Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit 9051833253, 9789051833256

Strassen und Reiserouten im spaten Mittelalter und in der fruhen Neuzeit, die Muhen mittelalterlicher Reisenden, das Bil

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German Pages 598 [591] Year 1992

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Table of Contents
Vorwort
Grußwort des Präsidenten der Justus-Liebig-Universität Gießen, Prof. Dr. Heinz Bauer
Lust auf Reisen. Anmerkungen zu Theorien des Tourismus
Reise und Roman in der Antike. Über die Bedeutung des Reisens für die Entstehung und Verbreitung des antiken Romans
Subjektive und objektive Wahrheit in islamischen Reiseberichten
'Peregrinatio' bei Augustinus
Bonaventura: Itinerarium mentis in Deum
Vom Zwang zur Mobilität und ihren Problemen
Reisen im europäischen Spätmittelalter im Licht der neueren historischen Forschung
Ars apodemica: Bildungsreise und Reisemethodik von 1560 bis 1600
Das Bild der Welt auf Karten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
Straßen, Reiserouten und Routenbücher (Itinerare) im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit
Spätmittelalterliches Reisen und ikonographische Überlieferung
Marco Polo und Rustichello da Pisa. Der Reisende und sein Erzähler
Alexanders Kuriositäten-Kabinett. Oder: Reisen als Aneignung von Welt in Ulrichs von Etzenbach 'Alexander'
Spätmittelalterliche Reiseliteratur — ein Genre? Überlieferungssymbiosen und Gattungstypologie
Werktyp, Übersetzungsintention und Gebrauchsfunktion. Jean de Mandevilles Reiseerzählung in deutscher Übersetzung Ottos von Diemeringen
Der zweifelnde Abt und die mirabilia descripta. Buchwissen, Erfahrung und Inspiration in den Reiseversionen der Brandan-Legende.
Gedruckte Reiseberichte über China in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert
Daniel Papebroch: Bericht über eine Studienreise durch Deutschland, Österreich und Italien 1660
Ein russischer Reisebericht über Sibirien. Bemerkungen zur Gattung
Reisen zum Gesundwerden: Badereisen
Ernährung auf Reisen
Gastfreundschaft und Gasthäuser nach Boccaccios Dekameron
Fremde Gärten — Augenweide, Gaumenfreude. Vom ästhetischen und kulinarischen Gewinn des Reisens
Register
Verzeichnis der Personen und Werktitel
Sachregister
Alphabetisches Verzeichnis der Verfasser und Verfasserinnen
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Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit
 9051833253, 9789051833256

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Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Friihen Neuzeit

CHLOE BEIHEFTE ZUM DAPHNIS

Herausgegeben von Barbara Becker-Cantarino - Martin Bircher - Leonard Forster - Konrad Gajek Ferdinand van Ingen - Wilhelm Kiihlmann - Eberhard Mannack Alberto Martino - Hans-Gert Roloff - Blake Lee Spahr Gerhard Spellerberg - Jean Marie Valentin

Band 13

Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Friihen Neuzeit

herausgegeben von

Xenja von Ertzdorff und Dieter Neukirch unter redaktioneller Mitarbeit von Rudolf Schulz

Amsterdam - Atlanta, GA 1992

CIP-GEGEVENS KONINKLIJKE BIBLIOTHEEK, DEN HAAG Reisen Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der FrUhen Neuzeit : Vortrlge eines interdisziplinaren Symposiums yom 3.-8. Juni 1991 an der Justus-Liebig-Universitlit Gie/3en I hrsg. von Xenja von Ertzdorffund Dieter Neukirch; unter redaktioneller Mitarbeit von Rudolf Schulz. Amsterdam - Atlanta, GA 1992 : Rodopi. - Ill.(Chloe, ISSN 0168-9878 ; 13) Met reg. Trefw.: reizen ; geschiedenis I reizen in de literatuur ; geschiedenis The paper on which this book is printed meets the requirements of 'ISO 9706: 1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence'. ISBN: 90-5183-325-3 (Bound) @Editions Rodopi B.V., Amsterdam - Atlanta, GA 1992 Transferred to digital printing 2003 Printed in The Netherlands

INHALT Vorwort GruBwort des Pdisidenten der Justus-Liebig-UniversiUit GieBen, Prof. Dr. Heinz Bauer

1

Horst Martin Miillenmeister: Lust auf Reisen. Anmerkungen zu Theorien des Tourismus

5

Manfred Landfester: Reise und Roman in der Antike. Uber die Bedeutung des Reisens fUr die Entstehung und Verbreitung des antiken Romans

29

Ewald Wagner: Subjektive und objektive Wahrheit in islamischen Reiseberichten

43

Cornelius Mayer: 'Peregrinatio' bei Augustinus

67

Helmuth Meinhardt: Bonaventura: Itinerarium mentis in Deum

81

Gerd Althoff: Vom Zwang zur Mobilitat und ihren Problemen

91

Peter Moraw: Reisen im europaischen Spatmittelaher im Licht der 113 neueren historischen Forschung Justin Stagl: Ars apodemica: Bildungsreise und Reisemethodik von 1560 bis 1600 141 Dieter Neukirch: Das Bild der Welt auf Karten des Mittelalters und der Friihen Neuzeit 191 Dietrich Denecke: StraBen, Reiserouten und Routenbiicher (Itinerare) im spaten Mittelalter und in der Friihen Neuzeit 227 Helmut Hundsbichler: Spatmittelalterliches Reisen und ikonographische Uberlieferung 255 Dietmar Rieger: Marco Polo und Rustichello da Pisa. Der Reisende und sein Erzahler 289 Trude Ehlert: Alexanders Kuriositaten-Kabinett. Oder: Reisen als Aneignung von Welt in Ulrichs von Etzenbach 'Alexander' 313 Ernst Bremer: Spatmittelalterliche Reiseliteratur - ein Genre? Uberlieferungssymbiosen und Gattungstypologie 329

Klaus Ridder: Werktyp, Obersetzungsintention und Gebrauchsfunktion. Jean de Mandevilles Reiseerzahlung in deutscher Ober357 setzung Ottos von Diemeringen Hannes Kastner: Der zweifelnde Abt und die mirabilia descripta. Buchwissen, Erfahrung und Inspiration in den Reiseversionen der 389 Brandan-Legende. Xenja von Ertzdorff: Gedruckte Reiseberichte tiber China in 417 Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert Udo Kindermann: Daniel Papebroch: Bericht tiber eine Studienreise 439 durch Deutschland, Osterreich und Italien 1660 Gerhard Giesemann: Ein russischer Reisebericht tiber Sibirien. 459 Bemerkungen zur Gattung Helmut Busch: Reisen zum Gesundwerden: Badereisen

475

Irmgard Bitsch: Ernahrung auf Reisen

495

Norbert Ohler: Gastfreundschaft und Gasthauser nach Boccaccios Dekameron 507 Uta Lowenstein: Fremde Garten - Augenweide, Gaumenfreude. 531 Yom asthetischen und kulinarischen Gewinn des Reisens Register: zusammengestellt von Rudolf Schulz

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Verzeichnis der Personen und Werktitel

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Sachregister

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Alphabetisches Verzeichnis der Verfasser und Verfasserinnen

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VORWORT In der Woche yom 3. bis zum 8. Juni 1991 fand an der JustusLiebig-UniversiHit in GieBen ein interdiszip1inares Symposium tiber das Thema Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Friihen Neuzeit statt. Wir danken den Referentinnen und Referenten sehr herzlich, daB sie unsere Einladung zu diesem Symposium annahmen und uns gestatten, ihre Beitrage in einem gemeinsamen Buch zu verOffentlichen, damit diese Woche anregender wissenschaftlicher Vortrage und Gesprache in GieBen bewahrt und tiber den Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer hinaus bekannt werde und zu weiteren Forschungen anregen mage. Wir danken dem Prasidenten der Justus-Liebig-Universitat GieBen, der Fritz Thyssen Stiftung, der Touristik Union International GmbH & Co. KG Hannover und der GieBener Hochschulgesellschaft fUr ihre Farderung des Symposiums. Wir danken ferner Herrn Kollegen Hans-Gert Roloff, Freie UniversiHit Berlin, fUr die Aufnahme des Bandes in die Reihe "Chloe. Beihefte zum Daphnis", Frau Christina Wolf, geb. Richter, fUr die sorgfaltige Reinschrift einiger Manuskripte, Herrn Rudolf Schulz fUr die redaktionelle Bearbeitung des Bandes und die Erstellung der Register und Herrn Fred van der Zee, Editions Rodopi B.V., Amsterdam, fUr die freundliche Betreuung unseres Buches. GieBen, im August 1992 Xenja von Ertzdorff

Dieter Neukirch

GruBwort des Prisidenten der Justus-Liebig-Universitat GieBen, Prof. Dr. Heinz Bauer, zur Eroffnung des Symposiums "Reisen und Reiseliteratur im MittelaIter und in der Friihen Neuzeit" am 03.06.1991

Meine Damen und Herren, ieh hoffe, Sie sind gut naeh GieBen gereist! Die Formulierung dieses BegriiBungssatzes wird Sie nieht wundern, sie hat natiirlich mit dem Thema Ihres Symposiums zu tun. Doeh gewohnlieh empfcingt man den Besueher mit der Frage: Sind Sie gut angekommen? Der moderne Mensch reist nicht, sondern er fcihrt oder fliegt in die entlegensten Winkel dieser Welt, und wenn er Gliick hat, kommt er an und wird mit der obligatorischen Frage begriiBt, in der auch anklingt ein "sind Sie noch einmal davongekommen?", z.B. dem morderischen StraBenverkehr. Die Sprache ist - das wissen die vie len Sprachwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen unter Ihnen besser als ich - verditerisch. Sie offenbart das Lebensgefiihl ihrer Zeit. Deshalb reist auch heute kaum noch jemand mit einer "Reisegesellschaft", aber viele in einer "Touristengruppe", in der als loekerer Gruppe die Geselligkeit einer Reisegesellsehaft nieht unbedingt zu erleben ist. Und die Sprache hat Recht, wenn sie das einsame Stehen in Autobahnstaus, das nervende Lichthupen des Rasers im Rtickspiegel, das Drangeln im iiberfiillten Speisewagen mit seiner Fast-Food-Gastronomie oder das endlose Kreisen in Warteschleifen tiber dem Frankfurter Flughafen, das manche von Ihnen vielleicht auf Ihrem Weg nach GieBen erfahren muBten, nicht als "Reise" bezeichnet. Dabei konnte gerade heute reisen so schon sein, sind doeh unsere Verkehrsmittel und -wege urn vieles bequemer als die der Zeit, mit der Sie sich wahrend des Symposiums beschaftigen werden. Heute werden keine Knochen beim Sturz vom Pferd gebrochen, keine Sehwielen schmerzen vom langen FuBmarsch,

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keine Wirbelsaulen sind von rappelnden Kutschen auf Schlaglochwegen gestaucht und als Wegelagerei erleben wir hochstens noch die Preise der Autobahntankstellen, die BahnzuschUige oder die Autobahnzolle im Ausland. Dennoch: ein ReisegefUhl stellt sich in der heutigen, der mobilsten Gesellschaft unserer Geschichte kaum noch ein. Es fehlt seine wichtigste Bedingung: die Zeit. Mit der Steigerung der Reisegeschwindigkeit ist zugleich verlorengegangen, was sie zu gewinnen hoffte. Zeit haben aber ist die conditio sine qua non, urn ein GefUhl der MuBe zu entwickeln, ,urn Landschaftsveranderungen in sich aufzunehmen, urn das Fremde zu entdecken, urn Geselligkeit zu erleben, urn sich fUr Neues, Unbekanntes zu Mfnen und daraus einen Erkenntnisgewinn fUrs Leben zu erzielen. Ein weitgereister Mensch galt friiher zu Recht als gebildeter Mensch, hatte doch jede Reise seinen Denkhorizont erweitert. Allein die Beschwerlichkeit und Lange der Reise sorgte dafUr, daB sie, auch wenn es nicht ihr eigentlicher Zweck war, zur "Bildungsreise" wurde. Einen Jet-Set-Manager aber, der aIle Metropolen dieser Welt bereits angeflogen hat oder einen Touristen, der das Programm "Europe in three days, pope included" absolviert hat, wiirde man schwerlich als weitgereisten, also gebildeten Menschen bezeichnen. Die Welt ist nahergeriickt durch unsere schnellen Verkehrsmittel, doch ob damit auch die Menschen nahergeriickt sind und ihre reizvolle Verschiedenartigkeit als Erlebnisgewinn erfahren wird, darf bezweifelt werden. Dabei brauchen wir heute mit Blick auf das sich herausbildende grenzenlose Europa und in Anbetracht der globalen Probleme mehr denn je ein Naherriicken der Menschen aller Nationen. Wir brauchen im internationalen Miteinander das MuBegefUhl des Reisenden mit seiner Neugier und seinem Respekt vor dem Andersartigen Neben der Beschwerlichkeit der Reisen im Mittelalter und in der Friihen Neuzeit wird IItr Symposium - wie ich dem Programm entnehme - auch an diese Reisetugenden erinnern und in der historischen Betrachtung Momente dieser Reise-Lebenshaltung in unserem BewuBtsein erhalten. Welch schone Vorstellung, wenn es gelange, die Bequemlichkeit der heutigen Verkehrsmittel mit der Reise-MuBe der Vergangenheit zu verbinden.

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Vielleicht gelingt es ja wahrend Ihres Symposiums, Momente dieser Reisehaltung in GieBen zu erleben, und sei es zunachst nur im phantasiebegabten Kopf oder wenigstens in den Fiillen auf Ihrer Wanderung zum Schiffenberg. Ich bin sicher, daB Frau KoUegin von Ertzdorff-Kupffer und Herr Kollege Neukirch sich nicht mit der begrifflichen Erfassung der damaligen Reisedokumente zufriedengeben, sondern mit groBem Engagement versuchen werden, Sie hier an unserer Universitat in eine Reisestimmung zu versetzen. Wenn dann mancher, der nach GieBen gekommen ist, nach dem Symposium erkenntnisreich nach Hause reisen wird, ist Ihr Vorhaben gelungen. Dann hat er auch erfahren, daB unsere Stadt auf den zweiten Blick des neugierigen Reisenden, nicht auf den ersten gehetzten Blick des Ankommenden, viele versteckte Reize zu bieten hat. Mit dieser Hoffnung begriiBe ich Sie herzlich an der JustusLiebig-Universitat und wtinsche Ihnen eine erlebnis- und erkenntnisreiche Reise durch die Themen Ihres Symposiums.

Horst Martin MiJllenmeister LUST AUF REISEN ANMERKUNGEN ZU THEORIEN DES TOURISMUS Die Bewohner des Planeten Erde, rund 60.000 Jahre nach der Entstehung des Homo sapiens, sind eine unruhige Gesellschaft. Man kann sich vorstellen, daB ein extraterrestrischer Ethnograph bei einer Forschungsreise in unserer Weltregion dies als ersten pdlgenden Eindruck empfinge: die Impression, daB Menschen unabHissig unterwegs sind. "Zwar besitzen sie," so wiirde er wohl berichten, "recht komfortable, teilweise sogar luxuriose Behausungen; sie haben jedoch nichts anderes im Sinn, als diese moglichst haufig zu verlassen . .Sie wohnen an einem Ort und arbeiten an einem anderen, und wenn sie sich nach der Arbeit vergniigen wollen, begeben sie sich an einen dritten, Mitunter auch vierten oder fiinften Ort. So daB sie taglich mehr oder weniger groBe, mitunter betrachtliche Strecken zuriicklegen miissen. Fast jeder besitzt seine eigene Fahrmaschine. die ihm offenkundig sehr wertvoll ist und in der er, wenn man die beobachteten Betriebszeiten hochrechnet, einen nicht unerheblichen Teil seines Lebens verbringt. Auch bei groBter Zuriickhaltung im Hinblick auf ursachliche Zusammenhange", so koIinte der Bericht fortfahren, "muB man konstatieren, daB diese Mobilitat als gesellschaftlich erwiinscht und personlich erstrebenswert gilt. Die weitaus meisten Menschen namlich bleiben bei diesem Verhalten in der arbeitsfreien Zeit, ja sie . steigern es noch in jenen Wochen, die ihnen zur freien Verfiigung stehen; sie legen dann besonders viele und besonders weite Strecken zUrUck, wobei sie sich auch bequemerer Schienenfahrzeuge und schneller Luftfahrzeuge bedienen. Die meisten allerdings benutzen auch bei dieser Gelegenheit ihre wenig komfortablen Automobile, und einige verbringen darin fast aIle Tage; sie evozieren die - wie ich zugeben muB - verwirrende und

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abstruse Hypothese, es konne sieh bei dieser Fortbewegung urn einen Selbstzweek handeln. Was also bedeuten wurde, daB diese Personen kein Ziel haben, zumindest kein eindeutiges und endgiiltiges, sondem hoehstens weehselnde, austausehbare und beliebige Ziele. DaB sie also nieht reisen, urn irgendwo anzukommen, daB sie sieh vielmehr auf den Weg machen, urn unterwegs zu sein. DaB sie fahren, urn des Fahrens willen. Vielleieht, weil das Fahren ihnen GenuB versehafft. Eine E.rkHirung, die angesiehts der zwangsHiufig mit der Reise verbundenen Strapazen zwar seltsam klingt, aus wissensehaftlieher Sieht jedoeh nieht a priori ausgesehlossen werden darf. Seltsam ist, daB diese Besehwerliehkeiten, die mitunter dramatisehe AusmaBe annehmen, nieht absehreekend wirken und moglieherweise nieht einmal als lastig empfunden werden. Soweit ieh in Erfahrung bringen konnte, lieBen sieh die Erdbewohner aueh dureh sehmerzhafte Erfahrungen nieht davon abbringen, immer wieder neue, aueh immer wieder andere Reisen in untersehiedliehe Riehtungen zu unternehmen. Wobei viele es offensiehtlieh darauf anlegten, ein Land naeh dem anderen aufzusuehen, heute in diesem, morgen in jenem Kontinent zu verweilen, so daB sie sehlieBlieh aIle mogliehen Regionen gesehen hatten und dies mit Fotos und Filmen zu dokumentieren vermoehten. Wenn die Deutung dieses Verhaltens einem AuBenstehenden aueh kaum gelingen wird," durfte unser Beobaehter erganzen, "so will ieh doeh einige ErkUirungsversuehe nieht untersehlagen, die sieh dem unvoreingenommenen Betraehter aufdrangen. Denkbar ware beispielsweise, daB es sieh hier urn ein Handlungssehema handelt, das von Neugierde dominiert wird. Der Erdenbiirger, so ware dann anzunehmen, wird getrieben von Wissensdurst; er ist unablassig bemuht, seinen Horizont zu erweitern, seinen Gesiehtskreis auszudehnen und seine Bildung zu komplettieren. Er wird nieht rasten, solange ein Winkel der Welt ihm noeh ein Geheimnis birgt. Es handelt sieh hier urn eine anthropologisehe Deutung, die auf einen deutsehen Denker namens Goethe zuruekgefiihrt wird und gilt als faustisehes Modell. Erganzt wird diese Hypothese dureh die Forsehungsergebnisse einer jungeren, naturwissensehaftlieh orientierten Faehriehtung, die sieh Verhaltensforsehung nennt. Diese Spezialabteilung der

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Biologie, die sich mit den LebensauBerungen und den Lebensgewohnheiten in der irdischen Fauna befaBt, hat aufgrund systematischer Beobachtungen erkannt, daB Tierkinder ebenso wie Menschenkinder ein Gebaren aufweisen, das man als "Appetenz zum Unbekannten" definiert. Die Neugierde ware demnach ein Trieb und genetisch bedingt, ein angeborener Handlungsmechanismus, moglicherweise eine unverzichtbare Voraussetzung nicht nur humaner, sondern auch animalischer Existenz. Wahrend sich jedoch das Neugierverhalten beim Tier auf die Jugendphase beschrankt und anschlieBend zu erloschen scheint, kann es beim Homo sapiens bis ins hohe Alter wirksam bleiben. Ja man vermutet sogar, daB der Mensch ohne diesen Drang zu neuen Erkenntnissen und Einsichten kaum lebensfahig ware, weil er standig gefahrlichen Irrtumern erliegen muBte und zu Fehlentscheidungen gedrangt wurde. Und man nimmt an, daB es die WiBbegier ist, die ibn den rechten Weg [uhrt, die ihm Lebenskraft und die Aura von Lebendigkeit verleiht. Wenn wir die Thesen der Ethologen akzeptieren, und wenn wir bei der Meinung bleiben wollen, daB die unruhigen Leute von Neugierde getrieben werden, dann muBte man Reiselust genau so schicksalhaft hinnehmen wie das Balzen der Hahne, die Formationsfluge der Zugvogel oder die unaufualtsamen Massenwanderungen der Lemminge. Ausreichend", so konnte unser Berichterstatter fortfahren, "ausreichend ist meiner Ansicht nach der Hinweis auf erbbiologische Abhangigkeiten allerdings nicht. Die Bewohner der Erde namlich mussen den Anweisungen ihres ererbten psychischen Apparates nicht unbedingt Folge leisten. Nach herrschender psychologischer Lehre konnen Triebe unterdruckt, verdrangt oder sublimiert werden. So mochte man denn auch vermuten, daB es sich bei der grenzenlosen Mobilitat nicht urn ein bioiogisches, sondern urn ein kulturelles Phanomen handelt. Vorstellbar ware etwa, daB sie ein gesellschaftliches Ritual darste!lt, dem sich niemand entziehen kann. Beispiele sozialer Zwange, auch unheilvoller Zwange in terrestrischen Sozietaten sind irdischen Ethnologen hinlanglich bekannt. Sie verweisen unter anderem auf die ruinosen PotlatchFeste der amerikanischen Nordwestkiistenindianer, bei denen es darauf ankommt, moglichst viele und moglichst kostbare Wert-

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gegenstande zu vemichten. Sie erinnern an die morderischen Mannbarkeitsriten der Kopfjager Neuguineas und an die blutigen Ehrenhandel im Offizierkorps der k.u.k. Habsburgischen Monarchie. Diese und viele andere FaIle beweisen, daB die Bewohner der Erde durchaus gegen ihre eig'enen Interessen verstoBen, daB sie sogar ihren Wohlstand, ihre Gesundheit und ihr Leben verspielen, wenn das Gesetz der Anpassung es erfordert. Es ware also durchaus denkbar, daB die Menschen nicht deshalb verreisen, wei! es ihnen SpaB macht, sondern wei! die Leute in ihrer Umgebung es von ihnen erwarten. Moglich ware schlieBlich, daBes sich urn ein neurotisches oder gar psychotisches Phanomen handelt. Bei unvoreingenommener Betrachtung mag man nicht ausschlieBen, daB die Erdenburger von einem Virus der Unrast befallen sind, daB sie einer zwanghaften Motorik gehorchen oder sich unablassig auf der Flucht befinden. Eine Theorie, die von diesem Eindruck ausgeht, hat ein Wiener Psychiater geauBert, der in der Fachwelt groBen Respekt genieBt. Dieser beruhmte Arzt - sein Name war Sigmund Freud erinnerte sich an die Enge und Armseligkeit der Lebensverhaltnisse in seiner Jugend, und er erklarte sich daraus seine Sehnsucht, zu verreisen. Dieses Verlangen, so meinte er, sei dem Orang verwandt, der soviele halbwuchsige Kinder antreibt, von zuhause durchzugehen. Die Lust am Reisen beruhe weitgehend auf der ErfUllung solcher friihen Wunsche, sie habe folglich ihre Wurzeln in der Unzufriedenheit mit Haus und Familie. Wir mussen berucksichtigen," wird unser kritischer Chronist anmerken, "daB dieser Seelenforscher die Erklarungen fUr menschliches Verhalten mit Vorliebe im fruhkindlichen Milieu sucht. Eine gewisse Voreingenommenheit des Blicks mussen wir deshalb in Betracht ziehen. Ob wir die Ursachen fUr eine Massenbewegung, die ganze Volker erfaBt, tatsachlich in den Entbehrungen der ersten Erdentage und in den Mangeln der elterlichen Erziehung suchen soIlen, wird vorHiufig sicher strittig bleiben. Offensichtlich ist jedoch, daB die allgemein sichtbaren und eingangs geschilderten Erscheinungen durchaus Ahnlichkeit aufweisen mit Fluchtbewegungen, wie sie bei Herden, Horden und anderen Massen nicht ungewohnlich sind. Der auf den ersten Blick unsinnige Einfall, daB die Reisenden

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nicht auf dem Weg zu einem Ziel sind, auch nicht auf unterschiedlichen Wegen zu wechselnden Zielen, daB sie vielmehr von dem Ort, an dem sie wohnen und arbeiten, wegstreben, daB sie unabUissig davonlaufen, ist also vermutlich einer Priifung wert." So oder so ahnlich konnte man sich den Bericht eines distanzierten Beobachters vorstellen, der damit ein polykausales Netz von ErkHirungen aufbaut, die bei hiesigen Theoretikern sehr viel eindeutiger und einseitiger zu finden sind. Beispielsweise bei Hans Joachim Knebel, der 1960 eine umfangreiche Untersuchung iiber die Strukturen des modernen Tourismus vorlegte. Und der dabei Charakter, Motive und Verhalten der Urlaubsreisenden einer schonungslosen Analyse unterzog. Knebel stiitzte sich auf die Beobachtungen eines amerikanischen Soziologen, die damals ganz frisch, aufregend und modisch waren, auf David Riesmans Thesen iiber die "einsame Masse". Das kollektive Verhalten von Bevolkerungen, so setzte Riesman voraus, und damit auch das Freizeitverhalten, ist selbstverstandlich kulturabhangig, historisch bedingt und variabel. In den altertiimlichen Agrargesellschaften beispielsweise lieBen die Menschen sich durch Traditionen leiten, durch Regeln und Gesetze, Sitten und Brauche, die iiber Generationen kaum verandert wurden. In der friihen industriellen Epoche folgten sie stattdessen ihrer inneren Stimme, den Einfliisterungen ihres Gewissens; sie standen zu ihren gewachsenen Uberzeugungen und trugen ihren personlichen KoinpaB in ihrer Brust, der ihnen zuverlassig den Weg wies. In der hochindustriellen Gesellschaft unserer Zeit dagegen horen sie auf die Signale, die aus ihrer Umgebung kommen, sie orientieren sich am Verhalten anderer, sie arfen nacho Unsere Zeitgenossen, sagt Riesman, sind auBengeleitete Konformisten. Sie verfligen nicht mehr iiber jenes implantierte Leitsystem, das unsere Vorvater ein Leben lang unbeirrbar auf Kurs hielt; sie besitzen stattdessen ein inneres Radar, das ihnen taglich verrat, woher heute der Wind weht und wohin der Trend geht. Sie wechseln ihre Meinungen und Gewohnheiten so unablassig wie die Couturiers ihre Kollektionen, die Magazine ihre Leitartikler und die Fernsehprogramme ihre Serienhelden. Unsere Zeitgenossen gehorchen dem Zeitgeist; sie sind Meister der Anpassung. Hier fand Knebel seinen theoretischen Ansatz. Der heutige

to Tourist, so befand er, ist im Gegensatz zu fruher ein auBengeleiteter Tourist. Er folgt nieht seinen Neigungen, seinen Wunsehen und Sehnsuehten wie die verdienstvollen Reisenden fruher, wie Goethe beispielsweise, Lord Byron oder Winekelmann, die aus dem PUisier der Reise geistiges Kapital sehlugen. Oder aueh wie die Bildungsburger, die Professoren, Amtsgeriehtsrate und englisehen Frauleins, die den Diehtern folgten, Poesie im Handgepaek, die beruhmten Verszeilen auf den Lippen. Die sieh auf den vorlaufig noeh besehwerliehen Weg maehten in das "Land, wo die Zitronen bluhen", oder in die Heimat des Wilhelm Tell, wo sie demutig die Alpen bewundern durften, "the palaces of nature". Die sieh begeisterten fUr Kunstwerke von "edler Einfalt, stiller GroBe" und sieh in weihevoller Ergriffenheit von sudlieher Sonne blenden lieBen, "das Land der Grieehen mit der Seele such end" . Die yom Erlebnis einer Reise viele Jahre lang oder gar ein Leben lang zehrten und aus der Fulle der Erinnerungen Honig saugten. Der zeitgenossisehe Tourist, rneint Knebel, hat keine Ahnliehkeit mit diesen empfindsamen Reisenden. Wer sieh heute in die Ferne begibt, hort nieht auf die Worte der Dichter, sondern auf die Werbebotsehaften der Marktstrategen. Er gehoreht nieht seiner inneren Stimme, er unterwirft sieh dern Diktat der Mode. Er bemuht sieh nieht urn seinen eigenen, personliehen, unverweehselbaren, maBgesehneiderten Urlaub; er kauft das GlUck als Konfektionsware, den Dutzendurlaub, austausehbar und beliebig ubertragbar, den Urlaub von der Stange. Er fahrt nieht naeh Italien, weil er Italien erleben will. Er fahrt naeh Italien, weil Meiers in Italien waren und weil er da nieht zuruekstehen mag. Und er geht im folgenden Jahr naeh Marokko, weil MulIers noeh nieht dort gewesen sind und weil er ihnen mit seinen Erzahlungen rnaehtig irnponieren wird. Unterwegs sehreibt er unablassig Ansiehtskarten, damit alle Verwandten und Freunde, Kollegen und Bekannte erfahren, daB er sieh ein derart kostspieliges Vergnugen zu leisten vermag. Sehenswurdigkeiten sieht er sieh nieht an; er fotografiert sie statt dessen und betraehtet zu Hause die Bilder, die er seinen Besuehern als Beweis vorlegen kann. Er aehtet deshalb darauf, daB seine Frau oder sein Auto vor den Pyramiden, dem Eiffelturm oder dem Petersdom zu erkennen sind, so daB die Authentizitat der Dokumente gesiehert ist.

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Was hier geschieht, so Knebel, das mochte man als demonstrativen Erfahrungskonsum bezeichnen. Nicht mehr das Erlebnis ist wichtig und nicht mehr die Erfahrung; wichtig ist nur noch der Wert, der dem Erlebnis und der Erfahrung von anderen zugesprochen wird. Bedeutsam ist nur noch die Beachtung und Anerkennung in der Umgebung, die Position in der Konsumentengesellschaft, der soziale Status. So geht der Trend, nach Meinung des Analytikers, yom Freiheitsdrang des Reiseindividualisten zur freiwilligen Unfreiheit des Pauschaltouristen. Yom U nvorhergesehenen zum Programm. Yom Baedecker zum Reiseleiter. Yom Wolkenbruch zur Regenversicherung. Er geht von personlicher Neigung zur Modediktatur. Yom Verstehen zum Stereotyp. Yom Verstehen zum Mitredenwollen. Yom Eindruck zur Belichtungszeit. Yom Brief zur Ansichtskarte. Yom romantischen zum programmierten Gefiihl. Yom Personlichen zum Anonymen. Hans Joachim Knebel hatte ein neues Wesen entdeckt, ein haBliches, dummes und verachtungswiirdiges Wesen, das den gesammelten Zorn aller gebildeten Biirger auf sich 109. Ein widerlich vitales und reproduktionsfahiges Wesen, das sich mit heuschreckenartiger Schnelligkeit vermehrte, zu bedrohlichen Horden anwuchs und immer mehr und immer grofiere Landstriche heimsuchte. Knebel beschrieb den Massentouristen. Sehr viel scharfsinniger und tiefgriindiger hat das etwa gleichzeitig Hans Magnus Enzensberger getan. Vergebliche Brandung der Ferne betitelte er seine Theorie des Tourismus; die Uberschrift zeigt die Denkrichtung und enthalt bereits ein Resiimee. Das Verlangen namlich, aus dem sich der Tourismus speist, meint Enzensberger, ist das Verlangen nach dem Gluck der Freiheit. Und Freiheit ist hier ein ganz spezifischer, ein historisch bestimmbarer und inhaltlich definierbarerBegriff. Freiheit ist in diesem Zusammenhang der Wunschtraum der Romantik, in die Ferne projiziert. Ein Wunschtraum, der auf das Elementare zielt, auf das Urspriingliche, auch auf das Abenteuer. Die Sehnsucht der Romantik war auf der Suche nach dem Reinen, dem Natiirlichen und Unberiihrten, und das Unberiihrte wurde das Leitbild des

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Tourismus. Kein Wunder also, wenn in den touristischen Werbetexten soviel von Paradiesen die Rede ist. Der T ourismus ware damit ein singuHires, kausal erklarbares und datiertes Phanomen, eine Erscheinung der letzten hundert Jahre und an eine ganz besondere historische Situation gebunden. An eine Situation, in der das FreiheitsbewuBtsein durch die biirgerliche Revolution geweckt worden war und sich mit der restaurativen Verfestigung nicht abfmden konnte. Eine Situation also, die von Vnzufriedenheit mit den politischen Verhaltnissen gepragt wurde. In ungemiitlichen Lagen versucht man, wann immer sich ein Ausweg bietet, zu fliehen. Vnd ein Ausweg bietet sich braven, fleiBigen Biirgern zumindest temporar und punktuell in den freien Wochen in der Urlaubszeit. Der Tourismus ware demnach der Versuch, der GeseUschaft, der Zivilisation, den Wohn- und Arbeitsstatten der industriellen Welt zu entrinnen. Ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist. Denn dem Touristen geht es wie dem Hasen beim Wettlaufmit dem Swinegel; so schnell er auch vor der Zivilisation davonlauft, am Ziel findet er sie bereits wieder vor. Er selbst verbreitet die Zivilisation, der er entkommen mochte. Er verbreitet sie in Form von AsphaltstraBen und Automobilen, FlugpUitzen und Bergbahnen, Vergniigungsstatten und HotelpaIasten. Indem er das Urspriingliche und Unberiihrte sucht, vernichtet er es gleichzeitig. Die Aktion "Befreiung aus der industriellen Welt" wird selbst Industrie. Die Reise aus der Warenwelt wird selbst Ware. Weil die Urlaubsreise nicht mehr das Privileg weniger ist, muB sie immer mehr geregelt, geplant, organisiert werden. Weil an dieser Bewegung Tausende, Hunderttausende, schlieBlich viele Millionen partizipieren, erzwingt sie die Erfindung der Reisefabrik. In der Fabrik jedoch gelten die Grundsatze der Normung, der Montage und der Serienfertigung. Der moderne Tourist bezieht seine Reise vom FlieBband, preiswert, mit garantierter Qualitat und in modischen Dessins. Das genormte Grundelement der Reise ist die Sehenswiirdigkeit; sie wird nach ihrem Wert mit ein, zwei oder drei Sternen klassifiziert. Sehenswiirdigkeiten miissen von den organisierten Touristen als Strafe und BuBe absolviert werden, als Strafe und BuBe fUr die Flucht aus der Gesellschaft. Die Touristen nehmen es

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hin, sie revoltieren nieht. Der Reiseleiter geht voran, der Tourist folgt. Der Reiseleiter befiehlt, der Tourist gehoreht. Und der Tourist bekennt mit seinem Gehorsam, daB er die Freiheit nieht verdient. "Indem er auf die Riiekfahrkarte in seiner Tasehe poebt, gesteht er ein, daB die Freiheit nieht sein Ziel ist". An der Enzensbergersehen Analyse diirfte eines besonders dienlieh sein: das zentrale Motiv der Freiheit. Und man darf vermuten, daB ein anderer Aspekt eher Verwirrung stiftet: die Verkettung des Freiheitsdranges mit einer singuUiren historisehen Stunde. Sind die VerhaItnisse tatsaehlieh nur hier und jetzt so triib, daB man ihnen entkommen moehte? Kann man sieh existenzielle Unlust wirklieh nur in der Leistungsgesellsehaft des industriellen Zeitalters vorstellen? Konnte es nieht beengende Lebensverhaltnisse, sogar strangulierende Lebensverhaltnisse, aueh in anderen Epoehen, unter anderen Konditionen gegeben haben? War da nieht vielleieht immer schon der AniaB zum Ausstieg, die Verloekung zur Flueht? Die Gesehiehte der Reise jedenfalls beginnt an dem Tage, an dem die Mensehen seBhaft wurden. Vorher waren sie eigentlieh immer unterwegs gewesen; als Jager und Sammler sind sie von Ort zu Ort gezogen und haben ihre Nahrung gesueht, wobei sie den Unbilden der Witterung ausgesetzt waren und den Gefahren in unbekanntern Gelande. Da sie keinen festen Wohnsitz hatten, kann man nieht sagen, daB sie sich auf Reisen befanden, denn der Begriff "Reise" beinhaltet die Heimkehr; die Reise ist die tempo rare Unterbreehung der seBhaften Lebensweise. Es gesehah vor etwa zehntausend Jahren, und es war eine epoehale Erfindung, die es den Wildbeutern gestattete, sieh an einem festen Platz niederzulassen. Es handelt sieh urn die Erfindung des Aekerbaus, und man bezeiehnet das Ereignis treffend als die neolithisehe Revolution. Die Folgen verwandelten das Leben und die Welt. Von nun an brauehte man der Nahrung nieht mehr naehzulaufen; man pflanzte sie sieh auf den Feldern. Man legte Vorratslager an und muBte nieht mehr von der Hand in den Mund leben. Man baute Behausungen, die vor Wind und Regen sehiitzten, und man 109

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Grenzen urn das Territorium, errichtete Walle, Mauern und Befestigungen, die man gegen fremde Horden verteidigte. Es leuchtet ein, daB das neue System ein sehr viel hoheres MaB an Sicherheit bescherte. Da man sich auf einen kleinen Raum beschrankte, war man mit seiner Umgebung bald vollig vertraut und vor Uberraschungen geschutzt. Zudem erlieB man eine Vielzahl von Gesetzen und Reglementierungen, so daB auch das gesellschaftliche Zusammenleben geordnet und in bestimmte Bahnen gelenkt war. Die Menschen hatten nun eine Heimat: eine kleine, uberschaubare Welt, die sie griindlich vermessen hatten. Eine Welt, in der die Eigentumsverhaltnisse geklart waren und in der jeder seine durch Traditionen bestimmte Rolle spielte. In der Heimat gab es keine Ratsel mehr. Alles Unerklarliche dagegen verbannte man in den weiten Raum jenseits der Grenzen. In der Ferne, hinter dem Horizont, wohnten die Gotter und die Damonen, die Riesen und die Zwerge, die Drachen, die Feen und Fabelwesen. Jenseits der Berge und der Meere lagen die Gefilde der Seligen und die Folterkammern der Verdammten, die glucklichen Inseln und die verderbenbringenden Felsen der Sirenen, die Garten mit den goldenen Apfeln, die schrecklichen Gebirge und die lieblichen Landschaften, in denen Milch und Honig flieBt. In der Fremde drohten die Gefahren und warteten die Wunder. Es lag wahrscheinlich an den Wundern, daB die Ferne eine seltsame Faszination ausubte auf die seBhaft gewordenen Menschen, auf die BOrger in ihrer sicheren, aber beengten Umwelt. So geschah es eines Tages, daB sie ihre soliden Hauser und die Vorratstopfe ihrer Frauen verlieBen, die selbstgezogenen Grenzen Oberschritten und sicli in unbekanntes Terrain waglen. Unter dem Vorwand, ihre Familien benotigten frisches Fleisch, begaben sie sich aufeinen Jagdausflug; mit dieser Expedition zur Nahrungsbeschaffung begann ·die Geschichte der Reise. Von jenem Augenblick an haben sich Menschen aller Rassen und Zungen immer wieder in fremde Lander begeben. Sie gingen zu FuB, sie benutzten Reittiere und Wasserfahrzeuge, sie durchquerten reiBende Flusse und dichte Urwalder, morderische WOsten, fiirchterliche Eisfelder und stOrmische Meere. Sie trotzten

15 dem Staub der LandstraBen, den Uberfallen der Wegelagerer, den verlausten Herbergen und betriigerischen Wirten. Sie waren Wochen unterwegs, Monate und manchmal auch Jahre. Irgendwann jedoch machten sie sich auf den Riickweg. Denn man weiB: Nur wer die Absicht hatte, heimzukommen, war ein Reisender. Und er unterschied sich damit deutlich von Tippelbriidern, Zigeunern, Artisten und anderen 'suspekten Typen, die braven Biirgern Furcht einfioBten. Die Bereitschaft, seinen Freiheitsdrang zu ziigeln und nach einigen unordentlichen Wochen in der Fremde wieder ein anstandiges, geregeltes Leben in der Familie zu fUhren, verlieh dem Reisenden Reputation. Die Riickfahrkarte in seiner Tasche war der Ausweis seiner Ehrbarkeit. DaB die Reisenden sich unterwegs vergniigen, hat man natiirlich von Anfang an vermutet. Man ahnte, daB sie sich zumindest voriibergehend ihren sozialen Pflichten entziehen wollten, der taglichen Arbeit, der ermiidenden Langeweile und der lastigen Kontrolle durch die Nachbarn. Man argwohnte, daB sie der heimischen Kost iiberdriissig waren und Appetit verspiirten auf exotische Geniisse. Man hegte den Verdacht. daB sie sich im Ausland paradiesischen Freuden hingaben, marchenhaften Liisten und herrlichen Lastern. Die Reisenden haben deshalb immer nach Entschuldigungen such en miissen und nach Rechtfertigungen. Also wappneten sie sich mit unwiderleglichen Argumenten. Wenn sie die Strapazen der langen Fahrten ertrugen und die Unbequemlichkeit der Verkehrsmittel in Kauf nahmen. so taten sie das natiirlich nur urn einer guten Sache willen, zu einem niitzlichen Zweck oder unter dem Druck zwanghafter Umstande. Seit es historische Quellen gibt. wissen wir gliicklicherweise, was die Reisenden zu ihrer Entlastung vorbrachten: Sie gingen beispi"elsweise auf einen Kriegszug, weil das Vaterland rief, weil die Ehre es verlangte, weil sie also Beute, Gold und Sklaven brauchten. Auch widmeten sie sich dem Handel, besuchten Geschaftspartner, fuhren zu Messen und Markten, weil die Geschafte es zwingend erforderten. Oder aber sie unternahmen Pilgerfahrten zur Sicherung ihres Seelenheils, und zur Konsolidierung ihrer Gesundheit begaben sie sich ins Bad. Die Reisenden haben immer gewuBt, daB die Daheimgeblie-

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benen ihnen miBtrauten. Deshalb erzahlten sie sUindig von der Muhsal, von den Schwierigkeiten, den Gefahren unterwegs, und urn die Angehorigen zu besanftigen, brachten sie ihnen verschiedene kleine Geschenke mit. (So begrundeten sie die Souvenirindustrie.) Und sie haben sich jahrtausendelang gehiitet, unvorsichtigerweise zuzugeben, daB sie ohne stichhaltigen Grund, nur so zum SpaB, verreisten. Der Vergnugungsurlaub ist eine Errungenschaft unserer Tage, und selbst heute bekennt sich erst eine kleine, mutige Minoritat dazu. Wenn Reisen prinzipiell einem seriOsen Zweck dienen muBten, urn gesellschaftlich akzeptiert zu werden, dann hatte man es schwer, Veranstaltungen zu rechtfertigen, die keinen siehtbaren Gewinn brachten. Kaufleute, die von Geschaftsreisen zuruckkehrten, konnten ihre Auftragsbiicher vorweisen. Kurgaste zeigten eine gesunde Gesichtsfarbe und die Atteste ihrer Arzte. Und die Pilger vermochten mit Weihwasser und Devotionalien aufzuwarten; auBerdem profitierten sie von der auBergewohnlichen Vertrauenswurdigkeit der Priester. Wer jedoeh weder betete noch badete oder Handel trieb, muBte sich etwas Besonderes einfallen lassen. Dem Reisenden machte das keine Schwierigkeiten; das Fernweh beflugelte seine Phantasie. So brachte er vor, daB er im Ausland seine Personlichkeit entwickele, sein Weltbild weite und seine Bildung komplettiere. Er besichtigte die diversen Weltwunder und andere Meisterwerke der Baukunst, sammelte Informationen iiber Maler, Dichter und Philosophen, aber auch iiber Staatsmanner und erfolgreiche Feldherren vergangener Zeiten, besuchte Metropolen, Residenzen und beriihmte Schlaehtfelder, und er wuBte iiber das alles trefflieh und lehrreieh zu beriehten. Es war allen Zuhorern deutlieh, daB er seine Zeit nieht vergeudet hatte, daB er kein Lustling, kein Herumtreiber, kein pfliehtvergessener Hedonist war. Ganz offensiehtlieh reiste er der Bildung wegen. Wer nieht in Geschaften reist, ist ein Tourist. Von Touristen berichten die historisehen Quellen, seit es historische Quellen gibt, also seit der grieehischen Antike. Und der Tourismus ist, wo immer er uns begegnet, Pilgertourismus, Gesundheitstourismus oder Bildungstourismus. Oder aueh eine Kombination davon. Und er ist sehr bald auch Massentourismus; die Priesterarzte des Asklepios in Epidauros managen einen lebhaften Kurortbetrieb;

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bei den Zeusfestspielen in Olympia trifft sich die ganze antike Welt; die Tempeldirnen in Korinth leben anscheinend gut vom Fremdenverkehr; die Wallfahrten nach Jerusalem, nach Rom oder nach Santiago de Compostela bringen dem Herbergs- und Transportgewerbe erhebliche und bestiindige Gewinne. Zum Grab des Apostels Jakobus im nordlichen Spanien reisen so viele fromme Verehrer, daB mehrere PilgerstraBen entstehen, mit GasthOfen fUr jede Tagesetappe. Gleichzeitig haben die Heilbader Konjunktur; man behandelt sein Zipperlein und traumt vom Jungbrunnen. Wozu der Riickblick in eine ferne Vergangenheit? Nicht zu vergleichen sei das alles mit dem heutigen Urlaubsverkehr, meint Enzensberger. Sicher seien die Menschen immer schon gereist, aber Lust sei dabei nie im Spiel gewesen. Nur die blanke Not habe die Leute veranlassen konnen, die freundliche Warme des heimischen Herdes zu verlassen und sich im windigen Ausland rheumatische Beschwerden einzuhandeln. Nur biologische und wirtschaftliche Zwange hatten es vermocht, die Nesthocker hinauszutreiben. Enzensberg~r hat damit - beinahe - recht. Er hat recht, wenn er noch ein paar weitere Zwange zugesteht, religiose und medizinische beispielsweise, wozu er wahrscheinlich bereit ware. Und er hat recht, wenn wir den Erklarungen und Beteuerungen der Reisenden glauben. Wenn wir also akzeptieren, daB sie nie mit heiterer Erwartung durch die Felder und die Auen gezogen sind, ein frohliches Lied auf den Lippen. DaB sie viel mehr sorgenvoll und heldenhaft ein boses Geschick auf sich nahmen. Wie jener beriihmteste Reisende der Antike beispielsweise, den Enzensberger als Kronzeugen aufruft, der "herrliche Dulder" Odysseus, von dem uns Homer berichtet, wie er auf dem Heimweg von Troja nach Ithaka zehn schreckliche Jahre lang iiber das Meer irrte, verfolgt von zornigen Gottern, bedroht von hungrigen Riesen und fiirchterlichen Kyklopen, von todlichen Sttirmen und verderbenbringenden Sirenen, immer in Not, immer geplagt und immer verzehrt von brennender Sehnsucht nach Familie und Heimat. Nur sehr aufmerksamen Lesern faIlt auf, daB es auf diesem Leidensweg gliicklicherweise ein paar Pausen gab. DaB der bejammernswerte Held, genau betrachtet, sieben Jahre bei der

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Nymphe Kalypso auf der hubschen Insel Ogygia verbrachte, ein weiteres Jahr bei der bezaubernden Kirke in Aiaia, acht Zehntel der Zeit also in den kosenden Armen liebevoller Damen an traumhaften Gestaden. Auch Enzensberger muB das ubersehen haben. Ubersehen vermutlich deshalb, weil der homerische Odysseus den Tatbestand eher verschleierte als darstellte. Weil er nicht mude wurde, sein Schicksal zu beklagen, sein UnglUck zu beweinen und die widrigen Umstande zu verfluchen, die ihn hinderten, in die geordneten Verhaltnisse seines koniglichen Amtes und seiner ehelichen Beziehung zuruckzukehren. Die Taktik des listenreichen Heiden ist ein fruhes und vorzugliches Beispiel fUr die Tauschungsmanover, zu denen Reisende nihig sind. Sie soUte uns auch heute noch warnen, den offiziellen Angaben und Bekundungen der Touristen blindlings zu vertrauen. Die Verhaltensweisen des Menschen namlich verandern sich nur langsam, und seine Triebkrafte bleiben auch uber lange Zeitraume bemerkenswert konstant. Geschichten wie die Odyssee bestatigen den Verdacht der Ortsansassigen, daB man sich in der Ferne verlustieren kann. DaB die spieBburgerlichen Gesetze unterwegs nicht gelten und Verbote nicht beachtet werden mtissen, daB man tiberall Gelegenheit zur Sunde findet und verfuhrerische Frauen mit lockerer Moral. Geschichten wie diese dienen aber auch dem Ansehen des Reisenden, seinem Rang in der Gesellschaft der Staatsburger, seinem Ruf, seiner Reputation. Wer sich auf das Wagnis einlieB, die Grenzen zu tiberschreiten, der muBte in den Augen der zaghaft Daheimgebliebenen zumindest ein Mutiger sein, ein zupackender Draufganger moglicherweise oder gar ein Abenteurer. Ein richtiger Mann jedenfalls, der die Richtung bestimmt und das Steuer in die Hand nimmt. Jemand, der Weitblick beweist und uber den Tellerrand des allmglichen Einerleis hinausschaut. Er hat sich yom Horizont nicht aufbalten lassen. Er kann von phantastischen Erlebnissen erzahlen. Er ist klug, er ist weltgewandt. Er ist beredt und unterhaltsam. Er hat Erfahrung. Er macht in Gesellschaften eine gute Figur; er macht Eindruck; er vermag zu imponieren. Hans Joachim Knebel hat zweifellos richtig beobachtet, wenn er be merkt, daB Reisende haufig Angeber sind. DaB sie mit ihren

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Souvenirs prunken, als seien es Siegesmedaillen oder Jagdtrophaen. DaB sie viele Landsehaften und Lander dureheilen und eine mogHehst groBe Zahl von Reisezielen absolvieren, ganz so wie andere Leute Gemalde, Briefmarken oder Brillanteolliers sammeln. DaB sie nieht mUde werden, von ihren Abenteuern und Erlebnissen zu sehwadronieren. UnglaubwUrdig ist allerdings, daB sie diesen Hang zur Prahlsueht erst in unseren Tagen entwiekelten. Und ernste Zweifel sind angebraeht, ob die Bewunderung der Freunde und der Neid der Naehbarn fUr die Mehrzahl der Touristen tatsaehlieh der einzige, hinreiehende Grund sind, die angeblieh sehonste Zeit des Jahres in Verkehrsmitteln und Gasthausern zu verbringen. Sieher ist, daB die Anerkennung und die MiBgunst im Bekanntenkreis dem Reisenden sehmeicheln. AuBer Zweifel steht aber aueh, daB er diesen Respekt sehr leieht verspielen kann. Namlich dann, wenn er seine grundsatzlieh lobenswerte und begeisternde Tatigkeit in unzulassiger Weise Ubertreibt. Wenn er sich seine limitierte Freiheit allzuoft gonnt. Wenn er sieh allzu haufig seinen burgerlichen Pfliehten entzieht und die moralisehen Regeln allmahlich verlernt und miBachtet. Wenn er kein Reisender mehr ist, sondern ein Herumtreiber und Vagabund. Ein Zirkusartist beispielsweise oder ein Zigeuner, ein Tourneesehauspieler, ein Jahrmarktschreier oder ein Reiseleiter. Eines jener verdaehtigen Subjekte also, vor denen ordentliehe BUrger immer schon die TUren verschlossen und die Tochter versteckt haben. Sie hatten Angst, ihre Wertsachen konnten ihnen abhanden kommen oder ihre Toehter konnten ihnen davonlaufen. Die BUrger fUrchteten namlich die Fahrenden und waren gleichzeitig von ihnen fasziniert. Sie spurten, daB die ganz groBe Freiheit eine ganz groBe Versuchung war (besonders ihre Sohne und Toehter spUrten es). Sie empfanden die Verlockungen der Ungebundenheit, der ZUgellosigkeit und der standig neuen Uberraschungen. Sie sahen aber aueh die Gefahren des unsteten Lebens, das Ungesieherte und Bedrohte, den Zwang ewiger Wandersehaft, und dieses Sehieksal endgiiltiger Heimatlosigkeit erfUllte die SeBhaften mit. Grauen. (Ein Grauen, das sieh in sehaurigen Gesehiehten von rastlos Getriebenen wiederfindet, in den Sagen yom Fliegenden Hollander beispielsweise oder yom Ewigen Juden.)

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Es handelt sich urn ein profundes Grauen, das an die Wurzeln unserer Angste reicht. Das Schicksal der Fahrenden, so empfinden wir, spiegelt Menschenschicksal, da~ zerbrechliche Schicksal einer ungesicherten Existenz. Pablo Picasso hat das gemalt, 1905, in seinen Zirkusbildern. Fur seine "Familie des SeilHinzers" hat Rainer Maria Rilke die Interpretation geliefert, in den Duineser Elegien, Elegie 5, die folgendermaBen beginnt: Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig Fliichtigern noch als wir selbst, die dringend von fruh an wringt ein wem, wem zu Liebe niemals zufriedener Wille? Sondern er wringt sie, biegt sie, schlingt sie und schwingt sie, wirft sie und fangt sie zuruck; wie aus geOlter, glatterer Luft kommen sie nieder; auf dem verzehrten, von ihrem ewigen Aufsprung dunneren Teppich. diesem verlorenen Teppich im Weltall. Rilke weiB, daB Picasso weiB, was die Menschen sind: traurige Seiltanzer; melancholische Artisten bei einer gewagten Darbietung ohne Netz; zerbrechliche Kreaturen, ausgesetzt im Universum; dilettantische Darsteller vor einem miiden Publikum; plumpe Springer, die ihre Schwierigkeiten haben mit der Schwerkraft. EntUiuschende Enttauschte, die nur noch eine letzte Zuversicht haben; die zaghafte Hoffnung auf die Liebenden und ihre "kiihnen, hohen Figuren des Herzschwungs". Die Fahrenden sind eine Metapher. Auch die Reise ist eine Metapher. Seit der Geburt der eschatologischen Religionen ist der Mensch jemand, der unterwegs ist. Ein Wanderer auf dem Weg in die himmlische Heimat. Ein verirrter Sunder, der den Weg des Heils sucht. Ein Pilger, der nicht rastet, bis er ruhet in Gott. Wer sich auf die Reise begibt, muB sich von Fesseln IOsen. Von den Fesseln des Besitzes und den Fesseln der Gewohnheit. Von den Fesseln seines Hauses, seiner Familie und seiner Freunde. Von den Fesseln seines Berufs, des Vereinslebens und des geordneten Terminkalenders. Wer sich auf Reisen begibt, muB sich auf das Unvorausschaubare einlassen, auf das Revolutionare und Chao-

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tische. Und wenn er nicht auf dem Weg zu Gott ist, so muB er sich doch standig neue Orientierungen suchen. Hermann Broch, einer der kliigsten Analytiker deutscher Sprache, hat das in einer Passage seines Romans Esch oder die Anarchie unnachahmlich komprimiert; wir wollen aus diesem Abschnitt, der von einer Eisenbahnreise handelt, nur drei kurze Ausschnitte betrachten: In dem dahinbrausenden Zug ist alles Zukunft, weil jeder Augenblick einem anderen Orte schon angehort, und die Menschen im Waggon sind zufrieden, als wiiBten sie, daB sie der Suhne entriickt werden. Jene, die auf dem Bahnstieg zuriickgeblieben sind, sie haben noch getrachtet, mit Rufen und Tucherschwenken an das Gewissen der Enteilenden zu rOOren und sie zur Ptlicht zUriickzubringen, aber die Reisenden gebeo die Verantwortungslosigkeit nicht mehr auf, verschlieBen die Fenster unter dem Vorwand, daB sie infolge der Zugluft ein steifes Genick befiirchten und packen ihre EBvorriite aus, die sie Qun mit niemandem mehr zu teilen brauchen.

*** In die Freiheit geworfen, mussen sie Ordnung und Gerechtigkeit neu errichten, sie wollen sich von den Ingenieuren und Demagogen nichts mehr vorflunkern lassen, sie hassen das Menschenwerk in den staatlichen und technischen Einrichtungen, allein sie wagen nicht, sich gegen das jahrtausendealte MiBverstandnis aufzulehnen und die schreekliehe Revolution der Erkenntnis heraufzubesehworen, in der zwei und zwei nieht mehr zu summieren sein wird. Denn niemand ist da, sie der verlorenen und wiedergefundenen Unschuld zu versiehern, niemand, in dessen SchoB ~ie ihr Haupt legen konnen, tliehend ins Vergessen aus der Freiheit des Tages.

*** Ubernahe und iiberferne, wie einem Kinde, sind die Dinge, und der Reisende, der den Zug bestiegen hat und in weiter Ferne nach seiner Frau sieh sehnt oder auch nur naeh seiner Heimat, ist wie einer, dem das Augenlicht zu versagen beginnt und den eine leise Angst uberkommt, er konnte erblinden. Es ist vieles undeutlich urn ihn geworden, wenigstens meint er, daB es so sei, sobald er sein Gesicht mit dem Mantel bedeckt hat, und dennoch beginnt ein Wissen in ihm aufzukeimen, das er vielleicht schon besaB, aber nicht beachtet hat. Er

22 steht am Beginn des Schlafwandelns. Noch folgt er der StraBe, welche von den Ingenieuren bereitet worden ist, aber er geht nur mehr am Rand, so daB man fiirchten muB, er werde hinabstfirzen. Die Stimme des Demagogen hart er noch, aber sie ist ihm nicht mehr Sprechen. Er streckt die Arme seitwarts und nach vorne gleich dem traurigen Seiltanzer, der hoch iiber der guten Erde von besserem Halt weiB. Erstarrt und bezwungen schwebt die gefangene Seele, und der Schlafende gleitet nach aufwarts, wo die Fittiche der Liebenden seinen Atem beriihren wie die Flaumfeder, die man dem Toten auf die Lippen legt, und er wunscht, daB man ihn, als ware er ein Kind, nach seinem Namen frage, damit er in den Armen der Frau, eratmend die Heimat, traumlos versinke. Noch ist er nicht sehr iiberhoht, doch schon steht er auf einer kleinen erstmaligen Staffel der Sehnsucht, denn er weiB es nicht mehr, wie er heiBt.

Eine Interpretation ist hier kaum erforderlich. Wir haben die Rilke-Zitate erkannt: die Fittiche der Liebenden und Picassos traurigen Seiltanzer. Wir haben gesehen, daB die Reise die Gegenwelt ist zum kleinen Universum der Heimat. Die Gegenwelt zu jenem eingeschrankten Kosmos, der von Enge gepragt ist, von Tradition, Solidi tat und Sicherheit, von Gleichgiiltigkeit, Uberschaubarkeit und Langeweile, von Anpassung, Resignation und MittelmaBigkeit. Eine Gegenwelt, die Uberraschungen bereithalt und Versuchungen, Sehnsiichte und Triiume, die Hoffnung auf das Gluck der Unschuld und die Chance der Befreiung. Der Reisende hat seine Fesseln schon ein wenig abgestreift, "denn er weiB es nicht mehr, wie er heiSt". Er ist im Begriff, seine Identitat aufzugeben. Er konnte sie ablegen wie einen abgetragenen Anzug, den er in die Altkleidersammlung gibt, und er konnte sich eine neue anprobieren, eine hiibsche, straff sitzende Identitat mit modischen Dessins und frisch en Farben. Er konnte noch einmal von vorne anfangen. Er konnte alles abstreifen, was ihn alt und verbraucht erscheinen laBt, seine Enttauschungen, seine Erschlaffungen, die Monotonie seiner Redewendungen, das Arsenal seiner Witze, die schlaffe Haut, die sich abzeichnende Rundung des Bauches, seine Angewohnheiten. Er konnte sich einmal noch aufraffen. Er konnte aIle Krafte aktivieren, die er verkummern lieS. Er konnte die vielen Talente pflegen, die er nie genutzt hat. Er konnte einen der vielen Wege beschreiten, die ihm einstmals offenstanden, und die er nicht

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gegangen ist, weil er sich schlieBlich fUr einen anderen Weg entschieden hat. Fur einen anderen, der ihm heute, da er ihn hinreichend kennt, nicht mehr ganz so attraktiv erscheint. Er konnte Flugkapitiin werden, Autorennfahrer oder Professor fUr Kunstgeschichte. Er konnte Tennis spielen, Gedichte schreiben oder dirigieren. Er konnte in einem Barockkloster an der Donau Monch werden oder an einem indischen Strand unter Palmen meditieren. Er konnte es zum Generalmanager in der GroBindustrie bringen, nach Australien auswandern, den Mount Everest besteigen, den Schlagerhit des Jahres komponieren oder als Entwicklungshelfer nach Uganda gehen. Die endlose Fulle der Moglichkeiten steht ihm offen, wenn er fUr die Freiheit optiert. Und erkann sicher sein, daB dann nichts mehr voraussehbar sein wird: Er kann gewinnen oder verlieren, genieBen oder leiden, schlemmen oder hungern, selig werden oder verzweifeln, der groBen Liebe oder der groBen Angst begegnen, in den Himmel oder in die Holle geraten. Er kann leben und erleben. Der Reisende wird jedoch von der Option in der Regel keinen Gebrauch machen. Oder er wird sich nur so weit mit ihr einlassen, daB sie ihm keine Gefahren und keine ernsthaften Konsequenzen bringt. Er wird sie versuchsweise nutzen und spielerisch; er wird mit ihr flirten und kokettieren; er wird sie in seinen Traumen hatscheln und sie hubsch herausputzen. Aber dann wird er sie gut einpacken und sorgHiltig verschlieBen und sich wieder auf den Heimweg machen. Bis zum nachsten Jahr. Der Tourist am Ende des 20. Jahrhunderts braucht sich auf kein Risiko mehr einzulassen. Die Welt, in die er sich regelmaBig hinausbegibt, ist erforscht, gesichert und vermessen; sie bietet keinen Platz mehr fUr Engel und Damonen, fUr Feen und Fabelwesen, Geheimnisse und selige Gefilde. Gefahr und Unsicherheit sind auf ein Minimum reduziert. Die Verkehrsmittel sind in der Regel zuverlassig und halten sich an ihre Fahrplane. Auch bieten sie mittlerweile gute Federungen, gepolsterte Sitze und insgesamt einen erstaunlichen Komfort. Gegen Rauber und Wegelagerer gibt es wirkungsvolle Polizeikontrollen; das Urlaubsziel kann man vorab im Katalog betrachten; das Hotelzimmer ist vorausbestellt, mit Balkon und Meerblick, Dusche und we, mit Fruhstiick oder Vollpension, deutschsprachige Reiseleitung inbegriffen. Das Aben-

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teuer der Reise schrumpft auf zwei let-Stunden; Ferieninhalt sind Sonne und Sand, Schwimmen oder Wandern, Sightseeing oder Shopping, Schlemmen, GenieBen, Tanz und SpaB und Dolce far niente. Wenn Sie jedoch die Urlauber heute fragen, weshalb sie eine Ferienreise unternehmen, so werden Sie immer wieder horen, es geschehe der Erholung wegen. Und das ist eine Antwort, die uns nun stutzig machen muB. Erholung namlich ist ein hochst vernunftiger Grund fUr den Urlaub. Erholung bedeutet, wenn man ein weniger genauer nachforscht: Entmudung und Revitalisierung, Pflege der Gesundheit, Sich-fit-halten fUr den Lebenskampf, fUr die Familie, fUr die Karriere. Die Erklarung ist so vernunftig, daB sie unglaubwiirdig wirkt. Es entsteht der berechtigte Verdacht, daB es sich hier urn ein psychologisches Phanomen handelt, das man Rationalisierung nennt. Das heiBt: Ein ursprungliches, tiefer liegendes Motiv, das man sich selbst und anderen nicht zugeben mochte, wird durch ein neutra1eres ersetzt, von dem man weiB, daB es allgemein gebilligt wird. Mit anderen Worten, die Touristen beschaffen sich immer noch Entschuldigungen. Und sie haben jetzt die allerprachtigste Ausrede gefunden, eine generelle, universelle, immer wieder anwendbare Ausrede, die nicht fUr eine kleine Elite bevorrechtigter Biirger Giiltigkeit hat, sondern speziell fUr die breite Masse der BevOlkerung, fUr die Unterprivilegierten, die Malocher, die Lohnsklaven, fUr die Abhangigen, die FleiBigen, die kleinen Leute. Fiir das Heer der Werktatigen also, die das Bruttosozialprodukt erarbeiten, die fiir die Produktion, fiir den Konsum und fiir den allgemeinen okonomischen Fortschritt sorgen. Das Recht auf freie Zeit hat man Ihnen zugestanden, weil man urn ihre Funktionsfahigkeit besorgt war. Weil einige Wissenschaftler glaubhaft versicherten, daB man auf diese Weise VerschleiBerscheinungen hinauszogern, die Reparaturanfalligkeit mindern und die Effizienz steigern konnte. Das sozialpolitische Argument fUr die Gewahrung der lahresurlaubs fUr Arbeiter und Angestellte war der volkswirtschaftliche Vorteil, den ein pfleglicher Umgang mit dem menschlichen Kapital verspricht. Die Reiselustigen konnten sieh natiirlich ein derart prachtiges Argument nieht entgehen lassen, und sie behaupten seitdem unver-

2S drossen, Sinn und Zweck ihrer Unternehmungen sei eigentlich und grundsatzlich die Erhaltung ihrer Arbeitskraft. DaB man derartige Schutzbehauptungen nicht weiter ernst nehmen darf, haben zumindest die Fremdenverkehrswerber erkannt. Wenn man ihre Texte betrachtet, so erhalt man wenig AufschluB uber regenerative Faktoren, heilklimatische Besonderheiten oder erfolgreiche Rekreationsprozesse; man erfahrt kaum etwas uber Gesundheitsvorsorge, therapeutische MaBnahmen oder Vorschlage fUr Rekonvaleszenten. Stattdessen kommt man bei der Analyse des Vokabulars zu erstaunlichen Resultaten. 1st da doeh andauernd von Dingen die Rede, die es in unserer aufgeklarten Zeit eigentlieh nieht mehr geben dOOte. Von Paradiesen beispielsweise, die nun zu Ferienparadiesen wurden, zu Badeparadiesen, Taucherparadiesen, Segelparadiesen, Wanderparadiesen und besonders gern zu Inselparadiesen. Von Wundern wird da viel gesprochen, die sich als Naturwunder darstellen oder als Wunder der Malerei, der Architektur, der Kochkunst oder ganz allgemein des menschlichen Genius. Auch Geheimnisse und Ratsel begegnen uns, fernostliehe etwa oder orientalische, vermischt mit sehr viel Zauber, Faszination und Abenteuer. Die Fremdenverkehrswerber setzen offensichtlich weiterhin auf das Fernweh - ein Reisemotiv, von dem man annehmen darf, daB es sich seit der jungeren Steinzeit nieht verandert hat. Die Werbetexter haben mit ihren Strategien offensichtlich Erfolg. Zwar konnen sie davon ausgehen, daB der durehsehnittliehe Tourist heute ziemlich genau weill, was ihn in den Ferien erwartet: Wenn alles gut gebt, ein freundliehes Hotel, reichliehes Essen, sonniges Wetter, ein feinsandiger Strand und ein paar gemutliehe Abende an der Bar. Sie durfen aber nieht ubersehen, daB er uneingestandenermaBen sehr viel mehr erhofft. Ein Mysterium namlieh oder eine Offenbarung, die ersehnte Erlosung oder die erahnte Erfullung, die tiefste Entruckung oder das hochste Gluck, mindestens jedoch ein paar groBe Erlebnisse und ein paar kleine Wunder. Die Touristen mUssen wohl viele Erfahrungen sammeln, ehe sie ihre Sehnsuchte aufgeben und ihre Illusionen zu Grabe tragen. Einige werden apathisch, andere zynisch oder norglerisch, wenn sie einsehen, daB sie ihren Einsatz verspielt und keinen Gewinn

26 mehr zu erwarten haben; wenige bewahren ihre Hoffnung unbeirrbar bis zum Tode. Besinnliche uben sich in kontemplativer Resignation wie der welterfahrene Lyriker Gottfried Benn, der im Herbst des Lebens eine Bilanz der Reisen zieht: Reisen Meinen Sie Zurich zum Beispiel sei eine tiefere Stadt, wo man Wunder und Weihen immer als Inhalt hat? Meinen Sie, aus Habana. weiB und hibiskusrot, brache ein ewiges Manna fur Ihre Wustennot? BahnhofsstraBen und rueen, Boulevards, Lidos, Laan selbst auf den fifth avenueen fallt Sie die Leere an ach, vergeblich das Fabren! Spat erst erfahren Sie sich; bleiben und stille bewahren das sich umgrenzende Ich.

Die wenigsten allerdings lassen sich von der wehmutigen Altersweisheit prominenter Reisender beirren. Man weiB, jene sind lange Zeit unterwegs gewesen; sie haben ferne Lander und exotische Stadte kennengelernt, deren Namen wie Musik klingen. Und man laBt sich den Verdacht nieht ausreden, daB dies eine freudenreiehe Unternehmung war. Der Ruf nach Verzicht und Entsagung ist wenig glaubwurdig, wenn er von muden Lippen kommt, die alles genossen haben und hinterher alles fade finden. Der Durehschnittsburger hat da zunaehst einmal Naehholbedarf. Der Durchschnittsburger langweilt sich in der Wohnkultur seines gut versicherten Hauses und in seinen ordentlichen Verhaltnissen. Er gahnt mitunter schon, wenn er morgens aus dem Bett steigt, denn er weill genau, was ihn an diesem oder jenem Tag begegnet, weil die Tage gleich und austauschbar sind. Er wird acht

27 Stunden lang am FlieBband irgendwelche Handgriffe tun, am Schreibtisch irgendwelche Bestellungen schreiben oder irgendwelche Konten priifen, und man kann nicht sagen, daB er dies besonders amiisant, aufregend oder sinnvoll findet. Abends wird er einen Krimi, am Sonnabend die Sportschau sehen, und am Sonntag wird er den Garten pflegen, einen Familienausflug machen oder im Vereinslokal ein paar kiihle Helle zischen. Sicher ist das ein Leben, mit dem man zufrieden sein kann, und er weiB die monatlichen Gehaltszahlungen, den Kiindigungsschutz, den Pensionsanspruch und den Wohnkomfo.rt durchaus zu schatzen, und zur Alterssicherung schlieBt er noch eine zusatzliche Lebensversicherung abo Dennoch meint er manchmal, er konne das Einerlei nicht mehr ertragen. Er stellt fest, daB ihn die Monotonie der Tage lahmt. Er bemerkt bedauernd, daB ihn nichts mehr erregt und nichts mehr iiberrascht, daB er das Staunen verlernt hat, das Erschrecken und das freie Lachen. Er muB einsehen, daB er seine Kreativitat verloren hat und seine Spontaneitat. So beschlieBt er, aus dem geregelten Leben auszubrechen, wenn auch nur fUr eine kurze Weile. Er weiB, daB er die Sicherheit nicht aufs Spiel setzen darf, und er achtet sorgfaltig darauf, daB er kein iibermaBiges Risiko eingeht . . Dann jedoch beginnt er eine Liebelei mit der Unordnung, mit dem Chaos, mit der Anarchie. Er setzt die Verbote und Gebote voriibergehend auBer Kraft; er entzieht sich den Gewohnheiten, Sitten und der Umgebung, die er langst auswendig gelernt hat. Er wahlt die Freiheit. Nicht die groBe, iiberwaltigende, todliche Freiheit, sondern eine maBvolle, iiberschaubare Freiheit; eine Freiheit in niedlichen Dimensionen; eine bekommliche, gefahrlose therapeutische Freiheit; eine endliche, meBbare, befristete Freiheit; eine Freiheit auf Widerruf. Er entschlieBt sich, zu verreisen. Literatur: Hans Magnus Enzensberger: Eine Theorie des Tourismus. In: ders. (Hrsg.): Einzelheiten. Frankfurt/M. 1962.

28 Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. Frankfurt/M. 1975. Hermann Broch: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Teil 2: Esch oder die Anarchie. Frankfurt/M. 1985. Gottfried Benn: Reisen. Fragmente. Neue Gedichte. Berlin 1951.

Manfred Landfester REISE UNO ROMAN IN DER ANTIKE. UBER DIE BEDEUTUNG DES REISENS FUR DIE ENTSTEHUNG UNO VERBREITUNG DES ANTIKEN ROMANS Der Literaturwissenschaftler ist nicht primar an dem sozialen Phanomen des Reisens urn seiner selbst willen interessiert, sondern wegen der Beziehung des Reisens, wie auch immer sie sein mag, zur Literatur. Unter diesem Aspekt drangt sich der antike Roman als Untersuchungsgegenstand geradezu auf, da keine andere Gattung der antiken Literatur so durch das Reisen bzw. durch Ortsveranderung bestimmt ist wie der Roman. In drei Schritten will ich das Thema entfalten: 1m 1. Teil soH der literarische Befund vorgestellt werden, wahrend im 2. Teil das Verhaltnis zwischen der Romanwelt und der Wirklichkeit des Reisens in der Antike skizziert wird. Der 3. Teil schlieBlich fragt nach der Bedeutung des Reisens fUr die Entstehung und Verbreitung des Romans. 1. Der literarische Befund: Der antike Roman, wenig bekannt, noch weniger geschatzt, aber bis zum 18. lahrhundert von groBer Bedeutung fUr die Entwicklung des neuzeitlichen Romans, ist ein literarischer Spatling. Erst in der Zeit des Spathellenismus, also am Ende des 2. vorchristlichen lahrhunderts, ist er entstanden. Mode geworden ist er noch spater: Zu Beginn der romischen Kaiserzeit urn die Zeitenwende wurde er zu einer beliebten literarischen Gatturig, die sich im Laufe von drei lahrhunderten aus literarisch eher bescheidenen Anfangen zu literarisch anspruchsvollen Ausformungen emporarbeitete, ohne freilich ihre ursprlingliche Nahe zur Trivialliteratur ganz vergessen machen zu konnen. Der Umfang der erhaltenen Romanliteratur ist durchaus beachtlich, wenn man den Uberlieferungsbefund anderer Gattungen vergleicht. So sind aus der fruhen romischen Kaiserzeit, also aus der Zeit vom Ausgang des 1. vorchristlichen lahrhunderts bis zum

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3. nachchristlichen Jahrhundert, mnf vollstandige griechische Romane erhalten, die Romane des Chariton, des Xenophon von Ephesos, des Achilleus Tatios, des Longos und des Heliodor. Fragmente weiterer Romane und Inhaltsangaben besonders durch den byzantinischen Gelehrten und Patriarchen Photios aus dem 9. Jahrhundert, der unverdrossen eine groBe Hille griechischer Literatur las und zu Resiimees zusammenzog, bereichern die Uberlieferung. 1 Die Parodien dieser Gattung hat die Antike bereits selbst geschaffen und mitgeliefert: Proben davon sind in den Satyrica des Petron sowie in den Romanen Lukians iiberliefert. 2 Zu den Merkmalen der Gattung gehort zunachst die geographische Lokalisierung des Romangeschehens: Zwar ist der Ausgangspunkt der Handlung in der Regel die vertraute griechische Welt, aber schnell eroffnen sich durch Reisen, seien sie nun freiwillig oder erzwungen, neue geographische Raume, vor allem genau fixierte Raume des Vorderen und Mittleren Orients, namentlich Agyptens und seiner Nachbarregionen. Das sind besonders die Lander, die in der ganzen Antike ihren alten fremdartigen Charakter trotz der allgemeinen Hellenisierung und politischen Vereinheitlichung seit Alexander d. Gr. behalten hatten. Den exotischen Charakter dieser Lander hatten im BewuBtsein der Griechen die griechische Geographie und Ethnographie seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert gesteigert, denn diese reizte an den anderen Kulturen besonders das Fremde, das AuBergewohnliche, das Sensationelle, das Paradoxe, zu dem auch das Wunderbare gehorte. Dabei galt vor aHem Agypten als das Land des Exotischen und Paradoxen mit seiner Kultur (Tiergestaltige Gotter, Totenkonservierung, Pyramiden, Sphinx, Konigsgraber) und seiner vom Nil bestimmten Natur (Niliiberschwemmung ohne Regen, FluBpferd, Krokodil). Exotisch war die Landschaft, exotisch die Lebensweise, exotisch die Denkmaler. 1. Eine ubersichtliche Zusammenstellung der Ausgaben und Obersetzungen bietet Niklas Holzberg: Der antike Roman. Munchen, Zurich 1986, S. 125-127. Eine Sammlung deutscher Obersetzungen ist bequem erreichbar: 1m Reiche des Eros. Samtliche Uebes- und Abenteuerromane der Antike. Hcsg. von Bernhard Kytzler. 2 Bande. Munchen 1983.

2. Alethe dihegemata (Wahre Geschichten); Lukios e onos (Lukios oder Der Ese!).

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Aber nieht nur der Handlungsort der Romane, sondern aueh ihre Handlungszeit ist prazise bestimmt, denn die Handlung ist haufig explizit an historiseh bedeutsame und damit ehronologisch fixierbare Personen oderSituationen - besonders der vorhellenistischen Zeit (vor 330 v. Chr.) - angebunden, wenn nicht - wie etwa im Fall des Romans des Xenophon von Ephesos und des Achilleus Tatios - die Gegenwart als Handlungszeit dargestellt wird. Auf diese Weise vermitteln die Romane den Eindruck der Geschichtlichkeit, der auch schon durch ihre Titel nahegelegt wird: Titel wie Aithiopika (;ithiopische Geschichten, Heliodor) oder Ephesiaka (Ephesische Geschichten, Xenophon von Ephesos) liegen ganz in der Tradition geographisch-ethnographisch angereicherter Geschichtsschreibung. Aber die Welt der Romane endet nicht an den Grenzen der bekannten Welt: Eine Reihe von HeIden, wie z.B. der Held im Roman des Antonios Diogenes (vor der Mitte des 2. lh. n. Chr.) und des lambulos (1. Halfte des 1. Jh. v. Chr.) lernt Noch-nieGesehenes jenseits der bekannten Welt und jenseits der Grenze der Menschenwelt kennen. Die HeIden dieser Romane geben sich als eine Art Wissenschaftler aus, die entweder gezielt auf Entdeckungsfahrt gehen oder aber durch Zufall Entdeckungen machen, die ihrer geistigen Neigung entsprechen. Bei Antonios Diogenes ist der Held auf der "Suche nach Wissen (historia)", und bei lambulos ist er von lugend an "auf Bildung (paideia) versessen". Und konsequent treibt dann den HeIden in den Wahren Geschichten Lukians, der Parodie dieses Typus, die "geistige Neugier" (periergia; lat. curiositas). Damit beanspruchen diese HeIden ganz in der' Art der anti ken Geographen und Ethnographen, nichts als die Wahrheit zu berichten, selbst wenn das Beriehtete nicht nur sensationell und paradox, sondern auch wunderbar ist. Raffinierte Beglaubigungstechniken - z.B. im Falle der Ta hyper Thulen apista (Die unglaublichen Abenteuer jenseits von Thule) des Antonios Diogenes - sollen den Anspruch auf Authentizitat des Berichteten verstarken. So kann dann lambulos allen Ernstes von Menschen berichten, die sich an Gestalt und Lebensart grundlich von der bekannten Spezies Mensch unterscheiden: Die Offnung ihres Ohres ist mit einem Deckel versehen, und ihre Zunge ist gespalten, damit sie gleichzeitig in zwei Sprachen und mit zwei Gesprachspartnem zwei

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versehiedene Unterredungen fUhren konnen. Verstiimmelte und Kranke miissen sieh selbst toten; und naeh Erreiehung eines gewissen Alters geben sieh aIle freiwillig den T od. Der Held des Antonios Diogenes gelangt sogar zum Mond. Den Wahrheitsansprueh dieser Heiden parodiert Lukian im 2. naehehristliehen Jahrhundert in den Wahren Geschichten - in Wahrheit sind es Miinehhausengesehiehten -, indem er versiehert, von "Dingen zu erzahlen, die mir nieht begegnet sind, Dinge, die ieh weder selbst gesehen noeh von anderen gehort habe, ja, was noeh mehr ist, die nieht nur nieht sind, sondern aueh nie sein werden, weil sie gar nicht moglich sind." Mag uns das Beglaubigungs- und Wahrheitspathos eher Iaeherlieh erseheinen, so ist doch bemerkenswert, daB die antike Geographie und Ethnographie haufig auch eine Paradoxographie war und in dieser Form die alte Marehenwelt der Homerischen Odyssee mit Sirenen, Kyklopen, Skylla und Charybdis nicht wirklieh iiberwunden hat, sondern im Gegenteil bemiiht war, sie zu iibertreffen, denn - und das gehort zum Wesen der Paradoxographie - das Paradoxe konnte nur in immer neuen und immer raffinierteren Gestaltungen seinen Reiz behalten. Mag dadurch sein Wirklichkeitsbezug auch immer geringer geworden sein, so haben doch haufig sowohl die Paradoxographen selbst als auch ihre Leser die Fiktion fUr Wirklichkeit gehalten, denn der Wunderglaube war in der friihen Kaiserzeit eine verbreitete Erseheinung. Wenn der Satiriker Lukian in seinem Philopseudes e apiston (Der Liigenfreund oder Der Ungliiubige) darstellt, mit welchen Wundergeschichten sich ausgerechnet Philosophen und gebildete Manner unterhalten, dann wird man einigermaBen das AusmaB eines solchen Glaubens abschatzen konnen. So iiberrascht es dann aueh nicht, wenn der Altere Plinius in seiner Historia naturalis (Naturgeschichte) im 1. nachehristlichen Jahrhundert trotz seiner kritisehen Grundhaltung auch eine Fiille paradoxer und wunderbarer Phanomene ffir wirklich angesehen hat. 1st schon die auBere Welt der Romane voll von Sensationen und Wundern, 3 so sind erst recht die Erlebnisse der HeIden paradox 3. Hans Rommel: Die naturwissenschaftlich-paradoxographischen Exkurse bei Philostratos, Heliodoros und Achilleus Tatios. Stuttgart 1923.

33 und wunderbar. Leitbegriffe zur Bezeichnung dieser Erlebnisse sind 'das Paradoxe' (paradoxon), 'das Ungiaubliche' (apiston), 'das Neuartige' (kainon), 'das Wunderbare' (thaumasion). Die HeIden geraten pausenlos in auBergewohnliche und lebensgefahrliehe Situationen. In den meisten Romanen sind dies zwei Liebende, ein junger Mann und eine junge Frau, jeweils aus der Oberschicht und nicht alter als 18 bis 20 Jahre. Sie zeichnen sieh durch auBergewohnliche Schonheit und edles Wesen, tiberdies noch durch Frommigkeit aus. Sie entsprechen dem Ideal eines grieehischen und damit eines zivilisierten Menschen. Beide erfahren die Liebe zum ersten Male. Dabei ist diese Liebe kaum erotischer oder sexueller Art; sie ist primar ethischer Natur. Diese Liebenden geraten nun im Zuge einer Reise aus der Vertrautheit und Sicherheit der engeren griechischen Heimat in die Unsicherheit und Gefahrlichkeit der Peripherie der hellenisierten Welt oder in eine Welt, die .noch nicht hellenisiert und damit zivilisiert ist. Der Ubergang in diese Welt vollzieht sich tiber das Scheitern einer Reise - und zwar entweder durch Piratentiberfall oder durch Seesturm und Schiflbruch. ,Die Unsicherheit und Gefahrliehkeit der Reise erfahrt ihre Fortsetzung in der neuen Welt: Es beginnt eine Welt, die voll von Bosewichtern, mannlichen wie weiblichen, ist. Diese haben es vor allem auf die Keuschheit der beiden Liebenden abgesehen. Horrorvisionen moralischer Entartung ftillen die Romanhandlung aus. Aber die Liebe der beiden HeIden halt allen Bedrohungen stand. Am Ende gehen sie moraliseh unversehrt aus allem hervor und finden ihr endgtiltiges Gltick. In diese Welt dauernder auBergewohnlicher Gefahrdung von Leben und Keuschheit der Liebenden ist das Wunderbare vielfaltig integriert: Da gibt es Quellen, die die Keuschheit tiberpriifen konnen (Aehilleus Tatios); und das Feuer des Seheiterhaufens, auf dem die integre Heldin aus Rache verbrannt werden solI, kann ihr nichts anhaben (Heliodor 8,9): "In seiner Mitte stehend, blieb sie eine Zeitlang unversehrt, da die Flammen sie mehr urnztingelten ais bertihrten und ihr kein Leid taten und immer da, wohin sie sich wandte, zurtickwichen ... VoU Staunen tiber das, was ihr widerfuhr, bewegte sie sieh von einer Seite des Seheiterhaufens auf die andere, urn sieh dem Tod in die Arme zu werfen. Umsonst, das Feuer fliichtete immer wieder zurtick, als fliiehte es vor ihrer Nahe."

34 Die Welt des Romans - das mag als Fazit gelten - ist eine Welt pausenloser GeUihrdung und eine Welt voll von AuBergewohnlichem und Wunderbarem. Diese Welt ist dabei geographisch genau bestimmt; auch der Zeitpunkt der Handlung wird entweder ausdrucklich fixiert oder als gleichzeitig suggeriert. Das Phanomen der allgemeinen Unsicherheit und Gefahrlichkeit des romanesken Lebens fUhrt direkt zur 2. Sondierung des Vortrags, zur Frage nach dem Verhaltnis zwischen der Romanwelt und der Wirklichkeit des Reisens auf dem Meer und zu den Landern des Vorderen Orients. Zunachst zur Bedrohung durch kriminelle Elemente, vor allem durch Seerauber: Die Konjunktur des Romans fallt in die Periode der fruhen Kaiserzeit. Zu dieser Zeit war der geographische Raum der Romanwelt ein Teil des Imperium Romanum, das seit dem Ende des I. vorchristlichen lahrhunderts den ganzen Mittelmeerraum und die angrenzenden Lander bis tief ins Landinnere politisch und militarisch gesichert und damit fUr aile zuganglich gemacht hatte. Dieser riesige Raum war sicher wie nie zuvor und weitgehend frei von regelmaBiger Gefahrdung durch organisierte kriminelle Gewalt. Mogen auch seit dem 2. Viertel des 3. lahrhunderts4 die Unzufriedenheit der ProvinzialbevOlkerung in einigen Reichsteilen und die Angriffe auBerer Feinde die traditionelle Sicherheit beeintrachtigt haben, so war doch selbst in diesen lahrzehnten die allgemeine Sicherheit groB. Das gilt erst recht fUr die friihere Zeit, in der der Roman zur Modeliteratur wurde. Paradoxerweise ist also der Roman mit der Darstellung groBter Unsicherheit gerade in einer Zeit beliebt geworden, in der die "Sicherheit des Erdkreises" am groBten war. Und Agypten, das Rauberland der Romane, konnte gerade aus Grunden der Sicherheit zu einem prosperierenden T ouristenland werden. Aus dem ganzen Imperium stromten Ang,ehorige der Oberschicht in dieses Land. Krokodildressuren, abenteuerliche Bootspassagen durch den ersten Nilkatarakt, die Memnonsaule, die bei Sonnenaufgang zu tonen begann, die Pyramiden, die Sphinx, die ausgedehnten Konigsgraber: sie haben die Touristen angelockt. Die zahlreichen Gelegenheitsinschriften - etwa 2 J00 4. Dieses 2. Viertel ist die wahrscheinliche Entstehungszeit der Aithiopika Heliodors.

35 nur in den Konigsgrabern - geben Auskunft liber die soziale Zusammensetzung: Gelehrte, Rechtsanwalte, Dichter, Schriftsteller, A.rzte - sie haben sich nicht abhalten lassen, diese Orte zu besuchen und zu bestaunen. Das vermerkten sie ausdrucklich in ihren Kritzeleien. "Ich, Palladius von Hermopolis, Richter, habe es gesehen und staunte." "Ich, Isaak von Alexandria, Sekretar, war mehr als erstaunt liber das wunderbare Werk." Andere wurden ekstatisch. "Einzigartig, einzigartig, einzigartig", schrieben sie. Wieder andere wurden zu Versen inspiriert. SAber auch filr die Zeit der Entstehung des Romans in spathellenistischer Zeit ist mit guten Grunden auszuschlieBen, daB jede Reise ein hohes Risiko bedeutet batte. Zwar wird man filr die 70er Jahre und fruhen 60er Jahre des 1. vorchristlichen Jahrhunderts mit einem erhohten Risiko zu rechnen haben, aber die Seerauberei war nicht so sehr ein privates kriminelles Phanomen, wie die Romane es schildern, als vielmehr eine stark mit den politischen Turbulenzen der romischen Herrschaft verflochtene Erscheinung (3 Kriege Roms gegen Mithridates VI. von Pontos, 89-84, 83-81, 74-73; Spartakus-Aufstand, 73-71; Sertorius-Rebellion, 80-71). Selbst die spektakulare Aktion des romischen Politikers und Feldherrn Pompeius aus dem Jahre 67 v. Chr. gegen die Se.erauber richtete sich nur vordergrundig gegen die Seerauberei, in Wirklichkeit zielte sie vor allem auf die Begrlindung einer militarischen und politischen Machtbasis im Kampf urn die politische Flihrung in Rom. Der Eindruck einer massiven Gefahrdung der Sicherheit durch die Seerauber ist damals nicht primar durch die Wirklichkeit, sondern vor aHem durch eine exzessive politische Propaganda verursacht worden, die sich in Horrorvisionen erging. Wie wenig die Naherfahrung der Reisenden selbst in der Phase der spaten romischen Republik mit der literarischen Darstellung der Romane zusammenfiel, zeigt der Bildungstourismus jener Zeit. Am Beispiel des spateren romischen Politikers und Philosophen Cicero ist zu sehen, daB sich die Mitglieder der romischen Oberschicht frei und ohne Furcht vor Raubilberfallen im ostlichen Mittelmeergebiet bewegten. Ais dieser Cicero im Jahre 79 v. Chr. im Alter von 27 5. Lionel Casson: Reisen in der Alten Welt. Munchen 1976, S. 341 ff. rUbersetzung der englischen Ausgabe London 1974).

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Jahren fUr zwei Jahre eine ausfUhrliche Bildungsreise in den Osten der Mittelmeerwelt nach Athen, zu den Stadten an der kleinasiatischen Kuste und nach Rhodos unternahm, stieB er nirgendwo auf Seerauber, sondern nur auf Mitglieder der romischen Oberschicht, die uber rhetorische und philosophische Probleme diskutierten. Auch in dieser politisch instabilen Zeit hat der umfangliche Bildungstourismus keine nennenswerten Opfer durch Uberfalle gefordert. Er ware auch, das wird man guten Gewissens annehmen durfen, sofort zusammengebrochen, wenn die Gefahrdung wirklich groB gewesen ware. Naturlich hat es Seerauberei und andere Rauberei gegeben, aber ihr Umfang wird auch fUr die Zeit des Spathellenismus maBlos uberschatzt; fUr die fruhe Kaiserzeit ist sie praktisch ohne Bedeutung gewesen. Sie hat aber eine lange und feste literarische Tradition: So waren z.B. im Hellenismus Komodien beliebt, in denen zur Handlungsvoraussetzung ein Madchen gehorte, das schon als kleines Kind von Piraten geraubt und in die Sklaverei verkauft wurde. Auf dem Wege der Liebe und anderer Zufalle wurde dann das inzwischen erwachsen gewordene Madchen wieder frei. SoIche Komodien sind uns durch die romischen Bearbeitungen eines Plautus und Terenz in stattlicher Zahl uberliefert. An diese Tradition knupft der Roman an, ohne sich viel urn die Wirklichkeit zu kummern. Vnd er entwickelt sich auch in der fruhen Kaiserzeit ohne Rucksicht auf die Wirklichkeit. Diese Entwicklung ist ein innerliterarischer ProzeB, der nach dem Gesetz der Uberbietung ablauft. Das bedeutet: Unabhangig von auBeren Verhaltnissen wird die literarische Welt immer sensationeller und gefahrlicher. So steht dann am Ende der Entwicklung mit dem Roman des Heliodor ein Werk, das die ganze Tradition uberbieten will. Da wird ganz Agypten zu einer Rauberwelt, die mit einer soIchen Konkretheit beschrieben wird, daB sie mit der Wirklichkeit verwechselt wurde. Aber - und darin zeigt sich der fiktionale Charakter dieser romanesken Welt - am Ende bricht diese Rauberwelt weitgehend als Scheinwelt zusammen, da ihr verbrecherischer Charakter wenigstens teilweise aufgehoben wird: Die Rauber erweisen sich als edle Rauber. Darf man also wohlbegrundet daran zweifeln, daB Raububerfalle zur Alltagserfahrung der Reisenden gehorten, so ist sicherlich auch der Schiffbruch in Sturm und Unwetter kein Alltagsrisiko gewesen. Man kannte natiirlich die jahreszeitlich bedingten Stiirme

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und mied sie. Daher reiste man denn relativ ungeflihrdet mit dem Schiff. Bequemer als auf dem Lande war eine solche Reise ohnehin. Auf den groBen Kornschiffen, die zwischen Alexandria und Rom hin- und herfuhren, konnte man z.B. schnell und unkompliziert nach Agypten kommen. Bei der Ankunft bestaunte der Tourist dann auch schon den Leuchtturm von Alexandria, eines der sieben Weltwunder. SelbstversUindlich setzte er dann seine Reise ins Landinnere mit dem Schiff auf dem Nil fort. Statistisch war das Risiko, durch Schiffbruch umzukommen, sicherlich sehr gering. Und die groBe Zahl der Reisenden macht auch deutlich, daB die Angst vor den Naturgewalten die Reisefreudigkeit nicht wesentlich beeintrachtigt haben kann. Trotzdem kann die Angst vor Schiffskatastrophen die Reisenden begleitet haben, denn die Statistik der Unglticke und die Angst der Reisenden sind zweierlei, was nattirlich auch fUr die Statistik der Uberfalle und die Angst vor ihnen gilt. Bezeichnend dafUr ist bereits die Charakterisierung eines Feigen durch den AristotelesschUler Theophrast in seinen Charakteres (Charaktertypen). Danach ist ein Feiger, "der auf einer Seereise behauptet, die Klippen seien Seerauberschiffe. Bei leichtem Wellengang fragt er, ob einer von den Passagieren etwa nicht in die Mysterien eingeweiht sei. Dann wendet er sich an den Steuermann und will wissen, ob er den Kurs einhalte und wie ihm die Wetteraussichten erschienen, und zu seinem Nachbarn sagt er, er sei auf Grund eines Traumes in Gefahr; dann zieht er sein Untergewand aus und gibt es dem Sklaven, und dann bittet er darum, an Land gesetzt zu werden." Aber Seesttirme und Schiffbrtiche in den Romanen sind nicht nur das Ergebnis der Phantasie, sondern auch das Produkt der literarischen Tradition. Es sind Themen der Literatur seit der Odyssee Homers. Wenn der Apostel Paulus in der Apostelgeschichte in den Seesturm gerat und Schiffbruch vor Malta erleidet, dann ist er nicht das Opfer der Naturgewalten, sondern der epischen und romanesken Tradition geworden. Und er gerat in diesen Sturm, urn dank seines Gottvertrauens gerettet zu werden - und mit ihm die ganze Mannschaft. Es dtirfte hinreichend deutlich sein, daB auf keinen Fall die Alltagserfahrung der Reisenden in die Romane eingegangen ist. Die Romanwelt ist eine Welt, die resistent gegen Erfahrung ist. 1m dritten Teil solI nun die Frage nach der Funktion und

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Bedeutung der im Roman dargestellten radikalen Unsicherheit im Mittelpunkt stehen. Es wird sich zeigen, daB diese Frage u.a. zu .einer Frage nach der Bedeutung des Reisens fUr die Entstehung und Verbreitung des Romans wird. Zunachst aber sind andere Uberlegungen anzustellen: Wenn die romaneske sensationelle Unsicherheit wirklich keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat, dann ist sie moglicherweise primae als ein Element der Wirkung auf den Leser oder Horer zu verstehen. Die Praxis des rhetorischen Unterrichts jener Zeit bestatigt diese Uberlegung, denn auch sie ist an wirklichkeitsfernen bzw. wirklichkeitsfremden, sensationellen Themen interessiert. Nicht selten sind sogar Themen der Rhetorik identisch mit solchen" des Romans. Die Welt der Sensationen und dieser SchluB drangt sich geradezu auf - ist als Ersatz fUr die im Laufe der lahrhunderte verbrauchten Mythen zu verstehen. Diese Mythen sin.d ja in ihren Grundziigen ebenfalls sensationell und wirklichkeitsfem: der Muttermord oder Vatermord einzelner Mythen ist sicherlich kein allgemeines Problem; vielmehr werden an extremen Situationen allgemeine Probleme demonstriert. So ist die Handlungswelt des Romans im Grunde genommen ein neuer Mythos, der aufgrund seiner Neuheit eine erhohte Wirksamkeit hat. AuBergewohnliche und sensationelle Bedrohungen in einer auBergewohnlichen Welt sind nur Mittel der Darstellung fUr die Unauflosbarkeit der vor allem ethisch verstandenen Liebe der beiden Heiden, die am Ende der Handlung moralisch unversehrt aus den Bedrohungen hervorgehen und als Belohnung dafUr ein ungeHihrdetes GlUck fUr die Zukunft erhalten. Die Gouer und das GlUck schutzen regelmaBig die Liebenden. Die Liebe als das beherrschende Romanthema ist dabei Ausdruck fUr das gesteigerte Interesse der Zeit seit dem Hellenismus an diesem Phanomen, das nicht nur in der KomOdie (Menander, Diphilos u.a.), sondern auch in erzahlerischen Kleinformen wie der Novelle und in lyrischen Formen vieWUtig gestaltet wird. Vor allem ist der ProzeB der Kultivierung und Versittlichung der Liebe bemerkenswert. Mentalitats- und sozialgeschichtlich ist nun wichtig, daB diese Auffassung der Liebe immer mit dem Gedanken der Gleichwertigkeit der Frau verbunden ist. Auch darin trifft sich der Roman mit Tendenzen des Hellenismus und der fruhen Kaiserzeit. Der Gedanke der Gleichwertigkeit der Frau ist zunachst im Zeitalter

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des Hellenismus nicht nur ein mentalitiitsgeschichtliches Phanomen, sondern hat auch Folgen fUr die Stellung der Frau in der Gesellschaft, die jetzt nicht mehr ausschlieBlich im Hintergrund zu wirken hat. Man spricht aus guten Grunden von einer Phase der Emanzipation der Frau, obwohl sich die Rechtsstellung der Frau nur unwesentlich veranderte und ihre soziale Stellung, wenn man die Gesamtheit der Frauen betrachtet, sich auch nur gering wandelte. Dieser ProzeB, der in den hellenistischen Staaten der ostlichen Mittelmeerwelt begann, setzte sich in Rom seit dem 1. vorchristlichen lahrhundert fort. Der Gedanke von der Gleichwertigkeit der Geschlechter begunstigte seit dieser Zeit auch in Rom die soziale Emanzipation der Frau. Auch die dam it verbundene Kultivierung und Versittlichung der Liebe ist vielfaltig n.achweisbar, besonders eindrucklich in der Liebeselegie eines Properz, Tibull und Ovid. Allerdings fUhrte die Emanzipation auch zu einer konkurrierenden Entwicklung: Promiskuitat und Scheidungen sind zu prosperierenden Erscheinungen in der Oberschicht geworden, so daB der Roman durchaus auch als eine Reaktion auf diese neue Wirklichkeit verstanden werden kann. Wenn die Sensationen der Romanwelt zunachst einmal als neue Darstellungsmittel nach Art der Mythen verstanden werden konnen, so sind doch weitere Deutungen gerade der romanesken Unsicherheit nicht auszuschlieBen. Allerdings ist der traditionellen Deutung keine groBe Plausibilitat abzugewinnen: Danach soIl die auBere Unsicherheit der Romanwelt Symbol fUr die innere Unsicherheit des 'hellenistischen' oder 'kaiserzeitlichen' Menschen sein. Diese wird in dramatischen Farben beschrieben, hinter denen so etwas wie die soziale und geistige Obdachlosigkeit des 'hellenistischen' und 'kaiserzeitlichen' Menschen sichtbar wird. Da lesen wir viel von Auflosung, vor aHem von Auflosung der alten Polisgemeinschaft und von Auflosung von Normen aller Art. Die Flucht aus der Obdachlosigkeit endet bestenfalls in der Geborgenheit der Liebe oder einer religiosen Gemeinschaft oder in beidem. Das sind Moglichkeiten der Aufhebung der Vereinzelung; schlimmstenfalls endet sie bei der Lekture von Romanen, die einen Ersatz fUr die in der Wirklichkeit nicht erreichte Geborgenheit bietet. Die Romanliteratur erhalt eine kompensatorische Funktion fUr das im Leben selbst unerreichbare Gluck. Am Ende stehen also die kunstlichen Paradiese der Trivialliteratur. Mit einer solchen

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Deutung wird freilich der Roman gehorig miBverstanden. Dahinter steht ein lange akzeptiertes, aber inzwischen obsolet gewordenes Dogma, das die volle Teilhabe des Einzelnen am Politischen im Sinne der attischen Demokratie zum MaBstab fUr das wahre GlUck des Einzelnen macht. Da muB in der Tat die Geschichte des Hellenismus und die Geschichte der Kaiserzeit Verfallsgeschichte werden. Dabei wird der ganze kulturelle ProzeB dieser lahrhunderte zu einer Geschichte der Kompensation des Politischen bzw. zu einer Geschichte von immer neuen Antworten auf den Verlust dieses Politischen. Dagegen sei eine Deutung gesetzt, die von der auffalligen geographischen Ubereinstimmung von Romanwelt und antiker Reisewelt sowie von der IdentiHit der Reisenden und der RomanIeser ausgeht. Wahrend fUr die geographische Ubereinstimmung der Hinweis auf friihere Bemerkungen ausreicht, sei fUr die Identitat von Reisenden und Romanlesern vor allem auf einige HeIden der Romane verwiesen, die nur oberflachlich getarnte Touristen sind. Die HeIden im Roman des Xenophon von Ephesos unternehmen eine Hochzeitsreise nach Agypten. Sie mach en unterwegs Station in Rhodos, wo sie sich die ganze Stadt anschauen. Vnd die HeIden im Roman des Achilleus Tatios haben un mittel bar nach dem Schiffbruch vor der Kiiste Agyptens nichts Besseres zu tun, als sich die Gemalde in einem Tempel (= der anti ken Form des Museums) anzuschauen. Vnd in Agypten bestaunen sie auch ein Nilpferd sowie ein Krokodil und horen die phantastische Erzahlung vom Fang eines Nilpferdes. Auch der Nil wird ausfUhrlich beschrieben. DaB nun die eigene Reiseerfahrung trotz ihrer groBen DitTerenz zur Romanwelt die Lektiire der Romane nicht verhindert, sondern im Gegenteil gefOrdert hat, findet eine einfache psychologische Erklarung: Es ist ein verbreitetes Phanomen, daB gerade in Zeiten der Sicherheit die Lust an der Unsicherheit wachst. Man ist siichtig nach Vnsicherheit und Abenteuer angesichts der eigenen Sicherheit. Vnd Abenteuer konnte man am ehesten noch auf Reisen erleben. Aber auch das war noch zu wenig. Da muB der Roman nachhelfen mit seiner Darstellung groBer Vnsicherheit. Dabei wird immer der Eindruck der Authentizitat vermittelt, obwohl es sich urn reine Fiktion handelt. Damit soll die Wirkung des Sensationellen verstarkt werden, denn diese wird ja durch das zusatzliche

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BewuBtsein seiner Realitat intensiviert. Es ist letztlieh ein harmloser Selbstbetrug, der dadureh moglieh ist, daB man der fernen Welt doeh immer das Abenteuer zutraut und, selbst wenn man auf der eigenen Reise nur geringe Unsieherheiten und Abenteuer erlebt hat, den Erlebnisgehalt der eigenen Reise dureh die Romane bereiehert und verstarkt, weil die auBere Welt des Reisens und des Romans dieselbe ist. Man genieBt die Unsieherheit des Romans, weil man selbst in einer sieheren und damit langweiligen Welt lebt. Reisen und Roman ergeben so eine erhohte Mogliehkeit der Kompensation von Langeweile. Die Unsieherheit des romanesken Lebens ist also gerade nieht eine Allegorie fUr die Unsieherheit des mensehliehen Lebens, obwohl ja durehaus Meerfahrt und Sehiffbrueh als Allegorien dafUr einen festen Platz in den kollektiven Phantasien vieler Literaturen haben. Ein Hinweis auf das Ende von Voltaires Roman Candide, dieser Parodie nieht nur des zeitgenossisehen Romans, sondern aueh des bis in die Antike zuriiekreiehenden Typus, mag das verdeutliehen. Dort fUrehtet der Held Candide auf einmal niehts mehr als die Langeweile, er, der naeh langer Trennung und vielen lebensgefahrliehen Abenteuern die Mogliehkeit hat, ein angenehmes und gliiekliehes Leben mit seiner Kunigunde zu fUhren: "Ieh moehte gern wissen, was nun das Sehlimmste ist: hundertmal von Negerpiraten vergewaltigt werden, eine Hinterbaeke abgesehnitten bekommen, bei den Bulgaren SpieBruten laufen, bei einem Autodafe durehgepeitseht und gehenkt werden oder seziert werden oder auf der Galeere rudern, kurzum, all den Jammer erdulden, den wir alle mitgemaeht haben, oder aber hier im Niehtstun verharren?"

Ewald Wagner SUBJEKTIVE UND OBJEKTIVE WAHRHEIT IN ISLAMISCHEN REISEBERICHTEN Vorderst schall ich ji een Dontje ut mine Vaderstadt Hamburg vertellen: Ein Schiffsjunge kommt von seiner ersten groBen Fahrt nach Hause, berichtet von seiner Reise und spinnt dabei ruchtig Seemannsgarn. Nach einiger Zeit unterbricht ihn der Vater und sagt: "Mien leve Dschung! Dat det Roude Meer roud is un dat om den Aquator een Tampen ligt, dat will ick di wol gloven, aver dat de et fliegende Fisch gift, dat glov ick di nich." In dieser Geschichte wird das, was sowohl objektiv unwahr ist, als auch subjektiv aus der Sicht des Schiffsjungen geflunkert ist, von dem Vater fUr wahr gehalten, aber das, was objektiv un d subjektiv wahr ist, vom Vater als Luge gedeutet. In der Lage des Vaters befinden auch wir uns haufig, wenn wir den Wahrheitsgehalt alter islamischer Reiseberichte zu iiberpriifen haben. In dem Spannungsfeld zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit steht namlich nicht nur der Reisende, sondem auch der Horer bzw. Leser, und seine Wahrheitsvermutung mag, wenn sie subjektiv ehrlich, aber objektiv falsch ist, die Einschatzung von Wahrheit und Unwahrheit des Reiseberichts in das genaue Gegenteil verwandeln, wie das bei dem Vater der Fall war. Das gilt fUr uns heute, denen der zeitliche Abstand die Nachpriifung erschwert, aber das galt auch bereits fUr den zeitgenossischen Leser, dem der raumliche Abstand die Kontrolle unmoglich machte. So bezweifelte der bekannte muslimische Historiker Ibn ijaldiin die Richtigkeit der Aussagen seines Zeitgenossen Ibn Battiita iiber Indien, wurde allerdings gleich von einem Freund, dem Wezir Ibn Faris ermahnt: "Hiite dich, solche Nachrichten iiber die ZusHlnde

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in (fernen) Staaten zu verwerfen, nur weil du so etwas selbst noch nicht gesehen hast!".1 Ibn Faris hatte, wie wir heute wissen, mit seiner Mahnung recht. Neuere Forschungen haben im allgemeinen ergeben, daB den muslimischen Reisenden mehr zu trauen ist, als man das fruher annahm. Das gilt sowohl fUr Ibn Battiitas Berichte aus Indien 2 als etwa auch fUr Evliya C;elebis bisher als Fiktion angesehene personliche Anwesenheit in Wien, die nun durch eine osterreichische QueUe nachgewiesen wird. 3 Grundsatzlich bleibt das Dilemma aber bestehen, und wir konnen hier nur den augenblicklichen Forschungsstand als das objektiv Wahre setzen, urn eine feste Ausgangsbasis zu haben. In meinem Vortrag mochte ich mich auf zwei Reisende beschranken. Sie waren echte Globetrotter und haben umfangreiche Reisebeschreibungen hinterlassen. Die anderen durchgesehenen Berichte von Gesandtschaften, Wallfahrten usw. kommen aus zeitlichen Grunden nur gelegentlich im Vergleich zu Wort. Lassen Sie mich die beiden ausgewahlten Reisenden zunachst vorstellen: Ibn BaHii!a 4 wurde 1304 in Tanger geboren. Er hatte die ubliche theologisch-juristische Ausbildung erhalten, als er sich im Alter von 21 Jahren entschloB, die Wallfahrt nach Mekka anzutreten. 1. Ibn Haldiin: Ta'rih. 2. Dr. Bd. l. Beirut 1961, S. 322-323; Ibn u Khaldun: The Muqaddimah. An introduction to history. Transl. from the Arabic by Franz Rosenthal. I. New York 1958 (= Bollingen Series. 43), S. 369-71; vgl. dazu auch Herman F. Janssens: Ibn Batouta "Ie voyageur de l'Islam" (1304-1369). Bruxelles 1948 (im folgenden: JIB), S. 99-100; Ross E. Dunn: The Adventures of Ibn Battuta, a Muslim traveler of the 14th century. London & Sydney 1986 (im folgenden: DAIB), S. 315-316. 2. Vgl. Ibn BaHii!a: The Travels. Transl. by H.A.R. Gibb. Vol. 1-3. Cambridge 1958-1971 (= Works issued by the Hakluyt Society. Ser. 2, No 110; 117; 141) (im folgenden: IBT), hier Vol. I, S. XII. 3. Karl Teply: Evliya Buchlein von der Liebhabung GottesRechtssumme< Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der "Summa Confessorum" des Johannes von Freiburg. Die handschriftliche Uberlieferung. Tubingen 1982 (TTG 6), S. 282.

346 keit, die Reiseliteratur im Spektrum der gleichzeitig mit ihr in den Sammelhandschriften rezipierten Werke zu interpretieren. Es werden hierbei die einzelnen mituberlieferten Texte nach Beziehungen zur Reiseliteratur, die Kollektionen oach moglichen 'Symbiosegesetzen' befragt. In ca. zwei Drittel der hier untersuchten Handschriften des Corpus von Reiseliteratur sind weitere Texte uberliefert. ss Schon diese groBe Quantitat der autonom uberlieferten Reiseberichte schlieBt die Moglichkeit eines bloBen Uberlieferungszufalls aus. 1m Rahmen uberlieferungsgeschichtlicher Untersuchung ergibt sich dam it die Notwendigkeit, die mitOberlieferten Texte nach ihren Beziehungen zur Reiseliteratur und das literarische Spektrum der Sammelhandschriften insgesamt nach den die Zusammenstellung der Texte motivierenden ubergeordneten Prinzipien zu befragen. Es gilt schlieBlich, die Gebrauchszusammenhange solcher Textzeugen und die impliziten Gebrauchsinteressen aufzudecken. Urn einen Uberblick uber das gesamte Spektrum der Kontextuberlieferung zu erhalten, diese· zu klassifizieren und auf ein sichtbar werdendes TypenbewuBtsein zu befragen, muBten die mitOberlieferten Texte aus ihrem Uberlieferungszusammenhang herausgelOst werden. So konnte das zeitgenossische (Rezipienten-)BewuBtsein der thematischen Beziehungen zwischen ReiseliteraturS6 und verwandten Werken erschlossen werden; zugespitzt laBt sich dieses erste' Frageinteresse so formulieren: zu welchen 55. Ausffihrlichere statistische Angaben zukiinftig in Ernst Bremer: Studien zur Reiseliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts (wie Anm. 33). 56. Oer Ausdruck 'Werktyp' wird hier zur Bestimmung von Texten verwandt, die durch gleichartige Konstituenten der Textgestalt. des Funktionszusammenhangs und des Rezeptionsrahmens charakterisiert sind. Gegeniiber dem zu problematisierenden und iiber die strukturelle Analyse von inhaltlich-formalen Aspekten zu fiillenden Begriff der Gattung dient dieser Terminus der Beschreibung und Ausgrenzung von Texten, die iiber "ein gesondertes Gemeinsames" verfiigen, und zwar aus der Gesamtheit aller iiberlieferten literarischen Zeugnisse (Hugo Kuhn: Versuch iiber das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur. In: Hugo Kuhn: Entwiirfe zu einer Literatursystematik des Spatmittelalters. "i'iibingen 1980, S. 77-101. Hier zitiert nach Hugo Kuhn: Liebe und Gesellschaft. Hg. v. Wolfgang Walliczek. Stuttgart 1980, S. 135-155, S. 142).

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Werktypen tendiert Reiseliteratur bzw. welche Werktypen werden von Reiseliteratur angezogen; welche Riickschlusse lassen sich daraus zum einen fUr das historische BewuBtsein der mit der Reiseliteratur in Zusammenhang stehenden Werke, und zum anderen fUr eine Funktionsbestimmung der Reiseliteratur ziehen? In einer ersten Klassifizierung der mitiiberlieferten Texte nach thematischen Schwerpunkten sind folgende Objektbereiche - in Anlehnung an Kuhns Faszinationstypen 57 - zu unterscheiden: 1. Der Objektbereich Reise mit den Kategorien fiktive Reise, Welt-, Orient- und Handelsreise, Pilgerreise, Pilger- und ReisefUhrer mit AblaBverzeichnissen, und Deutsche Landeskunde, Kreuzzug, lenseitsreisen und lenseitsvisionen. 2. Der Objektbereich Geschichte mit historisierender Dichtung - insbesondere dem Antikenroman (Alexanderroman und Trojaroman) und dem historisierenden Prosaroman (Melusine, Griseldis u.a.) - und historiographischer Literatur. 3. Der Objektbereich Religion mit Bibelrezeption, erbaulichkatechetischen Texten, pragmatisch-religiosen Gebrauchstexten (wie Gebeten). 4. Der Objektbereich Recht mit Rechtsbiichern (Landesrechte) und Praxisorientierter juristischer Literatur (Satzungen, Statuten etc.). 5. Der Objektbereich Wissen, Lebenshilfe und praktischer Gebrauch mit Enzyklopadien, Lehrgedichten, Fach- und Gebrauchsprosa (Medizin, Astronomie etc.). Durch die Analyse der gesamten Mitiiberlieferung nach quantitativen und typologischen Kriterien wurde sichtbar, daB die Zahl der Texte aus den Objektbereichen Geschichte und Religion neben Texten aus dem engeren Umfeld der Reiseliteratur selbst (Reise-, 57. Vgl. Hugo Kuhn: Versuch fiber das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur (wie Anm. 56).

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Pilgerfuhrer, AblaBverzeichnisse etc.) eindeutig uberwiegt. luristische Texte sind nur vereinzelt uberliefert, wahrend die lehrhafte Literatur, zum groBen Teil noch in gebundener Form, gegenuber der Fach- und Gebrauchsprosa dichter uberliefert ist. Es kann als ein erstes Ergebnis festgehalten werden, daB die in der Literaturgeschichtsschreibung gangige Subsumierung der Reiseliteratur unter die Kategorie Fachliteratur als unangemessen zUrUckzuweisen ist. Gerade in der literarischen Organisation von Toposwissen, in der strukturalen Verknupfung von stoff- und motivgeschichtlichen Segmenten unterschiedlicher literarischer Provenienz wird in den handschriftlichen Kompilationen ein fiktionaler Raum entworfen, der nicht in ausschlieBlich praxisorientierte Zusammenhange und Rezeptionsinteressen weist. Die Affinitaten der Reiseliteratur sowohl zur erzahlenden, (pseudo-) historischen Dichtung als auch zur Chronistik belegen dies in vielfacher Hinsicht. In den 130 Handschriften des Corpus finden sich 135 Abschriften der Werke der behandelten Autoren, wovon immerhin 76 mit weiteren Texten kombiniert werden; in fanf Handschriften sind mehrere der hier untersuchten Werke der Reiseliteratur jeweils gemeinsam in einem Textzeugen uberliefert. Der prozentuale Anteil, ca. 57%, der in Sammelhandschriften iiberlieferten Werke der Reiseliteratur im Gesamtcorpus entspricht damit in etwa dem Verhaltnis von selbstandig und kombiniert tradierten Texten bei den Reisen Mandevilles; auch Ludolfs Reisebericht weist in der oberdeutschen Fassung ein ahnliches Verhaltnis auf. Es ist auffallig, daB. von den Werken, die ausschlieBlich gemeinsam mit weiteren Texten iiberliefert sind, die Beschreibungen Schiltbergers und Polos zu einem hohen Prozentsatz in Handschriften auftreten, deren thematischer Schwerpunkt auch sonst auf der Reiseliteratur liegt. So wird der Schiltberger-Text zusammen mit der Ubersetzung Diemeringens in auch textgeschichtlich nahestehenden Handschriften iiberliefert, wahrend der Bericht Marco Polos entweder mit der Velserschen Ubersetzung Mandevilles oder der oberdeutschen Ubersetzung Ludolfs von Sudheim kombiniert wird. Es lassen sich demnach folgende Symbiosemuster bestimmen:

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I.

Der Kollektionstyp 'Reiseliteratur'

Insbesondere in der Kombination 'Mandeville-Polo-Schiltberger' oder 'Mandeville-Ludo~f(oberdeutsch}-Polo,s8 scheint eine Konstellation vorzuliegen, die dem von Hess eingefiihrten Begriff eines 'gatiungstypologischen Magnetfeldes,s9 nahekommt. Der Impuls zum Aufbau eines solchen Feldes von Reiseliteratur wird wahrscheinlich yom Mandevilletext ausgegangen sein. Dieser ist typologisch sowohl gegeniiber der Pilgerreise als auch der Welt- und Orientreise offen und weist sogar zu ausschlieBlich pragmatisch orientierten Texten wie Pilger- und Reisefiihrern AffiniHiten auf.60 2. Der Kollektionstyp 'Reiseliteratur - friiher antikisierender Prosaroman - historiographische Literatur' Deutlich ausgepdigt findet sich die Tendenz, Werke der Reiseliteratur mit Chroniktexten - vorwiegend Weltchronikkompilationen - und pseudohistorischen Romanen zu verbinden. Insbesondere die Mitiiberlieferung der Reisen Mandevilles, dane ben jedoch auch der Marco Polo- und der Ludolf-Text in oberdeutscher Ubersetzung lassen diese Textverbindung erkennen. Der Mandevilletext ist mitdem Aeneas-, dem Alexander- und auch mit dem Troja-Stoff iiberliefert, der seit der Antike von der Aura besonderer historischer Glaubwiirdigkeit profitierte.

58. Auch jene Handschriften, in denen jeweils nur einer dieser Texte fehlt, sind hier einzuordnen. 59. Vgl. Ursula Hess: Heinrich SteinhOwels 'Griseldis'. Studien zur Text- und Oberlieferungsgeschichte einer fruhhumanistischen Prosanovelle. Munchen 1975 (MTU 43), S. 105. 60. Abgesehen von der Beschreibung der heiligen Statten, an denen Abliisse zu erwerben waren, bietet der Mandevilletext im krassen Unterschied zum Tucherschen Bericht der weit verbreiteten AblaBliteratur allerdings keine direkten inhaltlichen Anknupfungspunkte. In den Werken Mandevilles, Ludolfs von Sudheim, aber auch Odorichs von Pordenone und Wilhelms von Boldensele ist von Ablassen nicht die Rede.

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3. Der Kollektionstyp 'Reiseliteratur - historiographisch-politische Texte' Mit weiteren historiographischen Werken, die jeweils relativ deutlich historisch-politische Akzentuierungen erkennen lassen, sind die Reisen Mandevilles vor aHem in der Ubersetzung Diemeringens iiberliefert. 4. Der Kollektionstyp 'Reiseliteratur - erbaulich-katechetische Texte' Vor aHem Ludolf von Sudheim in niederdeutscher Ubersetzung konnte auch als erbauliches Werk verstanden werden: In einer Reihe gemischtsprachiger Handschriften wird dieser Text in die Nahe der erbaulich-katechetischen Literatur geriickt. 5. Der Kollektionstyp 'Reiseliteratur Lehrdichtung'

weltliche und geistIiche

Nur die Erzahlprosa des Mandeville wird in einigen Handschriften iiberliefert, deren Textsymbiosen durch Werke bestimmt sind, die historisches, naturkundliches und geistliches Sachwissen vermitteln. Dieser Uberlieferungskontext legt nahe, daB der Mandevilletext jenem, vor allem spatmittelalterlichen Bediirfnis nach Prasentation und Zusammenschau von Informationen aus den verschiedenen Wissens- und Lebensbereichen entgegengekommen sein muB, auf das in besonderer Weise die enzyklopadisch strukturierte Literatur zu antworten sucht. Diese wenigen Handschriften, in denen Reiseliteratur in den Umkreis der Gebrauchsliteratur gestellt wird, lassen insgesamt allerdings kaum auf ein dezidiertes TypenbewuBtsein schlieBen, das die Reiseliteratur einem der verschiedenen Genera der Fachliteratur zuordnet. Die Uberlieferung der Reiseliteratur in den verschiedenen TextkoHektionen macht vielmehr deutlich, daB die heterogenen Wissensbestande der Reiseliteratur in unterschiedlichen Rezeptionszusammenhangen zu differierenden Deutungen fUhren, die sich am wenigsten an den Kriterien zu orientieren

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seheinen, die fUr die Produktion und Rezeption von Faehliteratur im mittelalterliehen Sinne verbindlieh sind. Es wurde siehtbar, daB aus der Spezifik der Textsymbiosen in den Handsehriften des Kollektionstyps 'Reiseliteratur' auf eine weitergehende Binnendifferenzierung dieses Werktyps gesehlossen werden kann. Werke der Welt-, Orient- und Handelsreise einerseits, die der Pilgerfahrt andererseits bauen in den Uberlieferungstragern relativ deutlieh abzugrenzende Textfelder auf. 1m Zentrum so1cher Textfelder stehen Werke wie dasjenige Mandevilles oder, bezogen auf die Pilgerreise, der Bericht Ludolfs von Sudheim, dureh deren typologisehe Offenheit und Ausstrahlungskraft sieh Handsehriften dieses Typs in der 'Oberlieferung konstituieren. Urn einen engeren Kreis von Reiseliteratur, d.h. vornehmlieh der hier untersuehten Darstellungen von realer und fiktiver Reise, gruppieren sieh in der Uberlieferung versehiedene Werke (oder aueh Werkgruppen). In ihnen wird Reise als Erfahrung von geographiseher, zeitlicher oder religioser Distanz zu den eigenen Lebens- und Sozialverhaltnissen auf untersehiedliehe Weise und mit untersehiedlieher Bedeutung fUr das jeweilige Werkganze thematisiert und asthetiseh organisiert. Das historisehe TypenbewuBtsein von Reiseliteratur integriert pragmatiseh Texte wie PilgerfUhrer, ReisefUhrer, AblaBverzeiehnisse und Entfernungstabellen ebenso wie legendenhafte Reiseerzahlungen (Brandan), Jenseitsreisen und -visionen oder kosmologiseh-religiose Externvorstellungen (Priester Johannes), die mit Beriehten realer Reise in der Uberlieferung vereinbar sind. Eine kategoriale Trennung von imaginarer und realer Reise als primares Besehreibungs- und Typisierungskriterium von Reiseliteratur ist daher nieht nur aus erzahlteehniseher Sieht zu relativieren; aueh die Uberlieferung legt nalie, einen Literaturtyp, der "seine Faszinationskraft nieht zuletzt der Heterogenitat der einsehlagigen Wissensbestande verdankt",61 unter standigem Rekurs auf die

61. Friederike Hassauer: Volkssprachliche Reiseliteratur: Faszination des Reisens und riiumlicher ordo. In: La litterature historiographique des origines it 1500. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer, PeterMichael Spangenberg. Heidelberg 1986 (GRLMA 11,1), S. 259-283, hier S.265.

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Rezeptionsbedingungen der Zeit zu interpretieren. Bei der Untersuchung der Uberlieferung der hier diskutierten Werke bleibt die Literatur der Artes im engeren Sinne ausgespart, was auf differierende Entstehungs- und Funktionsbedingungen schlieBen HiBt. Insgesamt ergeben sich deutliche Konvergenzen zur erbaulich-katechetischen Literatur, die jedoch aufgrund der religiosen Motivation der Pilgerberichte zu erwarten waren, allerdings auch zur historiographischen Literatur, deren Kommunikationshorizont sich mit dem der Reiseliteratur deutlich iiberschneidet. Innerhalb der Kontextiiberlieferung waren weiterfiihrende werkspezifische Schwerpunktbildungen festzustellen; z.B. wird die Mandevilleprosa zusammen mit volkssprachlichen Bearbeitungen antiker Stoffe etwa im Aeneas-, Troja- und Alexanderroman iiberliefert, der Tucher- und Ludolf-Text dagegen iiberwiegend in erbaulich-katechetischen Kollektionen. DaB auch die Ubersetzungen dieser Werke eine jeweils eigene Ausstrahlungskraft besitzen konnen, zeigen wiederum bestimmte Konzentrationen in der Uberlieferung: Die niederdeutsche LUdolf-Ubersetzung wird fast ausschlieBlich mit erbaulich-kontemplativer Literatur tradiert, wahrend die zu Zeiten des Friihdrucks im oberdeutschen Raum entstandene zweite Ubersetzung dieses Werkes in einem Uberlieferungsrahmen vorgefunden wurde, der sich kaum von dem der Werke Mandevilles, Polos oder Schiltbergers unterscheidet. Ebenso wie bei der mehrfachen gemeinsamen Uberlieferung des Diemeringen-Textes mit dem Alexanderroman in der Ubersetzung des Meister Babiloth sind hier iiberlieferungschronologische und iiberlieferungsgeographische, aber auch textgeschichtliche Faktoren zu beriicksichtigen. IV. Uberlieferungssymbiosen und Gattungstypologie Der hier unternommene Versuch, aus Analysen des vielfaltigen exemplarischen Materials verschiedener Uberlieferungsstadien zur Bestimmung einiger Konstituenten der Reiseliteratur des ausgehenden Mittelalters zu gelangen, bedarf der Zusammenfassung. Die Reiseliteratur wird auch in der jiingeren Literaturgeschichts-

353 schreibung der Fachliteratur zugeordnet62 - eine Tendenz, die den kompilativen Charakter dieser Literatur weitgehend nicht beriicksich tigt. Die Untersuchung der Textsymbiosen von Reiseliteratur spezifizierte das historische BewuBtsein dieses Werktyps als BewuBtsein von thematischen Beziehungen verwandter Werktypen. Die Komplementaritat von raumlicher und zeitlicher Distanzerfahrung konnte hier aus den Uberlieferungsmustern bzw. aus zeitgenossischem RezeptionsbewuBtsein nachgewiesen werden. Aus der Diemeringen-Ubersetzung der Mandevilleprosa wissen wir; daB der Text durch sein Uberlieferungsumfeld eine Deutung in Richtung der literarischen Umsetzungen historischer Ereignisse ersten Ranges erfahrt, in denen mit einer herausragenden Herrschergestalt als personalem Zentrum der Anspruch exklusiver Idealitat verkniipft ist: Troja, Alexander, die romischen Kaiser, Karl der GroBe, Mandeville. 63 Die Uberschneidung der Kommunikationshorizonte zwischen historiographischer Literatur und der Reiseliteratur, der flieBende Ubergang zwischen Historiographie und volkssprachlichem Roman, in dessen Bewertung der Werktyp Reiseliteratur einbezogen wird, bestatigte zudem jene Affinitat zu Attributen historischer Glaubwiirdigkeit, die· traditionell den historiographischen Diskurs bestimmen. Wie sehr die Reiseliteratur einer solchen Rezeptionshaltung entgegenkommt, zeigt z.B. die standige Berufung ihrer Augenzeugenschaft und personlichen Erfahrung. Nicht nur die Nahe zum historisierenden Prosaroman, sondern auch das 62. Vgl. z.B. Ingeborg Glier (Hg.): Die Deutsche Literatur im spaten Mittelalter 1250-1370. Teil 2: Reimpaargedichte, Drama, Prosa. Munchen 1987 (Helmut de Boor, Richard Newald: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart 3,2), S. 386-387 ("Seefahrt und Erdkunde"). In der Abkehr von dieser als 'mittelalterlich' betrachteten gattungstypologischen Zuweisung durch die "Bestimmung des Reiseberichts als Historiographie im Sinn einer narrativen Darbietung von Geschehenem" sieht Neuber: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts (wie Anm. 24), S. 56, "die durch den Humanismus herbeigeffihrte Ziisur dem Mittelalter gegenuber" . 63. Vgl. hierzu jetzt auch Klaus Ridder in diesem Band.

354 Inbezugsetzen der Wissensbestande mit Wunscherfullungen und der Kompensation von restriktiver Alltagsrealitat haben die bisherige Subsumierung der Reiseliteratur unter die Fachliteratur als unangemessen erwiesen. 64 Gattungstypologische Phanomene sollten als historisch verifizierbare Ausformung eines konkreten Funktionszusammenhangs von Literatur begriffen werden. Der Roman Mandevilles formuliert ganz offensichtlich vor dem Hintergrund des gesamten profanen Repertoires der Zeit seine eigene Position - gerade auch in der auktorialen Omniprasenz des Ich-Erzahlers. Er zieIt uberraschenderweise - vor allem im Gebrauch seiner Quellen - auf die Entdeckung einer vollig neuen Dimension ab, auf die Entdeckung einer individuellen Sphare, ohne allerdings die damit verbundene Problematik bereits zu entfalten. Zwar entwirft Mandeville in seinem Roman kein ihm eigenes individuelles literarisches Leben - wie es dann im Roman der fruhen Neuzeit sichtbar wird -; er setzt jedoch im fiktionalen Rahmen vorgegebene personliche Erfahrung zur epischen Strukturierung ein. Die Leistung des Autors Mandeville besteht darin, daB er die Chance, die ihm das Verhaltnis zwischen festgefiigten narrativen Strukturen der Pilgerliteratur und einer in Konturen sichtbar werdenden neuen Individualitat im zweiten Teil des Romans eroffnet hat, in ganz neuer Weise zu nutzen weiB. Die individuelle Erzahlergestalt ist in der Erzahlliteratur der Zeit singular, sie figuriert natiirlich nicht auf dem Individualitatsentwurf der Moderne: sie ist kein positiver Lebensentwurf aus dem ihr eigenen Wesen heraus. Das Individuelle bleibt bei Mandeville - wie stets im Mittelalter - eine negative Moglichkeit; sie ist Abweichung yom Allgemeinen, Abweichung der Norm. Neu ist jedoch, daB dieser 'Abweichung' im Reiseroman ein Spielraum erOffnet wird; damit wirkt der Roman Mandevilles als Experiment weit uber seine Zeit hinaus und begriindet das in der Uberlieferungsanalyse der Reiseliteratur aufgezeigte breite. literarische Interesse, das diesem Text im Europa des spaten Mittelalters und 64. Vgl. hierzu Bremer: Studien zur Reiseliteratur des 14. und IS. Jahrhunderts (wie Anm. 33). An dieser Stelle sei besonders Michael Remer fUr vielraltige Anregungen und Diskussionen zur erzahltheoretischen Dimensionierung des Gegenstandes gedankt.

355 der fruhen Neuzeit zuwaehst. Nur die Verbindung von erzahl- und wirkungstheoretisehen Fragestellungen kann den Charakter der 'Abweichung' von Texten im Kommunikationszusammenhang einer Gesellsehaft verorten und sozialpsychologische Funktionen bestimmen. wie sie exemplarisch in der Verklarung von Wirklichkeit und der Sicherung sozialer Rollen bezogen werden. 6S Das Spektrum der moglichen Rezeptionsformen eines Mandeville wird in jeweils unterschiedlichen Bedeutungsweisen konstituiert: nieht in der Weise einer unvermittelten Realisierung eines konkreten. historisch verifizierbaren Diskurses. wohl aber als das Echo von Bedurfnisstrukturen. deren Ausdifferenzierung durch einen Literaturtypus erfolgt. der zugleich P()larisierungs- wie Autonomisierungstendenzen ineinander auszutragen scheint. 66 Naturlich stehen Mandeville hierzu 'nur' die bekannten narrativen Muster zur Verfugung. In diesem Rahmen aber hat er in Abgrenzung zur Pilgerliteratur kompromiBloser experimentiert und neue Moglichkeiten erprobt.

65. Vgl. hierzu die grundlegenden literatursoziologischen Arbeiten Leo Lowenthals, die in der Forschungsdiskussion immer noch nieht genugend beachtet werden. 66. 1584 konnte bereits die Lekture Mandevilles justitiabel werden: der Muller Domenico Scandella aus dem Friaul, genannt Menocchio, wurde in diesem Jahr Opfer der Inquisition (vgl. Carlo Ginzburg: Der Kase und die Wurmer. Die Welt eines MulIers urn 1600. Frankfurt/M. 1983).

Klaus Ridder WERKTYP, UBERSETZUNGSINTENTION UNO GEBRAUCHSFUNKTION. JEAN DE MANDEVILLES REISEERZAHLUNG IN DEUTSCHER UBERSETZUNG orros VON DIEMERINGEN Ais Autor der in franzosischer Sprache geschriebenen Reiseerzahlung gilt jener Jean de Mandeville, der dem Leser im Prolog des Werkes seine Verfasserschaft bekundet: er bezeichnet sich als Englander aus St. Albans, gibt Tag und Jahr seiner Ausfahrt (1322) und krankheitsbedingten Riickkehr (1356) an, teilt aber sonst keine weiteren Informationen zu seiner Person mit. Ob die bier durch konkreten Zeit- und Ortsbezug nahegelegte historische Identitat des Autors nicht Teil der literarischen Fiktion ist, bleibt umstritten zumal wenn man beriicksichtigt, daB die dem Leser ebenfalls suggerierte Vorstellung, der Erzahlung liege eine reale Reise zugrunde, sich als unzutreffend erwies. Es handelt sich urn die Beschreibung einer fiktiven Reise.! Die bisherigen Versuche, den Autor historisch zu identifizieren, haben zu einander widersprechenden Deutungen gefiihrt, legen allerdings die Vermutung nahe, daB das Werk in Liittich geschrie1. Zu Autor und Werk, zu den primm-en franzosischsprachigen Versionen, den Ubersetzungen und zur Wirkungsgeschichte vgl. das immer noch grundlegende Werk von Josephine Waters Bennett: The Rediscovery of Sir John Mandeville. New York 1954 (= The Modern Language Association of America. Monograph Series XIX) (Nachdruck: New York 1971). Zum neueren Forschungsstand vgl. Ernst Bremer: Jean de Mandeville. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., vollig neu bearbeite Aufl. hrsg. v. Kurt Ruh [u.a.]. Bd. 5. Berlin, New York 1985, Sp. 1201-1214; Christiane Deluz: Le Livre de Jehan de Mandeville. Une "Geographie» au XIV: siecle. Louvain-La-Neuve 1988 (= Publications de L'Institut d'Etudes Medievales - Textes, Etudes, Congres 8).

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ben wurde. Zumindest entstand hier noch im 14. lahrhundert eine redaktionelle Bearbeitung des Textes, die Iokalhistorische Beziige und Ankniipfungen an die Chanson de geste-Tradition charakterisieren: der Redaktor verschaffte dem karolingischen HeIden Ogier von Danemark durch zahireiche Erzahleinschiibe eine auffallende Prasenz im Text. 2 Unbestritten ist allein der Erfoig des Werkes, den die breite Uberlieferung (fast 300 Handschriften, zahireiche Drucke) und die bereits im 14. lahrhundert einsetzende kontinuierliche Foige von Ubersetzungen ins Lateinische und in zahireiche westeuropaische Volkssprachen dokumentieren. Von den drei Ubertragungen ins Deutsche und Niederlandische 3 wirkte die des Metzer Domherren Otto von Diemeringen nach Ausweis der Uberlieferung am intensivsten. Bisher sind 44 Handschriften und sieben Druckauflagen bis zur Reformation bekannt. Nach der Etablierung" des Buchdrucks wird nur diese Ubersetzung 2. Diese sogenannte Liitticher Version (7 Hss.), die auf der autornachsten Kontinentalen" Version basiert, geht vermutlich auf den Liitticher Chronisten Jean d'Outremeuse (gest. 1400) zUrUck; zur Uberlieferung, Verkniipfung mit der Autordiskussion und der Art der Textumformung vgl. vor aHem Bennett: Rediscovery [wie Anm. 1], S. 89-180 u.o.; Guy de Poerck: Le Corpus Mandevillien du Ms Chantilly 699. In: Fin du Moyen Age et Renaissance. Melanges de philologie fran~aise offerts it Robert Guiette. Anvers 1961, S. 31-48; Josse de Kock: Quelques copies aberrantes des "Voyages» de Jean de Mandeville. In: Le Moyen Age LXXI (1965), S. 521-537; Klaus Ridder: Jean de Mandevilles 'Reisen'. Studien zur Uberlieferungsgeschichte der deutschen Ubersetzung des Otto von Diemeringen. Munchen 1991 (= Munchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 99). 3. Zur Ubersetzung des Sudtirolers Michel Velser vgl. Eric J. Morrall (Hrsg.): Sir John Mandevilles Reisebeschreibung in deutscher Ubersetzung von Michel Veiser. Nach der Stuttgarter Papierhandschrift Cod. HB V 86. Berlin 1974 (= Deutsche Texte des Mittelalters 64); zur Ubertragung ins Niederiandische vgl. die Ausgabe von N[icolaas] [Adrianus] Cramer (Hrsg.): De Reis van Jan van Mandeville, naar de middeInederiandsche handschriften en incunabelen. Leiden 1908 (Leiden, Phil. Diss., 1908) und die Untersuchung von W. Gunther Ganser: Die niederlandische Version der Reisebeschreibung Johanns von Mandeville. Untersuchungen zur handschriftlichen Uberlieferung. Amsterdam 1985 (= Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 63).

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weiter tradiert. 4 1m 16. Jahrhundert nimmt sie Sigmund Feyerabend in sein ReyPbuchS auf. und bis in die Neuzeit folgen kontinuierlich weitere Drucke. Die franzosische Quelle wird in allen drei Ubertragungen mehr oder weniger stark der Zielsprache und dem Publikum angepaBt. Die weitestgehenden Vedinderungen des Autortextes zeigt die Ubersetzung Diemeringens. 6 Ob ein Zusammenhang zwischen dem Erfolg der Ubertragung und den Bearbeitungsprinzipien des Ubersetzers besteht, ist durch die Analyse des Textes allein nicht zu beantworten; zu beriicksichtigen sind ferner der Werkcharakter und die spezifische Entstehungssituation der Ubertragung - d.h. der Funktionsraum, das potentielle Publikum und die raumlich-kulturelle Ubersetzungstradition der Zeit. U nter diesem breiteren Blickwinkel wird Ubersetzen als ein komplexer Funktionszusammenhang, nicht als ein technisiertes Verfahren in einem idealtypischen Kommunikationsrahmen verstehbar. 7 4. Darstellung der Druckgeschichte der deutschen Mandeville-Obersetzungen in Ernst Bremer, Klaus Ridder (Hr~g.): Jean de Mandeville, 'Reisen'. Reprint der Erstdrucke der deutschen Ubersetzungen des Michel Velser (Augsburg, bei Anton Sorg, 1480) und des Otto von Diemeringen (Basel, bei Bernhard Richel, 1480/81). Hildesheim [u.a.] 1991 (= Deutsche Volksbucher in Faksimiledrucken, Reihe A, Bd. 21), S. XIII-XXVIII. 5. Bl. 405r-43r, eingesehenes Exemplar: London, British Library, 790.m.16; vgl. auch Max Bohme: Die grossen Reisesammlungen des 16. Jahrhunderts und ihre Bedeutung. StraSburg 1904 (Nachdruck: Amsterdam 1962), S. 106-120. 6. Zu dieser Ubersetzung vgl. jetzt Ridder: Jean de Mandevilles 'Reisen' [wie Anm. 2]. 7. Indem man Diemeringens Aneignung des Werkes einem der seit der Antike bekannten Ubersetzungstypen zuweist, der Wort-fOr-Wort, SinnfOr-Sinn oder der urnschreibenden Ubersetzungsmethode, uber die auch die spatmittelalterlichen Obersetzer in ihren Begleittexten reflektieren, laSt sich weder die Frage nach der Funktion der Ubersetzertatigkeit Diemeringens beantworten noch die SpezifIk seiner Ubersetzung adaquat erfassen. Auch hier gilt die von Ulrike Bodemann: Die Cyrillusfabeln und ihre deutsche Ubersetzung durch Ulrich von Pottenstein. Untersuchungen und Editionsprobe. Munchen 1988 (= Munchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 93), S. 188, formulierte Feststellung: "Was sich in der Zusammenschau von Vorreden Wiener und

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Die folgenden Uberlegungen gehen von einer Bestirnrnung des Werktyps der Reisen Mandevilles aus, denn den deutschen Text als Ubersetzung zu untersuchen heiBt, ihn in Relation zur franzosischen QueUe zu studieren (I). In einern zweiten Schritt werden die Bearbeitungsprinzipien Ottos von Dierneringen analysiert, urn rnogliche Bedeutungen der Ubersetzung fUr ihr prirnares Publikurn zu rekonstruieren (II). Der abschlieBende Teil der Studie geht der Frage nach, welche Funktionsrnoglichkeiten irn Laufe der Uberlieferungsgeschichte tatsachlich realisiert wurden. Erkenntnisse fiber das Literaturverstandnis der Rezipienten und das jeweils aktualisierte Deutungspotential des Textes verspricht die Untersuchung der historischen Uberlieferungszusarnrnenhange, also der Kontext der Ubersetzung in den Sarnrnelhandschriften (III). Darfiber hinaus ist auch die Bezugnahrne anderer Autoren auf Mandevilles Reiseerzahlung in diesern Zusarnrnenhang aufschluBreich (IV). I.

Mandevilles Reisen: Kornpilation oder Erzahlrnodell?

Die Aufdeckung der QueUen gegen Ende des vorigen lahrhunderts 8 bestatigte schein bar den schon seit dern 15. J ahrhundert erhobenen damit vergleichbar spaterer fruhhumanistischer Autoren scheinbar klar als kontroverse Obersetzungshaltungen abzeichnet, findet in den Gegebenheiten der Texte nur dann die gewiinschte Bestatigung, wenn man sich statt auf angewandte Obersetzungsmethoden lediglich auf program matische Stellungnahmen der Obersetzer in ihren Vorreden stiitzt". Man konzentrierte sich bisher wohl zu sehr auf die Einbettung einer Obersetzung in denjeweiligen Traditionszusammenhang, den die Obersetzer in den Proomien haufig schon selbst vorgeben. Die Sicht der Quellen prajudizierte dam it nicht unerheblich das Erkenntnisinteresse der ubersetzungsanalytischen F orschung. 8. Zu den Quellen vgl. die alteren Arbeiten von George F. Warner (Hrsg.): The Buke of John Maundeuill, being the travels of Sir John Mandeville, knight 1322-1356: a hitherto unpublished English Version, from the unique copy (Egerton ms. 1982) in the British Museum: edited together with the French text, notes, and an introduction. Printed for The Roxburghe Club. Westminster 1889 und Albert Bovenschen: Die Quellen fUr die Reisebeschreibung des Johann von Mandeville. Berlin 1888 sowie

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Vorwurf der Tauschung. 9 Mandeville wurde vom groBen Reisenden zum groBen Liigner, das Werk vom faszinierenden kulturhistorischen Dokument zur wertlosen Quellenkompilation degraqiert. 10 Die Entlastung des Textes von dem Erwartungsdruck, Erfahrungswissen zu berichten, offnete aber den Blick fUr seine Darstellungsformen. Angesichts der durchaus schwierigen Aufgabenstellung eines Kompilators, "Fremdes zu seinem Eigenen zu machen", hatte Mandeville offenbar "gegeniiber Kritikern wiederum des eigenen Werkes"l1 zwei Prinzipien kompilatorischer Praxis auBer acht gelassen: Zum einen hatte er nicht den 'Schild der Quellen' hingehalten, die Quellen seines Werkes nicht benannt und damit die Verantwortung fUr das Berichtete scheinbar selbst iibernommen; jetzt die umfassende Untersuchung dieses Aspektes durch Deluz: Le Livre de lehan de Mandeville [wie Anm. 1], S. 39-72, 73-93, Anh. VI, S. 428-492. 9. Der vermutlich aus Augsburg stammende Benediktiner Sigismund Meisterlin bezeichnet beispielsweise in einem Brief an Sigismund Gossembrot vom 20.6.1456 die Reisen wie auch den Herzog Ernst als abgeschmackte Fabeln: "Econtra librum dicti lohannis de monte uilla, Ernestique ducis fabulosam narrationem decantant circumferuntque puerorum agmina cachinantium", zitiert nach Paul loachimsohn: Die humanistische Geschichtsschreibung in Deutschland. Heft 1: Die Anrange. Sigismund Meisterlin. Bonn 1895, S. 283. Zur humanistischen Kritik an volkssprachiger Erzahlliteratur vgl. auch Hans-Joachim Koppitz: Studien zur Tradierung der weltlichen mittelhochdeutschen Epik im 15. und beginnenden 16. lahrhundert. Miinchen 1980, S. 198. 10. "Doch bei dem uns vorliegenden Werke, als einer Reisebeschreibung soUte man eigentlich von vomherein annehmen dfirfen, dass der Verfasser den einfachen, wahren Verlauf seiner Reise ... schildert.... Freilich werden wir bei der Beschreibung von Mandevilles angeblicher Reise ... arg in unsrer Annahme getauscht, da sich herausstellt, dass Mandeville seine Quellen mit so grosser Selbstverleugnung benutzte, dass er auf eigne, selbstandige Zuthaten fast ganz verzichtete und dadurch in uns den Verdacht erweckt, er habe die von ihm beschriebenen Lander fiberhaupt nie besucht", Bovenschen: Die Quellen ffir die Reisebeschreibung des 10hann von Mandeville [wie Anm. 8], S. 5. 11. Gert Melville: Spatmittelalterliche Geschichtskompendien - Eine Aufgabenstellung. In: Romische Historische Mitteilungen 22 (1980), S. 51104, hier S. 66.

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zum anderen hatte er das Eigene nieht als solches gekennzeiehnet, sondern das gesamte Material auf ein erzahlendes Ieh ausgeriehtet und dadureh den Eindruek einer selbsterlebten Reise erweekt. Zum Charakter einer Kompilation gehort jedoeh sowohl der "freiwillige(.) Verzieht auf eine Beurteilung der vorgetragenen Textauszuge"12 als aueh die ZUrUeknahme der eigenen Person, so daB bei Werken dieser Gattung "nur in wenigen Fallen die Anonymitat durehbroehen wurde". 13 Da aueh neuere Literatursystematiken das Werk der Faehliteratur zuordnen, 14 geht man hier wohl davon aus, daB der Begriff der eompilatio als systematisierende Zusammmensehrift einer Auslese von Textpassagen anerkannter Autoren die Eigenart des Textes erfaBt. Dies ist ebenso zu uberprufen wie die implizite Annahme, daB auch die zweite Bedeutungsebene des Terminus als Bezeichnung einer Methode der Stoffbewaltigung auf den fiktiven Reisebericht anzuwenden iSt. 15 Die Ergebnisse der Quellenforschung vermitteln ein eindrueksvolles Bild von der nieht einzigartigen, aber doch umfassenden Kenntnis untersehiedlieher Texttypen der lateinischen und zeitgenossischen franzosischen Literatur. Vnter den etwa 20 haufiger hinzugezogenen Werken dominiert der QueUentypus Reisebesehreibungen, gefolgt von historiographischen und 12. Traude-Marie Nischik: Das volkssprachliche Naturbuch im spaten Mittelalter. Sachkunde und Dinginterpretation bei Jacob von Maerlant und Konrad von Megenberg. Tubingen 1986 (= Hermaea NF 46), S. 9. 13. Melville: Spatmittelalterliche Geschichtskompendien [wie Anm. 11], S. 70. 14. Vgl. z.B. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart. Begriindet v. Helmut de Boor u. Richard Newald. Bd. 3: Die deutsche Literatur im spaten Mittelalter 1250-1370, Teil2: Reimpaargedichte, Drama, Prosa, hrsg. v. Ingeborg Glier. Munchen 1987, S. 387. 15. Vgl. dazu Nischik: Das volkssprachliche Naturbuch im spaten Mittelalter [wie Anm. 12], S. 8 ff.; Melville: Spatmittelalterliche Geschichtskompendien [wie Anm. II], S. 63 ff. Zum Problemkreis s. auch Aistair J. Minnis: Discussions of 'authorial role' and 'literary form'. In: Beitrage zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (rub.) 99 (1977), S. 37-65; ders.: Late-Medieval discussions of compi/alio and the role of the compi/alor. In: Beitrage zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tub.) to I (1979), S. 385-421.

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enzyklopadischen Texten. 16 Die Vielfalt der Quellen bescheinigt dem Autor zumindest ausgedehnte literarische Reisen. Ais Leitquellen 109 er zwei Reiseberichte der ersten Halfte des 14. lahrhunderts hinzu: Wilhelms von Boldensele Bericht einer Palastinareise und die Beschreibung der Asienfahrt des Odorich von Pordenone. 17 Bei der Aneignung der Hauptquellen bleibt deren Erzahlstruktur weitgehend erhalten, wenn sie im einzelnen auch umgearbeitet wird; ein erster Erzahlteil berichtet in Anlehnung an Boldensele von einer Reise ins Heilige Land, ein zweiter Teil folgt dem Ostasienbericht Odorichs. Zu den Leitquellen treten weitere hinzu, urn an einzelnen Punkten der Erzahlung zusatzliches Material einzufiigen. Die Technik des Quellenaufgriffs konnte man als eine Mischform von aneinanderreihender und verschrankender Kompilation 18 bezeichnen, die Mandevilles Erzahlen als Resultat gezielter Selektion charakterisiert. 1st dam it aber der Werkcharakter hinreichend erfaBt? LaBt das Werk eine eigenstandige Struktur erkennen, oder handelt es sich nur urn eine, wenn auch geschickt zusammengestellte Kompilation? Einer solchen Auffassung, wie sie auch die neueste Monographie von Christiane Deluz fortschreibt,19 ist mit der These zu begegnen, 16. Vgl. die Typisierung der Quellen durch Deluz: Le Livre de lehan de Mandeville [wie Anm. 1], S. 57 f. 17. Zu Wilhelm von Boldensele vgl. Christiane Deluz: La "geographie" dans Ie Liber de Guillaume de Boldensele, pelerin de Terre Sainte, 1336. In: Voyage, quete, peterinage dans la litterature et la civilisation medievale. Aix-en-Provence, Paris 1976 (= Senefiance N° 2), S. 27-40; Hartmut Beckers: Der Orientreisebericht Wilhelms von Boldensele in einer ripuarischen Uberlieferung des 14. lahrhunderts. In:, Rheinische Vierteljahrsbliitter 44 (1980), S. 148-166. Zu Odorich von Pordenone vgl. Folker Reichert: Eine unbekannte Version der Asienreise Odorichs von Pordenone. In: Deutsches Archiv fUr Erforschung des Mittelalters 43 (1987), S.531-573. 18. Zwischen diesen beiden Kompilationsverfahren unterscheidet Melville: Spatmittelalterliche Geschichtskompendien [wie Anm. 11], S. 69f. 19. Der kompilatorische Charakter des Werkes und die von Mandeville benutzten Quellen fiihren Deluz (Le Livre de lehan de Mandeville [wie Anm. 1]) zu der Auffassung, daB es sich bei den Reisen nicht urn ein literarisches, sondern urn ein geographisches Werk, "une geographie", handele. Mandeville habe eine Topographie des bekannten Erdkreises

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daB die Art der Quellenverarbeitung im einzelnen und die Struktur des Werkganzen die Darstellungsintention des Autors als eine literarisehe erweist. Die poetisehe Funktion des Textes ist sieher nieht die einzige, aber die dominierende. Der literarisehe Ansprueh des Werkes korrespondiert mit einer differenzierten Struktur. Diese Struktur ist nieht bruehlos und konsequent, als Entwurf jedoeh neu. Den innovativen Charakter des Werkes kennzeiehnen vor aHem vier erzahlteehnisehe Verfahrensweisen, die kurz umrissen werden sollen. 1.

Die ZusammenfUhrung der Gattungstraditionen von Jerusalem-Pilgerfahrt und Orientreisesehilderung

Die kompositorisehe Zweiteilung des Werkes resultiert nieht allein aus der Orientierung an den beiden Hauptquellen. Es geht nieht urn die Ubernahme der Konstituenten zweier Gattungstypen,2° sondern urn ihre Funktionalisierung im neuen Zusammenhang. 1m ersten Teil verlauft die Erzahlung in einer aufSteigerung angelegten Linie. Die Bedeutung und der ehristliehe Symbolgehalt des Gesehehens steigern sich von Reiseetappe zu Reiseetappe, bis Jerusalem und das schreiben wollen und seine Quellen entsprechend ausgewahlt und strukturiert (S. 33); entstanden sei eine individuelle Synthese, die man als "Premier livre de Geographie" (S. 364) bezeichnen konne. Dazu demnachst die Rezension der Arbeit durch Klaus Ridder (erscheint in den Germanisch-Romanischen Monatsheften). Diesem Ansatz steht die von Bennett wesentlich beeinfluBte Forschungsrichtung gegeniiber, die die literarische Bedeutung des Werkes akzentuiert. Durch Vergleich des Textes mit den Quellen, insbesondere mit dem Reisebericht Odorichs versuchte Bennett (Rediscovery [wie Anm. 1], S. 15-53) nachzuweisen, daB es sich urn einen Reiseroman handele: "Mandeville was writing in a literary genre which has a long history, from the Odyssey and the lost Arimaspeia of Aristeas, through Ctesias, Megasthenes, and parts of Herodotus, Strabo ... " (S. 39). 20. Donald R. Howard: The World of Mandeville's Travels. In: Yearbook of English Studies I (1971), S. 1-17, geht davon aus, daB Mandeville "a summa of travel lore" (S. 2) habe schreiben wollen: "by his time there were many prose accounts of the Jerusalem pilgrimage and several of travels into the Orient, and he set out to combine these two genres ... " (S. 1).

365 Heilige Grab erreicht und ausfUhrlich beschrieben sind. Entgegen der·im Prolog beim Leser geweckten Erwartungshaltung endet die Erzahlung an diesem Punkt aber noch nicht, sondern es schlieBt sich die Darstellung einer Reise in den unbekannten Teil der Welt an, die durch Indien, China und das Reich des Priesters Johannes fUhrt. SchlieBlich erreicht der Erzahler die Grenze der zuganglichen Welt, das irdische Paradies, nachdem er das Teuflische Tal, den Eingang zur Holle, erfolgreich durchquerte; er kehrt zuruck, ohne daruber weitere Einzelheiten preiszugeben. Auch im zweiten Teil ist ein paralleler Aufbau.nach dem Prinzip der Steigerung im Reiseverlauf erkennbar. Bestimme~d fUr beide Teile bleibtdie Wegstruktur und damit die Reihung der einzelnen Stationen der Reise und ihre chronologische Abfolge. Beides durchbrechen aber immer wieder zahlreiche Exkurse und Abschweifungen. Vielfach entsteht sogar ein erzahlerischer Uberhang, der trotz der Behauptung einer realen Reise die konsistente Raum- und Zeitstruktur gleichsam uberlagert und beiseite drangt. Der Autor gestaltet Station en der tradition ellen Jerusalem- und der Ostasienreise zu einer neuen Reise- und Erzahlbewegung. H6heund Ruhepunkte, Abschweifungen und inhaltliche Verdichtungen werden so aufeinander bezogen, daB ein neuer Typus von Reiseerzahlung entsteht: eine imaginierte Weltreise, fUr die das Spannungsverhaltnis zwischen bekanntem Orbis Christianus und unbekanntem Orient konstitutiv ist. Daher fallt die Schilderung Jerusalems und der heiligen Statten21 nicht wie in den Pilgerberichten mit dem Ende der Erzahlung zusammen, sondern wird zur kompositorischen Mitte des Gesamtwerkes und zum Ausgangspunkt fUr den zweiten Teil, die Ostasienreise des Erzahlers. Inwieweit dieses literarische Verfahren den theologisehen Weltentwurf von der geographischen Zentralitat Jerusa21. Eine kritische Edition der primaren Kontinentalen Version existiert nieht. Das Werk wird daher im folgenden nach dem Abdruck der Handschrift Paris, Bibliotheque Nationale, Lfr. nouv. acq. 4515, dem altesten datierten Zeugen der Gesamtiiberlieferung, durch Malcolm Letts (Hrsg.): Mandeville's Travels. Texts and Translations. Vol. II. London 1953 (= Works issued by the Hakluyt Society, Second Series, No. 101-102) (Nachdruck: Nendeln 1967), S. 229-413, hier S. 267-311, zitiert.

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lems 22 bereits relativiert, ist nicht eindeutig zu beantworten; miterinnert wird die heilsgeschichtlich motivierte Lehre sicher in jedem Fall.

2.

Die Darstellung des Stoffes aus der Perspektive eines erzahlenden Ichs

Dem Leser tritt ein Erzahler gegenliber, der sich als "ie Iehan de Mandeuille, cheualier"23 einfUhrt und einige biographische Fakten mitteilt. Ob diese Angaben in bezug auf die auBerliterarische Realitat des Autors historisch sind oder nicht, ist zunachst unerheblich. Die Form der Ich-Erzahlung istjedenfalls nicht einfach auf die Leitquellen zurlickzufUhren; auch sollte durch eine gewollte Identifizierung des Erzahlers mit dem Autor nicht nur der Anspruch der phantastischen Reisebeschreibung auf Faktenwahrheit eingefordert werden. 24 Der Erzahler libernimmt und reflektiert die Stoffauswahl und -organisation und begibt sich daneben in die Perspektive des Protagonisten. Die Erzahlhaltung wechselt zwischen einer scheinbar auktorialen und der Subjektivitat einer Stimme. Entgegen der Praxis der Kompilatoren liberlaBt der Autor die Verantwortung fUr die Richtigkeit des Erzahlten nicht den Quellen, aus denen er schopft, sondern iibertragt sie dem Erzahler. Uberwiegend gebardet sich der Erzahler in der Rolle des objektiven Beobachters, des Augenzeugen,25 der sich einerseits UQ1 die Verifi22. Vgl. dazu Franz Niehoff: Umblicus mundi - Der Nabel der Welt. Jerusalem und das Heilige Grab im Spiegel von Pilgerberichten und -karten, Kreuzziigen und Reliquaren. In: Anton Legner (Hrsg.): Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Kiinstler der Romanik. Katalog zur Ausstellung des Schniitgen-Museums in der Josef-Haubrich-Kunsthalle. Bd. 3. Koln 1985, S. 53-72. 23. Letts: Mandeville's Travels II [wie Anm. 21], S. 231. 24. So Deluz: Le Livre de Jehan de Mandeville [wie Anm. I], S. 35. 25. Zu diesen Aspekt vgl. insbesondere Donald R. Howard: Writers and Pilgrims. Medieval Pilgrimage Narratives and their Posterity. Berkeley, Los Angeles, London 1980, S. 59 f.; ders.: The World of Mandeville's Travels fwie Anm. 20], S. 3 f.: Dietrich Huschenbett: Von landen und ynselen. Literarische und geistliche Meerfahrten nach PaUistina im spaten Mittelalter. In: Norbert Richard Wolf (Hrsg.): Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Per-

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kation der berichteten Inhalte bemiiht, sich andererseits aber auch distanziert und reserviert gibt. Wahrheitsbeteuerungen stehen neben abwagenden Reflexionen iiber den Wahrheitsgehalt des Erzahlten. 26 Daneben versteht sich der Erzahler als Vermittler von Kenntnissen und Wissensbestanden, und zwar sowohl von miindlich mitgeteiltem als auch von sehriftlich fixiertem, in literarischen Werken (beispielsweise Chroniken)27 aufgehobenem Wissen. SchlieBlich beriehtet er auch von eigenem Abenteuerhandeln, wenn er die Durehquerung des Teufelstals als ein Gemeinschaftsunternehmen mit 13 Gefahrten schildert. 28 Ein Portrait des Erzahlers w:ire unvollstandig, wiirde nieht seine Rolle als gesellschaftskritischet und satirischer Analytiker der europaischen Christenheit erwahnt; es wird die Erzahlhaltung des nach langer Reisetatigkeit Zuriickgekehrten eingenommen, der aus spektiven ihrer Erforschung. Kolloquium 5.-7. Dezember 1985. Wiesbaden 1987 (= Wissensliteratur im Mittelalter. Schriften des Sonderforschungsbereichs 226 Wiirzburg/Eichstiitt 1), S. 196-198. 26. In seiner Beschreibung des in Agypten wachsenden Balsams bemerkt der Erzahler, die redenden Sonnen- und Mondbaume in Indien, auf denen der Balsam ebenfalls gedeihen solle, habe er nie gesehen, da er so weit nicht gekommen sei, vgl. Letts: Mandeville's Travels II [wie Anm. 21], S. 255. Auf zwei weitere Beispiele sei hingewiesen: Nachdem der Erzahler die Moglichkeit erortert hat, die Erde zu umfahren, setzt er sich kritisch mit der Gegenposition auseinander: "Et ce fut bien chose possible, comment que il semble aus simples gens que on ne pourroit aler dessouz la terre et que on deuroit cheoir vers Ie ciel, quant on seroit dessouz la terre. Mais ce ne pourroit estre, neent plus que nous pourriom. cheoir vers Ie ciel de la terre ou nous sommes", Letts: Mandeville's Travels II [wie Anm. 21], S. 334. Den Exkurs iiber die Insel Angho (Kos) leitet er mit der Bemerkung ein: "Et dist on que en celle ylle de Angho est encore la fille Ypocras en guise dun grant dragon, qui a bien cent toises de lonc, si comme on Ie dist; car ie ne lay mie veu", Letts: Mandeville's Travels II [wie Anm. 21], S. 240. 27. So argumentiert der Erzahler hinsichtlich der agyptischen Pyramiden, daB es sich urn die Kornkammern Josephs handele: "car la commune renommee est par tout Ie pays pres et loing que ce sont les greniers Ioseph, et ainsi lont il escript en leurs croniques" (Letts: Mandeville's Travels II [wie Anm. 21], S. 256). 28. Vgl. Letts: Mandeville's Travels II [wie Anm. 21], S. 389-393.

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der Kenntnis und Erfahrung des Fremden das Heimisch-Vertraute zu beurteilen weiB.29 Direkter Kritik enthiUt sich die erzahlende Instanz, bedient sich aber verschiedener Formen der Parallelsetzung und Kontrastierung des auf der Reise Erfahrenen und der Gegenwart des Erzahlers. So formuliert der agyptische Sultan im Gesprach mit Mandeville die Kritik an LebensfUhrung und religioser Praxis der europaischen Christen,30 und die Schilderung einer Insel im Reich des Priesters Johannes mutet wie eine Parodie auf christliche Glaubensinhalte an. 31 Die Bedeutung der Erzahler-Instanz ist schlieBlich auch den zahlreichen Vor- und Riickverweisen, Resiimees, brevitas-Topoi sowie den direkten Versuchen zu entnehmen, Leser zu gewinnen und andere auszugrenzen, indem Welterfahrenheit vorausgesetzt wird. 32 Das Erzahler-Ich gewinnt kaum individuelle Konturen, 29. Vgl. dazu Douglas R. Butturff: Satire in Mandeville's Travels. In: Annuale Medievale 13 (1972), S. 155-164. Butturff verabsolutiert diese Perspektive allerdings dort, wo sie als universeller SchlUssel zur Deutung der Gesamtkonzeption des Werkes fungieren soli: "All of the narrator's inventions and ideas were thus determined by a formal principle - to teach virtue by an attack on vice through a via diversa" (S. 164). 30. Vgl. Letts: Mandeville's Travels II [wie Anm. 21], S. 305-307; zur Tradition vgl. auch Eric. J. Morrall: Der Islam und Muhammad im spaten Mittelalter. Beobachtungen zu Michel Velsers Mandeville-Obersetzung und Michael Chris tans Version der 'Epistola ad Mahumetem' des Papst Pius II. In: GeschichtsbewuBtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tiibinger Colloquium 1983. Hrsg. v. Christoph Gerhardt, Nigel F. Palmer u. Burghart Wachinger. Tiibingen 1985, S. 147-161, hier S.149.

31. Der Sohn erweist hier dem verstorbenen Vater dadurch eine besondere Ehre, daB er den Leichnam - begleitet von allen Freunden und vom Gesang der Priester - auf den hOchsten Berg tragt und ihn dort in Stucke haut, damit die Vogel, die eigentlich Engel sind, den Verstorbenen leichter in den Himmel iiberfiihren konnen. Der Grad der Heiligkeit eines Menschen UtBt sich an der Zahl der am Transport beteiligten Vogel ermessen, vgl. Letts: Mandeville's Travels II [wie Anm. 21], S. 408. 32. "Mais pour ce que pluseurs entendent mieulx rommant que latin, ie lay mis en rommant, par quoy que chascun lentende, et que les seigneurs et les cheualiers et les aut res nobles hommes qui ne sceuent

369

"sondern erscheint primar als personaler Bezugspunkt der von ihm erfaBten"33 Quellenmaterialien. Es entsteht aber ein kreatives Spannungsfeld zwischen dem aus der Wegstruktur sich herleitenden Erzahlprinzip der Addition und dem Erzahlprinzip erzahlerischer Assoziation, das sich vor aHem in den Exkursen realisiert insbesondere dann, wenn zugleich das Postulat der brevitas zur Geltung gebracht wird. 3.

Der literarische Umgang mit traditioneHen Beschreibungsmustern des Fremden

Durch die Bindung an literarisch vermittelte Wissenstraditionen wird das Fremde in der Mehrzahl spatmittelalterlicher Reisebeschreibungen als antithetische Kategorie dargestellt;34 insofern bleibt es bezogen auf die eigene Lebens- und Erfahrungswelt als eine point de latin ou pou, qui ont este oultre mer, sachent et entendent se ie dy voir ou non", Letts: Mandeville's Travels II [wie Anm. 21], S. 231. 33. Horst Wenzel: Zu den Anfangen der volkssprachigen Autobiographie im spliten Mittelalter. In: Daphnis 13 (1984), S. 59-75, hier S. 66. 34. Ein duales Grundmuster, das in asymmetrischen Begriffsbildungen wie 'Christen und Heiden', 'Glliubige und Unglliubige' greifbar wird, kennzeichnet wohl die Mehrzahl der splitmittelalterlichen Reisebeschreibungen, vgl. Michael Harbsmeier: Reisebeschreibungen als mentalitlitsgeschichtliche Quellen. Uberlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung Criihneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen. In: Antoni Maczak, Hans J. Teuteberg (Hrsg.): Reiseberichte als Quellen europaischer Kulturgeschichte. AuCgaben und Moglichkeiten der historischen ReiseCorschung. WolCenbuttel 1982 (= WolCenbutteler Forschungen 21), S. 1-31, hier S. 3 C., und die dort zitierte Literatur. Zur Dialektik von Fremdem und Eigenem vgl. auch Peter J. Brenner: Die ErCahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer WahrnehmungsCorm in der Geschichte des Reiseberichts. In: Peter J. Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. FrankCurt/M. 1989, S. 14-49, und Helmut Brall: Imaginationen des Fremden. Zu Formen und Dynamik kultureller Identitatsfindung in der hOfischen Dichtung. In: Gert Kaiser (Hrsg.): An den Grenzen hofischer Kultur. AnCechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erziihldichtung des hohen Mittelalters. Munchen 1991 (= Forschungen zur Geschichte der alteren deutschen Literatur 12), S. 115-165.

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korrespondierende Vorstellung sozialer oder politischer Ordnung, als Erfiillung oder Negation eigener Wunsch- und Schreckensbilder. Das bewuBte Durchbrechen des durch die Kenntnis der literarischen Tradition, iiberlieferter TopoibesHinde und Motivkanons geformten Erwartungshorizontes ist daher fiir die Darstellungsintention des Autors besonders aufschluBreich. Allerdings setzt dieses erzahltechnische Verfahren dem Autor und seinem Publikum gemeinsame literarische Erfahrungen und Kenntnisse voraus. Auch der Erzahler Mandeville arrangiert seinen Stoffvorwiegend nach dem Grundmuster des Hier und Dort. Dies schlieBt die satirischen Passagen ein, in denen zwar die Verhaltnisse umgekehrt werden, deren kalkulierte Wirkung jedoch darauf beruht, daB das duale Grundmuster erkennbar bleibt. Auf der Ebene der religionskundlichen Informationen, die der Text bietet, korrespondierten Mandevilles Ausfiihrungen zu den Glaubensformen aus dem bekannten und dem unbekannten Teil der Welt sicher nicht mehr mit den Erwartungen des GroBteils seines Publikums. So sind be ispielsweise die Ausfiihrungen iiber den Glauben der Sarazenen nicht an der breiten Tradition antiislamischer Polemik orientiert. Durch gezielte Quellenselektion legt er den entsprechenden Passagen den Tractatus de statu Saracenorum des Wilhelm von Tripoli zugrunde; dieser Text gilt als eines der wenigen Beispiele einer relativ unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit dem Islam. 35 Mandevilles Erzahlhaltung gegeniiber dem Glauben der Unglaubigen kollidierte insofern mit ideologischen Leitvorstellungen, die die literarische Tradition iiberwiegend vermittelte. Unvoreingenommenheit kennzeichnet auch die Ausfiihrungen zu zahlreichen 'exotischen' Glaubensformen, religiosen Riten und Gebrauchen, insbesondere die Vorstellung eines 'Gottes der Natur', einer natiirlichen Vernunft, die noch den fremdartigsten und aus westlicher Sicht abstoBendsten Glaubensformen eigen sei. 36 Der zuriickhaltend formulierte Nachweis des Verbindenden zwischen den Religionen birgt durchaus ein kritisches Potential; dies do35. Vgl. dazu Morrall: Der Islam und Muhammad im spaten Mittelalter [wie Anm. 30]. 36. "Car il dient quil est Ie Dieu de nature qui fist toutes choses ... " (Letts: Mandeville's Travels II rwie Anm. 21]. S. 323).

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kumentiert der Fall eines Muliers im Italien des 16. lahrhunderts, den die Inquisition hinriehtete, weil er sieh gerade in diesem Punkt auf Mandeville berufen hatte. 37 Die im Text angelegte Mogliehkeit des In-Beziehung-Setzens der Darstellung zur eigenen Gegenwart wird hier in ihrer auBersten Konsequenz deutlieh. Der Autor wahlt bewuBt nieht die zu erwartende damonisierende Darstellung des Fremden. Der Bezug zur eigenen Lebenswelt ergibt sieh dureh die d.istanzierte und abwagende Sehilderung sehr viel unvermittelter. Aueh Mandeville verziehtet nieht auf die mirabilia des Ostens als einem festen Bestandteil der Orientberichte. In der Versehrankung von Wunderbarem und Erfahrbarem gestaltet er ein ganzes Spektrum von Wunsehprojektionen und Sehreekensvisionen, dessen Phantastik bei weitem das wissensehaftlieh Akzeptierte sprengt. Das Portrat fremder Volker und Gebrauehe ftihrt jedoeh nieht zu einer unkontrollierten Dominanz des Phantastisehen und Fabelhaften,38 sondern zur erzahlerisch kalkulierten Distanznahme und Relativierung der eigenen Gesellschaftsordnung, gerat teilweise zu einem Spiegel verlorener Werte und erwtinschter Lebensformen. Literarisehe Ambitionen leiten aueh den Umgang mit geographisch-kosmographischem Wissen. Urn die Mitte des 14. lahrhunderts war die Kugelgestalt der Erde zwar nieht allgemein, wohl aber gebildeten Kreisen bekannt. Diesem empirisch nieht gesicherten 37. Vgl. Carlo Ginzburg: Der Kase und die WOrmer. Die Welt eines MulIers urn 1600. Aus dem Italienischen von Karl F. Hauber. Frankfurt/M. 1983, S. 79-81. 38. Die von Werner Rocke (Die Wahrheit der Wunder. Abenteuer der Erfahrung und des Erzahlens im 'Brandan'- und 'Apollonius'-Roman. In: Thomas Cramer (Hrsg.): Wege in die Neuzeit. Munchen 1988 (=Forschungen zur Geschichte der alteren deutschen Literatur 8), S. 252-269, hier S. 262 f.) etwa fUr den Apollonius des Heinrich von Neustadt als Folge einer Losung der Wunderwelt aus der heilsgesehichtlichen Ordnung konstatierten "groteskesten Uberzeichnungen der Wunderfiguren, [die] zu hoehst bedrohlichen Bildern einer Obermachtigen und nicht mehr kontrollierbaren Naturgewalt, aber auch zur Mischung der unterschiedlichsten Darstellungsmuster" fUhren, finden sich im Mandeville-Text so nieht, wenngleich die Reisen ebenfalls eine komplexe Gattungsmischung bieten. Mit der Vorstellung eines 'Gottes der Natur' scheint aueh ein neuer Zusammenhalt der heterogenen Erscheinungsformen der mirabilia des Ostens intendiert zu sein.

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Wissen versehaffte Mandeville eine literarisehe RealiUit: Der Erzahler beriehtet, er habe in seiner Jugend von einem Mann gehort, der in Riehtung Sonnenaufgang gefahren und auf einer Insel gelandet sei, auf der ihm Spraehe und Landsehaft vertraut waren. Da er nieht erkannte, wo er sieh befand, umsegelte er die Erdkugel wiederum, bis er sehlieBlieh erneut seine Heimat erreiehte. 39 4.

Die Anbindung des Erzahlten an literarisehe Traditionen

Zahlreiche Exkurse bieten dem Leser Erzahlelemente - Fabeln, My then , Legenden, Mirakelberiehte, Kuriositatensehilderungen - , die aueh aus literarisehen Traditionen (Alexander- und Trojastoffkreis, Herzog Ernst u.a.) bekannt sind; die Quellen dieser Textteile werden aber nieht explizit benannt. 40 Argumentativer Bestandteil des Textes sind dariiber hinaus Verweise auf antike, biblisehe, historische und literarisehe Namen, die als "Stellvertreter einer ganzen Erzahlung"41 Symbolfunktion besitzen; sie fungieren als eine Art Rezeptionslenkung von seiten des 39. Vgl. Letts: Mandeville's Travels II [wie Anm. 21], S. 333 f. 40. Vgl. die oben Anm. 8 erwahnten Untersuchungen zu den Quellen des Werkes. 41. Heimo Reinitzer: Zur Erzahlfunktion der 'Crone' Heinrichs von dem Turlin. Ober literarische Exempelfiguren. In: Osterreichische Literatur zur Zeit der Babenberger. Vortdige der Lilienfelder Tagung 1976. Hrsg. v. Alfred Ebenbauer, Fritz P. Knapp, Ingrid Strasser. Wien 1977 (= Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 10), S. 177-198, hier S. 179. Zur Praxis des Verweisens auf literarische Beispielfiguren vgl. auch Christoph Cormeau: 'Wigalois' und 'Diu Crone'. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans. Munchen 1977 (= Mtinchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 57), S. 165-208; Peter Strohschneider: Ritterromantische Versepik im ausgehenden MittelaIter. Studien zu einer funktionsgeschichtlichen Textinterpretation der »Morincc Hermanns von Sachsenheim sowie zu Ulrich Fuetrers »Persibein« und Maximilians I. »Teuerdankc(. Frankfurt/M. [u.a.] 1986 (= Mikrokosmos 14), S. 264 ff.; Albrecht Juergens: 'Wilhelm von Osterreich'. Johanns von Wurzburg 'Historia Poetica' von 1314 und Aufgabenstellungen einer narrativen Furstenlehre. Frankfurt/M. [u.a.] 1990 (= Mikrokosmos 21), S. 262 ff.

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Autors. 1m ersten Teil der Erzablung, der lerusalemfahrt, uberwiegen die bekannten und aus den Werken dieser Gattung vertrauten Namen biblischen Ursprungs (David, Abel, Kain etc.). 1m zweiten Teil, der Asienreise, treten die biblischen Exempelfiguren zuruck. Ihre Funktion ubernehmen vor aHem zwei Herrschergestalten, die sowohl auf antike und mittelalterliche Dichtungstraditionen als auch auf historische oder pseudohistorische Zusammenhange verweisen. So hebt der Erzabler Alexanders Qualitaten als Eroberer hervor, demonstriert an ihm aber auch die AnmaBung unumschrankter Weltherrschaft - beispielsweise in der ubernommenen Brahmanen- und Gymnosophisten-Episode. 42 Das Reich des Priesterkonigs Johannes gilt als real existierender Ort, den der Ich-Erzahler aufsucht, der Priesterkonig selbst daruber hinaus aber auch als Ideal und Verkorperung des vorbildlichen christlichen Herrschers in Indien. 43 Der Redaktor der Lutticher Version, also der Vorlage fUr Diemeringens Ubersetzung, hatte eine unubersehbare Vorliebe fUr den Chanson de geste-Stoff des Ogier von Danemark - ein Emporerepos, in dem der Vasall gegen den ungerechten Konig 42. Zu diesem Dialog, den Alexander der GroBe mit den Gymnosophisten oder Brahmanen gefiihrt haben soli, vgl. Karl Stackmann: Die Gymnosophisten-Episode in deutschen Alexander-Erzahlungen des Mittelalters. In: Beitriige zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tub.) 105 (1983), S. 331-354; Hartmut Kugler: Das Streitgesprach zwischen 'Zivilisierten' und 'Wilden'. Argumentationsweisen vor und nach der Entdeckung der Neuen Welt. In: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hrsg. v. Franz-Josef Worstbrock und Helmut Koopmann. Tiibingen 1986 (= Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Gottingen 1985.Bd. 2), S. 64-72. 43. Zur breiten literarischen Tradition vgl. Dietrich Huschenbett: Priesterkonig Johannes. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., vollig neu bearbeitete Aufl. hrsg. v. Kurt Ruh [u.a.]. Bd. 7. Berlin, New York 1989, Sp. 828-842; Ulrich Knefelkamp: Die Suche nach dem Reich des Priesterkonigs Johannes. Dargestellt anhand von Reiseberichten und anderen ethnographischen Quellen des 12. bis 17. Jahrhunderts. Gelsenkirchen 1986; in Zukunft vgl. auch die Dissertation von Bettina Wagner, M.A., Sonderforschungsbereich 226, Wiirzburgl Eichstiitt.

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opponiert. 44 Doch nicht der Konflikt zwischen Ogier und Karl dem GroBen steht in den zahlreichen Erzahleinschtiben dieser Textfassung im Vordergrund, sondern es wird vorrangig auf Ogiers Leistungen im Heidenkrieg abgehoben, durch die der "rebellische Vasall wieder in die Feudalgesellschaft aufgenommen"45 werden kann. Der Erzahler berichtet von Ogiers Eroberungen und Grtindungen im Heiligen Land und in Asien, erwahnt aber auch Genealogie und Geschichte dieses karolingischen HeIden, so daB der genuine Erzahlzusammenhang der Textelemente im Epos durchaus erkennbar war. 46 Die Erzahlfunktion des Herbeiholens von Symbolfiguren liegt in der Anreicherung der Darstellung durch verschiedene Stofftraditionen und historische Zusammenhange sowie der assoziativen Verbindung zu unterschiedlichen Wissensbestanden. Mogliche Problematisierungen gegentiber den durch die Leitfiguren verkorperten Wertorientierungen und Normen sind kaum greifbar. Gerade durch die pseudohistorisch-literarischen Leitfiguren wird ein Ideal des untibertrefflichen, weitgereisten, in der Herrschaftsgewinnung und -austibung vorbildlichen HeIden stilisiert. In gewisser Weise verliert die Fremde durch das Wirken dieser dem Publikum bekannten HeIden z.T. auch ihre Unwirtlichkeit; sie wird in aus der Literatur und Historiographie vertrauten Herrschaftsgefiigen lokalisierbar. Diese Darstellungsmittel, durch die der Autor den kompilierten Stoff strukturiert, sind zwar nicht neu, insofern man sie vorher nicht kannte; durch ihren bewuBten Einsatz fUr die Komposition einer 44. Zur Rezeption der afro Chanson de geste Of(ier Ie danois vgl. Danielle Buschinger: Rezeption der Chanson de geste im Spatmittelalter. In: Chansons de geste in Deutschland. Schweinfurter Kolloquium 1988. Hrsg. v. Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe. Berlin 1989 (= Wolfram-Studien XI), S. 86-106, hier S. 101-105. 45. Buschinger: Rezeption der Chanson de geste im SpatmittelaIter [wie Anm. 44], S. 103. 46. Zu diesen Interpolationen vgl. vor aHem de Poerck: Le Corpus Mandevillien du Ms Chantilly 699 [wie Anm. 2]; de Kock: Quelques copies aberrantes des «Voyages» de Jean de Mandeville [wie Anm. 2]; Ridder: Jean de Mandevilles 'Reisen' rwie Anm. 21, S. 156-159, 168 f., 179-185, 236-240.

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volkssprachlichen fiktiven Reiseerzahlung urn die Mitte des 14. Jahrhunderts besitzen sie jedoch in"novativen Charakter. Dem Autor ist nur bedingt eine Tauschungsabsicht zu unterstellen; der Text selbst offeriert Moglichkeiten, die Fiktion zu entlarven. 47 II.

Die Ubertragung Ottos von Diemeringen: Entstehungssituation und Ubersetzungsintention

UiBt sich die Person Jean de Mandeville auch als literarische Realisierung des erzahlenden lchs deuten, so ist Otto von Diemeringen historisch gut faBbar. 48 Vermutlich entstammt er einem im Metzer und StraBburger Raum belegten Ministerialengeschlecht, dessen Anfange im Sitz der gleichnamigen Herrschaft liegen. Mit Beginn des 14. Jahrhunderts ist dann auch ein StraBburger Patriziergeschlecht dieses Namens nachweisbar. In seiner Funktion als Metzer Kanoniker erwahnen ihn die Kapitelprotokolle von 1367/68 bis zu seinem Tode 1398 kontinuierlich, so daB er sich wohl vorwiegend in der Stadt aufhielt. Sein Name erscheint femer in den 47. Allerdings muB auch Hder Verzicht auf die EntbloBung noch nicht einmal einer Tliuschungsabsicht entspringen", Wolfgang !seT: Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? In: Funktionen des Fiktiven, hrsg. v. Dieter Henrich und Wolfgang Iser. Munchen 1983 (= Poetik und Hermeneutik X), S.121-151, bier S. 136. Ein deutliches Fiktionssignal ist beispielsweise in dem Faktum zu sehen, daB der Erzlihler im ersten Werkteil von verschiedenen Ausgangspunkten zwar mehrere mogliche Reiserouten beschreibt, die von ihm selbst eingeschlagene aber nicht benennt. Von einem gefahrlichen und strapaziosen Weg, dem Landweg nach Jerusalem, behauptet er, daB er ihn nie gezogen sei (vgl. Letts: Mandeville's Travels II [wie Anm. 21], S. 301); den glingigen Seeweg (Venedig/Genua, Jaffa) erwahnt er dagegen eher beilliufig. Auch Huschenbett (Von landen undynselen [wie Anm. 25], S. 194) geht davon aus, daB Mandevilles Wegbeschreibungen das Werk kaum als Reisefiihrer empfehlen. 48. Zum Obersetzer und seinem historischen Umfeld, zur QueIle, Bearbeitungsrichtung und Rezeption der Obersetzung vgl. Ridder: Jean de Mandevilles 'Reisen' [wie Anm. 2]. Auf den Nachweis von QueIlenbelegen wird im folgenden verzichtet, aIle Angaben finden sich in der genannten Untersuchung.

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Supplikenregistern der romischen und avignonesischen Papste: Otto bewarb sich - wahrscheinlich vergeblich - urn ein wei teres Kanonikat in ChaIons-s.-M. und in StraBburg. Die Quellen be richten von seiner Beteiligung an kirchenpolitischen Aktivitaten des Metzer Kapitels wah rend des GroBen abendHindischen Schismas, von finanziellen Transaktionen, auch von personlichen Verstrickungen. 49 Er studierte in Paris und erwarb den akademischen Grad eines "magister in artibus". Vermutlich beherrschte er die lateinische Sprache, wenn auch die Angabe im Prolog seines Textes nicht zutrifft, er habe sowohl aus dem Franzosischen als auch aus dem Lateinischen iibersetzt. Eventuell lernte Diemeringen das Werk Mandevilles wahrend seiner Pariser Studienzeit kennen. Hier zirkulierten Abschriften in Kreisen der Universitat, die enge Kontakte zur franzosischen Hocharistokratie und zum Konigshofunterhielten. Ihn beeinfluBte unter Umstanden die yom franzosischen Konig Karl V. am Pariser Hof in Verbindung mit fiihrenden Gelehrten der Universitat verfolgte Ubersetzungspolitik. Diemeringens QueUe war eine Handschrift der erwahnten Liitticher Textfassung. Die lokalhistorisch gefarbten Passagen dieser Version, die Liittich als den Ort der Niederschrift des Werkes bezeichnet, greift der Ubersetzer nicht auf. Die diese Redaktion weiterhin kennzeichnenden Textelemente aus der Chanson de gesteTradition, mit denen Ogier der Dane in das Werk eingeschleust wird, iibersetzt Diemeringen nicht nur, sondern er weitet sie sogar noch aus - entweder auf der Grundlage weiterer sekundarer Quellen oder aus der Kenntnis ihres urspriinglichen epischen Zusammenhangs. Die deutsche Ubersetzung intensiviert so mit weiterhin die bereits durch die Quelle vorgegebene, offenbar publikumswirksame Verkniipfung mit einer literarischen Tradition. Fiir welches Publikum iibersetzte Otto von Diemeringen das Werk Mandevilles und wie veranderte er den Text mit Blick auf den anderen Kulturraum? Eine nahere Bestimmung des primaren geographischen Funktionsraumes der Ubersetzung bereitet ebenso Schwierigkeiten wie 49. Durch Umgang mit einer Frau und seine nicht angemessene Kleidung hatte er sich kompromittiert und wurde zu 14 Tagen Karzer verurteilt.

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eine standische oder soziologische Eingrenzung ihres Publikums. Man darf annehmen, daB es in Metz ein breiteres literarisch interessiertes .Publikum deutscher Sprache in der zweiten Halfte des 14. lahrhunderts nicht gab; dennoch war der sprachliche Transfer an der deutsch-franzosischen Sprachgrenze ein fester Bestandteil administrativer und okonomischer Kommunikation. Ein deutschsprachiger literarischer EinfluB ist aber zu dieser Zeit weder fUr Metz noch insgesamt fUr das Herzogtum Lothringen nachweisbar. Die kulturellen Beziehungen Lothringens konzentrierten sich im 14. lahrhundert auf das Zentrum Paris, das seit der lahrhundertmitte eine neue Bltite erfuhr. In Metz dominierte als Literatursprache neben dem Lateinischen das Franzosische. 1m Prolog der Ubertragung wendet sich der Ubersetzer nicht an einen begrenzten Publikumskreis, sondern der Adressatenbezug ist unbestimmt. Diemeringen formuliert, er habe das Werk zu einer "ergotzunge aller tutschen die gerne fromede sachen lesen wellent"50 ubersetzt. Eine weitere AuBerung im Prolog zielt auf potentielle Rezipienten: Der Ubersetzer hebt hervor, daB sowohl ehrbare Ritter und Knechte als auch Kaufleute das Werk fUr authentisch hielten. 51 Das Publikum bleibt auch hier als stadtischburgerliches und adliges we it gefaBt. Wenn Metz als primarer Funktionsraum des Textes weitgehend auszuschlieBen ist, so fallt der Blick auf StraSburg als dem nachstge•..;genen kulturellen Zentrum, in dem es ein Publikum fUr die Ubersetzung gab. Das Zeugnis der fruhen Uberlieferung und die Existenz des Patrizier50. Zitiert wird die Ubersetzung im folgenden nach der Handschrift Berlin, Staatsbibliothek PreuBischer Kulturbesitz, mgf 205 (Sigle: Bl), hier Bl. Fa. Dieser Textzeuge wird der in Vorbereitung befmdlichen uberlieferungskritischen Edition der Ubersetzung als Leithandschrift zugrunde gelegt. 51. "vnd vnder allen den die ye lande durch varen hant so Iyset man liltzel von keyme der von froimden landen alse vii gesehen habe als ein ritter der dis bach z& latine vnd z& weltsche geschriben hat von villanden vnd .wand mich duncket daz es niht vnnutzelich nach sime tode nuwelinges z& Paris z& brucke jn Engelland vnd anderswo von erbern rittern vnd knehten vnd koufhiten vur war gehalten ist vnd gen Brucke von xviij kungrichen kouflute koment vnd yglicher dis bach gerne horte so han ich es von latine vnd von weltsche z& tiitsche bezogen", BI, Bl. Ira.

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geschlechts der Diemeringen in der elsassischen Metropole stutzen diese Vermutung. Diemeringen auBert sich nicht theoretisch zu seiner Ubersetzungsmethode. UbersetzerbewuBtsein ist bei ihm in erster Linie VermittlerbewuBtsein, das weniger dem Bemuhen urn Substanztreue gegenuber der Vorlage als einer publikumsgerechten DarsteUung entsprechen will. Er bevorzugt keinen der spatmittelalterlichen Ubersetzungsstile, sondern ubersetzt interpretierend-selektiv; die zugrunde liegenden Kriterien sind erst teilweise rekonstruierbar. 1m Prolog betont er die Neuheit S2 und Nutzlichkeit des Werkes;5J evtl. schlieBen sich hier die feststellbaren pragmatischsystematisierenden Bearbeitungstendenzen an. So laBt die von ihm neuformulierte Vorrede, die er statt des Autor-Vorwortes dem Text voranstellt, an rhetorisch-grammatische Anweisungen denken, wie sie aus der rhetorischen Schulung bekannt sind. Nach qer einleitenden Bemerkung zu seiner Person folgt eine knappe Inhaltsubersicht und ein detailliertes Kapitelregister; ein zweiter Teil beginnt mit 52. Dieses Argument fiihrt eben falls Jakob Twinger, der erste nachweisbare Besitzer der altesten Diemeringen-Handschrift (Bl), in der Vorrede seiner StrajJburger Chronik an, wo er die Wahl der Volkssprache fur seine Darstellung begrundet; fUr neue volkssprachliche Werke sei das Publikum eher aufgeschlossen, an solchen - gerade auch an Reisebeschreibungen - mangele es aber: "ouch hant die menschen me lustes zfi lesende von nuwen dingen denne von aiten, und ist doch von den striten, reysen und andern nenhaftigen dingen die bi nuwen ziten sint geschehen al1er minnest geschriben", Carl von Hegel (Hrsg.): Die Chroniken der oberrheinischen Stadte. StraBburg. Bd. I. Leipzig 1870 (= Die Chroniken der deutschen SHidte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert VIII) (Nachdruck: Gottingen 1961; als 2. unverand. Aufl.), S. 230; vgl. dazu auch Heinrich Schoppmeyer: Zur Chronik des Strallburgers Jakob Twinger von Konigshofen. In: Dieter Berg, Hans-Werner Goetz (Hrsg.): Historiographia Mediaevalis. Studien zur Geschichtsschreibung und Quellenkunde des Mittelalters. Festschrift fUr Franz-Josef Schmale zum 65. Geburtstag. Darmstadt 1988. S. 283-299, hier S. 284. Zur Neuheitsforderung in der Literatur seit der ersten Halfte des 13. Jh.s vgl. Dieter Kartschoke: Nihil sub sole novum? Zur Auslegungsgeschichte von Eccl. 1,10. In: Geschichtsbewulltsein in der deutschen Literatur des Mittelalters [wie Anm. 30]. S. 175-188, bes. S. 184 ff. 53. Vgl. oben Anm. 51 das Zital.

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allgemeinen Uberlegungen zur Problematik des Reisens und zu den Motivationen, die zur Reise veranlassen; schlieBlich wird tiber die Wahrheitsproblematik reflektiert und mit der Darlegung der Ubersetzungsmotive zum Werk tibergeleitet. 54 Gegentiber der Quelle nimmt der Ubersetzer eine neue Bucheinteilung vor, womit er offenbar cine thematische Ordnung und Straffung des Stoffes anstrebt. Ein erstes Buch umfaBt den ganzen ersten Werkteil, die Jerusalemreise. Die Inselwelt, die Reiche des GroBkhans und des Priesters Johannes werden drei weiteren Btichern zugeordnet. Das fUnfte Buch ist eine systematische Zusammenfassung der verstreuten Berichte Mandevilles tiber christliche und nichtchristliche Glaubensformen. Die neue Strukturierung des Stoffes Hiuft teilweise auf eine Reorganisation des inhaltlichen Aufbaus der Vorlage hinaus. Eine Verpflichtung gegentiber dem Autortext steht fUr den Ubersetzer hier nicht mehr im Vordergrund, sondern er verfUgt in der Ubersetzung, die zur Textredaktion gerat, nahezu souvtran tiber das Werk Mandevilles. Diemeringens Aneignung formt den Text auf allen Ebenen deutlich urn; auf einige gravierende inhaltliche Veranderungen solI naher eingegangen werden. Schon die Einrichtung eines eigenen Buches fUr die Darstellung der verschiedenen Glaubensformen deutet auf ein besonderes religionskundliches Interesse. Es geht mit dem Bemtihen des Ubersetzers einher, die eher assoziativ eingeflossenen Exkurse Mandevilles zu systematisieren und dem Leser in einer geschlossenen Darstellung zu bieten. In diesem Konzept nimmt der Islam eine seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung entsprechende herausgehobene Stellung ein. Diemeringen eroffnet das fiinfte Buch mit einer thesenartigen Kurzdarstellung des Trennenden und Gemeinsamen zwischen Islam und Christentum; diese bietet gegentiber dem franzosischen Text inhaltlich zwar nichts Neues, findet sich dort aber so nicht. 55 Durch eine Hierarchisierung der Argumente ist allenfalls eine Nuancenverschiebung erkennbar, die gegenuber Mandevilles Position die Unterschiede des Christentums zum Islam betont. Mandevilles Schilderungen der heidnischen Naturreligionen 54. Vgl. BI, Bl. F-F. _ 55. Vgl. BI, Bl. 66vb-67 ra •

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ubersetzt Diemeringen nur resumierend. Die Auffassung des Autors, daB noch in den fremdartigsten Erscheinungsformen des Religiosen der Glaube an den einen 'Gott der Natur' sichtbar werde, in dem gleichzeitig das verbindende Element zum westlichen Christen tum gegeben sei, sieht Otto aber durchaus und hebt sie hervor.56 Mandevilles AusfUhrungen zur Kugelgestalt der Erde ubergeht der deutsche Ubersetzer und setzt ihnen die Lehre von Jerusalem als dem geographischen Mittelpunkt der Welt entgegen. Es liegt nahe, eine ErkUirung im normativen Charakter dieser konzentrischen Weltsicht zu suchen; deren religiose Verbindlichkeit stellt die Behauptung in Frage, die Grenzen des orbis terrarum seien uberschreitbar und die Erde sei zu umfahren. 57 Die von Ogier von Danemark berichtenden Erzahlpassagen der Vorlage weitet Diemeringen - wie erwahnt - sogar noch aus. In diesem Zusammenhang flieBen weitere Namen wie Roland und Olivier aus dem Umkreis Karls des GroBen ein;58 dadurch bezieht sich die Ubersetzung noch weiter auf literarische Traditionen. Dominante weitgereiste Herrschergestalten, Heidenkampf und Orientschilderungen sind Beruhrungspunkte zwischen Mandevilles Reiseerzahlung und der Stofftradition der Chanson de geste, die weiterhin faszinierte. DaB der Obersetzer die Reisen urn weitere Erzahlsplitter aus dieser Tradition anreichert, konnte bereits auf ein Interesse deuten, dem auch die spate Rezeption franzosischer Chansons de geste im deutschen Sprachraum zu verdanken ist. Besonders die Ubersetzungen der Elisabeth von Nassau-Saar56. "Doch ist vber die aile der oberste got von naturen von dem die andern aile ir kraft hant Darumb sint die andern die niht wand einen got von naturen hal tent vnd an den gloubent vnd dez vnmessige kraft sich in allen "creaturen erzouget vnd der git der selen tugent vnd kraft verstentnusse vnd sinne vnd wesen Der gibet ouch dern gestirne vnd dern gecrute vnd aller fruhte vnd den Elernenten vnd hyrnel vnd erden ir wesen vnd ir kraft", BI, BI. 69 rb. 57. Vgl. BI, BI. 4I va -b• 58. "vnd was daz zti den geziten do der selbe kung karle jn pilgerins wise waz gefarn zfi dern heiligen grabe vnd warent mit yrne ... Oiger von Dennernarke vnd Rollant vnd Olyvier vnd vii ander fUrsten vz franckenrich", BI, BI. 23\'1>.

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briicken erschlieBen diesen Stoffkreis im Prosaroman einem breiteren Publikum. 59 III. Rezeptionsinteresse und Gebrauchsfunktion Die literatursoziologische Untersuchung der Handschriften und Friihdrucke verdeutlichte, daB im Lauf der Uberlieferungsgeschichte ganz unterschiedliche Publikumskreise ein besonderes Interesse an der Ubersetzung hatten. 60 Dies hangt offenbar dam it zusammen, daB das Werk in verschiedenen literarischen Bezugssystemen gesehen und jeweils ein anderes in ihm aufgehobenes Deutungspotential aktualisiert wurde. In der ersten Phase der Oberlieferung steht StraBburg als Zentrum im Wirkungsraum des Textes; hier rezipieren vor aHem Weltgeistliche die Ubersetzung, u.a. auchder bekannte StraBburger Chronist Jakob Twinger von Konigshofen. Die soziale Schicht des Ubersetzers korrespondiert mit der ersten Rezipientenschicht; diese umfaBt aber jenen Personenkreis nicht, den sich Diemeringen als Publikum seiner Ubersetzung vorstellte: Ritter, Knechte und Kaufleute. In dem MaBe, wie der Text seinen Wirkungsradius ausweitet, vom ElsaB ausstrahlt und sich den Rheinlauf nordwarts verbreitet, lost er sich von seiner ersten Publikumsschicht. Auffallig ist, daB in der zweiten Uberlieferungsphase der landesfiirstliche und hohe Adel als dominierende Tragerschicht nachweis bar ist. Besonders im mittel- und rheinfrankischen Raum, urn das Literaturzentrum Manderscheid-Blankenheim und im Siidrheinfrankischen urn den Heidelberger Hofwird der Text intensiv gelesen und vervielrliltigt. Welches Interesse hatte der hohe Adel als traditioneHe Tragerschicht volkssprachiger Literatur an diesem Text? Offenbar galt die 59. Zu diesem Problemkreis vgl. Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe (Hrsg.): Chansons de geste in Deutschland. Schweinfurter Kolloquium 1988. Berlin 1989 (= Wolfram-Studien XI), insbesondere den Beitrag von Jan-Dirk Muller: Spate Chanson de gesteRezeption und Landesgeschichte. Zu den Ubersetzungen der Elisabeth von Nassau-Saarbrucken (S. 206-226). 60. Vgl. die Dokumentation und uberlieferungsgeschichtliche Analyse der handschriftlichen und gedruckten Uberlieferung bei Ridder: Jean de Mandevilles 'Reisen' [wie Anm. 2].

382 Reisebeschreibung Mandevilles in Diemeringens Obersetzung als ein geeignetes Ausdrucksmedium hochadligen Welt- und Selbstverstandnisses. Die schillernde Figur des Erzahlers Jean de Mandeville selbst, die pseudo-biographische Darstellungsform des Textes, die Aufnahme von Erzahlelementen urn Alexander, Karl den GroBen, Priester Johannes und weitere Protagonisten pseudo-historischer Stoffe laBt vermuten, daB man den Text in den Kreis der Literatur einbezog, mit der reprasentative und identifikatorische Funktionen verkntipft waren. Durch die zusatzliche Integration der Sagengestalt Ogiers des Danen aus der Chanson de geste-Tradition war die Diemeringen-Ubersetzung dazu besonders pradestiniert. Aussagen tiber das literarische BewuBtsein der Rezipienten lassen sich auch durch das Zeugnis der in den Handschriften mittiberlieferten Werke treffen. 61 Es besteht ein Zusammenhang zwischen der chronologischen und geographischen Entwicklung der Oberlieferung, den unterschiedlichen, teilweise sich ablosenden Rezipientenschichten und den Textsymbiosen in den Sammelhandschriften. So ist die Verbindung des Textes mit erbaulich-katechetischer Literatur besonders fUr die Handschriften der ersten Uberlieferungsphase in stadtisch-weltgeistlichem Umkreis charakteristisch; sie deutefauf eine Gebrauchsfunktion im Bereich geistlicher Erbauung und Unterweisung. Die Darstellung einer Pilgerreise ins Heilige Land

61. Zur Diemeringen-Mituberlieferung vgl. Ridder: Jean de Mandevilles 'Reisen' [wie Anm. 2], S.333-346; zur Mituberlieferung in den Handschriften der weiteren deutschen Mandeville-Obersetzungen vgl. Ernst Bremer: Studien zur Reiseliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts. Oberlieferungsgeschichtliche und erzahltheoretische Untersuchungen unter Berucksichtigung des Medienwechsels. Paderborn, Habilitationsschrift (masch.) 1987, S. 397-487; vgl. auch den Beitrag von Ernst Bremer in diesem Bande. Eine erste Analyse der gesamten MituberIieferung in den primaren Textfassungen und Obersetzungen durch Deluz (Le Livre de Jehan de Mandeville [wie Anm. I], S. 289) bestatigt, daB vor aHem im englischen und deutschen Sprachraum das Werk schon sehr fruh als ein literarisches gelesen wurde. Vorrangig laBt sich diese Rezeptionsrichtung fur die Lutticher Textfassung und die auf ihr basierenden Obersetzungen nachweisen.

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und die Beschreibung der heiligen SUitten interessierten hier besonders. 62 Die Sammelhandschriften, fUr die sich in der zweiten Uberlieferungsphase, ein adliger Bezugsrahmen im rheinfrankischen Raum nachweisen lieB, tradieren vorwiegend didaktisch-enzyklopadische Texte. Symptomatisch fUr ein solches Spektrum von Literatur ist ein Werk wie der Lucidarius. 63 Die Textcorpora in den Handschriften lassen vermuten, daB man das Werk als eine Art Enzyklopadie auffaBte, deren thematischer Schwerpunkt auf den Kenntnissen fremder Lander und Volker lag. 1m ostfrankisch-nordbairischen Raum konzentriert sich die bevorzugte Symbiose der Ubersetzung mit dem Troja- und Alexanderroman sowie mit chronikalischen Werken. Meister Babiloths Ubertragung des Alexanderromans wird iiberhaupt am haufigsten mit Diemeringens Text iiberliefert. 64 Die Auftraggeber dieses literarischen Programms diirften im Adel oder dem mit ihm verbundenen gehobenen Patriziat zu suchen sein. Nurnberg konnte als Verbreitungszentrum eine entscheidende Rolle gespielt haben. Das Uberlieferungsumfeld weist darauf hin, daB der Text hier eine Deutung in Richtung literarischer Adaptationen historist.:her Ereignisse erfahrt, in denen eine herausragende idealisierte Herr62. Bezeichnend fur diesen Typ ist die Textsammlung in der Handschrift Paris, Bibliotheque Nationale, Ms. allemand 150 (Suppl. fran~. 633), die eine Sammlung von MeB- und Eucharistietraktaten, weltlichen und geistlichen Lehrdichtungen, Gebeten, Predigten und eschatologischen Werken, aber auch einen Auszug aus Jakob Twingers Strapburger Chronik und eine Prosaubersetzung vom Brief des Priesters Joha!,nes uberliefert. 63. Gemeinsam mit Diemeringens Ubertragung uberliefem den Lucidarius die Handschriften: Lawrence, University of Kansas Libraries, Kenneth Spencer Research Library, Summerfield MS El5 (Fragment); Rom, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Cod. Rossiano 708; Trier, Stadtbibliothek, Hs. 1935/14324°. 64. Babiloths Alexander und Diemeringens Ubertragung tradieren die Handschriften: Coburg, Landesbibliothek, Ms. Sche. 16 (alte Signatur des Gymnasium Casimirianum: 8790); Gotha, Forschungsbjbliothek, Cod. Chart. A 26; St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 628; Strasbourg, Bibliotheque Nationale et Universitail'e, Ms. 2119 (fruher L germ. 195.2°); Wolfenbuttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. 32.8 Aug. 2°.

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sehergestalt im Mittelpunkt steht. Es iiberraseht nieht, daB Mandevilles Text aueh aus der Sieht der Erz3hlkomposition eine solche Deutung als personenbezogenes, auBergewohnliehes und historisehes Ereignis nahelegt. In seinen untersehiedliehen Rollen ist der Erzahler, der sieh als Ritter Jean de Mandeville bezeiehnet, im gesamten Werk so dominant, daB er schon friih die Diskrepanz in seiner Beurteilung als groBem Entdecker und groBem' Liigner provozierte. IV. Die Wirkung des Textes in anderen Werken Zahlreiehe Besehreibungen sowohl authentiseher als aueh imaginarer Reisen des 15. Jahrhunderts sind von Mandevilles Erzahlung beeinfluBt: beispielsweise das Reisebuch des Johannes Sehiltberger oder das Evagatorium des Dominikaners Felix Fabri. 65 Trotz der vor allem von humanistiseher Seite geauBerten Kritik an dergleiehen volksspraehigen fabelhaften Werken,66 fand Mandevilles Reise als historisehes Ereignis aueh Eingang in historiographisehe Texte, etwa in die Weltchronik Hartmann Sehedels. 67 In einer Reihe 65. Schiltberger rezipierte z.B. die sogenannte Sperberburg-Episode, vgl. Valentin Langmante1 (Hrsg.): Hans Schiltbergers Reisebuch. Nach der Nurnberger Handschrift. Tubingen 1885 (= Bibliothek des 1itterarischen Vereins in Stuttgart 172), S. 55 f. Zur Abhangigkeit Fabris von Mandeville vgl. Herbert Fei1ke: Felix Fabris Evagatorium uber seine Reise in das Heilige Land. Eine Untersuchung uber die Pi1gerliteratur des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt/M., Bern 1976 (= Europaische Hochschulschriften I, 155), S. 67 f. 66. S. oben Anm. 9. 67 Vgl. Schedelsche We1tchronik. Nachdruck der deutschen Ausgabe von 1493. Nachwort von Rudolf Portner. Dortmund 1978, BI. CCXXVllf. Das Verzeichnis der Bib1iothek Hartmann Schedels weist einen Mandeville-Text in seinem Besitz nach, vgl. Miuelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Hrsg. v. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Munchen. Bd. 111,3: Bistum Bamberg. Bearbeitet von Paul Ruf. Munchen 1939, S. 834; Richard Stauber: Die Schedelsche Bibliothek. Ein Beitrag zur Geschichte der Ausbreitung der italienischen Renaissance, des deutschen Humanismus und der medizinischen Literatur. Nach dem Tode des Verfassers hrsg. v. OUo Hartig. Freiburg i.

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von Werk~n wird der Autor selbst zu einer literarischen Symbolfigur stilisiert, die zwar keine hofischen oder heroischen Leitbilder verkorpert, wohl aber solche des Weit-gereist-Seins und des Allesgesehen-Habens. 68 Jakob Puterich von Reichertshausen gilt neben Wolfram von Eschenbach der Ritter Jean de Mandeville als Leitfigur gehobener adliger Existenz und die beschwerliche Reise zu seiner GrabsUitte als Ausdruck einer literarisch uberhohten Lebensweise. 69 Diese Sicht erhellt die Bedeutung, die dem Werk im Kanori der Literatur zugemessen wurde, uber die sich adlige Selbstdeutung mit Blick auf eine reprasentative Offentlichkeit vermittelte. Insbesondere in der Ubersetzung Dttos von Diemeringen bezog das Pub'likum des 15. Jahrhunderts Mandevilles Erzahlung in den Kreis der fruhen Prosaromane ein, in denen die Fiktion vorerst noch durch Anknupfung an die historische Uberlieferung gestutzt werden muBte. Die Verschrankung von naturkundlich-geographischem Wissen mit Erzahlelementen uber Phantasiewelten ist sowohl fUr die fruhen Prosahistorien als auch fUr die Reiseerzahlung Mandevilles konstitutiv. 70 Die Entlehnungen der fruhen Prosaromane aus dem Werk sind hier symptomatisch. Bekanntes Beispiel Breisgau 1908 (= Studien und Darstellungen aus dem Gebiete der Geschichte VI, 2-3), S. 137. 68. Vgl. Jan-Dirk Miiller: Curiositas und erfarung der Welt im fruhen deutschen Prosaroman. In: Literatur und Laienbildung im Spatmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbiittel 1981. Hrsg. v. Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann. Stuttgart 1984 (= Germanistische Symposien. Berichtsbande 5), S. 252-273, hier S. 258 f. 69. Piiterich gibt in seinem Ehrenbrief das Epitaph Jean de Mandevilles wieder, das er in Liittich selbst gesehen haben will (vgl. Der Ehrenbrief des Piiterich von Reichertshausen. Hrsg. v. Fritz Behrend u. Rudolf Wolkan. Gesellschaft der Bibliophilen. Weimar 1920 [mit Faksimileausgabe], Str. 133), und schildert ausfiihrlich die beschwerliche Reise zu seinem Grab (Str. 132). Voraus geht eine Darstellung seiner Reise zum Grab Wolframs von Eschenbach (Str. 127 f.). 70. Vgl. Muller: Curiositas und erfarung der Welt im friihen deutschen Prosaroman [wie Anm. 68], S. 253 ff.; ders.: VolksbuchlProsaroman im 15,/16. Jahrhundert - Perspektiven der Forschung. In: Internationales Archiv fiir SoziaIgeschichte der Literatur. Sonderheft 1. Forschungsreferate. Tiibingen 1985, S. 1-128, hier S. 88 ff.

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ist die sogenannte Sperberburg-Episode, die weitgehend auf den Autor selbst zuriickgeht und in die franzosischen Bearbeitungen des Melusinen-Stoffes iibernommen wurde. Durch die Obersetzung Thiirings von Ringoltingen gelangt die Erzahlung dann in die deutsche Romanprosa.7I Neben anderen Textpassagen iibernimmt sie ebenfalls der Autor des Fortunatus. Die Symbolfunktion der Reiseerzahlung verdeutIicht auch dieses Werk, insofern Mandeville hier, stellvertretend fUr die Gruppe der "mer bOcher", 72 dem Publikum zur weiteren Information iiber Indien und den Orient empfohlen wird. 7J 71. Jean d' Arras rezipierte die Erzahlung in seiner Bearbeitung des Melusinen-Stoffes, vgl. Louis Stouff (Hrsg.): Jean d'Arras, Melusine. Roman du Xlve siecle. Publie pour la premiere fois d'apres Ie manuscrit de la Bibliotheque de l'Arsenal avec les variantes des manuscrits de la Bibliotheque Nationale. Dijon 1932 (= Publications de l'Universite de Dijon, fasc. V), S. 301 fr., und auch Thuring von Ringoltingen ubernimmt sie in seiner Obersetzung des Versromans von Couldrette, vgl. Karin Schneider (Hrsg.): Thuring von RingoItingen, Melusine. Berlin 1958 (=Texte des spaten Mittelalters 9), S. 117,5-122,12. 72. Hans-Gert Roloff (Hrsg.): Fortunatus. Studienausgabe oach der Editio princeps von 1509. Mit Materialien zum Verstandnis des Textes. Stuttgart 1981. S. 107. Vgl. dazu auch Hannes Kastner: Fortunatus Peregrinator mundi. Welterfahrung und Selbsterkenntnis im ersten deutschen Prosaroman der Neuzeit. Freiburg 1990, S. 81 f. Auch Erhart Wameszhafft verweist 1477 in seiner Versfassung des Prosaberichts uber die Jerusalemreise GrafPhilipps d.A. von Katzenelnbogen auf Mandeville und Alexander als Inbegriff weitgereister Heiden, urn die Bewertung seines Erzahlgegenstandes und des eigenen literaTischen Unterfangens in eine bestimmte Richtung zu lenken; vgl. Silvia Schmitz: Die Pilgerreise Philipps d.A. von Katzenelnbogen in Prosa und Verso Untersuchungen zum dokumentarischen und panegyrischen Charakter spatmittelalterlicher Adelsliteratur. Munchen 1990 (= Forschungen zur Geschichte der alteren deutschen Literatur II), S. 260. 73. 1m 16. lahrhundert nimmt die Kritik am Wahrheitsgehalt der Reiseerzahlung deutlich zu (vgl. z.B. die Vorrede von Sebastian Francks Weltb&ch. Tubingen 1534), das Werk wird parodiert (vgl. Johannes Bolte (Hrsg.): Das Volksbuch vom Finkenritter. StraBburg, Christian Muller, c. 1560. Zwickau 1913 (= Zwickauer Facsimiledrucke 24), Bl. Aiir) und auBerhalb des engJisch- und deutschsprachigen Raumes zunachst nicht mehr gedruckt.

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Ais narrative Entfaltung sUbjektiver Lekture-Erlebnisse, die der Autor urn die Stationen einer Reise ins Heilige Land und in den Orient ausbreitet, bot Mandevilles Erzahlung ein reiehes Spektrum von Identifizierungs- und Deutungsmogliehkeiten. Allzu engen funktionalen Zuweisungen ersehlieBt sieh das Werk nieht. Die Kriterien der empirischen Wahrnehmungs- und ErfahrungsHihigkeit, an denen man den F ortschritt der Gattungsentwieklung in der Fruhen Neuzeit miBt, tragen nur wenig zu einer adaquaten Beurteilung bei. Naeh den MaBstaben einer subjektzentrierten Autonomieasthetik gibt es andererseits literarisehe Reiseberichte erst im 18. lahrhundert. 74 Mandevilles Erzahlung und ihre Rezeption fordern dazu heraus, den Begriff der Fiktionalitat gattungsgebunden neu zu bestimmen. 75 Das Werk wird kunftig bei der Analyse 74. So z.B. Joseph Strelka: Der literarische Reiseberieht. In: Jahrbueh fur Internationale Germanistik 3 (1971), S. 63-75; ders.: Der literarisehe Reiseberieht. In: Klaus Weissenberger (Hrsg.): Prosakunst ohne Erzahlen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa. Tubingen 1985, S.169-184. Kritiseh dazu Wolfgang Neuber: Zur Gattungspoetik des Reiseberiehts. Skizze einer historisehen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik. In: Peter J. Brenner (Hrsg.): Oer Reiseberieht. Die Entwieklung einer Gattung in der deutsehen Literatur. Frankfurt/M. 1989, S. 50-67, hier S. 50; Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutsehen Literatur. Ein Forsehungsuberbliek als Vorstudie zu einer Gattungsgesehiehte. Tubingen 1991 (= Internationales Arehiv fUr Sozialgesehiehte der Literatur. Sonderheft 2), S. 23. 75. Weitgehende Ubereinstimmung besteht sieher darin, daB die Kriterien 'fiktiv' vs. 'realitatsgereeht' als analytisehe Kategorien einer grundlegenden Neubestimmung des Fiktionsbegriffes fUr die spatmittelalterliehe Reiseliteratur nieht tauglieh sind (vgl. z.B. Gerhard Wolf: Die deutsehspraehigen Reiseberiehte des Spatmittelalters. In: Peter J. Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwieklung einer Gattung in Jer deutsehen Literatur. Frankfurt/M. 1989, S. 81-116, hier S. 82). Ferner ist in bezug auf diese Texte nieht von einer Totalitat der Struktur, sondern von einzelnen Bausteinen erziihlteehniseher sowie stoff- und motivgesehiehtlieher Segmente auszugehen. In ihrer Konkurrenz, additiyen Foige und weehselseitigen Auslegung bringen sie Fiktionalitat auf den Weg. Fiktionalitat ist somit in erster Linie als intentionaler Akt der Textorganisation zu verstehen, womit Isers Konzeption des Fiktiven als Ausgangspunkt einer Neuorientierung aufzugreifen ware (vgl. Iser: Akte des Fingierens [wie Anm. 47]).

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jenes Prozesses intensiver zu beriicksichtigen sein, in dem sich die Fiktion von der historischen Bindung zu losen beginnt. Als eine kompilatorische Mischung unterschiedlicher Wissensbestiinde beanspruchte es gleichwohl die AuthentiziHit gelebter Erfahrung; als Bericht einer Femreise entzog es sich aber historischer Verifikation; als strukturierte erzahlende Darstellung verselbstandigte es sich in literarischen Bezugssystemen. DaB Mandeville die Gunst des deutschen Publikums in einem solchen MaBe gewinnen konnte, war vielleicht weniger eine Frage der Leichtglaubigkeit der Leser als der literarischen Qualitat des Werkes und seiner Ubersetzungen.

Hannes Kastner DER ZWEIFELNDE ABT UND DIE MIRABILIA DESCRIPTA. BUCHWISSEN, ERFAHRUNG UND INSPIRATION IN DEN REISEVERSIONEN DER BRANDAN-LEGENDE Nisi videro, non credam (Joh. 20,25) Mirabilis Deus in sanctis suis. Ps. 68,36 u. Navigatio 19,30. Der irische Heilige mit Namen Brandan oder Brendan (altir. Brenaind), iiber dessen Leben und Legende der folgende Beitrag handelt, war im Mittelalter als Patron der Seefahrer und Schiffer nicht nur auf seiner Heimatinsel, sondern auch auf dem Kontinent iiberaus bekannt; in der Neuzeit hingegen war er weitgehend vergessen. Die Geschichte seiner einstmals so beriihmten Seefahrt iiber den Ozean zu den Inseln der Seligen war in unserem Jahrhundert fast nur noch ein Thema fUr Historiker und Literaturwissenschaftler, die sich mit mittelalterlichen Legenden beschaftigten. Ganz plotzlich und iiberraschend geriet der vergessene Heilige Mitte der siebziger Jahre in die Schlagzeilen der Weltpresse, und das Interesse an seiner Person und seiner Meerfahrt wachst sogar noch mit dem Naherriicken des im Jahr 1992 anstehenden 500. Jahrestages der Entdeckung Amerikas. Brandan namlich wird neuerdings unter Experten als der eigentliche Entdecker der Neuen Welt gehandelt. Die These, daB die "terra repromissionis sanctorum" Gods own country sei, daB also der irische Abt mit seinen Begleitern tausend Jahre vor Kolumbus jenseits des Atlantik gelandet sei, griindet auf den Schriften und Taten des britischen Historikers Tim Severin. Er ging davon aus, daB sich in den altirischen Schiffahrtsmarchen und besonders in den fabulosen Elementen der Brandan-Legende die Uberreste einer friihen irischen Seefahrertradition aufspiiren lassen, die auch groBe Meerfahrten ein-

390 schlieBen. Seiner Annahme versuchte er durch eine eigene Atlantikiiberquerung im Stile Brandans Glaubwiirdigkeit zu verleihen. Fiir diese Seefahrt in den Jahren 1976177 von leland iiber Island nach Neufundland benutztc cr cine '\;urragh", ein kleines, der Beschreibung der iiltesten Legendenfassung getreu nachgebautes Segelboot aus gegerbten Ochsenhauten, und trotz einiger Schwierigkeiten hatte er mit diesem Unternehmen Erfolg.l Die durch die VerOffentlichung seiner Reiseabenteuer erreichte neue Publizitat des alten Heiligen (vor allem natlirlich in Irland und auf den britischen Inseln), zeitigte ~ogar Auswirkungen in der groBen Politik: In der UNO-VoHversammlung im November 1982 hatte zunachst der islandische Botschafter unter Berufung auf Leif Eriksson und seine Wikingerfahrt zur Neuen Welt die spanischen Vorbereitungsplane fUr die Fiinfhundertjahrfeier der Entdeckung Amerikas zu behindern versucht. Das gleiche tat anschlieBend der irische Botschafter, der -- in Oberbietung seines isHindischen Kollegen - sich auf den hl.Brandan und seine Westfahrt berief. Mag dem neutralen Beobachter dieser Streit urn die Prioritatsanspriiche bei der Entdeckung Amerikas eher kurios anmuten, etwas wurde jedenfalls damit erreicht: Ocr im Mittelalter als wagemutiger Seefahrer gefeierte irische Abt Brandan und seine Legende 2 rtickten aus dem Dunkel der Geschichte wieder ins Licht gegenwartiger Offentlichkeit. . I. Zum Thema Brandan-Reise - Kolumbusfahrt vgl. H. Biedermann (Hg.): St.Brandanus, der irische Odysseus. 62 Tafeln aus dem Krumauer Biidercodex. Graz 1980, S. 5-18. G. Schreiber: Der irische Seeroman des Brandan. Ein Ausblick auf die Columbusreise. In: Festschrift fUr Franz Dornseiff, hg. v. Horst Kusch. Leipzig 1953, S. 274-290. Zum Nachvollzug der Brandan-Reise dun:h Tim Severin (er fuhr am 17. Mai - einen Tag nach St.Brandans-Day - von Tralee, dem angeblichen Geburtsort des Heiligen, mit 5 Begleitern tiber den Atlantik) vgl. T. Severin: The Brendan Voyage. London 1978. 2. Verwendete Primarquellen zur Brandan-Legende (hiernach Zitate soweit nicht anders vermerkt): E. Bonebakker (Hg.): Van Sente Brandane naar het Comburgsche cn het HuIthemsche Handschrift. Amsterdam 1894 (Niederliindische Reisefassungen). C. Plummer (Hg.): Vitae Sanctorum Hiberniae. Bd. 2. Oxford 1910, S. 270-292 (Jungere Navigatio; bei Plummer: Vita Secunda ...,'an('li Brendani). Carl Schroder (Hg.): Sanct Brandan. Fin lawlIischcl und drl'1 deUlSche rexte. Erlangen 1871

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Uber das Leben de1) irischen Heiligen Brandan/Brendan sind wir nur sehrunzureichend unterrichtet. 3 Die sparlichen altirischen Quellen setzen seine Lebenszeit von ca. 485 bis ca. 575 an, das genaue Geburts- bzw. Todesjahr ist unbekannt. Brandan soU aus dem Hochadel der Grafschaft Kerry im Sudwesten Irlands stammen, schon als Kind durch eine irische Heilige auf den Klostereintritt vorbereitet worden sein und als Schuler des hl.Finnian eine hervorragende Bildung erhalten haben. Nach seiner Priesterweihe fiihrte er einen asketischen Lebenswandel, wurde zum Abt gewahlt und unternahm Missions- und Visitationsreisen nach Schottland, Wales und in die Bretagne, moglicherweise auch zu einzelnen Inseln im Nordatlantik. Er grundete mehrere Kloster im Westen Irlands, darunter Clonfert bei Galway, wo er 575 (nach anderer Tradition 583) starb und beigesetzt wurde. Der Ruhm des irischen Heiligen beruhte aber im festHindischen Europa des Mittelalters weder auf seiner Missionstatigkeit noch auf seinem heiligmaBigen Lebenswandel oder den ihm zugeschriebenen Wundertaten, von denen seine Vita berichtet: Ansehen und Popularitat Brandans auBerhalb Irlands gingen allein auf den legendarischen Bericht uber seine Fahrt auf dem AtIantischen Ozean zuruck, den er mehrere Jahre mit seinen Monchen befuhr, urn das irdische Paradies, die "terra repromissionis sanctorum" zu suchen. Von dieser Seereise westwarts uber das Meer schildert uns die Legende eine Reihe wundersamer Abenteuer, unter denen die Rast auf einem bewaldeten Walfisch, die Begegnung mit einer Sirene und anderen Meerwundern, schlieBlich die Fahrt ins Lebermeer und zum Magnetberg die bekanntesten sind, weil sie (Reisefassung: Mitteldeutsche Bearbeitung M). Gunther Schweikle (Hg.): Der Wartburgkrieg (Hs. C). In: Parodie und Polemik in mittelhochdeutscher Dichtung. Stuttgart 1986 (Helfant Texte 5), S. 105-142 (RatselReise). Carl Selmer (Hg.): Navigatio Sancti Brendani Abbatis. Notre Dame 1959 (A'ltere Navigatio).

3. Vgl. hierzu Carl Wahlund (Hg.): Die altfranzosische Prosaubersetzung von Brendans Meerfahrt. Upsala 1900 (Skrifter utg. af humanistika Vetenskapssamfundet 1 Upsala IV. 3), S. IX-XVIII: Leben des hl.Brendan, und C. Selmer: Navigatio, S. XVII-XIX. Die lateinischen und irischen Versionen der Vita konnen bei unserer Fragestellung auBer Betracht bleiben.

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auf verbreitetes antikes und orientalisches Erzahlgut verweisen. Christlicher Uberlieferung sind die Schilderungen des Zusammentreffens mit Judas, Teufeln und neutralen Engeln entnommen, wahrend die Beschreibungen von Purgatorien, Paradies- und Holleninseln, die mitten im Ozean liegen, altirischen Jenseitsvorstellungen verpflichtet sind, wie sie sich in der Visionsliteratur und irischen Monchsviten finden.4 Eine bunte Stoffmischung ist es also, mit der Brandans Reisebericht zu einer ebenso phantastischen wie die mittelalterlichen Menschen faszinierenden christlichen Odyssee ausgestaltet wurde. Die alteste Fassung der Legende, die lateinische Navigatio Saneti Brendani, solI im Umkreis eines iro-schottischen Klosters urn die Mitte des 10. Jahrhunderts in Lothringen entstanden sein. Auf ein von Iren gegriindetes Kloster als Entstehungsort und auf die irische Nationalitat des anonymen Verfassers kam man hauptsachlich wegen der strukturellen und stofflichen Nahe der Navigatio zur Erzahlgattung der "imrama", altirischen Schiffersagen, einer Quellengattung, die eine ahnliche Mischung von moglichen Reiseerlebnissen und erdichteten Fabeln aufweist. 5 Die in dies em Beitrag als ;iltere Navigatio bezeichnete Fassung, deren Original verloren ist, wurde vom 10. bis ins 17. lahrhundert in West- und Mitteleuropa durch zahllose Handschriften und Drucke verbreitet und in viele Volkssprachen iibersetzt. 1m 12. lahrhundert erfolgte eine Neufassung der Seereise, die ich im AnschluB an R. Grimm 6 als Jungere Navigatio bezeichne. Ihre Entstehung und ihre inhaltlichen Modifikationen werden uns noch beschaftigen. 4. Vgl. Selmer: Navigatio, S. XX ff. und Walter Haug: Brandans Meerfahrt. In: Verfasserlexikon. 2. Aufl., hg. v. K. Ruh. Bd. 1. Berlin, New York 1978, Sp. 985-991. 5. W. Haug: Yom Imram zur Aventiure-Fahrt. In: Wolfram Studien I (1970), S. 264-287, hier S. 265. 6. Reinhold R. Grimm: Paradisus coelestis - Paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis urn 1200 (Medium aevum 33). Munchen 1977, S. 109 f. Grimm wendet sich m.E. mit guten Argumenten gegen die Ruckubersetzungshypothese, weIche die Vita Secunda als lateinische Version der anglonormannischen Fassung der Legende auffaBt. und begreift die Jiingere Navigatio als "amplificatio" der ;Oteren Navigatio.

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Ebenfalls im 12. Jahrhundert, sieher in dessen letztem Viertel,? entstand eine neue volksspraehliehe Redaktion der Seereise, die eine gravierende Umgestaltung der lateinisehen Navigatio darstellt. Es handelt sich urn die sog. Reisejassung, die nur in deutsehen und niederUindisehen Handsehriften des spaten Mittelalters erhalten ist und auf ein verlorengegangenes mfr. Original in Reimpaarversen aus der zweiten Halfte des 12. Jahrhunderts zUrUekgehen soll.8 (Fur meinen Beitrag verwende ieh die urn 1300 entstandene mitteldeutsche Reiseversion der Legende.) SehlieBlieh verweisen auf einen weiteren, eigenstandigen Uberlieferungszweib dieser Reisejassung einige Brandan-Strophen im sog. Ratselspiel des Wartburgkrieges, die u.a. in den groBen spatmittelalterliehen Liederhandsehriften (Grope Heidelberger, Jenaer, Kolmarer Liederhs.) untersehiedlieh ausfiihrlieh tradiert sind. (Ieh verwende hier die Fassung der Heidelberger Hs.). Diese Ratsel-Reise, wie ieh sie in Kurzform nennen will, ist eine Variante der mfr. Reisefassung und sieher erst naeh der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden, also ungefahr hundert Jahre naeh der hypo thetis chen Entstehungszeit der nieht erhaltenen, ursprunglichen Reisefassung. 9 7. Zur spaten Datierung vgl. H. Beckers: Brandan und Herzog Ernst: Eine Untersuchung ihres Verhaltnisses anhand der Motivparallelen. In: Leuvense Bijdragen 59 (1970), S. 41-55. 8. H. Zimmer setzt hingegen unter Beriicksichtigung der Quellenberufungen in den dt. u. nid. Reisefassungen eine iateinische Reisefassung als Urform voraus. Vgl. H. Zimmer: Keltische Beitrage. In: ZfdA 33 (1889), S. 335 f. Der haufige Verweis auf "diu buoch" kann sich aber durchaus auf eine Navigatio-Version beziehen. - Zur deutschen und niederliindischen Oberlieferung der Reisefassung vgl. Torsten Dahlberg: Brandaniana. Goteborg 1958 (Acta Universitatis Gothoburgensis. Goteborgs Universitets Arsskrift. Vol. LXIV. 1958). Zur Datierung: "Dass der Archetyp der Reisetex'te gerade aus der Zeit 'urn 1150' stamme, ist z.B. hur angenommen, bewiesen eigentlich nieht." (S. 105). 9. Forschungsuberblick und Beschreibung der Hss.-Lage bei H. Wolf: Zum Wartburgkrieg. In: Festschrift fUr W. Schlesinger. Bd. 1. Koln,Wien 1973, S. 513-530 und B. Wachinger: Sangerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts. Munchen 1973 (MTU 42), S. 5 ff. Beschreibung der Problemlage, S. 7-24 Tabellen zur Oberlieferung. Zusammenstellung der Strophen aus dem Riitseispiei des Wartburgkriegs mit Brandan-Reise-Thematik bei SchrOder (Anm. 2), S. VII-IX.

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Mein Interesse richtet sich nun besonders auf die beiden letztgenannten Redaktionen der Brandan-Legende aus dem 13. lahrhundert, die md. Reisefassung, und die Ratse/-Reise aus dem Wartburgkrieg. Beiden Reise- Versionen ist gemeinsam, daB sie sich vor aHem in i'hren Rahmenteilen grundlegend von den NavigatioFassungen unterscheiden: Reisemotivation und Reiseziel des Seefahrers Brandan und - wie ich zeigen mochte - damit auch die Wirkungsabsicht der legendarischen Texte stell en sich ganzlich verschieden dar. Hier kurz die wichtigste Diskrepanz der beiden Redaktionen: Am Beginn der Navigatio sucht Brandan das Paradit:s aus eigenem Antrieb; er ist dann auf der Meerfahrt' der iiberlegene; auf Gottes Fiirsorge vertrauende Fiihrer seiner ihn begleitenden Monche; er trotzt allen Gefahren und bewaltigt voller Zuversicht und mit Hilfe des Gebets aile Schwierigkeiten. 1O Genauere Beweggriinde fUr seinen Aufbruch finden sich hier nicht, auBer daB ein Verwandter Brandans von seinem friiheren Paradiesinsel-Besuch erzahlt. Ganz anders die Exposition der ReiseRedaktionen. Hier sucht und findet der wunderbegierige Brandan in "seltzenen btlchen"ll Nachrichten iiber die Wunder Gottes in der Schopfung. Er liest iiber die Existenz von Antipoden, von zwei Paradiesen und drei Himmeln, ertahrt von einem bewaldeten Fisch und vom bii6enden Juda~ auf dem Stein. Bei der Lektiire zweifelt er jedoch die Existellz dieser "mirabilia descripta" an, sie erscheinen ihm, der sie nieht in Augenschein nehmen kann, ganzlich unglaubwiirdig,ja erlogen. 12 Voller Zorn verflucht er den Autor eines dieser Wunderbiicher - im md. Text heiBt es "und tet dem tihter einen vltlch" (S. 52. V. 50) - und wirft das Buch ins 10. Zur Charakterisierung der Redaktionen vgl. Walter Haug (Anm. 5, S. 265) und Gerhard E. SolI bach (Hg.): St.Brandans wundersame Seefahrt. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 60. Frankfurt/M. 1987. S. 11-45. 11. Schroder (Anm. 2), S. 51, V. 22. Nach Schroder auch alle Zitate aus der md. Reise-Version im Text. - Schon Augustinus schreibt im Gottesstaat, daB man z.B. die monstrosen Menschenrassen aus "seltsamen Schilderungen in allerhand Biichern kennenlernen kann" (De civitate Dei, 16,8). 12. "er enwulde lIoch enmahte/ des iht geloubic wesen,/ wie er ez hatte gelesen,/ er ensehez mit den nugen sin." Ehd. S. 52. V. 44-47.

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Feuer. Wah rend er noch bei dieser ersten Biicherverbrennung der deutschen Literaturgeschichte zusieht (dieses Sakrileg ist sicher als Instrumentalisierung der mittelalterlichen Namensexegese aufzufassen, die Brendan zu brennen stellt)l3, hort er die Stimme Gottes (in der Ratse/-Reise und spateren deutschen Reiseversionen in Prosa erscheint ihm ein Engel), die ihn auffordert, zur Strafe fUr Zweifel und Unglauben umgehend zu einer Meerfahrt aufzubrechen, urn die angezweifelten Wunder zu besichtigen. Wichtigste Auflage Gottes aber ist es, ein eigenes Reisejournal uber seine Erlebnisse anzulegen und so das verbrannte Buch zu ersetzen. In der md. Reisefassung gibt sich Brandan ob dieser gottlichen Strafandrohung so verangstigt und beeindruckt, daB er die Strafund BuBfahrt umgehend mit 70 Begleitem antritt, nachdem er einen "kiel", ein hochseetiichtiges Schiff,14 ausgeriistet hat. Gott zeigt ihm nun auf seiner Meerfahrt in vielen wundersamen und gefahrvollen Episoden, die er ubrigens nicht mehr so souveran bewaltigt wie in der Navigatio, sondern denen er nun ebenso ausgeliefert ist wie seine Begleiter, einige seiner "mirabilia ac stupenda" ausschlieBlich zu dem Zweck, daz erz geloubete deste baz, daz daz bach die wahrheit saite (S. 55, V. 210/11).

Das von ihm verbrannte Buch mit den "mirabilia descripta" ist hier gemeint. 13. Vgl. zur Verwendung des "praesagium nominis" bzw. "veriloquium nominis" in der mittelalterlichen Literatur W. Haubrichs: Namendeutung in Hagiographie, Panegyrik - und im Tristan. Eine gattungs- und funktionsgeschichtliche Analyse. In: Namen in deutschen literarischen Texten des Mittelalters. Vortriige Symposion Kiel1987. Hg. v. Fr. Debus u. H. Piitz. Neumilnster 1989, S. 205-224. 14. SchrOder (Anm. 2), S. 52, V. 50. Die "moderne" Konstruktion und AusrUstung des Schiffes, es hat mehrere Mastbaume, ist mit Eisen beschlagen, besitzt Luken und eine Schiffskapelle (S. 53, V. 86-112), steht im starken Kontrast zum "curragh" Brandans in der Navigatio, einem typischen altirischen Fischerboot aus Holzspanten mit ilbergezogenen Ochsenhauten, deren Nahte mit Fett abgedichtet werden mUssen. (Vgl. die Bootsbeschreibung in der lat. Navigatio bei Schroder, S. 6, (Z. 16-25). Rier zeigt sich wie auch sonst die aktualisierende Bearbeitung der Reisefassung.

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Abb.l Brandan schreibt die gesehenen Wunder in sein Reisebuch Cod. Pal. Germ. 60, fol. 176 (Reisefassung, urn 1460)

Vnd Brandan befolgt das Gebot zur Reiseschriftstellerei. Er HiBt sich Pergament als Schreibstoff bringen und befiehlt dem SchiffsfUhrer, sein Fahrzeug zu stoppen, so lange er die "grozen wunder" aufzeichnet: er hiez im permint stichen. urn daz er in den bfichen beschribe die grozen wunder. den schifman bat er besundcr, daz er lieze durch sinen willen den kiel ein kurze wile stillen. do er die wunder hete geschriben, keinc wile sic da me hlioen. danne treib sic eiT! win!. (S. 69, V. R41-X49)

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Abb.2 Brandan legt sein Reisebuch auf den Marienaltar seines Klosters Cod. Pal. Germ. 60, fol. 184 (Reisefassung, urn 1460)

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Am Ende ist Brandans Reisejournal mit Berichten uber monstra, daemones, portenta und prodigia gefUllt und der Seefahrer kehrt mit dem neuen, selbstgeschaffenen "Liber miraculorum" in sein Heimatkloster zurUck. In spateren Fassungen legt er es auf dem Altar nieder. (Abb. 2)Von seiner Reise hat er auBer dem Buch drei wichtige Einsichten mitgebracht. Erstens: Die Wunder Got!es sind ebenso unfaBbar fUr den Menschen wie an Zahl unendlich. 15 Zweitens: Der Vorwurf eines hundskopfigen "Wundermenschen", den er auf seiner Reise trifft, er, Brandan, sei ein "alter Thomas incredulus",16 bestand zu Recht; wie der ungIaubige Thomas das Wunder von Christi Auferstehung in Zweifel 109, hatte er, Brandan, Dinge und Erscheinungen der Schopfung, die ihm nicht augenfallig und naturgemaB erschienen, voreilig als erlogen bewertet (Thomas sagt Joh. 20,25: "Nisi videro, non credam.") und hatte daraufhin "daz bfich, da die warheit an was geschriben" (S. 79, V. 1317), verbrannt. Drittens und letztens formuliert der Autor als Kommentar die wichtigste Einsicht Brandans (wohl weniger fUr den nunmehr gelauterten Abt als vielmehr fur die 15. Vgl. die Lehre des Zwergs, der das Meer mit einem Napfchen ausmiBt, am Ende der Brandan-Reise: ebenso unmoglich wie dieses Unterfangen ist der Versuch, die unendlichen Wunder Gottes erfassen zu wollen. (Schroder, S. 88-89, V. 1703-1758). 16. Zu diesem wichtigen Vergleich Brandans mit dem unglaubigen Apostel Thomas und der Funktion des Zweifels in der Reisefassung vgl. L. Peeters: Wade, Hildebrand and Brandan. In: Amsterdamer Beitrage zur Alteren Germanistik 3 (1972), S. 25-65, hier 45-50. Urn die Bedeutung des Themas fUr die Geistes-, Glaubens- und Kulturgeschichte des 12.113. Jahrhunderts herauszuarbeiten, ware es allerdings notwendig, nachdriicklich auf die Rezeption neuplatonischen Gedankenguts und aristotelischen naturkundlichen Wissens als den zwei Komponenten zu verweisen, die das traditionelle christliche Weltbild seit dem 12. Jahrhundert zunehmend verunsicherten. 1m 13. Jahrhundert fanden sich kritische Fragen iiber Diesseits und Jenseits nicht nur bei dem bekannt skeptischen Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen. Vgl. E. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite. 1. Bd. Repro, 4. Aufl. Diisseldorf, Miinchen 1964, S. 313-328. Auch die Arbeiten seines Hofastrologen Michael Scott us dienten weithin als Befriedigung der WiBbegier des Kaisers iiber die "mirabilia mundi" und die "secreta naturae". Vgl. L. Thorndike: Michael Scot. London, Edinburgh 1965, S. 47 f. u. 122 f.

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Rezipienten der Brandan-Reise): Weise handeln und selig leben nur diejenigen Menschen, "die da gelouber:t gotes wunder" (S. 79, V.1321). An dieser gegenuber der lat. Navigatio veranderten° Exposition der volkssprachlichen Reisejassung, die statt der Paradies-Suche den Problemkreis 'Wunder der Schopfung-Wirklichkeit-Wahrheit' ins Zentrum der DarsteUungsabsicht rUckt, ist einiges - mit Blick auf Gattungstradition und Entstehungszeitpunkt - au6erst bemerkenswett. So wird die Suche Brandans nach Wundern in Buchern nieht - wie man das erwarten soUte - als verwerfliehe "curiositas" gebrandmarkt, die das gottliche Gebot der glaubigen Einfalt verletzt, sondern ganz im Einklang mit der Frommigkeit des heiligen Mannes gesehen (vgl. S. 51, V. 17 u. 20). Fiir einen heiligma6igen Abt iiberraschend ist auch die Reaktion auf die Lektiire von Gottes Wundern; wenn er die "mirabilia descripta" nur aufgrund fehlender Anschauung als liigenhaft beurteilt und verbrennt, erhebt er sich damit iiber seine autoritatsfixierten Zeitgenossen, indem er sich yom wichtigsten Grundprinzip mittelalterlichen Wissens distanziert: er verwirft die "auctoritas" der schriftlichen QueUe. Ihr setzt er seine eigene "ratio" als Urteilsinstanz gegeniiber. Diese vernunftgeleitete Haltung des Zweifels an der Schriftquelle ist fUr das 12. lahrhundert abnorm, denkt man an die Methode des unermiidlichen Riickbezugs auf die "scripta auctorum" als Wahrheitsbeweis in den gelehrten theologischen und naturkundlichen Texten oder an die Quellenberufungen als standardisiertes Beglaubigungsmittel in der volkssprachlichen Dichtung. 17 17. Zu dies em Problemkreis fUhre ich nur exemplarisch einige Titel auf, die besonders auf den Wahrheitsanspruch in mittelalterlicher Dichtung und Literatur eingehen: Jeanette M.A. Beer: Narrative Conventions of Truth in the Middle Ages. Geneve 1981. E.R. Curtius: Europaische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern, Munchen 1965, s. 210-234. W. Dittmann: Dune hast niht war, Hartman! Zum Begriff der warheit in Hartmanns lwein. In: Festgabe fUr Ulrich Pretzel zum 65. Geburtstag. Berlin 1963, S. 60-83. X. v. Ertzdorff: Die Wahrheit der hofischen Romane des Mittelalters. In: ZfdPh 86 (1967), S. 375-389. G. Gabriel: Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in Iiterarischen Texten. In: Der Deutschunterricht 27 (1975) II.3, S. 5-17. K. Grubmuller: Uberlegungen zum Wahrheitsanspruch des Physiologus im Mittelalter. In:

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Gerade mit Blick auf letztere konntl! man einwenden, daB der Abt Brandan hier ja einen "tihter" (V. 50) verflucht, also moglicherweise einen Poeten, der auf der Glaubwiirdigkeitsskala des AutoriHitenkatalogs, zu dem antike Philosophen und Poeten, christliche Kirchenvater, groBe Theologen etc. zahlen,18 weit unten anzusiedeln ware, oder gar als Verfasser weltlich-spielmannis~her Unterhaltungsliteratur als Liigenpoet diskriminiert werden konnteo Die angefiihrtcn Inhaltc des verbrannten Wunderbuches geographische, kosmographische, zOlllogische, theologische "mirabilian - sprechen aber ebenso gcgcn diese Interpretation wie die umgehende Ahndung von Brande:tIls Zweifel und Autoritatsverleugnung durch die gottliche Instanz. (Bei den "seltzenen bfichen" muG man wohl am ehesten an Titel wie Speculum naturale, Elucidarium, Imago mundi, jedenfalls eine lateinische Enzyklopadie denken, wie dies z. B. cine niederlandische Fassung in einem Vergleich tut.l