte einen Aspekt der umfassenden Entmachtung der lokalen Führungsschicht dar: Diese wurde von allen wichtigen Machthebeln entfernt, materiell ausgeblutet durch eine massive Diaspora, die sowohl durch Verbannungsmaßnahmen, welche viele ihrer Mitglieder trafen, als auch durch die plötzliche Schließung wesentlicher ökonomischer Bereiche erreicht wurde, und sie war Objekt mißtrauischer Überprüfung durch die nun herrschende Stadt6H • Innerhalb einiger Jahrzehnte jedoch begannen beinahe überall neben den Florentinern auch lokale Reformatoren aufzutreten. Zur selben Zeit erfolgten Reformen, die allerdings weiterhin der präventiven Zustimmung durch die Signorie und die Ratskollegien und der notariellen Beglaubigung durch den Florentiner Notar der rijormagioni unterstellt waren, auf dem Wege einfachererer, schnellerer und weniger kostspieliger Verfahren. Die aus Florenz entsandten Reformatoren wurden tendenziell in ihren Funktionen von den Statthaltern in loco abgelöst, den capitani di custodia, provveditori, Podestas. In Arezzo arbeiteten schon im Jahre 1390 zwanzig vom consiglio deI popolo ernannte Bürger, die die Befugnis hatten, die Stadt zu reformieren 69 , mit den vier florentinischen Reformatoren zusammen. Diese Präsenz, die durch die direkt darauffolgenden Reformen keine Bestätigung fand, wurde - neben den einfachen Statthaltern - seit den 30er Jahren des 15. Jahrhunderts üblich. In Pisa erklärten die fünf von Florenz entsandten Reformatoren in der ältesten Reform, von der uns die Protokolle überliefert sind, - sie stammen aus dem Jahre 1428 -, daß sie glaubten, "nedum utile sed necessarium .. , quosdam cives pisanos praticos et expertos ac bonae conditionis et famae intervenire debere", weil sie diese für "de conditionibus et moribus civium imbursandorum et copulandarum ... melius et clarius informati" hielten 70 . In einem offensichtlich von Mißtrauen beherrschten Klima wählten sie sich schließlich selbst eine kleine Gruppe lokaler Mitarbeiter aus, denen insgesamt nur eine untergeordnete Funktion zukam, während die allgemeinen Kriterien zur Verteilung der Ämter - zum Beispiel
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Die erste überlieferte Reform stammt aus dem Jahre 1428 (ASPi, Comune div. B,
I). Für die Charakteristika der florentinischen Herrschaft in ihrer ersten Phase vgl. außer
der alten Arbeit von P. Si/va, Pisa sotto Firenze dal 1406 al 1433, in: Studi storici, XVIII (1909), S. 133-183,285-323, 592-579, G. Petralia, "Crisi" ed emigrazione dei ceti eminenti a Pisa durante il primo dominio fiorentino: I'orizzonte cittadino e la ricerca di spazi esterni (1406-1460), in: I ceti dirigenti nella Toscana dei Quattrocento, S. 308-13 und passim. Für die Pisaner Diaspora vgl. auch ders., Perla storia dell'emigrazione quattrocentesca da Pisa edella migrazione Toscana-Sicilia nel basso medioevo, in: Strutture familiari, epidemie, migrazioni nell'Italia medievale, hrsg. von R. Comba / G. Piccinni / G. Pinto, Napoli 1984, S. 373-388; und ders., Banchieri e famiglie mercantili nel Mediterraneo aragonese. L'emigrazione dei Pisani in Sicilia nel Quattrocento, Pisa 1989. 69 ASA, Statuti e riforme dei Comune di Arezzo, 4, c. 9 (Reformen von 1390, rubrica I). Leider gibt es keine derartigen Hinweise für die darauffolgenden Reformen. 70 ASPi, Comune, B div. 1, c. 2.
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die grundsätzliche Respektierung des Gleichgewichtes zwischen den "parti" der Raspanti und der Bergolini - in Florenz entschieden wurden 71. Aber um die Mitte des Jahrhunderts wurden auch die Pisaner Reformatoren von den "consilia populi et communis" der Stadt gewählt, und sie arbeiteten mit dem capitano und dem Podesta zusammen 72 • Komplexer ist die Situation in Pistoia. Hier scheint die Mitanwesenheit von lokalen Reformatoren, die vom consiglio dei popolo und den florentinischen Statthaltern gewählt wurden, seit 1406 üblich zu sein 73 . In der Stadt, in der die Parteiungen auf lange Zeit, sehr viel länger als in Pisa, die vorherrschende Form des innerstädtischen Zusammenlebens bildeten und in der die durch den Kampf der Parteien hervorgerufenen "Unruhen" den Rhythmus des politischen Lebens bestimmten, fehlt es auch später nicht an episodischen Rückgriffen auf autoritärere Methoden: So werden zum Beispiel die Reformen von 1451 und 1456 einzig von den Vertretern von Florenz durchgeführr7 4 . Es fehlt auch nicht an Zeiten, in denen diese - die lokalen Ämter sind suspendiert - die Stadt direkt verwalten, wie es im Jahre 1476 geschieht. Aber in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts scheint Florenz, wenn überhaupt, auf eine Stärkung der städtischen Oligarchie abzuzielen: Auf diesen Zweck ist anscheinend im Jahre 1477 die Ersetzung der gewählten Reformatorenkommissionen durch einen neuen Rat gerichtet, der größer war und gleichzeitig ein deutlicher artikuliertes aristokratisches Profil hatte. Es ist der consiglio dei i1 Vgl. den Brief der Prioren und des Gonfaloniere von Florenz an das "Offitio Provisorum et Gubernatorum civitatis et comitatus Pisarum" vom 21. Februar 1434, worin diesem befohlen wird, die Reform einzuleiten und "ehe voi racconciate I'uffizio dei priorato et simile i collegi camarlinghi nota i et ogni altro ufficio sicche in detti uffici sieno per meta, cioe I'una meta Raspanti et I'altra Bergolini" [daß ihr das Amt des Priorats und desgleichen die Kollegien, "camarlinghi", Notare und alle anderen Ämter in Ordnung bringt, damit diese Ämter in gleichem Maße, das heißt zur Hälfte auf die Raspanti und zur anderen auf die Bergolini verteilt sindl. ASPi, Comune div. B, 1, c. 30. 72 Im]ahre 1441 arbeitet der capitano Seite an Seite mit acht Prioren von Pisa im Amt und acht von den lokalen Räten gewählten Reformatoren (ASPi, Comune div. B, 1, c. 48 r-v). Aber auch 1446 werden von Florenz zwei Florentiner Bürger "in reformatores ... una simul com capitano" bestimmt - von denen einer "Iegum doctor" ist. Inzwischen beteiligen sich in Pisa die acht Prioren im Amt nicht mehr an der Ausarbeitung der Reformen (ebd., c. 66 r). Ab 1551 werden die Reformen immer vom capitano und acht Pisaner Reformatoren durchgeführt (ASPi, Comune div. B, 3, c. 1 ff.). 73 Bereits im]ahre 1406 beschließen die "nobiles et prudentes viri dominus]acobus Salviati miles tune hon. Capitaneus Custodiae Civitatis Pistorij" und ,Johannis Raynerii Lastri de Peruzis tune hon. potestas civitatis Pistorij pro dicto magnifico communis Florentiae electi et deputati in Reformatores et ad reformandi dicta m civitatem Pistorij" zusammen mit den 20 Bürgern von Pistoia, die "per consilium ipsius civitatis" gewählt sind, über die Reformen. Vgl. ASF, Statuti comunita soggette, 595, c. 24 ff. 74 ASF, Statuti comunita soggette 595, ce. 216 und 257. Für die Geschichte von Pistoia nach der Unterwerfung unter Florenz bleiben grundlegende Quellen M. A. Salvi, Historie di Pistoia e fazioni d'Italia, H, Pistoia 1657, S. 423 ff. und]. M. Fioravanti, Memorie storiche della citta di Pistoia, Lucca 1758. Vgl. auch L. Gai, Centro e periferia: Pistoia nell'orbita fiorentina durante il '500, in: Pistoia: una citta nello stato mediceo, Pistoia 1980, S. 9-219 - mit einer ausführlichen Zusammenfassung, die auch das 15. Jahrhundert behandelt.
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graduati, dem alle jene angehören, welche die höchsten lokalen Ämter eingenommen haben 75 . Es ist schwer zu sagen, inwieweit auf diese Veränderungen die Tatsache Einfluß genommen hat, daß sich in Florenz mit dem Aufstieg der Signorie der Medici eine neue Praxis der Machtausübung durchsetzte, die Verhandlungen, Kompromissen, persönlichen, zwischenfamiliären und klientelmäßigen Beziehungen geneigter war76 , und in wieweit dabei die Festigung der Herrschaft und innerhalb derselben die Formierung stabiler städtischer Oligarchien eine Rolle spielte, welche der herrschenden Stadt glaubhaftere Gesprächspartner zu bieten vermochten. Das erreichte, aber wackelige politische Gleichgewicht sollte jedoch durch eine tiefe Krise gestört werden, die Florenz ebenso wie sein Herrschaftsgebiet zu Beginn des 16. Jahrhunderts zur Zeit der ersten Phase der italienischen Kriege heimsuchte. Schwer läßt sich auch die territoriale Politik von Florenz im Übergang von der Republik zum Prinzipat verfolgen - eine Politik, die durch interne Entwicklungen in der Stadt nicht weniger bedingt war als durch die Probleme, die aus dem Auseinanderbrechen des Territoriums entstanden waren 77 • Trotzdem sind die Reformen jener Jahre - deren Serien in einigen Fällen abrupt beendet oder ihrer Natur nach durch die Rückkehr aufrühriger Städte in die "Freiheit" umgewandelt wurden - symptomatisch für die Suche nach schlagkräftigeren und wirksameren Regierungsinstrumenten. Ob es sich nun wie in Pisa und Arezzo darum handelte, die florentinische Souveränität wiederherzustellen, oder wie in Pistoia darum, der politischen Zerrüttung durch lokale Streitigkeiten vorzubeugen, häufig wird auf eine altbekannte Gestalt zurückgegriffen - deren weit zurückliegender Ursprung in der Toskana auf die Praxis der balie aus dem 14. Jahrhundert zurückgeführt werden kann -, die nun vorrangig wird: die Gestalt des "Kommissars" Ccommissario)l8. Versehen mit außerordentlichen Befugnissen, die sich nicht aus den Statuten sondern aus den ihnen verliehenen "Kommissionen" ableiten, sind die Kommissare, die ganz unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen haben, nur gegenüber dem floren75 Das heißt: im "Gonfalonierato di giustizia" und im Amt des operaio di S. ]acopo, der wichtigsten Wohltätigkeits einrichtung der Stadt. Vgl. ASPt, Comune, Otto riformatori, 109, c. 17r. In diesem Zusammenhang verweise ich auf die zitierte Arbeit von M. Dedola. 76 Eine Praxis, die jener entspricht, deren Entstehen auf anderer Ebene R. Bizzocchi, Chiesa e potere nella Toscana dei Quattrocento (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, Monografia 6), Bologna 1987, behandelt. 77 Das Thema kommt übrigens in den einschlägigen Untersuchungen zu dieser Epoche kaum vor; vgl. A. Anzilotti, La crisi costituzionale della repubblica fiorentina, Roma 1912, und R. von Albertini, Das florentinische Staatsbewußtsein im Übergang von der Republik zum Prinzipat, Bern 1955; sowie kürzlich erschienenj.N. Stephens, The fall of the Florentine Republic, 1512-1530, Oxford 1983, und H.e. Butters, Governors and government in Early Sixteenth Century Florence - 1502-1519, Oxford 1985. 78 Vgl. W j. Connell, II commissario e 10 Stato territoriale fiorentino, in: Ricerche storiche, XVIII (1988), S. 591-617. Zu der Gestalt des Kommissars im allgemeinen ist der Hinweis unabdinglich auf O. Hintze, Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verfassungsgeschichte, Bd. Ir der: Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. von G. Oestreich, Göttingen 1962, S. 242-274.
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tinischen Staat verantwortlich und nicht, wie es bei den gewöhnlichen Statthaltern der Fall ist, dem harten lokalen "Sindacato" unterstelle9 . Sie sind also ein Instrument für politische Eingriffe in das Herrschaftsgebiet, die die Regierung der Gemeinden, die Reform ihrer Ämter und die Überarbeitung ihrer Statuten betreffen und die in Abweichung von den lokalen Bedingungen und Verordnungen durchgeführt werden. So ernennt man im Jahre 1503 fünf "reformatores et generales commissarios civitatis Aretij Cortonae Terrae Burgi Sancti Sepu1cri Castilionis Florentini et aliorum locorum circonstantium quae precedenti anno post Aretinorum rebellionem amissa fuerunt ... cum amplissima auctoritate potestate et balia dicta m civitatem Aretinam reformandi, leges in ea et statuta condendi, ipsam et alia loca praedicta regendi ministrandi et gubernandi", sowie um über deren Bewohner zu urteilen 80 . Zwei Jahre später wird auch - das zwar nicht rebellische, aber in einem gefährlichen Maße "unruhige" Pistoia - der außerordentlichen Regierung eines Florentiner Kommissars unterstellt; es verliert fast alle eigenen Ämter und das Recht, die eigenen Einkünfte zu verwalten 81 . Die Gestalt des Kommissars neigt in Pisa, Pistoia und Arezzo übrigens auch dazu, sich zum Ärger der städtischen Führungsschichten auf alltäglichem Amtswege dem capitano di custodia überzuordnen82 . Gleichzeitig gehen aus den Reformen weitere, den alten lokalen Autonomien schädliche Maßnahmen hervor: In Arezzo entziehen die neuen Statuten von 1503 die Ernennung der Prioren dem Einfluß der lokalen "borse" und der namentlichen Auslosungen, indem sie festlegen, daß diese Amtsträger nunmehr "ex commissione domino rum nostrorum" ernannt werden83 . In Pisa fällt im Jahre 1510, ein Jahr nach der abermaligen Unterwerfung der Stadt, die Wahl der lokalen Reformatoren in die Hände der Vertreter von Florenz, des 79 Das heißt, sie müssen sich bei Abschluß ihrer Tätigkeit nicht der Untersuchung ihrer Handlungen von seiten der sindaci der Gemeinde unterziehen. 80 ASF, Statuta comunitii soggette, 26, c. 1 r. 81 Es bleiben immerhin, anders als im Jahr 1538, die Ämter der Prioren und der Kollegien. Vgl. M.A. Salvi, Historie di Pistoia, III, Venezia 1662, S. 58 ff. Zu den verwikkelten Ereignissen jener Jahre vgl. auch die Hinweise von L. Gai, Centro e periferia, S. 1820. 82 In Arezzo wird die kommissarische Eigenschaft des städtischen Richters durch die Vereinbarungen von 1531 bestätigt. Am 29. Januar 1535 schickt der Gemeindemagistrat ein Gesuch an den Fürsten, in dem erklärt wird, daß "quei rettori che sono venuti con titolo di commissario abbiano usato tale commissione contro la forma degli statuti nostri, in danno e pregiudizio di molti" [jene Statthalter, die mit dem Titel eines Kommissars gekommen sind, diese Kommission gegen den Inhalt unserer Statuten benutzt haben, zum Schaden und Nachteil vieler Bürger), und man fordert, daß der Statthalter "venga in capitano e che venendo in commissario non possa usare tale commissione contro la forma degli statuti nostri se non in cose di guerra" [als capitano kommen soll und daß er, wenn er als Kommissar kommt, diesen Auftrag außer im Falle eines Krieges nicht gegen den Inhalt unserer Statuten benutzen können solll. ASA, Registri di leuere inviate 0 ricevute dal Magistrato comunitativo n. 1. Ein entsprechendes weiteres Gesuch vom 11. Januar 1538 findet sich in: Registri di leUere n. 2. 83 ASF, Statut i comunitii soggette 26.
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capitano-Kommissars, des Podestl, der consoli dei mare zurück, so wie es auch schon in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gewesen war84 . Es wäre jedoch übertrieben, von einem radikalen Kurswechsel zu sprechen. In einigen Fällen - wie in Arezzo und Pistoia - handelte es sich in Wirklichkeit um Übergangsmaßnahmen, zu deren schneller Aufhebung der lokale Druck vielleicht ebenso sehr beitrug wie die Ereignisse auf höchster politischer Machtebene in Florenz85 . Wesentlich weniger anfällig waren offensichtlich die in Pisa eingeführten Veränderungen: Hier hatte man aber den traditionellen Weg der indirekten Kontrolle über die Stadtregierung gewählt, der auch besser zu der Anerkennung der lokalen Autonomien paßte, wobei diese indirekte Kontrolle durch eine Auswahl von Männern ausgeübt wurde, von denen in loco die Definition der Institutionen und der Führungsschicht abhing86 . Am Ende der Krise schienen die städtischen Autonomien schließlich doch eine neue und weitergefaßte Anerkennung zu erhalten, insbesondere in den neuen, mit den aufständischen Städten abgeschlossenen Vereinbarungen oder in den ihnen auf anderem Wege zuerkannten Privilegien. So erhielten zum Beispiel im Zivilrecht die Prioren die Berufungsrechtssprechung87 • Es gab jedoch unbestreitbar auch andere Regierungsmodelle, die durch die Analogie zu Praktiken aus der Vergangenheit gerechtfertigt waren, die aber vor allem als eine Antwort auf die dringenden Erfordernisse der Zeit gedacht waren. Solche Modelle, denen eine weitere Blüte unter dem Prinzipat bestimmt war, und die daher nicht nur eine andere Art der Betrachtung der Probleme des Herrschaftsgebietes darstellen, sondern auch die allgemeinen Eigenschaften des neuen politischen Systems widerspiegeln, sind: die zentrale Stellung der Gestalt des Fürsten und die Verstärkung des bürokratischen Apparates. Das Bedürfnis nach Kontrolle zeigte sich in den ersten Jahren des Prinzipats in einigen äußerst autoritären Episoden, welche sich auch auf das System der IReformen und der okalen namentlichen Auslosungen zur Besetzung der Ämter (tratte) auswirkten. So übernahm Alessandro de' Medici in Pisa im Jahre 1535 84 Die Vertreter von Florenz im] ahre 1511 waren der capitano di custodia, der Podesta und die consoli dei Mare, die formal "per autorita conferita a detti per un uomo per casa della citta di Pisa et COSt da tutto il popolo di detta citta" [aus der den Genannten verliehenen Befugnis für jeweils eine Person pro Haus in der Stadt von Pisa und so für das ganze Volk der genannten Stadt] handelten. ASPi, Comune div. C, 1, c. 80. Zu den consoli delMarevgl. M.E. Mal/ett, The Sea Consuls ofFlorence in the Fifteenth Century, in: Papers of the British School at Rome", XXVII (1959), S. 156-168. 85 In Pistoia fand die Wiederherstellung der kommunalen Ämter im]ahre 1506 statt (vgl. riforme del 1506, ASF, Statuti comunita soggette, 599, cc. 34-58); in Arezzo geschah dies, soviel wir wissen, ab 1512 (ebd., 24, c. 294 ff.). 86 Vgl. riforme dal1514 al 1530 in: ASPi, Comune div. C, l. 87 Zu Arezzo vgl. die Bedingungen von 1531 in: Liber novarum submissionum, ASF, Capitoli dei Comune di Firenze 47. Zu Pisa ASF, Senato dei Quarantotto 2, Beschluß des 16. Augusts 1532. Das Privileg ist auch an die Abschaffung des von Florenz entsandten Podesta geknüpft, wobei schließlich als einziger florentinischer Statthalter der capitano und Kommissar bleibt.
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"per piu pacifico et miglior governo della comunita predicta" [für eine friedlichere und bessere Regierung der genannten Stadtl selbst die Ernennung der Prioren88 . Wie schon in Arezzo war jedoch die Radikalität (und die Kompliziertheit) dieser Maßnahme, die beim Fürsten "Ärger" und bei den Pisanern "Unzufriedenheit" hervorrief, die Ursache für ihren schnellen Verfall. Bereits mit der darauffolgenden Reform im Jahre 1539, nach der Ankunft Cosimos 1., wurden die namentlichen Auslosungen auch für den obersten Magistrat wiederhergestelltB9 . Wesentlich härter war der Eingriff von Cosimo I. in Pistoia, und viel tiefer ging in diesem Falle die politische Wende. Die materielle Zerstörung der Cancellieri, die 1537 in die Niederlage der florentinischen Republikaner verwickelt waren, bedeutete nicht nur das Ende einer Faktion sondern auch eines lokalen Machtsystems und - mehr noch - einer Herrschaftsart, die aus der "divisione et discordia della citta" [Spaltung und Uneinigkeit der Stadt], dem sich ständig und wiederholenden Gegenstand ihrer Vermittlung, ihre Stärke gezogen hatte. Cosimo I. dagegen beabsichtigte, die Bedingungen für eine neue Ordnung, die direkter Ausdruck seiner souveränen Autorität sein sollte, zu schaffen. Bekanntermaßen wurde der Stadt um "levare la causa delli odii" [die Gründe für den Haß wegzunehmenl- wie der Fürst selbst einige Jahre später schreiben sollte - von 1538 bis 1546 "l'amministrazione delle entrate pubbliche et li honori et ambitioni de' magistrati" [die Verwaltung der öffentlichen Einkommen und die Würden und Privilegien der Magistratel entzogen: Die Kommune wurde vier Kommissaren "sopra le cose di Pistoia" [über die Angelegenheiten von Pistoial anvertraut und ihre Finanzen von zwei provveditori generali verwaltet90 . Aber diese Maßnahmen waren in Wirklichkeit nicht ohne Beispiel; und die "Kommissarisierung", unter der die lokale Führungsschicht sehr zu leiden hatte, sollte auch diesmal nicht lange dauern. Dennoch handelte es sich um die ersten Schritte zu einem wesentlich weiter gefaßten politischen Vorhaben, das darauf 88 ASPi, Comune div. C 1, c. 172 r. Nachdem die diesbezüglichen borseabgeschafft waren, mußte die Abordnung der Prioren von seiten des Herzogs bei regulärem Ablauf der Amtszeit alle vier Monate erfolgen. ImJahre 1535 wurden die Pisaner Reformatoren, die damit beauftragt wurden, die neuen borsevorzubereiten, vom Florentiner Kommissar in Pisa und von einigen anderen Florentiner Beamten - Filippo Valori, provveditore dei Mare und Chiarissimo de' Medici, Commissario sopra l'Opera dei Fossi - ernannt, die sich des persönlichen Vertrauens' von seiten Alessandros erfreuten. Zu Pisa am Beginn des Prinzipats vgl. außer E. Fasano Guarini, Cittii soggette e contadi, P. Zanetti, L'aristocrazia fiorentina e la periferia pisana dopo la caduta repubblica 0530-1532), in: Ricerche storiche, XXVI, 1986, S. 39-79; ders., Intervento politico, riorganizzazione istituzionale, politica amministrativa nell'area pisa na 0531-1574), in: Archivio storico italiano, CXLVI (988), S. 183-215. 89 ASPi, Comune div. C, 1, ce. 146. Die Ernennung der Reformatoren wird weiterhin an die höchsten in Pisa wirkenden Vertreter von Florenz delegiert, die namentlich angegeben werden. 90 M.A. Salvi, Historie, III, S. 155-166. Das Zitat stammt aus dem Brief von Cosimo 1. an A. Niccolini vom 13. Juni 1540, zitiert von G. Spini, Cosimo I dei Medici e la indipendenza del principato mediceo, Firenze 1945, S. 53.
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gerichtet war, das Herrschaftsgebiet zu befrieden und zugleich die noch unsichere Macht des Fürsten zu rechtfertigen und zu festigen. ,,[A] perpetuare 10 Stato" [den Staat zu verewigen], so schrieb Cosimo 1., und ihn neu zu gründen, könnten wir hinzufügen91 . Zu den Verordnungen, die darauf gerichtet waren, die noch aufrührerischen Gebiete zu beruhigen, sollten in den darauffolgenden Jahren allgemeinere Reformen der zentralen Regierungsorgane hinzukommen: die Stärkung der Instrumente, die für die gerichtliche und administrative Kontrolle der unterworfenen Gemeinden bestimmt waren, ihre Umstrukturierung von städtischen Magistraten in Ämter des Fürsten und die Einrichtung eines neuen fürstlichen Rates 92 . So hatten im Jahre 1546, als in Pistoia die kommunale Regierung wiederhergestellt wurde 93 , die der Stadt feierlich zurückgegebenen Ämter, die ab diesem Zeitpunkt friedlich nach dem traditonellen System verteilt wurden, nicht mehr viel mit dem zu tun, was vor dem Eintreffen Cosimos Gegenstand heftigen Streits gewesen war. Nicht nur beinhalteten sie nicht mehr die Würden der Kämmerer (camarlingati) und die Finanzbehörden, die im Falle Pistoias endgültig der Gemeindeverwaltung entzogen waren; auch die gesamte Stadtverwaltung war dem Rat des Fürsten, der Pratica Segreta, völlig untergeordnet94 . Weit mehr als die lokale Macht wurden das Prestige und die Einkünfte zurückerstattet, welche die Ämter denen einbrachten, die sie ausübten. Pistoia war sicherlich ein Grenzfall. Anderswo blieb die Beachtung der lokalen (Frei-)Räume konstanter und ausgeprägter. In Arezzo bezeugt das ruhige Auf91 Außer demoben genannten Brief an Niccolini, vg\. auch den Brief an Kar! V. aus demselben Jahr unter dem Schlagwort "Cosimo I" in: Dizionario biografico degli Italiani, XXX, 1984, S. 36, von E. Fasano Guarini, wo Cosimo 1. als Beweis seiner Fähigkeit, "di perpetuare nello Stato" [im Staat von Dauer zu sein] eben gerade die Ergebnisse anführt, die in den "cose di fuora dei dominio" [Angelegenheiten außerhalb des Herrschaftsgebietes] erreicht worden sind: der Bau einer Befestigungsanlage in Arezzo, die Wiederherstellung der Ordnung in Pistoia mit der Beendigung der "divisione et discordie di quella citta" [Teilung und Uneinigkeiten jener Stadt], die bis zu diesem Zeitpunkt für grundlegend erachtet worden waren, um die florentinische Regierung erhalten zu können. Zu der Bedeutung des Begriffes "Staat" zu Beginn des 16. Jahrhunderts existiert eine umfangreiche Literatur. Vg\. insbesondere F. Chabod, A1cune questioni di terminologia: Stato, nazione, patria nel'linguaggio dei Cinquecento, in: Scritti sul Rinascimento, Torino 1967, S. 630-650: A. Tenenti, La nozione di "Stato" nell'Italia dei Rinascimento, in: Stato: un'idea, una logica. Dal comune italiano all'assolutismo francese, Bologna 1987, S. 53-97. 92 Vg\., mit einer gewissen Tendenz, die von Cosimo 1. erreichte Zentralisierung und Modernisierung zu betonen, A. Anzilotti, La costituzione; A. D'Addario, La formazione delle Stato moderno in Toscana. Da Cosimo il Vecchio a Cosimo I de' Medici, Lecce 1976, S. 193-425. Grenzen und Widersprüche hebt dagegen hervor F. Diaz, Il granducato di Toscana. 93 Eine am 6. August 1546 in den kommunalen Verordnungen von Pistoia registrierte Akte: ASPt, Comune, Provvisioni e Statuti 88, c. 97r-v. Veröffentlicht in L. Gai, Centro e periferia, S. 93-94. 94 Diese arbeitete gesondert für Pistoia, indem sie verschiedene Akten verfaßte, die heute in: ASF, Pratica Segreta di Pistoia, aufbewahrt sind.
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einanderfolgen der Reformen die grundlegende Integrität und Stabilität des Systems der lokalen Ämter, und die Rückgabe einiger finanzieller Ertragsquellen an die Stadt im Jahre 1531, die zuvor von Florenz wahrgenommen worden waren, hat höchstens dazu geführt, von einer Erweiterung der Autonomie der Gemeinde unter dem Prinzipat zu sprechen95 . Wieder anders und dynamischer ist die Situation von Pisa. Unter den ersten Herzögen ist die Stadt zusammen mit ihrem Umland Gegenstand besonderer politischer Aufmerksamkeit, die auf die Förderung der lokalen Wirtschaft gerichtet ist. Von hier ausgehend greift dann die zentrale Macht in wachsendem Maße ein, im Falle von Pisa, mit dem Ziel, nicht die Ordnung wiederherzustellen, sondern die Bedingungen für einen ökonomischen Aufstieg zu schaffen: eine neue Steuer- und Bevölkerungspolitik zu definieren, die unentbehrlichen öffentlichen (Straßen- und Wasserbau-)Abeiten durchzuführen und die Märkte zu ordnen. Ab 1532 werden in Florenz spezifische Kommissionen mit Befugnis über die Stadt und ihr Territorium gebildet; am Orte arbeiten provveditori und Kommissare 96 . Dies führt jedoch nicht, wie in Pistoia, zur sofortigen Überordnung der florentinischen über die lokale Verwaltung, sondern zur Schaffung gemischter Ämter97 , die durch die gleichzeitige Besetzung mit florentinischen und pisanischen Bürgern gekennzeichnet sind. Und da diese Ämter in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen der Wasserbau- und Straßenarbeiten oder der Lebensmittelversorgung eine umfassende Jurisdiktion über den contado haben, kann man sagen, daß auf diesem Wege der Stadt erneut auch eine gewisse Regierungsgewalt über ihr Umland zukommt. Aber zugleich geht doch sehr deutlich eine starke Verminderung der städtischen Autonomie aus den Texten der Reformen hervor, in denen in Bezug auf die wichtigsten Themenbereiche ausdrücklich Normen und Institutionen genannt werden, die der lokalen Initiative in keiner Weise verpflichtet sind, sondern erklärtermaßen das Ergebnis dessen sind, was der Fürst "lhal optimamente provisto e benissimo ordinato" [vorzüglich vorgesorgt und bestens bestimmt hat1 98 . Ab 1559 wurden in Pisa die Reformatoren nicht mehr von den Florentiner Statthaltern sondern, innerhalb einer von den lokalen Räten angezeigten Aus95 P. Benigni, Oligarchia cittadina e pressione fiscale: il caso di Arezzo nei secoli XVI e XVII, in: La fiscalite et ses implications sociales en Italie et en France aux XVII et XVIII siec1es, Ecole fran~aise de Rome 1980, S. 54 ff. 96 1532 wird das Amt der Vier Reformatoren für die Angelegenheiten von Pisa eingerichtet mit der Aufgabe, das Steuersystem und die Schätzungen des contado zu überprüfen (und nicht, wie der Name vermuten lassen könnte, die Reform der Ämter vorzunehmen). 1535 folgen ihnen weitere Fünf Reformatoren und 1542 Acht provveditori. 1556 schließlich gehen ihre Funktionen auf die Pratica Segreta über, deren Macht über Pisa, wie die der vorhergehenden Organe, im wesentlichen politischen und nicht administrativen (wie im Falle von Pistoia) Charakter besitzt. Vgl. E. Fasano Guarini, Citta soggette e contadi, S. 41-43; P. Zanetti, Intervento politico, S. 187-202. 97 Die Ämter der Grascia und der Fiumi e Fossi. 98 Reform von 1555, ASPi, Comune div. D, 19, rubrica "Dell'Offitio de' Fossi e suo commissario", c. 24. Vg. auch rubrica "Dell'offitio della Grascia di Pisa e suo contado".
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wahl, direkt vom Fürsten ernannt 99 . Auf diese Weise manifestierte sich der Wille des Fürsten, sowohl in der Peripherie wie auch im Zentrum die wichtigsten Ämter persönlich zu verwalten, indem er sie selbst a mano vergab lOO • Diese Maßnahme verstärkte allerdings bereits vorhandene Grenzen der lokalen Autonomie, und eher noch, als ein weiteres Kontrollinstrument darzustellen, war sie Ausdruck einer aufmerksameren Privilegienpolitik, die, wie es in der Logik des neuen Regimes lag, von der Gnade des Fürsten sehr viel abhängiger war. Wenigstens in Pisa war die Wahl der Reformatoren nicht mehr von so grundlegender Bedeutung. Es gab nun andere und direktere Wege für die Kontrolle über das Leben in der Stadt. 5. Das Geschehen der Reformen bietet nur einen der Schlüssel - und nicht unbedingt den wichtigsten - zur Rekonstruktion der Geschichte der Beziehungen zwischen der zentralen Macht und dem Herrschaftsgebiet während der beiden Jahrhunderte, mit denen wir uns beschäftigt haben. Einen weiteren Schlüssel könnte die Analyse der Praktiken der controllo amministrativo darstellen, die von der Republik und dem Prinzip at angewandt wurde, und die wir hier nur angedeutet haben. Durch die Stärkung der ausdrücklich damit beauftragten Ämter (für den administrativen und finanziellen Bereich zuerst die Fünf Konservatoren und die Acht der Pratica, dann die Neun Konservatoren; für die öffentlichen Arbeiten die capitani di parteYO I breiteten sie sich weit über die Grenzen der "pisanischen Provinz" und Pistoias über das ganze Herrschaftsgebiet aus. Und dies war ein wichtiges Terrain für die Auflösung der Gemeindeautonomien und die partielle Aushöhlung der Ämter. Wie man aber gesehen hat, sind andererseits die lokalen Gegebenheiten höchst unterschiedlich. Das kann in einem frühmodernen Staat nur natürlich sein, der von jeglicher Form struktureller und juristischer Vereinheitlichung weit entfernt war und auf einer vertraglichen Basis regiert wurde, auch wenn er, wie der Staat von Florenz, mit einem starken inneren Zusammenhalt ausgestattet war. Schwer läßt sich also ohne besondere Nachforschungen erkennen, wie sich lokale Anstöße und zentrale Zwangsmaßnahmen oder Anregungen in der Geschichte der einzelnen Städte verknüpft haben. 99 Reform von 1559 in ASPi, Comune div. D, 19, ce. 38. Genau dasselbe Ernennungssystem war ab 1553,Von Prato übernommen worden. Vgl. F. Angiolini, Il ceto dominante a Prato neU'eta moderna, in: Prato storia di una citta, unter der Leitung von F. Braudet, II: Un microcosmo in movimento (1494-1815), hrsg. von E. Fasano Guarini, Firenze 1986, S. 356-358 und 373-378. 100 Vgl. R.B.Litchfietd, Emergence of a Bureaucracy. The Florentine Patricians 15301790, Princeton 1986, S. 110-125. 101 Zu den Neun Konservatoren vgl. E. Fasano Guarini, Potere centrale. Zu den capitani di Parte in einer et:was späteren Zeit vgl. A. Cerchiai / C. Quiriconi, Relazioni e rapporti aU'ufficio dei Capitani di Parte Guelfa, in: Architettura e politica da Cosimo I a Ferdinando I, hrsg. von G. Spini, Firenze 1976, S. 187-239. Zu beiden unter juristischem· Aspekt, L. Mannori, L'amministrazione del t.erritorio, S. 76 ff.
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Von den Reformen ausgehend ist es aber möglich, eine allgemeine politische Entwicklung nachzuvollziehen, die von den Notmaßnahmen, die an die Gründung des Staates gebunden waren, zu einer Regierungsmethode führt, welche die lokalen Mächte aufmerksam kontrolliert, aber auch ihre Beweggründe akzeptiert; welche an der Kontrolle über das Herrschaftsgebiet interessiert ist, aber auch an der Suche nach Übereinstimmung und an Zusammenarbeit mit den Oligarchien. Und schließlich führt die politische Entwicklung nach der großen Krise zu Beginn des 16. Jahrhunderts unter dem Prinzipat zur Einrichtung eines zwar noch immer dualistischen Systems, in dem aber die zentrale Fähigkeit zu Intervention und Regierung weit stärker ist. Es ist eine Entwicklung, die so weitläufigen Tendenzen entspricht, daß man in ihnen das charakteristische Element für eine allgemeine Phase der Geschichte des Staates hat erkannt hat, - einer Phase, die in anderem Zusammenhang die bestimmende Präsenz der Stände gewahrt 102 . Diese Entwicklung verlief im Falle von Florenz übrigens alles andere als linear, sie war durchzogen von Krisen und Wendepunkten, offen für differenzierte Entscheidungen. In dem so vorgezeichneten Erscheinungsbild kann auch eine episodische re Geschichte der Statutenredaktionen fruchtbar untergebracht werden. Obwohl nicht selten einzelne Statuten an läßlich von Reformen erlassen wurden, die sich in den zu jenen Gelegenheiten verfaßten Übergabebedingungen noch heute befinden, waren doch prinzipiell, wie schon gesagt, die Ausarbeitungsverfahren der einen und der anderen auf lokaler Ebene unterschiedlich, von den Formen der zentralen Kontrolle ganz zu schweigen. Unterschiedlich waren vielleicht auch die daran beteiligten Männer: die Reformatoren als direkte Repräsentanten der Regierungsoligarchien einerseits, und andererseits die statutari (diejenigen, welche die Statuten verfaßten), meist entsprechender soziopolitischer Zuordnung, aber ausgewählt aufgrund ihrer spezifischen juristischen Bildung (Doktoren, Notare) oder ihrer repräsentativen Stellung (Kaufleute, wenn es sich zum Beispiel darum handelte, einzelne Fragen des Zivil- oder Handelsrechtes zu verändern)103. So wie es bei den Reformen der Fall war, stellt auch die Revision oder der Erlaß von Statuten einen wichtigen Knotenpunkt in den Beziehungen zwischen der zentralen Macht und den unterworfenen Gemeinden dar. Während des 15. Jahrhunderts erfolgt in den Städten häufig die Verkündigung einzelner statutarischer Normen oder von Normenkomplexen, welche das 102 Für den Austausch des Modells des Ständestaates z.B. von W. Naefbezüglich der italienischen Staaten mit kommunalem Ursprung vgl. G. Chittolini, Introduzione zu: La crisi degli ordinamenti comunali e le origini dello stato del Rinascimento, Bologna 1979, S. 31 ff. 103 Vgl. z.B. die Statuta nova von Pisa aus dem Jahre 1476, von denen oben auf S. 25 die Rede ist, die von drei Notaren und drei Kaufleuten verfaßt worden sind. Die in Arezzo erlassenen Statuten von 1448 zu verschiedenen Fragen, die sich auf die Ämter bezogen, sowie "de modo et ordine procedendi in civilibus causis" sind von drei städtischen statutari, einem "famosissimus doctor", einem Kaufmann und einem Notar redigiert: vgl. ASF, Statuti comunita soggette, 24, c. 45.
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öffentliche, zivile oder das Strafrecht, den danno dato und die städtische Polizei betreffen. Dies geschieht, allerdings in sehr begrenztem Maße, auch in Pisa. Für Arezzo werden die Konzepte der äußerst zahlreichen Redaktionen der neuen Statuten (sie sind zahlreicher als die Reformen), die sich auf einzelne kommunale Institutionen, auf einzelne Bereiche des Verfahrens oder des Zivilrechtes (zum Beispiel des Erbfolgerechtes), auf einzelne Probleme der städtischen Polizei beziehen, in Florenz aufbewahrt. Auf diese Weise fand durch Zusätze oder Korrekturen eine Art fortwährender Aktualisierung der Grund-statuten (die im Falle von Arezzo auf die Mitte des 14. Jahrhunderts zurückgingen) statt, so daß sie sich, wie es in den jeweiligen Vorwortem heißt, der "temporum varietas morumque diversitas", sowie den Anregungen anpaßten, die von der Regierungspraxis, von der "magistratorum experientia" herrührten lO4 . Das Material von Arezzo, das besonders in der Zeit zwischen elen 30er Jahren des 15. und den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts reichhaltig ist lO5 , erlaubt uns, die Verfahren genau zu verfolgen, die in dieser Zeitspanne relativ stabil sind und im allgemeinen auch in den anderen Städten verfolgt werden: von der Einberufung des consiglio dei popolo und der Kommune durch den capitano bis zur Wahl der städtischen statutari in ihr Amt, von der Ausarbeitung der neuen Normen, die immer im Beisein des capitano und mit seinem Eingreifen stattfand, bis zu ihrer Entsendung an die "cives florentini extracti secundum formam ordinamentium Comunis Florentiae in officiales prefati Comunis ad videndum et examinandum statuta et ordinamenta Communis Aretii". Da den von Arezzo entsendeten Texten die oftmals umfangreichen und gewissenhaften Korrekturen der florentinischen approvatori folgen, ist es möglich, diese sozusagen bei der Arbeit zu beobachten; dabei ließe sich die Natur der Gegensätze und der in diesen Fällen in Florenz angewandten Kriterien analysieren. Es scheint, daß die Kommune in diesen Fällen tatsächlich ihre potestas statuendi angewandt hat und Florenz sich darauf beschränkte, sein Recht adprobandi, so wie es in den Unterwerfungsbedingungen festgelegt worden war, auszuüben. Aber mit Sicherheit waren die Dinge nicht immer so einfach und linear. Selten ist dagegen im Verlauf eies 15. Jahrhunderts die neue Ausarbeitung vollständiger Stadtstatuten oder auch einzelner Bücher. Nur manchmal erfolgt dies auf direktes Verlangen von Florenz. In Arezzo ist es im Jahre 1397 die Signorie, die den capitano und den Podesta damit beauftragt, den letzten Band der Statuten zu überarbeiten, die seit langem nicht mehr korrigiert worden waren und den dazwischenliegenden Veränderungen nicht mehr gerecht wurden, wobei aber die geltende Redaktion in ihrer Substanz erhalten bleiben sollte lO6 • Etwas ähnliches geschieht in Pisa beinahe ein Jahrhundert später. Hier 104 ASF, Statuti comunita soggette 24, c. 196 (Prämbel der Statuten von 1475). Wendungen dieser Art werden häufig wiederholt. Vgl. z.B. das Vorwort von 1448 in c. 45 (..cum mortalium humana natura in dies novas edere formas variasque sem per suscitare lites conetur ... "). 105 Alles in ASF, Statuti comunita soggette, 24. 106 ASF, Capitoli dei Comune di Firenze, 7, 120. Regesto in: I Capitoli, hrsg. von C. Guasti, I, S. 440. Der Text von 1397 ist uns - sofern er je redigiert wurde - nicht
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werden im Jahre 1476, zu der Zeit, in der Lorenzo de' Medici den ökonomischen Wiederaufbau der Stadt unterstützt, statuta nova erlassen, welche das Zivilverfahren bei Klagen in erster Instanz und in der Berufung betreffen: ein umfassender und organischer Komplex von Normen, der unter der spärlichen lokalen Produktion ins Auge sticht. Auf ihre Redaktion folgt ein normaler Verlauf der Gesetzgebung: Sechs städtischen statutari anvertraut (drei Notaren und drei Kaufleuten), die mit dem capitano und dem Podesta zusammenarbeiten, wird sie schließlich zur Anerkennung den Prioren, dem gonfaloniere und den Kollegien der Stadt vorgelegt. Aber in Gang gesetzt wurde sie durch den Befehl der Signorie, welche "dalle richieste ognidi [a leil fatte da mercanti et artefici" [durch die tagtäglich von seiten der Kaufleute und Handwerker an die Signorie gerichteten Anfragenl dazu veranlaßt worden war aus Furcht vor den Folgen, die eine schlechte und zu langsame Führung der Prozesse auf das Handwerk und den Handel haben konnte lO7 . Reicher und komplexer ist die Geschichte der Statuten von Pistoia aus dem 15. Jahrhundert. Hier tragen die "Statuta et ordinamenta ... facta edita et composita per Consilium populi et civitatis Pistorij et approbata et confirmata per ipsum consilium" im Jahre 1417 - die ersten nach der endgültigen Unterwerfung - in der uns überlieferten Kopie lO8 keine Spur einer Approbation durch Florenz. Allerdings folgen ihnen eine kurze Zeit darauf, in den Jahren 1435 und 1451, zwei weitere Redaktionen, die von eigens aus Florenz entsandten Kommissaren in Zusammenarbeit mit dem capitano und dem Podesta ohne jegliche lokale Einmischung angelegt werden. Florenz beschränkt sich also nicht darauf zu approbieren: Es kann neue Statuten anregen oder erlassen 109. Leider ist es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, Textvergleiche durchzuführen, die es erlauben würden, das Wesen und den Charakter der innovativen Eingriffe zu bewerten. Im Fall von Pistoia, einem altvertrauten Forschungsgebiet der Juristen, berufen sich die Statuten ausführlich auf das jus commune und haben darin eine unerschütterliche Grundlage. Die Arbeit der Rechtssetzung, die sofern sich dazu irgendwelche Hinweise in Anmerkungen finden lassen, von den statutari - ob sie nun ortsansässig waren oder aus Florenz kamen überliefert, und auch andere vollständige Redaktionen aus dem 15. Jahrhundert sind uns nicht erhalten. Jedoch sind hier so wie anderswo statutarische Normen, die nicht die Ämter betreffen, in den Reformen enthalten: vgl. z.B. "Oe judiciis et modo et ordine procedendi in civilibus et ordinariis causis", rubrica 21 der Reform von 1460 in ASA, Statuti e riforme, 8. 107 ASPi, Comune div. B, 4, ff. 45 ff. Veröffentlicht in A. Era, Statuti pisani, S. 77-99. Anders ist auch der darauffolgende Weg der Statuten von 1476: Diese wurden direkt von den Prioren, dem gonfaloniere und den Kollegien von Florenz bestätigt. 108 ASPt, Statuti e ordinamenti, 12. 109 Die Statuten von 1435 sind in ASPt, Statuti e ordinamenti, 15 aufbewahrt und unvollständig, aber mit der Approbation der Signorie, der "Gonfalonieri delle Compagnie del popolo", der "Dodici buoni uomini und der Otto di Custodia" von Florenz versehen in ASF, Statuti comunitä soggette, 596, c. 25 ff; die Statuten von 1451 befinden sich in ASF, Statuti comunitä soggette, 597.
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geleistet und in Florenz von den approvatorivollendet wurde, scheint aus einer sorgfältigen Überarbeitung und einer notwenigen Aktualisierung der Statuten im Rahmen einer im wesentlichen die Vergangenheit respektierenden Kontinuität bestanden zu haben. Man bemüht sich offensichtlich, die Statuten jenen Prinzipien anzugleichen, auf die sich die florentinische Souveränität gründet, indem man ihnen den juristischen Sprachgebrauch und einige besonders wichtige Normen anpaßt: so zum Beispiel jene, welche sich auf das Amt des capitano und des Podesta oder auf die gegen die Magnaten gerichtete Gesetzgebung beziehen. Es werden tatsächlich schon bestehende institutionelle Veränderungen registriert. Mitunter werden Bestimmungen aufgehoben, die auf der Ebene des Rechtes für nicht mehr akzeptabel befunden werden: "removeatur in totum quia contra libertatem ecclesiasticam" ist am Rande der Rubrik "declinantium jurisdictionem Communis Pistorii" in der Kopie der Statuten von 1435 im "Archivio di Stato di Pistoia" vermerkt, die aus Anlaß einer späteren Redaktion korrigiert wurde 110 . Zahlreich sind die Abschriften, die nur von leichten Veränderungen begleitet sind. Häufig erfolgt der Einbau von neuen Verordnungen, die durch den Einschub von in Volgare verfaßten Absätzen in den lateinischen Text kenntlich sind 111 . In einigen Fällen werden durch die additiones lokale Bestimmungen oder in Florenz erlassene Kapitel in die Statuten eingefügt 1l2 . Dies ist eine Verfahrensart, die üblicherweise auch anderswo verfolgt wird. Man verbessert die bereits existierenden Statuten, was die Kontinuität des lokalen Rechtes garantiert. Manchmal gibt es jedoch auch andere Entscheidungen. Ganz anders steht es mit dem Verfahren, welches die Reformatoren und allgemeinen Kommissare im Jahre 1503 in Arezzo anwandten. Schon in der Präambel wurde erklärt, daß die neuen Statuten, obgleich sie aus der Sammlung der Bestimmungen entstammten, die bis dahin gültig gewesen waren, einen Bruch mit der Vergangenheit bedeuten sollten. Wenn man auch vorsichtig auf die lokale Gesetzgebung zurückgriff, handelte es sich doch in Wirklichkeit nicht darum, zu verbessern und zu korrigieren, sondern darum, "novas condere leges novosque creare Magistratus qui dictam civitatem et agrum legittime valeant gubernare". Das vorgezeichnete Bild von Florenz scheint zwar sanft und väterlich Cut omnes cognoscant Florentinos a Floris suavitate, non ab spinae asperitate nuncupari")113, doch das eigentliche Ziel blieb der WieASPt, Statuti e ordinamenti, 15. Zum Beispiel ist die Rubrik 2 des II. Buches der Statuten von 1435 in Volgare verfaßt: "Dei modo di procedere neUe questioni de' Mercatanti" [Über die Art, wie man bei Fragen der Kaufleute vorgehen solll. 112 Vgl. z.B. die Anmerkung am Rande der Rubrik 16, 1. Buch des oben zitierten Statuts ("quod nuUus de civitate Pistorij possit conveniri coram aliquo officiali civitatis Florentiae nisi coram Mercantiae"): "Addatur capitulum editum per dominos Commissarios seu paciales Civitatis et comitatus Pistorij quod observari debeat tamquam statutum populi. " Das zur Diskussion stehende Kapitel ist aus dem Jahre 1474, und die Anmerkung wurde im Zuge einer nach diesem Datum geplanten Redaktion der Statuten verfaßt. 113 Die Statuten von Arezzo von 1503 befinden siCh in: ASF, Statuti comunita soggette, 26, c. 1, v. Die Präambel fährt fort: "Apud Florentinos enim semperque Florentinus 110 111
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deraufbau der Herrschaft mit autoritären Mitteln. Die Wahl der Prioren wurde, wie wir bereits gesehen haben, der Signorie überlassen; mehr noch als der obersten städtischen Magistrate erschienen sie als Garanten der öffentlichen Ordnung, die in erster Linie dazu verpflichtet waren, der florentinischen Obrigkeit zu berichten, "si quid sentiverint attentatum contra statum et honorem Communis Florentiae,,1I4. Die Macht des capitano wurde gestärkt, indem man ihm kommissarische Züge verlieh: Seine Jurisdiktion sollte, so hieß es, nicht nur durch die vorhandenen Statuten definiert werden, sondern durch jedes andere Statut, Reform und Verordnung, die in dieser Hinsicht von Florenz erlassen worden seien oder noch erlassen werden würden 115 . Man verbot dem Ratskollegium, etwas "absque voluntate Capitanei et sine ejus presentia,,116 zu unternehmen. Während im zivil- und strafrechtlichen Bereich die Neuerungen nur geringfügig waren, fielen offensichtlich die Maßnahmen hart und entschieden aus, die gegen diejenigen eingeführt wurden, die "contra populum vel contra statum et contra Majestatem civitatis Florentiae" gehandelt hatten: Tod und Beschlagnahmung der Güter gegen die, die an Aufruhr, Umsturzversuchen und Verschwörungen teilnahmen, Strafen durch Schiedsspruch der Statthalter gegen die, die sich der Hetzerei schuldig machten, "proferendo vel male loquendo contra populum florentinum vel contra ipsius populi libertatem"117. Einen weiteren Angriff auf den Status der Stadt stellte der Erlaß eines Statuts der "cortine" und "camperie", die damals im Rahmen der autonomen Gemeinde eingerichtet worden waren durch die Florentiner Reformatoren dar: eine drastische Maßnahme, die, wenn nicht dem Recht, dann doch der Regierung von Arezzo auch noch den begrenzten ager der Vorstädte entzog ll8 . Die Verordnungen für Arezzo von 1503 besitzen ohne Zweifel den Charakter eines außerordentlichen Eingriffes in eine soeben erst wiedereroberte Stadt im Verlauf einer dramatischen, allgemeinen politischen Krise. Als Ausnahmefall spiegeln sie jedoch ein anderes mögliches Herrschaftsmodell wider, das jenen Konsolidierungsinstanzen entspricht, die auch in den Reformen jener Jahre populus sub ditos sibi a Deo commis sos equitate potius quam severitate tractavit, sciens multo satius esse de misericordia quam de crudelitate judicari". 114 1. Buch, Rubrik 10: "Si quid sentiverint attentati contra statum et honorem Communis Florentiae ... notum facient Dominibus Prioribus et Vexillifero ]ustitiae Civitatis Florentiae et Dominis Capitaneo et Potestati dictae Civitatis Arretio". 115 1. Buch, Rubrik 1, "De offitio Domini Capitanei Custodiae". 116 1. Buch, Rubrik 11, "De Consilio Civitatis Arretij". Der capitano konnte im Rat höchstens durch einen seiner Beamten ersetzt werden. 117 III. Buch, Rubrik 8. 118 ASA, Statuti e riforme delle cortine, 1. Die Statuten, die in Volgare geschrieben waren, "accioche piu facHe sia agli huomini delle cortine questi nostri ordini leggere et intendere" [damit es leichter für die Menschen der cortine sei, diese unsere Befehle zu lesen und zu verstehen], waren rein administrativen Charakters, da es sich um die Gründung einer Gemeinschaft und nicht, wie es zum Beispiel nach 1406 im contado von Pisa geschehen war, eines Vikariats, bzw. eines abgetrennten gerichtlichen Bezirkes handelte.
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ersichtlich sind und die sich unter dem Prinzipat weiter festigten. In der Materie der lokalen Statuten verhielten sich die ersten Herzöge allerdings, wie wir nun beobachten werden, politisch völlig anders. Die "sanctae leges et statuti optimi", die 1536 in Arezzo feierlich erlassen und mit einer Widmung an Alessandro de' Medici zum Druck gegeben worden waren l19 , scheinen tatsächlich ein dunkles Kapitel abzuschließen und - zusammen mit der wiedergefundenen Eintracht - die glückliche Wiedererlangung eines städtischen Rechtsbereiches zu kennzeichnen. Verfaßt von lokalen statutari, die dazu vom allgemeinen Ratskollegium autorisiert waren; "ut igitur Aretina civitas ex his dignitate et pietate iusteque ac sancte gubernari et quiete agere valeat" bedeuten sie die Wiederherstellung von Traditionen und zerbrochenen Machtverhältnissen. Ohne auf die entgegengesetzte Aktion von 1503 hinzuweisen, setzen die statutari "prisca eiusdem statuta reformantes addentes minuentes aliaque de novo constituentes atque ordinantes hoc in codicern" die Kontinuität des jus proprium der Stadt voraus. Nachdem sie die Spuren der Notstandsgesetzgebung - die Sonderbefugnisse des capitano, die Anschläge auf die Autonomie und die Würde des Priorats und des Ratskollegiums, die SonderStrafgesetzgebung - gelöscht haben, stellen sie eine institutionelle Normalität wieder her und schaffen die Bedingungen für das Überleben des lokalen Rechtes innerhalb des juristischen Pluralismus des Herzogtums. Der Hinweis auf das jus proprium, auf die allerheiligsten Gesetze der majores nostri kommt auch in den in Pistoia im Jahre 1546 zur Zeit Wiederherstellung der städtischen Regierung verfaßten Statuten klar zum Ausdruck. Auch diese Statuten wurden in Druck gegeben und dem neuen Herzog, Cosimo I., gewidmet 120. Obwohl man im Falle von Pistoia die Erinnerung an die dramatischen Ereignisse die "maximae calamitates" der jüngsten Vergangenheit, um die Erfahrung der bleibenden Verstümmelung der Autonomie der Stadt nicht auslöschen konnte, war doch auch hier die Veröffentlichung der Statuten das Zeichen für einen Umschwung. Das "non ignobile municipium", so lautet die Widmung, erlangte seine "pristinam dignitatem" zurück und erkannte zugleich die Ansprüche eines Regimes an, das seinen Bürgern und den unterworfenen Städten erlaubte, "tranquillam honestamque pace m trahere". Dies war für Arezzo und Pistoia der Beginn einer Reihe neuer Statutenredaktionen: Zwei davon erfolgten im Laufe des 16. Jahrhunderts, 1565 und 119 Liber Statutorum Arretii, per Calixtum Simeonis, 1536 mense Martio. Der Band ist selten. Ein Exemplar befindet sich in: Biblioteca Nazionale di Firenze, Landau-Finally, 22. 120 Statuta civitatis Pistorii, Florentiae 1546, ohne Nennung des Herausgebers. Wie man an der Widmung des Autors an Cosimo I. erkennen kann, sind die Statuten das Werk eines Juristen, des Kanzlers Giovanni Forteguerri, der aus nicht ersichtlichen Gründen an die Stelle der statutari getreten war, die sie zu schreiben begonnen hatten. Kapitel um Kapitel wurden sie dann in geheimer Abstimmung vom städtischen Ratskollegium angenommen. Die erklärte Rolle von Forteguerri, einem Mitglied einer der wichtigsten Pistoieser Familien, läßt sich sicher anhand lokaler Gründe erklären, ist aber auch ein Zeichen für den Wandel der Zeiten.
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1580 in Arezzo, wobei die letztere gedruckt wurde l21 , drei, die alle gedruckt wurden, in Pistoia während des 16. und 17. Jahrhunderts 122 • Auch kann man nicht sagen, daß es sich hier um isolierte Fälle gehandelt hätte. Neue Redaktionen wurden in zahlreichen anderen Städten und kleineren Zentren unternommen, wie zum Beispiel in Cortona 123 , in Montepulciano 124 , in Borgo S. Sepolcro 12; und in San Miniato l26 . Hat es also eine lebhaftere Aktivität bezüglich der Statuten gegeben, und war dies, innerhalb des befriedeten Herrschaftsgebietes der Medici, das Zeichen eines wachsenden Gewichts der Städte und der städtischen Autonomien? Bevor wir auf diese Frage antworten, lohnt es, noch einen Moment bei der Form zu verweilen, welche diese Aktivität schließlich annahm. Wenn man die Aktenbündel der in Florenz gesammelten Statuten aus dem 16. und 17. Jahrhundert durchblättert, gewinnt man den Eindruck, daß sich, neben dem Wachstum der zuvor seltenen umfassenden Redaktionen, die Produktion einzelner neuer Statuten eher verringert, die im 15. Jahrhundert sehr umfangreich gewesen war. Die städtischen Gemeinden scheinen also eher neu zu ordnen und neu zu formulieren, als daß sie ex novo Gesetze erlassen würden. Die Statuten gewinnen an Ordnung, Klarheit und Glanz; das bedeutet aber nicht, daß damit die Aktivität in Sachen Statuten lebhafter gewesen wäre. Der allgemeine Eindruck wird durch einige charakteristische Merkmale der späten Kodifikationen von Arezzo und Pistoia bestätigt. Obgleich Widmungen und Präambeln immer wieder als Wert des Werkes seine innovativen Aspekte hervorheben und auf die Notwendigkeit der Modernisierung der Gesetze hinweisen, "quoque ex initio bene institutas", indem sie mitunter die Autorität Platos anführen, 127 scheint dies nicht ein vorrangiges Motiv für die wiederholten 121 ASF, Statuti comunita soggette, 26 (Statuten von 1565) und 27 (Statuten von 1580). Letztere befindet sich auch in ASA, Statuti e riformagioni, 30. 122 Leges municipales Pistoriensium quae vulgo statuta nuncupantur septem libri comprehensae. Nunc primum antiquato quod nu per obtinebat veteri jure, Francisci Medicis Serenissimi Magni Ducis Etruriae concessu quinetiam jussu estensae. Opera Francisci Franchini Miniatensis et Vincentii AmatiJ.C. Pistoriensis, Florentia apudJunctas 1579; Leges municipales Pistoriensium quae vulgo statuta nuncupantur septem Libris comprehensae, Florentiae, apud CosmumJunctam 1613; Leges municipales Pistoriensium nu per mandante Serenissimo Ferdinando II Magno duce Etruriae V reformatae et approbatae anno MDCXLVII, Florentiae, ex typographia Serenissimi Magni Ducis 1647. Zwei weitere Ausgaben stammen aus den Jahren 1713 und 1732. Spätestens seit 1630 werden in Pistoia auch regelmäßig die Reformen veröffentlicht (für 1630: Riforma dei Magistrati et Offitij della citta di Pistoia 1630, Pistoia, durch P.A. Fortunati 1631). 123 ImJahre 1543: ASF, Statuti comunita soggette, 284. 124 ImJahre 1561, anläßlich der Erhebung der "terra" zur Stadt: ebd., 503; hrsg. von 1. Calabresi im Anhang zu S. Benci, Storia di Montepulciano, Verona 1968. 12; Im Jahre 1571: ASF, Statuti comunita soggette, 796. 126 ImJahre 1546, nach langem Hin und Her imJahre 1564 von der "Pratica Segreta" approbiert: ebd., 740. Vgl. auch ASF, Pratica Segreta, 7 ins. 28. 127 Vgl. die Widmung an Cosimo II. in der Ausgabe von 1613.
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Bemühungen gewesen zu sein. Weniger bedeutsam als in der Vergangenheit, obwohl immer noch präsent, sind die additiones und die wesentlichen Korrekturen, die bei der Erneuerung des jus proprium im Mittelpunkt gestanden hatten. Bei den durchgeführten Operationen herrschen zwei Arten vor: Zahlreich sind die Streichungen, umfangreich, wie schon allgemein erwähnt wurde, die Neuformulierungen und die Neuordnung. Man bemüht sich um eine neue Struktur, eine geschlossene Form und eine angemessene Sprache. Es gibt also bei dieser offensichtlichen Neubelebung einen Wandel in der Orientierung und in den Interessen, der erklärt werden muß. Sicherlich muß das Gewicht der im weitesten Sinne kulturellen Faktoren berücksichtigt werden, die vielleicht auch mit dem Aufkommen neuer sozialer Gestalten, mit dem Heranwachsen einer neuen Schicht von Juristen in der Toskana zusammenhängen. Nicht unbedeutend ist die Tatsache, daß diejenigen, die die Widmungen in den Pistoieser Ausgaben von 1546 und 1579 verfassen, nicht die städtischen statutari sind, obgleich sie formal auch an der Arbeit beteiligt werden, sondern die Kanzler, die Finanzverwalter [provveditori deI fiscol, die Rechtsgelehrten, die stolz ihre persönliche Rolle in dem Unternehmen geltend machen 128 . Man muß sich allerdings insbesondere den politischen Zusammenhang und die Funktion, die den lokalen Statuten innerhalb der neuen fürstlichen Ordnung zugewiesen wurde, vergegenwärtigen. Auf den politischen Zusammenhang muß man übrigens auch zurückkommen, um die von den Rechtsgelehrten und Kanzlern gewonnene, praktische und kulturelle Überlegenheit erklären zu können. 6. Auch auf der Ebene der Jurisdiktion und der Praxis der Rechtspflege sowie auf der Ebene der Verwaltung strebte Cosimo I. die Bildung eines Machtsystems an, daß stabil und in der Lage dazu sein sollte, sich im Territorium zu verwurzeln. Dies erreichte er im wesentlichen durch Bemühungen in zwei Richtungen. Er erließ in umfangreichem Maße Gesetze, insbesondere auf dem Gebiet der hohen Strafgerichtsbarkeit, indem er bewußt nach der juristischen Vereinheitlichung des Herrschaftsgebietes strebte l29 . Mochte es sich um das "crimen lesae Majestatis,,130, um Mord, Vergewaltigung oder auch um Verbrechen gegen die Moral wie die Sodomie, Blasphemie oder das Glücksspiel handeln, die Gesetze Cosimos waren allgemein und überall gültig. Sie mußten 128 ImJahre 1546 stammt die Widmung an Cosimo I. vom Kanzler Giovanni Forteguerri (vgl. Anm. 120); 1579 sind die Widmungen an Francesco I. von Francesco Franchini aus San Miniato, "procuratore dei Fisco in Pistoia" und von Vincenzo Amato, Rechtsgelehrter in Pistoia, der von den Acht Reformatoren mit der Revision beauftragt war. 1613 und 1647 stammen die Widmungen an Cosimo II. und Ferdinando II. von den Acht Reformatoren und vom Finanzbeauftragten C"procuratore fiscale"). 129 Vgl. Legislazione toscana raccolta ed ilIustrata, hrsg. von L. Cantini, Bde. 1-7, Firenze 1802-1808. 130 Über dessen zentrale Rolle im modernen Strafrecht vgl. M. Sbriccoli, Crimen Laesae Majestatis. Il problema dei reato politico alle soglie della scienza penalistica moderna, Milano 1974.
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von allen Magistraten und Statthaltern, "in tutte le citta, Terre, Castella et luoghi del Dominio" [in allen Städten, Gebieten, Burgen und Orten des Herrschaftsgebietes] angewandt werden, so hieß es in doppelter Ausführung, "comprendendo ancora la Citta, Contado et Montagna di Pistoia et qualunque altra citta terra et luogo dei quale fosse necessario farsi speciale et espressa mentione" [die Stadt, den contado und die Berge von Pistoia, sowie jede andere Stadt, jedes andere Gebiet und Ortschaft miteinbeziehend, die man extra und ausdrücklich nennen müßte]. Zwar nicht organisch zusammengefaßt, auch nicht in der anderswo üblichen Form der Sammlung von Bekanntmachungen l31 , wurden sie mittels des Netzes der Statthalter und der Kanzler verbreitet. Sie nährten deren Archive 132 und stellten in der hohen Strafgerichtsbarkeit die vorrangige Rechtsquelle für deren Gerichte dar. Diese waren nun sowieso den alten städtischen Gerichten von Florenz (in erster Linie den Otto di Guardia e BaliaY33 untergeordnet, deren Jurisdiktion - die nun in breitem Maße den Sekretären und Kanzlern anvertraut war, welche innerhalb dieses Rahmens wirkten - durch Cosimo auf das gesamte Herrschaftsgebiet ausgedehnt wurde. Sie waren außerdem der Kontrolle durch die der Justizverwaltung vorstehenden auditori, und dabei in erster Linie dem auditare jiscale, unterworfen. Die zweite Richtung, in der sich Cosimo betätigte, hatte dann tatsächlich - auf gerichtlicher ebenso wie auf administrativer Ebene - die institutionelle Zentralisierung und die Stärkung der Mechanismen der Kontrolle zum Ziel. Um das zu erreichen, griff er in breitem Maße auf "uomini novi" [neue Männerl zurück, die oft mit einem speziellen juristischen Wissen ausgerüstet waren: Männer, die ähnliche Kunktionen ausübten und ein ähnliches kulturelles Profil besaßen, wie jene, die in Pistoia im 16. Jahrhundert für die Statutenrevisionen sorgten 134. Weit von einem Anwachsen entfernt, verengt sich in diesem Bild der Raum, der den lokalen Statuten vorbehalten ist. Ihnen entgehen inzwischen wesentliche Bereiche, die von der fürstlichen Gesetzgebung gedeckt werden, und dies erklärt die häufigen diminutiones in den Redaktionen des späten 16. Jahrhunderts. Aus den Statuten von Arezzo vom Jahre 1580 verschwindet die Rubrik, die sich auf die Blasphemie bezog: "quoniam sancte sancitum est" - so heißt es in der 131 Zu den Sammlungen der Gesetze und Bekanntmachungen in der Toskana, alle späteren Datums mit der Ausnahme der "Bandi ordini e provisioni appartenenti al governo della citta e Stato di Siena 1584", vgl. P. Turini, La legislazione granducale nelle raccolte a stampa, in: Leggi, magistrature, archivi. Repertorio di fonti normative ed archivistiche per la storia della giustizia criminale a Siena nel Settecento, hrsg. von S. Adorni Fineschi / c. Zarrilli, Milano 1990, S. 241-356. 132 Wo sie allerdings in ganz unterschiedlichem Maße und nach unterschiedlichen Ordnungsprinzipien aufbewahrt wurden, wie aus den Informationen hervorgeht, die per Mandat von Pompeo Neri im]ahre 1745 über die Archive der Gerichte und der Gemeinden gesammelt wurden: ASF, Regia Consuita, 457-464, passim. 133 Zu den Otto di Guardia e Balia im 16.]ahrhundert vgl. die These von j. K. Brackett, The Otto di Guardia e Balia: Crime and its Control in Florence, 1537-1609, Ann Arbor Mich. University, Microfilms Inter. Copyright, 1987. 134 Dazu verweise ich außer auf A. Anzilotti, La costituzione, und F. Diaz, Il granducato, auf meinen Aufsatz: Considerazioni sulla giustizia.
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Randbemerkung einer vorbereitenden Schrift - "de poena blasphemantis Deum et Sanctos Serenissimorum constitutione, eam decet in futurum omnino servari"135. Ebenso verschwindet die Rubrik "De sodomitis": "contra tales et poena talium procedatur et sit prout Serenissimomm in lege" - so wird angemerkt. Nicht geringeren Verstümmelungen unterliegen die Pistoieser Statuten von 1579: Außer der Rubrik über die Blasphemie entfällt auch die umfassende Gesetzgebung über die Verbannten, die in jenen von 1546 noch vorhanden gewesen war. Auf der anderen Seite wird die Kontrolle über die lokalen Statutenabfassungen von den zentralen Regierungsorganen äußerst sorgfältig ausgeübt. Unter Cosi mo ändern sich die Instrumente der adprobatio. Seit den ersten Jahren des Prinzipats erscheinen die traditionellen Figuren der vier städtischen statutari für die Aufgabe irgendwie ungeeignet. Beschränkt man sich anfangs noch darauf, die Regeln der Bestellung zu diesem Amt zu ändern oder ihnen einige Vertreter der Otto di Pratica, einem der Magistrate, die mit der Aufsicht über das Herrschaftsgebiet beauftragt waren, beizugesellen, so werden doch im Jahre 1557 ihre Funktionen schließlich der Pratica Segreta übergeben. Es handelt sich hierbei um eine wichtige Änderung, die die Tendenzen des neuen Regimes gut zu erhellen vermag. Hier, so schreibt der Sekretär Francesco Vinta dem Herzog, werden nicht mehr pfuschende Bürger am Werk sein, "chi per un conto et chi per un altro et tutti per esser non tanto diligenti neHe cose pubbliche quanto bisognerebbe" [der eine aus dem einen Grunde, der nächste aus dem anderen, und alle, weil sie es nicht so genau nehmen mit den öffentlichen Angelegenheiten, wie sie eigentlich sollten], sondern getreue auditori, Sekretäre und consiglieri. Nichts wird mehr bestätigt, ohne vorher alles Notwendige in Betracht zu ziehen, "et non si chiudera se prima V.E.I. non haverii dei tutto particular notitia et vi porra la mano" [und es wird nichts abgeschlossen, ehe Eure Majestät nicht von allem genaue Nachricht erhalten hat und persönlich eingreift]136. Gemeinsam mit dem Instrument ändern sich zum Teil die Funktionen. Von der Pratica haben wir informative Berichte über kontroverse Punkte an den Fürsten, die mitunter Gegenstand langer und genauer Untersuchungen und wiederholter Diskussionen waren, in denen sich Argumente des Rechtes mit denen ASA, Statuti e riforme, 30, Rohfassung, 1. III Rubrik 23. Brief von Francesco Vinta an den Herzog, ohne Datum, jedoch dem Faszikel vom Juni 1557 beigefügt. Vinta, der auf das Problem der Abschaffung traditionell den Bürgern der Stadt vorbehaltener Stellen, die auch eine Bezahlung (3 Unzen Pfeffer für jeden) mit sich brachten, empfindlich reagierte, schlägt vor, daß der Pratica Segreta nur die Approbation der neuen Statuten anvertraut werden solle. Das Reskript von Cosimo tendiert aber dazu, das Konzept des neuen Statuts und also die Jurisdiktion seines Ratskollegiums zu erweitern: "Ci piace che li nuovi statuti vadin alla Pratica, ma si tenghin ancor nuovi quelli che sott'un statuto sia aggiunto parola che l'alterino, per cui vien a esser nuovo ... " [wir möchten, daß die neuen Statuten zur Pratica übergehen, aber es werden auch als neue Statuten erachtet, wenn in einem Statut ein Wort hinzugefügt oder abgeändert wird, weshalb es ein neues ergibt ... 1: ASF, Pratica Segreta, 4, ins. 25. Der Brief ist zum Teil wiedergegeben von A. Anzilotti, La costituzione, S. 181-182. Andere Magistrate konnten im Verlauf der Revision konsultiert werden, insbesondere die Neun Konservatoren, zu denen vgl. ASF, R. Consulta, 454, cc. 521 und 558-60. 135
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der Politik verflochten. Sehr lang dauerte zum Beispiel die Geschichte der Statuten von San Miniato, in deren Revision in einem Hin und Her von Dokumenten und von ungestümer Kontroverse einige Jahrzehnte lang die Pratica, die auditorijiscali, der Herzog, die Gemeinde und ihr Doktorenkollegium vetwickelt waren 137 • Die adprobatio scheint also häufig das abschließende Moment in einem Prozeß zu sein, in dem die Mitarbeiter Cosimos - aufgrund ihrer spezifischen Ausbildung und der Stabilität ihrer Rolle besser dafür qualifiziert, als es die alten städtischen statutari gewesen wären - sich nicht darauf beschränken zu kontrollieren, sondern gegebenenfalls vermitteln, raten und anregen. In diesen Rahmen, der durch die Entwicklung einer Gesetzgebung regionalen Umfanges und durch die geglückte Stärkung der Machtinstrumente des Fürsten gekennzeichnet ist, muß auch die Wiederaufnahme der statutarischen Gesetzgebung unter Cosimo I. eingeordnet werden - eine Wiederaufnahme, die von ihm gewollt und geführt wird. ImJahre 1546 erlegt Cosimo allen unterworfenen Gemeinden, die dem noch nicht nachgekommen waren - und zwar auch denen, die "rasi et illeggibili" [veraltete und unlesbarel Statuten hatten -, die Pflicht auf, Kopien von ihren Statuten zu machen und diese an das "Ufficio delle Riformagioni" zu senden, um sie "riscontrare et emendare" [nachprüfen und verbessernl zu lassen und ihre periodische Approbation zu erbitten 138 . Obgleich es sich um eine alte, wenn auch offensichtlich unetwartete Pflicht handelte, war die Verordnung doch bezeichnend. Jenseits von einer mitenthaltenen "ratio bursalis" (die Anerkennung brachte auch die Bezahlung einer Steuer mit sich)139 zielte sie darauf ab, den ordnungsgemäßen Fluß der lokalen Statuten in das große zentrale Archiv zu sichern, von dem wir ausgegangen sind: in das "Archivio delle Riformagioni", das gerade in jenen Jahren, wie man gesehen hat, etweitert und neu geordnet wurde. Die Statuten in Florenz zu sammeln und aufzubewahren, war für Cosimo nicht so sehr zu ideellen als vielmehr zu praktischen Zwecken wichtig. Es kam nämlich vor, daß diese Texte in den Gemeinden durch verschiedene Zufälle "e spesso per tenere poca cura delle cose loro" [und oft, weil man auf die eigenen Angelegenheiten wenig acht gabl verloren gingen. In den Augen des Herzogs waren sie aber wesentliche Voraussetzung für eine gute Justizvetwaltung - so sehr, daß er unmittelbar danach die Rechtsgelehrten dazu aufforderte, sich in der Ausübung ihrer Funktionen gewissenhaft an sie zu halten, "per togliere a' delinquenti la speranza che tengono, la quale in sino a hoggi non e venuta loro in akun modo frustrata, di doverne conseguire quakhe remissione da' Rettori che li hanno a giudicare" [um den Verbrechern die Hoffnung, die sie hegen und die ihnen bis heute in keiner Weise genommen worden ist, zu nehmen, von den Richtern, die sie zu verurteilen haben, auf eine Rücknahme der Strafe zu schließenl. Es ist schwer 137 Vgl. den Bericht von F. Vinta an den Herzog, 4. November 1564, ASF, Pratica Segreta, 7, ins. 28. 138 Verordnung vom 20. Juli 1546, in: Legislazione toscana, I, S. 313. Vgl. E. Fasano Guarini, Gli statuti, S. 158 und 162. 139 L. Mannori, L'amministrazione, S. 11-14.
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zu beurteilen, inwieweit die Verfügung von 1546 befolgt wurde. Aber der auditore fiscale Jacopo Polverini schrieb eine Aufforderung an alle rettori der dieser Aufforderung nicht nachkommenden Gemeinden: "essendo non solo utile ma necessario che i subditi nel dominio di S.E. vivino co' loro statuti approvati secondo gli ordini" [da es nicht nur nützlich sondern notwendig ist, daß die Untertanen der Herrschaft von Ihrer Exzellenz mit ihren gemäß den Befehlen bestätigten Statuten lebenP40. Für Cosimo, der - wie viele zeitgenössische Fürsten 141 - den Problemen der Justiz eine große politische Bedeutung zuschrieb, ergänzte die Erhaltung der lokalen Statuten also in gewissem Sinne die Verkündung umfassender und harter Strafgesetze. Die einen wie die anderen trugen dazu bei, der Justiz ihre sicheren Grundlagen zu geben, indem sie sie der Nachsicht und dem Ermessen der Richter entzogen, welche der Herzog fürchtete, wie die Präambeln derselben Gesetze zeigen. Deshalb mußten die Statuten, wenn sie "abgerieben" und unleserlich waren, kopiert werden, mit allem Nachdruck und mit aller Strenge, zu denen die herzoglichen Organe fähig waren, nachgeprüft, bestätigt und mit Hilfe der Juristen und Kanzler geordnet und klarer formuliert werden, um ihre Anwendung leicht und sicher zu machen. In einigen Zentren (Arezzo, Pistoia) fuhr man auch unter den Nachfolgern Cosimos mit diesem Versuch fort, und zwar nicht auf lokale Initiative hin, sondern "concessu quinetiam jussu principis"142. Weit mehr als eine Wiederaufnahme der lokalen Autonomie deutet also die erhöhte Produktion des 16. Jahrhunderts auf eine Integration der Statuten der Städte - und in einem weiteren Sinne der Gemeinden - in das geregelte Legislationssystem der Medici. Dies ist ein Aspekt jenes umfassenderen Prozesses der politischen Integration, wenn man so sagen kann, den wir auch durch die Geschichte der Reformen in den Ämtern zu verfolgen versucht haben. Natürlich waren die Statuten des 16. Jahrhunderts etwas ganz anderes als die, welche der Unterwerfung unter Florenz vorausgegangen waren. Sie waren das Ergebnis einer langen Geschichte von Abänderungen, Hinzufügungen, Korrekturen und Streichungen, an denen, zusammen mit den unterworfenen Gemeinden, die zentrale Regierung zunächst der Republik, dann des Prinzipats beteiligt waren. Die Herrschaft von Cosimo I., die in' dieser Integration eine ihrer Grundlagen hatte, stellte, wenn sie auch in vieler Hinsicht innovativ war, für andere doch die Verwirklichung einer Vorstellung der regionalen Regierung dar, die seit langer Zeit in der Geschichte von Florenz vorhanden und nun zur Reife gelangt war. 140 ASF, Registro di lettere per l'approvazione degli statuti de l'anno 1546, Auditore delle Riformagioni, 303. Zu der Tätigkeit des auditorein späterenjahren vgl.: Libro primo dell'approvazione degli Statuti dal1581 al 1610, ebd., 298. 141 G. Cozzi, La giustizia e la politica agli albori dell'etä moderna, in: Repubblica di Venezia e stati italiani, S. 3-80. Zu den Reformen im Strafrechtsbereich in den europäischen Staaten zu Beginn des 16. Jahrhunderts vgl. j. H. Langbein, Prosecuting Crime in the Renaissance England Germany France, Harvard 1971. 142 Wie im Titel der zitierten "Leges municipales" von 1579.
Gesetzgebung und Verwaltungshoheit
in ausgewählten mittel- und ostdeutschen Städten
während des Mittelalters Von Friedrich Ebel
I. Vorbemerkung! Gesetzgebung und Verfassungshoheit - zwei moderne Begriffe, bei denen sich die heutige Geschichtswissenschaft (also auch und gerade die Rechtsgeschichte) im Klaren darüber ist, daß das Problem der hermeneutischen Diskontinuität hier eine besondere Rolle spielt. Es hat sich seit langem schon ergeben, daß die heutige Begrifflichkeit potentiell geeignet ist, den Zugang zu den historischen Erscheinungen zu erschweren, weil wir heute anderes mit diesen Begriffen bezeichnen, als es die Vergangenheit selbst getan hat, und wiederum wir möglicherweise etwas meinen, was so nicht in der Vergangenheit vorhanden gewesen ist. Nun ist dieses Problem bekannt, und um nicht durch methodologische Vorüberlegungen zu viel Raum zu verlieren, reiche es aus, hier darauf hinzuweisen, daß auch der Referent sich dieses hermeneutischen Vorbehalts bewußt ist. Außerdem käme wohl auch nicht allzu viel bei der Diskussion dieser bekannten Frage heraus. ß. Gesetzgebung
1. Allgemeines Unter Vorbehalt dieser Begriffsbildung sind Gesetzgebung und Verwaltung bzw. Verwaltungshoheit die Konstituentien, mittels derer sich die mittelalterliche Stadt zu einem gewissermaßen idealen Mikrokosmos moderner Staatlichkeit entwickelt. Es ist verdienstvoll erarbeitetes Ergebnis moderner rechtshistorischer Forschung, gerade im Bereich der städtischen Gesetzgebung das vertragliche Element - die Willkür oder Einung - als zentralen Aufhänger obrigkeitlichen Gestaltens erkannt zu haben. Wir wollen jedoch bei diesem Idealtypus, dessen Entdeckung wie gesagt eine großartige Leistung war, nicht stehen bleiben. Es Geringfügig erweiterte und um einige Nachweise ergänzte Fassung des am 12.9.1989 in Trient gehaltenen Vortrags. Die Vortragsform wurde beibehalten.
Friedrich Ebel
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interessiert die Entwicklung in der zeitlichen Längsachse: Wirkung und Gründe. Es ist dabei zu beachten, daß diese vertragliche Gestaltung, die Willkür, jedenfalls in ihren Frühformen fast durchweg nicht als solche auftritt, sondern im Gewande einer anderen Rechtsquellenart, nämlich dem Typus des Privilegs entsprechend, erscheint. Dies ist vor allem für die Gründungsstädte des deutschen Ostens und Nordens klar erkennbar. Musterbeispiel hierfür ist gerade Breslau.
2. Die Fragestellung Für die Frage der Gesetzgebung reduziere ich zunächst die Fragestellung auf das: "Wer ?" - die Frage nach der Kompetenz; "Wie?" - die Art und Weise der Rechtssetzung in der mittelalterlichen Stadt; "Worüber?" - die Gegenstände dieser Rechtssetzung. Quis - quod - quomodo.
3. Der historische Befund Nur zur Erinnerung die historischen Fakten: Breslau selbst ist als Siedlungskontinuum schon in vorslawischer Zeit bezeugt. Im Jahre 1000 erfolgt die erste Nennung durch Thietmar von Merseburg als Bischofssitz; möglicherweise ist die Burg eine Gründung des Böhmenherzogs Wratislaw (gestorben 921). Unmittelbar nach dem Mongolensturm von 1241 ist die Stadt als deutsche Stadt zu Magdeburger Recht gegründet worden 2; vielleicht ist im sogenannten MadgeburgGoldberger Recht ein Textzeuge erhalten 3 . Die erste Bewidmung mit Magdeburger Recht aus dem Jahre 1261 erfolgt durch Privileg 4 . Die bekannte Rechtsmitteilung selbst5 schließt dann im ersten Teil, der aus Magdeburg stammt, in § 65 konsequent mit dem Besiegelungsvermerk, daß die Magdeburger Schöffen dieses Recht "deme edelen vursten, herzogen Heinriche, vnde sinen burgeren" gegeben haben. Erst die Rechtsweisung von 1295 erfolgt dann ohne Mitwirkung des Herzogs. Ähnlich sind die meisten Zeugnisse städtischer
Hierzu vor allem T. Goerlitz, Verfassung, Verwaltung und Recht der Stadt Breslau, Würzburg 1962, S. 15 ff. P. Laband, Magdeburger Rechtsquellen, Königsberg 1869, S. 4 ff.; vgl. dazu F. Ebel, Lübisches Recht in Schlesien, in: Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau, XXVII (1986), S. 279-286, insbesondere S. 285; ders., Magdeburger Recht 1I11 (Mitteldeutsche Forschungen 89), Köln 1989, S. 3. Urkunde vom 16.12.1261 bei H. GengIer, Codex Juris Municipalis Germaniae!, Erlangen 1863, S. 353; Schlesisches Urkundenbuch (SUB), hrsg. von der Historischen Kommission für Schlesien, Bd. I1I, bearbeitet von W. !rgang, Köln I Wien 1984, Nr. 374, S. 242 f. SUB, I1I, Nr. 381, S. 248 ff.; F. Ebel, Magdeburger Recht 1I11, Nr. 1.
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Autonomie zunächst als Privilegien überliefert, wovon ich als bekannteste nur diejenigen des We1fenherzogs Ottos des Kindes anführe 6 .
4. Das Privileg Privilegien haben bekanntlich zwei Ebenen rechtlicher Geltung: die Berechtigung des Privilegierten gegenüber dem Privilegerteiler als subjektives Recht und die Respektierung der Allgemeinheit, die sich insoweit als negative Drittwirkung bezeichnen läße. Liefert der zweite Aspekt die Möglichkeit, das entstehende Stadtrecht gegenüber der Außenrechtslandschaft, dem Landrecht vor allem, abzugrenzen, so verdient für die Herausbildung der innerstädtischen Autonomie 8 der erste Aspekt Beachtung. Die Zubilligung nämlich eines subjektiven Rechts, dem die Respektierungspflicht des Privilegerteilers entspricht, eröffnet den Raum, innerhalb dessen sich die Stadtgemeinde im Wege der Verwillkürung Rechtssätze schaffen kann, deren personelle Reichweite durch den Beitritt zur Schwurgenossenschaft der Bürger eröffnet wird.
5. Das Willkürrecht 9 Gerade für Breslau wird dies schon in der Bewidmungsurkunde von 1261 (nicht zu verwechseln mit der Rechtsmitteilung durch die Magdeburger Schöffen aus dem selben Jahr) bestätigt: Die Ratmannen sollten, so war es in unmittelbarem Anschluß an die eigentliche Bewidmung mit magdeburgischem Recht privilegiert, über das Magdeburger Recht hinaus alles, was im Interesse der Stadt (ad civitatis honorem) erforderlich sei, anordnen und festlegen Cinstruere et jundare)lO. Dies bedeutet die Anerkennung des Willkürrechts durch den Herzog und die Zuweisung dieser Gesetzgebungsbefugnis - so darf ich dies einmal modern nennen - an den Rat der Stadt. Das Grundgesetz der städtischen Willkürengebung durch die Stadt sieht dann § 3 der eigentlichen Rechtsweisung vor, was der Sache nach Inhalt aller Stadtrechte magdeburgischen Charakters in Mittelalter und früher Neuzeit geworden ist: "Die ratman legen ir burding vz, swenne so sie wollen, mit der wisesten lute rate. Swaz sie danne zu deme burdinge geloben, daz sal man halden. Swelich man daz brichet, daz sulen die ratman vorderen"l1. Hierzu B. Dieste/kamp, Die Städteprivilegien Herzog Ottos des Kindes, ersten Herzogs von Braunschweig-Lüneburg (1204-1252), Hildesheim 1961. Statt aller vgl. F. Ebel, Artikel "Privileg", in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, I, Sp. 1020. Dazu E. Engel, Zur Autonomie brandenburgischer Hansestädte im Mittelalter, in: Autonomie, Wirtschaft und Kultur der Hansestädte (Hansische Studien, Bd. VI), Weimar 1984, S. 45-75. Hierzu bis heute grundlegend W. Ebel, Die Willkür, Göttingen 1953, passim; neuerdings P. Spieß, Rüge und Einung dargestellt anhand süddeutscher Stadtrechtsquellen aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit, Speyer 1988. 10 SUB, III, Nr. 372, S. 241, Z. 36 f. 11 Bei F. Ebel, Magdeburger Recht, lIll, Nr. 1, § 3 SUB, III, Nr. 381, § 3.
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Der verdienstvolle Rechtshistoriker Schlesiens, zumal Breslaus - Theodor Goerlitz - hat die Entwicklung anschaulich an Hand der heute wieder (wenn auch mühsam) erreichbaren Quellen geschildert. Der Beginn städtischer Gesetzgebung ereignete sich im 13. Jahrhundert folgendermaßen, wobei wir uns auf die 1287 begonnenen Breslauer Ratskataloge sowie Willküren seit 1321 stützen können: Maßgeblich sind die sogenannten Geburdingsordnungen. Die Ratmannen legten nach ihrem Willen das Burding, d.i. die Versammlung aller Bürger, mit Rat der Ältesten aus, wobei sie sich die Zustimmung der Ältesten (der Begriff wird noch Jahrhunderte später offiziell von den Magdeburgern erklärt) nicht nur zur Anberaumung des Burdings, der Gesamtversammlung der Bürgerschaft, sondern auch zum Inhalt der Willküren vergewisserten. Ort war das Rathaus. Jeder, auch der gemeine Mann (communis homo), hatte sich hierbei unter Strafandrohung einzufinden. Bei besonderer Vorladung konnte sich diese Strafe erhöhen. Die Willküren wurden verkündet und' von sämtlichen Bürgern insgesamt akzeptiert. Dies ist die eidliche Verwillkürung, über die Wilhelm Ebel Grundlegendes und Maßgebliches geschrieben hat. Letztlich ist hierbei natürlich der hoheitliche Aspekt schon nicht mehr zu verkennen. Die Zustimmung wurde durch den Eintritt in den Schwurverband der Bürger schon antizipiert erzwungen. Letztlich war sie schon ausgangs des 13. Jahrhunderts wohl nur noch formale Vorstellung. Dies ergibt sich vor allem daraus, daß die Willkürsachen von den Rechtssachen streng getrennt worden sind und vom Rat, nicht vom Stadtgericht, zu entscheiden waren. Die oft behandelte Frage, wieso die Magdeburger Schöffen über Willküren kein Recht sprachen - anders der Lübecker Rat, dessen eigene Willküren stets auch zum Inhalt des gemeinlübischen Rechts wurden -, hat wohl auch eine politische Komponente: Was, wer und wie im städtischen Willkürbereich mitmischte, konnte in der Mutterstadt an der EIbe nicht beurteilt werden. Und auf dies "quis, quod, quomodo" war die adäquate Antwort: "Nescio". Da anders als in Magdeburg das Breslauer Schöffengericht schon sehr früh gänzlich in den Machtbereich des Rates geraten ist, mag dies besonders aufschlußreich sein.
6. Die Organe der Stadtherrschaft Seit Ende des ersten Drittels des 14. Jahrhunderts verschwindet das Burding; die letzte überlieferte Sitzung datiert aus dem Jahre 1324 12 . Seit 1331 werden die Willküren auf andere Art erlassen. Nunmehr sind es nur noch die Ratmannen, die auf Rat der Ältesten und der Geschworenen (de consilio seniorum et iuratorum) beschließen und verkünden. Bei den Geschworenen handelt es sich um die Vorsteher der Handwerkerinnungen. Diese sind im Rahmen der wie überall in Deutschland stattfindenden Unruhen um die Beteiligung der
12
Vgl. zu allem T. Goerlitz, Verfassung, Verwaltung und Recht, S. 20 ff.
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Handwerker an der Ratsgewalt partiell, doch nur geringfügig, am Stadtregiment beteiligt. Rein politische Veränderungen ergeben sich durchaus aus dieser Beteiligung anderer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Gruppierungen innerhalb der Stadt. Dies Verfassungsproblem sei jedoch hier nicht im Detail verfolgt. Wir können hier in den einzelnen Städten unterschiedliche Erfolge der Zunftkämpfe des 14. und 15. Jahrhunderts erkennen, doch hat das für das Verhältnis der Stadt nach außen wenig Bedeutung. Für Breslau sei erwähnt, daß die Schöffen, die eigentlich ihrer Rolle als Gericht gemäß neben bzw. außerhalb des Rates fungieren, im Lauf der Zeit ein immer größeres Mitwirkungsrecht im Rahmen des Rates erhalten. Offenbar von 1369 an zählen sie zum vollen Rat. Andererseits haben die Ratmannen wohl stets dann von der Zuziehung der Geschworenen, d.h. der Handwerkerinnungen abgesehen, wenn Will küren Handwerksinteressen nicht betrafen. Die Handelsinteressen wurden stets ausschließlich von den Patriziern auch durch Willkürgebung gewahrt, was den immer fortdauernden Unterschied der verschiedenen, sich auch familiär nur bedingt mischenden Gesellschaftsschichten unterstreicht. Es ist allerdings zu beachten, daß in Breslau wie überhaupt im Osten Deutschlands die Patrizierschaft in viel höherem Maße fluktuierte, als dies in den festgefügten Städten West- und Süddeutschlands der Fall war. Vor allem auch der Wechsel von Bürgergeschlechtern in den Landadel ist häufiger als im Altreich. Erst im Rahmen der Hussitenkriege, als sich gewisse Auflösungstendenzen Anfang des 15. Jahrhunderts auch innerhalb der Stadtverfassung auswirken, kommt es zu stärkerer Beteiligung auch der kleineren Leute. Noch eine kurze Bemerkung zu den sogenannten Ältesten: Als Repräsentationsorgan der Patrizier erscheinen sie deutlicher nur im Hochmittelalter; seit Mitte des 14. Jahrhunderts verschwindet ihre Bedeutung, bis sie schließlich gar nicht mehr erscheinen. Dies wird dadurch aufgewogen, daß die Durchsetzung von Kooptation und ständiger Wiederwahl der Ratmannen eine Konzentration der Stadtregierung in den Händen weniger Familien erzeugt bzw. bestätigt, denen die Gesetzgebung innerhalb der Stadt obliegt, unterstützt durch die immer professionelleren Kanzleien mit ihren Unterabteilungen. Dies erledigt sich erst mit der Machtübernahme durch den frühneuzeitlichen, eher absolut wirkenden Landesherrn. ill. Das Verhältnis zum Landesheren13
Zeitpunkt hierfür ist das Ende des Dreißigjährigen Krieges. In den Jahren ab 1635 endet die städtische Autonomie faktisch, so daß die Übernahme preu13 Vgl. dazu E. Engel, Berlin, Lübeck, Köln - ständische Aktivitäten der Städte, in: Der Ost- und Nordseeraum (Hansische Studien, Bd. VII), Weimar 1986, S. 159-179, insbesondereS.173ff.
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ßischer VeIWaltungsformen ab 1741 im Grunde nichts zerstört, sondern weiterformen kann. Echte Umbrüche in eine neue Zeit gibt es dann erst ab 1807. Gerade dies ist der Weg, den Bereich städtischer Autonomie gegenüber dem Stadtherrn auszuweiten. Vor allem das Magdeburger Recht schreitet hier auf dem Wege so voran, daß es den Rat als SelbstveIWaltungsorgan ausbaut und neben die Schöffen setzt. Dabei gewinnt der Rat Zug um Zug das größere Gewicht gegenüber den Schöffen, die als ursprünglich stadtherrliches Gericht stärker dessen Einflüssen ausgesetzt sind. Das geht in Breslau so weit, daß rechtspolizeiliche Akte, die wir heute der freiwilligen Gerichtsbarkeit zurechnen würden, nicht nur im Gericht (d.h. im Schöffengericht), sondern auch vor dem sitzenden Rat wirksam vollzogen werden können, wie der Rat machtvollkommen durch Willkür festsetze 4 • Die bisher einhellige Meinung nimmt an, daß es einer Bestätigung durch den Landesherren für die Willküren oder Statuten nicht bedurft habe. In der Tat ist in älteren Statuten von einer Mitwirkung des Landesherrn häufig keine Rede. So heißt es 1321: "Anno ... (etc.) habitum est generale iudicium, et de consensu omnium seniorum inter cetera ista fuerunt publicata ... " und man schließt: "Hec ad alia ibi proc1amata fuerunt et ab omnibus vniuersaliter approbata" 15. 1324 heißt es bloß "statutum est a dominis consulibus et omnibus senioribus ciuitatis ... " mit dem Schluß: "Hec ciuitatis constitucio bona et vtilis ab omnibus laudata et approbata seruari debet et per nullum penitus violari" 16. Doch gab es im Lauf des Spätmittelalters hier Entwicklungen. Insbesondere sind derartige Statuten nicht selten in Form von Privilegien überliefert. Vor allem eIWirkt die Stadt selbst in zahlreichen Fällen Rechtsänderungen durch Privilegerteilung seitens des Stadtherren. Ich greife wenige Beispiele heraus: 1327 wird unter VeIWendung des technischen "gracia" eine erbrechtliche Regelung mit einer über die Eidesleistungen der Ratmannen und die Kompetenz des Zaudengerichts verbunden 17 ; 1339 ändert König Johann von Böhmen das der Stadt verliehene magdeburgische Recht in zwei Erbrechtspunkten ab (das Repräsentationsrecht der Enkel und die weibliche Gerade betreffend), wobei er die Form des sollennen Privilegs wählt l8 . 1336 ergeht ein Privileg über einen so typischen Willkürgegenstand wie die Lohnsätze der Müller l9 . Die Beispiele lassen sich unschwer vermehren. Die gewaltige "Summe, der rechte Weg gnant", die ein Breslauer Handelsherr und Schöffe Ende des 15. Jahrhunderts zusammentrug, enthält eine Fülle solcher Privilegien, die inhaltlich Willküren des Rates sind. So erscheint in Parallelüberlieferung eine Willkür über das Dauer14
I; 16 17
Regestweise überliefert (RW 0 76). G. Korn, Breslauer Urkundenbuch, Breslau 1870, Nr. 107. Ebd., Nr. 113. Ebd., Nr. 121.
18 Die Urkunde bei H. Gengier, Codex ]uris Municipalis, S. 367 = SR 30, 8.85, 6319 = G. Korn, Breslauer Urkundenbuch, Nr. 162. 19 Ebd., Nr. 149.
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problem der Gerade einmal als Willkür 20 , einmal als Privileg Karls IV. 21 . Nicht selten heißt es dann schlicht "gracia super wilkore,,22. Also alles im Fluß - abhängig von den jeweiligen politischen Konstellationen. Im Konfliktfall setzt sich der Stärkere durch - die Krisen nach den Zunftunruhen 1418 zeigen dies deutlich! Ist so im Einzelnen häufig, wenn nicht eine eindeutige archivalische Überlieferung den Gang der Dinge erkennen läßt, nicht sicher auszumachen, ob es sich um landesherrliches Privileg oder städtische Willkür handelt, so ist doch deutlich, daß der Landesherr jedenfalls auch spezielle, das Rechtsleben der Stadt intim berührende Verordnungen erläßt. Auch wenn die Reihe der Privilegienbestätigungen in Breslau wie anderwärts Legion ist und man annehmen müßte, daß sich ein Reservatbereich städtischen Rechts herausbildet - so wie das Magdeburger Recht ja nicht nur personell, sondern auch inhaltlich privilegial garantiert ist -, so wird man doch kaum annehmen dürfen, daß alle überlieferten entsprechenden Erlasse der Landesherren stets auf Veranlassung oder auch nur mit Zustimmung des Rates erfolgt seien. Meist wird das natürlich der Fall sein. Die Forschungslage ist hier jedoch noch sehr offen, und endgültige Schlüsse wage ich insoweit nicht zu ziehen. Es muß wohl in weiterem Umfang Material aus den Archiven im Volltext editorisch erschlossen werden.
IV. Urteilsfönnige Rechtssetzung Neben der eigenkompetenten Willkür (die die innerstädtische Natur längst abgestreift hat und obrigkeitliche Verordnung geworden ist) und dem landesherrlichen Privileg erscheint als städtische Gesetzgebungsform noch eine weitere. Ordnungen ergehen nicht selten derart in urteilsförmiger Gestalt, daß etwa der Rat als Schiedsinstanz oder Gericht - die Gegensätze sind fließend - auftritt. Ein Beispiel für viele: 1327 wird in förmlicher Ratsurkunde bekanntgegeben, daß vor dem Rat die Krämer der Stadt erschienen seien, die "claiten uns manchirhande gebrechin, den si hettin an irre cromerie, und botin, daz wir in dor czu beholfin werin uf ein recht,,23. Die ganze folgende Krämerordnung ist so in die Form eines Urteils gekleidet, obgleich am Schluß eine Formel dann noch den Ratmannen ausdrücklich das Recht einräumt "die vorgenantin sachin czu merin unde czu minrin noch dem, das sich di dink schickin in den landin unde in der stat" (ebd., § 11) und den Krämern wird eine Pöndrohung am Schluß verpaßt. Es sei jedenfalls vermerkt, daß sich vor dieser Entwicklung in Breslau wie den meisten Gründungsstädten des Ostens ein Prozeß abspielte, der überhaupt 20 RW 0 80. 21 RW G 16. 22 RW G 16, 23, K 32 u. Ö. 23 G. Korn, Breslauer Urkundenbuch, Nr.
123.
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erst diese teilweise vorhandene "Gesetzgebungskompetenz" ermöglichte. Es ist dies die Ausschaltung des locator, des Gründungsunternehmers. Der namentlich bekannte Unternehmer Heinrich erhielt für die Aussetzung von Breslau die Erbvogtei, die sich auf die hohe und niedere Gerichtsbarkeit erstreckt hat. Aufgabe des Vogtes war es, den Vorsitz im Stadtgericht zu übernehmen, und das Recht bei den Schöffen zu erfragen, ferner die Vollbürgerversammlung zu leiten; er erhält ein Drittel der Einnahmen aus den Gerichtsgefällen. Nach verhältnismäßig kurzer Dauer in den Händen der Lokatorenfamilien wurde die Erbvogtei von Angehörigen des städtischen Patriziats erworben, innerhalb dieser weiterveräußert, um schließlich in die Hand der Stadt zu gelangen, deren Rat durch die Ausschaltung des Erbvogts eine unangenehme Nebengewalt beseitigen konnte 24 •
v.
Lübeck
1. Der Rat
Deutlicher sehen wir hinsichtlich der Willkürkompetenz bei der Reichsstadt Lübeck2 ;. Bereits das Privileg Heinrichs des Löwen von wohl 1163 wie die nachfolgenden Privilegien, namentlich das sogenannte Barbarossaprivileg von 1188 gibt der Stadt (dem Rat) die Freiheit, "omnia civitatis decreta" zu erlassen. Genauer: Diese Freiheit wird vorausgesetzt. Für decreta steht in den niederdeutschen Handschriften kore; dazu ist der Stadt die Kompetenz zur Rechtsbesserung zugewiesen. Damit ist das Willkürungsrecht Lübecks und der lübischen Städte umfassend. Bei den Städten, die nicht wie Lübeck selbst Reichsunmittelbarkeit genossen, gab es freilich Vorbehalte durch den jeweiligen Stadtherrn. Dies ist der Grund, wenn ich später bei der Frage der Verwaltungshoheit mich auf die landsässige (wenngleich hochbedeutende und politisch sehr selbständige) Stadt Breslau reduzieren werde, die in der Spannung zwischen Selbständigkeit und Landesunterworfenheit eine für manche bedeutende Territorialstadt nicht untypische Rolle spielt. Im lübischen Rechtskreis wandern die Will küren im übrigen in die Rechtshandschriften und werden so gemeinlübisches Recht. Es erhielt sich allerdings ein gewisser fester Bestand städtischer Willküren als sogenannte bursprake, die jährlich öffentlich verlesen wurde. Der Gesetzgebungsgewalt unterworfen waren die Bürger, also die Stadt nicht im räumlichen, sondern im personalen Sinn. Da es anders als im Magdeburger Rechtskreis im lübischen Recht keine SchöfVgJ. T Goerlitz, Verfassung, Verwaltung und Recht, S. 29 ff. Zum Folgenden abschließend und ausführlich W. Ebel, Lübisches Recht I, Lübeck 1971, S. 168 ff. 24
25
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fen gab, ergab es sich aus der Sache, daß der Rat zuständig nicht nur für die Rechtsprechung, sondern auch die Rechtssetzung war. Dies findet sich schon im ältesten deutschsprachigen Rechtskodex, wird ständig wiederholt und taucht noch im revidierten Stadtrecht von 1586 auf26 •
2. Beteiligung der Bürger Bürgerliche Beteiligung ist im ganzen Mittelalter und der frühen Neuzeit möglich, aber nicht zwingend. Alle Grade vom bloßen Ratschlag bis zur vollen Zustimmung finden sich in Lübeck wie in anderen Städten des lübischen Rechtskreises. Überaus häufig wird der alte Rat als beteiligt bezeichnet, wohl niemals aber der sitzende Rat allein als willkürend genannt. Großes Gewicht wird die Unterscheidung bei den Formulierungen nicht gehabt haben, und zwar wohl umso weniger, je kleiner die Stadt gewesen ist. Im lübischen Recht bedurften die Willküren der Bekanntmachung, wobei die ursprüngliche ältere Form die der mündlichen Verlesung gewesen ist. Zur Verkündung auf Markt und Straßen kommt die Verlesung von den Kanzeln, die erst im 18. Jahrhundert verschwand, als die Geistlichkeit sie als Kanzelrnißbrauch abzulehnen begann. Es gibt darüber hinaus auch Anschlagbretter, wohl an den Rathäusern.
VI. Verwaltung
Vornehmlich ist zu beachten, daß eine gedankliche Trennung von Verwillkürung (= Gesetzgebung) und Verwaltung umso weniger stattfinden kann, als ihre geistigen Ursprünge an sich verwandt, wenn nicht sogar identisch sind. Die Anfänge der Verwaltungshoheit gründen sich natürlich auf die Anfänge der Verwaltung selbst. Wie bei der Gesetzgebung ist auch hier der erste Ansatz die Rechtsprechung. Das zeigt sich bereits daran, daß das hervorragendste Element städtischer Verwaltung, nämlich das Stadtbuchwesen, beim rechtsprechenden Organ angesiedelt ist. Es ist dies zunächst das Gericht, wobei nach Auftreten des Rates auch dieser frühzeitig einen liber memorialis anlegt. Kleinere Städte des deutschen Ostens sind über ein solches einheitliches Stadtbuch nie hinausgekommen, bis die frühe Neuzeit mit den Verwaltungsorganen des Territorialstaats hier liegende Kompetenzen entzog und eine eigenständige Weiterentwicklung überflüssig machte. Die Entwicklung der Verwaltung ist also zunächst einmal eine solche der Registraturen; jedenfalls ist die Verwaltungsentwicklung hier am besten greifbar. Die Registraturen ihrerseits sind im übrigen mit stärkerer Ausdifferenzierung der Ämter ebenfalls verfeinert worden.
26
Vgl. ebd., S. 173.
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1. Insbesondere Breslau a) Die Grundkonzeption der Ratsverfassung Wie schon angedeutet, beschränke ich mich, vor allem aus Zeitgründen, für den folgenden Komplex auf die landsässigen Städte, also vornehmlich auf mein Exempel Breslau. Die Reichsunmittelbarkeit Lübecks läßt die meisten Probleme nicht entstehen, die die landesherrlicher Gewalt unterstehenden Städte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, nach der Blüte städtischer Autonomie, auf dem Weg in den Territorialstaat des Barock üble Garnitur werden ließen und Grund zum partiellen Desinteresse am Staat gaben. Während in Magdeburg selbst die Schöffen, die sich durch Wahl auf Lebenszeit selbst ergänzten, von dem vorwiegend aus der Kaufmannschaft hervorgegangenen Rat unabhängig blieben, waren in Breslau die Schöffen eine Art Ratmannen zweiter Garnitur. Wie überall in Schlesien wurden die Schöffen gleich den Ratmannen auf ein Jahr von den weichenden Ratmannen gewählt. Ein Aufstand der Zünfte von 1418 veränderte die Ratsverfassung in der Weise, daß 24 Ratmannen eine Art Dauerregiment führten. Diese Herrschaft führte einige Jahre später zur Mißwirtschaft, so daß König Albrecht II. von Habsburg die Stadverfassung mit alljährlicher Wahl wiederherstellte. Gerade dieses Eingreifen des Landesherrn, das keineswegs einmalig ist, zeigt deutlich, daß von einer eigenen Verfassungshoheit jedenfalls nicht die Rede sein kann. Inwieweit sich von der Verfassung die Verwaltung im Mittelalter unterscheidet, ist freilich eine so heikle Frage, daß sie hier zunächst nicht vertieft werden soll. Die einzelnen Schwankungen der Ratswahl und der der Schöffen seien hier nicht nachgezeichnet. Nach einigen Wirren im späten 15. und beginnenden 16. Jahrhundert kehrte die Stadt zur Wahlordnung Karls IV. zurück, bis Breslau 1741 preußisch wurde. Die Ratmannen und Schöffen waren ehrenamtlich tätig, bezogen keine Gehälter, wohl aber Aufwandsgelder, die durchaus beträchtlich waren. Solche waren etwa diejenigen der Ratmannen als Verweser der Landeshauptmannschaft, Siegelgelder, Tätigkeiten als Kellerherren, Mühlherren usw. Daneben genossen die Ratmannen Steuerfreiheit. Natürlich ist auch zu erwähnen, daß der Rat aus einem besonderen Faß im Schweidnitzer Keller des berühmten historischen Rathauses einen besonderen Wein erhielt. Im Laufe des 14. Jahrhundert tritt unter den Mitgliedern des Rates der stets der Patrizierschaft entstammende erste Ratmann hervor. Damit beginnt die Reihe der Bürgermeister, die längere Zeit gleichzeitig Hauptmann des Fürstentums Breslau gewesen sind. Als solcher führte der Bürgermeister die Schlüssel zur königlichen Kasse, verwaltete also die königlichen Einnahmen und Ausgaben im Fürstentum. b) Die Finanzverwaltung Ein besonderer Streitpunkt, der auch auf die terratisierte Hoheitsfrage hinausläuft, ist natürlich die Finanzverwaltung. Hier stehen bereits im 13. Jahrhundert die Interessen des Landesherren und der Stadt einander scharf gegenüber.
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Im 13. Jahrhundert noch gibt es, freilich verhältnismäßig niedrige, Abgaben an den Landesherren (Gründerleihezins), dazu wohl von jeher eine Grundsteuer. Während der Zugriff auf die Steuerpflichtigen im 13. Jahrhundert durch Stadt und Herzöge gleichmäßig erfolgte, ändert sich dies, als im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen von Polen seit 1295 die Herzöge von den Städten direkt Abgaben fordern, dafür aber die Refinanzierung diesen selbst überließen. Dementsprechend wird der Erbgeschoß um die Wende zum 14. Jahrhundert eine städtische Steuer. Dazu kommen gelegentliche Kollekten, die wesentlich auf die hohen Abgaben zurückzuführen sind. Zwei weitere Vorgänge innerhalb der städtischen Finanzverwaltung haben die gleiche Ursache. Die großen Zahlungen veranlassen 1299 einen Stadtschreiber zur jährlichen Aufstellung von Übersichten der Haupteinnahmen und -ausgaben, woraus die jährlichen Rechnungsabschlüsse entstanden. Außerdem wurde zur Aufnahme von Anleihen geschritten, was widerum eine Intensivierung der Verwaltung zur Folge hatte (Schuldbücher etc.). Für die Finanzverwaltung war im Mittelalter und der Frühneuzeit kein Haushaltsplan maßgebend, sondern es wurden die Erfahrungen der Vorjahre beachtet. Breslau wie andere Städte im Ostraum wichen auf steuerlichem Gebiet stark von den Verhältnissen der west- und süddeutschen Städte ab. Den Haupteingang erbrachten Realsteuern und nicht indirekte Steuern wie etwa Bier- und Weinsteuer. Erst das 15. Jahrhundert ändert hier. Neben den Erbgeschoß tritt der Eidgeschoß, der allerdings nicht Gewerbetreibende betraf. Diese hatten nämlich Gewerbesteuer zu bezahlen (exactio de opere), die von jeher eine Gemeindesteuer gewesen ist; Grund war Innungszugehörigkeit und das hierauf beruhende Bürgerrecht. Gelegentliche Reformen durch den Landesherren zeigen, daß die Stadt hier nicht in vollem Umfang selbständig war. Im Zusammenhang mit der Bereinigung von Unruhen stehen Steuerneuordnungen, wie etwa solche durch König Sigismund im Jahre 1420, wobei außer der Schanksteuer auf Bier auch eine solche auf Met erhoben wurde, um die Stadt Breslau zu entschulden. Eine weitere Einkommensquelle war natürlich die Akzise, die als Verbrauchssteuer bei Fremden in der Regel doppelt so hoch bemessen war wie bei Bürgern. In unmittelbarem Zusammenhang mit bestimmten Veränderungen der Verwaltung stehen weitere Steuererhebungen, wobei insbesondere die finanzielle Belastung durch die großen militärischen Ausgaben der Stadt (Stadtsoldaten, Ausbau der Befestigungsanlagen) erwähnt seien. Die durchaus ebenso zu Buche schlagenden Zölle beruhen weitgehend auf Berechtigungen durch die Herzöge. Ursprünglich waren sie direkte Abgaben an den Landesherren, so daß sich noch 1261 bei der Stadtrechtsbewidmung die Herzöge die Zölle als nostra tbeolonea gegenüber der Stadt ausdrücklich vorbehielten. Ähnlich liegen die Dinge beim Niederlagsrecht, wobei Zolltarife wie
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derjenige von 1327 27 für Breslau ein Privileg darstellen. Ähnlich steht es mit städtischen Zöllen, zu deren Erhebung die Landesherren den Breslauer Rat seit Mitte des 14. Jahrhunderts ermächtigen. c) Die Sonderverwaltungen Die Finanzverwaltung ist Zentrum der allgemeinen Verwaltung. Ihr stehen im Mittelalter die Einzelverwaltungen, darunter auch die Wehrverwaltung, gegenüber. Im Gegensatz zur Neuzeit fehlen allerdings große Zuschußverwaltungen, weil Schulwesen, Armenpflege und Krankenfürsorge fast vollständig von der Kirche betrieben werden. Erst die Kirchenreformation erweiterte die Stadtverwaltung um diese Gebiete. Dagegen hatte die Stadt vornehmlich wegen ihrer vielen Monopole weit mehr Überschußverwaltungen als in der Gegenwart. Einem Bauherrn unterstand die Bauverwaltung, die sich auch auf die Befestigungsanlagen erstreckte. Die fachmännische Leitung übte der Baumeister der Stadt aus, der von der Stadt besoldet wurde. Daneben gab es Bauschreiber und andere Ämter (Stadtzimmermeister, Rohrmeister), auch ehrenamtliche Ämter wie etwa die Erbschauer oder Mauerschätzer. Rechtliche Grundlage der Bauverwaltung war eine Bauordnung von 1377, die bis zur Bauordnung von 1574 gegolten hat 28 • Die Bauverwaltung nahm nicht nur nach heutigen Begriffen öffentliches Baurecht wahr, sondern ebenso privates Nachbarrecht, wobei der Rat etwaige Finanzfehlmittel durch Subvention ergänzte, dafür sich einen sogenannten Mauerzins geben ließ. Auch die Polizeiverwaltung lag in den Händen des Rates und wurde vermutlich vom jeweiligen Bürgermeister geleitet. Der Polizeivollzugsdienst war nach Stadtvierteln reviermäßig eingeteilt. Stadtdiener, sogenannte Zurkler, die auch Nachtdienst hatten, Torwächter und andere übten die unmittelbare Verwaltung der Polizei aus. Auf dem Markt übte der Rat die Marktpolizei durch den Hokenvogt aus, der insbesondere Preiskontrolle und Marktbetrug verhüten sollte. Damit verbunden war die Aufsicht des Rates über das Maß- und Gewichtswesen. Daraus entwickelte sich in nicht unbeträchtlichem Maße eine Strafrechtspflege des Rates, was in Verbindung mit der Durchsetzung der Willküren wieder in den Bereich der Gerichtsbarkeit zurückführt. Nach außen ist die Wehrverwaltung zu erwähnen, wobei die Innungen integriertes Moment waren, indem sie Mitglieder oder Gesellen zur Bewachung der Stadttore und auch ins Feld entsenden mußten. Einzelheiten werden durch landesherrliche Verordnung noch Ende des 14. Jahrhunderts geregelt, etwa die Verwahrung der Harnische. Zur Stärkung der Wehrmacht verpflichtete die Stadt jedenfalls seit dem 15. Jahrhundert Fußkämpfer und Reisige. Teilweise sind die Übergänge fließend, wie etwa die Tätigkeit von Büchsenmachern und Pulverherstellern. 27 28
G. Korn, Breslauer Urkundenbuch, Nr. 122. Gedruckt ebd., S. 250, Nr. 30
Gesetzgebung und Verwaltungshoheit in mittel- und ostdeutschen Städten
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Eine weitere Verwaltungstätigkeit des Rates bildet schließlich die Verwesung von Kirchenvermögen, das neben dem Pfarrvermögen bestand. Hier besteht ein gewisser Zusammenhang zur Stellung des Rats als Vormundschaftsbehörde. Schließlich seien nur noch erwähnt eine Fülle von Monopol- und Betriebsverwaltungen, die teilweise aus Herzogsrechten hervorgegangen sind, teilweise auf landesherrlichen Privilegien beruhen, aber auch vertraglich erworbene Rechte der Stadt sein konnten. Einen Sonderkomplex bildet die Landeshauptmannschaft in den Händen des Rates, die allerdings wohl ein weitgehendes historisches Unikum ist und deswegen bei der heute vorzutragenden allgemeineren Geschichte nicht weiter vertieft sei. Sie ist Ergebnis einer speziellen Böhmischen Entwicklung, weil sich nach dem Aussterben des Herzogsgeschlechts 1335 der Böhmische König außerstande sah, die oberste Landesverwaltung des Fürstentums Breslau persönlich wie der bisherige Landesherr auszuüben. Nachdem zunächst einige Adlige des Fürstentums mit der Landeshauptmannschaft betraut wurden, gelang es dem Rat 1357-61 zunächst, die Stellvertretung desselben zu erhalten, bis 1361 die Stadt selbst das Amt erlangen konnte. Nach einigen Zwischenspielen führte König Sigismund 1425 die dauernde Verbindung zwischen der Landeshauptmannschaft, die inzwischen auf Namslau erweitert worden war, und dem Rat der Stadt Breslau endgültig durch. War der Erwerb der Landeshauptmannschaft zwar finanziell nicht durchweg eine günstige Lösung; so war sie für die Machtstellung und künftige Entwicklung der Stadt von hoher Bedeutung. Mit wenigen Unterbrechungen lag die Landeshauptmannschaft bis zum Jahre 1635 in den Händen des Rates.
Statuten, Gesetzgebung und Souveränität: Der Fall Siena' Von Mario Ascheri
Die Statuten einer Gemeinschaft können ihrem spezifischen Gehalt nach untersucht werden, indem man danach trachtet, die einzelnen Institutionen zu beschreiben, und in sich zu bewerten, um dann einen Vergleich mit denen anderer Städte zu ermöglichen. Eine Darlegung in diesem Sinne, die ihre Bedeutung sowie das Charakteristische zu erfassen sucht, ohne die üblichen, normalerweise langatmigen Beschreibungen zu verwenden, wäre sicherlich von Nutzen. Für Siena jedoch halte ich es für dringlicher, eine andere Frage zu stellen: und zwar die Frage nach der kulturellen Funktion der Statuten, nach der Statuten-Politik und den Vorbehalten, mit denen man sich dieser Quelle nähern muß. Zwar in groben Umrissen, aber doch in dem Versuch, das Problem von innen, aus der Sicht der Quellen selbst, zu betrachten, möchten wir also versuchen, vorsichtige Antworten auf Fragen zu finden wie: In welchem Zusammenhang entstanden die Statuten oder wenigstens diejenigen, über die wir sicher Belegbares sagen können? Gibt es die Vorstellung, das Statut einer Kommune sei etwas Allumfassendes, und - falls dies zutrifft - wie verhält es sich zu den Statuten anderer Körperschaften? Wann läßt sich ein intensives Interesse ihnen gegenüber feststellen, und wann stellen sie eher ein Überbleibsel dar? In welcher Beziehung stehen die Statuten zur Gesetzgebung, insbesondere was Mitwirkende im Rechtswesen, aber auch was Privatpersonen angeht, die in die kommunale Rechtsprechung verwickelt sind? Bis zu welchem Punkt ist das Statut persönliche Norm der cives und nicht auch territoriale Richtlinie, und was bedeutet das in einem solchen Falle? Um es zusammenfassend zu formulieren: Was sind die hauptsächlichen Funktionen, die den untersuchten Statuten nach und nach zuerkannt werden? 1. Die spärlichen Spuren bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts
Problematisch ist die Quellenlage; denn das erste Statut der Kommune, das wir kennen, ist jenes berühmte von 1262, das vor fast einem Jahrhundert in Die Untersuchung entstand im Rahmen des Programms der juristisch-politischen Sektion des CNR (Centro Nazionale delle Ricerche) "Per la storia dei diritto e dello Stato nella Repubblica di Siena" [Zur Geschichte von Recht und Staat in der Republik Siena].
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zwei Folgen von Zdekauer herausgegeben und dann durch eine Arbeit von Mondolfo vervollständigt wurde!. Das heißt, wir können ein Sieneser Statut konkret erst in einer Zeit untersuchen, als in Siena und andernorts die Geschichte des Statutenwesens bereits weit fortgeschritten war, ebenso wie die Entwicklung der kommunalen Strukturen. Deshalb ist zum Beispiel, wie man noch sehen wird, das Amt des Podesta im Statut bereits ausgereift, wenn es sich nicht schon, verglichen mit seiner Form zu Beginn des 13. Jahrhunderts, in einer Krise befindet. Trotzdem können wir anhand einiger datierter Kapitel und anderer Abschnitte aus dem Statut der "consoli dei placito" [Gerichts-Konsuln] (das uns in einer Redaktion aus dem Ende des 13. Jahrhunderts überliefert ist), sowie mit Hilfe anderer Urkunden, wie kaiserlicher Privilegien und Abkommen mit Adelsherrschaften des Territoriums 2 oder normativer und administrativer Dokumente, etwas über die davorliegende Zeit sagen. Aus der Zeit um 1180 stammen die ersten sicheren überkommenen Nachrichten von consuetudines, vom usus der civitas, von einer mos der regio; und in einigen Zusammenhängen könnte diese Art von traditionellen Quellen wenigstens pro forma einem nicht näher bestimmten Constitutum gegenüber L. Zdekauer, Il constituto dei Comune di Siena dell'anno 1262, Milano 1897, anast. Druck, Bologna 1974, mit der äußerst reichhaltigen (und leider vom Register nicht erfaßten) "Dissertazione sugli statuti dei Comune di Siena fino alla redazione deli 'anno 1262", S. XIII-CXV, der wir nur einige der für unsere Zwecke interessanten Daten entnehmen; vgl. auch ders., Il frammento degli ultimi due libri del piu antico constituto senese (1262-1270) in: Bullettino senese di storia patria (ab jetzt BSSP), I (1894), S. 131-154, 271284; II (1895), S. 135-144,315-322; III (1896), S. 79-92; U.C. Mondoljo, L'ultima parte dei Constituto senese dei 1262 ricostruita dalle riforme successive, in: BSSP, V (1898), S. 194228. Die Kommune von Siena ist als erstes durch die militärischen Aktionen ihrer Konsuln bezeugt, die diese um 1125-30 unternahmen, um gegen einen päpstlichen Befehl den Anspruch des Bischofs der Stadt zu verteidigen, den dieser auf einige seit Jahrhunderten dem Bischof von Arezzo streitig gemachten Pfarrbezirke erhob. Auf diesem Wege verfestigte sich die schon bestehende Feindschaft mit Florenz, die zur Allianz mit Arezzo geführt hatte, welche bereits vor der Mitte des Jahrhunderts lebendig war. - Für einen breiten Überblick über die mit den Anfängen der Sieneser Kommune verbundenen Probleme, vgl. nun P. Cammarosano, Tradizione documentaria e storia cittadina, Siena 1988, - ein Vorabdruck eines Auszuges aus Bd. V der Ausgabe des Caleffo Veccbio, dem ältesten fiber iurium der Kommune. Zu dem Statut vgl. L. Zdekauer, Il constituto dei consoli dei placito dei Comune di Siena, 1. Teil, Siena 1890 (auch in: Studi Senesi, VI (1889), S. 152-206) mit dem lateinischen Text des Statuts (eine Redaktion in Volgare wurde dann am Schluß des II. Abschnitts der Sammlung von 1309-10 eingefügt, hierzu in Nr. 51, I, S. 515-544), 2. Teil in: Studi Senesi, IX (1892), S. 35-75. Zu den sienesischen libri iurium vgl. P. Cammarosano, Tradizione documentaria, und allgemein A. Rovere, I ,libri iurium' dell'Italia comunale, in: Civilta comunale: libro, scrittura, documento., Genova 1989 (Atti della Societa ligure di storia patria, Neue Folge, XXIX, II), S. 159-199 (der zu Recht die Unvollständigkeit der Inventarisierung betont: Das gilt beispielsweise für das schöne Beispiel von San Gimignano, von dem jetzt die Edition vorbereitet wird von den Herausgebern I. Vichi Imberciadori / D. Ciampoli / D. Waley, sie ist aber noch nicht einmal für Siena abgeschlossen). Zu der Regierung des Podesta im allgemeinen scheint von den jüngeren Abhandlungen am klarsten zu sein E. Artifoni, Tensioni sociali e istituzioni nel mondo comunale, in: La storia, II, Torino 1986, S. 461-491.
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gestellt werden, das aber trotzdem das geschriebene Recht hätte bezeichnen können 3 . Auf die darauffolgenden Jahre gehen datierte Kapitel zurück, darunter im wesentlichen solche aus dem Privatrecht, die zum Großteil im Einklang mit dem Römischen Recht standen und gewissermaßen Erläuterungen dazu sind4 . Auf den öffentlich-rechtlichen spätrömischen Sprachgebrauch, insbesondere auf die kaiserliche Gesetzgebung geht ja auch die Bezeichnung Constitutum selbst zurück s. Für das Jahr 1176 ist ein Rechtslehrer in der Stadt6 bezeugt, und im selbenjahr vollziehen die Konsuln eine Schenkung, die sie nach Römischem Recht vernehmen wollen, weil sie - so sagen sie - ..lege romana cum tota civitate" Es ist das Constitutum, das bezeichnenderweise der ratio zur Seite gestellt ist im Unterschied zum usus, das in einem Gelöbnis der Sieneser Konsuln von 1179 erscheint in: Il Caleffo Vecchio dei Comune di Siena, I, hrsg. G. Cecchini, Firenze 1932, S. 42, und welches R. Cel/i, Studi sui sistemi normativi delle democrazie comunali, secoli XII-XV, I: Pisa, Siena; Firenze 1976, S. 242-247, entgegen der Ansicht Zdekauers so versteht, daß es sich anstatt auf jenes der Kommune, auf das Constitutum des placito (des Gerichts) bezieht (aus Kenntnis verschiedener Redaktionen dieses Textes, die in den folgenden Jahrzehnten entstanden sind, kann ich weder der einen noch der anderen Meinung zustimmen). Von 1180 stammt das kaiserliche Privileg, das "omnes consuetudines et beneficia" der civitasim comitatusenthält und jetzt herausgegeben ist von D. Hägermann, Die Urkunden Erzbischofs Christians I. von Mainz als Reichslegat Friedrich Barbarossas in Italien, in: Archiv für Diplomatik, XIV (1968), S. 202-301, Nr. 25. Der mos buius regionis findet sich in einem Urteil eines kaiserlichen Richters, der von den Sieneser Konsuln beauftragt worden war, über den status eines Bauern zu entscheiden, welcher um 1183 versucht hatte, sich den Verpflichtungen gegenüber den Signori zu entziehen: veröffentlicht von L.A. Muratori, Antiquitates Italicae Medii Aevi, I, Milano 1738, dissert. XIV, Sp. 827, und dann in italienischer Übersetzung herausgegeben und analysiert von P. Cammarosano, Le campagne nell'eta comunale (meta sec. XI - meta sec. XIV), Torino 1974 (vgl. dort S. 77 den einschlägigen Passus). Ihm entnimmt man auch, daß die Konsuln schworen, die Allodialherren "et eorum iura et rationes" zu verteidigen. 4 Es handelt sich hierbei um Normen über die Nachfolge, Mündigsprechungen, Verantwortung für Taten des servus, sowie die Verfügungen, welche den contado (insbesondere bezüglich der Güter der geflohenen ,Bauern') und die Stadt (zum Beispiel mit dem Verbot, unter Mauern zu graben) betrafen: im Detail vgl. L. Zdekauer, Dissertazione, S. xv ff., XXXII, der jedoch in der Gesetzgebung für die Frau starke germanische Überreste unter der romanistischen Form bemerkt (S. LVI). Das Anliegen, auf die Beziehung zu dem Römischen Recht hinzuweisen, geht so weit, daß ein Kapitel des Constitutum des Placito (29, ed. 1. Zdekauer, S. 29) eine ,römische Konstitution' ausdrücklich widerruft (in: Cod. 1.8.47, über die turbata possessio) und ein anderes (Kap. 66, ebd., S. 47) dies implizit ("dicit ius") mit einem Passus der Institutionen tut(1.24); noch ein anderes dagegen, das 21. (ebd., S. 25) nennt den mos Imperii, um das germanische Recht zu bezeichnen. Mit der Gerichtsordnung und dem Privatrecht dieser Jahrzehnte hat sich zusammenfassend befaßt R. Cel/i, Studi, S. 229-262, der sich dann (bis zu S. 346) mit dem System der Quellen und des Strafrechtes in den edierten Statuten beschäftigt. 5 Man denke nur an den äußerst frühzeitigen Gebrauch von Constitutum in Pisa und in Siena und an die in der vorherigen Anmerkung zitierte ,Konstitution'. 6 Als solcher wird der "sapiens" verstanden, der "lege bat" , in einem von R. Davidsobn, entdeckten Dokument (vgl. Geschichte von Florenz, Bd. 1, Berlin 1896, S. 804 Anm. 4) und dann wieder aufgenommen in: Chartularium Studii Senensis, I (12401357), hrsg. von G. Cecchini / G. Prunai, Siena 1942, S. 579, wo auch auf die von Ficker und Santini herausgegebene Schenkung von 1176 hingewiesen wird, die hier - ohne
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leben. Um 1200 verdichten sich die Nachrichten über Normen, zum Beispiel hinsichtlich der Bauern des contado, der massaricie und des datium7 • Es gibt ein Constitutum, das nunmehr in capita und in ein breve unterteilt ist, welche von den Konsuln 8 beschworen werden, das aber unterschieden ist von dem Constitutum der "consoli dei placito", einem Magistrat, der in seinen Kompetenzen zunehmend insbesondere auf Vormundschaften und Vertretungen eingeschränkt wird 9 • Auf eben diese Jahre geht auch ein wichtiger fiber iurium zurück, den man anlegte, um der verstreuten Aufbewahrung bedeutender Akten der Kommune in der Biccherna, der wichtigsten Verwaltungsbehörde, Abhilfe zu schaffen lO . Es sind die Jahre, in denen sich das Constitutum, wie die Redaktion von 1262 verrät, mit den societates, der räumlichen Entwicklung der Stadt und dem Bauwesen, mit den Bauern und mit einigen Berufskategorien, wie den Notaren, beschäftigt und sozusagen Spuren einer Außenpolitik trägt, weil es auch die Verpflichtung enthält, die mit einigen Machtzentren des Territoriums (zum Beispiel S. Antimo und S. Eugenio) abgeschlossenen Vereinbarungen einzuhaltenJ] . Erklärung - auf das Jahr 1162 datiert wird. Die "iudices et notarii" erscheinen in einem Dokument der Kommune von 1176 (L. Zdekauer, Dissertazione, S. III f.). Wie man jedoch weiß, lassen sich im sienesischen Raum in weiterem Sinne früheste Zeugnisse romanistischer (Rechts-)Kultur nachweisen, die im ganzen noch zu bewerten sein werden: vgl. inzwischen P. Fiorelli, Clarum Bononiensium Lumen, in: Per Francesco Calasso, Studi degli allievi, Roma 1978, S. 415-459, und für besondere privatrechtliche Vertiefungen einige der Aufsätze von D. Bizzarri, die gesammelt sind in ihren wichtigen: Studi di storia dei diritto italiano, Torino 1937. Man vergleiche L. Zdekauer, Dissertazione, S. xx f., XXXI f.; mit diesen Problemen hat sich nach Odile Redon auch P. Cammarosano befaßt: Le campagne senesi dalla fine dei secolo XII agli inizi dei Trecento: dinamica interna e forme dei dominio cittadino, in: Contadini e proprietari nella Toscana moderna, I, Firenze 1979, S. 153-222. Wiederum aus dem Caleffo Vecchio, 1201, und aus einem von Ficker herausgegebenen Dokument: vgl. L. Zdekauer, Dissertazione, jeweils auf den Seiten xx f., XXXI. 9 Ein von R. Celli, Studi, S. 233-247 neu untersuchtes Problem. 10 1203 vom Podesta verfügt, wird das Werk mit einem feierlichenprologuseröffnet, einer ausgefeilten Hymne auf die Gerechtigkeit, in rhetorischer Tradition, die man der berühmten charta libertatisvon Tintinnano aus demjahre 1207 an die Seite stellen kann, welche bereits von Zdekauer und Salvemini untersucht wurde und jetzt neu herausgegeben und interpretiert worden ist von O. Redon, Uomini e comunita del contado senese nel Duecento, Siena 1982 (für den Text selbst S. 136-143) (Eine kurze Zusammenfassung enthält mein Aufsatz in: Tintinnano: la Rocca e il territorio di Castiglione d'Orcia, hrsg. von C. Avetta, S. Quirico d'Orcia 1988, S. 73-85). Es handelt sich um den schon mehrfach zitierten Caleffo Vecchio, für den wir hier nur verweisen auf P. Cammarosano, Tradizione documentaria, Anm. 1. Über die Biccherna vgl. jetzt V. Crescenzi, Il sindacato degli ufficiali nei Comuni italiani, in: L'educazione giuridica, IV: Il pubblico funzionario, modelli storici comparativi, I: Profili storici, Perugia 1981, S. 383-529, und, ganz allgemein, den Aufsatz von U. Morandi in: Le Biccherne. Tavole dipinte delle magistrature senesi (secoli XIIIXVIII), hrsg. von L. Borgia / E. Carli / M.A. Ceppari / U. Morandi / P. Sinibaldi / C. Zarilli, Roma 1984, S. 1-19. 11 Man vergleiche zum Beispiel:im Constitutumvon 1262, Buch I, Kap. 115, 116,156;
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Die Unterscheidung zwischen dem breve der Konsuln, dem Constitutum der Kommune und dem Constitutum des Placito zeigt, daß bereits die Tendenz vorhanden ist, aus dem Statut mehr und etwas anderes zu machen als die gesetzliche Basis für die Konsuln - und dann für die Podestas - oder für einen einzelnen Magistrat. Das Constitutum strebt danach, die wichtige und selten wechselnde gesetzliche Vorschriften aufzunehmen. Auf einseitiger, autoritativer Ebene ist es in etwa das, was auf bilateraler, vertraglicher Ebene das liber iurium oft darstellt. Von besonderer Bedeutung ist eine ausführliche Verordnung, die aus über vierzig capita bersteht, und uns in einer Urkunde aus dem Jahre 1208 überliefert ist. Sie enthält umfangreiche Informationen über die Kommune zu Beginn des 13. Jahrhunderts, zu einem Zeitpunkt, als diese versucht, den finanziellen Engpässen Abhilfe zu schaffen, die durch einen kurz davor liegenden Konflikt mit Florenz entstanden waren 12 . Es sind heterogene Normen, die von einer Normenkommission festgelegt wurden vonXV inventores unde debita Comunis solvantur et sbrigentur, über deren Mandat nichts erwähnt wird und sich an analoge, uns nicht überlieferte Verordnungen einer früheren Kommission vonXV inventores anlehnen. Das "pacchetto" betrifft Signori, Vassallen, Halbpächter (mezzadri), Lira und Zölle, passagia consueta, Berufungsurteile und das sindacato, um einige Beispiele zu nennen, die eine Vorstellung vermitteln sollen. Die Vorschriften werden nicht statuta genannt, und das Kollegium derXV inventores hat "befunden und angeordnet". Die Mitglieder betrachten sich nicht als vom allgemeinen "Consiglio della campana" autorisiert; doch sie verfügen Zahlungen, die von seiten der Gemeinden des contado zu leisten sind, sie bereiten Entscheidungen vor, die dann vom "Consiglio della campana" spezifiziert werden, sie befehlen dem Podesta, der in der Vergangenheit über die Zölle ,bestimmt' und passagia ,angeordnet' hatte, aus dem Constitutum das zurückzunehmen, was dort hinsichtlich der Kriegsschäden eingefügt worden war, und bestimmte Verpflichtungen in das sacramentum des künftigen Podesta aufzunehmen. Zusätzlich wird der Podesta ausführen müssen, was von den :xv inventores vorgeschrieben wird, solange es nicht im Widerspruch zu seinem sacramentum steht. Es ist eher ein Akt des sich durchsetzenden politischen Willens, denn ein juristischer Akt; der "Consiglio della campana" ist bereits das normale gesetzgebende Gremium, was aber normative Akte von seiten anderer kommunaler Machtzentren nicht ausschließt. Es handelt sich in jedem Falle um gelegentliche und vorübergehende, wenn auch sehr wichtige Verordnungen.
II 126; III 66; IV62-64, 81; V 32; im Constitutumdes Placito das Kap. 56. Zur Stadt in diesen Jahren vgl. jetzt P. Nardi, I borghi di san Donato e di san Pietro a Ovile. ,Populi', contrade e compagnie d'armi nella societa senese dei secoli XI-XIII, in: BSSP, LXXIII-LXXV 09661968) (erschienen 1972) und P. Cammarosano, La famiglia dei Berardenghi, Contributo alla storia della societa senese nei secoliXI-XIII, Spoleto 1974 (abschließende Bemerkungen in Kap. 5). 12 ASSi, Diplomatico riformagioni 1208, 6 dicembre, wovon ich gerade die Ausgabe vorbereite.
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Während die Organisation der milites und des populus bereits seit langem in Erscheinung getreten war l3 , nehmen in den 20er Jahren die Nachrichten über eine reaptatio der Statuten stark zu, welche einem magister anvertraut wird, der von den üblichen XIII Statutenverbesserern (emendatores) unterschieden wird, und man spricht von einem Constitutum novum und dem Constitutum potestatis 4 . Aus dieser Zeit stammt auch ein einzelnes Dokument, welches die Verbreitung romanistischer (Rechts-)Kultur bestätigt. Das sogenannte "Memoriale delle offese" (Liber census et liber memorialis ojjensarum) von 1223-24, welches zur Zeit eines aus Bologna stammenden Podesta und Notars begonnen wird, zeigt die Kommune als Person, als "außerordentliche Abstraktion" (Zdekauer), welche bald durch die Nichtbeachtung des "Constitutum senense de facto bladi" von seiten bestimmter Gemeinden des contado beleidigt, bald wiederum zufrieden ist wegen der Eroberung von Grosseto - ein exemplum, das man nach dem Beispiel der Römer den Nachkommen übermitteln muß l5 . 13 Die Konsuln der milites erscheinen 1203; von 1213 stammt die Societas populi mit Gerichtsbarkeit über die Türme (tom); kurz darauf entstehen die Konflikte mit den geistlichen Obrigkeiten um Kapitel der Statuten, welche im Widerspruch zur libertas Eeclesie stehen (im Jahre 1216; die Krise wiederholt sich 1255). Es treten societates auf, die sich gegen die Kommune organisiert haben, und man weiß von Personen, die schwören, den Befehlen des Podesta nicht zu gehorchen: für dies alles vgl. jeweils I. Zdekauer, Dissertazione, S. xxxxv, XXXXII, XXXI, und ders., 11 frammento, dist. V cap. 32 und V. 93, S. 148 und 280, und jetzt auch P. Cammarosano, Tradizione documentaria, S. 59 ff. Auch in diesen Jahren kehrt man mehrfach zu dem Problem der Bauern und des status des liber homo zurück: vgl. I. Zdekauer, Dissertazione, S. XXXIII f. 14 Ab 1226 beginnt die uns fast durchgehend erhaltene Serie von Büchern der Biccherna, die mit ihren Rechnungseintragungen eine Unmenge an nützlichen, mehr oder weniger wichtigen Informationen bieten (zur Zeit befinden sie sich bis 1259 im Druck: für Details sei verwiesen auf das Verzeichnis der "Fonti di storia senese" im Anhang zu einem der letzten Bände des BSSP). Daraus geht zum Beispiel hervor, daß ein Notar im Mai 1226 dafür bezahlt wird, für die 13 Statutenverbesserer das Constitutum des Podesta, der "consoli dei placito", das "breve dei camerlengo dei Comune" und "die anderen breves" bearbeitet zu haben (I. Zdekauer, Dissertazione, S. XVIII, Anm.l), während bereits im April ein anderer Notar für die Urkunden des Constitutum novum bezahlt wurde, welche der magister Forte, der in diesen Jahren und bis zur Mitte des Jahrhunderts - auch als Kanzler und als patronus eausarum - in der kommunalen Dokumentation immer präsent ist, "reaptato" hatte (ebd., S. XXXVIII, Anm. 3). Zdekauer ging davon aus, daß Forte ein Notar sei, weil er dachte, nur ein Notar könne als magister bezeichnet werden. Dank anderer Eintragungen aber besteht kein Zweifel daran, daß Forte ein iudexwar, der unter dem Beistand zweier anderer iudices "domini" arbeitete; vgl. die detaillierte Untersuchung von V Crescenzi, Note critiche sul codice ,Statuti l' dell'Archivio di Stato di Siena, in: Archivio storico italiano, CXLVIII (1990), S. 511-557, Nr. 2 und 49, wo sich auch ein Hinweis findet auf einen Notar, der bezahlt wurde "pro raditura viii. quaternorum de constituto quod reformat magister Fortis" (vgl. den inzwischen erschienenen Aufsatz, den mir der Autor freundlicherweise im voraus zur Verfügung gestellt hat). Für das Constitutum des Podesta vgl. weiterhin I. Zdekauer, Dissertazione, S. XVIII, Anm. 1, XXXIX Anm. 5. Enzo Mecacci arbeitet derzeit an einer Untersuchung über ein Statutenfragment, welches auch genau auf diese Jahre zurückgehen könnte und in einem Palimpsest-Kodex der Biblioteca Comunale di Siena entdeckt worden ist. 15 Herausgegeben von I. Banehi, 11 Memoriale delle offese fatte al Comune e ai cittadini di Siena ordinato nell'anno MCCXXIII dal podesta bolognese Bonifazio Guicciardi
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ImJahre 1228 werden die Kapitel der antiflorentinischen Liga in den Statuten und "nei brevi dei consiglieri e degli ufficiali e del popolo" eingefügt l6 . Seit den 30er Jahren tritt der Name der umfassenden Verordnungen der Sonderkommissionen auf: ordinamenta. Sie befassen sich mit den Arbeiten im contado, den exercitus, super facto malejiciorum und später super modo iuris reddendi, sie regeln die nächtliche Bewachung der Stadt, und betreffen die Müller 17. Wahrscheinlich behandeln sie auch die Garantieurkunden, die im notariellen Gebrauch der 40er Jahre erscheinen l8 . Diese ordinamenta führe ich auf, weil sie anscheinend bezeugen, daß wenigstens ein Teil der Gerichtsverfahren und des Strafrechtes noch außerhalb des Statutes steht, und darüber hinaus auch, daß es so etwas wie einen Bedarf an vorsichtigen Experimenten in der Rechtspraxis gibt, bevor man neue Verordnungen mit aufnimmt; und schließlich, weil sie eine wachsende kommunale Gesetzgebung bezeugen, die an häufige und umfassende öffentlich, von der Kommune in Anspruch genommene Funktionen angebunden ist. Statuten und brevi werden als gewichtigere Texte betrachtet, selbst wenn es nur so wäre, weil man sie beschwört. Im Jahre 1246 werden neun nicht näher bestimmte brevi verfaßt, die der populus beschwört, aber man spricht von weiteren 26 brevi und von einem Constitutum der vier Verwalter (provveditori) bolognese, in: Archivio starico italiano, XII (1875), S. 199-234; man vgl. L. Zdekauer, Dissertazione, S. xxxv f. Mit dem Text ist beabsichtigt, daß ein "exemplum posteris relinquatur, ut eos titulorum fama illiciat ad virtutes. Sic namque fertur Romanos predecessorum suorum magnalia in postibus intuentes depicta orbem sibi satagerunt subicere universum ... omnium habe re memoriam et penitus in nulle peccare pocius sit divinitatis quam humanitatis ... " (5. 224 f.). Die Abgaben (census) werden zusammenfassend dargestellt von O. Redon, Uomini e comunita, S. 224 f.; die Miniatur wird untersucht in dem umfassenden Werk von G. Orofino, Decorazione e miniatura dei libro comunale: Siena e Pisa, in: Civilta comunale (zit. oben, Anm. 2), s. 453-505 (470 und Abb. I, hinter S. 480; 471 ff. für ausführliche Informationen aus den Büchern der Biccherna), welche die außergewöhnliche Sorgfalt der Sieneser bezüglich der Miniaturen in kommunalen Kodizes herausstellt. 16 Const. 1262, III. 384 (L. Zdekauer, Dissertazione, S. xxxx). In den 30er Jahren fügen die XIII Statutenverbesserer ein, was vom Podesta gefordert wird, und man weiß von einer Verfügung von XII boni homines über die Arbeiten im contado, welche in das Constitutum aufgenommen wurde. Man gibt außerdem Geld aus, um die brevia militum et populi in den Kirchen und im Parlament bekannt zu machen (ebd., s. XIX, XXXXI, XXXXI Anm.7). 17 Ebd., S. XXXXI, Anm. 7 (während das Constitutum des Podesta neu abgeschrieben wird), XXXXVIl, XXXXIX (von 1236-37, später als distinctio II des Constitutum), LXVI und CXI f., (dann 1243,1250 und 1251 erneuert), LXXXXIII (1246 und dann 1250).1232 wird in einer Klage gegen Florenz vor dem kaiserlichen Gericht die Beachtung des gemeinen Rechtes erbeten (5. XXXXVIII, die Zdekauer mit der restitutio in integrum gegen das in Const. 1262, II .133 vorgesehene ungerechte Urteil in Verbindung setzt). Von 1238 stammt die Information über ein "ordinamentum et bann um" des pretor, eines Beamten mit weitgehenden Vollmachten zur Verhängung und Eintreiburg von Geldbußen, dessen Amtsbereich von der institutionellen Erneuerung um die Mitte desjahrhunderts betroffen wird (ebd., S. XXVII, XXXXV). 18 L. Zdekauer, Dissertazione, S. LXVI f., LXIX f.
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der Biccherna, das im übrigen schon für 1229 bezeugt ist l9 . Das Statut der Kommune ist in Wirklichkeit eher darauf gerichtet, die Befugnisse und Aktivitäten des Podesta zu beschränken. Daher werden die umfassenden administrativen und finanziellen Tätigkeiten, die nicht unter der Kontrolle des letzteren stehen, in einer gesonderten Satzung (Gonstitutum) geregelt. Aus demselben Jahr stammt das erste Zeugnis dafür, daß das Gonstitutum der Kommune in distinctiones unterteilt ist, innerhalb derer die XIII Statutenverbesserer die capitula nova einordnen sollen 20 - also nicht etwa in Bücher, um die Einteilung der klassischen Sammlung von Gratian zu imitieren. Wenige Jahre danach, im Jahr 1250, in der Zeit des Podest), Uberto dell'Andito, des bekannten Schwiegersohnes von Manfred, werden verschiedene wichtige Akte erlassen, die versuchen, die Macht des populus zu begrenzen und die zentrale Position des Podesta wieder durchzusetzen 21 . Der erste ist das sogenannte "Breve degli ufficiali", ein Zeugnis offensichtlicher notarieller Kultur, das besser noch als breviarium22 bezeichnet werden sollte, das uns mit ungefähr 50 kommunalen Aufgaben und Ämtern vertraut macht, selbst wenn dabei wichtige brevi ausgespart bleiben. Insbesondere betrifft dies das Amt der "consiglieri della campana", die strenggenommen kein Amt bilden, und dann jenes des Podesta, da dieses grundsätzlich vom Gonstitutum absorbiert ist. Dafür spricht, daß sich schon im Prolog der Podesta Uberto selbst als ein an das Statut gebundenes capudbezeichnet, in derselben Weise, wie sich seine Beamten als membra, auf der Grundlage eines eigenen breve speciale bezeichnen 23 • Interessant ist zu bemerken, daß die "consoli dei placito" darin schwären, die Satzungen des Podesta und der eigenen Kurie "seu ordinamento de meo officio" zu befolgen 24 • Das ,Ordinamentum' tendiert also dazu, den normativen Bedarf in Einzelbereichen abzudecken, während das Gonstitutum normalerweise einen breiteren Rahmen umfaßt. 19 Der Notar, der die breves des populus schreibt, ändert weitere 26 ab; hierzu und zur Biccherna vgl. L. Zdekauer, Dissertazione, jeweils auf den Seiten LXX, LXXAnm. 3, XXIV. 20 L. Zdekauer, Dissertazione, S. XIX. Gemäß dem Constitutum von 1262 sind sie natürlich nicht dazu ermächtigt, die ,immerwährenden' Kapitel zu tilgen (ebd., S. XIX). 21 Diese Einschätzung stammt von V. Crescenzi, Note critiche, der den Text, den wir von dem Breviarium besitzen, auf das Jahr 1258 zurückführt. 22 Mit leichten Mängeln und Ungenauigkeiten herausgegeben von L. Banchi, Breve degli offieiali dei Comune di Siena compilato nell'anno mcc1 al tempo dei podesta Ubertino da Lando di Piacenza, in: Archivio storico italiano, III Folge, III, Teil II (1866), S. 3-104; IV, Teil II (1866), S. 3-57. Natürlich enthält es nicht die Ämter des populus und insbesondere die der XXIV Regierenden (die dem Fresco von Lorenzetti als Modell dienten), über diese vgl. der Ansicht von Salvemini folgend, entgegen der Meinung von Zdekauer, U.C. Mondolfo, Il Populus a Siena nella vita della eitta e nel governo dei Comune fino aHa riforma antimagnatizia dei 1277, Genova 1911, S. 26. 23 "Cum singula officia singulis suo ordine debeant nexibus legalium preceptorum astringi, dignum est ut, sicut capud alligatur statuto, ita offieiales ipsius, qui sunt in regimine membra sua, quilibet suo brevi speeiali ligetur" (ich übernehme die Zeichensetzung von V. Crescenzi, Note critiche, im Gegensatz zu L. Banebi, Breve, eit., S. 7). 24 Kap. 17, in Banchi, ebd., S. 49.
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Bei der zweiten wichtigen Verordnung handelt es sich um die Charta bannorum des Podesta, die zur Anerkennung dem "Consiglio della campana" zugeleitet wurde, eine Anhäufung von banna in 86 Kapiteln, die im wesentlichen eine Sammlung von strafrechtlichen Anordnungen bilden, wobei diese charakteristisch für die breite Verfügungsgewalt sind, die der Podesta sich bei der Bestrafung der verschiedenen Delikte vorbehält 2;. Bei der dritten Verordnung handelt es sich um eine "Carta dei malefici", ausgearbeitet von einer eigens dafür einberufenen Kommission der XII, die Uberto ebenfalls zu befolgen verspriche6 . Schließlich gab es ein mit Miniaturen versehenes und von mehreren iudices verfaßtes Constitutum novum27 • Dieses wird nun erstmals in 5 distinctiones unterteiles. Wenige Jahre später läßt man es nochmals abschreiben, um es in "großen Buchstaben" und mit Miniaturen versehen an einer Kette zu verwahren, und man schränkt die Bannbefugnis des Podesta ein, der nunmehr angehalten ist, sich vorher mit dem "capitano del popolo" zu einigen 29 • Wir sprachen von einer Krise des Amtes und der Würde des Podesta. Tatsächlich verdichten sich, während der capitano selbständig neben dem Podesta tätig ist30 , die Spuren einer Vorherrschaft des populus durch das Kollegium der 24 Priori. Diese verfügen im Jahre 1256 über ein statutum, das zur Ehre und zum Nutzen des populus neu überarbeitet werden S01l31. Im selben Jahr mächte man das Constitutum des populus verbessern, wofür es von einer besonderen Kommission den XXIV secrete beim "capitano deI popolo" zu Rate gezogen wird 32 • Im darauffolgenden Jahr, so erfährt man, wird das Constitutum dem von 2; Ausgabe in: G. Mengozzi, La "Charta bannorum" di Ubertino dall'Andito, podesta di Siena ne11249, in: BSSP, XIII (906), S. 381-456. Der Podesta behält sich am Ende für die Adressaten bindende "fines a nobis statut i et statuendi" vor, obwohl gleich darauf erklärt wird, man wolle die statutarischen Normen nicht widerrufen, die es verbieten, das arbitrium zu fordern (S. 455). Interessant ist hier der Hinweis, daß der Zweikampf als Beweismittel noch zugelassen, aber der ,legitimen Notwehr' entgegengesetzt wird (Kap. 35, S. 448). 26 Ebd., S. 440, 442 (Kap. 1),450 (Kap. 53),455. 27 L. Zdekauer, Dissertazione, S. LXXIII (aber es wird auch an ein Constitutum vetus gebunden. Vier Jahre zuvor war davon eine Kopie verkauft worden. S. LXX), auch für die tascha, in welche die costituta nova "missa et sigillata" wurden (wahrscheinlich bis zu dem für die Anerkennung bestimmten consiglio). 28 Aus L. Banchi, Breve degli ufficiali, S. 11. 29 L. Zdekauer, Dissertazione, jeweils S. LXXX, LXXV Anm. 5, 1255. 30 Ebd., S. LXXVII, LXXXV f. 31 Ebd., S. LXXVIII Anm. 2. 32 Ebd., Anm. 3: Die neu ins Amt getretenen Mitglieder der Kommission der XXIV beabsichtigen zu überprüfen, ob der "giudice dei po polo" irgend etwas zu Ehren des popolo und der Kommune tun könne. Das Spektrum dieser Befugnisse lag ihnen am Herzen, verständlicherweise, wenn man bedenkt, daß nach dem Statut des popolo nur bei ihnen Berufung eingelegt werden konnte, die vom capitano und von seinem Richter auf der Grundlage des Statuts des Popolo ausgesprochen worden waren. Das Statut der Kommune von 1262 wird diese Forderung anerkennen in dist. 11 ca p. 167, ed. L. Zdekauer, 11 constituto dei Comune di Siena, S. 255.
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Pisa - das uns in dieser Ausgabe nicht überliefert ist - nachgebildet 33 , und der
popoloverfügt in der eigenen Satzung über einen eigenen Richter, eine Tatsache,
die nicht erstaunt, aber außerdem auch über Normen, die die Befugnisse der kommunalen Richter festlegen 34 . Es gibt weiterhin regelmäßig Nachrichten über ordinamenta der Kommune 35 , und wir wissen, daß es im Jahre 1257 IX Statutenverbesserer gibt, die von der Kommune bezahlt werden und vorrangig das Constitutum seu ordinamentum des popolo, entsprechend dem schon dargelegten Verständnis des ordinamentum korrigieren sollen, weIche ihrerseits 1258 ein statutum bezüglich der Mühlen verfügten und ein breve für die eigenen Räte erlassen 36 .
2. Die großen Redaktionen von den Ghibellinen bis zu den Guelfen Schließlich kommen wir zu der schon erwähnten Redaktion von 1262, die auf einer außerordentlichen, nach dem Sieg der Ghibellinen bei Montaperti verfügten Überarbeitung 37 gründet, und die uns gegenüber dem breviarium von 1250 viele Neuerungen in der kommunalen Organisation zeigt. Es ist die große Satzung (Constitutum) aus der Zeit des Triumphes des populus8 , von dem wir leider außer durch kommunale Vermittlung, beginnend mit dem Statut, über kein dokumentarisches Material verfügen. Die fünf Abschnitte dieser Aufzeichnung ordnen das Material, wie Zdekauer hervorhob, nach im großen und ganzen romanistischem Schema. Der erste, "de fide catholica", stammt aus dem Codex des Justinian, allerdings ohne die Verordnungen von Innocenz IV., Friedrichs II. und Klemens IV. gegen die Häretiker. Der zweite lautet "De iudiciis", ebenso wie im Codex. Der dritte, der sich mit der Stadt, dem contado, den Mauern und Straßen, d.h. mit den "res publice" beschäftigt, und der vierte, "De rebus et negotiis privatorum", der die Zölle, das Bürgerrecht, die Ausländer und Bauern betrifft, erinnern an Institutionen und Digesten. Auch der fünfte Abschnitt, der die Strafen behandelt, erinnert insbesondere an die Digesten. Im Statut werden das Constitutum des "capitano del popolo" und das des popolo sowie die Aufzeichnung selbst, d.h. die Satzung des Podesta und der Kommune gleich-
33 L. Zdekauer, Dissertazione, S. LXXIX (hier befindet sich eine Liste der ,Bücher' des Popolo mit dem ,Buch' der XXIV, der für den ,popolaren' Charakter des Magistrats entscheidend zu sein scheint: der Löwe, das Verzeichnis der Eingeschriebenen ... ). 34 Ebd., S. LXXXXV (1256). 35 Zum Beispiel ebd., S. LXXV ff. 36 Ebd., S. LXXXV. 37 Verfaßt von drei Richtern (und nicht von den XIII Statutenverbesserern), die (ich übersetze) es korrigierten und abänderten, die Rubriken erstellten und die capitula in Ordnung brachten. Ein Notar wurde dafür bezahlt, ihnen für die Dauer von (mindestens) 27 Tagen beigestanden zu haben: ebd., S. LXXXXVU. 38 Dempopuluswird die Hälfte der Ämter zugesprochen (Const. 1262, I. 518, ed. L. Zdekauer, 11 constituto dei Comune di Siena, S. 189); vgl. aber auch z.B. Anm. 32.
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gestellt 39 • Formal wird aber deutlich unterschieden. Die XIII Statutenverbesserer zum Beispiel versammeln sich jährlich acht Tage lang, um das Statut abzuändern und constitutiones zu verfassen oder das Statut der "consoli deI placito", das breve des Camerlengo und der vier der Biccherna "und die anderen brevr 40 , der Kommune wohlgemerkt, und nicht die des popolo zu überprüfen. Der Bischof und das Kapitel der Kathedrale, denen die Aufgabe zugeteilt wird, die Unklarheiten des Statuts zu erhellen, können sich an deren Sitzungen beteiligen, die XIII Statutenverbesserer sind aber nicht dazu verpflichtet, die Empfehlungen der Geistlichen oder die des Podesta zu berücksichtigen - sie haben also, wenn auch begrenzt durch die statuta perpetua, eine Reihe von Freiheiten41 . Das formale Gleichgewicht zwischen Kommune und popolo scheint sich infolge der progressiven Gewichtsverlagerung zugunsten der Guelfen grundlegend verändert zu haben. Schon im Jahre 1268 wird angeordnet, die Straßen, Brücken, Brunnen, Tore usw. betreffenden Kapitel aus dem Constitutum des popolo zu streichen und in jenes der Kommune einzufügen 42 . Nach dem endgültigen Sturz der Ghibellinen 1269 werden die Statuten zum ersten Mal zu Ehren nicht nur des Königs Karl sondern auch des Papstes neu formuliert. Aber abgesehen von den rein politischen Kapiteln ist das Statut, von dem uns eine Fassung der 70er Jahre überliefert ist, dem von 1262 nachgebildet, da es keine Notwendigkeit gab, es umzustoßen 43 . Trotzdem weiß man auch, daß die Partei
39 Const. 1262, 1. 178, zitierte Ausgabe, S. 75: über ihre Unantastbarkeit von seiten der consilia segreta vel generalia, an denen der Capitano del popele und der Podesta beteiligt sind. 40 Const. 1262, 1. 143, zitierte Ausgabe, S. 61. Zu dieser Zeit erfolgt die Jahresrevision im Rahmen von maximal acht Tagen im September-Oktober eines jedenjahres: L. Zdekauer, Dissertazione, S. XXXJII Anm. 3 (vgl. XVIII f. Im Jahre 1230 wird ein Notar für zwei Dokumente bezahlt, die die Wünsche des Podesta gegenüber den Statutenverbesserern enthalten. Die Revision wird vom allgemeinen Rat (consiglio generale) mit einer qualifizierten Mehrheit von zwei Dritteln bestätigt 0. 128, zitierte Ausgabe, S. 57). 41 Const. 1262, jeweils: 1.192 (zitierte Ausgabe, S. 80), 1.141 und 142 (S. 60), 1.128 (S. 57) undII.63 (S. 223 f.). Die zeitlich begrenzten Kapitel, die sich auf einzelne Unternehmungen beziehen, müssen - sind sie einmal ausgeführt - im allgemeinen Rat vom Podesta nicht mehr vorgetragen werden, wenn dieser, wie in jeder Sitzung, die Kapitel über die an der Tagesordnung stehenden Fragen verlesen läßt 0.406, s. 150). Dieser verliert die Banngewalt (1.181, S. 750, und das Problem wird nicht mehr behandelt (1.183, S. 76). 42 L. Zdekauer, Dissertazione, S. C f. 43 ASSi, Statuti di Siena 3 (die Nummer 1 ist das schon erwähnte Breviarium, die 2 das Constitutum von 1262), das tatsächlich nützlich war, um den aus dem Jahr 1262 nicht überkommenen Teil zu rekonstruieren. Zu dem Kodex vgl. G. Orojino, Decorazione e miniature, S. 475 f., der auch Hinweise zu den anderen Statutenkodizes gibt; der Autor stützt sich auf die Datierungen im Archivio di Stato Siena, Guida-inventario, I, Roma 1951, S. 63-71, aber für die Schwierigkeiten des Vorgangs vgl. u.G. Mondoljo, La legislazione statutaria senese dal1262 al 1310, in: Studi Senesi, XXI (1904), s. 230-256, und Tb. Szab6, La rete stradale dei contado di Siena: legislazione statutaria e amministrazione comunale nel Duecento, in: Melanges de I'Ecole fran