Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit: Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion 9783111694764, 9783484106697


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German Pages 305 [308] Year 1992

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Table of contents :
Die Allegorie als Interpretationsmittel mittelalterlicher Texte. Möglichkeiten und Grenzen
Zur narrativen Bildstruktur im Mittelalter
Übergangsformen zwischen Typologie und anderen Gestalten des Textbezugs
Mantik und Allegorese
Der göttliche ›Dichter des Kosmos‹ als Vorbild menschlicher Kunst. Zum Verhältnis von kosmologischer und künstlerischer Rationalität aus der Perspektive antiker Philosophie
Allegorische Geistesbewegung und die Rhetorik des Erhabenen. Das Erhabene als Erkenntnisprinzip bei Eriugena und Wilhelm von Auvergne
Potens und Pauper im Frühmittelalter
Die personifizierte Natur. Gestalt und Bedeutung im Umkreis des Alanus ab Insulis und seiner Rezeption
Da wil man, des man niene wil. Sallustische Prologtopik und Bernhardische Seelenanalyse in der dritten Strophe des ›Tristan‹-Prologs Gottfrieds von Straßburg
Höfisches Fest und Hofasthetik in Gottfrieds ›Tristan‹. Die Dichterschau als Zelebration
Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild von Magdeburg
Das literarische Bild des Autors im ›Rheinischen Marienlob‹
Das erkenntnistheoretische Fundament der ›Divina Commedia‹
Transformation allegorischer Strukturen im frühen Prosa-Roman
Register
Namen
Sachen
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Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit: Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion
 9783111694764, 9783484106697

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Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit

Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion

Herausgegeben von Wolfgang Harms und Klaus Speckenbach in Verbindung mit Herfried Vögel

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1992

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Umschlagbild: >Lancelot propreBildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit< statt. Es war das erklärte Ziel der Veranstalter, Referenten und übrigen Teilnehmer, die vor 30 Jahren von Friedrich Ohly durch den programmatischen Aufsatz »Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter« begründete Bedeutungsforschung mit verwandten Forschungsrichtungen ins Gespräch zu bringen. Es sollten auf dem Feld der bildhaften Rede Interdependenzen, unterschiedliche Ansätze und Ergebnisse erörtert und, wenn möglich, über die Gegenüberstellung neue Konzeptionen oder Postulate gefunden werden. Aus diesem Grund richtete sich die Einladung zu Referaten nicht an den unmittelbaren Schülerkreis Friedrich Ohlys, sondern an fernerstehende Germanisten und Vertreter anderer Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, Romanistik und Philosophie. Der vorliegende Sammelband enthält alle in Gerleve gehaltenen Vorträge, zusätzlich wurde der Beitrag von Otto Gerhard Oexle aufgenommen, der wegen Krankheit an einer Teilnahme verhindert war. Allen Referaten schloß sich eine lebhafte Diskussion an, die die unterschiedlichen Positionen und Forschungsansätze zum Ausdruck brachte. Die Herausgeber entschlossen sich daher, auch diese Diskussion durch zusammenfassende Berichte, die wir Herfried Vögel verdanken, zu dokumentieren. Im Rahmen einer allgemeinen Hermeneutikdiskussion und mit Blick auf historisch bedingte Verständnisprobleme zeigen Referate und Diskussionsbeiträge, wie Ansätze Ohlys angesichts von neu ins Gespräch gebrachten Gegenständen, Zusammenhängen und Sehweisen fruchtbar fortzusetzen und abzuwandeln sind. In unseren Einleitungsworten in Gerleve sahen wir ausdrücklich davon ab, dem Kolloquium ein bestimmtes Ziel vorzugeben: nur mit offener Entwicklung vermag der Gang solcher Gespräche seiner Aufgabe gerecht zu werden. Wollte man sich für den Verlauf der Gespräche doch über ein Motto oder einen Maßstab verständigen, ließe sich Ciceros Wort Neque enim disputari sine reprehensione polest wählen, das Michel de Montaigne zitiert, um sich eigene Gedankengänge abzusichern. Als Maßstab für den Umgang mit einer Autorität könnte man dieses Verhalten Montaignes ansehen, zugleich aber auch dessen kritischen Umgang mit derselben Autorität sich zu eigen machen: Wo Montaigne darüber nachdenkt, wie man reflektierend am besten zum Kern der Sache selbst komme, distanziert er sich auch von der Autorität Ciceros, weil dieser zum Systematisieren und Gliedern der Gegenstände neige, während er selbst ohne Umschweife guten und handfesten Bescheid suche. Montaigne sucht Einsichten, die gerade-

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Vorwort

wegs ihren ersten Angriff ins Herz des Zweifels führen, während ihm die Überlegungen Ciceros wie die Katze um den heißen Brei zu schleichen scheinen. Montaignes Umgang mit einer Autorität und sein Denkverhalten gegenüber seinem Gegenstand konnten uns Beispiel sein, wenn wir nach Möglichkeiten fragten, ein uns bekanntes Potential von Forschungsansätzen in der Kombinatorik mit einem Potential neu zu bemerkender Forschungsgegenstände zu erproben. Das galt für die Gespräche in Gerleve, und das mag nun auch den Leser dieses Bandes miteinbeziehen. Das Bild des Einbands stellt eine Szene aus dem altfranzösischen > Lancelot propre< dar. Galehot erzählt Geistlichen seine Träume, die diese mit Hilfe von Traumbüchern deuten. Neben der Lehrsituation ist im Hintergrund die bildhafte Rede der Träume mit der Wiedergabe der drei Drachen festgehalten. Der einzelne Drache ist auf die Königin Guenievre zu beziehen, die zwei kämpfenden auf König Arthur und Galehot selbst. - Wir danken der Bibliotheque Nationale, Paris, für die Erlaubnis, die Illumination zu veröffentlichen (Ms. Fr. 16999, f. 156r, Ende 14. Jahrhundert). Daß das Kolloquium in Gerleve möglich wurde und seine Ergebnisse in diesem Band publiziert werden können, verdanken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Einen wesentlichen Anteil am Redigieren der Manuskripte und an den Korrekturarbeiten übernahm Herfried Vögel (München), der dabei unterstützt wurde von Birgit Beine und Frank Vogel (beide Münster) und von Ulrike Draesner, Ludger Lieb und lsabel Nunes (München). Das Namens- und Sachregister wurde von Ludger Lieb, Anja Sommer und Herfried Vögel erstellt. Im Namen aller Teilnehmer des Kolloquiums widmen wir diesen Band Friedrich Ohly. Wolfgang Harms München

Klaus Speckenbach Münster

Inhalt

DAVID A. WELLS (London) Die Allegorie als Interpretationsmittel mittelalterlicher Texte. Möglichkeiten und Grenzen

l

WALTER BLANK (Freiburg i. Br.) Zur narrativen Bildstruktur im Mittelalter

25

PAUL MICHEL (Zürich) Übergangsformen zwischen Typologie und anderen Gestalten des Textbezugs

43

WOLFRAM HOGREBE (Düsseldorf) Mantik und Allegorese

73

ALFONS RECKERMANN (München) Der göttliche >Dichter des Kosmos< als Vorbild menschlicher Kunst. Zum Verhältnis von kosmologischer und künstlerischer Rationalität aus der Perspektive antiker Philosophie

93

JÖRG VILLWOCK (Frankfurt a. M.) Allegorische Geistesbewegung und die Rhetorik des Erhabenen. Das Erhabene als Erkenntnisprinzip bei Eriugena und Wilhelm von Auvergne

111

OTTO GERHARD OEXLE (Göttingen) Polens und Pauper im Frühmittelalter

131

CHRISTOPH HUBER (Bamberg) Die personifizierte Natur. Gestalt und Bedeutung im Umkreis des Alanus ab Insulis und seiner Rezeption

151

SAMUEL JAFFE (Chicago) Da wilman, des man niene wil, Sallustische Prologtopik und Bernhardische Seelenanalyse in der dritten Strophe des >TristanTristanRheinischen Marienlob< . . . . 237 WILLI HIRDT (Bonn) Das erkenntnistheoretische Fundament der >Divina Commedia< . . JAN-DIRK MÜLLER (München) Transformation allegorischer Strukturen im frühen Prosa-Roman Register Namen Sachen

249

. 265

285 288

DAVID A. WELLS

Die Allegorie als Interpretationsmittel mittelalterlicher Texte Möglichkeiten und Grenzen

Inwiefern darf man die Ergebnisse der mittelalterlichen Bedeutungsforschung, die vorwiegend als - im weiteren Sinn - allegorisch zu verstehenden Methoden der patristischen und mittelalterlichen Exegese, auf die Interpretation literarischer Texte anwenden? Dreißig Jahre nach dem Erscheinen des programmatischen Aufsatzes von Friedrich Ohly empfiehlt es sich vielleicht, diese alte Frage erneut zu stellen und zugleich zu untersuchen, welche Aspekte die Forschung schon geklärt hat und inwiefern wir dem idealistischen, letzten Endes wohl unerreichbaren Ziel nähergekommen sind, Grundprinzipien für die Interpretation mittelalterlicher Literatur in Hinsicht auf theologische Denkformen aufzustellen. Unter der Flut der neueren Publikationen auf germanistischer, anglistischer und romanistischer Seite können hier nur wenige Beispiele genannt werden, um Fortschritt sowie Problematik zu veranschaulichen. Wie sehr die Meinungen noch auseinandergehen, sei zuerst am Beispiel der Joie de la curt-Episode in den hochmittelalterlichen Erec-Romanen dargestellt. Für Christoph Cormeau kommt die Möglichkeit einer allegorischen Ebene in dieser Episode bei Hartmann von Aue überhaupt nicht in Frage.1 In einem fast gleichzeitig in den USA erschienenen Sammelband über ähnliche Probleme der Allegorieforschung behauptet aber Margueritte S. Murphy, was die Episode bei Chretien angeht: »Chretien uses allegory in >la Joie de la Cort< episode to summarize and disclose the key to the entire romance.«2 Aber trotz solch krasser Meinungsunterschiede und trotz der unvermeidbaren Subjektivität bei jedem Interpretationsversuch liegt die Vermutung nahe, daß wir anhand erweiterter Kenntnisse, die größtenteils der theoretischen Allegorieforschung sowie der Kommentierung besonders frühmittelhochdeutscher Texte zu verdanken sind, aber zum Teil auch einer ähnlichen Forschungsrichtung im mittelenglischen Bereich, viele Seiten des Grundproblems besser verstehen als vor dreißig Jahren. Wir wollen auch versuchen, einigen Grenzbereichen am Rande der Bedeutungsforschung und der Allegorieforschung überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken, wo in bezug auf unsere Problematik eine weitere Klärung wünschenswert scheint. Dabei verwen1

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CHRISTOPH CORMEAU, Joie de la curt: Bedeutungssetzung und ethische Kenntnis (Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978, hg. von WALTER HAUG [Germanistische Symposien. Berichtsbände 3] Stuttgart 1979, S. 194-205). MARGUERITTE S. MURPHY, The Allegory of >Joie< in Chretien's Erec et Enide (Allegory, Myth and Symbol, hg. von MORTON W. BLOOMFIELD, Cambridge/Mass. - London 1981,8.109-127).

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den wir die Termini Allegorie beziehungsweise Allegorese völlig im Sinne der Wort- beziehungsweise Dingbedeutung im Mittelalter: Wir beschäftigen uns hier unmittelbar weder mit der allgemeinen mittelalterlichen Semiotik noch mit der modernen Begriffsbestimmung der Allegorie noch mit dem weiteren Problem der Abgrenzung von Allegorese und Interpretation, obwohl diese Bereiche nicht völlig außer acht zu lassen sind.3 Schon Friedrich Ohly hat auf die Möglichkeit hingewiesen, die Einsichten der Bedeutungsforschung auf die weltliche Literatur anwenden zu können.4 Fast gleichzeitig mit seiner Kieler Antrittsvorlesung erschien der Bericht eines an der Universität Columbia (New York) abgehaltenen Symposiums über das Für und Wider der Interpretation mittelenglischer Literatur anhand der patristischen Exegese. Dieses Buch bleibt für unsere Problemstellung von grundlegender Bedeutung.5 Wir würden die Probleme bagatellisieren, wenn wir bei der Feststellung blieben, daß die alt- und mittelenglische religiöse Dichtung im Gegensatz etwa zur frühmittelhochdeutschen, die größtenteils der exegetischen Überlieferung ziemlich eng folgt, oft mit einer viel größeren dichterischen Freiheit verfährt und auf die theologischen Motive eher in poetischer Weise anspielt. Auch das Bewußtsein der methodologischen Unterschiede, wobei etwa die englischZur mittelalterlichen Bedeutungsforschung vgl. die grundlegenden Feststellungen von FRIEDRICH OHLY, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter (ÜERS., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 21983, S. 1-31; zuerst in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89, 1958/1959, S. 1-23). Das weitere Feld der mittelalterlichen Semiotik, das schon CHRISTOPH HUBER, Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob (Münchener Texte und Untersuchungen 64) München 1977, bes. S. 3, identifiziert, überblickt HENNIG BRINKMANN, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980. Zur Definition von Allegorie und deren Abgrenzung von verwandten Formen vgl. GERHARD KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 21988; PAUL MICHEL, Alieniloquium. Elemente einer Grammatik der Bildrede (Zürcher germanistische Studien 3) Bern 1987. Daß eine umfassende Definition der Allegorie nicht von der Interpretation überhaupt zu trennen ist, überlegen NORTHROP FRYE, Anatomy of Criticism. Four Essays, Princeton 1957, S. 89f., und MORTON W. BLOOMFIELD, Symbolism in Medieval Literature (Modern Philology 56, 1958/59, S. 73-81); DERS., Allegory as Interpretation (New Literary History 3, 1971/72, S. 301-317). Wie die Traditionen der allegorischen Auslegung und der schöpferischen Allegorie sich in der Praxis des 12. Jahrhunderts gegenseitig beeinflussen, überlegt JON WHITMAN, Allegory. The Dynamics of an Ancient and Medieval Technique, Oxford 1987. OHLY (wie Anm. 3) bes. S. 25-27. ETHELBERT TALBOT DONALDSON - R. E. KASKE - CHARLES DONAHUE, Patristic Exegesis in the Criticism of Medieval Literature (Critical Approaches to Medieval Literature. Selected Papers from the English Institute, 1958/1959, hg. von DOROTHY BETHURUM, New York 1960, S. 1-82); vgl. PAULINE MATARASSO, The Redemption of Chivalry. A Study of the >Queste del Saint GraalErec< (Germanic Review 33, 1958, S. 5-14); DERS., Love and Charity in Hartmann's >Iwein< (Modern Language Review 57, 1962, S. 216-227); WALTHER JOHANNES SCHRÖDER, Die Soltane-Erzählung in Wolframs >ParzivalIwein< (German Life and Letters 21, 1967/68, S. 287-296); DERS., Echoes of St. Paul in the >Nibelungenlied< (Modern Language Notes 84, 1969, S. 699-715); J. M. CLIFTON-EVEREST, Christian Allegory in Hartmann's >Iwein< (Germanic Review 48, 1973, S. 247-259); EVA TOBLER, Marianische Aspekte in Hartmanns >Erec< (Euphorien 80, 1986, S. 427438). Vgl. H. BERNARD WILLSON, >Vicissitudes< in Gottfried's >Tristan< (Modern Language Review 52, 1957, S. 203-213); DERS., Gottfried's >TristanTristan< als auf andere Dichtungen ausgeübt hat: So treffen zum Beispiel die Bemerkungen MEIERS, Zum Problem der allegorischen Interpretation, S. 287, daß eine überzeugende Interpretation von weltlichen Dichtungen zwischen der Möglichkeit eines verborgenen moralischen Sinnes einerseits und der bloßen Exemplarizität jedes ritterlichen Helden andererseits sehr deutlich unterscheiden sollte, gerade auf die vagen Deutungen vom > Roman d'Eneas< und von Chretiens >Erec et Enide< durch WETHERBEE, S. 230-241, sehr aufschlußreich zu. Wie problematisch solche Interpretationsversuche bleiben, sei anhand der Arbeit von ROLF-PETER LACHER, Die integumentale Methode in mittelhochdeutscher Epik (Europäische Hochschulschriften I, 1078) Frankfurt/M. 1988, gezeigt, der auch Veldeke und Hartmanns >Iwein< einen integumentum-Regnff unterstellen will; dazu meine Besprechung in: Modern Language Review 84, 1989, S. 1017-1020; vgl. auch HERFRIED VÖGEL, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 119,1990,8.99-104. DONALDSON (wie Anm. 5) S. 4f.

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wurde, eine Ansicht, welche eine Reihe von Arbeiten bestätigt hat.15 Sowohl die Forschung auf der dichterisch-rhetorischen Seite als auch die allegorische Bedeutungsforschung haben gezeigt, daß die Kraft der poetischen Überlieferung zu stark war, als daß man den theologisch begründeten, theoretischen Unterschied aufrechterhalten konnte:16 So verschwimmt zum Beispiel vom 13. Jahrhundert an die Grenze zwischen Fabel und der geistigen Allegorie.17 Die Tatsache, daß die Beseitigung der Grenze zwischen integumentum und allegoria ihre theoretische Bestätigung erst im 14. Jahrhundert fand, spricht keineswegs gegen die mögliche Verwendung der Allegorie bei der Interpretation früherer Werke.18 Gerade das Gegenteil ist der Fall. Die Theorie folgt eher der Praxis als umgekehrt. Wir sollten die Bemerkungen des Thomas von Aquin als eine Erwiderung auf die dichterische Leistung des 12. und frühen 13. Jahrhunderts, ja sogar als ein verschleiertes Zeichen der Anerkennung, verstehen. Nachdem die weltlichen Dichter sich die theologische Methode angeeignet und sie mit der rhetorischen Überlieferung verbunden hatten, wobei unter anderem eine Literaturgattung von sensationeller Beliebtheit entstand, konnte man diese Leistung durch theoretische Äußerungen nicht mehr ungeschehen machen. Angesichts der Tatsache, daß die geistigen Bedeutungen der Interpretation, wenn auch biblisch begründet, zu einer Weltanschauung gehörten, die auf eine universale Gültigkeit Anspruch erhob, mußte jeder Versuch, diese Gültigkeit in Hinsicht auf das Schrifttum im Unterschied zu jedem anderen Gebiet des Lebens einzuschränken, ebenso erfolglos bleiben wie zum Beispiel ganz zu Anfang der christlichen 15

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Es seien im Anschluß an die von OHLY (wie Anm. 3) S. IX-XXXIV, angeführten Arbeiten folgende Werke beispielshalber genannt: DIETMAR PEIL, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart (Münstersche Mittelalter-Schriften 50) München 1983; INGRID HAHN, Kosmologie und Zahl. Zum Prolog des >Jüngeren Titurel< (Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters, hg. von KLAUS GRUBMÜLLER - RUTH SCHMIDT-WIEGAND - KLAUS SPECKENBACH [Münstersche Mittelalter-Schriften 51] München 1984, S. 226-244); FRANZISKA WESSEL, Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Straßburg >Tristan und Isolde< (Münstersche Mittelalter-Schriften 54) München 1984; GUDRUN SCHLEUSENER-EICHHOLZ, Das Auge im Mittelalter, 2 Bde. (Münstersche Mittelalter-Schriften 35) München 1985; HEINZ MEYER - RUDOLF SUNTRUP, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen (Münstersche MittelalterSchriften 56) München 1987. Vgl. zum Beispiel ULRICH KREWITT, Metapher und tropische Rede in der Auffassung des Mittelalters (Beihefte zum Mittellateinischen Jahrbuch 7) Ratingen - Kastellaun Wuppertal 1971; KLAUS SPECKENBACH, Die Fabel von der Fabel. Zur Überlieferungsgeschichte der Fabel von Hahn und Perle (Frühmittelalterliche Studien 12, 1978, S. 178-229); MEIER, Überlegungen (wie Anm. 13) bes. S. 10-12, S. 29; FRITZ PETER KNAPP, Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54,1980, S. 581-635). WIEBKE FREYTAG, Die Fabel als Allegorie. Zur poetologischen Begriffssprache der Fabeltheorie von der Spätantike bis ins 18. Jahrhundert (Mittellateinisches Jahrbuch 20, 1985, S. 66-102; 21,1986, S. 3-33). KNAPP (wie Anm. 16) S. 613-618; FREYTAG (wie Anm. 17) S. 85f.

Allegorie als Interpretationsmittel mittelalterlicher Texte

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Auslegungsgeschichte der Versuch des Tertullian, die Methoden der antiken Rhetorik in bezug auf das christliche Schrifttum als unzulässig zu beweisen.19 Es scheint sogar, daß die erneute Akzentuierung des sensus litteralis bei Thomas von Aquin hinsichtlich des Schrifttums gerade das Gegenteil der anscheinend gewünschten Wirkung zur Folge hatte, da, wie wir anderswo in der Untersuchung einer Stelle im >Speculum Humanae Salvationis< zu zeigen versucht haben, die Erweiterung der Bestimmung des sensus litteralis in der populären Theologie, die wohl den breitesten Einfluß ausübte, eine noch eifrigere Suche nach neuen alttestamentarischen Typen und Allegorien hervorrief.20 Die Forschung hat ein zweites negatives Argument des Columbia-Symposiums eindeutig zurückgewiesen, nämlich den Versuch, zwischen einem angeblich positiven, auf hebräischer Überlieferung beruhenden typologischen Ansatz einerseits und einem angeblich negativen, griechisch-allegorischen Ansatz andererseits, der die Abwertung des sensus litteralis impliziere, zu unterscheiden. Dieser Versuch, den mittelalterlichen Theologen die Meinungen der Kritiker zu unterstellen, gilt heute als grundsätzlich gescheitert. Wie insbesondere Christel Meier gezeigt hat, spiegelt die Auffassung der Typologie als Einzelphänomen einen zu krassen Unterschied zwischen Typologie und Allegorese wider, der von Auerbach und Danielou gemacht wurde und der der Theologie der 50er Jahre entsprach. Die Arbeiten aller, die sich mit dem Verständnis einzelner Bibelstellen in der mittelalterlichen Überlieferung oder etwa mit der Detailanalyse frühmittelhochdeutscher Texte beschäftigt haben, haben eindeutig bewiesen, daß die Typologie sich in der Praxis überhaupt nicht von der Allegorese trennen läßt, sondern einen wesentlichen Teil von ihr bildet.21 Die Arbeiten Ohlys haben einerseits gegen einige Kritiker der 70er Jahre bewiesen, daß die Anwendung der Typologie sich vom rein biblischen Ursprung auf halbbiblische und außerbibli-

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HENRY CHADWICK, Early Christian Thought and the Classical Tradition, Oxford 1966, S. Iff.; TIMOTHY DAVID BARNES, Tertullian. A Historical and Literary Study, Oxford 2 1985,S.210. DAVID A. WELLS, The Medieval Nebuchadnezzar. The Exegetical Tradition of Daniel IV and its Significance for the Ywain Romances and for German Vernacular Literature (Frühmittelalterliche Studien 16, 1982, S. 380-432), hier S. 424-428; vgl. DIETRICH SCHMIDTKE, Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (l 100-1500), Diss. FU Berlin 1968, S. 135, der im späteren Mittelalter ein Zurücktreten »der Auffassung, daß im Ausdeuten der Tiereigenschaften ein von Gott in die Dinge gelegter Sinn erschlossen wird« (MEIER, Überlegungen [wie Anm. 13] S. 42), feststellt. DONAHUE (wie Anm.5) S. 61-82; MEIER, Überlegungen (wie Anm. 13) S. 34-41. Unter der zitierten Literatur ist vor allem hervorzuheben die Untersuchung zur Allegorieauffassung des Galaterbriefs von HARTMUT FREYTAG, Quae sunt per allegoriam dicta. Das theologische Verständnis der Allegorie in der frühchristlichen und mittelalterlichen Exegese von Galater 4, 21-31 (Verbum et signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zur Semantik und Sinntradition im Mittelalter, Festschrift Friedrich Ohly, hg. von HANS FROMM - WOLFGANG HARMS - UWE RUBERG, Bd. I, München 1975, S. 27-43), hier S. 35 f.

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sehe Muster erstreckt.22 Die große Bedeutung, die solchen Denkmustern für die Interpretation der Struktur sowie des thematischen Inhalts mittelalterlicher Werke beizumessen ist, wird andererseits durch die Bedenken gegen die Anwendung eines zu lockeren Typologiebegriffs keineswegs entkräftet. Die gelegentliche Begriffsverwirrung ist in der englischsprachigen Forschung wohl nicht zuletzt auf das Fehlen englischer Termini für >Steigerung< beziehungsweise >Überbietung< zurückzuführen.23 Dabei berufen sich manche Forscher auf denfiguraBegriff Auerbachs, um die angebliche Aufhellung >typologischer< beziehungsweise >präfigurativer< Bezüge in mittelalterlichen Werken zu begründen, ohne jedoch zur Kenntnis zu nehmen, daß Auerbachs Verwendung vonfigura durchaus uneinheitlich war und sich von der engen theologischen Beziehung der beiden Testamente aufeinander bis auf eine subjektiv aufgefaßte Polarität zwischen Wirklichkeit und Ideal erstreckte.24 Wenn aber somit die christlich-biblische Typologie sich grundsätzlich nicht von der Allegorie trennen läßt, so hat man au22

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FRIEDRICH OHLY, Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung (ÖHRS., Schriften [wie Anm. 3] S. 312-337; zuerst in: Judentum im Mittelalter. Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch, hg. von PAUL WILPERT [Miscellanea Mediaevalia 4] Berlin 1966, S. 350-369); DERS., Außerbiblisch Typologisches zwischen Cicero, Ambrosius und Aelred von Rievaulx (DERS., Schriften [wie Anm. 3] S. 338-360; zuerst in: »Sagen mit sinne«. Festschrift Marie-Luise Dittrich [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 180] Göppingen 1976, S. 19-37); DERS., Halbbiblische und außerbiblische Typologie (DERS., Schriften [wie Anm. 3] S. 361-400; zuerst in: Simboli e simbologia nell'alto medioevo, 3-9 aprile 1975 [Settimane di studio del Centre Italiano di studi sull'alto medioevo 23/2] Spoleto 1976, S. 429-472), S. 361, Anm. l, gegen HARTMUT HOEFER und PETER JENTZMIK. Wie sich die Meinungen OHLYS in dieser Richtung bewährt haben, bezeugt zum Beispiel die Arbeit von ROBERT HOLLANDER, Typology and Secular Literature. Some Medieval Problems and Examples (Literary Uses of Typology from the Late Middle Ages to the Present, hg. von EARL MINER, Princeton 1977, S. 3-19), hier S. 3; zuletzt PETER VON Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die >historiae< im >Policraticus< Johanns von Salisbury (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 2) Hildesheim 1988, S. 105, Anm. 256. So wird in der maßgebenden englischen Übersetzung von ERNST ROBERT CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, durch WILLARD R. TRASK, European Literature and the Latin Middle Ages by Ernst Robert Curtius. Translated from the German, London 1953, >Überbietung< mit >outdoing< übersetzt (TRASK, S. 162-164; CURTIUS, S. 171-173), was dem deutschen Begriff des Überbietungstopos kaum gerecht wird. Andernorts steht für >Spannung, Steigerung und Überbietung< (CuRTius, S. 75) >suspense, climax, exaggeration (TRASK, S. 66), wovon die zwei letzten Begriffe einfach falsch übersetzt werden. Vgl. zum Beispiel ALAN CLIFFORD CHARITY, Events and their Afterlife. The Dialectics of Christian Typology in the Bible and Dante, Cambridge 1966, hier S. 198f.;LuCY G. COLLINGS, Structural Prefiguration in Gottfried's Tristan (Journal of English and Germanic Philology 72, 1973, S. 378-389), hier S. 378; vgl. ALOIS WOLF, diu wäre wirtinne - der wäre Elicon. Zur Frage des typologischen Denkens in volkssprachlicher Dichtung des Hochmittelalters (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 6, 1974, S. 93-131), dessen Auffassung einer säkularisierten Typologie< auch OHLY, Halbbiblische (wie Anm. 22) S. 361 , Anm. l, zuzustimmen scheint; weitere Literatur zur Typo-

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ßerdem erkannt, daß typologisches Denken Ausdruck eines allgemeingültigen historischen Wiederholungsprozesses ist, daß es immer wieder, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen, auftreten kann.25 Eine Vermeidung der Begriffsverwirrung wird umso wünschenswerter, wenn wir etwaige Grenzfälle in Betracht ziehen, welche die engere und die erweiterte Typologieauffassung überbrücken. So scheint zum Beispiel der Katalog von exemplarischen Vorbildern aus der antik-heidnischen Geschichte, die im dritten Buch des Megacosmos der >Cosmographia< des Bernardus Silvestris in den Sternen vorausgedeutet werden, sich auf den ersten Blick einer sehr breit angelegten Auffassung der historischen Anreihung anzupassen, wohingegen der Dichter aber das Verbumßgurat verwendet und die Reihenfolge der Vorbilder mit den christlichen Musterbeispielen von der Geburt Christi und vom zeitgenössischen Papst kulminieren läßt, was sogleich den Gedanken an eine Art halbbiblischer Typologie ins Spiel bringt.26 Als zweites Beispiel eines Grenzfalles in diesem Bereich sei die grundlegende Struktur der mittelalterlichen jüdischen Geschichtsschreibung genannt, wo eine >Typologie< im herkömmlichen christlichen Sinn von vornherein ausgeschlossen bleibt. Auch die jüdische Heilsgeschichte versteht die zeitgenössischen Ereignisse als eine gottgewollte Wiederholung oder Steigerung früherer Heldentaten, wobei zum Beispiel in den Chroniken über die Märtyrer zur Zeit des Ersten Kreuzzuges im Rheinland die Rückbesinnung auf Helden aus dem Talmud sowie auf Abrahams Bereitschaft zum Opfer seines Sohnes im Sinne einer Erfüllung eine entscheidende Rolle spielt.27 Auch die jüdische Geschichtsschreibung und Dichtung Andalusiens legt von der grundsätzlich zyklischen Geschichtsauffassung unter den mittelalterlichen Juden ein unverkennbares Zeugnis ab, wobei zumindest in der englischsprachigen Forschung ausdrücklich von Typologie die Rede ist.28 Das könnte wohl befremden, wenn nicht - abgesehen von der entscheidenden Beziehung zu Christus - sämtliche Kriterien für eine typologische

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logie im >Tristan< bei ALLGAIER (wie Anm. 8) S. 59; STEPHEN A. BARNEY, Allegories of History, Allegories of Love, Hamden/Conn. 1979, hier S. 29-38; gegen BARNEYS Auffassung der Typologie die Rezension von LiA SCHWARTZ LERNER (Romance Philology 36, 1982/1983, S. 596-603), bes. S. 598 , 601. Zu AUERBACH zuletzt CARL LANDAUER, >Mimesis< and Erich Auerbach's Self-Mythologizing (German Studies Review 11,1988, S. 83-96), bes. S. 90f. HOLLANDER (wie Anm. 22); vgl. JOHN MACQUEEN, Allegory, London 1970, S. 23: »Typological allegory forms an important subdivision of the more general prophetic and situational allegory, which is characteristic of Old and New Testament alike.« Zur Typologie in Gottfrieds Tristan vgl. ALLGAIER (wie Anm. 8) S. 59; weitere Literatur ebd. WINTHROP WETHERBEE, The >Cosmographia< of Bernardus Silvestris. A Translation with an Introduction and Notes, New York - London 1973, S. 47f.; WHITMAN (wie Anm. 3) S. 239. ROBERT CHAZAN, European Jewry and the First Crusade, Berkeley - Los Angeles London 1987,8.114-132. A Critical Edition with Translation and Notes of the Book of Tradition (Sefer ha-Qabbalah) by Ibrahim ibn Daud, hg. von GERSON D. COHEN, Philadelphia 1967, bes. S. 263-303; Ross BRANN, Andalusian Hebrew Poetry and the Hebrew Bible. Cultural

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Denkweise nach den Maßstäben der Prophezeiung, Präfiguration, Steigerung, Erfüllung und so weiter vorhanden wären. Dabei ist zu bedenken, daß den Ergebnissen der neueren Forschung auf dem Gebiet der jüdischen Geschichte zufolge, die im Gegensatz zu älteren Werken die engen Beziehungen zwischen christlichen und jüdischen Gelehrten bis ins 12. Jahrhundert und den jüdischen Anteil an den allgemeinen kulturellen Entwicklungen Europas betonen,29 die jüdischen Denkmuster, wenn auch sicher zum Teil durch die realen Erfahrungen der europäischen Juden seit der Diaspora tief geprägt, höchstwahrscheinlich auch durch die typologische Struktur der mittelalterlichen christlichen Geschichtsauffassung stark beeinflußt wurden. Es liegt auf der Hand, daß es leichter ist, solche Grenzfälle am Rande der rein christlichen Typologie - sowie die thematischen Beziehungen >präfigurativer< Art innerhalb weltlicher Literaturwerke - anhand einer anderen Terminologie zu erklären, als sie auf die Gefahr terminologischer Sprengung in das christlich-biblische Schema zu zwängen.30 Der Verteidiger der zur Diskussion stehenden kritischen Methode in der Columbia-Debatte, Richard E. Kaske, hat vernünftige Richtlinien aufgestellt, die ihre Gültigkeit bewahrt haben. Es erhebt sich die Frage, ob wir sie verfeinern oder entwickeln können. Der Deuter exegetischer Bildersprache in literarischen Texten »must not be content to reduce it indiscriminately to the most inclusive and uniform terms« - etwa die reduktive Polarität caritas - cupiditas Robertsons - »but must analyze carefully its precise meanings in its particular contexts«.31 In bezug auf die weltliche Dichtung hat Kaske dieselben Fragen gestellt, die uns heute noch angehen. Gibt es eine theoretische Grundlage für die Aneignung bei mittelalterlichen Dichtern von Motiven aus der exegetischen Überlieferung? Inwiefern deuten solche Motive eher auf eine kohärente Sinnebene, die über den wörtlichen Sinn hinausgeht, als auf eine bloße Reihe einzelner Anspielungen? Inwiefern wird der vierfache Schriftsinn systematisch verwendet? Zumindest auf die letzte Frage können wir in Hinsicht auf die neuere germanistische Forschung antworten, daß uns die streng systematische Anwendung der drei Stufen des geistigen Sinns des Wortes in einem außerbiblischen Werk gewöhnlich nicht begegnet, wenn man bedenkt, daß sie auch in der deutschsprachigen Bibeldichtung und sogar in der lateinischen exegetischen Überlieferung selbst über die Anwendung zweier Stufen in einem jeweiligen Kontext nur selten hinausgeht.32 Die neueren Einsichten in die mittelalterliche

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Nationalism or Cultural Ambiguity? (Approaches to Judaism in Medieval Times, Bd. 3, hg. von DAVID R. BLUMENTHAL [Brown Judaic Studies 134] Atlanta/Georgia 1988, S. 102-131), S. 118. HERMANN HAILPERIN, Rashi and the Christian Scholars, Pittsburgh 1963; CHAZAN (wie Anm.27)S. 133-136, 149ff. Vgl. die Bemerkungen HARTMUT FREYTAGS (wie Anm. 21) S. 32f. und Anm. 28, und das Resümee von KURZ (wie Anm. 3) S. 43-45. KASKE (wie Anm. 5) S. 29. KASKE (wie Anm. 5) S. 31; vgl. WHITMAN (wie Anm. 3) S. 130. Daß eine vollentwickelte Anwendung des vierfachen Schriftsinnes bei ausführlichen Textstellen an die Grenzen

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Literatur allgemein bestätigen auch, daß die Situationsgebundenheit der Einzelepisoden immer eine wesentliche Rolle spielt: Wenn etwa die Gestalten mittelalterlicher Werke im Vergleich mit modernen Auffassungen des menschlichen Charakters beziehungsweise der menschlichen Entwicklung nicht konsequent handeln, so ist es umso weniger zu erwarten, daß die Einführung einer bestimmten exegetischen Anspielung im allgemeinen mehr als den unmittelbaren Kontext erhellen will. Trotzdem hat Kaske selbst gezeigt, daß in einem Werk, das auf den ersten Blick für unsere Problematik sehr wenig verspricht, dem derben Märe >The Miller's Tale< bei Chaucer, eine Motivkette aus dem Hohen Lied, die nach dem sensus litteralis sowie nach dem sensus spiritualis konsequent durchgeführt wird, auf ein grundsätzlich neues Verständnis des Werkes deutet, nach dem das Benehmen der der körperlichen Liebe ergebenen Liebenden im ironischen Gegensatz zur gehobenen Erotik des Hohen Liedes und dessen geistiger Dimension steht.33 Es ist kaum ein Zufall, daß es sich in dieser Analyse, wohl einer der erfolgreichsten Interpretationen mittelalterlicher Literaturwerke im Lichte der Allegorieforschung überhaupt, um das biblische Buch handelt, für das nach mittelalterlicher Auffassung der geistige Schriftsinn unentbehrlich blieb und dem neuerdings auch in der modernen Literaturtheorie in Hinsicht auf seine dichterisch-allegorische Bedeutung besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.34 Die Möglichkeit, daß die Einbeziehung einer allegorisch-exegetischen Dimension in die Dichtung einen vom Dichter intendierten Doppelsinn implizieren könnte, wie vielleicht in der Bildersprache der ottonischen Gedichte Walthers von der Vogelweide,35 führt zu Gedanken über die neuere Ironieforschung,

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der vernünftigen Interpretation stoßen kann, sei an einem völlig unernsten Beispiel gezeigt: Der Beschreibung seines überladenen autobiographischen Romans nach den vier Sinnen durch den entlaufenen Mönch Parlabane im mediävistisch gefärbten CampusRoman von Robertson Davies, The Rebel Angels, London 1982, S. 240-242, die wohl als eine Parodie der Übertreibungen ROBERTSONS zu verstehen ist. Sogar die sogenannte >ScheermesserSimplicissimus< hat man nach dem vierfachen Schriftsinn gedeutet: vgl. MATHIAS FELDGES, Ein Beispiel für das Weiterleben mittelalterlicher Denkstrukturen in der Barockzeit (Wirkendes Wort 20, 1970, S. 258-271), hier S. 264f., mit der ironischen Bemerkung von BLAKE LEE SPAHR, Of Razors, Toilet Paper and the Fate of Books (Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift Marian Szyrocki, hg. von NORBERT HONSZA - HANS-GERT ROLOFF [Chloe 7] Amsterdam 1988, S. 695-701), hier S. 696. KASKE (wie Anm. 5) S. 52-60; DERS., The Canticum Canticorum in the Miller's Tale (Studies in Philology 59,1962, S. 479-500); vgl. WAILES (wie Anm. 5) S. 25f. FRIEDRICH OHLY, Hoheliedstudien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200 (Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M., Geisteswissenschaftliche Reihe 1) Wiesbaden 1958; vgl. die modernen Interpretationen von D. LAWTON, Difficulty and Transference in the Song of Songs (Journal of the Australasian Universities Language and Literature Association 66, 1986, S. 179-192), und ZHANG LONGXI, The Letter or the Spirit: the Song of Songs, Allegoresis, and the Book of Poetry (Comparative Literature 39,1987, S. 193-217). DAVID A. WELLS, Imperial Sanctity and Political Reality: Bible, Liturgy and the Ambi-

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die besonders im englischsprachigen Raum gepflegt worden ist.36 Gegen den auf deutscher Seite gehegten Argwohn in dieser Hinsicht ist einzuwenden, daß schon Quintilian die Ironie als einen Zweig, ja sogar als die erste Unterabteilung der Allegorie behandelt hat.37 Diesen Rang hat sie durch die ganze rhetorische Überlieferung hindurch, zum Beispiel bei Donat, Isidor von Sevilla, Beda und sogar im deutschsprachigen Notker, behalten.38 Diese so enge Beziehung hat zur Folge, daß der Beweis, daß die Ironie in der Interpretation mittelalterlicher Literatur ein nicht nur gültiges, sondern auch ein zu erwartendes Kriterium bildet, umso mehr auf die höhere rhetorische Kategorie der Allegorie zutrifft. Obwohl Beda, den wir jetzt in Hinsicht auf den Versuch, die Bibelexegese mit der antiken Rhetorik in Einklang zu bringen, als das entscheidende Glied in der Überlieferungskette erkennen,39 die theologische Auffassung der Einzigartigkeit der heiligen Schrift wegen ihrer festgelegten, gottgegebenen geistigen Sinne weitergibt - wobei er freilich vom Standpunkt der modernen Allegorieforschung zwischen der bloß rhetorischen, tropischen allegoria in verbis und der den geistigen Sinn umfassenden allegoria infactis unzulänglich unterscheidet40 -, bleibt die Tatsache bestehen, daß mittelalterliche Schriftsteller in der Praxis weder diesen Unterschied aufrechterhalten noch die betreffende Problematik durchdenken. Jede scheinbare Inkonsequenz ist dem Verlangen nach Harmonie unterworfen. Obwohl die Erkenntnis des Unterschieds zwischen rhetorischer und exegetischer Überlieferung von größter Bedeutung ist, nicht zuletzt deswegen, weil wir erst durch sie zur Einsicht in die Art ihrer Verschmelzung gekommen sind, sehen wir jetzt ein, daß die Versuche moderner Kritiker und Theoretiker, einen Gegensatz zwischen der rhetorisch-poetischen, sogar weltlichen Allegorie einerseits und der hermeneutischen, geistlichen, gottgegebenen Allegorie andererseits aufrechtzuerhalten, auch wenn diese Versuche etwa bei Augustinus anfangen, der Situation der mittelalterlichen Literatur und der eigentlichen Praxis ihrer Schriftsteller nicht entsprechen.41

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valence of Symbol in Walther von der Vogelweide's Songs under Otto IV (Speculum 53, 1978,8.479-510). DENNIS H. GREEN, Irony and the Medieval Romance (Forum for Modern Language Studies 6, 1970, S. 49-64); DERS., Alieniloquium. Zur Begriffsbestimmung der mittelalterlichen Ironie (Verbum et signum [wie Anm. 21] Bd. II, S. 119-159); DERS., Irony in the Medieval Romance, Cambridge 1979. KURZ (wie Anm. 3) S. 35f., 38, zu Marcus Fabius Quintilianus, Institutionis oratoriae libri XII, lateinisch-deutsch hg. von HELMUT RAHN, 2 Bde. (Texte zur Forschung 2-3) Darmstadt 1972-1975, VIII 6,54; vgl. GREEN, Irony in the Medieval Romance (wie Anm. 36) S. 7. GREEN, Irony in the Medieval Romance (wie Anm. 36) S. 14-18; weitere Literatur ebd. MACQUEEN (wie Anm. 25) S. 49f.; zitiert von GREEN, Irony in the Medieval Romance (wie Anm. 36) S. 16. ARMAND STRUBEL, >Allegoria in factis< et >Allegoria in verbis< (Poetique 23, 1975, S. 342-357); WHITMAN (wie Anm. 3) S. 128f. MEIER, Überlegungen (wie Anm.13) S. 32,46, 64-69; ERNST HELLGARDT, Erkenntnistheoretisch-ontologische Probleme uneigentlicher Sprache in Rhetorik und Allegorese (Formen und Funktionen der Allegorie [wie Anm. 1] S. 25-37); vgl. DIETRICH

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Wir wenden uns nun einigen Grenzbereichen zu, wo weitere Forschung notwendig erscheint. Während Kaske eine Vielfalt von Einzelarbeiten über mittelalterliche Werke als ein Desiderat ansah, das auf die Beiträge der exegetischen Überlieferung zur Bedeutung von Beschreibungen, Redewendungen, Figuren, Kurzstellen und so weiter abzielen sollte,42 ein Programm, das im mittelenglischen Bereich nicht ohne Erfolg aufgenommen worden ist, haben die Arbeiten der Münsterschen Schule, abgesehen von wichtigen Kommentaren zu theologisch orientierten Dichtungen, in erster Linie vielmehr im Sinne der Forschung Ohlys die exegetische Überlieferung selbst behandelt.43 Wie die verschiedenen methodologischen Ansätze einander gegenseitig befruchten können, liegt auf der Hand. Die Lexika auf dem Gebiet der Bedeutungsforschung werden zu einem zunehmend vollständigen Korpus, anhand dessen man die kritische Beurteilung von Werken nicht ausdrücklich theologischen Inhalts überprüfen kann.44 Das trifft zum Teil auf die eigentliche Thematik der mittelalterlichen res und significata zu: Wenn wir zum Beispiel festgestellt haben, daß die Lerche und der Schwan im Gegensatz etwa zum Löwen bis ins 12. Jahrhundert eine ganz unbedeutende Rolle in der Exegese spielen und somit unseren nachromantischen Vorstellungen widersprechen,45 dann wissen wir a priori, daß der Auftritt eines Löwen in einer Romandichtung eher eine allegorische Bedeutung als die beiden Vögel haben könnte. Das gilt aber auch für die Sprache der Allegorese: Da die Forschung nun den Wortschatz herausgearbeitet und gesichtet hat, mit dem die allegorischen Beziehungen in lateinischen sowie frühmittelhochdeutschen religiösen Werken ausgedrückt werden, wo sie außer Zweifel vorhanden sind,46 haben wir gute Aussichten auf die Entdeckung der semantischen und metaphorischen Grundlage der potentiellen allegorischen Bedeutungen in Werken, wo die Allegorie nur implizit erscheint, und somit auf eine Erweiterung der Kenntnis der unsicheren Beziehungen zwischen der frühmittelhochdeutschen geistlichen Dichtung und den Werken der klassischen Blütezeit. Der Gegensatz zwischen Geistlichem und Profanem im Mittelalter bildet ei-

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SCHMIDTKE, Formen und Funktionen der Allegorie (Daphnis 15, 1986, S. 135-147), bes. S. 144. KASKE (wie Anm. 5) S. 31 f. OHLY (wie Anm. 3) S. 24. Wie Anm. 15; dazu SCHMIDTKE (wie Anm. 20). WIEBKE FREYTAG, Zu Hartmanns Methode der Adaptation in Hartmanns Erec (Euphorien 72, 1978, S. 227-239), S. 234, Anm. 32, zitiert SCHMIDTKE (wie Anm. 20) S. 405 (Schwan). Zu den wenigen mittelalterlichen Belegen der Lerche vgl. VERENA DOEBELE-FLÜGEL, Die Lerche. Motivgeschichtliche Untersuchung zur deutschen Literatur, insbesondere zur deutschen Lyrik (Quellen und Forschungen N.F. 68) Berlin 1977, vgl. SCHMIDTKE (wie Anm. 20) S. 330f.; zum Löwen SCHMIDTKE (wie Anm. 20) S. 331-347. HANS-JÖRG SPITZ, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends (Münstersche MittelalterSchriften 12) München 1972; HARTMUT FREYTAG, Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des 11. und 12. Jahrhunderts (Bibliotheca Germanica 24) Bern 1982.

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nen weiteren Grenzbereich, wo wir uns um ein besseres Verständnis bemühen sollten. Man hat mit Recht betont, daß die Abgrenzung bei weitem nicht so schroff wie heute war.47 Die Forschung der letzten dreißig Jahre läßt den Unterschied immer mehr verschwimmen. Neben den großen Literaturwerken, die beide Bereiche umfassen, deutet der Gebrauch von Kontrafaktur und Parodie in Musik und Text der Lyrik darauf hin, daß sich Dichter und Publikum leicht über irgendwelche eventuellen Grenzen zwischen beiden Bereichen hinweg bewegen. Die Tatsache, daß einzelne Kleriker von einem mehr oder minder asketischen Standpunkt das ganze Mittelalter hindurch verschiedene Literaturwerke verurteilen, weil sie angeblich irgendwo auf einer Skala stehen, welche sich vom Begriff der >Weltlichkeit< bis zur >Sündhaftigkeit< ausdehnt, hilft uns mit dem grundsätzlichen ästhetischen Problem nicht weiter. Ist eine Dichtung, in der menschliches Benehmen oder moralische Gedanken auf eine ernste Weise behandelt werden, überhaupt als rein >profan< zu bezeichnen angesichts des schon erwähnten universalen Anspruchs der Weltanschauung, die sich in der ontologisch begründeten Allegorie äußert? Auch an der Grenze zwischen der festen Überlieferung der Bibelexegese und dem unsicheren Bereich der allegorischen Bedeutung der weltlichen Literatur stehen die apokryphen Texte und die apokryphen Motive, die vereinzelt in die Bibeldichtung einbezogen wurden. In der allegorischen Auslegung solcher Motive, die in die großen Sammelwerke, wie zum Beispiel das »Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen«,48 nicht aufgenommen wurden, scheint wie etwa bei der schon erwähnten populären Typologie im Spätmittelalter die dichterische Inspiration im Unterschied zum Rückgriff auf die bestimmte exegetische Überlieferung eine verhältnismäßig größere Rolle zu spielen. Peter Kern hat zum Beispiel auf das aus antiken Geschichtsschreibern hergeleitete Motiv der drei Sonnen hingewiesen, die in eine Sonne zusammenlaufen. Dieses Motiv wurde ursprünglich als der Wandel vom römischen Triumvirat zur Alleinherrschaft gedeutet. Unabhängig vom historischen Kontext wurde der Allegorie eine trinitarische Bedeutung hinzugefügt. Den entscheidenden Schritt macht dann Petrus Comestor, indem er die christlich-trinitarische Auslegung mit dem vorgegebenen historischen Zusammenhang verbindet.49 Durch dieses Beispiel gewinnen wir einen Einblick in die Festlegung allegorischer Bedeutungen im Hochmittelalter, zu einer Zeit also, wo die apokryphen Kenntnisse zur biblischen Geschichte verschmolzen wurden und selbst eine Auslegung erforderten, die ihrerseits dann auch in der spätmittelalterlichen Überlieferung als bindend 47

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KASKE (wie Anm. 5) S. 29; HANS ROBERT JAUSS, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung (La litterature didactique, allegorique et satirique [Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters VI, 1] Heidelberg 1968, S. 146-244); MEIER, Überlegungen (wie Anm. 13) S. 27-29. MEYER - SUNTRUP (wie Anm. 15). PETER KERN, Trinität, Maria, Inkarnation. Studien zur Thematik der deutschen Dichtung des späteren Mittelalters (Philologische Studien und Quellen 55) Berlin 1971, S. 14-19.

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galt. Das ist wiederum eine Bestätigung der Ansicht, daß in der Auslegungspraxis zwischen kanonischem Bibeltext und anderen Texten kein Unterschied gemacht wurde. Dem Geschichtsschreiber geht es um die Einbeziehung antikheidnischer, weltlicher, apokrypher Allegorien in das allumfassende christliche Netz: Wenn aber die Einschränkung der exegetischen Methode auf die Bibel nicht einmal von Berufstheologen befolgt wurde, so stand der allegorischen Nachahmung bei den Dichtern - das Musterbeispiel ist selbstverständlich Gottfried - nichts im Wege. Schon auf der theologischen Seite hatte die dichterische Phantasie in der Feststellung allegorischer Bedeutungen eine wesentliche Rolle gespielt.50 Die Untersuchung Kerns weist auf ein zweites Beispiel der apokryphen Allegorese, wo in der >Vita Beate Virginis Marie et Salvatoris Rhythmica< und in den von ihr abgeleiteten mittelhochdeutschen Werken die drei Hölzer der Arche Noahs die Trinität bedeuten. Sonst begegnet diese Allegorie nirgends, nicht einmal in den langen Verzeichnissen trinitarischer significata, die für spätmittelalterliche Trinitätspredigten kennzeichnend sind. Da eine bestimmte Quelle fehlt, argumentiert Kern, daß der Dichter, dem die drei Hölzer des Kreuzes als eine übliche Allegorie der Trinität vertraut waren, die Hölzer des Kreuzes einfach durch die wenig bekannten Hölzer der Arche ersetzte.51 Wenn Kern Recht hat und eine eigentliche Quelle nicht vorliegt, gewinnen wir hier wiederum einen Einblick in den Denkprozeß eines spätmittelalterlichen Dichters, der bei der außerbiblischen Allegorese zugleich auf die feste Überlieferung zurückgreift und anhand freier Assoziationen vorgeht. Um die Entwicklung solcher allegorischer Assoziationen im Mittelalter zu begründen, brauchen wir Detailstudien ähnlicher Fälle, wobei selbstverständlich die historische Überlieferung der einschlägigen Allegorien eingehend untersucht werden sollte. Nur durch eine historische Untersuchung wäre etwa im zitierten Beispiel die Häufigkeit der trinitarischen Allegorie der drei Hölzer der Arche, in der das notwendige Tertium comparationis des Argumentes besteht, zu begründen. Aber man begegnet nur gelegentlich einem ähnlichen Denkprozeß bei der Verwendung eines Tertiums in den Interpretationen der Forscher, wobei vor allem typologische Christusbezeichnungen mit idealisierten Legen50

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Vgl. JAUSS (wie Anm. 47) S. 153, zur französischen religiösen Dichtung des 13. Jahrhunderts, wo sich »der Übergang von textgebundener allegorischer Auslegung zu freieren, zum Teil rein meditativen Formen allegorischer Dichtung« abzeichnet. Schon Augustinus bestätigt die Rolle der Einbildung bei der geistigen Sinnerschließung, wie aus seiner Deutung der letzten Plage Ägyptens hervorgeht: s. DAVID A. WELLS, The Vorau Moses and Balaam. A Study of their Relationship to Exegetical Tradition (Modern Humanities Research Association, Dissertation Series 2) Cambridge 1970, S. 20, 29, Anm. 14. KERN (wie Anm. 49) S. 20-26; zum Problem der Quellen der >Vita rhythmica< vgl. ACHIM MASSER, Bibel, Apokryphen und Legenden. Geburt und Kindheit Jesu in der religiösen Epik des deutschen Mittelalters, Berlin 1969, S. 70-73; DERS., Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 19) Berlin 1976, S. 103f.

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den- oder Romanhelden in Verbindung gebracht werden. So hat Kaske die Vermutung nahegelegt, daß der Held von >Piers PlowmanKrone< Heinrichs von dem Türlin57 und im >Wigalois< Wirnts von Gravenberg58 besonderen Nachdruck gelegt hat. 52 53 54

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KASKE (wie Anm. 5) S. 48. WILLSON, Kalogreant's Curiosity (wie Anm. 7); CLIFTON-EVEREST (wie Anm. 7). H. BERNARD WILLSON, The Grail King in Wolfram's >Parzival< (Modern Language Review 55, 1960, S. 553-563); SCHRÖDER, Die Soltane-Erzählung (wie Anm. 7); THOMAS KERTH, Parzival in Eden (Neophilologus 63,1979, S. 260-268). BRIAN O. MURDOCH, Hartmann's >Gregorius< and the Quest of Life (New German Studies 6, 1978, S. 79-100). PENELOPE BILLINGS REED DOOB, Ego Nabugodonosor. A Study of the Conventions of Madness in Middle English Literature, New Haven - London 1974, S. 86, 134f., 165207; vgl. WELLS, The Medieval Nebuchadnezzar (wie Anm. 20) S. 394-397. Zur AdamChristus-Typologie vgl. HARTMUT FREYTAG, Kommentar zur frühmittelhochdeutschen Summa Theologiae (Medium Aevum 19) München 1970, bes. S. 98. ALFRED EBENBAUER, Fortuna und Artushof. Bemerkungen zum >Sinn< der Krone Heinrichs von dem Türlin (Österreichische Literatur zur Zeit der Babenberger. Vorträge der Lilienfelder Tagung, hg. von ALFRED EBENBAUER - FRITZ PETER KNAPP - INGRID STRASSER [Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 10] Wien 1977, S. 25-49), bes. S. 38f.; ERNST S. DICK, Tradition and Emancipation. The Generic Aspect of Heinrich's Crone (Genres in Medieval German Literature, hg. von HUBERT HEINEN - INGEBORG HENDERSON [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 439] Göppingen 1986, S. 74-92), bes. S. 77, 87, Anm. 21. Gegen diese Forschungsrichtung FRITZ PETER KNAPP, Virtus und Fortuna in der Krone. Zur Herkunft der ethischen Grundthese Heinrichs von dem Türlin (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 106, 1977, S. 253-265); DERS., Heinrich von dem Türlin. Literarische Beziehungen und mögliche Auftraggeber, dichterische Selbsteinschätzung und Zielsetzung (Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen/Längsee vom 8. bis 13.9.1980, hg. von ALEXANDER CELLA - PETER KRÄMER [Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 16] Wien 1981, S. 145187), bes. S. 157. Zu Gaweins Erlösungstaten vgl. CHRISTOPH CORMEAU, >Wigalois< und >Diu CröneLancelotrichtige< Deutung des Löwen gibt, auf die der wohl mit der exegetischen Überlieferung vertraute Dichter abgezielt haben mußte und die unter den in der exegetischen Überlieferung angegebenen Möglichkeiten auszuwählen wäre, dann erscheinen die vielen Meinungsunterschiede der Forscher vielleicht doch weniger unvereinbar, als das etwa bei der Deutung eines Symbols in einem modernen Literaturwerk der Fall wäre. Die andere Möglichkeit, die durch Christel Meiers Darlegung der theoretischen Oppositionspaare in der Allegorieforschung nahegelegt wird,74 daß der Löwe sich auf kein in der Tradition festgelegtes signißcatum bezieht, sondern eher als Symbol eine schöpferische, produktive Kraft besitzt, führt auch nicht weiter, da sie nur auf noch weitere Bedeutungen schließen läßt, so daß wir gezwungen werden, mit Hansjürgen Linke die Summe der Vermutungen in ihrer Gesamtheit anzunehmen.75 Mit der erneuten Fragestellung ist der Kreislauf dieser Bemerkungen geschlossen. Daß die Fragen, die noch nicht genügend beantwortet sind, an Beispielen aus der klassischen Artusepik veranschaulicht wurden, gerade der Gattung, in der allegoria und integumentum zusammenfließen, ist kein Zufall.76 In Hinsicht auf die großen Leistungen der letzten Generation auf den Gebieten der ausgesprochen religiösen Dichtung sowie der theoretischen Allegorieforschung und der alles untermauernden Wissenschaft der mittelalterlichen Bedeutungskunde bestehen jetzt gute Aussichten, daß auch die Rolle der Allegorie in der Interpretation mittelalterlicher Dichtung überhaupt grundsätzlich geklärt werden kann.

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Ritter; Christus; der König); MICHEL STANESCO, Le Lion du chevalier. De la strategic romanesque a l'embleme poetique (Litteratures 19, 1988, S. 13-35; 20, 1989, S. 7-13; das heldenhafte Rittertum Iweins; ironische Deutungen des Löwen werden ausdrücklich abgelehnt). Vgl. auch WHITMAN (wie Anm. 3) S. 131 f.; WAILES (wie Anm. 5) S. 26f. KASKE (wie Anm. 5) S. 49-52. MEIER, Überlegungen (wie Anm. 13) bes. S. 41-52. HANSJÜRGEN LINKE, Epische Strukturen in der Dichtung Hartmanns von Aue, München 1968, S. 143-151. KNAPP (wie Anm. 16).

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Diskussionsbericht Der Diskussionsverlauf machte die Probleme der Legitimierung allegorischer Sinnfmdungsverfahren für die Interpretation poetischer Texte deutlich. Herr OHLY wies darauf hin, daß die jeweils besonderen Möglichkeiten der Deutungsangebote der einzelnen Gattungen zu beachten seien. Im >Nibelungenlied< etwa werde man im Unterschied zur Bibeldichtung über punktuelle Wissensreminiszenzen hinaus kaum Allegorisches vermuten dürfen. Auch lege der historia-Anspruch der Legende nur sparsame allegorische Angebote nahe. Dagegen halte der Artusroman eher Möglichkeiten bereit. Methodisch unsicher sei das Herangehen an die Problemstellung vom Blickwinkel späterer Zeugnisse des Verstehens. Hier könne es sich um posthume Aufladungen handeln, die den ursprünglichen Werkintentionen nicht gerecht würden. Die erste Frage müsse daher dem Bildungsstand der Autoren gelten. Nur so könne abgeschätzt werden, was dem jeweiligen Dichter an impliziten Deutungen zuzutrauen sei. In diesem Zusammenhang brachte Herr HARMS das grundsätzliche Problem der Verfügbarkeit von Ergebnissen der Bedeutungsforschung77 für andere Forschungsinteressen zur Sprache. Dabei ergebe sich, abgesehen von der Unterscheidung lateinisch und volkssprachlich tradierter Wissensbestände, die Schwierigkeit der Übertragungen von Deutungsangeboten aus dem geistlichen in säkulare Bereiche, wie sie sich konkret etwa anhand der spirituellen Deutung von Zahlen in den Artusromanen Hartmanns beschreiben ließe. Dazu antwortete Herr WELLS, eine solche Übertragung sei nur dann gerechtfertigt, wenn durch den Kontext mehrere Anhaltspunkte für eine bestimmte Deutung gegeben seien. Als Beispiel für die Problematik von Deutungsübertragungen im dichterischen Bereich nannte Herr HIRDT Giovanni Boccaccios >DecameroneDivina Commedia< entspreche. Während bei Dante in der Zuordnung von Sünde und Raum Entscheidungssicherheit zu beobachten sei, fehle diese bei Boccaccio. Unklar bleibe, ob der Dante-Interpret Boccaccio der >Divina Commedia< eine >menschliche Komödie< entgegengesetzt habe. Herr SPECKENBACH hob die unterschiedlichen Voraussetzungen im Hoch- und Spätmittelalter und in den verschiedenen Gattungen hervor, die bei der allegorischen Befragung von Texten zu berücksichtigen seien, und wies auf die Notwendigkeit von Interpretationssignalen hin. Zu der von Herrn WELLS erwähnten Deutung von Gala(h)ads Befreiung der Jungfrauen-Burg bei Thomas Malory sagte Herr SPECKENBACH, schon im >Prosa-Lancelot werde Gala(h)ads Tat mit der Befreiung der Seelen durch Christus in Beziehung gebracht.78 Das Verhältnis Gala(h)ad - Christus sei jedoch nicht als Typologie zu verstehen, da wesentliche Merkmale der Typologie - etwa das der Überhöhung - fehlten, sondern als Imitatio zu bezeichnen. Frau FREYTAG gab zu bedenken, daß der Begriff >Allegorie< in der mittelalterlichen Theorie different gebraucht werden könne und 77 78

Genannt wurden: SCHMIDTKE (wie Anm. 20); MEYER-SUNTRUP (wie Anm. 15). Vgl. oben S. 17 mit Anm. 59.

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daß etwa bei Thierry von Chartres, Alanus ab Insulis und im >Prosa-Lancelot< unterschiedliche Konzepte von Allegorie vorlägen. Es sei zu prüfen, ob der Spielraum zwischen den theoretischen Ansätzen Anhaltspunkte dafür liefern könne, welche poetischen Möglichkeiten denkbar und welche Verfahrensweisen bei der Interpretation vertretbar seien. Darauf sagte Herr WELLS, auf die Möglichkeit des integumentutn eingehend, ihn habe die Enthüllung schöpferischer Allegorie interessiert. Dazu habe er nach Grundregeln gesucht. Demgegenüber gab Herr RUBERG zu bedenken, daß die Formulierung von Grundregeln nicht ausreiche. Als Beispiel könne die Einteilung des >Ackermann< in 33/34 Kapitel dienen. Auch wenn die Zahlen 33/34 als Lebensalter Christi und aetas plenitudinis biblisch sanktioniert seien, müsse doch offen bleiben, ob die Deutungstradition in der Anzahl der Kapitel wirksam geworden sei. Herr WELLS teilte die Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit einer generelleren Antwort. Herr MEYER unterstrich noch einmal die Wichtigkeit von Indizien, die eine bestimmte Deutung nahelegten, und führte die Bedingungen allegorischer Sinnerschließung am Beispiel der Zahlenangaben im >Gregorius< näher aus.79 Herr HUBER formulierte als Interpretationsmaxime, die exegetischen Signale sollten sich zu einem kohärenten Kontext schließen.

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Vgl. FRITZ TSCHIRCH, 17 - 34 - 153. Der heilsgeschichtliche Symbolgrund im >Gregorius< Hartmanns von Aue (Formenwandel. Festschrift Paul Böckmann, hg. von WALTER MÜLLER-SEIDEL - WOLFGANG PREISENDANZ, Hamburg 1964, S. 27-46).

WALTER BLANK Zur narrativen Bildstruktur im Mittelalter

Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf bildhaftes Sprechen, nicht auf graphische Bildlichkeit. Bildhaftes Sprechen gilt gemeinhin als unmittelbares Sprechen, als Ausdrucksqualität der Ganzheit und der Vermittlung über den Weg spontaner Betroffenheit und Einsicht. Obwohl es sich hierbei um eine grundsätzliche anthropologische Beobachtung handelt, wird der schriftliche Niederschlag solcher Rede häufig reduziert auf die menschliche Frühgeschichte und deren Äußerung in mythologischen Erzählungen. Auf diese Weise gilt der Mythos als früheste sinndeutende Welterklärung in Bildern. Nach der bekannten Formel »Vom Mythos zum Logos«1 aber konstatiert man in der geistigen Entwicklung des Menschen zur Neuzeit hin eine progressive Tendenz zur Rationalisierung, die im Sprechen und Schreiben einen zunehmenden Bildsubstanzverlust zur Folge hat. Dieser Umbruch ist im Mittelalter in der Konkurrenz des rationalisierenden Verfahrens der Allegorese und eines scheinbar traditionellen Erklärens im Bild-Erzählen gut zu beobachten. Der Unterschied in der Bildbehandlung von Allegorie und Erzählung mag uns dabei helfen, die spezifische Bildlichkeit weltlichen mittelalterlichen Erzählens im Roman genauer zu erfassen. Ich möchte mich dem Problem in drei Schritten nähern. In einem ersten Teil zeige ich Strukturmerkmale auf, indem ich die Theorie der Allegorese mit jener der narrativen Bildrede kontrastiere. Im zweiten Teil konkretisiere ich die Theorie an Beispielen. Der dritte Teil leitet daraus nur andeutungsweise eine Modelltypik ab, in der sich exemplarisch gattungsspezifische Unterschiede der Bildbehandlung in der Narrativik und der Allegorese in einem größeren Deutungsrahmen abzeichnen.

l. Theorie Es ist das bleibende Verdienst Friedrich Ohlys und seiner Schüler, die im Mittelalter noch präsenten Verweisstrukturen der Dingebene auf die Bedeutungsebene hin wieder in unser Bewußtsein gebracht zu haben. Für den Philologen, der diese Gegebenheit für weltliche Dichtungen in Rechnung stellen soll, ist aber Ohlys nächster Schritt kaum weniger wichtig: daß das theologische Deutungsverfahren der Allegorese auf den säkularen Bereich übertragbar ist.2 Dabei sind jedoch 1 2

WILHELM NESTLE, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940. An der grundsätzlichen Berechtigung dieser Übertragung im Begriff der mußerbiblischen Typologie< durch OHLY ist heute trotz des Einspruchs von WERNER SCHRÖDER

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zwei entscheidende Veränderungen zu berücksichtigen: Erstens geschieht eine Reduktion der theologischen Erklärungsdimension auf ein rein formales Verfahren, das lediglich eine Vergleichsebene von Bild und Bedeutung vorgibt. Zweitens ergibt sich dadurch für die Bild-Sinn-Struktur eine Funktionsverschiebung. Das bedeutet, daß in weltlicher Dichtung hier nicht mehr a priori einem Ding oder Bild eine ontologisch mitgegebene Sinnebene eignet, sondern daß die formale Venveisstruktur in ihrer Zielrichtung erst aus dem poetischen Kontext herausgearbeitet werden muß. Dies ist der Ausgangspunkt unserer Betrachtung, die sich ausschließlich auf weltliche Dichtung bezieht. Die Hinweis-Ebene des weltlich allegorischen Bildes wird in ihrer Bewertung dadurch problematisch, daß ein ähnlicher Säkularisierungsprozeß gleichzeitig auch das welterklärende Erzählen des Mythos erfaßt hat. Er erscheint durch die Säkularisierung in seiner narrativen Form reduziert, so daß in der Dichtung die Gefahr besteht, daß Allegorese und Narrativik in ihrer jeweiligen Bildlichkeit nicht mehr unterschieden werden können. Harald Weinrich umschreibt diese Schwierigkeit folgendermaßen: »Der in seinem narrativen Charakter reduzierte und in seinem Ereignischarakter immobilisierte Mythos wird nun als ein Bild vergleichbar mit der Allegorie, die das Mittelalter so sehr geliebt hat. Die Allegorien des Rosenromans beispielsweise - Haine, Felonie, Vilanie, Avarice, Vieillesse, Papelardie - können gut auf Gartenmauern gemalt werden: sie enthalten in sich kein erzählerisches Element und haben keinen Ereigniswert; sie sind absolut statisch. Ihnen gleichen sich nun die immobilisierten Mythen an, um mit ihnen zusammen einen >Wald von Symbolen< (Baudelaire) zu bilden, durch den der schauende Mensch verwundert und verwirrt seinen Weg nimmt.«3 Was Weinrich hier also negativ beschwört, ist die Beobachtung einer überfrachteten Bildlichkeit ausgerechnet in den mythischen Erzählungen mit ihrem Anspruch der Welterklärung, während den Bildern selbst die spontane Evidenzfunktion verlorengegangen sei, die nun durch einen platten Begriff, ein Abstraktum benennbar wurde. Mit dieser Annäherung von Allegorese und Narrativik aber wird der Schluß auf eine Gleichsetzung beider nahegelegt, der keineswegs vollzogen werden darf. Dies wird aus einer Reihe von strukturellen Unterschieden deutlich, die einander hier schematisch knapp gegenübergestellt werden sollen. Das allegorische Verfahren konstituiert sich durch die miteinander korrespondierende Bild- beziehungsweise Bedeutungsebene, wie das bekannte Paradigma des vierfachen Wortsinns von >Jerusalem< verdeutlichen kann.4 Funktio-

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nicht mehr zu zweifeln. (Zur Forschungskontroverse s. FRIEDRICH OHLY, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, passim. Schröder-Schule: HARTMUT HOEFER, PETER JENTZMIK, WERNER SCHRÖDER; vollständige bibliographische Angaben bei OHLY, ebd. S. 361, Anm. 1). HARALD WEINRICH, Erzählstrukturen des Mythos (ÖERS. [Hg.], Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft, Stuttgart 1971, S. 137-149), hier S. 144. Dem Literalsinn von Jerusalem steht ein dreifacher Spiritualsinn von Jerusalem als

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nal ist dabei entscheidend, daß innerhalb dieses Systems und in seiner Verwendung der Sinn vorgegeben ist. Beispielsweise ist Gottfrieds fiktive Minnegrotte in ihrem Bildteil von der nachfolgenden ethischen Auslegung her gebaut, nicht umgekehrt, auch wenn der darstellerische Ablauf die Auslegung als eine vom Bild abgeleitete unterstellt. Literarisch ist im Text damit die Doppelheit von Ding- und Bedeutungsebene angelegt (ob diese nun verbal ausgeführt ist oder nicht). Funktional aber soll mit der Verwendung dieses Systems der Leser angeleitet werden, über das Vordergründige hinauszusehen und jene Ordnung des hintergründig Gemeinten zu betrachten. Deutlich ist, daß es sich dabei um einen Vergleich zweier Ordnungssysteme handelt: des vordergründigen Ding- oder Bildsystems, das in sich geschlossen ist, und des Hintergrundsystems, das sich ganz allgemein durch die Appellstruktur auszeichnet, den Sprung in die moralische oder allgemein übertragene Dimension zu vollziehen. Das aber setzt voraus, daß der Leser/Hörer jenes Übertragungssystem bereits kennt. Begrifflich ist diese Systemvergleichung am schärfsten durch die Entgegensetzung der beiden Einheiten von Typus und Antitypus vollzogen. Schon in seiner Antrittsvorlesung >Vom geistigen Sinn des Wortes< hat Ohly außerdem auf die Tatsache aufmerksam gemacht, daß der Vollzug dieser spirituellen Perspektive an Raum Vorstellungen gebunden ist. Er spricht vom »neuen Begriff des Wortbedeutungsraumes«, vom »geistigen Sinngebäude«, vom »Überbau auf dem Fundament des historischen Sinnes«.5 Die allegorische Übertragung zeigt sich somit darstellerisch in verschiedenen Raumdimensionen, die von der vorgegebenen Zielebene und deren intendierter Funktion des Leserbezuges je unterschiedlich situiert sein kann: als Bezug von unten und oben oder von innen und außen. Für die literarische Bildebene bedeutet das, daß die räumliche Anordnung des auszulegenden Bildes genau zu beachten ist, weil sich daraus die Übertragungsdimension bestimmt. Räumlicher Systemvergleich aber bedeutet, wiederum literarisch bewertet, ein statisches Betrachten und Vergleichen. Die Bildfunktion der Narrativik dagegen ist anders geartet. Entscheidendes Kennzeichen hier ist die lineare Erzählstruktur, in die sich die Bildlichkeit einordnet. Der Sinn eines Bildes, ob es sich etwa um die anziehende Idealtypik des Artushofes oder um einen Riesen handelt, ist nicht vorgegeben, sondern zielt auf eine Sinnfmdung hin. Dieses Finden aber ist das Ergebnis eines Verlaufs. Die Erzählung weist auch in der Bildfunktion eine Progressionsstruktur auf, die den Ablauf der Handlung mitbestimmt. Insofern unterscheiden sich in Hartmanns >Iwein< die vier Brunnenszenen funktional ganz deutlich, indem die diffeKirche Census allegoricus), als Seele des einzelnen Gläubigen (pensus tropologicus) oder als Raum der endzeitlichen Vollendung Census anagogicus oder eschatologicus) gegenüber. FRIEDRICH OHLY, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, zitiert nach dem separaten Druck (Libelli 218) Darmstadt 1966, S. 11, 14 (zuerst in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89, 1958/1959, S. 1-23; wieder abgedruckt in: DERS., Schriften [wie Anm. 2] S. l -31).

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rentia specified der scheinbar gleichen Raumdarstellung für den Protagonisten und die Erzählung insgesamt in der Zeitdimension liegt. Narrativik ist bestimmt durch einen konstitutiven Anfang und ein Ende, durch eine >Entwicklung< und durch eine Skala auf der Zeit-Achse. Biographische Erzählmodelle wie in allen Lancelot-Romanen oder wie in den Eltern-Vorgeschichten von Gottfrieds >Tristan< und Wolframs >Parzival< strukturieren einen nicht umkehrbaren Verlauf. Während der allegorische Bildverweis somit auf einen Systemvergleich in der Raumdimension hinausläuft, liegt der narrative Bildverweis in der sich zeitlich vollziehenden Entfaltung einer immanenten Grundstruktur, die mit dem Fortschreiten der Erzählung zunehmend freigelegt wird. Bevor diese allgemeine Bestimmung an Beispielen verdeutlicht werden soll, sind zuvor noch zwei begriffliche Unscharfen anzusprechen. Die erste bezieht sich auf den scheinbaren Widerspruch im Titel dieses Vertrags: >Narrative Bildstruktun. Die marrative Struktun, die die Erzählstruktur als den Ablauf einer Geschichte in ihrer Anlage und Darstellung meint, dürfte begrifflich klar sein. Wie aber steht es mit der Bildstruktur? >Bild< scheint ein statischer Begriff zu sein für etwas, das ohne diachrone Verschiebung synchron zur Anschauung kommt. Doch das muß nicht so verstanden werden. Der weitere Bildbegriff subsumiert darunter nicht nur ein Abbild oder Zeichen für etwas, das so und so ist, sondern steht auch dafür, was das Abgebildete tut (zum Beispiel der brüllende Löwe, der seine Beute zu verschlingen droht). >Narrative Bildstruktun hieße also, daß die Statik eines Bildes erzählerisch aufgelöst und in Bewegung umgesetzt wird; das, was ein Bild an impliziten Handlungsimpulsen enthält, soll entfaltet werden. Insofern gehört ein Bild dieser Art weder einfach zum rhetorischen Decorum, noch stellt es das literale Fundament für den allegorischen Überbau dar, sondern es initiiert aus sich heraus Handlungsdynamik. Die Verweisstruktur des narrativen Bildes bezieht sich auf den Ereigniswert. Das ist etwas fundamental anderes als der allegorische Sinn-Überbau. Die zweite Unscharfe bezieht sich auf die zum Vergleich herangezogene Allegorieform. In der Ding-Allegorese, in der die significationes des Bildes, diu meine, als Gleichungen im Text ausformuliert vorliegen (zum Beispiel in Gottfrieds Minnegrotten-Auslegung, 16923ff.), scheint die Differenz zur hier angesprochenen narrativen Bildstruktur einleuchtend. Wie steht es aber mit der HandlungsAllegorie etwa eines Hadamar von Laber,6 der in einigen hundert Strophen einer Jagdbeschreibung den Vorgang des Minnewerbens erläutert, oder noch ausgeprägter in der Typologie, die historische Vorgänge als ganze allegorisch deutet? Haben wir hier nicht ein der Narrativik voll vergleichbares Handlungsmodell vorliegen, das aufgrund der Vorgangs-Erzählung sogar der Zeitstruktur unterliegt? Ich meine nein. Doch hier wird ein direkter Vergleich sehr komplex, weshalb die anstehende Frage etwas grundsätzlicher anzugehen ist.7 6 7

Hadamars von Laber »Jagd«, hg. von KARL STEJSKAL, Wien 1880. Im folgenden führe ich einige Gedanken weiter aus, zu denen mich die Bedenken von KLAUS GRUBMÜLLER und FRANZ JOSEF WORSTBROCK in der Diskussion zu meinem

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Es sei in Erinnerung gerufen, daß unser Thema nicht der Vergleich zwischen Allegorese und Narrativik ist, sondern der Vergleich des kleinsten sprachlichen Bausteines in beiden Systemen, des Bildes und seiner Funktion. In der DingAllegorese geht die Deutung vom einzelnen Konkretum - einem Ding oder einem Bild - aus. Daher konnten aus diesem Modell dessen Strukturkriterien als Gleichsetzungen in einfacher und evidenter Form gewonnen werden. In der Handlungs-Allegorie dagegen sollen ganze Szenen oder Vorgänge auf eine Sinnebene hin transparent werden (zum Beispiel kann eine Jagd als Minnewerbung gelesen werden). Dabei werden bereits umfassende Bildfelder oder Abläufe ausgebreitet, die in dieser Form nur noch durch einen erweiterten Begriff des >Bildes< bezeichnet werden können. Die hier adäquate Vergleichsproblematik im Bild liegt für die Übertragung aber auf der Ebene der Metapher, wie bereits die rhetorische Definition Quintilians allegoriam facit continua melaphora* verdeutlicht. In diesem Bereich kommt es in der Tat zu Überschneidungen zur narrativen Struktur hin, die genauer zu betrachten sind. Uwe Ruberg hat in seinem Habilitationsvortrag9 einleuchtend gezeigt, daß realisierte Metaphern10 im Unterschied zu wörtlich verstandenen11 »handlungsbildend werden können« und somit »an der inventio dichterisch sinntragender Handlungsführung beteiligt« sind (S. 206). Er verdeutlicht dabei auch das fragliche Zwischenfeld, in welchem »episch realisierte Metaphern [...] durchaus mit proprie verstandenen zusammenwirken« können (S. 210). Die Kriterien, nach denen sich jedoch entscheidet, ob oder wo Metaphern wörtlich verstanden oder aber narrativ entfaltet werden, sollen aus dem Kontext »von Fall zu Fall« (S. 217) ermittelt werden. Das bedeutet, daß klar erkannt ist, daß in der Metapher »neben dem rhetorischen ein narratives Prinzip wirksam ist« (S. 216), welches auf eine ausgreifende Sinnebene hinschaut. Über die der Metapher eventuell vorgegebene Sinnstruktur wie in der Allegorie oder für deren Bezugsebene

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Vortrag sowie die anregende Kritik von FRIEDRICH OHLY, CHRISTEL MEIER-STAUBACH und CHRISTOPH HUBER im persönlichen Gespräch veranlaßt haben. HEINRICH LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, § 895. UWE RUBERG, >Wörtlich verstandene< und >realisierte< Metaphern in deutscher erzählender Dichtung von Veldeke bis Wickram (»Sagen mit sinne«. Festschrift Marie-Luise Dittrich, hg. von HELMUT RÜCKER - KURT OTTO SEIDEL [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 180] Göppingen 1976, S. 205-220). »Die Realisierung der Metaphen läßt metaphorische Bilder zu Elementen der dargestellten Wirklichkeit werden, läßt sie oft sich in einem Vorgang konkretisieren« (RUBERG [wie Anm. 9] S. 206), zum Beispiel die Metapher vom Feuer der Liebe, die im Prosa-Lancelot in der Erzählung des brennenden Grabes des Symeu handlungsmäßig umgesetzt wird (ebd. S. 211). Zur Begriflsdefinition s. die Literatur ebd. S. 218, Anm. 3. »[...] werde ich von proprie-Verwendung eines Wortes dann sprechen, wenn der Kontext >die von einem Wort mitgesetzte Determinationserwartung< [H. WEINRICH] erfüllt, sie also innerhalb des vorhersehbaren Bedeutungsumkreises aktualisiert« (RUBERG [wie Anm. 9] S. 205). >»proprie< meint [...] die Art der sprachlichen Darstellung, zunächst ohne Rücksicht auf assoziierbare Verstehensmöglichkeiten« (ebd. S. 206). Als Beispiel: die Hingabe des Herzens/der Topos vom Herzenstausch (ebd. S. 207). Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf RUBERGS Aufsatz.

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über die sprachliche proprie- Darstellung hinaus aber können keine allgemein verbindlichen Regeln erstellt werden. Die Grauzone im Bereich der Überschneidung von proprie gebrauchten und von metaphorice, translate, >übertragen< verwendeten Metaphern bleibt damit relativ weit, und die angegebenen Distinktionen greifen nur bedingt. Diese Schwierigkeit ist in der sehr gründlichen Untersuchung von Franziska Wessel12 durch eine noch schärfere Begrifflichkeit zumindest prinzipiell bereinigt. Sie unterscheidet in einem Vierersystem die »Wörtlichnahme einer Metapher«, die »Naturalisierung (Konkretisierung) einer Metapher«, die »epische Realisierung einer Metapher« und das Symbol (S. 203). Dabei zwingen die beiden erstgenannten durch objektiv erkennbare sprachliche Signale die Reflexion des Lesers auf eine bestimmte Sinndeutung hin; die beiden letztgenannten dagegen stehen für die subjektive Deutung des Lesers offen und sind in ihrer Sinnrichtung nicht zwingend verifizierbar. Der springende und uns interessierende Vergleichspunkt dabei sind die Interferenzen zwischen der »naturalisierten/konkretisierten Metapher« und der »episch realisierten Metapher«, da zwischen diesen beiden der Schnitt im System liegt. Die Schwierigkeiten bei der Erstellung einer Systematik und der zugehörigen Strukturanalyse liegen, wie bei Wessel deutlich wird, weniger in der deskriptiven und semantischen Erfassung der Metapher, sondern sie rühren von einer unterschiedlich verwendeten, sich überschneidenden Begrifflichkeit der verschiedenen Forscher her; so etwa wenn Schindele13 mit dem »szenisch realisierten Minnegeschehen« die epische Arrangierung von Ort und Zeit zu einem geschlossenen Raum des thematisierten Minnegeschehens meint, diese Bezeichnung aber inhaltlich nicht identisch ist mit der der »(episch) realisierten Minnemetaphorik« Wessels. >Episch realisierte Metaphorik< bezeichnet bei Wessel »Fälle, bei denen hinter dem episch in Szene gesetzten Bildspender der bildempfangende Bezugspunkt völlig zurücktritt, so daß es der Kombinationsfähigkeit und -freudigkeit des Lesers überlassen bleibt, ob er die betreffende Szene mit metaphorischem Hintersinn gefüllt sehen oder sie nur im epischen Wortsinn verstehen will. Diese sprachlich unscheinbaren, kaum je objektiv als solche nachweisbaren realisierten Metaphern« (S. 199f.) sind abgegrenzt von dem Phänomen der >naturalisierten< oder konkretisierten Metapher< Wessels, die hier Begriffe von Hugo Friedrich und Friedrich Ohly aufnimmt, diese aber im angegebenen Sinne neu bestimmt. An Schindeies Ausfüllung der szenischen Realisierung läßt sich sehr schön sehen, daß hier genau jenes geschlossene Raum-Zeit-Arrangement beschrieben ist, das ich oben unter der >allegorischen Bildstruktun dargestellt habe. Dieses 12

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FRANZISKA WESSEL, Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Straßburg >Tristan und Isolde< (Münstersche Mittelalter-Schriften 54) München 1984, bes. S. 195-215. Vgl. dort eine Fülle weiterführender Literatur. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Untersuchung von WESSEL. GERHARD SCHINDELE, Tristan. Metamorphose und Tradition (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 12) Stuttgart u.a. 1971, S. 56, 74-80, 92; davon abweichend WESSEL (wie Anm. 12) S. 200, Anm. 92.

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Raum-Zeit-Arrangement wird bei Wessel, an deren Systematisierung ich mich hier anlehne, der konkretisierten Metaphen zugewiesen, die sich von der >episch realisierten Metapher< unterscheidet. Wessels zentraler Schlüssel für die Unterscheidung sind vor allem zwei Gesichtspunkte: das bereits genannte Vorhandensein expliziter sprachlicher Signale bei der konkretisierten Metapher beziehungsweise deren Fehlen bei der episch realisierten Metapher, sowie die für die epische Metapher bislang kaum ausreichend gewürdigte »epische Autonomie«, in der die »erzählte Szene mit realistischer Wahrscheinlichkeit« für sich selbst steht; ihr kontrastiert die konkretisierte Metapher, die »meist in die epische Darstellung des Dichters eingefügt« ist und keinerlei epische Autonomie aufweist (S. 203). Demzufolge liegt auch die aufgezeigte verweisende allegorische Dingstruktur als objektiv signalisierte auf der Vergleichsebene der konkretisierten Metapher. Die episch realisierte Metapher aber trägt keine zwingende Auslegung in sich und kommt auch nie über eine subjektive Vorstellung ihres Interpreten hinaus. Dominant ist hier vielmehr die narrative Struktur auch innerhalb der Bildlichkeit und im Kontext der Metapher. Sobald geschlossene Erzähleinheiten also eine durch sprachliche Signale vorgegebene Sinnstruktur anpeilen, gehören sie nach Wessel in ihrem Bildcharakter von der Typik her zur konkretisierten Metapher, die nur deskriptiv einzuschätzen ist, weil sie in ihrer Bedeutung in einer für den Leser nicht freien, sondern vorgegebenen Weise von diesem transzendiert werden muß. Die scheinbaren Überschneidungen ergeben sich daraus, daß deskriptive Bildteile oder Vorgangsbeschreibungen (Gruppe der naturalisierten Metaphern) in die anders strukturierte episch autonome Darstellung eines Dichters (Gruppe der episch realisierten Metaphern) eingefügt sind und daß umgekehrt in konkret sinnbedeutende Gegenstands- oder Vorgangsbeschreibungen auch geschlossene Erzähleinheiten eingebaut werden. Diese sind dann als solche in dem anders gearteten Sinngefüge als funktional bedeutsame mit verwendet. Trotz dieser prinzipiellen Klärung durch Wessel bleibt das Problem, daß beim Fehlen expliziter Sprachsignale der Leser aufgrund des Kontextes die Hierarchisierung von Sinn entscheidet, ob nämlich - bei Überschneidung signifikativer und erzählerischer Teile - die allegorische oder die narrative Struktur dominiert. Von den drei Kriterien, die Wessel zur Entscheidung dieser Frage anbietet:14 Kontext, Gewicht der Szene und ihre epische Ausgestaltung, ist der Kontext wegen seines Skopus' der entscheidende Aspekt. Dabei ist »grundsätzlich [...] zu beachten, daß es realisierte Metaphern an sich< nicht gibt15 (genau so wenig wie es >Bildspender an sichAventiure< in Gottfrieds von Straßburg »Tristan« (Festschrift Hans Eggers, hg. von HERBERT BACKES [Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 94, Sonderband] Tübingen 1972, S. 88-125), S. 88ff.; LUCY G. COLLINGS, Structural Prefigurations in Gottfried's Tristan (Journal of English and Germanic Philology 72, 1973, S. 378-389); JOHAN NOWE, Riwalin und Blanscheflur. Analyse und Interpretation der Vorgeschichte von Gottfrieds »Tristan« als formaler und thematischer Vorwegnahme der Gesamtdichtung (Leuvense Bijdragen 71,1982, S. 265-330). Zahlreiche andere verdienstvolle Arbeiten zur Allegorie/Typologie im >Tristan< (zu anderen Szenen als der Vorgeschichte) mögen hier unerwähnt bleiben. Dies wird auch in HENNIG BRINKMANNS Ausführungen zum Integumentum deutlich (Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, S. 208, 211-214), in denen er den >Tristan< in der Rezeption der Liebesgeschichte von Pyramus und Thisbe als »integumentum für die Macht der Liebe« und für den »unlösbaren Zusammenhang von Liebe und Tod« deutet (ebd. S. 214). Ich bezweifle grundsätzlich, ob es legitim ist, einen ganzen Roman wie Gottfrieds >Tristan< als eine »geschlossen zweischichtige [integumentale] Erzählung« zu interpretieren, deren Gemeinsamkeit »als eine lockere Reihung potentieller integumenta mit durchweg demselben Bezug, der Minne« (WESSEL [wie Anm. 12] S. 211, Anm. 148) angesehen werden kann. Hier werden narrative Strukturen in unzulässigem Umfang einer überbordenden Sinnvorgabe untergeordnet, die vom Text nicht

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2. Beispiele Wie sich die narrative Bildstruktur in einem Roman um 1200 konkretisiert, soll hier nur an drei zusammenhängenden Beispielen aus dem >Lanzelet< Ulrichs von Zatzikhoven gezeigt werden. Ich wähle diesen Roman deshalb, weil die Diskussion um dessen erzählerische Struktur in den letzten zwanzig Jahren sehr intensiv, im Ergebnis aber kontrovers war.19 Gemeinsam ist allen Versuchen, daß sie kaum oder gar nicht auf die strukturelle Funktion der Bildlichkeit eingegangen sind, so daß die Möglichkeiten dieser Betrachtungsweise hier von den anderweitig gewonnenen Ergebnissen her überprüft werden können. Der Roman beginnt mit einer Beschreibung des Elternpaares Lanzelets, des Königs Pant und seiner Gattin Clärine. Schon vor der Geburt ihres Kindes wurde ihnen geweissagt, daz ez wurde ein wigant.20 Dieser Hinweis ist eine der üblichen Vorausdeutungen, die sowohl die Erzählhandlung wie die Lesererwartung

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mehr abgestützt ist und die nur unter Verlust subtiler erzählerischer Substanz erkauft werden kann. Zum integumentum HENNIG BRINKMANN, Verhüllung (»integumentum«) als literarische Darstellungsform im Mittelalter (Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter. Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild, hg. von ALBERT ZIMMERMANN [Miscellanea Mediaevalia 8] Berlin - New York 1971, S. 314-339); CHRISTEL MEIER, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen (Frühmittelalterliche Studien 10, 1976, S. 231-249), hier S. 9ff., 20ff, 27; DIES., Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert (Münstersche Mittelalter-Schriften 34/1) München 1977, S. 41 -44. Vgl. MICHEL HUBY, Remarques sur la structure du >Lanzelet< (Melanges pour Jean Fourquet, hg. von PAUL VALENTIN - GEORGES ZINK, Paris 1969, S. 147-156); ERNST HERBERT SOUDEK, Lancelot und Lanzelet: Zur Verbreitung der Lanzelotsage auf deutschem Sprachgebiet (Rice University Studies 57, 1971, S. 115-121); KURT RUH, Der >Lanzelet< Ulrichs von Zatzikhoven: Modell oder Kompilation? (Deutsche Literatur des späten Mittelalters, Hamburger Colloquium 1973, hg. von WOLFGANG HARMS LESLIE PETER JOHNSON, Berlin 1975, S. 47-55); WALTER HAUG, >Das Land von welchem niemand wiederkehrte Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chretiens >Chevalier de la CharretteLanzelet< Ulrichs von Zatzikhofen und im >LancelotLanzelet< (Zeitschrift für deutsche Philologie 98, 1979, S. 1-18); RENE PERENNEC, Artusroman und Familie. >das welsche buoch von Lanzeletx (Acta Germanica 11, 1979, S. 1-51); DIETER WELZ, Lanzelet im >schoenen waldeLanzeletLanzelet< zwar als typisch märchenhafte Konzeption und deren Motivfortschreibung ansehen. Aber damit würde man die in der Feendimension angelegten Strukturkomponenten nicht erfassen. Welche genauere Funktion hat also diese Dimension? Zwei Bildsignale der Erzählung mögen das genauer verdeutlichen: der Ausritt Lanzelets aus dem Feenland und die Paradiestopik beim Erwerb der Iblis. Zunächst zum Ausritt. Bei der Entsendung des namenlosen Helden von der Fraueninsel in die Welt (350ff.) zeigen sich die Qualitäten des Jungen wiederum in einem Bild, das strukturbedeutsam ist. Als er am Festland abgesetzt wird, heißt es: urloup nam der wigant; üfsln ros er gesaz. nu vernement seltsaeniu dinc. ez enkunde derjungelinc den zoum niht enthalden. er liez es heil walden und habe t sich an den satelbogen. (400-406)

Da er nicht reiten kann,22 er das Pferd aber mit den Sporen rührt, macht es die wildesten Sprünge. Der ihm begegnende Ritter Johfrit de Liez wundert sich über die Diskrepanz der glanzvollen ritterlichen Ausstattung des jungen Mannes und dessen offenkundiger Unfähigkeit, diese wie auch sein Pferd angemessen zu führen (486ff.). Diese Tatsache aber lenkt den Blick auf die ausführliche Erziehungsbeschreibung im Frauenland zurück (256ff.), die im höfischen, im ethischen und im sportlichen Sinn perfekt ist, die von ritterlicher Form aber nichts weiß. er was an allen enden wis unde manhaft, wan daz er umbe ritterschaft enwiste weder ditz noch daz. (294-297)

Mit der Erziehungsfrage aber ist ein Grundproblem dieses Romans angesprochen, das erst vom Ende her sein scharfes Profil erhält. Es geht im Ganzen um

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Vgl. auch daz er so kintltche reit (477); daz man mich toeresch riten siht (534).

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die Frage der Legitimation eines Herrschers gegenüber seinen Untertanen. Die genealogische Erbfolge wird in diesem Roman vom Ende des 12. Jahrhunderts zwar nicht angezweifelt (8240ff.), wohl aber wird die Übertretung der ethischen Verpflichtungen des Herrscheradels moniert. Lanzelet soll am Ende seine angestammte Herrschaft wieder übernehmen, aber nicht in der Haltung der Tyrannis seines Vaters, sondern ethisch gewandelt (8210ff.). Diesem Zweck dient der Erziehungsgang ausschließlich durch Frauen im Feenland. Die narrative Funktion dieser Bildakzentuierung ist mehrfach gestaffelt. Die Lanzelet erziehende wisiu merminne, wie die Meerfee voller Hochachtung genannt wird (193), ist charakterisiert als ein küniginne baz dan alle die nu sint (194f). Dies weist deutlich auf die Charakterisierung der Königin Clärine zurück, die durch ihre wtpliche güete die Strenge des Königs sowie manche Not gemildert hatte und daher allgemein verehrt war.23 Und genau diese ihre Güte und die Treue des Herzogs Aspjol zur Herrscherfamilie ermöglichen es Lanzelet am Ende des Romans, in seinem Lande Genewis die Herrschaft wieder übernehmen zu können (8259ff.). Die Erziehung durch die Fee ist somit nur die >jenseitige< Fortschreibung des Lebensprogramms von Lanzelets leiblicher Mutter, deren Erbanlagen im Sohn nun auf eine außerordentliche Weise gefördert werden sollen. Das Erziehungsprogramm der Fee lautet kurz und bündig: mit vreuden, one riuwe er muose sin getriuwe, hübsch unde wolgemuot. daz hiez in diu vroweguot. (243-246)

Die zentrale Forderung der triuwe ist genau jene Schlüsselqualität, die vor der erneuten Herrschaftsausübung in Genewis von Lanzelet verlangt und schließlich als verwirklicht betrachtet wird: wan ir sint so uz erweit an lüterlichen triuwen, ez enmac uns niht geriuwen, swaz wir iu dienen, daz ist wol. (8292-8295)

Die Erziehung selbst stellt sich als seltsames Mischprogramm dar: Erstens liegt sie ausschließlich in der Hand edler Jungfrauen, die weder Umgang mit Männern haben noch männliche Gepflogenheiten kennen (äernkeiniu bekande man noch mannes gezoc, 198f.). Daher konzentrieren sich seine Lehrmeisterinnen auf perfektes höfisches Benehmen, die Entwicklung seiner angeborenen Tugend, Einübung der höfischen Rede, des Schweigens, der Musik und der Kunst, sich liebenswert zu machen (256ff). Körperliche Ertüchtigung und die Jagdkunst

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[...] ein schoenez wip, staete und demüete. mit wiplicher güete verzart siu manege pine, ir name hiez Clärine. siu het ir dinc so wol bräht, daz ir zem besten wart gedäht von rittern und von vrouwen (72 - 79).

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lehren ihn >MeerwunderLanzelet< Ulrichs von Zatzikhoven (Würzburger Prosastudien II. Festschrift Kurt Ruh, hg. von PETER RESTING [Medium Aevum 31] München 1975, S. 123-138) -, nicht zufällig eine Todesburg ist, bestätigt auch der vorangegangene Frauen-Erwerb Ades auf Burg Limors (1556). Möglicherweise ist auch die erste Burg in dieser Dreistufung, die Burg Moreis (735) des Galagandreis, eine solche Jenseits-Todes-Burg. Damit stellte sich die grundsätzliche Frage nach dem Erfahrungsweg Lanzelets und der Kontrastfunktion mit dem Paradies-Komplex noch schärfer.

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der/die Geliebte für den ändern sichtbar war (4914ff.). So spiegelt sich in der Freude Lanzelets und der mehrfach dargestellten Paradiestopik der weiterführende Stationenweg des Helden, der bereits im Feenbereich am See von der narrativen Bildstruktur her angelegt war. Die Dimension der Fee bedeutet also nicht einfach eine Gleichsetzung mit der Märchenwelt, sondern die Erschließung und die Hinweisfunktion auf neue, jenseitige Qualitäten, die für das dargestellte Rittertum und die Fürstenherrschaft unabdingbar sind. Obwohl dieses Feen-Bild nur in der ersten Hälfte des Lanzeletromans strukturbestimmend ist, verdeutlicht sich die hier angesprochene Gesamtorientierung auch in einem zentralen Handlungsimpuls für den zweiten Teil: Die bereits bekannte Botin vom See gibt am Artushof den entscheidenden Hinweis auf den unbekannten Verbleib Lanzelets (6160ff.), was die Befreiung des gefangenen Helden zur Folge hat, wie sie gleichzeitig den Damen des Hofes jenes ominöse Mantelgeschenk25 offeriert, das alle zusammen, ausgenommen Iblis, als in der Liebe wankelmütig oder untreu entlarvt (5679ff.). Sinnvoll ist dieser Eingriff der Feenwelt in den Artusbereich nur, wenn damit die Rahmenhandlung mit der Zentralfrage nach den richtigen ethischen Herrschaftsnormen weitergetrieben wird. Und genau das scheint auch hier der Fall zu sein.

3. Modelle Blenden wir nun noch einmal zurück zum Grundsätzlichen. Als zentral wichtig in der Bildstruktur der Narrativik waren zwei Aspekte deutlich geworden: erstens die lineare Bildstruktur, die in ihrer progressiven Entfaltung den Sinn aus sich selbst heraus freisetzt; zweitens die Zeitdimension, die in der narrativen Bildlichkeit implizit enthalten ist und projektiv nach vorne drängt. Beides stellt sich erzählerisch prinzipiell - trotz möglicher Überschneidungen - als Gegenmodell zur systemorientierten Allegorese mit der Vorgabe der Ding-Bedeutung und der doppelten Raum-Ebene dar. Eine Systematisierung dieser beiden narrativen Aspekte führt zu der weitergehenden Erkenntnis, daß es sich bei unterschiedlicher Akzentuierung um zwei verschiedene Typen narrativer Bildstruktur handelt: um die mtopische Bildstruktun, wie ich die erste einmal nennen will, und um die >archetypische Struktur als zweite. Beide seien in wenigen Stichworten charakterisiert. Die utopische Bildstruktur stützt sich auf das erzählerische Zeitgerüst. Das Spezifikum dieser eigenen Art von projektiver Bildlichkeit setzt auf eine Noch25

Der Mantel, der mit zouberlist [..,] von nigromanzie (5830f.) geschaffen ist, hat einmal die Eigenschaft des Treuebeweises, hier ausschließlich zugunsten der Iblis, zum ändern enthält er wiederum den Freudezauber (6197ff.), der sich bis dahin jedesmal als Wirkmacht aus dem Feenland erwiesen hat. Bei der auffallenden Häufigkeit von Zaubermotiven im >Lanzelet< würde es sich lohnen, diese einmal zusammenhängend auf ihre narrative Struktur hin zu untersuchen.

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nicht-Wirklichkeit, die jedoch im Erzählverlauf freigesetzt werden soll oder kann. Dabei ist deutlich geworden, daß dieses Verfahren die kreative Imagination des Hörers in die Darstellung von Anfang an mit einbindet. Bemerkenswert daran ist, daß diese Art der Utopie die Raumgesetze dadurch aufhebt, daß sie die statische Nicht-Räumlichkeit der Idealtypik auf die dynamische Zeitebene verschiebt, wodurch die Utopie am Ende zur Noch-nicht-Wirklichkeit wird. Der Handlungsimpuls des Hörers selbst bestimmt somit den Ereigniswert dieser Utopie. Am Ende des Romans, das heißt in der eigenen projektiven Zukunft steht somit ein Ereignishorizont, der am Anfang des Romans oder in der Gegenwart des Lesers so noch nicht vorhanden war. Daher eignet sich dieses Modell vorzüglich zur Darstellung historischer und gesellschaftlicher Probleme mit der Vorstellung eines projektiven Utopiemodells wie beispielsweise in Wolframs >ParzivalLehre< fassen; von ihnen kann man nur erzählen und Zeugnis ablegen.«29 In diesem Sinn spricht die archetypische Bildstruktur erzählerisch beim Hörer auch im Mittelalter Grundsätzliches an. 26

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Vgl. WALTER BLANK, Die positive Utopie des Grals. Zu Wolframs Graldarstellung und ihrer Nachwirkung im Mittelalter (Festschrift Wolfgang Kleiber, hg. von ALBRECHT GREULE - UWE RUBERG, Stuttgart 1989, S. 337-353). DIETMAR MIETH, Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik. Mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg (Tübinger theologische Studien 7) Mainz 1976, S. 48. In dieser Art interpretieren etwa HUGH SACKER, An interpretation of Hartmann's »Iwein« (Germanic Review 36, 1961, S. 5-26), oder DAGMAR O'RIAIN-RAEDEL, Untersuchungen zur mythischen Struktur der mittelhochdeutschen Artusepen. Ulrich von Zatzikhoven, >LanzeletErec< und >Iwein< (Philologische Studien und Quellen 91) Berlin 1978, bes. S. 104ff., den >IweinLanzelet< stützen und die vorgeschlagene Deutung rechtfertigen könnte. Gegen die Unterscheidung von Raum- und Zeitdimension als trennende Kennzeichen allegorischer und narrativer Modelle wandte Herr GRUBMÜLLER ein, daß allegorisches Erzählen ohne Zeitebene (Anfang und Ende der Handlung) nicht auskomme, andererseits aber etwa die Typologie als Handlungsallegorie eine zeitliche Perspektivierung voraussetze. Zur ersten Frage antwortete Herr BLANK mit Bezug auf einen Aufsatz Helga

Zur narrativen Bildstruktur im Mittelalter

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Schüpperts (wie Anm. 24), die Minnebeziehungen Lanzelets könnten sowohl als Lernprozeß des Protagonisten (Zeitkomponente) wie auch als narrativ dargestellte Formen von Minne (Systemvergleich) verstanden werden. Durch die Todesdimension der Burgennamen würden falsche Verhaltensweisen negiert. Was, zweitens, die Raum-Zeit-Problematik angehe, so sei zwischen Qualitäten der Zeit in der Allegorese (systematisch) und in der Narrativik (progressiv) zu unterscheiden. Im Bereich der Typologie habe der Zeitfaktor zudem eine spezifische Funktion. Herr WORSTBROCK wies auf die mögliche paradigmatische Komponente des linearen Zeitverlaufs in Erzähltexten hin, die nicht zur Sprache gekommen sei. Stichwörter wie >Wiederholung< und >Entsprechung< drückten paradigmatische Beziehungen in der zeitlich fortschreitenden Handlung aus. Als Beispiel nannte Herr WORSTBROCK die Schilderungen des Geländes vor Tintajel und der Grottenlandschaft in Gottfrieds >TristanTypologie< Die Offenbarung sowohl zu bewahren, sie aber für die Gegenwart zu transformieren, das ist der ständige Anspruch an die biblische Hermeneutik.6 Die Christen waren nicht die einzigen, die vor dem Problem standen, einen an sich unverzichtbaren Text von einer neuen Warte aus zu deuten, und innerhalb der verschiedenen Gruppierungen des Judentums und Christentums haben sich 4

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Diskussionsbasis sei der Kenntnisstand, wie er in folgendem Lexikonartikel zusammengefaßt ist: HANS-JÖRG SPITZ, Typologie (Wörterbuch der Symbolik, hg. von MANFRED LURKER, Stuttgart 1979, S. 596-598). ERICH AUERBACH, Figura (DERS., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern 1967, S. 55-92; zuerst in: Archivum Romanicum XXII, 1938, S. 436-489), S. 83. Vgl. CLEMENS THOMA, Auffrischung und Neugestaltung der Offenbarung in biblischer und nachbiblischer Zeit (Theologische Berichte 18, Zürich 1989, S. 15-29).

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verschiedene Weisen herausgebildet, das Alte Testament (beziehungsweise den TeNaK) im vollen Sinne des Wortes zu >vergegenwärtigenDenn durch den Mund habe ich mit dir und Israel einen Bund geschlossen (Ex 34,27). Das besagt: jene mündlichen Worte sind wichtiger.« (Palästmischer Talmud, Pea 2,6 [17a]). Es gibt Fälle, wo die Halakha ein biblisches Gesetz völlig uminterpretiert (der Prosbul Hillels des Älteren, vgl. STEMBERGER S. 116fT.). Zu den Auslegungsregeln (middot) vgl. AICHER (wie Anm. 7) S. 142f., 148ff.; STRACK STEMBERGER (wie Anm. 7) S. 25-40.

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Markion. Markion (Mitte des 2. Jahrhunderts) verwarf das AT gänzlich. Im AT glaubte er den Gott der unbarmherzigen Gerechtigkeit mit seinen Launen, seinem Zorn, seinen Selbstwidersprüchen und seiner Parteilichkeit dokumentiert, der durch das Kommen des guten Gottes endgültig außer Kraft gesetzt worden ist.9 Dieser gute Gott kann unmöglich in einem so dubiosen Zeugnis verheißen worden sein. Nun ist Markion Philologe. Was nicht in den Rahmen seiner Prämissen paßt, wird entweder divinatorisch konjiziert (eine solche Behandlung ließ er den paulinischen Briefen und dem Lukasevangelium angedeihen) oder durch Athetese getilgt. So hat er das ganze AT en bloc verworfen. Er konnte das AT nicht in sein Weltbild einfügen, weil er die Allegorese ablehnte (Markion allegorias non vult inprophetis habuisseformas, Tertullian)10 und unfähig war, dialektisch11 zu denken - und so hat er konsequenterweise die eine der widersprüchlichen Aussagen getilgt. P hi lo. Es ist ganz offensichtlich, daß Philo von Alexandrien die Bibel liest wie ein hellenistisch gebildeter Religionsphilosoph. Er faßt die Schrift auf als eine Einkleidung ewiger Ideen von Gottes Weisheit, Tugenden und psychischen Prozessen. Über Samuel sagt er (De ebrietate 144): Vielleicht hat es einen Mann namens Samuel gegeben [...]; er polemisiert gegen eine anthropomorphe Auffassung von Gn 2,8 (Gott pflanzt einen Garten in Eden): solch mythisches Gerede möge uns nie in den Sinn kommen! (Legum allegoriae 143);12 zum Turmbau von Babel (De confusione linguarum 4ff.) bringt er als Parallelbeispiele Homers Erzählung von den Aloaden und eine heidnische Fabel von der verlorenen Gleichsprachigkeit - dabei schätzt er den alttestamentlichen Text gleich ein wie diese fiktiven Erzählstoffe; mittels Allegorese gelangt er zu den allein interessierenden geistigen Wahrheiten. Der Barnabasbrief (erstes Drittel des 2. Jahrhunderts)13 hat das Verständnis des AT geradezu zum Thema. Er spricht den Juden das Verständnis des AT rundweg ab, mit der generellen Prämisse, Moses habe über die Speisegebote im geistigen Sinne gesprochen, sie aber haben es nach der Begierlichkeit des Fleisches so verstanden, als rede er wirklich vom Essen (Barn 10,9). Je nach dem Auslegungsskopus ist ein Gebot als Weissagung auf Christus oder als sittliche Wei9 10

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Vgl. ADOLF HARNACK, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 21924 [Nachdruck Darmstadt 1985], S. 85f. Diese Stelle aus >Adversus Marcionem< V 18 sowie weitere nachgewiesen bei R.P.C. HANSON, Allegory and Event, London 1959, S. 136-141. So besteht denn auch des Origenes Antwort an die Markioniten häufig in der allegorischen Exegese oder typologischen Inbezugsetzung der von ihnen verworfenen oder als Beweis für die Zwei-GötterLehre beigezogenen Stellen. HARNACK (wie Anm. 9) S. 201, Anm. 1. Zitiert nach: Philo von Alexandria, Die Werke in deutscher Übersetzung, hg. von LEOPOLD COHN u.a., Bd. 3, Berlin 21962, S. 31. Barnabasbrief, lateinisch-deutsch hg. von T. KLAUSER (Florilegium Patristicum 1) Bonn 1940; ältere Übersetzung: Die apostolischen Vater, aus dem Griechischen übersetzt von FRANZ ZELLER (Bibliothek der Kirchenväter 35) Kempten - München 1918, S. 76-105. Vgl. dazu HANSON (wie Anm. 10) S. 97-100.

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sung auszulegen. Im letzten Sinne legt er die Speisegebote (Lv 11; Dt 14) allegorisch aus. Schweinefleisch nicht essen dürfen meint nicht mit Leuten verkehren, die den Schweinen ähnlich sind; denn wenn sie in Fülle haben, vergessen sie den Herrn, genau wie das Schwein: solange es zu fressen hat, kennt es seinen Herrn nicht, wenn es aber hungrig ist, dann raunzt es [...] (Barn 10,3)· »Die eigentliche Frage nach dem Gesetz als Heilsweg [...] hat der Verfasser nicht erfaßt«,14 sondern es werden einfach die alttestamentlichen Gebote ersetzt. Der sogenannte erste Clemensbrief. Der Brief des Clemens von Rom an die Korinther (um 96 verfaßt) beutet recht naiv das AT zu moralischer Unterweisung aus. Die Dirne Raab ist wegen der Beherbergung der Kundschafter (los 2) ein Beispiel für Gastfreundschaft (I Clem 12); Job ist ein Vorbild der Demut (I Clem 17,3f.), wie auch David gemäß seinen eigenen Worten (Ps 50,3-19) ein Muster der Demut ist (I Clem 18). So behandelt der Clemensbrief das AT als adrette Stoffsammlung von Exempla, die er ausbeutet und zu deren Beizug es keiner besonderen exegetischen Anstrengung bedarf. Das AT muß dazu auch nicht in irgendeiner Form überwunden werden. Typologie Eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit von Typologie ist das der alttestamentlichen Welt zugrunde liegende Geschichtsverständnis. Gerhard von Rad charakterisiert es so: »Der Geschichtsverlauf wird durch fortgesetzt einfallendes Gotteswort in Bewegung gehalten und einem gottgesetzten Ziel zugeführt.«15 Bemerkenswert ist erstens, daß das Heil nicht als etwas Statisches gedacht wird, sondern als etwas geschichtlich sich stets Ereignendes. Dabei ist die Kontinuität der Geschichte Aufweis der Treue Gottes, der sich in seinem Heilshandelsplan durch menschliche Schuld nicht beirren läßt, sondern seinen Bund immer wieder erneuert. Die Vorstellung eines sinnhaft gerichteten Ablaufs läßt es zweitens verständlich werden, daß sich der göttliche Plan zu Zeiten prophetisch offenbart und dann solche Verheißungen als Geschehen manifest werden. Ich bin Gott [...]. Ich habe von Anfang an den Ausgang verkündet, von längst her, was noch ungeschehen war; mein Ratschluß erfüllt sich und alle meine Vorhaben führe ich aus (Is 46,10).16 Die historischen Berichte des AT handeln demnach im Kern immer von der Verheißung oder dann vom Vollzug des göttlichen Willens. Drittens wird die Geschichte als eine gegen das Ziel immer reicher werdende Zeit verstan14 15

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RUDOLF BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1953, S. 109. GERHARD VON RAD, Typologische Auslegung des Alten Testaments (Evangelische Theologie 12, 1952/1953, S. 17-34; wiederabgedruckt in: DERS., Gesammelte Schriften zum Alten Testament, München 1973, S. 272-288), S. 25. »Nach dieser Sicht bewegt sich der Mensch durch die Zeiten wie ein Ruderer, der sich rückwärts in die Zukunft bewegt: er erreicht das Ziel, indem er sich orientiert an dem, was einsichtig vor ihm liegt; diese enthüllte Geschichte bezeugt ihm den Herrn der Zukunft« (HANS WALTER WOLFF, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973, S. 135).

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den; weder gilt aurea prima sata est aetas [...], noch >verstreicht< die Zeit oder >geht vorbeiProphet< von N. FÜGLISTER (Handbuch theologischer Grundbegriffe, hg. von HEINRICH FRIES, München 1962, Bd. 2, S. 350-372). Tertullian schreibt: Scimus autem sicut et vocibus ita et rebus prophetarum, tarn dictis quam et factispraedicatur resurrectio (De carnis resurrectione 28 [PL 2, Sp. 835]). Junilius unterscheidet: prophetia est typus in verbis; typus prophetia est de rebus (De partibus divinae legis II 16 [PL 68, Sp. 33 D]). Gregor der Große sagt einmal (Homiliae in Ezechielem I 11 prol. [PL 76, Sp. 905 D]), daß in den prophetischen Büchern nicht einzig die Worte (dicta), sondern auch die Geschehnisse (resgestae) Prophetien sind. Beda Venerabilis hat in seinem Systematisierungsfanatismus die beiden Konzepte Wort-/Realprophetie und Wort-/Dingzeichen miteinander vermengt (De schematibus et tropis 12 [PL 90, Sp. 185] unter asteismos). Dazu K. J. WOOLLCOMBE, The Biblical Origins and Patristic Development of Typology (G.W.H. LAMPE - K. J. WOOLLCOMBE, Essays on Typology [Studies in Biblical Theology 22] London 1957, S. 39-75), S. 45ff.

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Eine Realprophetie20 besteht in einem historischen Geschehen, das uns in einem narrativen Bericht überliefert ist. Beispiel: Jonas verweilt drei Tage lang im Bauch des Fisches (Ion 2,1); für den Evangelisten Matthäus ist dies eine Prophetic auf die Grabesruhe Jesu (Mt 12,40). Realprophetien sind nicht durch Signale (wie im Deutschen das grammatikalische Futur) gekennzeichnet, sie werden überhaupt erst als Prophetien erkannt, wenn in einem jüngeren Geschehen Parallelen entdeckt werden. Das Verhältnis der Äonen, die zueinander in Bezug gesetzt werden, kann verschieden gedacht werden. (A) Repristination der Urzeit.21 Zwei zueinander analoge historische Zustände können ohne Steigerungsverhältnis gedacht werden, wenn die Vorzeit so integer war, daß die prophezeite Zeit nicht >erfüllter< gedacht werden kann. Zu diesem Typ gehört gewiß die prophezeite Wiederkehr des Paradieses (Is 11,6-8; Am 9,13f.).22 (B) Ablösung eines Äons. Bei ler 30- 31 verheißt JHWH, er werde das Geschick seines Volkes wenden, und kündigt die Rückkehr des Volkes aus der Verbannung ins Land der Väter an. Hier fallt das Wort vom Neuen Bund(lzi 31,31), der den alten, von Israel und Juda gebrochenen Bund ersetzen werde (vgl. die Deutung Hbr 8,13). Bei Paulus erscheint die Jetztzeit als böse Weltzeit, die von der künftigen Heilszeit überwunden werden wird (Gal 1,4; Rm 8,18).23 (A)/(B) Die beiden Geschichtsvorstellungen können sich kontaminieren, bei Paulus überlagern sie sich; es kommt zu einer Abfolge von drei Phasen: Heil - verdorbenes Heil - wiederhergestelltes, endgültiges Heil.24 Das restaurierte Heil ist nach dem Durchgang durch die Zeit der Verderbnis von höherem Wert als das ursprüngliche. 20

21 22

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Die Vorstellung, daß eine >sich ereignete Begebenheit auf eine andere vorausverweist, ist ansatzweise bereits im AT angelegt, man vergleiche die Zeichenhandlungen der Propheten (zum Beispiel des Ahia Mantelteilung [III Rg ll,29ff.] oder Jeremias zerschellenden Topf [ler 19,1 -10]). Im späteren Judentum sind Realprophetien ebenfalls anzutreffen. Bereits GOPPELT hat Stellen aus >Mekhilta de Rabbi JischmaelPrägestempels< (typos, Rm 5,14) beschreibt die Sache vorzüglich: Er ist die conditio sine qua non für die Herstellung von Münzen (wie das AT Grundlage für das NT); allein, bezahlt wird nicht mit ihm, sondern mit der damit geprägten Münze (so wie einzig das NT die Richtschnur des Lebens und Glaubens ist). Vgl. zu diesem Thema: HANS-JÖRG SPITZ, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends (Münstersche Mittelalter-Schriften 12) München 1972. So auch SUNTRUP (wie Anm. 2) S. 33. THOMAS BORGSTEDT, Scharfsinnige Figuration. Zur Semantik des Herrscherlobs bei Lohenstein (Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik, hg. von VOLKER BOHN, Frankfurt/M. 1988, S. 206-235), S. 206; vgl. CONRAD WIEDEMANN, Bestrittene Individualität. Beobachtungen zur Funktion der Barockallegorie (Formen und Funktionen der Allegorie [wie Anm. 3] S. 574-591). FRIEDRICH OHLY, Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung [zuerst 1983] (Typologie [wie Anm. 27] S. 22-63), S. 48.

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ist. Es umfaßt das AT, die Jetztzeit und die künftige Zeit nach dem Weltgericht.29 Zwischen diesen beiden Phasen bildet sich ein ähnliches Steigerungsverhältnis heraus wie zwischen AT und NT. Origenes kennt eine dreistufige Enthüllung des an sich zeitlosen Mysteriums: im alten Bund - dann in der Ankunft Christi, verhüllt im Leib Jesu - im kommenden Aon in unmittelbarer Schau.30 Das hat Konsequenzen für die Exegese: Auch das NT ist noch auslegungsbedürftig, nämlich eschatologisch auf die zweite Parusie hin (so Origenes, Peri archon IV 3,13). Somit ist eine >typologische Auslegung des NT< gefordert. Beispiel für die typologische Deutung einer neutestamentlichen Szene: Ambrosius, Lukaskommentar V 3,17. Während die Juden fasten, schmausen Jesus und seine Jünger (Lc 5,33tT.) wird bezogen auf die paradiesische Situation: die Gläubigen werden am Mahle sich labend im Himmelreich zu Tische liegen, während die Ungläubigen durch Hunger gequält werden.31 Bekanntlich hat Joachim von Fiore diese dreistufige Struktur zu einer Geschichtstheologie ausgestaltet.32

2. Funktionen der Typologie Apologetische Funktion Vergegenwärtigen wir uns die Abgrenzungsversuche der frühen christlichen Gruppierungen, namentlich der um Paulus gescharten. Einerseits mußte man, (a) um Heiden zu gewinnen, die Messianität des Christus in den Schriften verankern; anderseits mußte man (b) gegenüber der judenchristlichen Partei - die den Erwähltheitsanspruch in Gefahr und die Tora entwertet sah - die Preisgabe der mosaischen Riten rechtfertigen. Sowohl das AT als Beweisgrund beibehalten als auch es außer Kraft setzen - das ist wegen der der Typologie innewohnenden Dialektik kein Ding der Unmöglichkeit.33 29

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Es kann nur an wenige biblische Ansätze anknüpfen, etwa die paulinische Unterscheidung des Christus nach dem Fleische und nach dem Geiste (das ist nach der Auferstehung; Rm l,3f.). Origenes, Das Evangelium nach Johannes, übersetzt und eingeführt von ROLF GÖGLER, Einsiedeln 1959, Einleitung S. 65,67fT. (mit Verweis aufstellen). Vgl. Bernhard von Clairvaux: Denn wie die Alten, wie wir sagen, nur einen Schatten, ein Bild (der Wahrheit) hatten, während uns durch die Gnade des im Fleische gegenwärtigen Christus der Tag der Wahrheit selber leuchtet, so leben wir gemessen am Lichte der Ewigkeit einstweilen nur im Schatten der Wahrheit (Sermones super cantica canticorum XXXI 8; zitiert nach: Die Schriften des honigfließenden Lehrers Bernhard von Clairvaux. Nach der Übertragung von AGNES WOLTERS hg. von EBERHARD FRIEDRICH, Bd. 5: Das Hohelied. Ansprache 1-46, Wittlich 1937, S. 275f.). Eine bündige Zusammenfassung bei HERBERT GRUNDMANN, Lex und Sacramentum bei Joachim von Fiore (Lex et sacramentum im Mittelalter, hg. von PAUL WILPERT [Miscellanea Mediaevalia 6] Berlin 1969, S. 31-48). So schrieb Justin sowohl Apologien an den römischen Kaiser als auch den >Dialog mit

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(a) Die heidnische Antike hat dem Christentum gern vorgeworfen, es sei geschichtslos, traditionsbrüchig. »Die alttestamentarische Prophetic erlaubte es dem Christentum, seine eigene Geschichte nach rückwärts zu verlängern [.. .].«34 Wenn zum Beispiel Tertullian (Apologeticum 19) das hohe Alter der mosaischen Schriften geltend macht, so kann er sogar die heidnisch-philosophische Tradition überbieten. Das AT (mit seinem einzigartigen Schöpfungsmythos) übte eine große Anziehungskraft auf die Heiden aus. Evangelio non crederem, nisi me commoveret auctoritas veteri testamenti.35 (b) Die Bezüge auf das AT lassen sich verstehen als >missionarisches< Ausdrucksmittel, um sich in einer jüdischen Umwelt verständlich zu machen; wie Paulus sagt: den Juden ein Jude werden, um sie zu gewinnen ( I Cor 9,20).36 Apologetisch gegen jüdische Einwände und zur Bekehrung läßt sich ins Feld führen, die alttestamentlichen Prophetien seien erfüllt worden. Stephanus verteidigt sich gegen den Vorwurf der Gotteslästerung mit dem Argument aus der Schrift: Jesus, zu dem ich mich bekenne, ist der in Euren Schriften Angekündigte, also bin ich einer der Euren (Act 7,2- 53, bes. 35ff.). Des Justinus >Dialog mit dem Juden Tryphon< ist durchsetzt mit Typologien (zum Beispiel auf das Kreuzesholz, 86,Iff.); ebenso Tertullians >Adversus Judaeos< (Kapitel 9: Is 7,13 - Geburt; Kapitel 10: Leiden und Tod).

Gesetz als Grund der Gnade beim Apostel Paulus37 Daß das Gesetz (ethische und rituelle Verpflichtungen) an sich Weisung zum Heil, zum Leben ist, daß es gut ist, weil von Gott kommend (Rm 2,6ff.; 7,10) darin ist Paulus mit den Juden einer Meinung. Scharf aber setzt er sich von der Vorstellung ab, daß der Mensch dieses Heil durch das Halten des Gebots von sich aus erwirken könne. Allein schon die Absicht, durch Gesetzeserfüllung vor Gott gerecht zu werden (in seiner Begrifflichkeit: sich zu rühmen), ist Sünde. Das Heil gründet nicht auf Gesetzes-Observanz, sondern in Gottes Gnadenzuwendung. Das Gesetz gilt ihm (möglicherweise) als unhaltbar (vgl. Act 15,10). Wozu ist es denn aber von Gott gesetzt worden? Erstens ist das Gesetz Erkenntnisgrund der Sünde. Durch das Gebot erst bekommt die Sünde die Gelegenheit zum Än-

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dern Juden Tryphonabgeschafftaufbewahrt< und >emporgehobenproduziertReflexionszitate< (damit das Wort erfüllt werde).42 Spätere Generationen haben dann die ursprüngliche Funktion der Traditionsbezüge nicht mehr als Theologie in narrativer Form durchschaut. Typologie als hermeneutisches Prinzip Gilt einmal, daß die beiden Schriftkomplexe AT und NT vom gleichen Geist inspiriert, aber doch von verschiedener Kategorie seien, so kann der eine aus dem anderen ausgelegt werden. Diese Auslegungspraxis ist biblisch durch das Wort Lc 24,44 legitimiert: Es muß alles zur Erfüllung kommen, was im mosaischen Gesetz und in den Propheten und Psalmen über mich geschrieben ist. Oder in 40 41

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MARTIN DIBELIUS, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 61971, S. 184-189. Zu den spätmittelalterlichen Ausmalungen der Passion vgl. F. P. PICKERING, Das gotische Christusbild (Euphorien 47, 1953, S. 16-37), und KURT RUH, Zur Theologie des spätmittelalterlichen Passionstraktates (Theologische Zeitschrift, hg. von der theologischen Fakultät der Universität Basel, 6, 1950, S. 17-39). HANS CONZELMANN - ANDREAS LINDEMANN, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 31977, S. 253.

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der schärferen Variante bei 5,46: Über mich hat Moses geschrieben. Der Wunsch nach Durchdringung der vielen scheinbar belanglosen, aber doch als inspiriert geltenden Stellen des AT ist begreiflich. Daß das AT im Lichte des NT ausgelegt wird, also ein zweitrangiger Text im Horizont eines >Kanons im KanonConcordia novi et veteris testamentu kennt man Joachims Vorgehen, die 42 Generationen der alttestamentlichen Geschichte mit Abschnitten der Kirchengeschichte in typologische Beziehung zu setzen, wobei immer wieder die Frage im Zentrum des Interesses steht, ob die Kirche die weltliche Macht unterstützen oder bekämpfen solle. Dabei ist insbesondere das Verhalten der alttestamentlichen Könige gegenüber dem babylonischen wichtig. Dieses wird in der Vision der beiden Feigenkörbe (ler 24) folgendermaßen beurteilt: Gott hat ein Wohlgefallen an König Jojachin und seinem Volk, der sich in »guter Knechtschaft« ins Exil nach Babylon führen ließ; König Zedekia dagegen wollte sich in Jerusalem behaupten und wurde in »schlechte Knechtschaft« abgeführt, sein Volk wird ausgerottet. Joachim legt diese Vision aus: Die Bedrohung der Könige von Jerusalem durch den König von Babylon ist tipice zu beziehen auf die Konfrontation zwischen Papst und Staufer, und damit ist auch der Hinweis auf die richtige Gesinnung impliziert: die Freiheit der Kirche ist nicht unbedingt gegen die Mächtigen der Welt zu behaupten. Papst Coelestin hat sich dann auch in der Tat fügsam mit Heinrich verständigt und ihn 1191 zum Kaiser gekrönt. Damit kommt bereits die adhortative Funktion der Typologie ins Blickfeld.

Adhortative Funktion Das typologische Denkmuster kann - wird die biblische Engführung etwas gelockert - durchaus als moralisierendes Argumentationsmittel verwendet werden. Beispiele: Petrus Damiani argumentiert folgendermaßen gegen die Priesterehe: Wenn schon David die Schaubrote erst ausgehändigt bekam, nachdem er drei Tage keinen Verkehr mit Frauen hatte (I Sm 21,4-7), so gilt diese Voraussetzung erst recht für den Umgang mit dem Herrenleib.44 Erasmus versucht den späteren Kaiser Karl V. auf ein Verhalten zu verpflichten, indem er ihm vorhält: Sooft Du Dir bewußt wirst, ein Fürst zu sein, denk immer zugleich auch daran, daß Du ein christlicher Fürst bist, damit Du sogar von hochgerühmten heidnischen Fürsien [im weiteren Kontext werden Alexander, Cäsar, Xerxes genannt] noch soweit Abstand zu halten weißt, wie der Christ sich vom Heiden unterscheidet.*5

Meditative Durchdringung des Bibeltexts Die Ansichten von der Erfülltheit des AT durch den präexistenten Christus und der Erfüllung im NT schaukeln sich gegenseitig auf; das Bezugsnetz zwischen den beiden Testamenten wird immer dichter. Die beiden Testamente erhellen einander gegenseitig: Tanta est enim daritas Novi Testamenti, ut veteris Testa44 45

Petrus Damiani, Opuscula XVIII4 (PL 145, Sp. 393). Erasmus von Rotterdam, Institutio Principis Christiani [1516], übersetzt von ANTON J. GAIL, Paderborn 1968, S. 62ff.; vgl. die Beispiele aus Tertullian und Augustin, unten S. 59. Statt der heidnisch-antiken lassen sich auch alttestamentliche Vorläufergestalten denken.

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menti claritas pro tenebris habeatur; utrwnque tarnen Testamentum unum est, et utrumque darum et splendidum est, si spiritualiter intelligatur.46 Die beiden Testamente sind die beiden Lippen der Braut im Hohenlied, die zusammen einen Kuß geben.47 Betrachtet man einen spätmittelalterlichen Heilsspiegel, eine >Biblia pauperum< oder >Concordantia caritatisKleid< (metaphorice). Das ist ein Verhältnis, das sich häufig bei Allegorien findet.68 e) Beim Evangelisten Johannes fordert die Menge von Jesus öfters Zeichen zum Beweis seiner Messianität; sie erinnern ihn beispielsweise daran, daß Moses den Vätern durch die Manna-Spende Speise gesandt hat (Ps 78,24; Ex 16,14ff., Sap 16,20). Jesus erwidert: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben,

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und UTE SCHWAB, Zum Verständnis des Isaak-Opfers in literarischer und bildlicher Darstellung des Mittelalters (Frühmittelalterliche Studien 15,1981, S. 435-494). Zitiert nach: Des Heiligen Philosophen und Märtyrers Justinus Dialog mit dem Juden Tryphon, aus dem Griechischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von PHILIPP HAEUSER (Bibliothek der Kirchenväter 33) Kempten - München 1917, S. 62f. Zitiert nach: Des Heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand Lukaskommentar, erstmals übersetzt von JOHANNES Ev. NIEDERHUBER (Bibliothek der Kirchenväter 21) Kempten - München 1915, S. 93. MICHEL (wie Anm. 57) §571.

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sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. [...] Ich bin das Brot des Lebens ( 6,32ff.)· In diesem Sinne muß >Brot< metaphorisch verstanden werden; soweit verhält sich das Beispiel wie Typ d). Im weiteren werden die Wirkungen dieses antitypischen >Brotes< angeführt: Wer immer von diesem Brote ißt, wird leben in Ewigkeit. Das Brot aber, das ich ihm geben werde, ist mein Fleisch [...]. Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes eßt und sein Blut trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch (ebd. 51 ff.)· Jesu Publikum hat sich empört, es hat diese Rede als unerträglich, anstößig empfunden - ohne Kenntnis von Opfertod und Abendmahlseinsetzung konnte es den Ausdruck >von mir essen< nicht als sakramentale Rede verstehen. In der alttestamentlichen Szene >essen< die Väter proprie vom Manna; in der neutestamentlichen Szene sollen die Gläubigen >Christi Fleisch essenessen von< wird also in den typologisch zusammengehörigen Szenen verschieden verwendet. f) Ein spätmittelalterliches geistliches Gedicht beginnt folgendermaßen: Ain wissag sach das siben wib stritten vmb ains manes lib. die sprachent al gelich: »Her wir sint so rieh, wir beiagen vns wol baider Der spisz vnd och der klaider; er an vns den namen din, das wir din wib müssen sin!« Der man was iesus crist, der ain man ob allen ist. Er hat manes tugent all, der vns von adams voll mit siner manhait hallf genessen. Ez sint die siben gaben gewesen du siben wib die vm in stritten; er hat ir enkain verminen, er hob ir also gepflegen, das si iemer ha[n]t gates segen, und hat sie so geschonet das si iemer sint krönet.69

Angespielt wird auf die Stelle, wo Jesaias gegen die hoffärtigen Frauen Jerusalems wettert, die einmal in Schande fallen werden: Und sieben Frauen werden an jenem Tage einen Mann festhalten und sprechen: »Eigene Speise wollen wir essen und mit eigenem Gewand uns bekleiden; nur laß uns deinen Namen tragen! Befreie uns von der Schande! (Is 4,1). Dies wird bezogen auf die >Sieben Gaben des heiligen Geistes< (nach der Zusammenstellung bei Hugo von St. Viktor, De quinque septenis l [PL 175, Sp. 405]: spiritus timoris Domini, pietatis, scientiae,fortitudi6V

JOSEPH FREIHERR VON LASSBERG (Hg.), Lieder-Saal. Sammlung altdeutscher Gedichte, Bd. l, [ohne Ort] 1820, Nr. XLVIII, I -20.

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nis, consilii, intellectus, sapientiae). Der Verfasser hat, abgesehen von den eher nebensächlichen Bezugspunkten >Siebenzahl der Frauen< und >der Mann ist begehrenswert, gerade die zentralen Eigenschaften des Bezugstexts (>Schmach der FrauenWunsch, davon befreit zu werdentypologischen< Bezug herstellen zu können; ein willkürliches Verfahren, das man bei Allegorien häufig antrifft.

Terminologie Man könnte nun Begriffsgeschichte treiben, in der Hoffnung, aufgrund der historischen Verwendung der Begriffe lasse sich die damit bezeichnete Sache selbst rekonstruieren. Das scheint mir kein gangbarer Weg. Henri de Lubac hat bereits 1947 gezeigt, daß die Begriffe allegoria, figura, typos und andere mehr in der hermeneutischen >Terminologie< der Kirchenväter unpräzis verwendet werden.70 Rudolf Suntrup hat dies in seiner Studie über die sprachliche Form der Typologie 1984 bestätigt.

Es gibt Extreme einer Definition: Einerseits kann man sich auf den Standpunkt stellen, alle christliche Auslegung der Schrift, insbesondere des Alten Testaments sei Typologie, insofern der Skopus ja immer eine Heilswirklichkeit des Neuen Testaments ist. Jean Danielou (Origene, Paris 1948, S. 145-174, bes. S. 166) braucht das Konzept der Allegorie / Allegorese gar nicht, indem er annimmt, alle Schriftsinne seien Ausfaltungen der Typologie mit spirituellem Antitypus. Denn ob das NT von einer irdischen Begebenheit oder von einer spirituellen spreche, sei belanglos anbetrachts der Tatsache, daß diese Begebenheiten »histoire et meme plus qu'histoire« sind. - Anderseits kann man die Typologie als Teilmenge des allegorischen Formenkreises auffassen, deren Spezifik darin liegt, daß Designans wie Designat von der Textsorte >narrativer Bericht< sind. Tatsächlich faßt etwa Petrus Comestor dies so auf, indem er unter den Formen von allegoria auch eine allegoria a facto auflistet (Historia scholastica, prologue [PL 198, Sp. 1054 ]).

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Vgl. das >Durcheinander< im folgenden Zitat aus Hugo von St. Viktor (De sacramentis, prologus 4 [PL 176, Sp. 184f.J; vgl. die Allegoriedefinition bei Pseudo-Hraban (12. Jahrhundert), Allegoriae in universam sacram scripturam [PL 112, Sp. 849 B]): Allegoria est, cum per id quodfactum dicitur, aliquid aliudfactum sive in praeterito, sive in praesenti, sive infuturo signiflcatur - einerseits der Begriff allegoria und die aliud-aliud-Formel; anderseits der fijr die Typologie spezifische Gedankefactum infuturo. Zur Tradition dieser Stelle vgl. HENRI DE LUBAC, »Typologie« et »Allegorisme« (Recherches de science religieuse XXIV, 1947, S. 180-226), S. 216f. »Figura ist nicht das einzige Wort, welches im Lateinischen für Realprophetie gebraucht wird. Sehr oft findet man die aus dem Griechischen übernommenen Ausdrücke allegoria und besonders typus; allegoria bedeutet allgemein jede tiefere Bedeutung, nicht nur die Realprophetie, doch ist die Grenze fließend [...]. Tertullian verwendet allegoria fast gleichbedeutend mit figura« und so weiter (AUERBACH [wie Anm. 5] S. 74). Vgl. die vorsichtigen terminologischen Abklärungen bei GALLEY (wie Anm. 24) S. 54- 57.

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Verschiedenerlei Leistungen Einige der wichtigsten Leistungen71 der Allegorie und des Gleichnisses - die >Versinnfälligung< abstrakter Sachverhalte, die Verschlüsselung unschicklicher Begriffe, das Festmachen an einem mnemotechnisch einprägsamen Gerüst können von der Typologie kaum erbracht werden. Der Ausfall solcher Funktionen kann indessen nicht als wesensbestimmend gelten, sondern ist in anderen Merkmalen begründet: in der Tendenz, daß es sich bei beiden miteinander korrelierten Textausschnitten um konkrete historische Größen handelt; daran, daß das Designans nicht frei arrangiert werden kann, sondern in erster Linie aus dem biblischen Textkorpus gewählt werden muß. Freilich kommt es auch hier zu ähnlichen Funktionen, beispielsweise wenn im Heilsspiegel der schwer zu fassende Begriff Jungfräulichkeit Marias< mit Gideons Vlies, dem brennenden Dornbusch und Aarons Stab parallelisiert, und das heißt eben: faßbar gemacht wird. - Ferner ist mit Hierarchien von Funktionen zu rechnen, indem ein Text mit einer grundsätzlich typologischen Funktion die Allegorie/Allegorese in Dienst nehmen kann und umgekehrt.

5. Sakrale und profane Ausprägungen der Typologie Die Anwendung des Begriffs >Typologie< auf die weltliche Literatur ist umstritten. Es seien rasch die Phänomene rekapituliert: Zunächst der sogenannte doppelte Kursus< im klassischen Artusroman mit der unter dem Diktat von leit ere - räche stehenden, legalistischen Gesinnung in der ersten äventiure-Fahrt und der auf Einsicht in die zu bewahrenden Werte beruhenden zweiten. Dieses Steigerungsverhältnis könnte mittels genuin literarisch-formaler Kategorien aufgefaßt werden als >Motivreim mit AchtergewichK oder als >Thema und DurchführungGregoriusErec< als Überhöhung von Veldekes >EneitWillehalm< als Überbietung des >Rolands-

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so viele zu bearbeitende Stoffe (matiere) gar nicht gab, sowie auch der Konkurrenzdruck, unter dem die Dichter der höfischen Blütezeit standen; es sei nur an Gottfrieds Literatur-Exkurs und die Reinmar-Walther-Fehde erinnert oder an die mittelalterliche poetologische Auffassung, wonach es schwieriger und deshalb lobenswerter sei, einen bereits bekannten Stoff zu behandeln, als einen neuen zu erfinden.74 In diesem Zusammenhang sei auf die Kontrafaktur75 hingewiesen, die aus der Not, genügend sangbares Material zu finden, die Tugend der Überbietung macht. Deckt der Begriff die bibelwissenschaftliche wie die literaturwissenschaftliche Ausprägung des Phänomens? Oder hat biblisch-typologisches Denken die weltlichen Autoren (die es in der Predigt kennengelernt haben dürften) stimuliert? Oder handelt es sich um eine äußerlich-zufällige Parallele?76 Oder sind unsere neuzeitlichen Grenzziehungen zwischen sakralem und profanem Bereich zu scharf? Bedenken wir, daß das alttestamentliche Makkabäer-Buch und das >Rolandslied< sicher als näher zusammengehörig empfunden wurden, als es das Aufstellungssystem einer modernen Seminarbibliothek nahelegt. Eine Legende, Dantes >Divina Commedia< oder die >Kaiserchronik< mit ihrem heilsgeschichtlichen Denken stehen der biblischen Typologie gewiß viel näher als der in einer geschichtslosen Welt spielende Artusroman. Und Wolframs >Willehalm< oder Hartmanns >Gregorius< sollten vielleicht weniger als geistlich-weltliche Mischformen denn als Normalfall angesehen werden.

6. Wie soll der Typologie-Begriff definiert werden? Es wäre wohl falsch anzunehmen, es >gebe< Typologie irgendwo, nur habe sie die Forschung bislang noch nicht gefunden, oder gewisse Forscher hätten eine Talmi-Typologie in Händen, die sie irrtümlicherweise für die echte hielten, oder andere Forscher übertrügen den >richtigen< Begriff unzulässigerweise auf Tatbe-

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75 76

lieds< auffassen; zwischen den in diesen Werken greifbaren Mentalitäten hat ein epochaler Bewußtseinswandel stattgefunden. Geoffroi de Vinsauf, Documentum de modo et arte dictandi et versificandi II 3, § 132: [...] est notandum quod difficile est maleriam communem et usitatam convenienter et bene tractare. Et quanta difflcilius, tanto laudabilius est bene tractare materiam talem, scilicet communem et usitatam, quam materiam aliam, scilicet novam et inusitatam (EDMOND FARAL, Les Arts Poetiques du XII e et du XIIP Siede. Recherches et Documents sur la Technique Litteraire du Moyen Age [Bibliotheque de l'Ecole des Hautes Etudes 238] Paris 1923, S. 265-321, hier S. 309). Vgl. UWE RUBERG, contrafact uff einen geistlichen sinn - Liedkontrafaktur als Deutungsweg zum Spiritualsinn? (Geistliche Denkformen [wie Anm. 2] S. 69-82). Man beachte die frappante Ähnlichkeit mit der Allegorese, die in praxi auf die säkulare Literatur übertragen wurde, wobei dann die theoretische Differenzierung in allegoria und integumentum nachgereicht wurde; vgl. ULRICH KREWITT, Metapher und tropische Rede in der Auffassung des Mittelalters (Beihefte zum Mittellateinischen Jahrbuch 7) Ratingen 1971, S. 276ff., 435ff., 517fT.

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stände, die gar nicht darunter fallen. Das wäre ein Rückfall in eine positivistische Attitüde, die nicht bedenkt, daß wir nur so viel an Phänomenen erfassen, wie wir mit Hilfe unseres Begriffs-instrumentariums überhaupt in den Griff bekommen. Wir werden also auf unsere Begrifflichkeit reflektieren müssen. Zunächst muß unterschieden werden, was wir treiben: Mentalitätsgeschichte oder eine literaturwissenschaftliche Textsortenlehre. Je nachdem verwenden wir einen anderen sprachlogischen Typ des Begriffs >TypologieTypologie< als abstrakte >Denkform< im Sinne von Hans Leisegang77 verstehen, in einer Reihe mit >BegriffspyramideDenken in Axiomen und SyllogismenDenken in AntinomienErzählung eines an sich kohärenten historischen Prozesses, der durch eine zentrale Krisis in zwei aufeinander beziehbare Phasen geschieden wird, wobei die beiden Phasen in einem Verhältnis der Steigerung stehem, so fallen nebst der biblischen Typologie auch darunter: Die translatio imperil·™ ebenfalls viele (Auto-)Biographien, in denen der Ertrag einer zentralen Lebenswende einsehbar wird an vergleichbaren Widerfahrnissen vor und nach der Wende (man denke an Heinrich Seuses >Vita< mit der Wende in der Fußtuch-Szene); und schließlich auch die einer Biographie entlang erzählten Romane (nicht bloß der Artusroman, auch etwa Jeremias Gotthelfs >Uli der Pachten hat mutatis mutandis diese Struktur). Freilich verblassen damit dann Kriterien wie etwa die Zugehörigkeit zu einem Textkorpus oder zu einem bestimmten Sinnhorizont (in welchem der Glaubenssatz gilt, daß Ereignisse Realprophetien sein können und anderes mehr).

Zur mentalitätshistorischen Forschung braucht man ein vages Konzept von >TypologieKaiserchronik< das Paar Constantin [VI.] (14194ff.) und Karl der Große (14282ff.).

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Anders wird der Typologiebegriff im formal-literaturwissenschaftlichen Bereich verwendet.80 Es ist immer wieder unternommen worden, den Begriff nach der Methode von genus proximum und differentia specifica als eine feste Größe zu bestimmen. Ich meine aufgrund des Dargelegten, daß sich eine solch enge, essentialistische Auffassung gar nicht halten läßt; dem Phänomen sind von allem Anfang an mögliche Ausweitungen inhärent. Bereits bei Paulus changieren die Typologien ins Exempelhafte (vgl. die Stelle I Cor 1-11, oben S. 59, Anm. 53, zitiert) und Allegorische hinein (vgl. Gal 4,21-32, wo das Verhältnis der beiden Testamente mittels einer Allegorese der beiden Frauen Abrahams, Sara und Hagar, biblisch abgestützt wird).81 Der Begriff >Typologie< gehört sicherlich nicht zu den relativ einfach definierbaren Begriffen wie >Trochäus< oder >SonettNovelle< oder >ImpressionismusTypologie< ist jung und nicht dogmatisch festgelegt. Wir dürften ihn präskriptiv genauer fassen und könnten dies nach Gutdünken tun, vorausgesetzt wir berücksichtigen, zu welcher sprachlogischen Kategorie der Begriff gehört. Wollte man es - etwa nach dem Konzept des Erlanger Konstruktivismus (Wilhelm Kamiah, Paul Lorenzen, Oswald Schwemmer) - unternehmen, den Begriff zu disziplinieren, also so etwas wie eine >OrthoFamilienähnlichkeit< (Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. l, Mannheim 1980, S. 631-632), GOTTFRIED GABRIEL, macht auf eine überraschende Parallele in Robert Musils >Mann ohne Eigenschaftem (hg. von ADOLF FRisi, Hamburg 1970, S. 1289) aufmerksam. 83 WITTGENSTEIN (wie Anm. 82) § 66.

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Paul Michel ten läßt sich ein Begriff (zum Beispiel >RotationshyperboloidTypologie< übertragen. Wir werden es damit bewenden lassen müssen, die Ähnlichkeitsbeziehungen und Verwandtschaftsgrade zu beschreiben.

Um mit dem Beispiel von Augustinus und Wittgenstein zu sprechen: Zeit ist mir unverdächtig, wenn ich das Wort naiv im Satz Es ist Zeit, zum Bahnhof zu gehen brauche. Das Wort wird zum Problem, wenn ich grüble: Quid est ergo tempus? Wozu braucht man einen literaturwissenschaftlichen Begriff >Typologie< überhaupt?84 Wer Systematik treibt, zwingt sich zu unterscheiden, welche Merkmale essentiell sind, welche (im Sinne der scholastischen propriä) automatisch mitgegeben und welche akzidentiell sind. So ist beispielsweise in den Naturwissenschaften ein für allemal ausgemacht, daß >Warmblütigkeit< ein zentraler, >Zweibeinigkeit< dagegen ein peripherer Begriff ist. Bei Phänomenen aber, die in der Art von Familienverwandtschaften zu erfassen sind, fällt diese Unterscheidung dahin. Was essentiell ist und was akzidentiell, bemißt sich je nach Erkenntnisinteresse85 des Literaturwissenschaftlers: Möchte ich untersuchen, mit welchen formalen Mitteln die Überbietung eines überlieferten Texts generell geschieht, so werde ich das Merkmal >Realprophetie< als zweitrangig einstufen; lege ich den Akzent auf das Problem der Säkularisation, so werde ich dieses Merkmal ins Zentrum stellen müssen. Und je nachdem, auf welches Merkmal ich mein Augenmerk richte, gehören umgekehrt zwei Texte zur gleichen Gruppe oder zu verschiedenen: Interessiert mich das Verhältnis von >legalistischem Handeln zwecks Erreichung von Gerechtigkeit zu >Handeln im Bewußtsein einer gnadenhaften Abhängigkeit^ so sind die Bibel und Hartmanns >Iwein< kaum unterscheidbar; interessiere ich mich für die absolute Wertung einzelner Gestalten oder Äonen, so müssen Jesus und Iwein selbstverständlich auseinandergehalten werden. In unserem Fachgebiet hat die Bemühung um Begriffsbestimmung vor allem einen heuristischen Wert, insofern als die dabei entwickelten Kriterien die Phä84

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In den empirischen Sozialwissenschaften ist folgende Funktion der Kategorisierung von Phänomenen wichtig: Die hohe Korrelation typischer Merkmale läßt in Fällen, wo man nur einige wenige Merkmale erkennt, auf die Kategorie und damit auf die restlichen Merkmale schließen. Diese Funktion entfallt in den philologischen Wissenschaften. Ebenso entfällt die im juristischen Prozeß wichtige Funktion der Begrifflichkeit, die darin besteht, daß (nach dem Prinzip nulla poena sine lege) der Sachverhalt (das heißt das konkret passierte Geschehen) restlos einem (im Codex juris formulierten) Tatbestand untergeordnet werden muß, wobei aus dieser Subsumtion für den Täter eine Rechtsfolge entsteht. Für den systematischen Botaniker ist die Blütenfarbe relativ belanglos; anders für den Floristen. Sukkulenz ist ein Merkmal, das in der Systematik einen hinteren Rang hat, hingegen für den Junggesellen, der eine Pflanze kauft, die auch mal 14 Tage ohne Wasser aushält, entscheidend ist.

Typologie und andere Gestalten des Textbezugs

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nomene präzis betrachten lehren. Im Brennpunkt des Interesses sollten meines Erachtens nicht die Begriffe stehen, sondern die Merkmale, mittels derer man Texte in ihrer Eigentümlichkeit interpretieren kann. Solche Merkmale sind etwa: Welchem Textkorpus entstammen die in Bezug gesetzten Szenen? Bildet die Vorläuferszene oder -gestalt den Erkenntnis- oder den Realgrund für ihre Erfüllung? Worauf wird der Bezug zwischen den Szenen abgestützt (Wie wird die Ähnlichkeitsrelation begründet)? Welche Funktion (vgl. oben Kapitel 2) hat die Inbezugsetzung der beiden Texte? Mittels welcher sprachlicher Prozeduren wird einem alten Text ein neuer Sinn abgewonnen? - In Anlehnung an Wittgenstein86 möchte man sagen: »Definier nicht, sondern lies!«

Diskussionsbericht Herr FREYTAG sprach sich gegen eine Erweiterung des Begriffs >Typologie< aus. Die Typologie sei als Sonderfall der Allegorie sehr jung, bei Paulus komme der Begriff nicht vor. Anstatt von Typologie, für die Christus als Sinnmitte unerläßlich sei, zu sprechen, seien öfter die Begriffe Imitatio, Vergleich, Exemplum, vossianische Antonomasie und andere zu verwenden. Bei der Typologie sei zudem mehr auf Steigerungsverhältnisse als auf Antithetik zu achten. Dazu meinte Herr MICHEL, daß eine strenge formale Definition die Reichweite der Analyse eher behindere als fördern könne. Herr HARMS sagte, die Selbstvergewisserung des Lesers, die der von Herrn MICHEL beschriebene apologetische Aspekt der Typologie impliziere, sei dann nicht voraussetzungslos möglich, wenn das Christentum uneins sei. So seien in der Publizistik der Reformationszeit Umdeutungen zu beobachten, die auch den systematischen Ort der Typologie im Bereich christlicher Hermeneutik berührten. Herr HARMS erläuterte dies anhand des Schrifttums zu Gustav Adolfs Eintritt in den 30jährigen Krieg, in dem der schwedische König gleichzeitig mit Alexander, Judas Makkabaeus, dem Löwen von Mitternacht und dem Pelikan in Beziehung gebracht werde. Hier erzeugten Deutungsangebote von Typologie, die im Schwedenkönig die Erfüllung von Präfigurationen behaupte, und Allegorese eine neue geschichtliche Perspektive, so daß apologetische Funktionen von Typologie historisch weiter zu differenzieren seien. Herr PEIL wies, Bezug nehmend auf die von Herrn MICHEL gewählten Beispiele aus dem Alten Testament, auf die Unterscheidung von Wort- und Realprophetie hin. Wortprophetie und Typologie seien streng voneinander zu trennen. Dagegen schloß Herr MICHEL Verwischungen nicht aus (vgl. jetzt S. 48f.). Herr WORSTBROCK hob die Typologie als Form der Geschichtsdeutung hervor, wogegen im Rahmen der Allegorie eine (NaWITTGENSTEIN (wie Anm. 82) § 66: »Denk nicht, sondern schau!« - Für mannigfache Anregungen und Kritik danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines Seminars zum Typologie-Begriff am Deutschen Seminar der Universität Zürich sowie den Mitgliedern des judaistischen Arbeitskreises an der Theologischen Fakultät Luzern.

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turallegorese und anderes) möglich sei. So seien die Konflikte des Aeneas mit Dido und Turnus als Vorstufen der Auseinandersetzung mit Karthago und der Eroberung Italiens zu verstehen, deren Zielpunkt die aetas aurea sei. Diese Deutung sei ganz allegoresefern, strukturell aber mit der Typologie vergleichbar. Typologie werde hier erkennbar als grundsätzlicher Versuch menschlicher Geschichtsdeutung. Herr FREYTAG wandte dagegen ein, wenn die Zäsur mit Christus als Sinnmitte fehle, könne nicht von Typologie gesprochen werden. Herr HOGREBE sagte, daß mit der Traditionsversicherung im Rahmen der Typologie zugleich auch eine Distanz zur Vergangenheit geschaffen werde. Demgegenüber diene die Allegorie immer der Aneignung, sei also bemüht, die Distanz aufzuheben. Herr GRUBMÜLLER sagte, Übereinstimmung hinsichtlich der Terminologie sei nur zu gewinnen, wenn inhaltliche Kriterien maßgeblich seien. Er plädiere daher dafür, den Typologiebegriff grundsätzlich inhaltlich zu bestimmen. Herr OHLY erklärte, es gebe verschiedene Modelle der Bezugsetzung zur Vergangenheit. Es sei ratsam, es für die Typologie bei der innerchristlich heilsgeschichtlichen Sichtweise zu belassen. In der Germanistik sei es diesbezüglich zu Verwischungen gekommen (>Postfiguration< und anderes). Entscheidend für die Sinnstruktur der Typologie sei jedoch das Prinzip der Steigerung mit Christus als Sinnmitte. In der langen Geschichte der Typologie habe es Wandlungen des Konzepts gegeben. Dies alles müsse jedoch nicht in eine Definition eingehen. Stattdessen könne man von analogen oder säkularisierten Denkformen sprechen. Hinsichtlich des Appellcharakters der Typologie sei zu sagen, daß typologisches Denken in weiteste Bereiche des Lebens gewirkt habe. Herr GRUBMÜLLER ergänzte, die Appellfunktion sei unter dem Aspekt der Motivation weiter zu differenzieren. Während bei der Typologie die Deutung im Zentrum stehe und sich die Appellfunktion gleichsam nebenbei ergebe, liege etwa beim Exempel das Motiv im Appell. Herr HIRDT faßte zusammen, die Diskussion habe eine Reihe von wichtigen und streitigen Fragen aufgeworfen, die eine Fortsetzung des Gesprächs wünschenswert machten.

WOLFRAM HOGREBE Mantik und Allegorese

1. Hegels Theorie der Mantik F r das Ende der griechisch-r mischen Antike stehen terminierende Ereignisse wie die Absetzung des letzten r mischen Kaisers Romulus Augustulus durch Odoaker (4.9.476) oder, im Osten, das Verbot >heidnischer< Lehrt tigkeit durch Kaiser Justinian und die Schlie ung der Platonischen Akademie in Athen (529). Allerdings haben diese sp ten Ereignisse resultativen Charakter und erscheinen daher doch nur wie die Quasten-Kappung des vordem und ferner ausfransenden Teppichs der Antike, den weiterzuweben noch ein letzter, ebenso gro artiger wie vergeblicher Versuch von Kaiser Julian unternommen wurde, den die Christen den Apostaten nannten. So ist dessen fr her Tod am 26.6.363 vielleicht das spektakul rste Ereignis im Abri geschehen der habitualisierten antiken Deutungstradition, nicht nur Symbol, sondern wirklicher Index f r das buchst bliche Verstummen der antiken Welt. Mit Julians Tod verliert n mlich das bis auf Thaies zur ckgehende Prinzip der antiken Weltdeutung seine Geltung, der Satz n mlich: πάντα πλήρη θεών, >alles ist voller Gotten.1 Nur im Geltungsschatten dieses Satzes waren im Rauschen heiliger Haine, im Echo des pythischen Orakel-Beckens, im Stammeln der Pythia, dem steinernen L cheln der G tterstatuen, dem Fl stern der kastalischen Quelle ebenso g ttliche Winke und Weisungen zu entnehmen wie dem Flug der V gel, dem Toben des Meeres, Blitz, Donner und dem Stand der Gestirne. Diese apollinische Semantik der Natur,2 die wir unter dem Titel >Mantik< kennen, wurde durch das Christentum abgel scht, die Semantik der Natur weicht der Semantik der Schrift. Nicht mehr, so triumphiert Gregor von Nazianz, Clemens von Alexandrien zitierend,3 in seiner zweiten Rede gegen Julian nach dessen Tod, sprechen die Ei-

Aristoteles, De anima 411 a 7. Vgl. ferner Platon, Nomoi X 899 b: 9εών [...] πλήρη πάντα; Aetios I 7,11 (D 301). So Heraklit: Der Herr, der das Orakel [το μαντεΐον] in Delphi besitzt, sagt nichts [ούτε λέγει], verbirgt nichts [ούτε κρύπτει], sondern deutet an [άλλα σημαίνει] (HERMANN DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von WALTHER KRANZ, Bd. l, Berlin Ί951 [mehrmals nachgedruckt], S. 172, Fragm. B 93). Vgl. Λόγος προτρεπτικός / Cohortatio ad gentes 2 (PG 8, Sp. 68); ferner: Eusebius, Praeparatio evangelica II 3 (PG 21, Sp. 120f.).

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Wolfram Hogrebe

chen, nicht mehr prophezeit [μαντεύεται] der pythische Kessel.4 Nicht mehr ist Pythia voll von allen m glichen Mythen und Schw tzereien. Kastalia ist wieder zum Schweigen gebracht und schweigt; nicht mehr raunt [μαντευόμενον] das Wasser, man lacht dar ber. Wiederum ist Apollo die stumme Statue. [...] Wieder wird das Grab des Zeus auf Kreta gezeigt.5 Hegel deutet dieses Geschehen, das ihm zufolge erst mit Luther endg ltig wird, als den weltgeschichtlichen Proze , durch den das G ttliche, das die Griechen auswendig wu ten, im Christentum zur inwendigen Substanz freier Subjekte wird. Nichts gilt mehr im Endlichen, in Stein und Natur, als Repr sentation des Absoluten, als Medium des G ttlichen: Die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Alt re [ . . .].6 Drau en bleibt eine g tterlose Welt zur ck, und so wird der Hain zu H lzern, die Bilder zu Dingen, welche Augen haben und nicht sehen, Ohren und nicht h ren.1 In diesem Abri geschehen der habitualisierten antiken Naturdeutung, und das ist nach Hegel ihre Gewinnbilanz, l st sich der Mensch aus der Bindung g ttlicher M chte, die ihm per Naturereignis deutungsbed rftige Hinweise ber seine Verstrickung in ein unentrinnbares Schicksal zuraunen. Diese Fatalit t verdampft im christlichen Prinzip der Freiheit des Handelns: Dadurch f llt aller Aberglaube der Orakel und des Vogelfluges fort, der Mensch ist als die unendliche Macht des Entschlie ens anerkannt* Aus dieser Perspektive werden r ckblikkend die abweisenden Stellungnahmen der apologetischen Patristik zur Mantik in ihrer positiven Bedeutung sichtbar: Die christliche Kritik der Mantik ist Kri4

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Im Text steht hier λέβης, und HAEUSER (Des heiligen Bischofs Gregor von Nazianz Reden, aus dem Griechischen bersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von PHILIPP HAEUSER, Bd. 1: Reden 1-20 [Bibliothek der Kirchenv ter 59] M nchen 1928, S. 182) bersetzt mit »Krug«. Von Gregor ist wohl die auf dem pythischen Dreifu liegende, wenig vertiefte und durchbrochene Platte gemeint, die sonst auch φιάλη (>SchaleKreisScheibeM rserKesselder ist der beste Seher, der korrekt schließt^ Diese Wendung taucht auch bei Cicero16 auf, und er fragt sich anschließend, ob, wenn das so ist, ein Steuermann, ein Arzt, ein Feldherr in ihren Bereichen nicht zuverlässiger schließen als ein Seher. Diesen Vergleich nimmt Cicero hier aus den Passagen auf, die er seinem Bruder Quintus im ersten Teil von >De divinatione< zur (stoischen) Verteidigung in den Mund legt. Dort (I 113) grenzt Quintus die kundigen Prognosen von Ärzten, Steuerleuten, Landleuten gerade von der Mantik ab. Solche Prognosen sind nicht Sache eines Sehers (divinus), sondern eines Naturforschers (physicus). Gleichwohl hat Quintus mit dieser Abgrenzung einige Schwierigkeiten. Denn die einzige Komponente, die den divinus vom physicus trennt, ist offenbar die göttliche Inspiration. Ansonsten bedient sich auch divinus (jedenfalls nach ciceronischem Design) bloß jener Informationsquellen, die vordem die empirische Ärzteschule17 als allein verläßlich deklariert und unter dem Titel nicht eines py13

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De praescriptionibus adversus Haereticos 7 (PL 2, Sp. 20; zitiert nach ALBERT WARKOTSCH, Antike Philosophie im Urteil der Kirchenväter, München - Paderborn Wien 1973, S. 92). Das Original ist topisch prägnanter als die Übersetzung von WARKOTSCH vermuten läßt: Nobis curiositate opus non est, post Christum Jesum; nee inquisitione, post Evangelium. Cum credimus, nihil desideramus ultra credere. Vgl. FRANZ CUMONT, Die orientalischen Religionen im römischen Heidentum (hg. von AUGUST BURCKHARDT-BRANDENBURG, Darmstadt 1969), S. 177: »Trotz all der Irrwege, die sie einschlugen, sind Astrologie und Magie nicht unnütz gewesen. [...] Die Beobachtungen, welche die Priester des alten Orients mit unermüdlicher Geduld sammelten, führten zu den ersten physikalischen und astronomischen Entdeckungen, und die Geheimwissenschaften bildeten, wie in der Zeit der Scholastik, die Brücke zu den exakten Wissenschaften.« De defectu oraculorum 40. De divinatione II 12: Bene qui coniciet, vatem hunc perhibebo optumum; vgl. auch die Belege von PEASE (wie Anm. 9) in der Anmerkung zu diesem Vers. Vgl. KARL DEICHGRÄBER, Die griechische Empirikerschule. Sammlung der Fragmente und Darstellung der Lehre, Berlin 1930 [Nachdruck Berlin - Zürich 1965], S. 257ff.;

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thischen, sondern eines empirischen Dreifußes (Nausiphanes, *um 360 v.Chr.; Glaukias, 2. Jahrhundert v.Chr.) systematisiert hatte. So fließen in mantische Wahrscheinlichkeitsschlüsse auch bloß solche Informationen in die Prämissen ein, die auf eigener Erfahrung ( ) beruhen, auf das Zeugnis der Erfahrung anderer ( ) zurückgehen und ansonsten analogisch ( ) acquiriert werden.18 Diese Quellen spezifiziert Cicero für die Mantik so: >sie benutzt nämlich Wahrscheinlichkeitsschlüsse [coniectura], über die sie nicht hinauskommt. Ein solcher Schluß geht vielleicht manchmal fehl [fallit], führt aber gleichwohl sehr häufig auf das Wahre [ad veritatetn]; denn er ist ständig wiederholt worden [repetita], in einem Zeitraum, in dem sich beinahe unzählige Male die Dinge auf dieselbe Weise mit denselben vorhergehenden Zeichen [iisdem signis antegressis] ereignet haben. Und auf diese Weise ist durch stete Aufmerksamkeit und Registratur eine Kunst geschaffen worden.Dreifuß der WahrheitFreudianer< ironisch: »The same criticism might be made of some more modern attempts to ascertain the symbolic meaning of dreams.« De divinatione (wie Anm. 9) II 145.

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einander unabhängiger Kausalketten noch nicht zur Verfügung steht. So nimmt Quintus eben jene von Cicero als seriöse Prognosen bezeichneten Beispiele, obwohl sie nicht mantischer Art sind, gleichwohl und insofern doch als Argument für die Mantik in Anspruch, als gerade auch Ärzte häufig nicht sagen können, warum, wohl aber, daß gewisse Mittel heilen. Das heißt: Nichtwissen einer zugrundeliegenden Gesetzlichkeit hindert nicht die erfolgreiche Prognose beziehungsweise heilende Anwendung, sofern diese eine Bewährungsgeschichte im Rücken hat. (Tatsächlich argumentieren diejenigen, die zum Beispiel die Akupunktur ihrer heilenden Effekte wegen verteidigen, auch heute so.) Diese Argumentation ist charakteristisch für jedes erfolgreiche know how, das nicht wissen muß, warum sich die gewünschten Effekte einstellen, wenn es nur gelingt, sie mit hinreichender Regelmäßigkeit zu erzielen. Nach diesem Muster verteidigt Quintus in der Tat die Mantik als ein prognostisches know how unter der Devise: Man frage nicht warum, wenn nur hinreichend deutlich ist, was geschieht.26 So weiß Quintus um die Wirkung der Wurzel Scammonea als Abführmittel, der Wurzel Aristolochia als Mittel gegen Schlangenbisse, um die Zeichen, die Winde und Platzregen andeuten, und das genügt ihm, selbst wenn er nicht weiß, warum das so ist.27 Entsprechend weiß er, was ein Spalt in den Eingeweiden, was Fieber und Blitze bedeuten, selbst wenn auch hier gilt: quae causa sit nescio.2* Denn in allen diesen Fallen liegt eine lange Bewährungsgeschichte (tempore immenso) dieser Deutungen vor, die ausschließlich auf Beobachtungen (observala), Registratur (pnimadversa) und Fixierung (notata) beruhen.29 Unter diesen Voraussetzungen kann man in der Tat die mantische Naturkunde als ein rationales Unternehmen rekonstruieren. Denn: »Belief in divination was no less rational than a belief in the results of the primitive ancestors of our modern >legitimate< sciences.«30

3. Vom pythischen zum empirischen Dreifuß Man erkennt jedenfalls unschwer, daß Quintus die Mantik im Stile einer empirischen Naturkunde vorstellt. Das gilt selbst dann, wenn die mantische Fähigkeit nicht auf Gesetzeswissen beruht. Dieser Mangel an Wissen wird durch eine Art 26 27 28 29

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Ebd. I 15: Non quaero cur, quoniam quideveniat intellego. Ebd. I 16: video, quod satis est; curpossit nescio. Ebd. Ebd. 113. R. J. HANKINSON, Stoicism, Science and Divination (Apeiron XXI/2, 1988, S. 123160), S. 125. Derselbe Rationalitätskredit findet sich schon bei OTTO NEURATH, Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung (Logischer Empirismus - Der Wiener Kreis, hg. von HUBERT SCHLEICHERT, München 1975, S. 106-125). Vgl. ferner WOLFRAM HoGREBE, Initialien prognostischer Rationalität (Zeitschrift für philosophische Forschung 37,1983,8.21-35).

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Instinkt und g ttliche Inspiration (aliquo instinctu inflatuque divino)3] kompensiert, aber diese Komponente diskreditiert die Mantik nicht als empirische Wissenschaft! Die Probleme liegen vielmehr in der schon genannten Unklarheit dar ber, was zu einem Kausal-Kontext geh rt und was nicht. Dieses abgerechnet, liefert die stoische Theorie der Mantik tats chlich eine Theorie empirischer Wissenschaft, die auf dem besten Wege war, ihre superstiti se Einbettung in den Wust mantischer Praktiken hinter sich zu lassen. Bemerkenswert ist vor allem die Einsicht in den konjekturalen Charakter mantischer Prognosen, die Einsicht in die grunds tzliche Fallibilit t empirischen Wissens. Dies kommt besonders deutlich um die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. bei Ptolem us zum Ausdruck, der in seinem Werk >Tetrabiblos< f r eine wissenschaftlich vertretbare Astrologie optiert und gleich zu Anfang unmi verst ndlich feststellt: >So gilt im allgemeinen und zun chst, da jede Wissenschaft, die sich mit Qualit ten der Materie besch ftigt, konjektural ist [είκαστικήν είναι] und eben nicht absolut sicher [ου Οιαβεβαιωτικήν].Πρός Ανεβώ έπιστολήDe mysteriis< entnehmen k nnen, das Konzept einer Mantik entworfen, die den divinatorischen Charakter weitgehend verloren hat und sich selbst ausdr cklich als menschliche Mantik (ανθρωπινή μαντική) verstanden haben mu . Jamblich argumentiert vehement gegen diese Konzeption33 und macht sie dadurch sichtbar. Porphyrios hat sich in diesem Brief, was sp ter auch von Augustinus zustimmend hervorgehoben wird,34 vor allem gegen Praktiken und das Ph nomen des sogenannten G tterzwangs gewandt, berhaupt den superstiti sen Zuschnitt mantischer Praktiken in Frage gestellt, ohne jedoch den Sinn der Mantik als einer nat rlichen prognostischen F higkeit preiszugeben. Er verweist ausdr cklich auf die Kunstfertigkeiten und Wissenschaften, die wie Steuermanns- und Heilkunst prognostisches Wissen liefern, und behauptet, da die physische Natur, die menschliche Kunstfer31 32

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Cicero, De divinatione (wie Anm. 9) I 12. Ptolem us, Tetrabiblos I 2 (griechisch-englisch hg. von F. E. ROBBINS [Loeb Classical Library 350] London - Cambridge/Mass. 1940 [Nachdruck 1964], S. 15) - LYNN THORNDIKE hat daher Recht, wenn er gegen BOUCHE-LECLERCQ schreibt: »The Tetrabiblos has been called Science's surrenden, but was it not more truly divination purified and made scientific?« (A History of Magic and Experimental Science, Bd. 1, New York 1923,8. 113). Wie schon Quintus bei Cicero, und sp ter auch Thomas von Aquin (De veritate XIII 3) sahen. Vgl. De civitate Dei X 11: Mit Recht wundert sich Porphyrios, da ein Mensch den G ttern mit solchen gegenstandslosen Albernheiten drohe, und nicht blo drohe, sondern sie gewaltsam und mit Erfolg n tige und zur Erf llung seiner W nsche bringe (zitiert nach: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgew hlte Schriften, Bd. 2: ber den Gottesstaat IX-XVI, aus dem Lateinischen bersetzt von ALFRED SCHR DER [Bibliothek der Kirchenv ter 16] Kempten - M nchen 1914, S. 93). Augustinus weist dann wie Jamblich (III27) auf einige Inkonsistenzen der porphyrianischen Konzeption hin.

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tigkeit und die Sympathie der Teile im Weltall, als Teile in einem einheitlichen Lebewesen, wechselseitig Vorherverkündungen gewisser Dinge in sich enthalten, [...] daß die Körper so geartet sind, daß es ein Vorher verkünden von dem einen auf das andere gebe.35 Insgesamt hat Porphyries also die These vertreten, daß die mantische Kompetenz ihre Basis in der Natur des Menschen hat,36 und zwar ebenso wie etwa gewissen Tieren ein Vorherwissen von Erdbeben und Regen angeboren ist.31 Damit tritt die Theorie der Mantik endgültig in die Phase des Übergangs vom pythischen Dreifuß zum empirischen Dreifuß. Aber diesen Schritt hat sie wissenschaftsgeschichtlich nicht effektiv hinter sich bringen können, da sie gleichsam mitten im Geschehen durch das Christentum storniert wurde. Nach der Schließung der Akademie in Athen (529) kam es zur Emigration der Wissenschaften aus dem römischen Reich: Die besten Köpfe der Akademie setzten sich in das Reich der Sassaniden ab.38 Perser, Syrer und Araber treten die Erbschaft der hellenistischen Wissenschaft an. Erst im 12. und 13. Jahrhundert gelang es dem Abendland wieder, Anschluß an diese Wissensbestände zu gewinnen. Zwar hatten insbesondere die alexandrinischen Väter ein außerordentlich liberales Verhältnis zur >heidnischen< Bildung und Wissenschaft, und selbst Gregor von Nazianz suchte sich mit der Unterscheidung von Sprach- und Kulthellenisten gegenüber Julians usurpierenden Rückruf auf die Weisheit des Hellenisierens aus der Affäre zu ziehen: das kulturelle Erbe des Hellenismus sei ja nicht identisch mit seinem kultischen Erbe.39

4. Augustinus und die Kompensation des semantischen Naturverlustes Gleichwohl war die Lage auch für die christlichen Apologeten vertrackt. Auf der einen Seite mußte gegen die prognostische Kultur der Mantik Stellung bezo35

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Vgl. Jamblich, De mysteriis III 26f. (zitiert nach der Übersetzung von HOPFNER [wie Anm. 4] S. 108). Es ist so abwegig nicht, wenn KARL KIESEWETTER die Zielkonzeption Porphyries' so charakterisiert: »Der Brief an Anebo kann als erster schüchterner Versuch einer Psychophysik gelten« (Der Occultismus des Altertums, Leipzig 1896 [Nachdruck 1976], S. 797). Vgl. Jamblich, De mysteriis III 27. - Selbst JOHANNES GEFFCKEN kommt, was diesen Brief des Porphyries angeht, um eine positive Würdigung nicht herum: »Porphyries zeigt hier einen klaren Blick. [...] Aber der weltfremde Gelehrte verkannte seine Zeit, die eine ganz andere Taktik verlangte. Es kam für den Philosophen nicht mehr auf die Forschung an; es galt feste Überzeugungen zu besitzen, ein abgeschlossenes System; Porphyries' ernstes Streben nach der Wahrheit fand nirgends Verständnis.« (Der Ausgang des griechisch-römischen Heidentums, Heidelberg 1920, S. 68f.). Jamblich, De mysteriis III 26 (zitiert nach der Übersetzung von HOPFNER [wie Anm. 4] S. 107). Vgl. FRANZ ALTHEIM - RUTH STIEHL, Ein asiatischer Staat. Feudalismus unter den Sassaniden und ihren Nachbarn, Bd. l, Wiesbaden 1954. Vgl. Orationes IV 103f. (PG 35, Sp. 637ff.; in der Übersetzung von HAEUSER [wie Anm. 4] S. 140f.).

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gen werden, auf der anderen Seite konnte man nicht jegliche prognostische Kultur verneinen, wenn anders man sich nicht um die prophetischen Grundlagen des eigenen Glaubens bringen wollte. Hier mu te unterschieden werden, und es wurde unterschieden nach der Devise: Mantik nein, Prophetie ja. Die legitimierenden Argumente f r diese Differenz lieferte Justinos so: >Das vorz glichste Unterscheidungsmerkmal aber zwischen Propheten [προφήται] und Sehern [μάντεις] ist folgendes. Zun chst verh lt es sich schon so, da die Propheten und Apostel [oi προφήται και oi απόστολοι] im Namen desjenigen Gottes das Zuk nftige vorhergesagt haben, von dem sie volle Kenntnis [γνώσις] hatten, an den sie glaubten [πίστις] und dem sie opferten [λατρεία]. Ferner: was immer die Propheten ber das Schicksal der griechischen G tter und Orakel [$εοί τε και μάντεις] und ber die Gr ndung der christlichen Sache vorhergesagt haben, das alles hat sich tats chlich ereignet. Was aber die Seher [μάντεις] gegen den Gott der Wahrheit, seine Gl ubigen und ber die Angelegenheit aller V lker vorausgesagt haben, davon ist berhaupt nichts eingetreten x40 Auf die alttestamentarischen Hintergr nde dieses Argumentes will ich hier nicht eingehen,41 sondern nur eine seiner Konsequenzen andeuten: wenn es so ist, wie Justinos sagt, dann bernehmen die christlichen Theoretiker nat rlich auch die Beweislast daf r, da alles, was die Propheten vorhergesagt hatten, sich auch tats chlich ereignet hat. Aber diese Nachweise, die tats chlich unternommen wurden,42 durften nat rlich nicht auf das Register des mantischen Vokabulars zur ckgreifen. Also ben tigte man andere Kategorien, um zum Beispiel das Eintreffen der Prophetien beschreiben zu k nnen. Diese liefert das biblische Schema der Schrifterf llung (πλήρωμα νόμου) und die Typologie. Trotzdem erwies sich dieses Register als zu arm. 40

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Quaestiones II (PG 6, Sp. 1252Γ). hnlich: Augustinus, De divinatione daemonum I 6 (PL 40, Sp. 586): veracissima enim sunt angelica et prophetica oracula. Dagegen gilt: In ceteris autem praedicalionibus suis daemones plerumque etfalluntur etfallunt. Vgl. identisch zum Beispiel Rabanus Maurus, De magicis artibus (PL 110, Sp. 1095-1110, bes. Sp. 1103). Vgl. Dt 18,10-12; Lv 19,26-28. Die alttestamentarischen Propheten sind von den sonst blichen Sehern zu unterscheiden, sie haben nicht nur privilegierte prognostische Kompetenzen, sondern vor allem auch Bedeutung f r die Stabilisierung der Stammesidentit t. Gleichwohl ist der Prophet dieser Art nur eine sp te Spezialisierung des urspr nglichen Sehers (vgl. I Sm 9,9). Motiv f r die Ausdifferenzierung der Seher ist der gebotene Abschlu gegen babylonische, assyrische, gyptische Mantik im Dienste fremder G tter (vgl. Lv 19,26 und 31). Dagegen gilt intern durchaus: Ein widerspenstiges Volk ist's ja, verlogene S hne, S hne, die des Herrn Gesetz nicht halten wollen, die zu den Sehern sprechen: >Nein! Ihr sollt nicht sehen!Tut uns die nackte Wahrheit ja nicht kund! Uns sagt nur Dinge, die gefallen [...] (Is 30,9 f.). Man erkennt: die verbreitete Seherschelte (vgl. Homer, Ilias A 106: //αντί κακών) war auch den alttestamentarischen Propheten nicht fern. Vgl. Iren us, Epideixis II: Beweis der Wahrheit der Offenbarungslehre aus dem u eren Zeugnis der heilsgeschichtlichen Tatsachen (Des heiligen Iren us ausgew hlte Schriften, Bd. 2: Zum Erweis der apostolischen Verk ndigung, aus dem Armenischen bersetzt von SIMON WEBER [Bibliothek der Kirchenv ter 4] Kempten - M nchen 1912, S. 613ff.).

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Da mit der Ablehnung der >heidnischen< Mantik der ganze Bereich der Naturdeutung trockengelegt war, die Zeichen des Himmels zugunsten der Zeichen der Zeit außer Deutungskurs gesetzt waren,43 drohte das, was man einen semantischen Naturverlust nennen könnte. Was not tat, war eine Theorie, die es gestattete, die Bestände der >heidnischen< Naturkunde gewissermaßen durch einen Filter in den Besitzstand christlicher Weltdeutung einfließen zu lassen. Was not tat, war ein legitimierendes Argument für die Einbeziehung des Natürlichen in den Heilskontext des Spirituellen, den Anschluß der heidnischen Wahrheiten an die Glaubenswahrheiten. Dieses Problem stellte sich insofern in besonderer Dringlichkeit, als es außer der alexandrinischen Tradition hier und da durchaus zu einer drastischen Verneinungskultur gegenüber der antiken Wissenschaft gekommen war.44 Wenn man aufs Ganze gesehen der überlieferten mantischen Naturkunde attestieren kann, daß sie zuviel erklären wollte, dann muß man bei einigen christlichen Theoretikern umgekehrt feststellen, daß sie in der Ablehnung der Mantik zuviel verneinten. Mantische Praktiken wie Schadens- und Liebeszauber werden zum Beispiel bei Irenäus umstandslos mit Pharmazie, Webkunst, Färberkunst, Kosmetik und Medizin in einen Topf geworfen. Zu diesen Dingen wurden ihm zufolge die Töchter der Menschen von den gefallenen Engeln unterrichtet: Sie lehrten sie die Kraft der Wurzeln und Krauter, das Färben und Schminken, die Erfindung wertvoller Stoffe, Mittel zur Beförderung der Anmut, zum Wecken des Herzens und der Liebe, Sicherung der Lebensdauer, Hexenbünde, jegliche Gaukelei und gottverhaßten Götzendienst.^ Die Standardkritik an den Wissenschaften orientierte sich allerdings in der Regel an dem Argument, daß sie vom Glaubensziel ablenke. Basilius nennt Geometrie, Mathematik und Astronomie >vielgeschäftige Zeitvergeudungheidnische Mantikx aufzunehmen und doch gleichzeitig eine Lizenz für ein positives Verhältnis zur heidnischen Wissenschaft bereitzustellen. Die Lösung dieses schwierigen Problems ist nicht nur, aber vorzüglich, die Leistung Augustins.47 Seine erste Aufgabe mußte es sein, einer positiven Aufnahme heidnischen Wissenschaft eine biblische Grundlage zu geben. Dies gelingt ihm mittels einer prominent gewordenen Typologie: Ebenso wie die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten auf Weisung des Herrn Gold- und Silberschmuck der Ägypter mitnahmen, geradeso dürfen und sollen die Christen bei ihrem Auszug aus der Gesellschaft der Heiden deren nützliche Kenntnisse und Künste mitführen.48 Augustinus verweist hier auf christliche Lehrer, die bereits vor ihm >heidnisches< Wissen christlicher Wahrheit dienstbar gemacht haben: Sehen wir nicht, wie schwer Cyprian, der süße Lehrer und selige Märtyrer, mit Gold und Silber belastet war, als er Ägypten verließ? So machte es auch Lactantius, so Victorinus, Optatus, Hilarius und, um von den Lebenden zu schweigen, unzählige Griechen. Schließlich befindet Augustinus bündig: Was dort im Buche Exodus vorging, ist ohne Zweifel ein Vorbild \figuratum est], um dieses anzudeuten \praesignaret].49 Das ist aber nur die allgemeine Lizenz. Das Anknüpfen an die antike Naturkunde bedarf noch einer zusätzlichen Legitimation. Genauer: Es mußte ein Verfahren her, das es erlaubt, den semantischen Naturverlust, der mit Ablehnung der Mantik drohte, für jene Bestände der antiken Naturkunde rückgängig zu machen, deren Kenntnis auch für Christen nützlich und unentbehrlich ist. Dieses Verfahren liefert die auf Augustinus' Semiotik aufbauende Allegorese speziell als Dingbedeutungskunde im Dienste des Schriftverständnisses. Die These ist also kurz gesagt die: Der Verlust einer mantisch erschlossenen Natur wird durch Allegorese kompensiert. So wundert es nicht, daß einige christliche Autoren sich gegen die Allegorese wenden mit dem Argument, daß man sich auf diese Weise den Wolf der Mantik bloß im Schafspelz der Allegorese einhandele. Diese Autoren vermeiden daher auch jedes Anknüpfen an >heidnische< Naturkunde. Prominentes Beispiel ist 47

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»Nicht schon das frühe Christentum, sondern erst die späteren Kirchenlehrer (wie Hieronymus, Augustin, Cassiodor) haben der christlichen Lehre zu ihrer Aufschließung und Systematisierung das außerbiblische Wissensgut zugeführt, das sich das Mittelalter für seine eigenen geistigen Intentionen zunutze machte« (HERBERT KOLB, Der Hirsch, der Schlangen frißt. Bemerkungen zum Verhältnis von Naturkunde und Theologie in der mittelalterlichen Literatur [Mediaevalia litteraria. Festschrift Helmut de Boor, hg. von URSULA HENNIG - HERBERT KOLB, München 1971, S. 583-610], S. 585). Augustinus, De doctrina Christiana II 40,61; vgl. Ex 3,22 und 12,35. Augustinus, De doctrina Christiana II 40,60 (PL 34, Sp. 63; zitiert nach: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften, Bd. 8: Vier Bücher über die christliche Lehre, aus dem Lateinischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von SIGISBERT MITTERER [Bibliothek der Kirchenväter 49] München 1925, S. 105).

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hier Basilius mit seiner strikten Option für eine tautegorische Schriftdeutung.50 Er wendet sich mit Verweis auf die törichte Weltweisheit der griechischen Naturwissenschaft und vor allem Kosmologie, deren Kenntnis für die Gläubigen belang- und nutzlos ist, ineins auch gegen die Allegorese so: Sie nennen Wasser nicht Wasser, sondern verstehen darunter irgendeine andere Natur; auch Pflanze und Fisch deuten sie willkürlich, verdrehen und deuten auch die Entstehung der kriechenden und anderen Tiere ganz nach ihrem Geschmack, wie, und nun spricht Basilius es ungeschminkt aus, die Traumdeuter die Traumerscheinungen ganz nach ihrem Kopfe auslegen. Wenn ich aber von Gras höre, dann denke ich an Gras, und Pflanze, Fisch, Wild, Haustier, überhaupt alles verstehe ich so, wie das Wort besagt?1 Was also not tut, ist eine Allegorese, die nicht bloß unter anderem Namen mantische Naturdeutung liefert, sondern die Naturdeutung willkürfrei, das heißt nach Regeln, an das geoffenbarte Wort bindet. Dafür legt Augustinus in >De doctrina christiana< die theoretischen Grundlagen. Zentral für die Möglichkeit, die heidnische Naturkunde zu beerben, ist hier vor allem seine Lehre von der spirituellen Signifikanz der res (I 2). In der späteren ausgereiften Lehre von den modi signißcandi wird die Signifikanz der res zur Selbstverständlichkeit. Est autem signißcare, heißt es bei Abälard, non solum vocum, sedetiam rerum.52 Aber hier ist die Signifikanz der res nicht mehr spirituell, sondern neutraler Bestandteil semantischer Theorie, anders als bei Augustinus und der ihm folgenden Tradition der Natur-Allegorese, die der Devise folgte: per allegoriam, das heißt durch (allegorisierenden) Anschluß des Naturwissens an die Schrift. Immerhin ließ sich so der Schatz der mantischen Naturdeutung, wie er vor allem bei Plinius gesammelt vorlag, auch in die Schriftdeutung einbringen.53 50

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Gegner der Allegorese sind ansonsten vor allem die Antiochener (Diodor von Tarsos und andere). Vgl. hierzu HARTMUT FREYTAG, Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des II. und 12. Jahrhunderts (Bibliotheca Germanica 24) Bern - München 1982, S. 17f. Basilius, Homiliae in Hexaemeron IX l (PG 29, Sp. 188 ; zitiert nach: Des heiligen Kirchenlehrers Basilius des Großen ausgewählte Schriften, Bd. 2: Ausgewählte Homilien und Predigten, aus dem griechischen Urtext übersetzt und mit Anmerkungen versehen von ANTON STEGMANN [Bibliothek der Kirchenväter 47] München 1925, S. 139 ). Vgl. auch III 9 (zitiert nach der Übersetzung von STEGMANN, S. 57): Doch solcherlei Reden der Allegorese weisen wir als Traumgebilde und Altweibergeschwätz ab, verstehen unter Wasser Wasser [...]. Vgl. hiergegen Augustinus, De doctrina Christiana III 25 (zitiert nach der Übersetzung von MITTERER [wie Anm. 49] S. 138): Dafür aber, daß ein und dieselbe Sache nicht gerade etwas Entgegengesetztes, sondern bloß etwas Verschiedenes bezeichnet, dient als Beleg, daß der Begriff >Wasser< z. B. das Volk bedeutet [...]; es kann auch den heiligen Geist bezeichnen [...]. Dialectica, hg. von LAMBERTUS MARIA DE RIJK, Assen 1970, S. 111. Vgl. hierzu HENNIG BRINKMANN, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, S. 26. Vgl. unter anderen JULIUS SILLIG, lieber das Ansehen der Naturgeschichte des Plinius im Mittelalter (Allgemeine Schulzeitung 11,52, 1833, S. 409-416, und 11,53, 1833, S. 417-420): »Von den Schriftstellern des eigentlichen Mittelalters aber kannte und be-

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Denn ein Kernbestand mantischer Naturdeutung war ja im Prinzip - sogar für Basilius54 - unverdächtig: die aus sich vorausdeutende Natur. So hatte schon Cicero am Beispiel wetterprognostischen Tierverhaltens hervorgehoben, daß in diesen Tieren, zum Beispiel den Fröschen, eine unerklärliche Kraft und eine Art von Naturtrieb liegt, die etwas andeutet: inest in ranunculis vis et natura quaedam significans aliquid.55 Bei Plinius ist in dieser natürlichen mantischen fa£on nahezu alles signifikant. Nicht nur Mond, Sternen, Himmel, Wasser sind Vorzeichen zu entnehmen: praesagiunt et animalia, et ignes [...] significant.56 Zufolge dieser natürlichen Signifikanz der Natur fließt der Strom der mantischen Natur-Prognostik von der Antike bis in die Neuzeit: spielende Delphine prophezeien Sturm bei Theophrast, Cicero, Artemidor, Plinius, ebenso wie bei Isidor, Pseudo-Hugo von St. Viktor, Dante57 und noch in der Emblematik.58 Die natürliche Prognostik nimmt seit der griechischen Empirikerschule auch der Arzt für seine Diagnosen in Anspruch. Diagnostisches Organon auf der Basis des empirischen Dreifußes ist die dreizeitige Semiose ( ): Der ärztliche Befund stützt sich auf Zeichen, die sich auf Vergangenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges beziehen.59 In dieser empirischen fa9on hält sich die Mantik in der Medizin auch im Mittelalter durch. Bei Isidor von Sevilla wird der Arzt als Seher am Krankenbett entsprechend so charakterisiert: Prognostica praevisio aegritudinem, vocata a praenoscendo. Oporlet enim medicum etpraeterita agnoscere, etpraesentiascire, etfuturapraevidere.60 Auf dem Boden der natürlichen Signifikanz der Natur gibt es daher ein Einverständnis der Antike mit dem Mittelalter, das bei aller Verschiedenheit in seiner Ausdeutung den Satz des Hugo von St. Viktor (non solum voces, sed et res significativae sunt) als Selbstverständlichkeit erscheinen läßt. Freilich wäre es Plinius und der Antike ebenso völlig unverständlich gewesen, daß diese Signifikanz der Natur strikt an den Bedeutungshorizont einer Schrift gebunden bleibt, wie sonst am ehesten noch die Auslegung der Träume an die Traumbücher.61

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nutzte den Plinius zuerst loannes Laurentius Lydus (nach 552), der seinem Buche über die Himmelszeichen ganze Stellen der Naturgeschichte einverleibte« (S. 411). Vgl. Homiliae in Hexaemeron IX 3. De divinatione (wie Anm. 9) I 15. Vgl. Plinius, Naturalis historia XVIII 347ff. (lateinisch-französisch unter Mitarbeit von ANDRE LE BOEUFFLE hg. von HENRI LE BONNIEC, Paris 1972; Zitate S. 177,176). Theophrast, De signis tempestatis 19; Cicero, De divinatione II 145; Artemidor, Oneirocriticon II 16; Plinius, Naturalis historia XVIII 361; Isidor, Etymologiae XII 6,11; Pseudo-Hugo von St. Viktor, De bestiis et aliis rebus III 55; Dante, Inferno 22,19-21. Vgl. ARTHUR HENKEL - ALBRECHT SCHÖNE (Hgg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, S. 686. Vgl. DEICHGRÄBER (wie Anm. 17) S. 289. Etymologiae IV 10,2 (PL 82, Sp. 194). Vgl. HEINRICH KRAFT, Die Kirchenväter, Bremen 1966, S. 100 [zu Philo]: »In der antiken Schulphilosophie finden wir, daß bei der Behandlung bestimmter Gegenstände Topoi, Beispiele und Bilder eng miteinander verknüpft sind und meist miteinander auftre-

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Durch diese Bindung wurde das Erbe der antiken Naturkunde um ihre konjekturale Offenheit gebracht, deren Tilgung zwar die großartige Pfmgstlichkeit62 des Mittelalters ermöglichte, aber um den Preis der prometheischen Neugier des Naturforschers. Diesen wissenserweiternden Impuls der curiositas schrieb Augustinus nämlich der sündhaften Begehrlichkeit der Augen (concupiscentia oculorum, 2,16) zu: Deshalb [ex hoc morbo cupiditatis] unternimmt man es, die Geheimnisse der Natur [naturae secreta], die außer uns liegt und deren Kenntnis uns nichts frommt, zu erforschen [...]. Dahin gehört es auch, wenn in gleichem Streben nach verkehrter Wissenschaft [scientiae perversae] magische Künste angewandt werden.63 Dieser Kontrast zwischen Verneinung der Naturforschung und Bejahung eines stillgestellten Naturwissens macht deutlich, daß Augustinus das Naturwissen bloß als etwas Gegebenes akzeptiert, nicht als etwas im Fluß Befindliches.64 Dem entspricht der allgemeine Befund, daß in patristischen Bibelkommentaren und christlichen Enzyklopädien die überkommenen Bestände antiker Naturbeschreibung (Aristoteles, Plinius) kaum erweitert wurden. Diese »Beschreibungen folgen der Tradition, und nicht der eigenen Beobachtung«.65

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ten. Der Topos bildet mit seinen Beispielen und Bildern eine komplexe Einheit, derart, daß die Nennung eines Begriffs die anderen, zugehörigen Begriffe mit anklingen läßt. Darum lassen sich Regeln angeben, was ein bestimmtes Bild üblicherweise bedeutet, und wie es sich zu anderen Bildern verhält. Die allegorische Auslegung ähnelt hierin der Traumdeutung; nicht zufällig, denn sie hat das Weltbild mit ihr gemeinsam.« Vgl. FRIEDRICH OHLY, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter (Libelli 218) Darmstadt 1966. Confessiones X 35,55 (zitiert nach: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften, Bd. 7: Bekenntnisse, aus dem Lateinischen übersetzt von ALFRED HOFFMANN [Bibliothek der Kirchenväter 18] Kempten - München 1914, S. 257; vgl. auch V 3f.). Mit dieser Einschätzung tritt das Christentum aus der griechischen, platonisch-aristotelischen Schaulustigkeit heraus. Vgl. Platon, Politeia 475 e, wo die Philosophen als diejenigen begriffen werden, >die schaulustig sind nach der Wahrheit< ( ! ). Zur geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung der Diskussion um den Status der curiositas vgl. ansonsten HANS BLUMENBERG, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt/M. 1973; zu Augustinus vor allem S. 103ff. Reiche Belege zum Topos concupiscentia oculorum bietet GUDRUN SCHLEUSENER-EICHHOLZ, Das Auge im Mittelalter, 2 Bde. (Münstersche Mittelalter-Schriften 35) München 1985, hier Bd. 2, S. 803ff. Vgl. Augustinus, De doctrina Christiana II 16,24: Mangel an Sachkenntnis \rerum ignorantia] aber macht bildliche Ausdrücke dunkel, wenn wir die Natur und Beschaffenheit der Tiere, Steine, Pflanzen oder anderer Dinge nicht kennen, die so häufig gleichnisweise in der Schrift angeführt werden (zitiert nach der Übersetzung von MITTERER [wie Anm. 49] S. 71). Diese Sachkenntnis wird von Augustinus als etwas Fertiges angesehen. Denn wenn er sie konjektural auffassen würde, das heißt als vom Schicksal weiterer Forschung abhängig, geriete auch der Schriftsinn in Fluß. WOLFGANG HARMS, Der Eisvogel und die halkyonischen Tage. Zum Verhältnis von naturkundlicher Beschreibung und allegorischer Naturdeutung (Verbum et signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zur Semantik und Sinntradition. Festschrift Friedrich Ohly, Bd. l, hg. von HANS FROMM - WOLFGANG HARMS UWE RUBERG, München 1975, S. 477-515), S. 490f.

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Damit ging der Forschungscharakter der Mantik als Erblasserin der Allegorese vollst ndig verloren. So nimmt es nicht Wunder, bleibt aber doch ein denkw rdiges Schauspiel, wenn ausgerechnet zur Zeit der Hochbl te der allegorischen Naturauslegung die ersten Zuwendungen zu einer ungebundenen Naturforschung, der Ausbruch aus einer allegorisch stillgestellten Naturkunde mit der Rezeption der arabisch vermittelten Wissenschaft im 13. Jahrhundert gerade auch im R ckgriff auf magische und mantische Traditionen vollzogen wurde, so da die >History of Experimental Science< von Lynn Thorndike als >History of Magkx geschrieben werden konnte. Tats chlich bleiben allegorisierende, experimentierende und mantische Naturmentalit ten weiterhin und bis hoch in die Neuzeit neben- und durcheinander wirksam, so da lineare Abl sungs- und Verlaufstheorien unzul ssige Vereinfachungen darstellen, die dem Reichtum der wechselseitigen Durchdringungen und Befruchtungen ebensowenig gewachsen sind wie der strukturellen Ungleichzeitigkeit geschichtlicher Musterbildungen: Altes kann noch bevorstehen, wenn Neues schon pr sent ist. Wolfgang Harms hat diese Ungleichzeitigkeit exemplarisch an der Auslegungsgeschichte des Eisvogels gezeigt: »Als sich im sp ten Mittelalter die Bibelallegorese st rker auf einige bestimmte B cher der Bibel konzentrierte, worin sich vielleicht eine Wende in der Einsch tzung des Anwendungsgebiets allegorischer Sinnerschlie ung abzeichnet, stehen die vielf ltigen allegorischen Auslegungen des Eisvogels noch bevor.«66 Solche Ungleichzeitigkeiten dokumentieren offenbar so etwas wie eine Zeitverzweigung, eine Verzweigung des linearen Zeitpfeils in die Eigenzeiten der Traditionen, ohne die es eine genuin historische Dimension, die auch des Neuen f hig ist, gar nicht g be.

5. Mantik und Allegorese Ich m chte diese skizzenhaften Befunde jedoch nicht schlie en, ohne noch explizite Belege f r die These von der mantischen Erbschaft der Allegorese bei prominenten Theoretikern allegorischer Schriftauslegung anzugeben. Clemens von Alexandrien identifiziert den mystischen Schriftsinn ohne weiteres mit der εποπτεία genannten Schau der eleusinischen Mysterien und charakterisiert auch den ber die allegorische und moralische Ausdeutung hinausweisenden prophetischen Schriftsinn als weissagend: ΰεσπίζουσα ως προφητεία.67 So vermag der, 66

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Ebd. S. 491. So kann HARMS zeigen, da die »von der neueren Ornithologiegeschichte bevorzugte Hypothese, es habe von der patristischen Naturdeutung bis zur modernen Ornithologie eine best ndige Abnahme des Interesses an allegorischer Auslegung und entsprechend eine Zunahme des Interesses an empirisch verifizierbarer Faktenbeschreibung die Behandlung der V gel bestimmt«, in dieser Linearit t nicht zu halten ist. Clemens von Alexandrien, Stromata I 28 (PG 8, Sp. 924f.). Vgl. HARRY AUSTRYN WOLFSON, The Philosophy of the Church Fathers, Bd. 1, Cambridge/Mass. 31970, S. 24ff., bes. S. 55.

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der hofft und glaubt, mit dem Geiste nicht nur das Intellegible, sondern auch das Zuk nftige (τα νοητά και τα μέλλοντα) zu sehen.68 Ja im Medium der allegorischen Auslegung wird die Schrift nahezu ein Orakel f r alles: σχεδόν γαρ ή πασά ώδε πως θεσπίζεται Γραφή.69 Diese prophetische Potenz der Allegorese er ffnet den eschatologischen Horizont des Christentums, den Ausblick auf jene finale Gerichtsszene, in der Gut und B se f r immer geschieden werden. Wo so die Allegorese zum Instrument heilsgeschichtlicher Prophetic wird, sch pft sie aus den Energien einer pfingstlichen Mantik. Diese Energien gehen auf die Ausgie ung des heiligen Geistes zur ck und sind nach der Erkl rung des Petrus das vom Propheten Joel (2,28ff.) vorhergesagte endzeitliche Ereignis einer vision r verz ckten Gemeinde, die nicht trunken ist: Dann werden eure S hne und T chter weissagen [προφητεύσουσιν], Eure J nglinge Gesichte schauen [οράσεις δψονται] Und Eure Greise Traumgesichte haben [ένυπνίοις ένυπνιασ$ήσονται]. Selbst ber meine Knechte und M gde Werde ich ausgie en meinen Geist in jenen Tagen. Und sie werden weissagen [προφητεύσουσιν]. Wunderzeichen will ich erscheinen lassen Am Himmel oben [τέρατα] und auf Erden unten [σημεία].70 Gerade in Erf llung dieses Schriftwortes hat sich, so Petrus, Jesus durch Wunder (δυνάμεσι/virtutibus), Zeichen am Himmel (τέρασι/prodigiis) und auf Erden (σημείοις/signis) als Messias beglaubigt.71 Selbst wenn im gesamten Neuen Testament das mantische Vokabular selten, namentlich μάντις berhaupt nicht vorkommt (sondern stets nur προφήτης etc.), wenn zudem der eigentliche Prophet die Schrift ist und sonstige Prophetien eng an ein Gemeindegeschehen gebunden bleiben72 - salopp gesprochen: nur als ein gruppendynamisches Ph nomen zul ssig sind -, selbst wenn das in der Tat so ist, f llt es doch schwer, gerade in der Erkl rung des pfingstlichen Geschehens durch Petrus nicht durchaus Elemente einer nat rlichen, hier: ekstatischen Mantik wiederzuerkennen. F r die Gefahr jedenfalls, ber diese Schriftstelle und im Rahmen des vierten Schriftsinns der Allegorese in mantische Zukunftsdeutungen >heidnischer< Provenienz abzugleiten, hatten die christlichen V ter ein feines Gesp r. Kein Wunder also, da einige christliche Theoretiker diesem prophetischen Anspruch der Allegorese wegen der allzu deutlichen N he zur Weissagung ihre Zustimmung verweigern. So nennt Hieronymus die Allegorie gerade da unsicher und fehl am Platz, »wo sie prophetischen Blicken in die Zukunft gilt«.73 68 69

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Stromata V 3 (PG 9, Sp. 32). Stromata V 6 (PG 9, Sp. 56). In der lateinischen bersetzung (PG 9, Sp. 55):fere enim universa hoc modo oracula sua effert divina Scriptura. - Das legitimierende Prinzip der Ding-Allegorese formuliert Clemens (ebd.) dahingehend, da die Natur der Elemente die Offenbarung Gottes enth lt (ή των στοιχείων φύσις επέχει την άποκαλύψιν του θεοϋ; natura elementorum obtinet Dei relevationem). Act 2,17-19. Act 2,22. Vgl. hierzu ERICH FASCHER, ΠΡΟΦΗΤΗΣ. Eine sprach- und religionsgeschichtliche Untersuchung, Gie en 1927, S. 166ff„ bes. S. 172, 189. FREYTAG (wie Anm. 50) S. 19. FREYTAG verweist hier auf Hieronymus, Commentaria in

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Gleichwohl bleibt die mantische Erbschaft der Allegorese schließlich sogar noch bei Hugo von St. Viktor greifbar. Seit Homer74 und Hesiod75 ist die Standard-Charakteristik des Sehers die, daß er um das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige weiß. Diese Formel wird im Christentum ebenso für die Propheten und Apostel übernommen,76 aber auch, und eben von Hugo von St. Viktor, für die Leistung der Allegorese: Est autem allegoria, cum per id quod ex Httera significatum proponitur, aliud aliquid sive in praeterito sive in praesenti sive infuturofactum signißcatur.71 Das Christentum hatte, so scheint es, dem blinden Seher der Antike ein allegorisches Auge geliehen. Aber es war, wie die Neuzeit mit Hölderlin in seinem späten Gedicht >In lieblicher Bläue< von Oedipus sagen wird: [...] ein Auge zuviel vielleicht.™ Gleichwohl darf uns wiederum das Erblinden des allegorischen Auges, der Verlust der allegorischen Pfingstlichkeit, nicht irre machen daran, daß es eine sehr viel tiefer liegende, nämlich mantische Pfingstlichkeit gibt, die der privilegierten Spiritualität einer Offenbarungsreligion nicht bedarf, sondern in der condition humaine selbst verankert ist. Wenn die allegorische Pfingstlichkeit die babylonische Sprachverwirrung rückgängig machen wollte, so liegt die mantische Pfingstlichkeit aller sprachlichen Vielfalt bleibend voraus. Aus dieser universalen Tiefe unserer Deutungsnatur konnte, kann und wird der Dichter noch schöpfen, selbst wenn er das Buch der Bücher nicht kennt. »Denn allerdings ist es eine Sprache, eine geheimnisvolle und uralte Weltsprache, die uns in der Divination, wie in der Symbolik anhallt [.. .].«79

Diskussionsbericht Herr VILLWOCK brachte den Aspekt der ins Gespräch (Kleanthes, Poseidonios). Die antike Mantik suche den Kontakt zu Göttern und Dämonen, der nur beim Vorhandensein der ungefährlich sei. Dieser Bereich der Mantik sei Grund für die Kirchenväter, die wissenschaftliche Mantik zu verbieten. Herr HOGREBE hielt dem entgegen, daß die stoische Theorie, wie Cicero im zweiten Buch von >De divinatione< bezeuge, superstitiöse Praktiken der Mantik ablehne. Auf diesem Niveau stehe die Mantik der empirischen Naturwissen-

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Malachiam prophetam ad Minervam et Alexandrum I 10,335-337 (CC 76 A, S. 911): Regula Scripturarutn est: ubi manifestissima prophetia defutwis texitur, per incerta allegoriae non extenuare quae scripta sunt. IliasI70. Theogonica 38. Vgl. Thomas von Aquin, De veritate XII2. Hugo von St. Viktor, De scripturis et scriptoribus sacris II (PL 175, Sp. 12). Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, hg. von FRIEDRICH BEISSNER, Bd. 2, Stuttgart 1951,8.373. RUDOLF KLEINPAUL, Sprache ohne Worte, Leipzig 1888, S. 56.

Mantik und A llegorese

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schaft näher als die schriftgebundene christliche Naturallegorese. Die habe zunehmend die Funktion, als eine Art Hintergrundstheorie den Zusammenhang der Naturbeobachtungen herzustellen. Gleichzeitig verliere sie ihre Bedeutung im Einzelfall. Herr MÜLLER wies auf die Kontinuität mantischer Elemente (etwa Handlungswissen) durch literarische Überlieferung hin. Dies führte Herr HOGREBE anhand der Charakterisierung des Propheten bei Thomas von Aquin weiter aus. Zwar habe hier der Begriff der Zukunft eine andere Qualität, doch sei andererseits das Auftauchen mantischen Vokabulars bemerkenswert. Trotz der grundsätzlich distanzierten Haltung des Christentums gegenüber der Mantik habe eine Integrierung in bonam partem stattgefunden. Dabei sei der Forschungsaspekt der Mantik verlorengegangen, und zwar durch exklusive Tradierung gesicherten Wissens (Plinius, Isidor). Später habe die Beobachtungskultur der Mantik, wie die Forschungen von Lynn Thorndike80 zeigten, eine Wiederbelebung erfahren. Herr SPECKENBACH meinte, so verführerisch die These von der Ablösung der Mantik durch die Allegorese sei, so seien doch Differenzierungen notwendig. In der Traumauffassung knüpfe die christliche Wissenschaft in Bezug auf die gottgesandten Träume des Alten Testaments an die antike Traummantik an. Die Allegorese als Möglichkeit der Deutung von Träumen habe, entgegen den Auffassungen des Theologen Klauck und des Germanisten Kurz,81 andere Wurzeln und komme erst im 13. Jahrhundert vor. Herr HOGREBE stimmte dem zu. Es dürfe aber nicht vergessen werden, daß das Verfahren der Traumdeutung auch auf Widerstand gestoßen sei und sich außerdem auch anderer, nicht aus dem Bereich der Mantik stammender Instrumentarien bedient habe. Herr JAEGER machte auf vergleichbare neuere Forschungsansätze zur Geschichte der Naturwissenschaften aufmerksam,82 die die sympathetische Zauberei der Renaissance als Grundlage der modernen Naturwissenschaft erkennen ließen. Die These werde unterstützt durch die verstärkte Rezeption antiker Literatur im 12. Jahrhundert, wofür Herr JAEGER den >Mathematicus< des Bernardus Silvestris als Beispiel nannte. Die Frage sei, ob die stoische Vorstellung vom ius naturale, die eine Gesetzmäßigkeit des Kosmos impliziere, hier weiterführen könnte. Herr HOGREBE sagte dazu, sein Interesse habe der Entstehung der Allegorese als Dingbedeutungskunde und insofern der Patristik gegolten. Herr HARMS erläuterte Affinitäten zwischen Mantik und Allegorese in der Publizistik der frühen Neuzeit,83 insbesondere die Verschränkung allegorischer 80 81

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LYNN THORNDIKE, A History of Magic and Experimental Science, 8 Bde., Nachdruck der 1. Aufl. 1923-1958, New York - London 1975. HANS-JOSEF KLAUCK, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten (Neutestamentliche Abhandlungen N. F. 13) Münster 1978, S. 64-66, 91; GERHARD KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 1982, S. 44. Genannt wurde: FRANCES A. YATES, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964. Vgl. ABY M. WARBURG, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (DERS., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. von DIETER WUTTKE, Baden-Baden 1979, S. 199-304).

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Deutung mit allgemeineren Erklärungszusammenhängen (u. a. am Beispiel des Papstesel-Blatts vor dem Hintergrund von Wahrsagetraditionen). Herr RECKERMANN fragte, ob die Mantik nicht eine zu schmale Basis sei, um das Verhältnis von Antike und Christentum in bezug auf die Naturkonzeption zu beschreiben. Die Eingeweideschau beispielsweise sei nur unter bestimmten rituellen Bedingungen möglich. Auch seien andere Traditionen einer zeichenhaften Naturauffassung wirksam, etwa bei Heraklit und in den > < des Arat. Darauf sagte Herr HOGREBE, Mantik und außermantische Naturkunde und -deutung seien nicht genau voneinander zu trennen. Ebenso sei auch die Kritik an der Mantik sozusagen >BinnenkritikDichter des Kosmos< als Vorbild menschlicher Kunst Zum Verhältnis von kosmologischer und künstlerischer Rationalität aus der Perspektive antiker Philosophie Carmine divinas arles et consciafati sidera diverses hominum variantia casus, caelestis rationis opus, deducere mundo [...] (Manilius, Astronomica I l ff.)

In seinen Arbeiten zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung hat Friedrich Ohly - exemplarisch bereits in seiner Kieler Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1958 - den Begriff des Bedeutungsraumes in die Mediävistik eingeführt.1 Dieser Begriff charakterisiert nach mittelalterlichem Verständnis zunächst die Natur als einen von Gott selber begründeten Kontext von Bedeutungen, der die Sinnbedingungen aller, einschließlich der menschlichen Wirklichkeit enthält.2 Wie Friedrich Ohly gezeigt hat, findet der Bedeutungsraum der Natur eine Entsprechung im Sinngebäude des göttlichen Offenbarungswortes3 mit dem sensus literalis als seinem Fundament und den mit den Farben des moralischen Sinnes geschmückten Wänden der allegorischen Bedeutung, die ihrerseits vom anagogischen Schriftsinn überwölbt werden.4 Der Bedeutungsraum des göttlichen Wortes gewinnt damit eine Höhe und Weite, die alles Seiende in der schöpferischen Bewegung der Liebe umfaßt, zugleich aber auch eine Offenheit für den Grund aller Wirklichkeit, der an raumhafte Konkretion nicht gebunden ist. Interpretationen zur Übertragung des Bauprinzips der Schöpfung und der Offenbarung auf weltliche Dichtung des Mittelalters und der Neuzeit5 eröffnen dem 1

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FRIEDRICH OHLY, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter (DERS., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 1-31, zuerst in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89, 1958/1959, S. 1-23), bes. S. 15ff. Vgl. ebd. die Einleitung, S. IXff., bes. S. XXIIff. mit Blick auf die mittelalterliche Architekturallegorese. OHLY (wie Anm. l)S.9ff. Zur Ergänzung und zur Erläuterungsbedürftigkeit des Bedeutungsraumes der Natur durch das Buch der Offenbarung vgl. HANS BLUMENBERG, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1981, S. 47ff. Vgl.OHLY (wie Anm.l) S. 15; DERS., Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum Dom von Siena(DERS., Schriften [wie Anm.l] S. 171-273), S. 175 mit einem Hinweis auf die allegorische Auslegung des »Bauwerks« der Arche durch Hugo von St. Viktor. Zum Beispiel FRIEDRICH OHLY, Die Suche in den Dichtungen des Mittelalters (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 94, 1965, S. 171-184); DERS., Römisches und Biblisches in Goethes >Märchen< (Zeitschrift für deutsches Altertum

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Leser der Schriften Friedrich Ohlys einen Blick auf subtile Affinitäten zwischen göttlicher creatio beziehungsweise revelatio und menschlicher Kunst, die vor allem als Architektur,6 aber auch als Musik und Dichtung Bauregeln göttlicher Selbstdarstellung verpflichtet bleibt.7 Nur aufgrund dieser Affinitäten gilt menschliche Kunst nicht als Fortsetzung jener hybriden Bauleistung, von der die Genesis in der Geschichte vom babylonischen Turm berichtet, sondern als ein Erweis dafür, daß Gott, Welt und Mensch trotz ihrer unaufhebbaren Verschiedenheit durch ein ebenso unaufhebbares Band des Zusammenhangs miteinander verknüpft sind. Im vorliegenden Beitrag möchte ich das Motiv und den humanen Sinn des an sich überraschenden Gedankens verdeutlichen, Kunst als eine ambitionierte Form menschlicher Realitätserfahrung und Wirklichkeitsgestaltung sei zur Wahrnehmung, Respektierung und produktiven Aneignung von Bauregeln verpflichtet, die zwischen den gegensätzlichen Welten göttlicher, naturhafter und terrestrisch-menschlicher Wirklichkeit verbindliche >Übergänge< bewahren und sichern können.8 Zu diesem Zweck soll aus der Perspektive antiken Denkens gezeigt werden, daß die Voraussetzung für eine derartige Zumutung an die Kunst nicht auf Hybris beruht, sondern auf der Kraft zur unverdrängten Einsicht in die essentielle Armut menschlichen Lebens und seiner ratio sowie in die elementare Unsicherheit allen menschlichen Handelns und Herstellens. Die erwähnte Maximalerwartung an eine originär so ambivalente Könnensform wie die Kunst läßt sich nicht allein, ja nicht einmal primär im Blick auf theoretische Reflexionen verständlich machen, die eine ihnen vorgegebene Sache erhellen wollen, sondern nur als Versuch einer Antwort auf das Problem anthropologischer Selbstfundierung, das hier zunächst im Ausgang vom Platonischen >Timaios< und dann im Rekurs auf seine Wirkungsgeschichte in der Rhetorik Ciceros und in der neuplatonischen Theorie mythischer Dichtung zu charakterisieren ist. Im Platonischen >Timaios< wird im Medium erkenntnistheoretisch reflektier-

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und deutsche Literatur 91, 1961, S. 147-166); DERS., Goethes Ehrfurchten - ein >ordo caritatis< (Euphorien 55, 1961, S. 113-145 und 405-448);'DERS., >Cor amantis non angustumÜbergang< (transitus) beziehungsweise aktivisch >Übertragung< (translatio) als metaphysisch-naturphilosophischer und rhetorisch-poetischer Kategorie vgl. die weiter unten gegebenen Hinweise auf Ciceros Theorie des optimum genus dicendi in der Anm. 53. Auf die komplexen Voraussetzungen des angedeuteten Konzepts von Kunst werde ich an anderer Stelle ausführlicher zu sprechen kommen. Zu seiner Bedeutung für das Mittelalter vgl. die Hinweise von WERNER BEIERWALTES, Sprache und Sache. Reflexionen zu Eriugenas Einschätzung von Leistung und Funktion der Sprache (Zeitschrift für philosophische Forschung 38,1984, S. 523-543), bes. S. 537ff.

Der göttliche >Dichter des Kosmos
Timaios< als eine Antwort auf die Theologie der klassischen Tragödie interpretiert, in der die Ausgangssituation menschlichen Lebens durch die unerträgliche Enge nahezu vollständiger Raumlosigkeit gekennzeichnet wird. Dem einzig von der Sorge um das bloße Überleben gefesselten Blick des Menschen tritt die Natur als Inbegriff des Unvertrauten und des feindlich Abweisenden entgegen. Unfähig, die unendliche Fülle des Gesehenen und Gehörten als eine zeichenhaft konturierte, zu einem komplexen Verbund aus identifizierbaren Gestalten verdichtete, optisch überschaubare und rational im Handeln zu bewältigende >Wahrnehmungswelt< von sich zu distanzieren,10 >mischen< die Menschen, wie der gefesselte Prometheus in der gleichnamigen Tragödie des Aischylos bekundet, alles Wahrgenommene >aufs Geratewohl durcheinander^11 In dieser erbarmungswürdigen Lage sind sie zusätzlich von der Tyrannis des Zeus bedroht, der alles, was er nicht selber geschaffen hat und deshalb auch nicht dem Bereich eigener Herrschaft problemlos unterordnen kann, mit vollständiger Auslöschung bedroht.12 Nach den Reflexionen des Chores im ersten Standlied der >Antigone< des Sophokles sind die Menschen in ihrem Dasein am Rande der Welt13 allein auf sich selber zurückverwiesen und deshalb gezwungen, ihr notdürftiges Überleben und Überlegen durch mühsam erlernte Künste zu sichern, die mit physikalischer Notwendigkeit in den Raum einer von göttlichen Kräften behüteten Natur eingreifen.14 Der Raum, den menschliches Können damit gegenüber der Natur beansprucht, wird infolgedessen zu einer offenen Angriffsfläche für die Ordnungsinstanz des im Namen der olympischen Götter regierenden Zeus. Aus Furcht vor einer Wiederholung des im Kampf gegen Titanen und Giganten zu9

Vgl. Plato, Timaios 29 b-d und 48 c-d. Für eine analoge Reflexion über die Wahrheitsbedingungen einer Rede über das Wesen der Seele vgl. Plato, Phaidros 246 a. 10 Zu dieser elementaren Voraussetzung menschlicher Realitätsbewältigung aus der Perspektive philosophischer Anthropologie vgl. ARNOLD GEHLEN, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 131986, S. 39ff. Danach muß der Mensch »gegenüber einer biologisch-zweckmäßig nicht eingegrenzten Eindrucksüberflutung« durch eigene Tätigkeit eine »Wahrnehmungswelt« aufbauen, in der »die irrationale Überraschungsfülle der Eindrücke reduziert ist auf Reihen leicht übersehbarer Zentren (Dinge)«. Erst dann vermag der Mensch »stillgestellt« um sich zu »blicken« und die Welt als einen »Umkreis optischer, raffiniert hochsymbolischer Andeutungen von verfügbaren Sachverhalten und Umständen« zu übersehen. GEHLEN hat die Errichtung eines rational kontrollierbaren Wahrnehmungsraumes mit Hilfe der mythologischen Leitfigur des Prometheus verdeutlicht (ebd. S. 32). 1 ' Aischylos, Prometheus Desmotes 436fF., bes. 447ff. 12 Ebd. 228-236. 13 Vgl. dazu noch ebd. 253. 14 Sophokles, Antigone 331-375.

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rückgewiesenen Versuchs, ihm die gerade erst erworbenen Herrschaftsrechte streitig zu machen, tendiert Zeus dazu, auch den Sonderraum menschlichen Könnens zu zerstören. Er glaubt, sich den begehrten, aber nicht ungefährdeten Rang exklusiver Macht nur dadurch sichern zu können, daß er den gesamten Bereich zwischen seinem transkosmischen Lebensort und der terrestrischen Welt für menschliches Denken und Handeln untangierbar hält.15 In der Theologie der klassischen Tragödie wird der Konflikt zwischen Göttern und Menschen durch ein risikobehaftetes Gegenspiel zwischen Selbstbeschränkungen göttlicher Machtansprüche und sittlichen Selbstregulierungen menschlichen Könnens als überwindbar dargestellt. Im Blick auf die paradigmatisch in den >Eumeniden< des Aischylos entfaltete Deutung der Polis Athen als eines gemeinsamen Wohnortes chthonischer Mächte, olympischer Götter und einträchtig zusammenlebender Bürger16 entwirft die Platonische Kosmologie das Konzept eines auf die Idee des Guten hin transparenten, göttliche und menschliche Welt miteinander verbindenden Bedeutungsraumes.17 Das in der Tragödie nur mit Mühe gebändigte Konfliktpotential zwischen Göttern und Menschen wird bei Platon durch die Etablierung eines Zwischenraumes reguliert, der das direkte Aufeinandertreffen der beiden so unterschiedlichen Gattungen vernunftbegabten Lebens verläßlich ausschließen soll. Dies kann nur gelingen, wenn die Götter unter ausdrücklicher Anerkennung ihrer transmundanen Existenz als Gestaltungsprinzipien alles Seienden so in den Kosmos integriert werden, daß dieser in allen seinen Teilen als Ort göttlicher Selbstdar15

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Vgl. dazu die Charakterisierung des von der Tragödie explizierten Wirklichkeitsverständnisses bei HANS BLUMENBERG, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt/M. 1975, S. 16: »Die Tragödie ist Ausdruck dessen, daß die Götter für den Kosmos nicht verantwortlich sind, ihn nicht erdacht und nicht erschaffen haben, gleichsam auf dem Sprunge, ihn in die Transzendenz oder in die Intermundien zu verlassen, während die Menschen dem Kosmos nur am unteren Rande, in der verworrensten Zone seiner Elemente, weniger angehören als gegenüberstehen.« Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Hinweis auf die Promethie des Aischylos, S. 20. Aischylos, Eumeniden 1014ff. Vgl. dazu CHRISTIAN MEIER, Aischylos' Eumeniden und das Aufkommen des Politischen (DERS., Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 21983, S. 144-246), S. 222ff.; DERS., Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988. Auffällig sind sprachliche Anklänge des Platonischen >Timaios< an die Tragödie insbesondere des Aischylos. Ich erwähne hier nur die Bedeutung der für die Überwindung der durch die gewaltlose Macht der Vernunft bei Plato, Timaios 48 a und 56 c - Ausführungen, die mit Aischylos, Eumeniden 885ff, 970ff., 988ff. verglichen werden sollten. Athenes Hinweis auf ihren singulären Zugang zu den Blitzen des Zeus (ebd. 826ff.) hat seine Entsprechung in dem Hinweis des Demiurgen auf seine >GewaltStimmabgabe< bezeichnet (Timaios 52 d 2), die auch in den >Eumeniden< des Aischylos im Konflikt zwischen Orest und den Erynnien entscheiden soll. Das Prinzip des Ausgleichs und des Maßes ist in der Platonischen Kosmologie ebenso allgegenwärtig wie in der Tragödie. Zu fragen wäre, inwieweit platonische Begriffe wie (vgl. Eumeniden 749f), (ebd. 850), vielleicht sogar (ebd. 879) auch an Vorstellungen der Tragödie anknüpfen.

Der g ttliche >Dichter des Kosmos
F rsorge< f r das Weltall19 bew hrt sich gerade auch dann, wenn die G tter - wie dies der Mythos des Dialogs >Phaidros< als notwendig suggeriert - den innerkosmischen Raum regelm ig verlassen, um am mberhimmlischen Ort< ihrer eigentlichen Heimat zu gemeinsamen Festen zusammenzukommen.20 Die in der Differenz bewahrte hnlichkeit zwischen intelligibler und sinnenf lliger Welt gestaltet den f r die Trag die weitgehend bedeutungsleeren Raum des Kosmos um zu einem dicht verkn pften Netz von Verkehrswegen, die den st ndigen Austausch zwischen transmundaner und im Weltall sichtbarer Wirklichkeit gew hrleisten. Auch die Menschen werden in das Raum- und Bedeutungsgebilde des Kosmos einbezogen. Sie erhalten vom Demiurgen als einem g ttlich legitimierten Prometheus die F higkeit zur Interpretation jenes Bedeutungskontextes, der den vern nftigen Bewohnern der Randzone des Weltalls im >Tanz< der Planeten und in der rhythmisch gegliederten Bewegung der Gestirne leibhaftig vor Augen steht.21 Die prim r jeder gesicherten Orientierung entbehrenden >Umschw nge< ihres Denkens finden im bewegten, raumhaft gestalteten und alles Seiende umfassenden Zeichenverbund des Weltalls eine Norm f r das eigene Verhalten. In der selbst ndigen Aneignung der im Kosmos verwirklichten αρμονία als lebendig bewegter Einheit aus Gegens tzen22 entsteht in der menschlichen Seele, die im singul ren Bezug auf ihr eigenes K nnen »zur Ma losigkeit [...] und zur Anmutlosigkeit« tendiert, eine κατακόσμησις und eine συμφωνία, durch die sie der aktiven Teilhabe am g ttlich ausgepr gten Bedeutungsraum des Weltalls w rdig wird.23 Die nur allzuleicht in die unkontrollierte Selbsterhebungsbewegung der ΰβρις entartende δεινότης2* eines ausschlie lich auf sich selber fixierten K nnens, das nach Ma gabe der klassischen Trag die ohne Kontrolle durch ein bertechnisches Wissen dem irregul ren Wechsel zwischen Gut und B se ausgesetzt bleibt,25 wird in der platonischen Kosmologie durch Regeln geb ndigt, die im allumfassenden Bedeutungsraum der Welt - gem dem ebenfalls schon kosmologisch fundierten Rationalit tsaxiom Heraklits - weder mit der Klarheit offener Rede dargelegt noch hinter undurchdringlichen R tselgebilden ver18 19 20 21 22

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Plato, Timaios 34 a-b und 37 c. Ebd. 30b-c. Plato, Phaidros 246 e-274 e; vgl. Dens., Criton 121 c. Plato, Timaios 40 c. Zur Herkunft des Begriffs αρμονία vgl. Heraklit (HERMANN DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von WALTHER KRANZ, Bd. l, Berlin 61951 [mehrmals nachgedruckt]), Fragm. B 51, S. 162. Vgl. damit zum Beispiel Plato, Timaios 31 c. Plato, Timaios 47 a-e. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der χάρις bei Aischylos, Eumeniden 984f. Zu diesem Problem vgl. BRUNO SNELL, Dichtung und Gesellschaft. Studien zum Einflu der Dichter auf das soziale Denken und Verhalten im alten Griechenland, Hamburg 1965, S. 145f., mit einem Hinweis auf ERIC ROBERTSON DODDS, The Greek and the Irrational, University of California Press 1951, S. 28-63 (vgl. die deutsche bersetzung unter dem Titel: Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970, bes. S. 19f.). Vgl. dazu Sophokles, Antigone 332f. und 365ff.

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borgen, sondern in Form eines bewegten Verbundes aus interpretationsfähigen >Zeichen< angedeutet sind.26 In der Kosmologie Platons werden die beiden einzigen Gattungen vernünftigen Lebens, die zum einen durch ein Maximum an räumlicher Distanz voneinander entfernt sind und die zum anderen - im Fall der Götter aus Übermacht, im Fall der Menschen aus Schwäche - zu einem Leben in sich gegenseitig ausschließenden Sonderwelten unräumlicher Natur neigen, in ein gemeinsam bewohnbares >Haus< integriert.27 Politisch, aber aus der Perspektive der klassischen Tragödie durchaus angemessen gesprochen, stellt dieses >Haus< einen Zwischenraum dar, der durch seine Bewegung die Realität der Zeit begründet. Ihre im Modus untangierbarer Ordnung sich entfaltende Bewegung schafft damit erst den Raum, der eine vernünftige Verständigung und rationale Konfliktlösung zwischen göttlicher und menschlicher Welt möglich macht. Nur unter dieser Voraussetzung verstärkt der Blick des Menschen auf die ihn umgebende Welt nicht mehr die Furcht, er sei zu einem Leben am gefährdeten Rand eines irregulär disponierten oder seiner eigenen Vernunft unzugänglichen >Überraschungsfeldes< gezwungen.28 Vielmehr erschließt sein weltbezogener Blick nunmehr einen kontinuierlich durchgestalteten Ordnungsraum, den auch sein terrestrisch plazierter Beobachter angstfrei, wenn auch nur unter Beachtung verbindlicher Verhaltensregeln, betreten darf. In der stoischen Weiterbildung platonischer Kosmologie wird menschliches Leben insgesamt als Kunst der Anreicherung und der regulären Erweiterung eines ursprünglich dimensionslosen punctum in Richtung auf einen Raum verstanden, der in formaler Analogie zum Weltall >zwar nach außen strebt, aber dennoch von überall her in sich zurückkehrt^29 Das für jedes Handeln als Bewältigung eines an sich selber wahrgenommenen Defizits konstitutive Streben nach außen gilt nicht als eine irrationale Bewegung, die auf sich selber zurückgewiesen werden müßte.30 Sie gewinnt vielmehr aus der Fähigkeit zur selbständigen, gleichzeitig reflexiv und ethisch geprägten Rückkehr in ihren Ausgangspunkt die Energie zum Aufbau und zur Bewahrung 26 27

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Heraklit (wie Anm. 22) Frgm. B 93, S. 172. Zur Metapher des Hauses im Kontext antiker Kosmologie vgl. exemplarisch Cicero, De natura deorum II 154: Est enim mundus quasi communis deorum atque hominum domus aut urbs utrorumque (M. Tvlli Ciceronis scripta qvae manservnt omnia, Bd. 45: De natvra deorum, hg. von W. Ax, Stuttgart 21961). Vgl. dazu GEHLEN (wie Anm. 10) S. 36,131. Seneca, De vita beata 8,4: nam mundus quoque cuncta complectens rectorque universi deus in exteriora quidem tendit, sed tarnen introrsum undique in se redit. Idem nostra mens facial (L. Annaei Senecae De vita beata, hg. von PIERRE GRIMAL, Paris 1969). Zum punctum des menschlichen Lebensraumes und zu seiner Erweiterung zu einem dem Kosmos vergleichbaren, alles umfassenden Raum vgl. Seneca, Naturales quaestiones I 8 und I 11-13. Vgl. dazu auch ANDRE-JEAN FESTUGIERE, La revelation d'Hermes Trismegiste, Bd. II: Le dieu cosmique, Paris 1949, S. 447ff. Zur Irrationalität der geraden Bewegung ins Unendliche unter den Voraussetzungen antiker Kosmologie vgl. zum Beispiel Aristoteles, Physica Z, 241 b 9-20; Ders., Metaphysica B, 999 b 8fT.

Der göttliche >Dichter des Kosmos
berührenLeben mit der SchuldTimaios< kosmologische Kategorien, die von der Stoa aufgenommen werden. Lukrez, De rerum natura V 199. Ebd. VI 30f. Zur Bedeutung der Naturphilosophie des Lukrez im Kontext des antiken Wirklichkeitsverständnisses vgl. ALFONS RECKERMANN, Die >Schuld< der Form und Möglichkeiten ihrer Kompensation. Überlegungen zur Kritik der Rationalität bei Horkheimer und Adorno (Zeitschrift für philosophische Forschung 42, 1988, S. 417432), bes. S. 424f. Ich spiele mit dieser Formulierung an auf den Untertitel von FRIEDRICH OHLY, Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Beiträge Geisteswissenschaften 207) Opladen 1976. Vgl. dazu die Hinweise von ERIC ROBERTSON DODDS, Pagan and Christian in an Age of Anxiety, Cambridge 1965, zitiert nach der deutschen Übersetzung unter dem Titel: Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst. Aspekte religiöser Erfahrung von Mark Aurel bis Konstantin, Frankfurt/M. 1985, S. 24f.

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Bauregeln göttlicher auf menschliche Kunst. Sie sollen nunmehr exemplarisch an Ciceros Theorie rhetorischer Darstellung und an der neuplatonischen Theorie des Mythos verdeutlich werden. Im dritten Buch von Ciceros Schrift >De oratore< werden sprachliche Darstellungsverfahren beschrieben, die den normalerweise auf den Erdboden fixierten,37 ausschließlich auf die Wahrnehmung vegetativer und animalischer Bewegungsimpulse ausgerichteten Blick des Menschen38 zur Betrachtung der unio naturae erheben sollen.39 Dies geschieht in einer Rede, die nicht die begrenzten Streitfragen rechtlicher oder politischer Natur thematisiert, sondern Gegenstände, die, wie das Wesen der iustitia, die Grundlagen der Ethik und Politik oder die ratio naturae,40 dem physiologischen Sehvermögen des Menschen ebenso entzogen sind wie seinem auf Ziele des technischen oder pragmatischen Handelns bezogenen Blick. Dennoch soll dem Hörer die honestas philosophisch qualifizierter Inhalte so überzeugend vor die >Augen des GeistesFarbe< verleihen, durch die sie die Qualität eines lebendig durchpulsten, gleichsam erotisch reizvollen Körpers gewinnt.49 Zusätzlich wird das corpus orationis von solchen verba singula getragen, die der Hörer als die bekrönen-

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Vgl. dazu Cicero, De oratore III125 und II310. Zur Unterscheidung zwischen quaestio finita und quaestio infmita vgl. Cicero, De oratore III 109ff. Vgl. Cicero, De oratore (wie Anm. 37) III 171f.: Conlocationis [verborum] est componere et struere verba sie, ut neve asper eorum concursus neve hiulcus sit, sed quodam modo coagmentatus et levis [...]. Sed est [...] haec conlocatio conservanda verborum, [...] quae iunctam orationem efficit, quae cohaerentem, quae levem, quae aequabiliter fluentem. Zur kosmologischen Herkunft dieser Kohärenzforderung vgl. Cicero, De natura deorum II 47 und 115f. Sie ist Plato, Timaios 33 b, entnommen. Cicero hat sie selber ins Lateinische übertragen: Cicero, Timaeus 6,17f. Vgl. Cicero, De oratore (wie Anm. 37) III 173ff. Zur rhythmisch-numerischen Strukturierung der membra orationis zu einem organischen Körper vgl. ebd. III 185f. und 190: nefluat oratio, ne vagetur, ne insistat interius, ne excurrat longius, ut membris distinguatur, ut conversiones habeat absolutas. Man vergleiche damit Cicero, Timaeus, bes. 3,9; 6,20; 7,21-8,27. Zu weiteren Regeln für die Gestaltung der membra der Rede vgl. De oratore II 359; III96. Vgl. Cicero, De oratore III 54ff.; 76,120ff. und öfter. Vgl. dazu KARL BARWICK, Das rednerische Bildungsideal Ciceros (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, philosophisch-historische Klasse 54,3) Berlin 1963. Vgl. dazu exemplarisch Cicero, De optimo genere oratorum l, 1-4. Auch in >De oratore< ist der Bezug auf Könnensformen des Musikers, Dichters, Malers und Architekten kontinuierlich präsent. Cicero, De oratore (wie Anm. 37) III 199: His tribus figuris [dicendi] insidere quidam venustatis non fuco inlitus, sed sanguine diffusus debet color. Der Gesamt-Color der Rede wird damit zu einem Äquivalent des den gesamten mundus durchdringenden und lebendig machenden calor im Sinne von Cicero, De natura deorum II 25 und 27f. beziehungsweise des fervor (II 30) und ardor mundi(ll 32).

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den lumina des Gedankens und des Ausdrucks empfindet.50 Sie bestehen im optimum genus dicendi, das sich Gegenständen zuwendet, die aufgrund ihrer ungewöhnlichen dignitas dem Auge als dem schärfsten aller Sinne entzogen bleiben,51 aus metaphorischen Redeformen, die ein Ähnlichkeitsverhältnis zwischen intelligibler und optisch wahrnehmbarer Wirklichkeit begründen. Als Formen der Veranschaulichung einer res, die sich kaum im Denken erfassen läßt,52 bilden die Metaphern formale Abbreviaturen der consensio naturae, die als Einheit aus intelligibler und sinnenfälliger Welt den bevorzugten Inhalt der oratio perfecta ausmacht.53 Bei Beachtung dieser Regeln gewinnt die Rede eine vis, die nicht auf artifizieller Willkür, sondern auf innerer, gleichsam natürlicher Notwendigkeit beruht, und zugleich eine Schönheit, die so groß ist, >daß sich ein wirkungsvollerer Anblick nicht einmal denken läßtSchmuck< der translunaren Natur vgl. Plato, Timaios 40 a. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bestimmung der Aufgabe des orator perfectus bei Cicero, Orator 34,119, und die Hinweise auf die exzellente Qualität des mundi spec-

Der göttliche >Dichter des Kostnos
Timaios< eine natura altera, die selbst aus der Perspektive der göttlich begründeten rerum natura Anerkennung verdient.58 Auch von seiner Rede gilt die von der Stoa im Blick auf den Kosmos formulierte Regel, daß die menschliche Seele >von der Betrachtung dieser Erscheinungen [...] zur Erkenntnis der Götter gelangtdie Frömmigkeit entsteht, mit der die Gerechtigkeit und die anderen Tugenden verbunden sind und aus denen das glückselige, dem der Götter vollkommen gleiche Leben erwächstdie Menschen zunächst einmal vom Erdboden aufgerichtet und ihnen eine aufrechte Haltung gegeben hatUmkehrung ins Gegenteil oder die translatio verbi werden bei Proklos durch eine Reflexion auf die Bauleistung des im Gott Apollon verbildlichten Demiurgen theologisch gerechtfertigt. Da dieser als der göttliche zugleich als Mythendichter par excellence angesprochen wird,62 lassen sich die Prinzipien göttlicher >Dichtung< auf diejenigen des von Homer in göttlicher Inspiration geschaffenen Mythos zwanglos übertragen. Für Proklos beruht die alles überragende Dignität des göttlichen Grundes aller Wirklichkeit als des Inbegriffs des Vollkommenen auf seiner absoluten Einheit, so daß es sich durch selige Ruhe in sich selber sowie durch Gestalt-, Form-, Zeit-, Ort- und Bewegungslosigkeit von allem Seienden im Modus der Vielheit durch eine radikale Differenz unterscheidet.63 Das Bestehen der Welt setzt deshalb die Umkehrung göttlich-absoluter Einheit in ihr extremes Gegenteil vor-

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taculum bei Cicero, De natura deorum II 18 und 155. Diese Stellen sind wiederum mit Cicero, De oratore III96 und 178f. zu vergleichen. Cicero, De oratore III20. Cicero, De natura deorum II152. Ebd. II153. Ebd. II140. Ebd. II154. Vgl. Procli diadochi in Platonis rem pvblicam commentarii, hg. von WILHELM KROLL, Bd. l, Leipzig 1899, S. 68, Z. 15f. Vgl. WERNER BEIERWALTES, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt/M.

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Alfons Reckermann

aus, also den aus der Perspektive menschlicher Vernunft nur als paradox zu bezeichnenden Vorgang, in dem der eine Grund alles Seienden sich ohne Selbstverlust in einem Zusammenhang aus raumhaften, in der Zeit bewegten und in gegenseitiger Wechselwirkung miteinander verflochtenen Gestalten zur Darstellung bringt.64 Ohne die Fähigkeit göttlicher Einheit zur verlustfreien Selbsttransformation wäre die Welt als Realität der Vielheit eine irreparable Abweichung vom Zustand vollkommener Wirklichkeit und damit auch der denkbar schlechteste Orientierungspunkt menschlichen Denkens und Handelns. Am weltschöpferischen Vorgang der Umwandlung göttlicher Einheit in den Grund der zum alles umfassenden Raum sich entfaltenden Welt haben insbesondere jene Mythen der Homerischen Dichtung einen authentischen Anteil, die nach poetologischen Kriterien der Gattung des Komischen zuzuordnen sind. In ihnen werden Redeweisen und Handlungsformen von Personen, die im Sinne der Aristotelischen Poetik schlechter sind als wiräußersten Enden der Welt< sein kreatives Können bekundet.66 Der komische Mythos eröffnet der Seele seines Interpreten den Zugang zu einem Bedeutungsraum, der in seiner Größe und in seinem Bauprinzip nur mit dem Weltall selber zu vergleichen ist. Er entsteht über dem Fundament des Wortsinnes, wenn die mythische narratio als eine bis hin zur peroratio sich steigernde argumentatio aufgefaßt wird, in der sich moralische, naturphilosophische und theologisch-metaphysische Bedeutungsebenen gegenseitig ergänzen.67 Der Bedeutungsraum des Mythos markiert damit die Sinnbedingungen mensch-

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65 66 67

1965, bes. S. 343ff.; DERS., Identität in der Differenz. Zur Funktion von Differenz im neuplatonischen Denken (DERS., Identität und Differenz, Frankfurt/M. 1980, S. 24-56),bes.S.36ff. Proclus (wie Anm. 62) I 77,14ff.; dort gleichzeitig in Bezug auf die Natur und auf den Mythos formuliert, der in seinem Darstellungsprinzip demjenigen folgt, das der göttliche Dichter der Welt bereits im Kosmos verwirklicht hat. Vgl. dazu auch ebd. 68,16ff. Parallele: lamblichus, Demysteriis VII1. Vgl. Aristoteles, De arte poetica 1448 a Iff. Proclus (wie Anm. 62) I 82-84. Die Unterscheidung zwischen narratio, argumentatio und peroratio ist rhetorischer Herkunft. Vgl. dazu HEINRICH LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2 Bde., München 1960, §§ 255ff., bes. §§ 289, 348f., 43Iff. Locus classicus für eine Systematisierung der verschiedenen Bedeutungsangebote der mythischen Dichtung ist Sallust, De deis et mundo IV l -6. Seine Ausführungen müssen mit der Theorie des Proklos über die verschiedenen Gattungen der Dichtung und der Theologie zusammengebracht werden. Vgl. dazu exemplarisch ANNE D.R. SHEPPARD, Studies on the 5th and 6th Essays of Proclus' Commentary on the Republic, Göttingen 1980, S. 129ff.

Der g ttliche >Dichter des Kosmos
ber hren< vermag.68 Weil der Mythos in der Vielfalt seiner Bedeutungsangebote eine derartige >Einheit in den Gegens tzen< herstellen kann, hat er Anteil an der Denkbewegung negativer Dialektik, die das G ttliche nicht auf das rational kontrollierbare >Ma < eindeutigkeitsorientierter Aussages tze reduziert, sondern es in jene Ferne distanziert, die menschlichem Leben den notwendigen Raum zu seiner vollst ndigen Entfaltung und zu einem verbindlichen Bezug auf das Maximum g ttlicher Vollkommenheit offen h lt. Das Mittelalter hat den Begriff des im Kunstwerk zu erstellenden Bedeutungsraumes nicht nur eindrucksvoll erweitert, sondern ihm auch eine gegenber der Antike neue, nicht allein auf die sphairische Gestalt des Kosmos, sondern auch auf dreidimensionale Bauten vom Rang der alttestamentarischen Arche oder des Salomonischen Tempels beziehbare Form verliehen. Kunst wird damit eine w rdige Gef hrtin der Dame philosophia des Boethius, die mit ihrer statura discre onis ambiguae zwischen der communis hominum mensura und einer Gr e changiert, die an die u erste Spitze des Himmels im Sinne des Platonischen >PhaidrosUmwelt< auseinanderzusetzen hat. Dabei wäre aus dem Bereich antiker Philosophie insbesondere an Cicero, aus dem Bereich neuzeitlicher Philosophie insbesondere an Kant anzuknüpfen. Auf diese Weise ließe sich die These plausibel machen, daß Rationalität als universales Fundament menschlicher Kultur nicht einem singulären Regelsystem verpflichtet ist, sondern zwei heterogenen Maximen folgt, die ihr sowohl den Umgang mit endlichen als auch den Bezug auf unendliche Größen gestattet, die lediglich auf der Basis freier, letztlich ethisch qualifizierter Anerkennung im Raum menschlicher Kultur Bedeutung gewinnen können. Das Regelsystem für den Umgang mit unendlichen Größen läßt sich vorzugsweise im Blick auf die Tradition einer umfassenden Besinnung auf Baugesetze künstlerisch gestalteter Form verständlich machen. Von ihr wird, wie Friedrich Ohly dies im Blick auf die mittelalterliche Kathedrale paradigmatisch formuliert hat, zurecht erwartet, daß sie einer »Umwelt von Amorphem« nicht den geschlossenen Raum endlicher Zwecke, sondern einen »Kristall« entgegensetzt,71 in dem das »schier Unwahrscheinliche« verwirklicht ist, nämlich die öffentlich nachvollziehbare Realisierung »einer Dimension von Wirklichkeit, in der sich Irdisches und Himmlisches durchdringen«.72 Auch in der Neuzeit will Kunst »das vielseitig Unbegreifliche«, das sich »der eindeutigen Definition durch Unerschöpflichkeit« >entzieht< und das daher mannigfacher und gegensätzlicher Auslegung zugänglich ist, »annähernd aussprechbar« machen.73 Sie liefert damit den im Sinne Friedrich Schillers siegenden Beweis dafür, daß die Beschränkung die Unendlichkeit keineswegs ausschließe.14 In anthropologischer Perspektive bedeutet Kunst deshalb eine notwendig indirekte, konjekturale beziehungsweise in Form von Reflexionsurteilen (Kant) vollziehbare Bezugnahme der menschlichen Urteilskraft auf die unendliche Größe vieldeutiger Realität. Sie ist 71 72 73 74

OHLY, Die Kathedrale (wie Anm. 4) S. 269. FRIEDRICH OHLY, Die Geburt der Perle aus dem Blitz (DERS., Schriften [wie Anm. 1] S. 293-311), S. 311. OHLY, Tau und Perle (wie Anm. 5) S. 278f. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (Ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. von GERHARD FRICKE - HERBERT G. GÖPFERT, München 41967), S. 654. Zu dem hier angedeuteten Problem vgl. RECKERMANN (wie Anm. 34).

Der göttliche >Dichter des Kosmos
De inventione< oder >Topica< gerechtfertigt. Im dritten Buch von >De oratore< werde ein solches Konzept dadurch vertreten, daß die Rhetorik den Universalitätsanspruch von der Philosophie gleichsam zurückhole. Herr HOGREBE meldete, insbesondere im Hinblick auf die Ausweglosigkeit der Tragödie, Bedenken gegen ein Trostprogramm als Kontrast zu Dodds' Scham- und Schuldkultur an. Herr RECKERMANN erläuterte dazu, das Trostprogramm sei, wie der Kunstraum des menschlichen Lebens, ein Arbeitsprogramm. Bereits die Anstrengung der Tragödie, vor allem des Aischylos, menschlichem Leben einen >künstlichenTimaios < könne die Stilfigur des der gewaltlosen Macht der 9 nur bedingt zugeordnet werden. Durch die Metapher der Fesselung (das Erhabene solle fesseln) werde der Aspekt der Gewalt stark betont. Bei Plotin und Eriugena werde die Denkfigur des Erhabenen nicht mehr wie bei PseudoLonginos kosmologisch, sondern theologisch begründet. Die Begriffe symbolon und imago, die bei Eriugena das Verhältnis von ähnlichen und unähnlichen Bildern ausdrückten, seien zu präzisieren. Dabei warnte Herr RECKERMANN vor der Übertragung antiker Termini auf neuzeitliche Redeweise. Ebensowenig sollten Probleme neuzeitlicher Reflexionskritik auf die Antike zurückprojiziert wer53

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Ebd. VI 5 (S. 161): Amplius anima humana non est creata propter corpus, neque propter operationes quas in corpore, et per corpus operatur, vel ad minus non in primis, et principaliter, cum sint incomparabiliterperfections atque nobiliores aliae. Wilhelm von Auvergne, De legibus 25 (Opera omnia [wie Anm. 45] Bd. l, S. 80 F). Wilhelm von Auvergne, De virtutibus 9 (ebd. S. 120 H).

Das Erhabene als Erkenntnisprinzip bei Eriugena

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den. hnliche Bedenken machte er gegen die bertragung von Denkformen Eriugenas auf Rilke geltend. Herr JAEGER sprach das ανακε^αΑαί'ωσίς-Problern an und hob den Erkenntniswert bildhafter Umschreibungen oder Verdeutlichungen f r die Rekonstruktion des Verh ltnisses Autor - Stoff hervor. Aus dem Vergleich der Metapher vom Dichter als Griffel mit Goethes Satz: war nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne k nnt es nie erblicken, w rden grunds tzliche Unterschiede zwischen mittelalterlichen und neuzeitlichen Auffassungen erkennbar. Herr HOGREBE bezeichnete den Vortrag als »Gang gelehrter Schritte um eine argumentativ bet ubte Mitte«, dereine fruchtbare Diskussion erschwere. Grunds tzlich sei der Rekurs auf Rhetorik nur dann gewinnbringend, wenn er tats chlich virulent werde. Vom Standpunkt des Literaturwissenschaftlers fragte Herr HUBER, welche methodischen Perspektiven die Analyse philosophischer Texte f r die Interpretation von dichterischen Werken erlaube oder welche Vorteile sie bringe. Das im Vortrag zitierte Rilke-Gedicht bleibe diesbez glich in der Schwebe. Wie lasse sich ein Bezug Rilkes zu Eriugena konkretisieren? Herr VILLWOCK antwortete, bei Rilke sei ein Wissen vorhanden, das sich selbst nicht subjektiv reflektiere und sich daher unbekannt sei, das aber als intellectus agens wirksam werde.

OTTO GERHARD OEXLE Potens und Pauper im Frühmittelalter

l Welche Vorstellungen hatten die Menschen einer bestimmten Zeit von der Struktur der Gesellschaft, in der sie lebten? In welchen Bildern stellte sich ihnen die gesellschaftliche Ordnung jeweils dar? Diese Fragen zielen auf die Mitte jener Prozesse, in denen durch das Handeln der Menschen das entsteht, was man in der Moderne >Gesellschaft< nennt. Denn die Menschen handeln nicht in unmittelbarer Entsprechung zu ökonomischen oder sonstigen >RealitätenStandesStand< enthält stets die Vorstellung der >OrdnungStand< als Bezeichnung gesellschaftlicher Wirklichkeit meint immer eine statische, eine in sich gestufte Ordnung, die ihrerseits als Teil der gesamten Ordnung des Kosmos begriffen wird. Ihr Kennzeichen ist die von Gott gesetzte Harmonie in der Ungleichheit, das Zusammenwirken des Ungleichen zum Wohl des Ganzen in der von Gott geschaffenen Harmonie der Welt, die allem seinen Rang zuweist und dadurch definiert: Ordo - als geschaffener Kosmos (ordo creaturarum) wie als soziale >Ordnung< der Stände - ist parium dispariumque rerum sua cuique loca tribuens dispositio, wie die berühmte Definition Augustins lautet.1 Nihil pulchrius ordine, so lautet demnach das Leitwort der Sozialphilosophie, Soziallehre und Staatslehre noch der frühen Neuzeit.2 »Nichts ist schöner, nichts ist fruchtbarer als die Ordnung. Die Ordnung verschafft auf dem riesigen Theater dieser Welt allen Dingen Wert und Rang. Die Ordnung ist in der Kirche Gottes der Nerv des Corpus mysticum. Die Ordnung ist das stärkste Band im Staats- und Familienleben«, - so begann 1630 der Philosoph und reformierte Theologe Johann Heinrich Alsted seine Encyclopaedia septem tomis distinctaTraite des or1

Augustinus, De civitate Dei XIX 13 (CSEL 40/2, S. 395); vgl. De libero arbitrio III 9,25 (PL 32, Sp. 1283). 2 Dazu PAUL MÜNCH, Grundwerte der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft? Aufriß einer vernachlässigten Thematik (WINFRIED SCHULZE [Hg.], Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität [Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 12] München 1988, S. 53-72). 3 Zitiert nach MÜNCH (wie Anm. 2) S. 66.

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Otto Gerhard Oexle

dresc Ilfaut qu'il y ait de l'Ordre en lautes choses, et pour la bienseance et pour la direction d'icelles. Le monde mesme est ainsi appelle en Latin, a cause de l'ornement et la grace prouenant de son admirable disposition: et en Grec, , cause de son bei Ordre et agencement [.. .],4 und Loyseau verweist dazu auf Plato und Cicero. Ebenso erinnerte Christoff Weigel in seinem reich bebilderten Stände-Buch >Abbildung der Gemein-Nützlichen Haupt-Stände< von 1698 zuallererst an Platos >Politeia< mit ihrer Lehre von den drei Ständen, die Gott zum Herrschen, zum Schützen und zum Arbeiten bestimmt habe und deren Rangfolge in der Beimischung von Gold, Silber und Eisen verdeutlicht werde.5 Bekanntlich hat Plato in seiner >Politeia< mit der Darlegung der diesen drei Ständen zugeordneten Tugenden der Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit oder Mäßigung sowie der von allen zu verwirklichenden Gerechtigkeit den Tugendkatalog auch aller künftigen Ständegesellschaften festgelegt. Gerechtigkeit wird verwirklicht, indem jeder Stand das Seine tut, nämlich das, wozu er >sich seiner Natur nach am besten eignete Die umfassende Lebensnorm für Ständegesellschaften lautet also, in der Formulierung Platos: >das Seine tun und sich nicht in vielerlei einmischen^6 Die Warnung vor Polypragmasie, also vor Vermischung der Stände, vor der transformatio ordinis,7 vor der unstaete? eignet deshalb seitdem jeglicher Reflexion über die Ordnung der Gesellschaft und ist der Kern aller Ständeethik. Inn allen landen ist groß schand Keynen begnügt me / mit sym stand, so klagte auch Sebastian Brant in seinem >Narrenschiff< (1494) und mahnte: Dar vmb laß gots fürwissenheyt Undordenung der fürsichtikeyl Stan wie sie stat [...].'

Oder mit den Worten Ch. Weigels von 1698 über die dreyerley Haupt-Stände, nämlich den Regier-, Lehr- und Nehr-Stand, das heißt den mühesamen Hand4

Charles Loyseau, Traite des Ordres et Simples Dignitez, Paris 1613, S. 5. Christoff Weigel, Abbildung Der Gemein-Nützlichen Haupt-Stände. Von den Regenten Und ihren So in Friedens- als Kriegs-Zeiten zugeordneten Bedienten an / biß auf alle Künstler und Handwercker [...], Regensburg 1698 [ohne Paginierung]. 6 Plato,Politeia433a. 7 Über die transformatio ordinis äußerte sich in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts der Bischof Adalbero von Laon und entwarf dabei das Bild einer >Verkehrten Weite Bauern sollen jetzt die Mitra tragen, Könige und Adlige sich mit Kutten bekleiden und mönchisches Gebaren annehmen, Bischöfe hinter dem Pflug gehen. Dazu OTTO GERHARD OEXLE, Die funktionale Dreiteilung der >Gesellschaft< bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter (Frühmittelalterliche Studien 12, 1978, S. 1-54), S. 20ff. 8 Über staete und unstaete in der mittelhochdeutschen Literatur s. WOLFGANG HEINEMANN, Zur Ständedidaxe in der deutschen Literatur des 13. - 15. Jahrhunderts III (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 92, Halle 1970, S. 388-437), S. 392. 9 Narrenschiff Nr. 82, 60f.; Nr. 57, 87-89 (Sebastian Brant, Das Narrenschiff, hg. von MANFRED LEMMER [Neudrucke deutscher Literaturwerke N.F. 5] Tübingen 31986). 5

Polens und Pauper im Frühmit telalter

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\verck- und mit sehr harter Arbeit belegten Bauern-Stand: nicht / daß jener sich über diesen erhebe noch dieser jenen ihren Vorzug mißgönne / sondern vielmehr ein jeder mit seinem Stand sich vergnüge / der Göttlichen unveränderlichen Ordnung gehorsam unterwerffe / und stets dahin bearbeite / wie er denen in den ändern Ständen l so viel an ihme ist / und seines Standes Beschaffenheit mit sich bringet / an die Handgehe™ Unter den für das frühneuzeitliche ebenso wie für das mittelalterliche Ständedenken fundamentalen Texten müssen neben Plato und Cicero auch die Briefe des Apostels Paulus, vor allem der erste Brief an die Korinther, muß Augustinus mit seiner Schrift >De ordine< aus dem Jahr 396 genannt werden. Augustinus zeigte, daß ordo das Mittel ist, mit dem das Ganze der Welt bewegt und geleitet wird und das zugleich die Struktur der Dinge in ihrer Unterschiedenheit und Vielfalt und jeweiligen Eigenart darstellt, so wie sie in Über- und Unterordnung auf das Ganze ausgerichtet sind. Und diese Ordnung ist, so Augustinus, um so vollkommener, je mehr Gegensätze, je mehr Unterschiede sie umfaßt: sola bona non ordine reguntur sedsimul bona et mala. Ordo umfaßt deshalb notwendig Unordnung und Ungleichheit. Nur das höchste Gute kann Ordnung entbehren: ubi omnia bona sunt [...] ordo non est.u Augustinus machte vor allem deutlich, daß die Ordnung des Kosmos für den Menschen erkennbar ist, weil das in dieser Ordnung Geschaffene nach den im göttlichen Intellekt beschlossenen Ideen geordnet ist. Die am göttlichen Geist teilhabende menschliche Vernunft aber kann das Vernunftgemäße erkennen. Aus der Erkenntnis der Ordnung aber folgt für den Menschen als Aufgabe deren Bejahung. So erkennt der Mensch seine eigene Stellung und Aufgabe, den ordo vitae. Die als Kosmos geordnete Welt, die nach Ständen geordnete Gesellschaft sind also in dieser ihrer Ordnung erkennbar. Es begegnet hier, wie immer in solchen Darlegungen, die für die europäische Metaphysik kennzeichnende Verknüpfung von Ontologie, Erkenntnislehre und Ethik, die im Ganzen auch für die Gesellschaft als Teil des Kosmos gilt.

II Diese Grundorientierungen des Ständedenkens sind, wenn man einmal von dem Problem des im Spätmittelalter aufkommenden Nominalismus absieht,12 von Plato bis zum ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert dieselben geblieben.13 Sie lassen sich stets in der Formel >Harmonie in der Ungleichheit 10

Weigel (wie Anm. 5). Augustinus, De ordine II 2 (CSEL 63, S. 146). 12 Dazu OTTO GERHARD OEXLE, Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens (FRANTISEK GRAUS [Hg.], Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme [Vorträge und Forschungen 35] Sigmaringen 1987, S. 65-117), S. 113ff. 13 Dazu die von OTTO GERHARD OEXLE (Antike und Mittelalter) und WERNER CONZE (Neuzeit) verfaßten Abschnitte des Artikels >Stand, Klasse« (Orro BRUNNER - WER11

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oder >Harmonie durch Ungleichheit zusammenfassen. Gleichwohl aber war die Art und Weise, in der innerhalb dieses Rahmens über die Ordnung der Gesellschaft nachgedacht wurde, jeweils sehr verschieden. Wenn man von den großen Traktaten und Ständelehren absieht, wie sie uns bei Plato, Cicero, Augustinus, bei Pseudo-Dionys, Thomas von Aquin und Bonaventura begegnen, so lassen sich zwei Hauptformen erkennen, in denen die Auffassungen und Bilder von der Gesellschaft vorgestellt und gedacht wurden. Zum einen geschah dies in der Form von Metaphern, zum Beispiel in der Metapher des Körpers oder jener der militia.14 Man kann hier von Sozialmetaphern sprechen. Sozialmetaphern sind Abbreviaturen von Aussagen über gesellschaftliche Ordnung, deren Bedeutung im Ganzen darzustellen viel mehr Worte notwendig machen würde. Eine andere Form ist die der eher begrifflichen Schemata, wie sie zum Beispiel in der Unterscheidung von clerus und laicus, in der Dreiheit der tria genera hominum oder tresfldelium ordines (Klerus, Mönche, Laien) oder in der funktionalen Dreiteilung von oratores, bellatores und laboratores,15 von gebüre, ritler und pfqffen]6 in Erscheinung traten. Man kann in diesem Fall von Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit sprechen.17 Solche Deutungsschemata sind einerseits Schemata der Erfahrung, in denen eine soziale Wirklichkeit erfaßbar wird; andererseits sind sie Schemata der Deutung, insofern das Erfahrene sinnvoll erfahren wird. Daraus ergibt sich die Möglichkeit sozialen Handelns. Der Wirklichkeitsbezug solcher Schemata ist also ein zweifacher: Solche Schemata enthalten Wirklichkeit, weil sie Wirklichkeit wahrzunehmen und zu deuten versuchen; andererseits schaffen solche Schemata Wirklichkeit, bringen sie Wirklichkeit hervor, weil sie durch die Vermittlung eines Sinnes der Wirklichkeit Handeln ermöglichen und zum Handeln anleiten können. Dazu gehört, daß solche Deutungsschemata

NER CONZE - REINHART KOSELLECK [Hgg.], Geschichtliche Grundbegriffe 6, 1990, S. 156 ff., 200 ff.); außerdem MÜNCH (wie Anm. 2). 14 Zur Körpermetapher: TILMANN STRUVE, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 16) Stuttgart 1978; DIETMAR PEIL, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart (Münstersche Mittelalter-Schriften 50) München 1983, S. 302ff. Zur Metapher der militia: ADOLF (VON) HARNACK, Militia Christi, Tübingen 1905; OEXLE (wie Anm. 7) S. 22f.; DERS. (wie Anm. 12) S. 87f. und 91ff.; ANDREAS WANG, Der >Miles Christianus< im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition (Mikrokosmos l)Bern - Frankfurt/M. 1975. 15 Dazu OEXLE (wie Anm. 7) und DERS. (wie Anm. 12) S. 89ff. 16 So zuerst Freidank: Got hat driu leben geschaffen: gebüre, ritter undepfaffen (Fridanks Bescheidenheit, hg. von H. E. BEZZENBERGER, Halle 1872 [Nachdruck Aalen 1962], 27, l f.); ebenso Hugo von Trimberg: Pfaffen, ritter und gebäre Sint alle gesippe von nature Und süln gar brüederlichen leben (Hugo von Trimberg, Der Renner, 4 Bde., hg. von GUSTAV EHRISMANN [Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 247/24S/ 252/256] Tübingen 1908-1911 [Nachdruck, mit einem Nachwort und Ergänzungen von GÜNTHER SCHWEIKLE, Berlin 1970], 505-507). 17 Zu diesem Begriff OEXLE (wie Anm. 7) S. 7ff.; DERS. (wie Anm. 12) S. 69ff.

Polens und Pauper im Frühmittelalter

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auch in bildlichen Darstellungen Ausdruck fanden,18 mit deren Erforschung jedoch gerade erst begonnen wurde.19 Die Mittelalterforschung hat bei der Interpretation solcher Schemata und der Frage nach ihrem Bezug zur sozialen Wirklichkeit bisher keine methodische Sicherheit erreichen können. Einerseits hat man die Verwendung von Sozialmetaphern und Deutungsschemata nicht ernst genommen: Man neigte dazu, sie als bloße »Ideale« (im Gegensatz zur Wirklichkeit), als inhaltsleere »Topoi« oder gar als »Ideologien« zu betrachten, das heißt als etwas Unwirkliches, im Ganzen Irrelevantes, ja sogar als etwas die Wirklichkeit Verzerrendes und absichtsvoll Verfälschendes.20 Im Gegensatz dazu sollte der Historiker jedoch mit Emile Durkheim die »gedachte Gesellschaft« als Teil der »wirklichen Gesellschaft« wahrnehmen.21 Damit muß nicht ausgeschlossen sein, daß im Feld von Deutungsschemata und Sozialmetaphern Momente des bloß Ideellen, daß hier »Topos« und »Ideologie« begegnen. Freilich ist zu bestreiten, dies allerdings mit Entschiedenheit, daß solche Denkformen mit der Wirklichkeit grundsätzlich nichts zu tun hätten oder daß sie ihrem Wesen nach Topoi oder Ideologien seien, als solche also definiert werden können.22 Definiert man aber solche Erscheinungsformen >gedachter< Gesellschaft als Teile der wirklichem, so muß der Wirklichkeitsbezug im Einzelfall nachgewiesen werden.23 Dies gilt auch für das Schema >potens \indpauperpotens undpauper< soll dies im Folgenden angedeutet werden.

III Karl Bosl hat den Gegensatz von potens und pauper im Frühmittelalter gedeutet als Ausdruck einer »technischen« und »offiziellen«, in der »Amtssprache des Frankenreiches« formulierten Begrifflichkeit, als einen »amtlich-technischen Sprachgebrauch«. Dieser gehe auf den Gegensatz des Begriffspaares honestiores/humiliores in der Spätantike zurück, aus dem er sich im »Zerfall der alten Munizipalverfassung« entwickelt habe, nachdem der »alte Gegensatz über servus in einer agrarisch-feudalisierenden und von der Machtanwendung beherrschten Gesellschaft illusorisch geworden« sei.25 Der Gegensatz von potens und pauper beschreibe deshalb die frühmittelalterliche Gesellschaft gewissermaßen adäquat und vollständig (»die Gesellschaft [...] zerfiel in potentes und pau25

KARL BOSL, Potens und Pauper. Begriffsgeschichtliche Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum »Pauperismus« des Hochmittelalters (Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift Otto Brunner, Göttingen 1963, S. 60-87, wiederabgedruckt in: DERS., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Ausgewählte Beiträge zu einer Strukturanalyse der mittelalterlichen Welt, München - Wien 1964, S. 106-134), Zitate S. 61, 65, 70, 73. Gleichartige Darlegungen auch bei DEMS., Die Grundlagen der modernen Gesellschaft im Mittelalter, Bd. l (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 4/1) Stuttgart 1972, S. 142f. Den Thesen BOSLS folgte unter anderem die französische Armutsgeschichte. Vgl. JEAN DEVISSE, »Pauperes« et »paupertas« dans le monde carolingien. Ce qu'en dit Hincmar de Reims (Revue du Nord 48, 1966, S. 273-287); RfeoiNE LE JAN-HENNEBICQUE, »Pauperes« et »paupertas« dans l'Occident carolingien aux IXe et Xe siecles (Revue du Nord 50, 1968, S. 169-185); und besonders MICHEL MOLLAT, Les pauvres au Moyen Age. Etude sociale, Paris 1978, S. 36ff. und 45ff. (deutsche Ausgabe: Die Armen im Mittelalter, München 1984, hier S. 30ff. und 36ff.). Widerspruch gegen BOSLS Interpretationen äußerten FRANZ IRSIGLER, Divites und pauperes in der Vita Meinwerci. Untersuchungen zur wirtschaftlichen und sozialen Differenzierung der Bevölkerung Westfalens im Hochmittelalter (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 57, 1970, S. 449499), S. 449f.; EGON BOSHOF, Untersuchungen zur Armenfürsorge im fränkischen Reich des 9. Jahrhunderts (Archiv für Kulturgeschichte 58, 1976, S. 265-339), S. 268f. Ein ganz anderes Bild der Armut im Frühmittelalter in ihren verschiedenen Dimensionen zeichnet auch HEINRICH FICHTENAU, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 30/1, II) Stuttgart 1984, Bd. I, S. 249ff., und Bd. II, S. 474ff., 482ff.

Polens und Pauper im Frühmittelalter

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peres«),26 und zwar im Sinne einer Gegenüberstellung von »Unterschichten« und »Oberschichten«. Als potentes habe man die »schwerttragende Herrenschicht« bezeichnet, als pauperes »den großen Kreis der leidenden, gedrückten Unterschichten, die von den potentes beherrscht, geführt, beschwert, geschützt« worden seien. Der Begriff >pauper< bezeichne also eigentlich nicht den Armen im materiellen Sinne, er beziehe sich vielmehr vor allem auf die Schutzbedürftigkeit.27 Der »technische Sinn« dieser Begriffe sei also »eine Schichtung der Gesellschaft nach dem Maßstab der vorhandenen oder nichtvorhandenen Verfügungsgewalt, Macht, Herrschaft über Menschen und Sachen vor dem Hintergrund der Königsherrschaft und ihrer Organe entsprechend dem Kulturniveau und der Sozialstruktur der Zeit«.28 Es gehe um die Gegenüberstellung von »Mächtigen = Herrschaftsträgern« und »Nichtherrschaftsfähigen«.29 Der Begriffsinhalt von pauper im Frühmittelalter erschöpfe sich demnach in der Schutzlosigkeit, Schutzbedürftigkeit, Gewalt- und Herrschaftslosigkeit, ja, es sei sogar fraglich, ob zu dieser Zeit »der moderne Sozialinhalt von Armut«, nämlich wirtschaftliche Bedrängnis und Bedürftigkeit, Existenzunsicherheit und Existenzbedrohung im materiellen Sinn »in dieser geschlossenen christlichen Feudalgesellschaft mit ihrem statisch-stabilen Weltbild und ihrer Transzendenzordnungsvorstellung überhaupt gesehen und bewußt wurde«.30 26

KARL BOSL, Die ältesten sogenannten germanischen Volksrechte und die Gesellschaftsstruktur der Unterschichten (Gesellschaft - Kultur - Literatur. Festschrift Luitpold Wallach [Monographien zur Geschichte des Mittelalters 11] Stuttgart 1975, S. 129165), S. 151. Methodisch sehr unbefangen deutete BOSL das Schema potens/pauper dahingehend, daß es sich hier um einen mittelalterlichen »Realtypus« handle, der eine »höhere, mindestens spezifischere Relevanz« habe als das Begriffspaar dives /pauper; »die Scheidung in potentes und pauperes« drücke »die feudale Struktur der archaischen [...] Gesellschaft adäquater aus« und entspreche »auch der durch die Quellen belegten realen Welt, d. h. auch unseren historischen Vorstellungen bzw. Rekonstruktionen dieser vergangenen Wirklichkeit« (KARL BOSL, Das Problem der Armut in der mittelalterlichen Gesellschaft [Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte, Bd. 294, 5. Abhandlung] Wien 1974, Zitate S. 3,4, 5). 27 BOSL, Potens und Pauper (wie Anm. 25) S. 65, 70, 76. Noch dezidierter DERS., Herrscher und Beherrschte im deutschen Reich des 10. - 12. Jahrhunderts (DERS., Frühformen [wie Anm. 25] S. 135-155), S. 140: »pauper ist der minus potens, impotens, nicht der Arme im wirtschaftlichen Sinne«. Danach und ebenso apodiktisch DEVISSE (wie Anm. 25) S. 273 (der pauper sei im 8. und 9. Jahrhundert »non point un pauvre demuni de toutes ressources«), LE JAN-HENNEBICQUE (wie Anm. 25) S. 169 und S. 170, sowie MOLLAT, Die Armen im Mittelalter (wie Anm. 25) S. 37f.: »Der pauper der Karolingerzeit war ein freier Mann. Er litt keine Not; denn er besaß und vererbte bescheidenen Grundbesitz« und so weiter. 28 BOSL, Potens und Pauper (wie Anm. 25) S. 73. 29 BOSL, Grundlagen (wie Anm. 25) S. 67, 142f., 154. 30 KARL BOSL, Armut Christi. Ideal der Mönche und Ketzer, Ideologie der aufsteigenden Gesellschaftsschichten vom 11. bis zum 13. Jahrhundert (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte Jahrgang 1981/1) München 1981, S. 6. Folgerichtig stellte auch DEVISSE (wie Anm. 25) S. 283, die Frage,

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Nun gilt es zunächst einmal darauf zu achten, daß das Schema potens/pauper erst seit der Karolingerzeit begegnet, in den Quellen der Merowingerzeit also ganz fehlt,31 wie denn überhaupt die angenommene Genese aus dem Sozialvokabular der Spätantike keineswegs beobachtet werden kann. Vor allem aber ist festzuhalten, daß der Gegensatz von potens und pauper durch biblische Texte begründet ist.32 In der Vulgata sind die Begriffe potens und pauper von zentraler Bedeutung,33 was vor allem für die Schriften des Alten Testaments gilt.34 Pauper wird dabei im ökonomischen Sinn (für den Besitzlosen) wie auch im sozialen Sinn (für den sozial >Schwachenarm< in den biblischen Texten JEAN LECLERCQ, Aux origines bibliques du vocabulaire de la pauvrete (MICHEL MOLLAT [Hg.] Etudes sur l'histoire de la pauvrete [Publications de la Sorbonne, Serie 'Etudes' 8] Paris 1974, S. 35 - 55). 34 Vgl. ALBERT GELIN, Les pauvres de Yahve, Paris 21974.

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Die Begriffe >potens< und >pauper< und die Gegenüberstellung beider in ihrer polaren Spannung deuten also zunächst einmal auf die transzendenten Bedingungen irdischer Verhältnisse und auf die dadurch gesetzten, für das soziale Verhalten geltenden ethischen Normen. Erst in deren Rahmen und nur darin werden soziale Gehalte, werden gesellschaftliche Strukturen erkennbar. Wie sich dies in der sozialen Wirklichkeit des früheren Mittelalters ausdrückte, kann vielfältig verdeutlicht werden an der Vita des Grafen Geraldus von Aurillac (* um 855, f 909), die Odo, später Abt von Cluny (927-942), um 925 verfaßt hat.35 Odo wollte Geraldus als Vorbild für die adligen Laien seiner Zeit herausstellen, verfaßte also mit seiner Vita einen Adelsspiegel. Er soll beweisen, daß »auch ein Laie und ritterlicher Herr ein heiliges Leben führen könne«,36 - ein für das Frühmittelalter neues Thema.37 Geraldus entstammte einem nach Besitz (res) und Lebensführung (mores) in gleicher Weise herausragenden Adelsgeschlecht.38 Er war zugleich pot ens und dives und konnte trotz seiner adligen Lebensführung als heilig gelten,39 sein Leben war das eines laicus et potens homo und gerade dadurch ein Beispiel für alle potentes: Quoniam vero hunc Dei hominem in exemplo potentibus datum credimus, viderint ipsi qualiter eum, sicut e vicino, et de suo ordine sibipraelatum imitentur.40 Aber wenn man von ihm sagen konnte, er sei zugleich potens und sanctus, so nur deshalb, weil er seine potentia auf religio gründete.41 Aus der Bezeichnung Geralds als dives und als potens wird uns im Text der für das Frühmittelalter typische, zweifache Inhalt des Begriffs >pauper< erkennbar, der zu beiden Begriffen jeweils eine Opposition impliziert, oder besser: es werden die beiden Pole sichtbar, um die die Inhalte des Begriffs >paupen sich ordnen.42 35

Vgl. J.-C. POULIN, Geraldus von Aurillac (Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München Zürich 1989, Sp. 1297f.). 36 CARL ERDMANN, Die Entstehung des Kreuzzuggedankens (Forschungen zur Kirchenund Geistesgeschichte 6) Stuttgart 1935 [Nachdruck Stuttgart 1955], S. 78ff., Zitat S. 78; JOSEPH-CLAUDE POULIN, L'ideal de saintete dans PAquitaine carolingienne d'apres les sources hagiographiques (750-950) (Travaux du laboratoire d'histoire religieuse de l'Universite Laval 1) Quebec 1975, S. 81fT., 195f.; FRIEDRICH LOTTER, Das Idealbild adliger Laienfrömmigkeit in den Anfängen Clunys: Odos Vita des Grafen Gerald von Aurillac (Benedictine Culture 750-1050) (Mediaevalia Lovaniensia I 11) Leuven 1983,8.76-95). 37 Dazu bes. MARTIN HEINZELMANN, Sanctitas und >TugendadelHeiligkeit< im 5. und 10. Jahrhundert (Francia 5, 1977, S. 741-752), bes. S. 746fT. 38 Vita Sancti Geraldi Auriliacensis comitis 11 (PL 133, Sp. 641f.). 39 Ebd. I Praefatio (PL 133, Sp. 639). "°Ebd.(PL133,Sp.641f.). 41 Ebd. II Praefatio (PL 133, Sp. 668). 42 Vgl. OTTO GERHARD OEXLE, Armut und Armenfürsorge um 1200. Ein Beitrag zum Verständnis der freiwilligen Armut bei Elisabeth von Thüringen (Sankt Elisabeth. Fürstin - Dienerin - Heilige. Aufsätze, Dokumentation, Katalog, Sigmaringen 1981, S. 78-100), S. 82ff.; DERS., Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter (CHRISTOPH SACHSSE - FLORIAN TENNSTEDT [Hgg.], Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt/M. 1986, S. 73-100), S. 77ff.

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Als dives war Geraldus ein Wohltäter gegenüber den pauperes als den materiell Bedürftigen und Mittellosen. In seinen Häusern wurden die Armen gespeist und bekleidet, immer war vor seinen Augen den Armen Sitz und Tisch bereitet, damit er selbst die ihnen gereichten Speisen nach Art und Menge prüfen konnte.43 Den neunten Teil seines Vermögens stellte er für die necessitates pauperum zur Verfügung.44 Weil Geraldus sich von Unrecht fernhielt und die pauperes ernährte, habe er die Privilegien seines Standes (suo ordini concessä) in rechter Weise gebraucht.45 Gegenüber den Bedürftigen (egentes) sei er so wohltätig gewesen, daß fast keiner der pauperes, die damals in Massen jene Gegend durchzogen, von seiner Freigebigkeit ausgeschlossen war, denn Geraldus sei sich sicher gewesen, von Gott selbst erhört zu werden, wenn das Geschrei dieser Armen bei ihm Gehör fände.46 Zugleich nahm Geraldus, wie Odo erläutert, die cura pauperum in einem zweiten Sinne wahr, nämlich als potens und in der Erfüllung des biblischen Gebots: ludicate egeno et pupillo, humilem et pauperem iustificate; eripite pauperem et egenum, de manu peccatoris liberate (Ps 81,3f.).47 Hier geht es nicht um die Armen im Sinne der materiellen Mittellosigkeit, sondern um diejenigen, so definiert es die >VitaSchwachen< diente. Stets hatten sie ungehinderten Zugang zu Geraldus, um ihre negotia vorzubringen.50 Für diese pauperes setzte er sich ein in der Niederwerfung und Befriedung von Gewalttätern. Nur in extremen Fällen wandte Geraldus dabei seinerseits Gewalt an, um nämlich des Gottlosen Gebiß zu zerbrechen und den Raub aus seinen Zähnen zu reißen (lob 29,17), wie Odo bemerkt: nicht aus Rachsucht oder des Ruhmes willen, sondern aus Liebe eben zu den pauperes, um seine Pflichten ihnen gegenüber zu erfüllen und nicht den Erfolg den Sündern zu überlassen («0« dabat cornupeccatori, vgl. I Mcc 2,48).51 Deshalb habe er seinen milites befohlen, im Kampf mit solchen Gegnern die Waffen umzukehren (mucronibus gladiorum retroactis, hastas inantea dirigentes pugnarent), um niemanden zu verletzen, da er nur den Übermut der Feinde zu dämpfen beabsichtigte; so konnten religio und usus praeliandi vereinbart werden. Und trotz dieser den Gegnern lächerlich erscheinenden neuen Kampfesweise (novum genus praeliandi) war er mit Gottes Hilfe erfolgreich, Spott verwandelte sich in Bewunderung.52 So kämpfte Geraldus für den Schutz und die 43

Vita (wie Anm. 38) 114 (PL 133, Sp. 651 f.). Ebd. 128 (PL 133, Sp. 658). 45 Ebd. II Praefatio (PL 133, Sp. 669). 46 Ebd. II16 (PL 133, Sp. 680). 47 Ebd. 18 (PL 133, Sp. 646). 48 Ebd. 49 Ebd. 16 (PL 133, Sp. 645). 50 Ebd.I17(PL133,Sp.653f.). 51 Ebd. 18 (PL 133, Sp. 646). 52 Ebd.(PL133,Sp.646f.). 44

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Rechte der Seinen, so zwang er (nach lob 39,10 in der Fassung der Vulgata) dem Einhorn (rhinozeros), nämlich jedwedem polens, sein Joch auf, damit es die Furchen umbreche, nämlich die Bedrücker der Kleinen (oppressores humilium).53 Denn - so erläutert Odo weiter mit Blick auf das Wort des Apostels von der potestas, die das Schwert nicht ohne Grund führe, sondern vielmehr als Rächerin Gottes54 - es ist dem Laien erlaubt, im Stande der Waffentragenden (ordo pugnatorum) das Schwert zu führen, um die Waffenlosen (inerme vulgus) wie eine friedliche Herde vor den Wölfen am Abend (Hab 1,8) zu schützen, >damit diejenigen, welche die Autorität der Kirche nicht zu unterwerfen vermag, entweder das Recht des Krieges oder die richterliche Gewalt bezähmen So verdunkle es den Ruhm Geralds nicht, daß er Waffen angewendet habe, habe er sie doch für die Sache Gottes geführt, für welche die Welt gegen die Toren kämpfe (Sap 5,21). Vielmehr gereiche es ihm zum Ruhm, daß er immer und stets vor aller Augen ohne Trug und List den Sieg errungen habe und von Gott so beschützt worden sei, daß er sein Schwert niemals mit Blut befleckte. Wer also, so Odos Appell an den Adel, nach Geralds Vorbild gegen seine Feinde die Waffen ergreife, möge ebenso auch nicht den eigenen Vorteil, sondern das allgemeine Wohl (nonproprium commoditatem, sedcommunem) suchen.55 Was Odo von Cluny hier in bildhafter Rede und in kunstvoller Auslegung der Schrift formuliert, ist die Rechtfertigung des Waffengebrauchs im Dienste Gottes: Sie bezieht sich auf Gerald, formuliert aber zugleich die Pflicht eines potens, der seine potentia auf religio gründet und darin rechtfertigt und der deshalb rechtmäßig gegen andere potentes vorgeht, welche pauperes unterdrücken. Zugleich formuliert Odo hier die Standespflichten des ordo pugnatorum, die dann am Ende des 10. und besonders am Anfang des 11. Jahrhunderts im Rahmen des Deutungsschemas der funktionalen Dreiteilung deutlicher und definitiv formuliert wurden56 und die schließlich ein wesentliches Moment in der Ethik des Rittertums bildeten, zu dessen Aufgaben von Anfang an der Schutz der Armen (pauperes quoque et viduas et orphanos defensare) gehört hat.57 Zugleich macht dieser Text auch die Struktur des Begriffs >pauper< im Frühmittelalter deutlich. Neben der materiellen Bedürftigkeit und dem Mangel am Lebensnotwendigen verweist der Begriff auf die soziale >SchwächeGebotecodex für den Ritten des Bischofs Bonizo von Sutri (Ende des 11. Jahrhunderts), ebd. S. 235ff.

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bedürftigkeit. Der pauper in diesem zweiten Sinn bedarf des ihn schützenden, ihm sein Recht schaffenden potens, gerade weil er von der Gewalt anderer potentes bedroht, in seinem Recht gemindert und geschädigt wird. An zahlreichen Beispielen zeigt die >Vita< des Gerald von Aurillac die konkreten Umstände und die Auswirkungen des Mangels an sozialer >StärkeGeht und holt euch selbst die Äste, an denen man euch aufhängen kannVia re65

Ebd. 118 (PL 133, Sp. 654). Ebd. 119 (PL 133, Sp. 655). 67 Ebd. 120 (PL 133, Sp. 655). 68 J.-C. DUFERMONT, Les pauvres, d'apres les sources anglo-saxonnes, du VIIe au XIe siecle (Revue du Nord 50,1968, S. 189-201). 69 Eigentlich genügte es, die bei DEVISSE (wie Anm. 25) und LE JAN-HENNEBICQUE (wie Anm. 25) dankenswerterweise ausführlich zitierten Texte durchzugehen, ungeachtet der Tatsache, daß sie hier einer ihren Aussagen deutlich widersprechenden Interpretation unterworfen wurden; dazu oben Anm. 25 und 30. 70 Dazu bes. BOSHOF (wie Anm. 25) und MOLLAT, Die Armen (wie Anm. 25) S. 41 ff. 71 OTTO EBERHARDT, Via regia. Der Fürstenspiegel Smaragds von St. Mihiel und seine 66

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gia< des Smaragd von Saint- Mihiel wird sie geradezu als der zentrale Inhalt des regale offidum dargestellt.72 Auch die Gesetzgebung der Herrscher selbst spricht davon.73 Demzufolge war die cura pauperum auch ein wesentlicher Teil der Adelsethik, wie das Dhuoda 841/843 in ihrem berühmten Handbüchlein ausgedrückt hat; hier empfahl sie ihrem Sohn die stete Sorge für den Armen, der der Speise und Kleidung bedarf: diefraterna compassio müsse allen gelten, die Hunger und Durst haben oder nackt sind, den Waisen, denen, die unterwegs sind, den Fremden und den Witwen, den Kindern und Bedrängten et omnibus indigentibus.74 Die Reihe der Nennungen zeigt übrigens, wie Armut im Sinne der materiellen Not und Armut im Sinne der sozialen Schwäche miteinander verknüpft sind. Bemerkenswert ist auch die Darstellung der materiellen Armut und ihrer Ursachen und Bedingungen, die sich in den Akten der großen Synode von Paris vom Sommer 829 findet.75 Die Bischöfe beschäftigten sich damals auch mit der Situation des durch eine Hungersnot verarmten pauper omnium rerum penuria adtenuatus, der sich Getreide bei einem Händler beschaffen will, petens ab eo suas miserabiles necessitates sublevari sibique id, quo indiget, commodari, der aber nichts geliehen bekommt (>Si vis emere, fer pretium et tollepauper< in den Kapitularien in einer Reihe mit den Nennungen der Witwen und Waisen und der peregrini: pauper ist die umfassende Bezeichnung für diese Personen (viduae, pupilli, orphani et reliqui pauperes im Gegensatz zu den potentes homines), deren Leben vom Mangel am Lebensnotwendigen geprägt ist (quia ipsi pauperes non habent facultatem unde sustentare se possint}.^ Sie werden auch als minus potentes und inpotentes*2 als miseri oder als pauperes Christi bezeichnet.83 Sie alle unterstehen dem besonderen Schutz (defensio) des Königs, der für ihre iustitia sorgt,84 weil er weiß, daß sein Gebet sonst unerhört bleibt: Preces nostrae a Deo non recipiuntur, quia damores et ploratus altaque suspiria pauperum et orphanorum, pupillorum atque viduarum praeoccupant et praeveniunt preces nostras - so König Karlmann 884. Aufgabe des Königs sei es deshalb, die rapina pauperis (nach Is 3,14) zu verhindern, pauperes vor jenen zu schützen, qui de homicidiis, adulteriis, periuriis, incendiis consilium et poenitentiam quaerunt et malum rapinae pro nihilo ducunt non intellegentes, quia, quot pauperes quis exspoliat et fame ac nuditate periclitarifacit, tot homicidiaperpetrat*5 Dementsprechend die Anweisungen an die Beauftragten des Königs, an Bischöfe und Äbte, Grafen und iudices und an alle Königsboten (missi), ihrerseits die defensio und consolatio der pauperes zu übernehmen und ihnen ihre iustitia zu sichern,86 ihnen Frieden zu schaffen,87 sie vor jeglicher oppressio zu schützen,88 ihre Rechte vor Gericht sorgfältig zu beachten89 und die Rechtsnormen (perscripta lex) nicht zu beugen,90 ihre Angelegenheiten in der Gerichtssitzung vor den causae regiae et ecclesiarum vel poten-

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MGH Legum II: Capitvlaria regvm Francorvm, Bd. 1: Nr. 1-183, hg. von ALFRED BoRETIUS, 1883, Bd. 2: Nr. 184-307, hg. von ALFRED BORETIUS - VICTOR KRAUSE, 1897, Nr. 23, 32; Nr. 146, 7; Nr. 46, 9. 80 Zum Beispiel ebd. Nr. 92,3. 81 Ebd. Nr. 167, 2. 82 Ebd. Nr. 90, l; Nr. 89, 7: De viduis et orfanis et pauperibus vel omnibus inpotentibus: ut in elemosyna dominorum nostrorum regum eorum iustitiam plenius accipiant. 83 Ebd. Nr. 212, 10: Hoc eliam audire desideramus, si in iuditio comitum prius miserorum causae, id est viduarum, pupillorum celerorumque pauperum quaerimoniae terminandae sint, ac deinde potentiorum; quodsi ab aliquo tales Christi pauperes sunt despecti, qualiter hoc emendare velint, inquirentibus nobis insinuent. 84 Ebd. Nr. 89,7; Nr. 90, 1; Nr. 178, 8. 85 Ebd. Nr. 287, Prologus. Vgl. Nr. 266, Admonitio. 86 Ebd. Nr. 33, 14; Nr. 66, 3; Nr. 90, 1; Nr. 94, 1; Nr. 204,7. 87 Ebd. Nr. 64, 20. 88 Ebd. Nr. 35,51; Nr. 196, 56; Nr. 197, 6. 89 Ebd. Nr. 102, 4; Nr. 136,3. 90 Ebd. Nr. 33, 1.

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turn hominum zu behandeln,91 ihre Habe zu schützen und Beschwernis durch unbillige Abgaben zu verhindern.92 In derselben Absicht erinnerten ihrerseits die Bischöfe den König daran, daß er Preiswucher in Notzeiten zu unterbinden habe, weil solcher die pauperes den Hungertod sterben lasse oder sie dazu zwinge, unter Zurücklassung ihrer Habe in andere Regionen zu fliehen.93 Auch habe der König für die richtigen Maße und Gewichte zu sorgen: Quapropter diversitatem mensurarum in multis pauperes valde gravantur.94 Ebenso werden alle Beauftragten des Königs verpflichtet, sich in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben weder durch Schmeichelei noch durch Geschenke, weder durch Rücksicht auf Verwandte noch durch die Furcht vor den potentes beeinflussen zu lassen.95 Auch in den Kapitularien sind die potentes die Gegner der pauperes und treten nur in Beziehung zu ihnen in Erscheinung: Die potentiores nötigen pauperes liberi homines, ihren Besitz zu verkaufen oder zu tradieren, so daß ihre Verwandten enterbt und ihre Kinder zum Betteln oder in die Kriminalität genötigt werden;96 die potentes üben im Umkreis ihrer Häuser Zwang und Gewalt aus, indem sie zum Nachteil der pauperes ihre Pferde auf deren Wiesen weiden lassen und im Winter Futter requirieren oder Häuser und Besitz der pauperes beschlagnahmen.97 Als Bedränger der Armen werden im einzelnen Bischöfe und Äbte et eorum advocati, Grafen et eorum centenarii und die iudices genannt:98 es ist also derselbe Personenkreis, der in den Kapitularien vom König immer wieder zum Schutz der pauperes aufgefordert und mit Aufgaben in diesem Bereich betraut wird. Gerade dort also, wo man in der Prägung der Begriffe >potens< und >pauper< eine Amtssprache des Frankenreiches erwarten könnte, zeigt sich abermals, daß dieses Begriffspaar nicht eine offizielle und technische Bedeutung hatte, sondern von der biblischen Sprache und Vorstellungswelt geprägt ist und deshalb auch deren Inhalte vermittelt: die Warnung der potentes vor Unterdrückung der pauperes und die Mahnung zu deren Schutz. Auch das Schema >potens/pauper< enthält deshalb die Grundannahmen allen Ständedenkens: die aus der Unterschiedenheit der Stände resultierende Pflicht zum Zusammenwirken. Durch diese biblische Prägung ist das Schema nicht abstrakt, sondern bildhaft und wird mit biblischen Metaphern vielfältig verknüpft. Es enthält eine Auffassung gesellschaftlicher Wirklichkeit, die soziale Unterschiede unter dem Gesichtspunkt un91

Ebd. Nr. 167,2. Ebd. Nr. 267, 2; Nr. 18,4. 93 Ebd. Nr. 196, 54 (von 829). 94 Ebd. Nr. 178,7 (von 820). 95 Ebd. Nr. 33, l. 96 Ebd. Nr. 44,16 und öfter. 97 Ebd. Nr. 212, 2; Nr. 213,5. 98 Ebd. Nr. 73,2f. Vgl. die Nennung von potentes in den Akten der Synode von Aschheim aus der Mitte des 8. Jahrhunderts: De oppressione pauperorum admonendi convenit, ut per omnia presides seu iudices, centoriones atque vicarios admonere seu praecipere debeatis, ut sine ulla iniusta calumnia permaneant. Unde evangelium testatur: Deposuit potentes de sede et humiles exaltavit (MGH [wie Anm. 76] Nr. 10,11). 92

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gleicher Verteilung von Macht und Herrschaft benennt, dies jedoch nicht im Sinn einer adäquaten und vollständigen Beschreibung der frühmittelalterlichen Gesellschaft im Hinblick auf Oberschichten und Unterschichten. Vielmehr bezeichnet das Schema einen Aspekt dieser Gesellschaft: >potens< und >pauper< sind relative Begriffe;" sie benennen ein Element der Struktur dieser Gesellschaft und zugleich die im Blick darauf gültigen Normen. Sie geben Elemente der Wirklichkeit wieder und zugleich eine Sichtweise, eine Deutung, die auf Nonnen verweist. Das Deutungsschema >potens/pauper< spiegelt soziale Wirklichkeit, aber in der Form einer gedachten Wirklichkeit. Damit hat es aber auch zugleich auf die Wirklichkeit eingewirkt. Diese Spannung zwischen der Wiedergabe gesellschaftlicher Wirklichkeit und ihrer Deutung und Normierung zeigt sich auch in der ersten großen Ständelehre des Mittelalters, die Bischof Rather von Lüttich/Verona im 10. Jahrhundert in der Form einer offenen Ständereihe verfaßte.100 Das Deutungsschema >potens/pauper< erscheint hier in vielfältigen Variationen. Der pauper wird dem waffentragenden miles gegenübergestellt, der, wenn er nicht mit seinen Waffen seinen Lebensunterhalt verdiene, arbeiten solle:101 et fuge praedam, cave homicidium. Denn: Propter miseriam inopum et gemitum pauperum nunc exsurgam, dicit Dominus (Ps 11,6); und: Non accipiet Dominus personam inpauperem, et deprecationem laesi exaudiet (Sir 35,16); und: Panis egentium vita pauperis est, qui defraudat ilium homo sanguinis est (Sir 34,25). Ebenso mahnt Rather die indices, die Ärzte, die divites, die homines fortunae mediocris an ihre Pflichten gegenüber allenpauperes.m Sogar der omnimodispauper wird an das Opfer der armen Witwe erinnert, die mehr als alle anderen einwarf, weil sie alles, was sie zum Leben hatte, gab (Lc 2l).103 Die potentes quilibet in saeculo erinnert Rather an die Libanon-Zeder, in der die Vögel ihre Nester bauen (Ps 103,16f.); so sollen sie auf ihren praedia die hospites etperegrini, advenae et captivi atque pauperes >nisten< lassen.104 Den nobiles wird die Wechselhaftigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse gezeigt, die manche ex paupere et inflmo genere ad summos honores führe, andere aus dem Adel aber adpenuriae infaminam absteigen oder den Adligen im Verlust seines Vermögens zum pauper werden lasse. Herkunft (genus) und Besitz (possessio) sind für Rather die Bedingungen adliger Existenz, womit er zugleich noch einmal an die Bedingungen der Armut im frühmittelalterlichen Sinne erinnert.105 Eben davon sprachen im 10. und 11. Jahrhundert ihrerseits auch jene, 99 100 101

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So FICHTENAU (wie Anm. 25) Bd. 2, S. 475. Zu solchen Ständelisten als eigener Gattungsform der Stände-Reflexion vgl. OEXLE (wie Anm. 13) S. 189fT. Rather von Verona, Praeloquia I 2 (PL 136, Sp. 149): Quodsinon vales militando acquirere Stipendium, laborando manibus sectare victum.

Ebd. I 4, I 7, I 17f. (PL 136, Sp. 151, 161ff., 178fT.). Vgl. WILHELM KÖLMEL, Soziale Reflexion im Mittelalter, Essen 1985, S. 76fT. 103 Praeloquia (wie Anm. 101) 118 (PL 136, Sp. 184). 104 Ebd. 117 (PL 136, Sp. 182). 105 Ebd. I 10 (PL 136, Sp. 165ff.).

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die aus der Armut aufsteigen konnten.106 Gerbert von Aurillac, später Papst, bezeichnete sich als einen Bedürftigen, der weder durch vornehme Herkunft (genus) noch durch Reichtum (divitiae) Unterstützung gehabt habe und gleichwohl bei der Wahl zum Erzbischof von Reims (991) vielen vorgezogen worden sei, die wohlhabend waren und durch ihre adlige Verwandtschaft Ansehen hatten.107 Ebenso bezeichnete sich Bischof Fulbert von Chartres (1002-1028) als einen Armen, der aus dem Schmutz aufgestiegen sei, obwohl weder Vermögen noch adliges Geblüt ihn empfahlen: non opibus neque sanguine fretus Conscendi cathedram pauper de sorde levatus.m

Das in der Karolingerzeit gefundene und verbreitete Deutungsschema ~>potens\ paupen erfaßt die frühmittelalterliche Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Ausübung und Nichtausübung von Macht im Blick auf das Gefalle der Machtverteilung. Es beleuchtet die Strukturen dieser Gesellschaft,109 in der sich die komplexeren und >moderneren< Formen von Teilhabe und sozialer Differenzierung erst vorbereiteten und andeuteten. Es begegnet zwar auch in späterer Zeit,110 dann aber neben anderen Schemata, in denen eben diese Differenzierung seit der Wende zum 11. Jahrhundert sich andeutet.111 Ihnen allen ist, wie eingangs bereits erwähnt, dieselbe Grundstruktur in der mentalen Erfassung gesellschaftlicher Verhältnisse zu eigen, die erst im 18. Jahrhundert allmählich zurücktrat, weil andere Wahrnehmungsweisen der Gesellschaft sich durchsetzten. Auf eben diese lange Dauer von Denkformen und Wahrnehmungsweisen der Welt hat Friedrich Ohly in seinen Forschungen immer wieder aufmerksam gemacht, auch mit der provozierenden Feststellung, das Mittelalter ende »erst bei Goethe«.112 In der Tat hat ja Goethe im >Wilhelm Meisten das Ende einer Epo106

Dazu FICHTENAU (wie Anm. 25) Bd. l, S. 249fT. Gerbert, Lettres (983 - 997), hg. von JULIEN HAVET (Collection de textes pour servir ä l'etude et a l'enseignement de l'histoire 6) Paris 1889, Nr. 217, hier S. 229. 108 The letters and poems of Fulbert of Chartres, hg. von FREDERICK BEHRENDS, Oxford 1976, Nr. 132, hier S. 242. 109 Vgl. auch ROSEMARY MORRIS, The Powerful and the Poor in the Tenth-Century Byzantium: Law and Reality (Past and Present 73,1976, S. 3-27). no Vgl. PIERRE MICHAUD-QUANTIN, Le vocabulaire des categories sociales chez les canonistes et les moralistes du XIII e siecle (D. ROCHE - C. E. LABROUSSE [Hgg.], Ordres et classes [Congres et Colloques 12] Paris - La Haye 1973, S. 73-86), S. 79ff.; ERICH MASCHKE, Die Unterschichten der mittelalterlichen Städte Deutschlands (CARL HAASE [Hg.], Die Stadt des Mittelalters 3 [Wege der Forschung 245] Darmstadt 1973, S. 345454), S. 352f. 111 Dazu die in Anm. 15 genannten Titel. 112 FRIEDRICH OHLY, Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung (DERS., Schriften [wie Anm. 18] S. 312-337), S. 336. 107

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ehe und den Beginn einer neuen Zeit, der Moderne, gerade auch in der Betrachtung gesellschaftlicher Wandlungen reflektiert: im Blick auf die Umbrüche der Revolutionen seit 1776, auf die moderne Technik und die Einebnung aller ständischen Unterschiede. Vor allem hat Friedrich Ohly in seinen Arbeiten zur Bedeutungsforschung jene mittelalterliche und frühneuzeitliche Denkform in immer wieder neuen Zugängen erschlossen, die von »der möglichen Transparenz alles Seienden auf Spirituelles«, von der »Zeichenhaftigkeit der Welt der Schöpfung« ausgehend113 das Handeln Gottes und der Menschen in der Geschichte »typologisch« deutet."4 In vielfacher Weise ist dadurch sichtbar geworden, wie diese Denkform der Beziehung des Alten auf Neues im Sinne von Vorprägung und Ausprägung in ihrer Epoche sinnstiftend wirkte und darüber hinaus in höchstem Maße als schöpferisch gelten kann, nämlich als das »Ergebnis einer produktiven Einbildungskraft«.115 Diese Denkform zu kennen, ist für den Historiker von großer Bedeutung, war sie doch auch in der Geschichtsbetrachtung wirksam,"6 wobei sich auch hier ihre Ausläufer noch im 19. Jahrhundert erkennen lassen."7 Diese Denkform erlosch erst mit dem modernen Historismus, der »das Geschichtliche der stilbildenden Kraft der Deutung aus dem Gegenwärtigen« entzog und der »selbst die Krise des schöpferischen Umgangs mit der Geschichte im Schoß« trug - und »damit das Ende der Typologie«."8 Hierdurch ist auch der Rahmen bezeichnet, in dem die Menschen des Mittelalters und noch der frühen Neuzeit gesellschaftliche Verhältnisse erkannten und deuteten, und zugleich ein Rahmen für deren Wahrnehmung und Deutung durch den Historiker. Dankbar gedenkt der Verfasser dieses Beitrags deshalb der Erkenntnisse, die er durch Friedrich Ohlys - in der Arbeit an Text und Bild geleistete Erschließung solcher Denkformen gewonnen hat und sich zu eigen machen durfte.

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FRIEDRICH OHLY, Einleitung (ÖERS., Schriften [wie Anm. 18] S. IX-XXXIV), S. IX. Dazu besonders die Abhandlung über >Synagoge und Ecclesia< von 1966 (wie Anm. 112). FRIEDRICH OHLY, Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung (Natur, Religion, Sprache, Universität. Universitätsvorträge 1982/83, Münster 1983, S. 68-102), S. 71. Dazu bes. die in Anm. 115 genannte Abhandlung. Dazu OHLY (wie Anm. 115) S. 83fT. OHLY (wie Anm. 112)8.323.

CHRISTOPH HUBER Die personifizierte Natur Gestalt und Bedeutung im Umkreis des Alanus ab Insulis und seiner Rezeption Von der Natur ist schwer zu reden. Die Antike diskutiert seit der Definitionskette des Artistoteles in der >Metaphysik< (IV 1014b) verschiedene Begriffsbestimmungen. Ciceros Wort, naturam ipsam deflnire difficile est (>De inventione< I 24,34), liefert zahlreichen mittelalterlichen Definitionsversuchen den rhetorischen Einstieg. Der Topos pflanzt sich in der Neuzeit fort und legitimiert schließlich die Verlegenheit, der sich wissenschaftliche monographische Darstellungen des Naturbegriffs gegenübersehen.1 Dem kapitalen Problem einer abstrakten Bewältigung des Naturbegriffs steht eine Tendenz zur Veranschaulichung der Konzepte gegenüber. Dabei ist es schon für die antike /natura schwer auszumachen, wieweit das Abstraktum 1

Zu Aristoteles und der späteren philosophischen Tradition vgl. EDGAR C. KNOWLTON, The Goddess Nature in Early Periods (Journal of English and Germanic Philology 19, 1920, S. 224-232); GEORGE D. ECONOMOU, The Goddess Natura in Medieval Literature, Cambridge/Mass. 1972, S. 4-27. Für das Mittelalter sind wichtig die Definitionsreihen bei: Boethius, Contra Eutychen et Nestorium (PL 64, Sp. 1341 ; Boethius, The Theological Tractates, lateinisch-englisch hg. von H.F. STEWARD - E.K. RAND, London 1973, S. 76-81); Hugo von St. Victor, Didascalicon (PL 176, Sp. 748f.); Johannes von Salisbury, Metalogicon, hg. von CLEMENS WEBB, Oxford 1929, S. 23-25; Alanus ab Insulis, Distinctiones (PL 210, Sp. 871), dazu MATTHIAS BAUMGARTNER, Die Philosophie des Alanus ab Insulis, Münster 1896, S. 42-44). Zum Bedeutungsspektrum vgl. Novum Glossarium Mediae Latinitatis ab anno DCCC usque ad annum MCC, Bd. Ma-Ny, hg. von FRANZ BLATT, Kopenhagen 1959, natura, Sp. 1090-1098. Cicero wird zitiert von Hugo von St. Victor (ebd.) und Johannes von Salisbury (ebd. und Polycraticus, hg. von CLEMENS WEBB, Oxford 1919, Bd. I, S. 292), ferner von Wilhelm von Conches im Dragmaticon (hg. von GUILELMUS GRATAROLI, Argentorati 1571 [Nachdruck Frankfurt/M. 1968], S. 31); Gilbert de la Poiree im Kommentar zu Boethius, Contra Eutychen (PL 64, Sp. 1359; The Commentaries on Boethius by Gilbert of Poitiers, hg. von NIKOLAUS M. HÄRING, Toronto 1966, S. 242). Monographien zum Naturbegriff: PHILIPPE DELHAYE, Permanence du droh naturel (Analecta mediaevalia Namurcensia 10) Löwen 1960; ANDRE PELLICER, Natura. Etüde semantique et historique du mot latin, Paris 1966; AUGUST NITSCHKE, Naturerkenntnis und politisches Handeln im Mittelalter (Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik 2) Stuttgart 1967, bes. S. 24-136; ROBERT LENOBLE, Esquisse d'une histoire de l'idee de nature, Paris 1969. Aufsatzsammlung: La filosofia della natura nel medioevo. Atti del terzo congresso internazionale di filosofia medioevale (Trento 31 agosto-5 settembre 1964), Passo della Mendola (Trento) 1964, Mailand 1966. Zur Mehrdeutigkeit beim neuzeitlichen Naturbegriff vgl. ROBERT SPAEMANN, Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts (Archiv für Begriffsgeschichte 11, 1967, S. 59-74); HERIBERT M. NOBIS, Die Umwandlung der mittelalterlichen Naturvorstellung (Archiv für Begriffsgeschichte 13, 1969, S. 34-57).

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Christoph Huber

lediglich rhetorisch belebt, wieweit es als wirkende Macht von numinosem Charakter begriffen wird. Sicher gibt es hier Kontaminationen mit alten Erd- und Fruchtbarkeitsgottheiten,2 doch bleibt der /natura ein philosophisch-aufklärerischer Grundansatz und mit ihm die begriffliche Hypothek erhalten. Diese Doppelexistenz zwischen naturphilosophischer Abstraktion und göttlichem Wesen wird etwa in dem Lehrgedicht des Lukrez manifest, welches entmythisierend das atomistische Weltbild in der Nachfolge Epikurs proklamiert und dennoch die berühmte Venus des Prologs und andere personifizierende Evokationen der Natur an exponierten Stellen einführt.3 Diese ambige Optik, deren Deutung schwierig ist und am Einzelfall erprobt werden muß, wiederholt sich in verschiedenen Kontexten, etwa in naturphilosophischen Erörterungen der Patristik, wo klar das abstrakte Interesse überwiegt, oder mit rhetorisch-literarischem Akzent in der spätantiken Allegorik seit Claudian.4 Es soll im folgenden darum gehen, das Zueinander dieser sprachlichen (und gedanklichen) Operationen von Abstraktion und Bildrede und ihre Sinnbildungsleistung an einem Textcorpus zu untersuchen. Damit stehen umstrittene Grundbegriffe literarischer Bildrede wie Personifikation und Allegorie zur Debatte. Diese sind hier nicht theoretisch aufzuarbeiten, sondern lediglich für die Analyse sinnvoll abzugrenzen. Dazu sind einige Vorüberlegungen nötig. I

Für den historisch elusiven Allegoriebegriff sei das grundlegende rhetorische Modell semantischer Zwei- oder Mehrstufigkeit angesetzt, wie es Quintilian in der aliud-aliud-Formd zusammendrängt.5 Hinter einer literalen Textbedeutung entfaltet sich über die bezeichneten Dinge als Zeichen zweiter Ordnung die Zweitbedeutung. Dieser Rahmen ist für die diversen Allegoriekonzepte des Mittelalters, einschließlich mehrfachem Schriftsinn und Integumentum, festzuhalten.6 2

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Ihr Fortwirken auf Spätantike und Mittelalter ist umstritten. Diskussion der Forschung (besonders ERNST ROBERT CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern - München 71969, S. 116-137) und negatives Votum bei PETER DRONKE, Bernard Silvestris, Natura and Personification (Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 43, 1980, S. 16-31); anders PAUL PIEHLER, The Visionary Landscape. A Study in Medieval Allegory, London 1971, hier S. 54-62 [zu Alanus]. Vgl. KLAUS SALLMANN, Studien zum philosophischen Naturbegriff der Römer mit besonderer Berücksichtigung des Lukrez (Archiv für BegrifTsgeschichte 7,1962, S. 140-284). Vgl. SALLMANN (wie Anm. 2) S. 274-284. Patristische Belege bei ECONOMOU (wie Anm. 1) S. 54-58. Vgl. JON WHITMAN, Allegory. The Dynamics of an Ancient and Medieval Technique, Oxford 1987; zum Schwanken des Status der Personifikationen ebd. S. 14fT. passim. Institutio oratoria VIII 6,44ff. Vgl. CHRISTEL MEIER, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen (Frühmittelalterliche Studien 10,1976, S. l-69), S. 5f.

Die personifizierte Natur

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Er ist auch an der Basis neuerer literaturwissenschaftlicher Allegoriekonzepte zu postulieren. Auch wo das rhetorische Substitutionsmodell durch ein Interaktionsmodell abgelöst wird, nach dem nicht mehr eine erste Bedeutungsebene von einer zweiten ersetzt wird, sondern beide Ebenen verschmelzen und eine integrierte Sinnfigur erzeugen, muß doch zuerst die mehrstufige Verweisstruktur aufgebaut werden.7 Der Allegoriebegriff kann nach diesem Modell in eine allgemeine hermeneutische Kategorie fast aufgesogen werden, so daß er mit jedem >tieferenRosenroman Tristan
angeborenen< Kleider, die aus der Garderobe des Herzens kommen, die Tristan allein trägt: schoene site und lügende (5005 ), geziert und sichtbar gemacht durch gebare und gelaze (5003). 10

Man muß die doppelte Inspirationsquelle Gottfrieds als Endstufe und Erfüllung einer Reihe von Inspirationsinstanzen sehen. Jedem Zeitgenossen wird (mit Ausnahme des Ungenannten) eine heidnische beziehungsweise antike Inspirationsquelle zugewiesen (Hartmann: Apoll im Zeichen des Lorbeers; Blicker: die Feen; Veldeke: Pegasus; Reinmar: Orpheus; Walther: Venus). Für sich selbst beansprucht Gottfried antike und christliche Inspiration (Elicon: Apoll und die Musen - warer elicon). Zur doppelten Invokation: HERBERT KOLB, >Der wäre EliconDiu wäre wirtinne - der wäre ElicönExkurs< und Dichtung verschwimmt, und die Dichter funktionieren - auf qualitativ höherem Niveau, aber auf derselben Erzählebene - wie die allegorischen und mythischen Kleidermacher. Diese Verkettung von >Exkurs< und zeremoniellem Geschehen setzt sich auch in der reichen Metaphernsprache der Dichterschau fort, in der der Bildbereich des höfischen Zeremoniells eine prominente Stelle einnimmt. Die Minnesänger bilden ein gesinde, das einen eigenen Bannerträger hat, von dem sie ihre Anwei-

hochdeutschen Dichtungen (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 89) Zürich - München 1988, S. 80-85. Das häufige Vorkommen von bereiten in der Schwertleite registriert ein Hauptanliegen der Stelle. Vgl.: sit die gesellen sint bereit mit [...] richeit (4589f.); daz ich [...] Tristanden [...] bereite [...] ze siner swertleite (4592ff.); ine weiz, wie in bereite (4826); Wan kerte ich alle mine craft ze ritters bereitschaft (4929f.); wie er im al besunder ze wünsche und ze wunder bereite ein und ander (4947ff.); daz si Tristande sin gewant berihte unde bereite (4954 .); waz haete daz iht ander craft dan alse ich die geselleschaft Tristandes e bereite ze siner swertleite? (4961ff.);ya Vulkan und Cassander diu zwei bereiten ritter nie baz ze prise [...] (4972ff.); die nemen in ze handen, bereiten uns den werden man (4980f.); mit dem geziuge und mit dem snite, da sine reitgesellen mite so schone sint bereitet (4983ff.). Diese und andere Belege machen deutlich, daß bereiten für Gottfried, neben seinen normalen Bedeutungen, auch ein terminus technicus des Zeremoniells ist. Vgl. die Taufzeremonie Tristans: do was dem deinen kinde der heilege lauf bereit (1968 .); nu daz sin toufaere alles sines dinges was bereit (1974f.); die Jagd: hie mite so was der bast bereit (2920, vgl. auch 2870 und 2914); die Ritterweihe der Söhne Ruals: er hiez ime gewinnen schoeniu ros und edele wat, spise und anderen rat, des man ze hohgeziten pflit [...] nu was ouch Tristan bereit mit allen sinen dingen (5716ff.); die Waffenanlegung vor dem Moroltkampf: Nu daz Tristan ze vehte [...] wol und ze prise was bereit (6683ff.); den Klerus bei den Vorbereitungen zum Gottesurteil: bischove undprelaten, die daz ambet taten undsegenten daz gerihte, die waren ouch inrihte mit ir dinge bereit (15637ff.); den Einzug der Barone bei den Hochzeitsvorbereitungen Markes: [er befahl den Baronen] dazs [...] alle ze hove kaemen, als si im wol gezaemen ze siner brutleite. diz allez was bereite (12546ff.). Bei dem Empfang des am Markehof einkehrenden Rual wird auch klar, daß bereitschaft die für den Auftritt am Hofe angemessene Kleidung bezeichnet. Vgl. Tristan der nam in an die hant. sin bereitschaft unde sin gewant daz was, als ez do mohte sin: ein vilarmez rockelin (3993ff.).

Höfisches Fest und Hofästhetik in Gottfrieds >Tristan
Don Carlos< (III 7) mag nicht rein zufallig und essayistisch sein. König Philipp sucht einen neuen Träger des Ritterkreuzes des Ordens von Calatrava: Wer wird Nach ihm am würdigsten es tragen? [...] Herzog. Ihr seid mein erster Feldherr. Auch Gottfried wendet sich mit einer rhetorischen Frage an einen Rat, der nur seine Bestimmungen anzuhören hat: so gebet uns eteslichen rat! ein saelic man der spreche dar: wer leitet nu die lieben schar? wer wiset diz gesinde? [...] ir meisterinne kan ez wol, diu von der Vogelweide [...] diu sol ir leitaerinne sin (4794fT.). Beide treffen das Stilniveau und den souveränen Ton des Fürsten, der eine Gunstbezeigung zu erteilen hat. URSULA SCHULZE, Literarkritische Äußerungen im >Tristan< Gottfrieds von Straßburg (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 88, Tübingen 1967, S. 285-310). Vgl. PETER GANZ, Anmerkung in der Neuausgabe von BECHSTEINS Gottfried von Straßburg, Tristan, Bd. l (Deutsche Klassiker des Mittelalters, N. F. 4) Wiesbaden 1978, S. 346. FROMM (wie Anm. 8) S. 338, schlägt den Rahmen eines Sängerwettstreits als Grundidee der Passage vor.

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C. Stephen Jaeger

stehen wir ganz in der Gedanken- und Darstellungswelt des Festspieles, wo der Anlaß in verschiedenster Weise allegorisch-mythologisch überhöht wird, wo Götter und verkörperte Tugenden handelnd, vorbereitend, symbolisch kommentierend sich an Zeremonien beteiligen, die der zu begehenden ähneln. Der Text bietet also eine Reihe von Argumenten für die Interpretation des Exkurses als Teil der Zeremonie, als festspielartige Einlage zur Einführung und Erläuterung der Schwertleite. Die Stelle verhält sich zur Ritterschlagzeremonie als vorbereitendes Spiel zum gefeierten Fest. Jetzt fragen wir nach der Funktion einer derartig konzipierten Einlage. Hier müssen wir den zelebrierenden Aspekt des Festspiels hervorheben. Das Festspiel tendiert zu einem symbolischen Drama, das seine Thematik vom Festanlaß nimmt. Es liefert einen symbolischen Kommentar dazu. Das ist eine Funktion des Festspiels als eines historischen Phänomens, die im Lauf des späteren Mittelalters und der Renaissance immer deutlicher hervortritt. Bleiben wir aber bei der Frage nach dem Sinn von Gottfrieds Dichterschau als symbolischem Drama zur Zelebration von Tristans Ritterweihe. Hier geht es in der Hauptsache um Dichter und Dichtung und ihre Beurteilung, um das richtige Verhältnis von Wort und Sinn, um höfische Stilideale und Literaturästhetik. Die Gottfriedforschung hat zu Recht diesen Aspekt betont.15 Die ungeklärte Sinnverbindung von Dichterschau und Schwertleite wog nicht schwer, solange der Exkurs als mehr oder weniger isolierte und abgekapselte Aussage über die literarische Szene um 1200 gelten konnte. Aber das ist, wie ich hoffe nachgewiesen zu haben, eine unzulässig verkürzte Perspektive. Der Vergleich mit dem Triumphbogen und seiner Skulptur liegt wiederum nahe. Der Exkurs handelt von der Dichtung, geht aber auch darüber hinaus. Wenn die Ästhetik des Festspieles für die Dichterschau und Schwertleite irgend bestimmend war, dann muß das In-Beziehung-Setzen von Dichtern und Rittern einen programmatischen Wert haben. Der ethische Grundgedanke des Exkurses eröffnet uns, meines Erachtens, den Zugang zu der programmatischen Aussage. Weder Kleider, Waffen noch zier machen den vollkommenen Ritter aus, sondern erst die Ornate des edelen muotes, das, wodurch Tristan sich vor den anderen Gesellen auszeichnet: der eregire Tristan truoc sunderlichiu cleider an von gebare undgelaze gezieret uz der maze. er haete s'alle an schoenen siten unde an lugenden übersniten. (5001-5006) 15

Vgl. GANZ (wie Anm. 13) S. XXIVff.; INGRID HAHN, Zu Gottfrieds von Straßburg Literaturschau (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 96, 1967, S. 218-236); SCHULZE (wie Anm. 13); W. T. H. JACKSON, The Literary Views of Gottfried von Straßburg (Publications of the Modern Language Association 85, 1970, S. 9921001); JAMES MARCHAND, Tristan's >SchwertleiteTristan
Hofästhetik< beobachten, besonders deutlich im höfischen Zeremoniell und seiner Zelebration im Fest.28 Ein auffallendes Prinzip dieser Ästhetik ist Vielfalt und Durchdringung der Formen und Gattungen. Das Festspiel ist dramatisierte Allegorie,29 es bedient sich der Musik, der Dichtung, der Malerei, der Liturgie, des Hofzeremoniells. Wenn Lessings >Laokoon< in die Gesetze der Kunstgattungen Ordnung, Grenzen und Unterschiede eingeführt hat, so leistet eine Hofästhetik das Gegenteil: Sie verursacht ein Ausufern und Ineinanderflie26 27

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Erweiterte Diskussion und Argumentation bei BROWN - JAEGER (wie Anm. 1). Ein interessanter Versuch in diese Richtung bei ERICH KLEINSCHMIDT, Minnesang als höfisches Zeremonialhandeln (Archiv für Kulturgeschichte 58, 1976, S. 35-76). Vgl. auch C. STEPHEN JAEGER, L'Amour des rois: Structure sociale d'une forme de sensibilite aristocratique (Annales: Economies, Societe, Civilisations, Paris 1991, S. 547-571), sowie: Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter. Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild, hg. von ALBERT ZIMMERMANN (Miscellanea mediaevalia 8) Berlin - New York 1971. Das höfische Fest in historischen und literarischen Quellen, seine Ästhetik, seine historische Entwicklung als Parallele zur Entstehung der höfischen Literatur, wurde von der Forschung wenig beachtet. Für das Fest im Mittelalter gilt eine Bemerkung RICHARD ALEWYNS über das barocke Fest: »Die Geschichte des höfischen Festes, eines der glänzendsten Kapitel abendländischer Kulturgeschichte, wartet ungeschrieben und kaum gesehen der Auferstehung aus den Grüften unserer Archive und graphischen Sammlungen. Es fehlt nicht an der Sammlung und Katalogisierung dieser Schätze, aber es fehlt an jeder geistigen Ordnung und Deutung« (RICHARD ALEWYN - KARL SÄLZLE, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. Dokument und Deutung, Hamburg 1959, S. 16). Vgl. BUMKE (wie Anm. 6) S. 825: »Die literarischen Festbeschreibungen der höfischen Zeit sind noch nicht gesammelt und ausgewertet worden.« Das zu dieser Aufgabe erforderliche interdisziplinäre Können ist allerdings beachtlich, denn die ästhetische Grenzüberschreitung im Fest erfordert eine entsprechende fachliche Grenzüberschreitung vom Forscher. Literatur zum höfischen Fest: BUMKE (wie Anm. 6) S. 276-379, bibliographische Hinweise S. 825ff.; FLECKENSTEIN, Das Turnier als höfisches Fest (wie Anm. 17). Nützlich als Materialsammlungen sind die Studien von HEINZ BODENSOHN, Die Festschilderungen in der mittelhochdeutschen Dichtung (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 9) Berlin 1936; WOLFGANG MOHR, Mittelalterliche Feste und ihre Dichtung (Festschrift Klaus Ziegler, hg. von ECKEHARD CATHOLY - WINFRIED HELLMANN, Tübingen 1968, S. 37-60); ROSEMARIE MARQUARDT, Das höfische Fest im Spiegel der mittelhochdeutschen Dichtung (1140-1240) (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 449) Göppingen 1985. Nach Fertigstellung dieses Aufsatzes erschien: Das Fest, hg. von WALTER HAUG - RAINER WARNING (Poetik und Hermeneutik 14) München 1989. Louis ADRIAN MONTROSE, Celebration and Insinuation. Sir Philip Sidney and the Motives of Elizabethan Courtship (Renaissance Drama N.F. 8, 1977, S. 3-35), S. 7ff. MONTROSE kennzeichnet das Festspiel als >gelebte Allegorie< (S. 26).

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ßen der Formen, der Begriffe und der Gattungen. Alle Mittel werden eingesetzt, um der Sichtbarmachung der Repräsentationsimpulse zu dienen. Unter dem Einfluß der Hofästhetik dehnt sich der Anwendungsbereich der Formel ut pictura poesis weit aus; pictura läßt sich beliebig durch andere Kunstund Verhaltensformen ersetzen, etwa Gestik, Auftreten, Sprache und Kleidung. Hofästhetik will die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufheben.30 Das Leben soll in die Kunst, die Kunst in das Leben übergehen. Die Tendenz zur Fiktionalisierung der Lebensbereiche findet sich etwa in der Turnierpraxis und in anderen Artusnachahmungen des späteren Mittelalters und der Renaissance. Diese Tendenz erreicht einen Höhepunkt im Festspiel des Barock,31 das die verschiedensten Mittel verwendet, um den Anlaß ästhetisch zu überhöhen, und das durch das Auftreten und Mitspielen der Hofgesellschaft die Grenzen zwischen Leben und Kunst weitgehend aufhebt. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Zuordnung der Dichterschau zur Schwertleitezeremonie schärfere Konturen. Verschiedene Elemente der Stelle erscheinen deutlicher in ihrer zelebrierenden Funktion. Dies betrifft zum einen die gattungsmäßige Unbestimmbarkeit der Stelle. Allegorische und mythologische Gestalten umrahmen die Tätigkeit zeitgenössischer Dichter. Auf den bildhaften Charakter der Einkleidungsallegorie und Dichterschau hat zuerst Ingrid Hahn aufmerksam gemacht.32 Die reiche allegorische und metaphorische Sprache will >gesehenParnassus< in der vatikanischen Kammer Stanza della Segnatura überein. Auch hier ein großes Mittelbild mit zeitgenössischen und alten Dichtern, die auf der Suche nach Inspiration zum Helikon kommen, wo die neun Musen Apoll umringen. Der Dichtergott spielt die Leier und schaut nach oben; sein Blick lenkt den des Zuschauers auf

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Vgl. JOSEPH MAZZEO, Castiglione's Courtier. The Self as a Work of Art (ÜERS., Renaissance and Revolution. The Remaking of European Thought, New York 1965, S. 131160); MONTROSE (wie Anm. 29) S. 7ff. ALEWYN - SÄLZLE (wie Anm. 28). Vgl. auch die Beiträge in: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Bd. 2, hg. von AUGUST BÜCK u.a. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 9) Hamburg 1981, S. 347-431. H AHN (wie Anm. 15). JAEGER (wie Anm. 2) S. 139f.

Höfisches Fest und Hofästhetik in Gottfrieds >Tristan
inneren< Vorbereitung Tristans auf sich nimmt und dadurch den Ansatz zu ritters bereitschaft der anderen Epiker fortsetzt und vollendet. Gottfried und seine Zeitgenossen bereiten auf eine Zeremonie vor, die in der mythischen Vergangenheit der Handlung spielt. Die narrativen Zeitverhältnisse verschwimmen, die vier richeiten, Vulkan und Kassandra, Gottfried und seine Zeitgenossen - und Tristan und seine Gesellen - treten in demselben zeitlichen Rahmen zur Feier von Tristans Schwertleite auf. Daß eine stil- und dichtungsbezogene Revue der mittelhochdeutschen Dichter in die ethische Erziehung des vollkommenen Ritters einmünden soll - für meinen fiktiven Kritiker eine Inkonsequenz - läßt sich auf dem Hintergrund der Hofästhetik und des Festspielmodells eher verstehen. Eine Gemeinschaft von Künstlern/Handwerkern stellt sich selbst zur Feier eines bestimmten Festanlasses dar. Das ist uns bekannt aus den Festrepräsentationen der Zünfte im späteren Mittelalter. Die Fischhändler Londons etwa feiern den Sieg Edwards I. in der Schlacht zu Falkirk (1298), indem sie vier vergoldete Stöhre und vier versilberte Lachse bauen und in feierlichem Umzug durch die Stadt tragen. Sie begehen den Sieg every one accordyng to his crafted Gottfried zelebriert die Schwertleite Tristans, indem er die Zunft der Dichter bei ihrem Handwerk darstellt. Auch sie feiern die Schwertleite >ihrem Gewerbe nachVorbereitung< Tristans durch Gottfrieds Invokation ihre Verwirklichung im Moroltkampf findet. Die Konstellation der Kräfte, die Gottfried für sich beansprucht, und ihr Wirken haben die gleiche Struktur wie diejenigen, die Tristan zum Sieg verhelfen. Dichterschau und Musenanruf zeigen uns sozusagen das Schnittmuster; der Moroltkampf die an früherer Stelle geschneiderten >KleiderDer Dichter macht den RitterGesta episcoporum HalberstadensiumTristan< analoge Formen in der Wirklichkeit der höfischen Welt um 1200 gehabt haben muß. Auch bei weniger originellen Dichtern würde eine solche Perspektive die interpretatorischen Möglichkeiten unzulässig einengen, etwa wenn wir von Ulrichs von Lichtenstein Artusumzug verlangen würden, daß sich etwas Entsprechendes in der Wirklichkeit finden ließe. Dantes >Triumph der Beatrice< im >Purgatorio< bietet sich wieder 39

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Materials for the History of Thomas Becket, Archbishop of Canterbury, hg. von JAMES CRAIGIE ROBERTSON (Rolls Series 67,3) London 1877, S. 29fT.; Kommentar s. BROWN - JAEGER (wie Anm. 1). Vgl. PETER WAPNEWSKI, Die Weisen aus dem Morgenland auf der Magdeburger Weihnacht. Zu Walther von der Vogelweide 19,5 (ÖERS., Waz ist minne. Studien zur Mittelhochdeutschen Lyrik, München 1975, S. 155-180), BROWN - JAEGER (wie Anm. 1).

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zum Vergleich an. Der pomphafte Aufwand der dichterischen Festbeschreibung überbietet alles, was dem Dichter an klassischen und zeitgenössischen Modellen zur Verfügung stand. Ähnlich Gottfried. Bei ihm fällt der Vergleich von Vorbild und Ausführung immer wieder zugunsten der dichterischen Phantasie aus. Die Lorbeerkrönung eines Dichters war um 1200 so gut wie unbekannt;41 der doppelte Musenanruf, ansatzweise im 12. Jahrhundert vorhanden, hat seinen vollen Kontext im Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts gefunden.42 Das Fehlen von Vorbildern hat nicht verhindert, daß der Tristandichter diese Formen in einer Raffiniertheit ausbaut, die erst in der Renaissance ihresgleichen findet. Und solche Virtuosenstücke sind symptomatisch für eine konsequente Tendenz Gottfrieds, die dem historischen Entfaltungsprozeß ästhetischer Grundideen im europäischen Humanismus vorgreift. Im 15. und 16. Jahrhundert sollte der Inhalt der Dichterschau im >Tfistan< allegorische und mythische Figuren, Apoll und die Musen - Gemeingut des höfischen und städtischen Festspiels werden. Als Beispiel diene eine Festspieldekoration von Hans Holbein dem Jüngeren zum Geburtstag der englischen Königin Anne Boleyn. Sie stellt Apoll und die Musen dar.43 Die Götter der Dichtung zelebrieren den Geburtstag durch ihre zeitaufhebende, verewigende Funktion: Dichtung und Kunst machen die junge Königin unsterblich, und diese Aussage, dieses Programm, soll den am Geburtstag naheliegenden Vergänglichkeitsgedanken aufheben. Der festliche Kontext der Musendarstellung und die der Festspielästhetik verhaftete Sinnstruktur werden in Holbeins Zeichnung durch den Festzugsbogen, auf dem die mythischen Gestalten sitzen, sichtbar gemacht. Die Signale in Gottfrieds Dichterschau, die auf einen Ursprung in der Festspielästhetik hindeuten, sind sichtlich vorhanden, die höfische Zeremonie der Schwertleite ist die Bühne, auf der die Dichterschau spielt. Es lohnt sich, das Festspielmodell und das Moment der Zelebration einer Interpretation des Kontextes und der ästhetischen Voraussetzungen der Stelle zugrunde zu legen und sie eher als Schwertleitezelebration denn als literarkritische Abschweifung zu betrachten.

Diskussionsbericht Herr GRUBMÜLLER kritisierte die Verwischung von zwei Ebenen, indem die Vorbereitungen der Romanfiguren und des Dichters auf Tristans Schwertleite ineinandergeblendet worden seien. Die methodische Berechtigung dieses Verfahrens 41 42 43

Vgl. die in Anm. 13 genannte Literatur. Vgl. JAEGER (wie Anm. 2) S. 145f.; HUBER (wie Anm. 10) S. 81. HEINRICH ALFRED SCHMID, Hans Holbein der Jüngere. Sein Aufstieg zur Meisterschaft und sein englischer Stil, Basel 1945-1948. Zu Holbeins >Parnassus< s. Textband, S. 393 [Abbildung Tafelband, Abb. 73]. Auch zu >ParnassusTristan
FestspielFestspiek Erst die moderne Ästhetik ziehe scharfe Trennungslinien. Im Mittelpunkt stehe die Vergegenwärtigung eines Erziehungsprogramms in Metaphern aus dem Bildbereich der Kleidung, des Färbens und des Schneiderns. Herr MÜLLER betonte den Exkurscharakter der Dichteraufzählung im >TristanFestspiels< fragte Herr MÜLLER, ob solche Zeremonien historisch belegt seien. Herr JAEGER antwortete, die geschichtliche Erforschung von Einzug und Schwertleite stehe erst am Anfang (vgl. Anm. 28). Der Mangel an Forschungsarbeiten erlaube noch keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Gegebenheiten. Die Sicherung historischer Daten sei allerdings schwierig. Durch das Verschwinden von Dekorationen und anderen archäologischen Zeugnissen sei die Forschung fast ausschließlich auf schriftliche Nachrichten angewiesen, deren Bewertung unterschiedlich ausfallen könne. Als Beispiel nannte Herr JAEGER den Magdeburger Festzug vom Jahr 1199, der in der >Halberstädter Bischofschronik< beschrieben ist (vgl. S. 213). Die Frage sei, ob die symbolische Deutung dieses Festzugs durch Walther von der Vogelweide (19,5ff.) in der Verantwortung des Autors liege oder ob Walther im realen Festzug selbst angelegte Deutungsangebote aufgegriffen habe. Es gehe also um das Problem einer historischen Auswertung von Walthers Text. Dagegen wandte Herr HONEMANN grundsätzlich ein, die Magdeburger Weihnacht sei nicht repräsentativ, da hier der Einfluß der Liturgie auf die Festgestaltung berücksichtigt werden müsse. Herr JAFFE fragte, wie sich das im Vortrag entworfene Bild mit der Kritik am Höfischen im >Tristan< vereinbaren lasse. Herr JAEGER sagte dazu, eine ambivalente Darstellung, die mit Gottfrieds Stand als Kleriker zusammenhänge, sei möglich. Frau HAHN erläuterte an einigen Beispielen, daß die Verwendung des Motivs des höfischen Aufzugs in anderen Romanen keine Verweisfunktion erkennen lasse, so daß eine allegorische Ebene zuerst bei Gottfried, später auch bei Ulrich von Lichtenstein, greifbar wäre. Herr JAEGER unterstrich dies und fügte hinzu, die Praxis allegorischer >Festspiele< sei älter als ihre dichterische Umsetzung. Herr PALMER gab zu bedenken, ob nicht die behandelten Szenen selbst - wie andere festliche Aufzüge im >Tristan< - als Vorbereitung zum Hofzeremoniell anzusehen seien. Dabei seien auch die dem Literaturexkurs unmittelbar vorausgehenden Gespräche Tristans mit Rual und Marke mit in den Blick zu nehmen. Dazu sagte Herr JAEGER, die Dialoge seien nicht in diesem Sinn zu verstehen. Vorbereitungen in anderen Zusammenhängen seien jedoch insofern vergleichbar, als ein ästhetisierender Impuls von ihnen ausgehe. So werde beispielsweise in der Jagdszene durch die geordnete Zerteilung und Wiederherstellung des Hirsches Ordnung vorbereitet. Herr HUBER wies auf Brüche zwischen Dichterschau und Handlungsebene hin und betonte den Exkurscharakter der literarästhetischen Aussage. Die angesprochene Instanz der edelen herzen stelle darüber hinaus eine Verbindung zum Prolog

216

C. Stephen Jaeger

her. Zum anderen sei die allegorische Kleidung Tristans als Gegenentwurf zu gängigen Erzähl- und Beschreibungsformen zu verstehen. Tristan erhalte eine Ausstattung, die der der Gesellen ungeliche sei. Dies gehe aus den Versen 4986ff. hervor. Herr JAEGER entgegnete, dies habe er nicht ignoriert, sondern in eine weitere Perspektive gerückt. Durch die Dichterschau werde auch der Festanlaß kommentiert. Herr OHLY sagte, das grundsätzliche methodische Problem der Differenzierung von Lebens- und Dichtungswirklichkeit sei nicht gelöst. Gottfried zeige eine Vorliebe für Einzüge, Ordnungen und ähnliches, es bleibe jedoch offen, ob es >Festspiele< im 12. Jahrhundert tatsächlich gegeben habe.44 Mit Nachdruck sprach sich Herr OHLY dafür aus, es beim Terminus >Literaturexkurs< zu belassen. Die >Einbindung< des Exkurses erfolge dadurch, daß sich Gottfried explizit von üblichen Darstellungen distanziere. Gegenstand des Exkurses sei das Dichten, das in unterschiedlichen Metaphern umschrieben und beschrieben werde. Dem konnte Herr JAEGER nicht zustimmen. Der Nachweis historischer >Festspiele< habe in diesem Zusammenhang keine weitergehende Beweiskraft. Gottfried habe die Symbolstruktur einer festlichen Handlung aufgenommen, die in der Realität vereinzelt geblieben sein könne. Gegen die Auffassung der Dichterschau als Exkurs spreche die Einbettung in die Feier der Schwertleite.

44

Genannt wurden: ALWIN SCHULTZ, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger, 2 Bde., Leipzig 21889; BODENSOHN (wie Anm. 28); PETER WILLMES, Der Herrscher-Adventus im Kloster des Frühmittelalters (Münstersche Mittelalter-Schriften 22) München 1976; BUMKE (wie Anm. 6).

NIGEL F. PALMER

Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild von Magdeburg

Diese Untersuchung wird von einigen Beobachtungen zur lateinischen Übersetzung der Offenbarungen Mechthilds von Magdeburg ausgehen, um in einem zweiten Schritt mit bestimmten Fragen an den deutschen Text heranzutreten.1 Es gilt, vor allem den Fragen nach Mechthilds Konzeption ihrer Niederschriften als eines Buches und den literaturtheoretischen Implikationen dieser Konzeption nachzugehen.

1. Der Prolog der >Revelationes< Die lateinischen >Revelationes< (>Lux divinitatisRevelationesRevelationes< entspricht genau dem aristotelischen Schema: causa efficiens lauctor, causa materialisjmateria, causa formalis I modus agendi und causa ßnalis/ßnis, aber der unbekannte Autor verzichtet auf die neuen technischen Termini und damit auf die ihnen zugrunde liegende Lehre der causae. Wir haben es anscheinend mit einer Mischform zu tun, die neue Denkformen, die von der Pariser Universität ausgingen, mit den herkömmlichen Methoden kombiniert. Die Antworten auf die vier Fragen entsprechen durchaus der Tradition der Bibelexegese. Es ist bemerkenswert, daß nur die Trinität als Autor genannt wird, nicht auch Mechthild selbst. Nach der Literaturtheorie des 13. Jahrhunderts hätte sie durchaus neben dem göttlichen Autor als menschliche Autorin des Werks bezeichnet werden können.7 Auch an einer späteren Stelle des Prologs wird ihre Teilnahme an dem Mitteilungsprozeß der Offenbarungen deutlich eingeschränkt: Es ist von der Andacht und der Einfalt die Rede eius, per quam hec scriptura innotuit (Rev. 436, 26): derjenigen, durch welche diese Schrift bekannt wurdeGlossa ordinaria< belegt ist.8 Analog zu der bei Gilbertus bezeugten Formel Christus integer caput cum membris, womit die Kirche gemeint ist, heißt es für den anderen Aspekt der materia: Satanas cum corpore suo. Auch der modus agendi (mach dem Litteralsinn und allegorischdie Ordnung des gegenwärtigen Lebens, die nützliche Erinnerung an Vergangenes und die prophetische Andeutung zukünftiger DingeRevelationes< immer nur als Trägerin und als Medium der prophetischen Offenbarungen aufgefaßt. Das geschieht in vollkommener Übereinstimmung mit dem deutschen Text, in dem diese Konzeption ihrer Offenbarungen programmatisch formuliert wird: Alsust ist dis buch minnenklich von gotte harkomen vnd ist vs mensclichen sinnen nit genomen (IV 2; Morel, S. 95,22f.). Die lateinische Übersetzung gibt die Stelle wieder: Per hone uiam in caritate prodiit ex deo Über iste, nee humano sensu editus est uel intellectu (Rev. 441,33). Mechthild ist weder auctor noch >HerausgeberinAutor< der Apokalypse. Der locus dassicus für die Konzeption des Offenbarungsvorgangs bei der Johannesapokalypse steht in einem verbreiteten Prolog, der (vielleicht zu Unrecht) Gilbertus Porretanus zugeschrieben wurde: Reuelauit autem tota trinitas chrislo secundum humanitatem, christus uero iohanni per angelum, iohannes ecclesie, de qua reuelatione hunc librum composuit.u Die Offenbarung wird durch die Trinität initiiert, ebenso wie das in dem lateinischen Prolog der >Revelationes< für Mechthild in 9

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Sancti Gregorii Magni Homiliae in Hiezechihelem prophetam I l (CCSL 142, S. 5; PL 76, Sp. 786). Diese Angabe wird in der exegetischen Literatur immer wieder zitiert: zum Beispiel Cassiodorus, Expositio Psalmorum, Praefatio cap. l (PL 70, Sp. 12); Petrus Lombardus, Commentarium in Psalmos, Praefatio (PL 191, Sp. 59); Hugo von SaintCher, De prophetia (Theorie de la prophetie et philosophic de la connaissance aux environs de 1230. La Contribution d'Hugues de Saint-Cher, hg. von JEAN-PIERRE TORRELL [Spicilegium Sacrum Lovaniense. Etudes et documents 40] Löwen 1977, S. 7); Prefaces (wie Anm. 8) S. 111 [Gilbertus Porretanus, Psalmenkommentar], und S. 265 [Prolog zur Johannesapokalypse >Omnes qui pie uoluntHerausgabe< des Buches durch die Trinität verkürzt.12

2. Mechthilds Schreiber Wahrend der deutsche Text immer wieder berichtet, daß Mechthild das Buch auf Gottes Befehl eigenhändig niedergeschrieben habe, wird in dem lateinischen Vorwort der Einsiedler Handschrift und in der lateinischen Übersetzung daneben auch die Tätigkeit eines Schreibers hervorgehoben. Es besteht hier ein bemerkenswerter Unterschied in der Konzeption des Offenbarungs- und Rezeptionsvorgangs zwischen dem deutschen Originaltext und der lateinischen Übersetzung, auf den näher einzugehen ist. Das lateinische Vorwort der deutschen Fassung ist nur in der in Basel entstandenen Einsiedler Handschrift überliefert13 und berichtet von Mechthilds andächtigem Leben unter der Betreuung dominikanischer Ordensleute als von einem abgeschlossenen Zeitabschnitt: plus quam .xl. annos domino deuotissime seruiuit, sequens perfecte vestigia fratrum ordinis predicatorum, de die in dient semper proficiens, semper melior se fiebat (Morel, S. 1,6-8). Ob sich daraus schließen läßt, daß das Vorwort deswegen erst nach Mechthilds Tod anzusetzen ist, ist unsicher und umstritten.14 Das Inhaltsregister des lateinischen Vorworts bezieht sich nur auf die Bücher I bis V, die höchstwahrscheinlich in den fünfziger Jahren verfaßt wurden,15 was mit den Zeitangaben des ersten Abschnitts Anno domini m° cc° Ifere per annos xv (Morel, S. 1,2: 1250 bis etwa 1265) und plus quam .xl. annos domino deuotissime seruiuit (Morel, S. l,6f.: ca. 1220-1265) gut übereinstimmt und auf eine Entstehungszeit um oder kurz vor 1265 schlie12

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Die Verben conscribere, componere und edere beziehungsweise ihre deutschen Entsprechungen werden nie auf die Visionärin bezogen. Als einzige Ausnahme ist die mit Sicherheit recht junge Überschrift der Basler Handschrift A VIII 6 der >Revelationes< zu nennen, s. S. 224. Zu Gott als editor s. die lateinische Übersetzung der Stelle wer hat dis buch gemachet? (MOREL, S. 3,10): >Eia, Domine Deus, quis edidit librum istum?< - Et respondit Dominus: >Ego ipse in mea omnipotentia [lies impolentia] edidi, quia me in meis donis non prevaleo continere< (Rev. 445, 3-5). S. weiter III 1: das dise rede dinu kint müssen also vernemen, als du si, herre, in der rehten warheil hast vsgegeben (MoREL, S. 62, 3-5). Zu einer zweiten, heute verlorenen Handschrift aus der Bibliothek der Erfurter Kartause s. NEUMANN (wie Anm. 2) S. 31 f. [Nachdruck, S. 180, dort gekürzt]. PHILIPP STRAUCH, Kleine Beiträge zur Geschichte der deutschen Mystik (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 27 [N.F. 15], 1883, S. 368-381), S. 379f.; HUBERT STIERLING, Studien zu Mechthild von Magdeburg, Diss. Göttingen, Nürnberg 1907, S. 61; ALBERT HAUCK, Kleinigkeiten (Zeitschrift für Kirchengeschichte 32, 1911, S. 186-198), S. 188f.; JEANNE ANCELET-HUSTACHE, Mechtilde de Magdebourg (12071282). Etüde de psychologic religieuse, Paris 1926, S. 42f.; NEUMANN (wie Anm. 2) S. 30-36 [Nachdruck, S. 180-185]. Zur Datierung s. NEUMANN (wie Anm. 2) S. 44-58 [Nachdruck, S. 195-215], bes. zu V 34(ca. 1256-1260) und IV 27 (vom Jahr 1255), S. 50-54[Nachdruck, S. 204-209].

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Nigel F. Palmer

ßen lassen könnte. Während Philipp Strauch und Jeanne Ancelet-Hustache eine Zuschreibung des lateinischen Vorworts an den Dominikaner Heinrich von Halle in Betracht ziehen und es damit in der unmittelbaren Umgebung der Visionärin entstanden sein lassen, vertritt Hans Neumann die Meinung, daß es »kaum aus naher Vertrautheit mit den Lebensumständen der Begine geschrieben« ist.16 Der erste Abschnitt des lateinischen Vorworts schließt mit einer Angabe über den Dominikaner, der die Offenbarungen Mechthilds >geschrieben< haben soll: Conscriptus autem a quodam fratre predicti ordinis et continet multa bona, prout in titulisprenotatur (Morel, S. l, 8-10). Eine deutsche Übersetzung, die sich an das Einsiedler Vorwort gleich anschließt, gibt die Stelle ausführlicher wieder: Aber dis buch samente vnd schreib ein brüder des selben ordens [...] (Morel, S. 2,17f.).17 Die in der Forschung erwogenen Zweifel an der Zuverlässigkeit des Vorworts reichen zwar nicht aus, um den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht einzuschränken, aber es ist zu beachten, daß die Konzeption des Offenbarungsvorgangs hier eine andere ist als in dem deutschen Text selber. Die gleiche Vorstellung von göttlichen Offenbarungen an eine Visionärin, deren Visionsberichte und Niederschriften von einem klerikal ausgebildeten Schreiber zu einem Buch zusammengestellt und abgeschrieben werden,18 ist auch in den lateinischen >Revelationes< belegt. Die wichtigste Stelle steht in der Übersetzung des Kapitels V 12 (Wie got antwortet einem brüder von der scrift dis buches), in dem ein im deutschen Text sonst nicht erwähnter Meister Heinrich genannt wird, der sein Erstaunen - oder doch wohl eher seine Zweifel19 - ausgesprochen zu haben scheint über sumeliche [sin melicher Hs.] warten, die in disem buche gescriben sint (V 12; Morel, S. 140, l If.). Mechthild bekommt von Gott die Anleitung, auf das Pfingstwunder, als die aposteln kamen in also grosse künheit nach also grosser blodekeit, auf Moses auf Sinai (Ex 33,21-23) und auf die Rettung Susannahs durch Daniel als Parallelen zu ihren Erlebnissen hinzuweisen, um so die grundsätzliche Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung durch das Medium einer einfältigen Person zu beweisen.20 16

17 18

19

20

NEUMANN (wie Anm. 2) S. 32f. [Nachdruck, S. 180f.]. Es werden folgende Argumente genannt: 1. die Unbestimmtheit der Zeitangaben; 2. die Namen der Visionärin und ihres dominikanischen Amanuensis werden nicht erwähnt; 3. mangelhafte Latinität; 4. die Oberflächlichkeit und mangelhafte Durchführung des Sachregisters. Vgl. HAUCK (wie Anm. 14) S. 188f., mit ähnlicher Argumentation. STRAUCH (wie Anm. 14) S. 371, hält es für wahrscheinlich, daß die deutsche Übersetzung von Heinrich von Nördlingen hinzugefügt wurde. Diese Formulierung im Anschluß an die mit Sicherheit sekundär entstandene Formulierung der Einsiedler Handschrift: samente und schreib (MOREL, S. 2,18). Zum Bedeutungsspektrum von conscriptus (>zusammenschreibenniederschreibenabschreibenVisio S. Hil-

Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild

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Die lateinische Übersetzung nimmt hier eine Präzisierung vor und identifiziert den gelehrten Zweifler mit dem Lektor des Dominikanerklosters in Neuruppin, Heinrich von Halle, der Mechthilds Offenbarungen und Niederschriften redigiert haben soll:21 Defratre Heinrico lectore qui compilauit librum istum. Quintaparte .12. capitulo.22 Frater Heinricus, dictus de Haitis, lector Rupinensis, ammiratus de dictis et scriptis sororis Mehthildis tale ab ipsa recepit responsum: >Magister, uos miramini de scriptis meis; sedde vestraamirationeampliusego miror [.. .]Revelationes< aus dem späteren 15. Jahrhundert formuliert: Incipiunt capitula in librum qui dicitur >Lux diuinitatis< editus a quadam sancta puella virgine Mechtüdis nomine per diuinam graciam inspiralam, sedper fratrem Heinricum collectus est.24 Die Vorstellung, daß die Offenbarungen Gottes an einen Visionär oder eine Visionärin durch eine dritte Person niedergeschrieben werden, war wohl bekannt. Neben älteren Beispielen aus der Tradition der Jenseitsvisionen, in denen die Visionsberichte in der Regel sicut ab eius ore audivimus durch einen Kleriker aufgezeichnet wurden (zum Beispiel Gottschalk, Thurkill, Tnugdal, Owein25), sind als traditionsstiftend vor allem die Visionen der Elisabeth von Schönau zu nennen, deren Prolog die Angabe enthält, daß sie von dem Bruder der Visionärin Eckbert geschrieben wurden: Ego autem Eckebertus [...] conscripsi omnia hec, et aha, que de revelationibus eius leguntur.26 Teilweise wurden die Visionen jedoch zuerst von ihren Mitschwestern auf Wachstafeln aufgeschrieben.27 Die Fertigstellung der durch einen Herausgeber-Prolog förmlich eingeleiteten Buchausgabe von Elisabeths Visionen durch Eckbert von Schönau, wie sie in dem Werk selber (und nicht nur im Prolog) impliziert ist, entspricht ziemlich genau den Vorstellungen der dominikanischen Übersetzer und Herausgeber der Offenbarungen Mechthilds von Magdeburg. In dem deutschen Text ist nur an einer einzigen Stelle von einem Schreiber die Rede. Am Ende des zweiten Buchs steht eine Fürbitte für Mechthilds Schreiber: Eya herre, ich sufzen vnd gere vnd bitte für dinen schriber, der das buch na mir habe geschriben, das du im och wellist die gnade geben ze lone, die nie menschen wart geluhen, wan herre, diner gäbe ist tusent stunt me denne diner creaturen, die si mogent nemen. (II26; Morel, S. 53, 32-38) 23

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Vgl. FRIEDRICH OHLY, Wolframs Gebet an den Heiligen Geist im Eingang des >Willehalm< (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 91, 1961/1962, S. 137; wieder abgedruckt in: Wolfram von Eschenbach, hg. von HEINZ RUPP [Wege der Forschung 57] Darmstadt 1966, S. 455-509, Nachtrag S. 510-518), S. 30 [Nachdruck, S. 499] und Anm. 104; JOHN MARGETTS, Latein und Volkssprache bei Mechthild von Magdeburg (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 12,1977, S. 119-136). Basel, Öffentliche Bibliothek der Universität, A VIII6, fol. 99r. Diese Beispiele nach HEDWIG RÖCKELEIN, Otloh, Gottschalk, Tnugdal: Individuelle und kollektive Visionsmuster des Hochmittelalters (Europäische Hochschulschriften III 319) Frankfurt/M. - Bern -New York 1987,_S. 121-138; s. PETER DINZELBACHER, Revelationes (Typologie des sources du Moyen Äge occidental) Turnhout (im Druck), Kapitel IV. Die Visionen und Briefe der hl. Elisabeth sowie Schriften der Aebte Ekbert und Emecho von Schönau, hg. von F.W.E. ROTH, Brunn 21886, S. 1. Vgl. die Stelle: Ego autem signumfeci sororibus, ul allatis tabulis verba ista scripto exciperent. Non enim aliud quicquam loqui poteram, quousque omnia secundum narrationem meam conscripta sunt (167; ROTH [wie Anm. 26] S. 32f.).

Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild

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Gott antwortet und spricht jetzt von den Schreibern ihres Buchs in der Mehrzahl: Do sprach vnser herre: >Si hant es mit guldinen buchstaben geschriben, also sont allu disü wort des büches an irem obersten cleide stan eweklich offenbar in minem riche mit himmelschem luhtendem golde ob aller ir gezierde wesen geschribenIhr habt das Buch mit goldenen Buchstaben geschrieben [.. .].Herr, ich seufze und bitte für jeden Schreiber, der sich zu Deinem Werkzeug macht und dieses Buch nach meinem Hinscheiden [na mir] abschreiben wird.Revelationes< übersetzt: Et dixi ad Dominum: >O Domine, cum gemitu, cum desiderio peto pro scriptoribus qui hunc librum post me conscripserint, ut gratiam tuam eis in mercede confer as, qualem ad hue alius non accept t. In infinitum namque excedit donatio tua ualentem earn accipere.< Et respondit Dominus: > Aureis hec conscripsere litter is; idea cuncta uerba in meo regno eorum amictum, super omnem gloriam eorum asscripta, perpetuo decorabunt.< (Rev. 444, 6-15) 28

29 30

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STIERLING (wie Anm. 14) S. 88; NEUMANN (wie Anm. 2) S. 36 [Nachdruck, S. 185]; MARGOT SCHMIDT (Übers.), Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Mit einer Studie von HANS URS VON BALTHASAR (Menschen der Kirche in Zeugnis und Urkunde N.F. 3) Einsiedeln-Zürich-Köln 1955, S. 121 und Anm. 80 (S. 408). NEUMANN (wie Anm. 2) S. 36f. [Nachdruck, S. 186]. Auch sonst denkt Mechthild an das Fortbestehen ihrer Botschaft nach ihrem Tode: Ein warhaftigu vrowe vnd ein gut man, der sol dis büchelin lesen, der nach minem tode wolle gerne, vnd mag mit mir nit reden (VI 1; MOREL, S. 176, 34-36). So verstanden kann die handschriftliche Lesart ohne grundsätzliche Schwierigkeiten beibehalten werden. Der Übersetzer der >Revelationes< scheint den Text seiner Vorlage geglättet zu haben. Gedankensprünge dieser Art (vergleichbar etwa den unvermittelten Übergängen von indirekter in direkte Rede) können durchaus gattungsbedingt sein; vgl. NIGEL F. PALMER, Rezension von RINGLER (wie Anm. 19) (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 107, Tübingen 1985, S. 467-473), S. 472f.

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Nigel F. Palmer

Dieses Versprechen Gottes wird im Prolog der lateinischen Fassung nicht nur auf Abschreiber des Werks, sondern auch auf Leser bezogen: >So werden dann alle diejenigen, die dieses Buch abschreiben oder (vor)lesen, insofern sie es mit frommer Absicht tun, Mehrung des Trostes und der Gnade des Geistes erleben, wie es in diesem Buch von dem Herrn verheißen wird.Fließende Licht der Gottheit< auf die Vorstellung eines Schreibers als Amanuensis grundsätzlich verzichtet und diese Zutat der >Revelationes< als Kontamination durch ein anderes Offenbarungs- und Vermittlungsmodell erklärt, sollte man die Angaben der lateinischen Fassung zur Entstehungsgeschichte des Werks keineswegs als historisch falsch abqualifizieren. Vieles muß offenbleiben. Es geht hier eher darum, eine scharfe Trennungslinie zu zeichnen zwischen dem >literaturtheoretischen< Selbstverständnis von Mechthilds Werk und den Möglichkeiten, ihre schriftstellerische (!) Tätigkeit durch die Analyse von Einzelstellen im historischen Kontext zu beleuchten.

3. Die Visionärin als Instrument Gottes Mechthild ist von Gott aufgefordert worden, ihre Offenbarungen niederzuschreiben.33 Dabei handelt es sich um eine sunderliche gäbe,34 um die sie ebensowenig selber gebeten hat,35 wie sie ihre Erlebnisse auf eigenen Wunsch niederschreibt. Sie schreibt das Buch vsgottes herzen vndmunt (IV 2; Morel, S. 95, 21), das Werk ist aus Gott geflossen, das heißt gevlossen vs von der lebenden gotheit in Swester Mehtilden herze?** wie das auch in dem Titel des Werks thematisiert wird. Der Wahrnehmungsprozeß der Offenbarungen durch die Seele wird als bekantnisse (cognitio) bezeichnet. So wird eine Offenbarung über die Gottes32 33

34 35

36

Rev. 436, 12-15: s. oben S. 218. Zum Gedanken vgl. Apc 1,3: Beatus, qui legit, et audit verba propheüae huius: et servat ea, quae in ea scripta sunt: tempus enimprope est. III l (MOREL, S. 61, 23-27); V 32 (MOREL, S. 164, 11-17). Zum Motiv s. RINGLER (wie Anm. 19) S. 175-177; STAUBACH (wie Anm. 9) S. 312; Gertrud von Helfta, Legatus memorialis abundantiae divinae pietatis, I Prologus V (Gertrude d'Helfta, Oeuvres spirituelles, Bd. 2: Le Heraut [Bücher I und II], hg. von PIERRE DOYERE [Sources chretiennes 139] Paris 1968, S. 113f.). II 26 (MOREL, S. 53, 18); III l (MOREL, S. 63, 25f.); vgl. Rev. 443, 33 (speciale donum) und 509, 28 (specialis gratia). IV 2: Got ist selber des min vrkunde, das ich in nie bat mit willen noch mit geren, das er dise ding wolle mir geben die in disem buche sint geschriben. Ich gedahte es och nie, das es menschen mohte geschehen (MoREL, S. 91,11). VI 43 (MOREL, S. 215, 22f.). Die Schlußschrift VI 43 (Disü Schrift ist vs got gevlossen) wird von NEUMANN (wie Anm. 2) S. 65f. [Nachdruck, S. 221f.], und SCHMIDT (wie Anm. 28) S. 419, Anm. 389, einem Redaktor zugeschrieben; die Bezeichnung Swester weist nach NEUMANN, ebd. S. 39 [Nachdruck, S. 189], auf die Helftaer Zeit hin. Hinzu kommt, daß die Kapitelüberschrift für VI 43 im Kapitelverzeichnis des sechsten Buches nicht angeführt wird.

Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild

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minne kommentiert: Dis hat du bekantnisse vs dem ewigen buche geschriben (III 24; Morel, S. 89,34). Mechthild beklagt sich, daß die Offenbarungen so ungeheuerlich sind, das ich stum wirde, vurbas me ze sprechende, das ich bekenne (VI 41; Morel, S. 214, 30f.). Das Buch ist die Niederschrift dessen, was sie gesehen, gehört und am eigenen Leibe empfunden hat, ohne daß ihr eigener Gestaltungswille dazu beigetragen hätte: Ich enkan noch mag nit schriben, ich sehe es mit den ögen miner sele vnd höre es mit den oren mines ewigen geistes vnd beuinde es in allem [= allen] liden mines lichamen die kraft des heiligen geistes (IV 13; Morel, S. 107, 16-19). Das Buch wird durch die menschlichen Sinne empfunden, aber es ist vs mensclichen sinnen nitgenomen (IV 2; Morel, S. 95,23). Sie schämt sich wegen ihrer Einfältigkeit und Unwürdigkeit, daß Gott solch unerhörte Dinge durch ein tore, ein sündig vnd ein arm mensche (IV 2; Morel, S. 95, 4f.), durch ein snodez wip (IV 2; Morel, S. 95, 20) bekannt macht. Das führt dazu, daß sie mehrmals den Wunsch äußert, nicht mehr schreiben zu müssen,37 oder sich für unfähig hält, weiterzuschreiben (VI 41; Morel, S. 214, 28ff.). Das Spannungsverhältnis zwischen Hinfälligkeit und Gelehrsamkeit, das in den vielen Unfähigkeitsbeteuerungen thematisiert wird,38 hat die Funktion, das Selbstverständnis Mechthilds als Instrument Gottes hervorzuheben. Das gilt besonders für die berühmte Stelle: Nu gebristet mir tusches, des latines kan ich nit. So was hie gutes \gutes] anliget, das ist min schult nit, wan es wart nie hunt so böse, lokete im sin herre mit einer wissen simelen, er kerne vü gerne (II 3; Morel, S. 30, 1-4). Dieser Satz, dessen Anfangsworte in der lateinischen Übersetzung durchaus sinngemäß als Lingua mihi deficit, et latinum non cognosco (Rev. 473, 32) übersetzt werden, enthält keine programmatische Aussage über die Verwendung der Volkssprache.39 Es wird hingegen der Anspruch erhoben, daß Mechthild als göttlich inspirierte prophetissa zu sehen sei und in der Nachfolge des Psalmisten stehe.40 Os meum annuntiabit justitiam tuam: tota die salutare tuum. Quoniam non cognovi litteraturam, introibo in potentias Domini: Domine, memorabor justitiae tuae solius. Deus, docuistime ajuventute mea: et usque nuncpronuntiabo mirabilia tua. Et usque in senectam et senium: Deus, ne derelinguas me. (Ps 70, 15-18)41 37 38 39 40

41

VII 36. Das gleiche Motiv zum Beispiel bei Gertrud von Helfta (wie Anm. 33). Zum Beispiel VII 21: Ir wellent lere haben von mir, vnd ich selber vngeleret bin. Des ir ie gerent, das vindent irtusent valt in vweren buchen (MoREL, S. 237, 7f.). Dazu vor allem MARGETTS (wie Anm. 23). Vgl. das Motiv, daß die Visionärin die Unerhörtheit dessen, was sie gesehen hat, nicht selber beurteilen kann: Ich han da inne vngehortu ding gesehen, als mine bihter sagent, wan ich derschrift vngeleret bin (III1; MOREL, S. 56,36ff.). Zitiert nach dem Breviarium Romanum ex decreto ss. concilii Tridentini, Mechelen 1889, S. 84; moderne Vulgata-Ausgaben unterscheiden sich dadurch von dem in mittelalterlichen Psalterien und im Brevier enthaltenen Text des >Psalterium GallicanumDistinctiones Mauritii< s.v. >Liber< (ungedruckt, aber sehr verbreitet; zitiert nach: Oxford, Bodleian Library MS Bodl. 802, foil. 138V-139V); Dictionarium seu Repertorium morale Petri Berchorii Pictaviensis Ordinis divi Benedict!, Bd. 2, Venedig 1583, S. 401f: Liber Naturae, Scripturae, Divinus, Humanus; SCHREINER, S. 659 und Anm. 59 (Philipp der Kanzler, Predigt Nr. 111 über Rm 15,4; Hugo von Saint-Cher, Predigt Nr. 306 über Rm 15,4); RICHTER, S. 87-89 und Anm. 30. Zum Motiv: STAUBACH (wie Anm. 9) S. 310f. (unter anderem zu Mechthild von Hackeborn und Elisabeth von Schönau). MOREL, S. 3, 2-8 (meine Interpunktion). Am Rande: v über xxxiii jii liber xxvj / vi über in ende. Der letzte Satz, der in der Einsiedler Handschrift als ein Teil der Rede Gottes

Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild

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Die feierliche Einleitung mit dem Hinweis auf den zu befürchtenden Einsturz der christlichen Kirche läßt den eschatologischen Aspekt in den Vordergrund rücken. In dieser Endzeit schickt Gott dieses Buch als apostolische Botschaft an die gesamte Christenheit, um seine Geheimnisse prophetisch aufzudecken. Diese Sätze sind nicht mit Alois Haas auf Mechthild selber zu beziehen,52 - die Heimlichkeit, von der hier die Rede ist, ist nicht in einem besonderen Sinne auf die »sprachlich aktuierte Unio« bezogen, ebenso wie der Satz ez bezeichent alleine mich auf keinen Fall als demütige Einschränkung von Seiten der Visionärin aufzufassen ist.53 Es handelt sich deutlich um Aussagen Gottes über >sein< Buch, deren Zuschreibung in V 34 und II 26 klar aus dem Kontext hervorgeht und die hier als einleitendes Gotteswort an den Anfang des Werks gestellt sind. Diese Interpretation der Stelle stimmt genau mit dem Textverständnis des lateinischen Übersetzers überein: De nomine et perpetuitate huius libri. Deuote suscipiendus est liber iste de quo sic loquitur deus: >Hunc librum omnibus religiosis, qui columpne sunt ecclesie, tanquam nuntium et legatum dingo. Nam cum columpne nutant et corruunt, non ualet subsistere supereminens hiis structura. Solum me notiflcat hec scrip tura, proditque secreta mea abdita et obscura. (Rev. 444, 28-445,1)

Das Buch wird seiner Konzeption gemäß durch ein Gotteswort eingeleitet, und es wird daher erst in dem folgenden Dialog zwischen der Seele und Gott auf die Visionärin selber Bezug genommen. Auch hier wird das Buch nicht als etwas Menschliches angesehen, sondern als ein Produkt der an den Menschen gerichteten Gnade Gottes: Die sele: >Eya, herre got, wer hat dis buch gemachet?< - Got: >Ich han es gemachet an miner \nmaht, wan ich mich an miner gäbe nut enthalten mag< (Morel, S. 3, 10-12). Auch das lateinische Vorwort, das mit einer Inhalts-

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zu betrachten ist, fehlt in den >Revelationes< und dürfte nach NEUMANN (wie Anm. 2) S. 34 [Nachdruck, S. 182 ], erst um die Mitte des 14. Jahrhunderts im Umkreis Heinrichs von Nördlingen hinzugefügt worden sein. ALOIS M. HAAS, Mechthild von Magdeburg - Dichtung und Mystik (ÖERS., Sermo mysticus [wie Anm. 42], S. 67-103), S. 78 f.; s. weiter DERS., Deutsche Mystik (Die deutsche Literatur im späten Mittelalter 1250-1370, Teil 2: Reimpaargedichte, Drama, Prosa, hg. von INGEBORG GLIER [HELMUT DE BOOR - RICHARD NEWALD, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart 3,2] München 1987, S. 234-305), S. 248. Vgl. MARGOT SCHMIDT, Elemente der Schau bei Mechthild von Magdeburg und Mechthild von Hackeborn. Zur Bedeutung der geistlichen Sinne (Frauenmystik im Mittelalter, hg. von PETER DINZELBACHER - DIETER R. BAUER, Ostfildern bei Stuttgart 1985, S. 123-151), S. 124. Genau die gleichen Probleme haften der anderen Kernstelle an, auf die HAAS, Mechthild (wie Anm. 52) S. 79, seine Erörterung des Verhältnisses zwischen sprechendem Subjekt und Gesprächsinhalt bei Mechthild begründet: Ich müs mich selber melden, sol ich gotz gute werlich mögen verbringen [>hervorbringenhineinfließtErlösung < bezeichne sich als Schreibrohr Gottes. Herr PALMER wies auf die Randvermerke >Gottes Wort< in der Einsiedler Handschrift des fließenden Lichts der Gottheit< hin. Der Kodex sei als reliquienähnliche Kostbarkeit betrachtet und im monatlichen Turnus unter den Schwesternhäusern im Hochtal von Einsiedeln zur Lektüre weitergereicht worden. Frau MEIER-STAUBACH akzentuierte Verbindungen zwischen den Visionärinnen des 12. (Hildegard von Bingen; Elisabeth von Schönau) und 13. Jahrhunderts. Bei Hildegard von Bingen werde die Prophetin zur Vermittlerin, gleichsam zur inkorporierten Idee. Ziel sei die Neuverkündung der apostolischen Botschaft auf der Grundlage von 54

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Zur Stelle s. NEUMANN (wie Anm. 2) S. 32. Der Schluß dieser Stelle (nach inauditis) wird in dem Erfurter Bibliothekskatalog (s. Anm. 13) nicht erwähnt und könnte ein Zusatz der Basler-Einsiedler Überlieferung sein. Während der Drucklegung erschien der Aufsatz von EBERHARD NELLMANN, Dis buch ... bezeichent alleine mich. Zum Prolog von Mechthilds fließendem Licht der Gottheit< (Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit, Festschrift Heinz Rupp, hg. von RÜDIGER SCHNELL, Bern - Stuttgart 1989, S. 200-205), dessen Ergebnisse mit der von mir vorgeschlagenen Interpretation von MOREL, S. 3, 2-8 (oben S. 232fT.) genau übereinstimmen. Vgl.Anm.49.

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Prophetic und Bibel angesichts einer durch ihre Amtsträger korrumpierten Kirche. Mechthild zeige jedoch individuellere Züge. Die Frage, ob über einzelne Vergleichspunkte hinaus Abhängigkeiten von Hildegard begründbar seien, bejahte Herr PALMER für Elisabeth von Schönau. Was Mechthild betreffe, so habe er im Referat, von der lateinischen Übersetzung ausgehend, einen anderen Zugriff gewählt. Herr GRUBMÜLLER sah in der Selbstinszenierung der Autorinnen als Medium ein Kennzeichen frauenmystischer Literatur im Mittelalter und führte dies am Beispiel Gertruds von Helfta >botle der gütlichen miltekeiK näher aus. In diesem Zusammenhang sei der Begriff der Heimlichkeit von zentraler Bedeutung und, davon abhängig, die Interpretation des Proömiums zum ersten Buch des fließenden Lichts der GottheitOdyssee< das Wissen der Sirenen (XII 184ff.), bei Hesiod dasjenige der Musen (>Theogonica< 40ff.), bei Cicero präzisiere er den Unterschied zwischen tierischer Wahrnehmung und menschlichem Wissen (>De officiis< I 11). Auf diese Formel göttlichen Wissens hätten sich in der Neuzeit zum Beispiel Schiller (>Die Sendung des MosesDas verschleierte Bild zu SaisKritik der Urteilskraft § 49 Anm.) und Novalis (>Die Lehrlinge zu SaisRheinischen Marienlob
Rheinische Marienlob< bezeichnen.1 Dieser Preis der Gottesmutter beginnt ungewöhnlich, mit dem Worte Ich. Gemeint ist mit diesem Ich das Buch: >Ich bin geschrieben zu deinem Lobe Rheinischen Marienlobes< auch nur flüchtig liest, wird bemerken, daß hier auf Schritt und Tritt, auf fast jeder Seite des Textes ein literarisches Ich erscheint. Dabei ist zu beachten, wer mit diesem Ich bezeichnet wird. Neben dem Ich, das das Buch meint (und das nur im Prolog des Werkes auftritt), läßt der Autor mehrfach den Gegenstand seiner Verehrung, die Gottesmutter, sprechen. Sie trägt bei der Darstellung der Passion Christi eine umfangreiche Klage vor (24,32 - 35,24): Höret mine clage in diseme dage engele inde lute [...], und späterhin belehrt dann Maria ihren Diener, den Autor, in ausführlicher Rede (96,35 - 109,12): Ich sal dich leren getrue knecht. dal ich dich lere dot is recht. Ich sal dich leren mine heimlicheit. (96,35-37)

Zuvörderst aber ist es das literarische Ich des Autors, das Erzähler-Ich (das man an manchen Stellen geradezu als lyrisches Ich bezeichnen möchte), das im >Rheinischen Marienlob< ständig gegenwärtig ist. In mehr als 200 Selbstnennungen, in fast aufdringlicher Häufigkeit also, läßt dieses Ich den Leser wissen, was es selbst gerade tut, worunter es leidet, was es an früherer Stelle oder in einem anderen Werk mitgeteilt hat und so weiter. Sieht man sich die Äußerungen dieses Ichs genauer an, dann ergibt sich ein zunächst verwirrendes, in sich widerZum Werk siehe jetzt zusammenfassend: VOLKER HONEMANN, >Rheinisches Marienlotx (Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 8, Berlin - New York 1990, 1. Lieferung, Sp. 33-37). - Den Text zitiere ich mit Seite und Zeile nach der Ausgabe von WILHELM GRIMM, Marienlieder (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 10,1856, S. 1-142).

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sprüchliches Bild. Hinter diesem Ich verbirgt sich einerseits der arme knecht (12,13), der demütige, unwürdige Diener Mariens, der ganz und gar auf ihre Gnade angewiesen ist: ich, din [arme] knecht - so bezeichnet er sich mehrfach (15,13; 96,35; 132,38; 133,3)zu dineme hercen sal ich hoffen. du bit mir so wat du wolt. min herce sal dir sin imer holt. Ich werde uerdriuen of entfangen. ich muz imer an dir hangen [...} dinen knecht nit enuerdrif. (12,18-25)

Andererseits aber bezeichnet dieses Ich auch den einfühlsamen Begleiter der Maria, der sich bemüht, ihre Handlungen und deren Motive zu verstehen, der, im Text oft eingeleitet durch ein ich wenen (zum Beispiel 21,3; 24,32; 66,19), selbst ihre Gefühle deutet. Zusammen mit Maria will dieses Ich godes schalere sein (13,25); wenn es die Wunden ihres Herzens beschreibt, so empfindet es dabei selbst große Bitternis: Alse ich gewisen dines hercen wnden. so haue ich dine bittercheit wale ttunden (19,28f.). Dieses Ich steht dann Maria im Leid so nahe, daß es sich in ein Wir verwandelt: Es wird zum Begleiter Mariens unter das Kreuz Christi, es will sein Herz mit dem der Gottesmutter vereinen: ich sal min herce an dot din leinen (22,8), und zusammen mit ihr trauern: wir sulen dan samen uan truricheide sagen (22,9), wir wollen gehen und Jesus beistehen, wir wollen ihm helfen, sein Kreuz zu tragen. Fast fordernd kann dieses Ich dann Maria bitten, nicht so schnell zu laufen, da es selbst - erdenschwer - sonst nicht folgen könne (23,20). Geradezu überlegen kündigt das Ich dabei an, es werde uch beide, dich in on - also Jesus und Maria, beklagen (22,10). Als Lohn für sein Mit-Leiden fordert dieses Ich dann, auch an Mariens Freuden teilhaben zu dürfen: ich hon geclaget inde geweinet, bit dir. urowede inde blitschaf gif och mir. la mich genizen miner truen. (36, l - 3)

Nur wenige Verse später aber verwandelt sich dieses Ich - in teils autobiographischer Wendung - in einen unwirdich prister und sundich man, der an sich ni nit gudes [...] enuant, der mit unreiner hant, mit einem uuel [...] dot herce die Eucharistie spendet (39, 35ff.), der angesichts der eigenen Sündhaftigkeit von unendlicher Trauer erfüllt ist, er, der sundigeste man, wie er sich später bezeichnet (81,34). Und wieder ein anderer Aspekt dieses Ichs tritt zutage, wenn dieses als Verfasser des >Rheinischen Marienlobes< auftritt, als Ich, das Maria mehrfach um Unterstützung bei seiner schwierigen Arbeit bittet, das wiederholt seine Unzulänglichkeit, ja vollständige Unfähigkeit betont, dieses schwere Werk auf sich zu nehmen (2,21ff.; 15,5ff.; 121,38ff.). Später aber zeigt sich dieses Ich dann als der überlegen planende, gewissermaßen professionelle Autor, der fast ungeduldig bemerkt, dieses oder jenes brauche er nun wahrhaftig nicht noch einmal zu er-

Das Bild des Autors im ^Rheinischen Marienlob
Belegen< aus der Heiligen Schrift langweilen will (122,11 und 17f.) und der sich dann wieder seinem Thema gegenüber unzulänglich glaubt, was er sowohl in topischen Wendungen auszudrücken weiß, wie er auch, erfüllt von tiefer Marienminne, erklären kann, erst wenn sein sin von Gott erleuchtet werde, dann könne er wnder van dir schriven (128, 29-31), er, der zu Beginn formuliert hatte: Ich was die uedere. inde du schriues (15,23; siehe auch 15,29) - denn er habe Mariens lofouch anderwa geschriuen (15,15). Daß dieses Ich dann im Verlauf des Werkes von Maria fordern kann: >Lege dein Herz in meinen Leib, damit ich wie du brennend und trunken werde< (40, 30-34), und daß es von Maria auserwählt wird, ihre tiefsten Geheimnisse zu schauen, wird nach dem, was bisher über dieses Ich zu berichten war, nicht überraschen. Tiefes Bewußtsein der Sündhaftigkeit und Unfähigkeit - aber auch stolzes Betonen der Auserwählung; Erkenntnis, daß die eigenen literarischen Fähigkeiten für die große Aufgabe des Marienpreises viel zu gering sind - aber auch souveränes Umgehen mit den Techniken der Literatur; der Dürre des eigenen Herzens sich nur allzu bewußt und über seine Unwürdigkeit verzweifelt - aber mit Maria, der Mutter des Erlösers, in höchst vertraulicher, auf uns oft geradezu anbiedernd wirkende Weise sprechend und verkehrend: All dies schließt der Autor des >Rheinischen Marienlobes< in das Ich ein, das in seinem Werk andauernd zur Stelle ist, das neben Maria - die zu preisen doch angeblich das alleinige Ziel des Werkes ist - geradezu zum >Personal< dieses Stückes gehört, so daß man sich fragen könnte, ob hier eigentlich vor allem Maria gepriesen oder der Urheber ihres Lobes getröstet und aus seiner Sündhaftigkeit zu ihr emporgezogen werden solle, was eine der Vision nahe Passage des Werkes (89,15ff.) auch beschreibt. Liest man so das >Rheinische Marienlob< gewissermaßen einmal >gegen den Strich< und vergißt den - modernen - Titel und die literaturgeschichtliche Einordnung, dann tritt ein in mehrfacher Hinsicht überraschender Sachverhalt zutage. Zum einen scheint das Autoren-Ich, wie es hier vereinfacht genannt sei, sich permanent und ungebührlich vorzudrängen und ständig vom selbsterklärten Thema abzulenken, und zum anderen scheinen die Beziehungen dieses Ichs zu Maria überaus wechselhaft zu sein, ja man könnte meinen, daß das AutorenIch in mehrere, miteinander in Widerstreit liegende, sich mitunter geradezu gegenseitig negierende Ichs zerfällt. Die nicht ganz schmale Forschung zum Rheinischen Marienlob< hat diese irritierende Eigenart des Werkes bisher kaum bemerkt. Der jüngste Beitrag zum Thema, Roswitha Wisniewskis Aufsatz von 1977, beschreibt zwar recht ausführlich, mit vielen Zitaten die »besondere Beziehung des Dichters zu Maria«,2 verzichtet aber auf eine genauere Analyse der liROSWITHA WISNIEWSKI, Das Niederrheinische Marienlob, Verfasserschaft - geistige Haltung - Beziehungen zum Minnesang (Geist und Zeichen. Festschrift Arthur Henkel, hg. von HERBERT ANTON - BERNHARD GAJEK - PETER PFAFF, Heidelberg 1977, S. 469-482), hier S. 470.

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terarischen Gestaltung dieser Beziehungen. Die Verfasserin konstatiert lediglich, daß »der Dichter offenbar den Inhalt seines Werkes als Privatoffenbarung«3 empfinde; »große Teile der Dichtung« erweckten den Eindruck, als seien sie »unmittelbar in der visionären Entrückung geschrieben«.4 Dies läßt sich durch den Text des >Marienlobes< nicht stützen. Zwar trifft zu, daß eine Passage des Werkes als Beschreibung eines visionsartigen Erlebnisses gelten kann (89,15ff.), aber insgesamt herrscht ein Ton zwar inniger, aber doch durchaus irdischer Anteilnahme vor, wobei ich von den langen, verstandesmäßig-ausgeklügelten Passagen des Vergleiches Mariens mit den einzelnen Engelchören ganz absehe. Die Eigenart der literarischen Gestaltung des Ichs im >Rheinischen Marienlob< kommt so nicht in den Blick. Dabei hatte schon Gesine Taubert in ihrer Dissertation aus dem Jahre 1949 (Zur Metrik des >Rheinischen MarienlobesMarienlobes< auffaßt. In der von Frau Wisniewski benützten, sehr stark normalisierenden Fassung Adolf Bachs6 - sie läßt ganze Wörter aus und ergänzt angeblich fehlende - tritt dieses Ich zwar an einer Reihe von Stellen noch deutlicher hervor als in dem weitgehend diplomatischen Abdruck Wilhelm Grimms, den ich zugrundegelegt habe. Insgesamt aber wird durch Bachs Eingriffe der »sehr persönliche Stil des Verfassers objektiviert, indem Präpositionen oder Konjunktionen betont werden, die lediglich der grammatische Satzzusammenhang erfordert«.7 Gesine Tauberts Beobachtungen deuten - einmal mehr - daraufhin, daß wir es beim Verfasser des >Rheinischen Marienlobes< mit einem sich seiner Fähigkeiten und Mittel genau bewußten, demgemäß auch überlegt planenden Autor zu tun haben. Hierauf hinzuweisen ist wichtig, weil der Ton des Werkes fast durchgehend fromm-naiv, gewissermaßen un-literarisch anmutet. Liest man längere Passagen des Textes hintereinander, so ist es schwer, sich diesem geradezu einlullenden Ton zu entziehen. Dies und die eingangs referierten Beobachtungen lassen es als sinnvoll erscheinen, sich genauer mit dem literarischen Bild des Autors im >Rheinischen Marienlob< zu beschäftigen. Dabei stellt sich die Frage, wie die eingangs aufgezeigten inneren Widersprüche dieses Bildes zu erklären sind und welche Bedeutung dies für das Werkganze hat. Was die Frage nach den inneren Widersprüchen des Autorenbildes angeht, so lautet meine These, daß es dem Verfasser des > Rheinischen Marienlobes< nicht 3 4

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Ebd. S. 470. Ebd. S. 471. GESINE TAUBERT, Zur Metrik des >Rheinischen MarienlobesRheinischen Marienlob
Rheinischen Marienlobes< liegt natürlich darin, Maria zu preisen, ihrer Verehrung Ausdruck zu geben und sie zu fördern. Dieses Ziel glaubt der Autor am besten dadurch zu erreichen, daß er der Gottesmutter ein sehr komplexes Ich gegenüberstellt, das durch seine Differenziertheit mehr über Maria mitzuteilen vermag als der einfältige Mariendiener es könnte. Weil diese Differenzierungen des Ichs sich nicht zu einer in sich >schlüssigen< literarischen Gestalt zusammenfügen, weil sie sich beispielsweise weder auf eine - weit ausgebaute - Erzählerrolle noch auf die des inspirierten Autors reduzieren lassen, spreche ich von einem Autoren-Bild, einem Bild, das, wie mittelalterliche Gemälde, ein und dieselbe Figur in verschiedenen Szenen, man könnte sagen: verschiedenen Befindlichkeiten, vorführt. Die in diesem Ich verkörperten Grundmöglichkeiten menschlichen Umgangs mit Maria lassen sich folgendermaßen charakterisieren: Als erste, am leichtesten zu bestimmende ist die des Verfassers zu nennen. In ihr stellt der Autor auf einer >historischen< Ebene den Literaten dar, der sich vorgenommen hat, einen Marienpreis zu schreiben. Dieses Ich hat außerdem eine autobiographische Komponente, die des unwürdigen Priesters, der anscheinend eine Gemeinschaft geistlich lebender Frauen zu betreuen hat, als deren Sprachrohr er sich mehrmals - freilich undeutlich - zu erkennen gibt (vgl. 63,12 und 74,34ff.). Wie schon angedeutet, fixiert der Verfasser des > Rheinischen Marienlobes< neben der Mittellage, die hier als die des sich seiner Schwäche, seiner geringen literarischen Bildung bewußten Autors zu bestimmen wäre, auch die Extreme. Dementsprechend finden sich neben den üblichen, konventionalisierten Bescheidenheitstopoi (etwa: sein Werk dünke ihn angesichts der Heiligkeit Mariens alce deine, 132,34) Stellen, an denen er sich jegliche Eignung zu seiner Aufgabe abspricht (8,5), aber auch Passagen, wo er - höchst selbstbewußt - erklärt, er habe eine bestimmte Lehre nun wahrhaftig redeliche beweret (120,25f., vgl. weiterhin 93,4f.; 116,5; 116,28; 119,16; 121,17: Ich han och gegeven da uüre eine lere; 128,24), oder er habe etwas bewiset (66,33). Die Qualität seiner Leistung als Verfasser eines Marienlobes hängt dabei dies formuliert der Autor mehrfach - ganz davon ab, in welchem Maße er von

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Maria inspiriert wird. In der hierfür zentralen Passage 15,5-30 bittet er zunächst um Belehrung (lere mich louen dinen nameri), erklärt dann, er habe Mariens lofouch anderwa geschriuen (15,15), doch sei dieser Preis seitens der Gottesmutter ohne Reaktion geblieben (ei were it in dienern herce bliuen, 15,16). Damals sei er die Feder gewesen, Maria selbst habe ihr Lob durch ihn von Anfang bis Ende geschrieben. Genauso soll nun die edele wise schriuerinne Maria sitce[n] gare in mine sinne suze geruche bit miner hant schritten (15,27-29). Diese Bitte um Inspiration - daß sie topisch ist, tut hier nichts zur Sache - wird von Maria aber im Voranschreiten des Werkes in höchst unterschiedlichem Maße erfüllt. Sie erreicht ihr Ziel da, wo Maria den Autor in ihrer eigenen Rede (96,35 109,12) über ihre heimlichen unterrichtet, und zwar sowohl über die andernorts bereits niedergeschriebene wie die bisher noch nie aufgezeichnete (96,35-40). Insgesamt ergibt sich hier ein spannungsreiches Verhältnis zwischen dem Verfasser und dem Gegenstand seines Werkes, dem Preis der Maria, indem Bekundungen der Unwissenheit mit neugierigen Fragen (zum Beispiel 94,37ff., nach den Gedanken der Maria), das Bewußtsein, ein auserwählter, von Maria begnadeter Autor zu sein, mit dem geradezu kleinmütig-verzweifelten Eingeständnis der eigenen Schwäche (111,2) wechseln. Dabei bleibt die unmittelbare Unterrichtung des Verfassers durch Maria punktuell; am Ende des oben zitierten Abschnittes erklärt Maria, sie habe geholfen, want ich sach du begundes arbeiden. wie du genüge wort mochtes hauen, dat ich üuer seraßn si erhauen (109,8-10). Bald darauf muß der Verfasser wiederum bitten: Ei suze nu hilp mir dine [!] arbeit en&n (l 18,29). Die zweite vom Autor des >Rheinischen Marienlobes< dargestellte Möglichkeit läßt sich als die bezeichnen, an der alle Menschen teilhaben. Es ist die des Sünders, der im Bewußtsein seiner ungeheuren Nichtigkeit und Verderbtheit aufblickt zu der, die in ganz besonderem Maße Zugang zum Allerhöchsten besitzt, zu Gott, dem der Sünder sich direkt und ungeschützt nicht zu nahen wagt. Auch dieser Entwurf wird vom Verfasser des >Marienlobes< ergänzt durch eine autobiographische Komponente. Als so sündig stellt sich der Verfasser dar, daß er nur aus Gnade weiterhin Priester sein darf (vgl. 39,35ff.). An vielen anderen Stellen des Werkes tritt in diesem Bereich an die Stelle des >Ichs< ein >WirMarienlobesRheinischen Marienlob
Rheinischen MarienlobLeg dein Herz in meinen Leib, damit ich wie du brennend und trunken werde< (40,30-34). Die letzte Ausgestaltung des Ichs, die der Verfasser des >Rheinischen Marienlobes< seinen Lesern vorführt, ist eine intentional jenseitige. Dieses Ich hat Gemeinschaft mit Maria, ist mit ihr godes schalere (13,25), ist von Maria auserwählt, an ihren Leiden und - in geringerem Maße - an ihren Freuden teilzuhaben, und wird von ihr eingeweiht in ihre Geheimnisse. Worum das Ich des vorhergehenden Status immer inständiger gebeten hatte, das wird dem Ich dieser vierten und letzten Stufe (wenn wir sie einmal so nennen wollen) nun für Augenblicke, die aber im literarischen Vollzug zu ganzen Passagen ausgeweitet sind, als beseligende, in hymnischem Ton gepriesene Erfahrung zuteil. Es darf Maria unter das Kreuz begleiten, es versetzt sich immer stärker in Maria hinein, bis es schließlich, von Maria bit [der] hont (89,17) genommen und durch das Land der Engel geführt wird. Dieses Ich ist nun, in aller Demut, Maria geradezu ebenbürtig: gifmirgude, dat ich dirgeue (89,13), heißt es nun, und was ihm gegeben wird, ist die Schau der Engel und vor allem der Himmelskönigin Maria. Es ist eine Schau, die das Ich überwältigt:

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Hier ist die Abgrenzung gegenüber der Verfasserrolle nicht immer einwandfrei möglich.

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Volker Honemann want dine clarheit si is so groz. in dere Hue sich got besloz. dot mine ouchen sich muzen erueren. (89,31-33)

Und schließlich - die Gefährdung der Augen wird außer acht gelassen - die Erfüllung: groz wnder, groz wnder begrifet mich, alse ich besin inde prüuen dich (91,13). Dem ganz entsprechend läßt dann Maria dieses Ich auch teilhaben an denjenigen ihrer Geheimnisse, die nicht >in den Büchern aufgeschrieben sindRheinischen Marienlobes< darin liegt, daß er ein Ich in sein Werk einführt, dem er verschiedene Formen und Möglichkeiten des Verhältnisses zu Maria zuweist beziehungsweise sie an den verschiedenen Ausfaltungen dieses Ichs vorführt. Diese Binnendifferenzierung des Ichs in vier verschiedene Möglichkeiten stellt, zusammengesehen, nichts weniger als eine Summe der Arten dar, Maria zu verehren, sie zu loben und zu preisen. Diese Möglichkeiten werden nicht in Gestalt einer klar zu erkennenden Stufung (etwa nach dem incipiens - proßciens — perfectus-Schema.) vorgeführt, die beispielsweise am Ende das Ich die Krönung der Maria schauen ließe. Vielmehr reflektiert das Ich immer wieder, sich gleichsam zurücknehmend, sein Verhältnis zu Maria (vgl. zum Beispiel 36,1-12; 72,26-73,10; 81,17-89,20) und tritt dann, nach einem der mystischen Schau nahen Gnadenerlebnis, am Ende bescheiden zurück, bleibt zwar der seiner selbst bewußte Verfasser eines Marienpreises, aber doch ein Fragender und hingerissen Bewundernder. Der Autor des >Rheinischen Marienlobes< war also zuvörderst an der Darstellung des Verhältnisses eines Ichs zur Gottesmutter interessiert, die die Ausgestaltung eines Autorenbildes im eben beschriebenen Sinne nötig machte. Demgemäß konnte er auf biographische Elemente im Stile der Marienleben des Hoch- und Spätmittelalters weitgehend verzichten - deren Kenntnis wird beim Leser vorausgesetzt -, und es läßt sich vermuten, daß auch die oft getadelte Konventionalität der Bildlichkeit des Werkes damit zusammenhängt, daß in seinem Zentrum die Beziehung eines irdischen Ichs zur irdisch-himmlischen Mutter Christi steht. Die besondere Leistung des Verfassers liegt dann darin, daß er durch die Einführung eines Autorenbildes das Verhältnis Mensch - Gottesmutter viel reicher gestaltete, als dies beispielsweise ein Marienhymnus oder ein Marienleben tun konnte. Das Ich des Autorenbildes wird so, weil es sowohl sündiger Mensch wie auch begnadeter Visionär ist, auch nicht zum exklusiv seine höchstpersönliche Begnadung berichtenden Individuum, sondern zum Stellvertreter aller Menschen - in welchem Verhältnis zu Maria sie auch immer stehen mögen. Es baut so eine Brücke zwischen den Lesern des Werkes und der Gottesmutter. Das Autorenbild des >Rheinischen Marienlobes< erfüllt damit für das Publikum (intentional alle Gläubigen) eine klare, wesentliche Funktion. Eine derartige Einbeziehung des Ichs, wie die eben beschriebene, birgt freilich auch Probleme in sich. Die Dominanz des Autoren-Ichs hat zur Folge, daß Ma-

Das Bild des Autors im >Rheinischen Marienlob
Rheinischen Marienlobes< und auch für das völlige Fehlen einer Nachwirkung war? Zu bedenken ist hier, daß das >Rheinische Marienlob< keineswegs das einzige Werk im Rahmen der deutschsprachigen Mariendichtung des Mittelalters ist, das einen derartigen Ton anschlägt. Karl Stackmann hat in diesem Zusammenhang auf das sogenannte >Arnsteiner Mariengebet< hingewiesen und bemerkt, daß es eine bestimmte »Spielart« der Marienverehrung repräsentiere9 - Bruder Hansens Marienlieder10 wären ein weiterer Vertreter dieser Richtung. Die Ausgestaltung des Autorenbildes im >Rheinischen Marienlob< ist aber auch zu sehen vor dem Hintergrund einer zur Entstehungszeit des Werkes recht lebhaften Diskussion über die Rolle des Autors eines literarischen Werkes, wie sie Alastair J. Minnis beschrieben hat.11 Minnis konstatiert für das frühe 13. Jahrhundert ein Nachlassen des Interesses an den »allegorical senses of scripture«12 und damit einhergehend eine Konzentration auf den sensus litteralis, der als Produkt beziehungsweise Expression des Autors aufgefaßt wird. Er wird damit zur causa efficiens des Werkes, weshalb man sich für seine literarischen wie moralischen Intentionen sehr intensiv interessiert. Die daraus resultierende Aufwertung des Autors ist, wie mir scheint, auch im >Rheinischen Marienlob< zu erkennen, wenn dessen Verfasser nicht nur die traditionelle Position formuliert (ich was du uedere inde du schriues, 15,23), sondern auch eine modernere: ich sal uch beide, dich in on [Maria und Jesus] clagen (22,10) - und insofern bin ich, der Autor des >Rheinischen MarienlobesRheinischen Marienlobes< wäre gesondert einzugehen (siehe vorläufig die Bemerkungen BACHS [wie Anm. 6] S. XXII-LXV). Insgesamt ist das Werk im Spannungsfeld zwischen Marienlyrik (zum Beispiel der Tradition des Hymnos Akathistos) und den mystischen Gnadenleben (Heinrich Seuse, Friedrich Sunder) zu sehen. Bruder Hansens Marienlieder, hg. von MICHAEL S. BATTS (Altdeutsche Textbibliothek 58) Tübingen 1963; vgl. hier zum Beispiel V 881ff. ALASTAIR J. MINNIS, Medieval Theory of Authorship. Scholastic literary attitudes in the later Middle Ages, Aldershot 21988; siehe auch JACQUELINE T. MILLER, Poetic License. Authority and Authorship in Medieval and Renaissance Contexts, New York Oxford 1986. Ebd. S. 85.

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Abschließend noch ein knapper Hinweis auf die >Rede von den fünfzehn GradenRheinischen Marienlob< hat man dieses Werk immer wieder in Verbindung gebracht, nicht selten wurde - vor allem aus stilistischen Gründen wie wegen einiger wörtlicher Übereinstimmungen - sogar Verfasseridentität angenommen. Auch in der >RedeHohen Lied< orientierten, in fünfzehn Stufen erfolgenden Aufstieg der Seele zu Christus, gibt es ein Ich, das sich immer wieder in das Werk einbringt. Auch hier läßt sich von einem literarischen Bild des Autors sprechen, und auch hier tritt dieser dem Gegenstand seiner Verehrung, Christus, in verschiedenen Gestalten entgegen; als Verfasser, der um Unterstützung bei seiner schwierigen Aufgabe bittet (was an Gutem in diesem Buche stehe, das sei alles von Christus geschenkt, 103r), aber auch als Sünder, der um Erbarmen bittet, der weiß, daß er in der Nacht der Sünde lebt (10 ), als Liebender, der in fast hymnischer Anrede Christus preist (6r"v, s. auch 20r), dessen Vollkommenheit mit der eigenen Unzulänglichkeit kontrastiert wird, und der schließlich erscheint als der von der Minne zu Jesus hinweggeraffte: Jhesu sunder liehe vrunt cum in mines herzen grünt cusse mich war miner seien munt. (27V — 28r)

Und wie im >Rheinischen Marienlob< scheinen diese Ausformungen des Ichs, das auch in der >Rede< immer wieder das Wort ergreift, seltsam zu schwanken. Einmal ist dieses Ich überlegene Autorität (zum Beispiel 70rff.), dann wieder zweifelnd-abwägender, hilfebedürftiger, schwacher Mensch (6r~v und öfters). So groß die Gemeinsamkeiten sind, so deutlich zeigen sich die Unterschiede zwischen den beiden Werken. Zum einen führt der Verfasser der >Rede< als Gegenüber des Autoren-Ichs noch ein das Publikum vertretendes Du ein, auf dessen - vom Autoren-Ich regelmäßig antizipierte - Fragen das Ich dann Antwort gibt. Zum anderen ist Christus zwar das oft hymnisch, in Versen gepriesene Du, aber das Ich bescheidet sich hier: >Wer gibt mir, daß ich die Königin von Saba begleiten darf? Könnte ich doch dahin gelangen, wo Braut und Bräutigam sich vereinen, dürfte ich doch der Gespiele der Braut sein!< (98vff.). Und daß sich das Ich bescheidet, liegt natürlich auch daran, daß es hier nicht mit einem Menschen, der irdischen Mutter Gottes, sondern mit Gott selbst konfrontiert ist. Dieses Sich-Zurücknehmen läßt die >Rede von den fünfzehn Graden< insgesamt auch als das reflektiertere, beispielsweise den Hoheliedpredigten Bernhards von Clairvaux auch im Ton entschieden nähere Werk erscheinen, das auch hinsicht-

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Zum Werk siehe jetzt: VOLKER HONEMANN, >Rede von den fünfzehn Gradem (Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 7, Berlin - New York 1989, Sp. 1061-1065). Eine Ausgabe fehlt. Ich zitiere den Text nach der Prager Handschrift (P).

Das Bild des A utors im >Rheinischen Marienlob
Goldenen SchmiedeRheinischen Marienlob< kommt damit innerhalb der deutschen Mariendichtung des 12. und 13. Jahrhunderts eine singuläre Position zu.

Diskussionsbericht Herr MÜLLER fragte, inwiefern ein Ich in die Lehre des vierfachen Schriftsinns integrierbar sei. Dies hielt auch Herr HONEMANN für das zentrale Problem. Der Text gebe diesbezüglich keine Signale, auch seien theologische Termini sehr sparsam verwendet. Es könne sich daher nur um eine Übertragung des Denkmodells handeln. Herr RUBERG stellte in diesem Zusammenhang zumal die heilsgeschichtliche Dimension des Ichs in Frage. Die Sündhaftigkeit des eigenen Ichs sei eher der tropologischen Sinnstufe zuzuordnen. Nicht nur die Vollständigkeit der vier Sinne sei wichtig, sondern auch deren Gewichtung. Herr OHLY wies grundsätzlich auf unterschiedliche Formen von Frömmigkeit hin, die zu bedenken seien. Die Dimensionen des sensus spirhualis entsprächen generell den Stufen der Frömmigkeit. Der geringe Gebrauch der wir-Form sei vor dem Hintergrund der Privatisierung der Frömmigkeit (Du-Anrede an Gott bei Anselm von Canterbury) zu sehen. Herr HONEMANN führte dazu aus, daß der Autor des >Rheinischen Marienlobes< die spezifischen Ausprägungen der Frömmigkeit des 12. Jahrhunderts genau aufgenommen habe. Dabei sei bemerkenswert, daß er wir-Formen ausschließlich im Kontext der Sünde verwende, was der Funktion der Demutsformeln in der mittelalterlichen Dichtung vergleichbar sei. Dagegen wandte Herr FREYTAG ein, daß die wir-Form als liturgisches Wir verstanden werden könne. Genaue Beachtung verdiene der Tempusgebrauch. Der Wechsel zwischen den Zeiten lasse Rückschlüsse auf unterschiedliche Sinndimensionen zu. So signalisiere der Übergang vorn Präteritum zum Präsens nicht selten den Wechsel von der allegorisch-heilsgeschichtlichen zur moralisch-tropologischen Deutung. Herr BLANK ging auf die eschatologische Ausrichtung der Marienverehrung (Maria als mediatrix omnium gratiarum) seit dem 12. Jahrhundert und die Dimension der Weisheit in den mariologischen Texten der Liturgie ein. Auf die Frage, welche Positionen der Autor des >Marienlobes< einnehme, antwortete Herr HONEMANN, während die Auffassung von Maria als Mittlerin aller Gnaden durchaus präsent sei, bleibe der sapientia-Bereich ausgeblendet. Herr PALMER wies auf Traditionszusammenhänge zwischen dem >Rheinischen MarienIob< und französischen Texten hinsichtlich der Palmbaumallegorese14 hin. 14

Vgl. WOLFGANG FLEISCHER, Untersuchungen zur Palmbaumallegorie im Mittelalter (Münchner Germanistische Beiträge 20) München 1976.

WILLI HIRDT

Das erkenntnistheoretische Fundament der >Divina Commedia
Divina Commedia< geht von der Existenz einer körperlichen Außenwelt aus, deren Eigenschaften der Mensch über seine fünf Sinnesorgane perzipiert. Damit steht er, ohne sich je der Freiheit eigener Akzentsetzung in der Dichtung zu begeben, fest auf dem Boden scholastischer Philosophie, die sich ihrerseits auf die Aristotelischen Schriften stützt. Onde la potenza vegetativa, schreibt er im >ConvivioDivina Commedia
Divina Commedia< für den Bereich des Paradiso Beatrice, Allegorie der Theologie, die Führerrolle zu, die sie von Vergil, Allegorie menschlicher Weisheit, übernimmt.) Die Tatsache, daß in der Illustration des Veroneser >AnticlaudianusConvivio< darlegt: Ma lo colore e la luce sono propriamente; perche solo col viso comprendiamo cio, e non con altro senso. Queste cose visibili, si le proprie come le comuni in quanta sono visibili, vengono dentro a l'occhio - non dico le cose, ma le forme loro - per lo mezzo diafano, non realmente ma intenzionalmente, si quasi come in vetro transparente. E ne l'acqua ch'e ne la pupilla de l'occhio, quest o discorso, chefa la forma visibile per lo mezzo, si si compie, perche quell'acqua e terminata - quasi come specchio, ehe e vetro terminato con piombo -, si ehe passar piü non puo, ma quivi, a modo d'una palla, percossa siferma; si ehe la 6

Vgl. Anticlaudianus 4, 70-212. Zum Thema der fünf Sinne (und ihrer Illustration) im >Anticlaudianus< vgl. FLORENTINE MÜTHERICH, Ein Illustrationszyklus zum Anticlaudianus des Alanus ab Insulis (Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 2, 1951, S. 7388); DIES., An Illustration of the Five Senses in Mediaeval Art (Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 18, 1955, S. 140f.); LOUISE VINGE, The Five Senses. Studies in a Literary Tradition, Lund 1975, S. 58 IT.; PETER OCHSENBEIN, Studien zum Anticlaudianus des Alanus ab Insulis, Bern - Frankfurt/M. 1975, S. 90; CHRISTEL MEIER, Die Rezeption des Anticlaudianus Alans von Lille in der Textkommentierung und Illustration (Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von CHRISTEL MEIER - UWE RUBERG, Wiesbaden 1980, S. 408549), bes. S. 409, 413, 445f.; CARL NORDENFALK, Les Cinq Sens dans l'art du Moyen Age (Revue de l'art 34,1976, S. 17-28), bes. S. 19. Ob Dante Alanus gekannt und gelesen hat, ist trotz ERNST ROBERT CURTIUS (Dante und Alanus ab Insulis [Romanische Forschungen 62, 1950, S. 28-31]) nicht schlüssig bewiesen, aber im höchsten Grade wahrscheinlich. Weitere Literatur in der wichtigen Arbeit von CHRISTOPH HUBER, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, München 1988.

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forma, ehe nel mezzo transparente non pare, fne I'acqua pare] lucida e terminata. E questo e quello per ehe nel vetro piombato la imagine appare, e non in altro. Di questa pupilla lo spirito visivo, ehe si continua da essa, a la pane del cerebro dinanzi, dov'e la sensibile virtude si come in principiofontale, subitamente sanza tempo la ripresenta, e cosi vedemo. Per ehe, accio ehe la visione sia verace, doe cotale qua! e la cosa visibile in se, conviene ehe lo mezzo per lo quale a I'occhio viene la forma sia sanza ogni colore, e I'acqua de la pupilla similemente: altrimenti si macolerebbe la forma visibile del color del mezzo e di quello de la pupilla. E pero coloro ehe vogliono far parere le cose ne lo specchio d'alcuno colore, interpongono di quello colore tra vetro e piombo, si ehe vetro ne rimane compreso. Veramente Plato e altrifilosofi dissero ehe nostro vedere non era perche lo visibile venisse a I'occhio, ma perche la virtu visiva andavafuori al visibile: e questa oppinione e riprovata per falsa dal Filosofo in quello del Senso e Sensato. (Conv. Ill 9)

Wir finden in dieser mit knappen Strichen skizzierten Theorie die wichtigsten Elemente wieder, die auch die einschlägige Auffassung der aristotelisch inspirierten Wissenschaft7 der Scholastiker charakterisieren, der Dante nachweislich auf das engste verpflichtet ist. Obenan rangiert die Feststellung, daß die Gegenstände der sichtbaren Welt nicht realmente, sondern intenzionalmente - das heißt abbildlich - in das Auge gelangen, ist doch intenzionalmente auf scholastische intentio zurückzuführen. Die intentio (oder imago), so die zweite Feststellung, wird vom spirito visivo zur vorderen Hirnkammer (a la parte del cerebro dinanzi) weitergeleitet. Der technisch-wissenschaftliche Gebrauch des Terminus spirito visivo, den bereits der Autor der >Vita Nuova< in der Form spiriti del viso mehrfach verwendet,8 rückt die Theorie Dantes erkennbar in unmittelbare Nähe zur zeitgenössischen Sinnesphysiologie, wie sie, wegweisend für die Scholastik, Albertus Magnus, insbesondere in seinem Dante bekannten >Liber de Spiritu et Respirationen darstellt. Nach Albertus Magnus vollzieht der spiritus animalis eine Aufwärtsbewegung, >fliegt< aus dem Herzen, wo er seinen Ausgang nimmt, zu den Kammern der Hirnschale empor. Von dort wird er in Kapillare (nervi concavi) gelenkt, die zu den Einzelsinnen führen. Unter den nervi aber sind die Sehnerven sowohl die größten als auch die mit dem besten Durchlauf (magis concavi), nehmen vom spiritus animalis am meisten auf, versammeln vor allem 7

8

GINO RICCHI, II meccanismo della visione secondo Dante Alighieri (Giornale Dantesco 10, 1902, S. 177-179), erkennt nicht die Abhängigkeit der Danteschen Theorie von Aristoteles, wähnt sie sogar in Gegensatz zu diesem. Dieser Irrtum wird ansatzweise richtiggestellt von LUIGI NEGRI, La luce nella filosofia naturale del '300 e nella >Commedia< (Giornale storico della letteratura italiana 82, 1923, S. 325-336). Eine Analyse Danteschen Wissens in diesem Bereich aus der Sicht des Ophthalmologen liefert ERCOLE PASSERA, Le cognizioni oftalmologiche di Dante (Archivio di storia della scienza 3, 1921, S. 1-31). Der Verfasser vollzieht die Auffassungen Dantes zutreffend nach, vermag jedoch nicht sein Bedauern darüber zu unterdrücken, daß Dante nirgendwo Anspielungen auf Brillen macht. - Nur am Rande für unser Thema von Belang ist der Aufsatz von TIBOR WLASSICS, L'ottica di Dante (Studi di Filologia e Letteratura II-III. Festschrift Vincenzo Pernicone, Genua 1975, S. 97-110). Der Verfasser versteht unter >Optik< das stilistische Procedere Dantes, genauer seine Art, alles Wahrgenommene in die Nahperspektive zu rücken und die Beschreibung mit verba videndizu beginnen. Vgl. Vita Nuova II 5; XI2; XIV 5.

Das erkenntnistheoretische Fundament der >Divina Commedia
denn alles von irgendeiner Substanz nach oben Gestiegene ist reiner und klaren).9 Nicht von ungefähr betont Dante in besonderer Weise die Bedeutung der Reinheit im Gesamtablauf des optischen Wahrnehmungsprozesses. Das >DiaphaneLiber de Sensu et Sensato< (I 5) formuliert. Auch wenn er, anders als für den Vorgang des Schauens, in diesem Fall keine zusammenhängende Theorie skizziert, so läßt sich doch leicht der Nachweis seiner Anlehnung an scholastische Auffassungen führen, daß nämlich das sensitive Wesen, über die fünf >äußeren< Sinne hinaus, noch vier >innere< Sinne besitzt, die die einfache Außenempfindung der sensus exteriores in komplexerer Weise wahrnehmen und verarbeiten. Es handelt sich um sensus communis, phantasia (vis imaginativa), aestimativa und memoria. Sie sind die Instanzen, die das Wahrnehmungsmaterial dem höheren Erkenntnisvermögen des Menschen zuführen. Erst ihr Besitz macht das vollkommene Seelenwesen aus, das die Dinge der Außenwelt nämlich nicht nur, wenn sie gegenwärtig sind, sondern auch bei deren Abwesenheit wahrnimmt. Während die äußeren Sinne, die uns unsere erste Erfahrung der Welt ermöglichen, dem Bereich der Wahrnehmung angehören, sind die inneren dem des Denkens zugeordnet. Zwar lassen beide etwas erscheinen, nämlich die Wahrnehmung das Sinnliche, das Denken das Nichtsinnliche; während aber die Wahrnehmung zu dem - durch die Sinne - Wahrgenommenen in einem Leideverhältnis steht, ist das Denken gegenüber dem Gedachten oder Vorgestellten souverän: Es kann, nach Gutdünken, vor sich selbst bringen, was es will, und ist allem geöffnet, ganz im Gegensatz zu den auf bestimmte Bezirke eingeschränkten sensus exteriores. Gleichwohl sind in der Gesamtstruktur des Leib-Seele-Kompositums Mensch auch die sensus inferiores Sinne. Diese vier inneren Sinne des Menschen sind nicht mit den geistigen Sinnen der mystischen Tradition zu verwechseln, die der griechische Kirchenschriftsteller Origines begründet. Sie fallen in eine moralische Kategorie, da Abstumpfung der >inneren< Sinne in der mystischen Tradition gleichbedeutend mit Verfallenheit an die Sünde ist. In der scholastischen Psychologie hingegen - und bei 9

Der spiritus animalis, so Albertus Magnus in >De spiritu et respiratione< (B. Alberti Magni opera omnia, Bd. 9, hg. von AUGUST BORGNET, Paris 1891, S. 213-251) II4, nimmt seinen Ausgang im Herzen, evolat in vacuilatem cellarum cerebri, et ex illis dirigitur in nervös concavos, qui a sensus communis organo ad sensus proprios diriguntur: quorum tarnen nervi illi qui optici sive visivi dicuntur et magis sunt concavi, et plus capiunt de spiritu etpuriorem et lucidiorem, qui solus elevatur, colligunt: omne enim altius de aliqua natura sublimatum, purius est et clarius.

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Dante - sind die sensus inferiores Seelenkräfte, die nichts von der sinnlichen Wahrnehmung schlechterdings Getrenntes darstellen, sondern in einem kontinuierlichen und organischen Zusammenhang mit ihr stehen. Die Seele hat, wie Dante im >Convivio< unter Berufung auf Aristoteles und in evidenter Übereinstimmung mit Thomas erläutert, drei Grundfunktionen (potenze), doe vivere, sentire e ragionare. Oiepotenza vegetativa sichert die physische Lebensfähigkeit. Sie bildet die Basis der beiden anderen Potenzen, die ohne sie nicht sein können. Ihr ist aiQpotenza sensitiva übergelagert, an die das sinnliche Wahrnehmungsvermögen des Menschen gebunden ist (cioe vede, öde, gusta, odora e toccä). Dieser wiederum ruht die potenza intellettiva auf, die sich nur bei dem Vernunftwesen Mensch findet. Mit ihr ist ihm die Teilhabe am göttlichen Licht und damit sein spezifisches Erkenntnisvermögen gegeben. So wie die scholastische Psychologie ihre festen Vorstellungen von Aufgaben und Wirkungsweise der sensus interior es besitzt, so hat die scholastische Physiologie, der Dante sich an vielen Stellen seines Werkes verpflichtet zeigt, ihre nicht minder konkreten Vorstellungen von deren Lokalisierung. Sie sieht die sensus inferiores oder sensus intellectuals in getrennten Kämmerchen (cellulae) innerhalb des menschlichen Schädels lokalisiert. Die beiden ersten, markig-feuchten Kammern, die die Formen der eintreffenden Sinneseindrücke in sich aufnehmen, liegen stirnseitig hintereinander. Die markig-trockene Kammer der memoria liegt im hinteren Teil des Schädels; zwischen ihr und den beiden vorderen Kammern erstreckt sich ein leerer Raum, der in der Tradition der arabischen Medizin zuweilen als eigener Ventrikel ausgewiesen ist. Beim Vollzug des Erkenntnisprozesses - sentire, imaginari, memorari, zusammenfassend als intelligere bezeichnet - fließt der bereits erwähnte spiritus animalis mit seiner Informationsfracht von Kammer zu Kammer.10 10

Im wesentlichen fließen hier, mit kaum nennenswerten Variationen, die Vorstellungen der großen Trias der arabischen Medizin ein, das heißt der >Liber continens< des Arztes Rhazes (gest. nach 921), der als führender Mediziner der islamischen Medizin galt, das als kritische Summe der bedeutendsten griechischen und islamischen Quellen konzipierte medizinische Handbuch >Liber regius< des islamisch-persischen Arztes Ali ibn al-Abbas (gest. 994) sowie Avicennas (gest. 1037) >Canon medicinaeCanon medicinaeDe Causis< nicht nur zitiert, sondern nachweislich ausgewertet. Zu dem Komplex der anatomischen Vorstellungen, mit dem die mittelalterlichen Philosophen ihre spezifischen Entwürfe verknüpfen, vgl. die ausgezeichnete Studie von E. RUTH HARVEY, The Inward Wits. Psychological Theory in the Middle Ages

Das erkenntnistheoretische Fundament der >Divina Commedia
Göttlichen Komödie< dem Theoriewissen des Wissenschaftlers verpflichtet bleibt, zeigt für den hier interessierenden Kontext etwa die wie selbstverständliche Verwendung des Terminus obietto comun (Purg. XXIX 47), der nichts anderes ist als die italienische Form des lateinischen sensibile commune. Von den sensibilia propria, denen das >eigentümlich< ist, was nur mit einem bestimmten Sinnesorgan wahrgenommen werden kann (wie etwa das Sehen der Farbe, das Hören des Tons und so fort), heben sich die allgemeinem Sinnesgegenstände ab, und zwar Bewegung (motus), Ruhe (quies), Zahl (numerus), Gestalt (ßgura), Größe (magnitude), die eben nicht einem einzelnen Sinn eigentümlich sind, sondern generell allen eigen. Dante schreibt im >ConvivioDivina Commedia
Commedia< nahe - erstmals »die Lichtmetaphysik des Paradiso über die Wanderer« hereinbricht." Auf dieser bereits höheren und später höchsten Stufe der Jenseitsreise gewinnt die imaginativa die Qualität der religiösen Ekstase, meint sie über die momentane Ausschaltung der sinnlichen Wahrnehmung hinaus, die ja auch in außerreligiösen Zusammenhängen erfolgen kann, innere Erleuchtung durch Gott. In jedem Fall aber ist die imaginativa identisch mit der alta fantasia, von der Dante im unmittelbaren Zusammenhang mit der zitierten Anrufung spricht. Als Mittlerinstanz fällt der phantasia in der Gesamtheit des Apperzeptionsvorgangs mithin eine bedeutende Aufgabe zu, aber sie hat auch, wie der Philosoph Dante herausstellt und der Dichter Dante zeigt, ihre Grenzen. Diese liegen dort, wo die Grenzen des für den Menschen sinnlich Wahrnehmbaren liegen. Ihr Verlauf läßt sich mit einem Grundsatz aristotelischer Philosophie, dem nihil est in inteliectu, quod non prius fuerit in sensu, beschreiben, das sich in dieser Form bei Thomas wiederfindet. Dante übernimmt und artikuliert es mit aphoristischer Bündigkeit in Paradiso IV, wenn er sagt, daß der menschliche Geist solo da sensato apprende do ehe fa poscia d'intelletto degno (41f.). Anders gewendet: Das >Bild< eines Gegenstandes, das qua Erinnerungsvorstellung, zuweilen nur bedingt, als vollständiges Wahrnehmungsbild rekonstituiert oder als Phantasievorstellung durch eine subjektive Kombination von Wahrnehmungsbestandteilen erzeugt zu werden vermag, kann nicht jenseits vorheriger Sinneswahrnehmungen Zustandekommen. Dieser Gedanke ist wichtig genug, präsentiert Dante den Text der >Göttlichen Komödie< doch als Produkt seiner Erinnerungsvorstellung. Darauf beruht ihr Authentizitätsanspruch. Der Vorstoß in himmlische Sphären bringt Erfahrungen, vor denen sowohl die imaginativa als auch das Ausdrucksvermögen versagen. Mit der Schau Got11

Vgl. HERMANN GMELIN, Dante Alighieri, Die göttliche Komödie. Kommentar, 3 Bde., Stuttgart 1954-1957, Bd. 2, S. 245.

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tes, des intensivsten Lichtes überhaupt, erfüllt sich die Vision Dantes und ist es zugleich um die fantasia geschehen: All'aha fantasia qui mancö possa; ma gia volgeva U mio disio e velle, si come rota ch 'igualmente e mossa, l'amor ehe move U sole e l'altre stelle. (Par. XXXIII 142-145) Im Blitz, der den Geist des Jenseitswanderers bei der unmittelbaren Schau Gottes trifft, offenbart sich die gesuchte Wahrheit. Die erkennende Kraft des Geistes - und mit ihr die fantasia - ist überflüssig geworden. Das Erkenntnisstreben des Wanderers ist befriedigt angesichts des Mysteriums der Inkarnation. Zu dieser unbegreiflichen Wahrheit führt in letzter Konsequenz nicht die erkennende Kraft des Geistes, der im wahrsten Sinne des Wortes aus-geblendet wird, sondern das Fühlen, der liebende Glaube. Dem Bild des vergebens strebenden Geometers steht als krönendes Schlußbild der >Divina Commedia< das einer harmonisch und gleichförmig in sich kreisenden Bewegung gegenüber, die keinen zielgerichteten Willen mehr kennt, sondern beseligende Erfüllung ist. Im Gesamtgefüge des Erkenntnisvorgangs weist Dante auch dem sensus interior der aesümativa ausdrücklich seinen Platz zu. Im 26. Gesang des Paradiso hat ein übermächtiger Flammenglanz die Sehkraft des Jenseitswanderers erlöschen lassen. Es handelt sich um eine vorübergehende Blendung, keine Erblindung, wie Dante in einem ersten Schreck befürchten muß. Ein durchaus nachvollziehbarer Vorgang - die natürliche Beeinträchtigung nämlich des Sehvermögens durch zu hohe Leuchtdichten. Nach einem Gespräch mit Johannes, dessen irdische Gestalt er vergeblich zu erkennen trachtet, kehrt sein Augenlicht im Anblick Beatrices jedoch verstärkt zurück, und diesen Vorgang nun veranschaulicht Dante mit einem Vergleich, der uns im Zusammenhang mit dem dritten der >inneren SinneDivina Commedicu

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sinnesphysiologischen Vorgangs, die ein weiteres Stück der Danteschen Theorie des Schauens offenlegt: Bei grellem Licht weicht der Schlaf, weil es die Sehkraft (den spiritus visivus) affiziert, die dem Schein zustrebt, der eine Membran des Auges (gonnd) nach der anderen durchdringt. Das gilt zum anderen für die Verwendung des Terminus technicus aestimativa in genau jenem Sinn, den ihm die scholastische Erkenntnistheorie zuweist.12 Bleibt zum Abschluß, als vierte Instanz, die vis memorativa zu nennen, der Dante besonderes Gewicht zumißt. Die vis memorativa nimmt diesen hervorragenden Rang nicht ohne Grund ein, basiert doch die gesamte Fiktion der >Divina Commedia< auf dem Ausgangsgedanken der Rückerinnerung an etwas in der Zeit Erfahrenes. Dante gibt vor, nur das zu berichten, was er erlebt hat, was ihm im Gedächtnis haften geblieben ist oder was er sich in die Erinnerung zurückzurufen vermag.13 Die memoria, zuweilen auch mente genannt, ist mithin der Ort, an dem der gesamte Stoff der >Göttlichen Komödie< gespeichert ist. Von ihm wird er nach und nach abgerufen. Rein physiologisch gesehen, befindet sich dieser Ort, nach zeitgenössischer Auffassung, im hinteren Teil des Schädels. Das Organ der vis memorativa ist zugleich der geistigste aller inneren Sinne, denn es empfängt die Substanz dessen, was die vorgeschalteten Instanzen sensus communis, vis imaginativa und vis aestimativa im Verlauf des Apperzeptionsvorganges gesondert haben, und fügt die verschiedenen Beziehungsmerkmale (intentiones) klar und deutlich wieder mit den Bildern der Dinge zusammen. Der mehr passiven memoria steht die reminiscentia als Fähigkeit der gezielten Hervorbringung und Erneuerung vergangener Geschehnisse und Bewußtseinsinhalte gegenüber. Als Inbegriff aller erinnerbaren Erlebnisse und Inhalte, als Merkfähigkeit und Vermögen, dem Gedächtnisreservoir neues Material zuzuführen, ist die memoria eine kontinuierliche und einförmige Bewegung, die reminiscentia hingegen deren bloße Funktion. Die reminiscentia kann planmäßig und beabsichtigt herbeigeführt werden. Das Gedächtnis stellt das Material für die Erinnerung bereit, gibt Anstoß und erste Hinweise, die den sich Erinnernden auf den Weg der Suche (investigatio), eines logisch folgernden oder zuweilen auch vom Zufall beförderten Fortschreitens führen. Daß Dante diesen Unterschied, den Albertus Magnus in seinem >Liber de Memoria et Reminiscentia< im Anschluß an Aristoteles auf das detaillierteste beschreibt, kennt und entsprechend einschätzt, zeigt ein Passus des Paradiso (XXIX 76-81), in dem eine gedankliche Verbindung zwischen rememorare und interciso hergestellt und von der Kritik richtig im Hinblick auf eine >technische< Bedeutung im Sinn der scholastischen Erkenntnistheorie aufgefaßt wird.14 Der 12 13

14

Vgl. ALESSANDRO NICCOLI, stimativa (Enciclopedia Dantesca, Bd. 5, Rom 1976, S. 445). Dazu ausführlicher KARL AUGUST OTT, Die Bedeutung der Mnemotechnik für den Aufbau der Divina Commedia (Deutsches Dante-Jahrbuch 62, 1987, S. 163-193), bes. S. 181. Vgl. FERNANDO SALSANO, concetto (Enciclopedia Dantesca, Bd. 2, Rom 1970, S. 133f.).

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Kontext spricht für sich. Dante befindet sich im hell glänzenden Kristallhimmel, der das kreisende Weltall als äußerster Himmel umfängt und selbst in der Unendlichkeit Gottes eingebettet ist, eine Sphäre der ungetrübten Freude, der lichtvollen Liebe, des Friedens und bevölkert von Engeln, die im unmittelbaren Angesicht Gottes weilen. Beatrice erklärt Dante die Natur dieser Engel, von der man auf Erden fälschlich lehre, ehe 'ntende e si ricorda e vole (Par. XXIX 72): Queste sustanze, poi ehefür gioconde dellafaccia di Dio, non volser viso da essa, da cui nulla si nasconde: pero non hanno vedere interciso da novo obietto, eperö non bisogna rememorarper concetto diviso. (Par. XXIX 76-81)

Ohne Kenntnis der scholastischen Wahrnehmungslehre sind in der Vergangenheit mehr oder weniger phantasievolle Deutungen zur Klärung dieser spezifischen Rückbesinnung vorgeschlagen worden. Als rein intellektives und damit gottähnlichstes Geschöpf, so ist zu deuten, besitzt der Engel die Unmittelbarkeit der schauenden Erkenntnis, eine Fähigkeit der Zusammenschau, die es ihm erlaubt, unter einer Idee vieles zugleich zu erkennen. Der Erkenntnisprozeß des Engels vollzieht sich ohne Rückerinnerung (rememorare) in einem Raum der Kopräsenz von Gegenwart und Vergangenheit (und in Grenzen der Zukunft). Der Engel hat im Subjekt bereits alle seine Prädikate; er braucht keine logische Bemühung, vollzieht keine kognitiven Akte. Anders der Mensch, dem diese Spontaneität der Erkenntnis nicht gegeben ist, der im Rahmen einer discursiva cognitio in Abstufungen fortschreitet und folgernd von Bekanntem zu Unbekanntem gelangt. Dieses Prinzip kennt und beherzigt natürlich auch der Jenseitsfahrer Dante, dem darüber hinaus die ganze Vielfalt der Bedeutungsnuancen von memoria bestens vertraut ist, von der geistigen Fähigkeit, Vergangenes in bewahrender Funktion zu erinnern, über die gezielte Rückbesinnung auf etwas bis hin zum Gedenken, dem nach dem Tod bleibenden Gedächtnis.15 Bezeichnend bleibt, daß auch hinter einer scheinbar generelleren Verwendung der entsprechenden Terminologie auf narrativer Ebene stets der Wissenschaftler Dante mit einer klar konzipierten Theorie präsent ist. Dieser Theorie zufolge sind, zusammenfassend gesagt, alle genannten sensus inferiores, vom sensus communis über imaginativa und aestimativa bis hin zur memoria, auf den Intellekt bezogen, der >edler< oder >höher< über den einzelnen Sinnen steht. Gleichwohl ist er zur Erkenntnisgewinnung auf sie angewiesen. Alle Erkenntnis des Menschen geht unstreitig von der >AußenweltDivina Commedia
ErstbewegerGöttliche Komödie< den Leser konfrontiert, wird von einem Individuum gewonnen und gestaltet, das sich der Autonomie seiner Wahrnehmung und der Präzision seiner Wiedergabe von vornherein bewußt ist: [...] io sol uno m 'apparecchiava a sostener la guerra si del cammino e si della pietate, ehe ritrarrä la mente ehe non erra. (Inf. II 3-6)

Soweit die Theorie erkennbar wird, auf der diese Position einer ersichtlich unerschütterlichen Selbstbewußtheit gründet, präsentiert sie sich aristotelisch in der Substanz und thomistisch in der Terminologie. Ihr weitgehender Eklektizismus hängt mit der eigenständigen Erfahrung des Autors zusammen, die stets eine ausschlaggebende Erkenntnisquelle bleibt; sein Protagonist >erfährt< die Jenseitsreiche empirisch. Auch im Paradiso, wo Variationen in Licht und Musik an die Stelle erdnaher Wahrnehmungsvielfalt des Inferno treten, gibt es hinsichtlich folgerichtiger Chronologie, Gestalthaftigkeit und topographischer Präzision keinerlei Einschränkung.17 Indem der Dichter der >Göttlichen Komödie< in un16

17

Dante verschmilzt mit dem für ihn typischen Eklektizismus intellectus agens und intellectus possibilis, die die Vollkommenheit der anima rationalis bewirken; vgl. dazu Albertus Magnus, Liber de natura et origine animae (Alberti Magni opera omnia, Bd. 12, hg. von BERNHARD GEYER, Münster 1955) 1,7: De natura possibilis et agentis intellectus in homine, et qualiter se habent adanimam. »Surely no othenvorld journeys of medieval literature, whether in the Platonist tradition of Alan of Lille's Anticlaudianus or of the later Arthurian cycle, can be compared to the Commedia in sensorial richness or precision« (STAN SCOTT, Aspects of Dante's Epistemology [Australian Journal of French Studies 6, 1969, S. 440-446], S. 442). Zur sinnlichen Wahrnehmung bei Dante vgl. auch P. BOYDE, Perception and the Percipient in Convivio III, 9 and the Purgatorio (Italian Studies 35,1980, S. 19-24).

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übersehbarer Weise das Hauptgewicht auf die der reinen Abstraktion gegenübergestellte >intuitive< Erkenntnis legt, auf die (innere und äußere) Wahrnehmung und ihr Erzeugnis, die (innere und äußere) Erfahrung, erweist er sich als Vertreter einer Zeitströmung, die im Gefolge Ockhams die nominalistische Erkenntnislehre an die Grenze des Sensualismus führt. Sein künstlerisches Geheimnis besteht darin, nicht lediglich das Resultat des Beobachteten vorzustellen, sondern den Prozeß der Erfahrung selbst, mitsamt seinen Irrtumsmöglichkeiten vor die Anschauung zu bringen. Kunst und Wissenschaft bilden bei Dante eine selbstverständliche Einheit - Realbeobachtungen und Gestaltungen der Vorstellungskraft, Physiologie und Phantasie, sinnlich wahrnehmbare Zusammenhänge und logisch schlüssige Systeme fügen sich zu einem harmonischen Ganzen. Dante differenziert und bereichert die mittelalterliche Kenntnis der Weltzusammenhänge durch ein ungekanntes Maß eigenständiger Erfahrung. Der Protagonist der >Göttlichen Komödie< gerät zum treuen Abbild dieser unerhörten Selbständigkeit. Die Art, wie er das Jenseits erfährt und aus seiner vielfältigen Sinneserkenntnis schlußfolgert, zeigt eindringlich, daß für den Sinnenmensch Dante alles abstrakte Denken mit dem Sinnesbild stets in einem unauflöslichen Zusammenhang steht, daß mithin der erlebende Dichter dem denkenden Philosophen gleichsam immer vorausgeht, ohne ihn freilich je zu verdrängen. Das gilt für das Inferno, aber auch für die >Göttliche Komödie< insgesamt.

Diskussionsbericht Herr OHLY legte dar, daß die Vorstellung von den Stufen der Wahrnehmung im Rückgriff auf Origenes bereits im 12. Jahrhundert etwa bei Wilhelm von St. Thierry und Gottfried von St. Viktor ausgebildet sei. Dante müsse sich daher nicht auf die aristotelisch-thomistische Lehre bezogen haben, sondern könne auch vorscholastischen Traditionen gefolgt sein. Herr HIRDT räumte mit Hinweis auf die Forschungen Manfred Bambecks18 ein, daß vorscholastische Theorien als Quellen zu beachten seien. Dante habe jedoch die Kommentare des Albertus Magnus oder des Thomas von Aquin sicher gekannt und in dem hier interessierenden Zusammenhang verwendet. Dies gehe unter anderem aus einem Bild hervor, das sich erstmals bei Albertus Magnus und danach nur noch bei Thomas finde; es handele sich um das Bild des zurückprallenden Balles, das Dante in seiner Theorie des Schauens wieder aufgreife. Herr WORSTBROCK sagte, die Lehre von den tres cellulae capitis sei weder aristotelisch noch scholastisch. Ältester Gewährsmann sei Galenus. Im 11. Jahrhundert sei sie bei Con18

MANFRED BAMBECK, Göttliche Komödie und Exegese, Berlin - New York 1975.

Das erkenntnistheoretische Fundament der >Divina Commedia
Philosophia pauperumEpistola ad fratres de MonteDen.21 Herr HIRDT sagte dazu, die Kritik der Erkenntnisfähigkeit sei, so auf den Punkt gebracht, bei Dante nicht festzustellen. Das Wahrnehmungssystem werde jedoch insofern reflektiert, als es Gegenstand von Dichtung sei. Dabei verdienten sowohl die Dreiteiligkeit der >Divina Commedia< auf der Strukturebene wie auch die Sinnestäuschungen und Irrtümer im Kontext von Welt- und Kunsterfahrung auf der Motivebene besondere Beachtung. Herr HONEMANN fragte, inwieweit Dantes Vorstellung von Wahrnehmung individuelle Züge zeige. Herr HIRDT antwortete, Dante habe sich am Wissensstand der Zeit orientiert, den er, wenn möglich, anhand eigener Erfahrung überprüft und modifiziert habe. Eine vollständige Theorie des Schauens habe Dante im >Convivio< entworfen, eine vergleichbare Theorie der Rangordnung der Sinne liege jedoch nicht von ihm vor. Herr HUBER griff, Bezug nehmend auf das Referat von Herrn BLANK, die Schwierigkeit der Abgrenzung allegorischer und narrativer Sinnbildungsverfahren auf. Insbesondere sei die Beschreibung der Allegorie als ein statisches Modell problematisch angesichts der Möglichkeit, zeitlich strukturierte Erfahrungsprozesse allegorisch zu verstehen. Als Beispiel diskutierte Herr HUBER Boethius' >De consolatione philosophiaeDivina commedia< seien eine Fülle von Signalen für ein allegorisches Verständnis vorhanden. Aufschlußreich sei in diesem Zusammenhang auch der Brief Dantes an Cangrande della Scala. Für den Gesamtzusammenhang der Erkenntnistheorie Dantes verwies Herr HIRDT aufsein 1989 erschienenes Buch (vgl. Anm. 1).

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Als Beispiel wurde Hadamars von Laber >Jagd< genannt.

JAN-DIRK MÜLLER

Transformation allegorischer Strukturen im frühen Prosa-Roman »Disguised symbolism« ist die Formel, mit der Erwin Panofsky die niederländische Malerei des 15. Jahrhunderts charakterisierte, die im scheinbar homogenen Medium alltäglicher Realität einen spirituellen Bedeutungszusammenhang aufscheinen läßt.1 Dessen Elemente gehören gleichzeitig zwei in sich stimmigen Ordnungen an: der gegenständlich sichtbaren Welt und einem allegorischen Zeichensystem, das seit der Antike in Kommentaren und Auslegungen des >Buchs der Buchen wie des >Buchs der Natun entwickelt wurde. Die Entdeckung der sichtbaren Welt und die Aufdeckung ihrer unsichtbaren Verweisstrukturen sind nicht nur kein Gegensatz, sondern hängen eng miteinander zusammen: »The more the painters rejoiced in the discovery and reproduction of the visible world, the more intensely did they feel the need to saturate all of its elements with meaning.«2 Panofsky untersuchte Gemälde mit sakralen Themen, bei denen es naheliegt, nach ihrem geistlichen Sinn zu forschen. Trotzdem fragte er sich, wie jene verborgene Symbolik eigentlich methodisch verläßlich gesichert werden könne, wo doch die Maler immer virtuoser die Oberfläche der sichtbaren Welt als einen in sich stimmigen und geschlossenen Zusammenhang inszenierten, ob nicht der Kunsthistoriker »under the cloak of real things« statt kodifizierter Symbolik die eigene Symbolisierungstätigkeit entdecke.3 Ein Indiz dafür, daß ein Element einer anderen Ordnung als dem dargestellten Realitätskontext angehöre, war ihm »awkwardness«, Ungeschicklichkeit, der Webfehler im Text der sichtbaren Welt, das in die dargestellte Realität nicht >wahrscheinlich< integrierbare Detail; diesem war seine Herkunft aus einer anderen, einer symbolischen Ordnung eingeschrieben. Im übrigen empfahl er »the use of historical methods tempered, if possible, by common sense«.4 Seine Warnung wird um so dringlicher, wenn man sakrale Ikonographie verläßt und sich Texten zuwendet, die, so scheint es, ohne jeden höheren Deutungsanspruch auskommen, die ausdrücklich historia, das heißt Bericht von tatsächlich Geschehenem, sein wollen, die sich um eine möglichst vollständige und plausible lineare Verknüpfung * Handlungsfolgen bemühen und die den Le1

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ERWIN PANOFSKY, Early Netherlandish Painting. Its Origins and Character I, Cambridge/Mass. 1953, S. 141. KONRAD HOFFMANN, Alciati und die geschichtliche Stellung der Emblematik (Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978, hg. von WALTER HAUG [Germanistische Symposien. Berichtsbände 3] Stuttgart 1979, S. 515-534), hier S. 517. PANOFSKY (wie Anm. 1) S. 142. Ebd. S. 141. Ebd. S. 142; vgl. S. 144, und insbesondere die Analyse scheinbar unnatürlichen Lichtverhältnisse bei Jan van Eyck (S. 145-147).

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ser durch Anpassung an historiographische Dokumentationsverfahren illusionieren wollen.5 Zwar ist dank der Bedeutungsforschung längst umfassend nachgewiesen, daß der mittelalterliche mundus symbolicus bis weit in die Neuzeit hinein fortwirkt, ja durch den Buchdruck erst im 17. Jahrhundert seine vollständigste und systematischste Darstellung findet; doch entwickelt sich die Gattung des frühen Romans weitab von gelehrter Kunsttheorie und weitab von den immer umfassenderen Kodifikationen der proprietates rerum und der ihnen zugeschriebenen Bedeutungen. Die Autoren gehören in der Regel nicht jener humanistischen Bildungselite an, die das alte Bedeutungspotential aktualisiert, und sie richten sich an ein Publikum, dem vermutlich nicht allzu detaillierte Kenntnisse jener Traditionen unterstellt werden konnten. So erhebt sich die Frage, ob es überhaupt legitim ist, sie im Lichte jener Tradition zu lesen und unterhalb der Ebene empirischer Kohärenz, die herzustellen sie sich bemühen, nach allegorischen Bedeutungsstrukturen zu forschen.6 Ich will diese Frage an vier Texten diskutieren, die unterschiedlich intensiv auf allegorische Verfahren und allegorice auslegbare Bildbestände zurückgreifen. Ich wähle mit einer Ausnahme die Lasterallegorese aus, die einer auf nachahmbare Handlungen ausgerichteten historia als Lehrmeisterin des Lebens am nächsten steht. Ohnehin hat sich der sensus tropologicus am haltbarsten in neuen Wirklichkeitskonzeptionen behauptet. Ich betrachte das >Faustbuch< (1587), Wickrams >Goldfaden< (1557), seinen >Knabenspiegel< (1554) und den >Fortunatus< (1509). Die Chronologie ist also umgekehrt, und das hat seinen Grund. Einmal verstärkt sich im Zuge der Konfessionalisierung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der Rückgriff aufs Mittelalter, so daß - wie Friedrich Ohly vor Jahren feststellte - das Zeitalter des Barock mittelalterlicher Bedeutungslehre nähersteht als die Renaissance.7 Zum anderen ist die Auseinandersetzung 5

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JAN-DIRK MÜLLER, Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert - Perspektiven der Forschung (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1. Sonderheft: Forschungsreferate, Tübingen 1985, S. l -128), hier S. 71 -75, 88-92. Das Problem einer allegorischen >Lesbarkeit der Welt< in der Frühen Neuzeit hat vor allem FRIEDRICH OHLY in einer Reihe weitgespannter Studien erörtert. Ich greife heraus: FRIEDRICH OHLY, Deus Geometra. Skizzen zur Geschichte einer Vorstellung von Gott (Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des frühen Mittelalters, hg. von NORBERT KAMP - JOACHIM WOLLASCH, Berlin - New York 1982, S. 1-42); DERS., Das Buch der Natur bei Jean Paul (Studien zur Goethezeit. Festschrift Erich Trunz, hg. von HANS-JOACHIM MAHL - EBERHARD MANNACK, Heidelberg 1981, S. 177-232). Vgl. ERICH KLEINSCHMIDT, Denkform im geschichtlichen Prozeß. Zum Funktionswandel der Allegorie in der frühen Neuzeit (Formen und Funktionen der Allegorie [wie Anm. 1] S. 388-404), bes. S. 390f. Zum Problem des Publikums allegorischer Dichtung auch: GAY CLIFFORD, The Transformations of Allegory, London - Boston 1974, S. 37. FRIEDRICH OHLY, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter (DERS., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 1-31, hier S. 28, zuerst in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89, 1958/1959, S. 1-23); DERS., Einleitung zu des Hieronymus Lauretus >Silva Allegoriarum totius Sacrae Scripturae< [1971] (DERS., Schriften, S. 156-170), hier S. 159f.

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mit einer jahrhundertealten Bildtradition kein linear fortschreitender Prozeß. Es sind mehrere Lösungen gleichzeitig verfügbar, abhängig auch von der jeweiligen Intention: die Antilegende des Teufelsbündlers Faustus, ausdrücklich geformt nach einem theologischen Konzept, wird weit stärker auf das Weltdeutungsarsenal der Tradition verwiesen sein als die Geschichte des Geldbesitzers Fortunatus. Andererseits jedoch verfährt ein biblisch inspirierter Text wie Wickrams >Knabenspiegel< weit zurückhaltender beim Rückgriff auf tradierte Bildbestände als dessen >GoldfadenFaustbuchFaustbuch< von 1587, ist zugleich am deutlichsten der Tradition verpflichtet. Friedrich Ohly hat in Faustus den Helden einer Antilegende erkannt, dessen Schicksal kontrafaktisch auf die Laufbahn eines Heiligen bezogen ist, diese nämlich Punkt für Punkt negiert.8 Ohlys Beobachtungen lassen sich bis in Einzelheiten fortführen. Ich greife die Szene nach Abschluß des Paktes heraus (Welcherley gestalt der Teuffei Fausto erscheinet)? An ihrem Ende überreicht der Doktor Mephostophiles die Verschreibung, so daß damit der Abschluß endgültig rechtskräftig ist. Was der Teufel ihm in der fraglichen Szene vorführt, damit er sein furnemmen noch freudiger mochte ins Werck setzen, scheint Faustus also von der Richtigkeit des Paktes überzeugt zu haben: Nun Hab ich doch nie nichts böses noch abscheuliches gesehen / sondern mehr Lust vnndFreuwde (S. 858). Das ist einer jener verhängnisvollen Irrtümer, die der Leser durchschauen soll. Denn was Faustus sieht, ist grausige Verkehrung der gottgewollten Ordnung, inszeniert freilich als amüsantes Spukspektakel. Zunächst erscheint der Teufel in Gestalt eines feurigen Mannes. Danach/o/gete ein Motter vnd Geplerr / als wann die Munch singen (S. 856). Daß der Chorgesang der Mönche wie überhaupt alles Katholische Teufelswerk seien, muß dem christlichen, und das heißt hier: evangelischen, Leser niemand sagen. Dann erhebt sich ein Kriegslärm, eine Reihe von Tieren erscheint, zuletzt ertönt eine Musik, die Faustus himmlische Harmonie zu sein scheint, da er doch bey dem Teuffei war, gespielt von geistlichen Instrumenten wie Orgel, Positiv und Harfe, doch zuletzt sich entlarvend durch die vornehmlich mit dem Teufel assoziierten schrillen Blasinstrumente.10 8

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FRIEDRICH OHLY, Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge. G 207) Opladen 1976. Vgl. DENS., Desperatio und Praesumptio. Zur theologischen Verzweiflung und Vermessenheit (Festschrift Otto Höfler, hg. von HELMUT BIRKHAN [Philologica Germanica 3] Wien 1976, S. 499-556). Mit Ausnahme des >Goldfaden< sind die Texte zitiert nach: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von JAN-DIRK MÜLLER (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1) Frankfurt/ M. 1990. Einfache Seitenangaben im Text beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe, Zitat hier S. 856f. REINHOLD HAMMERSTEIN, Diabolus in Musica. Studien zur Ikonographie im Mittelal-

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Das ist alles eindeutig und dem Leser durchschaubar negativ besetzt, doch erst die Tiererscheinungen stellen den kontrafaktischen Bezug auf das Leben des Heiligen her: Hunde hetzen einen Hirsch biß in D. Fausti Stuben / da ward er von den Hunden nidergelegl (S. 857). Der von Hunden gehetzte Hirsch kann Bild der Passion Christi sein; in der Auslegung von Psalm 41 (42) verweist er auf den Gläubigen, der sich vor den Nachstellungen des Teufels zu Gott - als dem frischen Wasser - flüchtet: Also begeret mein sele zu dir.11 Hier nun ist der Vorgang ins Gegenteil verkehrt: Der Hirsch, der zum Teufelsbündler flieht, findet statt der Erlösung den Tod. Es folgt ein Kampf zwischen Löwe vndDrach, von dem es heißt: wiewol sich der Louw tapffer wehrete j ward er dannoch vberwunden / vnd vom Drachen verschlungen. Der Drache ist Teufelssymbol; als sein Gegner dürfte der Löwe auf Christus deuten, den leo de tribu Juda.12 Wenn der Löwe vom Drachen verschlungen wird, ist Heilsgeschichte verkehrt. Als nächstes erscheint ein

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ter (Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft 6) Bern - München 1974, S. 26-29, vgl. S. 60f.; DERS., Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters, Bern - München 1962, S. 222-244. Hermann Heinrich Frey, Therobiblia. Biblisch Thier- Vogel- und Fischbuch [Leipzig 1595]. Mit Vorwort und Register hg. von HEIMO REINITZER, Graz 1978, Bl. 122V; vgl. Bll. 121v, I22r; Christus als die von Hunden gehetzte Hindin: Bl. 119r. Zur Tradition vgl. HERBERT KOLB, Der Hirsch, der Schlangen frißt. Bemerkungen zum Verhältnis von Naturkunde und Theologie in der mittelalterlichen Literatur (Mediaevalia litteraria, Festschrift Helmut de Boor, hg. von URSULA HENNIG - HERBERT KOLB, München 1971, S. 583-610), hier S. 602f.; vgl. Nicolaus von Lyra, Postilla super totam Bibliam, Straßburg 1492 [Nachdruck Frankfurt/M. 1971], Bd. 3, zu PS 41; Martin Luther, Dictata supra Psalterium (1513), Weimarer Ausgabe 3, S. 232f. Weniger deutlich: Glossa ordinaria zu PS 41, 3 (PL 113, Sp. 905); im allgemeinen ist der Vorgang mit dem Bild des Schlangen fressenden Hirschs verknüpft (Schlangen = Laster: Augustinus, Enarrationes in Psalmos [CCL 38, S. 461]). Apc 5,5. Vgl. etwa Pseudo-Hugo von St. Viktor, De bestiis et alliis rebus II l (PL 177, Sp. 57); PETER BLOCK, Löwe (Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 3, Rom u.a. 1971, Sp. 112-119), Sp. 117; DIETRICH SCHMIDTKE, Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100-1500), Diss. FU Berlin 1968, S. 334. Zum Drachen als Teufelssymbol: Apc 12,3 und 20,2; als Lastersymbol vgl. ELISABETH LUCCHESI PALLI, Drache (Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. l, Rom u.a. 1968, Sp. 516-524); REINHOLD MERKELBACH, Drache (Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 4, Stuttgart 1959, Sp. 226-250); LISELOTTE STAUCH, Drache (Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1958, Sp. 342-366); vgl. SCHMIDTKE, S. 265f., 583-585; MORTON W. BLOOMFIELD, The Seven Deadly Sins. An Introduction to the History of a Religious Concept, with Special Reference to Medieval English Literature, Michigan State College Press 1952, S. 246-248; NIGEL HARRIS, The Latin and German Etymachia. Introduction, Edition and Commentary, Thesis Oxford 1988, S. 342-346. Ich danke Herrn HARRIS, daß ich seine hervorragende Dissertation schon vor dem Erscheinen im Druck zitieren darf, und Herrn Nigel F. Palmer, der die Dissertation betreute, für die Vermittlung des Kontaktes. Da hier weit über die bisherigen Arbeiten zu diesem Thema hinaus das Material zur allegorischen Auslegung von Tieren als Laster zusammengestellt ist, werde ich beim Zitieren einschlägiger Belege hauptsächlich auf diese Studie verweisen. Der Auftritt der Höllenfürsten (vgl. Anm. 19) macht es wahrscheinlich, daß der Verfasser den >Etymachietraktat< oder verwandte Schriften gekannt hat. Doch bedient er sich der Tradition verhältnismäßig frei.

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schöner Pfaw / sampt dem Weiblein / die zanckten mit einander / vnd bald warden sie vertragen: Bilder der superbia, vielleicht auch der (im übrigen im Drachen symbolisierten) invidia, die Faustus' Nähe suchen.13 Als nächstes ein zorniger Stier, der vor Faustus niederfällt14 und verschwindet, dann ein Affe, Bild der vanitas, die im Aufzug der Laster auch mit acedia assoziiert wird;15 schließlich noch ein Sack voll Silber und einer voll Gold (avaritia): Es sind Zeichen der peccata mortalia, die sich um Faustus versammeln.16 Vervollständigt wird der Septenar in den beiden folgenden Kapiteln, die Faustus als Opfer von gula und luxuria zeigen. In seiner Nähe verendet der Hirsch, unterliegt der Löwe, findet sich Hoffart, Hader, Zorn, die Symbolfigur müßiger Neugierde17 und Habgier. Faustus läßt sich täuschen, weil der Teufel sich wie ein Haustier gebärdet und die Erscheinungen bloß unterhaltsam wirken. Die gleiche Verkehrung wiederholt sich jedoch in der Höllenfahrt, bei der ausgerechnet die Figurationen des Lasters Faustus vor seinem Sturz ins Bodenlose scheinbar >rettenFaustbuchs< Zeichen einer teuflischen Gegenwelt. Diese Zeichen können allerdings auf zweierlei Weise gelesen werden: >richtig< soll sie der Leser entziffern, der sie als Hinweise auf widergöttliche Verkehrung 13

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BLOOMFIELD (wie Anm. 12) S. 245. JOACHIM KRAMER, Pfau (Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 3, Rom u.a. 1971, Sp. 409-411); SCHMIDTKE (wie Anm. 12) S. 370373, 633 ; HARRIS (wie Anm. 12) S. 259-263. Invidia wird freilich eher von anderen Tieren symbolisiert, besonders vom Drachen, auch der Schlange, dem Hund oder Wolf (BLOOMFIELD, S. 246). Der Stier ist vor allem durch sein Epitheton charakterisiert (vgl. SCHMIDTKE [wie Anm. 12] S. 260, 580). Zum Affen: H.W. JANSON, Apes and Ape Lore in the Middle Ages and the Renaissance, London 1952, S. 202-206 (acedia, nutzloser Zeitvertreib), S. 207-210 (vanitas). Der Affe ist die Helmzier der acedia im >Etymachietraktat< (HARRIS [wie Anm. 12] S. 143, 242); zu weiteren Bedeutungen des Affen vgl. JANSON, S. 29-71 (der Affe als Sünder), S. 115f., 261-286 (sexuelle Begierde); SCHMIDTKE (wie Anm. 12) S. 237f., 572f.; HARRIS^. 357-359. Vgl. neben BLOOMFIELD (wie Anm. 12) und HARRIS (wie Anm. 12) OTTO ZÖCKLER, Das Lehrstück von den sieben Hauptsünden. Beitrag zur Dogmen- und Sittengeschichte, insbesondere der vorreformatorischen Zeit, München 1893; MARIE GOTHEIN, Die Todsünden (Archiv für Religionswissenschaft 10, 1907, S. 416-484); HANNO FINK, Die sieben Todsünden in der mittelenglischen erbaulichen Literatur (Britannica et Americana 17) Hamburg 1969. Im >Faustbuch< scheint sich eine konventionelle Bildlichkeit (superbia, acedia, avaritia) mit einer eher handlungsbedingten Charakteristik (ira) zu überlagern, in invidia (Drache, Pfau) kommt beides zusammen. Vgl. Anm. 15. Die vanitas-Deutung trifft vor allem auch den Affen in der Umgebung des Menschen: vanis servil curiositatibus (Alexander Neckam, De naturis rerum, hg. von THOMAS WRIGHT [Rerum Britannicorum Medii Aevi Scriptores 34] London 1863 [Nachdruck Nendeln 1967], 129 [S. 208]). Solch nutzlose curiositas ist aber eben das Laster des Faustus. Vgl. S. 892 : Wurme (>Drachenfalsch< dagegen liest sie Faustus, der nur das Unterhaltsame des Gauckelspiels (S. 856) erkennt: welches mir ein grosse Freuwd gegeben (S. 858): Der Teufelsspuk als bloßes Spektakel. Ganz ähnlich empfängt Faustus später die fürnembsten Höllenfürsten in seiner Wohnung (S. 888) und erkennt nicht, daß ihre chimärenhafte Gestalt Auskunft über ihren wahren Charakter gibt.19 Es gibt also zwei Lektüren, die allerdings nicht gleichwertig sind. Daß man jene Inkarnationen des Lasters auch kurios und possierlich finden kann, ist Zeichen für Faustus' Verblendung. Seine Blindheit für die von Gott angelegten Bedeutungen im >Buch der Natur< ist die Kehrseite seines Wissenstriebs, der sich statt auf die eigene Erlösung auf die Vielfalt und Beliebigkeit einer kuriosen Erscheinungswelt richtet.20 Konfrontiert werden also zwei Sehweisen, die der Verfasser eindeutig bewertet haben will. Allerdings kann die Welt des Faustbuchs nicht mehr insgesamt als von Gott gestifteter Zeichenzusammenhang gelesen werden. Was Faustus vom Teufel über die Natur erfährt, mag kraus sein und angesichts des damaligen Erkenntnisstandes reichlich veraltet, in jedem Fall geht es dabei um rein immanente Erkenntnis von Naturdingen, ohne höhere Signifikanz. Eben dies zeigt die Gottferne der Faustischen Wißbegierde an. Für den Christlichen Leser stellt sich zwar ein Verweisungszusammenhang von res signiflcativae her, jedoch immer nur punktuell; er strukturiert nicht die >Historia< insgesamt. Auch sind es nicht die Dinge selbst, die zu dem Einsichtigen sprechen oder ihm wenigstens von einem Kundigen ausgelegt werden, sondern die Bedeutung ist arrangiert. Arrangeur ist der Teufel, der das Divertissement und die Höllenfahrt mit allegorice ausdeutbaren Wesen bevölkert. Adressat des bedeutsamen Arrangements ist jedoch nicht Faustus, sondern der Leser, dem der Erzähler die Augen über das widergöttliche Treiben öffnen will. Die einfache Relation Zeichen - Auslegung - Bedeutung läßt zwei einander entgegengesetzte Operationen zu; die Illusionierung des Teufelsbündlers und die Belehrung des Christlichen Lesers. Isolation von res signißcativae und Arrangement zu einem auf den ersten Blick kryptischen Text, der einen begrenzten Sachverhalt deutend aufschließt, 19

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Bei Christopher Marlowe sucht der Teufel mit einem Auftritt der sieben Todsünden Faust von seiner Reue abzulenken (Marlowe's Doctor Faustus, 1604-1616. Parallel Texts, hg. von W.W. GREG, Oxford 1950, 2. Akt, 2. Szene, S. 204-209). Faustus reagiert ebenso unangebracht amüsiert wie bei Abschluß des Paktes. Das >Faustbuch< enthält, bisher nicht bemerkt, eine entsprechende Szene (gegen GOTHEIN [wie Anm. 16] S. 481), wobei allerdings die peccata mortalia nur durch die Tiergestalt der teuflischen Chimären angezeigt sind und keine völlig eindeutige Systematik zugrunde liegt. Lastersymbole sind Bär, Drache/Schlange, Eichhörnchen, Hund, Esel, Ochse. Das Rebhuhn wird in den Bestiarien als boshaftes, den Teufel anzeigendes Tier gedeutet (vgl. den Kommentar der in Anm. 9 zitierten Ausgabe). Zum Typus von Wissen, das Faustus erwirbt: JAN-DIRK MÜLLER, Curiositas und erfarung der Welt im frühen deutschen Prosaroman (Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, hg. von LUDGER GRENZMANN - KARL STACKMANN [Germanistische Symposien. Berichtsbände 5] Stuttgart 1984, S. 252-271), S. 261f.

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ist das Verfahren der Emblematik.21 Poetologisch wie texttypologisch hat das Faustbuch gewiß mit Emblemata nicht das mindeste zu tun. Trotzdem gibt es ein Gemeinsames: Daß sich zwischen die Schrift Gottes in der Natur und den Betrachter ein Subjekt schiebt, das die Schriftzeichen bedeutungsvoll oder rätselhaft anordnet, häufig auch umdeutet und Sinn noch da, wo es seine Elemente dem von Gott geschriebenen >Buch der Natur< entnimmt, als veranstalteten erkennen läßt. Im einen Fall ist es der Gelehrte und Weltmann, der seinen Scharfsinn beweist; im anderen der Teufel beziehungsweise sein Regisseur, der Erzähler, der im Bildarrangement dem Leser indirekt zu verstehen gibt, wie es in Wahrheit um den Erzzauberer bestellt ist. Wickram, >GoldfadenGoldfaden< erschien 30 Jahre früher (1557). Er erzählt die Geschichte eines Hirtensohnes, der von einem Kaufmann adoptiert wird, nach einem Zwischenfall flieht, sich als unterster Diener bei einem Grafen verdingt, doch durch die Liebe der Tochter des Grafen und durch seine Tüchtigkeit schließlich zum Schwiegersohn und Nachfolger aufsteigt. Das Sprichwort, daß 100 Jahre aus einem Hirten einen König und aus einem König einen Hirten machen, wird an einer einzigen Generation exemplifiziert. Der Aufstieg Lewfrids - so heißt der Held - durch Erziehung, Ausdauer und Tapferkeit wird von Wickram nun zwar ausführlich begründet, jedoch zugleich an eine Reihe >unwahrscheinlicher< Begleiterscheinungen gebunden, die den Leser wohl auf die Außergewöhnlichkeit einer Geschichte hinweisen sollen, in der die Besten, Tüchtigsten und Klügsten Herrscher werden. Zu diesen Hinweisen gehört auch ein Löwe, der vor der Geburt des Helden erscheint, von dem er ein Geburtsmal (eine Löwentatze auf der Brust) trägt und auch seinen Namen erhält.22 Dieser Löwe nun ist kein gewöhnlicher Löwe. Wenn er bei der Herde von Lewfrids Vater erscheint, zerstreut er nicht die Tiere und reißt auch keines von ihnen, sondern hütet sie wie ein Schäferhund. Statt die Menschen anzugreifen, wird er heimlich (S. 3) mit ihnen und ist zumal kaum von dem Neugeborenen wegzubekommen. So erregt er allenthalben Erstaunen und wird als >Zeichen< gedeutet: gewißlich würdt ein mannlicher und theurer heldauß disem kind werden / dann dise vnd andere zeichen so an im gesehen / geben des gnugsame und gewisse 21

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Aus etwas anderer Perspektive: HOFFMANN (wie Anm. 1) S. 524f. (die >politische< Verwendung der Bildersprache setzt einen derart auswählenden und kombinierenden Umgang mit der Tradition voraus); vgl. KLEINSCHMIDT (wie Anm. 6) S. 390,392. Georg Wickram, Sämtliche Werke, Bd. 5, Der Goldfaden, hg. von HANS-GERT RoLOFF, Berlin 1968, S. 1-7. Es liegt nahe, an eine Anspielung auf den >Iwein< Hartmanns von Aue zu denken, doch ist die (auch gewaltlose) Bezwingung des Löwen ein heroisches Klischee, zeitgenössisch präsent zum Beispiel im >Theuerdank< Maximilians L, Kapitel 16. Der junge Held des >Herpin< (übersetzt von Elisabeth von Nassau-Saarbrücken) erhält seinen Namen Lew von einer Löwin, die ihn säugt.

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kundtschafft (S. 6). Wer so vermutet, behält Recht, denn in der Tat zeichnet den Jungen ein Lewisch gemüt aus. Im Löwen verkörpert sich seine fortitudo; der Löwe zeigt seine Adelsqualität an, seine Auserwähltheit durch Gott und seine Berufung zur Herrschaft.23 Gott will zeigen, daß Lewfrid mit fugend und mannheyt begabt ist (S. 129). Der Löwe ist außerdem Rechtssymbol, wie sich andeutet, als er Lewfrid bei einem Mordanschlag beisteht (S. 115f.). Der Holzschnitt zum ersten Kapitel zeigt ihn friedlich ruhend inmitten einer Schafsherde, Signal einer utopischen Friedensordnung: das Raubtier an der Seite des Lammes.24 Nicht auf die Herkunft dieser eher trivialen significationes kommt es hier an, sondern auf ihre Einbettung in den Erzählkontext. Wickrams Absicht ist es zu zeigen, wieweit es jemand von wegen seiner Tugendt vnnd dapfferkeyt bringen kann.25 Der Wahrscheinlichkeit dieses Ergebnisses steht der Löwe, zumindest ein solcher Löwe, eher im Wege. Wie also werden ein >vertikal< deutendes und ein >horizontal< verknüpfendes Erzählverfahren miteinander vereinbart? Erstens wird das sinnstiftende Element >Löwe< in der Geschehensfolge isoliert. Der Löwe begleitet nicht durchweg den Weg des Helden, sondern verschwindet zwischendurch aus der Handlung oder tritt in den Hintergrund, wenn es gerade nichts anzuzeigen gibt. Die Allegorie organisiert nicht das im übrigen durchaus alltägliche Geschehen insgesamt, sondern allegorische Elemente stellen punktuell übergreifende Sinnbezüge her. Das erinnert an das >Faustbuchwunderbar< aus der Erzählwelt heraus und werden als solche bestaunt. Nicht der Löwe ist wahrscheinlich, aber die Reaktion der Umwelt auf ihn: Die Herde ist verängstigt, der Hirt und seine Frau erleiden einen Schock, das Dorf gerät in Panik. Daß der Löwe sich dann anders als erwartet verhält, macht ihn zur Sehenswürdigkeit, die zu bewundern man von allen Seiten herbeieilt und die der König ausdrücklich unter Artenschutz stellt (S. 4). Als außergewöhnlich erhält der Löwe seinen Platz in der gewöhnlichen Ordnung der Dinge. Drittens erhält er seine significatio erst durch die Interpretation jener, die dem >Wunder< Bedeutung zuschreiben: Die Eltern und ihre Freunde erkennen im Löwen das glückverheißende Zeichen und tragen ihm durch Taufe des Kindes auf den Namen Lewfrid Rechnung. Die Geliebte erkennt Lewfrids Auszeichnung an dem Löwen, der ihm getreulich dient. Ihr Vater, der Graf, gibt seinen Wider23

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Zum gängigen Symbol der fortitudo: BLOCH (wie Anm. 12) Sp. 118; OTTO LEHMANNBROCKHAUS, Tierdarstellungen der Fiori di Virtu (Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 6, 1941, S. 17f.). Vgl. die Diskussion um die Bedeutung des Löwen im >Iwein< (Recht, Christus): THOMAS CRAMER, Saelde und ere in Hartmanns Iwein (Euphorien 40, 1966, S. 30-47), S. 39; J.M. CLIFTON EVEREST, Christian Allegory in Hartmann's Iwein (The Germanic Review 48,1973, S. 247-259), S. 253f. Zum utopischen Versprechen des Holzschnitts vgl. Is 11,6 und 65,25; Vergil, Bucolica IV 21f. Vgl. ERIKA DINKLER-VON SCHUBERT, Tierfriede (Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Rom u.a. 1972, Sp. 317-320). Georg Wickram, Dialog von einem ungeratenen Sohn (wie Anm. 9) S. 826 über den >GoldfadenZeichen< sich in der Alltagswelt fremd ausnimmt und der Banalität eines zahmen Raubtiers gelegentlich der Zeichencharakter abhanden kommt. Eben diese »awkwardness« ist aber Indiz dafür, daß hier zwei unterschiedliche Modelle von Welt interferieren. Wie einmal das eine, einmal das andere dominiert, zeigen zwei einander zugeordnete Szenen. Die erste - der Löwe hilft seinem Herrn gegen einen Mordanschlag - entspricht der ihm traditionell eingeschriebenen Bedeutung (Eintreten für das Recht). Die andere komplementäre aber - Lewfrid steht seinem Löwen unter Lebensgefahr bei - enthält, soweit ich sehe, keine auslegungsfähige Bildlichkeit mehr: denn ausgerechnet ein Hirsch bedroht das Leben des Löwen. Gemeinsam bringen Herr und Raubkatze das gefährliche Tier zu Fall, so daß der Hirsch eilens todt was (S. 206): ein ziemlich unglaubwürdiger Jagdunfall, nichts mehr. Es scheint abwegig, hinter dem Hirsch mehr zu suchen als eine der Gefahren, die auf Löwen nun einmal lauern, jedenfalls bei Wickram. Traditionelle Bedeu-

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tungszuschreibungen des Kirschs (zum Beispiel Christus, die gläubige Seele) sind vergessen oder schlicht unbekannt: der Hirsch ist ein Hirsch. Wickrams Erzählwelt ist nur partiell >lesbarLesbarkeit< der Welt und das Inventar >lesbarer< res zum Bestand kulturellen Wissens derer, von denen erzählt wird (ein Wissen, das der Erzähler freilich teilt!). Die Figuren >erkennen< im Löwen die konventionelle Bedeutung und können ihn deshalb als Zeichen in einer von Gott gelenkten Weltordnung verstehen. Isolation, Markierung als ein >WunderbaresKnabenspiegelFortunatus< (1509) und Wickrams >Knabenspiegel< (1554). Ich beginne mit dem jüngeren Werk, in dem Wickram das Leben eines jungen Adligen und seiner bürgerlichen Gefährten erzählt, transparent gemacht auf die Geschichte vom verlorenen Sohn (Lc 15). Die Szene: Wilbald, der verlorene Sohn, hat alles, was er hatte, in böser Gesellschaft vertan. Er will sehen, ob er zu Hause von der Mutter weitere Unter26

In der Diskussion wurde auf die Nähe der besprochenen Phänomene zu der von UWE RUBERG untersuchten »realisierten Metapher« verwiesen, s. UWE RUBERG, >Wörtlich verstandene und realisierte< Metaphern in deutscher erzählender Dichtung von Veldeke bis Wickram (»Sagen mit sinne«. Festschrift Marie-Luise Dittrich, hg. von HELMUTH RÜCKER - KURT OTTO SEIDEL [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 180] Göppingen 1976, S. 205-220), zu Wickram S. 216f. Mir kommt es hier mehr auf die Differenz an: Die »realisierte Metapher« bleibt Metapher. Die metaphorische Rede ist Ausgangspunkt; sie semantisiert nicht nur, sondern determiniert das szenische Arrangement der Erzählwirklichkeit, setzt sich in deren Gegenständlichkeit fort (vgl. bei RUBERG den schmalen Weg zum Heil, den Gregorius zu gehen hat; die Fessel der Sünden und die eiserne Beinfessel des Sünders; die in der Brust verschlossene Liebe und den in die Brust eingenähten Goldfaden). Die Elemente der narrativ entfalteten Szene erscheinen von vornherein als Zeichen zweiter Ordnung. Umgekehrt hier: Es gibt keinen übergeordneten metaphorischen Diskurs, sondern punktuell werden Elemente der Erzählwirklichkeit transparent auf eine Bedeutung zweiter Ordnung, und zwar dank der Deutungsaktivität der am Geschehen Beteiligten.

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Stützung bekommen kann. Auf dem Rückweg ist er gezwungen, sich als Viehhirt zu verdingen, als sewhirt (S. 745). Doch es kommt noch schlimmer: Als er mittags einmal unter einem Baum eingeschlafen ist, kommen die Wölfe, reißen einige Stücke Vieh und zerstreuen die übrige Herde. So muß Wilbald, der mit dem Schrecken davonkommt, erneut fliehen. Er rettet sich in den Wald, wo sein Leben von wilden Tieren bedroht ist. Hilflos scheint er ihnen ausgeliefert. Ohne Schlaf verbringt er die schlimmste Nacht seines Lebens. Am nächsten Morgen zieht er weiter und verdingt sich als Knecht bei einem Sauhirten, fällt also noch eine Stufe tiefer. Erst jetzt ist der Punkt der Umkehr erreicht. Ein Traum öffnet ihm die Augen über das, was er geworden ist, und er beschließt, nach Hause zurückzukehren, um sich reuig dem Vater zu Füßen zu werfen (S. 764). Die prägnante biblische Parabel wird also in eine längere Handlungssequenz übersetzt. Wickram verdoppelt die Situation größter Erniedrigung (Sauhirt, dann Knecht eines Sauhirten), und er schaltet zwei zusätzliche Szenen ein, die die Rückkehr motivieren sollen: die Bedrohung durch die Tiere und den Traum. Im Traum sieht Wilbaldus, wie Lottarius, der Gefährte seiner Ausschweifungen, seine Schandtaten mit dem Galgen büßte und nicht einmal im Tod Ruhe finden kann. Am Bild des anderen erkennt er sich selbst und in sich den Typus, den verlorenen Sohn, dem ich mich dann gentzlich vergleichen mag / dieweil ich mein gut vnd hab mit schnöder vnd üppiger geselschafft bin on worden (S. 764). Indem er den Typus in sich erkennt, kann er auch wieder hoffen: Gott würt mich nit verlassen / vnd mich wider in meines Vatters hauß bringen j wie er dann auch dem verlernen Son getan; und er macht sich auf den Weg (S. 764). Die Szenenfolge erzählt eine conversio. Ihr genügt nicht das eine Bild, in dem sich blitzhaft der Status des Sünders offenbart und die Umkehr vollzieht (in se aulem reversus, Lc 15,17), sondern es müssen Erfahrungen kumuliert werden, damit die Figur subjektiv das nachvollzieht, was objektiv gilt. Am Beginn der Sequenz hoffte Wilbald nur, aus seiner mißlichen Lage herauszufinden. Erst an ihrem Ende ist er zur bedingungslosen Unterwerfung unter die väterliche Gewalt bereit: legt er mich dann in ewige gefenckniß hab ich grosser übel verschuldt j jedoch wil ich lieber beijm in gefengnüß verschlossen mein laben schliessen l damit er mir doch mein groß mißthat vergebe j dann also in einem freyen laben / im eilend bleiben. (S. 764)

Die Parabel wird also als ein mühevoller Lernprozeß über mehrere Stufen hin nachinszeniert, der zum Erfolg führt in dem Augenblick, in dem der biblische Typus erkannt und reflexiv auf die eigene Erfahrung bezogen wird. Was bedeutet vor diesem Hintergrund die Bedrohung durch wilde Tiere, die Wölfe, die die Herde zerreißen, die Schweine, Bären und Luchse, die der wehrlose Wilbald im Wald fürchtet? Soll nur das Bild der Verlorenheit aufs Äußerste gesteigert werden, um die Umkehr vorzubereiten? Die Auslegungstradition von Lc 15 weist noch in eine andere Richtung: Der Dienst des verlorenen Sohns auf dem Landgut eines fremden Herrn, das Leben unter den Schweinen nämlich, der Versuch, sich wie sie zu nähren, ist Bild des Sünders, der dem Fürsten der

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Welt dient und dem Laster verfallen ist: vt pasceret porcos idest vicia quaefetida sunt et immunda [...]. Radix omnium malorum es t cupiditas21 Diese Deutung von Lc 15,15f. durch Nicolaus von Lyra steht in einer langen, auf die Kirchenväter zurückreichenden Tradition. Der Sünder, der dem princeps huius mundi dient, fordert den Angriff der bestiae heraus. In den bestiae verkörpern sich die sieben Todsünden, wie sie mittelalterliche Traktate in der Nachfolge Gregors des Großen systematisieren.28 Wickram kennt die Zuordnung von Lastern und wilden Tieren. In seiner Schrift >Die Sieben Hauptlasten nennt er unter anderen Bär (ira), Wolf (gula) und Schwein (luxuria).29 Danach würden also die Wölfe auf den schlam, das sinnlose Prassen, verweisen, die Schweine auf die Unzucht, jene Laster also, durch die Wilbald in Antwerpen sein Geld durchgebracht hat. Allerdings ist die Beziehung nicht eindeutig fixiert. Auch ist anzunehmen, daß Wickram neben der zitierten noch andere Bedeutungen kannte, wie sie zum Beispiel im >Etymachietraktat< niedergelegt sind.30 So ist etwa die Bedeutung des Bären keineswegs auf ira festgelegt, sondern er repräsentiert auch die meisten übrigen Hauptlaster.31 Auch wenn sie also in einen durchaus wahrscheinlichen Handlungszusammenhang eingelassen sind, zeigen Wolf, Bär und Schwein Wilbald noch immer als einen Spielball jener Mächte, denen er mit Entfernung aus dem Elternhaus immer mehr verfallen war. Damit ist die Szene Durchgangsstation auf dem Wege zur Selbsterkenntnis, die sich dann, nun ganz auf die individuelle Geschichte zugeschnitten, im Traum einstellt. Diese versteckte Bedeutung wird durch eine andere Szene bestätigt, die spiegelbildlich die Bedrohung durch bestiae widerruft. Ins Haus des Vaters zurückgekehrt, muß Wilbald sich erst noch lange Zeit bewähren, bis er dem Vater im Amt nachfolgen darf. Drei Jahre hat er als Forstmeister dem Fürsten zu dienen, doch gibt es in diesem langen und mühsamen Prozeß seiner Wiedereingliederung in die Gemeinschaft eine Situation, die schlaglichtartig seine Wandlung be27

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Nicolaus von Lyra (wie Anm. 11) Bd. 4, zu Lc 15; Glossa ordinaria in Evangelium secundum Lucam (PL 114, Sp. 312ff.); Hieronymus, Epistola XXI (PL 22, Sp. 384f.); Ders., Expositio quatuor Evangeliorum. Lucas (PL 30, Sp. 574); Ambrosius, Expositio evangelii secundum Lucam (CCL 14, S. 289); Augustinus, Quaestiones Evangeliorum II (CCL 44 B, S. 74); Beda, In Lucae evangelium expositio (CCL 120, S. 288). Vgl. die in Anm. 16 zitierten Arbeiten, insbesondere den Überblick bei BLOOMFIELD (wie Anm. 12) S. 245-249, und HARRIS (wie Anm. 12). Georg Wickram, Sämtliche Werke, Bd. 8: Die sieben Hauptlaster, hg. von HANS-GERT ROLOFF, Berlin - New York 1972, S. 184. DIETRICH SCHMIDTKE, Etymachietraktat (Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 2, Berlin - New York 1980, Sp. 636-639); MICHAEL EVANS, Laster (Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 3, Rom u.a. 1971, Sp. 1527), Sp. 21f.; HARRIS (wie Anm. 12). Vgl. die (von HARRIS korrigierte) ältere Edition aufgrund einer Göttweiger Handschrift: J.V. HÄUFLER, Die Note wider den Teufel (Archiv für Kunde österreichischer Geschichts-Quellen 5,1850, S. 583-606). Zur Bedeutung des Bären: LISELOTTE WEHRMANN-STRAUCH, Bär (Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. l, Rom u.a. 1968, Sp. 242-244); SCHMIDTKE (wie Anm. 12) S. 247f. (1,4: luxuria; III, 1: avaritia); ZÖCKLER (wie Anm. 16) S. 92 (gula); FINK (wie Anm. 16) S. 76 (acedia); HARRIS (wie Anm. 12) S. 282 (unter anderem invidia).

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leuchtet. Er tötet nämlich mit unzureichenden Waffen eine Bärin, die durch den Tod ihrer Jungen aufs Höchste gereizt ist. Dabei rettet er seinem Diener das Leben. Gewiß ist das eines jener aufs wahrscheinliche Maß zurückgeschnittenen Abenteuer, die der junge Adlige anstatt der ritterlichen äventiure im höfischen Roman zu bestehen hat. Daß die Tat aber tiefere Bedeutung hat, wird von einer der Figuren, dem Vater des verlorenen Sohnes nämlich, ausgesprochen: ey du lieber Gott wie seind deine vrteil so wunderbarlich / diser mein Son muß gewißlich noch grosse far best on / dieweil du jn in so manchen vnd grossen geferden bewares t / ich glaub das er zu einer seltzammen stund an die weit sey kummen / wolan ich bin dich / bewarjn alzeit vor schand vnd lasier / vnd gib jm sunst zu schaffen genug / damit er sein üppiges vorriges wesen nit mer anfoch. (S. 789f.)

Der Vater assoziiert die Tat mit der Abkehr Wilbalds von der luxuria (üppiges wesen). Sie wird assoziiert, das heißt in Wickrams Welt reicht das Zeichen allein nicht aus, es muß als Zeichen gelesen werden. Allerdings arbeitet die Selektion des Erzählers einer solchen Lektüre vor. Auffälligerweise nämlich hat der Forstmeister es in seinem Amt vornehmlich mitfressammen Baren / wilden Schweinen vnd andren grausammen wilden thieren zu tun (S. 788): ungeachtet der alltäglichen Pflichten gegenüber dem Fürstenhof32 ist das Amt auf heroische Bewährung angelegt. Der Bärenkampf schließt eine Psychomachie ab, in der der verlorene Sohn anfangs noch gescheitert war; jetzt ist er Bezwinger der wilden Tiere, nicht mehr ihr Opfer; statt Preisgabe der Herde: Rettung des Knechts mit unzureichenden Waffen. Ohne daß der Text eine Beziehung andeutete, könnte eine andere biblische Parallele miterinnert werden: Auch der Erhöhung Davids geht der Kampf gegen Löwe und Bären voraus, gegen die er die Herde verteidigte, sine armis, wie Augustinus betont. Die Auslegungstradition dieser Stelle (I Sm 17,36) führt wieder zur Lasterallegorese zurück: die bestiae repräsentieren den Teufel oder aber superbia und luxuria.33 Hier hätte also das Schema (Laster-) Kampf-Erhöhung eine Entsprechung. Auch an Wickrams eigene Deutung des Bären als ira mag man beim vngestum der Bärin (S. 789) denken: ein Sieg also über jene unkontrollierte Affektivität, die Wilbald in den Konflikt mit Vater, Lehrern und Brüdern getrieben hatte. Der >Knabenspiegel< ist nach dem Vorbild der biblischen Parabel strukturiert. Allerdings ist deren Verlauf entscheidend verändert. Erstens: Die Parabel wird 32

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Es gehört zu den Umbesetzungen überlieferter Handlungsschemata bei Wickram, daß das Amt im Fürstenstaat, die Aufsicht über die fürstlichen Wälder und die Aufgabe, die fürstliche Tafel mit Wildbret zu versorgen, Anlaß eines Abenteuers sind, das Wilbalds Qualifikation als >ritterlicher< Held beweist. Der Holzschnitt zeigt an Stelle des Abenteuers den gewöhnlichen Aspekt von Wilbalds Tätigkeit als Forstmeister inmitten von Hasen und Rehen. Hrabanus Maurus, Allegoriae in sacram scripturam (PL 112, Sp. 1086), deutet die Stelle: >Leonem et ursum interfeci ego servus tuusempirisch< motivierend aufgearbeitet. Alle theologischen Implikationen sind gekappt (die Konkurrenz der Brüder als die zwischen Juden und Heiden oder Gerechten und Sündern, das Problem der Gnade und der Werkgerechtigkeit).34 Statt exemplarischer conversio ein komplexes Erziehungsprogramm, dessen Erfüllung nur narrativ, Schritt für Schritt nachzuvollziehen ist. Die eine Szene, in der der Umschlag erfolgen muß, wird deshalb in eine Szenenfolge auseinandergelegt, in der eine Situation auf der anderen aufbaut, Erfahrung kumuliert werden kann. Der Zusammenstoß mit den bestiae ist zunächst Glied in dieser Erfahrungskette. Zweitens: Der dem Geschehen eingezeichnete Sinn wird reflexiv. Der Held erkennt sich in der Parabel selbst, und weil er sich erkennt, kann er hoffen und die richtigen Entscheidungen treffen. Der Sinn bleibt an die Erkenntnis durch ein Subjekt und an seine Realisierung in der Zeit gebunden. Er setzt einen >Leser< voraus, der seine Erfahrungen im Horizont biblischer Überlieferung besser versteht. Drittens: Mit der Bindung des Zeichens an das wahrnehmende Subjekt wird seine Deutung offener. Der Bärenkampf wird zwar als ein Zeichen erkannt, aber wofür es steht, kann nur vermutet werden. Nur weil der Vater den Sieg über die Bärin als göttliches Zeichen versteht, wird der Leser aufgefordert, nach der Bedeutung zu forschen. Sonst nämlich bliebe der Vorgang blind, eingebunden in eine empirisch plausible Geschehensfolge. Das Zeichen verweist auf Großes, doch worauf, wird nicht gesagt. Die in ihrer Tendenz klare, konkret jedoch nicht bestimmte Bedeutung soll aus dem Bildgedächtnis aufgefüllt werden, doch muß jede Festlegung unsicher bleiben (luxurial irai diabolusT). Die Verbindung zwischen dem Bären und dem üppigen wesen wird zwar durch konventionelle Bildlichkeit gestützt, doch daß das eine - der Kampf - auf das andere - ein sittlich gefestigtes Leben - deutet, muß sich erst noch in der Zukunft zeigen. Zwischen Zeichen und Bezeichnetes schiebt sich damit viertens eine weitere Vermittlungsinstanz: das individuelle Leben, in dem Wilbald das, was der Kampf anzeigt, erst noch realisieren muß. Indem er sein üppiges wesen künftig abtut, hat das Zeichen wahrgesagt (und natürlich sagt es wahr). Es wird damit zur poetischen Vorausdeutung; hinter ihm steht nicht mehr eine intersubjektiv verbindliche Auslegungskompetenz, sondern nur die Aufforderung des Erzählers an den Leser, nach dem Sinn zu forschen. Allegorische Strukturen sind in Wickrams Historien in mehrfacher Hinsicht transformiert: Sie sind eingebettet in einen Geschehensnexus, der in sich kohärent zu sein beansprucht, nämlich aus dem Zusammenwirken komplexer innerer und äußerer Ursachen geknüpft ist. Was Zeichencharakter hat, gehört immer auch einer anderen, empirisch begründeten Ordnung an. Das einzelne bedeutungstragende Element kann dabei in verschiedene, untereinander verknüpfte zerlegt werden, deren jedes nur einzelne Aspekte jener Bedeutung re34

Vgl. die in Anm. 27 zitierten Kommentare. TH. ZAHN, Kommentar zum Neuen Testament. Das Evangelium des Lucas, Leipzig 1913, S. 565f.

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präsentiert, so daß diese sich also nur im narrativen Zusammenhang sukzessive entfaltet. Das Zeichen wird reflexiv, das heißt es geht ins Bewußtsein der Figuren ein und wird dadurch auf der Handlungsebene erneut wirksam. Es wird Element in einem subjektiv verantworteten Lebensentwurf. Im Extremfall kann es sich ganz in das individuelle Interpretationssystem einer Figur zurückziehen. In ihm tritt nicht mehr objektiv >Sinn< ans Licht, sondern es ist ein poetisches Signal, das auf einen >Sinn< verweist, den der Leser entziffern muß.

>FortunatusFortunatus< (1509) erst recht problematisch: Fortunatus ist eben der Hinrichtung entgangen; sein Versuch, einen neuen Herrn zu finden, ist gescheitert; er verirrt sich im Wald, hat nichts zu essen, fühlt sein Leben nachts von wilden thyer manigerlay geschlechts bedroht, deren wildes praßlen und bromssen ihn erschreckt. Sie schlugen vnd bissen ketten ain wildes gefert mit ainander (S. 428).35 Fortunatus hat sich vor Angst auf einen Baum geflüchtet, ein Bär wittert ihn und steigt ihm nach; Fortunatus verteidigt sich mit seinem legen; beim Kampf verliert der Bär den Halt und stürzt hinunter; sein lauter Fall vertreibt die anderen Tiere; doch er ist noch nicht tot; trotzdem steigt Fortunatus nach einigem Zögern hinab, tötet den Bären und stärkt sich mit dem Blut aus der Wunde. Er schläft neben dem Bären ein, und als er erwacht, sieht er vor sich die Jungfrau des Glücks. Nicht nur scheint es keinerlei Zeichen dafür zu geben, daß die Bedrohung in der Wildnis und der Kampf mit dem Bären mehr ist als eben das: eine neuerliche Gefährdung des Helden in einer von Fortuna regierten Welt. Bemerkenswert ist nur der Platz der Episode an einem Wendepunkt des Geschehens, unmittelbar vor dem Erscheinen der Glücksjungfrau. Mit ihr greift nun freilich eine überirdische Macht ins Leben des Helden ein. Sie kann, unter dem Gesetz der Sterne stehend, dem Helden verleihen, was Gott im Alten Testament König Salomon zur Wahl stellte: Glücksgüter, darunter neben einigen bona corporis Reichtum und Weisheit. Bekanntlich entscheidet sich der Held für Reichtum, eine Entscheidung, die er mehrmals bereuen wird. Nicht auf die Bewertung kommt es hier jedoch an, sondern auf den Situationstypus. Die Erscheinung der Jungfrau des Glücks ist von Zeichen des Numinosen begleitet. Sogar ein Gedenktag soll 35

Der Traum, der zur Selbsterkenntnis führt, steht in der Auslegungstradition von In se autem reversus: Die Abkehr vom Vater und Hinwendung zu einer verlockenden und verderblichen Außenwelt war Selbstverlust, die Rückkehr zum Vater setzt die Erkenntnis des eigenen Selbst voraus (vgl. Ambrosius [wie Anm. 27] S. 290; Augustinus [wie Anm. 27] S. 75). In der Traumszene erscheint Wilbald sich zunächst als Fremder, über den eine fremde Stimme klagt, bevor er - in se reversus - als er selbst vom Traumbild Lottarius angeredet wird.

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ihr geweiht werden, dessen Kennzeichen Arbeitsruhe, sexuelle Enthaltsamkeit und Wohltätigkeit sind: Parodien eines religiösen Feiertages (S. 43l).36 Der Einbruch einer anderen Macht führt freilich den Helden nicht über die kontingente Alltagswelt hinaus, in der er sich bis dahin bewegte, sondern verschafft ihm nur die Möglichkeit, sich mittels Geld wirkungsvoller in ihr durchzusetzen. Darin genau besteht die Wende: Fortunatus, bislang bloßer Spielball der Fortuna, kann sie jetzt weitgehend zu seinem Vorteil beeinflussen. Doch rechtfertigt dies, in der voraufgehenden Szene einen »disguised symbolism« zu vermuten? In der Tat ist zwar die historia von Fortuna-Symbolen durchsetzt, doch fehlen offenbar jene Bedingungen allegorischer Auslegung, die in den bisherigen Texten an die Stelle unmittelbarer Evidenz eines allegorischen Sinngefüges traten. Kein Erzähler erklärt die bezeichenunge; die Szene ist nicht absichtsvoll arrangiert (>FaustbuchGoldfadenGoldfadenKnabenspiegelKnabenspiegel< die Geschichte vom verlorenen Sohn, rechtfertigt, nach geistlicher Bedeutung zu suchen. Es ist allein der strukturelle Zusammenhang, der die Szene transparent macht auf einen allegorischen Situationstypus: Lasterkampf als Voraussetzung einer conversio. Auf solch einen Kampf könnte der Verfasser anspielen. Er ist literarisch beschlagen, benutzte eine Reihe der im Druckzentrum Augsburg erscheinenden Bücher.37 Er könnte auch den Etymachietraktat gekannt haben (Johann Bämler 1474).38 Darin erscheinen der Bär als Reittier der luxuria, andere wilde Tiere - der >Fortunatus< nennt keine im einzelnen - als Figurationen des Lasters. Die Verbindung bliebe vage, wenn nicht tatsächlich von dieser Szene an eine deutliche Veränderung im Verhalten des Helden datierte. Hatte er bei Hof und in der Stadt bislang unbekümmert seine Wünsche ausgelebt (zuerst ritterliche Bewährung ohne Rücksicht auf die anderen, dann Lebensgenuß in lockerer Gesellschaft ohne Rücksicht auf die eigenen Mittel) und war er damit zweimal in schlimme Gefahr geraten, dann lernt er von jetzt ab, seine Wünsche zu kontrollieren, sein Verhalten an den Umständen auszurichten, nicht zuletzt seine sexuellen Antriebe bis zu einer höchst überlegt geplanten Eheallianz ganz zurück36

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Vgl. WOLFGANG HAUBRICHS, Glück und Ratio im >FortunatusReisebuch< des Hans Tucher, Michael Velsers Übersetzung des Johann von Mandeville, möglicherweise die >Gesta RomanorumFortunatus< scheint diese Möglichkeit neuzeitlicher Poesie schon realisiert.

Diskussionsbericht In der Diskussion wurden vor allem poetologische Fragen berührt. Frau FREYTAG betonte die sinnenfällige, von der Erfahrung des Menschen bestimmte Beschreibung der Dinge bei Jörg Wickram. Durch dichterische Operationen (Vergleich, Metapher, Bild, Exempel) könnten einzelne res jedoch punktuell Verweisfunktionen erhalten. Die Frage richtete sich, insbesondere hinsichtlich der imitatio naturae, auf den möglichen Zusammenhang zwischen Wickrams Erzählkunst und der mittelalterlichen Umprägung der aristotelischen Poetik, wie sie in der Übersetzung des Hermannus Alemannus greifbar sei. Herr MÜLLER schloß den Einfluß lateinischer Poetik nicht aus. Im >Dialog vom ungeratnen Sohn