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German Pages 324 Year 2011
Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit
Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit Herausgegeben von Andreas Gardt, Mireille Schnyder und Jürgen Wolf, unter Mitarbeit von Susanne Schul
De Gruyter
ISBN 978-3-11-026870-6 e-ISBN 978-978-3-11-026879-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Claudia Brinker-von der Heyde, zu ihrem 60. Geburtstag
Inhalt
Vorwort ................................................................................................. IX I. Materialität und Medialität des Buchs JÜRGEN WOLF Von geschriebenen Drucken und gedruckten Handschriften. Irritierende Beobachtungen zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Buchdrucks in der 2. Hälfte des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts ................................................................................................. 3
MARIE ISABELLE VOGEL Sammlungsobjekte zwischen Bild und Buch. Die Klebebände in der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek in Arolsen ........................................... 23 GEORG-MICHAEL SCHULZ Die älteren Brüder Schlegel und ihr Buch ohne Titel. Eine buchgeschichtliche Kuriosität aus dem früheren 18. Jahrhundert ..................... 41 MARIA EFFINGER Das Verborgene sichtbar machen. Neue Vermittlungs- und Vernetzungsmöglichkeiten durch die Digitalisierung mittelalterlicher Handschriften.......................................................................... 55 WILHELM KÖLLER Das Buch als Zeichen ........................................................................................ 69 NIKLAUS LARGIER Das Buch als Experiment. Georges Bataille liest Angela von Foligno ............. 87 ALOIS M. HAAS „In angello cum libello…“. Kleine Metaphysik des Buches ............................. 99
II. Buch und Gesellschaft HEIDY GRECO-KAUFMANN „Obseruiert vnd durchgegründet“. Renward Cysat (1545-1614) als Sammler und Vermittler von Wissen......................................................... 119 CRISTINA FOSSALUZZA Francesco Andreinis Capitan Schröck in der Fürstenbibliothek Arolsen. Eine neue Quelle zum europäischen Kulturtransfer in der Hofgesellschaft und zur Rezeption der Commedia dell’arte in Deutschland. ........................... 131
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RENATE DÜRR Wissenspopularisierung in der Aufklärung. Das Kasseler Kunsthaus im Blickpunkt von „Liebhabern und Reisenden“, 1769-1779......................... 147 HARTMUT BROSZINSKI „... ein ganz artiges Stück“. Waldecker Fürsten als Mäzene der Universitätsbibliothek Göttingen .................................................................... 163
III. Buchkultur und Ordnungen des Wissens SUSANNE SCHUL frouwen-Wissen – herren-Wissen? ‚Geschlecht‘ als Kategorie des Wissens in mittelhochdeutschen Narrationen ................................................. 183 MIREILLE SCHNYDER Das Kopfkissenbuch des Alten vom Berge ..................................................... 203 PETER SEIBERT „Die Welt im Buch“ – aber welche Welt? Anmerkungen zu Schedels Weltchronik .................................................................................................... 215 JÖRN MÜNKNER Der Wille zur Ordnung: Albrecht Dürers Befestigungslehre (1527) als Sachbuch und herrschaftspragmatisches Pamphlet .................................... 231 MICHAEL MECKLENBURG „Dann es ist nit der gelerten b)ch“: Wissen, Buch und Erfahrung bei Jörg Wickram .................................................................................................. 245 THOMAS STRÄSSLE Poetologien der Mischung. Textmodelle im Barock ....................................... 261 ANDREAS GARDT Wissensformationen. Zur Theorie und Praxis sprachwissenschaftlichen Arbeitens in der Frühen Neuzeit ..................................................................... 275 ANDREA LINNEBACH In den „Sümpfen der Hypothesen“ – Wissensvermittlung auf Irrwegen: die Prillwitzer Idole und die landesarchäologische Forschung in der Aufklärungszeit ......................................................................................... 293
Vorwort Wissensordnungen und Praktiken der Wissensvermittlung sind eng mit der Materialität und spezifischen Medialität des Buches verbunden. Der mittelalterliche Codex, die frühen Drucke, das moderne und schließlich das digitalisierte Buch sind nicht nur Teil sozialer Handlungen und Ausdruck gesellschaftlicher Interessen, sondern auch Instrumente der Wissensmodellierung, -ordnung, -vermittlung und -reflexion. Eingebunden in soziale wie mediale Prozesse gewinnt Wissen Kontur, durch die Verstetigung in Schrift und Bild wird es gesichert, aber auch verhandelbar. Der analysierende Nachvollzug des Umgangs mit dem Wissen im Medium des Buchs erlaubt so einen Blick auf das intellektuelle Profil der Gesellschaft einer jeweiligen Zeit. Historische Wissensordnungen sind in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt. Das Interesse richtet sich dabei vor allem auf die Frühe Neuzeit als der Zeit einer beschleunigten Verbreitung und Diversifizierung des Wissens sowie einer zunehmenden Kunst der kompilatorischenzyklopädischen Wissenserschließung.1 Dabei sind jedoch die gern und oft herausgestellten frühneuzeitlichen „Pluralisierungs- und Öffnungsprozesse“, die in einem „Anwachsen von Komplexität“, einer „Entmonopolisierung von Wahrheitsansprüchen“ und „der Vervielfältigung von Wahlmöglichkeiten“ gesehen werden, durch „Autorisierungs- und Schließungsprozesse“2 zu ergänzen, wie JAN-DIRK MÜLLER in der Einleitung des Sammelbandes Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit3 betont. Die Analyse solcher Prozesse ermöglicht eine Beschreibung der Dynamik von Konstruktion, Verstetigung und Dekonstruktion von Wissen und Wirklichkeitsbildern. Was in der Frühen Neuzeit geschlossen und geöffnet, gesammelt und geordnet, reflektiert und weitergedacht, ergänzt und verworfen wird, ist das tradierte Wissen, wie es sich im Mittelalter formierte, wie es sich aber auch in neu entdeckten antiken Texten präsentierte. Gerade die konsequente ‚Wiederentdeckung‘ antiker Werke und Handschriften sowie vor allem deren zeitgenössische Aufarbeitung, Vervielfältigung und Neubearbeitung markieren dabei die überragende Bedeutung des Mediums Buch. Der vorliegende Band hat sich zum Anliegen gemacht, Fragen der Formation und Vermittlung von Wissen sowohl für das Mittelalter als auch für die
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Enzyklopädien bilden denn auch ein Hauptinteresse der Forschung: Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien Hrsg. v. THEO STAMMEN/WOLFGANG E. J. WEBER, Berlin 2004.; Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik der Frühen Neuzeit Hrsg. v. FRANK BÜTTNER/MARKUS FRIEDRICH/HELMUT ZEDELMAIER, Münster 2003 . – Bereits 1995 ist zu Enzyklopädien erschienen: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Hrsg. v. FRANZ M. EYBL/WOLFGANG HARMS/HANS-HENRIK KRUMMACHER/WERNER WELZIG, Tübingen 1995. MÜLLER (Anm. 3). Hrsg. v. JAN-DIRK MÜLLER/WULF OESTERREICHER/FRIEDRICH VOLLHARDT, Berlin, New York 2010 (Pluralisierung und Autorität, Bd. 21), S. V.
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Vorwort
Frühe Neuzeit nachzugehen. Dabei spielt die Rückbindung an das Buch – sei es handgeschrieben oder gedruckt – eine besondere Rolle. Exemplarisch erfasst und reflektiert werden in dem Band denn auch die medialen Umbrüche von der handschriftlichen Buchproduktion zum Druck, einschließlich der materiellen Dimension des Buches, schließlich, als Ausgriff in die Gegenwart, zu den digitalen Medien. Daneben wird die sozial-, kultur- und ideengeschichtliche Dimension der Buch- und Bibliotheksgeschichte angesprochen, auch das Verhältnis von Text- und Wissensordnungen, in unterschiedlichen Fach- und Lebensbereichen. Fragt man nach den Gründen für das aktuelle Interesse der historischen Forschung an Wissensbildung und -vermittlung, dann wird man rasch fündig, wenn man dieses Interesse als einen Reflex aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen begreift. Der 2004 erschienene Band Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft4 bezieht sich zwar auf die Zeit ab der Renaissance, führt in seinem Untertitel mit Wissensgesellschaft aber jenen Begriff, der in der gegenwärtigen Diskussion um Bildung und Ausbildung, letztlich um die Zukunft der westlichen Gesellschaften eine zentrale Rolle spielt. Dabei ist die Verbindung von Wissen und Macht seit der Existenz von Büchern topisch: Macht und Herrschaft gingen häufig mit der Verfügungsgewalt über Schriftlichkeit und dem Besitz von Büchern einher, ein Sachverhalt, der sich bis in die Gegenwart nicht wesentlich geändert hat. Der Band Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit ist Claudia Brinker-von der Heyde anlässlich ihres 60. Geburtstags gewidmet. Eine solche Zueignung mit einem Band dieser Thematik zu verbinden, wird niemanden verwundern, der ihr wissenschaftliches Werk kennt. Mit Mittelalter und Früher Neuzeit kam Claudia Brinker-von der Heyde erstmals in ihrem Studium der Germanistik, Geschichte und Literaturkritik an den Universitäten Konstanz und Zürich in Kontakt. 1983 schloss sie – mittlerweile verheiratet und Mutter zweier Kinder – mit dem Lizentiat an der Universität Zürich ab und promovierte zwei Jahre darauf bei Alois M. Haas. Es folgten zwölf Jahre als Assistentin und Oberassistentin am deutschen Seminar der Universität Zürich. Dort habilitierte Claudia Brinker-von der Heyde 1995 und erhielt zwei Jahre später den Ruf auf eine Assistenzprofessur für Ältere deutsche Literatur. Im Jahre 2000 wechselte sie auf eine Professur für Ältere deutsche Literatur an die Universität Kassel, mit einer Denomination, die die Zeit von den Anfängen bis 1700 umfasst. Von 2004 bis 2009 war sie Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung“ (Universitäten Kassel und Frankfurt), und seit 2010 ist sie als eine der Antragstellerinnen an dem Kasseler DFG-Graduiertenkolleg „Dynamiken von Raum und Geschlecht“ beteiligt. Auch im administrativen Bereich der Hochschule hat sich Claudia Brinker-von der Heyde in hervorgehobenen Positionen
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Hrsg. v. RICHARD VAN DÜLMEN/SINA RAUSCHENBACH, Köln, Weimar, Wien 2004.
Vorwort
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engagiert, von 2007 bis 2010 als Mitglied des Senats der Universität, seit 2009 als Vizepräsidentin. Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses von Claudia Brinker-von der Heyde stand und steht weit mehr als ‚nur’ die deutsche Literatur des Mittelalters. Ihr Blick reichte stets über die Grenzen dieser Epoche und mehr noch über die Grenzen des Fachs hinaus. Schon die von ihr ganz wesentlich mit geplante und im Rahmen der CH 91 im Sommer 1991 in Zürich realisierte große Manesse-Ausstellung edle vrouwen – schoene man vereinte, alle Fachgrenzen überschreitend, Erträge der Literaturgeschichte, Geschichte, Kunstgeschichte, Musik, Regionalgeschichte und Mittelalterarchäologie zu einem beeindruckenden Gesamtbild. Welchen Erfolg ein solches Konzept haben kann, bezeugten sowohl die große Besucherzahl als auch der noch heute für die ManesseForschung maßgebende, von Claudia Brinker-von der Heyde gemeinsam mit DIONE FLÜHLER-KREIS herausgegebene Ausstellungskatalog Die Manessische Liederhandschrift in Zürich. Edele frouwen – schoene man (Zürich 1991). Schon damals zeichnete sich ab, was die hier Geehrte bis heute auszeichnet: Wissenschaft nicht für ein arkanes Publikum zu betreiben, sondern immer wieder zu versuchen, ihre Erkenntnisse in die Gesellschaft hineinzutragen. Als Universitätsprofessorin für Germanistische Mediävistik an der Universität Kassel nutzt sie ihre Position, sowohl über die Lehre als auch über ein breit gefächertes Portfolio von weit über die Grenzen des Fachs beachteten Aufsätzen und Büchern bei Kollegen und Studierenden, aber auch, etwa durch Vorträge, bei Bürgern aus Stadt und Land das Interesse am Mittelalter und da vor allem an der deutschen Literatur des Mittelalters zu wecken. Dass dies so eindrücklich gelingen konnte und kann, liegt auch an der Wahl der Themen. So drehen sich ihre Forschungsanstrengungen seit ihrer Zürcher Habilitationsschrift Geliebte Mütter - Mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen5 u.a. um Alterskulturen, Familie, Freundschaft und Geschlechterrollen. Doch auch die großen mittelhochdeutschen Autoren und Werke kommen nicht zu kurz. Waren es in ihrer Dissertation Von manigen helden gute tat. Geschichte als Exempel bei Peter Suchenwirt6 zunächst noch die Helden der zweiten Reihe, gesellten sich in Aufsätzen7 und zahlreichen Artikeln im Reallexikon für germanische Altertumskunde8 mit Wolframs von Eschenbach Parzival, Hagen, Heime, Hugdietrich, Kudrun, Rother und dem Nibelungenlied bald das ganze Who is Who der altgermanistischen Klassiker hinzu. Doch ist dies nur die eine, mittelalterliche Seite des Arbeitens, kommen wir zur zweiten. Wohl nicht zuletzt geprägt durch ihren Lehrer Alois M. Haas und
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Bonn 1996 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 123). Bern u.a. 1987 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 30). Hagen - Ein Held mit vielen Gesichtern! In: Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 51, 1999, S. 105-131; lieht, schîn, glast und glanz in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Licht, Glanz, Blendung. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Lichts. Hrsg. von CHRISTINA LECHTERMANN/HAIKO WANDHOFF, Bern u.a. 2008, S. 91-104. Bd. 13ff., 1999ff.
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Vorwort
vielleicht überhaupt durch das interdisziplinär-offene Klima in Zürich ließ sich Claudia Brinker-von der Heyde nie im Kreis des Mittelalters einfangen. Stets reichte ihr Blick in die Frühe Neuzeit und sogar darüber hinaus bis in die Moderne. So sind da die großen, gemeinsam mit Kollegen herausgegebenen Sammelbände zu nennen: Homo medietas. Aufsätze zu Literatur, Religiosität und Mentalität des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit; Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur; Erziehung und Bildung im Mittelalter und Nation – Europa – Welt. Identitätsentwürfe vom Mittelalter bis 1800.9 Aber auch zahlreiche Aufsätze wären anzugeben, etwa zu Grimmelshausen (1989 u. 1990), zu Amors Reisen oder Wo man im 18. Jahrhundert die Liebe fand (1995), zum Frauenpreis des Agrippa von Nettesheim (1997), zu Neuen Weltordnungen im Zeichen des Antichrist (1998) und zu Andreas Gryphius (1998). Einen Zielpunkt finden diese Ausflüge in die Moderne seit dem Jahr 2009 in dem von ihr mit initiierten DFG-Projekt Die Fürstenbibliothek Arolsen als Kultur- und Wissensraum vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert und ihre Einflüsse auf Genese, Formung und Identität des Fürstenstaats. Gegenstand und Aufgabe dieses Projekts sind es, in enger Zusammenarbeit mit Institutionen und Fachleuten des In- und Auslandes die Fürstlich Waldecksche Hofbibliothek in Arolsen als einen Kultur- und Wissensraum in den Blick zu nehmen, einen Raum, in dem sich mittelalterliche Wissenstraditionen und frühneuzeitliche Empirie begegnen und verbinden, der die Architektur und Lebensformen des Fürstentums im 17. und 18. Jahrhundert prägend mit gestaltet und Einfluss nimmt auf Staatsformen und Bildungswesen. Wie bereits angedeutet, geht es Claudia Brinker-von der Heyde stets darum, dieses breit gefächerte Wissens- und Forschungsspektrum aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft hinauszutragen. Ausstellungskataloge und Ausstellungen erwiesen sich dazu mehr als einmal als ein probates Mittel auf ihrem Schaffensweg. Bücher und Aufsätze für die Schule und den ‚normalen’ Leser sind ein weiteres. Erwähnt seien nur ihr Jugendbuchbestseller Der Ritter von der Drachenburg. Burgleben im Mittelalter,10 ihr konziser Überblick zur Schweizer Literatur von den Anfängen bis 1700 in der von PETER RUSTERHOLZ und AN11 DREAS SOLBACH herausgegeben Literatur der Schweiz und schließlich ihr Überblicksband Die literarische Welt des Mittelalters (Darmstadt 2007). Dass der Spagat zwischen Wissenschaft und Welt ihr leicht von der Feder geht und auch Schüler zu begeistern vermag, offenbarte auch der große Mittelalterab9
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Homo medietas. Aufsätze zu Literatur, Religiosität und Mentalität des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Hrsg. v. CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE/NIKLAUS LARGIER. Bern u.a. 1999; Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur. Hrsg. v. CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE/HELMUT SCHEUER. Frankfurt a. M. 2004; Erziehung und Bildung im Mittelalter. Hrsg. v. CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE/INGRID KASTEN (DU 1/2003); Nation – Europa – Welt. Identitätsentwürfe vom Mittelalter bis 1800. Hrsg. v. INGRID BAUMGÄRTNER/CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE/ANDREAS GARDT/FRANZISKA SICK, Frankfurt a.M. 2007 (= Zeitsprünge 11, 3/4). Zürich 1988; 2. Auflage 1989; Lizenzausgabe: Ex Libris 1990; dtv- Ausgabe 1991. Stuttgart 2007, S. 1-48.
Vorwort
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schnitt über Die Manessische Liederhandschrift im kulturellen Umfeld des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zürich im Zürich-Heft von Der Deutschunterricht.12 Überhaupt war und ist ihr die Schule, darunter auch die ihres Wohnortes Zürich, ein besonderes Anliegen. Ganz in dieser Tradition agiert die Vizepräsidentin der Universität Kassel seit Oktober 2009 nun gleichsam als personifizierte Schnittstelle zwischen Universität, Region, Stadt, Schule und der interessierten Öffentlichkeit. Es bleibt zu hoffen, dass die nun 60jährige ihnen, uns, der Forschung, den Mitarbeitern, Studierenden und Freunden noch viele Jahrzehnte mit ihrem Elan, ihrer Freundlichkeit, ihrer Offenheit, ihrer unprätentiösen Art, ihrer alle Fachgrenzen ignorierenden Unbeirrbarkeit, aber auch mit ihrer das Notwenige, Gute und Bessere einfordernden Konsequenz erhalten bleibt. Der vorliegende Band ist durch die Mitwirkung vieler zustande gekommen. Unser Dank gilt zunächst den Autoren, die sich alle sofort und gerne bereit fanden, einen Beitrag zu übernehmen. Des Weiteren danken wir den Mitarbeitern des Verlags de Gruyter, insbesondere Frau Birgitta Zeller, für die ebenso effiziente wie angenehme Zusammenarbeit. An der Einrichtung der Beiträge waren Judith Eisel, Annekatrin Inder, Thomas Künzl, Nicola Neußel, Simone Täger und Marie Isabelle Vogel beteiligt, ihnen sei für ihr großes Engagement sehr herzlich gedankt. Ganz besonders danken wir Susanne Schul, die zum einen ebenfalls an der Einrichtung der Beiträge beteiligt war und bei der zudem die Verantwortung für die Organisation und Durchführung der redaktionellen Arbeiten lag. Andreas Gardt, Mireille Schnyder, Jürgen Wolf
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Heft 4, 2009.
I. Materialität und Medialität des Buchs
Jürgen Wolf
Von geschriebenen Drucken und gedruckten Handschriften Irritierende Beobachtungen zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Buchdrucks in der 2. Hälfte des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts I. Grundlegung Mitte des 15. Jahrhunderts ist Johannes Gutenbergs Erfindung – der Druck mit beweglichen Lettern – so weit perfektioniert, dass erstmals umfängliche Bücher mechanisch vervielfältigt werden können. Was uns heute als Medienrevolution erscheint,1 hatte in der Perspektive Gutenbergs und seiner Zeitgenossen jedoch eine ganz andere Dimension: Gutenberg ging es darum, handschriftliche Bücher einfacher und vor allem besser herstellen zu können. Im Vorwort der Psalterausgabe von 1457 (GW M31679) und nahezu wortgleich in Gutenbergs Catholicon (GW 3182) heißt es dazu: Das vorliegende Buch [...], durch die Schönheit der Initialen geschmückt und mit unterscheidenden Rubriken hinlänglich versehen, ist durch die kunstreiche Erfindung zu
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Vgl. die Überblicke von JÜRGEN WOLF/STEFAN DOTZLER: Textreproduktion. Handschriftliche Überlieferung – Durchsetzung des Buchdrucks – Handschrift im Zeitalter des Buchdrucks. In: Medien der Literatur. Ein Handbuch. Hrsg. von NATALIE BINCZEK/TILL DEMBECK/ JÖRGEN SCHÄFER, Berlin, New York 2011 (im Erscheinen; mit aktueller Literaturübersicht) und der Jubilarin CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE: Die literarische Welt des Mittelalters, Darmstadt 2007, S. 55-59 sowie zum Aspekt der Medienrevolution insb. ELIZABETH L. EISENSTEIN: The Printing Press as an Agent of Change - Communication and Cultural Transformations in Early Modern Europe, 2 Bde., Cambridge, London 1979; dies.: Die Druckerpresse. Kulturrevolution im frühen modernen Europa, Wien, New York 1997; MARSHALL MCLUHAN: Die Gutenberg Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Bonn u.a. 1995; MICHAEL GIESECKE: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1991; ders.: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft. 2. durchgesehene Aufl., Frankfurt a. M. 1998; Gutenberg. aventur und kunst. Vom Geheimunternehmen zur ersten Medienrevolution, Mainz 2000 und GÜNTER SCHOLZ/PETR MASEK (Hrsg.): Mit Gutenberg fing es an. Die Medienrevolution verändert die Welt, Böblingen 2005. Vgl. kritisch reflektierend FRIEDER SCHANZE: Der Buchdruck eine Medienrevolution? In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea 16), S. 286-311; URSULA RAUTENBERG: Medienkonkurrenz und Medienmischung – Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Druck im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in Köln. In: Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck. Hrsg. von GERD DICKE/KLAUS GRUBMÜLLER, Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 16), S. 165-202 und RÜDIGER SCHNELL: Handschrift und Druck. Zur funktionalen Differenzierung im 15. und 16. Jahrhundert. In: IASL 32 (2008), S. 66-111.
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Jürgen Wolf drucken und Buchstaben zu bilden, ohne irgend ein Schreibrohr so ausgeführt und zur Verehrung Gottes mit Fleiß zu Stande gebracht worden [...].2
In der 1460 erschienen Catholicon-Ausgabe fügt Johannes Gutenberg noch eigens hinzu, dass „dieses vortreffliche Buch Catholikon [...] mit der wunderbaren Harmonie und dem Maß der Typen und Formen gedruckt und vollendet worden“ war.3 Guillaume Fichet, Professor an der Sorbonne, bezeichnete anlässlich der ersten Druckausgaben in Frankreich die neue Erfindung sogar explizit als „die fast göttliche Kunst des Schreibens, die Deutschland / Jüngst hat ersonnen“,4 und diese, „die fast göttliche Kunst des Schreibens“, ist nichts anderes als der Buchdruck. Gutenbergs Ziel, eine schönere Handschrift mechanisch herstellen zu können, war perfekt umgesetzt worden. Es überrascht deshalb auch nicht, dass sich die ältesten Druckprodukte sowohl auf der visuellen als auch auf der textuellen Ebene durch nichts von gleichzeitigen Handschriften unterscheiden, denn „das Buch sollte nicht wie gedruckt, sondern wie geschrieben aussehen.“5 Es sind dieselben Schriftarten,6 dieselben Einrichtungs- und Ausstattungsmuster, dieselben Formate und letztlich sogar dieselben Texte, die nun im Buchdruck erscheinen – nur alles etwas ebenmäßiger, schöner und korrekter, so jedenfalls der Anspruch der frühen Drucker. Und gerade mit der intensiven neuartig-positiven Textbetreuung, d.h. der durch keine Schreibernachlässigkeiten7 beeinträchtigten Werkintegrität, bewarb man die neuen Produkte, so z.B. Peter Schöffer in einer um 1472/73 gedruckten
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Lat. Originaltext und Übersetzung in EVGENIJ L. NEMIROVSKIJ: Gutenberg und der älteste Buchdruck in Selbstzeugnissen. Chrestomathie und Bibliographie 1454-1550, BadenBaden 2003 (Bibl. Bibliographica Aureliana 202), Zitat ebd. S. 16. Lat. Originaltext und Übersetzung in NEMIROVSKIJ (Anm. 2), S. 17f. HANS WIDMANN: Vom Nutzen und Nachteil der Erfindung des Buchdrucks – aus der Sicht der Zeitgenossen des Erfinders, Mainz 1973, S. 12 (Übersetzung der lat. Distichen von WIDMANN). BRINKER-VON DER HEYDE (Anm. 1), S. 56; vgl. ebd. S. 57 mit der Abbildung einer Seite aus dem Kasseler Exemplar der 42-zeiligen Gutenberg-Bibel, das handkoloriert ist, von Hand mit Initialen und Bildern ausgestattet wurde und das marginal bisweilen blattfüllend von Hand kommentiert ist. Handschrift und Druck sind eins. Vgl. exemplarisch OTTO MAZAL: Paläographie und Paläotypie. Zur Schriftgeschichte des 15. Jahrhunderts. In: Buch und Text im 15. Jahrhundert. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 1. bis 3. März 1978. Hrsg. von LOTTE HELLINGA/HELMAR HÄRTEL, Hamburg 1981, S. 59-78 und MARTIN STEINMANN: Von der Handschrift zur Druckschrift der Renaissance. In: Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert. Hrsg. vom Vorstand der Maximilian-Gesellschaft. Erster Halbband, Hamburg 1995, S. 203-264 sowie SEVERIN CORSTEN: Die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. In: ebd., S. 125-202, bes. S. 170-182. Vgl. zum Problem Schreiber/Schreiberkorruptionen im Überblick Der Schreiber im Mittelalter. Hrsg. von MARTIN J. SCHUBERT, Berlin 2002 (Zeitschrift des Mediävistenverbandes 7.2) sowie exemplarisch JÜRGEN WOLF: Der Text in den Fängen der Schreiber oder: Sind die Sorgen der Autoren um Textkorruption und Textzerstörung berechtigt? In: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von BRITTA BUßMANN et al., Berlin/New York 2005 (Trends in Medieval Philology 5), S. 29-42.
Von geschriebenen Drucken und gedruckten Handschriften
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Bücheranzeige zu seinen neuen Ausgaben des Decretum Gratiani (GW 11353) und der Decretalen Papst Gregors IX. (GW 11451): Niemand möge sich vom Kauf dieser Bücher aus dem Grund abhalten lassen, dass sie durch Flüchtigkeitsversehen oder regelrechte Fehler entstellt sind [...] Mit welch peinlicher Sorgfalt und Bemühung und mit wie viel geistiger und körperlicher Arbeit der Druck dieser Bücher verbessert und durchgesehen wurde, wird jedermann unter dem Beistand dessen, der das wahre Licht der Gerechtigkeit ist, einsehen, sobald diese Bücher erschienen sind. (GW M40877) 8
Blickt man aus der Perspektive der Zeitgenossen auf die neue Erfindung, verschiebt sich also das Koordinatensystem: Gedrucktes Buch und handgeschriebenes Buch sind in der zeitgenössischen Wahrnehmung letztlich identisch. Sie stellen zwei Varianten des einen Texttransportmediums ‚Buch’ dar. Nebenbei bemerkt: Auch die Preise für die uns so unterschiedlich anmutenden Bücher sind und bleiben für lange Zeit dieselben.9 Keinesfalls verwunderlich ist es vor diesem Hintergrund, dass die Zeitgenossen die Produkte auch tatsächlich als identisch wahrnehmen, wobei man sich aber durchaus bewusst ist, dass das eingesetzte Druckverfahren eine neue, bahnbrechende Erfindung darstellt.10 Buchdruck und Handschriftenkultur existieren nun für ein knappes halbes Jahrhundert parallel nebeneinander. Über Jahrzehnte hinweg unterscheiden sich gedruckte Bücher in ihrem Aussehen, in ihrer Wahrnehmung und ihrem Nutzungshorizont kaum oder gar nicht von den älteren oder zeitgleich hergestellten Handschriften; und gedruckt wird, was im Handschriftzeitalter erfolgreich war bzw. geschrieben wird zukünftig, was jetzt im Druckzeitalter erfolgreich ist. „Zumindest für einen längeren Zeitraum waren in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Handschriften und typographisch hergestellte Inkunabeln ebenso sehr gleichzeitige wie – und dies nicht selten – konkurrierende Er8 9
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Lat. Originaltext und Übersetzung in NEMIROVSKIJ (Anm. 2), S. 52f. Exemplarisch für die Frühphase LEONHARD HOFFMANN: Buchmarkt und Bücherpreise im Frühdruckzeitalter. Der Antoniter Petrus Mitte de Caprariis als Käufer der ersten Frühdrucke in Rom (1468/69). In: Gutenberg-Jahrbuch 75 (2000), S. 73-81 und TILO BRANDIS: Handschriften- und Buchproduktion im 15. und frühen 16. Jahrhundert. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hrsg. von LUDGER GRENZMANN/KARL STACKMANN, Stuttgart 1984, S. 176-193, hier S. 186-188 sowie für Augsburg HANS-JÖRG KÜNAST: Getruckt zu Augspurg. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555, Tübingen 1997 (Studia Augustana 9) und zur allgemeinen Preisentwicklung von 1460 bis 1560 UWE NEDDERMEYER: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte, Wiesbaden 1998, Bd. 2, Diagramm 16a-c. Vgl. dazu etwa die zeitgenössischen Ausführungen des Werner Rolevinck in seinem ‚Fasciculus temporum’, wo er z.B. in der Ausgabe Rougemont 1481 (GW M38708) ausführlich über den bahnbrechenden Charakter der Erfindung und deren Wirkung reflektiert. Auch Hartmann Schedel in seiner 1493 erschienenen Weltchronik ebenso wie zahlreiche Kollegen in lateinischen Grundlagenwerken bewerten die Erfindung ähnlich; zahlreiche zeitgenössische Zeugnisse sammeln WIDMANN: Vom Nutzen und Nachteil (Anm. 4) und NEMIROVSKIJ (Anm. 2).
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Jürgen Wolf
scheinungsformen des Buchs.“11 Trotz aller Ähnlichkeiten änderte sich mit dem Einsatz der beweglichen Lettern in der Buchwahrnehmung und der Buchvermarktung Grundlegendes. Die neuen gedruckten Bücher sahen zwar kaum anders aus, lagen aber jetzt mehr oder weniger plötzlich in 200 bis 500, später sogar in 1.000 bis 2.000 identischen Exemplaren vor – so die Druckauflagen zu Beginn des Buchdrucks bis um 1520. Und auf diese Bücher warteten nun keine individuellen Auftraggeber mehr,12 sondern sie mussten an ein anonymes Publikum ‚abstrakt’ verkauft werden. Und noch etwas fällt auf: Beide Arten der Buchproduktion waren anfänglich eng miteinander verzahnt. So druckten die Drucker ihre Texte nach bisweilen viele Jahrzehnte alten handschriftlichen Vorlagen und ließen Holzschnitte nach alten Handschriftenillustrationen nachschneiden. Die Schreiber kopierten ihrerseits brandaktuelle Drucke und malten die publikumswirksamen Holzschnitte aus den Drucken ab. Auch gründeten einzelne Schreiber Druckwerkstätten oder waren – wie der Augsburger Berufsschreiber Konrad Bollstatter – als Buchmaler oder Korrektoren für die Offizinen tätig. Genau um diese vielschichtigen Verflechtungen soll es im vorliegenden Beitrag gehen. Exemplarisch in den Blick genommen werden verschiedene Aspekte der Parallelität und der Durchdringung der beiden Medientypen, wobei das Materialkorpus schon wegen der schieren Masse – man geht mittlerweile „von mindestens 28.000, eventuell sogar über 30.000“ Inkunabeldrucken13 aus – auf die volkssprachig-deutschen bzw. -niederländischen Inkunabeldrucke beschränkt bleiben muss. Da selbst dieses nur ca. 10% ausmachende Drucksegment mit vielleicht 3.200-3.500 Ausgaben14 kaum zu überblicken ist, können die 11
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WOLFGANG AUGUSTYN: Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck in Deutschland – Versuch einer Skizze aus kunsthistorischer Sicht. In: DICKE/GRUBMÜLLER (Anm. 1), S. 5-47, hier S. 6; vgl. auch die nach wie vor sehr wertvolle Skizze von HANS LÜLFING: Die Fortdauer der handschriftlichen Buchherstellung nach der Erfindung des Buchdrucks – ein buchgeschichtliches Problem. In: HELLINGA/HÄRTEL (Anm. 6), S. 17-26. Nur ein kleiner Teil der Auflagen bzw. der Drucke waren Auftraggeber-Arbeiten. Der weit überwiegende Teil der Druckerzeugnisse musste ‚vermarktet’ werden; vgl. zur Entwicklung der Auflagenhöhen NEDDERMEYER (Anm. 9), Bd. 2, S. 613f. Diagramme 9a-10. Für diese und die weiteren Schätzzahlen danke ich ganz herzlich Dr. Falk Eisermann (Referatsleiter Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz - Gesamtkatalog der Wiegendrucke/Inkunabelsammlung); zur Materialbasis vgl. den GW (http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de/; 21.06.2011; mit über 50000 GW-Nummern; darunter allerdings zahlreiche ‚Ghosts’ sowie Doppel- und Mehrfachnennungen) sowie ergänzend den ISTC = Incunabula Short Title Catalogue der British Library (http://www.bl.uk/catalogues/istc/; 21.06.2011) und den INKA = Inkunabelkatalog deutscher Bibliotheken (http://www.inka.uni-tuebingen.de/; 21.06.2011); zur Diskussion um die Gesamtzahl der Inkunabeldrucke vgl. zusammenfassend KARL DACHS/WIELAND SCHMIDT: Wie viele Inkunabelausgaben gibt es wirklich? In: Bibliotheksforum Bayern 2 (1974), S. 83-95 und HANS JOACHIM KOPPITZ: Studien zur Tradierung der weltlichen mittelhochdeutschen Epik im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert, München 1980, S. 2022. Eine Suchanfrage in der GW-Datenbank (25.8.2010) zu Drucken in deutscher Sprache erbrachte 3.226 Treffer, hinzuzurechnen wären noch etwa 300 Drucke in niederländischer
Von geschriebenen Drucken und gedruckten Handschriften
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unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnisse von Drucken und Handschriften, d.h. die aus alten Handschriften geschöpften Druckausgaben, allenfalls grob skizziert werden (II.1). Im Zentrum stehen bislang wenig untersuchte Phänomene wie das handschriftliche Kopieren aus Drucken (II.2.) und die herstellungstechnisch übergreifenden Sammelbände mit Druck- und Handschriftenfaszikeln (III.).
II. Aspekte der Parallelität: Buchdruck und Handschrift neben- und ineinander Schaut man das Verfasserlexikon in seiner 2. Auflage15 (2VL) als umfassendste Bestandsaufnahme mittelalterlich-deutscher Literaturproduktion durch, fällt auf, dass mehr als ein Viertel der dort auf über 10.000 Druckseiten erfassten mittelalterlichen Autoren und Texte in irgendeiner Form mit dem Buchdruck in Verbindung stehen. In den allermeisten Fällen wird sogar ein direktes Abhängigkeitsverhältnis sichtbar bzw. postuliert, d.h. aus einer vorangehenden – bisweilen alten oder sogar uralten16 – handschriftlichen Vorlage wird irgendwann nach den 1450er Jahren eine Druckfassung erstellt, die dann eine, aber oft auch mehrere Druckauflagen erlebt. Eine direkte Beziehung der Inkunabeldrucker zum handschriftlichen Werk/Autor ist jedoch fast nie konkret nachzuweisen. Überhaupt treten nur wenige Inkunabeldrucker als Autoren in Erscheinung. „Überblickt man die deutsche ‚Druckerszene’ des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, so stößt man (vorläufig) auf ein gutes Dutzend Drucker, die auch schriftstellerisch tätig sind.“17 Neben den ebenda bei HONEMANN genannten 13 Drucker-Autoren: Anton Sorg – er macht sich als Autor und Übersetzer einen Namen, Albrecht Pfister, Johannes Regiomontanus, Adam von Rottweil, Johann Bämler, Hans Folz – er „dichtete und schrieb in seiner Nürnberger Zeit nicht weniger als 100 Meisterlieder, 12 Fastnachtsspiele, 48 Reimpaarerzählungen und zwei Prosatraktate“, Matthäus Roritzer, Georg Glockendon, Friedrich Riedrer, Jakob Köbel, Johann Otmar, Nikolaus Marschalk, Johann Schott und Pamphilus Gengenbach, wären etwa noch zu ergänzen:
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Sprache; vgl. KOPPITZ: Studien zur Tradierung (Anm. 13), S. 23: „2.956 deutschsprachige Inkunabeln“ und ders.: Zur deutschen Buchproduktion des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Gutenberg Jahrbuch 62 (1987), S. 16-25, zu den Zahlen bes. S. 16f. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Hrsg. von KURT RUH zusammen mit GUNDOLF KEIL [u.a.]. 2. völlig neu bearb. Aufl., Berlin, New York 1978ff. Bd. 1ff. Bisweilen gelangen sogar althochdeutsche Texte (oder zumindest althochdeutsche Glossen) mehr als 500 Jahre nach ihrer Entstehung in den Buchdruck. Überblick bei VOLKER HONEMANN: Inkunabeldrucker als Autoren – Autoren als Inkunabeldrucker. In: Gutenberg-Jahrbuch 81 (2006), S. 85-100 (Zitat ebd. S. 88).
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Jürgen Wolf Ͳ der 1477 in Nürnberg geborene Marx Ayrer (Almanach für Bamberg auf das Jahr 1483),18 Ͳ der Bamberger Drucker Heinrich Petzensteiner, dem als Autor das Bamberger Rechenbuch 1483 zugeschrieben wird,19 Ͳ Konrad Braeme, der neben Lanfranks von Mailand Chirurgia parva auch selbst übersetzte deutsche Klassikerausgaben auf den Markt brachte,20 Ͳ der Straßburger Drucker Heinrich Eggestein (deutsche Kalender),21 Ͳ der Straßburger Johann Schott (deutsche Übersetzung der Vita Christi des Ludolf von Sachsen),22 Ͳ der Basler Drucker Bernhard Richel, der eine Reimchronik wenn nicht verfasste, so zumindest anregte,23 Ͳ der Drucker und Herausgeber Ludwig Hohenwang, der die erste dt. Übersetzung der Epitoma rei militaris schuf,24 Ͳ Berthold Huber, der einen Petroltraktat überarbeitete und druckte.25
Bis auf wenige Ausnahmen ist das Œuvre all dieser Drucker-Autoren literarisch bedeutungslos. In der Regel gehen Handwerk (Druck) und Autorschaft eben nicht zusammen. Andersherum nicht weniger bedeutungslos sind die Dichter/ Autoren für das Druckgewerbe. Obwohl beide Zweige also grundsätzlich separiert sind und dies auch bis ins 16. Jahrhundert bleiben, ist die Vernetzung von Druckern und Autoren, Redaktoren und Übersetzern doch eine der zentralen Grundlagen des neuen Mediums, denn ebenso wie die Autoren, Redaktoren und Übersetzer für die Textbasis der Drucker unerlässlich sind, sind die Drucker als Text-Multiplikatoren für die Autoren, Redaktoren und Übersetzer unersetzlich. Die Tiefe der jeweiligen Vernetzung ist freilich höchst unterschiedlich – nicht selten mit bisweilen dramatischen Folgen für die Textqualität: Druckfehler, Textkorruption bis hin zur Textzerstörung und orthographische Nachlässigkeiten aller Art sind in vielen Drucken gang und gäbe, wenn Redaktoren, Autoren und vielleicht auch nur orthographisch geschulte Mitarbeiter fehlen. Bisweilen hat man den Eindruck, als druckten Analphabeten.26 Genau dies wird von den Zeitgenossen bald auch als eine gefährliche Schwäche des sonst hoch gelobten neuen Mediums gebranntmarkt, denn, wie heißt es – wohl aus reicher Erfahrung mit verderbten Druckwerken schöpfend – in Sebastian Brants Narrenschiff, und zwar bezeichnenderweise im Kapitel „Vom endekrist“: 18 19 20 21 22
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Vgl. WOLFRAM SCHMITT: Marx Ayrer: In: 2VL 1 (1978), Sp. 576. Vgl. MONIKA ZIMMERMANN: Bamberger Rechenbuch. In: 2VL 1 (1978), Sp. 596-600. Vgl. GUNDOLF KEIL: Konrad Bra(e)me. In: 2VL 1 (1978), Sp. 984f. Vgl. GUNDOLF KEIL: Heinrich Eggestein. In: 2VL 2 (1980), Sp. 371-377. Vgl. WALTER BAIER/KURT RUH: Ludolf von Sachsen. In: 2VL 5 (1980), Sp. 967-977, hier Sp. 973f. Vgl. KURT HANNEMANN: Burgundische Legende. In: 2VL 1 (1978), Sp. 1131-1134. Vgl. WERNER FECHTER: Ludwig Hohenwang als Schreiber. Neues zu seiner Biographie. In: Gutenberg-Jahrbuch 52 (1977), S. 29-48 und VOLKER SCHMIDTCHEN: Ludwig Hohenwang. In: 2VL 4 (1983), Sp. 101-105. Vgl. GUNDOLF KEIL/WILLEM FRANS DAEMS: Petroltraktate (Erdöl-Schreizettel). In: 2VL 7 (1989), Sp. 490-493, hier Sp. 491f. Vgl. mit einigen Beispielen WIDMANN: Vom Nutzen und Nachteil (Anm. 4), S. 28ff.
Von geschriebenen Drucken und gedruckten Handschriften Falsch glouben / vnd vil falscher ler Wachsen von tag zu tag ye mer. Dar zuo / duont drucker yetz gut stür Man brannt vil vnrecht / falsch dar inn Vil trachten alleyn vff gewynn Von aller erd sie buecher suochen Der correctur etlich wenig ruochen Uff groß beschisß vil yetz studyeren Vil drucken / wenig corrigyren
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(Narrenschiff Cap. 103, 75-8427)
Ungeachtet dessen wurden die unterschiedlichen Transportmedien trotzdem über alle kulturellen und technischen Entwicklungen hinweg als zwar unterschiedliche, aber in ihrer Funktionalität identische Transportmedien begriffen. An dieser grundsätzlichen Beobachtung ändern auch die druckkritischen Äußerungen nichts, denn kritisiert wurden meist nur die negativen Auswüchse, d.h. die Missbräuche und Missstände der neuen Technik oder etwaige negative Folgen für das geistliche Wohl der Schreiber. So fordert Johannes Trithemius in De laudo scriptorum bekanntermaßen vehement ein, „daß man wegen des Buchdrucks vom Kopieren der Handschriften nicht ablassen soll[e].“ Als Gründe führt er die ungleich längere Haltbarkeit der auf Pergament geschriebenen gegenüber den auf vergänglichem Papier gedruckten Büchern ebenso an wie die Zeitlosigkeit der Handschrift, die geringe Achtung der Drucker vor der richtigen Schreibung und das Fehlen einer adäquaten Buchausstattung. Letztlich geht es ihm aber auch (und vornehmlich?) um das Schreiben an sich, das als heiliger Akt den (klösterlichen) Schreibern vernünftiges Tun und Gotteslohn, d.h. die Nähe zu Gott garantierte.28 Und selbstverständlich wurde sein Schreiberlob gedruckt. Es erschien 1494 bei Peter von Friedberg in Mainz (GW M47538), denn die überragende Bedeutung des neuen Mediums war Trithemius nur zu bewusst. Die später allgegenwärtige Kritik, dass die tumben, mit dem eigenständigen Zugriff auf die nun in unzähligen Exemplaren gedruckten (Bibel-)Texte überfordert und letztlich wegen der fehlenden geistlichen Anleitung bei der Auslegung eine Beute des Teufels werden könnten, spielt erst in den Propagandaschlachten der Reformationszeit eine nennenswerte Rolle und wird vornehmlich von den katholischen Gegnern Luthers eingesetzt.
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Zitierte Ausgabe: Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben. Hrsg. von MANFRED LEMMER, 4., erw. Auflage, Tübingen 2004 (Neudrucke deutscher Literaturwerke NF 5); vgl. zur Stelle auch BRINKER-VON DER HEYDE (Anm. 1), S. 58f. Lat. Originaltext und Übersetzung in NEMIROVSKIJ (Anm. 2), S. 91-93 und WIDMANN: Vom Nutzen und Nachteil (Anm. 4), S. 40-43; zur asketischen Dimension des Buchschreibens vgl. auch TILO BRANDIS: Die Handschrift zwischen Mittelalter und Neuzeit. Versuch einer Typologie. In: Gutenberg-Jahrbuch 72 (1997), S. 27-57, hier S. 43-45.
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II.1. Drucke aus Handschriften Blicken wir nun in die Inkunabeldrucke selbst hinein. Der weit überwiegende Bestand aller Drucke des 15. Jahrhunderts beruht auf älteren handschriftlich überlieferten Werken. Das Spektrum der Handschriftenabdrucke bzw. der auf handschriftlichen Vorlagen beruhenden Druckausgaben reicht von exakten, bisweilen buchstaben- und ggf. sogar bildgetreuen Übertragungen der alten Handschriften in das Druckbild bis hin zu radikalen Um- bzw. Neuarbeitungen. Und es werden nicht nur die Texte aus den Handschriften ‚kopiert‘, sondern auch das Bildmaterial.29 Oft wird sogar direkt ‚abgekupfert‘. Deshalb sind spiegelverkehrte, d.h. kopierte Bilder in den Drucken keine Seltenheit.30 Verbreitete Umarbeitungsvorgänge sind z.B. die Prosaisierung alter Versklassiker, das Aktualisieren, das Kürzen oder Erweitern sowie das Bebildern.31 In der Regel bleibt der konkrete Zusammenhang zwischen handschriftlicher Überlieferung und Druckfassung dabei fast immer im Dunklen. Die Drucker bzw. die Offizinen verzeichnen nicht bzw. machen in der Regel nicht öffentlich, aus welcher Handschrift die Druckvorlage stammt und was genau sie oder entsprechende Zu- bzw. Mitarbeiter mit dieser Vorlage gemacht haben, woher sie stammte und was anschließend mit ihr geschah. Erschwerend kommt hinzu, dass fast alle Druckvorlagen entweder durch den direkten Verschleiß im Zuge der Drucklegung oder ‚normale’ Verluste im Laufe der Jahrhunderte verloren sind.32
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Vgl. exemplarisch DORIS FOUQUET: Spätmittelalterliche Tristan-Illustrationen in Handschrift und Druck. In: Gutenberg-Jahrbuch 47 (1972), S. 292-309, NORBERT H. OTT: Die Handschriften-Tradition im 15. Jahrhundert. In: Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert. Hrsg. vom Vorstand der Maximilian-Gesellschaft. Erster Halbband, Hamburg 1995, S. 47-124, bes. S. 105-114 sowie ders.: Leitmedium Holzschnitt: Tendenzen und Entwicklungslinien der Druckillustration in Mittelalter und früher Neuzeit. In: Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert. Hrsg. vom Vorstand der Maximilian-Gesellschaft. Zweiter Halbband, Hamburg 1999, S. 163-252 und Poesis et Pictura. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Handschriften und alten Drucken. Festschrift für Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag. Hrsg. von STEPHAN FÜSSEL und JOACHIM KNAPE, Baden-Baden 1989 (Saecula Spiritalia, Sonderbd.). Vgl. z.B. die Liste von Druck-Illustrationen, die direkt abhängig sind von HandschriftenIllustrationen bei OTT: Die Handschriften-Tradition (Anm. 29), S. 107-110. Einen Überblick bieten z.B. KOPPITZ: Studien zur Tradierung (Anm. 13) und ders.: Zum Erfolg verurteilt. Auswirkungen der Erfindung des Buchdrucks auf die Überlieferung deutscher Texte bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts. In: Gutenberg-Jahrbuch 55 (1980), S. 67-78. Eine Liste von 37 erhaltenen Handschriften (und Drucken), die als Vorlage für Inkunabeldrucke dienten, bietet z.B. MARGARET LANE FORD: Author’s Autograph and Printer’s Copy: Walter Rolewinck’s ‚Paradisus Conscientiae’. In: Incunabula. Studies in 15th Century Printed Books. Presented to LOTTE HELLINGA. Ed. by MARTIN DAVIES, London 1999, S. 109-128; vgl. dazu auch LOTTE HELLINGA: Manuscripts in the Hands of Printers. In: Manuscripts in the fifty years after the invetion of Printing. Ed. by J.B. TRAPP, London 1983, S. 3-11; LOTTE HELLINGA: Compositors and Editors. Preparing Texts for Printing in the Fiftheenth Century. In: Gutenberg Jahrbuch 75 (2000), S. 152-159 und RICHARD F. M. BYRN: Nahtstelle Handschrift – Druckvorlage: Johannes Bämler im Augsburger Kloster St.
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Andersherum verzichten ebenso regelmäßig die für den Drucker arbeitenden Redaktoren, Übersetzer und Korrektoren darauf, sich für ihre Aufbereitung der handschriftlichen Vorlage zu nennen, geschweige denn zu rühmen. In einigen wenigen, vielleicht bezeichnenderweise gerade den sehr erfolgreichen Übersetzungen lateinischer Klassiker sowie den Prosadrucken alter Epenklassiker – wie dem Tristrant Eilharts von Oberge oder dem Wigalois Wirnts von Grafenberg – lassen sich in einem neuen Typus von Prologen und Epilogen möglicherweise einige Grundmuster eines solchen Zusammenhangs von Handschrift und Druck erahnen. So werden in beiden genannten EpenDrucken „etlich edel vnd auch ander personen / ma? vnd frawen“33 – also Interessenten bzw. Auftraggeber – namhaft gemacht, die die Geschichte in Prosa verlangten. Angeführt werden auch die Gründe: weil viele die alten Verse nicht mehr begreifen konnten. Aber von der leüt wegen die Ǖoellicher gereÿmter buecher nicht genad habƝ. auch etlich die die kunǕt dr reÿmƝ nit aigentlich verǕteen kündent hab jch Vngenannt diǕe HÿǕtorj in die form gebracht. Wo aber jch geirret hab bitt jch zĤ beǕǕern. die dz leǕen. oder abǕchreÿbƝt. (GW 12819: Historia. Tristan. Tristrant und Isalde. Augsburg: Anton Sorg, 1484).
Die Redaktoren, die diese Umarbeitungen vielleicht sogar im unmittelbaren Auftrag eines Druckers durchführten, bleiben allerdings „Ungenannt“. Auch verraten diese Ungenannten wenig bis nichts über die konkreten handschriftlichen Vorlagen, obwohl der Tristrant-Bearbeiter durchaus sehr kundig auf die alte handschriftliche Überlieferung und sogar die Quellenlage insgesamt rekurriert: Von dÿǕer hÿǕtorj hat vonn erǕte geǕchriben der maiǕter von Britanie. vnnd nach mals Ǖein bĤch gelühen einem mit namen Filhart vǀ oberet. dr hat es darnach in reÿm geǕchriben. (GW 12819: Historia. Tristan. Tristrant und Isalde. Augsburg: Anton Sorg, 1484).
Es gab also sowohl ein Bewusstsein für das Alte, Handgeschriebene (vgl. dazu auch die Ausführungen von Trithemius) als auch für Text- bzw. Werktraditionen, die es galt, von der Handschrift (und ggf. der Versform) in den Druck (und ggf. die Prosa) zu überführen.
II.2. Handschriftliche Druckabschriften Der über viele Jahrzehnte parallelen Existenz des handschriftlichen und des gedruckten Buchs ist es geschuldet, dass man die in den Büchern transportierten Texte identisch wahrnahm, d.h. man sah keinen Wertmalus zwischen einem im Druck tradierten und einem in einem handschriftlichen Buch überlieferten Text.
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Ulrich und Afra. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von ELIZABETH A. ANDERSEN, Berlin, New York 2005, S. 437-450. Vorrede des Drucks Herr Wigoleys vom Rade. Augsburg: Johann Schönsperger d.Ä. 1493 (GW 12842).
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Folglich gab es für die Rezeption und die weitere Tradierung eines Werks hinsichtlich seines Transportmediums auch keine Wertigkeitsdifferenz. Aus einem Druck wurde genauso selbstverständlich abgeschrieben bzw. nachgedruckt wie aus einer Handschrift. Die genauen Dimensionen dieses mediennivellierenden Phänomens sind freilich noch weitgehend unbekannt. Nur in vergleichsweise wenigen Fällen sind Handschriften- und Drucküberlieferung so detailliert untersucht, dass die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen beiden Medien überhaupt transparent werden.34 In den Fällen, wo beide Überlieferungslinien sehr gut aufgearbeitet sind, so z.B. bei der frühhumanistischen Übersetzungsliteratur,35 Schachzabelbüchern,36 ‚Esop‘-Bearbeitungen,37 medizinischer Fachprosa,38 Geschichtswerken39 sowie einigen Legenden- und Bibelbearbeitungen,40 fällt die 34
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Rund 100 handschriftliche Abschriften deutscher Drucke sind derzeit (25.8.2010) im Handschriftencensus nachgewiesen (http://www.handschriftencensus.de/; 21.06.2011). Wie hoch der Anteil von Druckabschriften unter den rund 17.000 deutschsprachigen Handschriften und Fragmente des 15. und frühen 16. Jahrhunderts tatsächlich ist, kann derzeit noch nicht einmal geschätzt werden. Nach ersten Stichproben dürfte sich die Zahl im zweistelligen Prozentbereich (d.h. > 2.000) bewegen; vgl. mit einigen Beispielen M. D. REEVE: Manuscripts copied from printed Books. In: TRAPP (Anm. 32), S. 12-20. Geradezu als Pilotprojekt eines solchen Zusammenwirkens von Handschriften- und Druckforschung kann das ‚Marburger Repertorium zur Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus’ (http://mrfh.online.uni-marburg.de/; 21.06.2011) gelten: „Das von der DFG ab 2007 geförderte Projekt dokumentiert in digitaler Form deutschsprachige Texte in der Epoche des deutschen Frühhumanismus“ (ebd.). Handschriften und Drucke werden gleichberechtigt berücksichtigt. Vgl. exemplarisch OLIVER PLESSOW/VOLKER HONEMANN/MAREIKE TEMMEN: Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung. Der Schachtraktat des Jacobus de Cessolis im Kontext spätmittelalterlicher Rezeption, Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496. 12). Vgl. exemplarisch GERD DICKE: Heinrich Steinhöwels ‚Esopus’ und seine Fortsetzer. Untersuchungen zu einem Bucherfolg der Frühdruckzeit, Tübingen 1994 (MTU 103). Vgl. exemplarisch ORTRUN RIHA: Vom mittelalterlichen ‚Hausbuch’ zur frühneuzeitlichen ‚Hausväterliteratur’: Medizinische Texte in Handschrift und Buchdruck. In: DICKE/GRUBMÜLLER (Anm. 1), S. 203-227. Vgl. exemplarisch DIETER MERTENS: Früher Buchdruck und Historiographie. Zur Rezeption historiographischer Literatur im Bürgertum des deutschen Spätmittelalters beim Übergang vom Schreiben zum Drucken. In: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von BERND MOELLER/HANS PATZE/KARL STACKMANN, Göttingen 1983, S. 83-111 (Abhh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen. Phil.-hist. Klasse 3. Folge Nr.137); ANNA-DOROTHEE VON DEN BRINCKEN: Die Rezeption mittelalterlicher Historiographie durch den Inkunabeldruck. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Hrsg. von HANS PATZE, Sigmaringen 1987 (Vorträge und Forschungen 31), S. 215-236 und PETER JOHANEK: Historiographie und Buchdruck im ausgehenden 15. Jahrhundert. In: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von KURT ANDERMANN, Sigmaringen 1988 (Oberrhein. Studien 7), S. 89-120. Vgl. exemplarisch die einschlägigen VL-Artikel zu den Bibeldrucken sowie Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters. Beiträge eines Kolloquiums im Deutschen Bibel-Archiv. Unter Mitarbeit v. NIKOLAUS HENKEL hrsg. von HEIMO REINITZER, Bern et al. 1991 (Vestiga Bibliae 9/10); Deutsche Bibeldrucke 1466-1600. Die Bibelsammlung der
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vergleichsweise große Zahl von handschriftlichen Druckabschriften ins Auge. Mit allerdings nach 1500 deutlich abnehmender Tendenz scheint es in weiten Kreisen des Stadtbürgertums, so jedenfalls die Befunde zu Schreibern und Besitzern, bis in das beginnende 16. Jahrhundert vornehmlich im Bereich der pragmatischen und der geistlichen Gebrauchsliteratur ein probates Mittel gewesen zu sein, sich grundlegende Werke mittels Druckabschriften zu sichern bzw. selbst herzustellen. Bei den ausgewählten Vorlagendrucken konnte es dabei um kleine Heftchen von nur wenigen Blättern Umfang41 bis hin zu Vollbibelausgaben mit über 1.000 Blättern in der Druckabschrift gehen.42 Nicht selten wurden diese Druckabschriften dann entweder zeitgleich mit dem Abschreibevorgang oder auch nachgängig individuell aufbereitet,43 d.h. ergänzt, aktualisiert, mit anderen Texten zu umfänglichen Sammlungen kombiniert oder auch durch Bilder und Ausmalungen ‚verschönert’. So hat man beispielsweise in eine in den 1480er Jahren erstellte Königsberger ‚Plenar‘Druckabschrift im 16. Jahrhundert auf den Blättern 2, 3v, 4r, 4v, 5r, 6v, 7r, 11v zahlreiche marginal teilkolorierte Holzschnitte aus einem Druck mit Darstellungen zu den Evangelien beigeklebt.44 Eine ähnlich aufwändige Bildausstattung war für eine Druckabschrift der deutschen Fassung der Mirabilia Romae vel
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Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, Zweite Abt., 1. Bd., Stuttgart, 1987 und KRISTIAN JENSEN: Printing the Bible in the fifteenth Century. In: Incunabula and their Readers. Printing, Selling and Using Books in the Fifteenth Century. Ed. by KRISTIAN JENSEN, London 2003, S. 115-138. Zu überdenken wäre in diesem Zusammenhang die These von BRANDIS: Handschrift (Anm. 28), S. 33, „daß die Bibel selbst und die großen mittelalterlichen Werke zu ihrer Exegese Ende des 15. Jahrhunderts nicht mehr in handgeschriebenen Bänden benötigt wurden.“ Zumindest die Zahl entsprechender (deutscher) Druckabschriften ist überraschend groß. Vgl. z.B. Berlin, SBB-PK, mgq 718 mit einem nur 2 Blätter (Bl. 28r-29r) umfassenden Druckabschriftenteil = Georg Glockendon: Von der kindpethkelnerin vnnd von den dienstmaiden von den erbarn dirn; vgl. http://www.handschriftencensus.de/18314 (21.06.2011). Vgl. z.B. die Abschrift der Mentelin-Bibel von 1466 (Freiburg i. Br., Universitätsbibl., Hs. 22a) mit 377 Blättern (vgl. WINFRIED HAGENMAIER: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek und die mittelalterlichen Handschriften anderer öffentlicher Sammlungen, Wiesbaden 1988 (Kataloge der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau 1,4), S. 13f.) oder die zweibändige Abschrift einer Zainer-Bibel des Nürnbergers Marx Pflaum (Dillingen, Studienbibl., Cod. XV 96 + Nürnberg, Stadtbibl., Solg. Ms. 17.2°) mit zusammen über 1140 Blättern (vgl. ELISABETH WUNDERLE: Die mittelalterlichen Handschriften der Studienbibliothek Dillingen, Wiesbaden 2006, S. 226-228). Vgl. z.B. die bei DICKE: Esop (wie Anm 36) erfassten zahlreichen Exemplare handschriftlich kommentierter und aufbereiteter ‚Esop‘-Drucke. RALF G. PÄSLER: Katalog der mittelalterlichen deutschsprachigen Handschriften der ehemaligen Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg. Nebst Beschreibungen der mittelalterlichen deutschsprachigen Fragmente des ehemaligen Staatsarchivs Königsberg. Auf der Grundlage der Vorarbeiten LUDWIG DENECKES hrsg. von UWE MEVES, München 2000 (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 15), S. 166f.; zur weiten Verbreitung des Phänomens vgl. grundlegend PETER SCHMIDT: Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2003 (Pictura et Poesis 16).
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potius Historia et descriptio urbis Romae (Berlin, SBB-PK, mgo 374) vorgesehen. Hier blieben allerdings die (nach der Druckvorlage?) eigens für die Bilder ausgesparten Plätze frei.45 Man findet aber auch „vollkommen getreue und mechanisch ausgeführte Abschriften“, so z.B. die bei OCHSENBEIN genannte originalgetreue Abschrift (Wien, ÖNB, Cod. 2706) der 1510 bei Martin Flach in Straßburg erschienenen Druckausgabe des Seelengärtleins (heute verloren).46 Gelegentlich sind die Beziehungen Druck – Handschrift so eng, dass die handschriftliche Kopie kaum von der Druckvorlage zu unterscheiden ist (und andersherum). Letztlich begegnen Druckabschriften bis ins 19. Jahrhundert. Allerdings sind die Motivationen, eine Druckausgabe abzuschreiben, im ausgehenden Mittelalter völlig andere als in der Moderne: Solange sich die Preise für Drucke und Handschriften kaum unterschieden, d.h. bis in die 1480/90er Jahre, war es für die Leser/Rezipienten offensichtlich gleichgültig, ob man einen Druck oder eine Handschrift erwarb. Bald darauf verfielen die Preise für Drucke dramatisch, und vor allem weit stärker als die für Handschriften. Aus Kostengründen rechnete sich der Erwerb einer Handschrift spätestens um die Jahrhundertwende nicht mehr. Ab den 1490er Jahren dürften deshalb vor allem zwei Gründe für den Erwerb einer bzw. den Auftrag zu Herstellung einer Druckabschrift gesprochen haben: Zum einen bot eine handschriftliche Kopie die Möglichkeit, individuelle Interessen – Ausstattungswünsche, Textvarianten, Aktualisierungen, Ergänzungen – in die entstehende Abschrift einzuschreiben. Zum anderen boten Druckabschriften auch ärmeren Zeitgenossen die Möglichkeit, ohne größeren Kapitaleinsatz sich ein Buch kostenneutral selbst zu kopieren. Bei der in den Jahrzehnten um 1500 in den großen Handelsmetropolen rasant gestiegenen Alphabetisierungsrate wird man diesen wirtschaftlichen Aspekt keinesfalls unterschätzen dürfen. Gerade bei Chroniken, Gebetbüchern47 und medizinisch-naturkundlich-pragmatischen Ausgaben ließen sich nur im handschriftlichen Verfahren individuelle, d.h. persönliche, lokale, zeitbedingte Bedürfnisse und Vorgaben adäquat um -setzen. Vor diesem Hintergrund überrascht es denn auch nicht, wenn unter den im Handschriftencensus nachgewiesenen Druckabschriften allgemein pragmatische und da vor allem chronistische und medizinisch-naturkundliche Texte dominieren. Signifikant scheint auch, dass sich die chronistischen Druckabschriften überproportional häufig in größeren Sammlungsverbünden mit historischem Material aller Art (Chroniken, Annalen, Urkunden, Briefe, Notizen, Nachrichten, hist. Lieder etc.) wiederfinden, wobei die Herkunft der zusammen45 46
47
http://www.handschriftencensus.de/9275 (21.06.2011). PETER OCHSENBEIN: Handschrift und Druck in der Gebetbuchliteratur zwischen 1470 und 1520. In: DICKE/GRUBMÜLLER (Anm. 1), S. 105-119, hier S. 116; vgl. zur Handschrift HERMANN MENHARDT: Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 1, Berlin 1960 (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13), S. 205. Vgl. grundlegend OCHSENBEIN: Handschrift und Druck (Anm. 46).
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gestellten Texte aus Drucken oder Handschriften von sekundärer Bedeutung zu sein scheint. Zentral waren die überlieferten Nachrichten, Botschaften und Wissenstatbestände (s. auch Kap. III). Man wollte schlicht alles wissen, alles berichten, alles für die Nachwelt erhalten. Wenn man sich nun einige solcher Druckabschriften genauer anschaut, fällt im Sinne der skizzierten Motive deren höchst unterschiedliche Gestaltung und Ausstattung auf. Man findet bis auf den einzelnen Buchstaben und die Einrichtung den Drucken vollständig nachempfundene, ebenso wie vollkommen anders geschriebene, ausgestattet und eingerichtete, bisweilen auch textuell grundlegend überarbeitete Exemplare. In den allermeisten Fällen ging es augenscheinlich mehr um den reinen Texttransport als um den ästhetischen Genuss, der allerdings bei einigen ausgewählten Textsorten, wie den Heldenbuchdruckabschriften und einigen Bibeldruckabschriften durchaus auch im Mittelpunkt stehen konnte. Je nach finanzieller Ausstattung des Auftraggebers und dem Niveau der Schreiber bzw. Illustratoren begegnen beispielsweise Prachtbände, die allenfalls entfernt an die Druckvorlage erinnern, was heute die Identifizierung solcher Druckabschriften erschwert bzw. in nicht wenigen Fällen sogar fast unmöglich macht. Die Konzentration auf inhaltliche Aspekte wird insbesondere bei größeren Sammlungsverbünden deutlich. Bei zeitgenössischen Sammelbänden mit Druckabschriften und Handschriftenkopien findet man fast immer inhaltlichthematisch sinnvolle Zusammenstellungen oder sogar Bände, die den Charakter einer kleinen Bibliothek haben. Dem Typus der inhaltszentrierten Sammlung entsprechen etwa die chronistischen Zusammenstellungen Bern, Burgerbibl., Cod. A 45 mit: Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ
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Leopolds von Wien Österreichischer Chronik von den 95 Herrschaften, dem Reisetagebuch über die Krönung Friedrichs III., dem Libellus de magnificentia ducis Burgundiae in Treveris visa conscriptus, dt. Konrad Pfettisheims Reimchronik über die Burgunderkriege als Druckabschrift und einem Türkenkalender / Neumondkalender gegen Karl den Kühnen,48 Brixen, Bibl. des Priesterseminars, Cod. A 21 (Nr. 21) mit: Thomas Lirers Schwäbische Chronik als Druckabschrift und einer unvollständigen Gmünder Chronik als Druckabschrift,49 Dresden, Landesbibl., Mscr. F 98 mit: Jakob Twingers von Königshofen Chronik (dt.), der Burgundischen Legende als Druckabschrift und als Nachtrag Batt von Fegersheims Chronikalischen Aufzeichnungen für die Jahre 1525-1545. 50
Beschreibungen: Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters, begonnen von HELLA FRÜHMORGEN-VOSS, fortgeführt von NORBERT H. OTT zusammen mit ULRIKE BODEMANN, Bd. 3,4, München 2001, S. 252-256 (Nr. 26A.14.5) und Abb. 145-148 und http://www.handschriftencensus.de/20818 (21.06.2011). Beschreibung: http://www.handschriftencensus.de/17419 (21.06.2011). Beide Teile stammen von einer Hand. Beschreibung: http://www.handschriftencensus.de/18800 (21.06.2011).
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und die kurz nach 1501 in Nürnberg zusammengestellte Sammlung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibl., Cod. Quart 127 mit: Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ
Thomas Lirers Schwäbischer Chronik und der Gmünder Chronik als Druckabschriften, der Gmünder Chronik mit Fortsetzung bis König Ruprecht, einer Vision auf das Jahr 1401, der Vaticinia de summis pontificibus in deutscher Übersetzung, Christus und die sieben Laden, Engel und Waldbruder in Prosaauflösung.51
Verbreitet sind auch medizinisch-naturkundliche Sammlungen ähnlichen Typs. Exemplarisch genannt sei die im Grundstock im Jahr 1485 (Bl. 185r) vollendete Sammlung Zürich, Zentralbibl., Cod. A 161 mit: Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ
Rezepten, Pesttraktat und Pestrezepten, Monatsregeln, Von den 12 Zeichen, Aderlasstraktate mit Rezepten, Über den Kometen vom Januar 1472, Weinrezepten, Eichenmisteltraktat, Rudolf Montigels Lied von der Ewigen Richtung zwischen Österreich und den Eidgenossen (1474), Karl der Kühne und die Burgunderkriege / Spruch über die Niederlagen Karls des Kühnen, Briefkonzepten und dem Lucidarius als Druckabschrift, Freidank und Konrads von Megenberg Buch der Natur.52
Bibliothekscharakter kann man bei der oben genannten Züricher Sammlung sowie insbesondere bei Sammlungen wie dem Augsburger 2° Cod. 170 vermuten, wo Heinrich Steinhöwels Tütsche Cronica als Druckabschrift vereinigt ist mit: Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ
Thomas Peuntners Büchlein von der Liebhabung Gottes, einer Ars moriendi, dt., Der Königin vom Brennenden See und Schondochs Königin von Frankreich.53
Oder dem Klosterneuburger Cod. 278, wo im 1478 vollendeten zweiten Faszikel Bartholomäus Metlingers Kinderbüchlein als Druckabschrift vereinigt ist mit oft bilingualen Hilfsmitteln und Grundlagenwerken für den klösterlichen 51
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Beschreibungen: KLAUS GRAF: Die Weimarer Handschrift Q 127 als Überlieferung historiographischer, prophetischer und erbaulicher Texte, in: ZfdA 118 (1989), S. 203-221 und http://www.handschriftencensus.de/17313 (21.06.2011). Beschreibungen: LEO CUNIBERT MOHLBERG: Mittelalterliche Handschriften, Zürich 19321952 (Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich I), S. 8f., 346 (Nr. 17) und http://www.handschriftencensus.de/4006 (21.06.2011). Beschreibungen: HERRAD SPILLING: Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. 2° Cod 101-250, Wiesbaden 1984 (Handschriftenkataloge der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg III), S. 111f. und http://www.handschriftencensus.de/4300 (21.06.2011).
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(geistlichen) Gebrauch: Ͳ Paulus Wanns lateinischen Sermones de tempore, dem Ͳ Vocabularius Ex quo und lateinischen Synonyma zu Psalmenstellen ab Ps 68,8, einer allegorischen Auslegung des hebräischen Alphabets, Synonyma zu einem fortlaufenden (Hymnen?)-Text, dem Ͳ Liber ordinis rerum, Ͳ Verba simplicia mit Präpositionen, lat./dt., der Ͳ Expositio angelorum, lat./dt. und lateinischen Civitates in regione circa Iordanem.54
Auch die Den Haager Handschrift Königl. Bibl., Cod. 73 H 21 dürfte so eine Bibliothek auf kleinstem Raum repräsentieren. Und wieder sind es hier geistliche Grundlagenwerke, die te Maeseyck in Sancta Agneten cloester, also von den Augustiner-Chorfrauen im St. Agneskloster in Maaseik zu einem Band vereinigt werden: Ͳ Geistliche Traktate, Ͳ Meister Eckharts Reden der Unterscheidung, Ͳ Johannes Taulers Predigten, Ͳ Meister Eckharts Predigten in Druckabschriften.55
Mitunter finden sich auch Sammlungen, die gleich ganze Serien von Druckabschriften enthalten, wie z.B. die 1501 von einem Schreiber angelegte Handschrift Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 15902 mit: Ͳ Ͳ Ͳ Ͳ
Reformatio Sigismundi (Druckabschrift), Reformatio Friderici (Druckabschrift), Schachzabelbuch (Druckabschrift) und Albertanus’ von Brescia Traktate zur Lere und unterweisung (Druckabschrift).56
Gemein ist all diesen Sammlung, und das interessiert im vorliegenden Zusammenhang besonders, dass handschriftliches und gedrucktes Material ebenso zwanglos wie wertfrei zusammenfließen. Es geht in allen Sammlungen um die Texte, um die Informationen, um die Nachrichten und um das Wissen – egal aus welchem medialen Umfeld sie stammen. Man wird die Befunde jedoch vorsichtig zu beurteilen haben, denn alle skizzierten Beispiele können nur als Einzelfälle bewertet werden, deren Position im Gesamtgefüge der Buchkultur der Zeit um 1500 noch zu bestimmen ist. Gerade für die Buchüberlieferung des beginnenden 16. Jahrhunderts, mithin die die Moderne fundierende, als Medienrevolution beschriebene Umbruchszeit, fehlen die entsprechend vernetzten Nachweisinstrumente. Eine konsequente Verbindung der Handschriften- und Druckforschung ist nach wie vor ein Desideratum.57 54 55 56
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Beschreibung: http://admin.marburger-repertorien.de/admin/3793 (21.06.2011). Beschreibung: http://www.handschriftencensus.de/16846 (21.06.2011). Beschreibung: LOTTE KURRAS: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, Zweiter Teil: Die naturkundlichen und historischen Handschriften, Rechtshandschriften, Varia, Wiesbaden 1980 (Kataloge des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg 1,2), S. 48. Vgl. etwa OCHSENBEIN: Handschrift und Druck (Anm. 46), S. 116 Anm. 47. Um diesem Defizit entgegenzuwirken, ist im Rahmen eines projektierten Drittmittelvorhabens zur
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III. Aspekte der Parallelität: Herstellungstechnisch übergreifende Sammelbände Ebenfalls von heuristischen Defiziten geprägt ist die Frage nach Druck und Handschrift vereinenden bzw. verschränkenden Sammelbänden. In der Regel werden entsprechende Sammelbände von den unterschiedlichen Disziplinen nur in separierter Form wahrgenommen, d.h. die Manuskriptforschung blendet die mitüberlieferten Drucke aus, wie die Druckforschung die mitüberlieferten Handschriften ausblendet.58 Für die kulturhistorischen Entwicklungen zwischen 1450 und 1550 sind aber gerade diese übergreifenden Sammelbände von größtem Interesse, belegen sie doch über mehr als ein Jahrhundert und vor allem über die Grenzen einer Medienrevolution hinweg den evolutionären Charakter der Veränderungen in der Medienlandschaft. Wie schon bei den in großer Zahl als Sammelbandbestandteile nachgewiesenen Druckabschriften (s. Kap. II.2) konnten offensichtlich auch die Drucke selbst völlig bedenkenlos mit Handschriften vereinigt werden. Was bei diesen bimedialen Sammelbänden auffällt, ist, dass es nichts Auffälliges gibt. Handschriftenfaszikel und Druckfaszikel werden wie auch für die weit verbreiteten rein handschriftlichen Sammelhandschriften (s. auch Kap. II.2) typisch, nach formalen und inhaltlichen Kriterien vereinigt. Grundvoraussetzung für das Zusammenbinden ist zuerst das Buchformat, wobei es durch entsprechendes Beschneiden der Faszikel einen relativ großen Spielraum gibt. Ist diese Grundvoraussetzung erfüllt, spielen thematische Gesichtspunkte bei der Auswahl der zu vereinigenden Faszikel die entscheidende Rolle.59 Im Sammelband Hannover, Kestner-Museum, Ernst Nr. 73 sind beispielsweise Basiswerke zur Rhetorik und Gedächtniskunst vereinigt. Die beigebundene Inkunabel fügt sich in Format, Ausstattung und Schrift- bzw. Drucktype harmonisch ein: Bl. 4v = Vers über Astronomia, darunter ein kolorierter Holzschnitt, Bl. 5r-6r = Widmung Weylants von Freiberg an Herzog Ludwig IX. von Bayern, Bl. 6v-12v = Ars memorativa (Inkunabel GW 2569, Textteil), Bl. 13r-27v = Ingolstädter Rhetorik, dt.,
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volkssprachig-deutschen Überlieferung im Mittelalter eine enge Zusammenarbeit des GW mit dem u.a. von mir betreuten Handschriftencensus vereinbart. In jüngster Zeit nehmen immer mehr Studien beide Medienarten gemeinsam in den Blick, vgl. exemplarisch PETER JÖRG BECKER: Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, Wiesbaden 1977; BRANDIS: Handschriften- und Buchproduktion (Anm. 9); BRANDIS: Handschrift (Anm. 28); DICKE/GRUBMÜLLER (Anm. 1); ALBRECHT HAUSMANN: Überlieferungsvarianz und Medienwechsel. Die deutschen Artes dictandi des 15. Jahrhunderts zwischen Manuskript und Buchdruck. In: Revue Belge de Philologie et d'Historie / Belgisch Tijdschrift voor Filologie en Geschiedenis 83 (2005), S. 747-768. Relevant für die kulturhistorische Bewertung der beschriebenen Phänomene sind hier selbstverständlich nur zeitgenössische Synthesen; nur sie wurden berücksichtigt.
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Bl. 27v-38v = Etlich Form und Gestalt etlicher Prieff, Bl. 39r-45v = Ars memorativa (Inkunabel GW 2569, Textteil).60
Im lat. dominierten Jenaer Band Universitäts- und Landesbibl., Ms. El. f. 76, sind es primär chronistische, heilsgeschichtlich relevante und archivalische Stücke, die ungeachtet ihrer medialen Heimat vereinigt wurden. Die Sammlung enthält neben zahlreichen handschriftlichen Partien zwei Inkunabeldrucke.61 Soweit es sich aus dem Bestand des Handschriftencensus ersehen lässt, ist allerdings der prozentuale Anteil entsprechender medienübergreifender Sammlungen an der Gesamtüberlieferung auffallend gering – aber ob er so signifikant gering ist, dass doch Wahrnehmungsgrenzen zwischen beiden Medien sichtbar werden, bleibt bei der geringen Erschließungstiefe zunächst unklar, zumal eine große Zahl entsprechender mittelalterlicher Sammelbände im 18.-20. Jh. von ‚modernen’ Bibliothekaren aufgelöst und je medienspezifisch neue, reine Bände angelegt wurden.
IV. Ausblick Um 1500 werden nahezu alle literarischen Texte mittels drucktechnisch hergestellter Bücher vervielfältigt. Der Anteil der handschriftlichen Bücher an der im engeren Sinn literarischen Gesamtproduktion sinkt nach 1480 auf kaum noch 20%.62 Die ehedem das Schreibgeschäft dominierenden literarischen, theologischen und pragmatischen Texte werden nun überwiegend, bald sogar nahezu ausschließlich in den Druckwerkstätten reproduziert. Der Buchdruck hat gesiegt. Schaut man sich die Zahlen allerdings genauer an, stellt man überrascht fest, dass die handschriftliche Buchproduktion um 1480 noch immer den ‚Boomjahren’ um 1450 entspricht.63 Nur die Gesamtmenge der produzierten Bücher ist in diesen wenigen Jahren geradezu explodiert und hat sich vervielfacht. Offensichtlich stand die handschriftliche Buchproduktion also zunächst nicht wirklich in Konkurrenz zur Druckproduktion. Im ersten halben Jahrhundert des Buchdrucks bedienten die Schreiber gleichberechtigt mit den Druckern einen insgesamt schnell wachsenden Markt. Für die ersten Jahrzehnte wird man Handschriften und Drucke deshalb als zwei Seiten der einen Medaille ‚Buch-
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Beschreibungen: KONRAD ERNST/CHRISTIAN VON HEUSINGER: Die Wiegendrucke des Kestner-Museums, neu bearbeitet und ergänzt, Hannover 1968 (Bildkataloge des KestnerMuseums IV), S. 18 (Nr. 73) und http://www.handschriftencensus.de/20467 (21.06.2011). FRANZJOSEF PENSEL: Verzeichnis der altdeutschen und ausgewählter neuerer deutscher Handschriften in der Universitätsbibliothek Jena, Berlin 1986 (Deutsche Texte des Mittelalters 70/2), S. 277-279. NEDDERMEYER (Anm. 9), Bd. 2, S. 676 Diagramm 12. NEDDERMEYER (Anm. 9), Bd. 2, S. 615 Diagramm 1a u. S. 657 Diagramm 38b u. S. 674 Diagramm 10a.
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vervielfältigung und Texttransport’ begreifen müssen: Hintergrund war die Literarisierung der Welt mit massiver Expansion des Buchbedarfs. Außerdem blieb die Idee vom ‚Buch’ noch lange von den althergebrachten, handschriftlichen Traditionen geprägt, und zwar für die ‚nach alten Gestaltungstraditionen’ gedruckten neuen Drucke ebenso wie für die nach denselben alten Mustern handgeschriebenen Kodizes. Beide Medientypen auseinander zu dividieren, erscheint angesichts der skizzierten Befunde zu Handschriftendrucken, Druckabschriften und Druck-Handschrift-Sammlungen denn auch eher eine neuzeitliche Chimäre, als eine exakte Analyse der zeitgenössischen Wahrnehmung. Die grundlegenden Wandlungen, die wir heute mit dem Terminus ‚Medienrevolution’ umschreiben, bahnen sich aber dann doch ab den 1480er Jahren bzw. vollends wirkmächtig im 16. Jahrhundert ihren Weg. Der Buchdruck dominiert nun vollends die literarische Schriftproduktion. Der Anteil der Handschriften sinkt um 1500 auf deutlich weniger als 5% der Gesamtproduktion mit weiter stark fallender Tendenz.64 Das Gros der allerdings nach wie vor in gewaltigen Stückzahlen handschriftlich hergestellten Schriftstücke gehört nun in völlig andere Lebensbereiche: Hauptabnehmer der handschriftlichen Schriftlichkeit sind nun die geradezu explodierenden Verwaltungen (Kanzleien) in Stadt und Land sowie die immer leistungsfähigeren und oft international vernetzten Handelskontore. Parallel etabliert sich in zunehmend breiteren Bevölkerungsschichten eine bald allumfassende private Alltagsschriftlichkeit. Neben den prozentual nur noch geringen Zahlen von Literaturabschriften sind es nun die privaten und halbprivaten Lebensbereiche, wo nicht nur weiter, sondern sogar zunehmend handschriftlich verfasst und kopiert wird. Dies gilt für den Bereich der privaten Andacht, die Versorgung der Kirchen mit liturgischem Textmaterial, die Memoria und das weite Feld der pragmatischen, kaufmännischen und verwaltenden Schriftlichkeit. Über die Jahrhunderte bleibt auch die lokale und regionale Geschichtsschreibung von der Handschrift dominiert. Hier sind sogar Tendenzen weg vom Druck zur Handschrift zu beobachten, wenn zahlreiche der gedruckt vorliegenden Universal- und Lokalchroniken von Besitzern und Rezipienten handschriftlich ergänzt, aktualisiert, kommentiert und eventuell korrigiert oder gleich komplett handschriftlich, und das heißt individualisiert, kopiert und runderneuert werden. Überhaupt bleibt die Handschrift bzw. das handschriftlich kopierte Buch nach handschriftlicher oder gedruckter Vorlage für die Verbreitung von Literatur in kleinen, lokalen, privaten Dimensionen – seien es politisch, religiös und moralisch heikle Texte oder eher privat-kleinteilig wirkende Werke – weiterhin eine unter jetzt mehreren möglichen Publikations- und Vervielfältigungsformen. Es entstehen weiterhin nicht nur unzählige handschriftlich-neuzeitliche Kopien mittelalterlicher Handschriften und Inkunabeldrucke. In den folgenden Jahrhunderten werden auch hochmoderne Romane, Theaterstücke, Gedichtsammlungen, Gebetbücher und Geschichtswerke selbstverständlich handschriftlich fixiert und gelegentlich 64
NEDDERMEYER (Anm. 9), Bd. 2, S. 676 Diagramm 12.
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ebenso vervielfältigt.65 Zahlreiche dieser Werke wurden sogar nie gedruckt und immer nur handschriftlich weitertradiert. In der Neuzeit – dem Druckzeitalter – sind es schließlich Sammler, Gelehrte und Bibliothekare, die weiter alte Handschriften abschreiben und in neue, aktuelle Zusammenhänge überführen. So hoffte Ludwig Tieck aus den von ihm zahlreich im Vatikan kopierten alten deutschen Handschriften eine bessere, aktuelle deutsche Dichtkunst zu entwickeln. Unzählige alte Handschriften werden nun für die aufblühende Germanistik kopiert, um in gedruckten Büchern ediert, kommentiert und erforscht zu werden. Andere entstehen als Liebhaberstücke im Kontext einer romantischen Mittelalterverklärung und landen in privaten Schatzkammern oder öffentlichen Schausammlungen.66 Wie um 1500 scheint einmal mehr die Differenz zwischen handgeschriebenem und gedrucktem Buch zu verschwimmen. Die Wahrnehmung ist freilich längst eine andere: Die Handschriften – zumal die alten und möglichst die uralten – genießen ein zunehmend höheres Prestige und werden bald wie Kultobjekte verehrt. Den z.T. zeitgleich gedruckten Inkunabeln ist eine vergleichbare Karriere nicht beschieden. Sie nimmt man vornehmlich als Texttransportobjekte wahr. Heute sind Inkunabeln und Handschriften nahezu in jeder Bibliothek fein säuberlich getrennt, und bei der Edition alter Werke greift man selbstverständlich immer zuerst auf die Handschriften zurück. Die Inkunabeldrucke werden oft noch nicht einmal in der editionsbegleitenden Überlieferungszusammenstellung nachgewiesen.67
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Eine interessante, für die verschlungene Wahrnehmung beider Medien im 16. Jahrhundert bedingt exemplarische Fallstudie bietet FELIX HEINZER: Handschrift und Druck im Œuvre der Grafen Wilhelm Werner und Froben Christoph von Zimmern. In: DICKE/GRUBMÜLLER (Anm. 1), S. 141-166. Auch in diesem Bereich ist die Forschungslage desolat. Das Material ist nur kursorisch erfasst; eine zentrale Datenbank neuzeitlicher Handschriften- und Inkunabelabschriften existiert nicht. Welcher Forschungsfortschritt zu erzielen ist, wenn man sich von einer solchen medienhermetischen, gleichsam ahistorischen Sichtweise verabschiedet, zeigen exemplarisch die Arbeiten des Baseler ‚Parzival’-Projekts; vgl. ROBERT SCHÖLLER: Die Fassung *T des Parzival Wolframs von Eschenbach. Untersuchungen zur Überlieferung und zum Textprofil, Berlin 2009 (Quellen- und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 56 (290)) und GABRIEL VIEHHAUSER-MERY: Die ‚Parzival’-Überlieferung am Ausgang des Mittelalters. Handschriften der Lauberwerkstatt und der Straßburger Druck, Berlin 2009 (Quellen- und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 55 (289)).
Marie Isabelle Vogel
Sammlungsobjekte zwischen Bild und Buch Die Klebebände der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek in Arolsen1
Auch wenn das Buch primär zum Lesen gedacht ist, zur Weitergabe von Informationen, sei es zu religiösen oder zu wissenschaftlichen Zwecken, sei es zur allgemeinen Bildung oder zur Unterhaltung, war es immer auch ein Gegenstand des Beschauens, ja des Befühlens, das über das Lesen der Buchstaben hinausgeht. Im Buch verbinden sich Information und Medium, Inhalt und Form, Geist und Körper und bilden eine neue Ganzheit, eine einzigartige Symbiose, die unsere Kultur ganz wesentlich geprägt hat. Das Buch wurde um seiner Form willen schon immer besonders geschätzt, gesammelt, gehütet und vorgezeigt.2
I. Zu einer Form der Aufbewahrung von Druckgraphik Zur Kultur fürstlicher Höfe gehören auch Bücher und Bibliotheken – Zentren der medialen Inszenierung von Wissen. Die Fürstenbibliothek Arolsen (FWHB) blickt auf eine lange, spannende, manchmal auch turbulente Geschichte zurück. Die Regenten im Hause zu Waldeck und Pyrmont waren begeisterte Sammler. Ihrem bibliophilen Interesse ist es zu verdanken, dass die Bibliothek heute ungeachtet der beiden großen Buchverkäufe im Jahr 1820 und 1856 circa 35.000 Bände besitzt.3 Seit etwa 100 Jahren ist die heutige Bibliothek im westlichen Seitenflügel des Residenzschlosses untergebracht. In vier ineinander übergehen-
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Seit April 2009 fördert die DFG das an der Universität Kassel angesiedelte Projekt „Die Fürstenbibliothek Arolsen als Kultur- und Wissensraum vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert und ihre Einflüsse auf Genese, Formung und Identität des Fürstenstaats“. Der Aufsatz entstand im Rahmen meines Dissertationsprojekts, welches sich mit der Sichtung und wissenschaftlichen Erschließung der Klebebände befasst. Vgl. auch MARIE ISABELLE VOGEL: Gesichter der Gesellschaft. Die Klebebände der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek Arolsen. In: Waldeckischer Landeskalender 283 (2010), S. 133-140. Digitale Fassung (KOBRA: Kasseler Online Bibliothek Repository & Archiv): urn:nbn:de:hebis:34-2010030432144. FRANZ GEORG KALTWASSER: Die gemeinsamen Wurzeln von Bibliothek und Museum im 16. Jahrhundert, dargestellt vorzüglich am Beispiel Münchens. In: Kooperation und Konkurrenz: Bibliotheken im Kontext von Kulturinstitutionen. Hrsg. von PETER VODOSEK/JOACHIM-FELIX LEONHARD, Wiesbaden 2003, S. 58. Vgl. HARTMUT BROSZINSKI: Bausteine zu einer Arolser Bibliotheksgeschichte. In: Arolsen: indessen will es glänzen; eine barocke Residenz. Hrsg. von BIRGIT KÜMMEL/RICHARD HÜTTEL, Korbach 1992, S. 112-128, hier S. 115.
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den Räumen4 befindet sich die Büchersammlung aus der Zeit des 15. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt auf Bänden des 18. Jahrhunderts.5 Die Waldeckische gemeinnützige Zeitschrift weist in ihrer Ausgabe von 1837 auf die zum Teil sehr hochwertigen Werke in der Fürstenbibliothek hin: „so enthält sie doch sehr vieles kostbare und seltene aus früherer Zeit, was man zu finden kaum glauben sollte.“6 Ganz konkret – einen bislang wenig bekannten, medial hoch aufgeladenen Schatz: die Klebebände der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek. Eine Menge Bände, worin die Kupferstiche und Holzschnitte aufgeklebt sind, in früherer Zeit, zumeist im 17. Jahrhundert, vielleicht von den damaligen Regenten oder deren Kindern gesammelt; sie bestehen theils aus Bildnissen, darunter z.B. die berühmtesten Personen aus dem dreißigjährigen Kriege und zwar von gleichzeitigen Künstlern gestochen.7
Neunzehn Klebebände sind das Ergebnis frühneuzeitlicher Sammelkunst und -leidenschaft. Sie stellen einen ganz eigenen Einzelbestand in dieser Bibliothek dar – jeder Band ein Unikat. Sie vergegenständlichen eine bedeutende Komponente der medialen Komplexität der Frühen Neuzeit und erlauben als Teil des kulturellen Erbes der Region einen vertiefenden Einblick in den Kultur- und Wissensraum des Fürstentums Waldeck. Aber was sind Klebebände? Es handelt sich hier um eine Form der Aufbewahrung von Druckgraphik, einer Sammlung von Kupferstichen, Holzschnitten und Radierungen, die „zwischen den Seiten buchartig gebundener Klebebände mit Kleister fixiert verwahrt“8 wurden. Die Sicherung der Blätter in diesem Medium brachte den Vorteil, „dass sie leicht besichtigt, aber nicht dabei abgenützt oder beschädigt werden können“9: Dem Knittern, Zerreißen oder Beschädigen wurde so vorgebeugt.10 „From the fifteenth to the mid eighteenth centuries, all but the largest prints would have been kept pasted in albums“.11 4
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Es gibt einen fünften Raum im ersten Stock des Gebäudes, in dem vornehmlich das Kartenmaterial und die Waldeccensien untergebracht sind. Vgl. BROSZINSKI (Anm. 3), S. 127 Anm. 1. AUGUST SPEYER: Einige Worte über die Fürstliche Bibliothek in Arolsen. In: Waldeckische gemeinnützige Zeitschrift. Erster Jahrgang. Hrsg. von GABERT/KREUSLER/ SCHUMACHER. Arolsen, in Commission der Speyer`schen Buchhandlung 1837, S. 205. August Speyer (1785-1865) war Bibliothekar, Buchhändler und Verleger in Arolsen. SPEYER (Anm. 6), S. 207f. STEPHAN BRAKENSIEK: Sammeln, Ordnen und Erkennen. Frühneuzeitliche Druckgraphiksammlungen als Studien- und Erkenntnisorte. Das Beispiel der Sammlung Michel de Marolles’. In: Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur. Hrsg. von ROBERT FELFE/ANGELIKA LOZAR, Berlin 2006, S. 130. HEINRICH LEPORINI: Der Kupferstichsammler. Ein Handbuch mit Künstlerverzeichnis. Ein Nachschlagebuch der druckgraphischen Kunst. Mit 102 Abbildungen im Text. 1 farbige Tafel. Verzeichnis von Monogrammen und 100 Künstlern und Kunstverlegern, Braunschweig 1954, S. 123. ANTHONY GRIFFITHS: The archaelogy of the prints. In: Collecting Prints and Drawings in Europe, c. 1500-1750. Edited by CHRISTOPHER BAKER/CAROLINE ELAM/GENEVIEVE WARWICK, Ashgate 2003, S. 10. GRIFFITHS (Anm. 10), S. 10.
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Das außergewöhnliche Erscheinungsbild konstatiert den selbstbewussten Anspruch des Mediums und zeugt von einem Status größter Wichtigkeit: Mehrheitlich schwere Lederbände zum Teil im Großfolio-Format mit einer Höhe des Buchrückens von über 50 cm umfassen im Ganzen mehrere tausend Seiten historischer und erfundener Motive, die aus zeitgenössischen Werken herausgetrennt oder separat erworben wurden. Bereits optisch signalisieren diese Werke dem Rezipienten damit‚ dass die enthaltenen Informationen herausragend, etwas ganz Besonderes, einmalig sind. Auf nahezu 8.000 Buchseiten12 wurden fast 7.000 Bilder gezielt und wirkungsvoll aufmontiert, d.h. eingeklebt. Sie bilden im Medium Buch eine physische Einheit. Der Klebebandbestand der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek umfasst drei verschiedene Formen von Sammelbänden: zehn Werke ausschließlich mit Portraits, acht mit diversen thematischen Schwerpunkten und einmal die Kombination aus Bildnissen und gemischten Motiven. Die Portrait-Klebebände verwahren Bildnisse von „HERRSHAFFTEN KRIEGS= UND STAATS= BEDIENTEN“, „HERSCHAFTEN KRIEGS[-]UND STAATS[BEDIENTEN] AUCH ANDERE[n]“, „RATHS UND STADTLEUTHE[n]“, „NORDISCHE[n]“ sowie in vier Bänden „GEISTLICHE UND GELÄHRTE“.13 Klebeband 8 versammelt „BIBLISCHE UND GEISTLICHE STÜCKE.“14, der neunte zeigt eine Auswahl der Werke des Künstlers Le Pautre unter dem Titel „LE POTRE.“15, und Band 10 thematisiert Illustrationen zur „FEUX ART.“16 Des Weiteren veranschaulicht Klebeband 15, „LUST UND SCHAU-SPIELE AUCH AUFF- UND EINZUGE“, gesellschaftliche und politische Ereignisse im Bild.17 Begräbnisarchitekturen und Trauerfeierlichkeiten bilden den thematischen Rahmen im Band „LEICH=BE=GÄNGNISSE.“18 Der Titel „SUECIA. ANTIQVA. ET. HODIERNA.“19 sticht in Bezug auf die Materialität aus dem Gesamtbestand hervor. Es ist das einzige Werk, welches nicht als Kompilation eines Sammlers angelegt, sondern als fertiges Buch herausgegeben wurde. Bei diesem in Goldschnitt angefertigten prachtvollen Ansichtenwerk in Quer-Großfolio finden sich neben den Seiten mit eingebundener Druckgraphik dem Buch12
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Die Klebebände waren nahezu unbearbeitet und wurden zugunsten der wissenschaftlichen Erschließung im Rahmen des Projekts paginiert. So eine Auswahl der aufgedruckten Ledertitel. Die handschriftlichen Rückenschilder verweisen zumeist auf die enthaltenen Kupferstiche. Es handelt sich hierbei um die Klebebände 1 bis 7 (FWHB II 56e 17, FWHB II 56e 17a, FWHB II 56 e 18, FWHB II 56 e 19, FWHB II 56e 20 Bd. 1-3), 11 (FWHB II 57e 3), 12 (FWHB II 57e 4) und 14 (FWHB II 57e 7). Diese Zählung orientiert sich aufsteigend an der Vergabe der standortgebundenen Signaturen. FWHB II 56e 21 FWHB II 56e 22 FWHB II 56e 24 FWHB II 66e 128. Hier stellen Theaterarchitekturen einen Großteil der Drucke. Die Abbildungen der Umzüge sind fast einheitlich mit Ziffern und Texten versehen. Klebeband 16 mit der Signatur FWHB II 66e 130. Klebeband 17, FWHB II 66e 142, enthält Kupferstiche mit Ansichten von Städten, Häfen, Schlössern, bemerkenswerten Gebäuden etc. aus Schweden und Finnland.
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block zugehörige leere Seiten, auf denen Abbildungen montiert wurden. Die Klebebände 18 und 19 weisen Ähnlichkeiten in Bezug auf das Format, die Anzahl der Seiten, das vorhandene Exlibris sowie die Heterogenität der gesammelten Abbildungen auf.20 Im Band 18 findet der Rezipient neben den vom Bibliothekar Speyer 1837 gesichteten „theils merkwürdige[n] Begebenheiten, Satyren, Karrikaturen“21 Flugblätter mit vielen holländischen Texten und einige Vexierbilder. Viele Folioseiten von Klebeband 19 wurden so vollständig befüllt, dass von der eigentlichen Seite kaum etwas zu erkennen ist. Hier liegt der Fokus nicht auf der prominent platzierten Einzelgraphik. Die Bilder wurden dicht an dicht ‚gehangen’ und das inszenierte Zusammenspiel der einzelnen Städteperspektiven, Gartenanlagen, Kalender und bukolischen Landschaften erinnert an die ‚barocke Hängung’ von Gemälden. Der auf diese Weise montierte Band zeugt von einem „ausgesprochene[n] Doppelinteresse der zeitgenössischen Graphiksammler, Druckgraphiken sowohl als Trägerinnen von inhaltlichen Informationen als auch gleichzeitig als autonome Kunstwerke mit eigenständigem Wert zu betrachten“22, die es neben den Bildinhalten auch ästhetischen Vergleichen zu unterziehen galt.23 Der letzte vorzustellende Klebeband inszeniert eine ‚Mischform’. Er vereint, ausgehend von Portraits und Abbildungen antiker Personen, auch szenische Darstellungen zur Jagd, Bilder von Tiergruppen bis hin zu „[d]iverses Veuës et Perspectives nouvelles de Rome, Paris et des autres lieux.“24 Allen Bänden gemein ist die Tatsache, dass zumindest derzeit noch keine Erkenntnisse zur Autorschaft vorliegen. Ein hohes Sammlungsinteresse am Arolser Hof ist aber deutlich zu erkennen. Dies belegen Aufzeichnungen im Staatsarchiv in Marburg. Die fürstliche Familie sammelte Bücher, Büsten, Münzen – aber wer von ihnen hat in Klebebänden gesammelt oder war zumindest ‚Motor’ in Bezug auf das Montieren der Bilder? Ob es den einen Sammler gegeben hat oder ob die Bände über einen größeren Zeitraum befüllt worden sind, gilt es noch herauszufinden. Das Zeitalter der Reproduzierbarkeit entfachte einen enormen Markt für Bilder. Umso mehr lohnt es sich, ganz gezielt die Prinzipien der Auswahl, die Art des Bildmaterials und die Techniken der Vermittlung genauer zu betrachten, die zur Entstehung dieses Speichersystems und seiner kulturellen Identität führen. Untersuchungsgegenstand ist die Kulturtechnik des Verwaltens von gedrucktem Wissen: Die Illustrationen werden aus ihrem Kontext herausgelöst und erscheinen als einzelne Bilder. Gleichzeitig produziert der Sammler über die Montage 20
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Sie werden unter einer Signatur, FWHB II 230 7, mit dem Hinweis auf zwei Bände geführt. SPEYER (Anm. 6), S. 208. BRAKENSIEK (Anm. 8), S. 144. BRAKENSIEK (Anm. 8), S. 141f. Die Umsetzung dieser Technik erfolgt in Teilen auch in den Portrait-Sammelbänden. Vgl. z.B. Abbildung 4, Klebeband 6, FWHB II 56e 20, 2/3, S. 209. Klebeband 13, Sammlung auf [...] geklabter Kupfer. [...] [...]: Théatre des peintures de David Teniers, S. 207.
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in den Klebebänden ein neues Sammelwerk, welches die zuvor segmentierten Graphiken für eine eigene Aussage einsetzt. „Der Gesamtzusammenhang […] geht verloren, gleichzeitig erlaubt die Reduktion […] ihre Umdeutung“.25 Neben den künstlerischen Ausdrucksformen ist vor allem die kulturelle Aussage von tragender Bedeutung. Die Untersuchung des Mediums Klebeband als Gegenstand der Wissensvermittlung intendiert die Berücksichtigung der Beziehung von Wissen und Kunst. Das Kunstwerk wird als Mittel des Wissensgewinns fokussiert – der Gedanke, dass die Sammlung auch Ausdruck des ästhetischen Vergnügens ist und die Montage aus einem entsprechenden Urteil erfolgte, jedoch nicht vernachlässigt. Das Vorgehen orientiert sich an einem kognitiven und ästhetischen Zugang, da schon „Bibliotheken […] zugleich Gebilde [sind], die nicht nur einer rein ästhetischen Ordnung gehorchen […]: Ähnlich wie die Bücher, die sie beherbergen, fungieren sich auch als Ordnungen des Wissens“.26 Frühneuzeitlicher Wissenstransfer ist ein beliebter Forschungsschwerpunkt der vergangenen Jahre. Die Klebebände sind Zeugnisse der lebens- und staatspraktischen Bedeutung des Mediums Buch. Sie sind als spezielle Form der Materialisierung und der konzeptuellen Vermittlung zu sehen – und damit als ein eigener Kultur- und Wissensraum, den der Sammler anhand seiner Auswahlkriterien medial inszeniert.27 Sie repräsentieren eine bedeutende Quelle für die Untersuchung der Wissenskonfiguration in literarischen Werken. [Die Klebebände] sind Teil einer größeren Einheit, eben einer Bibliothek, deren innere Ordnung vielleicht durch Beschriftungen oder Zahlen an den Regalen mindestens erahnt werden kann, deren Einordnung in größere geistige Zusammenhänge mit manchmal geradezu überwältigenden Bild- und Ausstattungsprogrammen sichtbar wird. [Die Klebebände] als Räume [...] wie als Sammlungen sind deutlich erkennbar sorgfältig gestaltete Individualitäten.28
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HELGA MEISE: Höfische Repräsentation im Thesaurus pictuarum des Marcus zum Lamm (1544-1606). In: Aufführung und Schrift im Mittelalter und in Früher Neuzeit. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart 1996, S. 301. MEISE bezieht sich in ihren Ausführungen allerdings auf den Thesaurus pictuarum des Marcus zum Lamm, der neben Portraits, illustrierten Flugblättern, Flugschriften, Federzeichnungen und Aquarellen noch umfangreiche handschriftliche Eintragungen aufweist. MARKUS DAUSS: Bibliotheken als gebaute Ordnungen des Wissens. In: Kunst und Wissen: Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von ASTRID BAUEREISEN/STEPHAN PABST/ACHIM VESPER, Würzburg 2009, S. 257. Eine rein auf ökonomischen Interessen basierende Motivation findet sich bei Siegmund Jacob Apin: „Andere suchen Portraits Gelehrter zusammen, und kleben sie in die Bücher, die sie geschrieben. Ich kehre es just um, und reisse sie heraus. Warum? Weil dergleichen Collection weder halb noch gantz, die Bilder Geld kosten, das Buch aber nach meinem Tod keinen Heller mehr gilt, Portraits hingegen sehr theuer allein bezahlt werden, und ist eins, ob das Portrait im Buch, oder in meiner Collection liegt.“ SIEGMUND JACOB APIN: Anleitung, wie man Bildnüsse berühmter und gelehrter Männer mit Nutzen sammeln und denen dagegen gemachten Einwendungen gründlich begegnen soll, Nürnberg 1728, S. 22. ELMAR MITTLER: Bibliophilie und Wissenschaft: Die Faszination der Büchersammlungen des 18. Jahrhunderts. In: Frühmoderne Bücherwelten: die Bibliothek des 18. Jahrhunderts
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Die Wiederentdeckung in den Räumen der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek muss man als einen ausgesprochenen Glücksfall bezeichnen. „Konvolute graphischer Blätter, die sich in ihrem ursprünglichen Arrangement, d.h. in der ehemals vom Sammler vorgenommen Sortierung weitestgehend erhalten haben, sind äußerst selten.“29 Das gilt im Besonderen für Klebebände, also für Sammelalben, in die die Stiche durchaus ähnlich einem heutigen Fotoalbum – eingeklebt wurden […]. Viele der im 17. und frühen 18. Jahrhundert arrangierten Klebebände wurden bei der Auflösung und Verauktionierung der einzelnen Sammlungen, in die sie integriert waren, auseinandergenommen, galten die ihnen zu Grunde liegenden Strukturen der nachfolgenden Sammlergeneration doch als überkommene Relikte, die dem neuen, an der Entwicklung der Künste interessierten, kunsthistorischen Verständnis avant la lettre zuwider liefen und entsprechend als altmodisch betrachtet wurden. Die in solchen Alben einmontierten Blätter wurden herausgelöst und einzeln oder als Lots versteigert, dabei unwiederbringlich aus ihren alten Zusammenhängen herausgenommen und für eine neue Verwendung freigegeben.30
Einen wichtigen Hinweis zum Verständnis von Klebebänden als Phänomen dieser Zeit liefert die Gegenüberstellung eines Kupferstich- und Gemäldesammlers. Abbildung 1 zeigt einen jungen gebildeten Bürgerlichen, der in seinem häuslichen Graphikkabinett konzentriert in einem Album blättert. Der Titel „Der Kupferstich Liebhaber“ verrät den Inhalt der Seiten. Sein Blick richtet sich auf mit viel Sorgfalt platzierte Druckgraphik, „bescheidenheit“ in schwarz und weiß. Als wahrer Kunstkenner schätzt er den Rang, einer „mit keinem Raub der farbigen Natur“ kokettierenden Meisterlichkeit, die „führet doch so leicht und weit Wie jede Kunst, zu jeder Schönheits Spur.“31 Die Entwicklung der Bilddrucke „[a]us dienender Instanz zum Status mit eigenen Wahrheits- und Schönheitsrechten, also zum Kunstwerk, aufsteigen zu wollen“32, wird in dieser Abbildung in der Tatsache gewürdigt, dass neben der konservativen Gemäldesammlung, die die Wand geradezu vertäfelt, gerade die leicht zu vervielfältigenden Bildmedien zu Sammelobjekten werden. Die Wertschätzung, die der Radierer Chodowiecki der Druckgraphik entgegenbringt, wird in Bezug auf ein weiteres Bild dieses Zyklus deutlich. In der direkten Konfrontation mit der zweiten Abbildung „Der Gemählde Liebhaber“ strahlt der Schöngeist, der sich in Abbildung 1 ‚nur‘ mit Kupferstichen umgibt, eine größere Achtung dem Kunstwerk
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und das hallesche Waisenhaus. Hrsg. von BODO-MICHAEL BAUMUNK, Halle, 2007, S. 31. MITTLERS Aussagen beziehen sich ganz allgemein auf das Medium Buch und werden hier im Speziellen auf die Klebebände übertragen. STEPHAN BRAKENSIEK: Die drei Klebebände der Passauer Sammlung: Ein bedeutendes Dokument frühneuzeitlichen Graphiksammelns. In: Artificio et elegantia. Eine Geschichte der Druckgraphik in Italien von Raimondi bis Rosaspina. Hrsg. von ECKHARD LEUSCHNER/ALOIS BRUNNER, Regensburg 2003, S. 23. BRAKENSIEK (Anm. 29), S. 23. Zitate entnommen der Abbildung 1. ERNST REBEL: Druckgrafik: Geschichte, Fachbegriffe, Stuttgart 2003, S. 27f.
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gegenüber aus als der dilettantisch wirkende Gemäldesammler, der wenig fachmännisch mit der flachen Hand mittig auf das Gemälde fasst.33
Abb. 1: Der Kuperstich Liebhaber34
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Abb. 2: Der Gemählde Liebhaber35
„Reduktion auf grafische Elemente kann also gerade im Gegenteil, nämlich malerischen Reichtum bewirken. Mehr als die bunte Palette des Gemäldes zwingt das grafisch Reduzierte unser Sehen zur schöpferischen Rückergänzung. Wir sehen und genießen Farbigkeit, nicht weil sie als solche da wäre, sondern weil wir sie unter den geregelten Bedingungen ihres Nichtdaseins erzeugen müssen. Jede Schwarzweißkunst macht uns innerlich zum Maler.“ REBEL (Anm. 32), S. 30. Blatt neun der zwölf Bilder umfassenden Folge „Steckenpferdreiterei“ von Daniel Nikolaus Chodowiecki, die 1781 im Lauenburger Genealogischen Kalender für 1781, Lauenburg, 1781 als Beigabe erschienen. Es handelt sich um Radierungen auf Papier. Aus: DANIEL NIKOLAUS CHODOWIECKI: Auswahl aus des Künstlers schönsten Kupferstichen. 135 Stiche auf 30 Carton-Blättern. Nach den zum Theil sehr seltenen Originalen in Lichtdruck ausgeführt von A. Frisch, Berlin. Neue Folge, Berlin 1885. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Daniel_Chodowiecki_Liebhaber_09.jpg, (20.02.2011). Blatt drei der Folge „Steckenpferdreiterei“ von Daniel Chodowiecki, Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Daniel_Chodowiecki_Liebhaber_03.jpg, (20.02.2011).
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II. Der Klebeband in seiner äußeren und inneren Erscheinung Das Medium Klebeband im Bestand der FWHB ist ein Buchtypus ohne Paratexte. Beim ersten Durchblättern fällt bereits auf, dass die Werke auf alles verzichten, was eine Handhabung des Inhalts gemeinhin praktikabel macht: Die Bände wurden ohne gliedernde und das Buch zugänglich machende textliche Elemente angelegt. Es finden sich keine erschließenden Hilfsmittel wie Inhaltsverzeichnisse, Zwischentitel, Marginalien, Vorreden oder Widmungen, Register oder Künstlerverzeichnisse, die die Werke ordnen, erschließen oder der Präsentation des Ganzen dienen könnten.36 Ein gezielter konsultierender Gebrauch ist nicht möglich.37 Die Bilder bieten den ‚reinen Wissensgegenstand‘ - ohne Kontext. Das lässt die Vermutung zu, dass der Sammler die Stiche aufgrund ihrer medialen Funktion zusammengetragen hat, um ihre wissensvermittelnden Eigenschaften nutzbar zu machen38 bzw. sie ästhetisch zu inszenieren. Die in den Klebebänden manifestierte Wissenskultur wird so als das abgebildet, was sie ist: eine Bildkultur.39 Das Material präsentiert sich sehr heterogen: vom Holzschnitt zum Kupferstich, vom biblischen Motiv bis zur Jagdszene, in verschiedenen Formaten und unterschiedlichsten Papierqualitäten. An die Stelle der Vorstellung eines einzigen, homogenen Wissenszusammenhangs tritt die Einsicht in die Heterogenität und Perspektivität des Wissens, seine Dependenz von den medialen Gegebenheiten der jeweiligen Gattungen und Formen der Speicherung und Vermittlung.40
Es handelt sich sowohl um Bände mit ehemals leeren Blättern, auf die die Druckgraphiken montiert wurden, als auch in einigen Fällen um Graphikblätter im Folioformat, die mit ihrem Papier als eigene Seite in die Werke integriert wurden. Neben den genannten Ledereinbänden finden sich auch Halbleder- und Kartoneinbände sowie unterschiedlichste Ausführungen in Bezug auf dekora36
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Es ist zu klären, ob die jeweils erste montierte Abbildung als Titelblatt fungiert. Unter diesen Vorrausetzungen ändert sich die Funktion des Anfangsbildes mit der Tatsache, dass das Werk unter einer bestimmten Perspektive angelegt wurde. Vgl. FRIEDER VON AMMON: Plurale Perspektivierungen des Wissens. Zu Formen und Funktionen von Paratexten in enzyklopädischer Literatur und literarischer Enzyklopädik. In: Enzyklopädistik 1550 - 1650: Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens. Hrsg. von MARTIN SCHIERBAUM, Berlin 2009 (Pluralisierung & Autorität), S. 460f. Vgl. BRAKENSIEK (Anm. 29), S. 24. „Sie boten ihm die Möglichkeit, seine Kollektionen zu einer Art visuellen Bibliothek zu machen, in der es einem Benutzer möglich war, sich auf eingängige Art komplexe Sachverhalte und theologische Inhalte anzueignen, sich vergleichend mit ihnen zu beschäftigen oder sich mediativ in sie zu versenken.“ (ebd., S. 24f.) Vgl. zu diesem Aspekt des Graphiksammelns ausführlich BRAKENSIEK, Die drei Klebebände der Passauer Sammlung (Anm. 29), Kap. 1. Vgl. CFP: Unsichtbar. Wissenskulturen als Bildkulturen. In: H-ArtHist, Feb 27, 2011. . VON AMMON (Anm. 37), S. 479.
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tive Elemente. Es gibt richtige ‚Lederschwarten‘ mit einer Buchhöhe von über 50 cm, die dann 14 cm Dicke aufweisen und 543 Bilder auf 762 Seiten fassen. Kleinere Exemplare wiederum bieten 48 Seiten bei einer Größe von 35 cm auf und messen gerade mal 1 cm in der Tiefe. Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte wurden in unterschiedlicher Anzahl auf die Buchseiten aufgezogen, was zum einen auf das Format, zum anderen wohl auf den inhaltlichen Stellenwert der Graphik zurückzuführen ist. Es scheint sich um ‚work in progress’ gehandelt zu haben. „Viele Klebestellen zeigen, dass Bilder herausgelöst, von anderen ersetzt wurden oder als Leerstellen frei blieben. […] Sie erweisen sich, dicht beklebt, als Fundgruben, als Schatzkisten […]. Jede Seite birgt Überraschungen, ist ein kleiner Kosmos für sich.“41 Man trifft auf Kaiser und Könige, Dichter und Denker, Türken und Sultane, Stadtansichten und Kalender. Der Bestand orientiert sich am Inhalt, nicht an den Wunderkammern der Zeit, d.h. hier findet der Leser kaum seltsame Sachen, vereinzelt kurios anmutende Portraits. Aber handelt es sich um Sammelalben? Lässt die Fülle unterschiedlichster Druckgraphik in ihrer Vielfalt und Vielschichtigkeit eine systematische Sammeltätigkeit erkennen?42 Festzuhalten ist jedenfalls, dass das Arrangement der Seiten ein deutliches Bemühen erkennen lässt, über die Montage der Bilder Ordnung zu schaffen. Sie scheinen gerade nicht intuitiv eingeklebt zu sein. Manche Seiten „geben […] der Sehlust Raum und Zeit. Die Neugier nach dem geheimen Leben der Bilder wird geweckt.“43 Aber wie lassen sie sich deuten? Und was verbindet die Bilder miteinander? Sind es Motive, Formen oder Inhalte? Die Seitenarrangements beinhalten ein breites Spektrum: von einem einzelnen Blatt auf einer Klebebandseite bis hin zur Komposition mehrerer symmetrisch angeordneter Abbildungen (siehe Abb. 3). Die Formate reichen von kleineren Abbildungen wie Numismatiken bis hin zu einem ausklappbaren Leporello, das ein Maß von über drei Metern aufweist. Es gibt Seiten mit einem zentralen Motiv, um welches weitere Bilder arrangiert sind (siehe Abb. 4), sowie in direkter Abfolge aufgeklebte Serien.44 Insgesamt handelt es sich um eine sorgfältige Komposition der Graphiken. Der Kollektor ist nicht einer von denen die Kupffer aus Lust sammlen, aber nicht die gehörige Geschicklichkeit dazu haben […]. Diese, weil sie sehen, daß andere Leute Kupffer sammlen, […] tragen alles zusammen, es mag Nahmen haben, wie es will, legens untereinander hin wie Kraut und Ruben, und begnügen sich allein damit, wann sie nur viel Stücke haben, und solche zuweilen 41
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ANDREA FIX: Das Theatrum Mundi des Justinus Kerner. Klebealbum, Bilderatlas, Collagenwerk, Marbach am Neckar 2010 (Marbacher Magazin 130), S. 14. FIX (Anm. 41), S. 17. FIX (Anm. 41), S. 21. Die Rückseiten der Graphiken kann man nur bei den ähnlich einem Passepartoutrahmen ausgeschnitten Montageseiten betrachten. Beklebte Versoseiten finden sich in zehn der neunzehn Klebebände. Ihre Anzahl ist jedoch mit einer Quote von eins auf knapp 500 Seiten sehr gering. Die höchste Anzahl von 30 Montagen verteilt sich auf einen Band mit 652 Seiten. Ein System bei der beidseitigen Benutzung des Papiers ist zum derzeitigen Stand noch nicht erkennbar.
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Marie Isabelle Vogel bey müssigen Stunden durchblättern können. (a)45 Man mögte aber dergleichen Collection eine ordentliche Confusion nennen, weil sie zu nichts, als zum Zeitvertreib dienet, auch die kinder sich damit zu stillen, die schönste Gelegenheit haben.46
Abb. 3: Klebeband 3, FWHB II 56e 18, S. 577
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Hierzu weiter bei Apin (Anm. 27), S. 19 in der Anm.: „(a) Nicht besser sind diejenigen, welche sich Bånde von leeren Papier machen lassen, und alle Kupffer, wie sie solche bekommen, groß und klein, darein kleben. Denn zu geschweigen, daß solche Collection nicht wol aussiehet, so ist dieses beschwerlich, daß alles unordentlich, und man nicht im Stande ist, einen guten Freund damit zu dienen, man schicke ihm dann den ganzen Band, und lass ihm suchen, was er zu finden begehret. Siehe § 12.“ APIN (Anm. 27), S. 19f.
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Abb. 4: Klebeband 6, FWHB II 56e 20, 2/3, S. 209
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Die Blätter wurden entweder mit mehreren Klebepunkten auf den Seiten der Klebebände befestigt, ganzflächig, ‚plan’, geklebt oder „über eine gefensterte Folioseite“47 montiert: „indem man einen schmalen Randbereich ihrer Rückseiten mit Klebstoff bestrich und diesen sodann fixierte.“48 Wie schon HELGA MEISE am Beispiel des Thesaurus picturarum (15641606), der handschriftlich in 33 Bänden überlieferten Enzyklopädie des Heidelberger Kirchenrates Marcus zum Lamm (1544-1606) beschreibt, schneidet auch der Sammler der Klebebände der FWHB das Material buchstäblich nach seinen Bedürfnissen zu und klebt ein. „‚Privatisiert’ und der Zirkulation entzogen, wird [der Klebeband] den Kompositionsprinzipien […] des Sammlers unterworfen und gewinnt eine neue Medialität:[…] wird ‚schatzwürdig’.“49 Die Klebebände stehen für die Tradierung und Zirkulation von Wissen in der Frühen Neuzeit. Es geht aber nicht nur um die bloße Wiedergabe von Dingen und Portraits, sondern um die Wertschätzung dieser in Form des Sammelns und Aufbewahrens. „Es wurde auseinander geschnitten, man hat dazugeklebt und ummontiert. Einen autorisierten Originalzustand und eine autorisierte Lesart gibt es nicht.“50 Solcherart montierte Klebebände stellen eine einzigartige kulturgeschichtliche Quelle für den praktischen Umgang mit druckgraphischen Blättern dar. Da das Sammelgut schon substanziell dem gedruckten oder geschriebenen Buch wesensverwandt ist, lag es nahe, die Blätter […] zu klassifizieren – nach großen Künstlern oder Kleinmeistern, nach Biblischem und Historischem, nach Landschaften, Porträts oder Architekturaufnahmen –, um sie schließlich in gebundene Alben einzukleben und dem übrigen Buchbestand einzuverleiben.51
Doch wer hatte Zugang zu diesem Wissen und wählte für die Graphiken diesen besonderen Ort der Aufbewahrung? Wer erfüllte die organisatorischen und konservatorischen Aufgaben? Erschließen sich dem Betrachter spontan die Inhalte? Kann er das Geflecht an Bedeutungen erkennen? War das Ziel eine Vermittlung des Wissens unter pädagogischen Prämissen? Orientierte man sich an theoretischen Abhandlungen in Bezug auf das Sammeln? Gibt es eine einheitliche Linie, ein fortlaufendes Programm, ein vorgegebenes Thema, eine chronologische Ordnung? Oder kurz gesagt: Wer sammelte was und zu welchem Zweck? 47
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STEPHAN BRAKENSIEK: Vom „Theatrum mundi“ zum „Cabinet des estampes“: das Sammeln von Druckgraphik in Deutschland 1565 – 1821, Hildesheim, Zürich, New York 2003, S. 169. BRAKENSIEK (Anm. 47), S. 226. HELGA MEISE: Medienkonsum oder Wissensdispositif? Zur Stellung von Flugblättern und Flugschriften in Marcus zum Lamms Thesaurus picturarum (1564-1606). In: Daphnis 37 (2008), S. 153-178, hier S. 153. HEIKE GFREREIS: ‚Vorwort’. In: ANDREA FIX: Das Theatrum Mundi des Justinus Kerner. Klebealbum, Bilderatlas, Collagenwerk, Marbach am Neckar 2010 (Marbacher Magazin 130), S. 6. 250 Jahre Staatliche Graphische Sammlung München. Hrsg. von MICHAEL SEMFF/KURT ZEITLER. Bd. 3, Ostfildern 2008, S. 78.
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„[Die Klebebände] sollen somit hier als historisches und kulturelles Phänomen untersucht werden, und zwar als eine bestimmte Form der Organisation, Archivierung und Vermittlung von kollektivem Wissen.“52 STÄHLIS Ausgangspunkt ist die Annahme, dass eine Sammlung sich nicht vom Individuum her definiert, das für ihr Zustandekommen verantwortlich ist, sondern durch ihre Wahrnehmung von außen. Eine Sammlung ist dann eine Sammlung, wenn sie als solche rezipiert wird, im Prinzip unabhängig davon, ob ihrem Ursprung ein individuelles Sammlungsinteresse zugrunde liegt.53
Daraus ergeben sich weitere Fragen: Ist der Klebebandbestand an die Person eines Sammlers gebunden oder wurde die montierte Druckgraphik über einen längeren Zeitraum systematisch zusammengetragen? Können die „Auswahl, Anordnung und Präsentation Auskunft geben über den Charakter, den ästhetischen Geschmack, […] die philosophischen oder anderen Interessen sowie den sozialen Status der Person, die eine Sammlung anlegt“?54 Wird hier kollektive Geschichte oder der Sammler repräsentiert? Sammlungen sind […] als Teil eines Diskurses zu begreifen, der ihnen Bedeutungen zuweist, die Modalitäten ihres Zustandekommens, ihrer Zusammensetzung und ihrer Wahrnehmung reguliert, sie dadurch überhaupt als Sammlungen definiert. Gegenstand dieses Diskurses ist die Vergangenheit und ihre Eingliederung in die Gegenwart, ihre Nutzbarmachung für die Zwecke der Zeitgenossen. Sammlungen bereiten die Geschichte auf für die Gegenwart, sie sind – in der Begrifflichkeit von Jan Assmann – eine spezifische, nämlich an das materielle historische Relikt gebundene Form, kulturelles Gedächtnis in kommunikatives Gedächtnis zu übersetzen.55
Der Sammler hätte demnach die historische Kulturbedeutung erkannt und für ausgewählte Objekte den Klebeband als „mediale[s] und ästhetische[s] Ordnungs- und Klassifizierungsraster“56 gewählt. Kulturelles Wissen wäre so materiell gespeichert. Doch entzieht sich die Arolser Sammlung – noch – einer solchen Entschlüsselung.
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ADRIAN STÄHLI: Sammlungen ohne Sammler. Sammlungen als Archive des kulturellen Gedächtnisses im alten Rom. In: Sammler - Bibliophile – Exzentriker. Hrsg. von ALEIDA ASSMANN/MONIKA GOMILLE/GABRIELE RIPPL, Tübingen 1998, S. 58: STÄHLI bezieht die Analysekriterien auf seinen Sammlungsbegriff, der „Sammlungen als kulturelles Bedeutungssystem beschreibt“. STÄHLI (Anm. 52), S. 55f. STÄHLI (Anm. 52), S. 55. STÄHLI (Anm. 52), S. 58. Vgl. JAN ASSMANN: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in früheren Hochkulturen, München 1997. Vorwort von BARBARA MARX/KARL-SIEGBERT REHBERG in: Dies.: Sammeln als Institution: Von der fürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates, München u.a. 2006, S. VII.
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III. Die mediale Inszenierung des Bildes im Buch Die Klebebände sind als Sammlungsobjekte zwischen Bild und Buch zu fassen. Eine kommunikative Gattung, die [sich] als bedeutendes Element im breiten Spektrum der individuellen und gesellschaftlichen Phänomenologie dieser Epoche […] behauptet hat. Denn der [Klebeband] verkörpert die Haupttendenzen- und Ideen, die das individuelle, soziale, politische, künstlerische und religiöse Leben dieser Zeit maßgeblich mitgeformt haben: das Nachleben der Antike, den Individualismus, die Wissens- und Ruhmbegierde und Popularität, die gesellschaftliche Repräsentation, die Machtlegitimierung der Herrscher, die konfessionelle Propaganda.57
Das Montieren der Graphiken in das Informationsmedium Buch charakterisiert die eigenständige bildhaft-literarische Form. „Ihr materielles Format ist das Format des Buches […], ihre Technik ist der graphische und typographische Druck.“58 Das Phänomen ist somit medial hoch aufgeladen. Das ‚Klebebuch’ entwickelt sich sukzessive sowohl mit jedem Bild, jedem hinzugefügten Text als auch aufgrund der (Trans)Formation der montierten Aussagen. Inhalte werden ausgewählt, in Teilen sogar anderen Trägermedien entnommen und im Format des Buches für den Betrachter inszeniert. Es fungiert als Behältnis einer vernetzten Wissenssammlung, in der jede Einzelgraphik eine eigene Geschichte hat und – wie bereits Aby Warburg bemerkte – auch die ‚Nachbarn’ eine Geschichte erzählen. Der Klebeband „ist daher […] ein immer wieder aktualisierter und aktualisierbarer ‚Container’ von kommunikativen Akten der Wissensproduktion.“59 Dessen ursprüngliche Intention sich freilich dem modernen Betrachter nur rudimentär oder gar nicht erschließt, denn ihm fehlt ebenso der Zugang zum kommunikativen Entstehungskontext wie dem persönlichen Motivationsgeflecht des Sammlers. Dies trifft umso mehr zu, wenn – wie im Arolser Sammlungszusammenhang – jedwede Sekundärinformationen zu Zeit, Person, Umfeld, Intention und Vorlagen fehlen. Vage lassen die einzelnen Klebebände allerdings in ihrer spezifischen Anordnung – vielleicht sogar: Bildkomposition – zumindest Sammlungskonturen aufscheinen. Deutlich wird aber doch, dass es sich nicht um dekorative Einzelbilder handelt, sondern um eine Bildersammlung, die durch Vielfalt der Wechselbezüge eine reichere Bedeutungsdynamik entwickelt, als es dem Einzelbild möglich wäre. Was die Rezeption angeht, so waren die Klebebände höchst exklusiv, da das abgebildete Wissen eine individuelle Neuordnung durch den Sammler erfuhr. Etwas Neues wurde geschaffen. Die Auswahl und die Darstellung durch den Sammler ließen ein eigenes Bild beim Rezipienten entstehen. 57
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PELC bezieht sich in seiner Aussage auf das von ihm untersuchte Phänomen des Porträtbuches. MILAN PELC: Illustrium imagines: Das Porträtbuch der Renaissance. Studies in medieval and reformation thought, Leiden u.a. 2002, S. 110. PELC (Anm. 57), S. 2. MARX/REHBERG (Anm. 56), S. VII.
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Die Zeitgenossen verlangten immer mehr nicht nur nach den Lebensbeschreibungen, sondern auch nach den Bildnissen verdienstvoller und berühmter Personen. […] Die Druckgraphik und die Buchproduktion konnten den Zeitgenossen bildliche und schriftliche Informationen en masse liefern. Der „Hunger nach Bildern“ konnte, zum ersten Mal in der Geschichte, auf eine paradox effiziente Weise – mit Hilfe von typo- und druckgraphischer Techniken – gestillt und gleichzeitig verstärkt werden. Im Zusammenhang mit diesen […] Erscheinungen und Gegebenheiten, […] wird man auch das Entstehen, die Entwicklung und die Popularität [der Klebebände] betrachten müssen.60
Worin besteht die Attraktivität dieses Album-Formats, und welches literarische Potential steckt in ihm? Geklebte Bilder stellen ganz eigene Herausforderungen an den Betrachter. Die Klebebände der FWHB sind ein besonderer Typus der medialen und literarischen Darstellung von Wissen. Sie „präsentieren, konservieren und kanonisieren Wissen.“61 Wird das Buch aufgeschlagen, erblickt der Nutzer nicht ganze Textseiten, sondern Bildwerke, wohin das Auge reicht: Druckgraphik als Dokument im Kontext des Ausstellens. Der Klebeband eröffnet damit eine Alternative zum etablierten Bildgebrauch. Die Rezeption wird gesteuert durch das Erfassen der neben- und nacheinander montierten Abbildungen. Das Zusammenführen des bildlichen Materials in einem Buch ermöglichte es, auf diese Bilder jederzeit zugreifen zu können und die Abbildungen in einem geschlossenen und erfassbaren Raum erfahren zu können. Die Untersuchung der Klebebände widmet sich – ganz anders als der allgemein zugedachten Umgangsform mit Lektüre – einer ¸aggressiveren’ Alternative im Umgang mit Büchern: der Produktion neuer Inhalte auf der Basis des Zerschneidens. „Findest Du vor BĤchern, […] Leich=Predigen, Calendern, Disputationen […] Portraits, so nehme sie ohne Bedencken heraus und lege sie zu deiner Collection.“62 Die Herstellung solcher neuen Klebe-Kompendien geht einher mit der absichtsvollen Beschädigung – ja Zerstörung – von Büchern und anderen zeitgenössischen Materialien. Hier wird einerseits, ganz selbstverständlich, mit dem materiellen Träger auch das ehedem eingeschriebene Potential an Sinn, Bedeutung und Geist zerstört, andererseits aber der Umgang mit Büchern fernab der gängigen Lesepraktiken und eine geradezu handgreifliche, unmittelbar an die Materialität gebundene Wissensaufnahme bezeugt: der pragmatische Gebrauch von Büchern und Bildern. Das Zerschneiden der Objekte und ihre Präsentation im Klebeband ist darauf angelegt, die Bilder in keinem spezifischen, sondern in einem losgelösten Kommunikationszusammenhang heranzuziehen, d.h. das 60
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PELC (Anm. 57), S. 5. Die Ausführungen von PELC beziehen sich allesamt auf das Phänomen des Porträtbuchs der Renaissance. Dieses interpretiert er, indem er „nicht nur die dokumentarischen und künstlerischen Eigenschaften der Porträts, sondern auch die aktuellen Bedürfnisse und Erwartungen der Zeit im Bereich dieses neu entwickelten, auf den gedruckten Bildern (und Texten) beruhenden Informationsmediums“ einbezieht (ebd., S. 6, Anm.). MARTIN SCHIERBAUM: ‚Einleitung’. In: Ders.: Enzyklopädistik 1550 - 1650: Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens, Berlin 2009 (Pluralisierung & Autorität), S. VII. APIN (Anm. 27), S. 32. Apin verweist in Anm. (l) allerdings darauf, dass er nur aus Büchern herausschneidet, die „nicht geborgt, sonder sein eigen seyn“.
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Material zu benutzen ist nicht aus einem einzigen Kontext heraus motiviert. Somit ist das Klären einer von außen herangetragenen Frage, eine „ereignishafte Rezeption“63, denkbar. Man liest sie nicht in einem Stück, sondern gebraucht sie. Den Klebebänden unterstelle ich „die Eigenheit, dass sie nicht als Ganzschriftlektüre gedacht sind (so wie man einen Krimi von vorn bis zum Ende durchliest), sondern dass der Benutzer nur einzelne Informationshäppchen haben will; der Lesemodus […] ist der des ‚Konsultierens’.“64 Daher ist die Multiperspektivität in der Rezeption von Kunstwerken nicht als störend auszugrenzen, sondern heuristisch fruchtbar in den Blick zu nehmen. Die Rezeption von Kunstwerken und anderen Sammlungsgegenständen wird so als kulturelle Praxis lesbar, die in bestimmbaren Koordinaten und strukturiert von den systemischen Rezeptionsbedingungen der Sammlungen stattgefunden hat.65
Die materielle Präsenz des Bildes ermöglicht dem Rezipienten, im Gegensatz zum gesprochenen Wort über das stetige Anschauen Wissensinhalte zu memorieren. „Während das Gesagte nur für einen kurzen Zeitraum im Gedächtnis haften bleibt, ist das Bild nicht nur immer wieder aufs Neue erreichbar, sondern auch für viele Betrachter zugänglich“.66 Quiccheberg67 erfasst „die Graphikproduktion seiner Zeit als eine neue Gattung von wissenschaftlichen Quellenpublikationen […]. Er nennt die Graphiksammlung ‚promptuarium imaginum‘, Bildervorrat, Bildarchiv.“68 Graphische Blätter werden von sorgsamen Stiftern so sehr vermehrt, dass man die Kenntnis möglichst vieler Wissenschaftsfächer allein aus diesen Bildnissen erwerben zu können scheint; das Betrachten eines Bildes allein beeindruckt das Gedächtnis nämlich mehr als die tägliche Lektüre vieler Seiten.69
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BARBARA WELZEL: Verhüllen und Inszenieren: Zur performativen Praxis in frühneuzeitlichen Sammlungen. In: Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur: Hrsg. von ROBERT FELFE/ANGELIKA LOZAR, Berlin, 2006, 109-129, hier S. 111. PAUL MICHEL: Ordnungen des Wissens. Darbietungsweisen des Materials in Enzyklopädien. In: Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens. Hrsg. von INGRID TOMKOWIAK, Zürich, 2002, S. 35-83, hier S. 37. WELZEL (Anm. 63), S. 112. GABRIELE WIMBÖCK: Die Autorität des Bildes – Perspektiven für eine Geschichte vom Bild in der Frühen Neuzeit. In: Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, Münster, 2004, S. 30. Der belgische Gelehrte Samuel Quiccheberg (1529-1567) war einer der ersten, der sich mit den theoretischen Grundlagen des Sammelns beschäftigte. PETER DIEMER: Verloren – verstreut – bewahrt. Graphik und Bücher der Kunstkammer. In: Die Münchner Kunstkammer. 3. Aufsätze und Anhänge. Vorgelegt von WILLIBALD SAUERLÄNDER, München 2008 (Abhandlungen, N.F., H. 129, 3), S. 226. Quiccheberg stellt in seinem Traktat „Inscriptiones“ ein Ordnungsystem für Graphiken vor. Er präferiert eine thematische Ordnung im Gegensatz zur Sortierung nach Künstlern oder Entstehungsorten. Samuel Quiccheberg: Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat „Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi“. Hrsg. und kommentiert von HARRIET ROTH, Berlin 2000, S. 139.
Sammlungsobjekte zwischen Bild und Buch
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Die erklärende und erzählende Funktion der Kupferstiche macht sie dann eben zu „eine[r] Bibliothek der Bilder“.70 Es wäre allerdings unzutreffend, den Klebeband lediglich als Depot anzusehen, denn „[d]ie Bilder im Album werden zu Bildern im Kopf – und umgekehrt.“71 Die Klebebände zeigen und vergegenwärtigen Kultur. Hier erlangen die Dinge über das Deponieren und Exponieren72 ihren neuen Sinn. Der fast endlosen Möglichkeit der Vervielfältigung steht die Absicht des Sammlers gegenüber, Druckgraphik durch das Montieren des Materials in einen unikalen – und damit gleichzeitig individuell-personalen – Sammlungskontext zu bringen. Das portable Papier, welches durch die verschiedenen Betrachterhände wandern soll, wird räumlich fixiert: materiell und inhaltlich. Es wird durch Auslegung transformiert und medial transferiert. In dynamischen Prozessen bedingen sich schriftlicher Text, Bilder und sammlerindividuelle Handlungsmuster gegenseitig. Wissensbestände werden in andere Vermittlungsformen überführt und über Zeiten, Räume und soziale Grenzen hinweg weitergegeben. Der Sammler nimmt seine Welt wahr, wählt Inhalte aus und offenbart am Wahrgenommenen einen kulturellen Sinn. Damit erfasst[e man] treffend jene neue Sicht auf Geschichte, die nicht mehr danach fragt, ‚wie es gewesen ist’, sondern danach, ‚woran und wie wir uns erinnern’. […] Es geht mithin darum, wie und aus welchen Motiven sich eine Gegenwart ihre Geschichte entwirft, welche Aspekte sie daran betont und als unverzichtbar erachtet, welche sie vernachlässigt oder vergisst.73
IV. Fazit: Das Phänomen Klebeband Somit ist das Phänomen Klebeband „nicht nur Ort des Sammelns, sondern auch der Ort des Zeigens, des Ausstellens, des Repräsentierens“74, vor allem auch ein
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Den Begriff „Bibliothek der Bilder“ nutzt Quiccheberg zur Unterweisung im Umgang mit der Kupferstichsammlung. „Diese Bezeichnung in Verbindung mit der Bibliothek hat besondere Bedeutung, da es wieder die Bildwelt auf die gleiche Ebene wie die Bücher rücken lässt“. Vgl. QUICCHEBERG (Anm. 69), S. 283, hier Anm. 133. FIX (Anm. 41), S. 47. Vgl. GOTTFRIED KORFF: Museumsdinge: deponieren - exponieren. Hrsg. von MARTINA EBERSPÄCHER/GUDRUN MARLENE KÖNIG/BERNHARD TSCHOFEN, Köln u.a. 2002. PETER BRAUN: Die verschlossenen Räume des Gedächtnisses und die Mimesis des Erinnerns. Eine Rezension zu CARSTEN GANSEL: Rhetorik der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in den 'geschlossenen Gesellschaften' des Real-Sozialismus, Göttingen, 2009. In: IASL online [19.04.2010], Absatz [2]. URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3113, (23.02.2011). BRAUN bezieht sich auf die Veröffentlichung von ALEIDA ASSMANN: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007. GOTTFRIED KORFF: Speicher und/ oder Generator. Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum (2000). In: Ders.: Museumsdinge: deponieren - exponieren. Hrsg.
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„erinnerungskultureller Ort“75, ein Ort der Wissenserkundung und -reflexion. Er vereint Bekanntes und noch zu Entdeckendes. [D]ie graphischen Sammlungen [übernahmen] innerhalb der fürstlichen Bibliotheken […] die spezifische Funktion eines Bild- und Wissensarchivs, auf das der Besitzer zur Konstruktion seiner dynastischen Geschichte und seines Herrschaftsbereichs zurückgreifen konnte […]. Die graphischen Sammlungen wurden zu einem privilegierten Ort der Aneignung, Produktion, Verwahrung und Verwaltung von Wissen.76
Der Klebeband ist ein bedeutender Träger der Buchkultur und der Wissensvermittlung der Frühen Neuzeit. Als Sammlungsobjekt zwischen Bild und Buch orientiert er sich am Format des Buches, inszeniert sich aber interaktiv in der Komposition bildlicher Informationen. Wissen ist nichts Statisches. Der Eingriff in die Materialität des Buches und in die Materialität der einzelnen druckgrafischen Elemente lässt ein neues Medium entstehen: Die neue physische Einheit ist ein jeweils unikaler visueller Wissensraum und konstatiert somit die lebenspraktische Bedeutung des Mediums Buch. Hier kann der Betrachter dem durch den Sammler geschaffenen Gesamtbild einzelne Bruchstücke entnehmen und diese seiner ‚eigenen’ Kultur zuführen.
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von MARTINA EBERSPÄCHER/GUDRUN MARLENE KÖNIG/BERNHARD TSCHOFEN, Köln u.a. 2002, S. 169f. KORFF (Anm. 74), S. 174. CHRISTIEN MELZER: Zur Theorie der Druckgraphik in Gabriel Kaltemarckts Bedencken wie eine Kunst Cammer aufzurichten sein möchte (1587). In: Druckgraphik. Zwischen Reproduktion und Invention. Hrsg. von MARKUS CASTOR u.a., Berlin u.a. 2010 (Passagen 31), S. 232.
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