Die Schriften Hildegards von Bingen: Studien zu ihrer Überlieferung im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit 9783050050058, 9783050036663

Die Forschungen zur Überlieferungsgeschichte der Schriften Hildegards von Bingen stehen noch ganz am Anfang. Die bisheri

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German Pages 597 [586] Year 2003

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Die Schriften Hildegards von Bingen: Studien zu ihrer Überlieferung im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit
 9783050050058, 9783050036663

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Michael Embach

Die Schriften Hildegards von Bingen

Erudiri Sapientia Studien zum Mittelalter und zu seiner Rezeptionsgeschichte Im Auftrag des

Hugo von Sankt Viktor-Instituts Frankfurt am Main herausgegeben von Rainer Berndt SJ Band IV

Die Schriften Hildegards von Bingen Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Michael Embach

Akademie Verlag

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs II der Universität Trier gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Einbandvignette: Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 11508, f. 54 (12.

(„Omnis sapientia et cum

a

Jh.): Illustration zu Jesus Sirach 1,1

Deo Domino

illo fuit semper et

Bildarchiv Foto

est ante

est

aevum")

Marburg, Archivnummer:

163.829

ISBN 3-05-003666-4 ISSN 1615-441X

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2003 Das

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach

DIN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. —



Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Satz: Christiane Storeck mit TUSTEP (Hugo von Sankt Viktor-Institut Frankfurt am Main) Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt in Deutschland

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist in sonen

entstanden, denen

an

gebührt.

beständigem Gedankenaustausch mit vielen Perdieser Stelle ein aufrichtiges Wort des Dankes

Danken möchte ich Herrn Prof. emer. Dr. Kurt Gärtner (Trier), der die Studie als Habilitationsschrift im Fach ,Ältere Deutsche Philologie' an der Universität Trier betreut hat. Gerne denke ich an fruchtbare Gespräche und gemeinsame Bibliotheksreisen zurück, die für mich immer von großem Gewinn waren. Mein herzlicher Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Christoph Gerhardt (Trier), von dessen reichen Fachkenntnissen und hervorragenden Bibliotheksbeständen ich immer wieder profitieren durfte. Ich danke Herrn Professor Dr. Walter Röll, Herrn Prof. Dr. Ulrich Eigler und Herrn Prof. Dr. Alfred Haverkamp (alle Trier) für die anregende, auch fachübergreifende Diskussion meiner Forschungsergebnisse. Innerhalb der ,Hildegard-Philologie' war für mich der Austausch mit Schwester Dr. Angela Carlevaris OSB (Kloster Eibingen), Frau Prof. Laurence Moulinier (Paris), Frau Prof. Kathryn Kerby-Fulton (Victoria/ Can.), Herrn Dr. Petrus Becker OSB (Trier) und Herrn Prof. Albert Derolez (Gent) von zentraler Bedeutung. Ihnen allen sei für die große Freundlichkeit, in der das wissenschaftliche Gespräch gepflegt werden konnte, sehr herzlich

gedankt.

Dem Leiter des Bischöflichen Priesterseminars

Trier,

Herrn

Regens

Dr.

Georg Bätzing, möchte ich für die stete Förderung meiner Hildegard-Studien sehr herzlich danken. Mein Dank gilt vielen Bibliotheken und Archiven, aus deren Beständen ich handschriftliche und gedruckte Materialien erhielt und die oft in unbürokratischer Weise bei der Beschaffung der benötigten Fachliteratur behilflich waren. Besonders danke ich an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars in Trier, namentlich Herrn Dipl.Bibl. Harald Meyer. Frau Martina Wallner M. A. sei für die redaktionelle Aufbereitung des Manuskripts sehr herzlich gedankt. Herrn Prof. Dr. Rainer Berndt SJ (Hugo von Sankt Viktor-Institut Frankfurt) möchte ich ein herzliches Wort des Dankes sagen für die Aufnahme der Studie in die Reihe ,Erudiri sapientia'. Dank gilt auch Frau Dipl.-Chem. Christiane Storeck und Frau Inge Haberer für die fachkundige und zuverlässige Umsetzung des Manuskripts in die endgültige Druckvorlage. Für die gute Betreuung seitens des Verlages möchte ich Herrn Lektor Manfred Karras (Berlin) sehr herzlich danken. Mein herzlicher Dank gilt meiner Frau Ingrid und meinen Kindern Bernadette und Franziska für viele eingeräumte freistunden'. Trier, den

17.

September 2003

Priv.-Doz. Dr. Michael Embach

INHALTSVERZEICHNIS

Grundlegung

1. Erkenntnisinteresse und Methodik der 2. Forschungsbericht

Basishandschriften Das Werk

Hildegards

Darstellung

Erster Teil: Editionen

und

der

11 19

Werke Hildegards

im Überblick

33

1. Der Riesencodex (HLB Wiesbaden Hs 2) 1.1 Kodikologische Untersuchung des Riesencodex 1.2 Paläographische Untersuchung des Riesencodex 1.3 Einordnung des Riesencodex 1.4 Zusammenfassung

36 43 49 56 62

2. Der Scivias 2.1 Rezeptionsspuren des Scivias im Mittelalter 2.2 Die handschriftliche des Scivias 2.3 Der Illuminierte Scivias 2.4 Die Editio princeps des Scivias (Paris 1513) 2.4.1 Die Vorlagenhandschrift der Editio princeps

66 75 89 96

Überlieferungsgeschichtliche

Überlieferung

2.4.2 Die Wirkungsgeschichte der Editio 2.5 Zusammenfassung

princeps

3. Der Liber vitae meritorum (LVM) 3.1 Rezeptionsspuren des LVM im Mittelalter 3.2 Die handschriftliche des LVM 3.2.1 Die vollständigen Textzeugen des LVM 3.2.2 Die Exzerptüberlieferung des LVM 3.2.3 Verschollene Textzeugen des LVM 3.3 Die Editio princeps des LVM (Montecassino 3.4 Zusammenfassung

des Scivias des Scivias

Überlieferung

4. Der Liber divinorum operum (LDO) 4.1 Rezeptionsspuren des LDO im Mittelalter 4.2 Die handschriftliche des LDO 4.2.1 Die vollständigen Textzeugen des LDO 4.2.2 Die Exzerptüberlieferung des LDO 4.3 Die Editio princeps des LDO (Lucca 1761) 4.4 Zusammenfassung

Überlieferung

1882)

103 107 113 115 128 130 150 153 154 154

156 160 160 169 170 174

Inhalt

8

5. Das Epistolarium 5.1 Rezeptionsspuren des Epistolariums im Mittelalter 5.2 Die handschriftliche des Epistolariums 5.3 Die Editio princeps des Epistolariums (Köln 1566) 5.3.1 Die Vorlagenhandschrift der Editio princeps des Epistolariums 5.3.2 Die Wirkungsgeschichte der Editio princeps des Epistolariums 5.4 Die Vita Ruperti (VR) 5.5 Die Vita Disibodi (VD) 5.6 Die Einzelüberlieferung von Hildegards Brief an den

Überlieferung

Klerus

von

Köln

5.6.1 Der Brief

an den Klerus von Köln in der Heinrich von Avranches des Insurgent gentes Brieftraktate Die Explicatio Regulae S. Benedicti Die Explanatio Symboli S. Athanasii Die Solutiones triginta octo quaestiones

5.6.2 5.7 Die 5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4 Die Expositiones 5.8 Zusammenfassung

Fassung

evangeliorum

6. Die Sprachschriften (Lingua ignota und Litterae ignotae) 6.1 Rezeptionsspuren der Sprachschriften im Mittelalter 6.2 Benutzungsfunktionen der Sprachschriften 6.2.1 Die Lingua ignota 6.2.2 Die Litterae ignotae 6.3 Zusammenfassung 7. Das naturkundlich-medizinische Werk 7.1 Rezeptionsspuren des naturkundlich-medizinischen Werkes

im Mittelalter

7.2 Der Liber simplicis medicinae [LSM; Physica] des LSM 7.2.1 Die handschriftliche 7.2.1.1 Die vollständigen Textzeugen des LSM 7.2.1.2 Die Exzerptüberlieferung des LSM 7.2.2 Die Editio princeps des LSM (Straßburg 1533) 7.2.3 Wolfram von Eschenbach als Kenner des LSM} 7.3 Der Liber compositae medicinae [LCM; Causae et curae] 7.3.1 Die handschriftliche des LCM 7.3.2 Die Editio princeps des LCM (Leipzig 1903) 7.3.3 Natur- und heilkundliches Sondergut 7.4 Zusammenfassung

Überlieferung

Überlieferung

177 181 184 191 194 196 203 208

210 222 228 237 Tbl 241 244 246 250 252

252 255 261 281 285 287 299 306 307 308 334 362 368 374 374 386 386 389

Inhalt

9

Zweiter Teil: Hildegards Werke im Spiegel ihrer Rezeption 1.

in den chronikalisch-annalistischen Schriften des Mittelalters

Hildegard

1.1 Vorbemerkungen 1.2 Rezeptionszeugnisse aus Hildegards Lebzeiten 1.3 Rezeptionszeugnisse nach Hildegards Tod 1.4 Summarische Auflistung weiterer Testimonien 1.5 Zusammenfassung

[Pseudo-JHildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge 2.1 Mystik, Ars moriendi, Reformschrifttum und Predigtliteratur 2.2 Pseudepigraphische und polemische Überlieferung 2.3 Zusammenfassung 3. Johannes Trithemius (1462-1516) als Propagator Hildegards von Bingen 3.1 Der historische und biographische Hintergrund der Hildegard-Rezeption des Trithemius

397 398 401 405 419 421

2.

Hildegard-Äußerungen

des Trithemius 3.2 Fiktionale Elemente der 3.3 Die Propagierung des Hildegard-Kultes durch Trithemius 3.4 Trithemius als Popularisator von Hildegards Schriften 3.5 Zusammenfassung Synthese

Diskussionen

und

423 423 438 456

458 460 465 474 480 490

Ausblick 495

Literaturverzeichnis 1. 2.

Quellen Abhandlungen

Register 1. Heilige Schrift 2. Personen 3. Handschriften

507 520

581 582 591

GRUNDLEGUNG

1. Erkenntnisinteresse und Methodik der Darstellung Die Beschäftigung mit der Überlieferungsgeschichte der Schriften Hildegards von Bingen steht noch sehr im Anfangsstadium. Bislang besaßen Forschungs-

zu den ältesten Trägern dieser Überlieferung, das heißt, zu den erhalHandschriften, eine textkritische Schwerpunktsetzung. Die meisten dieser

beiträge tenen

Forschungen richteten ihren Blick zurück auf den Ursprung der Überlieferung. Sie versuchten, eine Textbasis zu gewinnen, die durch eine besondere Nähe zur Autorin gekennzeichnet war. Dabei ging es ihnen darum, zunächst eine sorgfältige Erhebung und Scheidung der Überlieferung vorzunehmen, um dadurch die Voraussetzungen für die kritische Edition der Schriften Hildegards zu schaffen. Allgemeine Tendenz der textkritischen Evaluierung war es, die jeweils ältesten Textzeugen eines Werkes zur Grundlage der betreffenden Edition zu machen. Später entstandene Handschriften, die im Sinne von Autorvarianten ebenfalls noch in Hildegards Lebzeiten zurückreichen konnten, wurden zwar in den kritischen Apparaten berücksichtigt, sie erhielten jedoch gegenüber den ältesten Fassungen einen grundsätzlich sekundären Status. Diese Entscheidung implizierte, vor allem hinsichtlich des Riesencodex (HLB Wiesbaden, Hs 2) und des darin enthaltenen Epistolariums, weitreichende Konsequenzen. Die manifesten Stilisierungen des im Riesencodex erscheinenden Briefkorpus wurden lange Zeit als nicht authentisch von Hildegard stammend verworfen. Aber auch in einer breitflächigen Betrachtung von Hildegards Werk war diese Sicht von großer Tragweite. Sie inaugurierte einen Autor- und Werkbegriff, der in sensu stricto ausgelegt und in einer statischen Art und Weise angewandt wurde. Demgegenüber gerieten die teilweise massiven Eingriffe in das Werk Hildegards, wie sie gegen Ende ihres Lebens bis in die Zeit des anlaufenden Heiligsprechungsverfahrens vorgenommen wurden, weitgehend aus dem Blick. Angesichts eines solchen Befundes kann eine überlieferungsgeschichtlich akzentuierte Studie wie die vorliegende mit dazu beitragen, das umschriebene Forschungsdefizit abzubauen und den auktorialen Anteil Hildegards an den unter

ihrem Namen tradierten Schriften schärfer

erreichen, soll der auf Hildegards

Person

zu

erfassen. Um dieses Ziel

zu

angewandte Autorbegriff dynamisiert

und der auf Hildegards Schriften angewandte Werkbegriff sequenzialisiert werden. Auf diese Weise können sich neue Einblicke ergeben in das korporative und intentionale Wirkungsfeld, das gegen Ende von Hildegards Leben bis etwa 1230 bemüht war, Hildegards Werk in einer spezifischen, nicht selten panegyrisch-apologetisch gefärbten Weise für die Mit- und Nachwelt aufzubereiten. Trotz der einschränkenden Bemerkungen zur textkritischen Schwerpunktsetzung der bisherigen Hildegard-Philologie muß eine Gesamtbeurteilung dieser Leistungen positiv ausfallen. Nimmt man die gedruckt erschienenen Hildegard-Ausgaben des 16. bis 19. Jahrhunderts zum Maßstab, so ist es nicht über-

Grundlegung

12

trieben

sei mit den innerhalb der Reihe Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis sowie mit den anderen, außerhalb dieser Reihe erschienenen kritischen Ausgaben des 20. Jahrhunderts auf eine völlig neue Basis gestellt worden. Insbesondere die mittlerweile fünf vorliegenden Bände der Corpus-Christianorum-JLd'iticm beweisen, wie sinnvoll es war, breit angelegte heuristische und textkritische Untersuchungen vorzunehmen.1 Dieser Befund gilt unbeschadet der Tatsache, daß auch nach Erscheinen der bisher veröffentlichten Bände der kritischen Edition noch manches philologische Detailproblem einer endgültigen Lösung harrt. Es ist auffällig, daß die meisten Untersuchungen am Handschriftenkorpus der Werke Hildegards nicht nur den ältesten, sondern auch den vollständigsten Überlieferungsträgern dieser Werke gewidmet sind. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Diese Überlieferungsträger besaßen im Hinblick auf die zu erstellenden Editionen die größte Bedeutung. Sie beanspruchten daher ganz selbstverständlich die besondere Aufmerksamkeit der Editoren. Auf der anderen Seite führte dieser Sachverhalt dazu, daß überlieferungsgeschichtlich betrachtet so zentrale Textzeugen wie das in der Berliner Handschrift StBPrK Ms lat. qu. 674, f. 103ra-va niedergelegte, um 1220/30 vom Schreiber des Lucca-Codex hergestellte Fragment des Liber compositae medicinae (LCM [Causae et curae]) und die sich unmittelbar daran anschließende (f. 104r-116r) Kontamination aus naturkundlichen und visionären Schriften Hildegards bzw. Pseudo-Hildegards [?] noch immer nicht den ihnen gebührenden Platz in der Forschung gefunden haben. Unsere eigene Darstellung verfolgt ein anderes Ziel als die primär textkritisch akzentuierten Studien: Sie möchte die Überlieferung und Rezeption von Hildegards Werk und damit den Wirkungserfolg ihrer Schriften untersuchen. Die Hauptperspektive richtet sich nicht vorrangig auf den genetischen Ursprung der Überlieferung oder auf ihre komplettesten Träger. Im Zentrum steht die geschichtliche Gesamtentfaltung der Überlieferung, so wie sie, ausgehend von den frühesten Textzeugen, zu rekonstruieren ist. Kurt Ruh, der diesen Forschungsansatz auf einer breiteren Basis reflektiert hat, bezeichnet die Überlieferungsgeschichte zutreffend als „ergänzendes Paradigma von Literaturwissenschaft"2 generell. Und Georg Steer hat darauf hingewiesen, daß die Anwendung der von Karl Lachmann (1793-1851) entwickelten Editionsprinzipien, die darauf abzielten, den Archetypus eines Textes freizulegen, auf Texte des deutschen Mittelalters problematisch ist. „Weder die archetypfixierte textkritische noch die nach dem Leithandschriftenprinzip arbeitende Editionsmethode vermag der Überlieferungsart der mittelalt. dt. Literatur gerecht zu werden."3 Statt dessen, so Steer, müsse das Prinzip einer textgeschichtlichen oder überlieferungsgezu

behaupten, die Hildegard-Philologie

-

1 2 3

Es sind dies: Scivias 1978; LDO 1996. Ruh 1985. Steer 1992, hier S. 195.

-

Epistolarium I und II;

Vita

Hildegardis 1993; LVM

1995;

13 Grundlegung Anwendung kommen, ein Prinzip, das die Kompo-

schichtlichen Edition zur der historischen Wirkung und Funktion von Texten systematisch in die Formulierung eines textkritischen Gesamtbefundes miteinbezieht. Auch das noch für die Sophien-Ausgabe Goethes geltende Prinzip der Ausgabe letzter Hand, so Steer mit Blick auf die neuere deutsche Literatur, sei mittlerweile überholt. Ruhs und Steers Ansätze liefern die methodischen Anknüpfungspunkte für die vorliegende Untersuchung. Hierbei gilt, daß am Anfang des Überlieferungsprozesses von Hildegards Werken naturgemäß die Handschriften stehen. Und auch für uns nehmen die ältesten und vollständigsten Textzeugen dieser Werke eine wichtige Stellung ein. Sind sie doch im unmittelbaren Lebensumfeld Hildegards entstanden und wurden wenigstens in Teilen von ihr selbst inauguriert. Stärker als dies bislang geschehen ist, möchten wir jedoch der Frage nachgehen, ob die autorgesteuerte und autornahe Überlieferung die spätere Verbreitung der Werke präformiert hat. Mit anderen Worten: Besaß die frühe Textgeschichte gewissermaßen genetisch bedingte Auswirkungen auf die nachfolgende Überlieferungsgeschichte ? Hat diese frühe Textgeschichte in einem embryonalen Stadium eine bestimmte Reifeform der Popularisierung von Hildegards Werk vorgegeben, die später, als voll entfaltete, laterale Dissemination auch für die nachgeordnete Überlieferung noch prägend war? Mit diesen Fragen ist angedeutet, daß die Suche nach den textkritisch zuverlässigsten Vorzugshandschriften und den auf ihnen basierenden Editionen hier nur einen Aspekt unter anderen bildet. Ergänzend kommen hinzu die Fragen nach den Strängen und Phasen der Überlieferung, nach dem überlieferungsgeschichtlichen Milieu, den rezipierenden Epochen, Kreisen und Sprachformen von Hildegards Schriften sowie nach den Ursachen und Gründen für ihre Wirkung bzw. Nicht-Wirkung. Was den letztgenannten Aspekt betrifft, so wird auch der Frage nachzugehen sein, weshalb einzelne Komponenten von Hildegards Werk überlieferungs- und wirkungsgeschichtlich so deutlich hinter die prophetischen zurückfielen. Genannt seien folgende Werkgruppen: die ikonographischen (illuminierter Scivias, Lucca-Codex des Liber divinorum operum [LDO]), naturkundlich-medizinischen (Liber simplicis medicinae [Physica] und Liber compositae medicinae [Causae et curae]) und philologischen (Lingua nenten

-

-

ignota; Litterae ignotae).

Die Literaturgeschichtsschreibung kann damit, so hoffen wir, einen Beitrag leisten zur Beschreibung Hildegards als einer im Medium der Sprache sich konstituierenden und über das Medium der Schrift sich diffundierenden prophetischen Autorität. Ein solcher Beitrag erscheint im Hinblick auf eine schärfere Erfassung von Hildegards Selbstverständnis keineswegs ohne Bedeutung: Dem Visionär kommt die sprachlich-textliche Weitergabe des Empfangenen nicht eo ipso zu, dem Propheten obliegt sie gewissermaßen ex officio. Daß die Artikulaetwa der naturkundlichtion dieser und anderer Äußerungen Hildegards medizinischen nicht nur einen kontemporären Adressatenkreis im Blick hatte, daß sie darüber hinaus auch auf die Nachwelt gemünzt war, dies darzustellen, ist eine vorrangige Aufgabe der Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte. -

-

Grundlegung

14

Für die deutsche Literaturgeschichte von besonderem Interesse ist die Frage, in welcher Hinsicht Hildegard von Bingen als deutsche, das heißt als volkssprachlich sich artikulierende Autorin betrachtet werden kann. In welchen Tex-

Hildegards finden sich deutschsprachige Elemente, etwa Glossen oder naturkundliche Fachbegriffe ? Welche Schriften wurden ins Deutsche übersetzt, welche nicht? Wie erklären sich umgekehrt Ubersetzungen bestimmter Textelemente aus dem Deutschen ins Lateinische ? Wann und von wem wurde dies geleistet? All diese Fragen begleiten den gesamten Duktus unserer Untersuchung. Antworten und Hinweise darauf werden jeweils im engeren Zusammenhang der jeweiligen Schriften Hildegards gegeben. Damit soll, zumindest ansatzweise, ein Vorurteil beseitigt werden, das die Beschäftigung der deutschen Literaturwissenschaft mit dem Werk Hildegards von Bingen lange Zeit schwer belastet hat: die Annahme nämlich, Hildegard habe ausschließlich Latein geschrieben, sie sei im Grunde genommen gar keine deutsche Schriftstellerin.1 Was die Methodik unserer Untersuchung anbetrifft, so wird das Gesamtmaterial in einem zweistufigen Deutungshorizont entfaltet. Die erste Stufe berücksichtigt die Textüberlieferung der Schriften Hildegards im engeren Sinne, die zweite thematisiert die Wirkungs- oder Rezeptionsgeschichte dieser Schriften. Dieser zweistufige Horizont prägt die vorliegende Untersuchung im Ganzen, auch wenn er ihren Detailaufbau nicht in jeder Einzelheit bestimmt. Auf der ersten Stufe unserer Darlegungen sollen die primären Textzeugen, das heißt, die ältesten, der Autorin am nächsten stehenden Handschriften sowie die auf ihnen beruhenden gedruckten Editionen ihrer Schriften untersucht werden. Dieser Teil besitzt einen textspezifischen Akzent. Er wendet sich dem historischen Ursprung der Uberlieferung zu, und damit der überlieferungsgeschichtlichen Bedeutung der Autorin und des Rupertsberger Skriptoriums. Allerdings geschieht diese Rückwendung in dem ständigen Bemühen, die frühesten Zeugnisse der Überlieferung in ihrem fortdauernden Wert für die spätere Textgeschichte im Blick zu halten. Aus diesem Grunde werden die am handschriftlichen Material gewonnenen Ergebnisse weitergeführt in den Bereich der gedruckten Überlieferung. Hierbei geht es auch darum, zu prüfen, in welcher Weise Hildegard vom aufkommenden Buchdruck beachtet wurde und ob es Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten zwischen handschriftlicher und gedruckter Überlieferung gab. Der letztgenannte Aspekt ist bislang eine tabula rasa der Hildegard-Philologie. Eine Tatsache, die bisweilen zu dem völlig unzutreffenden Eindruck geführt hat, als sei die primäre Überlieferung der Schriften Hildegards mit dem Ende der Handschriftenzeit bzw. mit dem sogenannten Medienwechsel zum Abschluß gelangt oder habe doch ihre philologische Relevanz verloren. ten

1

gibt der im übrigen sehr sachkundige Beitrag Meier 1981 über Hildegard von Bingen keinerlei Auskünfte über die deutschsprachige Rezeption der Schriften Hildegards. Hierdurch kann der irrige Eindruck entstehen, eine solche Rezeption habe es nicht gegeben. Bezeichnenderweise

Grundlegung

15

Ein Nebenaspekt der Untersuchung richtet sich auf die Überlieferungskontexte oder die Überlieferungssymbiosen von Hildegards Schriften. Dieser Aspekt ist vor allem im Hinblick auf die Exzerpt- bzw. Fragmentüberlieferung von Bedeutung, die innerhalb von Sammelwerken niedergelegt ist. Ziel dieser Fragestellung ist es, darzulegen, in welches chronologische, topographische und schriftenspezifische Raster die Überlieferung und Mitüberlieferung dieser Schriften eingeordnet werden kann. Gisela Kornrumpf hat den methodischen Ansatz eines überlieferungsgeschichtlich orientierten Verfahrens in einem fundamentalen Beitrag zum Thema Handschriftenkataloge und Überlieferungsgeschichte wie folgt beschrieben: „Von der Überlieferung ausgehen", so Kornrumpf, „heißt zunächst: den Blick, der vielfach verstellt ist durch konjekturfreudige Editionen und literarhistorische Konstruktionen, die auf diesen Ausgaben und auf einer oft hypothetischen Produktionschronologie basieren, neu öffnen für die Überlieferung und die Texte in statt jenseits ihrer Überlieferung sehen. [Dabei] gilt es, die erhaltenen Zeugnisse als historische zu lesen und auf das hin zu befragen, was sie über die Texte, ihre literarhistorische Stellung und ihre Geschichte aussa1 gen ..." Werner Williams-Krapp hat die systematische Auswertung der Überlieferung nach diachronischen, diatopischen und diastratischen Gesichtspunkten an einer spezifischen Literaturgattung, jener der deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters, durchexerziert.2 Von buchgeschichtlicher Seite aus ist dieser Ansatz u. a. von Ursula Rautenberg fruchtbar gemacht worden im Rahmen einer Untersuchung zur Überlieferung gedruckter Heiligenlegenden aus Kölner Offizinen der Frühdruckzeit.3 Auch Uwe Neddermeyer hat in seiner großangelegten Studie Von der Handschrift zum gedruckten Buch das überlieferungsgeschichtliche Gesamtpanorama einzelner Texte mit in seine Thesenbildung einbezogen.4 Schließlich sei darauf hingewiesen, daß eine unter dem Stichwort New philology (new im Sinne von renewal bzw. renovatio) bekannt gewordene Forschungsrichtung darauf hinarbeitet, den historischen Text stärker in seiner materiellen Individualität zu würdigen.5 Auch von hier aus läßt sich eine Brücke zur Überlieferungsgeschichte schlagen. ...

1 2

Kornrumpf 1983, hier S. lf. Williams-Krapp 1986. Vgl. Williams-Krapp 1980.

Umsetzung

Williams-Krapps Forschungsansatz

vgl. Gerhardt 1999. Rautenberg 1996. Vgl. die Rezension

Werkes 3

von

Mitteilungen der Bibliophilen -

4

Neddermeyer 1998.

5

Vgl.

von

Zur Kritik an der konkreten hinsichtlich des letztgenannten -

Wolfgang

Gesellschaft Trier

e.

Schmid in: Libri

V., Heft 1, 1998, S. 28f.

pretiosi.

hierzu Speculum 65 (1990), Heft 1. Stephan G.Nichols, der im Vorwort zu diesem Band (Introduction: Phüology in a Manuscript Culture, S. 7) eine grundlegende Würdigung der New philology und ihrer Protagonisten liefert, schreibt hierzu : „It is that manuscript culture that the ,new' philology sets out to explore in a post modern return to the origins of medieval studies. If one considers only the dimensions of the medieval illuminated manuscript, it is evident that philological

Grundlegung

16

Den theoretischen und praktischen Ansätzen der genannten Autoren fühlt sich die vorliegende Studie in einer grundsätzlichen, allerdings auf den Aspekt des Methodischen beschränkten Weise verpflichtet. Um die empirischen Voraussetzungen zur Beantwortung der genannten Fragestellungen zu schaffen, wurden breit angelegte Erhebungen zur Uberlieferungsgeschichte der Schriften Hildegards durchgeführt. Der Erfassungszeitraum dieser Erhebungen erstreckt sich auf das 12. bis 16. Jahrhundert. Damit ist auch die unter textkritischen und editorischen Gesichtspunkten betrachtet oft wertlos erscheinende Exzerptüberlieferung miteinbezogen. Sie kommt ab dem 13. Jahrhundert stark auf. Aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive betrachtet, besitzen diese inkompletten Textzeugen dennoch eine große Bedeutung. Sie liefern ergänzende Anhaltspunkte für eine Rekonstruktion der Verbreitung und Rezeption von Hildegards Schriften und sind gegenüber den vollständigen Textzeugen zumindest im Sinne von Phänotypen der Überlieferung, die die Wege und Stationen dieser Überlieferung epiphan werden lassen von gleichem Wert. Darüber hinaus wurden verschiedene Textzeugen von Hildegard-Schriften berücksichtigt, die mittlerweile nicht mehr existieren. Sie sind nur noch über literarische Erwähnungen, bibliographische Notizen oder vergleichbare Sekundärinformationen zu erschließen. Obwohl diese Textzeugen nicht mehr physisch greifbar sind, runden sie das überlieferungsgeschichtliche Gesamtpanorama in wesentlichen Punkten ab. Sämtliche eruierten Daten zu den verwendeten Textzeugen sind in einem Conspectus der ermittelten Hildegard-Handschriften niedergelegt, der als Arbeitsgrundlage für den vorliegenden Band diente. Der Conspectus soll zu einem späteren Zeitpunkt selbständig veröffentlicht werden. Auf der zweiten Stufe unserer Darstellung sollen die empirisch an den Handschriften und Editionen gewonnenen Forschungsergebnisse ergänzt werden durch einen Blick auf die Präsenz Hildegards (bzw. Pseudo-Hildegards) in den Schriften ihrer eigenen Zeit sowie der nachfolgenden Epochen. Dieser Teil der Darstellung besitzt einen rezeptionsgeschichtlichen Schwerpunkt. Er wendet den Blick ab von einer primär textspezifisch verfahrenden Vorgehensweise und fragt nach dem jeweiligen Gesamtbild, das die verschiedenen Rezeptionsepochen von Hildegard entworfen haben. Hierdurch sollen Einblicke gewonnen werden in die innere Morphologie sowie in die historischen Wandlungen des Hildegard-Bildes quer durch die Jahrhunderte. Die im Rahmen der letztgenannten Fragestellung durchgeführten Erhebungen erstrecken sich ausdrücklich auch auf den Bereich der pseudepigraphischen Hildegard-Literatur, ein Feld, -

-

that have treated the manuscript from the perspective of text and language alone have seriousley neglected the important supplements that were part and parcel of medieval text production: visual images and annotation of varoius forms (rubrics, ,captions', glosses, and interpolations)." Zur Bewertung der New philology innerhalb der deutschen Mediaevistik vgl. Schröder 1996. Glessgen/Lebsanft 1997, dazu Stackmann 1999. Schnell 1998.

practices

-

-

Grundlegung

17

das von der Forschung bislang stark vernachlässigt wurde. Im Sinne einer methodischen Kautel sei darauf hingewiesen, daß aufgrund der ausufernden Fülle des Materials hier nur selektiv gearbeitet werden konnte. Eine zumindest approximativ lückenlose Darstellung der Wirkungsgeschichte Hildegards im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit kann nur durch eine Vielzahl einander ergänzender Einzelstudien erreicht werden. Die vorliegende Darstellung ist in erster Linie entwicklungsgeschichtlich strukturiert, sie verfährt nach einem chronologischen Schema. An verschiedenen Stellen sind jedoch systematische Schwerpunkte eingefügt, sofern dies aufgrund des vorhandenen Materials bzw. der Bedeutung einzelner Themen sinnvoll erschien. Wegen seines stark fachwissenschaftlichen Charakters bleibt der Bereich der Musik (Symphonia, Ordo virtutum) im Rahmen dieser Untersuchung ausgeklammert. Gleiches gilt für den Bereich der Bildenden Kunst. Hier wäre der Frage nachzugehen, in welcher Weise die Texte Hildegards, beginnend mit dem verschollenen üluminierten Scivias (HLB Wiesbaden, Hs f), im Bereich der mittelalterlichen Buchillustration wirksam geworden sind. Ich verweise bezüglich dieser Fragestellung auf eine einschlägige Publikation von Lieselotte E. Saurma-Jeltsch.1 Ebenfalls nicht berücksichtigt werden konnten die Wandlungen des Hildegard-Bildes innerhalb der Malerei, der Graphik, der Kirchenfensterkunst und der Skulptur. Was letzteren Bereich betrifft, so ist, wie das Beispiel der Kirche von Saint Georges in Schlettstadt zeigt, eine sichere Zuweisung zur Person Hildegards ohnehin oft schwer genug.2 Auch die nicht direkt auf Hildegard zurückgehenden Schriften aus ihrem Lebensumfeld (Vita Hildegards, Vita Juttae\X\, Acta canonisationis) werden hier nur insofern berücksichtigt, als sie für die eigentliche Fragestellung ergänzende Informationen liefern. Dieselbe Einschränkung gilt für die durch Gebeno von Eberbach und sein Speculum futurorum temporum sive Pentachronon begründete Sonderüberlieferung der Schriften Hildegards. Zum einen bildet dieser Zweig der Überlieferung eine spezifisch zisterziensisch geprägte Form der Rezeption. Sie stellt Hildegard schwerpunktmäßig als Endzeitvisionärin, Reformtheologin und Kritikerin des Klerus dar. Zum anderen wurde auch das Pentachronon sehr bald in bearbeiteter und ergänzter Form weitertradiert. Auf diese Weise entstanden vielfältig variierende Hybridformen des Textes, die die originale Gebeno-Kom1 2

Saurma-Jeltsch

1998.

Treppenaufgang der von Jérôme Kruch zeigt eine sitzende weibliche Figur, die im

fertiggestellten Kanzel der Kirche Führer der Kirche mit Hildegard von Bingen identifiziert wird. Die Figur ist mit Schleier und Habit als Nonne ausgewiesen. Sie hält im rechten Arm ein großes Buch, auf dem linken Knie eine Tiara. Zwischen Beinen ist ein Palmzweig, das Attribut des Martyriums, zu erkennen. In einem älteren Werk wird diese Gestalt mit Mechthild [von Magdeburg?] gleichgesetzt, „die durch ihre Prophezeiungen über das Papsttum bekannt ist." Vgl. Hausmann o. J., Tafelband Elsaß, Nr. 86 und 87; Textband, S. 29. Der

1619

Grundlegung

18

nicht immer authentischem Hildegard-Material kontaminierten. Damit war das Pentacbronon im Sinne eines Speculum Hildegardis häufig nicht mehr erkennbar und büßte zumindest partiell seine genuine Wirkungsabsicht ein. Zu Recht urteilt Albert Derolez über die Hildegard-Auszüge Gebenos: „Sie geben ein so verzeichnetes und einseitiges Bild der Schriftstellerin, daß man sie schwerlich zu den Hildegard-Texten rechnen kann."1 Schließlich kommt hinzu, daß das Pentacbronon aus der Sicht Hildegards betrachtet unter jene zu verdammenden Versuche fällt, ihrem Werk entweder etwas hinzuzufügen oder hinwegzunehmen, die Hildegard selbst am Ende des Liber divinorum operum in scharfer Weise verworfen hat. Wer solches tue, so Hildegard, der begehe eine Sünde gegen den Heiligen Geist und müsse mit dem Verlust der ewigen Seligkeit rechnen.2 Den Inhalt und die Textentwicklung von Gebenos Pentacbronon hat Christel Meier unter Berücksichtigung eines Textzeugen der Bayerischen Staatsbibliothek München, des clm 324, f. l-64v, sowie eines Textzeugen der UB Tübingen, der Mc 141, f. 272r-279v, detailliert beschrieben.3 Der Münchener Codex, eine Sammelhandschrift, ist im 2. Viertel des D.Jahrhunderts im Zisterzienserkloster Kaisheim entstanden, die Tübinger Handschrift um 1445/1520 möglicherweise im Kloster Schwäbisch Gmünd. Daneben könnte auf einen weiteren Gebeno-Textzeugen verwiesen werden, der einen besonderen Rang beanspruchen darf, auf die heute zum Bestand der BN Paris gehörende Handschrift Cod. lat. 3322.4 Diese Handschrift hat bereits im 13. Jahrhundert zur Bibliothek der Zisterzienserabtei Clairvaux gehört. Im 15. Jahrhundert war sie Bestandteil der Bibliothek des Celestinerkonvents von Avignon (f. 142v: „Fratrum Celestinorum de Avinione est liber iste"). Alle genannten Gebeno-Handschriften machen deutlich, daß Gebeno vor allem die apokalyptischen Teile des Scivias und des Liber divinorum operum exzerpierte. Hinzu kommen einige reformtheologisch, asketisch oder kleruskritisch zu lesende Briefe Hildegards. Genannt seien Hildegards Brief an Werner von Kirchheim, an den Klerus von Köln oder an den Klerus von Trier. Schließlich erscheinen weitere Briefe bzw. Briefpaare, die geeignet sind, Hildegard als eine vom Papst und von Bernhard von Clairvaux, dem einflußreichsten Kirchenpolitiker seiner Zeit, offiziell anerkannte prophetische Autorität auszuweisen. Daneben sind auch die Explanatio Regulae S. Benedicti und die Vita S. Ruperti Bestandteil des Pentacbronon. Da Gebenos Pentacbronon im unmittelbaren Vorfeld des anlaufenden Heiligsprechungsprozesses entstanden ist, wird man ihm eine diesen Prozeß stimulierende oder akzelerierende Wir-

pilation mit zusätzlichem,

1 2

Derolez 2000, hier S. 463. LDO 1996, S. 462f: „Vnde nullus hominum tarn audax sit, ut uerbis huius scripture aliquid augendo apponat uel minuendo auferat, ne de libro uite et de omni beatudine Qui autem aliter presumpserit, in Spiritum Sanctum que sub sole est deleatur ...

peccat." 3

Meier 1990b.

4

Vgl. Catalogue

Général des Manuscrits

latins, V, Paris 1966,

S. 185-188.

Grundlegung

19

kungsabsicht

zuschreiben dürfen. Eine enzyklopädisch geartete Kompilation dem Gesamtwerk Hildegards stellt es mit Sicherheit nicht dar. Neben wichtigen visionären Texten (etwa dem Liber vitae meritorum) fehlen hierzu die gesamte Musik sowie die Natur- bzw. Heilkunde. Mit dem Aspekt der Wirkungsgeschichte des Pentachronon hat sich jüngst Elisabeth Stein befaßt.1 José Carlos Santos Paz hat eine im Erscheinen begriffene Edition des Pentachronon erarbeitet.2 aus

2.

Forschungsbericht

Behandlung der Überlieferungs- und WirkungsgeHildegards von Bingen existiert bis jetzt nicht. Auch die nachfolgenden Bemerkungen beschränken sich in bewußter Auswahl auf eine Reihe wichtigerer Einzeluntersuchungen. Verstreute Hinweise zur Uberlieferung der Werke Hildegards von Bingen enthalten die materialreichen Zusammenstellungen von Antonius Van der Linde3 aus dem Jahre 1877 und Friedrich Wilhelm Emil Roth aus den Jahren 1886/87.4 Van der Linde konzentriert sich auf die handschriftliche, Roth auf die gedruckte Überlieferung. In einer zweiten Studie hat Roth die zentralen Textzeugen des Scivias untereinander sowie mit der ersten gedruckten Edition dieser Schrift aus dem Jahre 1513 verglichen.5 Als Grundlagenwerk der HildegardPhilologie des 19. Jahrhunderts kann eine großangelegte Darstellung Johann Philipp Schmelzeis' aus dem Jahre 1879 gelten. In seiner Monographie Das Leben und Wirken der Heiligen Hildegard nach den Quellen dargestellt: Nebst einem Anhang Hildegard'scher Lieder mit ihren Melodien finden sich immer wieder wertvolle Hinweise auch zur Überlieferungsgeschichte von Hildegards Eine zusammenfassende

schichte

Schriften.6

Gustav Sommerfeldt beschäftigte sich 1909 mit der Rezeption Hildegards bei Heinrich von Langenstein (1325-1397).7 Im Rahmen dieser Studie edierte Sommerfeldt einen Brief Heinrichs an den Bruder des Wormser Bischofs Eckard von Ders, der einzelne Prophetien Hildegards enthält. Wie Sommerfeldt darlegt, 1 2

3 4 5 6 7

Stein 2001. Die historisch-kritische Edition des Pentachronon erscheint unter dem Namen von José Carlos Santos Paz. Sie trägt den Titel: La obra de Gebenôn de Eberbach. Firenze, Edizioni del Galluzzo. Altere Hinweise zum Inhalt bietet Johann Baptist Pitra in Analecta, S. 483-488. Vgl. auch Gouguenheim Î996, S. 169-173; Moulinier 2000a. Van der Linde 1877. Roth 1886/1887. Roth 1887. Schmelzeis 1879. Sommerfeldt 1909. In einer zweiten Studie kommt Sommerfeldt noch einmal auf Heinrichs von Langenstein Hildegardrezeption zurück. Demnach hat Heinrich, so Sommerfeldt, Hildegard unter die Sibyllen gerechnet. Vgl. Sommerfeldt 1922. -

Grundlegung

20

betrachtete Heinrich Hildegards Prophetien im Hinblick auf das Papstschisma und erwartete das baldige Kommen des Antichrist. José Carlos Santos Paz hat diesen Brief Heinrichs von Langenstein kürzlich neu ediert, kommentiert und mit einer Übersetzung ins Spanische versehen.1 Santos Paz zufolge basiert die Hildegard-Rezeption Heinrichs von Langenstein, ebenso wie jene des Pierre d'Ailly (ca. 1350—1420), auf dem Pentachronon des Gebeno von Eberbach.2 Heinrich Ostlender ging 1948 der Frage nach, ob eine Beeinflussung Dantes durch Hildegard von Bingen nachgewiesen werden könne.3 In seiner motivgeschichtlich akzentuierten Erhebung konzedierte Ostlender eine auffällige Übereinstimmung verschiedener visionärer Bilder des Scivias und der Göttlichen Komödie. Darüber hinaus postulierte er ein wie immer geartetes „Bekanntwerden Dantes mit Hildegards Hauptwerk" .4 Den konkreten Nachweis für eine unmittelbare Rezeption Hildegards durch Dante blieb Ostlender gleichwohl schuldig. Hermann Heimpel untersuchte 1951 die Hildegard-Rezeption Dietrichs von Niem (ca. 1340-1418).5 Demzufolge hat Dietrich seine HildegardKenntnisse aus dem Pentachronon Gebenos von Eberbach geschöpft. Marianna Schräder OSB nahm 1952 die Beziehungen des Johannes Trithemius (1462-1516) zu Hildegard von Bingen in den Blick und entlarvte dessen Ausführungen zu Hildegards Herkunftsgeschichte als pseudo-historische Fiktionen.6 Eine 1956 entstandene, nach wie vor grundlegende Untersuchung zur quellenkritischen Beurteilung von Hildegards Schriften stammt von Marianna Schräder OSB und Adelgundis Führkötter OSB.7 Die Beobachtungen der beiden Eibinger Schwestern zur Echtheitsfrage von Hildegards Schriften förderten wichtige paläographische und textgeschichtliche Erkenntnisse zutage, die von den nachfolgenden Forschern für eine Edition dieser Schriften fruchtbar gemacht werden konnten. Auch unter überlieferungsgeschichtlichen Gesichtspunkten betrachtet stellt die Arbeit von Schräder und Führkötter einen Meilenstein der Forschung dar. 1 2

Santos Paz 2000. Santos Paz 2000, S. 13: „Dos de los

autores que consideraron mâs ampliamente las profecîas del Hildegarde en relaciön con el Gran Cisma fueron Pedro de Ailly y Enrique de Langenstein (o de Hesse), que jugaron (sobre todo el primero) un papel

destacado

en

el intento de resoluciön del conflicto por via conciliar que finalmente

se

produjo en Constanza (1414-1418); estos dos personajes conocieron y citaron a Hildegarde a través del Speculum futurorum temporum, como trataré de monstrar a continuacion."

3 4 5 6

Ostlender 1948. Ostlender 1948, S. 169. Heimpel 1951b. Schräder 1952. Vgl. auch den 395.

7

-

Schrader/Führkötter 1956.

Kinkel 1979, hier S. 389-

Beitrag von Kohl 1928. -

Grundlegung

21

Einige Fingerzeige zur Nachwirkung Hildegards im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit gab Marianna Schräder OSB 1969 im Dictionnaire de Spiritualité} Insbesondere ihr Hinweis auf die Hildegard-Rezeption des Andreas Oslander (1498-1552) hätte in der folgenden Forschung eine stärkere Beachtung verdient gehabt. Ernest W. McDonnell brachte im gleichen Jahr (1969) eine Studie über die Beginen und Begharden heraus, in der er u. a. Hildegards Einfluß auf die belgische Mystik sowie ihre Wirkung auf verschiedene, vor allem kontinentale Geschichtsschreiber des 13. und 14. Jahrhunderts betrachtete.2 Von großem Interesse ist McDonnells Hinweis auf die Wirkungsgeschichte Hildegards innerhalb der moraldidaktisch akzentuierten flämischen Dichtung des 13. Jahrhunderts, wie sie von Jacob van Maerlant (ca. 1235-1300) begründet wurde. Der Rekurs auf Hildegard geschieht hier im Rahmen einer scharfen Dekadenzkritik des Klerus und bezieht die antimendikantisch akzentuierte Spurie Prophetia Hildegardis contra monachos mendicantes ein. Auch die flämische Mystikerin und Begine Hadewijch (erste Hälfte 13. Jh.) und der Chronist Lodewijch Van Velthem (ca. 1270 nach 1326) gehören zu diesem Kreis.3 Lodewijch Van Velthem vollendete in den Jahren 1315/16 den 1282/83 von Jacob van Maerlant begonnenen Spiegel historiael, eine auf Vinzenz' von Beauvais Speculum Historiale basierende Weltchronik in niederländischer Sprache. Maerlant hinterließ bei seinem Tode die Teile I, III und 1.800 Verse von Teil IV des Spiegel. Diesen Torso wollte zunächst der flämische Dichter Philippe Utenbroeke (f vor 1315) zu Ende führen. Als Utenbroeke verstarb, hatte er jedoch lediglich Teil II beendet. Die weitere Arbeit übernahm daraufhin Lodewijch Van Velthem. Im August 1315 hatte Van Velthem Teil IV des Spiegel abgeschlossen, dann nahm er Teil V in Angriff. Der Abschluß dieses Teiles fiel auf den 14. August 1316. In manchen Partien des Werkes stützte sich Van Velthem auf Gebenos Pentachronon. Horst Dieter Rauh ging im Rahmen einer großangelegten Abhandlung zum Bilde des Antichrist im Mittelalter auch auf Hildegard von Bingen ein.4 Rauh erblickt in Hildegards Antichrist-Äußerungen die Vollendung des deutschen Symbolismus. Er verwendet diesen Terminus im Sinne eines Gegenbegriffs zu der schwerpunktmäßig rational und diskursiv ausgerichteten Scholastik. Auf die Notwendigkeit einer systematischen Aufarbeitung von Hildegards Einfluß im Mittelalter hat im Jahre 1976 Robert E. Lerner hingewiesen.5 Von Interesse sind vor allem Lerners Fingerzeige auf den typenbildenden Charakter der sogenannten Veniet-Aquila-Prophetien sowie auf das -

1

2 3

Schräder 1969, hier Sp. 519f. McDonnell 1969, hier S. 281-298. Zu Hadewijch und Hildegard vgl. Van

der

Zeyde 1934, S. 160, mit Zitat

von

Hadeund

wijchs Äußerung „Hildegaert die alle die Visione sach". Zu Van Velthem und seiner Verwendung von Hildegards Scivias, Epistolarium und LDO vgl.

4

Vries/Vervijs 1863, hier I, S. LXXXIII-LXXXIX. Rauh 1973, S. 474-527.

5

Lerner 1976.

Verdam 1881.

-

De

Grundlegung

22

literarische Schema einer im Bett zuteil gewordenen Vision, wie sie in Hildegards Brief an Werner von Kirchheim zum Ausdruck kommt. Die von Lerner untersuchten, um 1463 entstandenen Prophetien eines gewissen Theodorius ahmen formale Vorgaben der Visionsberichte Hildegards nach. Stuart Jenks veröffentlichte 1977 eine umfangreiche Studie zur Bedeutung Pseudo- Hildegards.1 Seine Untersuchungen betreffen die Berufung auf Hildegard im Rahmen des Geißler- und Flagellantenphänomens. Der von Jenks edierte, Hildegard zugeschriebene Text Nota de flagellatoribus fand Eingang in Michaels de Leone (ca. 1330-1355) um 1349 abgeschlossene Schrift De cronicis temporum modernorum hominum. Bei diesem Werk, das auch im Kontext des wesentlich bekannteren Hausbuch[es] Michaels überliefert wurde (auch Leonebuch oder sog. Würzburger Liederhandschrift [UB München, 2° Cod. ms 731] genannt), handelt es sich um eine lateinische Chronik, die möglicherweise im bewußten Anschluß an die Annales Herbipolenses minores [MGH SS XXIV, S. 828f.] entstanden ist. Ihre Berichterstattung beginnt mit dem Jahre 1266 und endet mit Nachträgen zu den Jahren 1353/54. Friedhelm Jürgensmeier nahm im Jahre 1979 den 800. Todestag Hildegards zum Anlaß, sich mit Gebenos von Eberbach Pentachronon und der funktionalen Verwendung von Pseudo-Hildegardensien auseinanderzusetzen.2 Jürgensmeier konstatiert eine durch Gebenos selektiven Textzugriff bewirkte Abwertung von Hildegards Theologie und eine daraus resultierende Aufwertung ihrer Prophétie. Längerfristig sei Hildegard, so Jürgensmeier, hierdurch zu einer Art christlicher Sibylle, ja zu einer Weissagerin degeneriert. Auf die Stellung Hildegards innerhalb der mittelalterlichen Weltchronistik ging Martin Haeusler im Rahmen einer 1980 erschienenen Studie über die eschatologischen Geschichtsentwürfe des Mittelalters ein.3 Haeusler legt dar, Hildegards prophetische Autorität habe offenbar besonders in konservativen monastischen Kreisen viel gegolten. Charles Michael Czarski beschäftigte sich 1983 mit Hildegards visionstheologischer Stellung zwischen Augustinus und Joachim von Fiore (ca. 1130-1202). Sorgfältig ordnete Czarski Hildegards prophetisches Werk in den Kontext der visionären Schriften des 11. und 12. Jahrhunderts ein. Darüber hinaus ging Czarski der Frage nach, ob es Entwicklungen innerhalb von Hildegards eigenen Visionsschriften gegeben haben könnte.4 Seine neue Wege beschreitenden Erhebungen fanden in der Forschung bislang leider nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Mit der Rezeption Hildegards im 17. und 18. Jahrhundert, vor allem von sehen protestantischer Autoren, befaßte sich Elisabeth Gössmann.5 Im Rahmen ihrer diesbezüglichen Studien lieferte Gössmann wertvolle Hinweise auf eine überkonfessionelle Wirkungsgeschichte Hildegards. Hildegards Rolle innerhalb des Bettelordenstreits 1 2 3 4 5

Jenks 1977. Jürgensmeier

1979. Haeusler 1980, S. 65. Czarski 1983. Gössmann 1985.

Grundlegung

23

thematisierten R. E. Lerner in seiner 1983 erschienenen Monographie The of Prophecy1 sowie Kathryn Kerby-Fulton in einer aus dem Jahre 1987 stammenden Studie über die Anti-Mendikantenpropaganda.2 Kerby-Fultons Ausführungen sind für eine Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte Hildegards von besonderer Bedeutung. Sie befassen sich in ausführlicher Weise mit dem anonym überlieferten pseudo-hildegardischen Traktat Insurgent gentes, in dem die mittelalterliche Propaganda gegen die Mendikanten eine nochmalige, geradezu haßerfüllte Steigerung erfährt. Hildegard wird in diesem Traktat als maßgebliche Autorität herbeizitiert. Hinzuweisen ist darüber hinaus auf eine 1990 erschienene Monographie Kerby-Fultons, in der u. a. Hildegards Wirkung auf den von William Langland (ca. 1325-1388) verfaßten, sozialreformerisch und apokalyptisch akzentuierten Piers Plowman beschrieben wird.3 Schließlich sei ein weiterführender Beitrag Kerby-Fultons genannt, der die Rezeption Hildegards unter Radikalreformern im England Richards II. (1377-1399) thematisiert.4 In einer inhaltlich verwandten Studie aus dem Jahre 1996 hat Kathryn Kerby-Fulton die insulare Rezeption Hildegards bei männlichen Lesern des späten Mittelalters untersucht.5 Die verschiedenen Arbeiten Kerby-Fultons lassen erkennen, daß Hildegard während des 13., 14. und 15. Jahrhunderts auf den britischen Inseln fast ausschließlich als apokalyptisch und reformkirchlich orientierte Autorin gelesen wurde. Die Textbasis dieser Bewertung bildeten zumeist das Pentachronon sowie Hildegards Brief an den Klerus von Köln. Letzterer ist schon in den ältesten Handschriften zusammen mit dem Pentachronon überliefert. Dabei erfuhren Hildegards Aussagen eine starke Adaption und Instrumentalisierung, insbesondere im Rahmen der Mendikanten- und LollarPowers

denproblematik. In den gleichen Kontext der Antimendikantenliteratur gehört eine großangelegte Untersuchung Konrad Bunds aus dem Jahre 1988. Bund beschäftigte sich speziell mit der Wirkungsgeschichte von Hildegards Brief an den Klerus

Köln.6 Er stellt die handschriftliche Überlieferung dieses Briefes zusammen und fügt eine auf der Grundlage des Riesencodex basierende Edition bei. Auch die von Heinrich von Avranches (ca. 1191-1260) stammende, unter dem Titel Prophetia Sancte Hyldegardis de Novis Fratribus stehende versifizierte Fassung von Hildegards Kölner Brief wird von Bund ediert. Joan Gibson gab 1989 Hinweise auf eine angebliche Rezeption Hildegards im Hortus Deliciarum Herrads von Hohenburg (um 1125/30—1195) sowie im Fließenden Licht der Gottvon

1 2

Lerner 1983. Kerby-Fulton 1987. Die Autorin bereitet ante von

3 4

Vgl.

zur

Zeit eine Edition der insularen Vari-

Insurgent gentes vor.

Kerby-Fulton 1990, S. 26-75. Kerby-Fulton 1999. Kerby-Fulton 2000. Kathryn Kerby-Fulton sei für die Zusendung eines Voraus-

exemplars dieses Aufsatzes sehr herzlich gedankt.

5

6

Kerby-Fulton 1996. Bund 1988. Zum gleichen Thema Gössmann 1989.

Grundlegung

24

heit Mechthilds von Magdeburg (um 1208/10-1282/94).1 Allerdings fehlen für den Hortus Deliciarum konkrete Belegstellen und auch für das Fließende Licht der Gottheit bringt Margot Schmidt in ihrer neuhochdeutschen Übertragung des Textes lediglich eine Fülle von Wort- und Motivparallelen, aber keine direkten Zitate oder Berufungen. Christel Meier untersuchte 1990 das Verhältnis von authentischer und pseudepigraphischer Hildegard-Rezeption mit einem besonderen Blick auf Gebeno von Eberbach.2 Sehr zu Recht stellte sie die Frage, „ob die frühe Rezeptionssituation schon genügend geprüft, in ihrer Problematik erkannt und mit Hildegards differenziertem Selbstverständnis verglichen" worden sei.3 Des weiteren weist Meier auf die Gebeno- bzw. Hildegardadaptionen des Heinrich von Langenstein hin und macht auf die oben erwähnte Handschrift der UB Tübingen Mc 141 aufmerksam, die eine selbständige Weiterbearbeitung des Pentachronon repräsentiert. Agnes Graf hat mit einer Abhandlung über Hildegard im Werk des theologischen Schriftstellers und Kanzelredners Winand von Steeg (1371-1453) einen

wichtigen Beitrag zur Wirkungsgeschichte Hildegards im 15. Jahrhundert geleistet.4 Dieser Beitrag ist auch deshalb von Bedeutung, weil Winand mit seinem Adamas Colluctancium Aquilarum [Bibl. Vat., Cod. Pal. lat. 412] nicht nur ein Dokument der literarischen, sondern auch der künstlerischen Hildegard-Rezeption (hier des Scivias) geschaffen hat. Die von Graf vorgestellte Handschrift enthält eine Reihe lavierter Federzeichnungen, die visionäre Themen des Scivias in das gemalte Bild umsetzen. Ein konziser Überblick zur Rezeptionsgeschichte Hildegards findet sich in Gabriele Lautenschlägers Studie zur theologischen Grundlegung von Hildegards Ethik und Spiritualität.5 Zur Typisierung Hildegards als christlicher Sibylle hat sich an verschiedenen Orten und mit großem Gewicht Peter Dronke geäußert.6 Dronke konnte dabei 1

Gibson 1989a, hier S. 86: „The excerpts she [d. i. Herrad von Hohenburg; Ergäncontain references to, and materials drawn from, contemporary sources including the noted abbess and visionary philosopher Hildegard von Bingen ..." Gibson 1989b, hier S. 120: „On the intellectual side, Mechthild was familiar to some degree with the mystical writings of Bernhard of Clairvaux, and the Victorins. She was probably also familiar with the writings of William of Saint-Thierry, David of Augsburg, Hildegard of Bingen, and Gregory the Great, as well as the contemporary milleniarist visionary, Joachim of Fiore." Vgl. die Belegstellen in der Übersetzung Margot Schmidts : Mechtild von Magdeburg Licht, S. 430. Im Register der Ausgabe von Hans Neumann taucht der Name Hildegards dagegen nicht auf. Vgl. Mechtild von Magdeburg Fließendes Licht, I. Meier 1990b. Meier 1990b, S. 308. Graf 1991. Graf 1992. Auch Ansgar Frenken weist auf die Hildegard-Rezeption des Winand von Steeg hin: Frenken 1993. Zu Winand generell vgl. Bünz 1995. Bünz 1998. Lautenschläger 1993, hier S. 20-27. Dronke 1995. Dronke 1997.

zung] assembles,

2

3 4

-

-

5 6

-

Grundlegung

25

auf wichtige Vorarbeiten Ingeborg Neskes aus dem Jahre 1985 zurückgreifen, in denen u. a. die entsprechenden Stilisierungen Hildegards als christlicher Sibylle angesprochen wurden.' Auch Bernhard Schnell und Nigel F. Palmer haben Hildegard unter dem Blickpunkt der Sibyllen-Weissagungen ihre Aufmerksamkeit geschenkt.2 In seiner 1996 erschienenen Habilitationsschrift Vom Ende der Zeit Der Traktat des Arnold von Villanova über die Ankunft des Antichrist geht Manfred Gerwing ausführlich auf das Endzeitverständnis Hildegards von Bingen ein.3 Gerwing liefert aufschlußreiche Beobachtungen zur Rezeption Hildegards bei Johannes von Paris, gen. Quidort (f 1306), einem Hauptvertreter der Pariser Thomistenschule. Eine wichtige Arbeit aus dem Bereich der französischen Hildegard-Forschung legte, ebenfalls im Jahre 1996, Sylvain Gouguenheim vor.4 Gouguenheim widmet in seiner Monographie das 7. Kapitel („La prophétesse trahie") der Wirkungsgeschichte Hildegards im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Als Vertreter der spanischen Forschung hat (1996) José Guadalajara Medina die Wirkungsgeschichte Hildegards in der apokalyptischen Literatur des Mittelalters dargestellt.5 Aus medizinisch-naturwissenschaftlicher Sicht haben sich in letzter Zeit u. a. Melitta Weiss-Adamson, Barbara Fehringer, Laurence Moulinier (wiederholt), Irmgard Müller, José Carlos Santos Paz und Reiner Hildebrandt mit der handschriftlichen Uberlieferung der Werke Hildegards befaßt. Die Forschungen der genannten Autoren verfolgen drei Hauptziele: Verbreiterung der Quellenbasis durch Auffindung und Beschreibung bislang unbekannter Textzeugen, Annäherung an die jeweils ältesten Textfassungen sowie Rekonstruktion einer deutschsprachigen Hildegard-Überlieferung. Barbara Fehringer edierte das Speyerer Kräuterbuch, das den Traktat De herbis aus Hildegards Liber simplicis medicinae in deutscher Sprache beinhaltet.6 Die Urform dieser Übersetzung soll, so Fehringer, um 1200 entstanden sein. Melitta Weiss-Adamson handelte über einen deutschsprachigen Textanhang zu Hildegards Liber simplicis medicinae, der im Codex 6952 der Bibliothèque Nationale Paris niedergelegt ist.7 An anderer Stelle unternahm Weiss-Adamson eine Bewertung des Liber simplicis medicinae vor dem Hintergrund der neuaufgefundenen Handschriften.8 Laurence Moulinier legte eine ganze Reihe wichtiger Beiträge zur Textüberlieferung der medizinisch-naturwissenschaftlichen Schriften Hildegards vor. Einen guten Überblick über den Stand ihrer Forschungen gewährt ihre 1995 erschienene -

1 2 3 4 5

6 7

8

Neske 1985. Palmer/Schnell 1992. Gerwing 1996, hier S. 340-351. Gouguenheim 1996. Guadalajara Medina 1996, insbesondere die Seiten 142, 153, 155, 168, 204, 334,

371, 384. Fehringer 1994. Weiss-Adamson 1995a. Weiss-Adamson 1995c.

Grundlegung

26

Monographie Le manuscrit perdu à Strasbourg. Diese Veröffentlichung enthält u. a. einen Katalog der bekannten naturkundlichen Handschriften Hildegards.1 Für die Textgeschichte des Liber compositae medicinae von fundamentaler Bedeutung ist Mouliniers 2001 erschienener Beitrag Hildegarde ou PseudoHildegarde ? Réflexions sur l'authenticité du traité Cause et cure. Moulinier gelangt hier zu äußerst zurückhaltenden Befunden bezüglich des auktorialen Anteils Hildegards an dieser Schrift. Lediglich ein Nukleus, Buch 3 und 4 umfassend, sei, so Moulinier, authentisch auf Hildegard zurückzuführen. Der Rest sei nach Hildegards Tod, vermutlich zwischen 1180 und 1220, aus hildegardischem und pseudo-hildegardischem Streumaterial kompiliert worden. Als Redaktoren kämen am ehesten Theoderich von Echternach, Gebeno von Eberbach oder Wibert von Gembloux in Frage.2 Auch Irmgard Müller veröffentlichte einige grundlegende Studien zur Textüberlieferung der medizinisch-naturkundlichen Schriften Hildegards. Erwähnt seien an dieser Stelle nur ihre Studien zur Verfasserfrage der medizinisch-naturkundlichen Schriften Hildegards3 sowie zum Berner Codex 525, einer bislang weitgehend unbeachtet gebliebenen Handschrift des 15. Jahrhunderts, die insgesamt 41 Rezepte aus Hildegards Liber simplicis medicinae enthält.4 José Carlos Santos Paz untersuchte die handschriftliche Uberlieferung des Liber subtilitatum .5 Reiner Hildebrandt schließlich würdigte den bedeutendsten Neufund einer naturwissenschaftlichen Hildegardhandschrift, den in der Biblioteca Medicea Laurenziana von Florenz liegenden Codex laur. Ashb. 1323.6 Diese um 1292 in TrierSt. Matthias [= St. Eucharius] entstandene Handschrift stellt den ältesten vollständig erhaltenen Textzeugen von Hildegards Liber simplicis medicinae dar. Ihre Auffindung durch Pater Petrus Becker OSB (Trier/St. Eucharius) im Jahre 1983 hat die Forschungen zum naturkundlichen Werk Hildegards auf eine völlig neue

Basis

gestellt.

Albert Derolez hat in einem 1998 erschienenen Beitrag eine aktuelle Zwischenbilanz der Forschungen zur handschriftlichen Überlieferung der Werke Hildegards gezogen.7 Dabei konzentriert Derolez sich auf die Überlieferung der Visionstrilogie (Scivias, Liber vitae meritorum, Liber divinorum operum). Seine Ausführungen sind von grundsätzlicher Bedeutung für die Hildegard-Philologie. Sie beleuchten in aller Schärfe die strategischen Leitlinien der Popularisierung von Hildegards Schriften im 12. Jahrhundert und weisen dem Rupertsberger Skriptorium den ihm gebührenden Platz zu. Auch für die Datierung einzelner Abschriften von Hildegards Werken liefert Derolez wichtige Anhalts1 2

3 4 5 6 7

Moulinier 1995. Moulinier 2001. Müller 1998. Müller 1997. Santos Paz 1996. Hildebrandt 1998a. Derolez 1998.

Grundlegung

27

Dies gilt insbesondere für seine bereits früher geäußerte Meinung, der Riesencodex sei zum größten Teil noch zu Lebzeiten Hildegards entstanden und der zwischenzeitlich verschollene üluminierte Scivias sei spät, nämlich in die Zeit um 1175/80, zu datieren. Ausgehend von Gebeno von Eberbach hat wiederum José Carlos Santos Paz jüngst einen Beitrag zur Rezeption Hildegards im 13. Jahrhundert publiziert.1 Darüber hinaus schließt seine im Jahre 1999 als CD-ROM publizierte Dissertation über das Pentachronon Gebenos eine klaffende Lücke in der Erforschung dieser Sonderform der Überlieferung Hildegards von Bingen.2 Auf die Wirkungsgeschichte Hildegards im 15. Jahrhundert geht Hildegund Holzel in ihrer Monographie über den Magdeburger Domherrn Heinrich Toke (ca. 1390-1454) ein. Holzel untersucht die Wirkung von Hildegards kritischer Darstellung des Niedergangs der weltlichen und geistlichen Macht in Heinrich Tokes Rapularius und dessen Fortwirken bei dem Magdeburger Centurionen Flacius Illyricus.3 Marc-Aeilko Aris hat anhand von drei konkreten Fällen aus dem 15. und 16. Jahrhundert ein helles Licht auf die Hildegard-Rezeption der Kartäuser geworfen. Seine Untersuchung ist entsprechenden Spuren in den Kartausen von Aggsbach, Mainz und Koblenz gewidmet. Sie gelangt zu dem Ergebnis, daß Vinzenz von Aggsbach, der das Pentachronon kopierte, Hildegards Texte in einem kirchenpolitischen Argumentationszusammenhang einsetzte. Ewald Molner hingegen, Mitglied der Kartause von Koblenz, kopierte den Scivias, den Liber divinorum operum sowie Teile des Epistolariums. Seine Kopien bestechen durch ein hohes textkritisches Niveau und erlauben Einblicke in den Kontext der kartäusischen Spiritualität des 15. Jahrhunderts. Letztendlich gestaltete ein anonymer Exzerptor, der in der Kartause St. Michael in Mainz tätig war, den Scivias zu einem in Gebetsform gefaßten Text um. Der im Jahre 2000 erschienene, von Alfred Haverkamp herausgegebene Berichtsband über einen internationalen wissenschaftlichen Kongreß zum 900jährigen Jubiläum Hildegards, der vom 13. bis zum 19. September 1998 in Bingen stattfand, enthält eine Reihe wichtiger Beiträge zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der rheinischen Seherin. Zunächst macht Alfred Haverkamp unter dem Titel Hildegard von Bingen-Disibodenberg : von der Peripherie zum Zentrum darauf aufmerksam, daß die Wirkungsgeschichte Hildegards und ihrer Schriften auch unter geographisch-topographischen Aspekten zu würdigen ist. Mit dem Umzug vom Disibodenberg auf den Rupertsberg öffnete sich Hildegard die Möglichkeit, die verkehrsstrategisch wichtige Rheinachse für die Verbreitung ihrer Schriften bzw. für die Aneignung neuer Kenntnisse zu nutzen.4

punkte.

1 2

3 4

Santos Paz 1998. Santos Paz 1999. Holzel 1998, insbesondere S. 146 und 153f. Haverkamp 2000.

28

Grundlegung

Albert Derolez wiederum legt im gleichen Band Neue Beobachtungen zu den erstmalig Handschriften der visionären Werke Hildegards von Bingen vor, dieden früheauch eine genaue Zuordnung der Rupertsberger Kopistenhände zu den Entsten Textzeugen der Visionstrilogie ermöglichen. Sie machen dadurch stehungsprozeß dieser frühen Textzeugen besser rekonstruierbar.1 Hans-Joachim Schmidt ist in dieser Publikation mit einem Beitrag vertreten, der sich der Rezeption von Texten Hildegards bzw. Pseudo-Hildegards im 13. Jahrhundert widmet.2 Schmidt gelangt zu dem Ergebnis, daß Hildegards Einfluß im 13. Jahrhundert erhalten blieb, sich aber gleichzeitig auf den Aspekt der prognostisch gefärbten Interpretation von Geschichte reduzierte. Innerhalb des akademischen Schrifttums der Scholastik, der Predigtsammlungen sowie der Frauenmystik dagegen habe Hildegard abgesehen von ihrem Einfluß auf Elikeine nennenswerte Wirkung entfaltet. sabeth von Schönau (1129-1164) Dabei hätten bei den Rezipienten, so das Abschlußresümee Schmidts, nicht die Erfordernisse wissenschaftlicher Redlichkeit und Quellentreue im Vordergrund gestanden. Vielmehr habe sich der Bogen von der Kompilation, Simplifizierung und Interpretation bis hin zur bewußten Fälschung von Hildegards Schriften gespannt. Hildegard sei als eine Autorität vereinnahmt worden, die bedenkenlos in den Kontext der jeweils eigenen Argumentation transponiert wurde. Laurence Moulinier erschließt in ihrem Beitrag Unterhaltungen mit dem Teufel: Eine französische Hildegard-Vita des 15. Jahrhunderts und ihrederQuellen Handdrei wichtige Zeugnisse der französischen Hildegard-Rezeption.3 Mit der Handschrift Ms schrift Cambrai, Bibliothèque Municipale 811, Douai, Bibliothèque Municipale Ms 8694 und der Handschrift Lille, Bibliothèque Municipale Ms 453 [olim 383]5 führt sie drei Texte des 15. Jahrhunderts an, die sämtlich zur Gattung der Prosalegendare, also der Handschriften mit größtenteils hagiographischem Inhalt, zählen. Die drei in pikardischem Französisch abgefaßten Texte sind für die Topographie, die Chronologie sowie für die Frage nach dem Charakter einer volkssprachlichen Form der Rezeption Hildegards von großer Bedeutung. Sie stehen in der Tradition der lateinischen Vita Hilin degardis bzw. deren frömmigkeitsspezifischer Umsetzung, der Odo lediones der offiziellen festo S. Hildegardis. Als solche bilden sie gekürzte Neuausgaben Vita Hildegardis bzw. bearbeitete Übersetzungen der für den liturgischen Gebrauch bestimmten Odo lediones. Hinzu kommen in diesen Texten Anleihen aus dem Epistolarium sowie ein in den authentischen Hildegard-Schriften nicht zu findender Dialog zwischen einem Priester und dem Teufel. Der Dialog, -

-

1 2

3 4 5

Derolez 2000. Schmidt 2000. Moulinier 2000b. Eine Edition des Textes der Handschrift Douai, Bibl. munie, 869 findet sich bei Moulinier 1997, S. 154-163. Eine Edition des Textes der Handschrift Lille, Bibl. munie., 453 [olim 383], f. 72vb76rb findet sich im Anhang zu Moulinier 2000b, S. 536-548.

Grundlegung

29

in dem Hildegard selbst auftritt, ist vermutlich im Zusammenhang mit Hildegards Wirken als Exorzistin zu sehen, wie dies in der Sigewiza-Episode der Vita Hildegardis geschildert wird.1 Direkte Quelle des letzteren ist ein entsprechender Text, der in der Handschrift Dendermonde, Bibliothek der Abtei St. Pieters en Paul, Cod. 9, f. 170v-173v niedergelegt ist. Laurence Moulinier fügt ihren Erhebungen eine Edition dieses lateinischen Textes an (S. 548-560). So bezeugen die drei französischen Hildegard-Viten, von denen der Liller Text um 1430/40, die beiden übrigen kurz vor 1500 entstanden sind, daß die nordfranzösische Hildegard-Rezeption recht früh einsetzte und intensiv verlief.2 Kurt Flasch unternimmt den interessanten Versuch, Hildegards visionäres Hauptwerk, den Scivias, unter philosophiegeschichtlichen Aspekten zu würdigen. Innerhalb seines umfassenden Werkes Das philosophische Denken im Mittelalter ordnet Flasch die rheinische Seherin „in die Natura-Philosophie des 12. Jahrhunderts" ein.3 Speziell mit der deutschsprachigen Überlieferung der Schriften Hildegards befaßt sich ein Artikel Michael Embachs im Nachtragsband der zweiten Auflage des Verfasserlexikons.4

1

Der Ordo dieses Exorzismus wurde

Zu

Hildegards

guenheim

2 3 4

erstmalig ediert von Dronke 1981b, S. 127-129. Wirken als Exorzistin bzw. Heilerin vgl. Moulinier 1997. Gou-

1995.

Die drei Handschriften finden sich Flasch 2000, hier S. 281. Embach 2002.

-

kodikologisch beschrieben bei Labie

1985.

ERSTER TEIL BASISHANDSCHRIFTEN UND EDITIONEN DER WERKE HILDEGARDS

Das Werk Hildegards

im

Überblick

Zunächst seien die bereits erschienenen kritischen Ausgaben von Schriften Hildegards in den Blick genommen. Dabei geht es um die Frage, welche Textzeugen aus dem unmittelbaren Lebensumfeld Hildegards existieren und welche Überlieferungsträger den jeweiligen Editionen im Sinne von Leithandschriften zugrundegelegt wurden. Auch auf die älteren Textausgaben sowie auf die interimistisch vorgelegten kritischen Teileditionen von Schriften Hildegards soll in diesem Zusammenhang eingegangen werden, soweit diese, in Ermangelung kompletter Ausgaben, den derzeitigen Stand der Texterschließung repräsentieren. Die Wahl bestimmter Leithandschriften für eine Edition setzt eine intensive Beschäftigung mit der Genese und philologischen Dignität der einzelnen Überlieferungsträger voraus. Insofern spiegelt sich in den Untersuchungen, die einer kritischen Edition vorausliegen, ein gutes Stück Forschungsarbeit wider. Ich gehe dabei von dem heuristischen Axiom aus, daß der Überlieferungsprozeß der Schriften Hildegards nicht mit dem Ende der Handschriftenzeit zum Stillstand gekommen ist. Vielmehr bildet der Übergang in den Bereich der gedruckten Textzeugen hinein die logische Fortsetzung der handschriftlichen Traditionsgeschichte. Hier wurde lediglich das Medium bzw. der physische Träger der Überlieferung gewechselt, möglicherweise auch der Adressatenkreis erweitert. Die Kontinuität des Überlieferungsprozesses an und für sich jedoch blieb

gewahrt.

Um einen besseren

Schriften

Hildegards

Überblick benannt.

zu

gewähren,

sei vorab das

Gesamtkorpus

der

I. Die Visionstrilogie : 1. ) Scivias 2. ) Liber vitae meritorum 3. ) Liber divinorum operum II. Das naturkundlich-medizinische Werk, von Hildegard bezeichnet als Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum. Seit dem 13. Jahrhundert getrennt überliefert in: 1. ) Liber simplicis medicinae (Physica) 2. ) Liber compositae medicinae (Causae et curae) III. Das musikalische Werk, zerfallend in: 1. ) Symphonia harmoniae caelestium revelationum (77 [78] vertonte Gesänge) 2. ) Ordo virtutum

Epistolarium, darin ursprünglich eingeschlossen einige kleinere traktat(die Nummern des Epistolariums beziehen sich nicht auf die erst artige IV. Das

Schriften

Erster Teil

34

vorliegende Briefedition Van Ackers, sondern auf die Reihenfolge Riesencodex, der umfassendsten Sammlung von Hildegards Briefen): 1. ) Solutiones triginta octo quaestionum Ep. 242 2. ) Explanatio Symboli S. Athanasii Ep. 264 3. ) Vita S. Ruperti ebenfalls aus Ep. 264 4. ) Explanatio Regulae S. Benedicti Ep. 280 5. ) Vita S. Disibodi Ep. 282 teilweise

im

=

=

=

=

=

V. Die

sprachkundlich-experimentellen

Schriften

1. ) Lingua ignota 2. ) Litterae ignotae

singular dastehende, überlieferungsgeschichtlich marginal bedeutenden Expositiones evangeliorum, eine vermutlich nur fragmentarisch erhaltene Sammlung von Homilien zu verschiedenen Evangelientexten. Hinzukommen zwei Texte, die zwar nicht direkt auf Hildegard zurückgehen, die aber in ihrem zeitgenössischen Umfeld entstanden sind, bzw. wichtige Auf-

VI. Die

schlüsse über ihr Leben und ihr Werk enthalten: 1. ) Vita Hildegardis 2. ) Acta canonisationis

Bisweilen finden sich weitere selbständig überlieferte Titel von Schriften Hildegards. Hierbei handelt es sich, sofern es tatsächlich authentische Hildegard-Texte sind, um einzelne Briefe, die aus dem Gesamtzusammenhang des Epistolariums herausgelöst, mit fingierten Titeln versehen und autochthon überliefert wurden.1 Genannt seien die Schreiben: De corpore et sanguine Christi Ep. 236 Ad clericos diversi ordinis Ep. 260 Ad saeculares homines diversorum populorum Ep. 262 De catharis Ep. 266 Ad clerum Coloniensem Ep. 268 Ad clerum Trevirorum Ep. 270 -

-

=

-

-

-

=

-

=

-

=

griseos Ep. 274 Adpraelatos Moguntinenses Ep. 284 [Dieser Brief ist in sich wiederum in 10 [11] thematische Abschnitte gegliedert, die im Riesencodex jeweils durch

-

Ad monachos

=

-

=

-

eine rote Initiale voneinander abgesetzt sind. Als Abschnitt 4 erscheint auf f. 31 Orb der auch selbständig zitierte Text De sacerdotali officio (Über das AltarSakrament). Da dieser Text in sich wiederum aus zwei selbständigen Schreiben besteht, setzt sich der Brief an die Mainzer Prälaten eigentlich aus 11 separaten Texten zusammen]. 1

Die mit eigenen Brieftiteln ausgestatteten Schreiben Hildegards finden sich erläutert bei Van der Linde 1877, S. 56. Van der Linde bringt darüber hinaus eine hilfreiche Konkordanz zwischen den im Riesencodex überlieferten Hildegard-Briefen und den Ausgaben bzw. Übersetzungen des Epistolariums bei Migne und Claras (Briefe 1854, S.

57-76).

Basishandschriften

und Editionen

35

Die exakte Identifizierung der jüngst von Franz Staab edierten Vita futtae, die Staab einem unbekannten Disibodenberger Mönch zuweist, ist noch nicht abschließend geklärt.1 Der innerhalb der Vita futtae erscheinende Bericht über die Seelenwanderung Juttas ist vermutlich ein Visionstext Hildegards. Geht man mit Staab von einer Entstehung dieses Textes um 1137 aus, so wäre dies der früheste erhaltene visionäre Text Hildegards überhaupt. Auch die Zuweisung des von Catherine Jeffreys untersuchten Hymnus Sicut malum zum Korpus der Vertonungen Hildegards ist trotz intensiver Bemühungen bislang nicht zweifelsfrei gelungen.2 Die Octo lectiones in festo sanctae Hildegardis legendae schließlich können ebenfalls nicht als authentisches, auf Hildegard selbst zurückgehendes Werk betrachtet werden. Sie stellen eine für den liturgischen Gebrauch und die monastische Lesung bearbeitete Kurzfassung der Vita Hildegardis dar.3 Als Verfasser der Octo lectiones gilt Theoderich von Echternach, der Endredaktor der Vita Hildegardis. Der Autor hat den Text nach Abschluß der Vita Hildegardis, also nach 1180, angefertigt.

1

Staab 1992. Eine deutsche

2

Vgl. Jeffreys

3

1998.

Übersetzung der Vita futtae findet sich bei Staab

1997.

Der Text der Octo lectiones ist ediert von Monika Klaes innerhalb der kritischen Ausgabe der Vita Hildegardis 1993. Vgl. Octo lectiones 1993. Zum Text selbst vgl. Klaes 1993, S. 146*-152*.

KAPITEL 1

Der Riesencodex

(HLB

Wiesbaden Hs

2)

uns der Überlieferungsgeschichte der Einzelwerke Hildegards zumuß ein Wort zum Riesencodex vorausgeschickt werden. Der Riesenwenden, codex gehört, wie immer man die vielschichtigen Fragen nach seiner Zusammenstellung und Datierung beantworten mag, entstehungsgeschichtlich in das unmittelbare Umfeld Hildegards. Er nimmt unter den frühen Hildegard-Handschriften eine absolute Sonderstellung ein. Diese Sonderstellung ergibt sich aus der Tatsache, daß der Riesencodex nicht ein einzelnes Werk überliefert, sondern eine mehr oder weniger planmäßig zustande gekommene Sammlung von Hildegards Schriften, in der sich unverkennbar Züge zur enzyklopädisch geordneten Gesamtausgabe bemerkbar machen. Naturgemäß drängt sich angesichts dieses Befundes die Frage auf, ob der Riesencodex noch von Hildegard selbst veranlaßt worden ist. Immerhin geriete der Codex damit (zumindest partiell) in den Rang eines von der Autorin ganz unmittelbar gewünschten Sondertypus der Überlieferung ihrer Schriften. Was den gesamten Fragekomplex anbetrifft, so gilt nach wie vor die Beobachtung Marianna Schräders und Adelgundis Führkötters, der Riesencodex habe zwar immer wieder die größte Aufmerksamkeit der Hildegard-Forschung auf sich gezogen, jedoch nicht im Hinblick auf seine Gesamtausstattung, sondern lediglich im Hinblick auf die Briefsammlung.1 Insbesondere Lieven Van Acker hat im Vorfeld zu der von ihm begonnenen kritischen Edition des Epistolariums die Bedeutung des Riesencodex ausführlich zur Sprache gebracht.2 Diesen Frageansatz auf eine grundsätzlichere Basis stellend, hat Albert Derolez in der Einleitung zur kritischen Edition des Liber divinorum operum darauf hingewiesen, daß der Riesencodex bislang fast ausschließlich von Editoren bzw. Erforschern einzelner darin enthaltener Texte untersucht worden sei. Sehr zu Recht zieht Derolez die Schlußfolgerung: „The oversize manuscript is so complicated and problematic, that a separate analysis would be needed to establish its history, composition and value."3 Eine eingehendere Beschäftigung mit diesem zentralen Überlieferungsträger von Hildegards Schriften scheint daher, ohne die nach wie vor dringend erforderliche monographische Auseinandersetzung dadurch ersetzen zu wollen, an dieser Stelle gerechtfertigt. In Fortführung der bisherigen Forschungstradition wird auch innerhalb meiner Untersuchung der Status der Briefsammlung des Riesencodex eine besondere Rolle spielen.

Bevor wir

1 2 3

Schrader/Führkötter 1956, S. 154. Van Acker 1988/1989. Derolez/Dronke 1996, S. XCVIIf.

Der Riesencodex

37

Die das Erkenntnisinteresse leitende Frage lautet dabei: Welche Absicht stand hinter der Zusammenstellung einer approximativen Gesamtausgabe der Schrif-

Hildegards ? Da ein guter Teil der Verwirrung um die Entstehungsgeschichte des Riesencodex mit einer zu wenig scharfen Trennung der zugrundegelegten Untersuchungsprinzipien und der durch sie eruierten Befunde zusammenhängt, möchte ich meine eigenen Darlegungen soweit als möglich nach kodikologischen, ten

paläographischen und überlieferungsgeschichtlichen Gesichtspunkten trennen. Die provenienzgeschichtlichen Zuweisungen werden, da sie mithilfe paläographischer Methoden entwickelt wurden, dem paläographischen Teil zugeordnet. Im Anschluß an die Ausbreitung der analytisch gewonnenen Einzelbefunde sollen die empirischen Daten vor dem Hintergrund der Forschungsgeschichte neu diskutiert und in eine kohärente Synthese gebracht werden. Dabei wird sich zeigen, daß die drei genannten Frageansätze zu unterschiedlichen, sich teilweise sogar widersprechenden Ergebnissen führen und daß ein überzeugender Gesamtbefund nur durch eine sorgfältige Abwägung aller mit dem Riesencodex zusammenhängenden Problembereiche gelingen kann. Der Riesencodex weist folgende Detailstruktur auf: f. f. f. f. f. f. f. f. f. f. f.

lva-135vb: Scivias; f 35vb-20f vb : Liber vitae meritorum; 202rv-308rb : Liber divinorum operum; 308va-3f7ra: Epistola ad praelatos Moguntinos; 317ra-327vb: Vita Hildegar dis; 328ra-434ra :

434ra-461vb : 461vb-464va: 464va: 464va-465ra: 466r-48fv:

Epistolae;

Expositio Evangeliorum; Lingua ignota; Litterae ignotae;

Brief der Villarenser Mönche nach dem Tode Hildegards; Symphonia [f. 466r-478ra] und Ordo virtutum [f. 478ra-48fvb]. Der Riesencodex gilt inzwischen als Ausgabe letzter Hand der Schriften Hildegards. Dieser Begriff bringt zum Ausdruck, daß die Handschrift vermutlich auf einem Willensakt der Autorin beruhte, läßt aber offen, ob ihre Fertigstellung noch unmittelbar vor oder erst kurz nach Hildegards Tod erfolgte. Je nachdem, wie hoch man den Anteil Hildegards am Zustandekommen des Codex einschätzt, wird man von einer Autorsammlung oder von einer kodifizierten Klostersammlung sprechen müssen. Die kodikologische und paläographische Untersuchung der Handschrift wird ergeben, daß mit einem längeren redaktionellen Prozeß gerechnet werden muß, der gegen Ende von Hildegards Leben begonnen und sich bis über ihren Tod hinaus erstreckt hat. Zumindest für die im Riesencodex erscheinende Vita Hildegardis und den Brief der Villarenser Mönche muß ja von einer Fertigstellung nach Hildegards Tod, d. h. nach dem 17. September 1179, ausgegangen werden. Dennoch gilt eine generelle

Kapitel 1

38

Spätdatierung des Riesencodex in die Zeit nach Hildegards Ableben, wie sie noch im 19. Jahrhundert Van der Linde (im Anschluß an "Wilhelm Grimm) sowie im zwanzigsten Jahrhundert Marianna Schräder und Adelgundis Führkötter vorgenommen hatten, mittlerweile als überholt. Albert Derolez jedenfalls nicht auf zieht den Schluß, „daß es keinen Anlaß mehr gibt, die Handschrift datieren."1 zu Lebzeiten Hildegards Van der Linde hatte seine Datierung des Riesencodex mit dem Kanonisationsversuch von 1233, der den äußeren Anlaß für die Inangriffnahme dieser Handschrift dargestellt habe, begründet. Die früher entstandenen Vita Hildegardis und die Acta canonisationis dagegen sprächen, so Van der Linde, nur von Sondercodices der Schriften Hildegards, konkret von „volumina" und „exemplaria". Sie würden jegliche Anspielung auf den gewaltigen Riesencodex, die ...

in den Acta und in der Vita doch hätte erwarten müssen, vermissen lassen. bedeute, daß der Riesencodex zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch nicht fertiggestellt gewesen sei. Als weiteres Argument für eine Spätdatierung äußerte Van der Linde die Beobachtung, daß im Riesencodex bei den Wörtern mit i zunächst der z-Strich gefehlt habe. Allmählich sei dann der Schrägstrich eingeführt worden. Ob dieses paläographische Detail allerdings geeignet ist, die weitreichenden Schlußfolgerungen im Hinblick auf eine Spätdatierung der Handschrift abzusichern, ist fraglich. Der z'-Strich kommt, wie Karin Schneider darlegt, bereits im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts auf.2 Marianna Schräder und Adelgundis Führkötter hatten zur Begründung ihman

Dies

res

Datierungsvorschlages

Wez[z]elin

von

die Ansicht

geäußert,

der 1185 verstorbene

Propst

Köln, ein Bruder des Trierer Erzbischofs Arnold I. (1169-1183)

und Neffe Hildegards, sei Kompilator zumindest der Briefsammlung des Riesencodex gewesen. Wez[z]elin habe entweder im Jahre 1181 oder 1182 sein Amt als Propst von Köln-St. Andreas niedergelegt. Zwischen diesem Ereignis und 1185, seinem Todesjahr, könne er sich auf dem Rupertsberg aufgehalten haben. Dort habe er die Briefsammlung Hildegards zu einem „geistlichen Briefbuch" redigieren können. Das Jahr 1185 stelle somit den terminus ante quem für die Endredaktion des Epistolariums dar. Darüber hinaus liege „die Vermutung nahe, daß auf Wez[z]elin die Anlage des gesamten Riesencodex zurückgeht."3 Seine literarische Befähigung hierzu habe er durch die Mitwirkung an der Fertigstellung des Liber divinorum operum unter Beweis gestellt. Außerdem sei Wez[z]elin nach dem Tode Volmars (t 1173), als es zu ernsten Differenzen zwischen dem Rupertsberg und dem Disibodenberg kam, von Papst Alexander III. zum Schlichter bestellt worden. Auch im Zusammenhang dieses Mandates müsse er sich auf dem Rupertsberg aufgehalten haben. Im übrigen weise der Riesencodex eine von vornherein planmäßig festgelegte Gesamtanlage auf. Er enthalte sämtliche theologischen Schriften Hildegards. Die fünf (bzw. nach Derolez sechs) 1 2

3

Derolez 2000, S. 480. Vgl. Schneider 1999, S. 26. Schrader/Führkötter 1956, S. 178.

Der Riesencodex

39

verschiedenen Hände, die sich im Riesencodex unterscheiden ließen, hätten teilweise parallel nebeneinanderher gearbeitet, ein deutliches Zeichen für eine streng durchorganisierte Fertigungsweise. Einen relativen Anhaltspunkt für die Datierung des Riesencodex biete der bereits flüssig in den Text des Scivias eingearbeitete Zusatz „septemque mensium". Hierdurch werde offenkundig, daß die Serams-Fassung des Riesencodex mit Sicherheit jünger sei als jene des illuminierten [Rupertsberger] Scivias, die diesen Zusatz ebenfalls enthalte.1 Dessen Entstehung wiederum verweisen Schrader/Führkötter im Anschluß an Baillet in die Zeit ff60/80.2 Weshalb der Riesencodex dann allerdings nicht wie es ja nahegelegen hätte die authentische Textfassung des illuminierten Scivias mit den Bildbeigaben wiedergibt, ließen Schrader/Führkötter offen. Was die Aufnahme der Vita Hildegardis in den Riesencodex anbetrifft, so nahmen Schrader/Führkötter hierfür das Jahr 1188 an. Aufgrund kodikologischer Beobachtungen an der Lagenordnung des Codex glaubten die beiden Eibinger Schwestern darüber hinaus mit Sicherheit feststellen zu können, daß die Briefe erst nach der Vita, also nach 1188, in den Codex gewandert sind. Dagegen postulierten Albert Derolez und Lieven Van Acker, ersterer aus kodikologischen, letzterer aus inhaltlichen Gründen, eine weitgehende Entstehung des Riesencodex noch zu Lebzeiten Hildegards. Dieser Forschungsmeinung schloß sich vor allem in bezug auf die Entstehung des Liber vitae meritorum Angela Carlevaris an.3 In der Argumentation um die Datierung des Riesencodex spielte, wie schon früher so oft, das Epistolarium eine besondere Rolle. Im Hinblick auf das Epistolarium stellte Albert Derolez fest: la partie du codex doit avoir sa été avant mort principale [se. d'Hildegarde], donc copiée -

-

-

-

„...

1

Der Zusatz „septemque mensium" erscheint in der Protestificatio. Er bezeichnet das genaue Alter Hildegards, in dem sie den Auftrag zur Niederschrift ihrer Visionen empfing („cum quadraginta duorum annorum septemque mensium essem"). Vgl. hierzu Schrader/Führkötter 1956, S. 159: „Die kleine Texterweiterung septemque mensium des illuminierten Scivias, die R als einziger in den laufenden Text aufgenommen hat, ist ein Zeugnis dafür, daß der Kopist von R diesen als Vorlage benutzt hat, also daß R schon von der Abschrift des ersten Werkes an jünger ist als der Codex

2

Baillet 1911, S. 93. Die Untersuchungen der Faksimileausgabe und der Fotokopie des illuminierten Scivias durch Lieselotte Saurma-Jeltsch wollen belegen, daß der Codex vermutlich erst „bald nach Hildegards Tod" abgeschlossen wurde. Vgl. Saurma-Jeltsch 1997, hier S. 353. Saurma-Jeltsch 1998. Vgl. Carlevaris 1995, S. LH: „Was die Datierung [des Riesencodex; Ergänzung] anbetrifft, so haben die quellenkritischen Untersuchungen von Schrader/Führ-

illuminatus."

3

-

ergeben, daß die Handschrift bald nach Hildegards Tod (1179) planmäßig angelegt und in den Jahren 1180 bis 1190 auf dem Rupertsberg entstanden ist. A. Derolez und L. Van Acker haben diese These in jüngster Zeit widerlegt und gehen unseres Erachtens zu Recht davon aus, daß der größte Teil des Codex und damit auch der Liber Vite Meritorum vor Hildegards Tod, also vor dem 17. September kötter 1956

-

1179,

geschrieben

wurde."

-

Kapitel 1

40

le 17. Septembre 1179."1 Van Acker konkretisierte diesen Befund dahingehend, daß Wibert von Gembloux als Redaktor der Briefsammlung des Riesencodex namhaft zu machen sei. Demzufolge müsse die Abfassung dieser Sammlung in die Jahre 1177/80, das heißt, in die Zeitspanne, während derer Wibert auf dem Rupertsberg gelebt hat, fallen.2 Allerdings postuliert Van Acker eine ältere, verschollene Vorlage (Sigle: Wru), deren Entstehung in die Zeit um 1173 datiert wird. Als Kompilator der Vorlage, deren Absicht es gewesen sei, Hildegards Geltung als Heilige, Theologin, Künderin und Mahnerin herauszustreichen, benennt Van Acker Hildegards 1173 verstorbenen Sekretär Volmar.3 Basierend auf den Vorarbeiten Volmars habe ein späterer Redaktor des Riesencodex, vermutlich eben Wibert von Gembloux, nach Hildegards Tod Volmars Briefsammlung sprachlich überarbeitet, konsequenter den leitenden Ordnungsprinzipien angepaßt und um weitere Briefpaare vermehrt. Inhaltlich bedeutet dies, daß die starken Manipulationen am Briefkorpus, wie sie der Riesencodex im Gegensatz zu der von Van Acker favorisierten älteren Briefsammlungen (Stuttgart, WLB, Cod. theol. et phil. 4° 253 Z; Wien, ÖNB, Cod. 881 [theol. 747] W; Berlin StBPrK, Ms theol. lat. f. 699 M) aufweist, mit Wissen und Billigung Hildegards durchgeführt worden sind. In der Tat repräsentiert der Riesencodex Hildegards Briefe in einer konsequent durchgehaltenen, redaktionell gestalteten Anordnung. Das zugrundegelegte Ordnungsprinzip richtet sich nicht nach dem Alphabet der Empfänger und auch nicht nach der Chronologie der Entstehung oder des Empfangs der Briefe. Die Anordnung ist vielmehr eine hierarchische, wobei die kirchliche bzw. weltliche Stellung der Adressaten den Ausschlag gibt. In vertikaler Reihenfolge stehen die bedeutendsten Briefe am Anfang. Darüber hinaus bietet das Epistolarium des Riesencodex durchgängig Briefpaare, bestehend aus Frage- und Antwortbriefen. Hier ist also eine schlichte Kumulation heterogener Briefe ausgestaltet worden zu einer regulären Korrespondenz. Um dies zu erreichen, wurden gelegentlich Anfragebriefe an Hildegard fingiert oder es wurden authentische Anfragebriefe anderen Personen zugeordnet. Hildegard spielt in dieser Korrespondenz die Rolle der bedeutungstragenden magistra. Sie ist es, die den Bitten verschiedenster Persönlichkeiten um Rat und Ermahnung Folge leistet. Eine Reihe sehr pointierter Schlußfolgerungen aus den genannten Beobachtungen hat Konrad Bund in einer ausführlichen Rezension von Van Ackers Edition des Epistolariums gezogen. Von den insgesamt 390 Briefpaaren der Edition waren damals 90 Briefpaare erschienen. Bund beanstandete in seiner Rezension mit Nachdruck, daß nicht der Riesencodex, die umfangreichste zuminavant

=

=

1 2 3

=

Derolez 1988, S. XXXI. Van Acker 1989, S. 129-134. Van Acker 1991, S. XXVI:

Wibert

von

Gembloux

„Die Handschrift Wru war die Grundlage kompilierten Briefsammlung im Riesencodex."

der

von

Der Riesencodex

41

dest indirekt auf Hildegard zurückgehende Sammlung des Epistolariums, zur Grundlage der Edition gemacht wurde, sondern die erwähnten älteren Textzeugen.1 Durch diese Entscheidung, so Bund sinngemäß, entstünde ein bewußt stilisiertes und apologetisch temperiertes Hildegard-Bild. Die Entscheidung Van Ackers zugunsten der älteren Tradition wiederum wurde von Monika Klaes, die den abschließenden dritten Band der Briefedition beigesteuert hat, vehement verteidigt.2 Klaes hob die Superiorität der historischen, auf die jeweils ältesten Vorlagen zurückgreifenden Textzeugen gegenüber den literarisch gestalteten, jüngeren des Riesencodex hervor. Diese Superiorität ergibt sich Klaes zufolge weniger aus den Stilisierungen als aus der Tatsache, daß die beiden jüngeren Sammlungen, d. h. die Handschrift ONB Wien, Cod. 963 [theol.348] [= Wr], mit 275 Briefen und der Riesencodex [= R ] mit 282 Briefen zwar die umfangreichsten Sammlungen darstellen, daß aus den dort überlieferten Korpora aber nur 103 Texte intakt aus der älteren Tradition (Siglen Z, W, M) übernommen wurden. Rechnet man die Mehrfachkompilationen ab, so blieben hiervon sogar nur 85 Briefe übrig. Das Epistolarium des Riesencodex wiederum repräsentiere eine im wesentlichen mit jener von Wr, auf Volmar zurückgehende, übereinstimmende Fassung. Es seien lediglich einige Stücke ergänzt, andere ausgespart worden und Wibert habe das Ganze bloß stilistisch überarbeitet. Wie immer man diese noch nicht zum Abschluß gelangte Diskussion auch beurteilen mag, für die überlieferungsgeschichtliche Bewertung des Riesencodex erbringt sie den eindeutigen Befund, daß das dort niedergelegte Epistolarium einen gewissen Höhepunkt an bewußter Redaktionstätigkeit darstellt. Diese Aussage charakterisiert natürlich auch den Riesencodex in seiner Gesamtheit. Bislang nicht mit einbezogen in die Debatte um eine Datierung des Riesencodex bzw. der darin enthaltenen Fassung des Epistolariums worden ist ein Faktum, auf das hier wenigstens kurz hingewiesen werden soll: die Heiligsprechung Bernhards von Clairvaux. Bernhards Heiligsprechnung fand statt am 18. Januar 1174, also noch zu Lebzeiten Hildegards. Da der Riesencodex die manipulierte Fassung von Bernhards Brief an Hildegard enthält, liegt der Schluß nahe, daß diese Fassung nach der erwähnten Heiligsprechung Bernhards zustande kam. Dies würde bedeuten, daß nicht Volmar, der zu diesem Zeitpunkt bereits tot war, sondern Gottfried oder Wibert die maßgebliche Kraft am Zustandekommen der Briefsammlung des Riesencodex war. Wie dem auch sei, es ist neu zu prüfen, ob wir mit dem Riesencodex wirklich den ganz seltenen Fall besitzen, daß eine Autorin des Mittelalters ihre Werke in einer von ihr selbst genehmigten Textgestalt und in einer auf sie selbst zurückgehenden Textanordnung hinterlassen hat. Der Riesencodex könnte in diesem Sinne ja als Hildegards geistiges Testament oder ihre literarische Hinterlassenschaft an die Nachwelt betrachtet werden. So verlockend diese Sicht aber auch 1 2

Bund 1993. Klaes 1997.

Kapitel 1

42

sehr stößt sie doch auf gewisse Schwierigkeiten. Neben den Manipulationen und Stilisierungen entsteht das größte Problem aus der Tatsache, daß verschiedene Schriften Hildegards, konkret die naturkundlich-medizinischen, im Riesencodex überhaupt nicht enthalten sind. Ob bezüglich dieser Texte ein zweiter, zwischenzeitlich verlorengegangener Riesencodex supponiert werden muß, der die medizinisch-naturkundlichen Schriften enthalten hätte, bleibt fraglich. Diese Option kann aber keineswegs ausgeschlossen werden. Doch auch so erhielte der Riesencodex, sollte die Theorie der Ausgabe letzter Hand zutreffend sein, einen ganz eigenen Status und Nimbus. Stellt man die auf der Hand liegende Frage, welches auktoriale Kompositionsprinzip dem Riesencodex zugrundeliegen könnte, so ergibt sich als gemeinsames Selektionsmerkmal der berücksichtigten Texte das Moment der Visionsliteratur. Hildegards eigenen Aussagen zufolge sind nicht nur die große Visionstrilogie, sondern auch die in den Riesencodex aufgenommenen Briefe sowie die übrigen Schriften bis hin zur Lingua ignota und Litterae ignotae über den Weg von Visionen empfangen worden. Gleiches gilt, hier mutatis mutandis im Sinne von Auditionen, für die Symphonia und den Ordo virtutum. Wenn in welcher Form auch immer als nun die Charakterisierung des Riesencodex einer Art letztwilliger Verfügung Hildegards richtig ist, so müßten nach meinem Dafürhalten drei Schlußfolgerungen aus diesem Befund diskutiert werden: 1. ) Hildegard hat den wesentlichen Inhalt ihres Schaffens in ihrem visionären Werk erblickt, ein Werk, das in Gestalt ganz unterschiedlicher literarischer und musikalischer Hervorbringungen artikuliert wurde. Den Nukleus des visionären Werkes bilden die sogenannte Visionstrilogie und das Epistolarium. Das auf innerweltlichem Erfahrungswissen beruhende naturkundlich-medizinische Schrifttum wurde, obwohl Hildegard selbst auch dieses Schrifttum als Frucht eines visionären Geschehens betrachtet hat, entweder bereits zu ihren Lebzeiten oder kurz danach an den Rand des Kanons gedrängt. Oder aber es hat einen komplementären, heute verschollenen zweiten Band zum Riesencodex gegeben, der die Überlieferung dieser Schriften sichern sollte. 2. ) Stärker als bisher geschehen, ist der Frage nachzugehen, ob verschiedene Einzelhandschriften von Werken Hildegards, die einen textgeschichtlich älteren Status als der Riesencodex repräsentieren, nicht im Sinne von zwar wertvollen, aber doch eher passageren Autorvarianten betrachtet werden müssen. Stimmt man dem zu, so sind diese Einzelcodices daraufhin zu befragen, ob sie nicht durch die im Riesencodex niedergelegte Ausgabe letzter Hand in ihrem textkritischen Wert überboten werden.' Für die Briefausgabe des Riesencodex würde dies bedeuten, daß die darin enthaltenen Stilisierungen als auf Hildegard selbst zurückgehende, historische Komponenten zu werten sind. Gleichzeitig jedoch sind sie, was in der bisherigen Forschung zu wenig geschehen ist, als allgemein epochen- und gattungsspezifisches Phänomen zu betrachten, das aus einer ideologischen Zuspitzung oder moralischen Bewertung herauszuhalten ist. sein mag,

so

-

1

Steer 1992.

-

Der Riesencodex

43

3.) Schließlich ergibt sich aus dem urkundlich-testamentarischen Charakter des Riesencodex die Forderung nach einer besonderen Extrapolierung dieser Handschrift, möglicherweise nach einer eigenen Edition oder zumindest einem Vollfaksimile.1 1.1

Kodikologische Untersuchung des Riesencodex

der Signatur Hs 2 aufbewahrte Riesencodex besteht aus Pergamentblättern, die von moderner oberen Ecke durchgezählt sind. Die verrechten Hand mit Bleistift in der 300 mm und das Gewicht von 15 kg x von 460 gleichsweise großen Ausmaße berühmten Namen der Handschrift ihren haben eingebracht Der Einband des zwei mit Schweinsleder überzogene Holzdeckel und je Riesencodex, gepreßtem vier Eckbeschlägen sowie einem Mitteldorn aus Messing auf der Vorder- und Rückseite, soll nach Van der Linde und Zedier im 15. bzw. 16. Jahrhundert angebracht worden sein.2 Allerdings ist die Datierung des Einbandes umstritten. Derolez verweist ihn in die gleiche Zeit, in der auch die Texte entstanden sind, d.h. in das 12.Jahrhundert.3 Nach wiederholter Autopsie des Bandes möchte ich mich tendenziell der Auffassung Van der Lindes und Zedlers anschließen. Nach meinem Dafürhalten ist der Einband das Produkt einer späteren Zeit, möglicherweise des 15./16. Jahrhunderts. Ich möchte meine Datierung vor allem mit der äußeren Gestaltung des Einbandes durch Stempelaufdrucke (Rollenso stempel ?) sowie metallene Eckbeschläge und Mitteldorne begründen. Deren wäre 12. für Es zu erscheint mir das Jahrhundert untypisch. üppige Verwendung prüfen, ob die Anbringung der Supralibros mit einer veränderten Aufstellung des Codex einhergeht. Wir wissen, daß solche Teile häufig zum Schutz von Handschriften angebracht wurden als diese nicht mehr liegend, sondern stehend aufbewahrt wurden. Karin Schneider geht davon aus, daß die Codices im 15. Jahrhundert grundsätzlich noch liegend präsentiert wurden.4 Die für den Riesencodex in früheren Zeiten ebenfalls gebräuchliche Bezeichnung Codex mit der Kette resultiert aus einem 16gliedrigen, ca. 70 cm langen Kettenfragment, das am rückwärtigen Deckel des Einbandes unten angebracht ist. Auch dieses buchbinderische Ausstattungsmerkmal ist für eine Bewertung Der in der Hessischen Landesbibliothek Wiesbaden

unter

481

1

(f. 466-48 lv) hat Lorenz Welker hatte darüber hinaus bereits 1913 Gmelch Joseph herausgebracht: Symphonia eine heute nur noch schwer zugängliche phototypische Reproduktion der Lieder des Riesencodex herausgebracht. Vgl. Symphonia 1913. Auch die zweite für Hildegards Liedschaffen zentrale Handschrift liegt in einem Teilfaksimile vor. Dabei handelt es sich um den Codex Dendermonde, Bibl. der Abtei St. Pieters en Paul, Cod. 9. Vgl. Ein Teilfaksimile des Riesencodex mit den Liedern 1998.

Symphonia

2

1991.

Van der Linde 1877, S. 86. Zedler 1931, S. 17. a contemporary Derolez/Dronke 1996, S. XCVII: -

3

„...

wooden boards." 4

Schneider 1999, S. 168.

pigskin binding

over

Kapitel 1

44

der Benutzungsfunkdon der Handschrift und für die Datierung des Einbandes nicht ohne Bedeutung. Es weist darauf hin, daß der Riesencodex ab einem bestimmten Zeitpunkt im Sinne eines gut zugänglichen Gebrauchstextes fungiert hat, der als liber catenatus auf einem Pult zur dauerhaften Einsichtnahme bereitlag. Ob dieses Pult im Bereich der Bibliothek oder im Bereich des Skriptoriums gestanden hat, läßt sich nicht klären. Immerhin wurden ja noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als der Codex längst an die Kette gelegt war, Abschriften daraus angefertigt. Ich verweise auf die Scivias-Kopie des Faber Stapulensis (ca. 1450-1536) aus dem Jahre 1509. Die Frage lautet daher: seit wann ist der Riesencodex ein Kettenbuch, eine Frage, die nur beantworten werden kann, wenn man zuvor fragt: seit wann gibt es Kettenbücher? Daß die Umwandlung einer mittelalterlichen Handschrift in ein Kettenbuch in jedem Falle auch eine Neubindung bedeutete und damit die Gelegenheit einer Neustrukturierung des Lagenmaterials bot, läßt sich zwar nicht belegen. Doch stellt ein solcher Eingriff immerhin eine nicht unwahrscheinliche Möglichkeit hierzu dar, die bezüglich des Riesencodex ernsthaft diskutiert werden muß. In der deutschsprachigen Fachliteratur, die sich zur äußeren Konfektionierung mittelalterlicher Handschriften äußert, wird die Frage nach dem Aufkommen von Kettenbüchern häufig nur recht summarisch beantwortet. Es heißt dort, Kettenbücher seien im Mittelalter oder im späten Mittelalter aufgekommen.1 Etwas ergiebiger ist die englische und französische Forschung. Genannt seien das auch kulturgeschichtlich nicht uninteressante Buch von William Blades Books in Chains and other Bibliographical Papers [London 1892; Repr. Detroit 1968], ein Aufsatz von N. K. Ker zum Thema Chaining from a Staple on the Back Cover2 sowie ein Beitrag von Jules Peeters unter dem Titel Livres enchaînés? Bei Ker findet sich die Information: „Books were chained in Oxford college libraries for 400 years from the first building of special book rooms in the late eighteenth century" (S. 104). Auch Blades, der ein angekettetes Regimen sanitatum von 1347 erwähnt (S. 12), tendiert dazu, das H.Jahrhundert als die Zeit des Beginns dieser Praxis zu betrachten. Er geht in seinem Befund von den Bibliotheken in Wimborne Minster und Hereford Cathedral aus. Allerdings ist dieser Befund nicht ganz klar, und die Mehrzahl der von Blades genannten Kettenbücher stammen aus späterer Zeit, konkret aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Etwas genauer äußert sich Burnett Hillman Streeter. Er legt den historischen Beginn der Kettenbücher für England in die Zeit „about 1320".4 Ein noch 1

2 3

4

Bei Bischoff 1979, S. 47, fehlt eine fest umrissene Zeitangabe für die Einführung der Kettenbücher. Gleiches gilt für die Werke von Wattenbach 1875b, für Mazal 1986, und Schneider 1999, S. 168. Auch das zweibändige Werk von Rouse/Rouse 2000 bringt über diesen Aspekt nichts. Ker 1950/51. Peeters 1958. Streeter 1931, S. 1. Streeters

der

Abhandlung

scheint mir, zumindest für den Bereich zu sein.

englischen Bibliotheken, die beste Darstellung

Der Riesencodex

45

früheres Datum nimmt, wiederum für England, Graham Pollard an, der seinen Befund an der Praxis im Merton College, Oxford, festmacht: „So far as I know the earliest reference to chaining books in England is in the Injunctions issued to Merton College by Archbishop Peckham in 1282."1 Eine eindeutige Auskunft bezüglich einer Datierung der ersten Kettenbücher liefert Edgar Lehmann in seinem 1957 erschienenen Werk Die Bibliotheksräume der deutschen Klöster im Mittelalter. Dort heißt es, Kettenbücher seien in Verbindung mit Pultbibliotheken erstmalig „in Paris um f289 an der Bibliothek der Sorbonne" aufgetreten.2 Man habe an der Sorbonne auf 28 Pulten die Bücher der Magna Libreria aufgestellt. Der damit in Paris ausgebildete Typus der gotischen Studienbibliothek habe sich jedoch in Deutschland „in größerem Maße anscheinend erst seit dem 15. Jahrhundert vollzogen, während man im 13. und 14. Jahrhundert an den alten bescheideneren Formen des Bibliotheksraumes und an der umständlicheren Art der Benutzung in den meisten Fällen festhielt."3 Treffen diese Beobachtungen zu, so kann man davon ausgehen, daß der Riesencodex nicht bereits seit dem 12. Jahrhundert seine vorfindliche Gestalt als metallbeschlagenes Kettenbuch gefunden hat. Damit ist auch die Frage nach der redaktionellen Komposition der Handschrift, nach möglichen Umgruppierungen sowie nach Zu- oder Abwanderungen von Texten, neu zu stellen und vorsichtiger zu handhaben als bislang geschehen. Die kodikologische Untersuchung des Riesencodex führte bei Schräder/ Führkötter zu dem Ergebnis, daß die Handschrift aus 57 gezählten und zwei (am Ende befindlichen) ungezählten Lagen besteht.4 Die gezählten Lagen seien jeweils am Lagenende unten in der Mitte des Blattes mit römischen Ziffern bezeichnet (I-LVII), auch der Beginn der jeweils neuen Lagen sei signiert. Über das Alter der für den Befund von Schrader/Führkötter entscheidenden Lagenzählung (es ist jene an den Lagenenden, die auf f. 8v einsetzt), sei keine endgültige Sicherheit zu gewinnen. Diese Aussagen bedürfen der Korrekur. Es steht fest, daß der Riesencodex nicht nur eine einzige Lagenzählung besitzt, die am Beginn und am Ende einer Lage erscheint. Vielmehr handelt es sich hierbei um zwei verschiedene Lagenzählungen. Bei genauerem Hinsehen läßt sich sogar an einzelnen Lagen eine dritte Zählung belegen, die allerdings mit der zweiten übereinstimmt. Diese dritte Lagenzählung findet sich jeweils unten rechts am etwas

1

Vgl. Pollard 1976, hier S. 64: „The earliest known reference to is in books chaining Archbishop Peckham's injunctions to Merton College Oxford in 1284; The first mention of chaining books for reading seems to be the intention of Thomas de Cobham, who died in f 327, to have chains put on the books which he left to found a library for the University of Oxford. Chaining a whole library cannot have become practice before the second half of the 14th century and was continued for around 300 years. As a conclusion a considerable number of staple marks must be Pollard 1962, S. 6. ...

post-medieval." 2 3 4

Lehmann 1957, S. 8. Lehmann 1957, S. 8. Schrader/Führkötter 1956, S. 156-158.

Kapitel 1

46

Beginn der Lagen 28 (f. 218r), 29 (f. 226r), 30 (f. 234r), 31 (f. 242r), 32 (f. 250r) und 33 (f. 258r). Sie besteht aus Doppelbuchstaben beginnend mit GG und endend mit MM. Die von Schrader/Führkötter zugrundegelegte Lagenzählung ist jeweils am Lagenende eingetragen. Sie gehört meiner Meinung nach vermutlich in gotische Zeit.1 Mit Sicherheit ist sie späteren Datums als die Niederschrift der Texte, zudem weist sie häufig nachträgliche Korrekturen auf (vgl. f. 241v). Die ältere, möglicherweise in die Zeit der Textniederschrift zurückreichende Lagenzählung befindet sich jeweils unten links im Falz auf den Rectoseiten zu Beginn einer Lage. Diese ältere Lagenzählung setzt ein auf f. 9r (hier noch in der Mitte). Sie bedient sich nicht römischer Zahlen, sondern lateinischer Buchstaben, teilweise Doppelbuchstaben. Das Phänomen der doppelten Lagenzählung ist, da es sich jeweils um durchgehende Systeme handelt, ein weiteres, zudem deutliches Indiz dafür, daß der Band nicht nur einmal gebunden wurde. Ich gehe davon aus, daß die zweite (gotische) Lagenzählung angebracht wurde, weil die erste infolge einer Neubindung des Codex nicht mehr gut sichtbar war. Bezüglich der Anzahl und Struktur der enthaltenen Lagen gelange ich mit Albert Derolez gegen Schräder und Führkötter und in Kleinigkeiten auch gegen Michael Klaper zu einem etwas modifizierten Befund.2 Zwar läßt sich im gesamten Riesencodex die durchgängige Tendenz feststellen, nach Möglichkeit Quaternionen zu bilden. Diese Quaternionen besitzen zum Teil jedoch eine unregelmäßige Struktur, zum Teil sind sie auch durch andere Lagenzusammensetzungen ersetzt. Schrader/Fürkötter zufolge sind die regelmäßigen Quaternionen an folgenden Stellen geändert: Lage 25 (f. 193-201): hier ist dem Quaternio ein zusätzliches Blatt zugefügt, dessen Falz sich zwischen f. 193 und 194 findet. Die Lagen 39 (f. 306-315), 40 (f. 316-325), 41 (f. 326-335) und 54 (f. 432441) seien regelmäßigen Quinterionen. Michael Klaper zufolge sind die Lagen 25, 38, 40, 41 und 54 Quinionen. Die Lagenordnung würde sich (nach Schrader/Führkötter) wie folgt darstellen: -

-

24.IV1924-V(-l)20l4-13.IV305+3.V3354-12.IV43l4-V441+3.IV.464+[2.IV481].

Verbindung von paläographischen und kodikologischen Informatioteilen Schrader/Führkötter den Codex in drei Teile. Teil 1: f. 1-201 (Scwias + LVM); Teil 2: 202-465 (LDO, Ad praelatos Mog., Vita, Epistolae, Expositio evang.,

Aus einer

nen

Lingua ignota,

Litterae

ignotae, Littere Villarenses);

Teil 3: f. 466-481: Neumierte Lieder. Wichtigste Schlußfolgerung dieser Zuordnung war die Annahme, daß der LDO vermutlich von anderer Hand, jedoch gleichzeitig zu Scivias / LVM geschrieben 1

Mein Dank gilt an dieser Stelle Dipl.-Theol. Ralph Stammberger M. A. (Hugo von Sankt Viktor-Institut, Frankfurt am Main, Sankt Georgen) für eine gemeinsame kodikologische Untersuchung des Riesencodex sowie für kenntnisreiche Hilfestel-

lung. 2

Schrader/Führkötter 1956, S.

156f.;

Derolez 2000, S. 479.

Der Riesencodex

47

wurde. Ferner, daß die Werke der zweiten Abteilung nicht gleichzeitig, sondern nacheinander angefertigt wurden. Abteilung 3 mit den Liedern wiederum könne gleichzeitig zur Abschrift von Teil 1 entstanden sein. Dagegen hat Michael Klaper den Block, ebenso wie Albert Derolez, in vier

Hauptteile untergliedert:1

Teil 1: f. 1-201; Teil 2: f. 202-327; Teil 3: f. 328-465; Teil 4: f. 466-48f. Teil 1 umfaßt in dieser Zuordnung die Lagen 1-25. Sie bestehen, bis auf die letzte Lage, die einen verminderten Quinio bildet, sämtlich aus Quaternionen. Am Schluß dieses Teiles soll nach Klaper ein Blatt, allerdings ohne Textverlust, entfernt worden sein. Schrader/Führkötter nahmen dagegen an, daß der Kopist das erste Blatt von Lage 25 (f. 194) nachträglich eingefügt hat. Wie dem auch sei, es wurde dadurch möglich, den Text des Liber vitae meritorum noch auf dieser Lage abzuschließen. Ein anderer Kopist konnte mit der Niederschrift des Liber divinorum operum auf einer neuen Lage (26) bereits beschäftigt gewesen sein. Allerdings fällt auf, daß f. 202r (= Lage 26) nicht unmittelbar mit dem Text des LDO beginnt. Dieses Blatt ist leer. Es hat im Gegensatz zum nahtlos anschließenden Textbeginn des LVM einen ausgesprochenen Deckblattcharakter, der im Inneren eines Codex eigentlich keinen Sinn macht. Von hier aus ist die Frage zu stellen, ob das Exemplar des LDO wirklich von vornherein für eine Verwendung innerhalb des Riesencodex gedacht war. Alle bisherigen kodikologischen Forschungen am Riesencodex stimmen demgemäß darin überein, daß Teil 1 mit den Lagen 1 bis 25 die beiden Visionsschriften Scivias (f. fv-f35v) und Liber vitae meritorum (f. 135v-201v) enthält. Diese beiden Texte sind in entstehungsgeschichtlicher Anordnung aneinandergefügt. Beide wurden fast ausschließlich von einer einzigen Hand (nämlich Hand 1) kopiert. Lediglich ein kleiner Teil des Scivias (f. 46vb 24~48vb) stammt sie wird als Hand 2 bezeichnet hat von einer anderen Hand. Diese Hand den Musikteil auch vermutlich (f. 466r-481v) niedergeschrieben. Teil 2 besteht nach Klaper und Derolez aus 13 Quaternionen, zwei Quinionen und einem Unio bzw. Bifolium [Lage 40bis], das in der Lagenzählung nicht berücksichtigt sei. Diese letzte Information bedarf der Richtigstellung. Auch der Unio besitzt im Falz links unten eine Lagenzählung. Auf f. 326r erscheint die Lagenzählung UU. Dieser Teil, er umfaßt die Lagen 26-40bis, beginnt mit dem dritten Visionswerk Hildegards, dem Liber divinorum operum (f. 202r308r). Er setzt sich fort mit der Epistola ad praelatos Moguntinenses (f. 308v317ra) und der Vita Hildegardis (f. 317ra-327v). Der Unio wurde eingefügt, um die Vita auf f. 327v abschließen zu können. Das im Riesencodex auf f. 328r beginnende Epistolarium ist also auf einem separaten Teil entstanden. In diesem zweiten Teil haben sich zwei unterschiedliche Hände abgelöst. Hand 3 (Zuordnung Derolez) hat den LDO geschrieben und den ersten Abschnitt des -

-

-

1

-

Klaper in Symphonia 1998, S. 3. Schrader/Führkötter 1956, S. 157, hatten noch einer Dreiteilung gesprochen, die sich aus einer Verbindung von Lagenbeginn, Anfang eines Werkes und dem gleichzeitig vollzogenen Kopistenwechsel ergebe. -

von

Kapitel 1

48

Briefes Ad praelatos Moguntinos. Hand V hat diesen Brief fortgesetzt und die Vita Hildegar dis geschrieben. Für die auf f. 317ra-327v nachgetragene Vita Hildegar dis hat Monika Klaes eine Entstehung zwischen 1182/87 vorgeschlagen.1 Da der Brief der Villarenser Mönche bereits kurz nach Hildegards Tod vorlag, bietet die Vita einen Anhaltspunkt für die Datierung der endgültigen Fertigstellung des Riesencodex: Frühestens um 1182, spätestens um 1187, dem letztmöglichen Fertigstellungsdatum der Vita Hildegardis, konnte der Riesencodex in seiner heutigen Form abgeschlossen worden sein. Teil 3 umfaßt nach Derolez 15 regelmäßige Quaternionen, einen Quinio und einen am Ende befindlichen Quaternio von irregulärer Struktur. Er enthält die Briefsammlung (f. 328r-434r), die Expositiones evangeliorum (f. 434r-461r), die Lingua ignota (f. 461v-464v), die Litterae ignotae (f. 464v) sowie die Litterae quas Villarenses fratres post obitum Hildegardis ad nos miserunt (f. 464v-465r). als die letztgenannten Teile Dieser Teil sei, so Derolez, „schon geschrieben in die zweite Abteilung eingetragen wurden."2 Dazu falle auf, daß der Brief der Villarenser Mönche von einer neuen Hand (Hand 5) geschrieben worden sei, die noch dazu ein neues Blatt (f. 465) habe einfügen müssen. Teil 4 beinhaltet die letzten beiden Lagen. Dabei handelt es sich nach Schrader/Führkötter um zwei ungezählte Quaternionen. Bei dem ersten Quaternio fehlt Klaper zufolge ein Blatt ohne Textverlust, bei dem zweiten ist zu Beginn ein Blatt hinzugefügt worden. Dieser 4. Teil enthält die neumierte Symphonia und den Ordo virtutum. Der Schreiber des musikalischen Teiles ist Hand 2, die Zusatzhand des Scivias. Die Aussage Schrader/Führkötters bedarf der Korrektur. Es finden sich jeweils links unten im Falz der ersten Blätter Lagenzählungen. Da sie auf den ersten vier Blättern durchgezählt sind und Blatt vier durch ein Kreuz als Mittelende der Lage kenntlich gemacht ist, wird deutlich, daß es sich hierbei wiederum um zwei Quaternionen gehandelt hat. Diese beiden Lagenzählungen passen jedoch nicht zu den vorherigen. Der Musikteil muß also einer anderen Handschrift entstammen. Insgesamt weist die Lagenstruktur des Riesencodex eine ganze Reihe nicht zu übersehender Unregelmäßigkeiten auf. Dies bedeutet, daß die Handschrift in einem arbeitsteiligen, möglicherweise über einen längeren Zeitraum sich erstrekkenden Prozeß entstanden ist. Offensichtlich ist jedenfalls das Zusammenfügen des Lagenmaterials nicht ohne Probleme verlaufen. Daß die Gesamtstruktur des Codex bei der Fertigung der einzelnen Teile bereits prospektiv vor Augen gestanden hätte, wird man von Seiten der Lagenanalyse her nicht behaupten können. Es kommt hinzu, daß das heutige Erscheinungsbild des Codex als eines Kettenbuches nicht den Urzustand der Handschrift repräsentieren kann. Nachfolgend meine eigene, aus 60 Lagen bestehende Lagenformel des Riesencodex: ...,

(192) 4- 1 V[-l] (201) V(441) + 5 IV (481). 24 VI

1 2

+

13 IV

Klaes 1993, S. 164"', Fußn. 33. Derolez 2000, S. 479.

(305)

+

2V

(325)

+

I

(327)

+

13 IV

(431)

+

Der Riesencodex

49

Paläographische Untersuchung des Riesencodex Der Schriftspiegel des Riesencodex ist, bis auf die Vorderseite von Blatt 1, die keine Hildegard-Texte enthält, zweispaltig. Auf folio lr erscheinen verschiedene Berichte aus späterer Zeit, die Hildegards Reliquien und die Geschichte von Kloster Rupertsberg betreffen. Hierüber wird weiter unten gehandelt werden. Die Zeilenzahl der auf folio lv beginnenden Hildegard-Texte schwankt zwischen 43 und 47 Linien, meist sind es 46. Incipitformeln, Initialen und CapitulaZählung wurden größtenteils rubriziert. Allerdings finden sich bei einer detaillierten Untersuchung des Codex viele Nachlässigkeiten und Versäumnisse, die den oft beschworenen einheitlichen und planvollen Charakter der Handschrift nachhaltig in Frage stellen. Auf f. 23r-24r (Scivias) beispielsweise fehlt die Rubrizierung der Initialen, ein Befund, der auch für weite Teile des Liber divinorum operum gilt. So vermißt man beispielsweise auf f. 21 Ova die rubrizierte Initiale zu Pars I, visio 2. Hier blieb die Stelle, an der eigentlich eine mehrzeilige 1.2

Initiale erscheinen müßte, einfach leer. In der Lingua ignota (f. 462ra-464ra) sind die großen Textinitialen teilweise rubriziert, teilweise nur in schwarzer Tinte ausgeführt. Des weiteren finden sich quer durch den gesamten Codex hin Streichungen von Wörtern, die aufgrund von Dittographien doppelt hereingerutscht waren (etwa f. 224ra: Streichung der Dittographie „muliebri"; f. 220vb, ca. 15. Zeile von unten: Tilgung des Wortes „ostendit"). Korrekturen super rasuram mit entsprechendem textus rescriptus sind die Regel in allen Texten des Riesencodex. Gleiches gilt für das Nachschreiben verblaßter Textpartien mit dunklerer Tinte durch eine Hand des 12. Jahrhunderts. Auffällig ist, daß der erste Text des Riesencodex, d. h. der Scivias, deutlich sichtbar die sorgfältigste Gestaltung aufweist. Nur hier sind zum Beispiel die visionären Teile der Schrift von den interpretierenden durch ein mit Strichen operierendes graphisches System am Spaltenrand abgehoben worden, eine alte benediktische Werkstatttradition. Dieses graphische Metasystem setzt eine sehr aufmerksam abgelaufene Korrektur bzw. Redaktion des Textes voraus. Die Tatsache, daß diese Verfahrensweise in den Texten, die auf den Scivias folgen, nicht durchgehalten wurde, zeigt, daß der Riesencodex im Hinblick auf seine äußere Gestaltung ein gewisses Qualitätsgefälle besitzt. Der Grund hierfür könnte darin liegen, daß der Scivias (und möglicherweise der ähnlich sorgfältige L VM) noch von Volmar redigiert wurde, die darauffolgenden Teile nicht mehr. Ob die graphischen BeiMerkzeichen gaben auch eine phonetische Funktion besaßen, etwa im Sinne von sollte aber nicht bleiben. Vorlesen des Es für das laute Textes, muß dahingestellt verschiedene Immerhin wissen werden. daß wir, kategorisch ausgeschlossen Texte Hildegards bereits zu Lebzeiten der Autorin in den Klöstern von Villers und Gembloux im Rahmen der monastischen Lectio eingesetzt wurden. Ich komme auf diesen Sachverhalt im Zusammenhang des Kapitels über den Liber vitae meritorum zurück. Die frühere Forschung ging von fünf an der Niederschrift der Texte beteiligten Händen aus, Derolez postulierte eine sechste Hand. Diese sechste Hand, so

Kapitel 1

50

Derolez, habe f. 314rb-327vb geschrieben.1 Dies bedeutet, daß sie den zweiten Teil der Epistola ad Praelatos Moguntinenses und die Vita Hildegardis in den Riesencodex eingetragen hat. Einigkeit herrscht darüber, daß der Schriftspiegel des Riesencodex, unabhängig von den aufgeführten Nachlässigkeiten, insgesamt einheitlich wirkt und die typischen Charakteristika des Rupertsberger Skriptoriums zeigt.2 Die im großen und ganzen kohärent wirkende Gestaltung des Textes belegt, daß der Riesencodex aus älteren Vorlagen geschöpft wurde und bereits eine elaborierte Stufe der Textgeschichte repräsentiert. Die supponierte Vorlage kann gleichwohl nicht im Sinne einer verlorengegangenen älteren Gesamtausgabe der Schriften Hildegards verstanden werden, die bei Bedarf komplett hätte kopiert werden können.3 Hiergegen sprechen die Untersuchungen zu den Vorlagen einzelner Texte des Riesencodex. So ist erwiesen, daß der Liber divinorum operum des Riesencodex eine getreue, lediglich in Details abweichende Abschrift der Handschrift Gent 241 darstellt. Auch die Fassung der Vita Hildegardis des Riesencodex bildet nicht den ältesten und zuverlässigsten Textzeugen. Dies ist vielmehr die Handschrift ÖNB Wien, Cod. lat. 624 [Hist. eccl. 158]. Sie stellt das Autograph des Endredaktors der Vita, Theoderichs von Echternach, dar. Dagegen ist der Vita-Text des Riesencodex von Monika Klaes als eine spätere Rupertsberger Abschrift identifiziert worden, die sich durch viele Unachtsamkeiten (Wortumstellungen, falsche Endungen, teilweise falsche Kapitelzählung) auszeichnet.4 Es ist daher davon auszugehen, daß die älteren Textzeugen als Einzeltexte vorlagen und im Riesencodex erstmalig kumuliert wurden. Gegen eine Archetyp-Theorie des gesamten Riesencodex spricht auch das arbeitsteilige Verfahren bei der Herstellung der Handschrift. Immerhin ist der Riesencodex überlieferungsgeschichtlich ein Prototyp, obwohl er textgeschichtlich am Ende einer autorgesteuerten Uberlieferung steht. Ob die Mitwirkung von verschiedenen, zum Teil gleichzeitig arbeitenden Händen am Herstellungsprozeß der einzelnen Texte des Riesencodex, wie früher behauptet, eine straffe Organisation des Arbeitsprozesses voraussetzt, muß offenbleiben. Dies träfe nur dann zu, wenn die Texte wirklich im Hinblick auf eine neue kodikologische Entität hin geschaffen worden wären. Die Hauptlast innerhalb eines solchen Prozesses, sollte er denn vorhanden gewesen sein, wird jedenfalls der Endredaktor getragen haben. Er müßte die Handschrift zu einer 1 2

3

Derolez/Dronke 1996, S. XCVIII. Die Details dieser Rupertsberger Werkstatt beschreibt Derolez 2000, S. 468f. Ob Van der Linde dieser Meinung zuneigt, bleibt aufgrund seiner mißverständlichen Ausdrucksweise ungewiß : „Das ganze wurde offenbar von haus aus, selbstverständlich nach älteren vorlagen, als sammelband angelegt und one [!] Unterbrechung in kurzer frist fertig gemacht." (Van der Linde 1877, S. 29f.). Klaes 1993, S. 165*: „Im Hinblick auf T [= ÖNB Wien, Cod. lat. 624 [Hist. eccl. 158]; Ergänzung] hat R einige Fehler, die auf einen unachtsamen Kopisten schließen lassen." ...

4

...

Der Riesencodex

51

festen buchbinderischen Einheit zusammengefügt haben. Dieser Befund gilt naturgemäß in erster Linie für diejenigen Teile des Riesencodex, die zweifelsfrei parallel bzw. komplementär zueinander entstanden sind, konkret für die beiden ersten Visionsschriften einerseits (Scivias / LVM) und den LDO andererseits. Zumindest im Hinblick auf die Niederschrift der Scivias und des Liber vitae meritorum sowie des Liber divinorum operum andererseits kann der Vorgang des Kopierens wohl ohne größere Bedenken als ein simultanes oder aufeinander abgestimmtes Geschehen betrachtet werden. Der vor allem in der älteren Literatur immer wieder auftauchende Hinweis auf die planmäßige und systematische Anlage des Riesencodex ist nach meinem Dafürhalten deshalb hinsichtlich der Visionstrilogie aufrechtzuerhalten. Für die später hinzugekommenen Werke kann er nicht ohne weiteres gelten. Führt man eine genaue Scheidung der Hände durch, so ergibt sich nach den Untersuchungen von Schrader/Führkötter und Derolez folgendes Bild.1 Hand 1: f. lva-46vb; 49ra-201rb (= Scivias und Liber vitae meritorum); Hand 2: f. 46vb 24~48vb; f. 466ra-481vb (= Seiviasfragment, Symphonia und Ordo virtutum); Hand 3: f. 202va-314ra (Liber divinorum operum, Epistola adpraelatos moguntinenses; mit Korrekor [Epilog LDO] und Hand 1'); Hand 1': f. 314rb-327vb;2 (Epistola ad praelatos moguntinenses; Vita Hildegar-

dis; [bzw. Hand 5]: f. 328ra-464va (Epistolarium, Expositio evangeliorum, Lingua ignota und Litterae ignotae); Hand 5 [bzw. Hand 6]: 464vb-465ra (Litt. Villarenses). Aus dieser Zuordnung wird deutlich, daß Hand 1, 3 und 4 die maßgeblichen Kopisten des Riesencodex waren. Sie zeigen in ihrer regelmäßigen Schreibart Hand 4

rubrizierten Initialen und Capitula-Überschriften die typischen Charakteristika der Rupertsberger Schreibstube. Man wird hinter dieser auffälligen Gleichbehandlung der Texte ein bewußtes Gestaltungsprinzip erkennen dürfen. Offensichtlich sollte keine Schrift Hildegards vor den anderen durch ästhetische Kriterien exponiert werden. Daß das Textkorpus des Riesencodex letztendlich doch eine ganze Reihe von Brüchen und Inkonsequenzen aufweist, hängt wesentlich mit der nachträglichen Interpolation der Vita Hildegardis und des Briefes der Villarenser Mönche nach Hildegards Tod zusammen, möglicherweise auch mit dem Wegfalls Volmars als Redaktor. Was die Textgestaltung der vier von Klaper und Derolez namhaft gemachten Teile des Codex anbetrifft, so differiert diese aus naheliegenden Gründen zwischen Teil 1 bis 3 einerseits und Teil 4 andererseits. Der letzte Teil (f. 466r-481v), der die Symphonia enthält, ist mit einem geschlüsselten Vierliniensystem ausgesowie in den

1 2

größtenteils

Derolez 2000, S. 488. Vgl auch Schrader/Führkötter 1956, S. 156f. fm Gegensatz zu Schrader/Führkötter 1956 unterscheidet Derolez Hand V Hand 1.

von

Kapitel 1

52

zeigt aber ansonsten die gleiche zweispaltige Anordnung wie die übrigen Teile. Jedoch fällt auf, daß die bis dahin durchgezogene neue Lagenzählung der ersten 59 Lagen nunmehr fehlt. Außerdem weist f. 466r eine starke Dunkehmg auf und das Schriftbild ist hier sehr schadhaft. An vielen Stellen ist es mit dunklerer Tinte nachgebessert. Dies erhärtet die oben geäußerte Vermutung, daß der musikalische Teil nicht von Anfang an zum Bestand des Riesencodex gehört hat bzw. von Anfang an für eine Verwendung darin geschrieben wurde. Entsprechende Überlegungen hat ja bereits Van der Linde angestellt. Van der Linde ging davon aus, daß die musikalischen Schlußblätter des Riesencodex im Rupertsberger Kloster schon vor dessen Fertigstellung in mehreren Exemplaren vorhanden waren. Eines dieser Exemplare sei dann in den Riesencodex eingefügt wurden.1 Diese Annahme kann in der Tat eine große Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen. Immerhin ist auch die Liedersammlung, stattet.

Er

die innerhalb des Codex 9 der Abteibibliothek Dendermonde erscheint, nach Ausweis der Lagenanalyse als separate physische Einheit vom Rupertsberg nach Villers gewandert. Dieser Text ist vor dem 1. November 1176 auf dem Rupertsberg entstanden und damit zur gleichen Zeit und am gleichen Ort wie die Liedersammlung des Riesencodex. Auch der ebenfalls im Dendermonder Codex enthaltene Liber vitae meritorum war zunächst eine separate Einheit. Bezogen auf den Riesencodex würden diese Beobachtungen bedeuten, daß das Format des gesamten Codex vom Format der Symphonia bestimmt worden ist. Deren großformatige Anlage wiederum könnte mit der Verwendung der Blätter im liturgischen Geschehen von Kloster Rupertsberg zusammenhängen. Konkret wäre hier an das Vorbild von Chorbüchern zu denken, die dem gemeinsamen Offizium dienten. Einer brieflichen Äußerung Wiberts von Gembloux zufolge hat Hildegard die von ihr komponierten Gesänge tatsächlich in ihrer Kirche singen lassen. Die entsprechende Nachricht findet sich in der um 1175 entstandenen Epistola XVIII Wiberts, die ausführlich über die Visionen und Werke Hildegards Auskunft erteilt. Hier die entsprechende Passage: Inde est quod ad communem hominum conuersationem ab illa interni concentus melodia regrediens, dulces in uocum etiam sono modos, quos in spirituali armonia discit et retinet, memor Dei, et in reliquiis cogitationum huiusmodi diem festum agens, sepius resultando delectatur, eosdemque modulos, communi humane musice instrumento gratiores, prosis ad laudem Dei et sanctorum honorem compositis, in ecclesia publice decantari facit. Quis similia his umquam de alia quauis femina audiuit?2

1

„Wahrscheinlich besaß das kloster, für den solche abschriften der liedersammlung der verêrhymnologischen gebrauch, ten [!] abtissin, und wurde eine derselben aus dem 12. jht. später mit dem codex vereint." (hier: S. 83). Guibertus Epistolae, I, S. 231 207-214. Van

der

Linde 1877, S. 29f. und S. 83: merere

-

2

-

Der Riesencodex

53

Ähnlich wie der Liederteil weist auch der Beginn des Epistolariums (f. 328r) im Riesencodex starke Abgriffspuren auf. Dieses Merkmal ist so ausgeprägt, daß es dazu berechtigt, von einem eigenen Deckblattcharakter zu sprechen. Da dieser Teil bereits fertig war, bevor der nächste Teil mit der Vita hinzukam, trägt auch das Erscheinungsbild des Epistolariums zur Annahme bei, der Riesencodex sei aus fragmentarisierten Einzeltexten zusammengestellt worden. Eine deutlich erkennbare Hinzufügung von einer anderen als der Schreiberhand erscheint schließlich am Textende des Liber divinorum operum (f. 308rb 834). Nach dem „Amen" des Textes folgt eine Art Epilog, in dem Hildegard den Tod ihres Sekretärs Volmar beklagt. Durch diesen Tod, so Hildegard, hätte Trauer ihren Körper und ihre Seele durchbohrt und sie lebe nun nur noch wie eine Waise („orbata") auf der Welt. Gleichzeitig bittet sie Abt Ludwig von Trier-St. Eucharius, die Stelle Volmars zu übernehmen und den Text des Liber divinorum operum zu korrigieren. Dieser Epilog ist mit Sicherheit nicht im gleichen Zuge niedergeschrieben worden wie die eigentliche Visionsschrift. Hierauf deutet die sich nach unten zusehends verbreiternde, völlig unorganisierte Spaltenform hin. Der Text ist dem Schreiber unter der Hand aus den Fugen geraten und dies im wortwörtlichen Sinn. Daß er nicht einfachhin auf der nächsten Seite (f. 308v) fortgesetzt wurde, kann nur damit zusammenhängen, daß dort bereits ein anderer Text gestanden hat oder doch vorgesehen war: der Brief an die Mainzer Prälaten. Derolez, der den Epilog ausführlich würdigt, geht davon aus, daß er von der Hand des Korrektors stammt. Er erblickt in ihm ein wichtiges Indiz dafür, daß der Riesencodex noch zu Lebzeiten Hildegards entstanden ist.1 Auch die Abgrenzung der einzelnen Schriften des Riesencodex untereinander wirft ein Licht auf den Kompositionsprozeß der Handschrift: Bei den drei Visionsschriften erscheint das betreffende Incipit jeweils unmittelbar im Anschluß an die vorausgeschickten Capitula [Scivias: f. 2vb; Liber vitae meritorum: f. 137rb; Liber divinorum operum: f. 207av). Nach Art von Reklamanten oder Kustoden sind diese Incipits jeweils auf der den eigentlichen Textanfängen vorausgehenden Verso-Seiten in Spalte b der Textseite angebracht. Die Visionsschriften selbst beginnen durchgängig auf der nächsten Rectoseite, Spalte a. Bei der Epistola ad praelatos Moguntinenses, der Vita Hildegardis und dem Epistolarium fehlen diese Incipits hingegen, ein deutliches Indiz dafür, daß an dieser Stelle vom ursprünglichen Kompositionsprinzip abgewichen wurde. Der Brief an die Mainzer Prälaten besitzt überhaupt keine Überschrift, vermutlich des-

1

„One must observe, that this text [der Zusatz, Ergänzung] has not been copied by the scribe of LDO, Hand 3, but has been cramped by the Corrector in the open space after the end of LDO and before the Epistola ad praelatos Moguntinos. At the time this part of the Riesencodex was transcribed, the Epilogue was consequently not yet in existence (for if it was, it would be difficult to suppose it was not available in Hildegard's own abbey). So here is another piece of evidence that the Riesencodex was probably written during Hildegard's lifetime." Derolez/Dronke 1996, S. C f.

Kapitel 1

54

halb, weil er seinerseits aus 10 bzw. 11 Texten kompiliert wurde. Bei der Vita und dem Epistolarium sind initienähnliche Überschriften von sehr viel späterer Hand über dem jeweiligen Textbeginn sowie entsprechende Vermerke über dem Textende der vorausgehenden Schrift hinzugefügt worden. Diese Hinzufügungen wirken in ihrer manifesten Art aufgesetzt, ja geradezu didaktisch. Die Expositiones evangeliorum zeigen die gleiche Incipitstruktur wie die Visionstrilogie (hier auf. f. 436vb im Anschluß an die Vorrede). Die Lingua ignota und die Litterae ignotae besitzen dagegen überhaupt keine planvoll gestalteten Incipits. Sie erscheinen wie Stücke, die ähnlich wie Pecien in Universitätshandschriften einfach deshalb aufgenommen wurden, weil noch freier Raum im Codex vorhanden war. Demgegenüber hat der Brief der Villarenser Mönche nach dem Tode Hildegards ein eigenes Incipit (f. 436rb), was für den musikalischen Teil wiederum nicht gilt. Im Gegensatz zu dem etwa gleichzeitig entstandenen Rupertsberger illuminierten Scivias (verschollen) oder zu dem um 1220/30 zu datierenden, vermutlich ebenfalls auf dem Rupertsberg hergestellten Luccaer Codex des Liber divinorum operum (Lucca, Biblioteca Statale, Ms 1942), finden sich im Riesencodex keinerlei Miniaturen. Allerdings sind die meisten Initialen und Kapitelüberschriften rubriziert und der Text wurde von einem Korrektor bearbeitet. Die Initialen weisen vielfach die gleiche Form und Ausführung auf wie jene des illuminierten Scivias, des Liber vitae meritorum von Villers (heute Dendermonde, Cod. 9) und des ehemals zur Kartause St. Jakob in Mainz gehörenden Liber vitae meritorum (heute Berlin, StBPrK, Ms theol. lat. f. 727). Sämtliche genannten Codices sind während des 12. Jahrhunderts im Skriptorium von Kloster Rupertsberg entstanden, so daß man von einer typenbildenden Rupertsberger Initialform sprechen kann. Was den Entstehungs- und Aufbewahrungsort des Riesencodex anbelangt, so haben Schräder und Führkötter aufgrund von paläographischen Beobachtungen gegen die These Van der Lindes (S. 86) und Roths argumentiert, die Handschrift sei in der Abtei Johannisberg (Rheingau) geschrieben und/oder dort gebunden worden.1 Die beiden letztgenannten Forscher hatten den auf dem Deckblatt des Vorderdeckels (f. lr) erscheinenden Besitztumseintrag „Codex s[an]c[t]e marie u[irginis]. s[an]c[tjiq[ue]; joh[ann]is [durchgestrichen und unterpunktiert] et Georgij i[n] biscovisb[er]g" als Angabe für den Entstehungs- und frühesten Aufbewahrungsort des Codex gedeutet. Roth nahm an, der Riesencodex sei von vornherein für die am Fuße des Bischofsberges gelegene Georgsklause angefertigt worden. Bei der Aufhebung der Klause im Jahre 1452, vielleicht sogar schon früher, sei er auf den Rupertsberg gelangt. Auf dem Rupertsberg sei zudem ein anderer, regulärer Riesencodex, angefertigt worden. Dabei handele es sich möglicherweise um den kurz nach 1800 verlorengegangenen Wiener Codex 721 aus dem 13. Jahrhundert. Van der Linde wiederum vermutete, die Handschrift sei in der Abtei Johannisberg eingebunden worden. Er schloß aus dieser Konjektur -

-

1

Roth 1887.

Der Riesencodex

55

zwar auf Bestellung des Rupertsberger Konvents, worden. Eine wichtige Rolle bei der Formulierung dieser Thesen hergestellt Codex heute vom ein abgelöstes Deckblatt des Vorderdeckels, das verspielte schiedene alte Einträge beinhaltet. Schrader/Führkötter beschreiben dieses Deckblatt als „auseinandergefaltetes Doppelblatt, dessen Falz durch die Quermitte unseres Innendeckels geht, so daß seine Schrift nicht von links nach rechts verläuft (vom Beschauer gesehen), sondern von unten nach oben."1 Das obere Blatt zeige am linken Deckelrand einen zwei Zeilen umfassenden, deutscheinem sprachigen Eintrag von Geldzinsen aus einem Haus in Eibingen und wird von dem Eheden Zins auf Der in Rechtsanspruch Weinberg Genzingen. paare Gernot und Gertrud di Gent geltend gemacht. Unmittelbar darunter erscheint in einer Schrift des 13. Jahrhunderts der oben zitierte Eintrag mit der Erwähnung des Bischofsberges und der Georgsklause. Es kommt hinzu, daß das Deckblatt eine neumierte Litanei enthält, die von Schräder und Führkötter auf den Bischofsberg bzw. die Georgsklause bezogen wird. Entscheidend ist nun, daß den beiden Eibinger Forscherinnen zufolge sowohl der Eintrag über den Geldzins als auch die Litanei nicht auf den Riesencodex als solchen zu beziehen ist, sondern nur auf das Deck- bzw. Makulaturblatt. Der eigentliche s[an]c[t]i RuRupertsberger Besitzeintrag des Riesencodex auf f. lr („Liber allem älter. Er vor sehr sei und viel größer p[er]ti aput pinguia[m]") dagegen datiere in das 12. Jahrhundert. Konkret weist die Hand, die den Rupertsberger Besitztumseintrag auf f. lr eingetragen hat, starke Ähnlichkeiten mit den Eigenheiten der Rupertsberger Schreibstube und darüber hinaus mit den für den Riesencodex verantwortlichen Kopisten selbst auf. Damit sei erwiesen, daß die Ursprungsheimat des Codex der Rupertsberg und nicht der Bischofsberg gewe-

weiter, sie sei auch dort, und

sei. Es bliebe

sen

ergänzen, daß das Bischofsberger Makulaturblatt sämtliche Durchstichlöcher aufweist, die die noch heute am Riesencodex befindlichen Supralibros durch das Pergament gestochen haben. Dies könnte bedeuten, daß zu

die Metallteile des Codex älter sind als der heutige Ledereinband und daß in der Tat eine Neubindung vorgenommen wurde. Ob diese Neubindung die Morphologie der Handschrift betroffen hat, muß derzeit offenbleiben. Bezüglich einer Zuweisung des Riesencodex auf den Rupertsberg kommt hinzu, daß die im Riesencodex erscheinende Vita Hildegardis (f. 317ra-327ra) von der gleichen Rupertsberger Hand des 12. Jahrhunderts stammt, die auch der Hauptschreiber des in der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Trier (Hs 68) liegenden Liber vitae meritorum war. Die Trierer Handschrift gilt zusammen mit dem Genter Codex 241 als eine der ältesten erhaltenen HildeDerolez bezeichnet diese Hand als Hand V und gard-Handschriften überhaupt. Carlevaris ins 12. Jahrhundert. Letztendlich weist Deverweist sie wie Angela Trierer Textzeugen des Liber vitae meriam daß eine weitere rolez darauf hin, 1

Schrader/Führkötter 1956, S. 154f.

Kapitel 1

56

beteiligte Hand auch am Riesencodex mitgewirkt hat:1 Hand 2 des Riesencodex ist identisch mit Hand 3 des Trierer Liber vitae meritorum. Alle diese Hände sind Rupertsberger Hände. Die letzten Zweifel an einer Entstehung des Riesencodex im Kloster Rupertsberg werden zerstreut, wenn man den Text selbst befragt: an mehreren Stellen innerhalb des Codex ist die Rupertsberger Herkunft indirekt, aber zweifelsfrei, bezeugt. Auf f. 401ra 6-8 heißt es in einer rubrizierten Randrubrik, die von der gleichen Hand 4 stammt, die auch den Text schrieb: „Vita sei Roberti dilectissimi patroni nostri [hervorg. vom Verf.]". Und auf f. 464va findet sich die aufschlußreiche Bemerkung: „Littere qua Villarenses fratres post obitum domine nostre Hildegardis ad nos [hervorgh. vom Verf.] miserunt". Als weiteres Indiz für eine Rupertsberger Entstehungsprovenienz des Riesencodex ist anzuführen, daß eine andere, zwischen 1419 und 1440 entstandene Handschrift mit verschiedenen Exzerpten aus Hildegards Schriften den Riesencodex für das Jahr 1419 als auf dem Rupertsberg liegend bezeugt. Bei dieser Gewährshandschrift handelt es sich um den heute zum Bestand der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover gehörenden Cod. XIII 859. Auf f. 16r, f. 18r und f. 18v dieser Handschrift erscheinen einige Schreibervermerke. Sie belegen, daß der Kopist sich auf dem Rupertsberg aufgehalten und aus dem Riesencodex geschöpft hat. Als Beispiel sei der Eintrag auf f. 18r zitiert: „in eodem magno uolumine liber uitae meritorum". Als Skriptorium und älteste Bibliotheksheimat des Riesencodex läßt sich mithin zweifelsfrei Kloster Rupertsberg benennen. Nicht auszuschließen ist jedoch, daß die Handschrift später eine Zeitlang auf dem Johannisberg weilte. Sollte dies nicht zutreffen, so müssen Johannisberger Makulaturblätter auf den Rutorum

pertsberg gelangt sein. Die paläographische Argumentation reicht allerdings nicht soweit, eine komplette Fertigung des Riesencodex in einem zusammenhängenden, nahtlos verlaufenden Arbeitsprozeß zu belegen. Im Gegenteil zeigt die Auswertung der paläographischen Informationen, daß dies nicht der Fall gewesen sein kann.

Überlieferungsgeschichtliche Einordnung des Riesencodex Eine wichtig Stellung innerhalb der Überlieferungsgeschichte

1.3

der Schriften nicht zuletzt weil er die einzig der Riesencodex deshalb, Hildegards behauptet erhalten gebliebene, in Hildegards Lebzeiten zurückreichende Handschrift darstellt, die (mit Ausnahme der natur- und heilkundlichen Schriften) eine auf Vollständigkeit abzielende Summe von Hildegards Werken darstellt. Dem ist hinzuzufügen, daß auch der Liber simplicis medicinae im Sinne einer naturkundlichen Enzyklopädie konzipiert wurde. Der Riesencodex repräsentiert 1

Nach Schradkr/Führkötter 1956, S. 157 ist Hand 1 des Riesencodex identisch mit Hand 2 des Trierer Liber vitae meritorum. Hand 2 des Riesencodex wiederum sei identisch mit Hand 3 des Trierer Codex.

Der Riesencodex

57

Hildegards Einzelschriften im Verband einer festgefügten, redaktionell so gewollten Einheit. Das, was in diese Handschrift Eingang gefunden hat, muß Hildegard oder zumindest ihren literarischen Testamentsvollstreckern als die Quintessenz ihres literarischen und musikalischen Schaffens erschienen sein, als Zusammenfassung dessen, was es der Nachwelt zu überliefern gelte. Daß diese Schriften nicht einzeln nebeneinanderher überliefert wurden, sondern in einer Weise, die es erlaubte, sie in einer sich gegenseitig ergänzenden, begrenzenden und interpretierenden Weise zu rezipieren, bedarf der ausdrücklichen Hervorhebung. Hier ist die spätere Uberlieferungsgeschichte völlig andere Wege gegangen. Sie hat die Werke Hildegards größtenteils einzeln oder in bestimmten Teilkombinationen überliefert. Nur ganz selten einmal ist der komplette Riesencodex kopiert worden. Nimmt man die Exzerptüberlieferung in den Blick, die zum Teil nur kleine oder kleinste Passagen aus Hildegards Werken tradiert hat, so kann gar von einer potenzierten Form der Parzellierung gesprochen werden. Trotz des unsicheren Befundes, was die tatsächliche Urheberschaft Hildegards an diesem Konvolut und die Anzahl der kompletten Abschriften des Riesencodex anbetrifft, hat diese Handschrift über Jahrhunderte hinweg ihre Stellung als herausragende Sammlung der Werke Hildegards, ja als Reliquie und Ikone ihres Geistes, behalten. Es wurden von späteren Händen immer wieder einzelne Texte aus dem Riesencodex geschöpft, die bis in die Druckausgaben von Mignes Patrologia Latina hinein fortlebten. Hierauf deuten nicht zuletzt 11 Einträge von Personennamen quer durch den Riesencodex hin. Ob es sich bei diesen Einträgen um Namen von Schreibern handelt, ist schwer zu sagen. Einerseits fallen die Namensangaben jeweils mit dem Ende einer Lage zusammen. Andererseits werden an den entsprechenden Stellen keine Veränderungen im Schriftduktus sichtbar. Auch die These, daß sich hier Personen verewigt haben könnten, die Abschriften aus dem Codex geschöpft haben und dies im Sinne festhalten wollten, von Graffitis, wie man sie häufig an Steindenkmälern findet bedarf weiterer Untersuchungen. Es finden sich die Namenszüge eines Lambertus, Kilian, Jacobus, Johannes von Köln sowie schließlich eines Hieronymus. Die Nennungen erscheinen auf f. 40v, 48v, 72v, 80v, 120v, 121r, 129r, 137r, 145r, 153r und 266r. Sie betreffen ausschließlich die Visionstrilogie, wobei der Scivias mit sieben Kopistenvermerken am häufigsten signiert ist. In der Tat ist ja der Scivias-Text des Riesencodex, wie angedeutet, mehrfach kopiert worden und über Zwischenstufen bis in die Ausgabe der Patrologia Latina gewandert. Jacques-Paul Migne hat seine Fassung des Scivias mit geringfügigen Änderungen über die Kölner Ausgabe des Jahres 1628 aus der 1513 erschienenen Editio prineeps des Faber Stapulensis (ca. 1450-1536) übernommen. Fabers Ausgabe wiederum basiert auf dem Riesencodex. Aber auch die Editio prineeps eines Teils des Epistolariums (Briefe 1-40) sowie der Vita Hildegardis, die Justus Blanckwald im Jahre 1566 herausbrachte, beruhen auf dem Riesencodex. Für die hieraus sichtbar werdende Hochschätzung des Riesencodex als herausragender überlieferungsgeschichtlicher Quelle ist nicht zuletzt die von Johannes Trithemius (1462-1516) mitgeteilte Nachricht verantwortlich, der Rupertsberger Kon-

-

-

-

Kapitel 1

58

habe noch zu seiner Zeit, d. h. an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, geglaubt, daß Hildegard den Riesencodex mit eigenen Händen niedergeschrieben habe. Hier wird der Riesencodex zur Berührungsreliquie par excellence vent

emporstilisiert.

Hinzu kommt, daß über Jahrhunderte hinweg immer wieder bedeutende Gäste von Kloster Rupertsberg die Begegnung mit dem Riesencodex gesucht und dies ausdrücklich festgehalten haben. Erwähnt sei in diesem Zusammen-

hang wiederum Johannes Trithemius, auf dessen Bedeutung als Popularisator Hildegards weiter unten ausführlicher eingegangen wird. In seiner Sponheimer Chronik schreibt Trithemius (nicht ohne Mißbilligung): Reuelationes autem suas & visiones coelestes partim Latino partim Teutonico promût eloquio; quas Gotfridus monachus S. Disibodi, capellanus & confessor eius, fecit latinas & co[n]gruas; redigens in eum ordine[m] & formam in qua hodie leguntur. Inter caetera vero eius volumina, magnum in eode[m] loco volumen, & epistolas eius ad diuersos, Homilias, vitas sanctorum, & alla quae diuinitus edocta edidit, continet: quod moniales istius loci eam propria manu scripsisse falso confirmant, cum & latini sermonis fuerit ignara, & ad scribendum propter crebras infirmitates & humidum caput penitus indisposita. Nihil enim eorum, quae ibi ostenduntur hodie, propria manu scripsisse credendum est; quippe cum nesciret scribere: sed praefatus monachus omnia vel scripsit vel scribi procurauit.1

Benutzung des Riesencodex. Auf dem Vorsatzblatt des heute zum Bestand der British Library in London gehörenden Codex Add. 15102 (f. lv) führt er aus, seine Abschriften von HildegardTexten seien aus dem Riesencodex geschöpft. In der Tat hat Trithemius diese Abschriften nach Autopsie des Riesencodex im Jahre 1487 auf dem Rupertsberg anfertigen lassen: Ein weiteres Mal erwähnt Trithemius eine

scripta habentur in maximo quodam volumine et valde pretioso, de vulgi est, quod manu sancte Hildegardis sit conscriptus. Vidi librum, grande ut dixi volumen, in predicto monasterio sancti ruperti.2

Hec omnia quo opinio 1

Trithemius

2

Gedichte hatte sie teils in lateinischer, teils in deutscher Sprache berichtet; die hat der Mönch Gottfried von St. Disibod, ihr Kaplan und Beichtvater, in richtiges Latein gebracht und sie in jene Ordnung und Form redigiert, in welcher man sie heute lesen kann. Unter anderen beträchtlichen Bänden gibt es dabei ein dickes Buch, welches ihre Briefe an verschiedene Personen enthält, sowie geistliche Betrachtungen, Lebensbeschreibungen der Heiligen und anderes, was die von Gott Gelehrte herausgegeben hat. Wenn die Nonnen jenes Ortes behaupten, sie habe das alles mit eigener Hand geschrieben, ist das falsch, weil sie einmal der lateinischen Sprache nicht kundig und wegen häufiger Krankheit und vieler Kopfschmerzen nicht in der Lage war zu schreiben. Nichts von dem also, was dort heute gezeigt wird, darf man annehmen, sei mit eigener Hand geschrieben, sondern der obengenannte Mönch hat alles entweder geschrieben oder schreiben lassen." Zit. nach Trithemius Chronicon (dt.)1, S. 291. British Library, Add. 15102, f. lv.

Chronicon, ad annum 1179, S. 257

Erscheinungen und

12-21.

„Ihre [Hildegards; Ergänzung]

Der Riesencodex

59

Auch Andreas Osiander (1498-1552) hat mit großer Wahrscheinlichkeit den Riesencodex auf dem Rupertsberg eingesehen. Hierauf deutet eine Vorbemerkung zu seiner im Jahre 1527 veröffentlichten Schrift Sunt Hildegardten Weissagung hin: siben gut buecher gemacht Die buecher die sie gemacht hat, S. Hildegart hat vnd instrument damit man sie bewert hat, findet man zu S. Ruprecht yn dem kloster bey Bingen.1 ...

...

Van der Linde

bezog Oslanders Erwähnung von den sieben Büchern Hildegards folgenden im Riesencodex erscheinenden Schriften: 1.) Scivias; 2.) Liber vitae meritorum; 3.) Liber divinorum operum; 4.) Epistola ad praelatos moguntinenses; 5.) Epistolarium; 6.) Expositio evangeliorum; 7.) Symphonia.2 Kurze Zeit nach Osiander hat im Jahre 1554 der bedeutende katholische Reformtheologe Georg Witzel d. A. (1501—1573) den Riesencodex eingesehen. Witzel auf die

schreibt hierzu:

(auff S. Roberts Berg) sind auch die zwey sehr grosse Bücher S. Hildegardis, in In dero einem jre vnd vieler Fürsten Epistel aus allen Nationen verfasset sind jrer antwort ist sie scharff, vnd straffet die geistlichen zimlich, sonderlich ettliche Epischoffen [!]... Im and'n grossen Buch [d.h. im illuminierten Scivias, Ergänzung] stehn eitel Gesicht vnd Offenbarung, vnd dero sehr viel, auch gemalete Figuren, die den Gesichten antworten. Diser Figur eine ist Ecclesia in vestitu Reginae, mit dieser lateinischen vmbschrift: Me oportet concipere & parère [= f. 51r]. Vmb diser S. Hildegardis bûcher willen, ist JAC. FAB. STAPULENSIS von Paris bey vnsern Zeiten auff disen Robertsberg komen, zu lesen vnd abzuschreiben &. Zur selbigen zeit hat auch gelebt die prophetische ELIZABET VON SCHONAUG, dero epistel auch doselbst furhanden, wie ich dies alles selbst mit Augen Do

...

gesehen.3

Erwähnung des Riesencodex stammt von dem bedeutenden Exegeund Kirchengeschichtsschreiber Nicolaus Serarius SJ (1555—1609). In seinen 1604 erschienenen Moguntiacarum Rerum libri quinque schreibt Serarius:

Eine vierte ten

In Rupertino ipsius coenobio seruantur adhuc eius [Hildegardis; Ergänzung] reliquiae, ac magnum scriptorum in pergameno volumen, sicuti & epistolarum in Eberbacensi Rhingauiae monasterio.4 Die Nennung des Riesencodex in unmittelbarem Zusammenhang mit Hilde-

gards Reliquien läßt dessen Status in wünschenswerter Deutlichkeit vor Augen treten.

1 2

3

4

Weissagung Papisten

1527.

Van der Linde 1877, S. 31. Witzel Chorus, S. 290 (Verzeichnis der im Deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts, I. Abt., Bd. 22, Stuttgart 1995, S. 335, Nr. 3890). Van der Linde 1877 zufolge (S. 32) berichtet Witzel hierüber noch einmal in seiner 1555 erschienenen Schrift Exercitamenta pietatis, sign. Xij. Serarius Res Moguntiacae, S. 316.

Kapitel 1

60

Nach 1632 gelangte der Riesencodex infolge der Zerstörung von Kloster Rupertsberg durch die Schweden in das Tochterkloster Eibingen. Dort sahen ihn im Jahre 1660 die Bollandisten Daniel Papebroch SJ (1628-1714) und Gottfried Henschen SJ (1601-1681). Papebroch schreibt in seinem handschriftlichen

Itinerarium Romanum:

Inter libros ingens volumen membranaceum omnia opera S. Hildegardis?

erat ms. ac

bicolumnare,

continens

durch die Säkularisation, wanderte der Codex zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Eibingen in die spätere Landesbibliothek Wiesbaden. Ob eine von Van der Linde namhaft gemachte angebliche Erwähnung des Riesencodex durch Goethe sich tatsächlich auf diesen oder nicht vielmehr auf den illuminierten Scivias bezieht, bliebe abzuklären.2 Zu diesen persönlichen Schilderungen paßt, daß im Vorsatz zum Riesencodex (f. lr) einige zentrale Ereignisse der Rupertsberger Klostergeschichte wie in einer Chronik festgehalten wurden. Genannt sei der elfzeilige Bericht über die am 17. November 1489 auf Veranlassung des Mainzer Erzbischofs Berthold von Henneberg und im Beisein der Rupertsberger Äbtissin Adelheid von Reiffenberg durchgeführte Öffnung von Hildegards Grab, von der man sich eine Auffindung der Heiligsprechungsurkunde erhoffte. Als weiteres urkundlich erwähntes Ereignis, das in den Riesencodex Aufnahme fand, sei die 42 Zeilen umfassende Schilderung der Zerstörung von Kloster Rupertsberg durch die Schweden Ostern 1632 erwähnt. Die Schilderung stammt von Caspar Lerch von Dirmstein, dem Bruder der letzten Rupertsberger Äbtissin, Anna Lerch von

Bedingt

Dirmstein.

Treffen codex zu,

unsere

so

muß

Überlegungen zum reliquienähnlichen es

Charakter des Riesen-

überraschen, daß dieser in seiner Gesamtheit kaum einmal

geschlossen kopiert wurde. Als Gesamtausgabe spielt der Riesencodex überlieferungsgeschichtlich nur eine marginale Rolle. Der Codex wurde zwar auf Veranlassung von Johannes Trithemius im Jahre 1487 abgeschrieben, doch weicht diese Abschrift in mehrfacher Hinsicht von der Vorlage ab : Die Visionstrilogie fehlt ganz, und die Vita Hildegardis wanderte an das Ende des Textes. Auch die

Lingua ignota sowie die Litterae ignotae fehlen.3 Ansonsten findet sich bei Van der Linde ein höchst apokrypher Hinweis auf eine angeblich in Chur liegende Handschrift vergleichbarer Art, unter der man unter Umständen eine Schwesteroder Tochterhandschrift des Riesencodex erblicken könnte. Ähnlich unbestimmt bleibt ein Bezug Roths auf einen in Cheltenham liegenden Riesenco1 2

3

Daniel Papebroch: Itinerarium Romanum. Zit. nach Van der Linde 1877, S. 33. Van der Linde 1877, S. 33: „Von dort [Eibingen, Ergänzung] wanderte er [der Riesencodex, Ergänzung] in die Landesbibliothek zu Wisbaden [!], wo er u. a. einmal auch die aufmerksamkeit Goethe's auf sich zog (Werke, XLIII, 1833, p. 333)." Vgl. Goethe Gesammelte Werke, Artemis-Gedenkausgabe, Bd. 12, S. 532. Es handelt sich um den heute in der British Library liegenden Codex Add. 15102.

Der Riesencodex

61

dex.1 Da die aus dem beginnenden 13. Jahrhundert stammende Handschrift der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Ms lat. qu. 674 von 1836 bis 1912 zur Cheltenhamer Bibliothek von Sir Thomas Phillipps gehörte (Nr. 7340 und 9303), könnte es sich bei diesem präsumptiven Riesencodex um die Berliner Handschrift handeln. Sie enthält die Vita Hildegardis, Teile des Epistolariums (56 Briefe), die Lingua ignota, die Litterae ignotae, eine im 14. Jahrhundert nachgetragene Fassung des Pentachronon, verschiedene endzeitliche Visionen (15 Zeichen der erythräischen Sibylle Augustinus, De civitate Dei 18, 23) sowie ein bedeutendes naturkundliches Fragment, dessen Zuweisung entweder zu Hildegard selbst oder aber einem ihr nahestehenden Umfeld noch nicht endgültig gelungen ist.2 Immerhin bietet auch der Berliner Codex Ms lat. qu. 674 Anknüpfungspunkte für eine enzyklopädisch angelegte Überlieferung =

Hildegards.

Sehr viel seriöser bezeugt ist der als Kopie des Riesencodex geltende, ehemals in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien liegende Codex 721. Diese zwischen 1800 und 1830 verlorengegangene Handschrift wies den überlieferten Beschreibungen zufolge annähernd den gleichen Inhalt und die gleiche Anordnung auf wie der Riesencodex. Ihre Entstehung ist von Michael Denis, der den Codex in Wien auf der Grundlage einer persönlichen Autopsie beschrieb, ins 13. Jahrhundert datiert worden. Allerdings fehlen Anhaltspunkte für eine genaue Lokalisierung.3 Obwohl auch die aus dem Jahre 1800 stammende Beschreibung von Denis nicht alle Einzeltexte des Wiener Codex 721 berücksichtigt, sei der Inhalt dieser Handschrift nachfolgend aufgeführt. Immerhin bildet der insgesamt 528 Folio umfassende Codex das einzige bekannte Beispiel für eine Komplett-Abschrift des Riesencodex aus dem 13. Jahrhundert. Die Angaben folgen Denis und Pitra. f. 1-146: Scivias; f. 147-210: Liber vitae meritorum; f. 211-340: Liber divinorum operum; f. 341-357: Vita Hildegardis;

f. 358-457: Epistolae (288 Briefe); f. 458-498: Expositiones evangeliorum; f. 499-502: Lingua ignota cum Alphabeto [Litterae ignotae]; f. 503-528: Caelestis harmonia; Monika Klaes zufolge hat Denis in seiner Beschreibung der Wiener Handschrift 72 f Hildegards Brief an die Mainzer Prälaten und den Brief der Villarenser Mönche nach Hildegards Tod nicht erwähnt. Ob diese Texte in diesem „Auch der Cheltenhamer Codex soll ein solcher Riesenco-

1

Roth 1887, S. 23, Fuß. 1: dex sein."

2

Beschreibung der Handschrift Klaes f 993, S. 166*-168!:'. Vgl. Denis 1800, Sp. 1723-1731. Analecta, S. IV und XX.

3

S. 142, Anm. 10. 1995, S. LVII.

Van Acker 1991, S. XXIX.

Klaes

-

-

-

Van Acker 1988, hier Carlevaris

1993, S. 182"-. -

-

Kapitel 1

62

Codex tatsächlich fehlten, kann vom heutigen Stand des Wissens her nicht mehr geklärt werden. Es ist gleichwohl zu vermuten. Der Anordnung des Riesencodex zufolge müßte der Brief an den Mainzer Klerus zwischen dem Liber divinorum operum und der Vita Hildegardis erscheinen. Er umfaßt im Riesencodex immerhin 10 Blatt (f. 308v-317ra), so daß er beim Kopieren nicht einfach übersehen werden konnte. Der Brief der Villarenser Mönche steht im Riesencodex zwischen den Texten von Lingua ignota I Litterae ignotae und der Symphonia (f. 464v-465r). Die Gründe für die vermutliche Ausscheidung der beiden Texte bleiben vorerst im dunkeln. Man kann aus diesem Phänomen lediglich den Schluß ziehen, daß der Riesencodex, sollte er die unmittelbare Vorlage der Wiener Handschrift gebildet haben, nicht hundertprozentig exakt kopiert wurde. Gleiches trifft auf die oben erwähnte Abschrift des Johannes Trithemius aus dem Jahre 1487 zu. Damit bleibt festzuhalten, daß nach dem heute vorliegenden Kenntnisstand keine einzige wirklich detailgetreue Abschrift des Riesencodex hergestellt wurde oder zumindest erhalten ist. Fragt man, welche Einzeltexte Hildegards später aus dem Riesencodex kopiert wurden, so sind zwei Handschriften zu nennen: Die heute zum Bestand der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover gehörende Handschrift Cod. XIII 859 und die in der British Library in London liegende Handschrift Cod. Harl. 1725. Der erste Codex enthält einige kleinere Textpartien aus dem Scivias, dem Liber vitae meritorum, dem Liber divinorum operum und der Vita Hildegardis. Die Exzerpte sind ein Autograph des Chronisten Dietrich Engelhus (ca. 1360-1434).1 Der Londoner Codex stammt aus dem 15. Jahrhundert und beinhaltet eine komplette Abschrift des Epistolariums aus dem Riesencodex.

Zusammenfassung ausgebreiteten Einzelbefunde zur Entstehungs- und ÜberRiesencodex in eine vorläufige Synthese zu bringen. des lieferungsgeschichte Die kodikologischen und paläographischen Untersuchungen des Codex haben zu dem Ergebnis geführt, daß von einem mehrstufigen, zum Teil simultan, zum Teil zeitversetzt verlaufenden Herstellungsprozeß auszugehen ist. Dieser Herstellungsprozeß muß bezüglich der Anfertigung der Texte einerseits und der Schaffung der heute vorliegenden Buchbindeeinheit andererseits getrennt betrachtet werden. Die Niederschrift des Hauptteiles der Texte geht ohne Zweifel in autornahe Zeit, mit großer Wahrscheinlichkeit sogar in die Lebzeiten Hildegards zurück. Sie hat jedoch, bedingt durch die nachträgliche Aufnahme der Vita Hildegardis und des Briefes der Villarenser Mönche nach dem Tode Hildegards, starke Verzögerungen im Abschluß erfahren. Außerdem bewirkte die 1.4

Versuchen wir, die

1

eine in der Tradition des Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais stehende Weltchronik für die Jahre 1420/33, die von Matthias Döring bis in die Zeit um 1464 fortgesetzt wurde. Außerdem schrieb Engelhus den Vocabularius Quadriidiomaticus, ein mehrsprachiges Wörterbuch.

Engelhus verfertigte

Der Riesencodex

63

dieser beiden Texte eine Reihe von Brüchen in der Morphologie Handschrift. Diese Brüche wiederum haben möglicherweise zur Interpoder lation weiterer Texte geführt (Lingua ignota, Litterae ignotae). Von einer wirklich stringenten kodikologisch-paläographischen Einheitlichkeit wirken lediglich die zu Beginn des Codex erscheinende Visionstrilogie (insbesondere Scivias / LVM) und die Expositiones evangeliorum. Eine frühere Fertigung dieser Niederschriften, vermutlich noch zu Lebzeiten Hildegards, ist daher anzunehmen. Die bis in die Incipitstruktur hineinreichende uniform wirkende Gestaltung dieser Texte läßt auf eine von vornherein geplante, durchgängige Gesamtanlage zumindest dieser Schriften schließen. Auch der Textbestand des Epistolariums verweist, unabhängig von seinen starken inhaltlichen Stilisierungen, in Hildegards Lebzeiten zurück. Hier muß aufgrund der manifesten Bearbeitungsspuren (paarweise Anordnung, hierarchische Strukturierung, Interpolation von Anfragebriefen, Texterweiterungen) mit einer älteren Vorlage gerechnet werden, die kopiert und in den Riesencodex eingearbeitet werden konnte (Van Ackers

Interpolation

Sigle Wru).

Neben der Vita Hildegardis und dem Brief der Villarenser Mönche, die aus chronologischen Gründen nicht zum Urbestand des Riesencodex gehört haben können, könnte dies aus anderen Gründen auch für die Lingua ignota, die Litterae ignotae und die Symphonia gelten. Die beiden erstgenannten Texte wirken, als seien sie in verbliebene Freiräume der Handschrift kurzfristig eingetragen worden. Der leztgenannte Text besitzt, ähnlich wie der Liedteil von Codex Dendermonde 9, einen eigenständigen Faszikelcharakter mit deutlichen Abgriffspuren auf dem Deckblatt. Die Zeitspanne 1182/87 bietet den frühestmöglichen Termin für eine endgültige Fertigstellung der Texte (nicht der Buchbindeeinheit) des Riesencodex in seiner vorliegenden Form. Geht man davon aus, daß die Redaktion des ersten Teiles (Scivias/LVM) noch auf Volmar (i" 1173) zurückgeht, so bedeutet dies, daß die im Riesencodex aufgenommenen Texte über einen Zeitraum von neun bis 14 Jahren hin entstanden sind. Zwischen 1182/87 ist die Vita Hildegardis entstanden. Ob die medizinisch-naturkundlichen Schriften mit Absicht aus dem Riesencodex ausgeschlossen wurden oder nur zufällig herausfielen, läßt sich, ebenso, wie die Frage, ob möglicherweise ein verlorengegangener zweiter Riesencodex existiert hat, der diese Texte enthalten hat, nicht klären. Auch die Frage, ob die Gesamtstruktur des Codex bereits vor dem Abschluß der Kopierarbeiten in allen Details festlag, entzieht sich einer definitven Antwort. Hier raten die Unregelmäßigkeiten in der Lagenstruktur und die deutlichen Änderungen im Layout der Schriften sowie die frühestens Ende des 13. Jahrhunderts vorgenommene Konfektionierung zum Kettenbuch aber zur Vorsicht. Neigt man der Annahme zu, hinter der Zusammenstellung des Riesencodex habe eine könnte dies bedeuten, daß die planmäßige Gesamtkonzeption gestanden, so den visionären zu dieser Zeit als Texte naturkundlich-medizinischen gegenüber wurden. betrachtet Diese Schlußfolgerung wird allerdings problezweitrangig daß der wenn man subtilitatum in Hildegards eigener Liber bedenkt, matisch,

Kapitel 1

64

ihrer Werke zu Beginn des Liber vitae meritorum ausdrücklich erwähnt wird. Auch die Acta inquisitionis führen das natur- und heilkundliche Werk auf, wenn auch getrennt in zwei verschiedene Schriften sowie unter Bezeichnungen, die nicht auf Hildegard selbst zurückgehen (Liber simplicis medicinae Liber compositae medicinae). Gleiches gilt für Johannes Trithemius, den wichtigsten Vermittler Hildegards an der Schwelle zur frühen Neuzeit. Auch Trithemius erwähnt die natur- und heilkundlichen Texte, ohne sie jedoch zu kopieren. Die gleichfalls denkbare Möglichkeit, der Riesencodex sei schlechterdings nicht zum Abschluß gelangt und man habe die naturkundlichen Schriften eigentlich noch mitaufnehmen wollen, vermag nicht zu überzeugen. Es gibt kein einziges Kriterium, das eine solche Annahme erhärten könnte. Eher erscheint es möglich, daß ein zweiter, dem Riesencodex ähnlicher Band vorhanden war, der das naturkundlich-medizinische Werk enthielt. Daß dieser zweite Band dem ersten nicht unmittelbar zur Seite gestellt wurde, könnte seine Erklärung darin finden, daß er aufgrund seiner inhaltlichen, spezifisch heilkundlichen Funktion an anderer Stelle im Kloster aufbewahrt wurde. Die Hinterlegung einer solchen, für den praktischen Gebrauch bestimmten Handschrift etwa im Klausurbereich oder in der Nähe der Sakristei (Armarium), wo die liturgischen Werke standen, wäre kaum nachvollziehbar. Plausibler wäre es gewesen, eine solche Sammlung zur Bibliothek der Infirmaria, d. h. der klösterlichen Krankenstube, zu ziehen. Auch die älteste und vollständigste erhaltene Handschrift des Liber simplicis medicinae, der um 1292 zu datierende Florentiner Codex laur. Ashb. 1323, befand sich ja, wie ein entsprechender Besitzvermerk beweist, bereits früh (1385) im Privatbesitz eines Arztes, konkret des Chirurgen Wydonius. Es ist bekannt, daß in mittelalterlichen Klöstern, insbesondere, wenn es sich um Klöster handelte, zu denen gewallfahrtet wurde, Krankenstuben oder Hospitäler befanden, die der medizinischen Versorgung der Bevölkerung bzw. der Pilger dienten. Zudem ist aufgrund von entsprechenden Besitzvermerken grundsätzlich gesichert, daß Buch- und Handschriftenbestände mittelalterlicher Klosterbibliotheken an weitverstreuten Orten innerhalb einer Abtei aufbewahrt werden konnten.1 Neben dem Standortvermerk „ad infirmariam" finden sich in solchen Codices immer wieder Einträge wie „ad refectorium" (zur Lesung während der Mahlzeiten) oder „ad cameram abbatis" (im Zimmer des Abtes). Des weiteren gab es eigene Bücherdepots für den klösterlichen Unterricht, die in der Nähe der Schulsäle oder auch direkt darin lagen. Die klassische Bezeichnung „armarium [commune]" für eine Klosterbibliothek bezeichnet keineswegs das Gesamt aller dort befindlichen Bücher. Wie der idealtypisch konzipierte St. Galler Klosterplan (ca. 820) oder, um ein Hildegard näherliegendes Beispiel zu zitieren, die Bauanlage von Kloster Eberbach im Rheingau beweisen, handelte es sich hierbei oft nur um einen sehr kleinen, meist in der Nähe des Chores gelegenen Raum. Er war häufig oberhalb der Sakristei untergebracht und enthielt schwerpunktmäßig die liturgischen Buch-

Aufzählung

-

1

Vgl.

Schipperges 1996, insbesondere S. 100.

hierzu Lehmann 1957. -

Der Riesencodex

65

bestände. Wie verzweigt die klösterliche Buch- und Bibliothekslandschaft in der Tat sein konnten, läßt auch das Phänomen der sogenannten Pultsignaturen erkennen. Solche Pultsignaturen sollten das möglichst genaue Wiederauffinden bestimmter fest zugeordneter Handschriften oder Bücher in der klösterlichen Bibliothekstopographie ermöglichen. All diese Anmerkungen sind aber derzeit nicht mehr als Spekulationen, die im Hinblick auf den supponierten zweiten Teil des Riesencodex nicht überbewertet werden sollten. Als Herstellungsort aller im Riesencodex erscheinenden Texte ist das Rupertsberger Skriptorium zweifelsfrei zu benennen. Aus kodikologischer und paläographischer Sicht würde sich zur Bezeichnung des Riesencodex daher am ehesten der Begriff der Werkstatteinheit eignen. Dieser Begriff kann die momentan nicht eindeutig zu entscheidende Frage nach Hildegards Urheberschaft am Zustandekommen des Gesamtcodex ein wenig entschärfen. Er bringt zum Ausdruck, daß mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest ein Teil des Codex noch unter Hildegards Augen entstanden ist und daß ein anderer Teil erst nach ihrem Tode, und zwar von ihren engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, hinzugefügt wurde. Der Riesencodex trägt damit intentional den Charakter einer Autor-, faktisch den einer Klostersammlung. Eine neue Komponente tritt hinzu, wenn man den Riesencodex unter überlieferungsgeschichtlichen Gesichtspunkten betrachtet. Was diesen Gesichtspunkt anbetrifft, so scheint auf dem Rupertsberg bereits früh eine lebhafte Legendenbildung im Gange gewesen zu sein. Auch wenn die historische Grundlage dieser Legendenbildung nicht mehr zu rekonstruieren ist, kommt sie sicher nicht ganz von ungefähr. Die Legende brachte die Handschrift direkt mit Hildegard in Verbindung, indem sie sie als von Hildegards eigenen Händen niedergeschrieben ausgab. Eine Fama, die von den Rupertsberger Nonnen, wie Johannes Trithemius berichtet, noch im 15. Jahrhundert kolportiert wurde. Die später hinzutretenden Beweise einer besonderen Hochschätzung des Riesencodex hängen vermutlich auch mit dieser Legendenbildung zusammen. Hier hat also die Überlieferungsgeschichte Impulse vermittelt, die aus der Entstehungsgeschichte der Handschrift selbst nicht abzuleiten sind. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß der Riesencodex über Jahrhunderte hinweg das zentrale Fundament der Überlieferung und Verbreitung von Hildegards Schriften bildete. -

KAPITEL 2

Der Scivias

Wenden wir uns nunmehr dem Scivias, Hildegards zwischen 1141 und 1151 entstandenem ersten Visionswerk, zu, das ihren Ruhm als prophetische Autorität begründete.

Rezeptionsspuren des Scivias im Mittelalter Eine Rezeptionsspur im Sinne eines selbstreferentiellen

2.1

Hinweises auf den Scivias liefert Hildegard im Liber divinorum operum, Buch III, visio 5, cap. 26. Im Zuge der dort ausgebreiteten apokalyptischen Bilder verweist Hildegard auf das Zeitalter des Schweines aus dem Scivias („Quod et porcus in libro Sciuias

descriptus manifestât"1). Bevor die Auswertung der noch greifbaren Textzeugen des Scivias erfolgt, müssen einige Abschriften erwähnt werden, die mit großer Wahrscheinlichkeit im 12. und D.Jahrhundert vorhanden waren, deren Existenz heute aber nur noch über den Weg von sekundären Zeugnissen erschlossen werden kann. Zweifellos bewegt sich die Eruierung dieser erschlossenen Exemplare auf einem etwas schwankenden Boden. Bitten um Zusendung von Abschriften des Textes müssen ja nicht in jedem Fall auch deren tatsächliche Anfertigung und Zusendung bedeutet haben. Immerhin aber zeigen manche Wendungen, insbesondere da, wo es sich um Dankesformulierungen oder zustimmende Äußerungen der Empfänger handelt, daß es in einigen dieser Fälle tatsächlich zum Erhalt einer Scivias-Kbschnh gekommen ist. Unter überlieferungsgeschichtlichen Gesichtspunkten betrachtet, runden diese literarisch bezeugten oder aus den Quellen erschlossenen Textzeugen das wirkungsgeschichtliche Gesamtpanorama jedenfalls in wesentlichen Punkten ab. Eine noch unfertige Abschrift des Scivias wurde, so läßt sich auf Grund entsprechender Ausführungen der Vita Hildegardis schlußfolgern, auf Veranlassung des Mainzer Erzbischofs Heinrich I. (Amtszeit 1142-1153) Ende 1147 oder Anfang 1148 vom Disibodenberg aus auf das Provinzialkonzil nach Trier

(30.11.1147-13.2.1148) gesandt, um sie Papst Eugen III. vorzulegen.2 Papst Eugen, ein Zisterzienser und Schüler Bernhards von Clairvaux, hatte auf Einladung des Trierer Erzbischofs Albero von Montreuil (Amtszeit 1131/321152)3 an der Trierer Synode teilgenommen. Der streng kirchlich gesinnte, dabei 1

2 3

LDO 1996, S. 447 25F. Zum kirchengeschichtlichen Hintergrund dieser Zeit vgl. Seppelt 1956, S. 189-212, insbesondere S. 196. Zimmer Panzer 1902. Zu Albero vgl. Prümers 1874. Huyskens 1879. 1907/1908. Nähere Aufschlüsse über das Trierer Provinzialkonzil werden zu erwar-

-

-

Der Scivias

67

prunkliebend und machtbewußt auftretende Albero war ein enger Freund und Korrespondenzpartner Bernhards von Clairvaux und strikter Kämpfer für die päpstliche Partei im Investiturstreit. Während der langwierigen Auseinandersetzungen mit dem römischen Senat Eugen verweigerte die Anerkennung der neuen römischen Verfassung und wandte sich vergeblich gegen die Zerstörung Tivolis befand sich der neu gewählte Papst zwischen 1145 und 1148 über mehrere Jahre hinweg außerhalb Roms, vor allem in Frankreich. Während die-

-

Zeit hielt er an verschiedenen Orten, etwa in Paris (1147), Reims, Trier oder Cremona (1148), große Synoden ab und beschäftigte sich, gedrängt durch Bernhard von Clairvaux, mit der Propagierung des zweiten Kreuzzugs. Eugens Anwesenheit in Trier muß also vor dem Hintergrund dieser übergeordneten kirchenpolitischen Situation betrachtet werden. Sie steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Sache Hildegards. Die eigentlich treibende Kraft zur Untersuchung der Visionen Hildegards auf der Trierer Synode war nicht der Trierer Erzbischof Albero, sondern der Mainzer Erzbischof Heinrich. Dieser nutzte die günstige Gelegenheit, so die Vita Hildegardis, um dem Papst die unterbreiten. Auch die daß zu Heinrich Tatsache, Angelegenheit Hildegards Hildegards Neugründung auf dem Rupertsberg kräftig unterstützte, untermauert diesen Befund. Immerhin nahm Heinrich am 1. Mai 1152 die Wiederweihe der Rupertsberger Kirche vor und erteilte an diesem Festtag einigen Nonnen die Consecratio virginum. Gleichzeitig schenkte Heinrich dem Rupertsberger Kloster einen in der Nähe des Binger Lochs gelegenen Mühlplatz. Die Urkunde, die dieses Ereignis dokumentiert, gilt als die älteste Rupertsberger Urkunde.1 Das erhaltene Original befindet sich unter der Nummer 3187 im Bestand des Hauptstaatsarchivs München, Bestand Mainzer Urkunden. Auf einen entsprechenden Antrag Heinrichs hin sandte Papst Eugen den Bischof von Verdun, der dem Trierer Erzbischof als seinem Metropolitanbischof untergeordnet war, und den Primizerius2 Adelbert mit weiteren geeigneten Männern auf den Disibodenberg, wo Hildegard zu dieser Zeit noch als Inklusin lebte. Die Kommission sollte Hildegards Sehergabe vor Ort in Augenschein nehmen. Zurückgekehrt nach Trier, soll der Papst die positiv ausgefallenen Ergebnisse der Kommission zur Kenntnis genommen und sich nicht näher bezeichnete Schriften Hildegards ser

ten sein von der unter der Betreuung Alfred Haverkamps im Entstehen begriffenen Dissertation Jörg Müllers über Albero. Eine Lebensbeschreibung Alberos hat dessen Zeitgenosse, der Domscholaster Balderich, hinterlassen. Dieser Text, der als Quelle mittelalterliche Volkserzählungen in Vulgärsprache bietet, ist ediert als Gesta Alberonis [darin über den Aufenthalt Papst Eugens III. in Trier: S. 254 46-255 35; ohne Erwähnung der Hildegard-Episode]. So Vita Hildegardis (dt.) 1968, S. 139, Anm. 19. Der Begriff „Primizerius" bezeichnet eine führende Gestalt im Domkapitel. Nach dem Ordo Romanum (Cap. 1 § 13 D. 25, c. unie. X 1, 25) war dem Primizerius, der seit dem 10. Jahrhundert meist durch den Kustos oder Praecentor abgelöst wurde, die Sorge für die Diakone und den niederen Klerus anvertraut, allerdings unter Aufsicht des Archidiakons. Vgl. Hofmeister 1963. -

1 2

Kapitel 2

68

vorlegen gelassen haben. Diese Schriften seien von Kloster Disibodenberg aus mit nach Trier gebracht worden. Bei den in der Vita erwähnten Schriften kann es sich nur um den zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenen Scivias gehandelt haben. Der Papst soll daraus, so fährt die Vita Hildegardis (Buch I, Kap. 4) fort, den Synodalteilnehmern persönlich vorgelesen haben. Durch die Lektüre begeistert, habe er, so die emphatischen Ausführungen der Vita, die Anwesenden zum Lobe des Schöpfers und zur jubelnden Mitfreude aufgerufen. Die Vita bringt dann die urkundlich nicht zu belegende, wenn auch auf breiter Front kolportierte Information, Bernhard von Clairvaux habe sich unter den Synodalteilnehmern befunden. Auch Bernhard habe sich zustimmend über Hildegards Sehergabe geäußert. Er habe gefordert, ein solch hellstrahlendes Licht dürfe nicht vom Schweigen überdeckt werden. Der Papst habe Hildegard daraufhin brieflich aufgefordert, alles, was sie im Heiligen Geiste erkenne, kund-

und niederzuschreiben. In einem zweiten Schreiben an den Abt und die Brüder von Kloster Disibodenberg soll der Papst die Stätte, wo Hildegard ihre monastische Erziehung erfahren hatte, beglückwünscht haben. Adelgundis Führkötter erblickt in einer vom 18. Februar 1148 datierenden Schutzurkunde für das Disibodenberger Mönchskloster, die Papst Eugen III. in Metz aufgesetzt hatte, dieses zweite Schreiben und damit zugleich eine Bestätigung für die Richtigkeit des Berichts der Vita Hildegardis} Zwischen 1151 und 1156 war es Hildegard selbst, die dem Kölner Erzbischof Arnold (Amtszeit 1151-1156) auf dessen Bitte hin eine Abschrift ihrer ersten Visionsschrift zusandte. Dies geht hervor aus einem Antwortbrief Hildegards, als dessen Adressat man den Kölner Erzbischof Arnold vermutet. Arnold äußerte sich gegenüber Hildegard wie folgt: zutun

Preterea librum quem

ipsa diuino Spiritu inspirata scripsistis, remota omni occanee possumus eo carere, siue imparatus est siue non, per

sione, quia nee uolumus

presentium portitorem nobis transmittere non dubitetis; ubi Deum temptare nolumus,

sed ubi mirabilia eius uidere desideramus.2

Auf diese Bitte hin

antwortete

Hildegard:

Nunc autem, o pastor populi tui, ego paupercula, sicut petisti, scripta ueracium uisionum istarum tibi misi, nihil humani ingenii et proprie uoluntatis mee continentia, sed que indeficiens lumen compositione sua et eisdem uerbis manifestare 1

2

Vgl. Vita Hildegardis 1993,1 4 und 5, S. 9-11. Die Schutzurkunde ist ediert in Urkundenbuch Coblenz/Trier, S. 612 (Nr. 552). Vgl. auch Vita Hildegardis (dt.) 1968, S. 50f.

sowie S. 139, Anm. 18. Arnoldus Archiepiscopus Coloniensis (?) ad Hildegardem, in Epistolarium I, Ep. XIV, S. 31f. Walburga Storch übersetzt diese Passage folgendermaßen: „Habt ferner keine Bedenken, uns das Buch, das Ihr vom göttlichen Geist inspiriert selbst geschrieben habt, da jede andere Gelegenheit dazu fehlt und wir es weder entbehren können noch wollen, durch den Überbringer dieses Briefes zu senden, sei es unvorbereitet oder nicht. Wir wollen damit Gott nicht versuchen, sondern verlangen darin seine Wundertaten zu schauen." Epistolarium (dt.) 1997, S. 39. -

-

Der Scivias

69

uoluit, quomodo sibi placuit, cum nec hoc ipsum quod tibi nunc scribo, ingenio meo nec ullo humano arbitrio, sed superna ostensione compositum sit.1 Der Codex ist heute verschollen. Er bildet neben den noch unfertigen Teilen,

die lf47/48 nach Trier gesandt wurden, um Papst Eugen III. die Möglichkeit einer unmittelbaren Textkenntnis zu gewähren, eines der ältesten Zeugnisse für die Rezeption des Scivias überhaupt. Ein anderer sehr früher Hinweis auf die Wirkung von Hildegards erster Visionsschrift liefert ein zwischen 1151 und Mitte 1153 entstandenes Schreiben des Priesters Bertulf an Hildegard.2 Darin heißt es: „Praeterea librum tuum transcribere multum cupio".3 Bei dem von Bertulf erwähnten Buch kann es sich aus chronologischen Gründen nur um den Scivias gehandelt haben. Die beiden anderen Visionsschriften waren 1151/53 noch nicht fertiggestellt bzw. noch gar nicht in Angriff genommen. Da Hildegard in ihrem Antwortschreiben auf den Wunsch Bertulfs nicht einging, bleibt ungewiß, was aus der Angelegenheit wurde. Eine weitere zeitgenössische Abschrift des Scivias könnte in das Anastasiuskloster nach Rom gelangt sein. Der dorthin geflohene Eberbacher Abt Eberhard vermeldete in einem zwischen 1166 und 1173 entstandenen Schreiben an Hil-

degard : Librum quem scripsistis ut scribatur nobis, et consilio et adiutorio uestro opus et bona uoluntate. Desideramus enim quam maxime habere illum, et inspicere mirabilia Dei in illo.4

habemus,

Allerdings besteht die Möglichkeit, daß es sich lorengegangenen Eberbacher Scivias handelt. 1

3 4

um

den

ver-

Archiepiscopum Coloniensem (?), in Epistolarium I, Ep. Ubersetzung: „Nun also, o Hirt deines Volkes, habe ich armselige Frau dir, wie erbeten, die Aufzeichnungen dieser wahren Vision gesendet. Sie enthalten nichts von menschlichem Geist und meinem eigenen Wollen, sondern was das unvergängliche Licht durch seine Gestaltung und in diesen Worten offenbaren wollte, wie es ihm gefiel. Denn nicht einmal das, was ich dir jetzt schreibe, ist von meinem Geist, noch nach irgendeinem menschlichen Ermessen, sondern auf himmlische Offenbarung hin verfaßt." (Epistolarium (dt.) 1997, S. 40). Ob es sich bei diesem Bertulf um den gleichnamigen Abt von Trier-St. Eucharius gehandelt hat, bleibt ungewiß. Der Trierer Abt war mit Sicherheit von 1135-1159 Vorsteher des Eucharius- bzw. Matthiasklosters, möglicherweise auch bis 1162, seinem Todesjahr. Bertulf stand mit Hildegard von Bingen in Korrespondenz. In einem nach 1148 zu datierenden Schreiben ermahnt Hildegard ihn zu grösserer Gelassenheit und „mütterlicher Zärtlichkeit" seinem Konvent gegenüber (Epistolarium II, S. 467). Vgl. Becker 1996, S. 590-592. Bertulfus sacerdos ad Hildegardem, in Epistolarium II, Ep. CLXXXVII, S. 422 25. Eberhardus abbas ad Hildegardem, in Epistolarium II, Ep. CXC, S. 429. Bereits Keller 1933, S. 16, bezog diesen Wunsch Eberhards auf den Scivias.

Hildegardis

ad Arnoldum

XIVr, S. 32. Deutsche

2

bei diesem Codex

Kapitel 2

70

Eine ebenfalls im 12. Jahrhundert angefertigte Abschrift des Scivias wurde möglicherweise an Johannes von Salisbury (ca. 1115-1180) gesandt. Im letzten Viertel des Jahres 1166 richtete Johannes ein in der BriefSammlung des Thomas Becket zu findendes Schreiben an Girardus de Pucelle,1 das er mit folgenden Worten schloß:

cetero communicate michi, si placet, nouorum aliquid quae in expilatis inuenitis armariis; si non aliud occurrit quod nostratibus desk, saltem uisiones et oracula beatae illius et celeberrimae Hildegardis apud uos sunt; quae michi ex eo commendata est et uenerabilis, quod earn dominus Eugenius speciali caritatis affectu familiarius amplectebatur. Explorate etiam diligentius et rescribite an ei sit de fine huius scismatis aliquid reuelatum. Praedixit enim in diebus beati Eugenii quod non esset nisi in extremis diebus pacem et gratiam in urbe habiturus. Precor autem attendus ut res beati Remigii apud uos sie protegatis sicut protegeretis animam meam.2

De

Dieses Zeugnis ist von besonderer Bedeutung. Johannes von Salisbury gilt als einer der gelehrtesten, tüchtigsten und um die Kirche der damaligen Zeit verdientesten Männer. Seine Ausbildung hatte er in Frankreich unter Abaelard, Wilhelm von Conches und Gilbert von Poitiers erhalten. Zudem war Johannes mit Bernhard von Clairvaux, Papst Hadrian IV. und Thomas Becket, dem als Märtyrer verstorbenen Erzbischof von Canterbury, befreundet. Im Streit des letzteren mit Heinrich II. stand Johannes kompromißlos auf sehen von Thomas Becket, dessen Ermordung am 29. Dezember 1170 er als Zeuge persönlich miterlebte. Von 1176 bis zum Ende seines Lebens im Jahre 1180 wirkte Johannes als Bischof von Chartres. Der Brief des Johannes von Salisbury ist auch deshalb von Belang, weil er auf die aktuelle kirchliche Situation von Johannes' eigener 1 2

Zu Girardus vgl. Hohenleutner 1953, S. 44f. Zit. nach Iohannes Saresberiensis Letters, II, hier S. 224 [Nr. 185]. Millor/Brooke datieren den Brief auf „soon after November 1166"; Mews 1998, S. 110, Fußn. 99 datiert ihn auf „mid-October 1166". Der Brief erscheint auch in PL 199, Sp. 220C [= Ep. des Johannes von Salisbury]. Darüber hinaus findet sich der Brief bereits in Baronius Annales auf das Jahr 1148. In dieser Fassung zitiert ihn Johannes Stilting innerhalb der AA.SS, V, S. 629-701. Auch in PL 197, c. 28 Nr. 34, ist der Text publiziert, hier unter der Briefnummer 171. Weitere Zitationen bei Liebeschütz 1930, S. 5, bei Schmeidler 1941, S. 338 sowie bei Schrader/Führkötter 1956, S. 7. Constant J. Mews weist auf eine weitere positive Äußerung Johannes' von Salisbury über zwei namentlich nicht genannte „prophetissae teutonicae" hin. Diese Aussage könne, so Mews, möglicherweise auf Hildegard und Elisabeth von Schönau bezogen werden. Dabei handelt es sich um ein Schreiben an Thomas Becket aus dem Spätsommer 1165. Vgl. Iohannes Saresberiensis Letters, II, Nr. 152. Die beiden Prophetinnen hatten Stellung bezogen zu Plänen Friedrich Barbarossas, seinen Kanzler Christian I. von Buch (f 1183) zum Erzbischof von Mainz zu machen. In der Tat wurde Christian zwischen dem 19. und 24. September 1165 zum Erzbischof gewählt und am 5. März 1167 konsekriert. Er war es, der 1179 auf Bitten Hildegards hin das Interdikt über Kloster Rupertsberg aufhob.

Der Scivias

71

habe vorausgesagt, daß Papst Friede Ende seines mit den Römern finden werde, Lebens Eugen gegen wie es tatsächlich auch eingetreten sei. Von daher erhofft Johannes, Hildegard könne auch über das Ende des zu seiner Zeit herrschenden Schismas etwas erfahren haben. Angeregt durch den Scivias, gerät Hildegards visionäre Fähigkeit hier in die Rolle eines Instruments zur Bewältigung höchst aktueller kirchenpolitischer Konflikte. Dabei muß hervorgehoben werden, daß Johannes von Salisbury nicht einmal zu jenen Kreisen zählte, die Hildegard in besonderer Weise nahegestanden hätten. Gerade deshalb aber dokumentiert sein Interesse am Scivias die damalige, offenbar rasch vonstatten gehende Wirkungsgeschichte des Textes besonders gut. Zwischen 1165 und 1173 bat Abt Gero (Gottfried) von Salem (1165/68) Hildegard um Übersendung eines Buches, in dem Gott durch sie den Menschen große Geheimnisse geoffenbart habe: Zeit

anspielt. Johannes legt dar, Hildegard III.

erst

Denique uidi et legi maxima sacramenta mysteriorum Dei, que per te in libro scripto Dominus scientiarum indignis hominibus aperiens reserauit.1

a te

Führkötter und Angela Carlevaris erwähnen diesen Brief des SaleAbtes in der Einleitung ihrer Serams-Ausgabe, beziehen die entsprechende Passage aber nicht ohne weiteres auf den ehemals in Salem liegenden Textzeugen des Scivias (heute UB Heidelberg, Cod. Sal. X, 16). Eine andere Abschrift des Scivias wurde noch zu Lebzeiten Hildegards an die Abtei Trier-St. Eucharius gesandt. Dies geht hervor aus einem zwischen 1155 und 1173 formulierten Dankesschreiben der Mönche von St. Eucharius an Hildegard, in dem der Trierer Konvent seine Freude über die Zusendung zum Ausdruck bringt:

Adelgundis mer

De cetero indubitanter cognoscas quia in litteris tati sumus sicut in omnibus diuitiis.2

tuis, scilicet in libro Seimas, delec-

Gembloux, Hildegards Sekretär während ihrer beiden letzbesaß ten Lebensjahre, möglicherweise eine Abschrift des Scivias? Carlevaris und Adelgundis Führkötter gehen davon aus, daß auch Angela Kloster Johannisberg über Abschriften aus dem Scivias verfügte: „Das Kloster Johannisberg im Rheingau, von dem der Herausgeber [der Editio prineeps, Faber Stapulensis; Ergänzung] auch Vorlagen für seine Edition erhalten hat, besaß Abschriften vom Scivias aus dem Riesencodex. Denn die vier NamenseinAuch Wibert

von

Hildegardem, in Epistolarium II, Ep. CC, S. 453. Hildegardem, in Epistolarium II, Ep. CCXX,

1

Gero abbas ad

2

Congregatio

3

Hierauf weisen Schrader/Führkotter 1956, S. 15 hin: „Wibert, der den Schriften Hildegards das größte Interesse entgegenbrachte, fragt die Meisterin nach dem Sinn Es geht aus Wiberts Fragen nicht hervor, ob des merkwürdigen Buchtitels Scivias. er ein Exemplar des Scivias besaß. Jedenfalls hatte er Kenntnis von dem Buche ..."

S. 480 i6f.

monachorum ad

...

Kapitel 2

72

tragungen dieser Hs. dürften wohl auf Mönche vom Kloster Johannisberg hinweisen."1 Eine weitere Kopie des Textes muß zusammen mit den übrigen Schriften Hildegards als Begleitband des Heiligsprechungsantrages nach Rom gegangen sein. Man wird hierfür Ende Dezember 1233 ansetzen dürfen.2 Auch dieser Codex ist verschollen. Im gleichen Jahr wurde eine andere Abschrift des Scivias bzw. der Werke Hildegards über einen gewissen Bruno, Kustos und Priester von St. Peter in Straßburg, nach Paris gesandt. Die Acta inquisitionis berichten hierüber wie -

-

folgt:

cum libros eius [Hildegardis, Ergänzung], scilicet librum Scivias, librum Vite meritorum, librum Divinorum operum, secundum monasterii sui exemplaria con...

in peregrinatione ad beatum Martinum ire disposuisset, libros Parisius detulit; et ut securius in eis studere posset, ab episcopo loci tune présidente per mukös Labores et magnas tribulationes obtinuit, quod omnes in theologia tune magistros legentes convocavit, et cuilibet eorum per très quaternos ipsos libros ad examinandum dedit ab octava Martini usque ad octavam Epiphanie. Quibus examinatis episcopo restituerunt; qui magistro Wilhelmo Antisiodorensi, pro tempore suo magistro, eos assignavit et sibi eos restituit affirmans, quod magistrorum esset sententia non in eis esse verba humana, sed divina.3

scripsisset, iam dictos

et cum

secum

Inquisitionsmandat beauftragten Pariser Theologen äußerten im Hinblick auf Hildegards Schriften also, diese enthielten keine menschlichen, sondern nur göttliche Worte. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Die mit einem

1 2

3

Führkötter/Carlevaris 1978, S. LVIII. Vgl. hierzu May 1998. Georg May zufolge soll die Supplik auf die Heiligsprechung Hildegards in der zweiten Hälfte des Jahres 1227 in Rom vorgelegen haben. Das Reskript Papst Gregors IX. Mirabilis Dem datiert vom 27. Januar 1228. Die darin angeordnete Untersuchung, die vita, conversatio, fama, mérita und miracula Hildegards umfassen sollte, wurde von drei beauftragten Kommissaren in Angriff genommen. Es waren dies Gerhard, der Propst der Mainzer Domkirche, Walther, der Dekan des Mainzer Petersstiftes, und Arnold, der Scholastcr des Mainzer Petersstiftes. Am 16. Dezember 1233 schlössen die drei Kommissare ihr Werk ab. Acta inquisitionis, zitiert nach Vita Hildegardis (dt.) 1998, S. 270. An anderer Stelle kommen die Akten noch einmal auf das Votum der Pariser Magister zurück: „Quod liber Scivias, liber Vite meritorum, liber Divinorum operum, quos beata Hildegardis sine terreno magistro, sed Spiritu sancto dictante conscripsit, ad mandatum episcopi Parisiensis per omnes magistros Parisienses tunc in theologia legentes sunt diligenter examinati, ita quod quilibet magistrorum très quatuor habuit ad examinandum, in restitutione vero librorum episcopo magistrorum omnium sententia fuit, non in eis esse verba humana, sed divina: hoc probatur per Brunonem, custodem Sancti Petri Argentine, qui libros Parisius adportatos iurat, Arnoldum, scholasticum S. Petri

Maguntie et nunc inquisitorem, magistrum Johannem, scholasticum Maguntinum et prepositum Pinguensem et nunc inquisitorem, qui tunc temporis in theologia Parisius studuerunt, qui eosdem libros Parisius examinari viderunt." (Ebd., S. 278).

Der Scivias

73

Acta die

Dinge aus naheliegenden Gründen in einem positiven Licht darstellen und daß wir über diese Angelegenheit, ähnlich wie über das Votum der römischen Theologen, keine anderen Zeugnisse besitzen. Auch Gebeno von Eberbach muß um 1220 eine Abschrift des Scivias sowie weiterer Werke Hildegards in Händen gehalten haben. Seine Kompilation, das Pentachronon, beweist diesen Sachverhalt zur Genüge. Wichtig ist ein Hinweis auf entsprechende Äußerungen Johannes Taulers (ca. 1300-1361) über Hildegards Scivias. Allerdings können diese Äußerungen, auf die weiter unten näher eingegangen wird, auch auf den illuminierten Rupertsberger Scivias bezogen werden. Schließlich muß eine niederdeutsche Übersetzung (oder besser: Bearbeitung) des von Honorius Augustodunensis (1. Hälfte 12. Jh.) stammenden Elucidariums erwähnt werden.1 Diese in nur einem einzigen Textzeugen (Straßburg, Bibl. Nat. et Univ, Ms 2101, f. lr-64va) überlieferte Bearbeitung wurde laut Kolophon 1468/69 von dem Laienbruder Arnoldus de Almelo (f 1480) niedergeschrieben. Der Codex gehörte ursprünglich zum Besitz des im Jahre 1394

gegründeten Augustinerchorherrenstifts Frenswegen (Niedersachsen).

Er

ent-

hält neben anderen Texten eine erweiterte, niederdeutsche Fassung des Elucidariums. Unter den Zusatzquellen finden sich einige Kapitel aus Teil III, Buch 11 des Scivias (Kapitel 26, 27, 30, 31, 32 und 39). Da diese Teile, die von Dagmar Gottschall geradezu als Antichrist-Traktat bezeichnet wurden,2 auch in Gebenos Pentachronon erscheinen, ist jedoch ungewiß, ob der Redaktor sie aus einer kompletten Fassung des Scivias oder aus dem Pentachronon geschöpft hat. Immerhin aber gehören diese Passagen zu den frühesten Zeugnissen einer volkssprachlichen, hier niederdeutschen, Rezeption des Scivias. Daß sie ausgerechnet die apokalyptisch akzentuierten Endzeitvisionen des Scivias berücksichtigen, ist für die Wirkungsgeschichte des Textes im 14. und 15. Jahrhundert durchaus symptomatisch. Die genannten Fälle zeigen in aller Deutlichkeit, daß die Wirkungsgeschichte des Scivias im Sinne einer durch Abschreiben und Versenden gesteuerten Verbreitung des Textes bereits unmittelbar nach Abschluß des Werkes im Jahre 1151 eingesetzt hat. Streng genommen kann diese Phase, wie die vom Disibodenberg aus an Papst Eugen III. nach Trier übermittelte Kopie beweist, sogar noch in die Zeit vor Abschluß des Werkes ausgedehnt werden. Die Bestätigung von Hildegards Visionsgabe durch Papst Eugen III. auf dem Trierer Provinzialkonzil von 1147/48 basierte ja ganz ausschließlich auf dem zu dieser Zeit noch nicht abgeschlossenen Scivias. Gerade im Hinblick auf diese päpstliche Bestätigung kommt dem Scivias eine Schlüsselstellung für die Wirkungsgeschichte von Hildegards Schriften zu. Die päpstliche Approbation des Scivias hat, gestützt durch das zustimmende Votum Bernhards von Clairvaux, das sich ja 1

Vgl.

Gottschall 1992,

vor

1983.

2

Gottschall 1992, S. 147.

allem S. 116f.; Edition S. 146-295.

Vgl.

auch Freytag

Kapitel 2

74

ebenfalls auf den Inhalt des Scivias bezog, den Nimbus des Inkommensurablen oder Heiligmäßigen erstmalig konstituiert und langfristig gesichert. Selbst wenn dieser Ruf später nicht mehr differenziert beurteilt wurde, bleibt doch festzuhalten, daß er zunächst ausschließlich auf einer Bewertung des Scivias und der darin enthaltenen Visionen beruhte. Wir werden, auch im Hinblick auf die spätere Exzerptüberlieferung, sehr genau zu prüfen haben, ob die wirkungsgeschichtliche Superiorität des Scivias gegenüber den anderen Schriften Hildegards sich empirisch an einer stärkeren textlichen Ausbeutung dieser Schrift belegen läßt. Wenn es eine solche Akzentuierung tatsächlich gegeben hat, dann kann sie nicht nur davon herrühren, daß der Scivias etwa 25 Jahre älter ist als die letztentstandene Visionsschrift Hildegards, also eine entsprechend längere Zeitspanne der Rezeption zu Lebzeiten Hildegards besaß. Hier muß es andere Faktoren geben, die mit der oben angedeuteten initiatorischen Sonderstellung des Scivias

zusammenhängen.

Doch kehren wir zu den supponierten Sczw'^s-Abschriften zurück! Es liegt auf der Hand, daß hierbei die zeitgenössischen Abschriften aus den Lebzeiten Hildegards von besonderer Bedeutung sind. Auch wenn sich die Spuren mancher dieser Abschriften wieder im Dunkel der Geschichte verloren haben, so besitzen wir doch Nachrichten genug von der Existenz solcher Abschriften. An ihrer Seriosität ist, solange keine gewichtigen Gegengründe vorgebracht werden, nicht zu zweifeln. Allerdings muß eingeräumt werden, daß verschiedene Wünsche nach Zusendung einer Textabschrift von Hildegard selbst nicht direkt und klar beantwortet wurden. Möglicherweise sind hierfür die rigiden Adressatenwechsel im Zuge der Bearbeitung des Epistolariums verantwortlich. Wie dem auch sei, es läßt sich nicht in allen Fällen, in denen eine entsprechende Anfrage an Hildegard herangetragen wurde, sagen, ob tatsächlich eine Kopie des Scivias hergestellt wurde. Auf der anderen Seite liefern auch die bloßen Anfragen schon deutliche Spuren für die (offensichtlich recht lebhafte) Rezeption des Scivias in autornaher Zeit. Immerhin dreizehn heute nicht mehr greifbare Abschriften des Textes wurden wenn man die notgedrungen schwankend bleibende Beweisführung aus zweiter Hand miteinbezieht von befreundeten Personen oder Institutionen erbeten bzw. kursierten in Kreisen, die Hildegard nahestanden. Vermutlich neun dieser nicht mehr greifbaren (tatsächlich oder bloß gewünschten) Abschriften gehören dem 12. Jahrhundert an. Sie entstanden vermutlich sämtlich noch zu Lebzeiten Hildegards. Es sind dies die Abschriften für das Provinzialkonzil in Trier, für Erzbischof Arnold von Köln, für den Priester Bertulf, für den Abt Eberhard von Eberbach im Anastasiuskloster in Rom, für Johannes von Salisbury, für Abt Gero (Gottfried) von Salem, für Wibert von Gembloux (?), für Kloster Johannisberg sowie für den Konvent von Trier-St. Eucharius. Drei weitere Abschriften des Scivias stammen aus der Zeit um 1220-1233. Hierbei handelt es sich um die Kopien für Gebeno von Eberbach, für den Heiligsprechungsprozeß in Rom sowie für die Pariser Inquisitoren. Eine einzige Kopie, jene, auf der Taulers Predigten basierte, fällt in das -

-

14. Jahrhundert.

Der Scivias

75

Wege der Verbreitung der hier erschlossenen Textzeugen betrifft, so Ausgangspunkt, wenn ich recht sehe, immer Hildegard selbst bzw. der Rupertsberger Konvent. Auch wenn der konkrete Impuls teilweise von den Bittstellern ausging, muß doch Hildegard den Auftrag zur Herstellung bzw. Versendung der Abschriften erteilt haben. In späteren Zeiten, das heißt nach Hildegards Tod, trat der Konvent des Klosters Rupertsberg an ihre Stelle. Was die

war

deren

Uberlieferung des Scivias Versucht man, die nachfolgend genannten, unter editorischen Gesichtspunkten betrachtet wichtigsten Textzeugen des Scivias im Hinblick auf unsere spezielle, überlieferungsgeschichtlich akzentuierte Thematik auszuwerten, so kristallisieren sich sechs Problembereiche heraus, auf die entsprechende Antworten zu geben sind: 1. ) Wieviele Abschriften des Scivias wurden insgesamt hergestellt und wie ist das Verhältnis von kompletter Abschrift und Exzerptüberlieferung beschaffen ? 2. ) Wie ist die Relation zwischen Abschriften, die auf dem Rupertsberg hergestellt wurden, und solchen, die nicht auf dem Rupertsberg hergestellt wur-

2.2 Die handschriftliche

den ?

3. ) Wie stellt sich das Verhältnis

von Abschriften aus dem 12. Jahrhundert unmittelbaren Lebenskontext dem Hildegards) zu solchen aus späteren (also Zeiten dar? 4. ) Welches waren die Initiatoren, Träger und Adressaten der Überlieferung von Hildegards erster Visionsschrift ? 5. ) Welche Wege und Strategien zur Verbreitung des Scivias lassen sich eruaus

ieren ? 6. ) Wie ist das Verhältnis

von Text- und Bildüberlieferung in den vorhandeSerams-Handschriften zu bewerten ? Der Scivias läßt sich ohne die spätere Exzerptüberlieferung heute noch in zehn vollständigen und sieben fragmentarischen, insgesamt also in 17 Textzeugen belegen. Alle diese 17 noch vorhandenen Handschriften wurden von Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris in ihrem textkritischen Rang evaluiert und für die kritische Ausgabe des Scivias herangezogen. Allerdings existiert bislang kein Stemma der Handschriften, das genauere Auskünfte über die textgenetischen Abhängigkeiten und das Verhältnis der einzelnen Textzeugen zueinander geben könnte. Hinzu kommen die oben genannten 13 Erwähnungen von Abschriften, die aus zeitgenössischen Quellen heraus erschlossen werden können, über deren tatsächliches Vorhandensein und/oder späteren Verbleib aber nichts mehr gesagt werden kann. Insgesamt sind also 30 Überlieferungsträger des Scivias zu ermitteln, von denen 13 nicht mehr greifbar sind bzw. in einzelnen Fällen überhaupt nie existiert haben mögen. Diese 30 Textzeugen, real vorhandene wie bloß namentlich erwähnte, stammen aus dem 12. bis 16. Jahrhundert. Im frühen 16. Jahrhundert, genauer gesagt im Jahre 1513, fand mit dem nen

-

-

Kapitel 2

76

Erscheinen der Editio princeps des Scivias der Wechsel von der handschriftlichen zur gedruckten Uberlieferung statt. Naturgemäß flaute die handschriftliche Produktion von Abschriften des Scivias durch dieses Ereignis stark ab. Die Auswertung der Exzerptüberlieferung wird indessen zeigen, daß auch nach Erscheinen der frühen Druckausgaben eine nach gesonderten Kriterien zu beurteilende handschriftliche Textüberlieferung bestehen blieb. Nicht miteinbezogen in unsere Aufstellung sind die verschiedenen Abschriften des Pentachronon Gebenos von Eberbach, wie sie etwa im Münchener Codex clm 324 [536] vorliegen. Hier ist auf die von José Santos-Paz vorgelegte Spezialuntersuchung zum Pentachronon zu verweisen. Folgende SdwiW-Handschriften lassen sich als noch vorhanden bzw. in Reproduktionen gerettet benennen: 1. ) W Wiesbaden, HLB, Hs 1 [illuminierter Scivias]; entstanden um 1170/79 (Miniaturen kurz nach 1179?) in Kloster Rupertsberg; seit 1945 verschollen. Uberliefert in einer Fotokopie aus dem Jahre 1927 (Eibingen) und in einem handgefertigten Pergamentfaksimile aus den Jahren 1927/33 (Eibin=

gen). Vatikan, Bibl. Vat., Cod. Pal. lat. 311; entstanden vor 1170/79 im Kloster Rupertsberg; möglicherweise für ein Zisterzienserkloster [Himmerod?] angefertigt; 3. ) H Heidelberg, UB, Cod. Sal. X, 16; entstanden im 12. Jahrhundert im

2. ) V

=

=

Zisterzienserkloster Salem/Diözese Konstanz; 4. ) E Eberbach, Zisterzienserkloster; entstanden im 12. Jahrhundert vermutlich im Kloster Rupertsberg. Mittlerweile verschollen, teilweise ediert von =

Roth;

5. ) G

Gent, UB, Ms 241; Auszüge, entstanden während des

=

im Kloster

(1163/73) Rupertsberg; München, BSB, clm 13075; entstanden während des

6. ) Mr

=

in Regensburg; 7. ) Mw München,

12. Jahrhunderts 12.

Jahrhunderts

BSB, clm 22213; entstanden noch im 12. Jahrhundert im Prämonstratenserstift Windberg; 8. ) B Brüssel, BR, Cod. 11568; entstanden im 3. Viertel des 12. Jahrhunderts nach ältesten Rupertsberger Vorlagen in der Prämonstratenserabtei Park bei -

=

Löwen (?); 9. ) D Dendermonde, Bibl. der Abtei St. Pieters en Paul, Cod. 9; Auszüge, entstanden vor dem 1. November 1176 im Kloster Rupertsberg; 10. ) R Wiesbaden, HLB, Hs 2 [Riesencodex] entstanden vor 1179 und 1182/87 im Kloster Rupertsberg; 11. ) C Bernkastel-Kues, Bibl. des St. Nikolaus-Hospitals, Cod. 63; entstanden im Jahre 1210 in der Benediktinerabtei Trier-St. Eucharius; 12. ) O Oxford, Merton College, Cod. 160 [L. 2. 9.]; entstanden im 13. Jahrhundert, Entstehungsort ungeklärt [möglicherweise England]. Der Text bringt wie der illuminierte Scivias und der Trierer Codex 722/277 4° die =

=

=

=

Der Scivias

77

Capitula-Überschriften nicht nur vor den Teilen I, II und III; die jeweils passende Uberschrift erscheint darüber hinaus auch vor jeder einzelnen Vision. Von daher ist an eine Abschrift des Rupertsberger illuminierten Scivias oder einer verlorengegangenen Zwischenstufe zu denken. 13. ) F Fulda, LB, Cod. B 6 a Q. 10 f.]; entstanden im Jahre 1331 im Benediktinerkloster Weingarten; =

14. ) K Berlin, StBPrK, Ms theol. lat. qu. 371; Auszug, entstanden während des 14. Jahrhunderts in der Kartause St. Barbara in Köln; 15. ) Hn Hannover, NLB, Ms XIII, 859; Auszüge, entstanden im Jahre 1419 =

=

auf dem

16. ) T

=

Rupertsberg als Kopie aus dem Riesencodex; Trier, StB, Hs 722/277 4°; entstanden 1487/89 in der

Kartause Beatus-

berg bei Koblenz. Der Trierer Codex bringt, wie der illuminierte Scivias und der Oxforder Codex, die Capitula-Überschriften nicht nur vor den Teilen I, II und III; die jeweils passende Überschrift erscheint darüber hinaus auch vor jeder einzelnen Vision. Von daher ist an eine Abschrift des Rupertsberger illuminierten Scivias bzw. einer verlorengegangenen Zwischenstufe zu denken. 17. ) m Mainz, StB, Hs I 330 [582]; entstanden zwischen 1520/40 in der Kartause Mainz als gekürzte und in Gebetsform gebrachte Abschrift der Editio princeps des Faber Stapulensis aus dem Jahre 1513. =

Versuchen wir, diesen Gesamtbestand nach

ergibt sich,

in

gen Textzeugen Anordnung der Texte, folgende Aufstellung: I. Die vollständigen Sa'w'ds-Absclrriften: 1. ) W [illuminierter Scivias; verschollen]; zu

trennen,

so

vollständigen und unvollständigrob entstehungsgeschichtlicher

=

2. ) V 3. ) H 4. ) E

=

= =

Vatikan, Bibl. Vat., Cod. Pal. lat. 311;

Cod. Sal. X, 16; Zisterzienserkloster (seit 1918

Heidelberg, UB,

Eberbach,

ediert

von

F. W. E.

Roth);

verschollen, jedoch teilweise

Brüssel, BR, Cod. 11568; Wiesbaden, HLB, Hs 2 [Riesencodex; Codex mit der Kette]; Bernkastel-Kues, Bibl. des St. Nikolaus-Hospitals, Cod. 63; Oxford, Merton College, Cod. 160 [L. 2. 9]; 9. ) Fulda, Hess. Landesbibl., Cod. B 6 a Q. 10 f.]. 10.) T Trier, StB, Hs. 722/277 4°. II: Die fragmentarischen Textzeugen des Scivias (ohne die spätere Exzerpt5. ) 6. ) 7. ) 8. )

B R C O

=

=

-

=

=

überlieferung):

1.)

G

=

Gent, UB, Ms.

241

(1163/73). Enthält den Liber divinorum operum; auf

f. 393r erscheint ein Teil Zeile 159-192).

aus

Scivias III, II

(Kap. 1,

Zeile 153-157;

Kap. 2-6,

Kapitel 2

78

Dendermonde, Bibl. der Abtei St. Pieters en Paul, Cod. 9 (vor 1.11.1176). Älteste Liederhandschrift mit einem beträchtlichen Teil von Hil-

2. ) D

=

Liedern sowie autornächster Textzeuge des Liber vitae meritorum. Die Teile der Symphonia (f. 153r-170v) wurden in der kritischen Edition des Scivias berücksichtigt, soweit sie Scivias Pars III, Visio 13 entnommen sind. 3. ) K Berlin, StBPrK, Ms theol. lat. qu. 371 (14. Jh.). Der Codex enthält auf f. 67v-68v einen Auszug mit dem Text von Scivias III, 10 (Exzerpte aus

degards =

Kap. 6 und 7).

Hannover, NLB, Cod. XIII 859 (anno 1419). Die Handschrift enthält auf f. 16r-18v ein Textfragment aus Scivias (Auszüge aus dem 1. Buch mit kurzer Übersicht zu Buch 2 und 3). 5. ) Mr München, BSB, clm 13075 (12. Jh.). Auf dem letzten Blatt (f. 112r) erscheint ein kurzer Auszug aus Scivias (Buch III, Visio 2, Kap. 2-6); dabei handelt es sich um den gleichen Text wie in Nr. 6. 6. ) Mw München, BSB, clm 22213 (12. Jh.). Auf dem letzten Blatt (f. 164r) erscheint ein kurzer Auszug aus Scivias (Buch III, Visio 2, Kap. 2-6); es ist dies der gleiche Text wie in Nr. 5. 7. ) m Mainz, StB, Hs I 330 [582] (anno 1520/40). Die Handschrift enthält auf f. 229r-293r ein längeres, z. T. bearbeitetes Textfragment des Scivias aus der Editio princeps des Faber Stapulensis von 1513. Nicht miteinbezogen in die Exzerptüberlieferung wurde die Handschrift clm 14048 der BSB München, die auf f. 152ra-b ein Summarium zu Buch 2, Cap. 2 des Scivias enthält. Hierbei handelt es sich nicht um eine Exzerptüberlieferung im strikten Sinne des Wortes. Eine Aufgliederung des Bestandes in Rupertsberger und nicht-Rupertsberger Handschriften führt zu folgendem Ergebnis: I. Rupertsberger Sdwks-Handschriften (vollständige und fragmentarische): 1. ) W Wiesbaden, HLB, Hs 1 [illuminierter Scivias; um 1165?, kurz nach

4. ) Hn

=

=

=

=

=

2. ) 3. ) 4. ) 5. ) 6. )

1179?]; Vatikan, Bibl. Vat., Cod. Pal. lat. 311 (12. Jahrhundert); Eberbach, verschollen (Teiledition Roth, 12. Jahrhundert);

V E R G D

=

=

[Riesencodex; vor und um 1179; 1182/87]; Gent, UB, (1163/73); Dendermonde, Bibl. der Abtei St. Pieters en Paul, Cod. 9 (vor 1. November 1176); 7. ) Hn Hannover, NLB, Cod. XIII 859 (anno 1419; möglicherweise Rupertsberger Vorlage [illuminierter Scivias o. ä.]); [8.) O Oxford, Merton College, Ms 160 (1. Hälfte 13. Jahrhundert)]; [9.) T Trier, StB, Hs 722/277 4° (anno 1478/89 Beatusberg Koblenz; direkte Vorlage: Bernkastel-Kues, Bibl. des St. Nikolaus-Hospitals, Cod. 63 und Wiesbaden, HLB,

=

Hs 2

Ms 241

=

=

=

=

=

damit indirekt Trier-St.

Eucharius/Rupertsberg)]. Rupertsberger Vorstufen erwiesen. Diese Vorstufen lassen auf eine auf dem Rupertsberg genommene Abschrift schließen.

Für die Nummern 7 bis 9 sind

Der Scivias

79

11. Nicht-Rupertsberger Scivias-Abschritten : 1. ) H = Heidelberg, UB, Cod. Sal. X, 16 (Zisterzienserkloster

Salem,

Jahrhundert); 2. ) B Brüssel, BR, Cod. 11568 (Prämonstratenserabtei Park bei Löwen; 3. Viertel 12. Jahrhundert); 3. ) Mr München, BSB, clm 13075 (Regensburg, 12. Jahrhundert) 4. ) Mw München, BSB, clm 22213 (Prämonstratenserkloster Windberg, 12. Jahrhundert); 5. ) C Bernkastel-Kues, Bibl. des St. Nikolaus-Hospitals, Cod. 63 (TrierSt. Eucharius, 1210); 6. ) F Fulda, LB, Cod. B 6 a (Benediktinerkloster Weingarten, 1331); 7. ) K Berlin, StBPrK, Ms theol. lat. qu. 371 (Kartause Köln St. Barbara, 14. Jahrhundert); 8. ) m Mainz, StB, Hs I 330 [582] (Kartause Mainz, 1520/40). 12.

=

=

=

=

=

=

=

Aufteilung des 12. Jahrhundert:

Eine

1. ) W 2. ) D

=

=

Bestandes nach Jahrhunderten

ergibt folgenden

Befund:

Wiesbaden, HLB, Hs 1 [illuminierter Scivias; Kloster Rupertsberg; Dendermonde, Bibl. der Abtei St. Pieters en Paul, Cod. 9 (Kloster

Rupertsberg);

3. ) V 4. ) R

Vatikan, Bibl. Vat., Cod. Pal. lat. 311 (Kloster Rupertsberg); Wiesbaden, HLB, Hs 2 [Riesencodex, Kloster Rupertsberg];

= =

5. ) G = Gent, UB, Ms 241 (Kloster Rupertsberg) 6. ) E Eberbach, verschollener Scivias (Teiled. Roth; Kloster Rupertsberg); 7. ) B = Brüssel, BR, Cod. 11568 (Kloster Rupertsberg); 8. ) H Heidelberg, UB, Cod. Sal. X, 16 (Zisterzienserkloster Salem); 9. ) Mr = München, BSB, clm 13075 (Regensburg); 10. ) Mw München, BSB, clm 22213 (Prämonstratenserstift Windberg). =

=

=

13. Jahrhundert: 1.) C = Bernkastel-Kues, Bibl. des St.

Nikolaus-Hospitals, Cod. 63 (TrierEucharius); Oxford, Merton College, Cod. 160 [L. 2. 9.] (Rupertsberger Filiation?). 14. Jahrhundert: 1. ) F Fulda, LB, Cod. B 6 a (Benediktinerkloster Weingarten); 2. ) K Berlin, StBPrK, Ms theol. lat. qu. 371 (Köln, Kartause St. Barbara). 15. Jahrhundert: 1. ) Hn Hannover, NLB, Cod. XIII 859 (Rupertsberg, Kopie aus dem Riesencodex); 2. ) T Trier, StB, Hs 722/277 4° (Kartause Beatusberg, Koblenz). St. 2. ) O

=

=

=

=

=

Kapitel 2

80

16. m

Jahrhundert: =

Mainz, StB,

Hs I 330

[582] (Mainz, Kartause).

Die Inventarisierung der Scivias-Textzeügcn nach diachronischen und diatopischen Gesichtspunkten führt zu dem Ergebnis, daß der Rupertsberg, und zwar jener des 12. Jahrhunderts, das produktive Zentrum der Herstellung von Textabschriften war. Dieser Befund gewinnt an Schärfe, wenn man sich die Entstehung und Verbreitung der heute noch vorhandenen Scroz^s-Abschriften vor Augen führt. Hier lassen sich mit Sicherheit insgesamt sieben Textzeugen als auf dem Rupertsberg entstanden nachweisen. Es sind dies die (vollständigen)

Abschriften Wiesbaden, Hs 1 [illuminierter Scivias]; Wiesbaden, Hs 2 [Riesencodex]; Cod. Pal. lat. 311 sowie der verschollene, von Roth teilweise edierte Eberbacher Scivias. Hinzu kommen die ebenfalls ins 12. Jahrhundert gehörenden (fragmentarischen) Textzeugen Ms Gent 241 und Cod. Dendermonde 9, die neben anderen Schriften Hildegards auch Auszüge aus dem Scivias enthalten, sowie die aus dem 15. Jahrhundert (anno 1419) stammende Handschrift Cod. XIII 859 der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover. Auch sie enthält Teile des Scivias, und zwar, wie zwei Kopistenvermerke belegen (f. 18r: „in eodem magno uolumine liber uitae meritorum"; f. 18v: „in eodem uolumine sequitur liber diuinorum operum"), aufgrund einer Abschrift des Riesencodex. Zu vermuten ist schließlich eine Entstehung der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Oxforder Handschrift auf der Grundlage einer Rupertsberger Vorlage. Für die Trierer Handschrift StB Hs 722/277 4° gilt, daß sie über Zwischenstufen nach Trier-St. Eucharius verweist. Daß zwischen den Skriptorien von St. Eucharius und dem Rupertsberg sehr enge Beziehungen bestanden, Beziehungen die bisweilen fast den Charakter einer Werkstattgemeinschaft annahmen, braucht in diesem Zusammenhang nur angedeutet zu werden. Sechs der noch erhaltenen Abschriften entstanden im 12., eine, nämlich die in Hannover liegende, im 15. Jahrhundert. Zu ergänzen wäre, daß auch Faber Stapulensis, wie unten näher ausgeführt wird, die Textgrundlage für seine Edition des Scivias (1513) auf dem Rupertsberg fand (Riesencodex). Allein zu Lebzeiten Hildegards bzw. bis zum Beginn des Kanonisationsverfahrens müssen also mindestens 17 vollständige (die 13 literarisch bezeugten sowie die Handschriften Wiesbaden Hs 1 und Hs 2; Bibl. Vat., Cod. Pal. lat. 311 und der verlorene Eberbacher Scivias) und zwei unvollständige Abschriften des Scivias (Gent Ms 241 und Dendermonde Cod. 9) auf dem Rupertsberg hergestellt worden sein.1 Hieraus lassen sich für eine Beurteilung der Überlieferungsgeschichte des Scivias zwei Schlüsse von fundamentaler Bedeutung ziehen:

1

Mengenproduktion von Handschriften muß, bei einem Umfang von 235 Foliounter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet werden. Die üblichen Berechnungen gehen davon aus, daß jedes Folio-Doppelblatt einer halben Schafshaut entspricht. Diese

blättern, auch

Der Scivias

81

1. ) Der Rupertsberg war ganz eindeutig die bestimmende Zentrale für die Vervielfältigung und Popularisierung von Hildegards erster Visionsschrift. Hildegard konnte ihr Hausskriptorium in souveräner Weise für die Verbreitung der eigenen Schriften nutzen. Die Verhältnisse erinnern fast an die Gegebenheiten einer weltlichen oder geistlichen Kanzlei, denen ja ebenfalls eigene Skriptorien zur Verfügung standen. 2. ) Das Gros der auf dem Rupertsberg entstandenen Abschriften des Scivias fällt in das 12. Jahrhundert. Dies wiederum bedeutet, daß die früheste Uberlieferung eine von der Autorin selbst inaugurierte und kontrollierte war. Neben dem klostereigenen Skriptorium nutzte Hildegard auch die Skriptorien nahestehender Abteien, zu denen sie persönliche Kontakte unterhielt. Ein Blick auf die zu Lebzeiten Hildegards bzw. auf ihre Veranlassung hin entstandenen SciyzÄS-Abschriften bestätigt diesen Befund nachhaltig. Auch hier wird man, zumindest für die Abschriften aus dem 12. Jahrhundert, von einer autorgesteuerten Überlieferung sprechen können. Konkret kommen zu den Rupertsberger Scràms-Abschriften zehn vollständige und fragmentarische Textzeugen des 12. bis 16. Jahrhunderts, die in Hildegard befreundeten Klöstern entstanden sind. Hierbei handelt es sich, in entstehungsgeschichtlicher Anordnung, um folgende Textzeugen : 1. ) H UB Heidelberg, Cod. Sal. X, 16 (vollst. Text des Scivias und Auszüge der Symphonia; entstanden im 12. Jahrhundert im Zisterzienserkloster Salem/Diözese Konstanz. Vorlage für Fulda, Cod. B 6 a, möglicherweise =

mit dem verschollenen Eberbacher Scivias)1; Brüssel, Cod. 11568 (vollst. Text des Scivias; nach ältesten Rupertsberger Vorlagen entstanden im 3. Viertel des 12. Jahrhunderts [um 1160?] in der Prämonstratenserabtei Park bei Löwen); 3. ) Mr München, BSB, clm 13075 (Auszüge aus Scivias, Buch III, Cap. 2, entstanden im 12. Jahrhundert in Regensburg, unbekanntes Kloster); 2-6; 4. ) Mw München, BSB, clm 22213 (Auszüge aus Scivias, Buch III, Cap. 2, 2-6; entstanden im 12. Jahrhundert im Prämonstratenserkloster Windberg); 5. ) C Bernkastel-Kues, Bibl. des St. Nikolaus-Hospitals, Cod. 63 (vollst. Text des Scivias und Auszüge aus der Symphonia; entstanden im Jahre 1210 in Trier-St. Eucharius); zusammen

2. ) B

BR

=

=

=

=

1

Vermutung äußern Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris im Vorbeihrer kritischen Edition des Scivias (Führkötter/Carlevaris 1978, S. XLIX): Demzufolge enthält der Codex B 6 a der Hess. Landesbibliothek Fulda [olim J. 10 fol.] auf f. lv ein Lobgedicht auf die Prophetin Hildegard. Auf f. 2v-3r Diese

richt

zu

erscheint ein Summarium des Scivias, das auch der Heidelberger Codex Sal. X, f6 enthält. Dieses Faktum sowie gemeinsame Lesarten bestätigen die Abhängigkeit. Da die Fuldaer Handschrift andererseits die große Omission des Heidelberger Textzeugen (II, 5, 1306-1330) nicht kennt, muß eine zweite Vorlage benutzt worden sein. Der verschollene Eberbacher Scivias käme hierfür gut in Betracht, da auch er, der Beschreibung Roths zufolge, das Summarium zum Scivias enthielt. Vgl. Roth f 918, S. 83.

Kapitel 2

82

College, Cod. Entstehungsort ungeklärt, 13. Jh.);

6. ) O

=

Oxford,

Merton

160

[L.

2.

9.] (vollst. Text des Scivias;

a (vollst. Text des Scivias und Auszüge aus der im Symphonia; entstanden Benediktinerkloster Weingarten im Jahre 1331. Vorlage waren der Heidelberger Codex Sal. X, 16 und der verschollene

7. ) F

=

LB

Fulda, Cod.

B 6

Eberbacher Scivias);

StBPrK Berlin, Ms theol. lat. qu. 371 (Auszüge aus Scivias, III, Visio 10 Ausz. aus Cap. 6 u. 7; entstanden in der Kartause St. Barbara Köln, 14. Jh.); 9. ) T = StB Trier, Hs 722/277 4° (enthält das Epistolarium, den Liber divinorum operum, den vollständigen Scivias sowie Auszüge aus der Symphonia; entstanden in der Kartause Beatusberg bei Koblenz, 1487/89. Vorlage war 8. ) K

=

=

10.)

der Codex Bernkastel-Kues 63); m

=

StB

Mainz,

Hs I 330

[582] (Sammelhandschrift mit mystischen Texten,

darin auf f. 229r-293r Auszüge u. Bearbeitungen [Umformung in Gebetsform] des Scivias nach der Editio princeps von 1513; entstanden in der

Kartause Mainz, 1520/40). Von diesen heute noch erhaltenen, nicht auf dem Rupertsberg entstandenen Abschriften des Scivias fallen vier ins 12., zwei ins 13., zwei ins 14. sowie je eine ins 15. bzw. 16. Jahrhundert. Die im 12. Jahrhundert entstandenen Abschriften beinhalten in zwei Exemplaren (UB Heidelberg, Cod. Sal. X, 16 sowie BR Brüssel Cod. 11568) den vollständigen Scivias-Text, in zwei Exemplaren (BSB München clm 13075 und BSB München clm 22213) identische Auszüge daraus (Scivias, Buch III, Cap. 2, 2-6). Die Abschriften des 13. Jahrhunderts bieten zwei vollständige Textfassungen (Bernkastel-Kues, Cod. 63 und Oxford, Merton College, Cod. 160). Für die Texte des 14. Jahrhunderts gilt, daß die Handschrift LB Fulda, Cod. B 6 a den vollständigen, die Handschrift StBPrK Berlin, Ms theol. lat. qu. 371 einen unvollständigen Text liefert. Die Kopie des 15. Jahrhunderts (Trier Hs 722/277 4°) ist komplett, jene des 16. Jahrhunderts (Mainz Hs I 330 [582]), die nach der Textvorlage der Editio princeps des Jahres 1513

entstanden ist, fragmentarisch. Die an den Rupertsberger Abschriften des Scivias gewonnenen Befunde, wonach die weitaus meisten Kopien in das 12. Jahrhundert zu datieren sind und es in der Frühphase der Textüberlieferung mehr vollständige als fragmentarische Abschriften gegeben hat, bestätigt sich auch bei den nicht auf dem Rupertsberg hergestellten Kopien. Nimmt man die Zahl der vollständigen Abschriften zum Maßstab, so besaß der Scivias ganz offensichtlich im 12. Jahrhundert die höchste Wertschätzung. Vom 13. bis ins 15. Jahrhundert setzte dann ein unaufhörlicher, an der Zahl der angefertigten Kopien abzulesender Rückgang der Überlieferungsdichte ein. Damit verbunden war die Tendenz, den Scivias nicht mehr komplett, sondern immer stärker in bestimmten Teilauszügen zu überliefern. Diese Tendenz kulminierte in der Exzerptüberlieferung des 14., 15. und 16. Jahrhunderts, die durch eine weitreichende Parzellierung des Textes gekenn-

Der Scivias

83

zeichnet ist. Auffällig bei der hier genannten Teil- Überlieferung des Scivias ist, daß offensichtlich mit großer Vorliebe aus dem dritten Teil des Textes, der sich unter anderem mit den apokalyptisch akzentuierten Visionen zum Ewigen Gericht befaßt, geschöpft wurde. Möglicherweise ist die Überlieferungsachse für diese Partien aber auch das Pentachronon Gebenos. Auch Gebeno hat das dritte Buch des Scivias (Visio 10 und 11) exzerpiert. Nur in einem einzigen Fall sind Auszüge aus den sechs Visionen von Buch I, das dem Mysterium des dreieinigen Gottes und seiner Schöpfung gewidmet ist, bezeugt. Dabei handelt es sich um die Handschrift NLB Hannover Cod. XIII 859. Dagegen bringt der Codex Gent 241 einen Auszug aus Scivias, Pars III, Visio 2, Cap. 4, Zeile 153157 und Cap. 2-5, Zeile 159-192 (nach der historisch-kritischen Edition). Die entsprechenden Capitula dieser Vision stehen unter dem Thematik: das kirchliche Heilsgebäude. Exzerpte aus der gleichen Visio enthalten die beiden Münchener Codices BSB clm 13075 und clm 22213. Sie beinhalten identische Textauszüge aus Pars III, Visio 2, Cap. 2/6 des Scivias. Möglicherweise ist daher diese Vision auch als separater Text überliefert worden, der dann in immer neue Handschriften Eingang fand. Die Capitula-Überschriften umschreiben den Inhalt der betreffenden Stücke sehr deutlich: „Qvod fides conivncta est timori domini et timor domini fidei" (P. III, Visio 2, Cap. 2); „Qvod fidèles per quattvor partes terrae svper fidem bona opera aedificant" (P. III, Visio 2, Cap. 3); „De qvattvor qvadris" (P. III, Visio 2, Cap. 4); „Qvod oportet hominem hvmiliter incedere et insidias diaboli sapienter fvgere" (P. III, Visio 2, Cap. 5); „De qvattvor angvlis aedificii qvid significent" (P. III, Visio 2, Cap. 6). Das durchgängige Thema ist also die soteriologische Qualität eines vom Glauben an Gott gesteuerten menschlichen Wohlverhaltens. Die Handschrift StBPrK Berlin, Ms theol. lat. qu. 371 enthält ein Exzerpt aus Pars III, Visio 10, Cap. 6/7 des Scivias. Diese Vision handelt über das Thema: der Menschensohn, wobei Kapitel 6 und 7 stark aszetisch-paränetischen Charakter besitzen und sich auf das Streben nach Heiligkeit in Welt und Kloster beziehen. Insgesamt deuten die hier namhaft gemachten Auszüge eine Tendenz der Rezeption des Scivias an, die von einer Schwerpunktsetzung auf dem ekklesiologischen und dem ethischen Bereich gekennzeichnet ist. Demgegenüber ist die Exzerptkompilation des Gebeno von Eberbach, die dem im 13. Jahrhundert einsetzenden Rückgang in der Entstehung und Überlieferung vollständiger (primärer) Hildegard-Texte entgegenwirkte, stark auf die apokalyptischen Bestandteile von Hildegards Werk hin ausgerichtet. Werfen wir nun noch einen kurzen Blick auf die Initiatoren, Träger und Adressaten der frühesten Serams-Überlieferung und betrachten wir, welche Strategien und Wege diese Überlieferung genommen hat. Hier ist an die bereits mehrfach gemachte Beobachtung anzuknüpfen, daß die früheste Überlieferung des Scivias (die ja gleichzeitig die intensivste ist) in einer sehr engen Verbindung zu Hildegard selbst steht. Wer aber waren die Empfänger der ältesten erhaltenen Textabschriften ?

Kapitel 2

84

Lassen wir die beiden für den Rupertsberger Eigenbedarf entstandenen Wiesbadener Handschriften (Hs 1 und Hs 2), d. h. den Riesencodex und den illuminierten Scivias, beiseite, so fällt auf, daß eine verhältnismäßig große Zahl früher Sd^MS-Abschriften für zisterziensische Klöster hergestellt wurde. Dies gilt vermutlich für den aus dem 12. Jahrhundert stammenden, auf dem Rupertsberg hergestellten Vatikanischen Codex Pal. lat. 311. Ein auf f. lr der Handschrift befindlicher, radierter Besitztumseintrag „Liber [uajllis see Mafriej" kann nach Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris auf ein nicht näher zu bestimmendes Zisterzienserkloster bezogen werden. Eine Hand des 13. Jahrhunderts, die den Vermerk „Quem si quis abstulerit anathema sit" angebracht hat, hat mit dieser Wendung zwar eine Sequenz zitiert, die sich in nahezu jeder mittelalterlichen Handschrift aus dem Bestand von Trier-St. Eucharius (St. Matthias) findet. Der dritte Provenienzvermerk „Imorid" würde, sofern er als Himmerod aufgelöst werden kann, allerdings wieder auf einen zisterziensischen Bestimmungsort hindeuten. Auch der Heidelberger Codex Sal. X, 16, der, wie ein entsprechender Provenienzvermerk auf f. 2r („B. Mariae in Salem") beweist, noch im H.Jahrhundert zum Bestand des Zisterzienserklosters Salem zählte, bezeugt die engen Verbindungen Hildegards zu den Zisterziensern. Bezüglich dieser großformatigen Handschrift (41,5 x 29 cm; Schriftraum 29 x 19,5 cm, Text zweispaltig zu 37/39 Zeilen) wird eine Entstehung in einem Zisterzienserskriptorium bzw. durch einen zisterziensischen Schreiber, der dem Zwiefaltener Hausstil nahestand, für wahrscheinlich gehalten. Führkötter/Carlevaris haben in diesem Zusammenhang auf die typische Zisterzienser-Interpunktion hingewiesen (Doppelhäkchen), die sich beispielsweise auf f. 6r (hier acht mal), auf f. 21rb und auf f. 31rb finde.1 Hierzu sind ein paar Bemerkungen anzufügen. Sinn und Zweck dieses Interpunktionssystems war es, den Vortrag von Texten, die bei der Lectio verwendet wurden, zu normieren. In der Regel betrafen solche Anweisungen liturgische und biblische Texte. Wenn sie hier in einem Werk Hildegards erscheinen, könnte dies ein Hinweis darauf sein, daß auch der Scivias zum Programm der zisterziensischen Lectio gehörte. Es ist weiter oben bereits angemerkt worden, daß Hildegard brieflich mit Abt Gero (Gottfried) von Salem in Verbindung stand und daß Gero berichtete, er habe Hildegards erstes Visionswerk gelesen. Immerhin wissen wir, daß dieser Sachverhalt auf den Liber vitae meritorum zutraf. Er wurde, wie weiter oben näher ausgeführt wird, sowohl in der Benediktinerabtei Gembloux als auch in der Zisterzienserabtei Villers (Brabant) im Rahmen der monastischen Lectio vorgelesen. Die Frage nach dem genauen Entstehungszeitpunkt des Salemer Scivias (Heidelberg, UB, Cod. Sal. X, 16) läßt sich nicht definitiv beantworten. Wilfried Werner hat aber die Ansicht geäußert, daß der Band, zumindest von sehen der Schrift her geurteilt, 1

Auf

spezifische

Besonderheiten des zisterziensischen Interpunktionssystems geht Vgl. hierzu auch Werner 1994. Parkes 1992. Liebers

Palmer 1998, S. 60-62, ein. 1992, S. 216-218.

-

-

Der Scivias

85

12. Jahrhundert" angehöre und sogar noch in die Lebzeiten Hildeverwiesen werden könne.1 Der 200 Blatt umfassende Text stammt von gards einer einzigen Hand. Die Schrift ist, wie Wilfried Werner urteilt, eine karolingische Minuskel, noch ohne gotische Anklänge. Es fehlen z. B. jegliche Bre-

„noch dem

chungen oder Bogenligaturen, die auf gotischen Einfluß hindeuten könnten. Allerdings führt eine Untersuchung der Hand des Rubrikators zu einem späteren Ansatz. Hier lassen sich Tendenzen zur Brechung sowie zum Aneinanderschieben benachbarter Bögen nicht übersehen. Der Bogen des a ist zum Teil scharfeckig als Trapez ausgebildet. Auch die aus Majuskeln des Unzialalpha-

betes zusammengesetzten roten, grünen und blauen Schriftzeilen weisen mit ihrem Sägeblattfleuronee auf das späteste 12. Jahrhundert hin. Werner geht daher davon aus, daß der Text des Salemer Scivias von einem älteren, sehr konservativen Schreiber stammt, während die Rubriken von einer jüngeren Hand angefertigt wurden. In eine nochmals spätere Zeit weisen die Initialen. Sie erinnern nach Werner an den Salemer Stil der dreißiger bzw. vierziger Jahre des 13. Jahrhunderts. Ein ähnlicher Befund gilt für die Miniaturen, auf die weiter unten näher eingegangen wird. Eine dritte, zisterziensische Abschrift des Scivias stellt der heute verschollene, von Roth in Auszügen edierte Eberbacher Scivias dar. Auch dieser Codex, der durch gemeinsame Varianten auf eine enge Verwandtschaft zum Salemer Scivias schließen läßt, entstand im 12. Jahrhundert, vermutlich auf dem Rupertsberg. Wir wissen, daß Hildegard mit den Äbten sowie mit dem Konvent von Kloster Eberbach in Briefwechsel stand. Die Vita Hildegardis bezeugt sogar einen persönlichen Besuch Hildegards in Eberbach. Vermutlich hat es sich bei dem Eberbacher Scivias um ein Geschenk Hildegards an Abt Eberhard von Eberbach gehandelt. Eberhard, der mit Erzbischof Konrad von Mainz gegen Friedrich Barbarossa auf Seiten Papst Paschalis III. stand, mußte im Jahre 1166 nach Rom fliehen. Dort ließ er sich in der Zisterzienserabtei St. Anastasius nieder. Seine oben erwähnte Bitte an Hildegard, das von ihr verfaßte Buch „für sie" (die Eberbacher Mönche ?) abschreiben zu lassen, könnte, falls die Kopie nicht nach Rom gegangen wäre, in dem Eberbacher Scivias seine Realisierung gefunden haben. In der Tat weist ein aus dem 16. Jahrhundert stammender Besitzvermerk darauf hin, daß die Handschrift lange Zeit mit Eberbach in Verbindung gebracht wurde: „Ad usum abbatis Ebirbacensis" (f. lr).2 Bliebe ein Hinweis darauf nachzureichen, daß auch die Handschrift BSB München clm 324, die eine Kopie des Pentachronons enthält, in einem Zisterzienserkloster hergestellt wurde. Sie entstand vermutlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Kloster Kaisheim bei Donauwörth, mit dessen Abt Konrad Hildegard in Korrespondenz stand. Fragt man nach den Gründen für die offensichtliche Wertschätzung Hildegards in zisterziensischen Kreisen, so sind verschiedene Punkte anzusprechen. 1 2

Werner 1994, S. 330. Roth 1888. Roth 1918, hier S. 84.

Vgl.

Kapitel 2

86

Zum einen lief die Bestätigung von Hildegards visionärer Fähigkeit in ganz maßgeblicher Weise über den bedeutendsten Zisterzienserabt des 12. Jahrhunderts, Bernhard von Clairvaux. Zum anderen bestanden persönliche Beziehungen zwischen Hildegard und einer anderen heiliggesprochenen Gestalt des 12. Jahrhunderts, die ähnlich wie Hildegard selbst auch im Zisterzienserorden eine starke Beachtung fand: der Benediktinerin Elisabeth von Schönau (1129-1164). In vielen Sammelhandschriften des 12. bis 15. Jahrhunderts (und zwar nicht nur in solchen zisterziensischer Provenienz) wird Hildegard immer wieder mit Schriften Elisabeths von Schönau kombiniert ein deutliches Zeichen für eine feste überlieferungsgeschichtliche Symbiose beider Visionärinnen. Als Belege seien genannt: Dendermonde, Cod. 9 (Rupertsberg, vor 1176); Mün-

-

-

chen, BSB, clm 22253 (Prämonstratenserstift Windberg, 12. Jh.); Paris, BN, Cod. Nouv. acq. lat. 760 (Zisterzienserkloster Himmerod, 12./13 Jh.); München, BSB, clm 324 [536] (Zisterzienserkloster Kaisheim, 2. Viertel 13. Jh.); Gießen, ÜB, Hs 726 (Fraterherrenstift St. Markus in Butzbach [?], ca. 1450); Köln, Stadtarchiv, GB 4° 214 (Regularkanoniker Kreuzherrenbrüder-Kloster, ca. 1450); Trier, StB, Hs 718/273 4° (Trier-St. Eucharius, 15. Jh.); Hess. Landesbibliothek Fulda, Cod. G 5 [olim G 5 Cod. Aa 96] (Blaubeuren, ca. 1490); schließ-

lich gilt die Verbindung von Texten Hildegards und Elisabeths auch für den Erstdruck des Scivias, den Faber Stapulensis 1513 in Paris herausgab. Zum dritten bestanden intensive Kontakte zwischen der belgischen Zisterzienserabtei Villers und Hildegard. Zum vierten wurde Hildegards Werk von dem Zisterzienser Gebeno von Eberbach kompiliert. Mit dieser Kompilation schuf Gebeno eine wirkungsgeschichtlich außerordentlich bedeutende Überlieferungsachse, die mit Sicherheit in den ordenseigenen, zisterziensischen Kreisen eine besonders intensive Beachtung fand.

Neben den Zisterziensern bekundeten offenbar vor allem die Kartäuser ein nachhaltiges, allerdings sehr viel später einsetzendes Interesse an Hildegards erster Visionsschrift. Dies bezeugen drei Abschriften des Scivias, die in verschiedenen Kartäuserkonventen angefertigt wurden. Es sind dies: die im 14. Jahrhundert entstandene, in der Kartause St. Barbara in Köln hergestellte Handschrift StBPrK Berlin, Ms theol. lat. qu. 371; die im Jahre 1487 von dem Kartäusermönch Ewald Molner niedergeschriebene Handschrift StB Trier, Hs 722/277 4° sowie die 1520/40 in der Kartause Mainz entstandene Abschrift der Saw^s-Erstausgabe aus dem Jahre 1513 (StB Mainz, Hs I 330 [582]).1 Die Berliner Handschrift bringt lediglich einen Auszug aus Pars II, Visio 10, Cap. 6/7. Sie ist eine der zahllosen monastisch-aszetischen Sammelhandschriften, die für die klösterlichen Bibliotheksbestände des ausgehenden Mittelalters und der 1

Rezeption Hildegards bei den Kartäusern vgl. Aris 1999. Zur Kartause Köln Kölner Kartause, Aufsatzband (hier besonders der Beitrag von Achten 1991, ohne Erwähnung Hildegards bzw. der Berliner Hs lat. qu. 371). Kölner Kartause, Führer zur Ausstellung, insbesondere S. 146-151.

Zur

vgl.

-

-

Der Scivias

87

beginnenden Neuzeit so typisch sind. Den auf f. 76v-68r begegnenden Hildegard-Texten wird man daher keine übermäßige Bedeutung im Hinblick auf ein tiefergehendes Interesse an Hildegard beimessen dürfen. Ernstzunehmender als Zeugnis für die Uberlieferungsgeschichte des Scivias

in Kartäuserkreisen ist die Trierer Handschrift Hs 722/277 4°. Sie basiert auf dem Text der im Jahre 1210 abgeschlossenen Handschrift Bernkastel-Kues, Cod. 63. Der Kueser Codex wurde, wie der Schreiberkolophon auf f. 140ra erkennen läßt, in Trier-St. Eucharius geschrieben. Schreiber war ein Priestermönch mit Namen Otto. Der äußerst sorgfältig von einer einzigen Hand (Ausnahme f. 9va-vb) stammende Text führt fast bis in die Zeit der engen Verbindungen zwischen den Skriptorien Rupertsberg und St. Eucharius zurück. Die Trierer Handschrift Hs 722/277 4° beinhaltet neben dem Scivias (f. 294r-518v) noch zwei weitere Werke Hildegards: das Epistolarium (f. l-120r) sowie den Liber divinorum operum (f. 121r-293r). Sie bildet damit ein beeindruckendes Beispiel für die Rezeption Hildegards innerhalb monastischer Reformkreise des 15.

Jahrhunderts.

Die Entstehungsgeschichte der Mainzer Handschrift I 330 [582] liegt immer noch im dunkeln. Sicher ist dem Ausweis des Wasserzeichens zufolge lediglich, daß sie nach Erscheinen der Editio princeps des Scivias im Jahre 1513 entstanden ist und daß sich die Editio princeps und zwar zum Zeitpunkt der Entstehung der Abschrift ebenfalls im Bestand der Mainzer Kartäuserbibliothek -

befand. Möglicherweise handelt es sich bei dieser Abschrift um das Produkt einer klösterlichen Conversatio, d. h. einer asketischen Übung, die das Abschreiben geeigneter Texte ja ausdrücklich mit vorsah. Auf diesen Sachverhalt deutet nicht zuletzt die Tatsache hin, daß sich im Bestand der Mainzer Kartause eine aus dem Jahre 1501 stammende Handschrift der Trithemius-Schrift De laude scriptorum befand.1 Dieses f492 entstandene und 1494 von Peter Friedberg in Mainz gedruckte Werk des Sponheimer Abtes kann geradezu als Programmschrift der monastischen Schreibkultur des ausgehenden Mittelalters gelten. Es versucht, die Praxis des Schreibens und Abschreibens von Texten in einer Zeit zu verteidigen, als der Buchdruck seinen Siegeszug längst angetreten hatte. Die Tatsache, daß dieses Werk, und noch dazu in einem handschriftlichen Exemplar, in der Mainzer Kartäuserbibliothek stand, wird kein Zufall sein. Man -

1

Die Handschrift liegt heute unter der Signatur Cod. II 70 im Stadtarchiv Mainz. Dabei handelt es sich um einen Papiercodex, der insgesamt sieben theologische Schriften verschiedener Verfasser enthält. Von Trithemius erscheinen drei Werke : De proprietate monachorum (f. lr-14r), De vanitate et misera humanae monachorum (f. 14r-34r) sowie De laude scriptorum (f. 79r-97r). Zur Datierung der Handschrift liefert der Kolophon (f. t05r) den entscheidenden Hinweis: „Completus est liber presens per fratrem Nicolaum Gerano anno virginei partus Mccccci ipso die decollationis sancti Johannis baptiste." Der Trithemius-Text De laude scriptorum liegt in einer kommentierten, deutsch-lateinischen Ausgabe vor: Trithemius De laude. Vgl. hierzu Embach 2000a.

Kapitel 2

88

wird hierin den Ausdruck eines bewußten Festhaltens an der mittelalterlichen Schreibkultur monastischer Prägung erblicken dürfen einer Schreibkultur, die durch die Erfindung des Buchdrucks hochgradig gefährdet erschien. Das Interesse der Kartäuser an Hildegard insgesamt könnte darin seine Erklärung finden, daß ein nicht wissenschaftlich ausgerichteter Orden besonderen Gefallen fand an einer nicht wissenschaftlich akzentuierten Theologie, wie Hildegard sie vertrat. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, daß die Mainzer Handschrift den Text des Scivias nicht einfach kopiert. Der anonym bleibende Schreiber wählt bestimmte Textpartien quer durch den gesamten Scivias nach recht subjektiv anmutenden Kriterien aus. Außerdem formuliert er Hildegards Vorlagen im Sinne von Gebetstexten um, macht aus dem Scivias auf diese Weise also eine Art -

Hildegard-Gebetbuch. Daß die früheste Verbreitung von Hildegards Schriften hier sichtbar gemacht am Scivias engstens an persönliche Beziehungen zwischen der berühmten Äbtissin und den jeweiligen Interessenten gebunden war, zeigt exemplarisch -

-

die Handschrift BR Brüssel Cod. 11568. Diese Handschrift enthält den kompletten Text des Scivias. Sie wird in die Zeit um 1160 oder 3. Viertel des 12. Jh. datiert, repräsentiert also eine vergleichsweise frühe Überlieferungsstufe. Ihre Entstehung vermutet man in der Prämonstratenserabtei Park bei Löwen. Mit Abt Philipp, dem zweiten Abt von Park, stand Hildegard in Korrespondenz. Wibert von Gembloux erwähnt einen Parker Abt dieses Namens und bezeichnet ihn in einem Schreiben an den Villarenser Mönch Radulf als „familiärem Hildegardis".' Philipp wiederum ermöglichte im Jahre 1177 Wiberts dritte Reise nach Bingen. Als die Bollandisten im Jahre 1641 ihre Acta über die hl. Hildegard zusammenstellten, erhielten sie vom damaligen Vorsteher der Abtei, Johannes Masius, insgesamt vier Schreiben aus dem Briefwechsel Hildegards mit Philipp. Masius vermerkt, Philipp sei nicht nur ein sehr frommer, sondern auch ein sehr gelehrter Abt gewesen, der viele Bücher für die Klosterbibliothek habe abschreiben lassen, darunter auch die Visiones S. Hildegardis. Diese Visionen sind nun nichts anderes als die Gesichte des Scivias, die von einem Parker Mönch nach ältesten Rupertsberger Vorlagen kopiert wurden. Die Handschrift gelangte nach Aufhebung der Abtei Park in die Königliche Bibliothek Brüssel. Die von Masius an die Bollandisten übermittelten Briefe haben sich auch in einer anderen Parker Handschrift des 12. Jahrhunderts, dem heute in London liegenden Codex Add. 17292 (f. 152rv), erhalten. Aus Philipps Schreiben spricht eine uneingeschränkte Bewunderung für Hildegard, wie man sie aus vielen zeitgenössischen Verlautbarungen kennt. Es kommt hinzu, daß Abt Philipp Hildegard persönlich auf dem Rupertsberg besucht hat: Huius rei testis est labor itineris quem assumpsi, speculum uidelicet illuminate mentis tue, uidere et 1

ut

uenerabilem uultum tuum, loqui ore ad os possem.

tecum

Guibert à Raoul, moine de Villers, in Guibertus Epistolae, Ep. XXVI, hier S. 278 [= Ep. Guibertus Radulfo Villariensi, in Analecta, hier S. 578],

Der Scivias

89

gratias, quam quesiui, quam diu multum optaueram, presentie tue dulcedinem promerui, et collocutionis tue consortium indigno mihi non negasti.1 Deo

Auch nach

Regensburg,

wo

in einem unbekannten Kloster die

aus

dem

12. Jahrhundert stammende Handschrift BSB München, clm 13075 mit dem Sciwäs-Fragment aus Pars III, Visio 2, Cap. 2-6 entstand, unterhielt Hildegard

briefliche Kontakte. Ziehen wir ein kurzes Zwischenresümee aus den bisherigen Darlegungen, so verdient die Tatsache hervorgehoben zu werden, daß die älteste Überlieferung des Scivias eingebettet war in eine Vielzahl persönlicher Kontakte Hildegards zu Kreisen, die ein virulentes Interesse bekundeten, Schriften aus ihrer Feder zu erhalten. Die autornahe literarische Rezeption des Scivias (und in dessen Gefolge auch anderer Hildegard-Texte) war in der Regel vorbereitet und begleitet durch die persönliche Bekanntschaft und Wertschätzung Hildegards in den

jeweiligen Rezipientenkreisen. 2.3 Der Illuminierte Scivias

Den Abschluß unserer Darlegungen zur Überlieferungsgeschichte des Scivias bilden einige Bemerkungen zum Verhältnis von Text- und Bildüberlieferung des sogenannten illuminierten Scivias. Diese Bemerkungen können nicht den Anspruch erheben, neue Forschungsergebnisse auszubreiten. Hierzu ist die Materie zu stark in den mir nicht vertrauten Bereich der kunsthistorischen Forschung eingebunden. So soll an dieser Stelle lediglich der Status quo der Diskussion dargestellt und die Problematik so weit als möglich pointiert werden. Adelgundes Führkötter und Angela Carlevaris haben ihrer im Jahre 1978 erschienenen kritischen Edition des Scivias die seit 1945 verschollene Handschrift 1 der Hessischen Landesbibliothek Wiesbaden zugrundegelegt. Sie schöpften Text und Bild aus einer im Jahre 1927 hergestellten Fotografie bzw. aus einem zwischen 1927/33 entstandenen, handgefertigten Pergamentfaksimile des Originals. Der illuminierte Scivias, wie der Codex genannt wird, geriet unter den noch vorhandenen Scivias-Texten dadurch in die Position einer Leithandschrift. Das Original der Wiesbadener Handschrift war einer aus dem Jahre 1877 stammenden, auf Autopsie beruhenden Beschreibung Antonius Van der Lindes zufolge mit einem vermutlich aus dem 16. Jahrhundert stammenden Einband versehen. An der Innenseite des Einbanddeckels befand sich ein Besitzeintrag, den Louis Baillet in das 13. Jahrhundert datierte. Demnach gehörte der Codex zu dieser Zeit zum Bestand der Bibliothek des Klosters Rupertsberg: „LIBER. SCI. RVPERTI. APUT. BINGA[M]V Noch im Jahre 1554 bezeugte Georg Witzel d. Ä. in seinem Chorus Sanctorum Omnium, daß der Codex sich auf 1 2

Philippus

ad

Hildegardem,

Baillet 1911, S. 50.

in

Epistolarium II, Ep. CLXXIXr, S. 408.

Kapitel 2

90

dem Rupertsberg befand.1 Die Bollandisten Papebroch und Henschen hingegen nahmen bei einem Besuch, den sie Kloster Eibingen im Jahre 1660 abstatteten, nur den Riesencodex wahr. Erst das Compendium des Eibinger Klosterpropstes Edmund Watzelhahn (1731-1768) listete auch den illuminierten Scivias wieder auf: „Es ist annoch ein buch liber Scivias genannt vorhanden, der h. Hildegardis mit figuren oder bildern in pergament."2 Dieses Zeugnis dokumentiert die Verbringung des Codex vom Rupertsberg nach Eibingen, die infolge der Zerstörung von Kloster Rupertsberg durch die Schweden im Jahre 1632 notwendig wurde. Bedingt durch die Säkularisation geriet die Handschrift zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Besitz der ehemaligen Zentralen Regierungsbibliothek Wiesbaden, heute Hessische Landesbibliothek. Bekannt ist eine beiläufige Erwähnung des illuminierten Scivias durch Goethe, der die Handschrift in Wiesbaden sah. In seiner Abhandlung Kunst und Alterthum am Rhein und Main schreibt Goethe: „Ein altes Manuscript, die Visionen der heiligen Hildegard enthaltend, ist merkwürdig."3 Von 1940 bis 1945 in Dresden aufbewahrt, ist der wertvolle Codex seit Ende des Zweiten Weltkrieges verschollen. Der zweispaltig angeordnete, insgesamt 235 Pergamentblätter umfassende Text des illuminierten Scivias ist mit einer Blattgröße von 32,1x23,1 cm (Schriftspiegel: 24,3x17,5 cm) deutlich kleinerformatig gestaltet als jener des Riesencodex. Von hier aus scheidet eine produktionstechnische Verbindung zum Riesencodex etwa im Sinne einer direkten Schwester- oder Parallelhandschrift aus. Auch aufgrund der reichhaltigen Illuminationen ist dies nicht gut denkbar. Die Lagenordnung der Handschrift ist sehr einheitlich. Der Codex besteht aus 29 Lagen, von denen 27 Quaternionen sind. Lediglich die Lage 9 besitzt 9 Blatt, und die Lage 11 besteht aus 10 Blatt. Sämtliche Lagen sind (mit Ausnahme der Lagen 20, 26 und 29) beziffert. Die Schrift des Textes ist sehr sorgfältig. Insgesamt lassen sich drei beteiligte Hände unterscheiden, die alle zur Rupertsberger Schreibstube gehörten. Hinzu kommen verschiedene Rubrikatoren und Korrektoren. Die Händescheidung und der streng organisierte Fertigungsprozeß gibt den Codex als typisches Werkstattprodukt des Rupertsberger Skriptoriums zu erkennen. Hand 1, der Hauptschreiber, setzte auf f. 58vb ein und schrieb, abgesehen von einigen Seiten Unterbrechung, bis zum Schluß auf f. 234v. Dieser Schreiber ist identisch mit Hand A der ältesten Rupertsberger Güteraufzeichnungen sowie des ältesten Rupertsberger Totenbuches, eine Tatsache, die für die Datierung und textkritische Bewertung der Handschrift von großer Bedeutung ist.4 Beide Texte, das Güterverzeichnis und der Nekrolog, sind nur noch als Fragmente erhalten. Die Güteraufzeichnung umfaßt ein Doppelblatt und ein Einzelblatt, der Nekrolog zwei Doppelblätter und ein Einzel-

1 2 3

4

-

Witzel Chorus, S. 290: „Im and'n grossen Buch stehn eitel Gesicht und Offenbarung, und dero sehr viel, auch gemalete Figuren, die den Gesichten antworten." Watzelhahn; hier zitiert nach Schrader/Führkötter 1956, S. 43. Goethe 1902, S. 102. Die Originalurkunden liegen im Staatsarchiv Wiesbaden, 23 II, Nr. 7.

Der Scivias

91

blatt. Marianna Schräder und Adelgundis Führkötter, deren Argumentation ich mich im folgenden anschließe, haben auf die Querverbindungen zwischen diesen beiden Dokumenten und den frühesten Textzeugen der Schriften Hildegards mit großer Umsicht und beeindruckender Sachkenntnis aufmerksam gemacht.1 Wenn man für den Umzug Hildegards auf den Rupertsberg das Jahr 1150 veranschlagt, so markiert dieser Zeitpunkt theoretisch auch den Beginn der Einträge am Rupertsberger Güterverzeichnis. Allerdings stammen die ältesten tatsächlich überlieferten Schriftdokumente zum Besitz von Kloster Rupertsberg erst aus dem Jahre 1158. Genannt sei eine innerhalb des Güterverzeichnisses erscheinende Abschrift einer Urkunde vom 22. Mai 1158, in der der Mainzer Erzbischof Arnold die Eigentumsrechte an den Rupertsberger Klostergütern bestätigt.2 Seit diesem Zeitpunkt ist die gleiche Hand A nachzuweisen, die auch im illuminierten Scivias tätig war. Dennoch ist die Serams-Handschrift in ihrer Gesamtausstattung nicht so alt wie die Güteraufzeichnungen. Der illuminierte Scivias wurde, was den Zeitpunkt seiner Entstehung anbetrifft, recht unterschiedlich beurteilt. Van der Linde ging in seiner auf Autopsie beruhenden Beschreibung der Handschrift aus dem Jahre 1877 noch von einer Entstehung „warscheinlich [!] aus dem ende des f 2. Jarhunderts [!]" aus.3 Aufgrund zahlreicher im Text vorhandener Rasuren und Verbesserungen postulierte er darüber hinaus das Vorhandensein einer älteren Vorlage. Diese Vermutung hat einiges für sich. Zum einen ist es kaum vorstellbar, daß eine so perfekt komponierte, aus Bild- und Textelementen kunstvoll zusammengesetzte Handschrift direkt ins Reine geschrieben worden wäre. Auch die rubrizierten, in den Anfangsbuchstaben vergoldeten Capitula-Überschriften weisen, ebenso wie die insgesamt 27 großen Zierinitialen, auf eine bereits höher entwickelte Bearbeitungsstufe hin. Zum anderen lag gerade der Scivias seit 1151 abgeschlossen vor und wurde, wie Hildegards Briefwechsel mit Erzbischof Arnold von Köln exemplarisch belegt, bereits seit den fünfziger Jahren des 12. Jahrhunderts ver-

vielfältigt. In jüngster

Zeit ist eine intensive Diskussion darüber entstanden, ob der illuminierte Scivias, wie früher angenommen, tatsächlich schon um 1165 entstanden, oder ob er jüngeren Datums ist. Insbesondere Lieselotte SaurmaJeltsch hat durch umfassende Untersuchungen am Bildmaterial der Handschrift die Annahme erhärten wollen, daß zumindest die Miniaturen erst nach Hildegards Tod, d. h. nach dem 17. September 1179, entstanden sind.4 Ein solcher 1 2

3 4

Vgl. hierzu Schrader/Führkötter 1956, S. 27-30. Das Original der Urkunde liegt im Bestand des Landeshauptarchivs Koblenz,

Abt. 164, Nr. 1. Eine Edition findet sich in Urkundenbuch Coblenz/Trier, II, S. 31, Nr. 46. Der Mainzer Erzbischof Arnold bestätigt dem Kloster darin die Vergabungen des 1156 verstorbenen Hermann von Stahleck und seiner Gattin Gertrud von Bingen. Des weiteren sind verzeichnet Schenkungen des Grafen Odalricus von Are in Bermersheim sowie einer gewissen Wendela in Weitersheim. Van der Linde 1877, S. 22-28; hier S. 22. Saurma-Jeltsch 1998, insbesondere S. 23f.

Kapitel 2

92

Befund könnte, sollte er zutreffend sein, erklären helfen, weshalb die Wirkungsgeschichte der Illustrationen des illuminierten Scivias so gering war. Die Bilder würden in diesem Fall nicht den gleichen Nimbus der Inspiration durch Hildegard selbst besitzen wie der Text. Sie stünden damit auf einer niedrigeren auktorialen Stufe. Dennoch stößt ein solcher Erklärungsversuch auf eine Reihe schwerwiegender Bedenken. Diese Bedenken ergeben sich vor allem aus der Frage, ob es vorstellbar ist, daß diese Handschrift in einem mehrjährigen Prozeß entstanden ist, bei dem zuerst der Text und dann die Bilder eingetragen wurden. Das äußerst komplizierte Layout des Textes mit seinen vielen Unregelmäßigkeiten läßt eine solche Annahme nur schwer nachvollziehbar erscheinen. Auf der anderen Seite kennen wir aus dem Rupertsberger Skriptorium keine anderen Miniaturen, die denen des illuminierten Scivias zur Seite gestellt werden könnten. Wo sind also diese Miniaturen hergestellt worden ? Muß man einen Wandermönch supponieren, der eine Zeitlang auf dem Rupertsberg gearbeitet hat? Ist der Codex selbst in ein anderes Skriptorium gewandert, um dort illuminiert zu werden? All diese Fragen, die zwischen Kodikologie und Kunstgeschichte derzeit noch sehr konträr debattiert werden, können hier nur angeschnitten werden. Immerhin aber ist es befremdlich, daß sich aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit keine einzige vollständige Kopie der Handschrift findet, die die Miniaturen miteinbezöge. Eine wenn auch freie und nur auf vier Miniaturen beschränkte Wirkung haben die Scivias-Bilder der illuminierten Fassung erst in dem um 1418/19 entstandenen Adamas colluctancium aquilarum (Vat. Pal. lat. 412) des Winand von Steeg entfaltet. Wir werden im Zusammenhang unserer Ausführungen zur literarisch-künstlerischen Wirkungsgeschichte von Hildegards Schriften näher auf diesen Textzeugen eingehen. Während der heutige Leser Hildegards gerade durch die fast expressionistisch intensiv wirkenden Bilder angesprochen wird, besaßen diese für den mittelalterlichen Leser offensichtlich eine weitaus geringere Bedeutung. Eine Aussage, die möglicherweise sogar auf Hildegard selbst zutrifft. Sucht man nach Spuren einer positiven Bewertung der Bildüberlieferung im Sinne einer künstlerisch ausgestalteten pictura bei Hildegard, so ist die Ausbeute gleich null. Im Gegenteil : Die Eingangsminiatur des Scivias auf f. lr, der man hier eine programmatische Stellung zubilligen möchte, weist in eine ganz andere Richtung. Sie zeigt Hildegard beim Schreiben, nicht beim Malen. Ihr Wachstäfelchen reicht sie an einen Schreiber, nicht an einen Maler weiter. Man kann hieraus auf eine grundsätzliche Höherbewertung der scriptura gegenüber der pictura bei Hildegard schließen, auch wenn der visionäre Prozeß selbst als ein Empfangen von Bildern verstanden werden muß, von Bildern allerdings, die sogleich in Text verwandelt wurden. Was den Produktionsprozeß des illuminierten Scivias anbetrifft, so muß daher von einem zweistufigen Verfahren ausgegangen werden: erst Text, dann Bild. Eine solche arbeitsteilige Herstellungsweise beschreibt eine berühmte Miniatur aus einer um 1140 entstandenen Handschrift von Augustinus De civitate Dei (Prag, Metropolitetm Kapitoly, Ms A XXI, f. 133r): Während der Schreiber Hildebert für die Texterfassung zuständig ist, kümmert sich der Maler Ewer-

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Der Scivias

winus um die Bilddarstellung.1 Hinsichtlich der scriptura entfaltet die Eingangspassage der Protestificatio zum Scivias sogar eine regelrechte Theologie des Schreibens, die in ganz unzweideutiger Weise an entsprechende Passagen aus der Apokalypse anknüpft. Bei Hildegard spricht die visionäre Stimme: „O homo fragilis, die et scribe quae uides et audis".2 Bei Johannes spricht die Posaunenstimme: „Quod vides, scribe in libro" und „Scribe ergo quae vidisti, et quae sunt, et quae oportet fieri post haec".3 Man wird in dieser auffallenden Ähnlich...

keit der Ausdrucksweise den Versuch Hildegards erblicken dürfen, sich an das typologische Autor- und Verkündigungsmodell der Apokalypse anzuschließen. Dieses wiederum bediente sich rein sprachlicher und nicht auch bildlicher Mittel. Die Illustrationszyklen zur Apokalypse, wie sie in illuminierten Handschriften, Blockbüchern, frühen Drucken und Stichen (Dürer) des Mittelalters und der frühen Neuzeit so häufig erscheinen, konnten sich zur Rechtfertigung ihres Verfahrens jedenfalls nicht auf die Apokalypse selbst berufen. Breiter angelegte Untersuchungen zum Verhältnis von Text und Bild in visionären Schriften müßten ermitteln helfen, in welchem genetischen Zusammenhang scriptura und in der Mehrheit der pictura hier stehen. Insbesondere wäre zu prüfen, ob nicht Phase der Wirkungsgedie in bereits ein Fälle entsprechendes Bildprogramm schichte des Textes gehört. Sollte dies zutreffen, so wäre der Ikonoklasmus der ältesten Hildegard-Texte als gattungstypologisches Moment zu begreifen. Daß es hierzu auf der anderen Seite allerdings auch Gegenbeispiele gibt, zeigt das im chronologisch, geographisch und wirkungsgeschichtlich betrachtet unmittelbaren Umfeld Hildegards entstandene Speculum virginum. Diese um 1140 im mittelrheinischen Raum entstandene monastische Reformschrift für weibliche Ordensmitglieder besitzt einen Illustrationszyklus von 12 Abbildungen und ein Autorbild. Jutta Seyfarth, die Herausgeberin der kritischen Edition des Speculum virginum, geht davon aus, daß der Illustrationszyklus, der wie jener des illuminierten Scivias neben seiner veranschaulichenden auch textgliedernde Funktion besitzt, auf den anonymen Autor selbst zurückbezogen werden kann.4 Die Miniaturen des zweiten mit Illustrationen versehenen Scivias, jene der aus dem 12./13. Jahrhundert in Kloster Salem entstandenen Heidelberger Handschrift Cod. Sal. X, 16 (Salemer Scivias), sind nicht durch den Wiesbadener -

1

2 3

4

Die Miniatur findet sich abgebildet bei List/Blum 1994, Vorsatzblatt [unpag.]. Scivias 1978, I, S. 3 9F. der Vulgata: Die HeiApk 1 11 und 1 19. Zitiert nach dem deutsch-lateinischen Text mit Testamentes. Übers, erklärenden Anmerund Neuen und des Alten Schrift lige und Rom 1914, S. 937 Arndt Augustin S.J., I, Regensburg kungen versehen von und 939. Seyfarth 1990, S. 19*: „Vor- und Rückverweise verankern sie [die 12 Bilder; Ergänzung] so fest, daß der Text ohne die Bilder unvollständig wäre, wie umgekehrt die Bilder des Textes bedürfen. Daraus ergibt sich notwendig, daß Text und Bild auf gemeinsamer Konzeption beruhen und ihre Autorschaft ein und derselben Person zuzuschreiben ist." Vgl. auch Embach 1999.

Kapitel 2

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Codex beeinflußt. Den Forschungsergebnissen Wilfried Werners zufolge stamdie Miniaturen aus einer deutlich späteren Zeit als der Text. Insgesamt enthält der Salemer Scivias 15 bildliche Darstellungen. Elf davon sind als Illustrationen zu den visionären Schilderungen des Scivias anzusehen. Von den übrigen vieren stellt eine (f. 3v) Hildegard und ihren Schreiber dar, eine andere zeigt (f. 4r) innerhalb einer I-Initiale das Motiv der Wurzel Jesse. Das Blatt mit den beiden ganzseitigen Miniaturen auf f. 2r und f. 2v ist dem Codex nachträglich vorgeheftet worden. Diese beiden Szenen schildern die Schöpfung der Welt und des Menschen bzw. den Jahresablauf. Als Vorlage für die beiden hinzugefügten Miniaturen auf f. 2r und 2v nimmt man einen aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammenden Zwiefaltener Codex an, der heute in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart liegt: das sogenannte Chronicon Zwifaltense minus (Cod. hist. f. 415).1 Die beiden ganzseitigen Miniaturen wurden eingefügt, als der Text des Scivias bereits weitgehend geschrieben war. Die sehr qualitätvollen Zeichnungen sind, vermutlich unter Beteiligung einer zweiten Hand, meist mit der Feder, manchmal mit dem Pinsel ausgeführt. Auch bei den übrigen Bildern schließt man eine teilweise Entstehung in späteren Zeiten nicht aus. Dies gilt insbesondere für die blau kolorierten Personendarstellungen vor weißem Hintergrund. Insgesamt müssen die Miniaturen, wie Josef Schomer nachweisen konnte, als selbständiger, künstlerisch wertvoller Illustrationsversuch betrachtet werden.2 Die Gesamtkonzeption des Wiesbadener illuminierten Scivias ist Lieselotte Saurma-Jeltsch zufolge zweifelsohne im Kloster Rupertsberg entstanden. Das Bildprogramm verweise jedoch nicht, wie lange Zeit vermutet, auf Trier als Entstehungsort der Miniaturen. Eher kämen Andernach oder Maria Laach in Frage. In die gleiche Entstehungsregion, d. h. in mittelrheinisches Gebiet, wird von einigen Forschern auch das in den siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts entstandene sogenannte Hildegard-Gebetbuch (BSB München, clm 935) verwiesen. Wobei für dieses wiederum eine Entstehung in Trier-St. Eucharius nicht ausgeschlossen, von Elisabeth Klemm in ihrer Beschreibung der Handschrift mittlerweile sogar definitiv angenommen wird. Denkbar wäre, daß das mit einem alt- und neutestamentlichen Illustrationszyklus versehene lateinische Gebetbuch (mit deutschen Bildunterschriften) Hildegard vom Konvent TrierSt. Eucharius als Geschenk überreicht wurde.3 men

1

Vgl.

2 3

Schomer 1937, S. 57. Das Hildegard-Gebetbuch liegt als Faksimile-Ausgabe vor: Hildegard-Gebetbuch 1982/1987. Darüber hinaus existiert ein zweites, im 15. Jahrhundert entstandenes Hildegard-Gebetbuch. Es enthält die gleichen Texte, aber einen anderen Illustrationszyklus wie das ältere Hildegard-Gebetbuch. Dabei handelt es sich um den Codex Einsidlensis 285 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Auch hiervon liegt eine kommentierte Faksimile-Ausgabe vor: Beten.

hierzu Oechelhaeuser 1887/1895, Liber Scivias: Sal. X, 16: S. 75-107, insbesondere S. 82f. und 85f. sowie Tafeln 11-17. Werner 1994, S. 331. -

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Der Scivias

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Der illuminierte Scivias wird von Lieselotte Saurma-Jeltsch in eine Reihe von Aktivitäten eingeordnet, die unmittelbar nach Hildegards Tod eingesetzt und darauf abgezielt hätten, eine fortwirkende memoria an die Seherin zu begründen. Gleichzeitig habe, wie die auffällige Hervorhebung benediktinischen Jungfrauentums und Tugendlebens vermuten lasse, ein helles Licht auf Kloster Rupertsberg fallen sollen. Vergleichbare Beispiele für diese Bemühungen gäben, so Saurma-Jeltsch, die Anstöße Abt Ludwigs von Trier Trier-St. Eucharius zur Fertigstellung der Vita Hildegardis und die Begründung einer Jahrtagesstiftung zum Gedenken an Hildegard. Sollte diese Annahme Saurma-Jeltschs zutreffen, so wäre auch eine Erklärung dafür gefunden, weshalb die Textfassung des illuminierten Scivias nicht in den Riesencodex einfloß. Man hätte es mit zwei unterschiedlichen, grundsätzlich nicht voneinander in Abhängigkeit stehenden Versuchen zu tun, die Erinnerung an Hildegard wachzuhalten: hier die Ausgabe letzter Hand (Riesencodex), dort die Prachtausgabe von Hildegards wirkungsträchtigstem Werk, dem Scivias. Faktisch käme eine solche Parallelisierung von illuminiertem Scivias und Riesencodex einer nochmaligen Aufwertung des letzteren gleich. Bislang hatte man dem illuminierten Scivias die Ehre des höheren Alters zuerkannt. Außerdem ist es der Riesencodex, der immer wieder zur Grundlage späterer Abschriften gemacht wurde, ein Befund, der auf den illuminierten Scivias in diesem Umfang nicht zutrifft. Das in den Wirren des Zweiten Weltkrieges verschollene Original des illuminierten Scivias lebt in einer 1927 angefertigten Fotografie sowie in einem zwischen 1927/33 hergestellten Pergamentfaksimile fort.1 Wie im Original, so sind auch in der von Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris herausgegebenen kritischen Ausgabe die Illuminationen mitberücksichtigt. Sie finden sich in Form eingefügter Abbildungen, die von dem handgefertigten Pergamentexemplar gewonnen wurden, an den jeweils Bezug habenden Textstellen. Was die Miniaturen anbetrifft, so existiert darüber hinaus eine aus dem Jahre 1977 stammende, von Adelgundis Führkötter veranstaltete Faksimile-Ausgabe der Pergamentnachbildungen.2 Hildegard Schönfeld, die bereits 1979 eine Ausgabe der Miniaturen des illuminierten Scivias vorgelegt hat,3 bereitet zur Zeit mit Albert Derolez und Angela Carlevaris eine Neuausgabe der 35 Miniaturen vor. Sie veranschaulichen die 26 Textvisionen des Scivias und sollen vermutlich deren prophetisch-visionären Charakter bestätigen. Hiervon sind 16 ganzseitig, 15 halbseitig und 4 viertelseitig.4 Fragt man, welchen Sinn die Miniaturen neben den auch so schon so bilderreichen Texten besitzen, so scheint ihnen neben der veranschaulichenden vor allem eine ordnende und gliedernde Funktion zuzu1 2

3 4

Vgl. Führkötter/Carlevaris 1978, S. XXXII-XXXVI. Scivias \977. Scivias 1979. Die ganzseitigen Miniaturen finden sich auf f. 14r, 22r, 25r, 38r, 41v, 47r, 51r, 64r, 113v, 128v, 159v, 176r, 190r, 212v, 223r, 227r; die halbseitigen Miniaturen erscheinen auf f. 2r, 4r, 35r, 58r, 84r, 114r, 120v, 121r, 136v, 137r, 143v, 170r, 201v, 223v.

Kapitel 2

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kommen. „Indem sie jeweils nach der Inhaltsangabe der Capitula und vor dem Beginn der Vision zu stehen kommen, fungieren sie gleichsam als Einleitung zu den eigentlichen Visionstexten. Als solche wollen sie einerseits nur dokumentieren, daß der Text als Gesamtes eine durch die Vision vermittelte Offenbarung Gottes sei, zugleich aber wirken sie eben doch auch ordnend und interpretierend."1 Eben dieses Anliegen ist in der späteren Uberlieferung entweder nicht mehr verstanden oder auf Seiten der Rezipienten nicht mehr erwartet worden. Lassen wir es bei diesem Befund auf sich bewenden und versuchen wir nun, die Überlieferungsgeschichte des Scivias in der Zeit des Buchdrucks zu verfolgen. 2.4 Die Editio

princeps des Scivias (Paris 1513) Die Erstausgabe des Scivias war Bestandteil eines von Faber Stapulensis (ca. 1450-1536) herausgegebenen Sammelwerkes, das im Jahre 1513 unter dem Titel Liber trium virorum et trium spiritualium virginum erschien.2 Dieses Sam-

melwerk enthält Texte dreier männlicher und dreier weiblicher Autoren, die unter einem ganz bestimmten Selektionsmerkmal zusammengefaßt sind. Formal betrachtet, ist dieses Merkmal die Zugehörigkeit zur Gattung Visionsliteratur. Wobei dem humanistisch gebildeten Faber als prominente Vorbilder, keine Einzeltexte zu publizieren, sondern Konglomerate zu schaffen, möglicherweise Hieronymus mit seiner Schrift De viris illustribus oder Boccaccio mit seiner Abhandlung De claris mulieribus vor Augen stand. Inhaltlich betrachtet, handelt es sich bei Fabers Zusammenstellung um Schriften einer gemäßigt reformtheologischen bzw. monastisch-aszetischen Ausrichtung. Als Autoren erscheinen neben Hildegard: Hermas (2. Jh. n.Chr.), Uguetinus OSB (13. Jh.?), Robert von Uzès OP (1263-1296), Elisabeth von Schönau (1129-1164) und Mechthild von Hackeborn OCist (1241-1299). Aus der Feder Elisabeths von Schönau stammt der Liber viarum Dei, ein Werk, das nach dem unmittelbaren Vorbild von Hildegards Scivias entstanden ist; auch Elisabeths Briefe wurden von Faber aufgenommen.3 Mechthild von Hackeborn taucht mit dem nur fragmentarisch

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1 2

Saurma-Jeltsch 1998, S. 23. [Faber Stapulensis, Hrsg.]: Liber trium virorum et trium spiritualium virginum. Hermae Uber vnus. Vguetini Uber vnus. F. Roberti libri duo. Hildegardis Sciuias libri très. Elizabeth[ae] virginis libri sex. Mechtildis virginis libri quinque Emissum Parisijs ex officina Henrici Stephani chalcographi eregione scholae Decretorum Anno Mil. CCCCC. XIII [1513]. Sexto Nonas Iunias [= 30. Mai]. Ijs qui huic deuoto pioque ...

3

operi emittendo quomodocumque inuigilarunt: prosint apud deum piae preces legentium. Qui autem hoc opus impressit: partim aere proprio / partim vero socij Ioannis Briensis opitulamine rem literariam auxit. Darin Scivias (f. 28r-118v). Eine Beschreibung der von Faber edierten Texte findet sich bei Rice 1971, S. 112-115. Elisabeth war im Alter von 12 Jahren in den Benediktinerinnenkonvent von Schönau (Nassau) eingetreten. Ihre ersten Visionen empfing sie um 1152. Es waren Erscheinungen der Gottesmutter, verschiedener Heiliger und der Kreuzigung Christi. Elisabeth war stark von Hildegard geprägt. Beide korrespondierten miteinander. Eli-

Der Scivias

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Speculum [Liber] specialis gratiae auf.1 Die männlichen sind vertreten mit dem Hirt des Hermas (Erstdruck der lateinischen Autoren dem Libellus de visione des Uguetinus3 sowie dem Liber sermonum Ausgabe),2 berücksichtigten

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sabeths Bruder Ekbert redigierte kurz nach ihrem Tode die zwei Bücher mit ihren Visionen. Zwischen 1160 und 1163 hatte er bereits den Liber Viarum Dei bearbeitet, in dem sich Einflüsse von Hildegards Scivias mit solchen der Geheimen Offenbarung mischen. Fabers Edition der Schriften Elisabeths erscheint auf f. 119r-150v. Sie umfaßt nicht das gesamte Werk Elisabeths. Im einzelnen berücksichtigte Faber folgende Teile: F. 119r-129r: Visiones (entspricht Buch 1 von Roth 1884, S. 1-15). F. 129r-138v: Liber viarum Dei. F. 138v-139r: Visio Eliszabeth quam vidit in Sconaugiensi coenobio de assumptione virginis Mariae matris domini. F. 139r-143r: Liber revelationum Eliz. de sacro exercitu virginum Coloniensium. F. 143r-146r: Epistolae. F. 146r-150v: Ekbert, De Obitu Eliz. virginis. Die Frage nach der Quelle von Fabers Edition wird unterschiedlich beantwortet. Rice 1971, S. 115, ist der Meinung, Faber habe den Text von Elisabeths Briefen sowie von Ekberts Schrift De obitu vermutlich aus einer Handschrift geschöpft, die er auf dem Rupertsberg bzw. Johannisberg vorgefunden habe. Grundlage für den Druck der übrigen Werke seien eine zur gleichen Familie wie die Handschrift Paris lat. 2873 gehörende Handschrift des f 5. sowie eine Vorlage des 12. Jahrhunderts gewesen. Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris (Führkötter/Carlevaris 1978, S. LVII) identifizieren Fabers Edition von Buch 3 des Liber viarum Dei mit der Handschrift BN Paris, 'Cod. lat. 2873, f. 75r-99r als ...

Druckvorlage.

1

Hackeborn war Zisterzienserin im Konvent von Helfta (in der Nähe ihre Schwester Gertrud von Hackeborn leitete. Der Liber specialis den Eisleben), gratiae enthält Visionen Christi und Mariens. Fabers Edition umfaßt f. 150v-190v des Liber triam virorum. Nach Rice 1971 (S. 115) folgt sie einer in Leipzig erschienenen hochdeutschen Übertragung des Textes aus dem Jahre 1503 und einer lateinischen Übersetzung, die 1510 in Würzburg herausgekommen war. Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris erkennen als Vorlagen von Fabers Text f. 188v-190v die beiden Pariser Handschriften, BNF, lat. 3631, f. 68v-74v, sowie lat. 3632, f. 106v-117v. Der Mitte des 2. Jahrhunderts entstandene Hirt besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil umfaßt vier Visionen. Darin schaut der Autor, ein Zeitgenosse der Kirchenverfolgung des Decius, eine Gestalt, die die Kirche symbolisiert. Sie ist zunächst alt und kraftlos, verjüngt sich dann aber immer mehr und tritt zuletzt als Jungfrau auf Zeichen für die Reinigung von allen Sünden. Im zweiten Teil des Werkes erhält der Autor Besuch vom Engel der Buße, der in der Gestalt eines Hirten erscheint. Dieser erteilt ihm 12 Aufträge und erklärt ihm 10 Gleichnisse. Im Westen war der Hirt in zwei lateinischen Übersetzungen bekannt. Die versio vulgata, die Fabers Druck zugrundeliegt, stammt aus dem 2. Jahrhundert, die versio Palatina ist späteren Datums. Der griechische Originaltext wurde erst f 856 ediert, nachdem auf dem Berg Athos eine aus dem f4. Jahrhundert datierende Handschrift aufgefunden worden war. Fabers Edition erscheint auf f. lr-17r des Liber trium virorum. Uguetinus soll den Ausführungen des Faber Stapulensis zufolge zunächst Augustinermönch gewesen sein; später sei er zu den Benediktinern übergewechselt. Er liege in Metz begraben. Jean Dagens vermutet in diesem Uguetinus irrtümlich einen Zeitgenossen der von Faber edierten Benediktinermystikerinnen. Vgl. Dagens 1952, S. 44. Demgegenüber steht fest, daß es sich bei dem Schreiber des Textes um Hatto,

Mechthild

von

von

2

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3

Kapitel 2

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Domini Ihesu Christi und dem Liber visionum des Robert von Uzès.1 Was die beiden letztgenannten Autoren anbetrifft, so hält Augustin Renaudet es für möglich, daß Faber deren Werke bei einem Besuch in Metz kennengelernt

haben könnte.2 Jacob Quétif und Jacob Echard nehmen dagegen an, Faber habe zumindest die Texte des Robert von Uzès aus einem Codex des Benediktinerklosters Johannisberg auf dem Bischofsberg im Rheingau geschöpft. Wie dem auch sei, die Zusammenstellung der genannten Schriften läßt unschwer erkennen, daß Faber bemüht war, ausschließlich solche Autoren und Autorinnen zu Wort kommen zu lassen, deren Werke sich der Gattung Visionsschriften zuordnen ließen. In einer unspezifischen Bedeutung des Begriffes könnte man sie auch als Mystiker bezeichnen. Guy Bedouelle vertritt dabei die Auffassung, es sei Faber in erster Linie um den Text des Hermas gegangen. Die übrigen Schriften habe er nur deshalb aufgenommen, um den Band zu füllen.3 Ich werde diese ein wenig abschätzig klingende Formulierung weiter unten kommentieren. Die Frage, ob Hildegard selbst in einer unmittelbaren Abhängigkeit zum Werk des Hermas steht, wurde u. a. von Hans Liebeschütz4 und -

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Abt des Klosters Reichenau, handelt. Dieser hielt die Visio seines Mitbruders Wetinus bzw. Uguetinus (f 813) fest. Der Text firmiert heute folgerichtig unter dem Titel Visio Wetini. Er wurde vermutlich vor dem Jahre 806 niedergeschrieben, in dem Hatto Bischof von Basel wurde. Gedruckte Ausgaben finden sich in den Acta Sanctorum Ordinis Benedicti (P. IV, T. 1 [Paris 1657], S. 263-271) sowie in der PL 105, Sp. 769-780. Eine kritische Edition hat Ernst Dümmler vorgelegt (MGH. Poetae Latini Aevi Carolini, II, Berlin 1884, S. 267-275). Das von Faber verwendete Manuskript des Textes stammte aus dem zur Kongregation von Chezal-Benoit gehörenden Kloster Saint-Vincent in Mans. Seine Ausgabe erscheint auf f. 17r-19r des Liber triam

virorum. 1

Robert von Uzès, ein Neffe des Bischofs Robert von Avignon, wurde nach den von Faber gegebenen Informationen 1292 in Avignon Dominikanermönch. 1296 verstarb er in Metz, auf der Rückkehr von einem Generalkapitel in Straßburg. 1301 wurden seine Gebeine nach Avignon transferiert. 1291 hatte Robert damit begonnen, tagebuchartige Aufzeichnungen über seine Offenbarungserlebnisse (symbolische Visionen, Erscheinungen, Auditionen und Prophezeiungen) anzufertigen. Diese Offenbarungen betreffen vor allem den gefährdeten Zustand von Kirche und Papst in der angebrochenen Endzeit. Sie wenden sich mahnend an Papst Cölestin V. (Abel) und Papst Bonifaz VIII. (Kain), aber auch an die Mönche, die er auf seinen umfangreichen Predigtreisen zur Umkehr aufrief. Fabers Edition von Roberts Liber sermonum Domini erscheint auf f. 19r-24v, jene des Liber visionum auf f. 24v-27v. Zu Robert Chevalier 1907, II, Sp. 4011. von Uzès vgl. Quétif/Echard 1719, S. 449f. Bignami-Odier 1955 (mit historisch-kritischer Edition). Amargier 1982. Micheletti 1990. Amargier 1992. Renaudet 1953, S. 602f., Fußn. 3. -

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2 3 4

Bedouelle 1976, S. 73. Liebeschütz 1930, vor allem S. 51-56. Liebeschütz führt die verwandten Stellen kolumnenartig nebeneinander auf. Er resümiert: „Es scheint uns danach fast sicher,

Der Scivias

99

Peter Dronke1

aufgeworfen. Ihre Antworten fallen vorsichtig positiv aus, ohne daß sich eine solche Abhängigkeit zwingend beweisen ließe. Immerhin aber besitzen einzelne Bilder (wie jenes vom Turm der Kirche oder von der Gottesstadt auf Erden) frappierende Ähnlichkeiten zwischen Hermas und Hildegard. Allen Einzelwerken des Liber trium virorum et trium spiritualium virginum gemeinsam ist ein appellativer Grundtenor, die Klage über Mißbräuche des kirchlichen Lebens sowie die in einem visionär-apokalyptischen Sprachgewand vorgetragene Aufforderung, Buße zu tun. Schließlich fällt auf, daß die meisten der von Faber edierten Texte in den Bereich der Benediktiner- und Zisterziensermystik gehören.

Was mochte Faber Stapulensis dazu veranlaßt haben, ausgerechnet die vom frühen Buchdruck so sträflich vernachlässigte Hildegard ans Licht zu ziehen? Welche Beweggründe mögen den Franzosen angetrieben haben, die Drucklegung des Scivias zu veranstalten, obwohl doch zu dieser Zeit nicht einmal in Deutschland selbst ein Markt für Hildegards Werke vorhanden zu sein schien ?2 Die Antworten auf diese Fragen besitzen zunächst einen aus der Sicht Fabers stark autobiographischen Charakter. Im Vorwort zur Editio princeps des Scivias legt Faber dar, er habe wenige Jahre vor Erscheinen des Liber trium virorum et trium spiritualium virginum Kloster Rupertsberg und Kloster Johannisberg besucht. Nach eigenem Bekunden hat Faber dort die Schriften Hildegards überhaupt erst kennengelernt. Auf diesen Sachverhalt deutet auch die Widmung seiner Edition an die Rupertsberger Äbtissin Adelheid von Ottenstein (Amtszeit 1502-1527) und ihre Mitschwestern hin. Faber schreibt:

Virgo Christi Adelai / librum trium virorum spiritualium et trium spiritualium virginum ad te mittere statui : vt tu et sanctae virgines Othilia / Vrsula / Margareta / et reliquae quarum tu spiritualis mater es consolationem recipiatis spiritualem.3 Folgt man Fabers Ausführungen, so wird deutlich, daß von Seiten des Ruperts-

berger und des Johannisberger Konvents offenbar ein lebhaftes Interesse an einer Drucklegung des Scivias geäußert wurde, ja daß Faber regelrecht bedrängt wurde, eine solche Drucklegung in Angriff zu nehmen. Ob er aus eigenem Antrieb die Initiative dazu ergriffen hätte, bleibt zumindest fraglich. Uber den Umfang seiner auf dem Rupertsberg erworbenen Hildegard-Kenntnisse informiert uns Faber ein wenig nebulös in einer zweiten Widmung des Liber trium virorum. Sie wendet sich an Fabers Mitarbeiter Marquad von Hattstein, -

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daß Hildegard die neunte Bildrede des Hirten gekannt hat, vielleicht durch ein theologisches Sammelwerk als Mittelquelle." (Ebd., S. 54). 1 2

Dronke 1981a. Für die prinzipiell ebenfalls denkbare

3

Variante, die Initiative zur Drucklegung könne Drucker, ausgegangen sein, findet sich

Heinrich Stephanus [Henri Etienne], dem kein Hinweis. Liber trium virorum, Epistola, unpag. [f. lv].

von

Kapitel 2

100

Kilian von Westhausen und Volgatius Pratensis.1 Faber berichtet, er kenne die Vita Hildegardis sowie folgende Werke aus Hildegards Feder: den Scivias, den Liber divinorum operum, die Vita sancti Ruperti, die Vita sancti Disibodi, den Liber in regulam Sancti Benedicti, den Liber triginta [!] quaestionum sowie insgesamt 135 Briefe. Zuletzt nennt er viele andere Werke („pleraque alia"), von denen ihm die meisten durch die Rupertsberger Schwestern mitgeteilt worden seien. Was Fabers inhaltliche Bewertung der Schriften Hildegards anbetrifft, so fällt diese recht positiv, aber auch recht undifferenziert aus. Wie die Werke des Hermas und der Elisabeth, seien auch die Texte Hildegards voller Kraft, Einfachheit und Reinheit. Faber empfiehlt sie den Rupertsberger Nonnen als „agiographi", d. h. heiligmäßige Schriften, die unmittelbar nach dem Evangelium kämen. Dieses allerdings sei, wie Faber anhand eines Hieronymuszitates hervorhebt, allen anderen Büchern als Spiegel Christi vorzuziehen („Euangeliorum codex semper vt speculum teneatur in manibus" [f. lv, unpag.]). Fabers Interesse am Werk Hildegards wird also, so könnte man resümieren, von einem übergeordneten Interesse an einer prophetisch-visionär akzentuierten Literatur überwölbt. Diese Art von Schriften erfüllte offenbar Fabers Forderung nach einer philosophia (vel theologia) intellectualis, die der philosophia (vel theologia) rationalis als höheres Erkenntnisprinzip zur Seite gestellt werden müsse. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, daß Faber zur Zeit seiner Editionsarbeiten am Werk Hildegards eine Wendung vom Aristoteliker zum Mystiker durchmachte. Faber selbst gibt an, er habe auf dem Rupertsberg die ältesten Textzeugen der Schriften Hildegards vorgefunden, eine Aussage, die noch genauer in den Blick zu nehmen ist. Wie er im Vorwort zur Editio princeps des Scivias darlegt, fertigte der Rupertsberger bzw. Johannisberger Konvent Abschriften dieser Texte aus einer dort vorhandenen Handschrift an. Faber nahm die Kopien mit nach Paris und schöpfte aus ihnen seine gedruckte Edition. Er benennt den Johannisberger Abt Friedrich sowie die Patres Egidius und Johannes Curvelus als die treibenden Kräfte des Projekts. Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris haben diesen Befund anhand des nachfolgenden Zitates in der Einleitung zu ihrer Edition des Scivias (S. LVI) zweifelsfrei belegt: Nam

cum

multa

cum

Ioannis in 1

in claustro vestro archetypos sanctae virginis Hildegardis legissem: benignitate vestra et vestrorum venerabilium patrum monasterij sancti Rhingauia exemplaribus donatus sum. Vnde hoc opus bona pro parte

Die Familie

von

Haustein besaß oberhalb

von

Ursel eine Burg. Sie

war

durch meh-

Mitglieder im Mainzer Metropolitankapitel vertreten. Marquad selbst, den Faber als „primariae Moguntinensis ecclesiae insignis canonicus" bezeichnet, wurde 1509 im Kapitel aufgeschworen. Ulrich von Hutten bezeichnet ihn als seinen Verwandten. Der Humanist Hermann Busch schrieb „non. iun. 1520 ex aedibus Marquadi ab Hatstein" einen Brief an Erasmus von Rotterdam. Marquad starb am 13. Juni 1522 rere

und erhielt sein Grab

vor

dem Kilianusaltar im Mainzer Dom.

Der Scivias

101

desumptum est. id imprimis reuerendiss. patre D. Frederico eius loci abbate & D. Egidio & Ioanne Curnelo vestrae aedis custodibus & rei sacrae administratoribus religiosissimis viris ac patribus me plurimum hortantibus : vt libri sanctae virginis Hildegardis in publicam lucem prodirent.1

wenigen Informationen in Fabers Lebensgeschichte der so ergibt sich folgendes Bild: Jahre Faber Stapulensis weilte ab Juli 1509 (?) für einige Monate in Deutschland. Am 24. Juni 1511 schrieb er aus der Pariser Benediktinerabtei St. Germain-desPrés, seinem damaligen Wohnsitz, an Beatus Rhenanus, er sei „superiori anno" nach Aachen gereist.2 Er habe gehofft, Beatus Rhenanus dort am Tag der hl. Margarete (also am 20. Juli ?) zu treffen. Beatus selbst lebte zu dieser Zeit in Straßburg, wo er als Korrektor im Atelier Matthias Schürers tätig war. Im Jahre 1509 bereitete er dort die erste elsässische Ausgabe der Adagia des Erasmus von Rotterdam zum Druck vor. Auch als Herausgeber deutscher Autoren des Mittelalters ist Beatus hervorgetreten, etwa als Editor von Proben des Evangelienbuches Otfrieds von Weißenburg.3 Gleichzeitig stellte er Nachforschungen zur handschriftlichen Uberlieferung der Werke des Nicolaus Cusanus an. Faber Stapulensis konnte auf diese Vorarbeiten wenige Jahre später (1514) im Rahmen seiner dreibändigen Ausgabe der Schriften des Cusanus zurückgreifen. Wie so oft, gebührt auch diesmal Faber das Verdienst, die Editio princeps eines herausragenden Denkers des europäischen Mittelalters vorgelegt zu haben. Reinhold Weier geht davon aus, die Suche nach Texten des Cusanus sei der eigentliche Grund für Fabers Reise nach Deutschland gewesen. Eine Annahme, die an Wahrscheinlichkeit gewinnt, wenn man bedenkt, daß gerade Beatus Rhenanus „von allen Helfern Fabers am tatkräftigsten den verstreuten Cusanus-Schriften nachspürte" .4 Außerdem wissen wir, daß die beiden Mainzer Kanoniker Kaspar Ordnet

man

diese

1509 bis 1513

1

2

ein,

Liber triam virorum, Epistola, unpag. [f. lv]. Justus Hashagen hat darauf hingewiesen, daß Faber, ein Hauptvertreter des französischen Humanismus, durch seine Kontakte zu Curvelus unter den Einfluß des rheinischen Humanismus geriet. Curvelus habe Faber auch zur Edition der Schriften des Cusanus angeregt. „Auf der Suche nach Handschriften des Scivias der hl. Hildegard von Bingen trat er [Faber; Ergänzung] mit dem mittelrheinischen Benediktiner Johann Krumm (Curvello [!]) von Euskirchen in Verbindung, der ihm die Anregung zu dieser Edition gegeben hatte. Man darf vielleicht annehmen, daß die gemeinsamen Interessen damals ausser dem hagiographischen auch das humanistische Gebiet betroffen haben." Hashagen f 922,

S.2. Faber

Stapulensis, Brief an Beatus Rhenanus vom 24. Juni 1511. In Beatus RhenBriefwechsel S. 37f. Wie Faber in seinem Commentarium in Epistola Paulini ad Colossas mitteilt, besuchte er im Zusammenhang dieser Reise auch Mainz, viele Klöster am Rhein sowie die Brüder vom gemeinsamen Leben in Köln. Vgl. Faber Stapulensis Pauli epistolae, Commentarium ad Colossenses, S. 188. Otfrieds Evangelienbuch, S. LXXIV. Die Proben des Beatus Rhenanus erschienen in anus

3 4

den Rerum Germanicarum libri III Weier 1967, S. 59.

(Basel 1531).

102

Kapitel 2

und Kilian von Westhausen Faber Stapulensis im Verlaufe dieser Reise eine Abschrift der Cusanus-Schrift De concordantia catholica vermittelten. Die erwünschte Zusammenkunft zwischen Faber und Beatus Rhenanus in Aachen kam nicht zustande. Letzterer war in Straßburg unabkömmlich. Faber zog deshalb weiter nach Köln, wo er Gast der Brüder vom gemeinsamen Leben war. Ausdrücklich betont er in seinem Schreiben an Beatus Rhenanus, die Reise sei für ihn trotz des gescheiterten Treffens nicht ohne Gewinn gewesen. Immerhin bot sich Faber in Köln die Gelegenheit, mit den Brüdern vom gemeinsamen Leben über Thomas von Kempen (um 1379-1471) und Johannes Ruysbrook (1293-1381) zu sprechen und er faßte den Plan, basierend auf der Übersetzung des Gerard Groote (1340-1384), eine Ausgabe von Ruysbrooks Schrift De Ornatu Spiritualium Nuptiarum zu veranstalten.1 Im Zuge seiner Forschungsreise besuchte Faber schließlich auch Mainz, von wo aus er Abstecher zu den Klöstern Rupertsberg und Johannisberg machte. Dort wurden ihm die erwähnten Kopien der Schriften Hildegards ausgehändigt. Diese Abschriften waren offensichtlich sehr eilig hergestellt worden. Im nachhinein stellte sich heraus, daß einige Textteile des Scivias fehlten. In seinem Brief an Beatus Rhenanus vom 24. Juni 1511 gibt Faber dies als Grund dafür an, daß bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts habe gedruckt werden können. Täglich, so fährt er fort, erwarte er „Quilianum nostrum", d. h. Kilian von Westhausen, der die fehlenden Teile nachliefern werde. Weitere Mitarbeiter an diesem Projekt waren Marquad von Hattstein und Volgatius Pratensis. Ein wichtiger Faktor, der das Erscheinen der Editio princeps des Scivias im Jahre 1513 mitbegünstigt haben könnte, ist das zu dieser Zeit wiedererwachte Interesse an einer formellen Heiligsprechung Hildegards. Am 17. November 1489 hatte der Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg (Amtszeit 1484— 1504) im Beisein der Äbtissin Adelheid von Reiffenberg (Amtszeit 1469-1493) das Grab Hildegards öffnen lassen, getrieben von der Hoffnung, außer den Gebeinen dort auch die Heiligsprechungsurkunde zu finden. f498 kam es, wohl auf Anregung von Johannes Trithemius, zu einer nochmaligen Erhebung der Gebeine. Ähnlich wie ca. 300 Jahre zuvor Gebeno von Eberbach, wollten also auch Trithemius und die Konvente vom Rupertsberg und Johannisberg die Heiligsprechung Hildegards gezielt fördern. Dabei wurde den Schriften Hildegards eine besondere Bedeutung zugemessen. Daß solche Bemühungen im Sommer 1509, als Faber Stapulensis auf dem Rupertsberg weilte, noch spürbar waren und in den Hildegard nahestehenden Kreisen den Wunsch nach einer gedruckten Ausgabe von Hildegards Hauptwerk, dem Scivias, weckten, ist mehr als

wahrscheinlich. Auf welche Handschrift des Rupertsbergs läßt sich nun Fabers Edition des Scivias zurückführen und welchen textkritischen Wert besitzt seine Ausgabe ? 1

Die in Paris bei Henri Etienne erschienene auf den 3. August 1512.

Ausgabe

dieses Werkes ist exakt datiert

Der Scivias

103

2.4.1 Die Vorlagenhandschrift der Editio princeps des Scivias Was die erste Frage anbetrifft, so fällt auf, daß Fabers Edition, wie

Adelgun-

Carlevaris bemerkt haben, nur mit einer einzigen zwar und Scràms-Handschrift, jener des Riesencodex, „sehr viele, allerdings stets kleine Varianten"1 gemeinsam hat. Der Riesencodex enthält, wie oben ausgeführt, Hildegards Hauptwerke mit Ausnahme der naturkundlich-medizinischen Schriften. Er ist in enzyklopädischer Anordnung der Schriften teilweise kurz vor, teilweise kurz nach Hildegards Tod hergestellt worden. Als Ausgabe letzter Hand genießt der Riesencodex eine gewisse Vorrangstellung unter den Hildegard-Handschriften. Der Scivias erscheint gleich zu Beginn der Handschrift auf f. l-135r. Er wurde fast ausschließlich von Kopist 1 niedergeschrieben; lediglich f. 46vb-48vb stammen von Kopist 2. Wichtig für unsere Fragestellung ist die Tatsache, daß die Briefsammlung, aber auch der Scivias, mehrfach aus dieser Handschrift kopiert wurden. Dies beweisen die Namen verschiedener Kopisten, die sich im Manuskript verewigt haben. Außerdem wissen wir, daß auch Kloster Johannisberg, von dem Faber Vorlagen für seine Edition erhielt, über Abschriften des Scivias verfügte, die aus dem Riesencodex herrührten. Die überlieferungsgeschichtliche Abhängigkeit der Editio princeps des Scivias vom Riesencodex läßt sich, hierauf haben Adelgundis Fürhrkötter und Angela Carlevaris hingewiesen, an zwei philologischen Details belegen: Beide Textausgaben enthalten zu Beginn der Protestificatio den Zusatz „septemque mensium".2 Dieser Zusatz bezieht sich auf die zeitliche Angabe, wann bzw. in welchem Alter Hildegard ihre erste Vision empfangen hat: im Jahre 1141, mit 43 Jahren und sieben Monaten. Und vor dem Schlußsatz von Pars III, Visio 5, Cap. 33 bringt Faber einen längeren Einschub, der keiner Handschrift des Scivias entnommen ist. Vielmehr stammt er aus Hildegards Explanatio Symboli s. Athanasii, die bekanntlich im Riesencodex überliefert ist.3 Wenn nun der Riesencodex bzw. eine nach ihm gefertigte Abschrift die Vorlage für Fabers Edition geliefert hat (woran nicht zu zweifeln ist), so muß seine Aussage, er habe die „archetypos", d. h. die ältesten Textzeugen von Hildegards Schriften, eingesehen, ein wenig relativiert werden: Faber hat nicht die älteste überhaupt vorhandene Niederschrift des Scivias als Vorlage verwendet, sondern die älteste ihm erreichbare. Es war die schon damals normbildende SciviasHandschrift des Riesencodex. Kommen wir zur zweiten Frage, jener nach der Zuverlässigkeit von Fabers Edition. Hier führt ein Vergleich zwischen den erhaltenen Handschriften und dem Erstdruck nach Führkötter und Carlevaris zu einem für Faber recht dis Führkötter und

Angela

-

1

2

3

-

Führkötter/Carlevaris 1978, S. LIX. Die nachfolgenden Ausführungen basieren wesentlich auf den Erhebungen von Führkötter und Carlevaris. Scivias 1513, Zeile 22. „Ipse enim Deus quem formauerat redimeret." Vgl. Riesencodex, f. 399rb, Zeile 1-42; Scivias 1513, f. 89r, Zeile 41-61; Ausgabe PL 197, Sp. 1075D-1076B; Ausgabe Scivias 1978, II, S. 430f., Fußn. 765. ...

Kapitel 2

104

ungünstigen Ergebnis : der Text ist keineswegs zuverlässig ediert. Die in Fabers Ausgabe vorhandenen Besonderheiten beziehen sich sowohl auf den Stil als auch auf das verwendete Vokabular. Dabei ist unklar, ob diese Besonderheiten auf Eingriffe Fabers, auf eine fehlerhafte Abschrift des Riesencodex oder auf Eingriffe durch die Pariser Werkstattmitarbeiter des verantwortlichen Druckers Henri E[s]tienne zurückgehen. Die ältere Forschung nahm an, Faber selbst habe größere Umarbeitungen an seiner Vorlage durchgeführt.1 Diese Eingriffe hätten dem Ziel gedient, den Text an den humanistisch gefärbten Zeitgeschmack des beginnenden 16. Jahrhunderts heranzuführen. Die jüngere Forschung äußert sich demgegenüber zurückhaltender. Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris stellten zur Klärung der Frage Vergleiche zwischen den von Faber mitgedruckten Editionen der Schriften Elisabeths von Schönau und Mechthilds von Hackeborn sowie deren handschriftlichen Vorlagen an. Sie gelangten zu dem Ergebnis, Faber habe gegenüber diesen Vorlagen lediglich eine Reihe kleinerer Änderungen vorgenommen, die zum Teil grammatikalischer, zum Teil auch stilistischer Art gewesen seien. Größere Umstrukturierungen im Satzbau, wie sie in der Edition des Scivias vorlägen, seien hingegen nicht zu bemerken. Fabers

Scivias-Druck weicht aber stark von dem im Riesencodex überlieferten Text ab. Der Eindruck, Faber habe dieses Projekt rasch, um nicht zu sagen überstürzt, realisiert, stellt sich aber auch noch von einer anderen Seite her ein. So war es Faber, wie aus seinem oben zitierten Brief an Beatus Rhenanus vom 24. Juni 1511 hervorgeht, zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht bekannt, daß just im Jahr seiner Rupertsberger Reise (1509) ein in seinem Sammelwerk berücksichtigter Text bereits anderweitig erschienen war. Dabei handelt es sich um den bei Johann Thanner in Leipzig gedruckten Speculum [Liber] spiritualis gratiae Mechthilds von Hackeborn.2 Auch die Tatsache, daß Faber die Urheberschaft Mechthilds sowie jene des Wetinus (Uguetinus) nicht zu identifizieren vermochte, stellt seinem Kenntnisstand kein gutes Zeugnis aus. Beides sind Indizien dafür, daß zumindest Teile des Liber trium virorum et trium spiritualium virginum wohl nur als Nebenprodukte anderer, Faber wichtigerer Editionsarbeiten betrachtet werden können. Hermas und Nicolaus Cusanus fesselten ihn 1

2

Vgl. Analecta,

503-517. Sawds-Teiledition nach der Hs Pal. lat. 311 der Biblioteca Vaticana in Rom, hier: S. 503. Ferner Roth 1887, S. 25f. Recht drastisch in ihrem Urteil sind Schrader/Führkötter 1956, S. 17: „Wenn Faber behauptet, den ,Archetypos' [des Scivias, Ergänzung] gelesen zu haben, so hat er dennoch den ältesten Text nicht überliefert, wie sein bona pro parte eindeutig ausweist. Die „Verbesserungen" bestehen darin, daß Faber den Hildegardischen Stil nach seinen humanistischen Gesichtspunkten derart umgestaltete, daß die typische Hildegardische Textgestalt weitgehend verletzt wurde. Doch ließ Faber Inhalt und Grundaufbau unberührt." Das Werk trägt den exakten Titel : Speculum spiritualis gratiae ac mirabilium revelationum divinitus factarum sacris virginibus Mechtildi et Gertrudi. Monialium cenobii divinitus Helffede pro saluberrimma in Christo proficientium instructione comportatum.

Leipzig: Impensis Jacobi Thanner,

1510.

Der Scivias

105

augenscheinlich stärker als Hildegard von Bingen, Wetinus oder Mechthild von

Hackeborn. Doch selbst wenn dieser Befund tendenziell zutreffen sollte, so ändert er nichts an Fabers grundsätzlich positiv ausfallender Einschätzung von Hildegards Werk. Ein weiteres kommt hinzu: Faber hat zwischen f492, dem Erscheinungsjahr seines ersten Buches, und 1536, seinem Todesjahr, mehr als 300 Bücher entweder selbst geschrieben oder als Redaktor herausgebracht. Bedenkt man diese riesige Leistung, so wird klar, daß ihm gar keine Zeit blieb, sich um redaktionelle Detailfragen einzelner Textausgaben zu kümmern. Man kann ihn in diesem Punkt vielleicht mit Jacques-Paul Migne, dem berühmten Großeditor des 19. Jahrhunderts, vergleichen, für den ja auch der philologische Feinschliff am Text eher von sekundärer Bedeutung war. Fragt man nach den Gründen, die Faber bewogen haben mochten, vor allem Schriften visionstheologischen Inhalts zu veröffentlichen, so läßt sich folgendes sagen: Basierend auf dem erkenntnistheoretischen Axiom vom Vorrang der intellektualen (= mystischen) vor der rationalen (= philosophischen) Erkenntnis, hatte Faber etwa gegen 1507 eine Wendung von der aristotelischen Philosophie zur kontemplativen Mystik durchgemacht. Nach 1519 überwand er auch diese Phase und beschäftigte sich nur noch mit der Heiligen Schrift selbst. Während dieser Phase jedoch war er bemüht, möglichst viele mystische Texte, die zuvor nur in Handschriften kursierten, einem breiteren Publikum näherzubringen. Diesem Ziel dienten seine zahllosen Editionen mystischer Autoren. Zu ihnen zählten so herausragende Denker wie Raimon Lull, Hugo und Richard von St. Victor, Dionysius Areopagita, Wilhelm von Auvergne, Raymundus Jordanus, Johannes Ruysbrook und Nicolaus Cusanus. Faber verhielt sich hier wie viele andere Humanisten, für die die Präsentation bislang unbekannter oder schlecht edierter Texte aus den Bereichen von Naturkunde, Literatur, Philosophie oder Theologie einen zentralen Aspekt ihres Wirkens darstellte. Mit Henri Etienne in Paris stand Faber dabei ein Partner zur Seite, der zu den renommiertesten Druckern seiner Zeit gehörte. Etiennes zahlreiche Verbindungen, aber auch seine rein merkantilen Interessen sicherten seinen Verlagsprodukten in der Regel eine weite Verbreitung. Ob Faber im unmittelbaren Vorfeld der Reformation durch die von ihm edierten Schriften auch ein reformtheologisches Signal setzen wollte, bliebe zu untersuchen. Immerhin gibt es Anhaltspunkte in seinem Schaffen, die eine solche Einstellung möglich erscheinen lassen. Die visionären und mystischen Schriften der Vergangenheit waren ja tatsächlich vorhandene Kritik an der Kirche im Gewände historischer geeignet, eine latent Eine Hypothese, die an Gewicht gewinnt, wenn zu artikulieren.1 Überlieferung 1

Rice 1971, S. 97, umschreibt diese Intention mit dem treffenden Begriff der „inner reformation": „Lefevre's general attitude then to the varied and representative col-

lection of mystical

texts

he published was

one

of the warmest admiration. Such books

illuminate, purge, and perfect. They edify. Their Christian eloquence raises the mind divine things. They provoke sympathetic readers and train them to contemplation." to

to

inner reformation and renewal

Kapitel 2

106

hinzuzieht, daß Faber eine Reihe von Schriften edierte, die sich unmittelbar die Mönche und Priester seiner Zeit wandten. Diese Schriften verfolgten das Ziel, den asketischen Eifer der Adressaten zu stimulieren. Genannt seien das Qmncuplex Psalterium,1 das die Mönche zu einem besseren Singen und zu einem tieferen Verständnis der Psalmen befähigen wollte, oder der aus der Feder Bernos von Reichenau (f 1048) stammende Traktat De officio missae.2 Zweck der letztgenannten Schrift war es, den Klerikern ans Herz zu legen, „ne negligenter et inscie sanctum opus aggrediantur" (f. lv). Daß Faber vor dem Hintergrund dieses weitgespannten Horizontes die Mystiker zwar grundsätzlich schätzte, gleichzeitig jedoch kein sonderliches Interesse an textkritischen Details und philologischen Subtilitäten ihrer Schriften besaß, liegt auf der Hand. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß kaum ein bedeutender Humanist jener Epoche nicht gleichzeitig reformtheologisch orientiert war. Ins Gedächtnis zu rufen ist schließlich, daß in der Kartause St. Michael in Mainz eine bearbeitete, handschriftliche Kopie von Teilen des Scivias entstand, die auf der Grundlage von Fabers Erstdruck aus dem Jahre 1513 basierte. Die Sammelhandschrift (es handelt sich um einen Papiercodex) geht nach Ausweis des Wasserzeichens in die Zeit 1520 bis 1540 zurück. Sie enthält u. a. Texte Gertruds von Helfta (Legatus divinae pietatis) und Mechthilds von Hackeborn (Liber specialis gratiae) und gehört heute zum Bestand der Stadtbibliothek Mainz (Hs I 330 [582]).3 Von besonderer Bedeutung ist dieser Textzeuge des Scivias vor allem deshalb, weil der unbekannte Kartäuser, der ihn herstellte, seine Vorlage nicht bloß exzerpiert oder kopiert, sondern teilweise in Gebetsform umgestaltet hat. Marc-Aeilko Aris hat diese Verfahrensweise wie folgt beschrieben: „Nachdem der Exzerptor seine Vorlage offensichtlich sehr sorgfältig gelesen und verinnerlicht hat, übernimmt er einen Teil des gelesenen Texman an

1 2

3

Faber Stapulensis Psalterium. Faber Stapulensis Libellas. Das Werk enthält die Gebete vor und nach der Messe, den Text des Canon missae sowie einige einfach gehaltene Erklärungen zum Ablauf der Meßliturgie. Fabers Edition steht am Beginn einer ganzen Reihe meßtheologischer Traktate humanistisch-vorreformatorischer Provenienz. Genannt seien hier nur Geoffroy Boussard mit seiner Schrift De divinissimo missae sacrificio expositio (1511) und Jodocus Clichtoveus (1472-1543), Fabers Schüler und Mitarbeiter, mit seinem

Elucidatorium Ecclesiastkum (Paris: Henri E[s]tienne, 1516), dessen gesamtes drittes Kapitel der Messe gewidmet ist. Der Scivias umfaßt f. 229r-293r. Vgl. Schreiber 1927, S. 42. Schreiber weist nach, daß die Kartause bereits seit 1520 im Besitz von Fabers Erstdruck des Scivias war. Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris gehen dennoch davon aus, daß der Kopist nicht den Druck, sondern eine Handschrift als Vorlage verwendet habe (Führkötter/Carlevaris 1978, S. LV). Diese Annahme läßt sich allerdings nicht zwingend beweisen. Sie resultiert aus einem Analogieschluß, konkret aus der Beobachtung, daß der Kopist für den Text Mechthilds von Hackeborn ebenfalls nicht aus Fabers Druck, sondern aus einer Handschrift geschöpft habe. Vgl. hierzu Aris 1999, S. 22-29.

Der Scivias

107

gibt ihn in Form eines Gebetes so wieder, daß der Wortbestand einer Passage vollständig erhalten bleibt, das Satzgefüge aber völlig neu gestaltet wird. Das Sprechsubjekt der Vorlage, Gott, wird durch die erste Person Singular als das Sprechsubjekt des geschriebenen Textes ersetzt. Damit schafft der Exzerptor die grammatischen Voraussetzungen dafür, daß ein künftiger Leser sich den gelesenen Text zueigen machen kann."1 Wir haben hier den ganz seltenen Fall einer retrospektiv gewandten Textüberlieferung vom Druck in die Handschrift tes

...

und

zurück.

2.4.2 Die Wirkungsgeschichte der Editio princeps des Scivias Nun wäre der oben geäußerte Befund über die mangelhafte

textphilologische Qualität der Editio princeps des Scivias nicht unbedingt dramatisch, hätte nicht Fabers Ausgabe eine solch lange Wirkungsgeschichte besessen. Immerhin mehr als 100 Jahre dauerte es, bis eine zweite gedruckte Ausgabe des Werkes heraus-

kam. Aber auch diese Editio secunda stand ganz unter dem Einfluß von Faber Stapulensis. Hier der genaue Titel des Zweitdruckes : 1.) REVELATIONES // SS. Virginum HILDEGARDIS // & II ELIZABETHAE // SCHOENAVGIENSIS // ORDINIS S. BENEDICTI // In Martyrologium Romanum relatarum // EX ANTIQUIS MONUMENTIS EDITAE: // Unà cum variis Elogiis ipsius Ecclesiae // & Doctorum Virorum. II [Darunter Stahlstich mit dem Verlagssignet des Druckers Antonius Boetzer: ein aufrecht stehender Löwen, die Umschrift „Vis consili expers mole ruit sua" und die Druckermarke A B]. COLONIAE AGRIPPINAE, // Ex officina ANTHONII BOETZERI Haeredum. // M. DC. XXIIX. // Cum facultate Superiorum. [Darin: Scivias, II S. (unpag.), S. 1-166. Es folgen die 6 Libri uisionum S. Elizabethae Virginis, die bis S. 225 reichen. Ein „Index rerum praecipuarum in libros revelationum SS. Hildegardis et Elizabethae virginum" von sechs nicht gezählten Seiten schließt den Band ab]. Der Drucker Anton Boetzer stammte aus Neuß. Seit 1609 betrieb er in Köln einen Verlag mit zugehöriger Druckerei. Seine Offizin befand sich im Haus zum roten Löwen vor St. Paul, also im alten Buchhändlerviertel Kölns. Boetzer druckte anfänglich zusammen mit Johann von Mertzenich, nach einem Jahr gemeinsamer Aktivität dann allein. Etwa 60 Drucke, meist in lateinischer Sprache, sind aus seiner Offizin nachgewiesen. Darunter befinden sich u. a. einige Werke der Kirchenhistoriker Abraham Bzowski und Diego Alvarez.2 Seit 1624 werden Boetzers Erben im Impressum genannt; sie sind bis 1632 bezeugt. 1 2

Aris 1999, S.28. Vgl. hierzu Repgen 1975, S. 31. Zwischen 1616 und 1627 erschienen in Boetzers

Offizin (bzw. Erben) insgesamt sechs von dem polnischen Dominikaner Abraham Bzovius (Bzowski) herausgegebene Folge-Bände zu den Annales Ecclesiastici des Caesar Baronius. Die kurzen Erscheinungsintervalle lassen nach Repgen auf eine leistungsfähige Druckerei schließen.

Kapitel 2

108

Boetzers Druckerzeichen sind in der Reihe Alte Kölner Druckerzeichen der Bibliophilen-Gesellschaft Köln (N. F. 14, 63, 141 und 171) abgebildet. Sein Ver-

eine theologische Ausrichtung, so daß das Erscheinen der Visionsschriften Elisabeths und Hildegards nicht weiter überrascht.1 Der Scivias-Umck Boetzers basiert vom Text her auf der Ausgabe des Faber

lag besaß

Stapulensis. Allerdings sind, wie Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris in der Einleitung zur historisch-kritischen Ausgabe des Scivias (S. LIX) dargeIm Unterlegt haben, weder Faber noch der Herausgeber der Edition genannt.Edition der 1513 in die werden schied zu Fabers Ausgabe von vorliegenden den sich Alle auf die ohne Wörter Marginalien, Kürzungen wiedergegeben. Inhalt der Visionen beziehen, sind jedoch übernommen. Auch der lange Ein-

schub vor dem Schlußsatz von Buch III, Visio 5, Cap. 33 („Ipse enim Deus ut hominem quem formaverat redimeret") findet sich in dieser Ausgabe. Anstelle eines Vorwortes oder eines Widmungstextes erscheint ein zweiseitiger Vorspann („De S. Hildegarde sanctimoniali ex ordine S. Benedicti ELOGIA quaedam Ecclesiae ac Doctorum Virorum ex Martyrologio Romano 17. Septembr."). Er enthält insgesamt zehn auf Hildegard bezogene Lobsprüche, die offenkundig den Zweck verfolgten, ihre Aufnahme in das MartyroloVerehrung abzugium Romanum hervorzuheben und damit ihre liturgische indessen sehr viel stützen. Die Wurzeln dieser liturgischen Verehrung reichen des Köln Marerschienene Ausgabe weiter zurück. Bereits 1604 führte eine in Darüber hinaus C. auf. H. Graef vermittelt tyrologiums Hildegard namentlich im Lexikon für Theologie und Kirche die leider nicht weiter belegte Information, Hildegard erscheine seit dem 15. Jahrhundert im Martyrologium.2 Vermutlich stützt Graef sich bei dieser Angabe auf den editorischen Vorbericht der von Migne abgedruckten Acta Hildegardis. Migne benennt das Jahr 1412 als belegbaren Anfang einer martyrologischen Verehrung und verweist dabei auf einen nicht genauer bezeichneten Hagenauer Codex des Martyrologium Usuardi? Die erste Erwähnung Hildegards in einer gedruckt erschienenen Allerheiligenlitanei findet sich in der Mainzer Agende des Jahres 1480 (f. 17v), die auf Veranlassung des Mainzer Erzbischofs Diether von Isenburg (Amtszeit 1459/61-1475/82) gedruckt wurde.4 Ob der Vermerk des ungenannt bleibenden Herausgebers „ex antiquis monumentis editae" so zu verstehen ist, daß die Edition tatsächlich unter Zuhilfenahme alter Handschriften veranstaltet wurde, bleibt unklar. Da die Anlehnungen an die Ausgabe des Faber Stapulensis jedoch vielfältig und deutlich sind, ist ...

-

1

2 3 4

-

Für freundliche Auskunft zu den Kölner Offizinen Boetzers und Wolters sei Herrn Professor Dr. Wolfgang Schmitz (Köln) sehr herzlich gedankt. Graef 1960. Natales, Res Gestae, Scripta, Sp. 89 AA.SS, S. 678. Agenda Moguntinensis. Hrsg. Diether (von Isenburg), Kurfürst von Mainz. Mainz: [Johann Neumeister], III. Kai. Jul. [29. Juni] 1480. 4° (H 369; GW 468). Vgl. Reifenberg 1972. =

Der Scivias

109

dies stark anzuzweifeln. Viel wahrscheinlicher ist, daß Boetzers Druck nur eine geringfügig veränderte Neuauflage von Fabers Edition aus dem Jahre 1513 darstellt und daß die zitierte Wendung sich an Fabers Formulierung „archetypos legissem" anlehnt. Daß die Gestalt Hildegards von Bingen zu Beginn des 17. Jahrhunderts offensichtlich wieder verstärkt in den Blick der Öffentlichkeit rückte, darauf deutet auch ein von Wolfgang Brückner erwähntes Schauspiel über die hl. Hildegard aus dem Jahre 1617 hin.1 Auffällig ist bei all dem, daß noch im gleichen Jahr (1628) ein weiterer Druck der Editio secunda des Scivias entstand. Auch er erschien in Köln. Die Ausgabe wurde von Bernardus Gualtherus (Bernhard Wolter) gedruckt; sie trägt exakt den gleichen Titel wie die Ausgabe von Boetzers Erben:

2.) REVELATIONES // SS. Virginum // HILDE GARD IS // & // ELIZABETHAE II SCHOENAVGIENSIS II ORDINIS S. BENEDICTI II In Martyrologium Romanum relatarum // EX ANTIQUIS MOND'MENTIS EDITAE: / Vna cum variis Elogiis ipsius Ecclesiae / & Doctorum Virorum. II [Verlagssignet und Druckermarke des Anton Boetzer, s. o.]. COLONIAE AGRIPPINAE, // Ex officina BERNARDI GVALTHERI Bibliopolae. / M.DC.XXIIX. / Cum facultate Superiorum. [Exemplar: Württemberg. Landesbibliothek Stuttgart, Sign.: Theol. f. 843]. Der Verleger Gualtherus (Bernhard Wolter + 1636; druckte 1598-1635) war Ende des 16. Jahrhunderts aus den Niederlanden nach Köln gekommen. Er war der Schwiegersohn des bedeutenden Kölner Druckers Maternus Cholinus (druckte 1557-1588), der über enge Kontakte zu den Jesuiten verfügte und in seinen mehr als 350 Drucken (meist theologischen Inhalts) entschieden den katholisch-gegenreformatorischen Standpunkt vertrat. Im Jahre 1597 übernahm Wolter in Köln die Presse des Lambert Andreä mit der Adresse Nechst der Pfaffenportzen. Seine Verlagsprodukte wurden nicht nur in Köln, sondern auch in Mainz und Antwerpen hergestellt. Wolters Signet findet sich in der Reihe Alte Kölner Druckerzeichen der Bibliophilen-Gesellschaft Köln, N. F., 10. Wolters Scivias-Ausgube ist bis auf den Druckervermerk typographisch identisch mit dem im gleichen Jahr erschienenen Boetzer-Druck. Das von ihm verwendete Druckerzeichen (der Löwe mit den Buchstaben A[nton] B[oetzer]) ist dasjenige von Boetzer bzw. Boetzers Erben. Es ist ein Hauszeichen (Boetzer bewohnte das Haus zum Löwen); auch Boetzers Eigentumsmarke (die Handelsvier und die Wolfsangel zwischen zwei Sternen) sind von Wolter beibehalten. Damit ist klar, daß der Druck aus der Werkstatt von Boetzers Erben stammt. Es sind dies Boetzers Schwäger Johannes und Constantin Münich, die -

1

-

Brückner 1975, S. 213. Das Stück steht unter dem Titel Von der heil. Hiltegard. Es ist eine Schulkomödie nach Art der Jesuitendramen und wurde am Jesuitenkolleg von Augsburg aufgeführt. Der Text wurde 1617 von Sara Mang[in], der Witwe Christoph Mangs, gedruckt. Vgl. Weller 1864a, S. 289.

Kapitel 2

110

nach Boetzers Tode, offenbar 1623, die Firma unter seinem Namen als Haeredes weiterführten.1 Hierzu paßt, daß Wolter vorrangig nicht als Drucker, sondern als Verleger tätig war.2 Das auf den ersten Blick überraschend anmutende Phänomen der Existenz zweier Kölner Scivias-Ausgaben aus ein und demselben Jahr findet damit eine plausible Erklärung. Ein Teil der Auflage wurde wohl für Boetzers Erben, der andere für Wolter hergestellt, oder Boetzers Erben verkauften einen Teil der Auflage an Wolter.3 Über die Gründe hierfür kann man nur spekulieren. Vermutlich wollte man Geld sparen, indem man die Produktionskosten teilte. Daß der Tod Boetzers die Offizin in finanzielle Schwierigkeiten, möglicherweise sogar in Schulden getrieben hat, ist ebenfalls nicht auszuschließen. Damit ist klar, daß auch Wolters Scivias-Druck auf der Textvorlage des Faber Stapulensis basiert. Die Tatsache, daß in den Elogia von Boetzers und Wolters Ausgaben Hildegards Mitgliedschaft im Benediktinerorden hervorgehoben wird („sanctimoniali ex ordine S. Benedicti"), könnte als Hinweis auf eine benediktinische Inauguration beider Textausgaben dienen. Der Zusatz „cum facultate superiorum", den Wolter und Boetzer bringen, kann im Sinne einer öffentlichen Legitimation durch die zuständigen Zensurbehörden verstanden werden. Bliebe ein Hinweis darauf anzufügen, daß wenige Jahre nach Erscheinen der beiden Kölner Sdwks-Ausgaben Teile von Hildegards Reliquien nach Köln verbracht wurden. Als im Zusammenhang des Dreißigjährigen Krieges Ende Dezember 1631 Mainz in die Hände der Schweden fiel, floh der damalige Mainzer Kurfürst Anselm Casimir Wambolt von Umstadt nach Köln. Auch die zu dieser Zeit regierende Amtsnachfolgerin der hl. Hildegard, Anna Lerch von Dirmstein, verließ mit mehreren Nonnen ihr Kloster und folgte ihrem Oberhirten nach Köln. In ihrem Reisegepäck befand sich ein bedeutender Reliquienschatz : Haupt, Herz und Zunge Hildegards, außerdem Gebeine des hl. Rupertus. Am Sonntag, dem 4. Juni 1634, wurden die Reliquien anläßlich einer Bittprozession zur Abwendung der Kriegsdrangsale öffentlich durch die Straßen Kölns

getragen.4

Die nächste nennenswerte Edition des Scivias erschien Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie war Bestandteil der von Jacques-Paul Migne herausgegebenen Patro-

logia

Latina.

3.) [Jacques-Paul Migne, Hrsg.]: SANCTAE HILDEGARDIS // Scivias //

SIVE // VISIONUM AC REVELATIONUM // LIBRI TRES. In: S. Hildegardis abbatissae opera omnia (PL 197), Paris 1855 1882, 1952]. Darin: Scivias, Sp. 383-738. 1 2 3 4

Vgl. Büllingen 1840; zu Boetzer: III, f. 357r-368v; hier f. 357r. Vgl. Büllingen 1840, III, f. 85r-120v; hier f. 85r. Derartige

Praktiken verzeichnet Boghardt 1977, S. 102 und 104f.

Über die Prozession berichtet

Gelenius 1639, S. 147, 291.

[Nachdruck

Der Scivias

111

Auch Migne griff, wie er im Vorwort zu seiner Edition darlegt, auf die Ausgabe des Faber Stapulensis zurück. Im Unterschied zu Faber stellte er jedoch den 26 Visionen des Scivias jeweils die Titel der enthaltenen Capitula als Summarien voraus. Die Ausgabe Mignes weist gegenüber der benutzten Vorlage (Faber) erneut Fehler auf. Bliebe zu ergänzen, daß einige Jahre später (1909/12) in Paris eine französische Übersetzung des Scivias erschien; auch ihr liegt die Textgestalt der Serams Ausgabe des Faber Stapulensis und damit letztendlich jene des Riesencodex zugrunde.1 Das gleiche gilt, zumindest indirekt, für die von Pierre Lachèze veranstaltete Serams-Übersetzung aus dem Jahre 1863. Allerdings greift Lachèze nicht unmittelbar auf Faber, sondern auf eine der beiden Kölner Ausgaben von 1628 zurück.2 Was den weltanschaulichen Hintergrund dieser beiden SeramsÜbersetzungen anbetrifft, so wollte Pierre Lachèze seine Publikation in einem politischen, explizit antirepublikanischen Sinne verstanden wissen. In den fünf Tieren, die das kommende Ende der Zeiten symbolisieren, erkannte Lachèze ein Modell zur Deutung der politischen Situation Frankreichs im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der graue Wolf als Signum für das Zeitalter des Antichrist versinnbildlicht demnach die Dritte Republik. Eine ganz ähnliche Haltung vertrat Abbé M. Michaud in seiner 1876 in Aix-en-Provence erschienenen Dissertation Sainte Hildegarde : Sa vie et ses oeuvres. Auch der Ultra-Nationalist R. Chamonal wollte mit seiner Serams-Übersetzung einen Beitrag zur Überwindung des wie er es ausdrückte republikanischen Atheismus leisten. „La Révolution", so Chamonal, „n'est qu'un accident qui ne doit pas durer. Plaise à Dieu d'envoyer à notre patrie bien aimée quelques unes de ces femmes fortes qui, sur le modèle de la bienheureuse Hildegarde, restaurent les sociétés décadentes."3 4.) Johann Philipp Schmelzeis: Die neun Chöre der seligen Geister. Aus dem Scivias der heiligen Hildegardis. Im Urtext mit den Varianten der Wiesbadener Handschriften, nebst Uebersetzung, Erläuterung und einer Einleitung über die Sehergabe der Heiligen. Von f. Ph. Schmelzeis, Pfarrer und Gustos der Reliquien der hl. Hildegardis zu Eibingen im Rheingau. Regensburg, G. J. -

-

-

Manz 1870. 8°. 84 S.

Johann Philipp Schmelzeis war Pfarrer und Kustos der Reliquien der hl. Hildegard zu Eibingen. Mit der vorliegenden Schrift wollte er eine Gesamtausgabe der Werke Hildegards anregen. Sein Auszug aus dem Scivias liefert Buch 1, Visio 6. Der lateinische Text ist Mignes Patrologia Latina (Bd. 197) und damit indirekt der Ausgabe Fabers aus dem Jahre 1513 entnommen. Um textkritische Fragen war Schmelzeis nach eigenem Bekunden nicht bekümmert: „Welchen Werth dieser Text hat, wissen wir freilich nicht, indem wir bei Migne keinen näheren Aufschluß darüber gefunden haben." (S. 9). Lediglich die Tatsache, daß 1

Scivias 1909/1912.

2

Révélations

3

Scivias 1909/1912. Hier zit. nach Gouguenheim 1995, S. 184.

(fr.)

1863.

Kapitel 2 Migne auf Faber Stapulensis basierte, war ihm bekannt. Neben dem Migne-Text I 12

lieferte Schmelzeis eine deutsche Übersetzung sowie Erläuterungen zum Text. Außerdem sind dem lateinischen Text die Lesarten der beiden Wiesbadener Hildegard-Codices (des Riesencodex und der seit 1945 verschollene Hs 1 der HLB) beigefügt. Damit steht Schmelzeis trotz gegenteiliger Beteuerungen seinerseits am Beginn einer vergleichenden Textphilologie des Scivias. -

-

5. ) [Jean-Baptiste Pitra, Hrsg.]: Analecta Sanctae Hildegardis opera. Monte Cassino 1882 (Analecta sacra, Bd. 8) [Nachdruck Farnborough 1966]. Darin: Scivias, S. 503-517. Kardinal Pitras (1812-1889) Minimaledition des Scivias ist Teil eines ganzen Bandes von Hildegard-Texten, den Pitra aus Mangel einer umfassenden Gesamtausgabe gegen Ende des 19. Jahrhunderts herausbrachte. Im einzelnen berücksichtigte Pitra u.a. den Liber vitae meritorum, die Expositiones evangeliorum, einen Teil des Epistolariums und die Carmina. Pitras Scivias-Fr&gment basiert auf der Handschrift Bibl. Vat., Cod. Pal. lat. 311. Damit weicht Pitra als erster von der auf dem Riesencodex basierenden Überlieferung ab. Die römi-

sche Handschrift wurde

Jahre 1179 das heißt, noch zu Lebzeiten Hildegards angefertigt. Herstellung war das Skriptorium von Kloster Rupertsberg. Die Abschrift sticht durch besondere Sorgfalt und geringe Fehlerhaltigkeit hervor. Gleichwohl ist Pitras Edition keineswegs fehlerfrei; sie weist überdies erhebliche Abweichungen gegenüber der Ausgabe von Faber/ Migne auf. Im einzelnen edierte Pitra die Protestificatio, die komplette erste Vision von Buch 1 sowie die Capitulationes zu den übrigen Büchern des Scivias. Pitra, seit 1841 Mitglied des Benediktinerordens, wollte mit dem von ihm publizierten Exzerpt eine Gesamtausgabe der Schriften Hildegards anregen.1 Er war Mitarbeiter an Mignes Patrologia und wurde im Jahre 1843 Prior der Abtei von Saint-Germain-des-Pre's in Paris, in der ja auch Faber Stapulensis, der erste Scivias-Editor, eine Zeitlang gelebt hatte. 6. ) [F. W. E. Roth, Hrsg.]: Saw^s-Teiledition, in Roth 1888. Roth edierte aus einer bis ins 16. Jahrhundert zum Zisterzienserkloster Eberbach gehörenden SawiW-Handschrift des 12. Jahrhunderts. Der Heidelberger und der Eberbacher Codex (beide 12. Jh.) verweisen durch gemeinsame Textvarianten aufeinander. Die Handschrift befand sich aus Säkularisationsgut bis 1918 in Roths Privatbesitz. Sie ist heute verschollen. Hildegard pflegte persönliche Beziehungen zum Kloster Eberbach und dessen Abt Eberhard. Roths Edition gibt die Kapitelüberschriften der sechs Visionen des ersten Teiles, die Protestificatio, Visio 1 sowie den Text von 11 Kapiteln der Visio 2 vor

dem

Ort der

-

-

wieder. 1

„Utinam exoriatur aliquis, omni armatura fortium constrictus, qui universa Hildegardis opera, hactenus nota vel adhuc ignota, circumcingat, ac pro eorum copia, dignitate, sublimitate, novam curet, quam dicunt editionem vere principem, omnibus numeris

absolutam;

..."

Analecta,

S. XIX.

Der Scivias

113

[Hrsg.]: Nouae editionis operum omnium s. HilOmnibus studiosis divinae sacrorum librorum linguae degardis experimentum. sacri altaris ministris propositum. S. Pétri Arenarii: ex officina hospitii Salesiani S. Vincentii 1893. XV, 377 S. (Text von Scivias: S. 1-272; Notae des Herausgebers: S. 273-377). Wie Pitras Edition, griff auch die (unvollständige) Scivias-Ausgabe Augustin Damoiseaus auf die vatikanische Handschrift Cod. Pal. lat. 311 zurück. Damoiseaus Edition weist nicht wenige Fehler auf. Im einzelnen berücksichtigt sie Buch 1 (sechs Visionen) und Buch 2 (sieben Visionen) des Scivias. Das gesamte Buch 3 mit seinen 13 Visionen fehlt. Allerdings sind die beiden vorhandenen Partien mit umfassenden kommentierenden Anmerkungen versehen. Wie Damoiseau im Vorwort (Prooemium, S. VII-XV) bemerkt, verfolgte er den Plan, eine neue und korrekte Ausgabe aller Schriften Hildegards (Operum Sanctae Hildegardis) herauszubringen. Die vorliegende Teilausgabe (Experimentum) des Scivias sollte ermitteln helfen, wie hoch die Zahl der möglichen Subskribenten wäre. Die Anregungen zu einem solchen Projekt, mit dem Damoiseau sich über 35 Jahre hinweg befaßte, erhielt er seinen eigenen Ausführungen gemäß von Kardinal Pitra. Aus welchem Grunde Damoiseaus Projekt schließlich nicht realisiert wurde, bleibt unklar. 7. ) Augustin Damoiseau

8. ) Hildegardis Scivias. Edidit Adelgundis Führkötter O.S.B, collaborante Angela Carlevaris O.S.B. 2 Bde. Turnholti 1978 (Corpus Christianorum. Continuatio mediaeualis, Bd. XLIII und XLIIIa). [Deutsche Übersetzung: Hildegard von Bingen: Scivias. Wisse die Wege. Eine Schau von Gott und Mensch in Schöpfung und Zeit. Übers, und hrsg. von Walburga Storch OSB, Augsburg 1991, 31997]. Die Vorarbeiten zur ersten historisch-kritischen Edition des Scivias reichen bis an den Anfang dieses Jahrhunderts zurück. Um 1910 hatte Louis Baillet, ein Mönch der Abtei Oosterhout, ein solches Projekt in Angriff genommen. Die Arbeit blieb jedoch unvollendet liegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte der wissenschaftliche Nachlaß Baillets über die Abtei Egmond (Holland) in die Abtei St. Hildegard nach Eibingen. Es wurde weiter oben bereits darauf hingewiesen, daß der Text des illuminierten Scivias die Grundlage der kritischen Edition hergegeben hat. 2.5

Zusammenfassung

gegenüber den beiden anderen Visionswerken sowie den übrigen Schriften Hildegards eine deutliche Vorrangstellung. Er gegenüber war es, auf den sich das positive Votum Papst Eugens III. 1147/48 bezog, das Hildegards prophetischen Ruhm begründete und dauerhaft sicherte. Für die Nachwelt blieb Hildegard oft nur die Autorin des Scivias. Wie einige mittlerweile verschollene Textzeugen belegen, wurde der Scivias bereits in den 50er Jahren des 12. Jahrhunderts auf dem Rupertsberg kopiert und gezielt versandt. Der Scivias besitzt

114

Kapitel 2

Die Sonderstellung des Scivias im Sinne eines visionären Initiationstextes läßt sich anhand der vergleichsweise hohen Anzahl von Abschriften gut belegen. Keine andere Visionsschrift Hildegards kommt quantitativ an die Überlieferungsdichte des Scivias heran. Im ganzen können zehn vollständige und sieben unvollständige Textzeugen nachgewiesen werden, von denen immerhin zehn der autornahen Situation des 12. Jahrhunderts entstammen. Hinzu kommen 13 verschollene Abschriften. Daß der Scivias auch der erste gedruckte Text Hildegards war (Paris 1513), paßt in dieses Bild. Wie die frühen Abschriften, so verdankte sich auch die von Faber Stapulensis herausgegebene Editio princeps des Scivias virulenten Bemühungen des Rupertsberger Konvents um eine gezielte Popularisierung von Hildegards Werk. Die Druckausgabe bewirkte zwar keine tiefergehende Begegnung zwischen dem Humanismus und dem Werk Hildegards. Sie schuf aber durch den Nachdruck von Fabers Edition im Jahre 1628 die entscheidende Voraussetzung für das Fortleben Hildegards in Kreisen des kirchlich-orthodoxen rheinischen Katholizismus. Auch die Anfertigung einer illuminierten Prachtausgabe des Scivias [olim: HLB Wiesbaden, Hs 1] dokumentiert die frühe Wertschätzung des Textes auf dem Rupertsberg. Aufgrund ihres hohen Alters und ihrer sorgfältigen Ausstattung ist dieser Textzeuge von Angela Carlevaris zur Leithandschrift der kritischen Edition gemacht worden. Zur Zeit der Herstellung der kritischen Edition nahm man (entgegen der heutigen Forschungsmeinung) noch eine Entstehung des Riesencodex nach Hildegards Tod an (1180/90). Dies führte zu einer textkritischen Minderbewertung des im Riesencodex niedergelegten Scivias-Textzeugen. Heute geht man davon aus, daß die Textzeugen des illuminierten Scivias und des Riesencodex etwa zeitgleich entstanden sind. Insgesamt gilt, daß die weitaus meisten Textzeugen des Scivias in Hildegards Hausskriptorium entstanden sind und in das 12. Jahrhundert fallen. Mit zunehmender zeitlicher Entfernung von Hildegard nimmt die Überlieferungsfrequenz des Textes ab. Allerdings entstanden durch die Sonderüberlieferung von Gebenos Pentachronon und die Zitation des Scivias in vielen chronikalisch-annalistischen Werken des 13. und 14. Jahrhunderts Gegenbewegungen, die dafür sorgten, daß der Ruhm von Hildegards erster Visionsschrift nicht verblaßte. Hier ging die Tendenz jedoch weg von einer vollständigen Kenntnisnahme des Textes hin zu einer selektiven, auf die apokalyptischen und kirchenkritischen

Inhaltselemente fokussierten Rezeption. Lassen wir damit die überlieferungsgeschichtlichen Erhebungen zum Scivias auf sich beruhen und wenden wir uns Hildegards zweiter Visionsschrift, dem Liber vitae meritorum, zu.

KAPITEL 3

Der Liber vitae meritorum

(LVM)

meritorum, Hildegards zweite Visionsschrift, ist nicht zu als der am wenigsten bekannte Teil ihrer sogenannten Visionstrilogie Unrecht bezeichnet worden.' Der Grund für diesen aus der Sicht der modernen Hildegard-Rezeption gewonnenen Befund könnte darin liegen, daß der Text zwar innerhalb der Analecta Sacra Kardinal Pitras ediert wurde, aber keine Aufnahme in die sehr viel wichtigere Patrologia Latina Jacques-Paul Mignes fand. Naturgemäß ergibt sich aus diesem Befund die Frage, ob der Liber vitae meritorum auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eine vergleichsweise so geringe Beachtung gefunden hat wie dies für die Moderne gilt. Inhaltlich geht es in Hildegards zweiter Visionsschrift um den Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen Tugenden und Lastern sowie um die Rückbesinnung des Menschen auf seine schöpfungstheologisch grundgelegte Gottebenbildlichkeit, eine Thematik also, die inhaltlich jener des Or do virtutum ähnelt und die im wesentlichen dem Bereich der theologischen Ethik zuzuordnen ist. Der Liber vitae

-

-

Rezeptionsspuren des LVM im Mittelalter Im folgenden sollen zunächst die zeitgenössischen Rezeptionsspuren des Liber vitae meritorum aus dem 12. Jahrhundert erfaßt werden, soweit diese heute noch greifbar sind. Wie ist der Text im unmittelbaren Lebensumfeld Hildegards registriert worden? Welche Kreise haben ihn gelesen und kopiert, welche Bedeutung besaß er für die Herausbildung bzw. Weiterentwicklung von Hildegards auctoritas und memoria? Die Antworten auf diese Fragen sollen ermitteln helfen, in welcher Weise die spätere Überlieferung des Liber vitae meritorum keimhaft von Hildegard bzw. von ihrem engsten Mitarbeiterkreis präformiert war und welche Wege diese ihrer EntÜberlieferung mit zunehmender Entfernung vom Ausgangspunkt Testimonien der im der nahm. Ich in Ausbreitung entsprechenden folge stehung wesentlichen Angela Carlevaris und ihren Darlegungen in der Einleitung der

3.1

kritischen Edition des Liber vitae meritorum (S. XII-XVI). Der Liber vitae meritorum ist in den Jahren 1158 bis 1163 entstanden. Im Gegensatz zum Scivias, der zu Beginn die berühmte Protestificatio enthält, besitzt der Liber vitae meritorum keine ausführliche Einleitung. Allerdings finden sich in einer dem eigentlichen Visionstext vorgeschalteten Praefatio wichtige Angaben zur Entstehungsgeschichte des Werkes. Nur nebenbei sei erwähnt, 1

Derolez 1973, hier S. 293: „La seconde partie de la célèbre Liber vitae meritorum, est la moins connue."

trilogie d'Hildegarde, le

Kapitel 3

116

daß die Praefatio auch für die Frage nach der Autorschaft von Hildegards übrigen Schriften von großer Bedeutung ist. Hildegard erwähnt darin sämtliche Werke, die sie bis zur Niederschrift des Liber vitae meritorum fertiggestellt hatte. Demgemäß fehlt lediglich der Liber divinorum operum, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht existent war. Hier die entsprechende Passage aus der Praefatio : ET FACTVM EST in nono anno postquam uera uisio ueras uisiones, in quibus per decennium insudaueram, mihi simplici homini manivestauerat; qui primus annus

fuit, postquam eadem uisio subtilitates diuersarum

naturarum

creaturarum,

ac re-

admonitiones tarn minorum quam maiorum plurimarum personarum, et symphoniam harmonie celestium reuelationum, ignotamque linguam et litteras cum quibusdam aliis expositionibus, in quibus post predictas uisiones multa infirmitate muitoque labore corporis grauata per octo annos duraueram, mihi ad explanandum ostenderat.1

sponsa

et

Entstehungsgeschichte von Hildegards zweiter Visionsschrift anbetrifft, bekundet die Information „cum sexaginta annorum essem"2, daß die Autorin zum Zeitpunkt der Inangriffnahme des Werkes 60 Jahre zählte. Entsprechend gibt Hildegard das Jahr 1158 als Beginn der Visionen bzw. der Niederschrift dieser Visionen an. Einen weiteren Anhaltspunkt liefert die Wendung régnante Friderico Romanorum imperatore ...".3 Da Friedrich Barbarossa erst 1152 zum deutschen König gewählt wurde, ist klar, daß der Liber vitae meritorum nicht mehr auf dem Disibodenberg, Hildegards erster monastischer Heimat, entstanden sein kann. Hildegard lebte nur bis zum Jahre 1150 dort, dann zog sie in das neuerrichtete Kloster Rupertsberg um. Der Scivias gehört demgegenüber noch fast ganz in die Disibodenberger Zeit. Lediglich sein Abschluß und die Anfertigung einer Reihe von autorgesteuerten Abschriften fallen in die Rupertsberger Epoche. Wie es für den Scivias gilt, so beruft sich Hildegard auch hinsichtlich der Entstehung des Liber vitae meritorum auf eine visionäre Beauftragung: eine „uox de celo"4 habe sich an sie gerichtet und sie zur Niederschrift ihrer Visionen aufgefordert. Obwohl Hildegard infolge des großen Wirkungserfolges des Scivias zu dieser Zeit schon eine weithin geachtete prophetische Autorität war, legitimierte sie ihr schriftstellerisches Tun also wiederum im Sinne einer Reaktion auf eine manifest gewordene göttliche Willensbekundung. Gleichwohl findet sich ein innerweltlicher Hinweis auf die Authentizität ihrer Visionen: zwei Personen aus ihrer unmittelbaren Umgebung, so Hildegard, könnten die Faktizität dieser Visionen bezeugen. Man erblickt hinter den beiden namentlich nicht genannten Personen Hildegards 1173 verstorbenen SekreWas die so

„...

1 2

3 4

LVM LVM LVM LVM

1995, 1995, 1995, 1995,

S. S. S. S.

8. 8. 8. 9:

„...

audiui

uocem

de celo."

Der Liber vitae meritorum

tär Volmar und die Nonne Hiltrud

von

117

Sponheim.1 Wenn Hildegard allerdings

betont, sie habe ihre Schrift eigenhändig niedergeschrieben („manus ad scribendum posui"2), so kann dies nur cum grano salis so verstanden werden. Äuße-

rungen dieser Art werden

von Hildegard bzw. ihrem Biographen mehrfach verwendet. Sie können sich höchstens, wie die berühmte Eingangsminiatur aus dem illuminierten Scivias beweist, die Hildegard mit Stilus und Diptychon zeigt, auf das Beschreiben der Wachstafeln beziehen.3 Andere Bemerkungen deuten darauf hin, daß Hildegard offensichtlich auch diktiert hat („[puellae] quae ore meo excipiunt"4). Ildefons Herwegen geht zur Klärung dieses Sachverhaltes davon aus, daß die Seherin persönlich an der Redaktion ihrer Werke mitgearbeitet hat und daß einige Mitschwestern ihr bei der Abwicklung der Korrespondenz behilflich waren.5 Dies, so Herwegen, treffe vor allem auf die ausgedehnten Zeiten ihrer Krankheiten zu. Dagegen besitzen wir keinen Anhaltspunkt dafür, daß Hildegard wenn schon nicht in der Frühzeit ihrer schriftstellerischen Aktivitäten, so doch wenigstens in den späteren Jahren über ausreichende Lateinkenntnisse verfügt hätte, um ihre Schriften selbst orthographisch und grammatikalisch korrekt ausformulieren zu können. Hildegard hat in Form von Selbstreferenzen wiederholt auf den Liber vitae meritorum hingewiesen. Angela Carlevaris hat die entsprechenden Zeugnisse im editorischen Vorbericht zur kritischen Ausgabe des LVM (S. XII-XX) ausgebreitet. Demnach gilt, daß Hildegard in einer Art Prooemium zur Vita S. Disibodi schreibt: -

-

et post [prolatas ; Omission im Text Pitras] visiones Libri vitae meritorum, anno Dominicae incarnationis MCLXX, régnante Frederico Romanorum imperatore, vocem de coelo, vigilans corpore et animo, sie dicentem audivi ...

...

Damit bekundet

gestellt 1

Hildegard, daß der Liber vitae meritorum im Jahre 1170 fertig-

war.

hominis illius occulte quesieram et inueneram" und „cuiusdam quem mihi assistentis" (LVM 1995, S. 9), so die beiden diesbezüglichen Textpassagen. Die Anwendung der letztgenannten Textstelle auf Hiltrud von Sponheim wird von Herwegen 1904, S. 305f. und 308, vorgenommen. Auf keinen Fall kann es sich hierbei um jene im Scivias erwähnte „puella", d.h. um Richardis von Stade, handeln. Diese war, wie ihr Bruder, Erzbischof Hartwig von Bremen, Hildegard brieflich mitteilte, bereits am 29. Oktober 1152 verstorben. „...

puelle

3

LVM 1995, S. 9. Genannt seien die

4

S.291. Visio S.

2

...

...

Wendungen: „manus ad scribendum apposui", „manus tandem ad scribendum tremebunda converti"; von Hildegards Biograph stammt die Wendung „manu propria scripsit". Die entsprechenden Zitate finden sich bei Derolez 1973,

Hildegardis ad Guibertum missa. Brief Nr. XXIX, Kap. XXVII. In AnaS. 415-434; hier S. 432. Herwegen 1904, hier S. 306. Vita Disibodi 1882, Prooemium, hier S. 357. Vgl. auch Vita Disibodi 1855, Sp. 1095A. =

lecta, 5

6

-

Kapitel 3

118

Auch in der Einleitung zum Liber divinorum operum kommt Hildegard rückblickend noch einmal auf ihre zweite Visionsschrift zu sprechen. Sie nennt dort zwar nicht deren Titel, wohl aber den Inhalt: Et factum

est

in

postquam mirabiles uerasque uisiones, de quibus per uera uisio indeficientis luminis michi homini diuermorum quam maxime ignoranti demonstrauerat

sexto anno

quinquennium laboraueram, sitatem

multiplicium

In den

autobiographischen Teilen der Vita Hildegardis erwähnt Hildegard gleich zweimal. So heißt es an einer Stelle:

den Liber vitae meritorum

uisionem aspiciebam magna sollicitudine, quomodo aerii Spiritus pugnarent, uidique, quod idem Spiritus quasdam nobiles filias meas per diuersas uanitates quasi in rete perplexerant. At ego per ostensionem Dei eis hoc innotui ...2

Ad

ueram uero

contra nos

Und

später bekennt Hildegard dankbar: Quamuis autem huiusmodi tribulationibus frequenter fatigarer, tarnen librum Meritorum diuinitus michi reuelatum per gratiam Dei ad finem perduxi.3 etwas

Vite

In einem vermutlich um 1173/74 entstandenen Antwortschreiben an einen namentlich nicht genannten Abt, hinter dem man Ludwig, den Vorsteher der Abtei Trier-St. Eucharius vermutet, erwähnt Hildegard eine bis heute nicht eindeutig identifizierte Schrift, die sie mit dem Wort „scriptura" umschreibt: Interim

tarnen quandam causam unicornis, tibi tune ignotam, quesisti, que scilicet scriptura nostra fuit que plurimum resonat de carnali indumento Filii Dei, qui uirginalem naturam diligendo in ipsa uelut unicornis in sinu Virginis quiescens, dulcissimo sono pulcherrime fidei omnem Ecclesiam ad se collegit.4 Die Erwähnung des Einhorns, von dem Hildegard nur an ganz wenigen ande-

Stellen in ihren Schriften spricht, könnte, wie Angela Carlevaris herausgefunden hat, eine Anspielung auf Buch 6 des Liber vitae meritorum sein.5 Dort ren

1 2

3 4 5

LDO 1996, S. 45. Vita Hildegardis 1993, S. 37. Vita Hildegardis 1993, S. 38.

Hildegardis, ad Ludovicum abbatem (?), In Epistolarium II, Ep. CCXVII, S. 477 2731. Textgrundlage des Briefes bildet der Codex lat. qu. 674 der StBPrK Berlin.

Carlevaris 1995, S. XIV. Auch in Buch 2 des Liber vitae meritorum erscheint das Einhorn, hier sogar in direkter Verbindung zu den Tugenden, dem großen Thema von Hildegards zweiter Visionsschrift: „Nam ipse ut unicornis in sinu Virginis requieuit, et postea uelut capricornus montem uirtutum et miraculorum ascendit ..." (LVM 1995, S. 102 1075-76). Des weiteren taucht das Einhorn im Prooemium von Hildegards Vita S. Disibodi auf, das in die Zeit um 1170 datiert wird. Dort heißt es: „Abraham uero magnum opus obedientie fecerat, que Collum antiqui serpentis per eircumcisionem uulnerauit, per quam Deus ipsum confudit, quia homini mechiam infuderat, quam Virgo contriuit quando unicornem in sinum suum collocauit, qui per antiquum consilium in utero Virginis carnem induit." (Hildegardis ad Heiengerum Abbatem, in Epistolarium I, Ep. LXXVIIr, S. 169 35-40. Auf einer unterschiedlichen

Der Liber vitae meritorum

119

erscheint das Einhorn am linken Schenkel des „uir", leckt dessen Knie und beginnt zu sprechen. Seine Worte werden in Kapitel 4 bis 6 von Buch 6 der Visionsschrift ausgelegt. Die Anspielung auf das Einhorn und sein Erscheinen vor dem „uir" ist durchaus keine Nebensächlichkeit. Um die Bedeutung dieser Anspielung voll zu ermessen, hat man sich zu vergegenwärtigen, daß die Gestalt des „uir" die Zentralfigur des gesamten Liber vitae meritorum darstellt. Der „uir" reicht vom Himmel bis zur Erde. Er berührt alle Elemente und bildet den Mittelpunkt des Universums. Aus ihm geht alles hervor und auf ihn hin ist alles erschaffen. Löst man die hinter diesem Bild stehende Symbolik auf, so ergibt sich, daß der „uir" bei Hildegard sowohl Gott als auch Christus verkörpern kann. Ich werde im Zusammenhang meiner Ausführungen zu Hildegards Liber simplicis medicinae näher auf Hildegards Vorstellung vom Einhorn eingehen. Dabei werden weitere, von Jürgen Werinhard Einhorn eruierte Belegstellen zu Hildegards Einhorn-Motiv ausgewertet.1 Zeitgenössische Zeugnisse anderer Personen über den Liber vitae meritorum finden sich in zwei Schreiben von Hildegards Sekretären Volmar und Wibert von Gembloux. Angela Carlevaris hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Satz: „Vbi tunc ostensio de animabus defunctorum ?"2, der in einem um 1170 entstandenen Schreiben Volmars an Hildegard erscheint, auf den Liber vitae meritorum anspielt. Und in einem aus dem Jahre 1176 stammenden, von Wibert von Gembloux und den Mönchen von Villers gemeinsam an Hildegard gerichteten Schreiben, in dem die Villarenser Mönche Hildegard um die Beantwortung einer Reihe theologischer Fragen bitten, heißt es zum Schluß: a sanctitate tua editum et nobis transmissum, cum gaudio suscepimus, legimus, affectuose amplectimur, Deum totius gratie largitorem benedicentes et ei gratias agentes, qui ea, que in eodem libro dicta sunt, ad correctionem legentium uel audientium benigna tibi pietate inspirauit.3 Diese Mitteilung läßt erkennen, daß ein bestimmtes Werk Hildegards, in dem

Librum,

studiose

...

Marianna Schräder und Adelgundis Führkötter den Liber vitae meritorum erblicken, in Gembloux eifrig gelesen wurde („studiose legimus"), zudem, daß

handschriftlichen Textbasis wurde dieser Brief, der als Prooemium zur Vita S. Disibodi fungiert, von Pitra ediert. Vgl. Analecta, die entsprechende Stelle dort S. 352. Eine andere Bezugnahme auf das Bild des Einhorns findet sich in einem nicht datierten, an einen unbekannten Empfänger gerichteten Brief Hildegards, der bislang nicht kritisch ediert ist. Dort heißt es: „Nunc tu, fili antiqui Patris, respice ad Orientem, quia vetus et nova Lex in uno Deo posita est, sicut pallidus flos et rutilans flos in radice una, ubi unicornis venit ..." (Analecta, Ep. Nr. CXXXVI, S. 564f.). Einhorn 1998, S. 16. 132. 211. 215. 218f. 229. 353. 366. 376, Abb. 1. Volmarus ad Hildegarden!, in Epistolarium II, Ep. CXCV, S. 443. Auch Pitra hatte diesen Satz bereits auf den Liber vitae meritorum bezogen. In Anmerkung 7 zu dem von ihm abgedruckten Brief Volmars heißt es : „Innuitur, uti reor, Uber vitae meritorum." Vgl. Analecta, S. 346. Vgl. hierzu auch Carlevaris 1995, S. XIII. Guibertus Epistolae, Ep. XXI, S. 247.

-

1 2

-

3

Kapitel 3

120

die Schrift darüber hinaus auch vorgelesen wurde („ad correctionem audientium").1 Augenscheinlich wurde dem Brief, der diese Nachricht enthält, in Gembloux eine erhöhte Bedeutung beigemessen. Hierauf deutet die Tatsache hin, daß er in einer noch aus dem 12. Jahrhundert stammenden Sammlung der Briefe Wiberts, die handschriftliche Marginalien des Autors selbst enthält, an die Spitze der Korrespondenz zwischen Wibert, Hildegard und den Nonnen von Kloster Rupertsberg gestellt wurde.2 Dieses Faktum ist keineswegs nebensächlich. Immerhin gehörte der Codex von Anfang an zum Bestand des Klosters Gembloux. Albert Derolez zufolge besitzt er „une importance capitale pour la transmission des oeuvres de Guibert de Gembloux".3 Noch aufschlußreicher ist ein vor dem 1. November 1176 entstandenes Schreiben Wiberts an die Schwestern vom Rupertsberg. In diesem Schreiben nimmt Wibert Bezug auf Gerüchte, Hildegard sei verstorben. Gleichzeitig fragt Wibert nach dem Schicksal der von Hildegard erbetenen Antworten auf die Fragen der Villarenser Mönche. Dann teilt er den Rupertsberger Schwestern mit, das von ihnen zugesandte Buch das er nun ausdrücklich mit dem Titel Liber vitae meritorum benennt sei in Villers mit der gebührenden Ehrerbietung empfangen worden. Man hielte es der höchsten Bewunderung („summa ammiratione" ) für wert. Aufgrund seiner wunderbaren Lehren werde es in Villers zur Tischlektüre und in Gembloux zur Abendlesung verwendet. Hier die entsprechende Passage aus dem Schreiben Wiberts: ...

-

-

Librum meritorum uite, ab ipsa sancta matre uestra editum, et a caritate uestra nobis transmissum, débite uenerationis affectu suscepimus, summa ammiratione dignum ducimus, cuius mirifica doctrina et Villarenses primo ad mensam suam optime saginati sunt, et nos modo ad lectionem collationum delectabiliter potamur.4 von Gembloux vermittelten Nachrichten über die Berücksichtigung von Hildegards Liber vitae meritorum innerhalb der monastischen Lectio sind so zentral, daß sie einige vertiefende Darlegungen verdienen. Immerhin gehören sie zu den ganz wenigen überlieferten noch dazu zeitgenössischen Bemerkungen über die funktionale Verwendung und den konkreten Sitz im Leben von Hildegards visionären Schriften. Leider sind die Consuetudines beider Klöster, in denen die Detailbestimmungen zur täglichen Lectio niedergelegt sind, meines Wissens nicht ediert. Es bleibt daher nur ein Rückgriff auf die grundlegenden Bestimmungen der Regula Benedicti übrig.

Die in diesen Briefen des Wibert

-

-

1

Schrader/Führkötter 1956, S. 16.

2

Dabei handelt es sich um den Codex Ms 5387-5396 der Königlichen Bibliothek Brüssel. Der genannte Brief erscheint dort auf f. 177r. Derolez 1988, S. XXIII. Der Brief wurde darüber hinaus im Brüsseler Codex Ms 5527-5534, f. 155v-156r, tradiert. Hierbei handelt es sich ebenfalls um eine Handschrift aus Gembloux. Sie ist später entstanden als der Brüsseler Codex 5387-5396 und wird von Albert Derolez in das erste Viertel des 13. Jahrhunderts datiert (ebd.,

3

-

4

S. XVI). Guibertus

Epistolae, Ep. XXIII, S. 253.

Der Liber vitae meritorum

121

Was die Sprachform der visionären Texte Hildegards anbetrifft, so unterscheidet sich diese fundamental von jener anderer Mystikerinnen des Mittelalters. Genannt seien Mechthild von Magdeburg (um 1208/7-1282/94) oder Hadewijch von Antwerpen (schrieb um 1220-1240). Beide bedienten sich nicht mehr, wie Hildegard, des Lateinischen, sondern vollzogen den Eintritt des mystischen Sprechens in den Bereich der Volkssprachen (des Niederdeutschen und des Niederländischen). Mechthild besaß zwar eine hohe Bildung, sie beherrschte aber kein Latein. Das verschollene Original ihres Werkes Das fließende Licht der Gottheit war in Niederdeutsch abgefaßt. Es wurde um 1290 ins Lateinische übertragen, diese Übertragung wiederum erfuhr eine Rückübersetzung ins Deutsche. 1344 entstand zudem eine oberdeutsche Umformung des niederdeutschen Textes aus dem Kreis um Heinrich von Nördlingen.1 Von Interesse im Hinblick auf die Gebrauchsfunktion von Hildegards Liber vitae meritorum ist die Tatsache, daß auch Mechthilds Werk in monastischen Kreisen vorgelesen wurde. Es diente im Hochtal von Einsiedeln verschiedenen Waldschwestern zur Lektüre und wurde in den dortigen Ordenshäusern jeweils einen Monat lang vorgelesen. Hier waren also die sogenannten Gottesfreunde und Beginen die Rezipienten. Doch kommen wir nun zu den Lektürebestimmungen der Regula Benedicti. Die Regula Benedicti äußert sich in ihrem 38. Kapitel zur Praxis der monastischen Tischlektüre. Allerdings legt die Benediktsregel an dieser Stelle nur in sehr groben Zügen fest, nach welchen Kriterien bei der Auswahl des Lektürestoffes verfahren werden soll. Die Tischlektüre, der die Mönche in tiefem Schweigen zu folgen hatten, diente zunächst dem Zweck, Gezänk während der Mahlzeiten zu verhindern. Aus diesem Grunde war es auch untersagt, Rückfragen zum gelesenen Text zu stellen. Der Lektor eines Benediktinerkonvents trat sein Amt jeweils am Sonntag nach der Messe und dem Empfang der Eucharistie sowie nach dem fürbittenden Gebet der Mitmönche um eine demütige Gesinnung an. Diese sorgfältige Vorbereitung weist schon auf den eigentlichen Stellenwert der Lectio hin. Sie war eine wichtige monastische Ausdrucksform des Lobes Gottes. Von daher versteht sich auch die Mahnung Benedikts, es solle nicht der Erstbeste nach irgendeinem Buch greifen und gedankenlos daraus vorlesen („Nec fortuido casu qui arripuerit codicem legere ibi ...").2 Zumindest im Sinne einer Schlußfolgerung e silentio läßt sich hieraus folgern, daß die Auswahl der Tischlektüre gewissenhaft getroffen und sorgfältig überwacht wurde. Ein Prinzip, das analog auch für die abendliche Lesung galt. Bei der abendlichen Lesung handelt es sich um die in Kapitel 42 der Regula Benedicti vorgeschriebene Lectio, die nach dem gemeinsamen Abendessen und vor der Komplet zu erfolgen hatte. Die Komplet wiederum leitete die Nacht und damit die Zeit des Schweigens ein. Sie diente dem „Zusammenkommen aller" vor der Beendigung des Tagewerkes. Hinsichtlich der Ausführungen zur abendlichen Lectio ist die 1 2

Vgl. hierzu Mechtild von Magdeburg Fließendes Licht. Benedicti Regula, XXXVIII, 1, S. 97.

Andersen 2000. -

Kapitel 3

122

Regula Benedicti schon ein wenig ausführlicher als für die mittägliche Tischlektüre. Sie legt fest, daß ein Mönch nach der Abendmahlzeit die Unterredungen, die Lebensbeschreibungen der Väter oder sonst etwas, was die Hörer erbaue, vorlesen solle („... et legat unus collationes uel uitas patrum aut certe aliud, quod aedificet audientes").1 Die Unterredungen bezeichnen die Collationes patrum des ägyptischen Mönchsvaters Johannes Cassian (ca. 360-430). Sie enthalten angebliche Gespräche Cassians und seines Freundes Germanus mit anderen ägyptischen Anachoreten. Die Lebensbeschreibungen der Väter bestehen Viten östlicher Mönchsväter (Vita Antonii, Mariae Aegyptica). Hinzu kommen Apopthegmensammlungen sowie Reise- bzw. Erfahrungsberichte ägyptischer Eremiten (Historia Monachorum, Historia Lausiaca). Im Mittelalter wurden diesen Sammlungen nach und nach weitere Viten aus der westlichen Tradition hinzugefügt, beginnend mit solchen aus dem gallikanischen Mönchtum (Martin, Hilarius u. a.). Der reguläre Titel der Lebensbeschreibungen lautet Vitae patrum oder vulgärlateinisch formuliert Vitas patrum} Die Vitae patrum waren in der monastischen Lektüre so verbreitet, daß sie als „wahrefs] Hausbuch fast jedes Klosters" bezeichnet werden konnten.3 Ihre Bedeutung wird nicht überschätzt, wenn man in ihnen eine der ganz zentralen spirituellen Grundlagen des westlichen Mönchtums erblickt. Welchen Stellenwert besitzt nun Wiberts Nachricht, Hildegards Liber vitae meritorum habe den Zisterziensern von Villers und den Benediktinern von Gembloux zur monastischen Tisch- bzw. Abendlektüre gedient? Die Antwort auf diese Frage muß, da dieser Aspekt hier nur ganz am Rande gestreift werden kann, sehr zurückhaltend gegeben werden. Ausführlichere Beobachtungen zur Textgrundlage der monastischen Lectio die im Zusammenhang unserer Fragestellung nicht mehr angestellt werden können müßten den Befund abrunden und möglicherweise modifizieren. Dennoch kann folgendes gesagt werden: Natürlich hat Hildegards Visionswerk die altehrwürdigen Schriften der monastischen Tradition nicht aus dem etablierten Kanon der Lesetexte verdrängt. Andererseits bezeugt das Faktum des Verlesenwerdens dieses Textes recht eindrucksvoll, welche Stellung Hildegard in benediktinisch-zisterziensischen Kreisen des 12. Jahrhunderts genoß. Immerhin wurde ihre zweite Visionsschrift gewürdigt, den Werken bzw. Lebensbeschreibungen der geachtetsten Anachoreten und ältesten Mönchsväter an die Seite gestellt zu werden. Die früheste Rezeption des Liber vitae meritorum fand demnach, so können wir schlußfolgern, in monastischen Kreisen statt. Dem Text selbst haftete offensichtlich eine benediktinische Aura an. Damit unterscheidet sich Hildegards Visionswerk deutlich von den im Mittelalter so zahlreich aufkommenden Werken nach Art der Biblia pauperum, des Speculum salvationis oder der illustrierten Apokalypsen, aus

einem variablen

Corpus

von

Pauli, Hilarionis) und bekehrter Sünderinnen (Vita

-

-

-

-

1 2 3

Benedicti Regula, XLII, 3, S. 104. Vgl. Williams/Hoffmann 1997. Schulz-Flügel 1989, S. 289. Vgl.

auch Berschin 1986, S. 188-191.

Der Liber vitae meritorum

123

die sich von vornherein an ein breiteres wenn auch lesekundiges Publikum wandten und auch von nicht-monastischen Kreisen rezipiert wurden.1 Wirft man einen Blick auf Hildegards eigene Auslegung der Regula Benedicti, so zeigt sich, daß Hildegard um die herausragende Stellung der monastischen Lectio, und damit um die Ehre des Vorgelesenwerdens, durchaus wußte. Sie bezeichnet diese Lectio als heiligen Dienst, der zur Zeit Benedikts dem Altardienst gleichgestellt worden sei. Der Lektor, so Hildegard im Anschluß an Benedikt, vermittle heilige Worte. Sonntags, vor dem Antritt seines Dienstes, solle er die Eucharistie empfangen. Während seiner sich über eine Woche erstreckenden Lesetätigkeit solle er nur Mischwein (mit Wasser gemischten -

-

Wein) empfangen.

Frater autem lector hebdomadarius accipiat mistum, ut supra dictum est, prius quam incipiat legere, propter communionem sanctam, quia in tempore beati Benedicti ad mensam lecturus, velut Deo ad altare serviret, quoniam sancta verba pro-

ferre debebat, Dominica die communicabat.2

Der Codex, aus dem der Liber vitae meritorum beim Mittagstisch der Mönche in Villers verlesen wurde, hat sich erhalten. Er liegt heute unter der Signatur 9 in der Abtei Dendermonde. Kardinal Pitra fertigte auf der Grundlage dieses Textzeugen im Jahre 1882 die Erstausgabe des Liber vitae meritorum an.3 Da die Handschrift auf dem Rupertsberg entstand und von Hildegard selbst bzw. von ihren Mitschwestern nach Villers gesandt wurde, muß sie unabhängig von eventuellen Schreibfehlern den authentischen Text des Liber vitae meritorum enthalten. Die Frage nach dem Sitz im Leben von Hildegards visionären Schriften ist für eine überlieferungsgeschichtlich akzentuierte Untersuchung naturgemäß von besonderer Bedeutung. Aus diesem Grunde verdient die Tatsache, daß Hildegards zweite große Visionsschrift bereits zu ihren Lebzeiten als monastische Tisch- und Abendlektüre verwendet wurde, noch einmal ausdrückliche Hervorhebung. Sie beweist, daß Hildegard zumindest in Klöstern, die ihr nahestanden vergleichsweise rasch zu einer bedeutenden monastisch-theologischen Autorität aufrücken konnte. Die Grundlage für diese Stellung bildeten zunächst die visionären Texte. Von einer ähnlich gearteten Wirkung der naturkundlich-

-

-

-

1

2 3

Berve 1969, S. 8: „Die ursprünglich und in Biblia zu Hinsicht Recht mit pauperum überschriebenen Bücher setzten gewisser Textes und ein gewisses Minimum die Lesen lateinischen zum des Fähigkeit eindeutig an theologischer Bildung voraus. Sie waren somit wahrscheinlich für Scholaren oder Kleriker gedacht, die sich den Erwerb einer vollständigen Bibel nicht leisten konnten oder als ,Arme im Geiste' keine anspruchsvollere Bildung aufzuweisen hatten, so daß sie sich mit diesen Auszügen begnügten." Explanatio Regulae 1855, Sp. 1059D-1160A. Dieser Text liegt noch nicht in einer kritischen Edition vor, so daß wir auf die PL angewiesen sind.

Zur

Gattung der Biblia pauperum vgl.

LVM 1882.

Kapitel 3

124

medizinischen Schriften oder der Kompositionen ist, zumindest für diese frühe Phase der Rezeptionsgeschichte, nichts bekannt. In die gleiche Richtung wie die monastische Lesung des Liber vitae meritorum in Villers und Gembloux weist die Erwähnung dieses Textes innerhalb der Octo lectiones in festo sancte Hildegardis legende. Die Octo lectiones beinhalten eine von Reimprosa durchzogene Kurzfassung der Vita Hildegardis. Sie sind im Kontext der Briefe Wiberts von Gembloux überliefert. Frühester Textzeuge ist der aus Gembloux stammende, im 13. Jahrhundert entstandene Brüsseler Codex 5527-5534. In ihm finden sich die Octo lectiones im unmittelbaren Anschluß an die Vita Hildegardis (f. 209rb-210va).' Als Autor der Octo lectiones vermutet Monika Klaes trotz des Uberlieferungszusammenhanges mit den Wibert-Briefen und trotz des wiederholt geäußerten Vorhabens Wiberts, ein Memoriale zu Ehren Hildegards zu verfassen allerdings nicht Wibert von Gembloux.2 Statt dessen plädiert Klaes für Theoderich von Echternach, den Endredaktor der Vita Hildegardis. In der Tat legt die falsche Angabe von Hildegards Todesjahr (1181) in den Octo lectiones den Verdacht nahe, deren Autor habe Hildegard gar nicht mehr persönlich gekannt. Eben dies würde auf Theoderich, der seine HildeQuellen bezog, zugard-Kenntnisse ausschließlich aus den ihm vorliegenden hier nicht weiter eingeauf die und stilistische Argumente, treffen. Inhaltliche -

-

1

Die Octo lectiones sind von Monika Klaes innerhalb der kritischen Ausgabe der Vita S. 146::'-152;:'. Hildegardis ediert worden: Octo lectiones 1993. Vgl. dazu Klaes 1993, mit den BrieBrüsseler Codex stammende 12./13. Der ältere, aus dem Jahrhundert fen Wiberts von Gembloux (Bibliothèque Royale, Ms 5387-5396) enthält die Octo lectiones demgegenüber nicht. Er bringt am Ende einer Abschrift der Vita Hildegardis zwar den Randvermerk, daß im folgenden die Octo lectiones einzutragen seien (f. 175v: „Hie scribe octo lectiones in festo sancte Hildegardis legendas, que in minoribus quaterniobus continentur"). Außerdem gibt er ihr Incipit und die Vorlage, aus der abgeschrieben werden sollte, an, doch wurde die Abschrift selbst in dieser Handschrift nicht ausgeführt. Statt dessen wurde der frei gebliebene Raum nachträglich mit einem Brief Hildegards ausgefüllt. Ob die Wendung „in minoribus quaterniobus" darauf hindeutet, daß die Ocfo lectiones ungebunden oder separat gebunden vorlagen, muß offenbleiben. Bei diesem Hildegardbrief, der auf f. 176rv erscheint, handelt es sich um einen Auszug aus Hildegards Schreiben an den Klerus von Köln. Auf f. 175v ist dieser Brief ausgewiesen als Epistola sancte hildegardis ad colonienses de futura turbatione clericorum (PL 197, Sp. 249B-252A). Wibert von Gembloux schreibt in einem vor dem 1. November 1176 entstandenen Brief an die Schwestern vom Rupertsberg, nachdem er auf das Gerücht von Hildetarn nostra ad eam quam eius ad nos scripta sub uno gards Tod eingegangen war: prouideacompingentes, gratum semper et oculis et auribus nostris eiusin memoriale einem an Hildegard mus." (Guibertus Epistolae, I, Ep. XXII, S. 253 55). Und selbst gerichteten Schreiben vom Januar 1177 bekräftigt er: „Volo enim omnia, et tua ad me et mea ad te, sub uno scripta colligere et ad consolationem meam et ad eos, qui forte legere dignabuntur, + diuine ammirationis + pro muneribus eius excitandos michi in posterum reseruare." (Ebd., Ep. XXIV, S. 255-257; hier S. 257 80-84).

-

2

„...

Der Liber vitae meritorum

125

zu werden braucht, kommen hinzu.1 Es ist anzunehmen, daß Theoderich (oder ein anderer Verfasser) die Octo lectiones zusammenstellte, nachdem er die Vita Hildegardis zu Ende redigiert hatte. Nur nebenbei sei darauf hingewiesen, daß die falsche Angabe von Hildegards Todesjahr in den Octo lectiones einen wichtigen Anhaltspunkt für die Datierung der Vita Hildegardis und damit auch für die Datierung von Teilen des Riesencodex gewährt. Wenn die Octo lectiones nicht vor 1181 fertiggestellt wurden (woran nicht zu zweifeln ist), dann liegt der Gedanke nahe, daß auch die Vita Hildegardis nicht vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen worden sein kann. Sie bildet die Grundlage für die Octo lectiones. Folglich kann sie auch nicht vor 1181 in den Riesencodex hineingewandert sein. Da man als spätesten Zeitpunkt für den Abschluß der Vita Hildegardis das Jahr 1188 annimmt, gibt dieses Datum auch einen terminus ad quem für die Dauer der redaktionellen Arbeiten am Riesencodex. Im ganzen macht sich in den Octo lectiones eine starke Tendenz zur Stilisierung Hildegards als Heiliger bemerkbar. Diese Tendenz geht noch über entsprechende Schwerpunktsetzungen in der Vita Hildegardis hinaus. Wichtig für unseren Zusammenhang ist, daß auch die Octo lectiones, eine Schrift mit manifest panegyrischen Intentionen, gerade Hildegards visionäres Schrifttum bzw. ihre prophetische Autorität so stark betonen. Die Erwähnung von Hildegards prophetischen Werken geht, auch wenn man in diesem Zusammenhang einen gattungstypologisch bedingten Hyperbolismus miteinrechnet, über eine rein numerische Aufzählung ihrer Visionswerke bei weitem hinaus. Die Visionsschriften werden als gewaltige Monumente und Zeugnisse einer prophetischen Gnadengabe bezeichnet, ja als höchster Thron, auf dem die göttliche Weisheit selbst sich niedergelassen habe. Neben dem Scivias, der an erster Stelle genannt wird, findet sich ein Hinweis auf den Liber vitae meritorum und den Liber divinorum operum. In Lectio IV der Octo lectiones heißt es:

gangen

-

-

Certe illud magnum pelagus librorum eius scilicet liber qui dicitur Sciuias et liber Vite meritorum, liber quoque Diuinorum operum ingentia sunt monimenta et prophetice grade documenta, quod in ea Dei sapientia quasi in solio potentie sublimi auctoritate sedebat et per earn rerum iudicia decernebat.2

Auch hier dient also der Fingerzeig auf Hildegards visionäre Schriften der Konstituierung ihrer sanctitas. Man darf wohl davon ausgehen, daß dieses Argumentationsschema mehr zum Rufe Hildegards beigetragen hat als entsprechende Wunderberichte, die ja ebenfalls zum gängigen Schema von Heiligenviten, Passionsberichten und ähnlichen Texten gehörten und die sich in der Vita Hildegardis und den Octo lectiones auch finden. Darüber hinaus steht fest, daß diese Argumentationsfigur bereits sehr früh Verwendung fand. Wir wissen, daß die

1 2

Weitere Einzelheiten in Klaes 1993, S. 152* Octo lectiones 1993, S. 77 20-24.

Kapitel 3

126

Octo lectiones von ihrer Funktion her als öffentliche Lektüre am Festtag zu Ehren Hildegards innerhalb eines klösterlichen Refektoriums vorgesehen waren.1 Ein bedeutendes Zeugnis für Hildegards Autorschaft am Liber vitae meritorum aus dem 13. Jahrhundert enthalten die Acta inquisitionis. Darin heißt es: ...

que

[opera; Ergänzung]

meritorum

octo

annis

colligitur.2

perfecit; quod plenius

in

accessu

libri Vite

Außerdem betonen die Acta, daß die prophetischen Schriften Hildegards, unter denen der Liber vitae meritorum namentlich aufgeführt wird, von den Pariser Theologen im Hinblick auf ihre inhaltliche Korrektheit untersucht worden seien. Auffällig ist dabei, daß die drei prophetischen Hauptwerke bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts im Sinne einer festen Einheit, konkret einer Visionstrilogie, gedeutet wurden. All diese Werke, so heben die Acta hervor, habe Hildegard „sine terreno magistro, sed Spiritu sancto dictante" geschrieben.3 Und für sämtliche drei Werke gilt das Urteil, sie enthielten keine menschlichen, sondern nur göttliche Worte. Demgegenüber läßt sich eine besondere Hervorhebung des Liber vitae meritorum vor den übrigen Visionsschriften oder auch nur eine isolierte Nennung dieses Textes ohne die beiden anderen im Zusammenhang der Acta nicht belegen. Aufgrund des mehr repräsentativen oder amtlichen Charakters dieses Dokuments war dies allerdings auch nicht zu erwarten. Zieht man den Kreis der Erwähnungen des Liber vitae meritorum etwas weiter, so ist mit Angela Carlevaris (Einleitung, S. XV) vor allem auf die annalistische und chronikalische Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts hinzuweisen. Wiederum gemeinsam mit dem Scivias und dem Liber divinorum operum findet sich Hildegards zweite Visionsschrift erwähnt bei Mathaeus Westmonasteriensis:

[Hildegardis; Ergänzung]

exposuit

Scivias, Librumque uite meritorum ...

1 2

3 4

Zur

liturgischen Verwendung

von

ac

et condidit mukös libros, scilicet librum Librum diuinorum operum ...4

Heiligenviten

und den daraus sich

ergebenden

Konsequenzen für ihre literarische Gestaltung vgl. Aigrain 1953, S. 167f. Acta inquisitionis de uirtutibus et miraculis S. Hildegardis (1233 und 1243). Koblenz, Landeshauptarchiv, Abt. 164, Nr. 14. Die neueste (deutsch-lateinische) Ausgabe der Acta inquisitionis stammt von Monika Klaes. Der Text erschien als Band 29 innerhalb der Reihe Fontes Christiani. Zitat ebd., S. 268. Vgl. auch die Edition des Textes Acta Inquisitionis, S. 126. Ein Auszug der Acta ist enthalten in PL 197, Sp. 131-140. Hierbei handelt es sich um einen Nachdruck der Acta Sanctorum, Bd. 5, deren Text ihrerseits auf dem zerstörten Böddekener Legendär Codex Monasteriensis 23 beruhte. Acta inquisitionis; zit. nach der Ausgabe Klaes, S. 278. Matthaeus Westmonasteriensis

Flores,

S. 487.

Der Liber vitae meritorum

127

Die Annales Stadensis1 und die Chronik des Alberich von Troisfontaines2 hingegen nennen nur den Scivias, den Liber divinorum operum und das Epistolarium, verschweigen also die zweite Visionsschrift. Der Grund für die Ignorierung des Liber vitae meritorum in den beiden letztgenannten Werken könnte darin liegen, daß die Autoren dieser Schriften Hildegard bereits nicht mehr aus

den Originalschriften heraus kannten, sondern nur noch aus der Kompilation des Gebeno von Eberbach (Pentachronon). Diese wiederum hebt einseitig auf die Antichristspekulationen aus Teil III, Buch 11 des Scivias ab. Da Hildegards Stellung innerhalb der Chronistik und Annalistik des 12./13. Jahrhunderts in einem gesonderten Kapitel dieser Studie ausführlicher behandelt wird, kann ich mich an dieser Stelle mit diesen wenigen Bemerkungen begnügen. Gleiches gilt für die verschiedenen Bezugnahmen des Johannes Trithemius auf das schriftstellerische Werk Hildegards, insonderheit auf den Liber vitae meritorum. Hervorgehoben sei dagegen eine Erwähnung des Liber vitae meritorum in einem Bibliothekskatalog der Erfurter Kartause Salvatorberg. Der aus dem 15. Jahrhundert stammende Vermerk, auf den Angela Carlevaris hingewiesen hat, lautet: „Ciaruit anno Domini 1160 Hildegardis, sanctimonialis uirgo et abbatissa Scripsit autem hec uirgo diuinitus inspirata inter cetera hec subiecta Alium quem nominat Vide [sic!] meritorum lib. III."3 Auch der aus dem Jahre 1531 stammende Katalog des Benediktinerklosters St. Jakob in Mainz enthält einen Hinweis auf eine Abschrift des Liber vitae meritorum* Zumindest die erste Erwähnung bestätigt die im Zusammenhang unserer Darlegungen zum Scivias gemachte Beobachtung, daß neben den Benediktinern und Zisterziensern offenbar die Kartäuser ein besonderes Interesse an den Schriften Hildegards hegten. Ohne den Titel explizit zu nennen, erwähnt schließlich auch Johann Dominikus Mansi (1692-1769) den Liber vitae meritorum. Er tut dies innerhalb seiner Edition des Liber divinorum operum, die im Appendix der Miscellanea des von ihm herausgegebenen französischen Kirchenhistorikers und Kanonisten Etienne Baluze (1630-1718) erscheint.5 Zieht man ein kurzes Resümee aus den bisherigen Darlegungen, so verdienen aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive betrachtet drei Punkte hervorgehoben zu werden: 1.) Die früheste Wirkungsgeschichte des Liber vitae meritorum ist, wie zu erwarten, in monastischen Kreisen bezeugt, konkret in der Benediktinerabtei Gembloux und der Zisterzienserabtei Villers. Diese beiden bedeutenden Klöster des brabantischen Raumes wirkten langfristig als Katalysatoren für die Ver...

...

1 2 3 4 5

Annales Stadenses, S. 330. An dieser Stelle erscheint eine Liber divinorum operum und des Epistolariums.

Aufzählung des Scivias, des

Albericus Chronicon, S. 842. Lehmann 1928, S. 578. Vgl. Carlevaris 1998, S. XVI. Vgl. Schillmann 1913, S. 116f. LDO 1761. Der editorische Vorbericht mit dem Hinweis auf den Liber vitae meritorum wiederum erscheint auf S. 335f.

Kapitel 3

128

breitung Hildegards in den belgisch-nordfranzösischen Raum hinein. Immerhin gehörte die im Jahre 1148 durch Bernhard von Clairvaux errichtete Abtei Villers schon bald nach ihrer Gründung zu den größten Abteien der Niederlande. Sie war maßgeblich mit dafür verantwortlich, daß Hildegards Ruf im 12. Jahrhundert gerade in zisterziensischen (und dies heißt: in reform-monastischen) Kreisen so sehr an Bedeutung gewann. Auffällig ist dabei, daß auch im 15. Jahrhundert noch eine Wirkung des Liber vitae meritorum vor allem in reformmonastischen Kreisen zu belegen ist, hier allerdings in solchen des Kartäuserordens.

2. ) Der Liber vitae meritorum diente, ebenfalls wie die übrigen Visionsschriften, Hildegards Mit- und Nachwelt als argumentum sanctitatis für die

Heiligkeit

der Autorin.

3. ) Schon früh wurde der Liber vitae meritorum mit den beiden anderen

Scivias und dem Liber divinorum operum, zu einer triadischen Einheit verschmolzen. Dabei bleibt offen, ob diese Form der Systematisierung auf Hildegard selbst zurückgeht. Folgt man Angela Carlevaris, so hat Hildegard den Liber vitae meritorum in der Tat als wichtiges Bindeglied zwischen ihrem theologischen Erstling, dem Scivias, und dem dritten Hauptwerk, dem Liber divinorum operum, betrachtet.1 Ob hieraus der Schluß gezogen werden kann, daß die Gesamtkonzeption der Visionstrilogie, deren Entstehung sich ja über einen Zeitraum von ca. 25 Jahren hinzog, bereits zu Beginn des Werkes prospektiv feststand, bleibt gleichwohl fraglich.

Visionsschriften, dem

3.2 Die handschriftliche

Überlieferung des LVM

liegt in fünf vollständigen und zwei unvollstänhinaus können fünf weitere, heute verscholHandschriften vor. Darüber digen lene Textzeugen der Schrift benannt werden. Insgesamt ist der Liber vitae meritorum damit gegenüber dem Scivias (10 vollständige und sieben fragmentarische Textzeugen) in deutlich weniger Exemplaren nachgewiesen. Dieser Befund gilt bereits für das 12. Jahrhundert sowie für die auf dem Rupertsberg entstandenen Der Liber vitae meritorum

Textzeugen. I.) Die vollständigen

Handschriften 1.) D Dendermonde, Bibl. der Abtei St. Pieters en Paul, Cod. 9 vor dem 1. November 1176 im Kloster Rupertsberg); =

1

(entstanden

Carlevaris 1995, S. XIX: „Der Liber Vite Meritorum führt den großen heilsgeschichtlichen Ansatz des Scivias von der Schöpfung über die Kirche bis zur Erlösung am Ende der Zeiten hinüber in die kosmologische Schau des Liber diuinorum operum, in der Welt und Mensch, Makrokosmos und Mikrokosmos in ihren vielfältigen Korrelationen und Interdependenzen sichtbar werden." Bezeichnenderweise hat auch Kardinal Pitra die verbindende Stellung des Liber vitae meritorum hervorgehoben: „Intermedius [inter Scivias et Liber divinorum operum; Ergänzung] Liber Vitae meritorum omnem vitae christianae rationem explicat." Analecta, Prooemium, ...

-

-

-

S. XVIII.

Der Liber vitae meritorum 2. ) T 3. ) B

=

=

129

Trier, Bischöfl. Priesterseminar, Hs 68 (12. Jahrhundert, Rupertsberg); Berlin, StBPrK, Ms theol. lat. f. 727 (12. Jahrhundert, vermutl. Ruperts-

berg);

Wiesbaden, HLB, Hs 2 [Riesencodex]; (12. Jahrhundert, Rupertsberg); Wien, ÖNB, Codex 1016 [theol. 382] (Rupertsberg/Trier-St. Eucharius?/ Rommersdorf?, 13. Jahrhundert).

4. ) R 5. ) W

=

=

II. ) Die unvollständigen Handschriften: 1. ) Wf = Wolfenbüttel, HAB, Cod. Heimst. 951. Die Handschrift endet ganz unvermittelt in Buch V, cap. 33 700 des Liber vitae meritorum. Sie entstand um 1280 in der Benediktinerabtei St. Ludger, Helmstedt; Vorlage war der Codex Berlin, StBPrK, Ms theol. lat. f. 727; 2. ) Hn = Hannover, NLB, Cod. Ms XIII, 859. Die Handschrift enthält neben Exzerpten aus dem Liber vitae meritorum auch solche aus dem Scivias, dem Liber divinorum operum, der Vita Hildegardis und dem Epistolarium. Entstehungsort war Kloster Rupertsberg, Vorlage der Riesencodex, Entstehungszeit die Jahre 1419-1440.

III. ) Verschollene Handschriften: 1. ) Die Handschrift des Liber vitae

2. )

3. )

4. )

5. )

meritorum, die Wibert von Gembloux und der noch Lebzeiten zu aus erwähnt Hildegards in Gembloux vorgelesen wurde. Wenn auch dieser Textzeuge mit großer Wahrscheinlichkeit identisch ist mit der von den Rupertsberger Nonnen nach Villers gesandten Handschrift (Dendermonde 9), so kann auf der anderen Seite nicht vollständig ausgeschlossen werden, daß es sich hierbei um einen eigenständigen Textzeugen handelte. Wien, ÖNB, Codex 721 (Abschrift des Riesencodex; darin: Liber vitae meritorum f. 147-211; (13. Jahrhundert; Rupertsberg); Himmerod (Signatur unbekannt); Handschrift mit verschiedenen Hildegard-Texten (Vita S. Disibodi; Liber vitae meritorum; Vita S. Ruperti; Explanatio Regulae S. Benedict!) sowie Teilen des Epistolariums (84 Briefe); vermutlich war der Liber vitae meritorum des Himmeroder Codex eine Abschrift der Trierer Hs 68, einer Kopie dieser Handschrift (möglicherweise Wien 1016) oder einer unbekannten Vorlage beider (13. Jahrhundert, Trier?). Rom, Handschrift, die als Beweisgrundlage für das angestrengte Kanonisationsverfahren diente. Diese Handschrift ging am 16. Dezember 1233 nach Rom. Sie enthielt vermutlich sämtliche Schriften Hildegards (einschließlich der natur- und heilkundlichen Werke). Der Codex, der über den Kanoniker Bruno, Kustos von St. Peter in Straßburg, nach Paris gesandt wurde, um die Schriften Hildegards theologisch beurteilen zu lassen.

Versuchen wir, die genannten Textzeugen im Hinblick auf text- und überlieferungsgeschichtliche Gemeinsamkeiten oder Abhängigkeiten voneinander zu

würdigen.

Kapitel 3

130

vollständigen Textzeugen des LVM Die nachfolgenden Beschreibungen basieren im wesentlichen auf den Erhebungen von Angela Carlevaris im Vorbericht zur kritischen Edition des Liber vitae meritorum (S. XLIV-LIX). Ergänzend dazu wurde für die Textzeugen D, W und T Autopsie an den Originalen vorgenommen, die übrigen Textzeugen lagen als Mikrofilm vor. 3.2.1. Die

Die Handschrift Dendermonde 9 Die im Jahre 1995 von Angela Carlevaris veröffentlichte kritische Edition des Liber vitae meritorum rekurriert primär auf den Text der Handschrift Dendermonde 9. Diese Handschrift wurde noch zu Lebzeiten Hildegards, und zwar im Kloster Rupertsberg, geschrieben.1 Die Entscheidung der Herausgeberin, Codex Dendermonde 9 in den Rang einer Leithandschrift zu erheben, begründet sich mit dem oben angedeuteten Faktum, daß dieser Textzeuge den Status einer von der Autorin selbst approbierten Fassung bietet. Da der Dendermonder Codex allerdings nicht der einzige zu Lebzeiten Hildegards entstandene Textzeuge des Liber vitae meritorum ist, stellt sich auch hier, wie beim Scivias, die Frage nach möglichen Autorvarianten. Konkret: existieren früher, gleichzeitig oder später entstandene, ebenfalls in die Lebzeiten Hildegards zurückreichende Handschriften des Textes, die eine von der Dendermonder Handschrift divergierende Fassung überliefern ? Und sollte dies zutreffen, wie ist deren textkritischer Rang zu beurteilen ? Was zunächst die Frage nach der Entstehung der Dendermonder Handschrift anbetrifft, so kann man davon ausgehen, daß der Codex mit Sicherheit vor dem 1. November 1176 geschrieben wurde. Dieses Datum läßt sich als Zeitpunkt für ein Antwortschreiben Wiberts von Gembloux an die Rupertsberger Schwestern ermitteln, in dem Wibert sich in seinem eigenen sowie im Namen der Villarenser Mönche für die Übersendung des Liber vitae meritorum bedankt. Auch die Mönche von Villers nahmen Bezug auf ein nicht mit Titel genanntes, von Hildegard zugesandtes Buch, in welchem man den Liber vitae meritorum erblickt. Außerdem findet sich auf f. 173v des Dendermonder Codex ein aus dem 12. Jahrhundert stammender Provenienzvermerk, der die Handschrift als für diese Zeit in Villers befindlich ausweist: „Lib. see Mar[ie de] Villari". Später befand sich der Codex, wie ein weitgehend getilgter Besitzvermerk gerade noch erkennen läßt, in der Abtei von Gembloux.2 Vermutlich im 18. Jahrhundert gelangte er nach Affligheim. Der auf. f. lr erscheinende Besitzvermerk „monasterii Hafligemensis" stammt vermutlich von Beda Regaus, dem damaligen Dekan von Kloster Affligheim. 1796 wurde die Abtei im Zuge der Französischen Revolution aufgelöst. 1837 erfolgte ihre Wiedererrichtung, diesmal aller-

1.)

1 2

Carlevaris 1995, S. XLIV-XLVI. Van Poucke 1991 weist unter Berufung auf Dom Van de

Vgl.

Vijver OSB, den Bibliothekar der Sint-Pieters- &-Paulsabdij Dendermonde, darauf hin, daß Linie 1 von f. lr den Vermerk „Liber monasterii Gemblacensis" getragen habe.

Der Liber vitae meritorum

131

in Dendermonde. Seit diesem Zeitpunkt liegt die kostbare Handschrift der Signatur 9 in der Sint-Pieters-&-Paulsabdij Dendermonde. Da der Codex eine überragende Bedeutung für die Überlieferungsgeschichte des Liber vitae meritorum besitzt, möchten wir ein wenig länger bei ihm verweilen. Die Handschrift umfaßt nach der Beschreibung von Angela Carlevaris, der ich hier folge, insgesamt 173 Pergamentblätter von der Größe 28,8 x 19,7 cm. Der Einband hat sich gelockert, so daß die letzten drei Lagen (von f. 153 bis 173) nicht mehr mit dem Rest des Codex zusammenhängen. Vermutlich aufgrund dieser Tatsache ist es vor f. 153 zum Verlust einiger Blätter gekommen. Auch zwischen f. 155 und 156 sowie zwischen f. 164 und 165 fehlt jeweils ein Blatt. Der Kalbsledereinband stammt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, auf seinem Rücken findet sich die Aufschrift: „M. S. OPERA HILDEGARDI VIRGINIS" [!]

dings

unter

Codex Dendermonde 9 enthält folgende Schriften: f. l-121v: Hildegardis, Liber vitae meritorum; f. 121v-152v: Elisabeth von Schönau, Liber viarum Dei; f. 153r-170v: Hildegardis, Symphonia; f. 170v-173v: Dialog zwischen einem Priester und dem Teufel} Die Handschrift besteht im ganzen aus 23 Lagen, wobei fast durchgängig Quaternionen verwendet wurden. Lediglich Lage 9 ist ein Ternio und Lage 16 ein Binio. Mit Ausnahme der drei letzten Lagen sind alle Lagen intakt. Die ersten sechzehn Lagen, die den Liber vitae meritorum enthalten, besitzen auf den jeweils abschließenden Versoseiten am Lagenende Kustoden in Gestalt römischer Zahlen. Insgesamt lassen sich als Schreiber der enthaltenen Texte vier Hände unterscheiden, von denen zwei die Hildegard-Texte schrieben: Hand 1 schrieb f. lv-70v und 153r-170v (Hildegards Liber vitae meritorum und

ihre Symphonia); Hand 2 schrieb f. 71r-121v

torum);

(den zweiten Teil von Hildegards Liber vitae meri-

Hand 3 schrieb f. 121v-152v (Elisabeths von Schönau Liber viarum Dei); Hand 4 schrieb f. 170v-173v (Dialog zwischen Priester und Teufel). Hand 1 bis 3 gehörendem 12.,Hand4 vermutlich bereits dem 13. Jahrhundert an. Der Text des Liber vitae meritorum (f. lv-121v) ist einspaltig zu je 32 bis 35 Zeilen geschrieben. Das Linienschema weist die gleiche Struktur auf wie jenes der Handschrift Trier Hs 68, die ebenfalls den Liber vitae meritorum enthält. Der Dendermonder Textzeuge des LVM besteht aus insgesamt 16 Lagen: 14 regelmäßigen Quaternionen, einem Ternio (Lage 9) und einem Binio (Lage 16). Die Lagen wurden, wie oben angedeutet, jeweils auf dem letzten Folio mit 1

Eine Edition dieses Textes findet sich bei Moulinier

2000b, S. 548-560.

132

Kapitel 3

entsprechenden römischen Ziffern bezeichnet. Bei dieser Zählung unterlief dem Bearbeiter zum Schluß ein Irrtum: Lage 16 wurde versehentlich mit der römischen Zahl XII bezeichnet. Die im Anschluß an den LVM erscheinenden Texte (f. 123r-173v), auf die weiter unten näher eingegangen wird, besitzen keine erkennbare Lagenzählung mehr. Allerdings kann dies nicht per se als Hinweis auf eine spätere Hinzufügung gewertet werden. Hier die Lagenformel für den LVM: 8.IV64 + III70 +6.IVH8 + II122. Marianna Schräder und Adelgundes Führkötter zufolge läßt diese Lagenordnung erkennen, daß der Liber vitae meritorum und die Symphonia als zwei eigenständige, voneinander getrennte Schriften vom Rupertsberg übersandt worden sind.1 Die paläographische Untersuchung des Dendermonder LVM konnte zwei beteiligte Hände unterscheiden: Hand 1 schrieb f. lv-70v, Hand 2 f. 71r-121v. Beide Hände weisen starke Gemeinsamkeiten auf und gehören der Rupertsberger Schreibstube an. Hand 2 ist identisch mit Hand 1 der Handschrift Trier 68 (LVM), mit Hand 2 des verschollenen illuminierten Scivias und mit dem Schreiber der Handschrift der Biblioteca Vaticana 311, die den Scivias beinhaltet. Darüber hinaus haben Schräder und Führkötter auf Ähnlichkeiten im Schriftcharakter zu den Schreibern der ältesten Rupertsberger Güteraufzeichnungen hingewiesen.2 Insgesamt wirkt der Text sehr regelmäßig. Kleinere Unregelmäßigkeiten entstehen durch die schwankende Zeilenzahl auf f. lv-2r und f. 32v (Hand 1), wo anstelle der üblichen 33 Zeilen 34 Zeilen auftauchen, sowie auf f. 72v-73r (Hand 2), wo ebenfalls 34 Zeilen bzw. auf f. 102v, wo 32 Zeilen erscheinen. Die Arbeitsteilung zwischen den beiden Schreibern war klar definiert: Hand 1 schrieb die Partes I bis III des LVM (= Lage 1-9; f. lv-70v), Hand 2 die Partes IV-VI (Lage 10-15; f. 71r-121v). Da Hand 1 ihren Text auf f. 70v mit der Hälfte der Seite zu Ende brachte und Hand 2 auf f. 71r ihren Text mit einer neuen Lage begann, kann man darauf schließen, daß beide Kopisten unabhängig voneinander, möglicherweise sogar parallel gearbeitet haben. Hierauf deuten auch die unterschiedlich gestalteten Initialformen in beiden Teilen sowie einige philologisch-paläographische Details hin, auf die hier nicht näher eingegangen zu werden braucht. Darüber hinaus hat Angela Carlevaris die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß f. 71r-121v noch einmal von zwei unterschiedlichen Händen stammen könnten. In diesem Falle hätte Kopist 1 (genau genommen, Kopist 2) die Lage 10 sowie zwei Folien der Lage 11 geschrieben, Kopist 2 (genau genommen, Kopist 3) den Rest der Lage 11 sowie alles weitere bis zur Lage 15. Am grundsätzlichen Befund einer Rupertsberger Entstehung der Handschrift zu Lebzeiten Hildegards würde sich durch die Annahme einer weiteren Hand aber nichts ändern. Die Binnenstruktur des Textes ist recht aufwendig gestaltet. So schalten die Schreiber den sechs Büchern des Liber vitae meritorum jeweils zweispaltig angeordnete Zusammenstellungen der betreffenden Capitula voraus. Ein Ge1 2

Schrader/Führkötter 1956, S. 30. Schrader/Führkötter 1956, S. 50.

Der Liber vitae meritorum

samtverzeichnis der

133

Capitula zu Beginn des Textcorpus

existiert dagegen nicht. den einzelnen Büchern finden sich für Buch 1 auf f. lva3vb, für Buch 2 auf f. 27va-29ra, für Buch 3 auf f. 50ra-51va, für Buch 4 auf f. 71ra-72ra, für Buch 5 auf f. 90ra-91vb sowie für Buch 6 auf f. 109va-110va. Diese Capitulationes sind allerdings, trotz ihres ausführlichen Charakters, nicht ohne Fehler bzw. Unregelmäßigkeiten geblieben. Die Capitulatio zu Buch 1 (hier: f. 3v) endet mit der Capitula CXXI. Der Text selbst hingegen besitzt insgesamt CXXIIII Capitula. Sie sind, wie die Capitula-Zählungen zu den folgenden Büchern 2 bis 6, mit Hilfe von römischen Ziffern auch konsequent am Spaltenrand des Textes angebracht. Möglicherweise erklären sich die Omissionen durch das Bemühen des Schreibers, den Text der Praefatio zum Liber vitae meritorum auf der Rectoseite von f. 4 beginnen zu lassen. In diesem Falle hätte ihm auf f. 3vb der Platz für die drei letzten Capitula von Buch 1 gefehlt. Aber auch der Versuch, den Text der Praefatio auf einem neuen Blatt mit der Rectoseite beginnen zu lassen, ist gründlich mißraten. Die Capitula auf f. 3vb ziehen sich so weit in die Spalte hinunter, daß nicht einmal das Incipit zum eigentlichen Text dort abgeschlossen werden konnte. Da die Incipitwendung „INCIPIT LI / BER VITE ME / RITORUM P[ER] SIM / PLICEM HOMINE[M] / A VIVENTE LUCE // REVELATORUM" nicht mehr vollständig auf f. 3vb Platz fand, mußte das Wort „REVELATORUM" auf f. 4r hinübergezogen werden. Dort erscheint es auf der obersten Linie über der eigentlichen Eingangsformulierung „ET FACTUM EST". Ein Layout, das vollkommen desorganisiert wirkt. Eine weitere Inkonsequenz der Textgestaltung betrifft die Form der Incipits und Explicits bzw. Subscriptiones zu den Capitula sowie zu den Büchern selbst. Die Capitulatio zu Buch 1 besitzt folgendes Incipit: „Incipiu[n]t cap[itule] prime partis, de viro / ad oriente[m] [et] ad austru[m] i[n]spiciente" (f. Iva). Sie erscheint auf einer Versoseite unmittelbar über den nachfolgenden Capitula. Abgeschlossen wird die Capitulatio zu Buch 1 durch das Explicit bzw. die Subscriptio : „Finiunt capitula prime partis" (f. 3vb). Diese Struktur wird bis zum Ende von Buch 3, das heißt bis zum Ende der Arbeit von Hand 1, konsequent durchgehalten, wobei an Stelle des Wortes „finiunt" auch die Formulierung „expliciunt" verwendet werden kann (f. 29ra). Mit Buch 4, das bereits von Hand 2 stammt, ändert sich dies. Nunmehr wird die Explicitformel zu den Capitulationes der folgenden Bücher 4 bis 6 durchgängig weggelassen ein deutlicher Bruch in der Konfektionierung des Textes. Eine augenfällige Unaufmerksamkeit unterlief Hand 2 darüber hinaus am Ende der Capitulatio offensichtlich in Gedankenvon Buch 6 (f. 11 Ova). Hier brachte der Schreiber zunächst noch einmal die Incipitformel losigkeit „Incipiu[n]t capitula VI. partis" an. Dann bemerkte er seinen Fehler, strich den soeben niedergeschriebenen Text wieder aus und ersetzte ihn durch die zutreffende Incipitformulierung zum Textbeginn von Buch 6: „Incip[it] VI. pars, de uiro se totu[m] cu[m] IUI. plagis t[e]re mouente". Trotz dieser Unregelmäßigkeiten bleibt aber im ganzen der Eindruck bestehen, daß beide am Text des Liber vite meritorum beteiligten Schreiber sorgfältig gearbeitet haben. Die

Capitulationes

zu

-

-

-

-

134

Kapitel 3

Eine weitere Besonderheit der Handschrift Dendermonde 9 betrifft die gra-

phische Gestaltung des Textes. Durch die Verwendung eines vertikalen, s-förmigen Hakens werden bestimmte Textpartien von den übrigen abgehoben. Diese Zeichen erscheinen durchgängig am linken oder rechten Spaltenrand des Textes und werden durch die gesamte Schrift hindurch konsequent beibehalten. Sie finden sich in der gleichen Art auch im Riesencodex. Allerdings werden sie

dort nicht für den Liber vitae meritorum oder den Liber divinorum operum verwendet, sondern ausschließlich für den Scivias. Ich vermute, daß hierdurch die visionären Teile der „vox de celo" von den nicht-visionären, gewissermaßen auf Hildegard selbst zurückgehenden des Kommentars, unterschieden werden sollten. Auffällig ist darüber hinaus, daß auch im Riesencodex die Capitulatio zu Buch 1 des Liber vitae meritorum unvollständig ist und mit der gleichen (unzutreffenden) Nummer CXXI endet wie im Codex Dendermonde 9. Der gleiche Befund trifft auf den Berliner Codex 727 und den Wolfenbütteler Codex Helmstedt 951 zu. Der Textzeuge der Trierer Handschrift 68 (s. u.) dagegen weicht in diesem Punkt von den zuvor genannten Textzeugen ab. Dieser Schreiber hat den Fehler in der Capitula-Zählung noch während des Kopiervorganges bemerkt und in einer, wenn auch mehr schlechten als rechten Weise korrigiert. Insgesamt kann man in diesem augenfälligen Phänomen eine wie immer geartete genetische Abhängigkeit der genannten Textzeugen untereinander erblicken. Akzeptiert man diesen Befund, so drängt sich naturgemäß die Frage nach dem genauen Verhältnis dieser Abhängigkeit auf. Konkret: hat Codex Dendermonde 9, eventuell über Zwischenstufen, dem LVM-Textzeugen des Riesencodex, jenem der Berliner Handschrift 727, jenem des Wolfenbütteler Codex Helmstedt 951 und möglicherweise auch jenem der Trierer Handschrift 68, zur Grundlage gedient ? Oder gab es eine gemeinsame Vorlage zu diesen Handschriften, die den Fehler ebenfalls schon aufwies ? Ich werde auf diese Problematik im Zusammenhang einer Gesamtwürdigung der autornahen Handschriften des Textes noch einmal zurückkommen. An dieser Stelle sei lediglich die These geäußert, daß nach meinem Dafürhalten Codex Dendermonde 9 die ältere Textfassung bietet als jene des Riesencodex und jene der Berliner Handschrift 727. Hierauf deutet die Tatsache hin, daß die verunglückte Incipitgestalt zu Beginn des Dendermonder Codex (f. 3rb-4r) im Riesencodex sorgfältig bereinigt ist: hier endet die Capitulatio zu Buch 1 auf f. 137rb. Darunter befindet sich das Incipit zum eigentlichen Textbeginn („Incipit Liber vite meritoru[m] / p[er] simplicefm] hominefm] a vivente luce / revelatorum"). Erst auf dem nächsten Blatt (f. 138ra) setzt der Text des Liber vitae meritorum mit einer überzeugend gestalteten Initialform ein, ohne daß noch Restbestände des Incipits auf die erste reguläre Textseite mit hinübergeschleppt werden müßten. Der Riesencodex bietet in dieser Hinsicht also eine geglättete Form des Textes. Ein weiteres kommt hinzu: Die Textfassung des Riesencodex ist und dies gilt nicht nur für den Liber vitae meritorum, sondern für alle darin enthaltenen Schriften von zahlreichen Omissionen gekennzeichnet. Diese Omissionen sind aber von einem sehr auf-

-

Der Liber vitae meritorum

135

merksamen Korrektor behoben worden. Da die Einfügungen häufig nicht super sondern super lineam geschahen, erkennt man in diesen Fällen sehr welche Textteile gefehlt haben und wie sie ergänzt wurden. Dabei besitgenau, zumindest im Hinblick auf zen die korrigierten Omissionen des Riesencodex den Liber vitae meritorum sämtlich die Textgestalt des Codex Dendermonde 9. Hier liegt also der Schluß nahe, daß, sofern nicht eine gemeinsame Vorlage vorhanden war, der Textzeuge des Riesencodex auf der Grundlage des Codex Dendermonde 9 abgeschrieben oder zumindest doch korrigiert wurde. Was die genetischen Beziehungen des Codex Dendermonde 9 zur Berliner Handschrift 727 anbetrifft, so fallen die gleich gestalteten Initialformen, die gleichartige Raumaufteilung und die Gleichheit der Unzialformen in der Uberschrift zu Beginn des Buches auf. Allerdings ist die Berliner Handschrift im Gegensatz zur Dendermonder zweispaltig geschrieben. Da die Dendermonder Handschrift einen noch ursprünglicheren Charakter besitzt, spiegelt sie die Frühphase der Textentwicklung des LVM ungleich authentischer wider. Der Codex Dendermonde 9 ist für eine überlieferungsgeschichtliche Untersuchung von Hildegards Werk auch deshalb von besonderem Interesse, weil er zwei Werke Hildegards (LVM und Symphonia) im Verband zweier anderer Texte tradiert, die nicht von Hildegard stammen. Dabei stellt Codex Dendermonde 9 das früheste Beispiel für eine Verbindung von Schriften Hildegards mit Schriftgut anderer Autoren bzw. Autorinnen dar. Demgegenüber ist bei der Handschrift Troyes 683, die zwischen Hildegards Liber divinorum operum (f. 1-110) und einem Blatt mit einem Brieffragment (f. 117) Bernhards von Clairvaux Text De consideratione ad Eugenium papam enthält, sichergestellt, daß letztere Schrift erst im 13. Jahrhundert hinzugefügt wurde. Bei den in der Dendermonder Handschrift mitüberlieferten Schriften handelt es sich um den auf f. 121v-152v erscheinenden Liber uiarum Dei Elisabeths von Schönau (1129-1164) sowie um einen auf f. 170v-173v niedergeschriebenen Text ohne Titel. Vom Inhalt her geht es bei letzterem um einen lateinischsprachigen Dialog zwischen einem Priester und dem Teufel. Zwischen diesen beiden Texten befindet sich auf f. 153r-170v Hildegards Symphonia.1 Zwei Fragen liegen auf der Hand: Hat Hildegard selbst die Vereinigung ihrer Schriften mit den genannten Texten anderer Autoren/innen verfügt ? Ist der am Schluß des Codex erscheinende Dialog zwischen Priester und Teufel überhaupt die Schrift eines anderen Autors und wenn ja, um wen könnte es sich dabei handeln ? Oder könnte dieser Text von Hildegard selbst stammen und damit das Corpus der überlieferten Hildegard-Texte um eine bislang unbekannte Schrift rasuram,

-

-

erweitern ? Die Antwort auf die

erste Frage, jene nach dem Anteil Hildegards am Zustandekommen der Überlieferungssymbiose mit dem Liber viarum Dei Elisabeths von Schönau, läßt sich durch einen Blick auf den Herstellungsprozeß 1

Den Text der

Symphonia aus Codex Dendermonde 9 hat Peter von Poucke in einer Faksimileausgabe vorgelegt: Symphonia 1991.

kommentierten

Kapitel 3

136

des Codex zumindest teilweise beantworten. Der Text des Liber viarum Dei beginnt auf f. 121v. Er setzt auf dem letzten Blatt der letzten Lage (Lage 15) des Liber vitae meritorum ein. Angela Carlevaris zufolge hat der Schreiber des Liber viarum Dei das gleiche Pergament und sogar die gleiche Tinte verwendet wie der Kopist der Hildegard-Schrift. Allerdings stammt der Text des Liber viarum Dei von einer anderen Schreiberhand.1 Angewandt auf unsere Fragestellung bedeutet dies, daß der Text des Liber viarum Dei zeitgleich und im gleichen Skriptorium niedergeschrieben wurde wie jener des Liber vitae meritorum. Dies wiederum bedeutet, daß Hildegard selbst die Uberlieferungseinheit des LVM mit der Schrift Elisabeths von Schönau festgelegt, zumindest aber darum gewußt und sie gebilligt haben muß. Daß eine solche Entscheidung keineswegs undenkbar ist, bedarf kaum einer weiteren Begründung. Es ist bekannt, daß Elisabeth und Hildegard miteinander korrespondierten. Es existieren drei Schreiben Elisabeths an Hildegard und ein Schreiben Hildegards an Elisabeth. Mindestens ein weiterer Brief Hildegards an Elisabeth ist verschollen. Hildegard hat sich in diesem Briefwechsel, der vermutlich von Elisabeth initiiert wurde, als die Gebende, gewissermaßen als die magistra gegenüber einer ratsuchenden discipula, verstanden. Sie bestärkte die verunsicherte Elisabeth, an der Überzeugung von der prophetischen Qualität ihrer Visionen festzuhalten. Elisabeth wiederum akzeptierte Hildegard als geistliche Autorität und lieferte damit ein frühes, gleichwohl recht wirkungsträchtiges Beispiel für die Entfaltung von Hildegards auctoritas in Kreisen verwandter Frauenkonvente. Nicht von ungefähr geht man davon aus, daß der um 1152 begonnene Liber viarum dei nach dem literarischen Vorbild von Hildegards Scivias entstanden ist. Zum Zeitpunkt der Entstehung von Codex Dendermonde 9, d. h. in der ersten Hälfte der 70er Jahre des 12. Jahrhunderts, war Elisabeth bereits eine geraume Weile tot (f 1164). Ihre Schriften jedoch erfreuten sich, obwohl sie im Gegensatz zu jenen Hildegards niemals päpstlich anerkannt wurden und obwohl Elisabeth auch nicht regulär kanonisiert wurde, sehr bald einer weiten Verbreitung. Sie waren im Mittelalter wesentlich „erfolgreicher" als die Werke Hildegards. Kurt Köster, der beste Kenner der Überlieferung von Elisabeths Schriften, führt insgesamt 43 Sammelhandschriften und 98 Einzelhandschriften aus dem Mittelalter auf. „Elisabeths visionäres Werk hat in den mittelalterlichen Jahrhunderten eine Breitenwirkung gehabt", so Köster, „wie sie den Schriften der Seherin vom Rupertsberg nicht entfernt beschieden war."2 Außerdem genoß Elisabeth im eigenen Orden und im gläubigen Volk sehr rasch den Ruf einer Heiligen.3 Es wäre also sehr verständlich, wenn Hildegard ihrer Visionsschrift die ganz ähn1 2 3

Carlevaris 1995, S. XLVI.

Vgl. Köster 1951, (ohne Erwähnung des Codex Dendermonde 9). Vgl. Köster 1980, Sp. 492: „Sogleich nach E.s Tod bemühte man sich um ihre Kanonisation, doch haben weder ihr Kult als heilige (Reliquien außer in Schönau u. a. in Andernach, Brauweiler und Mainz) noch ihre Schriften je offizielle Anerkennung

gefunden."

Der Liber vitae meritorum

137

lieh gearteten Visionen einer ihr nahestehenden, bereits etablierten Seherin beigefügt hätte, noch dazu, da Elisabeth ihr in großer Verehrung zugetan war. Wie dem auch sei, die frühe Verbindung Hildegards mit Elisabeth, wie sie Codex Dendermonde 9 dokumentiert, hat Schule gemacht. Sie findet sich in zwei weiteren Handschriften des 12., einer Handschrift des 13. sowie in zwei Handschriften des 15. Jahrhunderts.1 Auch in der frühesten gedruckten Ausgabe einer Schrift Hildegards, dem im Jahre 1513 von Faber Stapulensis edierten Liber trium virorum et trium spiritualium virginum, erscheint Hildegard (Scivias) in Kombination mit Elisabeth (Liber viarum Dei). Die früh vorgenommene, auf Hildegard selbst zurückgehende Überlieferungssymbiose mit Elisabeth von Schönau könnte also ein bewußtes Mittel zur Steigerung des eigenen Wirkungserfolges gewesen sein. Hildegard hätte sich gewissermaßen an Elisabeth von Schönau angehängt. Außerdem könnte diese Überlieferungseinheit als Reflex auf ein Rezeptionsbedürfnis der Zeit gewertet werden nach dem, was später unter dem Begriff der rheinischen Visionsliteratur subsummiert wurde. Diesem Bedürfnis hätte der von Hildegard kompilierte Codex Dendermonde 9 ein frühes Angebot entgegengehalten. Wenden wir uns dem zweiten nicht-hildegardischen Text von Codex Dendermonde 9 zu, dem auf f. 170v-173v befindlichen Dialog zwischen Priester und Teufel. Eine kommentierte Edition dieses Textes hat, wie erwähnt, jüngst Laurence Moulinier geliefert.2 Ich kann mich an dieser Stelle daher auf einige knappe Bemerkungen, die auf den Forschungsergebnissen Laurence Mouliniers sowie auf meiner Autopsie des Textes basieren, beschränken. Die Verbindungen des Priester-Teufel-Dialoges aus der Handschrift Dendermonde 9 zu den von Laurence Moulinier namhaft gemachten legendarischen Hildegard-Texten der Handschriften der Bibl. Mun. Cambrai, Ms 811, der Bibl. Mun. Lille Ms 453 [olim 383] und der Bibl. Mun. Douai, Ms 869 kann hier nicht neu untersucht werden.

1

Dabei handelt

es

sich

um

France, Nouv. acq. lat. dem 3. Buch

von

folgende

760

Handschriften: Paris, Bibliothèque nationale de (12. Jh. Zisterzienserabtei Himmerod. Enthält Texte aus

Elisabeths Liber viarum Dei sowie drei Briefe

Hildegards); Mün12. Jh., Prä-

chen, Bay. Staatsbibliothek, Clm 22253 [275; Wind. 53] (ausgehendes

2

monstratenserstift Windberg. Enthält u. a. verschiedene Visionen und Briefe Elisabeths sowie zwei Briefe Hildegards und ihren Brieftraktat De catharis); Clm 324 (13. Jh., Zisterzienserkloster Kaisheim. Enthält neben Elisabeths Liber viarum Dei u. a. auch Gebeno von Eberbachs Pentachronon); Trier, Stadtbibliothek, Hs 771 (15. Jh., Chorherrenstift Eberhardsklausen. Enthält neben dem Liber viarum Dei u. a. drei Briefe Hildegards an Elisabeth); Köln, Stadtarchiv GB 4°214 (15. Jh., Kreuzbrüder Kloster Köln. Enthält u. a. verschiedene Einzelprophetien Elisabeths sowie Visionen und Briefe Hildegards). Moulinier 2000b, S. 529-536 und 548-560.

Kapitel 3

138

angemerkt, daß der Text nicht in der Tradition der mittelalterlichen Teufelsdialoge steht, in denen die Teufel als sublunarische Geister auftreten, die die täglichen Anfechtungen der Menschen besorgen.1 Es fällt auf, daß der Dialog, ein lateinischer Text ohne Titel, auf dem gleichen folio 170v beginnt, auf dem die Symphonia endet. Die letzte Zeile des Schlußgedichts lautet: „et ibi laus tibi sit, rex altissime, alleluia". Die Symphonia wiederum wurde von der gleichen Hand geschrieben, von der der erste Teil des LVM (f. lv-70v) stammt. Der Priester-Teufel-Dialog dagegen stammt von anderer, deutlich späterer Hand. Er setzt ein mit den Worten: „Malignus Spiritus per sacerdotem de corpore Christi inquisitus hec verba coniuratus protulit: Ad hoc Vorab sei

de quo

interrogas nullam affectionem habeo." Auf f. 173v bricht er mit den „ieiunium corpus macérât, flagellum autem non." Dazwischen befindet sich ein insgesamt 120 Fragen und Antworten umfassendes Zwiege-

Worten ab:

spräch zwischen dem Teufel und einem Priester. Folgende Themen werden angeschnitten: Katharer, Beichte, Buße, Simonie, Verhältnis zu Heiden und Juden, Exkommunikation, Fegefeuer, Turniere, Selbstmord und anderes mehr. Eingestreut in den lateinischen Grundtext erscheinen einige deutsche Wörter, etwa „volgenir" für die Schleppe der Frauen (f. 171r 13-14) oder Namen von Dämonen wie „Suslufult", „Snelhart" und „Nochdols" (f. 172v 33 und 173r 16). Auch die Gestalt der „Holda", einer im deutschen Volksglauben durchaus bekannten Figur, ist die Rede (f. 172v 32/33). Die Stadt Mainz wird erwähnt als Ort, in dem die Katharer einen Kindsmord begangen hätten. Auch Hildegard wird in diesem Dialog herbeizitiert. Auf f. 171v 8-10 fragt der Priester den Teufel, wie ihm denn die Schriften der alten Hildegard gefielen. Daraufhin antwortet der Teufel, indem er sich Hildegard zuwendet, sie gefielen ihm gerade so gut, wie es Hildegard gefiele, wenn man sie würgte und sie daran erstickte. Diese Schriften seien zu seiner Schmach entstanden. („Tunc sacerdos: ,Et quomodo placet tibi scriptura vetule huius Hildigardis ?' Tunc ille dominam nostram Hildigardem inspiciens dixit: ,Scriptura tua sic mihi placet quomodo tibi placeret si quis te strangulando suffocaret.' Tunc sacerdos: ,Et und hoc est?' Tunc ille: ,Quia ad contumeliam mei publicabitur.'"). Auf f. 173r spricht Hildegard selbst. Sie erwähnt ihre Kämpfe mit dem Dämon, die u. a. auch in der Vita Hildegardis und in den Octo lectiones erwähnt werden.2 In ihrem Zwiegespräch mit dem Teufel erfährt sie u. a., daß es ein Teufel gewesen sei, und zwar vor allem jener mit Namen Nochdols, der ihr die Krankheiten eingehaucht 1 2

Vgl. Friebertshäuser 1996. Das Titelbild dieser Publikation zeigt ganz bezeichnend einen Teufel, der die Menschen in einem Netz fängt. Vita Hildegardis 1993, II 12, 12, 37 39: „At ego per ostensionem Dei eisdem puellis innotui, qualiter per deceptionem malignorum spirituum diuersa uanitas se in corda eorum

malos solum

Octo Lectiones 1993, Lectio IV, S. 78 12-16: „Hec bonos et frequenter uidebat, inter quos cum triennium infirmaretur Nec

immerserat."

angelos cum languore uel daemonum angelica defensione glorificabatur." -

...

terrore

cruciabatur,

non

superabatur,

sed

et

Der Liber vitae meritorum

139

Zwiegespräch entspricht Laurence Moulinier zufolge im Tenor der Sigewiza-Episode, der Schilderung eines Exorzismus', der in der Vita Hildegardis erscheint. Auch dort agiert Hildegard in einem Streitgespräch gegen den habe. Dieses

Teufel.

Der Schreiber des

Dialoges (Hand 4 der kompletten Handschrift) ist an andeStelle innerhalb von Codex Dendermonde 9 nirgendwo bezeugt. Dies könnte bedeuten, daß dieser Text in einem unterschiedlichen entstehungsgeschichtlichen Milieu anzusiedeln ist als die vorgeschalteten Haupttexte Hildegards und Elisabeths. Auch der Schriftduktus und das Layout des Dialoges unterscheiden sich von den vorausgehenden Texten. Sie wirken wesentlich weniger planmäßig gestaltet. Aufgrund des paläographischen Eindrucks halte ich den Priester-Teufel-Dialog für eine Eintragung des beginnenden 13. Jahrhunderts. Die Schrift des Textes ist sehr gedrungen, es finden sich zahlreiche Streichungen und Verbesserungen am Seitenrand sowie innerhalb des Textes super lineam. Lediglich eine einzige Initiale, jene mit dem M von malignus zu Beginn des Textes, ist in einer schmucklosen Form ausgeführt. Die Zeilenzahl unterliegt großen Schwankungen. Sie bewegt sich zwischen 35 (f. 170v), 44 (f. 171r), 48 (f. 171v), 53 (f. 172r und 172v) 45 (f. 173r) und 33 Zeilen auf f. 173v. Da der Text mitten in Zeile 33 von f. 173v mit dem Wort „aut" endet, ist sicher, daß er nicht komplett überliefert wurde. Von besonderem Interesse ist die auf f. 171v, Zeile 8 und 9 erscheinende zweimalige Erwähnung Hildegards. Diese Erwähnung schließt aus, daß es sich bei dem Dialog um einen von Hildegard selbst stammenden Text handeln könnte. Da es inhaltlich auch um die Katharerproblematik und um die Stadt Mainz geht, ist dies ein Signal dafür, daß Hildegards Brief De catharis, der sich ja an die Mainzer Kirche richtete, im Hintergrund steht. Der Text könnte also einen frühen (zisterziensischen ?) Reflex auf Hildegards Ausführungen zur Katharerproblematik darstellen.1 Daneben gibt es über die Katharerproblematik auch eine Verbindung des Dialoges zu Elisabeth von Schönau bzw. zu ihrem Bruder Ekbert von Schönau. Ekbert, ein vormaliger Kanoniker in Bonn und Mitstudent des Kölner Erzbischofs Rainald von Dassel, hatte, nachdem in Köln zum zweiten Male Katharer verbrannt worden waren, 1163 damit begonnen, seine 13 Sermones adversus Catharorum errores zu verfassen. Er wollte darin die Lehre der Katharer umfassend darstellen mit dem Ziel, sie theologisch zu bekämpfen. Es ist denkbar, daß der Priester-Teufel-Dialog von einem Benediktinermönch aus Gembloux oder einem Zisterziensermönch aus Villers zu Beginn des 13. Jahrhunderts nachträglich in den Codex Dendermonde 9 eingetragen wurde. Da auf f. 171v, Zeile 10 die Wendung „nostram Hildegardem" erscheint, wird der Verfasser des Dialoges wohl eher in benediktmischen als in zisterziensischen Kreisen zu suchen sein. Ob dieser Vermerk so verstanden werden darf, daß es einen älteren Textzeugen gab, der (an anderer Stelle heißt es „domina nostra") rer

1

Nigel F. Palmer (Oxford), mit dem ich über den Dialog korrespondiert habe, sei für aufschlußreiche Hinweise zu diesem Text sehr herzlich gedankt.

Kapitel 3

140

Rupertsberg selbst, möglicherweise sogar noch zu Lebzeiten Hildewurde, bedarf weiterer Untersuchungen. Die unsystematische geschrieben gards Anlage des Textes macht es sehr unwahrscheinlich, daß er von vornherein fest in den Codex miteingeplant gewesen ist. Hier unterscheidet sich der Dialog nachhaltig von dem ersten nicht auf Hildegard zurückgehenden Text in Codex Dendermonde 9, Elisabeths Liber viarum Dei. Jedenfalls stellt der Dialog ein frühes Zeugnis für die Wirkungsgeschichte Hildegards in Kreisen des brabantischen auf dem

Mönchstums dar. Er verdient von daher die volle Aufmerksamkeit der Forschung und weitere Untersuchungen sind dringend zu wünschen. 68 des Bischöflichen Priesterseminars Trier Auf die große Bedeutung der Handschrift 68 des Bischöflichen Priesterseminars Trier für die Textüberlieferung von Hildegards Liber vitae meritorum hat Albert Derolez bereits im Jahre 1973 eindringlich hingewiesen. Derolez

2.) Die Handschrift

datiert die Entstehung der Trierer Handschrift in die Lebzeiten Hildegards. Als ein Produkt der Rupertsberger Schreibstube sei sie um 1170/79 entstanden.1 Die Handschrift enthält ausschließlich den Text des LVM. Der Codex umfaßt 132 folia.2 Er besitzt die Größe 25,5 x 17 cm. Damit hat die Trierer Handschrift 68 exakt die gleichen äußeren Maße wie der Genter Codex 241, der den Text des Liber divinomm operum enthält. Ob dieses Phänomen als Hinweis auf die Anfertigung einer Art mehrbändiger Ausgabe der Visionsschriften gewertet werden kann, muß offenbleiben. Das Phänomen als solches ist im Mittelalter bekannt. Für Wolfram von Eschenbach und Konrad von Würzburg sind solche mehrbändigen Ausgaben bezeugt. Immerhin ähneln auch die nüchterne Ausstattung und der Schriftduktus der Trierer Handschrift dem Genter Codex. Hinzu kommt, daß die Trierer Handschrift 68 die gleiche Provenienz wie der Genter Codex 241 besitzt, d. h. aus dem Vorbesitz der Abtei Trier-St. Eucharius stammt. Auf f. lr findet sich ein entsprechender Vermerk: „Codex s[an]c[t]i eucharii p[ri]mi treviror[um] archiep[isco]pi. si quis eum // abstulerit. anathema sit. amen". Darunter erscheinen die alten Bibliothekssignaturen von St. Eucharius „170" (durchgestrichen) und „114". Anders als beim Genter Codex sind in der Trierer Handschrift die Capitula, die sich jeweils vor den sechs Büchern des Textes finden, nach Abschrift des Visionstextes nicht mehr redigiert worden. Die Tatsache, daß die Capitula unmittelbar vor den zugehörigen Büchern erscheinen, weist zudem darauf hin, daß eine ältere Vorlage existiert hat, die durch eine solche Anordnung weiter strukturiert werden konnte. Von den ältesten Textzeugen der Visionsschriften Hildegards nimmt man an, daß sie keine Einzelzuteilung der Capitula zu den jeweiligen Hauptteilen (Büchern) besaßen, sondern jeweils eine Gesamtcapitulatio vor dem Textcorpus. 1 2

Derolez 1973.

(veraltete) Beschreibung des Codex Angabe der Verfasserschaft Hildegards).

Eine

findet sich bei Marx 1912, S. 51

(ohne

Der Liber vitae meritorum

141

Die Trierer Handschrift besteht, der Beschreibung von Angela Carlevaris und meiner Autopsie zufolge, aus insgesamt 16 Lagen.1 Es sind dies: 15 Quaternionen, ein Quinio (Lage 7) und zwei Blätter, die dem letzten Quaternio angefalzt wurden (Lage 15). Die beiden irregulären Lagen erlauben Einblicke in das Verhältnis der Trierer Handschrift zu ihrer Vorlage. Etwa in der Mitte von f. 51v endet das zweite Buch des Textes. Die komplette untere Hälfte des Blattes ist rasiert; auf diesem rasierten Feld beginnt mit Zeile 14 super rasuram die Capitulatio von Teil 3. Offensichtlich hatte der Schreiber diese Capitulatio zunächst vergessen. Als er seinen Fehler bemerkte, rasierte er den bereits niedergeschriebenen Text von Teil 3 wieder ab und schrieb den Beginn der Capitulatio darauf nieder. Diese reicht von f. 52va (Zeile 14) bis f. 53ra, Zeile 17. Unmittelbar darunter beginnt der eigentliche Visionstext, und zwar auffälligerweise zunächst in einspaltiger Anordnung. Am unteren Ende von f. 55v präsentiert sich der Text in einer außergewöhnlich eng zusammengepreßten Form. Die Schlußfolgerung aus dieser Beobachtung liegt nahe: Die Doppelblätter 52/55 sowie 53/54 der Handschrift wurden als Ersatz für die fehlende Capitulatio nachträglich eingefügt, nachdem der Kopist seinen Irrtum bemerkt hatte. Auf diese Weise wurde aus einem ursprünglichen Quaternio ein Quinio. Ähnlich verhält sich die Situation bei Lage 15. Auch diese Lage bestand zunächst aus einem Quaternio. f. 119r enthielt das Ende von Buch 5 des Textes, außerdem, nach einer freien Zeile, den Beginn von Buch 6. Wie zuvor bei Buch 3, vergaß der Kopist auch an dieser Stelle die Capitulatio, diesmal jene zu Buch 6. Um seinen Fehler zu beheben, rasierte er den kompletten oberen Teil von f. 119r ab. Dennoch ist dieser Text schwach lesbar geblieben. Dann schrieb er den ursprünglich auf f. 119r befindlichen Text mit dem Ende von Buch 5 auf ein Zwischenblatt (f. f 17) neu. Im Anschluß an die so entstandene halbe Textseite folgt die Capitulatio zu Buch 6. Sie reicht von f. 117ra (Zeile 18) bis f. 118vb (Zeile 19, Rest frei). Der reguläre Text von Buch 6 des LVM beginnt demzufolge erst auf der Blattmitte von f. 119r, während die obere Blatthälfte leer blieb. Sie zeigt die häßlichen Spuren des ursprünglich dort befindlichen Textanfangs von Buch 6. Die Hinzufügung der Capitulatio zu Buch 6 (f. 117/118) bewirkte auch hier die Erweiterung eines Quaternio zu einem Quinio. Welche Erklärung läßt sich für die augenfällige Omission der beiden Capitulationes zu Buch 3 und Buch 6 des Trierer Textzeugen beibringen ? Die Antwort liegt auf der Hand: die Vorlage der Trierer Handschrift 68 muß eine andere Form des Inhaltsverzeichnisses besessen haben. Wir können annehmen, daß die Vorlage keine Einzel-Capitulationes zu Beginn der jeweiligen Bücher aufwies, sondern eine Komplett-Capitulatio vor dem gesamten Textcorpus. Während des Kopiervorgangs mußte der Schreiber daher die Einzel-Capitulationes zu den sechs Büchern auf diese übertragen und ihnen vorschalten. Die dazu erforderliche Aufmerksamkeit hat der Kopist offensichtlich nicht immer aufgebracht. Heute existiert nur noch ein einziger Textzeuge der Visionsschriften Hildegards 1

Carlevaris 1995, S. XLIX-LI.

Kapitel 3

142

Gesamt-Capitulatio zu Beginn des Textes: Codex Gent 241, der den des Originals vom Liber divinorum operum enthält. Aus diesem Grunde läßt sich annehmen hier folge ich der Argumentation Albert Derolez' -, daß der Trierer Textzeuge des Liber vitae meritorum die Abschrift einer Vorlage darstellt, die im günstigsten Falle den gleichen textkritischen Rang besitzt, wie der Genter Codex 241 für den LDO. Diese erschließbare Vorlage muß die maßgebende Ausgangsstufe des Liber vitae meritorum gewesen sein. Kehren wir noch einmal zur äußeren Beschreibung der Trierer Handschrift 68 zurück. Die Zeilenzahl beträgt mit geringen Ausnahmen 30. Lediglich Lage 6, 7 und 8 weisen 34 Zeilen, f. 54v, 62v und 63r jeweils 33 Zeilen auf. In den mit einer

Apograph

-

drei letzten Lagen finden sich auch Folien mit 26, 29, 30 oder 31 Zeilen. Was die Zahl der beteiligten Hände anbetrifft, so ging die bisherige Forschung (Derolez) von drei Schreibern aus. Angela Carlevaris diskutiert neuerdings die Mitwirkung einer vierten Hand, von der die folia 52r-55v sowie die folia 72r-132v stammen könnten. Außerdem macht sie darauf aufmerksam, daß die Kopisten gelegentlich nur für wenige Zeilen von anderen Händen abgelöst wurden. Dies deute darauf hin, so Carlevaris, daß die Hauptschreiber noch mit anderen Arbeiten beschäftigt gewesen seien und daß der Trierer Textzeuge „eher beiläufig"1 geschrieben worden sei. Wichtig erscheint jedenfalls die Beobachtung, daß die an der Trierer Handschrift 68 beteiligten Rupertsberger Hände auch noch in weiteren Rupertsberger Hildegard-Handschriften des 12. Jahrhunderts nachgewiesen werden können. Genauer gesagt, wird Hand 1 der Trierer Handschrift 68 gleichgesetzt mit Hand 2 der Dendermonder Handschrift 9. In der Trierer Handschrift 68 schrieb Hand 1 f. lv-35r (Buch 1-2, Cap. 12) des Liber vitae meritorum, in der Dendermonder Handschrift 9 hingegen f. 71 r121v (Buch 4-6). Darüber hinaus ist Hand 1 der Trierer Handschrift identisch mit Hand 2 des verschollenen illuminierten Scivias (HLB Wiesbaden, Hs 1). Als Hauptschreiber kopierte sie dort große Teile des zweiten und dritten Buches von Scivias. Sie setzte hier ein auf f. 58vb und führte den Text, von einem dritten Kopisten auf wenigen Seiten abgelöst, weiter bis zum Schluß des Werkes auf f. 234v. Hand 1 der Trierer Handschrift 68 taucht schließlich auch als Schreiber der Vatikanischen Handschrift 311, die den Scivias enthält, auf. Von besonderer Bedeutung ist diese Hand aber vor allem deshalb, weil sie darüber hinaus in den ältesten Textzeugen des Rupertsberger Güterverzeichnisses und des Rupertsberger Nekrologes erscheint. Diese Schriften gehen zurück bis wenigstens in das -

Jahr

-

1158.

Hand 2 der Trierer Handschrift 68 wiederum ist identisch mit Hand 1 des Riesencodex. Sie kopierte dort den Scivias (f. l-135v), abgelöst lediglich auf nur wenigen Seiten von Hand 2 (f. 46vb, Zeile 14 bis f. 48vb), den Liber vitae meritorum (f. 135v-201v), Teile des Briefes an die Mainzer Prälaten (f. 308v-317ra), sowie die Vita Hildegardis (f. 317ra-327v). Dies wiederum bedeutet, daß Hand 2 auch noch in den 80er Jahren des 12. Jahrhunderts schrieb. 1

Carlevaris 1995, S. L.

Der Liber vitae meritorum

143

Hand 3 der Trierer Handschrift 68 schließlich erscheint an verschiedenen Stellen des illuminierten Scivias (HLB Wiesbaden, Hs 1) sowie im Riesencodex. Dort war sie zuständig für die neumierten Lieder der Symphonia und des Ordo

(f. 466r-481v).' Paläographische und kodikologische Irregularitäten fallen in der Trierer Handschrift 68 nur ausnahmsweise zusammen. Wie angedeutet, hat Albert Der-

virtutum

olez aus diesem Faktum den Schluß gezogen, die Trierer Handschrift stelle eine direkte oder indirekte Kopie eines korrigierten Autographs bzw. Originals dar. Im übrigen weise der Trierer Textzeuge, so Derolez, bei weitem weniger Korrekturen auf als etwa die Abschrift des Liber divinorum operum der Genter Handschrift 241. Stereotype Wendungen, wie man sie in einer zunächst inkorrekten, erst nachträglich verbesserten Form auf nahezu jeder Seite des Genter Codex antreffe, seien in der Trierer Handschrift direkt in der richtigen Fassung eingetragen worden. Auch dies ein Hinweis auf den entwickelteren Charakter des Trierer Textzeugen. Als Beispiel nennt Derolez die Wendung „Quod etiam sie intellegendum est" auf f. 95v oder f. lllv anstelle des falschen oder umständlichen „Quod etiam sie ad intellectum patet". Bliebe zu ergänzen, daß der eigentliche Text des Liber vitae meritorum, wie er in der Trierer Handschrift 68 erscheint, einspaltig geschrieben ist, während die Capitula sich zweispaltig präsentieren.

3.) Die Handschrift

StBPrK Berlin Ms theol. lat. f. 727

Eine weitere aus dem 12. Jahrhundert stammende Handschrift des Liber vitae meritorum entstand ebenfalls im Kloster Rupertsberg. Dabei handelt es sich um

die heute zur Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin gehörende Handschrift Ms. theol. lat. f. 727. Die Berliner Handschrift enthält im Gegensatz zum Dendermonder Codex 9 ausschließlich den Text des Liber vitae meritorum. Weitere Schriften Hildegards oder anderer Autoren sind nicht darin enthalten. Der Codex besitzt die Ausmaße 27,3 x 18,5 cm und umfaßt 116 folia. Ebenfalls im Unterschied zum Dendermonder Codex 9 sowie zur Trierer Hs 68 ist der Visionstext nicht ein-, sondern zweispaltig angeordnet. Die Zeilenzahl liegt bei 32. Die Handschrift besteht aus 14 regelmäßigen Quaternionen und einem Ternio, von dem die beiden letzten Blätter abgetrennt wurden. Auf den jeweils letzten Quaternio-Seiten sind die Lagen mithilfe von römischen Ziffern durchgezählt. Allerdings fehlt die 1

Wie fruchtbar eine Konkordanz der hier nur exemplarisch durchgeführte im Schreiberhände Hinblick auf die Ermittlung genetischer ZusamRupertsberger menhänge in der Produktion früher Hildegard-Texte sein kann, hat Albert Derolez in einem jüngst gehaltenen Vortrag gezeigt. Die Ausführungen standen unter dem Thema: Neue Beobachtungen zu den Handschriften der visionären Werke Hildegards von Bingen (gehalten in der Bibliothek des Bischöfl. Priesterseminars Trier am 16.4.1999): Derolez 2000. -

-

144

Kapitel 3 daß die Lage 12 versehentlich mit der Zahl

auf f. 88v, so 11 und die Zahl 12 bezeichnet wurde. Den Forschungen Marianna Schräders und Adelgundis Führkötters einerseits und Angela Carlevaris' andererseits zufolge stammt der Text von einer einzigen Hand.1 Diese Hand sei identisch mit Hand 2 des Genter Codex 241, die den Liber divinorum operum enthält. Albert Derolez geht dagegen von drei beteiligten Händen aus.2 Auf die von Derolez sehr differenziert durchgeführte Händescheidung des Genter Codex braucht an dieser Stelle nicht näher eingegangen zu werden. Es genügt der Hinweis, daß Derolez die Identität von Hand 1 des Berliner Codex 727 mit Hand 2 des Genter Codex 241 bestätigt. Derolez zufolge hat Hand 1 der Berliner Handschrift 727 f. lv-88v des Liber vitae meritorum geschrieben. Der gleiche Schreiber hat als Hand 2 des Genter Codex 241 (Liber diuinorum operum) dort f. 28-148, f. 203-242 und f. 292-392,2 geschrieben. Darüber hinaus war einer der Korrektoren des Berliner Codex 727 identisch mit Hand 1 des Genter Codex. Der Vergleich der beteiligten Hände ist nicht unwichtig im Hinblick auf eine Datierung der Berliner Handschrift. Wir wissen, daß Hand 2 von Codex Gent 241 ihre Textpartien zwischen 1170/74 geschrieben hat. Geht man davon aus, daß während dieser Zeit vor allen übrigen Projekten die sich durch den Tod Volmars sehr schwierig gestaltende Fertigstellung des Liber diuinorum operum Priorität genoß, so käme für eine Entstehung der Berliner Handschrift die Zeit nach Abschluß dieser Arbeiten, das heißt nach 1173/74, in Frage. Dieser Befund bestätigt sich durch die Datierung der maßgeblichen Korrektorenhand. Derolez konnte nachweisen, daß im Genter Codex 241 Hand 2 vor Hand 1 gearbeitet hat. Wenn also in der Berliner Handschrift Hand 1 des Genter Codex als Korrektor zu belegen ist, so muß die endgültige Fertigstellung des Berliner Codex mit den Korrekturen noch eine gewisse Zeit nach 1173/74 zurückdatiert werden. Nimmt man hierfür die Jahre 1175/76 an, so wäre der Berliner Textzeuge des Liber vitae meritorum etwa zeitgleich zum Codex Dendermonde 9 entstanden. Im ganzen wirkt die Handschrift sehr sorgfältig gestaltet. Hervorzuheben ist, daß sie die eigentlichen Visionstexte (genauso wie beim Codex Dendermonde 9 und dem Scivias des Riesencodex) am Spaltenrand durch ein entsprechendes graphisches Zeichen (vertikal stehendes s) hervorhebt.3

Zählung Lage

1 2

3

13 mit der

Schrader/Führkötter 1956, S. 50; Carlevaris 1995, S. XLVIII. Derolez/Dronke 1996, S. LXXXVIII. Demnach hat Hand 1 f. 1-88 (d. h. Lage I-X), Hand 2 f. 89-104 (d. h. Lage XI-XII) und Hand 3 f. 105-116 (d. h. Lage XIIIXIV) geschrieben. Umgesetzt auf die sechs Bücher des Liber vitae meritorum hat dieser Zuordnung zufolge Hand 1 Buch I-IV, Hand 2 Buch V (teilweise) und Hand 3 Teile von Buch V sowie das komplette Buch VI kopiert. Wenn Angela Carlevaris (Carlevaris 1995, S. XLVIII) die Ansicht äußert, dieses Auszeichnungssystem werde nur von der Berliner Handschrift verwendet, so können wir ihr hierin ausnahmsweise einmal nicht folgen.

Der Liber vitae meritorum

145

Ebenfalls auffällig sind die Ähnlichkeiten in der äußeren Gestaltung der Berliner Handschrift 727 mit jener des Codex Dendermonde 9. Bis zum Ende von pars III (f. 70v) weist die Berliner Handschrift gemeinsame Varianten mit Codex Dendermonde 9 auf. Dies ist bemerkenswert, da im Dendermonder Codex mit Beginn von pars IV (f. 71 r) eine neue Hand (Hand 2) einsetzt. Auch die Rubrikation ist identisch mit jener von Codex Dendermonde 9. Überschriften und Initialen erscheinen in einer roten Unzialis. Zum Teil besitzt auch der Riesencodex die gleiche Initialform wie Codex Dendermonde 9 und die Handschrift Berlin 727. Von besonderer Bedeutung sind in der Berliner Handschrift 727 die stilistischen Überarbeitungen des Textes. Sie ähneln den Korrekturen des Genter Codex 241. Allerdings kann man im Genter Codex 241 die ursprüngliche Textfassung noch erkennen, da die Korrekturen einfach über den durchgestrichenen Wörtern bzw. Satzteilen angebracht wurden. Dies gilt für die Berliner Handschrift 727 nicht mehr. Hier sind die Änderungen super rasuram ausgeführt bzw. schon in den laufenden Text eingearbeitet. Die Frage nach den unterschiedlichen Formen und möglicherweise dem unterschiedlichen Stellenwert der Korrekturen (super lineam super rasuram) ist sicherlich eine der schwierigsten Fragen der Hildegard-Paläographie überhaupt. Sie impliziert die Frage, welchen Anteil Hildegard selbst an diesen Korrekturen gehabt hat (Endredaktion). Wenn man das Ausmaß der Korrekturen betrachtet, wie es selbst im Riesencodex erscheint, so läßt sich nur mit großem Vorbehalt davon ausgehen, daß weniger stark korrigierte Textpassagen eine stärker entwickelte Textstufe wiedergeben, und daß umgekehrt stark korrigierte Textpassagen eine weniger entwickelte Textstufe repräsentieren. Mitunter weisen manche Textseiten im Riesencodex und in anderen Rupertsberger Hildegard-Handschriften des 12. Jahrhunderts fast palimpsestartigen Charakter auf. Womit dies im einzelnen zusammenhängt, müßte eine Spezialuntersuchung zu den unterschiedlichen Korrekturverfahren des Rupertsberger Skriptoriums klären. Eine wichtige Ursache für dieses Phänomen könnte im Fehlen verbindlicher Textfassungen zur Zeit Hildegards liegen, auf deren Grundlage strittige Fragen autoritativ hätten abgeklärt werden können. Bisweilen stellt sich der Eindruck ein, als seien die vorhandenen Handschriften einfach von verschiedenen simultan kopierten Vorlagen mit zum Teil identischer, zum Teil voneinander abweichender Fehlerhaltigkeit geschöpft worden. All diese Vorlagen hätten damit und zwar schon zu Lebzeiten Hildegards mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander existiert, ohne daß eine bestimmte Textfassung den absoluten Vorrang vor den übrigen behauptet hätte. Man müßte sich in diesem Fall also von der Vorstellung eines fehlerfreien, den übrigen Textzeugen philologisch überlegenen und die weitere Überlieferung normativ dominierenden Originals oder Archetyps lösen. Dieses Phänomen könnte aber auch ohne daß sich beide Möglichkeiten -

-

-

-

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Kapitel 3

146

grundsätzlich ausschließen müßten schlichtweg mit entsprechenden Nachlässigkeiten der Schreiberhände zusammenhängen.1 Nimmt man den Überlieferungsprozeß von Hildegards zweiter Visionsschrift insgesamt in den Blick, so stellt die Berliner Handschrift 727 bereits eine bereinigte Form der Textgestaltung dar. Für diese Annahme spricht, daß die verunglückte Incipitgestalt, wie sie im Codex Dendermonde 9 vor Buch 1 des -

Liber vitae meritorum erscheint, hier behoben ist. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, daß der Berliner Textzeuge auf der Grundlage der Handschrift Dendermonde 9 bzw. auf einer mit Dendermonde 9 gemeinsamen Vorlage beider Textzeugen entstanden ist. Es bliebe zu ergänzen, daß sich auf den Bünden des Einbandes der Berliner Handschrift 727 die alte Signatur des Mainzer Benediktinerklosters St. Jakob findet (G IX P). Ob die Handschrift bereits im Jahre 1186 zum Bestand des Jakobsklosters gehörte, wie vereinzelt diskutiert wurde, bleibt aber unsicher.2 Später gelangte der Codex in den Besitz des Bibliophilen und vormaligen Benediktiners Leander van Ess (1772-1847). In die Sammlung von Lord Philipp nach Cheltenham übergegangen, wurde sie im Jahre 1911 von der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin erworben. Zieht man ein kurzes Resümee aus unseren Beobachtungen zur Berliner Handschrift 727, so läßt sich folgendes festhalten: Der Codex legt Zeugnis ab von den um die Mitte der 70er Jahre des 12. Jahrhunderts auf dem Rupertsberg ablaufenden Bemühungen, die zweite Visionsschrift Hildegards zu verbreiten. Hierbei stand offensichtlich die Intention einer schlichten Popularisierung im Vordergrund vor jener einer textkritischen Purifizierung des Textes von eventuellen Schreibfehlern und einer daraus sich ergebenden Normierung.

1

Die hier angeschnittenen Fragen betreffen eine Reihe ganz grundsätzlicher Probleme der Textkritik. Sie sind in exemplarischer Weise aufgegriffen worden von Gerhardt 1991; vgl. insbesondere S. 106: „Es ist also nicht statthaft, bei mittelhochdeutschen Dichtungen, auch wenn sie ohne mündliche Zwischenstufen allein schriftlich überliefert sind, ohne weiteres von einem Original her die Überlieferung abzuleiten und ebenso wenig ist es erlaubt, ohne Argumentation mit einem prinzipiell fehlerfreien Original zu operieren, es sei denn, daß man Autorenfehler der prinzipiellen Fehlerfreiheit des Originals subsummiert." Statt dessen müsse, so Gerhardt, mit dem Vorhandensein von Konzept, Arbeitsexemplar, autographer Urschrift sowie Reinschrift und Widmungsfassung gerechnet werden. Eine solche schichtenspezifische Sichtweise kann den prozessualen oder dynamischen Charakter der Konstituierung eines Textes zu Lebzeiten des Autors (Autorenvarianten) besser erklären als eine einseitig archetypenlastige Theorie. Die von Gerhardt auf die Bereiche von Dichtung und chronikalischem Schrifttum bezogenen Äußerungen können prinzipeil auch auf das

2

Vgl.

Feld der Visionsliteratur

angewandt werden.

Schillmann 1913, S. 116.

Der Liber vitae meritorum

147

4. ) Der Liber vitae meritorum des Riesencodex

Auf die Bedeutung des Riesencodex für die Uberlieferung der Schriften Hildegards wurde in anderem Zusammenhang bereits ausführlich eingegangen. Ich kann mich daher hier auf einige spezifische Details zum Liber vitae meritorum beschränken. Die Schrift erscheint innerhalb des Riesencodex auf f. 135v-201v. Dies entspricht den Lagen 17-25 der gesamten Handschrift. Der Text stammt von Hand 1, die auch (bis auf einen kleinen Einschub [f. 46vb-48vb] von Hand 2) für die Niederschrift des vorausgehenden Scivias zuständig war. Diese Hand 1 ist von Albert Derolez als Hand 2 des LVM-Textzeugen der Handschrift 68 der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars in Trier identifiziert worden.1 Außerdem schrieb sie einige Jahre später (nach 1181) die Vita Hildegardis des Riesencodex. Der Textzeuge des Liber vitae meritorum von Trier wiederum entstand, wie oben dargelegt, zwischen 1170/79. Entstehungsheimat war der Rupertsberg. Er dokumentiert wie der Riesencodex und eine Anzahl anderer Handschriften mit Texten Hildegards die virulenten Bemühungen des Rupertsberger Skriptoriums, die Schriften der prophetissa teutonica gegen Ende von Hildegards Lebzeiten zu popularisieren. Auf die Vermutung, daß Codex Dendermonde 9 älter ist als der Liber vitae meritorum des Riesencodex wurde weiter oben bereits hingewiesen. -

-

5. )

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex

1016

[theol. 382]

Entstehungsort und die exakte Datierung der heute in Wien liegenden Handschrift 1016 mit dem Text des Liber vitae meritorum sind ungeklärt. Ein Provenienzvermerk auf f. lr des Codex weist lediglich darauf hin, daß dieser sich bereits im 13. Jahrhundert im Besitz des ab 1570 zur Advokatie der Diözese Trier gehörenden Prämonstratenserklosters St. Maria in Rommersdorf bei Neuwied befand („Liber ecclesie sancte Marie uirginis in Rommerstorph"). Um 1117 hatte Reginbald von Rommersdorf eine alte, anstelle einer heidnischen Kultstätte errichtete Kapelle Benediktinern aus Schaffhausen übergeben. Deren Kloster wiederum soll im Jahre 1052 von Graf Eberhard von Neuenbürg, dem Vater des Trierer Erzbischofs Udo, gestiftet worden sein. An Stelle der Benediktiner berief der Trierer Erzbischof Albero im Jahre 1135 Prämonstratenser, die aus Floreffe bei Namur kamen. Die Ordensregel der Prämonstratenser ist aus den Regeln der Augustiner und der Benediktiner zusammengesetzt. 1803 wurde Kloster Rommersdorf im Zuge der Säkularisation vom Prinzen zu Nassau-Usingen aufgehoben, 1841 gelangte es in den Besitz des Herzogs von Arenberg. Zu diesem Zeitpunkt gehörte Codex 1016 bereits eine geraume Weile zum Bestand der damaligen Hofbibliothek Wien. Der älteste Handschriftenkatalog der Wiener Bibliothek, im Jahre 1576 von Hugo Blotius angefertigt, weist ihn unter der Signatur 0 4371 sowie unter dem Titel Hildegardis Liber de uitae Der

1

Derolez 2000.

Kapitel 3

148

meritis, iunctis aliis uariis opusculis. Liber in paruo folio scriptus in membrana

nach.1 Otto Mazal hat die Vermutung geäußert, die Handschrift sei in einem nicht näher genannten rheinischen Skriptorium entstanden.2 Angela Carlevaris bemerkte Ähnlichkeiten zu einer anderen, zeitweise in Rommersdorf befindlichen Handschrift aus dem 13. Jahrhundert, dem heute ebenfalls in Wien liegenden Codex 963 [theol. 348]. Dieser Codex beinhaltet das Pentachronon des Gebeno von Eberbach, Hildegards Epistolarium, die Vita S. Ruperti, verschiedene Folien mit Hildegard-Texten, die Vita S. Disibodi sowie Auszüge aus der Symphonia. Er geht zurück auf eine Vorlage, die Volmar auf dem Rupertsberg zusammengestellt hatte und die die Grundlage der von Wibert redigierten Briefsammlung des Riesencodex bot. Die Briefsammlung des Wiener Codex 963 [theol. 348] wiederum war Vorlage für die Handschrift 722/277 der Stadtbibliothek Trier, die 1487/89 in der Kartause Beatusberg bei Koblenz entstanden ist. Doch kehren wir zur Frage nach der Entstehungsprovenienz des Wiener Codex 1016 zurück. Eine Herstellung des Codex in Rommersdorf selbst ist schon deshalb kaum anzunehmen, weil dieser Codex keinerlei auffallende Ähnlichkeiten mit einer anderen Rommersdorf er Handschrift des 13. Jahrhunderts aufweist, dem berühmten Rommersdorfer Briefbuch. Diese Sammlung stammt aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Nachträge 2. Hälfte). Da an ihr mehr als 30 Kopisten der Rommersdorfer Schreibstube mitgearbeitet haben, kann sie geradezu als Spiegel dieses Skriptoriums in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gelten.3 Aus einem kursorischen Überblick über die mittelalterlichen Geschichtsschreiber des Prämonstratenserordens, den Norbert Backmund 1972 vorgelegt hat, läßt sich zudem nirgendwo auf ein besonderes Interesse der Prämonstratenser an Person und Werk Hildegards schließen.4 Neuerdings hat Angela Carlevaris darauf hingewiesen, daß der Text des Wiener Codex 1016 einige frappante Gemeinsamkeiten mit dem L VAf-Textzeugen des Priesterseminars Trier (Hs 68) aufweist. Die Abhängigkeit der Wiener Handschrift von der Trierer werde durch gemeinsame Textvarianten offenbar, vor allem aber durch die Tatsache, daß sie auf f. 85rb das gleiche Wort „creatura" ergänze, das auch in der Trierer Handschrift (auf f. lOlv) erscheine.5 Dieses Wort diene der Erklärung von „unaqueque" in Pars V, Cap. XV, Zeile 308 des LVM. Zieht man die logische Schlußfolgerung aus diesen Beobachtungen, so muß eine Entstehung der Wiener Handschrift 1016 im Skriptorium von Trier-St. Eucharius als durchaus möglich, ja als wahrscheinlich angesehen wer-

-

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3 4

Zit. nach Carlevaris 1995, S. LVI. Beschreibung der Handschrift bei Denis DCXXX. Van Acker Nr. 1795/1800, 1991, S. XLIVf. Mazal 1981, S. 295. Vgl. Kempf 1933, S. 529. Backmund 1972. Der Name Hildegards taucht hier nur ein einziges Mal auf (S. 93, Fußn. 201). Backmund weist dabei auf Ähnlichkeiten in der Vita der Christiana genannt von Retters (f ca. 1292) mit den Visionen Hildegards von Bingen und Elisabeths von Schönau hin.

5

Carlevaris 1999, S. 9.

1

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2

Der Liber vitae meritorum

149

den. Daß die in Trier-St. Eucharius befindlichen Hildegard-Texte ihrerseits in einem außerordentlich engen entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang zum Skriptorium von Kloster Rupertsberg stehen, muß nicht noch einmal eigens betont werden. Die von früheren Hildegard-Forschern gehegte Vermutung, der Wiener Codex 1016 werde aufgrund seiner frühen Zugehörigkeit zur Bibliothek von Kloster Rommersdorf auch dort entstanden sein, wird weiter problematisch, wenn man in Rechnung zieht, daß die Rommersdorfer Kirche erst am 13. November 1210 geweiht und daß die Bibliothek (und damit das Skriptorium?) des Klosters erst 1220, und zwar unter dem damaligen Abt Bruno von Isenburg-Braunsberg (reg. 1214/16-1236), entstanden ist.' Christian von Stramberg hebt hervor, daß Bruno viel gebaut „und eine auserlesene Büchersammlung angeschafft" habe.2 Julius Wegeier zufolge hat Bruno „auch den Grund zu einer Bibliothek [gelegt], indem er die Mönche zum Abschreiben anhielt."3 Zumindest der Teil der Wiener Handschrift 1016 (f. 116-121), der Hildegard-Texte enthält, kann also, da er noch im 12. Jahrhundert geschrieben wurde, definitiv nicht in Rommersdorf entstanden sein. Nachfolgend die Beschreibung des Wiener Codex 1016. Die Handschrift umfaßt 121 folia: f. l-108v: Hildegardis, Liber vitae meritorum; f. 108v-115v: Hildegardis, Responsiones super 38 quaestiones; f. 116r-121v: Hildegardis, Epistolae (Auszüge) und Hildegardis, Sympbonia

(Auszüge).

(f. 116r-121v) handelt es sich um Nachträge, die vermutlich noch zu Hildegards Lebzeiten ergänzt wurden. Demnach wären die Nachträge älter als der vorgebundene Text des Liber vitae meritorum und der Responsiones. Van Acker glaubt in diesem Teil wenigstens zwei Hände erkennen zu können, die auf Zwiefalten und auf den Rupertsberg hinweisen.4 Wir möchten, um unsere Ausführungen zum Wiener Codex 1016 zusammenzufassen, die These formulieren, daß es sich bei diesem Textzeugen um eine Abschrift handelt, die in direkter Filiation zur Trierer Handschrift 68 (Rupertsberger bzw. Trierer Produktion) entstand. Ziehen wir ein knappes Resümee aus den Darlegungen zu den fünf erhalten gebliebenen vollständigen Textzeugen des Liber vitae meritorum, so gilt folgendes : Vier dieser Textzeugen (Hs Dendermonde 9, Hs Trier 68, Hs Berlin StBPrK 727, Hs 2 der HLB Wiesbaden [Riesencodex]) sind im 12. Jahrhundert, und zwar sämtlich zu Lebzeiten Hildegards zwischen 1170/79 auf dem Rupertsberg, entstanden. Der fünfte Textzeuge (Wien, Codex 1016) entstammt dem D.Jahrhundert, muß aber .direkt oder indirekt (Trier-St. Eucharius) ebenfalls der Produktion des Rupertsberger Skriptoriums zugerechnet werden. Bei diesem letzteren Teil

1 2

3 4

Vgl. hierzu Backmund 1983, S. 242-244. Stramberg 1853, S. 590. Wegeler 1882, S. 13. Van Acker 1991, S.XLV.

150

3.2.2 Die

Kapitel 3

Exzerptüberlieferung

des LVM

1.) Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Codex Heimst.

951

Der seit 1803 zum Bestand der Wolfenbütteler Bibliothek gehörende Codex Heimst. 951 ist einem am Ende des Textes befindlichen Schreiberkolophon zufolge im Jahre 1280 hergestellt worden.1 Als Schreiber läßt sich ein „Heinri-

Michahel" belegen. Auf f. 84r findet sich der Vermerk „has scripturas fecit H. Michahel". Des weiteren tauchen die Namen „Jacobus" und „Simon" auf, obwohl die Handschrift nur von einer einzigen Hand kopiert wurde. Erste Bibliotheksheimat war die Benediktinerabtei St. Ludgeri in der Nähe von Helmstedt. Wie der Titel bzw. die Inhaltsangabe erkennen läßt, war der Name Hildegards zu dieser Zeit und in dieser Region offensichtlich nicht mehr ohne entsprechende Erläuterungen vermittelbar: Es erscheint der etwas umständlich wirkende Vermerk „S. Hildegardis (de Alemannia, abbatisse coenobii in monte s. Roberti prope Bingiam) liber meritorum uite". Der Codex umfaßt 97 folia der Größe 19 x 12,5 cm. Die kodikologische Untersuchung ergibt eine Lagenordnung von acht Quaternionen und sechs Ternionen. Drei leergebliebene Folien des letzten Ternio wurden weggeschnitten. Der zunächst sorgfältig arbeitende Kopist verwandte später keine große Aufmerksamkeit mehr auf seine Tätigkeit.2 So schwankt die Zeilenzahl zwischen 34 und 40 Zeilen, und es finden sich einige Ungenauigkeiten in der Textwiedergabe. Angela Carlevaris hat aus diesem Grunde den Wolfenbütteler Textzeugen nicht mit in den Variantenapparat der von ihr veranstalteten kritischen Edition des LVM mitaufgenommen. Hinzu kommt, daß der Text völlig unvermittelt mit Buch 5, Vers 33, Zeile 700 abbricht. Mitten im Satz endet der Text mit dem Wort „inequietudines". Die Tatsache, daß der Text nur unvollständig überliefert wurde, war den Benutzern der Handschrift offensichtlich zunächst nicht bewußt. Am Ende des Codex (f. 97v) erscheint die Information „Explicit liber sancte Hildegardis". Eine andere Hand fügte dann die Bemerkung „deficit" hinzu. Schließlich nimmt ein acht Zeilen umfassender leoninischer Hexameter Bezug auf die Benutzung des Werkes: „Hi uere dici possunt comités et amici Burchardi, librum qui concesserunt legendum / sancte Hildegardis, hos non ad xenia tardis Assimilabo uiris non ingratis neque diris. MCCLXXX Martini". Wichtig für die Frage nach den überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhängen von Hildegards LVM ist die Tatsache, daß der Wolfenbütteler Codex Heimst. 951 gemeinsame Textvarianten und Idiotismen mit der Berliner Handschrift 727 aufweist. Vor allem die für die Berliner Handschrift typische Vercus

1 2

Beschreibung der Handschrift bei Heinemann 1886, S. 318 Nr.

1995, S. LVf. Vgl. hierzu die

Carlevaris

1053. -

übergreifenden Ausführungen von Gerhardt 1991, S. 98: „Vorausgeschickt sei die bekannte Tatsache, daß wir es im Mittelalter im allgemeinen nicht mit Autographen zu tun haben, sondern mit mehr oder weniger fehlerhaften Abschriften, mit kopialer Überlieferung also, bzw. mit mehr oder weniger produktiver Rezeption durch die Schreiber." ...

Der Liber vitae meritorum

151

Wendung des „ita ut" läßt darauf schließen, daß der Schreiber des Woffenbütteler Textzeugen die Berliner Handschrift als Vorlage benutzte. Diese wiederum wurde, wie oben dargelegt, noch zu Lebzeiten Hildegards auf dem Rupertsberg hergestellt. Eine genetische Abhängigkeit des Wolfenbütteler Fragments zu dem Berliner Textzeugen ist mithin äußerst wahrscheinlich. 2.) Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, Cod.

XIII 859

Die Handschrift enthält im Sinne einer Exzerptenkompilation lediglich einen sehr kleinen Auszug aus dem Liber vitae meritorum (f. 18rv). Daneben finden sich Exzerpte aus dem Scivias (f. 16r-18v), dem Liber divinorum operum (f. 18v), der Vita Hildegar dis (f. 18v-20r) und dem Epistolarium (f. 20v-22v). Der Band ist aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive dennoch nicht ohne Bedeutung. Die Hildegard-Partien stellen ein Autograph des reformorientierten Schulmannes und Chronisten Dietrich Engelhus (ca. 1360-1434) dar.1 Engelhus stammte aus Einbeck in Sachsen. 1381 immatrikulierte er sich an der Universität Prag. Dort erwarb er 1386 den Grad eines Baccalaureus und 1389 den eines Magister artium. Im Jahre 1393 wechselte Engelhus auf die ein Jahr zuvor gegründete Universität Erfurt. Ob er, wie vereinzelt berichtet, in Erfurt Pfarrer von St. Georg war, läßt sich nicht zweifelsfrei beweisen.2 1395 übernahm Engelhus an der theologischen Fakultät Erfurt das Amt eines Consiliarius. Dieses Amt es gab insgesamt acht Consiliarii war geschaffen worden, um den Rektor der Universität in seiner Arbeit zu unterstützen. Da diese Position die Graduierung zum Baccalaureus théologie voraussetzt, muß Engelhus kurz zuvor sein Baccalaureatsexamen in der Theologie abgelegt haben. Wie in Prag, war er aber auch in Erfurt zugleich an der philosophischen Fakultät tätig. Es ist ein Examensprotokoll aus dem Jahre 1397 erhalten, in dem Engelhus als einer von vier Examinatoren in der Philosophie genannt ist. Bis zum Jahre 1400 lebte Engelhus mit Sicherheit in Erfurt. Dabei blieb der Kontakt zur Universität Prag bestehen, wie ein dort abgehaltenes Biennium beweist. Für die Jahre 1400 bis 1406 fehlen verläßliche Unterlagen zur Biographie Engelhus'. Ab 1406/07 ist er in Göttingen bezeugt, wo er (1407) eine Biblia metrica verfaßte. Vermutlich seit seiner Ankunft in Göttingen bekleidete er dort das Amt eines Rektors der städtischen Lateinschule. Ab 1414 erscheint Engelhus als städtischer Notar. In diesem Amt erwarb er sich vielfältige Kenntnisse, die in eine von ihm verfaßte Weltchronik einflössen. Man nimmt an, daß Engelhus die vergleichsweise detaillierten Schilderungen über das Konzil von Konstanz vermutlich von Heinrich von Pölde bezog, der als Göttinger Kanzleiangehöriger und Ratsvertreter vom 16. September 1417 bis zum 16. Januar 1418 in Konstanz weilte. Die in einer Göttinger Urkunde erscheinende, auf Engelhus bezogene Bezeichnung prester läßt vermuten, daß Engelhus zu dieser Zeit Kleriker war.3 Unklar ist die Bewer-

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1 2

3

-

Zu Engelhus vgl. Berg/Worstbrock 1980. Steinweg 1991. Kühne 1999. Zu dieser Information vgl. Weissenborn 1881, S. IX. Göttingen, Stadtarchiv, Urk. Nr. 643, Anlage 3. Vgl. Steinweg 1991, S. 18, Fußn. 53. -

Kapitel 3

152

tung eines Immatrikulationsantrages aus dem Jahre 1410 an der neugegründeten Universität Leipzig. Möglicherweise deutet dieser Antrag darauf hin, daß Engelhus dort, ebenso wie 1420 an der Universität Rostock, Lektor der Theologie werden sollte. Die neugegründeten Universitäten scheinen überhaupt ein großes Interesse an seiner Person besessen zu haben. Ab dem Jahre 1422 verlieren sich die Lebensspuren Engelhus'. Sie werden erst wieder greifbar mit seinem Eintritt in das Augustinerchorherrenstift Wittenburg. Nicht auszuschließen ist, daß Engelhus in der Zwischenzeit, wie eine zeitgenössische Vita berichtet, als Schulleiter in verschiedenen Städten des Reiches tätig war.1 Genannt werden Einbeck, Bamberg, Magdeburg und Mainz.2 Engelhus verstarb am 5. Mai 1434, nachdem er zuvor eine Visitationsreise mit dem Abt von Klus und Bursfelde, Johannes Dederoth (f 1439), unternommen hatte. Diese Reise führte ihn nach Böddeken und Windesheim. Dederoth gilt als geistiger Begründer der reformmonastisch orientierten Bursfelder Kongregation, einer Bewegung, der vermutlich auch Engelhus anhing. Von Interesse ist, daß Dederoth seine Reformideen mit Hilfe von Mönchen aus Trier-St. Matthias verwirklichte. Er pflegte Kontakte zu dem Trierer Reformabt Johannes Rode und weilte 1434 in Trier-St. Matthias. Zu diesem Kloster wiederum einem der bedeutendsten hat auch Engelhus intensive Kontakte Zentren der Hildegard-Verehrung unterhalten. Zwei der erhaltenen Abschriften seines deutsch-lateinischen Vokabularius sind von zwei Mönchen des dortigen Konvents angefertigt worden.3 Zumindest einer dieser beiden Mönche befand sich, wie Helge Steenweg berichtet, 1422 in unmittelbarer Nähe des Dietrich Engelhus. Hinzuweisen ist schließlich auf die persönliche Beziehung zwischen dem bekannten Theologen und Magedeburger Domherrn Heinrich Toke (ca. 1390-1454)4 und Engelhus. Toke äußerte sich 1451 auf dem Magdeburger Provinzialkonzil ablehnend über die Glaubwürdigkeit der Wilsnacker Bluthostie. Gleichzeitig erwähnte er lobend Dietrich Engelhus.5 Seine diesbezügliche Haltung zur Wilsnacker Wallfahrt fand Unterstützung bei dem in Magdeburg anwesenden Nicolaus Cusanus, wurde dagegen bekämpft von dem Franziskanerminoriten Matthias Döring (ca. 1400-1469), dem Fortsetzer von Engelhus' Weltchronik.6 Wichtiger für unseren Zusammenhang ist aber die Tatsache, daß Toke in seinem Rapularius, einer Art von persönlichem Notizbuch, Prophetien Hildegards bzw. [Pseudo]-Hildegards sammelte. Der Rapularius wiederum geriet später in den Besitz -

-

1 2

3 4

Vgl. Vgl.

Grube 1882. KlNTZINGER 1991.

Es sind die Handschriften Trier, Stadtbibliothek, 1129/2054 8° und 1130/2055 8°. Zum Vocabularius vgl. Damme 1991. Zu Toke vgl. Loebel 1949. Kleineidam 1964, I, S. 276-278. Holzel 1998, insbesondere S. 29. Vgl. Dessau, Stadtbibliothek, Hs BB 3944, f. 277rb und 278va. Zum Bluthostienwunder vgl. Bookmann 1982. Zu Döring vgl. Albert 1892. -

5 6

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Der Liber vitae meritorum

153

des Flacius Illyricus, der seinerseits aus den dort niedergelegten Hildegard-Partien schöpfte. Ich werde auf diese Zusammenhänge im Rahmen meiner Ausführungen zur literarischen Rezeption Hildegards näher eingehen. Schriftstellerisch ist Engelhus, wie erwähnt, vor allem durch eine 1407 entstandene Biblia metrica hervorgetreten.1 Ferner stammen aus seiner Feder eine Ars moriendi, ein Psalmenkommentar,2 eine Laienregel,3 eine Weltchronik und eine unter dem Titel Promptus überlieferte Blütenlese wichtiger Aussagen von Geistesgrößen ganz unterschiedlicher Disziplinen.4 Als Vorlage für seine Abschriften aus den Werken Hildegards verwendete Engelhus den Rupertsberger Riesencodex. Auf f. 16r der vorliegenden Handschrift findet sich der Vermerk „Hildegardis in monte sancti ruperti apud pinguiam" und auf f. 18r die Angabe „in eodem magno uolumine liber uitae meritorum". Damit beweist auch dieses Überlieferungszeugnis die langwirkende Überlieferungsautorität des Rupertsberger Skriptoriums und insonderheit des dort angefertigten Riesencodex. Da die Handschrift ein Autograph Engelhus' darstellt, bedeutet dies, daß Engelhus auf dem Rupertsberg gewesen sein muß.

Textzeugen des LVM kurz erwähnt werden müssen zwei heute verschollene TextzeuWenigstens des Liber vitae meritorum, deren früheres Vorhandensein nicht nur zu supgen unzweifelhaft feststeht. sondern ponieren ist, An erster Stelle ist der Codex 721 der Osterreichischen Nationalbibliothek Wien anzuführen. Hierbei handelt es sich um eine Kopie des Riesencodex. Die 528 folia starke Handschrift enthielt demgemäß sämtliche Werke Hildegards mit Ausnahme der natur- und heilkundlichen. Der Codex soll im 13. Jahrhundert entstanden sein, als Entstehungsort kommt im Grunde genommen nur Kloster Rupertsberg, wo der Riesencodex lag, in Frage. Der Liber vitae meritorum befand sich darin auf f. 147-211.5 Ein weitere, ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammende Abschrift von Hildegards zweiter Visionsschrift gehörte bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts zum Bestand der Zisterzienserabtei Himmerod. Neben dem Liber vitae meritorum enthielt der Codex die Vita S. Disibodi, die Vita S. Ruperti, die Explanatio Regulae Benedicti sowie insgesamt 84 Briefe Hildegards. Der Codex wird beschrieben von Edmond Martène und Ursin Durand in ihrer Veterum Scriptorum et Monumentorum Amplissima Collectio (T. II, Paris 1724, S. 1012/13).6 3.2.3 Verschollene

1 2

Vgl. Kühne 1991. Vgl. Wulf 1991. Radle 1991. Vgl. Schmidtke 1991. Arnold 1991a. Zum Promptus vgl. Henkel 1991. Honemann 1991. Eine Beschreibung des seit Beginn des 19. Jahrhunderts verschollenen -

3

-

4

-

5

sich bei: Denis 1800,

6

Sp. Beschreibung von Martène/Durand Hildegard-Band PL 197, S. 282. Die

Codex findet

1723-1731.

1724 ist

wörtlich

wiederabgedruckt

im

Kapitel 3

154

Demnach umfaßte Buch 1 des Himmeroder LVM insgesamt 124 Kapitel. Die gleiche Capitula-Anzahl findet sich im Trierer Textzeugen des LVM (Bischof1. Priesterseminar, Hs 68). Es ist daher anzunehmen, daß der verlorengegangene Himmeroder Textzeuge eine Abschrift der Trierer Handschrift 68, einer auf der Grundlage der Trierer Handschrift angefertigten Kopie (eventuell des Wiener Codex 1016) oder einer gemeinsamen Vorlage darstellt. Der verschollene Himmeroder Codex bot demnach die Textfassung des Rupertsberger Skriptoriums. des LVM (Montecassino 1882) Wirft man zum Schluß einen Blick auf die Editio princeps des Liber vitae meritorum, so ist hervorzuheben, daß die im Jahre 1882 von Kardinal Pitra vorgelegte Erstausgabe auf der Handschrift Dendermonde 9 basiert. Der kritische Apparat berücksichtigt lediglich einige abweichende Lesarten aus dem Riesencodex. Diese Entscheidung ist, wie aus unserer Bewertung der Basishandschriften hervorgegangen ist, grundsätzlich richtig. Auch Angela Carlevaris, die Bearbeiterin der kritischen Edition, ist diesem Weg gefolgt. Da Hildegard selbst bzw. ihre Rupertsberger Mitschwestern den Textzeugen Dendermonde 9 zu Lebzeiten Hildegards nach Villers gesandt haben, besitzt er gewissermaßen die persönliche Approbation der Meisterin. Es wäre undenkbar, daß Hildegard bzw. der Rupertsberger Konvent einen gravierend fehlerhaften Text versandt hätten. Die von Angela Carlevaris im kritischen Apparat notierten Lesarten wiederum zeigen, daß alle berücksichtigten Textzeugen aus dem 12. Jahrhundert einen vergleichsweise geringfügig voneinander differierenden Text präsentieren, daß aber gleichzeitig in diesen Textzeugen ganz erhebliche Rasuren und Korrekturen festzustellen sind. Offensichtlich erklärt sich dieses Phänomen durch den Mangel eines normierenden Archetyps bzw. verbindlicher Mustertexte der 3.3 Die Editio

princeps

Uberlieferung. 3.4

Zusammenfassung

vollständigen und zwei unvollständeutlich digen Textzeugen zahlenmäßig geringer überliefert als der Scivias. Im Liber divinorum zum zum Scivias und Gegensatz operum existiert vom Liber vitae meritorum auch keine illuminierte Prachtausgabe. Auf der anderen Seite bietet aber die von Wibert von Gembloux vermittelte Information, der Text werde im Rahmen der klösterlichen Tisch- und Abendlektüre in Gembloux und Villers eingesetzt, einen wichtigen Anhaltspunkt für die monastische Ausrichtung und Eignung von Hildegards zweiter Visionsschrift. Die Lektüre des Textes in der Zisterzienserabtei Villers erlaubt darüber hinaus Rückschlüsse auf die zeitgenössische Wirkung Hildegards in Kreisen des brabantischen Zisterziensertums. Wie es für den Scivias gilt, so sind auch vom Liber vitae meritorum die weitaus meisten Textzeugen zu Lebzeiten Hildegards sowie in ihrem Rupertsberger Hausskriptorium entstanden. Der Liber vitae meritorum ist mit fünf

Der Liber vitae meritorum

155

Als Leithandschrift der kritischen Edition des Liber vitae meritorum fungiert nicht der Textzeuge des Riesencodex, sondern der vor diesem entstandene Codex Dendermonde 9. Dieser Textzeuge läßt durch Ähnlichkeiten im Schriftcharakter mit den ältesten Rupertsberger Güteraufzeichnungen auf ein höheres Alter als jener des Riesencodex schließen. Außerdem kann aus der Tatsache seiner Versendung durch Hildegard geschlossen werden, daß er einen von der Autorin selbst approbierten Text enthielt. Von besonderem Interesse ist der Dendermonder Codex auch deshalb, weil er das einzige aus Hildegards Lebzeiten stammende Beispiel für die Verbindung eines Hildegard-Textes mit Schrifttum anderer Autoren bzw. Autorinnen der Epoche liefert. Neben dem Liber Viarum Dei Elisabeths von Schönau begegnet ein Anhang, der einen Dialog zwischen Priester und Teufel enthält. Dieser Dialog, in dem der Name Hildegards wiederholt auftaucht, gehört vermutlich dem ausgehenden 12. oder beginnenden 13. Jahrhundert an. Er stellt damit ein außerordentlich frühes Zeugnis für die Wirkungsgeschichte Hildegards in anderen Schriften ihrer Zeit dar. Die Editio princeps des Liber vitae meritorum kam erst im Jahre 1882 zustande. Sie wurde von Kardinal Pitra innerhalb einer von ihm besorgten Ausgabe verschiedener Hildegard-Schriften veranstaltet. Auch diese erste Druckfassung rekurrierte bereits auf Codex Dendermonde 9. Eine reguläre Wirkungsgeschichte des Liber vitae meritorum im Mittelalter und der frühen Neuzeit läßt sich hingegen vor allem im Hinblick auf Versuche einer frühen Drucklegung nicht bezeugen. -

-

KAPITEL 4

Der Liber divinorum operum

(LDO)

1996 brachten Albert Derolez und Peter Drenke die kritische Edition des Liber divinorum operum heraus.1 Die nachfolgenden Handschriftenbeschreibungen basieren auf dem editorischen Vorbericht dieser Ausgabe (S. LXXXVI-CXIII). Der Liber divinorum operum, das vom Umfang her größte Werk innerhalb von Hildegards Visionstrilogie, knüpft zu Beginn an den Prolog der JohannesApokalypse an. Sein Inhalt beschreibt Ursprung, Aufbau und Schicksal des Universums, die Beschaffenheit des menschlichen Körpers sowie das innerweltliche und endzeitliche Schicksal des Menschengeschlechts. Dabei geht es Hildegard letztendlich um den Menschen in seiner sittlichen Entscheidung sowie um die Frage, auf welche Weise der Mensch mit Hilfe seiner endlichen Mittel eine unendliche Bestimmung zu erreichen vermag. Die bereits im Rahmen unserer Ausführungen zum LVM aufgeworfene Frage, inwieweit die drei Visionsschriften als konstitutive Teile einer Trilogie von visionären Werken bezeichnet werden können, ist von Peter Drenke mit Blick auf den Liber divinorum operum zumindest tendenziell positiv beschieden worden.2 Eine Spezialuntersuchung zum gattungstypologischen Charakter dieser supponierten Visionstrilogie müßte hier für zusätzliche Klarheit sorgen.

Rezeptionsspuren des LDO im Mittelalter Hildegards dritte Visionsschrift, die ab dem 15. Jahrhundert auch unter dem Titel De operatione Dei überliefert wurde, entstand zwischen 1163 und 1170. Einige Hinweise zur Entstehung dieses Werkes hat Hildegard selbst im Vorwort zu dem insgesamt drei Bücher bzw. 10 Visionen umfassenden Text gegeben. Wie im Liber vitae meritorum, so findet sich auch hier die Angabe, die Visionen hätten während der Regierungszeit Friedrichs II. (1152-1190), als die Unterdrückung des römischen Stuhles noch nicht beendet gewesen sei, eingesetzt. Letztere Bemerkung spielt auf ein 1159 entstandenes Papstschisma an, das nach dem Tode Hadrians IV. ausgebrochen war und mit Alexander III. und Victor IV. zwei Bewerber um den päpstlichen Stuhl hervorbrachte, die sich gegenseitig exkommunizierten. Friedrich II. unterstützte den von einer Min4.1

1

Derolez stammende kritische Vorbericht über die handschriftder Edition erscheint Derolez/Dronke 1996, S. LXXXVITextgrundlage XCVII. Vgl. zu dieser Ausgabe Derolez 1995. „The LDO is the cumulation of the group of wiritings, that had begun with Scivias and proceeded to the LVM, where visions are complemented by allegorical explanations. It is possible and indeed customary to see these three works as forming a LDO 1996. Der

von

liche 2

trilogy."

Derolez/Dronke 1996, S. XII. -

-

Der Liber divinorum operum

157

gewählten Victor IV., während Alexander III. (1159-1181) als rechtmäßiger Papst galt. Darüber hinaus teilt Hildegard mit, dies sei im Jahre 1163 gewesen, sie selbst habe in ihrem 65. Lebensjahr gestanden. Die Arbeiten an diesem Werk hätten sich über einen Zeitraum von sieben Jahren erstreckt. Allerdings muß die Wendung „Quam uisionem tandem per Septem annos scribendo uix consummaui"1 in einem sehr spezifischen Sinne verstanden werden. Hierbei geht es nicht, wie etwa bei der in der Protestificatio zum Scivias zu findenden Angabe, dieses Werk habe 10 Jahre in Anspruch genommen, um eine Zeitangabe derheit

im rein durativen Sinne. Vielmehr meint „uix" in einer einschränkenden Bedeutung des Wortes nunmehr, daß auch nach sieben Jahren die Niederschrift des Werkes noch nicht vollständig zum Abschluß gelangt sei. Dieses Faktum ist in der Hildegard-Philologie wiederholt benannt worden.2 In der Tat wissen wir, daß die Endredaktion des LDO starken Verzögerungen unterworfen war. Noch nach 1173 war der Text, bedingt durch den Tod von Hildegards Sekretär Vol-

nicht abgeschlossen. Hildegard übersandte das Rohmanuskript aus diesem Grunde an die Abtei Trier-St. Eucharius, um es von dem ihr befreundeten Abt Ludwig (Amtszeit 1168-1186) zu Ende redigieren zu lassen. Dies geht hervor aus einem Schreiben Hildegards an Ludwig, das Lieven van Acker in das Jahr 1173 datiert: mar,

et tibi, mitis pater, gratias ago quod infirmitati et dolori meo, que forma sum, condolere dignatus es, que modo uelut orphana sola in paupercula opere Dei laboro, quoniam adiutor meus, ut Deo placuit, mihi ablatus est. Librum quoque per gratiam Spiritus Sancti in uera uisione cum illo scripsi et, qui nondum finitus est, mox tibi ad corrigendum representabo, cum perfectus et scriptus fuerit.3

Deo etiam

Daß Ludwig und einige andere Vertraute („ali[i] sapientes") Hildegard tatsächlich bei der Fertigstellung des Liber divinorum operum behilflich waren, beweist der Epilog zu dieser Schrift, der sich im Riesencodex und zwar ausschließlich dort (f. 308rb) findet. In diesem Epilog, der im Riesencodex als Nachtrag zwischen dem Liber divinorum operum und dem Brief Ad prelaws Moguntinenses erscheint, heißt es: -

-

-

-

reverentissimus [!] et sapientissimus uir coram Deo et hominibus Ludewicus, abbas sancti Eucharii in Treueri, magna misericordia super dolore meo motus est, ita quod per seipsum et per alios sapientes stabili instantia auxilium michi fiducialiter prebuit, ...4 1 2

LDO 1996, S. 45 9-10. Vgl. Schrader/Führkötter 1956, S. 145: „Das vix consummavi im Prolog des LDO besagt nicht die endgültige Vollendung; denn im Brief an Abt Ludwig schreibt Hildegard eindeutig: Librum qui nondum finitus est, mox tibi representabo ..." Ähnlich Derolez in Derolez/Dronke 1996, S. X. Hildegardis ad Lvdovicvm abbatem, in Epistolarium II, Ep. CCXVr, S. 474 19-25. Der Epilog findet sich abgedruckt im Anschluß an die kritische Edition des Textes. Vgl. LDO 1996, S. 463f. (Zitiervorlage). ...

3 4

...

Kapitel 4 ihren Neffen, den Kölner Propst Wez[z]elin, für seine

158

Nach einem Dank an Mithilfe, fährt Hildegard fort:

sicque per gratiam Dei cum adiutorio predictorum uenerabilium uirorum scriptura compléta est. (Riesencodex, f. 308rb).'

huius libri

Man kann wohl davon ausgehen, daß die endgültige Fertigstellung des Liber divinorum operum in das Jahr 1174 fällt. Hierauf deutet die Tatsache hin, daß Hildegard ihren erst im Verlaufe dieses Jahres neu gewonnenen Sekretär, den Disibodenberger Mönch Gottfried, noch nicht erwähnt. Dies hätte sie sicher getan, wenn Gottfried zu dieser Zeit bereits bei ihr gewesen wäre. Ob ein zweiter Brief, in dem Hildegard wiederum den Tod Volmars beklagt und die baldige Übersendung einer namentlich nicht genannten Schrift nach TrierSt. Eucharius ankündigt, ebenfalls an Abt Ludwig gerichtet war, läßt sich nicht direkt beweisen, ist aber aufgrund inhaltlicher Parallelen anzunehmen.2 Ein frühes Zeugnis für die Existenz und den Rang von Hildegards dritter Visionsschrift liefern die Acta canonisationis. Unter Berufung auf eine entsprechende Aussage des bereits erwähnten Bruno, eines Kustos und Priesters von St. Peter in Straßburg, erwähnen die Acta eine Wallfahrt zum Grabe des heiligen Martin von Tours, die über Paris geführt habe. Bei dieser Gelegenheit seien die drei großen Visionswerke Hildegards, der Scivias, der Liber vitae meritorum und der Liber divinorum operum, den Pariser Theologen zur Prüfung vorgelegt worden. Diese Wallfahrt ist nicht, wie früher vereinzelt angenommen, von Hildegard selbst, sondern von Bruno durchgeführt worden. Bruno legt dar, er habe von dem Pariser Bischof erwirkt, daß dieser alle Lehrer, die damals Theologievorlesungen hielten, zusammengerufen und jedem von ihnen einen Teil der Visionsschriften zur Prüfung vorgelegt habe. Dies sei zwischen der Oktav des Marienfestes und der Oktav von Epiphanie geschehen. Nach der Begutachtung durch die Theologen seien Hildegards Schriften an den Pariser Bischof zurückgegeben worden, der sie daraufhin dem Magister Wilhelm von Auxerre ausgehändigt habe. Wilhelm seinerseits habe bekräftigt, Hildegards Schriften enthiel-

1 2

LDO 1996, S. 464 32F. Dieser zweite Brief Hildegards wird von Van Acker in die Zeit 1173/74 (?) datiert. Die entsprechende Passage lautet: „Et quia per summum iudicem adiutor meus ablatus est, ideo scripturam nostram tibi modo committo, suppliciter rogando quod earn caute serues ac diligenter corrigendo prospicias, ut etiam nomen tuum in libro uite scribatur, in hoc imitando beatum Gregorium qui propter onus Romani presulatus a cithareno sono infusionis Spiritus Sancti numquam dictando cessauit." Hildegardis ad Ludovicum abbatem (?), in Epistolarium II, Ep. CCXVII, S. 47733-40. Dieser Brief findet sich in der aus dem beginnenden 13. Jahrhundert, vom Schreiber des Lucca-Codex stammenden Handschrift Berlin StBPrK, Ms lat. qu. 674 (f. 30va-31ra). Er steht dort unter der Überschrift „De etatibus hominis atque mundi". Der Entstehungsort der Berliner Handschrift ist nicht eindeutig geklärt. In Frage kommen der Rupertsberg und/oder die Benediktinerabtei St. Maria in Pfalzel [?] bei Trier.

Der Liber divinorum operum

159

keine menschlichen, sondern nur göttliche Worte.1 Da Wilhelm von Auxerre sein Lehramt als Magister der Theologie in Paris wahrscheinlich kurz vor 1210 aufnahm und im Jahre 1231 verstarb, muß die Prüfung, sollten die Ausführungen der Acta zutreffend sein, innerhalb dieses Zeitraumes stattgefunden haben. Sie wird vermutlich in Zusammenhang mit der intendierten Heiligsprechung Hildegards gestanden haben. Wichtig ist diese Annahme insofern, als sie auf eine gewisse Höherbewertung der Visionstrilogie und damit des Liber divi-

ten

operum vor den übrigen Schriften Hildegards schließen läßt. Wie die übrigen Werke Hildegards, so erwähnt Johannes Trithemius auch den Liber divinorum operum. Die Kosmosschrift erscheint sowohl innerhalb seines Catalogus illustrorum virorum als auch innerhalb seiner Abhandlung De scriptoribus ecclesiasticis. Ich werde hierauf im Zusammenhang eines eigenen Kapitels über die Bedeutung des Trithemius für die Popularisierung Hildegards im späten 15. Jahrhundert näher eingehen. An dieser Stelle mag die Bemerkung genügen, daß Trithemius ähnlich wie Gebeno von Eberbach vor allem Hildegards politische und religiöse Vorhersagen einer großen nahenden Spaltung der Kirche und einer damit verbundenen Säkularisierung der Christenheit betont. Schließlich weist Kathryn Kerby-Fulton darauf hin, daß die insulare Hildegard-Rezeption des 14. und 15. Jahrhunderts nicht nur auf Gebenos Pentachronon oder den Informationen kontinentaler Enzyklopädisten und Chronisten beruhte. Darüber hinaus habe es zu dieser Zeit in England vollständige Abschriften des Scivias, des Epistolariums, aber auch des Liber divinorum operum gegeben.2 Der weiter unten vorgestellte LDO-Textzeuge British Library London, Cod. Add. 15418 bestätigt diesen Befund nachhaltig. Die gewonnenen Ergebnisse zur Entstehung und frühen Beurteilung von Hildegards Visionsschrift lassen erkennen, daß die Uberlieferung dieser Schrift bereits im Ursprung ihrer Entstehung über benediktinische Kanäle verlief. Darüber hinaus sollte das Werk, ebenso wie die beiden anderen Visionsschriften, dem Ausweis von Hildegards Heiligkeit dienen. -

norum

-

-

1

-

entsprechende Passage aus den Acta canonisationis: „De circumstantiis dicit [Bruno, Ergänzung] quod, cum libros eius [Hildegardis, Ergänzung], scilicet librum

Hier die

Scivias, librum Vite meritorum, librum Divinorum operum, secundum monasterii sui

exemplaria conscripsisset,

et cum

in

peregrinatione

ad beatum Martinum ire

dispo-

suisset, libros iam dictos secum Parisius detulit; et ut securius in eis studere posset, ab episcopo loci tune présidente per mukös labores et magnas tribulationes obtinuit, quod omnes in theologia tunc magistros legentes convocavit, et cuilibet eorum per

ipsos libros ad examinandum dedit ab octava Martini usque ad octaEpiphanie. Quibus examinatis episcopo restituerunt; qui magistro Wilhelmo Antisiodorensi, pro tempore suo magistro, eos assignavit et sibi eos restituit affirmans, quod magistrorum esset sententia non in eis esse verba humana, sed divina." Canonizatio Sanctae Hildegardis in Vita Hildegardis (dt.) 1998, S. 270. très

quaternos

vam

2

Kerby-Fulton 2000.

Kapitel 4

160

4.2 Die handschriftliche

Überlieferung des LDO

nachfolgenden Ausführungen basieren vor allem auf den Handschriftenbeschreibungen von Albert Derolez in der Einleitung zu seiner und Peter Drenkes kritischen Edition des LDO (S. LXXXVI-CXIII). Dronkes Beobachtungen wurden ergänzt durch Autopsie der Handschriften G und R sowie durch Kenntnisnahmen von Mikrofilmkopien der übrigen Textzeugen. Der Liber divinorum operum liegt in sechs vollständigen und einem fragmentarischen Textzeugen vor. Von den vollständigen Textzeugen stammen drei aus dem 12., einer aus dem 13. und zwei aus dem 15. Jahrhundert. Der fragmentarische Textzeuge gehört in das beginnende 13. Jahrhundert. L Vollständige Textzeugen des Liber divinorum operum: 1. ) G Gent, UB, Ms 241 (1170/74, Rupertsberg). 2. ) R Wiesbaden, HLB, Hs 2 [Riesencodex]; 1170/79, Rupertsberg. 3. ) Tro Troyes, Bibliothèque Municipale, Cod. 683 (1170/79, Rupertsberg). 4. ) L Lucca, Biblioteca Statale, Ms 1942 (1. Hälfte 13. Jahrh., Rheinland). 5. ) Tr Trier, Stadtbibliothek, Ms 722/277 4° (1489, Rupertsberg?; Kartause Beatusberg ?). 6. ) Lo London, British Library, Cod. Add. 15418 (Ende 15. Jahrhundert, England ?). II. Fragmentarische Textzeugen des Liber divinorum operum 1.) F Frankfurt a. M., Stadt- und Universitätsbibl., Fragm. Lat. I 95 (D.Jahrhundert, Entstehungsort ungeklärt). Die

=

=

=

=

=

=

=

4.2.1 Die

vollständigen Textzeugen

des LDO

Die Handschrift Gent, UB, Ms 241 Wie erwähnt, beruht die kritische Edition des Liber divinorum operum auf dem Codex 241 der Universitätsbibliothek Gent. Diese Handschrift, der Albert Derolez 1972 eine eingehende paläographische und kodikologische Untersuchung gewidmet hat, entstand zwischen 1170 und 1174. Herstellungsorte waren die Skriptorien der Klöster Rupertsberg und Trier-St. Eucharius.1 Der Besitzvermerk von St. Eucharius wurde von Schrader/Führkötter in das 13., von Derolez dagegen in das 12. Jahrhundert datiert. Er lautet auf S. 1: „Codex m[o]n[aste]rii s[anc]ti Matthie Treverice urbis". Auf S. 2 erscheint die Wendung: „Codex sancti mathie ap[osto]li et eucharij archiep[isco]pi"; darunter folgt der aus dem D.Jahrhundert stammende, offensichtlich nicht auf Hildegard selbst zurückgehende Titel „hildegardis de operatione dei".2 Ein dritter Besitzeintrag findet sich auf S. 27: „Codex s[an]c[t]i Eucharii sancti Mathie ap[osto]li. si q[u]is eu[m] abstulerit anathema sit ame[n]".

1.)

...

1 2

Derolez 1972. Ein ähnlicher Titel findet sich noch einmal auf S. 393: racione Dei."

„Explicit Hilligardis

de ope-

Der Liber divinorum operum

161

Der einspaltig geschriebene Codex umfaßt 197 Blatt von 25,5 x 16,5 cm Größe. Seine insgesamt 26 Lagen bestehen fast ausnahmslos aus Quaternionen, die in der Regel am Lagenende mit römischen Ziffern bezeichnet sind. Lediglich auf Lage IV, IX, X und XXI erscheint die Zählung jeweils auf dem ersten folio der Lage. Bei Lage II (S. 17-26) wurden die drei letzten, keinen Text enthaltenden folia herausgeschnitten. In Lage XIV (S. 203-214) wurden die beiden ersten folia abgetrennt. Lage XVI (S. 231-246) ist ein irregulärer Quaternio, bei dem die beiden letzten folia (S. 243-246) Einzelblätter sind. Sie ersetzen vermutlich die beiden fehlenden Blätter eines ursprünglich dort befindlichen regulären Quaternios. Einige weitere Eigentümlichkeiten in der Lagenstruktur des Codex brauchen hier nicht im Detail ausgebreitet zu werden.1 Lediglich die Tatsache, daß das erste Blatt von Lage III (S. 27) starke Gebrauchsspuren aufweist und einen aus dem 12. Jahrhundert stammenden Eigentumsvermerk der Abtei TrierSt. Eucharius trägt, sei noch erwähnt. Aus diesem Faktum läßt sich der Schluß ziehen, daß dieses Blatt zu einer bestimmten Zeit einmal das Titelblatt der Handschrift gebildet haben könnte, der Text also möglicherweise stufenweise fertiggestellt wurde. Mit dieser Lage III setzt der eigentliche Visionstext ein, während die beiden vorausgehenden Lagen die Capitulatio beinhalten. Daß die Capitulatio erst nach fertig abgeschlossener Abschrift des Visionstextes entstanden ist, erscheint durchaus plausibel.2 Die Zeilenzahl beträgt durchgängig 30 bis 33 Linien; der Text stammt nicht, wie früher angenommen, von lediglich zwei Händen, bei denen Hand 2 vor Hand 1 geschrieben hat. Wie Derolez in seiner Beschreibung der Handschrift im Vorspann zur kritischen Edition ausführt, lassen sich insgesamt vier beteiligte Hände unterscheiden. Demnach waren Hand 1 und (mit nochmals deutlich größerem Anteil) Hand 2 die Hauptschreiber des Textes. Sie zeigen beide ausgeprägte Eigentümlichkeiten des Rupertsberger Skriptoriums. Hand 2 schrieb Seite 28-148 n; S. 203-242; S. 292-392 2. Insgesamt gehören ihr 16 Lagen an. Hand 1 schrieb S. 148 n-S. 192 12; S. 243-289; S. 392 3-392, 21, im ganzen sechs Lagen. Ihre Texte wurden sämtlich später geschrieben bzw. nachträglich interpoliert. Weshalb der Schreiberwechsel mitten auf der Seite eintrat, bleibt unklar. Hand 2, der Hauptkopist des gesamten Werkes, ist identisch mit Hand 1 der Berliner Handschrift lat. f. 727, die den Liber vitae meritorum enthält und dort die f. lv-88v geschrieben hat. Hand 3 (von Derolez als Hand 1' bezeichnet) schrieb die Capitula (S. 2-26), die dem eigentlichen Visionstext vermutlich auf zwei gesonderten Lagen nachträglich vorgeschaltet wurden und später hinzukamen. Als einziger Textzeuge der visionären Schriften Hildegards bringt der Genter Codex 241 eine Gesamt1

2

Die ausführlichste, insgesamt 12 Seiten umfassende Beschreibung des Codex liefert Derolez im Vorspann zur kritischen Edition des Textes (Derolez/Dronke 1996, S. LXXXVI-XCVII). Zum Bereich der Texterschließung und Textstrukturierung vgl. Brincken 1972b. Palmer 1989a.

-

162

Kapitel 4

capitulatio vor dem eigentlichen Visionstext. Alle anderen Textzeugen des 12. Jahrhunderts verteilen die Capitula auf den Text und schalten sie ganz unmittelbar den jeweiligen Büchern vor. Ob die Formulierungen der Capitulatio auf Hildegard selbst zurückgeführt werden können oder ihren Sekretären zugeschrieben werden müssen, bliebe zu untersuchen. Die gleiche Ligatur, die diese Hand 3 (bzw. Hand 1') verwendet, erscheinen auch in anderen HildegardTexten des 12. Jahrhunderts. Sie tauchen auf bei Hand 3 (= f. 105r-116v) des

Berliner Codex 727 (LVM), im Codex Dendermonde 9 (LVM), im Vatikanischen Codex Pal. lat. 311 (Scivias), ferner bei Hand 2 des verschollenen illuminierten Scivias sowie bei Hand 1 der Trierer Handschrift 68 (LVM) allesamt Handschriften des Rupertsberger Skriptoriums, die noch zu Lebzeiten Hildegards entstanden sind. Hand 4 (bzw. 1") des Genter Codex 241 erscheint auf f. 192 12-202 des Textes. Der von ihr geschriebene Abschnitt weist eine zwar sehr unordentliche Schrift, gleichzeitig aber nur bemerkenswert wenige Korrekturen auf. Möglicherweise schrieb Hand 4 von einer bereits korrigierten Vorlage ab. Zieht man die entstehungsgeschichtlichen Schlußfolgerungen aus einer Scheidung der Hände, wie sie von Derolez durchgeführt wurde, so bietet sich die Überlegung an, daß Hand 2, der Hauptschreiber des Textes, noch zu Lebzeiten von Hildegards Sekretär Volmar gearbeitet hat und möglicherweise mit diesem identisch ist. Die Anteile von Hand 1, 3 und 4 wären demgemäß von Abt Ludwig und Hildegards anderen Helfern (Schreibermönche aus St. Eucharius, ferner Wez[z]elin, möglicherweise zu geringen und späten Teilen auch Wibert von Gembloux?) geliefert worden. Die Genter Handschrift gehört zu den für die Entstehungsgeschichte aufschlußreichsten Textzeugen der Werke Hildegards. Sie zeigt auf jeder Seite eine wahre Fülle von Korrekturen, die wertvolle Einblicke geben in die Entstehungsweise des Textes. Mit großer Wahrscheinlichkeit stammen diese Korrekturen von Hildegards Redaktoren (erst Volmar, dann Ludwig und Wez[z]elin[?]) sowie von einigen anderen Mitarbeitern, die an der Redaktion des Textes beteiligt waren. Sinn und Zweck der Korrekturen war es, den Rohtext orthographisch, stilistisch und grammatikalisch zu bearbeiten. Im einzelnen finden sich Ausstreichungen mehrerer Buchstaben, Wörter und ganzer Satzteile, Hinzufügungen super lineam und an den Rändern. Die ungeheure Anzahl der Korrekturen läßt vermuten, daß die Schreiber den Text nicht von einer normalen Pergamentvorlage kopierten, sondern von Wachstäfelchen, die immer nur kleine Textteile enthielten und ständig ausgetauscht werden mußten.1 Die Zahl der beteiligten Korrektoren lag vermutlich bei drei Haupt- sowie drei Nebenkorrektoren.2 -

-

1

-

Zum Beschreibstoff Wachstafel vgl. Pintaudi 1989. Lalou 1992 (Übersicht über die noch erhaltenen Wachstafeln). Derolez/Dronke 1996, S. LXXXIX: „Some six correctors may have worked on the manuscript, but three of them had an exceptional role." -

2

Der Liber divinorum operum

163

Die Genter Handschrift muß entweder von Hildegard selbst, oder nach ihrem Tode von den Rupertsberger Schwestern an den Konvent von TrierSt. Eucharius übergeben worden sein. Albert Derolez' These, es handele sich dabei um eine Art Dankesgabe für die Mithilfe im Rahmen der Endredaktion des Textes, ist durchaus plausibel.1 Die Übersendung wird zu einem Zeitpunkt erfolgt sein, als man auf dem Rupertsberg bereits über andere hochrangige Textzeugen des LDO verfügte (Riesencodex, Cod. Troyes 683). Im Zuge der Besetzung des Rheinlandes durch die Franzosen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Handschrift nach Paris verschleppt. Nach der Schlacht von Waterloo sandte sie der Kommissar des Königs der Niederlande, P. P. C. Lammens, zusammen mit einigen anderen Trierer Handschriften nach Gent.2 Dort wanderte sie in die Stadtbibliothek, die seit 1817 als Universitätsbibliothek fungiert. -

-

Der LDO des Riesencodex Die Beschreibung des im Riesencodex enthaltenen Liber divinorum operum kann sich in diesem Zusammenhang auf einige zentrale Aspekte beschränken. Der textkritische und überlieferungsgeschichtliche Rang des Riesencodex ist in einem eigenen Kapitel meiner Studie ausführlich gewürdigt worden.

2.)

Hervorzuheben ist, daß der Liber divinorum operum des Riesencodex von einer einzigen Hand stammt (Hand 3 des Riesencodex). Lediglich der Epilog auf f. 308r ist nachträglich angefügt worden und kommt von anderer Hand, und zwar von jener des Korrektors. Bis auf die beiden interpolierten Texte der Vita Hildegar dis (f. 317ra-327v) und der Litterae quas Villarenses fratres post obitum dominae nostrae Hildegardis ad nos miserunt (f. 464v-465r) ist der gesamte Riesencodex zu Lebzeiten Hildegards entstanden. Dabei zeigt die Textdisposition des Liber divinorum operum starke Ähnlichkeiten zur Anordnung des Genter Codex 241. Die Kapitel setzen jeweils auf der Mitte der Zeile ein, und die Kapitelnummern sind auf gleicher Höhe angezeigt. Allerdings sind die Capitula nicht, wie im Genter Codex 241, komplett vor den Text gesetzt. Sie wurden aufgeteilt und vor die jeweiligen Bücher plaziert, Derolez zufolge ein sicheres Kriterium für eine textgenetisch spätere Bearbeitungsstufe der Handschrift. Betrachtet man die Wortwahl und die Orthographie des Liber divinorum operum im Riesencodex, so zeigt sich, daß dieser eine getreue Kopie der Genter Handschrift 241 darstellt. Die dennoch zahlreichen und teilweise auch umfangreichen Korrekturen (zum Teil stilistischer Art wie Ersetzung von „eumque" durch „et eum") lassen sich nur schwer erklären. Wichtig ist die Beobachtung, daß der textus rescriptus immer der Vorlage des Genter Codex 241 folgt. Vermutlich lieferte der Genter Codex bis auf Kleinigkeiten die Grundlage für die Abschrift des Riesencodex. -

-

we may probably assume that it [the GentCodex] was given to abbot Ludwig, either by Hildegard herself or by her sisters after her death, in gratitude for his friendship and his help in the finishing of the LDO."

1

Derolez/Dronke 1996, S. XCVI:

2

Vgl.

Knaus 1862.

„...

Kapitel 4

164

3.) Troyes, Bibliothèque municipale, Cod. Die Handschrift Ms 683 der

folia

von

der Größe

von

31

großformatiger.

x

683

Bibliothèque municipale von Troyes umfaßt 117 cm. Ursprünglich war die Handschrift jedoch

21

Der Inhalt des Codex läßt sich in drei Hauptteile aufgliedern: Teil 1, der aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts stammt, beinhaltet auf f. lv-110r den zweispaltig angeordneten, auf je 42 Zeilen niedergelegten Text des

Liber divinorum operum. Teil 2 beinhaltet auf f. lllr-116v das erste Buch aus Bernhards von Clairvaux Schrift De consideratione ad Eugenium papam. Die Abschrift dieses Text in der Troyer Handschrift ist nicht zeitgleich zu unserem Hildegard-Text entstanden, sondern fällt bereits in das 13. Jahrhundert. Teil 3 (f. 117rv) besteht aus dem Fragment einer Briefhandschrift Hildegards. Sie gehört wiederum in das letzte Viertel des 12. Jahrhunderts. Insgesamt sind darin drei teilweise fragmentarisch überlieferte Briefe Hildegards an Papst Anastasius, Bischof Daniel von Prag und Bischof Gunther von Speyer aufgeführt. Der Liber divinorum operum besteht aus 14 Lagen. Bis auf Lage X (- f. 7378), die einen Ternio bildet, handelt es sich hierbei ausschließlich um Quaternionen. Da Buch 2 des Liber divinorum operum auf f. 78v endet, ist der Wechsel in der Lagenstruktur an dieser Stelle aber gut nachvollziehbar. Der Text des Liber divinorum operum stammt von vier Händen, die zwar die typischen Eigenheiten des Rupertsberger Skriptoriums zeigen, die aber, mit Ausnahme von Hand 3, „nur lose Bindungen mit der Rupertsberger Schreibstube gehabt zu haben scheinen."1 Hand 1 schrieb f. lv-78v. Sie wurde lediglich auf f. 57vb von Hand 2 abgelöst, die dort die Zeilen 3-33 schrieb. Hand 3 setzte auf einer neuen Lage mit f. 79r ein und führte ihre Arbeit bis f. 90ra fort. Hand 4 schließlich schrieb f. 90ra 2 bis f. 11 Or. Das ursprünglich nicht verzierte Manuskript wurde im 13. Jahrhundert mit rubrizierten Majuskeln und rot-blauen, ornamental gestalteten Initialen ausgestattet. Diese Initialen finden sich zu Beginn des Prologs sowie zu Beginn jeder der 10 Visionen. Der älteste Besitzeintrag des Codex stammt aus dem 12./13. Jahrhundert. Er erscheint auf f. 116v und lautet: „Liber Sancte Marie Clarevallensis". In das 13. Jahrhundert gehören die Vermerke „Liber diuinorum operum sancte Hyldegardis; Tractatus de consideratione ad papam Eugenium". Hieraus geht hervor, daß zumindest die beiden ersten Teile der Handschrift seit dem 12. bzw. 13. Jahrhundert zum Bestand der Zisterzienserabtei Clairvaux gehörten, eine Tatsache, die dieser Handschrift eine besondere Bedeutung verleiht.2 Wann 1 2

So der Befund bei Derolez 2000, hier S. 478.

Vgl. Vernet 1979, S. 153 Nr. 688. Vernet publiziert hier einen Bibliothekskatalog der Bestände

von

Clairvaux

aus

dem Jahre 1472. Dort heißt

es unter

der Nummer H 47

(= 688): „Item ung autre moyen volume contenant le livre Divinorum operum sancte

Hyldegardis papam

en v.

et a la fin le traictié saint Bernard De consideratione ad livres ..."

Eugenium

Der Liber divinorum operum

165

genau diese Teile nach Clairvaux

gelangt sind, läßt sich nicht ermitteln. Allerwurde noch Trithemius die (freilich ungesicherte) Nachricht kolporvon dings Bernhard habe Schriften Hildegards besessen. von Clairvaux tiert, nach der unmittelbaren man Fragt Vorlage des Textzeugen Cod. Troyes 683, so läßt sich hierfür mit Derolez der Genter Codex 241 annehmen.1 Auf diese Annahme deutet eine Korrektur in Buch 2, Cap. 1 42 und 95 hin. In beiden Textzeugen ist die ursprüngliche Formulierung „uolantes uirtutes" in „uolantes" unter Streichung von „uirtutes" abgeändert worden. Allerdings gibt es auch Unterschiede in der Sprachform beider Texte. So hat der Textzeuge Cod. Troyes 683 die im Genter Codex exzessiv verwendete Konjunktion „que" in „et" umgeändert (z. B. „et superna" anstatt „supernaque"; „et opera" anstatt „operaque"). Ein Zeichen für die geringfügige Glättung des Textes gegenüber dem als Kopiervorlage angenommenen Genter Codex 241. -

4.) Lucca, Biblioteca Statale,

Ms 1942

Der LDO-Textzeuge der Biblioteca Statale von Lucca besteht aus 164 folia in der Größe von 39 x 26 cm. Nicht nur aufgrund seiner äußeren Gestalt, sondern auch aufgrund der beigefügten Miniaturen gehört der Lucca-Codex zu den luxuriösesten Hildegard-Handschriften überhaupt. Der Codex stammt aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Wie verschiedene von italienischer Hand herrührende Marginalien am Textrand beweisen, befand sich die Handschrift bereits im 14. Jahrhundert in Italien. Später gelangte sie möglicherweise in den Besitz des Regularkanoniker-Konvents Santa Maria Corteorlandini in Lucca, dann in jenen des Kardinals und Historikers Giovanni Domenico Mansi (1692-1769). Mansi fertigte im Jahre 1761 auf der Grundlage dieses Textzeugen die Editio princeps des Liber divinorum operum an. Im Vorwort zu seiner Edition schreibt er: „In uetusto codice bibliothecae meae [hervorgehoben vom Verf.] eleganti et auro ac coloribus exornato saeculi XII uel saltern ineuntis XIII, nactus sum uolumen istud cum inscripto hoc titulo : ,Liber divinorum operum simplicis hominis'".2 Trotz der luxuriösen Ausstattung weist die Handschrift eine Vielzahl von Unregelmäßigkeiten auf, die bis hin zur Ausbesserung des Pergaments reichen. Selbst einige der Miniaturen (f. 28v, 132v, 135r) sind auf minderwertigem Pergament angebracht. Diese Unregelmäßigkeiten sind jedoch original und keineswegs nachträglich entstanden. Vermutlich hat man kein adäquat großes und gutes Pergament gefunden, um die Handschrift ohne Einschränkungen in der geplanten Ausstattung herstellen zu können. Der Codex besteht aus 20 Quaternionen und einem Binio, wobei der Text zweispaltig zu je 38 Zeilen angeordnet ist. Die Schrift ist eine sorgfältige frühgotische Textualis. Der Schreiber erscheint auch als Hand 2 des Codex StBPrK Berlin Ms lat. qu. 674. Diese Handschrift enthält eine bedeutende Sammlung 1 2

Derolez/Dronke 1996, S. CII: „T is LDO 1761, S. 335.

directly copied from G."

Kapitel 4

166

Briefen Hildegards, die Vita Hildegardis, das Pentachronon, die Lingua ignota, die Litterae ignotae, ein Fragment des Liber compositae medicinae und einen daran sich anschließenden Teil mit naturkundlich-kosmologischen Inhalten, der möglicherweise aus verschiedenen Texten Hildegards kompiliert wurde. Aufgrund der Tatsache, daß wir bislang aber nicht genau wissen, wo die Berliner Handschrift entstanden ist, läßt sich auch im Hinblick auf eine Lokalisierung des Lucca-Codex aus dieser Beobachtung kein Gewinn erzielen. Von besonderer Bedeutung sind die 10 ganzseitigen, zu Beginn jeder Vision erscheinenden Miniaturen des Lucca-Codex. Die Diskussion, ob diese Miniaturen auf Vorbilder zurückgehen, die zu Lebzeiten Hildegards entstanden sind, ist noch im Gange.1 Derolez neigt vorsichtig der Meinung zu, die Bilder seien nicht auf Hildegard zurückzuführen, sondern späteren Datums. Was die Textgestalt der Visionen anbetrifft, so basiert der Lucca-Codex auf der Handschrift Gent 241, er zeigt allerdings eine etwas modernisierte Orthographie.2 Auch im Hinblick auf die Anordnung der Capitula beschreitet der Lucca-Codex einen Sonderweg. Er bringt die Capitula weder geschlossen vor dem Textcorpus (wie Codex Gent 241), noch vor den jeweiligen Büchern (wie der Riesencodex oder die Handschrift Cod. Troyes 683). Vielmehr erscheinen sämtliche Capitula zu Beginn des jeweils zugehörigen Textabschnittes. Geht man davon aus, daß der Lucca-Codex in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden ist worauf paläographische Indizien hindeuten so läßt sich vermuten, daß seine Herstellung im Zusammenhang mit der geplanten Heiligsprechung Hildegards stand. Als optisch herausragender Textzeuge der dritten Visionsschrift würde er damit dem verschollenen illuminierten Scivias zur Seite gestellt werden können. Allerdings müßte man in diesem Falle wohl (falls nicht innere Gründe dagegen sprechen) die Existenz einer illuminierten Handschrift auch des Liber vitae meritorum postulieren. Auf jeden Fall wäre es merkwürdig, wenn von den drei Teilen der Visionstrilogie zwei in illuminierten Fassungen vorgelegen hätten, der dritte jedoch nicht. Nimmt man den hier angedeuteten hagiographisch-panegyrischen Hintergrund ernst, so käme als Entstehungsort des Lucca-Codex am ehesten eine rheinische Abtei in Frage, die ein besonderes Interesse an einer Heiligsprechung Hildegards besaß.

von

-

-

1

Die Miniaturen sind reproduziert bei Calderoni Masetti/Dalli Regoli 1973. Darüber hinaus finden sie sich als Plates 6-15 innerhalb der kritischen Edition des Liber divinorum operum. Letztendlich sind einige Miniaturen bzw. Ausschnitte daraus abgedruckt in: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hg. Walther Killy, 5, Gütersloh/München 1990, S. 313-320 (darin der Artikel Meier

2

Derolez/Dronke 1996, S. CVI: „L contains

1990a).

basically the text of G, but it has consistently used a somewhat modernized spelling and a series of word inversions."

Der Liber divinorum operum

167

5.) Trier, Stadtbibliothek,

Hs 722/277 4° Der Trierer Textzeuge des Liber divinorum operum, eine Papierhandschrift mit den Maßen 29 x 20,5 cm und insgesamt 518 folia Umfang, läßt sich aufgrund zweier Schreiberkolophone in die Jahre 1487 und 1489 datieren. Der Codex besteht aus Sexternionen, der Text präsentiert sich zweispaltig, zu je 38 bis 41 Zeilen angeordnet. Die Schrift ist Albert Derolez zufolge eine sehr flüchtige Gothica cursiva currens.1 Die Handschrift beinhaltet mehrere Schriften Hildegards. Auf f. lr-120r erscheint zunächst eine Sammlung von Hildegards Briefen. Die am Ende folgende Notiz „Hic débet sequi uita beati Rupperti et beati Dysibodi confessoris et pontificis" führt in die Irre. Beide Texte fehlen und waren niemals dort vorhanden. Auf f. 121r-293r schließt sich der Liber divinorum operum an. Der Schreiberkolophon am Ende gewährt ausführlich Auskunft über Entstehungsort und Entstehungszeit der Handschrift. Außerdem nennt der Kopist seinen Namen und seine Ordenszugehörigkeit: „Explicit liber diuinorum operum sancte Hildegardis uirginis, scriptus et finitus per me fratrem Ewaldum Molner Carthusiensem et monachum professum in Monte sancti Beati prope Confluenciam anno Domini M CCCC LXXXIX, in profesto sancti Gregorii pape [=11. März]. Amen". Auf f. 294r-518v folgt schließlich der Scivias. Der von demselben Schreiber stammende Kolophon lautet hier: „Explicit über Sciuias simplicis hominis. Anno Dominice Incarnationis M CCCC LXXXVII in uigilia sancti Martini episcopi [= 10. November] finitus est liber iste et scriptus per me fratrem Ewaldum minimum Carthusiensium. Deo gracias. Amen." Aus den beiden Kolophonen geht hervor, daß die komplette Handschrift in der Kartause Beatusberg bei Koblenz geschrieben wurde. Der dritte Teil mit dem Scivias wurde zwei Jahre vor Teil 2, der den Liber divinorum operum enthält, beendet. Vergleicht man die Ausstattung des Scivias mit jener des Liber divinorum operum, so fällt auf, daß im letzteren die Rubrikation nach f. 134 abbricht, während sie im ersteren konsequent durchgehalten wurde. Hinzu kommt, daß die Anordnung der Capitula bei beiden Texten unterschiedlich gehandhabt wurde. Im Liber divinorum operum erscheinen die Capitula komplett vor dem Textganzen auf f. 121r-136v. Im Scivias hingegen stehen sie vor jedem Buch, werden zudem aber vor den zugehörigen Textabschnitten wiederholt. Die Erklärung für diese unterschiedlich gestaltete Capitula-Form liegt vermutlich darin, daß beide Texte aus unterschiedlichen Vorlagen geschöpft sind. Der Scivias wurde kopiert von der Handschrift Cod. Bernkastel-Kues 63, die aus dem Jahre 1210 stammt und einen Besitzvermerk der Abtei Trier-St. Eucharius trägt. Der Liber divinorum operum hingegen ist mit großer Wahrscheinlichkeit vom Genter Codex 241 abgeschrieben worden. Nur dieser besitzt, wie der Trierer Textzeuge, eine zusammenhängende Gesamtcapitulatio vor dem eigentlichen Visionstext. Als weiteres Argument für eine Abhängigkeit der Trie1

Derolez/Dronke 1996, S. CVII:

currens)."

„The Script is a very rapid cursive {Gothica cursiva

Kapitel 4

168

Handschrift vom Genter Textzeugen läßt sich anführen, daß in der Trierer Handschrift die Blatt- und Paragraphenzählung an exakt der gleichen Stelle erscheint wie im Genter Codex. Natürlich sind all diese Beobachtungen keine Beweise im strikten Sinne. Sie liefern aber doch textgenealogische Indizien, die einen solchen Schluß gerechtfertigt erscheinen lassen. Weiter oben wurde ausgeführt, daß Johannes Trithemius im Jahre 1487 auf dem Rupertsberg eine Kopie des Riesencodex anfertigen ließ. Diese Handschrift liegt heute unter der Signatur Cod. Add. 15102 in der British Library in London. In ihr fehlt ausgerechnet die Visionstrilogie. Man wäre also aus mehr als einem Grunde geneigt anzunehmen, daß auch der vorliegende Band auf Trithemius zurückgeht. Er hätte dann gewissermaßen den zweiten Teil der aus dem Riesencodex abgeschriebenen Werke Hildegards gebildet. So verführerisch diese These aber auch sein mag, so wenig läßt sie sich beweisen. Konkret müßte nachgewiesen werden, daß Trithemius Kontakte zum Beatusberg in Koblenz pflegte, und daß von dort aus und zwar im Auftrage des Trithemius die Visionstrilogie kopiert wurde. Eben dies läßt sich zur Zeit nicht belegen.1 Erschwerend kommt hinzu, daß Trithemius die von ihm kopierten Texte nachweislich aus dem Riesencodex, der sich damals auf dem Rupertsberg befand, geschöpft hat. Demgegenüber befand sich der Genter Codex 241, der vermutlich die Vorlage des Trierer Liber divinorum operum bildete, seit Ende des 12. Jahrhunderts in Trier-St. Eucharius. rer

-

6.) London, British Library, Cod. Add.

-

15418

Textzeuge des Liber divinorum operum aus dem 15. Jahrhundert, die Handschrift Cod. Add. 15418 der British Library London. Das Manuskript besitzt die Größe von 41 x 30 cm und umfaßt insgesamt 98 Blatt. Seine großformatige Anlage, aber auch seine üppige Ausstattung hinsichtlich des Pergaments, der Schriftgestaltung, der Initialformen und der Marginaldekoration lassen auf einen herausgehobenen Anspruch der Handschrift bzw. ihres Auftraggebers schließen. Der Londoner Codex bereitet im Hinblick auf eine exakte Datierung und Lokalisierung nach wie vor große Probleme. Albert Derolez zufolge ist er „surely written in England".2 Derolez begründet diese Meinung mit dem Hinweis auf eine Reihe paläographischer Besonderheiten des Textes (z. B. per-Abkürzung und or-Ligatur). Andere Indizien, etwa Provenienzvermerke oder alte Signaturen, lassen sich zur Abstützung dieser These allerdings nicht anführen. Die Lagen der Handschrift bestehen aus Quaternionen. Lage V ist nicht mehr intakt. Zwischen den folia 31v und 32r fehlen insgesamt 12 Seiten Text. Folio 72 und das Bifolium 75/76 sind nach Fertigstellung des Textes ausgewechselt und erneuert worden, ohne daß der Grund hierfür ersichtlich würde. Der Text verEs existiert ein weiterer

1 2

Register der maßgeblichen bezeichnenderweise ein Eintrag Im

Derolez/Dronke 1996, S. CX.

Trithemius-Monographie von Klaus Arnold fehlt Koblenz (Beatusberg). Vgl. Arnold 1991b.

zu

Der Liber divinorum operum

169

teilt sich in der Regel auf 52 Zeilen pro Seite, angeordnet zu je zwei Kolumnen. Lediglich auf f. 7-14, d. h. auf Lage I, finden sich 54 Zeilen. Die Schrift ist Derolez zufolge eine sehr schwer wirkende Gothica textualis formata. Wenn die oben referierte Forschungsmeinung, der Codex sei in England entstanden, zutrifft, so lassen sich die näheren Umstände für eine solche insulare Entstehung derzeit nicht erhellen. Zwar finden sich einige englische Besitzvermerke, diese stammen aber sämtlich aus später Zeit. So wissen wir, daß das British Museum den Band im Jahre 1845 von dem Antiquar Thomas Rodd Jr. (1796-1849) erwarb. Darüber hinaus trägt er die Eigentumsmarke eines gewissen John Jackson aus London, datiert auf das Jahr 1781, und es erscheint das Exlibris eines Mitgliedes der königlichen Familie. Dieses Exlibris gehört aber erst in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie bei den meisten Hildegard-Texten, sind die Capitula den einzelnen Büchern des Visionstextes unmittelbar vorgeschaltet. Allerdings sind die Uberschriften heillos durcheinander geraten. Was die genetische Abhängigkeit des Londoner Textzeugen von seiner Vorlage anbetrifft, so weist der Londoner Codex nicht die für den Riesencodex, die Trierer Handschrift oder den LuccaCodex typischen Varianten auf. Daß eine Abhängigkeit zum Genter Codex 241 vorlag, kann nicht bewiesen werden, wird von Derolez aber angenommen.1 4.2.2 Die

Exzerptüberlieferung

des LDO

Frankfurt, Stadt- und Universitätsbibliothek, Fragm.

Lat. I 95 Bei diesem Textzeugen handelt es sich offenbar um ein Exzerpt des Liber divinorum operum. Das Bifolium aus Pergament besitzt die äußeren Maße 23 x 15,5 cm. Der Text, auf jeweils 26 Zeilen niedergelegt, stammt aus dem 13. Jahrhundert. Der Frankfurter Textzeuge wurde als Umschlag einer Archivalie verwendet, die auf das Jahr 1585 datiert ist. Was sein Inhalt anbetrifft, so enthält das Doppelblatt zwei Auszüge aus Buch 3, Cap. 5 des Liber divinorum operum. f. 1 beinhaltet den Text der Seite 23 12 bis S. 25 13 (in der Zählung der kritischen Edition), f. 2 den Text von Seite 32 34 bis S. 34 12. Ob diese Textauszüge die Reste einer ehemals vollständigen Abschrift des Liber divinorum operum darstellen oder lediglich ein kurzes Exzerpt, das von vornherein als solches geplant war, läßt sich nicht eruieren. Hier müßte eine detaillierte Untersuchung hinsichtlich des Textinhalts und seiner syntaktischen Vollständigkeit für weitere Klarheit sorgen. Eine Marginalnote auf f. lv „Imperatoris dignitas minuetur" könnte aber als Hinweis darauf verstanden werden, daß von Anfang an lediglich die letzte, prophetische Vision des Textes enthalten war. Was die Textfassung insgesamt anbetrifft, so erlaubt sich diese eine Fülle von Freiheiten. Da sich jedoch kaum gemeinsame Varianten (Fehler) mit den anderen, vollständigen Textzeugen des LDO finden, ist eine Ermittlung der genetischen Abhängigkeit dieses Fragmentes von einer bestimmten Vorlage nicht möglich. 1

Derolez/Dronke 1996, S. CX: directly or indirectly from G."

„The London manuscript

probably ...

derives

Kapitel 4

170

4.3 Die Editio

princeps des LDO (Lucca 1761) Werfen wir zum Abschluß einen Blick auf die Editio princeps des Liber divinorum operum. Diese wurde, wie erwähnt, im Jahre 1761 von Kardinal Giovanni Domenico Mansi veranstaltet. Versucht man, die Persönlichkeit und Leistung jenes Mannes zu würdigen, auf den die Erstausgabe des Liber divinorum operum zurückgeht, so gilt, daß Mansi zu den bedeutendsten Publizisten und Kirchenmännern seiner Zeit gehörte.1 Mansi lehnte die scholastische Theologie ab und wandte sich ganz der Kirchengeschichte und Moraltheologie zu. Ob sein Interesse an Hildegard ebenfalls von einem moraltheologischen Horizont überwölbt wurde, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden; es ist aber keineswegs unwahrscheinlich. Auf diese Möglichkeit deutet eine entsprechende Wendung im Vorwort von Mansis Edition hin: „Mirum quantum abundat physicis rebus, sive harum figuris, imaginibus, & similitudine ad explicanda tum divina Fidei Catholicae dogmata, & sacrosancta Mysteria, tum humana, quae ad nostros mores componendos regendosque spectant, vitiorum fuga, atque exercitatione virtutum omnium."2 Nicht von ungefähr lehrte Mansi in Neapel zunächst Moraltheologie, bevor er von Erzbischof Fabio Colloredo (Lucca) zu seinem persönlichen Berater (theologus) ernannt wurde. In Lucca gründete Mansi eine Akademie für Kirchen- und Liturgiegeschichte. Im Jahre 1764 ernannte Papst Clemens XIII ihn zum Erzbischof von Lucca. Neben seinen kirchenamtlichen Tätigkeiten erwarb Mansi sich große Verdienste um die Edition und Übersetzung bedeutender theologischer Werke. Unter den editorischen Großprojekten, die er verwirklichte, ragt neben der Kommentierung und Herausgabe der Annales ecclestastici des Caesar Baronius die 31bändige Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio (Florenz/Venedig, 1759/98) heraus. Sie präsentiert die Konzilsakten bis zum Konzil von Florenz (1439), in der erweiterten Neuausgabe (55 Bände, 1899-1927) sogar bis zum ersten Vatikanischen Konzil (1870).3 In der Vielzahl seiner Übersetzungs- und Editionsarbeiten ähnelt Mansi ein wenig Faber Stapulensis, dem Herausgeber der Erstausgabe des Scivias, aber auch Jacques-Paul Migne, der einen eigenen Band von Hilde1

Eine Biographie Mansis findet sich, verfaßt von Mansis Konfrater Franceschini, in Band 19 der von Mansi edierten 31bändigen Konzilssammlung Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio (Florenz/Venedig 1759/98); hier: Venedig 1774, S. IX-LI. Vgl. außerdem: „Mansi (Jean-Dominique)", in Nouvelle Biographie Générale, 33, Paris 1860, Sp. 259-260. Hurter 1886, S. 101-108. Leclercq 1932. Schurr 1993.

-

2

LDO 1761, S. 335.

3

Vgl.

-

-

hierzu Quentin 1900. Daneben übersetzte Mansi das Glossarium biblicum (Lucca 1725) sowie die zweibändigen Prolegomena et Dissertationes in S. Scripturae libros Augustin Calmets (Lucca 1729). Er edierte die Vetus et omnes nova ecclesiae disciplina L. de Thomassins (3 Bde. Lucca 1728), die 38 Bände umfassenden Opera des Caesar Baronius (Lucca 1738/59), die sechsbändige Sanctorum conciliorum et decretorum collectio nova (Lucca 1748/1752) sowie die neunbändige Historia ecclesiastica des J.-H. Graveson (Venedig 1762). ...

Der Liber divinorum operum

171

in die Patrologia Latina einfügte. Die Nachwelt hat von Mansis Edition des Liber divinorum operum fast keinerlei Notiz genommen. Gegenüber den monumentalen Sammlungen verblaßte dieses unscheinbare Werk vollkommen, außerdem erschien es bedauerlicherweise nicht als eigenständige Publikation, sondern im Verband der Miscellanea des Etienne Baluze. Liest man das Vorwort zu Mansis Edition, so wird aber deutlich, daß Mansi offenbar ein tiefergehendes Interesse an Person und Werk Hildegards besaß und daß seine Edition nicht nur dem Bemühen diente, eine Lücke im Textbestand der Schriften Hildegards zu schließen. Immerhin findet Mansi sehr anerkennende Worte über Hildegards Werk, etwa wenn er ausführt, bei richtigem Lesen und rechter Vertiefung in dieses Buch müsse jede Mühsal und jede Last von einem Menschen abfallen, so groß und erhebend sei der Ertrag dieser süßen Frucht.1 Seine Kenntnisse über die anderen Schriften Hildegards, unter denen er die von Faber Stapulensis im Jahre 1513 vorgelegte Editio princeps des Scivias nennt, basieren weitgehend auf den zerstreuten Äußerungen des Johannes Trithemius. Hinzu kommen Informationen des Severinus Binius zum Trierer Provinzialkonzil, die wiederum Angelus Manriques in seinen Annales Cistercienses2 zitiert. Daneben rekurriert Mansi auf Caesar Baronius und dessen Annales ecclesiasticP, auf die von Laurentius Surius edierte Vita Hilde gar dis4, auf Wilhelm Caves Scriptorum ecclesiasticorum historia literaria a Christo nato usque ad saeculum XIV.5 sowie auf Casimir Oudinus' Commentarius de Scriptoribus Ecclesiasticis6.

gard-Schriften

1

2 3 4 5

„Hoc opus tanto in pretio semper habitum est, ut aequi rerum aestimatores semper opinati fuerint, in hoc opere perlegendo meditandoque molestiam qualemcumque ac

laborem, suavissimi fructus ubertate tanta levari, ut fere omnino tolli, aut vix sentiri videatur." Mansi, Vorwort zum Liber divinorum operum, S. 335. Manriques Annales. Darin über Hildegard: I, S. 56f.; II, S. 38-40. 272-274. 333-335. 467-469. 534-536. Baronius Annales, XII, S. 351 und 450f. (ad annum 1148). In Surius De vitis. Die Originalausgabe stammt aus dem Jahre 1570. Cave Scriptores, S. 476 (ad annum 1170). Unter Caves (sehr unvollständiger) Auf-

zählung von Hildegards Werken erscheint zwar der Scivias, nicht aber der Liber vitae meritorum und der Liber divinorum operum. Der Grund für die Lückenhaftigkeit liegt darin, daß Cave nur die bis dato gedruckt erschienenen Werke Hildegards benennt. Im übrigen neigt Cave unter Berufung auf Josias Simler ([= J. J. Frisius], in Gesner Bibliotheca, S. 356) der Meinung zu, daß nicht Hildegard von Bingen, sondern eine andere Hildegard Verfasserin der Physica sei. Im zweiten Band seiner Historia erwähnt Cave das Trierer Provinzialkonzil von 1148. Aber auch hier spricht er

Berufung auf Trithemius nur summarisch von Hildegards prophetias" (Cave Scriptores, II, S. 241 [ad annum 1148]).

diesmal

-

suas

6

unter

„novas

-

Oudinus 1722. Oudinus wiederum beruft sich auf Cave, den er ausführlich zitiert. Oudinus liefert eine wirklich beachtliche Bewertung von Hildegards schriftstellerischen Leistungen. Sie basiert zum guten Teil auf persönlicher Kenntnis wichtiger Handschriften und früher Drucke sowie auf eigenen Exzerpten. Insbesondere im Hinblick auf Hildegards Anti-Mendikanten-Prophetien sind Oudinus' Hinweise auf

frühe Handschriften

von

großer Bedeutung.

Kapitel 4

172

Mansis Ausgabe des Liber divinorum operum erschien an versteckter Stelle innerhalb einer von ihm zusammengetragenen, vierbändigen Ausgabe der Schriften des französischen Kirchenhistorikers und Kanonisten Etienne Baluze ([Baluzius]; 1630-1718) der Grund dafür, weshalb sie so schwer greifbar war.1 Wie es für den Scivias zutrifft, so erfuhr eine weitere zentrale Hildegard-Schrift damit nicht in Deutschland, sondern im Ausland, hier in Italien, ihre erstmalige Drucklegung. Da sich der Lucca-Codex offenbar im persönlichen Besitz von Mansi befand, ist dessen Entscheidung, die Edition auf der Grundlage gerade dieses Textzeugen vorzunehmen, durchaus nachvollziehbar. Die Frage, ob der Lucca-Codex tatsächlich zum persönlichen Eigentum Mansis gehörte, wie es die von ihm verwendete Formulierung „bibliotheca mea" suggeriert, wurde in der Forschung unterschiedlich bewertet. Anna Rosa Calderoni Masetti und Gigetta Dalli Regoli schlugen drei Möglichkeiten zur Deutung dieser Angabe vor:2 1. ) Der Codex gehörte seit Jahrhunderten zum Besitz der Familie Mansi, deren Ursprünge in Mainz und damit in der Nähe des Rupertsberges lagen.3 2. ) Der Codex wurde von Mansi selbst erworben, und zwar im Verlaufe seiner ausgedehnten Bibliotheks- und Forschungsreisen nach Frankreich und Deutschland. 3. ) Der Codex gehörte bereits vor Mansis Zeit zum Bestand der Bibliothek des Konvents von Santa Maria Corteorlandini in Lucca. Mansi selbst war diesem Konvent im Alter von 16 Jahren (1708) beigetreten und hat Zeit seines Lebens freundliche Kontakte zu ihm aufrechterhalten. Unterzieht man diese drei Möglichkeiten einer vorsichtigen Beurteilung, so erscheint die letzte Hypothese als die am wenigsten wahrscheinliche. Es wäre äußerst ungewöhnlich, wenn Mansi die Konventsbibliothek als „bibliotheca mea" bezeichnet hätte. Gegen die zweite Alternative sprechen die bereits erwähnten italienischen Marginalnoten am Text. Sie deuten darauf hin, daß sich der Lucca-Codex bereits im 14. Jahrhundert in Italien befand und daß Kardinal Mansi ihn dort im Verlaufe des 18. Jahrhunderts erstand. -

-

1

2 3

Baluze hatte sich in Toulouse zunächst der Jurisprudenz gewidmet. Bald schon betrieb er ausschließlich kirchengeschichtliche und kanonistische Studien, unterstützt von Petrus de Marca, dem Erzbischof von Toulouse (1652) und später von Paris (1662). Zwischen 1667 und 1700 wirkte Baluze als Bibliothekar des Ministers Colbert. Zum Professor des kanonischen Rechts am Königlichen Kolleg in Paris ernannt (1707 Inspektor), wurde er im Jahre 1710 seines Amtes enthoben und aus der französischen Hauptstadt verbannt, da eine von ihm vorgelegte Geschichte des Hauses Auvergne ungnädig aufgenommen worden war. Calderoni Masetti/Dalli Regoli 1973, S. 22 n. 1. Angeblich soll die Familie Mansi von einem Adligen mit Namen Gerhard abstammen, der unter Kaiser Otto I. diente. Als Otto im Jahre 964 von Rom aus nach Germanien zurückkehrend in Lucca Station machte, habe dieser Vorfahre einen ihm dort geborenen Sohn Mansus genannt. Von diesem Mansus leite die gesamte Familie ihren Namen ab.

Der Liber divinorum operum

173

Für die Hildegard-Philologie bedeutet Mansis Entscheidung, die Editio princeps des Liber divinorum operum auf dem Lucca-Codex zu errichten, den (un-

reflektierten) Rückgriff nicht auf den ältesten oder zuverlässigsten, sondern auf den am bequemsten greifbaren Textzeugen. Was die Qualität von Mansis Edition anbetrifft, so stellte diese für die damalige Zeit sicherlich eine beachtliche Leistung dar. Dennoch finden sich eine ganze Reihe von Unaufmerksamkeiten. Die falschen Lesungen betreffen vor allem die Präfixe „per", „prae" und „pro". Immerhin aber wurde Mansis Edition im Jahre 1855 von Jacques-Paul Migne im Band 197 der Patrologia Latina wiederabgedruckt. Einige Korrekturen steuerte im Jahre 1882 Kardinal Pitra innerhalb seines eigenen Hildegard-Bandes bei.1 Aus dem Bewußtsein heraus, daß die Edition Mansis den Anforderungen einer kritischen Hildegard-Philologie nicht Genüge leisten könne, unternahm es zu Beginn des 20. Jahrhunderts Dom Louis Baillet aus der Abtei Oosterhout, eine neue Ausgabe des Liber divinorum operum in Angriff zu nehmen. Obwohl diese Bemühungen bereits weit gediehen waren, wurde Baillets Edition nicht abgeschlossen. Welche Gründe hierfür ausschlaggebend waren (Tod Baillets, Erster Weltkrieg), wissen wir nicht. Baillet sorgte jedoch dafür, daß seine gesamten Vorarbeiten an die Abtei Eibingen gingen, wo sie Schwester Adelgundis Führkötter für ihre Forschungen zum Werk Hildegards nutzen konnte. So kein Zufall, daß Marianna Schräder und Adelgundis Führkötter in ihrem 1956 erschienenen, grundlegenden Werk über die Echtheit der Schriften Hildegards nach einer auf Baillet basierenden Evaluierung der wichtigsten Textzeugen zu dem Ergebnis gelangten, der Genter Codex 241 müsse zur Leithandschrift einer künftigen Edition des Liber divinorum operum gemacht werden. Ganz folgerichtig verwendete Heinrich Schipperges bei seiner 1965 publizierten deutschen Ubersetzung des LDO den Genter Codex allerdings flankiert von der Edition Mignes als Leittext.2 Eine von ihm beigesteuerte, insgesamt 96 Varianten umfassende Liste, in denen der Genter Codex gegenüber der Edition Mignes die besseren Lesarten bietet, ist indessen bei weitem nicht vollständig. Teilübersetzungen des Textes ins Deutsche hatten zuvor Johann Philipp Schmelzeis3, Johannes May4 und Johannes Bühler5 vorgelegt. Zu erwähnen ist die Berücksichtigung des Liber divinorum operum ferner in der auf beachtenswerten war es

-

-

1 2

Analecta, S. 603-605.

(dt.) 1965. Den Abschluß der 4. Vision, die die sogannnten Monatsbilder enthält, sowie die Interpretation des Johannesprologs übersetzte Schipperges innerhalb seiner Veröffentlichung: LDO (dt.) 1958. LDO

-

3

4 5

Schmelzeis 1879, S. 402-419. Schmelzeis' Auszug betrifft vor allem die 10. Schau des Liber divinorum operum. Er steht unter der Überschrift „Schilderungen der zukünftigen Zeiten". May 1929, S. 321-333. May gibt eine recht genaue Inhaltsangabe mit einer großflächigen Charakteristik der Texte. Schriften (dt.) 1922, S. 254-300. Bühler begnügt sich in seiner Auswahl mit einer nicht immer kritisch getroffenen Anthologie.

Kapitel 4

174

Quellenstudien beruhenden Habilitationsschrift Hans Liebeschütz'. Seine unter dem Titel Das allegorische Weltbild der heiligen Hildegard von Bingen stehende Darstellung stammt aus dem Jahre 1930.1 4.4

Zusammenfassung

Zieht man ein Fazit aus den Darlegungen zur Uberlieferungsgeschichte des Liber divinorum operum, so verdienen folgende Punkte festgehalten zu werden: Im Gegensatz zum Scivias und zum Liber vitae meritorum, bei denen, wie Albert Derolez zu Recht hervorgehoben hat, die textgenetischen Verhältnisse derartig schwierig sind, daß nicht einmal ein Stemma entwickelt werden kann, ist die Situation beim Liber divinorum operum relativ klar.2 Hier gebührt ganz eindeutig dem Genter Codex 241 der Rang einer Leithandschrift. Dieser Textzeuge bietet den autornächsten Text. Er stellt die unmittelbar auf Hildegards Wachstäfelchen beruhende Textstufe dar und steht damit gewissermaßen im Range eines Autographen. Diese Textfassung wiederum wurde, wie eine Vielzahl entsprechender Eingriffe dokumentiert, von Korrektoren modifiziert, die vermutlich unter Hildegards Leitung arbeiteten. Damit läßt sich die Genter Handschrift des Liber divinorum operum als typisches Produkt des Rupertsberger Skriptoriums und seiner Schreiber zu Hildegards Lebzeiten erweisen. Sie zeigt die typischen kooperativ-korporativen Merkmale der Rupertsberger Schreibstube. Auch hier liegt also der weiter oben bereits verwendete Begriff der Werkstatteinheit nahe. Da der Genter Codex im Grunde genommen die Basis aller anderen besprochenen Textzeugen des LDO darstellt, sind seine Korrekturen (von sehr geringen Ausnahmen abgesehen) in diese späteren Textzeugen eingeflossen. Die frühen, beide aus der Zeit um 1170/79 stammenden Abschriften des Riesencodex und der Handschrift Cod. Troyes 683 haben eine Reihe bestimmter Charakteristika gemeinsam. Diese Charakteristika reichen aber nicht aus, um auf einen voneinander abhängigen Produktionsprozeß schließen zu können. Es gilt im Gegenteil, daß diese beiden Textzeugen unabhängig voneinander, beide aber auf der Grundlage der Genter Handschrift, entstanden sind. Was die Gemeinsamkeiten anbetrifft, so sind im Riesencodex und in der Handschrift Cod. Troyes 683 die im Genter Codex noch komplett vor dem eigentlichen Visionswerk stehenden Capitula des Liber divinorum operum aufgeteilt und vor die drei Bücher des Textes plaziert worden. Wirft man einen Blick auf die Varianten, so stellt sich heraus, daß beide Textzeugen eine Vielzahl je eigener Lesarten besitzen. Im Hinblick auf die Handschrift Cod. Troyes 683 wiederum liefert der Riesencodex die ältere Textstufe. Dies geht hervor aus der 1 2

Liebeschütz 1930. Derolez/Dronke 1996, S. CXI: „For Scivias and for Liber uitae meritorum the relationships among the surviving manuscripts are difficult to assess and it is not

without

reason

that the critical editions have

no stemma

codicum."

Der Liber divinorum operum

175

Tatsache, daß der Textzeuge des Riesencodex in Buch 2 des Textes die später hinzugefügten Marginalnotationen „Littera", „Allegoria" und „Moralitas" noch

nicht aufweist. Wichtiger als dieses Faktum erscheint die Beobachtung, daß alle drei genannten Textzeugen, einschließlich des Lucca-Codex, einige Varianten aufweisen, die auf die Genter Handschrift vor deren endgültiger Redaktion rekurrieren.1 Dies muß als weiterer Hinweis auf eine Abhängigkeit aller drei späteren Textzeugen von Hs Gent 241 gewertet werden. Die Alternative, daß von Hs Gent 241 vor deren abschließender Korrektur andere Kopien angefertigt worden wären, auf die die drei späteren Textzeugen unabhängig voneinander hätten zurückgreifen können, ist nicht gut vorstellbar. Andererseits erlaubt dieses Phänomen Einblicke in die Arbeitsweise der Rupertsberger Schreibstube. Die Tatsache, daß in den späteren Textzeugen unkorrigierte, wenn auch im Ganzen marginal bleibende, Textpartikel aus Hs Gent 241 übernommen wurden, muß keineswegs bedeuten, daß diese Handschrift wirklich noch nicht abschließend korrigiert war, als sie kopiert wurde. Dies wäre in der Tat ein merkwürdiges Phänomen. Es erklärt sich vielmehr durch einige bewußte Rückgriffe der Schreiber auf den textus deleticius der Vorlage. Dieser war, vor allem in den Partes II und III, unter den Ausstreichungen und Korrekturen super lineam in der Regel lesbar geblieben. Die Schreiber der späteren Textzeugen, insbesondere des LuccaCodex, griffen in den angedeuteten Fällen ganz bewußt wieder auf die durchschimmernde, authentische Ausdrucksweise Hildegards zurück aus welchen Gründen, wird nicht recht klar.2 Möglicherweise hängt diese Praxis damit zusammen, daß man auf dem Rupertsberg versuchte, aus Verehrung zu Hildegard die authentischeren Textpartien wieder zu exhumieren. Auf diese Weise können (in einigen eng umgrenzten Fällen, die sich textgenetisch zudem erklären lassen) jüngere Textzeugen eine ältere Textstufe enthalten, und zwar eine Textstufe, die sogar älter ist als jene der Handschrift Gent 241. Es ist dies ein drastisches Beispiel dafür, mit welch großen Problemen die Hildegard-Forschung zu rechnen hat, wenn es um die Bewertung textkritischer Details geht. Bliebe zu ergänzen, daß der Lucca-Codex neben puren Unaufmerksamkeiten auch eine Reihe bewußter Abweichungen vom Genter Text aufweist und damit eine größere Unabhängigkeit von seiner Vorlage behauptet als der Riesencodex und die Handschrift Cod. Troyes 683. All diese Beobachtungen deuten in ihrer Addition darauf hin, daß die Erstellung von Abschriften der Werke Hildegards immer auch unter dem Aspekt der lebhaften Rupertsberger Werkstattaktivitäten betrachtet werden muß. Eine gewisse Schwankungsbreite in der Textpräsentation der kopierten Schriften war aufgrund der Vielzahl an beteiligten Personen sowie an kopierten Texten bereits -

1

Als

Beispiele seien nach Derolez/Dronke

fati"; I, ii, 1, 2

Als

61:

„exiebat."

1996, S. CXII genannt: I, ii 1, 21: „pre-

Beispiele seien nach Derolez/Dronke 1996, S. CXII genannt: I, iv, 23, 3:

sualitatem"; I, iv, 69,

12:

„opera"; III, ii, 9,

8:

„resurrecturum."

„sen-

176

Kapitel 4

Lebzeiten offensichtlich nicht zu vermeiden. Von hier aus kann der Begriff des Originals im Sinne von Urtext oder Archetyp nur mit äußerstem Vorbehalt verwendet werden. Vergleicht man die Anzahl der frühen Textzeugen des Liber divinorum operum mit jener des Scivias und des Liber vitae meritorum, so bestätigt sich der oben getroffene Befund, daß der Scivias von der Anzahl der vorhandenen Abschriften her einen ganz eindeutigen Vorrang unter den drei Visionsschriften besitzt. Hierzu paßt, daß auch die Editio princeps des Liber divinorum operum erst 1761, also ca. 250 Jahre nach jener des Scivias, entstanden ist. zu

KAPITEL 5

Das

Epistolarium

Bezüglich Hildegards Epistolarium sind zunächst einige Fragen anzusprechen, die einen übergreifenden gattungstypologischen und gattungshistorischen Hintergrund besitzen: 1. ) Die Frage nach dem Stellenwert des Epistolariums als einer redaktionell herbeigeführten Komposition. 2. ) Die Frage nach der Sprachform des Epistolariums (Latein Deutsch). 3. ) Die Frage nach der Authentizität der Briefe bzw. Briefpaare. Daß im Mittelalter Werk- und insbesondere Briefsammlungen planvoll angelegt wurden (und zwar in großer Fülle), belegt nicht zuletzt die deutschsprachige Textüberlieferung Oswalds von Wolkenstein (ca. 1375-1445). Sie ist für uns von zusätzlichem Interesse, da hier ein Skriptorium eingespannt wurde, das, wie es auf Hildegard zutrifft, über Musikschreiber verfügte.1 Ein Hildegard zeitlich näher stehendes Beispiel liefert die lateinischsprachige Briefsammlung Bernhards von Clairvaux (ca. 1090-1153). Im Jahre 1145, also noch zu Lebzei-

Bernhards, stellte dessen Sekretär Gottfried

von Clairvaux (ca. 1115-1188) insgesamt 243 Stücke umfassende Sammlung von Briefen Bernhards zusammen.2 Die Briefsammlung Bernhards ist aus der Sicht der HildegardPhilologie von besonderem Interesse. Bernhard hat, wie Giles Constable ausführt, das Führen seiner Korrespondenz in großen Teilen seiner Kanzlei anvertraut. Hierdurch kam es zu Fällen, daß Bernhard einzelne unter seinem Namen verfaßte Schreiben nicht einmal mehr gesehen hat, bevor sie expediert wurden. Andere wurden nur im Konzept aufgesetzt und dann von Sekretären ausge-

ten

eine erste,

1

Oswalds Gedichte sind im wesentlichen in drei Sammelhandschriften überliefert, die alle aus dem Umkreis des Dichters stammen. Im Bestand stimmen sie weitgehend überein. Es sind dies: die Handschrift der ONB Wien, Cod. 2777 (entstanden 1425/36) [= Handschrift A], eine Handschrift der UB Innsbruck (ohne Signatur; entstanden 1432/38) [= Handschrift B] sowie die Handschrift des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum, F. B. 1950 (entstanden um 1450/53 als wortgetreue Abschrift von B) [= Handschrift C]. Vgl. hierzu Timm 1972, insbesondere S. 122-125. Was den Anteil Oswalds am Zustandekommen der drei Sammelhandschriften anbetrifft, so gilt nach Timm 1972 (S. 122) folgendes: „Oswald selbst hat an der Gestaltung seiner ,Werkausgaben' nicht entscheidend mitgewirkt, sondern diese weitgehend den vom ihm in Anspruch genommenen Fachleuten überlassen." Röll 1991, insbesondere S. 28: „Vor allem sind die Handschriften, die fast alle seine Lieder enthalten, so zuverlässig wie Autographen." Eine lateinisch-deutsche Edition von Bernhards Epistolarium findet sich in: Bernhard Werke, II, S. 242-1045 (Brief 1-180), sowie III, S. 42-1055 (Brief 181-551); dort weiterführende Spezialliteratur zu jedem Einzelbrief. -

...

2

Kapitel 5

178

führt.1 Eine solche Praxis der Briefkompilation war auch im frühen Mittelalter bereits Usus. Dies zeigt ein Blick auf die Briefe des Lupus von Ferrière (ca. 805862). Die auf uns gekommene Briefsammlung des Lupus, seit 841 Abt des gleichnamigen Benediktinerklosters im Süden von Paris, umfaßt etwa 130 Schreiben. Dabei handelt es sich um Briefe von und an Lupus, die in den Jahren 836 bis 862 entstanden sind. Die Briefe wurden von Lupus gesammelt und innerhalb bestimmter Gruppen nach einer chronologischen Reihenfolge geordnet. Wie Franz Brunhölzl bemerkt, basierte die Überlieferung dieser Sammlung „durch ein im neunten Jahrhundert in Ferrière selbst hergestelltes Exemplar, das zu einem Briefmusterbuch zurechtgerichtet worden war."2 Die Handschrift Cod. lat. 2858 der Nationalbibliothek Paris ist, so vermute ich, jener Codex, den Brunhölzl, ohne einen konkreten Textzeugen zu benennen, meint. Sie enthält 128 Briefe von bzw. an Lupus in einer Kopie von drei verschiedenen Händen des 9. Jahrhunderts. Daß diese Sammlung bewußt auf Vollständigkeit hin angelegt war, beweist die Tatsache, daß bislang nur fünf weitere Lupus-Briefe außerhalb des Pariser Codex 2858 aufgetaucht sind. Das Besondere an den redaktionell bearbeiteten Briefsammlungen dieser Art besteht darin, daß sie, sofern sie Briefe in deutscher Sprache enthalten, ausschließlich von Männern stammen. Als weitere Beispiele für diesen Befund seien genannt: die Briefcorpora des Heinrich von Nördlingen (um 1310 vor 1387), Heinrich Seuse (um 1295-1366), Johann Nider (1380-1438) sowie des auch unter dem Namen Gottesfreund aus dem Oberland bekannt gewordenen Merswin Rulman (1307-1382)3. Wie Christine Wand-Wittkowski hervorhebt, gibt es „Sammlungen von Frauenbriefen (wie diejenige der lateinische Briefe Hildein der gards von Bingen oder der niederländischen Briefe Hadewijchs -

...

deutschsprachigen religiösen

Literatur [des 12. Jahrhunderts ; Ergänzung] nicht."4 Dieser Befund, der das Fehlen einer autornahen deutschsprachigen Überlieferung von Hildegards Epistolariums erklärt, gilt auch für andere Volkssprachen. Der erste greifbare Brief in französischer Sprache beispielsweise wird von Alfred Lucien Foulet in das Jahr 1238 datiert.5 Ob der lateinische Briefwechsel zwischen Abaelard (1079-1142) und Heloise (1100-1164), der als Mischform zwischen einem weiblichen und einem männlichen Partner sowie zwischen monastischer und erotischer Literatur erscheint, authentisch ist oder nicht, wird derzeit noch kontrovers diskutiert. Er stellt jedenfalls eine Sonderform der Gattung dar. Andere lateinische Korrespondenzen zwischen geistli1

Constable 1988, S. 29: „Most of Bernhard's letters were wirtten by his secretaries He was unable to see all his letters even after they were written ..." Vgl. zu diesem Problembereich grundsätzlich: Constable 1976. Brunhölzl 1975, S. 479. Vgl. hierzu auch Severus 1940, S. 1-7. Zu Merswin Rulman vgl. Steer 1987. Wand-Wittkowski 2000, S. 179. Foulet 1924, S. 5. Foulet bringt alle elf bekannten, vor 1260 in französischer Sprache ...

2 3 4 5

entstandenen Briefe.

Das

Epistolarium

179

chen Paaren weisen eine stärker spirituelle Dimension auf. Genannt seien die Briefwechsel zwischen Bonifatius und Lioba (8. Jh.), Petrus von Dacia und Christine von Stommeln (um 1270/80) oder Jordan von Sachsen und Diana von Andalo (1223/36). Für alle genannten Beispiele tritt die Frage nach ihrer Authentizität, nach Echt und Falsch, in den Blick. Diese Frage muß, so Giles Constable, vor dem weiteren Hintergrund des Problems der apokryphen und pseudepigraphischen Literatur des Mittelalters betrachtet werden. Mit Bezug auf die Sammlung der Briefe Hildegards gilt die Feststellung Constables, im Mittelalter könne man nie sagen, daß alles echt sei.1 Dies bedeutet, ins Positive gewendet: Es war normal, daß fingiert und stilisiert wurde. Nur am Rande kann in diesem Zusammenhang auf zwei Extremformen fingierter Briefsendungen hingewiesen werden, die ungeachtet ihrer völligen Absurdität eine höchst intensive Wirkungsgeschichte entfalten konnten: auf den aus den Wolken herabgefallenen Brief Christi über die Einhaltung des Sonntagsgebots, ein Brief, der vom 6. bis zum 16. Jahrhundert überliefert wurde, sowie auf verschiedene Briefe des Teufels, die in antipäpstlichen Kreisen des 14. Jahrhunderts zirkulierten.2 Ob diese Briefe echt waren oder nicht, stand bei ihren Empfängern nicht im Vordergrund. Wichtiger war die Tatsache, daß sie wirkungsträchtige Inhalte besaßen, eine Aussage, die tendenziell für alle Briefe oder Briefsammlungen des Mittelalters gilt. Ich bin der Meinung, daß die viel zu wenig beachtete Tatsache der Normalität von Fälschung im Mittelalter mit dazu beitragen kann, die ideologisch belastete Diskussion um den textkritischen Stellenwert der Briefsammlung des Riesencodex zu versachlichen. Außerdem ist Constables Aussage zu bekräftigen, daß das 11. und 12. Jahrhundert die goldene Epoche der mittelalterlichen Epistolographie und dies bedeutet hier: der bewußten Ausgestaltung von unfertigen Briefvorlagen zu zitierfähigen Brieftraktaten bildete. Insofern stellt das Epistolarium Hildegards ein durchaus zeittypisches Phänomen dar. Es ist sowohl im Hinblick auf seine inhaltlichen Manipulationen als auch auf seine redaktionellen Bearbeitungen nichts Außergewöhnliches. Um ein Desiderat zu benennen, sei darauf hingewiesen, daß die bisherigen Forschungen zum Epistolarium Hildegards gattungs- und stilgeschichtliche Untersuchungen weitgehend vermissen lassen.3 Es liegen kaum Studien vor zur Einordnung von Hildegards Briefen in die monastische Briefliteratur des Mittelalters, ebenso wie solche zu den stilistischen, rhetorischen und sprachlichen Eigenheiten dieser Briefe. Gerade im Hinblick auf den adressatenspezifischen Charakter, den funktionalen Sitz im Leben und den überlieferungsgeschichtlichen Weg vieler dieser Schrei-

-

1 2

Constable 1988. Zum Brief Christi, der zuerst im Spanien des 6. Jahrhunderts auftauchte und später überall in der christlichen Welt tradiert wurde, vgl. Delehaye 1899. Priebsch 1936. Brunel 1950. Delaruelle 1970. Zu den Teufelsbriefen vgl. Wattenbach 1892. Feng 1982. Genannt seien folgende Studien: Klaes 1998. Van Engen 2000. -

-

3

-

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-

Kapitel 5

180

ben könnten solche Untersuchungen als Forschungsgegenstand der Epistolographie neue Einsichten zur Bewertung dieser Texte zutage fördern. Zu wünschen ist demnach eine Einordnung der Briefe Hildegards in die gattungstypologische Entwicklung der mittelalterlichen Briefstil- und Predigtlehre (Ars dictaminis; artes praedicandi). Nicht umsonst hat Franz-Josef Schmale darauf hingewiesen, daß mit dem Aufkommen der Ars dictaminis (Ars dictandi) und ihren Sammlungen von oft interpolierten oder gefälschten Briefen seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts der Brief „zu einem fast beliebig verwendbaren literarischen Genus"1 avancierte. Ganz folgerichtig wurde er durch diese Entwicklung, so Schmale, zu einem Mittel, komplexe tatsächlich geschehene oder bloß fingierte Sachverhalte darzustellen und auf diese Weise den jeweiligen Inhalten eine scheinbare Authentizität zu verleihen. Berücksichtigt man den rhetorisch-stilistischen und den funktionalen Charakter von Hildegards Briefen, so erscheint die Vermutung, diese Briefe hätten sich in der Regel nur an einen einzigen Empfänger gerichtet, in einem völlig anderen Licht. Dies wird nicht nur durch den sermonartigen, lehrhaft-traktatmäßigen Stil vieler dieser Schreiben dementiert. Hinzu kommt die Tatsache, daß die erwähnten Umadressierungen bereits zu Lebzeiten Hildegards vorgenommen wurden. Offensichtlich gehörte diese Praxis zu den ganz selbstverständlich geübten Umgangsformen mit Hildegards Briefen sowie mit den Briefen anderer mittelalterlicher Autorinnen und Autoren. Damit ist angedeutet, daß es sich bei Hildegards Briefen häufig eben nicht um private Mitteilungen an einen exklusiven, individuell bestimmten Adressaten handelte. Vielmehr erheben diese Briefe, entweder bereits im Akt ihrer Entstehung oder aber zum Zeitpunkt ihrer redaktionellen Bearbeitung, Anspruch auf eine gewisse Allgemeingültigkeit. Eine Allgemeingültigkeit, die über den individuellen Anlaß ihres Zustandekommens und die Ausrichtung auf einen singulären Empfänger weit hinausreicht. Hildegards Brief an den Klerus von Köln bietet hierfür ein schlagendes Beispiel. Nimmt man die Hinweise aus manchen Anfrageschreiben ernst, so muß zudem davon ausgegangen werden, daß verschiedene Briefe (etwa das Schreiben an den Klerus von Trier [Ep. 223r]) zunächst als Predigten gehalten wurden. Ihre Gestaltung in Briefform ist demnach bereits ein Akt der rhetorisch-literarischen Überarbeitung bzw. Stilisierung. Auch hierfür liefert der Brief an den Klerus von Köln ein deutliches Beispiel. Dieser Brief hat zwischen seiner frühesten Textstufe, wie sie in W (= Wien, ONB, Cod. theol. 881) überliefert ist, und seiner Fassung im Riesencodex eine ganz erhebliche Bearbeitung erfahren. Diese Bearbeitung zeigt den Weg eines allgemein gehaltenen Predigtkonzepts zum differenziert ausgestalteten Brief. Wichtig für die Überlieferung des Epistolariums ist dieser Hinweis insofern, als er deutlich macht, daß die Briefe in weiten Teilen den Charakter von ausgefeilten „Werken" (opuscula) angenommen haben, bei denen die akzidentiellen Begleitumstände ihrer Entstehung stark in den Hintergrund traten. Der Prozeß der Überlieferung dieser Briefe durch die Anfertigung von -

-

1

Schmale 1983,

Sp. 654.

181 Epistolarium stilisierten bzw. erweiterten Abschriften (und später auch Drucken) bedeutete

Das

demnach eine gezielte Popularisierung des Epistolariums. Diese wiederum lief darauf hinaus, die Briefe den eigentlichen „Schriften" Hildegards, d. h. den Visionswerken, adäquat an die Seite zu stellen. Die Uberlieferungsgeschichte des Epistolariums hat dabei Intentionen weitergeführt, die von der Autorin selbst grundgelegt waren. Schließlich sei, um die Bedeutung des Epistolariums im Werkekontext Hildegards richtig einzuschätzen, an eine wichtige Aussage John Van Engens erinnert. Demnach war es gerade das Epistolarium, das Hildegards Stellung als öffentliche Person konstituierte.1 Wenn nun der Riesencodex als Ausgabe letzter Hand konzipiert wurde, dann verwundert es nicht, wenn seine Briefsammlung ein höheres Maß an Stilisierung aufweist als die älteren Briefsammlungen. Dies ist gewissermaßen die logische Konsequenz aus dem Wirkungsanspruch des Riesencodex insgesamt. des Epistolariums im Mittelalter den Neben Visionsschriften besaß für Hildegard und ihre unmittelbare offenbar das Epistolarium eine besondere Bedeutung. Hildegard Umgebung zum Liber vitae meritorum, in dem sie ihre bis dahin weist im Vorwort selbst verfaßten Werke aufzählt, auf die Briefe hin und kategorisiert sie ausdrücklich als Visionsschriften : 5.1

Rezeptionsspuren

...

ac responsa et admonitiones annus fuit, postquam eadem uisio mihi ad explanandum minorum quam maiorum plurimarum personarum,

qui primus

tarn

...

...

ostenderat.2

Damit ist klar, daß Hildegard auch die Briefe als Frucht ihrer visionären Begabung betrachtete. An anderer Stelle im Vorwort zum Liber vitae meritorum heißt es, diese Briefe bezögen auch längere Abhandlungen mit ein („litteras cum quibusdam aliis expositionibus"3). Dabei handelt es sich um thematisch zusammenhängende Texte, die manchen Schreiben als Annexe angefügt wurden. Konkret ist mit dieser kumulativen Wendung die Explanatio Regulae S. Benedicti, die Explanatio Symboli S. Athanasii, die Vita S. Ruperti und die Vita S. Disibodi gemeint. Möglicherweise bezieht sie sich auch auf die Expositiones evangeliorum, die allerdings nicht als Beifügungen zu einem bestimmten Brief zu betrachten sind. Dagegen fallen die Solutiones triginta octo quaestionum in einen anderen ätiologischen Zusammenhang. Sie geben sich von vornherein als theologisches Werk zu erkennen. Ähnliches gilt für die Exkurse, die im Riesencodex dem Brief Ad prelatos Moguntinenses angefügt sind. Sie gehören textgenetisch nicht zu diesem Schreiben. 1 2 3

Van Engen 2000, S. 375. LVM 1995, S. 8. LVM 1995, S. 8.

Kapitel 5

182

Auch Hildegards Biograph Theoderich spielt in der Vita Hildegardis auf die zentrale Stellung der Briefe an. Er erwähnt eine Sammlung der Anfrage- und Antwortbriefe : Patet etiam, quam eleganter epistolis de diversis provinciis ad se directis respontenorem verborum eius ex revelatione divina siderare voluerit. Sunt autem in unum volumen compilate que ad se fuerant destinate.1

dent, si quis

Darüber hinaus wird das führt:

Epistolarium

prolatorum altius conet sue [epistole] et ille,

im Protocollum canonisationis

aufge-

dicit, quod très apostolici eius fama audita ei scripserunt, scilicet Eugenius, Adrianus, Anastasius, quibus et ipsa rescripsit; preterea Maguntinus, Coloniensis, Treverensis, Medeburgensis archiepiscopi, patriarcha Jerosolimitanus, epiDe fama

scopi quamplures et sanctus abbas Bernardus Clarevallis ac alii abbates ac prepositi et ceteri Ecclesiarum prelati ei scripserunt, quibus et rescripsit; que omnia ex libro Epistolarum eius colliguntur.2

Eine andere Sammlung der Briefe (Liber epistolarium), die nicht identisch ist mit jener des Riesencodex, erwähnt schließlich der Eibinger Klosterpropst Edmund Watzelliahn (1731-1768) in seinem Compendium documentorum? Dieser zum Besitz von Kloster Eibingen gehörende Codex ging bei der Säkularisation der Abtei nicht in den Besitz des Hauses Nassau über, sondern gilt seit dieser Zeit als verschollen. Die Rekonstruktion der Uberlieferungsgeschichte von Hildegards Briefen stellt die Forschung immer noch vor eines ihrer größten Probleme. Der Hauptgrund für diesen Sachverhalt liegt in der Tatsache, daß das Epistolarium bereits sehr früh von gravierenden Stilisierungen und Erweiterungen betroffen war, die teilweise bis in den Bereich der bewußten Manipulation hineinreichten. Sie betreffen u. a. die Datierung einzelner Schreiben, die Herstellung fiktiver Anfragebriefe zur Schaffung kompletter Briefpaare sowie die Hierarchisierung und Umadressierung von Briefen insbesondere an höhergestellte Empfängerpersönlichkeiten. Im Hinblick auf die Papstbriefe (Briefe Eugens III., Anastasius' IV., Hadrians IV. und Alexanders III., gilt sogar der noch weiter reichende Befund, daß es sich bei drei der insgesamt vier dieser Briefe um Fälschungen handelt.4 Es besteht keinerlei Zweifel darüber, daß diese Stilisierungen oder Fälschungen in 1

9-13. Zit. nach: Vita Hildegardis (dt.) 1998, S. 118. Vgl. Ganzen Klaes 1998. Canonizatio Sanctae Hildegardis in Vita Hildegardis (dt.) 1998, Cap. 14, 1, S. 266. Watzelhahn. Diesen Tatbestand hat Paul Winterfeld bereits im Jahre 1902 konstatiert: Winterfeld 1927. Eine entsprechende Entgegnung Franz Haugs wurde von der Forschung als nicht durchschlagend abgewiesen: Haug 1934. Schrader/Führkötter 1956, S. 117-119 und 122f., konnten später ermitteln, daß einem dieser Briefe, dem Schreiben Hadrians IV., ein echter Brief Papst Eugens III. zugrundeliegt.

Vita

zum

2 3 4

Hildegardis 1993, II 1,

Das

Epistolarium

183

Hildegards Lebzeiten zurückreichen. Möglicherweise wurden sie sogar von Hildegard selbst initiiert oder sie geschahen mit ihrem Wissen und ihrer Billigung. Allerdings ist dies, wie ich oben angedeutet habe, ein allgemein zeit- und gattungstypisches Phänomen, das man deskriptiv darstellen und nicht moralisch bewerten sollte. Der Zweck dieser Eingriffe diente vermutlich dem Ziel, das Epistolarium zu einem in sich geschlossenen, den Visionswerken gleichberechtigt an die Seite zu stellenden theologischen Kompendium auszugestalten. Hierzu schien es mitunter notwendig, den Rang der Briefpartner zu erhöhen und Hildegard in die Position einer allgemein akzeptierten theologischen Autorität zu stellen, die ihren unterschiedlichen Korrespondenzpartnern in der Rolle der berufenen magistra gegenübertrat. Lieven Van Acker hat die Tragweite dieser Problematik in zwei materialreichen Publikationen ausführlich zur Sprache gebracht und damit die Basis für jede weitere Beschäftigung mit Hildegards Epistolarium geschaffen.1 Allerdings ist seine eigene Entscheidung, dem Riesencodex als Textzeugen (f. 328r-434r) keine Vorrangstellung vor den übrigen, älteren Textzeugen einzuräumen, nicht ohne Widerspruch geblieben. Insbesondere Konrad Bund hat diese Entscheidung nachhaltig in Frage gestellt und dafür plädiert, dem Riesencodex im Sinne einer Ausgabe letzter Hand einen höheren Stellenwert beizumessen als den früher entstandenen Textzeugen.2 Durch eine solche Entscheidung, so die Argumentation Bunds, könne der literarische Charakter des Epistolariums besser erfaßt werden. Gegen die Bedenken Bunds wiederum hat Monika Klaes unter Hinweis auf ältere skeptisch akzentuierte Beurteilungen des Riesencodex empfohlen, am editorischen Grundprinzip der Ausgabe Van Ackers festzuhalten.3 Obwohl die kritische Ausgabe der Briefe Hildegards mittlerweile zum Abschluß gelangt ist, werden weitere Meinungsverschiedenheiten über diese Frage zu erwarten sein. Immerhin aber konnte Lieven Van Acker in den Jahren 1991 bzw. 1993 die beiden ersten Bände der Briefausgabe edieren (Briefe 1-250). -

-

1 2

Van Acker 1988/1989. Bund 1993. Dazu die Rezension Bunds von Band 2 des Epistolariums, in: Mittellateinisches Jahrbuch 31 (1996), S. 167f. Zum gesamten Zusammenhang vgl. auch Bund 1988. Klaes 1998. Was die älteren Einschätzungen des Epistolariums anbetrifft, so hat Bernhard Schmeidler im Jahre 1941 die Briefsammlung des Riesencodex mit früher -

3

entstandenen Briefsammlungen verglichen. Dabei gelangte er zu dem Ergebnis, die Anlage des Riesencodex sei gefälscht. Insbesondere die Anfragebriefe hielt Schmeidler für nicht authentisch. Die Antworten hingegen könnten, so Schmeidler, aus echtem Material zurechtgemacht sein. Vgl. Schmeidler 1941. Etwas positiver formulierten Schrader/Führkötter 1956, S. 175, die Ergebnisse ihrer Forschungen zur Briefsammlung des Riesencodex: Diese sei, so betonten die beiden Eibinger Schwestern, ein bewußt komponiertes Briefbuch, das Hildegards Stellung als Mahnerin, Künderin und Theologin darstellen solle. Die Sammlung sei erst nach Hildegards Tod und damit ohne ihr Wissen kompiliert worden. Der Redaktor habe aber auf echtes Briefmaterial der Antwortschreiben zurückgegriffen.

Kapitel 5

184

Monika Klaes hat den abschließenden dritten Band beigesteuert. Insgesamt enthält die Ausgabe, die in einer sämtliche Briefe berücksichtigenden Ubersetzung ins Deutsche bereits vorliegt, 390 Briefe. Im Rahmen unserer überlieferungsgeschichtlich akzentuierten Fragestellung kann auf die sachliche Auseinandersetzung um eine wie immer geartete Prävalenz der jüngeren vor der älteren Tradition (bzw. umgekehrt) nicht im Detail eingegangen werden. Am sinnvollsten schiene es mir, den diversen Einzeleditionen von Hildegards Schriften ein komplettes Faksimile des Riesencodex an die Seite zu stellen. Die Forschung hätte dadurch ein Regulativ an der Hand, das den in der Regel auf den historisch ältesten Textzeugen basierenden kritischen Editionen die jeweilige Textstufe einer jüngeren, gewissermaßen ultimativ legitimierten Ausgabe, beifügen würde. Wenden wir uns im folgenden den wichtigsten Textzeugen des Epistolariums zu.

handschriftliche Uberlieferung des Epistolariums Die Briefe Hildegards liegen erwartungsgemäß nicht in identischen, einfach nach vollständig und unvollständig (bzw. fragmentarisch) zu klassifizierenden Sammlungen vor. Als Einteilungsprinzip kommt dieses Kriterium daher hier nicht in Frage. Ich möchte mich im folgenden damit begnügen, die wichtigsten Textzeugen des 12. bis 15. Jahrhunderts inventarisierend zu benennen und knappe Beobachtungen zur Uberlieferungsgeschichte des Epistolariums anzufügen. Die oben erwähnten Annexe, d. h. die Brieftraktate mit der Explanatio Regulae S. Benedicti, der Explanatio Symboli S. Athanasii, der Vita S. Disibodi und der Vita S. Ruperti, werden in eigenen Abschnitten behandelt. Ihr Briefcharakter ist vollständig aufgegeben worden zugunsten des jeweiligen inhaltlichen Aspekts, so daß diese Texte nicht mehr als Briefe erkennbar sind. Auch die Sonderüberlieferung einiger Einzelbriefe (De Catharis, Ad Treverenses, Ad monacbos griseos) bleibt an dieser Stelle ausgeblendet. Sie wird weiter unten exemplarisch am Beispiel von Hildegards Brief an den Klerus von Köln the5.2 Die

matisiert (Ep. 15r).' Versucht man, die

wichtigsten Sammlungen von Hildegards Briefen zu inventarisieren, grob entstehungsgeschichtlicher Anordnung, folgende Textzeugen des 12. bis 15. Jahrhunderts zu nennen: 1.) Z Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. theol. et phil. 4° 253 (Zwiefaltener Briefhandschrift). 3. Viertel des 12. Jahrhunderts (11541170), Rupertsberg/Zwiefalten (enthält 135 Briefe, darunter drei Schreiben an Hildegard und sechs Briefe Hildegards in doppelter Ausfertigung). Auffällig ist die hohe Anzahl (24) der beteiligten Kopisten.2 so

sind,

in

=

1 2

ad Pastores Ecclesiae, in Epistolarium I, Ep. XVr, S. 34-47. Teil des Briefcorpus, das entweder dem Rupertsberger oder dem Zwiefaltener Skriptorium angehört, unterscheiden Schrader/Führkötter 1956 insgesamt 15 Kopisten, im zweiten Teil weisen sie sieben Hände Kloster Rupertsberg und eine Kloster Zwiefalten zu (Schrader/Führkötter 1956, S. 77).

Hildegardis Im

ersten

185 Epistolarium 2. ) W Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 881. 3. Viertel des 12. Jahrhunderts (vor 1164-1170), Rupertsberg (enthält 174 Briefe Hildegards, darunter 79 gemeinsame mit Z; der Codex ist jedoch nicht vollständig erhalten). Auch hier springt die hohe Anzahl beteiligter Hände (16) ins Auge. 3. ) M (Mu [erschlossene Vorstufe]) Berlin, StBPrK, Ms theol. lat. f. 699. 12. des 2. Hälfte Jahrhunderts (1160/70), vermutlich Zisterzienserabtei Node Maizières tre Dame (Châlons-sur-Saône); (enthält vor allem Schriften von Bernhards Clairvaux, daneben insgesamt 44 Briefe Hildegards). 4. ) Wr (Wru [erschlossene Vorstufe]) Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 963 [theol. 348], f. 42vb-151ra. Mitte des 13. Jahrhunderts (Rommersdorf ?). Basiert auf einer älteren Vorlage, die vermutlich Volmar vor 1173 auf dem Rupertsberg zusammengestellt hatte (Wru). Die erschlos-

Das

=

=

=

Vorstufe Wru war nach Van Acker Grundlage der durch Wibert von Gembloux auf dem Rupertsberg redigierten Briefsammlung des Riesencodex. Die Briefkompilation der Handschrift StBPrK Berlin, Ms lat. qu. 835 sene

(1490; f. 24vb-29vb; Hildegardis ad congregationem sororum suarum) steht, ebenso wie der auf f. 29vb-31ra folgende (fragm.) Brief Hildegards an

Helenger von Disibodenberg, in Abhängigkeit Sammlung von Briefen Hildegards.

Abt

zu

Umfassende

Wr.

-

Trier, Stadtbibliothek, Hs 722/277 4°. Kartause Beatusberg bei Koblenz, 1487/89. Diese Sammlung stellt eine genaue Abschrift des Wiener Codex 963 (theol. 348) [= Wr] dar. Der Codex enthält auf f. lr-120r eine

5. ) Tr

=

umfassende 6. ) R

=

Sammlung von Briefen Hildegards.

Wiesbaden,

Hess.

Landesbibliothek,

Hs 2

(Riesencodex).

Vor 1170/79

und nach 1181, Rupertsberg. Umfassende Sammlung von Briefen Hildegards auf f. 328r-434r (von einer Hand). 7. ) Lrl London, British Library, Cod. Add. 15102. Abschrift aus dem Riesencodex, die im Jahre 1487 im Auftrage des Johannes Trithemius auf dem Rupertsberg angefertigt wurde. Umfassende Sammlung von Briefen Hildegards auf f. 2r-145v. 8. ) Lr2 London, British Library, Cod. Harb 1725. 15. Jahrhundert, Abschrift aus dem Riesencodex. Enthält auf f. 6r-286v insgesamt 285 Frage- und Ant=

=

wortbriefe.

9. )

10.)

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod.

Jahrhunderts verschollen). Anordnung wie das Epistolarium

13. Jahrhundert

19.

des

721

(gleicher

(seit Anfang des Inhalt und ähnliche

Riesencodex).

B Berlin, StBPrK, Ms lat. qu. 674. 2 Texte: I: um 1220/30, II (Gebeno): 14. Jahrhundert, Trier, Benediktinerkloster St. Maria in Pfalzel bei Trier/ Rupertsberg ? Enthält neben der Vita Hildegardis, dem Pentachronon Gebenos von Eberbach und weiteren Texten auf f. 25ra-54ra insgesamt 56 =

Hildegards ohne Angaben der Adressaten. Die (einzigen) Hand des frühen 13. Jahrhunderts.

Briefe einer

Briefe

stammen von

Kapitel 5

186

11. ) Br

Brüssel, Cod.

=

Briefe

12. )

aus

der

5527-5534

degard [= Ep. 103r,

Bg

=

Brüssel, Cod.

einen Brief

aus

der

(1. Viertel

13. Jahrhundert,

zwischen Wibert

Gembloux).

Drei

von

Gembloux und Hil-

106r und 109r] 5387-5396 (12./13. Jahrhundert,

Gembloux). Enthält

Korrespondenz

Korrespondenz

zwischen Wibert

von

Gembloux und

Hildegard [= Ep. 109r].

13. ) F Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Cod. S. Crucis, Plut. 22, dex. 4 (13. Jahrhundert). Enthält zwei Briefe [= Ep. 40r und 338]. 14. ) K = Kynzvart, Schloßbibliothek (Tschechien), Cod. 40. (2. Hälfte 12. oder 1. Hälfte 13. Jahrhundert, Zwiefalten / Ochsenhausen?). Enthält auf f. 164v einen nur hier überlieferten Brief Hildegards „ad inclusum F. de huivel=

[= Ep. 249]. München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 22253 (12. Jahrhundert, Prämonstratenserstift Windberg). Teilsammlung von Briefen Hildegards [= Ep. 169r, 202, 203, 86 und 85r/B]. 16. ) P London, British Library, Cod. Add. 17292 (12. Jahrhundert, Prämonstratenserabtei Park bei Löwen). Enthält vier Briefe Hildegards an Abt Philipp von Park [= Ep. 179r, 180, 179 und 181]. 17. ) Pe Paris, Bibliothèque Nationale, Nouv. acq. lat. 760 (12./13. Jahrhundert, Zisterzienserkloster Himmerod). Enthält drei Briefe Hildegards [= Ep. 149r, 292r und 161 (nach B) bzw. 198 (nach Pe)]. 18. ) Te Trier, Stadtbibliothek, Hs 771/1350 8° (15. Jahrhundert, Reguliertes tum"

15. ) Ma

=

=

=

=

zwei Briefe Hildegards, die die Zisterzienserinnenäbtissin Elisabeth von St. Thomas möglicherweise an der Kyll gerichtet sind [= Ep. 149r und 198]. 19. ) Ta Trier, Stadtbibliothek, Hs 2397/2343 8° (Ende 12. Jahrhundert, TrierSt. Eucharius). Enthält auf f. 160v-162v Hildegards Brief gegen die Katha-

Chorherrenstift

Eberhardsklausen). Enthält

an

=

rer

[= Ep. 169r]. Trier, Stadtbibliothek,

Hs 662/835 8° (15. Jahrhundert, Trier-St. Maria Martyres). Enthält einen Anfrage- und einen Antwortbrief Hildegards von/an den Bamberger Bischof Eberhard [= Ep. 31 und 31rJ.

20. ) Tu

ad

=

21. ) Wa Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1016 (13. und 2. Hälfte 12.Jahrhundert, Rommersdorf?). Teilsammlung von Hildegards Briefen [= Ep. 374, 170r, 41r, 338, 1 und 192]. 22. ) Wk Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. lat. 624 [Hist. =

=

eccl. 158] (12. Jahrhundert, Benediktinerabtei

Echternach). Enthält den im Briefwechsel Hildegards mit nachträglich vorgebundenen dem Domkapitel von Mainz bezüglich der Katharer [= Ep. 169 und 169r]. 23. ) Tro Troyes, Bibliothèque municipale, Cod. 683 (12. Jahrhundert, Clairvaux). Enthält den LDO in einer Rupertsberger Abschrift, dazu auf f. 117rv (teilweise fragmentarisch) drei Briefe Hildegards an Papst Anastasius, Bischof Daniel von Prag und Bischof Gunther von Speyer [= Ep. 8, 38r und 41 r]. 17. Jahrhundert =

187 Epistolarium 24.) Gb München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 324 (13. Jahrhundert, Zisterzienserkloster Kaisheim). Enthält neben dem Pentachronon Gebenos von Eberbach und anderen Texten einige Hildegard-Briefe [= Ep. 77r, 15r,

Das

=

App. I, 76-15r,

2 22-28, 8 55-75, 234 und HOr].

app. comp. 261, 223r, 311r, 149r, 26r, 77r 125-133, 193,

91r, 169r, 84r, 223r, 276, 276r, 1r, 1, 82, 81, 16r, 296r,

Wertet man diese Liste von Sammlungen mit Briefen Hildegards aus, so verdienen folgende Punkte hervorgehoben zu werden: 1. ) Die weitaus meisten Briefsammlungen, im ganzen zehn, stammen aus dem 12. Jahrhundert, und zwar aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts (Nr. 1, 2, 3, 6, 14, 15, 16, 19, 22, 23). Sie können vermutlich den Lebzeiten Hildegards, d. h. der Zeit vor 1179, zugerechnet werden. Briefe aus der Zeit vor der Entstehung des Scivias die es doch, zumindest in amtlicher Funktion, ebenfalls Drei weitere Sammgegeben haben muß haben sich offenbar nicht erhalten. 13. 12. zum Wende sind der an vom Jahrhundert, fünf 12, 17, 21) lungen (Nr. im eine 13./14. im (Nr. 10) Jahrhundert 13, 9, 14) D.Jahrhundert, (Nr. 4, 11, und wiederum fünf (Nr. 5, 7, 8, 18, 20) im D.Jahrhundert entstanden. Der Tiefpunkt der Überlieferung ist mit dem 14. Jahrhundert erreicht. Aus dieser Zeit ist keine einzige Sammlung vorhanden. Das D.Jahrhundert dokumentiert mit insgesamt fünf Sammlungen ein neuerwachtes Interesse an Hildegard. Die Vielzahl der an Z und W beteiligten Hände deutet auf eine starke Nachfrage nach Hildegard-Briefen sowie auf eine intensive Produktion von Abschriften in Hildegard nahestehenden Klöstern hin. Betrachtet man den Umfang der Textzeugen, d. h. die Anzahl der berücksichumfangreicheren Sammlungen, tigten Briefe, so läßt sich sagen, daß die meistensind nämlich vier, im 12. Jahrhundert entstanden (Nr. 1, 2, 3, 6).1 Für das für das 13./14. Jahrhundert eine lassen zwei sich 4, (Nr. 9), D.Jahrhundert das und keine das für für D.Jahrhundert drei solcher H.Jahrhundert (Nr. 10), umfassenden Sammlungen (Nr. 5, 7, 8) ermitteln. Es kommt hinzu, daß auch die Gesamtmenge der kleineren Sammlungen (sechs Textzeugen) im 12. Jahrhundert am größten ist (Nr. 14, 15, 16, 19, 22, 23). In diesem Bereich lassen sich für das 12./D. Jahrhundert drei (Nr. 11, 17, 21), für das D.Jahrhundert ebenfalls drei (Nr. 12, 13, 24), für das H.Jahrhundert keiner und für das D.Jahrhundert zwei Textzeugen (Nr. 18, 20) benennen. Auch vom Umfang der erhaltenen Briefsammlungen her (Anzahl der aufgenommenen Schreiben) stellt also das 12. Jahrhundert den eindeutigen Höhepunkt in der Überlieferung dar. 2. ) Nimmt man die Textzeugen des Epistolariums aus einer entstehungs- bzw. Perspektive in den Blick, so gilt folgendes : Die meiprovenienzgeschichtlichen sten Sammlungen, und zwar insgesamt sieben (Nr. 1, 2, 6, 7, 8, 9[?], 23), sind auf dem Rupertsberg entstanden. Es folgen aus dem Kreise der Benediktinerabteien -

-

1

Der ten.

Begriff umfassend bezeichnet hier Sammlungen, die mehr als

10

Briefe beinhal-

Kapitel 5

188

die Klöster Gembloux mit zwei (Nr. 11, 12), Zwiefalten mit zwei fraglichen Zuschreibungen (Nr. 12 [?], 14 [?]), Echternach mit einer (Nr. 22), Pfalzel bei Trier, Abtei St. Maria, mit einer, wohl nur im Sinne einer Zwischenprovenienz zu fassenden Nennung (Nr. 10), Trier-St. Eucharius mit einer (Nr. 19) und Trier-St. Maria ad Martyres ebenfalls mit einer Sammlung (Nr. 20). Damit sind insgesamt 14 Textzeugen der Briefe in benediktinischen Klöstern entstanden bzw. wurden bald nach ihrer Entstehung dort aufbewahrt. In zisterziensischen Klöstern sind vier Briefsammlungen hergestellt worden bzw. wanderten kurz nach ihrer Herstellung dorthin. Es sind dies die Klöster: Châlons-sur-Saône mit einer (Nr. 3), Kaisheim mit einer (Nr. 24), Himmerod mit einer (Nr. 17) sowie Clairvaux mit ebenfalls einer Sammlung (Nr. 23 [hier: vermutlich Entstehung auf dem Rupertsberg]). Aus Prämonstratenserabteien stammen im ganzen vier Textzeugen, und zwar eine aus der Abtei Windberg (Nr. 15), eine aus der Abtei Park bei Löwen und zwei aus der Abtei Rommersdorf bei Bonn (Nr. 4, 21). Eine Handschrift gehörte den Kartäusern (Kartause Beatusberg/Koblenz, Nr. 5), eine den Regulierten Chorherren (Eberhardsklausen, Nr. 18), eine weitere (Nr. 13) entzieht sich einer eindeutigen Zuweisung. Damit ist klar, daß die hier aufgeführten Briefsammlungen aus dem 12. bis 15. Jahrhundert ausschließlich in monastischen Kreisen kopiert und benutzt wurden. Neben den Benediktinerklöstern, in denen das Epistolarium eine besonders intensive Wirkung entfaltete, läßt sich eine stärkere Wirkungsgeschichte bei den Zisterziensern und bei den Kartäusern nachweisen. Ganz überwiegend waren es Männerklöster, in denen Hildegards Briefe überliefert wurde. Alles in allem ein Befund, der kaum erstaunlich wirkt. Kehren wir noch einmal kurz zur kritischen Edition des Epistolariums zurück. Aufgrund der Tatsache, daß die überlieferten Briefhandschriften keinen untereinander identischen Textbestand aufweisen, konnte keine Einzelhandschrift zum alleinigen Leitfaden der kritischen Edition erhoben werden. Die wichtigsten Textzeugen sind: Z Zwiefaltener Briefhandschrift (Stuttgart, Württemberg. LB, Cod. theol. et =

phil.



253);

W Codex 881 der ÖNB Wien; Ms M theol. lat. f. 699 der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz Berlin; Wr Codex 963 [theol. 348] der ÖNB Wien; R Riesencodex (Hess. LB Wiesbaden, Hs 2). Ms lat. qu. 74 der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz Berlin. B Für alle genannten Codices gilt, daß sie direkt oder indirekt (über =

= = =

=

Vorlagen)

auf das Skriptorium von Kloster Rupertsberg zurückgehen und aus dem 12. bzw. 13. Jahrhundert stammen. Interessanterweise hat die kritische Edition Van Ackers/Klaes' das im Riesencodex erkennbare, auf Stilisierung hin angelegte Ordnungssystem der Rupertsberger Schreibstube wieder aufgegriffen. Die Tatsache, daß im Mittelalter Textsammlungen geordnet und stilisiert wurden, ist im übrigen keine Seltenheit. Dieser Fall trifft, um nur ein bedeutendes Beispiel aus

Das

Epistolarium

189

dem beginnenden 14. Jahrhundert zu nennen, auch auf die Heidelberger Liederhandschrift C (Heidelberg, UB, Hs cpg 848) zu. Sie ordnet die enthaltenen Texte nach zwei zum Teil interferierenden Hauptprinzipien, einem ständischen und einem gattungshierarchischen.1 Auch in der kritischen Edition von Hildegards Epistolarium sind die Briefe hierarchisch geordnet, auch hier sind jeweils Briefpaare aus Frage- und Antwortbriefen gebildet. Die Entscheidung für eine hierarchische Ordnung der vorhandenen Briefe erklärt sich aus der Unmöglichkeit, den Bestand chronologisch zu strukturieren. Hierfür sind zu viele Schreiben undatiert. Die Bildung von Briefpaaren ist aus sich selbst heraus sinnvoll und erleichtert das Verständnis der Hildegard-Briefe. Die verwendeten Überschriften sind nicht aus den Vorlagen entnommen, sondern stammen vom modernen Editor (Van Acker/Klaes). Aufgrund der in den verschiedenen Textzeugen auftauchenden Divergenzen sowie aufgrund der fehlenden Angaben in den Tituli und den Salutationes konnten die historischen Überschriften nicht einfach aus einer bestimmten Vorlage übernommen werden. Auf das textgenetische Verhältnis der einzelnen Textzeugen untereinander kann hier nicht im Detail eingegangen werden. Van Acker hat dies in seinen beiden vorbereitenden Publikationen zum Epistolarium in wünschenswerter Ausführlichkeit getan.2 Am Beispiel der gut überlieferten Korrespondenz Hildegards mit Tenxwind von Andernach (Ep. 52 und 52r) hat darüber hinaus Alfred Haverkamp in exemplarischer Weise dargelegt, welche inhaltlichen und sprachlichen Änderungen die Korrespondenz von der ursprünglichen Konzeption bis hin zur geglätteten Endfassung im einzelnen Fall durchgemacht hat und welche Bedeutung den Briefen für das Selbstverständnis Hildegards zukommt.3 Lediglich einige grundlegende Informationen seien hier, im Anschluß an die Forschungsergebnisse Van Ackers, angefügt. Was zunächst die Frage nach dem produktiven Anteil der Sekretäre Hildegards am Zustandekommen der großen Briefsammlungen anbetrifft, so ist davon auszugehen, daß Volmar in der spätestens 1173 abgeschlossenen, nicht mehr greifbaren Sammlung Wru, deren Abbild uns in Wr vorliegt, gravierende Eingriffe in den älteren Briefbestand vorgenommen hat. Grammatikalische und stilistische Änderungen konnte er mit ausdrücklicher Billigung Hildegards durchführen. Hinzu kam die gelegentliche Anpassung des Materials an ein panegyrisch gefärbtes Hildegard-Bild sowie der Versuch, in systematischer Weise Anfragebriefe einzuführen. Diese waren zum großen Teil vorher nicht belegt. Ihr plötzliches Auftauchen wirft naturgemäß die Frage nach ihrer Authentizität auf. Im Anschluß an Volmar praktizierte Wibert von Gembloux, Hildegards letzter Sekretär, bis ca. 1179 in der zum Riesencodex gehörenden Brief Sammlung das gleiche Verfahren. Der Bestand der Sammlung blieb sich fast gleich. Ledig1 2 3

Vgl. Kornrumpf 1981, hier Sp. 591-593. Van Acker 1988/1989. Haverkamp 1984.

Kapitel 5

190

lieh einige Schreiben aus der Zeit nach Volmars Tod (1173) fügte Wibert hinzu, und seine sprachlichen Glättungen am Text waren wesentlich ausführlicher als jene Volmars. Im Hinblick auf die Frage, welche Textzeugen die historisch frühesten Stadien der Überlieferung repräsentieren und welche später sind, gilt, wiederum nach Van Acker, folgendes : Die Zwiefaltener Briefhandschrift (Z) gibt die Fassung der Originale, die an die Adressaten versandt wurden, wieder. Auch W und M bzw. deren ältere, auf Volmar zurückgehende erschlossene Vorstufe (Mu) hatten die ursprüngliche Form vorliegen. Gelegentliche Abweichungen in diesen beiden Textzeugen dienen der Nuancierung und Verdeutlichung der Inhalte. Außerdem hat M (Mu) als erste Briefsammlung das Prinzip der chronologischen und hierarchischen Gliederung des Bestandes eingeführt. Die von Van Acker erschlossene Vorstufe Wru von Wr, die ebenfalls auf Volmar als Redaktor zurückgegangen sein soll, war vermutlich bereits von deutlichen historischen und inhaltlichen Stilisierungen gekennzeichnet. Ähnliche Tendenzen weist die Briefsammlung des Riesencodex auf, als deren Endredaktor nach Van Acker Wibert von Gembloux zu gelten hat. Allerdings verfolgte Wibert hier vorrangig das Ziel einer sprachlichen Glättung der Texte. Wie schwierig es ist, die vorgenommenen Veränderungen innerhalb der jeweiligen Textzeugen konkret zu bennenen und in eine genetische Reihenfolge zu bringen, beweist die fast resignativ klingende Bemerkung Van Ackers: „Es scheint uns nicht angebracht, zu versuchen, diese doch immer wieder durch Eigenheiten gekennzeichneten Textzeugen in den schlichten Umriß eines Stemmas einzufangen."1 Festgehalten sei jedenfalls, daß die jüngeren Textzeugen des Epistolariums einen höheren Grad an Stilisierung aufweisen als die älteren. Diese Stilisierungen dienten dem Bemühen, ein bestimmtes, positiv besetztes Hildegard-Bild zu propagieren.2 Auf die Tatsache, daß ein solches Bemühen für die Textgeschichte des Mittelalters normal ist, wurde bereits hingewiesen. Die Erhebungen zum handschriftlichen Textbestand des Epistolariums ergänzend, sei noch ein Wort über das Pentachronon Gebenos von Eberbach angefügt. Wie bekannt, enthält auch das Pentachronon eine Reihe von HildegardBriefen, darunter den Brief an den Klerus von Köln und den Klerus von Trier.3 Die bisherige Annahme, daß der Riesencodex oder eine Abschrift des Riesencodex die Vorlage für Gebenos Kompilation gebildet habe, läßt sich Van Acker 1

Van Acker 1991, S. LXIf.

2

Als stichhaltiger Beleg für diese Ansicht sei auf den Briefwechsel Hildegards mit Bernhard von Clairvaux hingewiesen. Hildegards schlichte Bitte um Rat, wie sie in Z, f. 31v-32v, und M, f. 61r-62r, erscheint, wird in Wr, f. 61va-62ra, und in R, f. 342rab, zu einem historisch versetzten und nicht fundierten Responsum umstilisiert. Auf der anderen Seite wird Bernhards vorsichtig zurückhaltende Antwort in ein ehrenvolles

3

Eine

Komplimentschreiben abgeändert. Einzelaufführung bieten Analecta, S. 483-488,

insbesondere S. 485f.

Das

Epistolarium

191

nicht aufrechterhalten. Ein Vergleich der Textzeugen Gb, R und Wr Van Acker, vielmehr zu dem Ergebnis, daß Gebeno entweder Volmars vor 1173 angefertigte Zusammenstellung von Hildegards Briefen oder aber eine Abschrift hiervon benutzt hat. Damit basiert seine Fassung der Briefe zwar ebenfalls auf der jüngeren Tradition.1 Sie bietet aber gegenüber dem Riesencodex wiederum den älteren Textstatus.

zufolge führt,

so

princeps des Epistolariums (Köln 1566) Die früheste gedruckte Ausgabe von Briefen Hildegards, eine Sammlung von insgesamt 108 Frage- und Antwortschreiben, erschien im Jahre 1566. Sie wurde herausgegeben von dem wie er sich selbst bezeichnet „Presbyter" Justus Blanckwald in Köln und kam im Verlag der Erben des Johann Quentel und des

5.3 Die Editio

-

-

Gerwinus Calenius heraus.2 Hier der genaue Titel der Publikation: Sanctae Hildegardis abbatissae in Monte S. Roberti apud Naam fluuium, prope Bingum, sanctissimae uirginis et prophetissae, Epistolarum Liber: Conti-

Epistolas summorum Pontificum, Imperatorum, Patriarcharum, Archiepiscoporum, Episcoporum, Ducum, Principum, et aliorum plurimorum utriusque secuiaris et Ecclesiastici status Magnatum ad S. Hildegardim, et eiusdem sanctas ad easdem responsiones : Item eiusdem S. Hildegardis alia quaedam, quae sequens pagella indicabit, Ad confirmandam et stabiliendam Catholicam nostram fidem et religionem Christianam, moresque in Ecclesia instruenColoniae dos et emendandos, apprime utilia: Nunc primum in lucem édita Calenium. Anno Iobannis Geruuinum Domini et Haeredes Quentel apud M.D.LXVI. Cum gratia & privilegio Imperatoriae Malest, ad Decennium [4° 4 nens

uarias

...

Bl.

+

315

(recte: 325) S.J.

Die beiden Drucker der Editio princeps von Hildegards Epistolarium können im Kölner Buchdruck gut belegt werden. Johann Quentel druckte von 1546 bis 1551, seine Erben bis 1557. Allerdings lassen sich unter der Angabe „haeredes" firmirende Quentel-Drucke noch bis ins Jahr 1590 hinein nachweisen. Johann Quentel war der Sohn und Geschäftsnachfolger Peter Quentels. Dieser hatte die berühmte, 1478 von Heinrich Quentel begründete Offizin Zum Palast am Kölner Domhof im Jahre 1520 übernommen. Von 1501, dem Todesjahr Heinrich Quentels, bis 1520, war die Werkstatt von einer Erbengemeinschaft betrieben worden. Die Quentelsche Offizin druckte vor allem theologische Literatur. Sie gehörte auf diesem Gebiet zu den bedeutendsten Druckereien des rheinischen Raumes. 1

Daß Gebeno die jüngere Tradition kannte und daraus schöpfte, geht schon daraus hervor, daß manche der von ihm überlieferten Briefe, wie das Schreiben an Abt Helenger von Disibodenberg, an den Klerus von Trier oder an König Konrad III. in der alten Tradition gar nicht vorhanden sind. Darüber hinaus bringt Gebeno die Korrespondenz zwischen Hildegard und Bernhard von Clairvaux nach der gefälsch-

2

Zu beiden

ten

Fassung.

vgl. Benzing 1982, S. 241 (Quentel[fJ) und S. 244 (Calenius).

Kapitel 5

192

Gerwin Calenius (1525-1600) druckte von 1557 bis 1597.1 Er hatte 1543 das Baccalauréat und 1545 das Lizentiat der Rechte an der Universität Köln erworben; darüber hinaus bekleidete er in Köln die Stellung eines Senators. 1577 heiratete Calenius die Witwe Johann Quentels, Sophia, eine Tochter des Kölner Druckers Arnold Birckmann d. A. Durch diese Heirat avancierte er zum Geschäftsführer des Verlages und der Offizin Quentel, die im Hause Hirtzhorn am Domhof untergebracht war. Calenius war der kapitalkräftigste Drucker Kölns. Seit 1560 war er Mitglied der Ritterzunft Windeck, von 1579 bis 1600 gehörte er dem Rat der Stadt an. Von den vielen Ämtern, die Calenius in Köln innehatte, war das des Stimmeisters das wichtigste. Als solcher hatte er von 1579 bis zu seinem Tode die Kölner Buchproduktion hinsichtlich der Zensurbestimmungen für einen Verleger ein sehr bedeutendes Amt. Neben mehreren zu überwachen Stadthäusern besaß Calenius in Köln drei Läden am Domhof, von denen zwei an Buchdrucker vermietet waren. Seine eigene Druckerei war mit nur drei Pressen und maximal zehn bis zwölf Druckgesellen nicht sehr leistungsstark.2 Hinzu kamen drei Diener, die auch als Vertreter des Patrons auftreten konnten, sowie die beiden Korrektoren Willibald Menzelius und Bartholomäus Laurens. Das Hauptaugenmerk in der Arbeit von Calenius lag offenbar auf der Verlagsarbeit. Von daher ist es verständlich, daß Calenius eigene Produktionen u. a. bei Franz Behem in Mainz, Gottfried von Kempen in Köln und anderen Berufskollegen drucken ließ. Diese erfüllten seine Aufträge im Sinne von Lohndrukkern. Als Buchhändler verfügte Calenius über Filialen oder zumindest rege Kontakte in bzw. nach Frankfurt am Main, Antwerpen, Lyon und Paris. Sein Verlags- und Druckprogramm beschränkte sich ganz überwiegend auf den Bereich der theologischen Literatur. Besonders ausgedehnt ist die Liste mit deutschen und lateinischen Werken aus der Feder des katholischen Reformtheologen Georg Witzel (1501-1573). Das gesamte Spektrum seiner Drucke reicht aber von Texten der Kirchenväter bis hin zu religiös-erbaulichen Schriften für die breite Masse.3 Neben den theologischen Werken sind vor allem die historischen zu nennen. So brachte Calenius 1568 die deutsche Ubersetzung des von dem Kölner Kartäuser Laurentius Surius (1523-1578) stammenden Commentarius brevis rerum in orbe gestarum heraus. Bei diesem Werk, dessen Übersetzung Heinrich Fabritius, ein guter Freund des Calenius, anfertigte, handelt es sich um die Fortsetzung der Weltchronik des Johannes Nauclerus (1428-1510). -

1

Zu Calenius speziell vgl. Zaretzky 1912 (mit einem Verzeichnis der Drucke 15771587). Domel 1912/13. Schmitz 1990, S. 446-453. Seit 1558, als Calenius die Leitung der Quentel-Offizin übernahm, firmierte diese unter der Bezeichnung Erben Johann Quentels und Gerwin Calenius. Ab 1667 änderte sich der Firmenname, nunmehr das Gewicht des neuen Leiters ausdrückend, in Gerwin Calenius und Erben Johann Quentel[l]s. Über das Verlagsprogramm von Calenius unterrichtet ein Rechnungsbuch der Jahre 1577-1586 sowie ein Verlagsplakat für das Jahr 1573: Quentelianae officinae librorum tarn suis typis quam expensis excusorum catalogus. Coloniae 1598 [Ein Exemplar vorhanden in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Sign. 1 A 989]. -

2

3

-

Das

Sie umfaßt die

sechsbändigen,

Epistolarium

193

1500 bis 1564. Surius seinerseits brachte innerhalb der 1570-1575 in Köln erschienenen Viten-Sammlung De probatis

Zeitspanne

historiis als Nachdruck der Ausgabe Blanckwalds sowohl die Vita dis Hildegar als auch die Vita S. Ruperti heraus. Surius, ein katholischer Reformationshistoriker und Hagiograph, der zeitweise mit der protestantischen Lehre sympathisierte, hatte zwischen 1545 und 1563 eine Reihe von lateinischen Ubersetzungen spätmittelalterlicher Mystiker aus dem deutschen und niederländischen Sprachraum hergestellt. Insbesondere Tauler, Ruysbrook und Seuse von Schriften galt sein Interesse. 1548 legte Surius eine lateinische ÜbersetzungKöln 1543 Canisius in von auf vor.1 basiert einer Petrus Sie Taulers herausgegebenen Sammlung der Werke Taulers, die zum Teil unechtes Material enthielt. Dieses unechte Material wurde von Surius noch einmal um zehn Falsifikate erweitert.2 Sein Hauptwerk, die später immer wieder ausgedehnte Viten-Sammlung De probatis sanctorum historiis, sicherte Surius neben Boninus Mombritius (1424-1500) den Ruf, der bedeutendste Hagiograph vor den Bollandisten gewesen zu sein. Zwischen Calenius und Surius, der seinerseits zu den Gefolgsleuten des Petrus Canisius SJ (1521-1597) zählte, bestanden sehr enge Beziehungen. Sie reichten bis hin zur Beschaffung von Handschriften durch den Kölner Verleger. Beide waren sich, ebenso wie Blanckwald, offensichtlich einig in dem Bemühen, eine Stärkung und Erbauung des katholischen Glaubens in den unruhigen Zeiten der Katholischen Reformation zu betreiben. Als Protagonistin und katholische Gallionsfigur diente ihnen hierbei auch Hildegard von Bingen. Ein Hinweis auf die orthodox-katholische Ausrichtung des Verlages von Gerwinus Calenius liefert die Tatsache, daß es Kontakte zu den Jesuiten gab und daß Petrus Canisius dem Verlag im Jahre 1560 zunächst ein kaiserliches und 1569 ein päpstliches Privileg besorgen konnte. Was die deutschsprachige Produktion des Calenius anbetrifft, so ist für diese die Beschränkung auf einige wenige Autoren, die gut gingen, bezeichnend. Über den Herausgeber der Briefausgabe, Justus Blanckwald, ist nicht viel in Erfahrung zu bringen. Blanckwald stammte aus Antwerpen, sein Geburtsdatum liegt im dunkeln. In Köln erwarb Blanckwald sich den Titel eines Lizentiaten der Theologie, Jöcher bezeichnet ihn darüber hinaus als „Canonicus".3 Blanckwald verstarb am 16. März 1600, nachdem er zumindest zwei weitere Publikationen, die aus dem Lateinischen ins Niederländische und/oder Französische übersetzt worden waren, vorgelegt hatte.4 In welchem Verhältnis Blanckwald zu Quentel und Calenius stand, läßt sich nicht mehr ermitteln. sanctorum

1

D.

Johannis

Thauleri Sermones

translata, Köln

1548.

...

reliquaque

opera omnia in Latinum

Johannis Tauleri von eym waren Evangelischen leben, Göttliche von Gennep, 1543.

2

Des Erleuchteten D.

3

Predig, Leren, Epistolen, Cantilenen, Prophetien. Köln: Caspar Jöcher 1750, Sp. 1122.

4

sermonem

Folgende Titel aus der Feder Blanckwalds ließen sich ermitteln: Modus ac via quaedam certissima, placandae irae diuinae in hoc nostro calamitosissimo tempore. Antwerpen: H.

Walter,

Eenen sekeren ende lichten

1588.

-

wech, manière

en

middel

om

Kapitel 5

194

5.3.1 Die

Vorlagenhandschrift der Editio princeps des Epistolariums

auf welcher handschriftlichen Grundlage Blanckwalds Edition führt ein Blick in den Vorbericht dieser Edition zu dem Ergebnis, daß ihr der Riesencodex zugrunde lag. Blanckwald selbst hatte die nötigen Abschriften daraus angefertigt. Hier die entsprechende Passage aus Blanckwalds Widmungsschreiben an Erzbischof Daniel von Mainz: „Quae ego nuper manibus propriis ex Archetypo quod in Monasterio in Monte S. Roberti prope Bingam sancte adseruatur, descripsi."1 In diesem Punkt existiert also eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zum Editionsverfahren des Faber Stapulensis. Dieser hatte im Jahre 1513 die Editio princeps des Scivias ja ebenfalls auf der Grundlage des Riesencodex herausgebracht und die Vorlagen daraus selbst geschöpft bzw. unmittelbar auf dem Rupertsberg veranlaßt. Allerdings übernahm Blanckwald nicht die komplette Briefsammlung des Riesencodex. Er beschränkte sich auf insgesamt 105, nach subjektiven Kriterien zusammengestellte Briefpaare, von denen die ersten 78 in exakt der gleichen Anordnung wie im Riesencodex präsentiert wurden. Den Briefen vorgeschaltet ist die erwähnte Widmung an den Mainzer Erzbischof Daniel, eine von Trithemius übernommene Lebensbeschreibung der hl. Hildegard sowie einige dem Mystiker Johannes Tauler OP (ca. 1300-1361) zugeschriebene Vaticinien.2 Letztere nehmen auf angebliche Unheilsprophetien Hildegards Bezug. Was diese angeblichen Prophetien Taulers bzw. Hildegards anbetrifft, so gibt Blanckwald leider keine Quelle für die Texte an. Es heißt lediglich: „Vaticinia quaedam sive prophetiae sublimis ac illuminati Theologi D. Ioannis Thauleri, in vetustis codicibus repertae."3 Dann folgt der Hinweis, die Vaticinien seien aus einem (nicht näher bezeichneten) Codex des Jahres 1348 geschöpft. Blanckwald könnte diese Vaticinien aus einer älteren, 1548 in Köln von Laurentius Surius herausgegebenen lateinischen Übersetzung der deutschen Schriften Taulers übernommen haben. Sie finden sich dort mit derselben undurchsichtigen Quellenangabe „in vetustis codicibus repertae".4 Interessanterweise bringt das Inhaltsverzeichnis dieser Ausgabe die

Fragt beruhte,

man, so

gramschap Gods,

in desen allenH. 1588. Wouters, Lateinischen]. Antwerpen: dighen tijt [Übersetzung Certaine, infallible et tresasseurée voye, manière, & moyen, pour appaiser la grande ire de Dieu, en ce tresmiserable temps & [Übersetzung aus dem Lateinischen]. Antwerpen: H. Wouters, 1588. Interpretation et signification de l'insolence, au porter des coheres, dites Lobbes, preme-ditez & en latin escriptes & par Me Iustum Blanckwalt translate par le mesme en langue Françoise. Antwerpen: M. de Rische, 1588. Zit. Van Acker 1991, S. LI. Zu Johannes Taulers und Thomas Müntzers Hildegard-Rezeption vgl. Fauth 2001. Hier zit. nach der Ausgabe Maxima Bibliotheca veterum patrum, et antiquorum scriptorum ecclesiasticorum scriptorum. Primo quidem a Margarino De la Bigne, in Academia Parisiensi Doctore Sorbonico, in lucem édita, XXIII, Lyon 1657, S. 535b600a; hier S. 536b. Tauler Vaticinia, S. XCVf. te

stille

en te

appayseren die groote lanckduerende aus

dem

-

-

...

1 2

3

4

Das

Epistolarium

195

de plagis nostri temporis" [hervorgeh. vom Verf.]. Es ist also damit zu rechnen, daß es sich bei diesen Prophetien nicht um authentische Texte Hildegards oder Taulers handelt, sondern um ein Elaborat, das erst zu Zeiten Surius', Blanckwalds und Calenius' entstanden ist und dann in die Zeiten Taulers bzw. Hildegards zurückprojiziert wurde. Um den Text identifizieren zu können, sei zunächst das Incipit, dann das Explicit angegeben: „Queso, mortales omnes, ex animo & multo cum timore atque tremore magnam Dei iram „Qui tunc victuri sunt, cogitent haec ipsis longe ante praedicta fuisse."1 Inhaltlich geht es in diesen Vaticinien darum, der Kirche und Gesellschaft drohendes Unheil anzukündigen und eine Besserung der Sitten und des Glaubens anzumahnen. Den 78 nach der Anordnung des Riesencodex abgedruckten Briefen schließen sich in der Blanckwald-Ausgabe, wie angedeutet, weitere Hildegard-Briefe an, die im Riesencodex anders gruppiert sind.2 Unter diesen Briefen befinden sich die Solutiones triginta octo quaestionum, die Explicatio Regulae S. Benedicti sowie die Explicatio Symboli S. Athanasii. Auf die Briefe wiederum folgt (S. 271-295) die in drei Büchern angeordnete Vita Hildegar dis nach dem Text des Riesencodex (f. 317ra-327vb). Fragt man nach den persönlichen Beweggründen, die Blanckwald zur Herausgabe der Briefe Hildegards und der beigefügten Texte getrieben haben mögen, so verrät ein Blick in sein Dedikationsschreiben an Erzbischof Daniel, daß offensichtlich Sorgen um die Reinheit von Glauben und Sitten hierfür den Ausschlag gaben. Nicht umsonst trägt das Titelblatt den bezeichnenden Zusatz: „Ad confirmandam et stabiliendam Catholicam nostram fidem & religionem Christianam, moresque in Ecclesia instruendos & emendandos". Im Vorwort wird dieser Befund weiter präzisiert : es seien sowohl im religiösen wie im weltlichen Leben gravierende Abweichungen vom rechten Wege erkennbar geworden. Von daher sei nichts naheliegender, als jene Schriften ans Licht zu ziehen, die einer Sicherung des Glaubens und der Sitten dienen könnten. Zu jenen

Angabe „Prophetiae

-

1 2

Ed. De la Bigne, S. 536b und 537a. Es sind dies folgende Briefpaare des Riesencodex: Nr. 95/96 (PL 41); Nr. 197/198 (PL 42); Nr. 235/236 (PL 43); Nr. 183/184 (PL 44); Nr. 185/186 (PL 45), Nr. 145/146 (PL 46); Ad praelatos Moguntinenses propter diuina per ülos interdicta (= R f. 308va317ra; PL 47); Nr. 267/268 (PL 48); Nr. 269/270 (PL 49); Nr. 271/272 (PL 50); Nr. 273/274 (PL 51); Nr. 275/276 (PL 52); Nr. 277/278 (PL 53); Nr. 241/242 (PL 54); Nr. 279/280 (PL 55); Nr. 264 (Ad congregationem sororum suarum mit der Explanatio Regulae S. Benedicti und einem unvollständigen Appendix De Vita S. Roberti. Für den unvollständigen Abdruck des Textes entschuldigt sich Blanckwald wie folgt: „Reliqua ex originali archetypo excerpere non potui" (Epistolarium 1566, S. 272). Doch folgt am Ende der Ausgabe (S. 334f.) ein Nachtrag: „Summarium Vita S. Berhic thae et S. Roberti ex his quae supra folio 272 improuiso abrumpi oportuit obiter et cursim uelut argumenti loco adiecta." ...

Kapitel 5

196

und sittenfördernden Schriften wiederum gehörten, so Blanckwald, autem esse haec B. Hildegardis opera, satis ex iisdem relucet."1 Daß die erste Druckausgabe der Briefe Hildegards ausgerechnet in Köln erschien, steht durchaus in einem inneren Zusammenhang zur handschriftlichen Verbreitung des Epistolariums. Wie eine entsprechende Karte im Anhang der deutschen Ubersetzung des Epistolariums von Adelgundis Führkötter beweist, zählte Köln neben Mainz und Trier zu den Hauptorten mit Besitz von Textzeugen der Briefe Hildegards.2 Darüber hinaus galt Köln als Zentrum kirchlicher Orthodoxie.3

glaubens-

jene Hildegards: „Eiusmodi

Wirkungsgeschichte der Editio princeps des Epistolariums Blanckwalds Edition der Briefe Hildegards wiederum diente verschiedenen anderen Druckausgaben des 16. und 17. Jahrhunderts zur Grundlage. All diese Ausgaben waren Bestandteil großangelegter Sammlungen von Texten der (lateinischen) Kirchenväter und mittelalterlicher Autoren. In der bisherigen Forschung zur Wirkungsgeschichte der Schriften Hildegards ist die Stellung dieser Sammlungen und damit jene von Hildegards Epistolarium innerhalb der konfessionellen Auseinandersetzungen der Epoche des ausklingenden Tridentinums und der beginnenden Katholischen Reform noch nicht gewürdigt worden. Im folgenden seien daher einige grundlegende Aspekte angesprochen. Das geistige Klima der monumentalen Väter-Sammlungen des 16. Jahrhunderts war geprägt durch die post-tridentinischen, vom Geiste der Gegenreformation bzw. Katholischen Reform geprägten Bemühungen um eine nicht selten apologetisch oder polemisch akzentuierte Intensivierung der katholischen Lehre.4 1528 erschien in Basel die erste dieser großangelegten Sammlungen patristischer Autoren, das von Johannes Sichardus herausgegebene Antidotum contra diuersas omnium fere saeculorum haereses? Viele weitere, unter denen die Orthodoxographa des Dominikaners Johannes Herold [f 1468] (Basel 1555) typenbildend für das gesamte Genre wurde, folgten.6 Das letztgenannte Werk versammelt 62 Autoren, die, so der Herausgeber, aufgrund ihres Alters und ihrer Gelehrtheit verehrungswürdig seien. Darüber hinaus könne durch sie eine „portative", polyvalente theologische Bibliothek zusammengestellt werden, die geeignet sei, die Bibel zu interpretieren, die Häresie abzuschmettern, die Zwietracht zu vertreiben und die wahre Religion zu lehren.7 Kommerzielle Gesichtspunkte zumindest hinsichtlich der sich bestens verkaufenden latei5.3.2 Die

-

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1

2

3 4

5

6 7

Zit. nach der Ausgabe De la Bigne, hier S. 536aA. Briefwechsel (dt.) 1965. Vgl. hierzu Schöller 1992. Zur Hintergrundinformation vgl. Polman 1932, S. 391-418. Petitmengin 1985. Zu Sichardus vgl. Lehmann 1911, insbesondere S. 57-60. Eine Inhaltsbeschreibung dieser frühen Sammlungen findet sich bei Ittig 1707, S. 1-24. Diese Zielbestimmung umschreibt das Titelblatt der Ausgabe, f. lr. -

Das

Epistolarium

197

nischen Vätertexte kamen hinzu. Wie intensiv in dieser Zeit die Bemühungen um eine Purifizierung der katholischen Glaubenslehre waren, beweist die Einführung des Index librorum prohibitorum im Jahre 1559. Auch das Tridentinum besaß eine eigene Indexkongregation. Die patristischen Editionen dieser Epoche waren von dem Wunsch getragen, fundamentale Schriften der katholischen Tradition in absolut orthodoxen Ausgaben vorzulegen. Vor allem aufgrund finanzieller Gegebenheiten entwickelte sich in diesem Bemühen jedoch nicht Rom, sondern Paris zu einem führenden Zentrum.1 Hier wiederum war es Margarinus de la Bigne (ca. 1546-1597), ein Doktor der Theologie an der Sorbonne, der eine von allen haeretica gereinigte Überarbeitung und Neuedition der Orthodoxographa in Angriff nahm. Als Frucht dieser Aktivitäten erschien die neunbändige (acht Text- und einen Indexband umfassende) Sacra Bibliotheca sanctorum Patrum (Paris 1575; Appendix 1579). Sie enthielt ca. 200 Autoren und war ganz explizit von dem Wunsch getragen, die Magdeburger Centurionen zu widerlegen. La Bignes Sammlung wurde in der Folgezeit ständig verändert und erweitert.2 Die zweite Auflage kam 1589, die dritte 1609/10, beide in Paris, heraus. Eine stark vermehrte vierte (der offiziellen Zählung zufolge die dritte) Ausgabe wurde 1618 bzw. 1622 (Supplementum) in Köln veröffentlicht.3 Hauptgrund für die ständigen Texterweiterungen dieser patristischen Sammlungen war das Bemühen, nunmehr auch Autoren des Mittelalters zu Wort kommen zu lassen, die im Rufe unzweifelhafter Orthodoxie und prototypischer Katholizität standen. Genau dies traf auf Hildegard von Bingen zu. „LTntention apologétique", so Pierre Petitmengin, „n'est pas oubliée. Il s'agit de démontrer, contre les protestants, la perpétuité de la doctrine et des traditions catholiques."4 Die Bibliotheca magna patrum enthielt in einem nachgelieferten Supplementband (T. 15) neben anderen Texten Hildegards Briefe und einige kleinere Werke nach der Edition Blanckwalds. Diese fünfzehnbändige Magna Bibliotheca veterum Patrum et antiquorum scriptorum ecclesiasticorum cura et studio doctisalma Coloniae simorum in universitate Agrippinae theologorum ac professorum erschien bei Anton Hierat dem Älteren (druckte 1597-1627). Der Supplementband mit den erstmals innerhalb einer patristischen Textsammlung aufgeführten Hildegard-Materialien trägt den Titel: Magna Bibliotheca veterum Patrum & antiquorum Scriptorum ecclesiasticorum. Primo quidem a Margarino de la Bigne Sorbonico in Academia Parisiensis Theologo collecta, & tertio in lucem édita T. Decimus quintus, sive supplementum, vel appendix, continens Scriptoribus -

...

...

1

Insbesondere Michel Sonnius, der sich mit anderen Pariser Buchhändlern und Drukkern zur Compagnie du Navire zusammenschloß, monopolisierte praktisch die Herausgabe patristischer Schriften. Vgl. hierzu Martin 1969,1, S. 12-14. Pallier 1975, S. 12f. und 553f. Pallier 1981. Ein Gesamtverzeichnis aller 23 patristischen Textsammlungen, die zwischen 1575 und 1788 erschienen sind, findet sich bei Petitmengin 1985, S. 34-38. Zu dieser Ausgabe vgl. Engammare 1993, besonders S. 59-63. Petitmengin 1985, S. 25. -

2 3 4

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Kapitel 5 prioribus Tomis desiderata,

198

plurimos & opuscula, in quorum Catalogus post praefationem habetur. Coloniae Agrippinae, sumptibus Antonii Hierati, sub signo Gryphi. Anno M.DC.XXII. Die Hildegard-Materialien erscheinen in diesem Band auf S. 612-688. Sie berücksichtigen auch Blanckwalds Widmungsschreiben an Erzbischof Daniel, die kurze Hildegard-Vita des Johannes Trithemius sowie die vorgeblichen Vaticinien Taulers. Im Epistolarium sind Hildegards Briefe an den Klerus von Mainz, Köln, Trier, ferner ihr Schreiben Ad monachos griseos, die Solutiones in triginta octo quaestiones (S. 659-665), die Explicatio Regulae S. Benedicti (S. 665-669), die Explicatio Symboli S. Athanasii (S. 669-674) sowie die Vita Hildegardis (S. 675-688) gesondert ausgewiesen. Die Vita S. Ruperti erscheint wie bei Blanckwald nur als Fragment. Sie schließt sich unmittelbar an den Text der Auslegung des Athanasianischen Glaubensbekenntnisses an (S. 674f.). Auf S. 675 bricht sie dann ganz unvermittelt ab: „Reliqua hue spectantia, scriptor prae [!] festinatione quadam importuna, ex Originali archetypo excerpere non potuit" (S. 675), eine Bemerkung, die sich, wie oben zitiert, auch bereits bezüglich Blanckwalds Briefedition findet. Im Anschluß an die Vita Hildegardis folgt ein knapper Anhang: „Summatim vita S. Berthae et S. Roberti. Ex his quae supra folio 674 De improviso abrumpi oportuit, in gratiam studio lectoris, per eum qui opus hoc ex archetypo transcripsit, hic obiter & cursim velut argument! loco adiecta" (S. 688). Die Übernahme dieser Texte aus der Editio prineeps Blanckwalds ist sowohl im Inhaltsverzeichnis als auch am Beginn des Textabdrucks deutlich zum Ausdruck gebracht. Im Inhaltsverzeichnis heißt es: „S. Hildegardis Abbatissae in monte S. Roberti apud Naam, prope Bingam, sanetiss. virg. 8c prophetissae, Epistolari[um] liber, cum diversis aliis eijusdem epistolis ex edit. Colon.". Am eigentlichen Textbeginn (S. 614) findet sich die Angabe: „Nunc secundo in lucem édita". Auch Thomas Ittig wies im Jahre 1707 auf die Abhängigkeit der Magna Bibliotheca patrum von der Ausgabe Blanckwalds hin: S. Hildegardis Abbatissae in monte S. Roberti apud Naam prope Bingam epistolarium, Uber, cum variis aliorum ad Hildegardim epistolis; Ejusdem quaestionum 38. solutiones; Regulae S. Benedicti explicatio; Ad sorores suas explicatio symboli S. Athanasii, nec non Libri 3 vitae S. Hildegardis per Theodoricum scriptae, omnia ex editione Coloniensi Justi Blanckwalt.1 Darüber hinaus wußte Ittig, daß dieser Supplementband, durch den Hildegard publizistisch in den Rang einer patristischen Autorität, d. h. einer Kirchenlehrerin, erhoben wurde, sich den beiden Theologen Alardus Wyelius und Andreas Schott SJ (1552-1629) verdankte: „Continentur autem hoc Tomo XV. seu Supplemento, in quo compilando imprimis Andreas Schottus Jesuita Wyelio jam defuneto, laboravit."2 Über Wyelius ist nicht viel in Erfahrung zu bringen.3 Aus dem editorischen Vorbericht des Supplementbandes geht lediglich hervor, daß Wyelius als „S. S. Theologiae Licentiatus & Professor ...

1

Ittig 1707, S. 471.

2

Ebd.

3

Zu

Wyelius vgl.

Hurter

1871, S.

376.

Das

Epistolarium

199

p. m." der Universität Köln bezeichnet wurde. Des weiteren steht fest, daß er im Laufe der redaktionellen Arbeiten an diesem Band verstarb. Die von ihm

begonnene Aufgabe mußte daher von Schott allein zu Ende geführt werden. Ob die Aufnahme der Hildegard-Materialien in die Magna Bibliotbeca Patrum nun stärker auf Wyelius oder Schott zurückgeht, läßt sich nicht mehr klären. Aufgrund der übrigen, fast ausschließlich patristisch orientierten Forschungen Schotts wird man aber den Anteil des Wyelius nicht gering veranschlagen dürfen. Hurter bezeichnet Wyelius sogar als die eigentliche treibende Kraft der Magna Bibliotbeca Patrum insgesamt. Ausdrücklich hebt er hervor, daß Wyelius die Vorgängerausgabe um mehr als 100 Texte erweitert habe. Das gesamte Material habe Wyelius nach einer chronologischen Ordnung präsentiert und in Jahrhunderte eingeteilt. Die wissenschaftlich bedeutendere Gestalt war dennoch zweifellos Schott. Der mit Justus Lipsius befreundete Jesuit war ein aus Ant-

werpen stammender flämischer Humanist, der nach seiner Priesterweihe in Löwen Rhetorik lehrte. Infolge der in seinem Vaterland ausgebrochenen religiösen Wirren wandte sich Schott bald nach Frankreich und Spanien, wo er in Madrid, Alcalä und Toledo als Lehrer der griechischen Literatur wirkte. 1586 trat er zu Saragossa in die Gesellschaft Jesu ein. Nach Tätigkeiten in Gandia (Gent?) und Rom kehrte er schließlich in seine Geburtsstadt Antwerpen zurück. Schotts zahlreiche Schriften sind zumeist Ausgaben und Erklärungen

griechischer Schriftsteller des Altertums und der Spätantike. Lebensbeschreibungen, Reiseberichte und Spruchsammlungen.1 Fragt man, welche anderen Autoren und Schriften des 12. Jahrhunderts neben Hildegard in den Supplementband der Magna Bibliotbeca Patrum aufgenomin der Reihenfolge der Texte folgender Befund: men wurden, so ergibt sich Odo Abbas Tornacensis, Opuscula sacra; Honorius Augustodunensis, De praedestinatione & libero arbitrio; lateinischer und Hinzu kommen

-

-

-

-

-

-

-

D. Amedeus

Cist., De laudibus beatae Mariae virginis;

Calixt IL, Sermones;

Johannes Saresberiensis, rum

Policraticus sive De

libri octo;

magis curialium

&

philosopho-

[Hildegard, Epistolarium]; Engelbert Abbatis Admontensis, De ortu, progressu & fine Rom. imperii. Die Magna Bibliotbeca Patrum wurde nach einer Reihe von Zwischenstufen in ihrem Textumfang noch einmal um fast das Doppelte überboten von der Maxima Bibliotbeca veterum Patrum et antiquorum scriptorum ecclesiasticorum.2 In Band 23 (S. 537-600) dieser im Jahre 1677 in 27 Bänden erschienenen

-

-

-

-

1

vgl. Hurter 1871, S. 635-638. Sommervogel 1896, Sp. 865-904 [zur Bibliotbeca Magna Patrum Sp. 894 Nr. 51]. Koch 1934, Sp. 1612. Fabri 1953. Zu Schott

-

Severyns 1968a. Severyns 1968b. Der genaue Titel lautet: Maxima Bibliotbeca veterum patrum, et antiquorum scriptorum ecclesiasticorum. Primo quidem a Margarino de la Bigne, in Academia Parisiensi Doctore Sorbonico, in lucem édita. Deinde celeberrimorum in universitate Colo-

2

-

-

-

Kapitel 5

200

Ausgabe finden sich Blanckwalds Edition des Epistolariums und ein Großteil der beigefügten anderen Schriften Hildegards.1 Naturgemäß ist auch hier, wie in der abgedruckten Vorlage, die Vita Ruperti unvollständig. Allerdings fehlt die Vita Hildegardis ganz.2 Die Herausgeber der Maxima Bibliotheca verweisen schlicht auf die Edition dieses Textes innerhalb von Surius' Viten-Sammlung. Die Ausgabe der Maxima Bibliotheca übernimmt den Text Blanckwalds bis auf wenige Kleinigkeiten vollkommen identisch. Es heißt beispielsweise nicht mehr „Nunc primum", sondern „Nunc tertio in lucem édita", wobei ausdrücklich an die Vorgängeredition der Kölner Magna Bibliotheca angeknüpft wird. Wie bei Blanckwald, bricht die Vita Ruperti auch hier (auf S. 600 b) einfach ab; doch findet sich ein Hinweis auf den in der Viten-Sammlung des Surius befindlichen vollständigen Text. Als weitere Autoren, die in Band 23 der Bibliotheca maxima Patrum neben

Hildegard erscheinen, seien u. a. genannt: Aelred von Rievaulx, Gerhoh von Reichersberg und Ekbert von Schönau. Die Lücke in Blanckwalds Edition des Epistolariums (und damit auch in jener

patrum [Köln 1618/22] und der Bibliotheca Patrum Lugdunensis [Lyon 1677]) wurde durch eine im Jahre 1724 von Edmond Martène und Ursin Durand edierte Ausgabe geschlossen. Sie lieferte auf der Textgrundlage einer heute verschollenen Himmeroder Handschrift weider Bibliotheca magna

tere

83

Briefpaare

veterum

sowie einen

Anfragebrief

an

Hildegard.

Die

Ausgabe trägt

den Titel: Epistolae uariorum ad S. Hildegardem cum eiusdem ad eos responsis und ist Bestandteil der von Martène/Durand 1724 in Paris herausgegebenen Veterum Scriptorum Amplissima Collectio (T. II, Sp. 1012-1133). Bei den Briefen Hildegards handelt es sich um Schreiben, die alle auch in Wr und bis auf die Korrespondenz mit Gertrudis von Stahleck, Nonne in St. Theodor zu Bamberg in R vorhanden sind. Die Patrologia Latina hat diese Stücke unter den Nummern 62-145 abgedruckt. Allerdings kann die von den Herausgebern eingeführte Reihenfolge, wie Van Acker zu Recht einwendet,3 nicht die ursprüngliche des Himmeroder Textzeugen gewesen sein. Auch die den Briefen beigefügten argumenta sind nicht original. -

-

studio, plurimis authoribus, & opusculis aucta, ac historica methodo saecula per singula scriptores quique vixerunt, disposita. Hac tandem editione Lugdunensi, ad eadem Coloniensem exacta, novis supra centum authoribus, & opusculis hactenus desideratis, locupleta. 27 T. Lugdunis 1677. Maxima Bibliotheca veterum patrum XXIII, Lyon 1677, S. 535b-600a. In einer abschließenden Nota heißt es: „Reliqua hue spectantia inuenies apud Surium die 15. Maij in vita eiusdem S. Roberti. Apud eundem Surium reperiuntur etiam aliae vitae sanctorum ab eadem saneta Hildegarde compositae. Porro reuelationes eiusdem habentur ad finem operum sanetae Birgittae editionis 1628 quae propter ea hic niensi doctorum

1 2

3

ommissae sunt." Van Acker 1991, S. LUI.

201 Epistolarium Was die handschriftliche Vorlage dieser Edition, eben den verschollenen Himmeroder Codex, anbetrifft, so enthielt dieser neben den Briefen auch den

Das

Liber vitae meritorum. Seine Entstehung fällt in das 13. Jahrhundert. Unter Umständen handelte es sich dabei um eine Abschrift des Trierer Codex 68 (LVM) oder des Wiener Codex 1016 oder einer gemeinsamen Vorlage dieser beiden Textzeugen. Die Handschrift wurde von den beiden Editoren, die im Zuge einer Bibliotheksreise auch Kloster Himmerod besuchten, mit nach Frankreich genommen. Von dort gelangte sie offensichtlich nicht mehr nach Himmerod zurück. Im Jahre 1755 edierte Johannes Stilting im Rahmen der Acta Sanctorum (Sept. Commentarius praeuius de S. Hildegarde) vier HildegardV, S. 661-663 denen drei ausschließlich in der Handschrift London, British LibBriefe, von Add. 17292, f. 152ra-152vb (= P), ein vierter darüber hinaus auch in rary, Cod. B, überliefert sind. Drei Briefe, Hildegards Korrespondenz mit dem Konvent von Brauweiler enthaltend, wurden im gleichen Band der Acta Sanctorum auf Seite 693f. ediert. Sie sind Bestandteil der Vita Hildegardis. Basierend auf den zuvor genannten gedruckten Teileditionen erschien im Jahre 1855 eine 145 Nummern umfassende Sammlung von Briefen Hildegards innerhalb von Jacques-Paul Mignes Patrologia Latina (T. 197, Sp. 145A-382C). Anfragen und Antworten getrennt gezählt, berücksichtigt diese Sammlung insgesamt 279 Stücke.1 Wie bereits in der Bibliotheca Patrum Lugdunensis praktiziert, wurden einige Texte Hildegards, die ihren Briefcharakter nicht mehr eindeutig erkennen lassen, hier aus dem Epistolarium ausgegliedert und im Sinne von eigenständigen Werken veröffentlicht. Es sind dies: die auf Anfrage Wiberts von Gembloux und der Mönche von Villers geschriebenen Solutiones in triginta octo quaestiones (PL 197, Sp. 1037-1054), die Explanatio Regulae S. Benedicti (PL 197, Sp. 1053-1066), die an Hildegards Mitschwestern gerichtete Explanatio Symboli S. Athanasii (PL 197, Sp. 1065-1082), die Vita S. Ruperti (PL 197, Sp. 1091-1094) und die Vita S. Disibodi (PL 197, Sp. 1093-1116). Die drei ersten Texte bringen die Fassung der Maxima Bibliotheca Veterum Patrum der Ausgabe Lyon 1677, basieren also zumindest in weiten Teilen über die Zwischenstufe der Edition Blanckwalds letztendlich auf dem Text des Riesencodex. Was die eigentlichen Briefe anbetrifft, so ist in der Patrologia Latina die Serie 1-55 identisch mit der Ausgabe Lyon 1677 und damit Blanckwald 1566. Hier existieren lediglich marginale Unterschiede in der Wiedergabe einzelner Wörter.2 =

-

1 2

-

Die Nummern 8, 9, 47, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 61 und 145 bilden in der Patrologia kein Paar. So bringt die Ausgabe Blanckwalds (S. 2) im Brief Hildegards an Papst Eugen III. (Brief II, 1 der Edition Van Ackers) das richtige Wort „forma." Die Ausgabe Lyon 1677 dagegen schreibt „femina."

Kapitel 5

202

Für die Vita S.

Ruperti (PL 197, Sp. 1081-1094) und die

Vita S. Disibodi (PL die des griffen Herausgeber Hildegard-Teiles der Patrolound auf die dem 17. Jahrhundert stamCharles aus A. F. Reuss, Daremberg gia, menden, in den Acta Sanctorum edierten Textausgaben zurück. Die nächste umfangreiche Ausgabe von Briefen Hildegards brachte im Jahre 1882 Kardinal Pitra innerhalb seines Hildegard-Bandes heraus.1 Pitra berücksichtigte in Teil 1 seiner Edition vor allem den Textzeugen R, in Teil 2 vor allem die Textzeugen W und Wr. Sein Ziel war es, Lücken in den bekannten Briefeditionen zu schließen und die im Textzeugen W neu aufgefundenen Briefe zu

197, Sp. 1093-1116)

präsentieren.2

Abschließend bliebe

erwähnen, daß in einer Reihe

von Einzeluntersuauch Editionen verschiedener Teile von Hildegards Epistolarium chungen Teil ediert wurden. hat So F. W. E. Roth 1884 Korrespondenz (zum erstmalig) die Korrespondenz Hildegards mit Elisabeth von Schönau herausgegeben.3 Franz Haug hat im Jahre 1931 den Inhalt der Briefausgaben Mignes und Pitras mit der Handschrift Z verglichen.4 Im Rahmen dieses Beitrages, der im wesentlichen als kritischer Apparat zu den beiden genannten Editionen verstanden werden kann, kam es zur erstmaligen Edition einer Reihe von Hildegard-Briefen.5 Schrader/Führkötter haben 1956 im Rahmen ihrer Untersuchung zur Echtheit des Schrifttums Hildegards die Bernhard-Briefe, die Papstbriefe, die Kaiserbriefe, die Briefe an das Grafengeschlecht von Stade sowie an Abt Ludwig von Trier-St. Eucharius ediert.6 Peter Dronke legte 1981 drei Briefe aus der Handschrift B erstmalig vor.7 Weitere 14 Hildegard-Briefe brachte Dronke 1984

zu

zum

1

2

Analecta, S. 328-440: Nouae Hildegardis uel ad Hildegarden! epistolae (Nr. IXXXII); ebd. S. 518-607: Sanctae Hildegardis epistolarum noua et altera series (Nr. XXXIII-CXLI).

Allerdings

ist Pitras

Bezeichnung „Hildegardis uel ad Hildegarden! epistolae" etwas 396f.), XXV (S. 400-404), XXVI (S. 405-407),

irreführend. Pitras Nummern XXII (S. XXVII XXXII

(S. 407-414), XXVIII (S. 414f.), XXX (S. 434-438), XXXI (S. 438f.) und (S. 439f.), CLXIV (S. 575-581) und CLXV (S. 581f.) gehören nicht zu Hil-

degards Schrifttum. Vgl. zur Kritik an Pitras Edition : (ohne Verfasserangabe), Analecta Sacra Spicilegio Solesmensi parata, in Analecta Bollandiana 1 (1882) 597-608, insbesondere S. 597f. Roth 1884, S. 70-75; 178f. Die Ausgabe basiert auf der Handschrift Hs 3 der Hess. Landesbibliothek Wiesbaden. Die Handschrift ist zu Lebzeiten Elisabeths entstanden und stammt aus Kloster Schönau selbst. -

3

4 5

Haug 1931. Es sind dies, nach der

Zählung der kritischen Ausgabe Van Ackers,

LXIV, CXXXIII, CXXXIV, CCXLVII, CCLXI, CCCXXIII, CCCXLV, CCCLVII und CCCLVIII. 6 7

die Briefe XII, CCLXXVIII, CCXXI,

Schrader/Führkötter 1956, S. 105-108. 112-114. 117f. 120. 126-131. 135-137. 143. Dronke 1981b. Es sind dies nach der Edition Van Ackers die Briefe CCLXXIX, CCLXVIII und CCLVI.

Das

Epistolarium

203

heraus.1 Die Korrespondenz Hildegards mit Tenxwind von Andernach hat im Jahre 1984 Alfred Haverkamp im Anhang einer umfassenden Studie zum Verhältnis beider Äbtissinen zueinander ediert.2 Albert Derolez brachte 1988 die Briefe Wiberts von Gembloux an Hildegard im Rahmen einer von ihm vorgelegten Gesamtausgabe der Briefe Wiberts heraus.3 5.4 Die Vita

Die Vita

Epistolarium

Ruperti (VR) Ruperti wurde ursprünglich

im

Zusammenhang

überliefert. An noch erhaltenen handschriftlichen

Hildegards Textzeugen sind von

zu nennen:

1. ) R

Riesencodex, f. 401ra 6 bis 404rb

Dort erscheint die Vita

Ruperti Epistolariums eigenen Titel 2. ) Wr Wien, ÖNB, Cod. 963 [theol. 348], f. 151ra-155ra (D.Jahrhundert, Rommersdorf) 3. ) Br Brüssel, BR, Cod. 8060-4, f. 165ra-175va (Legendarium, um 1380/90; Entstehungsort unbekannt) 4. ) Ba Basel, UB, A. V. 23, f. 54r (Sammelhandschrift vom Ausgang des D.Jahrhunderts, Auszug aus der Rupertus-Vita) 5. ) Lo London, BL, Cod. Add. 20034, f. 132-133. Legendär, entstanden 1465 =

innerhalb des

2.

ohne

=

=

=

=

im Kloster der Franziskaner-Tertiarinnen in Delft, mittelniederländisch London, BL, Cod. Add. 15102, Kopie des Riesencodex, im Auftrage des Trithemius angefertigt 1487/89 7. ) Be Berlin, StBPrK, Ms lat. qu. 835, f. 21vb-24rb. (ca. 1490, Entstehungsort unbekannt; die Handschrift ist abhängig von Wr). Enthält dazu die Vita Hildegardis sowie einen kurzen Auszug der Briefe nach Wr 8. ) Lo 2 London, BL, Cod. Harl. 1725, f. 210-219, Kopie aus dem Riesen-

6. ) Lo 1

=

=

=

codex

(D.Jahrhundert) Hamburg, UB, Cod. theol. 1530 4°, S. 451f. (D.Jahrhundert, Niederlande) Legendär, darin die Vita Ruperti mittelniederländisch. 10.) Koebel Gedruckte Ausgabe einer deutschen Übersetzung der VR (Jakob Koebel, Oppenheim 1524 [s. u.]); besitzt einen ähnlichen überlieferungsgeschichtlichen Rang wie eine Handschrift. Die Übersetzung basiert auf 9. ) Ha

=

=

dem Text des Riesencodex.

1

Dronke 1984, S. 250-264. Es handelt sich in der

2 3

Haverkamp 1984, S. 543-548. Guibertus Epistolae, I, S. 216-250. 254-257.

Ausgabe Van Ackers um folgende Schreiben: XXIII, CIIIR, CXVIII, CLXI, CCXVI, CCXVII, CCXCIII, CCCIX, CCCXXXI, CCCLIV, CCCLV, CCCLVI, CCCLXXVII, CCCLXXXII.

Kapitel 5

204

Hinzu kommen an verschollenen bzw. nur in der Literatur erwähnten Handschriften : 1. ) W = Wien, Cod. 721 (Abschrift des Riesencodex) 2. ) Hm Zisterzienserabtei Himmerod (verschollen). Erste Hälfte des 13. Jahrhunderts. Neben der VR waren enthalten: Liber vitae meritorum, Vita S. Disibodi, Explanatio Regulae S. Benedicti, Epistolae (Auszüge) 3. ) Brü Brüssel, Regularkanoniker-Kloster Roodendael (verschollen; enthielt u. U. eine gekürzte Fassung der Rupertus-Vita; identisch mit Br?) 4. ) U Utrecht, St. Salvator-Stift (identisch mit Br ?) 5. ) Wi Wien, ÖNB 628 (erwähnt bei Pitra, Analecta, S. 489) 6. ) M Mainz, Jesuitenbibliothek (Entstehungsort und Entstehungszeit unbe=

-

=

=

=

7. )

kannt) Sp Speyer, kannt) =

Dombibliothek

(Entstehungsort

und

Entstehungszeit

unbe-

Überblickt

man die handschriftliche Überlieferungsgeschichte der Vita Rufällt auf, daß dieser Text während des 15. Jahrhunderts in die Volksperti, und zwar ins Mittelniederländische übertragen wurde. Auch die Tatsprache, 1524 daß bereits eine gedruckte Ausgabe in deutscher Sprache erschien, sache, muß hervorgehoben werden, insbesondere deshalb, weil die Rupertus-Vita mit einer deutschen Ausgabe der Hildegard-Vita verbunden ist. Dies ist ein bemerkenswerter Befund, wenn man bedenkt, daß Hildegards visionäre und naturbzw. heilkundlichen Hauptwerke erst sehr viel später in die Volkssprache übertragen wurden. Von der Textsorte her wird die Rupertus-Vita nicht mehr dem Epistolarium, sondern der Legendarik zugeordnet. Mignes gedruckte Ausgabe der Vita Sancti Ruperti übernimmt den Text aus dem 1680 in Antwerpen erschienenen Band Mai III (S. 503-509) der Acta Sanctorum Bollandiana (hier zum 15. Mai).1 Die Herausgeber der in den Acta Sanctorum erschienenen Rupertus-Vita, Gottfried Henschen SJ (1601-1681) und Daniel Papebroch SJ (1628-1714), wiederum errichteten ihren Text auf einer älteren Druckausgabe, die der Mainzer Jesuit Johannes Busaeus (1543-1611) im Jahre 1602 veranstaltet hatte.2 Die Rupertus-Vita erscheint dort als Annex einer von Busaeus besorgten Ausgabe der Briefe des Hincmar von Reims. Nach so

1

2

Ruperti 1738. Die Bollandisten führen die gedruckt erschienenen Ausgaben der Ruperti in ihrer Bibliotheca Hagiograpbica Latina Antiquae et Mediae Aetatis, II, Bruxelles 1900/1901, S. 1071 f., auf. Johannes Busaeus [Hrsg.], Hincmari Rhemensis archiepiscopi, ante annos L. supra Vita Vita

epistolae. Ex ms. membranaceo cod. bibliothecae nob. et Spirensis descriptae et nunc primum excusae. Accessere haec coaetaneorum scripta: Theodulphi Aurelianensis Episcopi epistola ad Parochos. Constitutiones Caroli Magni a Lothario Nepote collecta cum notiis Viti Amerpachii. Vita S. Wigberchti Fritzlariensis Confessoris, auctore Lupo Servato. Vita S. Roberti Confessoris Bingionum Ducis, auctore Hildegardis. Mainz 1602. Ebd. Vita Ruperti DCC. in Galliis celeberimi

cathedralis Ecclesiae

1602.

Das

Epistolarium

205

Ansicht des Mainzer Buchdruckers Johannes Albini, bei dem das Werk gedruckt wurde, war der Band mit den Hincmar-Briefen allein noch nicht üppig unter ihnen die Vita Ruperti beigefügt genug, so daß weitere Schriften werden konnten. Folgende Texte wurden den Hincmar-Briefen angehängt: 1.) Theodulfi Aurelianensis episcopi epistola ad parochos. 2.) Constitu.tion.es Caroli Magni. 3.) Vita S. Wieberti Fritzlariensis confessons, authore Lupo. 4.) Vita S. Roberti confessons, Bingionum ducis, auetore S. Hildegarde. Die beiden ersten Stücke, so Busaeus, hätten schon vorher gedruckt vorgelegen, für die beiden letzten gelte dies jedoch nicht: numquam, quod sciam, praelum typographicum subierunt s. Roberti vita, etiamsi scriptorem non habeat ejusdem cum Hincmaro aevi, ipse tarnen eodem cum Hincmaro aevo vixisse videtur. Quae vita hoc studiosius legi débet a Moguntinae dioecesis hominibus, quo nomen saneti adolescentis hactenus ob montem, qui apud vicinos Bingenses s. Ruperti appellatur, notius fuit, quam rarissimae ejus virtutes, a s. Hildegarde divinae revelationis beneficio tandem toti mundo patefactae."1 Der Titel der Vita auf Seite 359 lautet: „Vita b. Roberti confessons e Lotharingiae prineipibus oriundi, et quondam Bingionum ducis. Auetore b. Hildegarde in coenobio montis, qui dicitur s. Roberti, extra Bingam abbatissa. Ex Ms. cod. Bibliothecae Moguntinae societatis Iesu exscripta. Et nuneprimum typis expressa. Vixit autem s. r. Hincmari nostri saeculo sub annum domini 860."2 Der Text der Vita reicht von Seite 361 bis 374. Im übrigen beruft sich Busaeus auf Informationen, die Johannes Trithemius in seinem Catalogus scriptorum ecclesiasticorum über die Schriften Hildegards vermittelt hatte. Er legt dar, die Veröffentlichung der Rupertus-Vita passe zu den Hincmar-Briefen sehr gut, da beide Personen etwa zeitgenössisch zueinander gewesen seien. Außerdem sei es wünschenswert, daß die Rupertus-Vita von den Mainzer Diözesanen eifrig gelesen werde, damit die Tugenden des Rupertus bekannter würden eine Argumentation, die als alleinige Begründung für die Drucklegung nicht unbedingt überzeugend wirkt. Was die Textgenauigkeit der Edition im Vergleich zur handschriftlichen Vorlage anbetrifft, so hat die Edition, wie aus einer Bemerkung des Serarius (s. u.) hervorgeht, zwei Digressionen der Handschrift weggelassen. Allerdings finden sich diese Teile in der 1524 erschienenen deutschen Übersetzung Jakob Koebels wieder. Die von Monika Klaes vermittelte Information, diese Übersetzung sei so selten, daß kein Exemplar mehr nachgewiesen werden könne,3 trifft nicht zu. Die Abtei Eibingen ist im Besitz eines solchen Exemplars, die Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars in Trier besitzt von diesem Exemplar eine Kopie. Bereits Philipp Schmelzeis hatte erkannt, daß Koebels Übersetzung eine mit Zusätzen und Auslassungen versehene Bearbeitung von Buch I und II der Vita S. Hildegardis darstellt und daß der Schluß vorwiegend aus den Acta inqui-

-

„...

...

...

-

1 2 3

Zit. nach Bruder 1882, S. 193. Aus dem editorischen Vorwort geht leider nicht Mainzer Jesuitenniederlassung es sich handelt. Klaes 1993, S. 184*.

hervor,

um

welchen Codex der

Kapitel 5

206

sitionis übernommen ist.1 Der Inhalt erinnert stark an die von den Bollandisten benutzte, aus dem 15. Jahrhundert stammende und im Verlauf des Zweiten Weltkriegs vernichtete Handschrift der UB Münster (olim Gymnasium Paulinum), Cod. 23. Monika Klaes bezeichnet in ihrer kritischen Edition der Vita Hildegardis diese Handschrift mit dem Kürzel ,b'.2 Sie war Bestandteil eines ehemals zwölf bändigen Legendars, das im 15. Jahrhundert unter dem Priorat des Mönches Arnold im Kloster Böddeken entstand.3 Der Septemberband mit der Hildegard-Vita wurde von dem Priester Konrad von Hersfeld und dem Diakon Anton von Lippstadt hergestellt. Die Handschrift enthielt auf f. 240r247v die beiden ersten Bücher der Vita Hildegardis sowie auf f. 247v-249v das (unvollständige) Kanonisationsprotokoll. 1641 sandte Johannes Gamans eine Abschrift beider Texte an die Bollandisten. Diese wiederum arbeiteten die Lesarten in die von ihnen nachgedruckte Ausgabe der Hildegard-Vita von Laurentius Surius ein4 und gaben das Kanonisationsprotokoll nach der Böddekener Handschrift heraus. Der in den Acta Sanctorum von Stilting besorgte Druck der Hildegard-Vita5 beruht seinerseits auf der Edition von Surius und bringt im Apparat die Lesarten nach der Böddekener Handschrift. Eine von den Bollandisten aus unterschiedlichen Vorlagenhandschriften zusammengestellte Druckvorlage vieler Viten liegt in Brüssel (Collectanea Bollandiana, Cod. 3439 [3196203], f. 412v-413v). Diese Papierhandschrift aus dem 17. Jahrhundert greift bezüglich der Vita Ruperti nachweislich auf das Böddekener Legendär zurück

(„Ex

ms

Bodecensi").6

Zwei Jahre nach Busaeus' Edition der Vita Ruperti, im Jahre 1604, veröffentlichte Nicolaus Serarius SJ (1555-1609) im Rahmen einer von ihm verfaßten fünf bändigen Geschichte von Mainz die Rupertus-Vita ein weiteres Mal.7 Auch wie Busaeus die beiden Digressionen weg. Hierzu schrieb Serarius: er ließ e chirographis schediis Busaeus noster. Et edidit „Vitam s. Ruperti earn quidem vitam notât in libro de scriptoribus ecclesiasticis Trithemius incipere: ,Nam ut in vera visione', sicque ipsam inchoant vetera illa schedia. Sed ne importunum, nimisque abruptum sit exordium, recte paulo altius earn e citato Beatae [Hildegardis; Ergänzung] libro exorsus est editor; recteque idem digressiunculas quasdam omisit. presertim cum in Ms. mendosa prorsus unius oratio sit, hiulcaque sententia. Eum imitabor: adhibita cum dictis iam schediis collatiuncula."8 Im übrigen trifft die Information des Busaeus, er habe die Editio princeps der Rupertus-Vita veranstaltet, nicht zu. Bereits 1570 war der Text in den Vitae Sanctorum des Kölner Kartäusers Laurentius Surius erschienen (zum -

-

...

1 2

3 4 5 6 7

8

...

Schmelzeis 1879, S. 503. Klaes 1993, S. 181*. Vgl. Moretus 1908, insbesondere S. 261f. De probatis sanctorum historiis, V, Köln 1574, S. 271-295. AA.SS, Septembris V, Antwerpen 1755, S. 629-701. Vgl. Van den Gheyn 1905, S. 410, Nr. 61. Vita Ruperti 1604. Ebd., S. 187.

...

Das

Epistolarium

207

15. Mai).1 Leider gibt Surius die handschriftliche Quelle, auf der seine Edition errichtet ist, nicht an. Während Busaeus und Serarius die Vita nach der oben erwähnten, heute verschollenen Handschrift des Mainzer Jesuitenkollegs edierten, griffen die Bollandisten zusätzlich („nostre more") auf einen im St. Salvator-Stift von Utrecht liegenden sowie auf einen im Regularkanoniker-Kloster Roodendael bei Brüssel befindlichen Codex zurück. Ersterer enthielt eine komprimierte, möglicherweise jüngere Fassung der Vita Ruperti sowie der Vita Hildegardis2, letzterer eine Fassung der Vita Ruperti: „Eiusdem S. Ruperti Vitam, sed contractam, invenimus in Ms Ultrajectino Ecclesiae S. Salvatoris, & in Ms coenobii Rubeae vallis Canonicorum Regularium prope Bruxellas : quam & germanice transtulit Iacobus Kobelius, Secretarius urbis Oppenheimi ..."3 Ob der Utrechter Codex mit dem erwähnten Böddekener identisch ist oder eine gemeinsame Vorlage besitzt, bliebe zu untersuchen. Weitere Editionen der Vita S. Ruperti erschienen 1617 in einer späteren Ausgabe der Vitae Sanctorum des Laurentius Surius (Bd. 3, S. 218ff.) sowie 1722 in der neu aufgelegten Ausgabe des Serarius (Rerum Moguntiacarum, I, S. 187-193). Der Hinweis auf die deutsche Übersetzung der Rupertus-Vita durch Jakob Koebel ist nicht ohne Bedeutung. Immerhin haben wir hier einen der ganz seltenen Fälle vor uns, in denen ein Text Hildegards zuerst in einer volkssprachlichen (deutschen) Übersetzung, und dann im lateinischen Original erschien. Damit bezeugt die deutsche Ausgabe der Vita Ruperti in Verbindung mit der deutschen Vita Hildegardis die frühe Berücksichtigung Hildegards innerhalb der volkssprachlichen Prosa-Legendarik. Koebels Druck trägt den Titel Die Legend des heyligen herzogen sant Ruprechts / bey Byngen vff sant Ruprechts berg leyplich rastende. Die Legend von der seligen jungfrazven sant Hildegard der Christlichen Sibilla vnd offenbarerin der heymlichen wunderwerck gotes / die Aptißin vff sant Ruprechts bergk gewessen ist. Gedruckt zu Oppenheim vff mo[n]tag nach sant Grégorien des heylige[n] babsts tag. Anno MDXXIIII [Ruprechts-Vita: f. Ir-XIIIIr; Hildegard-Legende: f. XIIIIv-XLIIv].4 Die Tatsache, daß sämtliche Herausgeber der Vita S. Ruperti nicht auf den Text des Riesencodex zurückgriffen, obwohl doch bereits Jakob Koebel diesen zur Grundlage seiner 1524 erschienenen deutschen Übersetzung gemacht hatte, überrascht ein wenig.5 Es ist die große Ausnahme, daß nicht der Riesencodex zur Basis der Edition einer Hildegard-Schrift gemacht, ja nicht einmal beachtet wurde. Der Grund hierfür liegt vermutlich darin, daß die betreffenden Texte im Riesencodex nicht mit eigenem Titel aufgeführt werden. Sie werden dort, wie es überlieferungsgeschichtlich ja auch zutreffend ist, als normale Briefe behandelt und gehen dadurch im Epistolarium gewissermaßen unter. -

1 2 3 4 5

Hier zitiert nach Surius De vitis. hierzu Klaes 1993, S. 179*-180:\ Hier zitiert nach der Ausgabe AA.SS, Maii, III, Venedig 1738, S. 504. Vgl. zu diesem Druck Bruder 1882, insbesondere S. 192-195. Legend S. Ruprechts 1524. Vgl. hierzu Bruder 1882, insbesondere S. 72-76.

Vgl.

Kapitel 5

208

5.5 Die Vita Disibodi

(VD)

Auch die Vita Disibodi ist im Zusammenhang von Hildegards Briefen überliefert. Abt Helenger vom Kloster Disibodenberg bat Hildegard in einem ca. 1170 entstandenen Brief um die Anfertigung einer Lebensbeschreibung des Klosterheiligen, ein Wunsch, dem Hildegard bereitwillig entsprach.1 Die Datierung des Werkes hat aufgrund widersprüchlicher Angaben Hildegards lange Zeit Schwierigkeiten bereitet. In einem vermutlich aus dem Jahre 1170 stammenden Schreiben an Abt Werner von Kirchheim berichtet Hildegard, sie habe eine große Vision empfangen, in der man gewöhnlich die Vita S. Disibodi erblickt.2 Auch im Vorwort zur Vita Disibodi nennt Hildegard dieses

Jahr:

...

anno

Dominice incarnationis millesimo centesimo corpore et animo, sie dicentem audivi.3

coelo, vigilans

septuagesimo

vocem

de

...

Beide Schreiben lassen erkennen, daß Hildegard die Vita nach einer längeren Krankheit (die Vita Disibodi spricht von drei Jahren) sowie nach Abschluß des Liber vitae meritorum, mithin nach 1163, niedergeschrieben hat. Erst im Anschluß daran ist der Liber divinorum operum entstanden, eine Information, die bestätigt wird durch die Vita Hildegardis.4 Auf der anderen Seite gibt Hildegard im Vorwort zum Liber divinorum operum indirekt die Spanne 1163— 1170 als Entstehungszeit für die dritte Visionsschrift an. Dies würde bedeuten, daß die Disibod-Vita früher, genauer gesagt vor 1163, niedergeschrieben worden sei. Schrader/Führkötter haben die divergierenden Angaben überzeugend zu erklären vermocht. Demnach ergibt sich die Problematik einfach daraus, daß der Liber divinorum operum nach dem Tode Volmars nur sehr schleppend fertiggestellt werden konnte. Es läßt sich daher für die Zeit um 1170 mit einer gewissen Parallelität des Arbeitens an dem nahezu abgeschlossenen Visionswerk und der kurzen Disibod-Vita rechnen. „Die Abfassungszeit der VSD ist also in Übereinstimmung mit Hildegards Einleitung zu dieser Schrift in das Jahr 1170 zu 1

legen. «5

Die Vita Disibodi gehört zu den weniger breit überlieferten Werken Hildegards. Der Text findet sich in folgenden Handschriften: 1. ) R Riesencodex, f. 427va-434ra (versteckt innerhalb des Epistolariums). 2. ) Wr Wien, ÖNB, Cod. 963 [theol. 348], f. 161ra-168vb (13. Jahrhundert, =

=

Abtei

1 2 3

4

Helengervs Abbas ad Hildegardem, in Epistolarium I, Ep. LXXVII, Antwort Hildegards ebd., S. 168-175. Hildegardis ad Wernerum, in Epistolarium II, Ep. CXIXr, S. 333-337. Riesencodex, f. 427va (PL 197, Sp. 1095E). Vita

bodi 5

Rommersdorf).

III 25, S. 67f.: „Post hec Deinde librum Diuinorum

Hildegardis 1993, ...

scriberem

Schrader/Führkötter 1956, S. 151. ...

...

uitam saneti Disi..."

coacta sum, ut

Operum scripsi

S. 166f. Die

209 Epistolarium Brüssel, Cod. 8060-4, f. 165ra-175va (mit VR). Teil eines Legendars von

Das

3. ) Br

=

1380/90, Entstehungsort unbekannt.

4. ) Lo

=

dex,

London, BL, Cod. Add. 15102, f.

1487/89 im

137v-145v. Abschrift des Riesenco-

Auftrag des Trithemius angefertigt.

London, BL, Cod. Harl. 1725, f. 273v-286v. Abschrift des Riesencodex, 15. Jahrhundert. 6. ) Tr Trier, StB, Hs 1151/455, f. 129vb-138va (innerhalb eines vierbändigen 5. ) Lo 1

=

=

Passionales der Abtei Trier-St. Maximin, Anfang 13. Jh.). 7. ) Pa Paris, BN, Cod. lat. 10870, f. 65v-82v. Hinzu kommen folgende mittlerweile verschollene Textzeugen: 1. ) W Wien; Cod. 721 (Abschrift des Riesencodex) =

=

Eberbach, Bibl. major, Sig, T. 9 (verwandt mit Berlin, Ms lat. qu. 835 und Wien, ÖNB, Cod. 963 [theol. 348]; die in der Inkunabel 225 der Diözesanbibliothek/Bistumsarchiv Limburg enthaltenen handschriftlichen Hildegard-Texte sind bezüglich der Briefe aus dieser Handschrift geschöpft).1 Sie enthielt die Vita Hildegar dis, die Epistolae und die Vita S. Disibodi. 3. ) H Himmerod, erste Hälfte des 13. Jahrhunderts (abhängig von Wien, Cod. 1016 und/oder Trier, BPS Hs 68 oder einer gemeinsamen Vorlage beider Handschriften). Enthielt die VD, dazu den Liber vitae meritorum, die Vita S. Ruperti, die Explanatio Regulae S. Benedicti und Auszüge aus dem Epistolarium.

2. ) E

=

=

Druckausgabe der Vita Disibodi innerhalb von Mignes Patrologia Latina auf den aus dem 17. Jahrhundert stammenden Text der Acta Sanctorum greift Bollandorum zurück.2 Die Bollandisten wiederum, die in ihrer Bibliotheca Hagiograpbica Latina die gedruckt erschienenen Ausgaben im Detail auflisten, verweisen auf eine ältere Ausgabe des Laurentius Surius aus dem Jahre 1570.3 In der Tat erscheint im Juli-Band der von Surius herausgegebenen Viten-Sammlung (hier zum 8. Juli) Hildegards Vita S. Disibodi in einer bearbeiteten Fassung.4 Surius gibt weder an, auf welcher handschriftlichen Vorlage seine Edition basiert, noch benennt er die Kriterien für seine Redaktion und Edition des Textes. In der Überschrift heißt es lediglich: „Vita S. Disibodi Episcopi et Confessoris a S. Hildegarde abbatissa iussu Helengeri abbatis conscripta sed F. Laur. Die

1 2

Palmer 1998, S. 132-137. 211f. 253. 280. Hier zitiert nach dem Band Juli, T. 2, der Ausgabe Venedig 1747, S. 581-597; es schließt sich ein Abschnitt mit den Miracula des hl. Disibod an (ebd., S. 597-599). Dieser Abschnitt ist übernommen aus dem bereits mehrfach erwähnten Böddekener Legendär. Die älteste und einzig vollständige, insgesamt 67 Bände umfassende Ausgabe der Acta Sanctorum wurde 1643 in Antwerpen begonnen, aber erst 1894 in Bruxelles mit den Heiligenviten zum 10. November abgeschlossen. Zur Drucküberlieferung der Vita Disibodi vgl. Bibliotheca Hagiograpbica Latina, I, Bruxelles 1898/1899, S. 333. Vgl. Bibliotheca Hagiograpbica Latina, I, Bruxelles 1898, S. 333. Surius De vitis, S. 141-147.

Vgl.

-

3 4

Kapitel 5

210

Surius

ihnen

stylum mutavit" [hervorgeh. vom Verf.]. Die Bollandisten versuchten, die mangelhaft erscheinende Textedition des Surius zu verbessern. Hierzu

griffen sie auf eine weitere Handschrift der Vita S. Disibodi zurück. Dieser Textzeuge stammt aus der Benediktinerabtei Trier-St. Maximin und wurde den Bollandisten nach eigenen Angaben von einem Mönch namens Rosweydus zur Verfügung gestellt. Außerdem zogen die Bollandisten zusätzliche biographische Zeugnisse über den heiligen Disibod hinzu, die sie aus Hrabanus Maurus, Marianus Scotus und den Annales des Caesar Baronius gewannen. Auch für die Vita S. Disibodi gilt also, daß der Riesencodex nicht zur Grundlage der gedruckt erschienenen Editionen gemacht wurde. Der Grund hierfür ist der gleiche wie bei den übrigen Brieftraktaten. Diese Opuscula waren im Riesen-

codex nicht als eigenständige Schriften ausgewiesen, sondern firmierten dort als normale Briefe. Sie gerieten damit überlieferungsgeschichtlich nicht in den Blick der Editoren. Wie dunkel die Überlieferung der Vita S. Disibodi, aber auch jene der Vita S. Ruperti, in der Tat ist, beweisen nicht zuletzt die recht diffus klingenden Ausführungen Johannes Stiltings aus dem Jahre 1755. Im Vorbericht zum Hildegard-Teil der Acta Sanctorum Bollandorum (hier 17. zum September) beruft Stilting sich auf Informationen des Trithemius und legt dar: „Ambas has Vitas habemus in codice ms. una cum explanatione Regulae S. Benedicti. Ambae etiam impressi sunt apud Surium et in opere nostro, prior nimirum ad diem 15 Maii, altera ad 8 Juli."1 Um welche Handschriften es sich bei den genannten Codices handelte, gibt Stilring nicht an. Nimmt man Stiltings Ausführungen wörtlich, so müßte es einen Codex gegeben haben, der Hildegards Explanatio Regulae S. Benedicti, die Vita S. Ruperti und die Vita S. Disibodi beinhaltet hat. Aufgrund der schwierigen Quellenlage ist es kaum möglich, exakt zu ermitteln, ab wann die Vita Disibodi und die Vita Ruperti sowie die übrigen Brieftraktate als autonome Texte überliefert wurden.

Einzelüberlieferung von Hildegards Brief an den Klerus von Köln Es ist mehrfach angeklungen, daß einige Briefe Hildegards aufgrund ihres traktatartigen Charakters im Laufe der Zeit aus dem Epistolarium ausgegliedert wurden und eine eigenständige Überlieferung entwickelten. Als besonders drastisches Beispiel für eine solche Entwicklung sei hier gewissermaßen exemplarisch Hildegards Brief an den Klerus von Köln genannt.2 Bei diesem Brief handelt es sich, ebenso wie bei Hildegards Brief an den Klerus von Trier, eigentlich um eine Predigt. Zwischen 1161 und 1163 hatte Hildegard ihre dritte sogenannte Predigtreise unternommen.3 Während dieser 5.6 Die

-

-

1 2

Hier zit. nach PL 197,

Vgl.

Sp. 75. Müller 1979.

Kerby-Fulton 1987. Bund 1988. Gössfolgenden 1989. Die erste, nach Mainz und an den Main führende Predigtreise wird in die Jahre 1158-1161 datiert. Die zweite Predigtreise nach Lothringen und Trier fällt in die zum

-

mann

3

-

-

211 Epistolarium Reise, die sie bis nach Werden an der Ruhr führte, predigte sie auch in Köln. Die

Das

genauen Hintergründe und Anlässe sind nicht bekannt. Als näheren Termin hierfür läßt sich die Zeit vor dem 5. August 1163 annehmen. An diesem Tag kam es in Köln zur öffentlichen Verbrennung einer Gruppe von Katharern es war die erste Ketzerverbrennung in Deutschland überhaupt. Die seit 1143 in Köln anwesenden Katharer hatten in der Stadt eine Schule gegründet und sich auch unter den oberen Volksschichten und den Geistlichen eine treue Anhängerschaft erworben.1 Die Armen Christi, wie sie selbst sich nannten, wollten als Gegenentwurf zu einer dem Reichtum hingegebenen Prälatenkirche die apostolische Lehre in ihrer ursprünglichen Reinheit verwirklichen. Man lebte ohne Besitz, ständig wandernd, fastend, betend und Handarbeit verrichtend. Es gab eigene Bischöfe und Auserwählte, die durch Handauflegung im Feuer und im Heiligen Geist getauft waren, während andere, niedriger stehende Sektenmitglieder, nur das Vaterunser beten durften. Wieder andere, die sogenannten viri periti, traten als Lehrer des Glaubens auf. Die wichtigsten Lehren der Katharer betrafen nach ihren positiven Inhalten betrachtet die Leugnung der Ehe, der Kindertaufe, des Fegefeuers2 und der leiblichen Auferstehung. Wenn nun Hildegard in ihrem Schreiben an die Kölner Geistlichkeit dazu auffordert, die „nefarii homines" aus ihrer Stadt zu vertreiben, so ist dies eine Wendung, die sich bestens auf die Katharer beziehen läßt. Hieraus wiederum läßt sich schließen, daß der Brief vermutlich noch im Vorfeld der erwähnten Katharer-Verbrennung, d. h. vor dem 5. August 1163, entstanden ist. Sein Inhalt läßt erkennen, daß Hildegard hinsichtlich der Bestrafung der Katharer offenbar eine mildere Einstellung vertrat als der Kölner Klerus: Sie plädierte nicht für Verbrennung, sondern für Vertreibung der Ketzer. Domdekan Philipp von Heinsberg, der im Herbst 1167 zum Erzbischof von Köln ernannt wurde, bat Hildegard im Namen des gesamten Kölner Klerus nachträglich darum, ihre Predigt schriftlich noch einmal zusammenzufassen. Van Acker vermutet die Entstehung des Anfragebriefes ebenfalls im Jahr 1163.3 Hildegard kam dem Wunsch Phi-

-

-

Pfingstzeit 1160. Der in der Hildegardforschung fest eingebürgte Begriff der Predigt-

1

reise bedarf nach unserem Dafürhalten einer Überprüfung und Präzisierung. Hildegard als Frau konnte keine normale (Kanzel-)Predigt halten. Vgl. Chronica Coloniensis, S. 114. Knipping 1901, Nr. 761. Demgegenüber setzt Borst 1953, S. 94f., Hildegards Predigt in das Jahr 1164. Vgl. hierzu Le Goff 1984, besonders S. 205-210 (Das Fegefeuer und der Kampf gegen das Ketzertum). Die entsprechende Passage aus dem Anfragebrief Philipps an Hildegard lautet: „Rogamus etiam, ut ea que uiua uoce nobis prius dixistis [diese Wendung läßt auch auf eine Predigt bzw. öffentliche Ansprache schließen; Ergänzung], litteris quoque commendetis et nobis transmittatis, quia, dum carnalibus concupiscentiis dediti sumus, spiritalia, que nec frequenter uidemus nec audimus, facile per neglegentiam obliuioni tradimus." (Philippus Decanus Clerusque Coloniensis ad Hildegardem, in Epistolarium I, Ep. XV, S. 33 20-22). -

2

3

-

Kapitel 5

212

lipps vermutlich noch im Verlaufe des Jahres

1163 nach.' Inwieweit die schriftmit der mündlichen identisch ist bzw. zusätzliches Material enthält, läßt sich nicht mehr eruieren. Daß Hildegard ihre Predigten oder Ansprachen, wie Loris Sturlese dies annimmt, in lateinischer Sprache gehalten hat, läßt sich nicht direkt beweisen.2 Es gibt andere mittelalterliche Beispiele für den Typus der Ketzerpredigt, die belegen, daß diese Predigten, die sich ja an ein breiteres (Laien-)Publikum richteten, in die Volkssprache Eingang fanden. Anton E. Schönbach zufolge ist die „Predigt vor der Laiengemeinde in Deutschland während des Mittelalters niemals anders denn in deutscher Sprache gehalten worden."3 Einen differenzierten Befund liefert das Beispiel des Berthold von Regensburg (f 1272), des großen Wander- und Volkspredigers aus dem 13. Jahrhundert. Seine ab 1263 auf päpstlichen Auftrag hin gehaltenen Predigten gegen die Waldenser wurden von Bertholds Konvent aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt. Dabei erfuhren sie eine Bearbeitung, wobei die schriftliche Fixierung (wie die Ubersetzung) erst nachträglich vorgenommen wurden. Dabei ahmte man ganz bewußt die Stilform mündlich gehaltener Rede nach, um die lebendige, direkte Predigtsprache auch in die Schriftsprache zu übernehmen.4 Die originalen lateinischen Predigten Bertholds hingegen sind sehr viel gelehrter, akademischer und zitatenreicher gestaltet. Sie dienten als homiletische Stoffsammlungen und Musterpredigten für andere Prediger.5 Schon im 12. Jahrhundert erschienen mit der Benediktbeurener Predigtsammlung (1. Hälfte 12. Jh.), die aufgrund ihres noch sehr engen Bezuges zur lateinischen Predigtsammlung des Honorius Augusto-

liche

Fassung

...

1 2

Epistolarium I, Ep. XVr, S. 34-47. „Andererseits muß auch erwähnt werden", so Sturlese, „daß sie [Hildegard; Ergän-

Der Text findet sich in

zung] während ihrer Reisen in den 60er Jahren Predigten auch in lateinischer Sprache hielt." Sturlese 1993, S. 207, Anm. 376. 3 4

Schönbach 1896/1907, VIII, S. 65. Vgl. Schönbach 1896/1907, VIII, S. 64-69. Richter 1969, insbesondere S. 224-241 (Kanzelpredigt und Überlieferung. Der historische Berthold von Regensburg und die unter seinem Namen überlieferten deutschen Predigten). Obwohl Richter die deutschen Predigten Bertholds ganz eindeutig als nachträgliche Bearbeitungen identifiziert, ist sein Urteil über sie doch positiv: „Die deutschen Predigten zeigen eine Leidenschaftlichkeit der Diktion, eine sprach- und wortschöpferische Vielfalt, wie sie in ihrer Art die deutsche Sprache noch nie und dann bis Luther nicht wieder kannte. Sie dringt in ganz neue Bereiche, die des Populären und Vulgären, sie vermag zum ersten Mal den Stil der gesprochenen Rede adäquat darzustellen, zum ersten Mal in ungebundener Rede zu rühren und zu erschüttern. Neben Mechthilds fließendem -

...

Licht' und Davids von Augsburg Traktaten bilden die deutschen Berthold-Texte einen Gipfel mittelalterlicher Prosa." (Richter 1969, S. 239). Vgl. auch Banta 1978, Sie wurden wohl ca. hier Sp. 820: „Die deutschen Predigten sind nicht authentisch 1275 als Lesestücke von demselben Minoritenkreis redigiert wie der ,Deutschenspiegel' und der ,Schwabenspiegel'." Vgl. hierzu die Ausführungen von Wehrli 1980, S. 616-620. ...

5

Das

Epistolarium

213

dunensis meist als Speculum ecclesiae bezeichnet wird, oder mit dem Predigtbuch des Priesters Konrad (um 1170) erste Beispiele für das langsame Vordringen der deutschsprachigen Predigtsammlung. Im Hinblick auf Hildegards Predigten erscheint wichtig, daß die lateinische Sprachform der schriftlichen Überlieferung dieser Texte nicht unbedingt als Beweis dafür gewertet werden kann, daß auch die mündliche Redeform lateinisch war. Bedingt durch seine Aufnahme in das Pentachronon Gebenos von Eberbach, fand Hildegards Brief an den Klerus von Köln quer durch ganz Europa hin weiteste Verbreitung. Konrad Bund hat im Jahre 1988 die noch vorhandenen bzw. die in der Literatur erwähnten, mittlerweile verschollenen Textzeugen des Briefes bibliographisch zusammengetragen.1 Seine Liste, der ich hier folge, umfaßt insgesamt 37 Textzeugen. Dabei ist Überlieferung des Pentachronon, die Bund auf insgesamt 250 Handschriften taxiert, aus verständlichen Gründen nicht systematisch miteinbezogen worden. Von diesen 37 Textzeugen sind nach Bund zwölf zwischenzeitlich verlorengegangen. Nachfolgend eine kurze Auflistung der Handschriften in grob entstehungsgeschichtlicher Anordnung. Titelformulierungen werden nur dann angegeben, wenn sie den Inhalt des Textes in einer spezifischen Weise charakterisieren. Normale Incipits und Explicits werden nicht eigens aufgeführt. Die frühe Briefsammlung Z (= Stuttgart, WLB, Cod. theol. et phil. 4° 253) enthält Hildegards Schreiben Ad Colonienses nicht. 1. ) W Wien, ÖNB, Cod. 881 (theol. 787; bei Pitra: Cod. 629), f. 51r-57r =

(Rupertsberg/Zwiefalten,

2. ) R

=

Wiesbaden,

Hess.

pertsberg 1177/80) 3. ) Ro Wien, ÖNB,

Cod. 963 (theol. 348, olim 112; bei Pitra: Cod. 628), f. 125rb-129va. Van Acker bezeichnet diese Handschrift als Wr und führt sie auf einen verlorenen, vor 1173 entstandenen Archetyp (= Wru bzw. Ei) zurück (Rommersdorf, St. Maria, um 1250) Wb Wolfenbüttel, HAB, Cod. 125.2 Extravagantes, f. 12rb-13vb; 4ra-5va (Bindefehler); Pentachronon Gebenos (Norddeutschland (?), um 1250) K München, BSB, clm 324 [536], f. 33v-36r Pentachronon Gebenos, Schriften Elisabeths von Schönau, Bernhards von Clairvaux und Giselberts von Westminster (Zisterzienserabtei Kaisheim, ca. 1260/70). Bei Van Acker als Gb bezeichnet. Überschrift: „Epistola sancte Hildegardis ad Colonienses de futura tribulatione clericorum" Cb Cambridge, Corpus Christi College, Ms 288, f. 101v-103r. Sammelhandschrift mit kirchenkritischen Texten (zwei Briefe Kaiser Friedrichs II. gegen den Papst, Gravamina Anglorum adversus potestatem pape); Titel: „Epistola b. Hildegardis de re operto [?] iuxta Pinguiam de futura tribulatione clericorum et de vero tempore". (Canterbury, Christchurch, um 1270; Besitzvermerk des N. de Sandwich, Prior ebendort von 1255-1280) =

4. ) 5. )

6. )

l

ca. 1164/70) Landesbibl., Hs 2 (Riesencodex), f. 409ra-413rb (Ru-

=

=

=

Bund

1988, S. 174-179.

214

7.)

Ca

Cambridge, UL,

=

Ms

Kapitel 5 Ii. VI. 11 Sammelhandschrift,

u. a.

mit Gebenos

Pentachronon, Werken des Augustinus und des Nennius (Historia Britonum); Titel: „Epistola s. Hildegardis ad Colonienses de futura tribulatione

clericorum et de novis religionibus et de III temporibus, melioeri acro et cadenti". (England?, 13. Jahrhundert) 8. ) B Berlin, StBPrK, Ms lat. qu. 674, f. 80rb-84va. Gebenos Pentachronon sowie verschiedene Werke und 56 Briefe Hildegards. Titel: „Epistola sancte Hyldegardis ad Colonienses de futura turbatione clericorum et de secundo =

tempore" (Trier-Pfalzel, St. Maria/Rupertsberg, 13./14. Jahrhundert) Druckvorlage für Martène/Durand, Veterum scriptorum et monumentorum amplissima collectio. T. II. Paris 1733, danach Migne, PL 197,

9. ) Ro

=

S. 245-253 10. ) En London, =

BL, Arundel ms. 337, f. 16r-17ra (England, 14. Jahrhundert).

Sammelhandschrift, u. a. mit Gebenos Pentachronon, Briefen Hildegards und Auszügen aus dem Scivias. Des weiteren Heinrich von Huntingdon

11. )

12. )

und Wilhelm von Malmesbury. Titel: „Epistola s. Hildegardis ad Colonienses de futura tribulatione clericorum et de novis religionibus et de tribus temporibus, muliebri acro et cadenti ..." Nr Darmstadt, HLB, Ms 947, f. 123ra-127ra (Niederrhein/Niederlande, 12.-14. Jahrhundert, aus der Kartause St. Barbara zu Köln). Sammelhandschrift, darin Auszüge aus Briefen Hildegards (14. Jahrhundert) BE Cambridge, Corpus Christi College, Ms 404, f. 36r-37v (Bury St. Edmunds, 14. Jahrhundert). Sammelhandschrift mit prophetischen Texten, u. a. Gebenos Pentachronon und einem Text Ex prophetia Sibille [i. e. Hildegard von Bingen; against the friars]: „Filia Syon, corona capitis tui inclinabitur, quia non recognoscis ..." Letzterer Text stammt aus Hildegards Brief Ad pastores Ecclesiae XVR. Er ist hier zitiert nach der von Van Acker im Appendix abgedruckten Fassung des Riesencodex (Van Acker, Bd. 1, App., S. 45 77F.). Titel des Briefes an den Klerus von Köln, der vermutlich aus Gebeno übernommen ist: „Epistola s. Hildegardis ad Colonienses de futura tribulatione clericorum et de novis religionibus et de tribus temporibus muliebri acri et cadenti ..." PI Cambridge, St. John's Coll., Ms 27 (B 5). Sammelhandschrift, u. a. mit der Historia ecclesiastica des Beda venerabilis und dem Pentachronon des Gebeno (College Pleshy / Essex, 14. Jahrhundert) Gb Paris, BN, Cod. lat. 4126, f. 295v-296r. Sammelhandschrift mit historiographischen, geographischen, juristischen und prophetischen Texten Nr. 31: „Epistola s. Hildegardis ad Colonienses de futura tribulatione clericorum et de novis religiosis et de tribus temporibus infebri acri [?] et cadenti". Vermutlich übernommen aus Gebeno (Großbritannien [?], 14. =

=



13. ) 14. )

=

=

Jahrhundert)

15. ) Dt

=

Paris, BN, Cod. lat. 4895

schen und

A. Sammelhandschrift mit historiographihagiographischen Texten. Nr. 7: „Hildegardis ep. ad Colonienses

Das

Epistolarium

215

de futura tribulatione clericorum". Vermutlich übernommen

aus

Gebeno

(Deutschland [?], H.Jahrhundert)

16. ) Er Erfurt, Wissenschaftliche Allgemeinbibliothek, Hs Ampi. Qu. 98, f. 178r-179v. Theologische Sammelhandschrift, Ende H.Jahrhundert. Ent-

Gebenos Pentachronon oder Teile daraus. Handschrift des Paul

hält

u. a.

von

Geldern

Oxford, Bodleian Library, Ms Hatton 56 (England, um 1450). SammTexte mit Bezug auf die Geschichte Englands, darunter prophetischer lung Hildegards Brief an den Klerus von Köln

17. ) Ox

=

214, f. 172r-178v. Sammelhandschrift mit Heiligenleben und prophetischen Texten, darunter: Pentachronon Gebenos mit „epistola sancte Hildegardis ad Colonienses de futura turbatione clericorum et de secundo tempore" (Kreuzbrüderkloster, 1458) 19. ) Da Darmstadt, HLB, Ms 533, f. 182r-184v. Sammelhandschrift, u. a. mit Regula s. Francisci und Epistola s. Hildegardis ad Colonienses de futura tri18. ) Kö

Köln, Historisches Archiv, Gb

=



=

(Amsterdam, 1460/63) Cambridge, Trinity College, Ms 360. Prophecies of St. Hildegard (u. a. Auszüge aus dem Liber divinorum operum). Entstehungsregion : Niebulatione

20. ) TC

=

derlande (?) 1465 London, BL, Cod. Add. 15102

21. ) Wü

=

Rupertsberg

22. ) BN

=

1487

(Abschrift

des Trithemius

von

R).

Paris, BN, Cod. lat. 2592. Sammelhandschrift mit Visionstexten, dar-

Gebenos Pentachronon (15. Jahrhundert) Hs 722/277 4°. Enthält Hildegards Scivias und den Liber in einer Abschrift von Ro (Koblenz, Kartause St. Beatusberg, epistolarum

unter

23. ) Tr

Trier, StB,

=

15. Jahrhundert) 24. ) Ha London, BL, Cod. Harl. 1725. Briefsammlung Hildegards, wie Ro (Deutschland, 15. Jahrhundert) 25. ) CC Cambridge, Corpus Christi College, Ms 107, f. 93rv. Titel: Epistola =

=

Hildegardis virginis ad [?], 16. Jahrhundert).

Colonienses de

perturbatione

clericorum

(England

Erschlossene bzw. verschollene Handschriften: 1. ) Ei Liber Epistolarum, Archetyp der Rommersdorfer Handschrift (Ro), von Volmar angelegt, im Kanonisationsprozeß von 1233 erwähnt (Rupertsberg, vor 1173); von Van Acker als Wru bezeichnet 2. ) Eb Ehemals Zisterzienserkloster Eberbach, Quelle für Gebenos Pentachronon (vor 1220) Ehemals Zisterzienserkloster Heisterbach, Quelle für Caesarius von 3. ) He Heisterbach, der in seinen Wundergeschichten (s. u.) eine längere Passage aus dem Brief zitiert (vor 1224/25) 4. ) Ru ehemals Rom, Kurie, besiegelte Abschrift von (Ei), zum Kanonisationsprozeß nach Rom gesandt (Rupertsberg, vor 1223) =

=

=

=

Kapitel 5

216

Ehemals Kloster Trois Fontaines, um 1251/52 (Chronica Alberici Monachi Trium Fontium, a monacho Novi Monasterii Hoiensis interpolata. Ed. P. Scheffer-Boichorst [MGH SS XXIII. Hannover 1874], S. 833f. und 842) RS Ehemals Straßburg oder Senon, vor 1254/70. Richer von Senones [Sens] benutzte eine Handschrift des Briefes (Böhmer, Fontes III, S. 53) St Ehemals Stade, um 1260 Liber epistolarum und andere Werke Hildegards (Annales Stadenses auctore Alberto Minorita. Ed. J. M. Lappenberg [MGH SS XVI]. Hannover 1859, S. 330) We Ehemals Zisterzienserkloster Wettingen/Aargau, um 1270 (MBK D I, S. 414f.). Pentachronon Gebenos Wi Ehemals Wien, Hofbibl. 721, 13. Jahrhundert ? (Abschrift des Riesen-

5. ) TF

=

6. )

=

7. )

-

8. )

9. )

=

=

codex)

Ehemals Zisterzienserkloster Himmerod, 13./14. Jahrhundert. Nahe Verwandtschaft zu Ro 11. ) Am Erfurt, ehemals Amplonianische Bibliothek, Ms Theol. Nr. 99 (1410/12). Titel: Libellas diuersarum epistolarum et dictorum de futuro statu ecclesie s. Hildegardis prophetisse Pinguensis. Vermutlich übernommen aus Gebeno (MBK D II, S. 72) 12. ) Es Ehemals Esslingen, Augustinereremiten 1488. Titel: Prophetia b. virginis Hildegardis de futuris temporibus et de antichristo. Vermutlich übernommen aus Gebeno 13. ) Ks Ehemals Erfurt, Kartause Salvatorberg, Ende 15. Jahrhundert. Titel: Beatae Hildegardis, sanctimonialis virgo et abbatissa: Ad Coloniensem clerum de futuris temporibus et periculis in ecclesia liber I (MBK D II, S. 578) Gliedert man diesen Bestand nach übergreifenden Merkmalen, so lassen sich basierend auf den Forschungsergebnissen von Konrad Bund vier unterschiedliche, sich mitunter berührende oder überschneidende Formen der Überlieferung unterscheiden: 1. ) Die Überlieferung innerhalb von Miscellaneenhandschriften und Kompilationen mit Werken Hildegards, ohne daß die Briefe bereits zu einem Liber epistolarium redigiert worden wären (W, B). 2. ) Die redigierte Form des Liber epistolarium nach Art eines Prälatenspiegels und mit beigefügten Partnerschreiben (Ei, R, Eb, He?, Ru, Ro, TF, St, Wi, 10. ) Hm

=

=

=

=

-

-

Hm

=

Migne, PL, Wü, Tr, Ha).

3. ) Die

Überlieferung des Textes innerhalb von Gebenos Pentachronon (He?,

Ro, Wb, We?, K, Ca, B, En, BE, PI, Dt, Am, Es, BN). 4. ) Die Einzelüberlieferung des Textes in Sammelhandschriften, auch in

Ver-

bindung mit anderen Schriften Hildegards oder mit dem Pentachronon Gebenos

(Cb, Nr, Gb, Ox, Kö, Da, TC [?], Ha, KS, CC). Was die Art der Textpräsentation anbetrifft, so bieten R, Ro, B, Ha, Kö und Hm Migne, PL Hildegards Brief zusammen mit dem Anfragebrief Philipps von Heinsberg. Diese Textzeugen enthalten eine Langform des Schreibens ohne =

Das

Epistolarium

217

hanc [interim] subtraxi"). Die Textdem englischen Hofdichter Heinrich von Avranches (ca. 1191-1260) stammende versifizierte Fassung des Briefes (s.u.) verzichten auf den Anfragebrief. Die Textzeugen K, Cb, Ca, En, BE, Gb, Da, Ox und CC vertreten eine gekürzte Fassung, die noch dazu ohne Anschreiben erscheint („De vivente luce in fortissima vi rectitudinis persistent"). Aufschlußreich für die Art und Weise, wie dieser Text inhaltlich gedeutet wurde, ist die Tatsache, daß er im Riesencodex lediglich die nüchterne Überschrift Ad clerum Coloniensium trägt. Spätere Handschriften machten daraus sehr spezifisch geartete Inhaltsbestimmungen, die den lokalen Kölner Bezug in den Hintergrund drängten und die angekündigte Strafandrohung auf den gesamten Klerus bzw. die gesamte Kirche ausdehnte. Vorrangig angesprochen wurde dabei die jeweils eigene Epoche der Überlieferungszeit. Lediglich solche Handschriften, die einen entstehungs- oder überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang zu den Britischen Inseln aufweisen, kehrten nicht die allgemeine Klerus-, sondern die Mendikantenkritik hervor. Dies gilt insbesondere für die aus dem 15. Jahrhundert stammende, unter der Überschrift Insurgent gentes geführte pseudo-hildegardische Revelatio b. Yldegardis de fratribus quattuor ordinum (z. B. Oxford, Bodleian Library, Ms. 158).' Auf die Gründe hierfür wird weiter unten noch einzugehen sein. Naturgemäß stellt sich angesichts der Fülle an Überlieferungszeugen die Frage nach der ältesten bzw. ursprünglichsten Textfassung von Hildegards Brief an den Klerus von Köln. Hier gilt, daß die vermutlich bereits vor 1164 begonnene Briefsammlung W Hildegards Brief in einer recht allgemein gehaltenen, jeglichen Hinweis auf die Kölner Ereignisse unterdrückenden Textfassung bietet.2 Sie könnte eine Art Vorlage, Predigtkonzept, Sermo oder Sendschreiben darstellen, das nicht speziell an den Klerus von Köln gerichtet war. Der Textzeuge W ist adressiert an die Pastores Ecclesiae, denen er eine umfassende Strafpredigt hält. Er beklagt die Verkommenheit der Geistlichkeit, tadelt ihren Reichtum und ihren Geiz und führt ihnen die positiven exempla des ersten, biblischen Weltalters vor Augen. Dann wird die Bestrafung durch ein vom Teufel aufgestacheltes, irrendes Volk angedroht. Dieses Volk werde sich noch schlimmer gebärden als die Ketzer der Gegenwart. Unbarmherzig werde es die Pflichtversäumnisse des Klerus aufdekken. Aufgrund seiner schlechten Beispiele werde der Klerus eine Zeitlang seiner Ehrenstellung verlustig gehen. Schließlich jedoch würden die Fürsten die Ungläubigen ausrotten, und die geläuterte Geistlichkeit werde durch gute Werke

Kürzungen („Qui

erat,

et

qui

vocem

est

zeugen W, Nr, Er sowie eine

-

von

-

1

2

Weitere Handschriften dieses Textes finden sich u.a. in: Oxford, Bodleian Library, Ms 507 (Mitte des 15. Jahrhunderts), und Ms Seidon 1659, sowie London, British Library, Ms. Cott. Domitian IX, f. 16 (England, nach 1465). Die Datierung nach W im Anschluß an Van Acker 1991, S. XXIV: „Auch hier trifft mit der Wiener Sammlung schon früher als 1164 ein die Bemerkung zu, daß Anfang gemacht worden sein kann. Der terminus ad quem bleibt 1170." ...

218

Kapitel S

glänzen. Zum Abschluß fügt Hildegard etwas resigniert an, sie sei über zwei Jahre hinweg gedrängt worden, diese Dinge vor Magistern, Doktoren und anderen Gelehrten an bedeutenden Orten zu verkünden. Bedingt durch die Spaltung der Kirche (Papstschisma) habe sie dies nun aufgegeben. Soweit der Inhalt des Briefes an den Klerus von Köln in der Textfassung von W. Betrachtet man die Rezension nach R, so fällt auf, daß hier der Zusammenhang zur Kölner Predigtreise sehr deutlich hergestellt ist. Dies geschieht sowohl durch die Überschrift und das Anfrageschreiben als auch durch eine Reihe eingefügter Textteile, die in W fehlen und die einen deutlichen Kölner Bezug besitzen.1 Die ergänzten Teile intensivieren die Strafandrohung an den Klerus und dienen der inhaltlichen Erläuterung des Gesagten. Fragt man, ob die Einschübe auf Hildegard selbst zurückgehen oder redaktionell bestimmt sind, so ist letzteres anzunehmen. Gleichwohl zeigen sie, wie bereits Adelgundis Führkötter und Marianna Schräder festgestellt haben, „in ihren Gedanken und Bildern, im Stil und im gesamten Gefüge echt Hildegardisches Gepräge".2 Sie könnten, so die beiden Eibinger Schwestern, aus bisher unbekannten Texten Hildegards stammen und vom Redaktor in die Briefausgabe des Riesencodex eingefügt worden sein. Vergegenwärtigt man sich die überlieferungsgeschichtliche Bedeutung des Riesencodex, so ist man daher geneigt, sich dem Urteil Konrad Bunds anzuschließen, wonach „die Handschrift R zur Grundlage der weiteren Untersuchung des Briefes an die Kölner genommen werden muß. Sie stellt somit auch die Basis der Textedition des Briefes dar."3 Dieser Textzeuge, so Bund, „muß nach Adresse, Inhalt und wohl auch Form als authentisch gelten. Er ist zwischen 1163 und 1167 von Hildegard nach Köln gesandt und allenfalls für die Eintragung in R an einigen Stellen stilistisch geglättet worden."4 Die redaktionellen Erweiterungen müssen als von Hildegard gebilligt betrachtet werden. Von den Exzerpten, die aus dem Pentachronon Gebenos von Eberbach angefertigt wurden, sind wiederum jene mit dem Text des Briefes an den Klerus von Köln die häufigsten.5 Der Grund hierfür liegt vermutlich darin, daß sich dieser Brief mit seiner radikalen Klerus- und Häresiekritik, aber auch mit seinen eschatologisch-apokalyptischen Inhaltselementen, für eine umfassende Rezeption besonders gut eignete. Auch die auf breiter Front hervorbrechenden Antichristspekulationen und Sibyllen-Weissagungen werten eine allgemeine Korrumption als Zeichen für das nahe bevorstehende Ende. Durch die Allgemeinheit seiner Aussagen war Hildegards Kölner Brief darüber hinaus prädestiniert, enthisto1 2 3 4 5

In der Edidon Van Ackers erscheinen diese Teile als Appendix I und Appendix II im kritischen Apparat. Sie sind bezogen aus R / Wr. Vgl. Epistolarium I, S. 44-47. Schrader/Führkötter 1956, S. 169f. Bund 1988, S. 186.

Ebd. Als Beispiele heute noch vorhandener Gebeno-Exzerpte mit dem Text des Briefes an den Kölner Klerus seien genannt: Paris, BNF, lat. 3319; Cambridge, Corpus Christi College, 107 und 288; Oxford, Bodleian Library, Hatton, Ms 56 [S. C. 4062].

Das

risiert und in einen

Epistolarium

219

zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet zu werden. hat glaubhaft zu machen verstanden, daß Hildegards Brief zu Gebenos Lebzeiten noch eindeutig als antihäretischer Traktat gelesen wurde, der sich gegen die Katharer richtete.1 Im weiteren Verlauf des 13. sowie des 14. Jahrhunderts hat sich, so Kerby-Fulton, die Stoßrichtung des Textes jedoch ganz nachhaltig geändert: man betrachtete ihn nunmehr als leidenschaftliches Manifest gegen die machtvoll aufkommenden Mendikantenorden, die zu Beginn des 13. Jahrhunderts auch an den Städten entlang des Rheins zahlreiche Niederlassungen gründeten. In der Tat wurden die Mendikanten vom etablierten Stadtklerus teilweise mit großem Unbehagen beobachtet. Dieser befürchtete eine starke Konkurrenz in der theologischen Lehre, eine Schmälerung der wirtschaftlichen Ressourcen und einen Angriff auf die althergebrachten Prärogativen im Bereich der Seelsorge. Außerdem genossen die Bettelorden aufgrund ihrer verschärften asketischen Ausrichtung bei der Bevölkerung oft ein höheres Ansehen als der von vielfältigen Dekadenzerscheinungen geschwächte konventionelle Klerus.2 Dessen Mißbräuche waren gerade von Hildegard in scharfer Form gegeißelt worden. Im einzelnen nennt Hildegard Simonie, Unglaube, Verweltlichung und Machtstreben als Hauptpunkte ihrer Kritik. Hildegards Briefe an den Klerus von Köln, Mainz und Trier sowie an Werner von Kirchheim variieren das Thema einer innerkirchlichen Reform des Klerus in großer Bandbreite und unmißverständlicher Deutlichkeit. Daß ausgerechnet diese Briefe eine so starke Eigenüberlieferung entwickelten, die sich auch in dem besonderen Interesse Gebenos niederschlugen, ist ein deutliches Zeichen für ihre breite und zeitübergreifende Wirkung: sie sind multifunktional und zeitungebunden verwendbar. Das Phänomen einer inhaltlichen Umwidmung von Hildegards Brief an den Klerus von Köln muß keineswegs nur negativ, d. h. als Abrücken von der authentischen Ursprungsintention des Schreibens, gedeutet werden. Man kann diesen Prozeß auch positiv verstehen und ihn als Weiterwirken der Autorität Hildegards unter veränderten zeitgeschichtlichen Bedingungen werten. Wenn es um Fragen der Rechtgläubigkeit und Häresie sowie der Reform von Kirche und Klerus ging, genoß Hildegard im 13. und 14. Jahrhundert offenbar eine allgemein akzeptierte Autorität. Wie sehr man bemüht war, sich dieser Autorität zu versichern, um eigene kirchenpolitische Vorstellungen durchzusetzen, zeigt die Verwendung von Hildegards Kölner Brief im Zusammenhang des Bettelorneuen

Kathryn Kerby-Fulton

1

2

Kerby-Fulton 1990, S. 26-74 und

passim. Hildegard findet sich zitiert in Pierce Crede 1867, S. 26f. (Vers 700ff.): „For that lijf is here lust & thereyn thei libben // In fraitour & in fermori her fostringe is synne; // It is her mete at iche a mel her most sustenaunce. // Herkne opon Hyldegare hou homliche he telleth // How her sustenaunce is synne; // & syker, as y trowe, // Weren her confessiones clenli destrued, // Hy schulde nouzt beren hem so bragg no [beiden] so heyze ..." Vgl. hierzu Rüssel 1965, insbesondere S. 220. McDonnell 1969, insbesondere S. 294f. Grundmann 1970. Freed 1977. Kieckhefer 1979, S. 12f. -

-

-

-

Kapitel 5 denstreits. Im Kampf der etablierten Orden, insbesondere der Benediktiner und der Zisterzienser, um die Verteidigung ihrer Privilegien war der in Hildegards Brief niedergelegte Häresievorwurf eine scharfe Waffe, die im Kampf gegen die neuen Orden, d. h. gegen die Mendikanten, eingesetzt werden konnte. Diesen 220

Aspekt gilt es im folgenden etwas näher in den Blick zu nehmen.

Die Tatsache einer reservierten bis ablehnenden Aufnahme der frühen Mendikanten insbesondere in der Stadt Köln kommt im Schrifttum der damaligen Zeit sehr deutlich zum Ausdruck. 1220/21 waren die Dominikaner, Anfang 1222 die Franziskaner nach Köln gekommen.1 Während die Dominikaner, wie Konrad Bund, auf den ich mich im folgenden beziehe, ausführt, ihr Kloster in der Stolkgasse, nahe beim dichtbesiedelten Zentrum der Stadt errichteten,2 ließen sich die Franziskaner zunächst in der abseits gelegenen Seynengasse nieder, die zum Pfarrsprengel von St. Johann Baptist gehörte. Offensichtlich war durch die Präsenz der Dominikaner im Stadtzentrum der Widerstand gegen die Mendikanten so stark angewachsen, daß eine zweite Ordensniederlassung dort nicht mehr möglich war. So kann es nicht verwundern, daß der alteingesessene Kölner Klerus sehr bald seine Gravamina gegen die unerwünschten Neuankömmlinge artikulierte. Zur Untermauerung dieses Befundes sei ein vermutlich 1226 entstandener Bericht des Zisterziensers Caesarius von Heisterbach (um 1180-um 1240)3 angeführt, der sich ausdrücklich auf Hildegards Brief an den Klerus von Köln beruft. Dieser Bericht findet sich in der von Caesarius stammenden Vita des Kölner Erzbischofs Engelbert von Berg.4 Die Vita wurde 1226/27 im Auftrag des Kölner Erzbischofs Heinrich von Molenark, der dem am 7. November 1225 ermordeten Engelbert auf den Kölner Bischofsstuhl nachfolgte, verfaßt. Caesarius zufolge wurden die Dominikaner und die Franziskaner im Jahre 1222 vom Kölner Stadtklerus öffentlich angegriffen und als die von Hildegard angekündigten Pseudo-Propheten inkriminiert, ein Sachverhalt, der sich auch unter den Oberbegriff Antichrist subsummieren läßt: Et

cum

venissent Coloniam fratres de

novo

ordine Predicatorum

necnon et

fratres

qui dicuntur Minores, et graves eis essent quidam ex clero eisque coram archiepiscopo Engelberto diversa obicerent illos accusando, respondit: „Quamdiu res in bono statu est, stare sinke." Cumque instarent tarn priores quam plebani et dicerent: „Timemus, ne isti sint illi, de quibus Spiritus sanctus per os beate Hildegardis 1 2

3

Auch in Trier waren die Bettelorden bereits 1222 (Dominikaner) und 1223 (Franziskaner) aktiv. Vgl. Schmidt 1986, S. 32f. Bund 1988, hier S. 213. Die Lebensdaten von Caesarius von Heisterbach nach: Deutsches Literatur-Lexikon, begr. von Wilhelm Langosch, 3., völlig neu bearb. Aufl., II, Bern (u. a.) 1969, S. 439.

4

Caesarius

von

Heisterbach Vita

Engelberti,

darin

Epistola 7: Quod sapiens fuerit et

intelligens, spiritu pollens fortitudinis, in Caesarius Wundergeschichten, III, S. 245f.

221 Epistolarium prophetavit, per quos clerus affligetur et civitas periclitabitur," verbum notabile respondit: „Si divinitus prophetatum est, necesse est ut impleatur." Quo verbo compescuit omnes.1

Das

In dieser Passage ist zum einen die beschwichtigende, mendikantenfreundliche Antwort des Kölner Erzbischofs Engelbert von Interesse. Engelbert vertraute

offenbar so kompromißlos auf die Richtigkeit von Hildegards Prophezeiung, daß er deren Eintreffen auch dann noch zu akzeptieren gewillt war, wenn die darin angekündigte Häresie in seiner eigenen Bischofsstadt ausbrach. Daneben ist hervorzuheben, daß sowohl die Führer des Kölner Klerus („priori") als auch die einfachen Volkspriester („plebani") die Bettelmönche ablehnten. Daß im übrigen die Mendikanten ihrerseits zu den erklärten Gegnern der Katharer gehörten, sei hier nur kurz angemerkt. Caesarius selbst hat Hildegards Brief an den Klerus von Köln in einer seiner Sonntagshomilien noch einmal ausführlich zitiert: Multi sunt hodie falsi prophète, in terminis ecclesie loquentes mendacium in ypocrisi. In habitu simplici simplices adeunt, simplicitatis verba pretendunt et, cum sibi minus caverint, lupine malicie dentes in illos defigunt. Quos in Spiritu sancto previdens beata Hildegardis, magistra sanctimonialium sancti Ruperti in Pingvia, femina sancta et nostri temporis prophetissa, ut possent a catholicis agnosci atque a ceteris hominibus discerni, in epistola sua, quam scripsit ad Colonienses, hiis verbis usa est: „Populus iste a dyabolo seductus et missus pallida facie veniet et velut in omni sanctitate se componet ac moribus, secularibus principibus se coniunget Sed postquam ipsi in perversitatibus Baal et in aliis pravis operibus sie inventi fuerint, principes et alii maiores in eos irruent et velut rabidos lupos eos occident, ubicumque eos invenerint." Hucusque verba sanete Hildegardis. Que cum nostris temporibus venisset Coloniam, post sollempnem sermonem, quem Latine fecit in clero, preeipue eundem clerum et pastores monuit eiusdem civitatis, ut sibi caverent a pseudoprophetis, id est hereticis, eo quod multi essent inter ipsos. Cui cum diceret magister Godefredus, plebanus sanete Columbe:2 „Et ubinam illos inveniemus?", respondit: „In speluncis terre", domos notans subterraneas, in quibus textores et pellifices operantur. Recedens vero a civitate predictam remisit epistolam.3 ...

erwähnt, daß der Name Hildegards auch in anderen Zusammenhängen innerhalb von Caesarius' Homilien auftaucht, wenn auch hier in stark legendarischer Färbung. So berichtet Caesarius von einem Novizen mit Namen Albert, der aus Brühl stammte. Dessen Sündenkatalog sei so umfang-

Nur nebenbei sei

1 2

3

Ebd. S. 245f. Hinter dem von Caesarius genannten „magister Godefredus" verbirgt sich der gleichnamige Pfarrer von St. Columba in Köln. Er begegnet zwischen 1176 und 1190 in Kölner Urkunden. Vgl. Knipping 1901, II, S. 378. Caesarius von Heisterbach, Homilie Nr. 208, in Caesarius Wundergeschichten, I,

S. 147-149.

Kapitel 5

222

reich gewesen, daß acht Bücher ihn nicht hätten fassen können. Alberts Mutter, die als Konverse im Kloster Rupertsberg gelebt habe, habe sich daher hilfesuchend an Hildegard gewandt: O

domina, quid fiet de filio meo Alberto, qui tarn mirabilis

est et tarn

instabilis ?'

Hildegard habe daraufhin beruhigend geantwortet: „Tandem salvabitur."2 In der Tat sei Albert in fortgeschrittenem Alter Kanoniker in Köln geworden. In einer anderen Homilie berichtet Caesarius, Hildegard habe eine ihrer Mitschwestern entlarvt, die unrechtmäßigerweise Eigentum erworben habe.3 Auch wenn die beiden letztgenannten Bezugnahmen auf Hildegard nicht als historisch zuverlässige Rezeptionsspuren gewertet werden können, die auf authentische Begebnisse zurückgehen, hat doch Caesarius eine sehr exakte Kenntnis zumindest von Hildegards Brief an den Klerus von Köln besessen. Der in seinem Bericht über das Schicksal der frühen Kölner Mendikanten sich zeigenden Umwidmung von Hildegards Mahnschreiben gegen die Katharer zu einem Antimendikantentraktat war nun im 13., 14. und 15. Jahrhundert eine sehr intensive Wirkungsgeschichte beschieden. Diese ging über den regionalen mittelrheinischen Raum bei weitem hinaus. Bis in die Zeit der Reformation hinein wurde dieser Text rezipiert und, wie unten gezeigt werden soll, auch gedruckt. Waren es im 13. und 14. Jahrhundert vor allem Mendikantengegner, die sich des Schreibens bedienten, so wurde er im 15. und 16. Jahrhundert insbesondere von reformtheologischen, teilweise protestantischen Kreisen gelesen. Eine bedeutende Rezeptionsspur von Hildegards Kölner Brief aus dem 13. Jahrhundert liefert eine versifizierte Fassung dieses Briefes aus der Feder des englischen Hofdichters Heinrich von Avranches. 5.6.1 Der Brief

an den Klerus von Köln in der Fassung des Heinrich von Avranches Die frühe Lebensgeschichte des Heinrich von Avranches ist nicht gut belegt. Schon Ort und Zeit seiner Geburt lassen sich nicht exakt benennen. Man nimmt an, daß Heinrich entweder 1191/92 oder 1193/94, vermutlich in Deutschland, geboren wurde. In den Jahren 1206/07 oder 1208/09 nahm er, im Alter von etwa 15 Jahren, ein Studium auf. Als Studienorte kommen entweder Oxford oder Paris in Frage. In Paris wurden die Schriften Hildegards zwischen 1210 und 1216 durch die Theologen der Sorbonne geprüft, von 1206-1209 wirkte darüber hinaus Praepositinus von Cremona, der zwischen 1194 und 1202 Domscholaster von Mainz war, als Kanzler der Universität. Praepositinus wird eine intensive Auseinandersetzung mit den Schriften Hildegards nachgesagt.4 Palémon Glorieux, auf den ich mich im folgenden beziehe, rechnet Heinrich „des 1214"

1 2 3 4

Ebd., I, Homilie Nr. 79,

S. 95.

Ebd.

Ebd., Homilie Nr. 93, S. 141f. Vgl. Jürgensmeier 1979, S. 286.

Das

Epistolarium

223

den Magistern der Pariser Artistenfakultät.1 1214/1215 verläßt Heinrich die Universität als Magister artium. Ende 1214 / Anfang 1215 unternimmt er eine Reise nach Köln, die möglicherweise im Rahmen einer englischen Gesandtschaft unternommen wurde. Im Herbst 1215 weilt Heinrich anläßlich des vierten Laterankonzils in Rom, wo er eine von ihm gedichtete Appellation gegen die Absetzung Kaiser Ottos IV. vorträgt. 1216 und wiederum 1219/20 ist Heinrich im Umfeld des englischen Königshauses bezeugt. Ob dazwischen Lehraufträge an der Universität Paris oder Oxford liegen, bleibt fraglich. In England verfaßt Heinrich u. a. ein Epitaph auf den Dekan Hämo von York sowie Gedichte auf die Translation der Gebeine des Thomas Becket. Für Bischof Hugo von Lincoln schreibt er die Vita Hugonis. Viele weitere Gedichte und Heiligenviten folgen. Genannt seien ein Gedicht zur Weihe des Eustachius Falconberg zum Erzbischof von London (1221), ein Gedicht zur Altarweihe der Kirche von Salisbury (1222) oder eine im Auftrage des Londoner Erzbischofs Stephen Lengton verfaßte Lebensbeschreibung des Thomas Becket.2 Aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten kehrt Heinrich Ende 1221 oder Anfang 1222 nach Deutschland zurück. Da die Intervention des Kölner Klerus gegen die Mendikanten vermutlich in den Juni/Juli 1222 fällt, ist dieser Zeitraum das frühestmögliche Datum für die Entstehung von Heinrichs versifiziertem Brief. Die von ihm verwendete Formulierung „fratres novi" weist darauf hin, daß der Text in der Frühzeit der Mendikantenorden entstanden ist. Einen Endpunkt markiert die Ermordung Erzbischof Engelberts von Köln am 7. November 1225. Bereits im November 1222 ist Heinrich wieder in England nachweisbar. Am 27. Juni 1228 bittet der Rupertsberger Schwesternkonvent Papst Gregor IX., die Heiligsprechung Hildegards einzuleiten. Man nimmt an, daß Heinrich selbst während dieser Zeit (1228 bis 1230) als Magister in Frankreich tätig war. 1230 bis 1234 ist er an der Kurie in Rom bezeugt. Er bezeichnet sich zu dieser Zeit als clericus. Es folgen Appelationen Heinrichs im Streit der Erzbischöfe von Bourges und Bordeaux um den aquitanischen Primat sowie eine Vita des am 16. Juli 1226 heiliggesprochenen Franziskus von Assisi. Nach dem 16. Dezember 1233 übersendet der Rupertsberger Konvent Hildegards Liber epistolarum an die römische Kurie. Im Jahre 1234 taucht Heinrich als clericus an St. Maria in Trastevere und Kanoniker in Avranches auf. Aufgrund boshafter Gerüchte wird er von seinen Pfründen suspendiert. 1240 ist Heinrich in Frankreich tätig. Für König Ludwig IX. (König von Frankreich) schreibt er u. a. einen Text über die Dornenkrone Christi. Am 20. Oktober 1243 schließlich wird er durch die Ernennung zum bezahlten versificator, d. h. zum Hofdichter des englischen Königs, seiner finanziellen Sorgen enthoben. Heinrich stirbt im Frühjahr 1260 als bejahrter Mann in England. zu

1 2

Glorieux 1971, S. 178f. (Nr. 181). Diese Lebensbeschreibung fehlt in der Liste der Becket-Biographien bei Schmidt 1989, S. 8. Allerdings konzentriert sich Schmidt auf die Becket-Biographien des 12. Jahrhunderts.

Kapitel 5

224

Der Text des

Hildegard-Briefes in der versifizierten Fassung des Heinrich Avranches liegt nur in der Handschrift A von dessen Werken vor. Diese Handschrift gehört heute zum Bestand der Universitätsbibliothek Cambridge (England), wo sie unter der Signatur Ms. Dd. XL 78 (f. 51r-54v, 55rv, 55r-57v) aufbewahrt wird. Eine kritische Edition hat jüngst Konrad Bund vorgelegt.1 Gegenüber Hildegards Originalbrief weist Heinrichs Bearbeitung, wie Bund hervorhebt, „durch Auslassung vieler Wörter, Satzteile und Sätze, ja ganzer Abschnitte"2 bedeutende Kürzungen auf. Doch wird ersichtlich, daß die Textrezension von R, mithin die Langform des Briefes, zugrundegelegen hat. Das Gedicht ist zwischen 1235 und 1259, vermutlich zwischen 1245 und 1250, durch den englischen Chronisten Matthaeus Parisiensis, Benediktinermönch zu St. Albans, in die Handschrift A eingetragen worden.3 In seiner Chronica Maiora zitiert Matthaeus Hildegards Prophetien in einer typisch antimendikantischen von

Schwerpunktsetzung.4

Fragt man nach dem konkreten Anlaß für die Entstehung von Heinrichs Gedicht, das wie viele andere Gedichte des Autors als ein gegen Lohn entstandenes Auftragswerk betrachtet werden muß, so tappen wir zur Zeit noch im dunkeln. Weder der konkrete Anlaß, noch der Auftraggeber oder die exakte Entstehungszeit lassen sich benennen. Die Annahme, Heinrich könne das

Gedicht im Zusammenhang mit den heftigen, 1252 bzw. 1253 artikulierten Widerständen der Universitäten von Paris und Oxford gegen die Privilegierung Ordensangehöriger Magister innerhalb des Lehrkörpers geschaffen haben, fällt wegen der daraus sich ergebenden Spätdatierung des Textes weg.5 Auch die verführerische These, der an der Universität Paris im Jahre 1254 ausgebrochene Theologenstreit um die chiliastisch-heilsgeschichtliche Deutung der Rolle des Franziskanerordens durch den Franziskaner Gerhard von Borgo San Donnino (t ca. 1276) könne den Impuls zu Heinrichs Dichtung gegeben haben, läßt sich

-

1 2

3 4

Bund 1988, S. 229-257. Bund 1988, S. 186. Vgl. Vaughan 1953.

Hildegards Prophezeiung mit Bezug auf das Jahr 1240: „Sancta quoque Hyldegardis, primo inclusa, postea abbatissa, admirabilis sanctitatis domina, ut in quam [!], dum in hoc seculo viveret, per soporem quadriduanum immisit Dominus spiritum prophecie et perfectam subito literarum scientiam, scilicet tempore Alexandri pape, famosa valde facta est. Et quia de novis fratribus et eorum statu et predicacione ac subita et inopinata proveccione manifeste prophetavit et expresse prelocuta est, ut presens tempus verum perhibet testimonium, facta sunt eius dicta per diversa mundi climata celebria et magnatibus approbata." Matthaeus ParisienMatdiaeus erwähnt

Chronica, S. 200 44-2OI 3. Auch in Matthaeus Parisiensis Chronica, S. 82f. Der sogenannte Pariser Universitätsstreit ging von 1253 bis 1272. Gegenstand war die Rolle der Bettelorden an der Universität und eine von den etablierten Kräften sis

5

befürchtete Schmälerung ihrer althergebrachten Lehr- und Seelsorgsprivilegien. Geführt wurde die Auseinandersetzung vom Weltklerus auf der einen und den Franziskanern und Dominikanern auf der anderen Seite.

Das

Epistolarium

225

den gleichen Gründen nicht halten. Immerhin aber ist auch in diesem Streit der Kölner Brief Hildegards präsent. 1254 hatte Gerhard in Paris seinen Liber introductorius in evangelium aeternum verfaßt. Darin bezeichnet er die drei Hauptschriften des Joachim von Fiore, die Concordia, die Apocalypsis und das Psalterium, als Evangelium aeternum. Gleichzeitig legte Gerhard eine von ihm glossierte Ausgabe der Concordia vor. Die mendikantenfeindlichen Professoren der Universität Paris exzerpierten daraufhin 31 Irrtümer aus den Schriften Gerhards und Joachims. Eine päpstliche Kommission untersuchte die Werke beider Theologen, woraufhin Papst Alexander IV. am 23. Oktober 1255 den Liber introductorius Gerhards, nicht jedoch die Schriften Joachims verurteilte. Gerhard wurde vom eigenen Orden mit lebenslanger Kerkerhaft bestraft, die er in seiner sizilianischen Heimatprovinz absaß. Noch im gleichen Jahr (1255) ließ darüber hinaus Wilhelm von St. Amour (t 1272), der Hauptgegner der Bettelorden und Anführer der Weltgeistlichen an der Universität Paris, einen gegen Gerhard gerichteten Tractatus brevis de periculis novissorum temporum erscheinen. Berücksichtigt man die Tatsache, daß im Pariser Universitätsstreit auch die Lehrtätigkeit des Dominikaners Thomas von Aquin und des Franziskaners Bonaventura betroffen war, so zeigt sich die ganze Tragweite dieses Konfliktes, in dem der Name Hildegards eine große Rolle spielt. In seinem Tractatus brevis, in dem die Bettelorden als Heuchler von Frömmigkeit, Verführer von Frauen und Helfershelfer des Antichrist diffamiert wurden, zitiert Wilhelm auch Hildegards Brief an den Klerus von Köln.1 Wilhelm hebt die Bedeutung Hildegards als Prophetin hervor, indem er das Interesse Bernhards von Clairvaux an ihr erwähnt. Im Anschluß an Hildegards Brief an den Klerus von Köln beschreibt er, wie die Häretiker die „mulierculas" in die Irre führen, indem sie sie von ihren wahren Lehrern trennen. Elisabeth Gössmann zufolge waren Wilhelm und sein Kreis sich bewußt, daß „Hildegards Brief an den Kölner Klerus eben [des] Gebrauchs von standardisierten eschatologischen Texten als wegen Antimendikantenliteratur vereinnahmbar"2 gewesen sei. Wilhelms Versuch, die Ordensangehörigen Magister von der Universität Paris zu entfernen, scheiterte jedoch. Papst Alexander verfügte 1255 deren Wiedereinsetzung. Gleichzeitig verurteilte er durch die am 5. Oktober 1256 promulgierte Bulle Romanus Pontifex Wilhems Tractatus brevis. In Folge davon verlor Wilhelm seinen Lehrstuhl und seine Benefizien. Außerdem erhielt er ein strenges Aufenthaltsverbot für die Stadt Paris. Zur Grundeinstellung Wilhelms paßt die Vermutung, daß die ebenfalls auf Hildegards Kölner Brief aufbauende, antimendikantisch akzentuierte Prophétie Insurgent gentes im Umkreis des Wilhelm von Saint Amour entstanden ist. Im übrigen waren mendikantenfeindliche Äußerungen zu jener Zeit durchaus an der Tagesordnung. Auch Johannes de Oxenedes (um 1255), ein Zeitgenosse aus

-

...

1

Guillelmus St. Amoris

Collectiones,

S. 196. Glorieux 1957.

sondere S. 241f. 267f. 276f. 2

Gössmann 1989, S. 319.

-

-

-

Vgl. hierzu Bierbaum 1920, insbeCongar 1961.

Kapitel 5

226

des Wilhelm von St. Amour, schätzte das Auftreten des Franziskanerordens und seine Auswirkungen auf die „devotio populi"1 negativ ein, auch er sah in ihnen die Erfüllung der „prophetia sanctae Hildegardis de Alemannia".2 Gleiches trifft auf den in Kloster Senon (Sens) am Westrand der Vogesen sitzenden Richer von Senones zu. In seiner um 1270 abgeschlossenen Historia abbatiae Senonensis (Kap. 16 und 17) kritisiert Richer die Dominikaner und Franziskaner, die nach lobenswerten Anfängen eine schlimme Entwicklung genommen hätten. Der in Straßburg ausgebildete Richer hatte dort die prophetischen und medizinischen Werke Hildegards kennengelernt. Auch Hildegards Brief an den Klerus von Köln kannte er. Seine Rezeption dieses Briefes ist eindeutig antimendikantisch bestimmt.3 Von der anderen Seite her war es Johannes Pecham, ein gelehrter Franziskaner, der von 1269 bis 1271 als Magister regens in Paris wirkte und 1279 zum Erzbischof von Canterbury erhoben wurde, der die Franziskaner gegen die Verunglimpfungen des Wilhelm von Saint Amour zu verteidigen suchte.4 Pecham thematisierte innerhalb seiner Apologie der Bettelorden auch Hildegards Brief an den Klerus von Köln. Dabei kann es nicht verwundern, daß nunmehr Hildegard wenn auch völlig unschuldig einer ätzenden Kritik unterworfen wurde. In seinem um 1270 verfaßten Traktat Pro paupertate contra Willelmum de St. Amore5 erwähnt Pecham die Prophezeiungen „cuiusdam prophetissae Teutonicae nomine Hildegardis"6, in denen, so führt der Franziskaner ergrimmt aus, die Verfasserin „nonnulla mala"7 gegen die Mendikanten ausgesprochen hätte. Als Frau, so Pecham, sei Hildegard für Äußerungen dieser Art ipso facto disqualifiziert. Dann versteigt sich sein Zorn in das wirkungsge-

-

-

Chronica,

S. 207.

1

Iohannes Oxenedes

2

Ebd.

3

„Prophetavit", so schreibt Richer mit Bezug auf Hildegards Kölner Brief, „quippe de regnorum et eventibus rerum futurarum, et inde libros propria manu conscripsit. Scripsit etiam librum medicinalem ad diversas infirmitates, quem ego Argentine vidi. Scripsit siquidem de ordine futurorum Predicatorum et fratrum Minorum, qui temporibus nostris primum esse ceperunt. Dixit quippe aperte quosdam fratres ventures alte tonsuratos in habitu religioso, sed inusitato, qui in principio sui quasi Deus ab omni populo reciperentur; nee aliquid proprium habituros predixit, sed tantumstatu

modo eleemosinis fidelium victitarent nec de his eleemosinis in crastino reservarent, et ita tali paupertate contempti civitates et castella et regiones predicando circuirent, et ita in primordio suo Deo et hominibus cari haberentur; sed cito a proposito suo decidentes, viliores haberentur. Hec Hiltigardis de Predicatoribus et Minoribus fratribus fertur predixisse; quod postea verum actus ipsorum esse probavit." Richer

4 5 6 7

Senonensis Historia, S. 306 9-20 (auch in Boehmer 1843, III, S. Zur Person Pechams vgl. Spettmann 1915. Iohannes Peckham Tractatus, S. 16. Iohannes Peckham Tractatus, S. 64.

Ebd.

53).

Das

Epistolarium

227

schichtlich völlig singular dastehende Dictum, diese Prophétie sei geradezu ein Werk des Teufels („ex diaboli astutia processisse").1 Doch kehren wir zur Dichtung des Heinrich von Avranches zurück. Heinrich nimmt verschiedentlich Eingriffe in den Wortbestand von Hildegards Brief vor, durch die der sekundär interpolierte, antimendikantische Bezug deutlich zum Ausdruck kommt. Hildegards „infideles homines" (Satz 190) beispielsweise werden bei Heinrich zu den „fratres predicti, quos ita demon / seducet" (V. 386 f). Auch in der Überschrift (Prophetia Sancte Hyldegardis de Novis Fratribus) erscheint der Hinweis auf die „fratres novi". Sie erweist sich hierdurch als eine Prägung Heinrichs. Im übrigen ist der Wortlaut der Verse durch die Regeln der Prosodie bestimmt. Heinrichs Änderungen beschränken sich, abgesehen von gelegentlichen Paraphrasierungen, auf wenige Stellen. Bund, dessen Forschungen ich hier referiere, hat auf eine dieser Stellen besonders deutlich hingewiesen, da sie als Bezugnahme auf Heinrichs eigene Stellung gewertet werden kann.2 In Satz 50 ihres Schreibens wirft Hildegard den Hirten der Kirche vor, sie seien so sehr vom weltlichen Ruhm erschlafft, daß sie einmal als Ritter, dann als Knechte, dann als foppende Sänger („ludificantes cantores") aufträten. Durch ihre wunderlichen Verrichtungen („fabulosa officia") würden sie jedoch lediglich im Sommer die Fliegen verjagen. Heinrich greift diesen beißenden Spott ganz konsequent auf, allerdings mit der bezeichnenden Änderung, daß die „ludificantes cantores" nunmehr durch die „ioculatores", nach Honorius von Autun verdammte Diener des Teufels, ersetzt sind. Die Vermeidung des Wortes cantor durch Heinrich könnte darin begründet sein, daß er sich nicht gern der Gefahr ausgesetzt sehen wollte, selbst einem Stande zugerechnet zu werden, der bei Hildegard in einer negativen Konnotation erschien.3 Ich kann den vielfältigen Aspekten von Heinrichs Gedicht in diesem Zusammenhang nicht weiter nachgehen. Seine Bedeutung für das Fortwirken Hildegards im beginnenden 13. Jahrhundert ist deutlich genug geworden. Ergänzend sei noch kurz darauf hingewiesen, daß ein weiteres, aus dem Ende des 12. Jahr-

1

„Prophetias Hildegardis

non

multum

pondeo", so urteilt Pecham ganz kategorisch,

„sed magis eos arguo qui mulieris doctrinam in ecclesias introducunt, quam apostolus Credo autem donec aliud mihi innotescat, prodocere in ecclesia non permittit ...

diaboli astutia

processisse. Volens igitur facere religiones istas hominibus odiosas, veritati, quam vel ex scripturis vel angelis revelantibus didicerat, plures immiscuit falsitates et nequitias, et per istam Hyldegardim, quam et alios

phetiam Hildegardis

ex

...

errores docuit, Hyldegardianis hereticis, ipsius dyaboli procuratoribus, et sanctorum persecutoribus promulgavit." Johannes Peckham Tractatus, S. 76f.

2

3

Bund 1988, S. 190f. Als cantor wurde auch Walther von der Vogelweide (ca. 1170-1230) in der einzig erhaltenen urkundlichen Erwähnung seiner Person bezeichnet. Vgl. Bertau 1972, S. 892f. Der Cantor Waltharus de Vogelweide erhielt (ausgerechnet!) am Tage nach St. Martin des Jahres 1203 vom Bischof von Passau, Wolfger von Erla, einen Betrag von 5 Solidi Longi für einen Pelzrock („Walthero cantori de Vogelweide pro pellico .v. sol. longos"). Vgl. hierzu Heger 1970.

Kapitel 5

228

hunderts stammendes Zeugnis für den ungebrochenen Glauben an die prophetische Autorität Hildegards vorliegt. Abt Hermann von Himmerod hatte im Jahre 1190 bei Papst Clemens III. für den Trierer Erzbischof Johann I. (11891212) das Pallium in Empfang genommen. Dessen Wahl hatte ein siebenjähriges Schisma beendet. Unter Berufung auf Hildegards Brief an den Klerus von Trier wollte Hermann hierin die Erfüllung einer Prophétie Hildegards erblicken.1 5.6.2 Insurgent gentes Es ist bereits angeklungen, daß ein zweiter Text

dem 13. Jahrhundert exiden Klerus von Köln, eine antimendikantische Propaganda aus dem Umfeld des Wilhelm von St. Amour enthält. Hierbei handelt es sich um die pseudo-hildegardische Prophétie Insurgent gentes. Dieser Text läßt sich einbetten in eine virulente antimendikantische Tradition, wie sie, basierend auf einem sehr eigentümlichen Verständnis Hildegards, in der zweiten Hälfte des 13. sowie während des 14. und teilweise noch 15. Jahrhunderts sowohl in Frankreich als auch in England gepflegt wurde. Ganz zu Recht nennt Kathryn Kerby-Fulton, auf deren Forschungen die nachfolgenden Ausführungen basieren, hier mit Blick auf die britische Situation Autoren wie William Langland (ca. 1325-1388), Geoffrey Chaucer (ca. 13401400), John Gower (ca. 1330-1408), die anonymen Verfasser von Jack Upland und Pierce the Ploughman's Crede (beides lollardische Texte aus dem Ende des 14. Jahrhunderts), Henry of Kirkstede, Peter Pateshull (schrieb um 1387), Peter Partridge, Blackwell, William Taylor (schrieb um 1406), William Dunbar (ca. 1460-1520), den Schotten Robert Henryson (schrieb um 1470), Reginald Pecock (15. Jh., Bischof von Chichester, dessen theologische Schriften verurteilt wurden), den Iren Richard Fitzralph (Erzbischof von Armagh von 1346-1360) oder John Wyclif (ca. 1320-1384).2 Sie alle (und andere mehr) zitieren Hildegard entweder aus dem Pentachronon, aus den großen annalistisch-chronikalischen Werken der Zeit oder aber aus den Originalschriften selbst.3 Von den muttersprachlich, d. h. hier Englisch schreibenden Autoren ist es allerdings nur Langland, der ein tiefgehendes Verständnis für Hildegard aufbringt, und nur Wimbledon zitiert Hildegard in einer wirklich kühnen, nicht wie der Wyclif-Kreis konservativen Weise. Vor allem in gelehrten Männerkreisen war Hildegard um 1400 offensichtlich eine sehr geachtete Autorität.4 Sie konnte hier eine eigen-

stiert, der, Bezug nehmend auf Hildegards Brief

-

1 2

aus

an

-

Vgl.

Gesta Treverorum, S. 386 und 390. Kerby-Fulton 1987, S. 393. Kerby-Fulton 2000. Vgl. auch Szittya 1986, S. 183229 (The English Poetic Tration) und 287. Dort zu Hildegard auch S. 59. 104. 173f. -

220f. 3

Insgesamt acht insulare Textzeugen des Pentachronon lassen sich nachweisen. Es sind dies: Cambridge, St. John's College, 27; Cambridge, University Library, Ms li.VI.ll; London, British Library, Royal 8 C VII, Arundel 337 und Cotton Vitellius D. III; Oxford, Bodleian Library, Digby 32 und Digby 98; Cambridge, Corpus Christi

College, 404. 4

Kerby-Fulton 1996.

Das

Epistolarium

229

ständige, nicht-joachimitische Tradition der sozialreformerisch instrumentalisierten Apokalyptik entfalten. Insbesondere Hildegards Brief an den Klerus von Köln erfreute sich dabei einer äußerst lebhaften Rezeption. Er wurde in einer polemisch-radikalisierten, reformtheologisch und antimendikantisch orientierArt und Weise zitiert und funktionalisiert. Vor allem gegen Ende des 14. Jahrhunderts, also zur Regierungszeit Richards II. (1377-1399), gab es in

ten

England, wie die stark zunehmenden Abschriften und Zitationen von bzw. aus Hildegards Schriften beweisen, ein virulentes Interesse an Hildegards Schriften.1 Einige Beispiele mögen diesen Befund untermauern: John Gower spielt in seiner um 1382 entstandenen englischsprachigen Verssatire Vox clamantis auf Hildegard an. Darin inkriminiert er die Mitglieder der Bettelorden als Pseudopropheten und lügnerische Verführer. Er bezieht sich in seiner Kritik auf Hos 4,8, die gleiche Stelle, die auch Insurgent gentes zugrundeliegt und die später in Pierce The Ploughman's Crede wieder erscheint. Hier die entsprechende Passage: „O how the words of the prophet Hosea are now verified! Thus did he speak the truth : ,A certain tribe will arise now on earth which will eat up the sin of my people and know much evil.' We perceive that this prophecey has come about in our day, and we give credit for this to the friars."2 Penn R. Szittya zufolge hat Gower die Assoziation der Hosea-Prophetie mit den Bettelorden 1

Hildegard-Textzeugen (gegenüber nur drei mit Joachims von Fiore) auf. Von diesen lagen zu seiner Zeit drei in irischen Bibliotheken, fünf in Cambridge, fünf in Oxford und sechs in anderen Bibliotheken, inklusive von Kathedralbibliotheken. Folgende Textzeugen von authentischen und Bernard 1697 listet 19 insulare

Texten

nicht-authentischen Werken Hildegards benennt Kerby-Fulton 2000, Fußn. 12): London, British Library, Add. 15418 (LDO, frühes 15. Jh.); Cambridge, Corpus Christi College, 404 (ca. 1350/1379); Cambridge, Corpus Christi College, 107 (frühes 15. Jh.); Cambridge, St. John's College, 27 (Epoche Richards IL); Oxford, Bodleian Library, Digby 98 (zwischen 1380/1420); Oxford, Bodleian Library, 158 (S.C. 1997;

14. Jh.); Exeter, Chapter Library Ms 3625 (ca. 1394); Cotton Dom. Ms IX (nach der Krönung Richards II. entstanden); Dublin, Trinity College, 157 (frühes 15. Jh.); London, Lambeth Palace Library, Ms 357 (2. Viertel 15. Jh.); London, British Library, Ms Cotton Vitellius D. III [?] (spätes 15. Jh.); London, British Library, Ms Arundel 337 (frühes 14. Jh., mit Ergänzungen aus der Zeit um 1380); Oxford, Bodleian Library, Ms Digby 32 (spätes 14. Jh., mit späteren Ergänzungen); Cambridge, University Library, Ms Ii. VI. 11 (Ende 13. Jh. mit Annotationen des späten 14. oder frühen 15. Jh.); Cambridge [?], Ms Royal 8 C.VII (frühes 14. Jh.); Oxford, Bodleian Library, Ms Digby 186 (frühes 15. Jh.; enthält eine politische Prophétie, die Hildegard [„Eidegar"] zugewiesen wird), ähnlich: Cotton Vespasian E.VII. (15. Jh.); Oxford, Merton College, Ms 160 (Scivias, 13. Jh.); Cambridge, Dd. 11.78; Oxford, Bodleian Library, Ms Hatton 56 (Mitte 15. Jh.); Oxford Trinity College, Ms 516 (2. Hälfte 15. Jh.); Oxford, Bodleian Library, Ms 623 (S.C. 2157, Mitte 15. Jh.); Cambridge, Gonville and Caius, Ms 427 (gedruckter Text, 16. Jh.); London, British Library, Harl. 1725 (Epistolarium, frühes 16. Jh.). Eine neue Liste „Manuscript Contexts of Hildegardiana of Late-Medieval England" bringt Kerby-Fulton 2000, S. 339-341. Gower Vox clamantis, Book 4, chap. 17, 1. 767-772. Zu Gower vgl. Yeager 1981.

spätes

2

-

Kapitel 5

230

Hildegard von Bingen erhalten.1 Damit ist eine explizit literarische Rezeption Hildegards im England des 14. Jahrhunderts bezeugt. Wyclif und ein Kreis ihm nahestehender Autoren zitierten Insurgent gentes gleich mehrfach bzw. stellten andere Bezüge zu Hildegard her.2 Die Lollarden schätzten Hildegard aufgrund ihrer vielfältigen Kritik an den Mißbräuchen der Kirche.3 Zu durch

nennen nen

ist

etwa

Thomas

Wimbledon, der

Sermon über das Ende der Welt auf

in einem 1388 in London entstande-

Insurgent gentes anspielt. Während

dieser Zeit war Hildegard vielen englischen Autoren nur noch als Schriftstellerin bekannt, die angeblich vor den aufkommenden Bettelorden gewarnt hatte. Ihre Wirkungsgeschichte beschränkte sich fast ausschließlich auf das Epistolarium, bzw. noch enger gefaßt auf ihren Brief an den Klerus von Köln. Die eigentlichen Visionsschriften dagegen wurden kaum rezipiert. Noch für Thomas Morus (1478-1535) ist Hildegard von Bingen in seiner 1529 verfaßten Supplication of Souls eine wichtige Gestalt gegen den Andrang der Häretiker.4 In eben diesem Sinne wird sie auch von Wyclif rezipiert, und zwar in seinen lateinischen und englischen Schriften. Seine Form der Rezeption trägt allerdings eine vergleichsweise gemäßigte Tönung.5 Was Insurgent gentes anbetrifft, so -

-

1 2

Szittya 1986, S. 220.

Vgl. Wyclif: De fundatione Sectarum, in Wyclif Polemics, S. 67. „Propheta autem Hildegardis prophetavit de ipsis [sectis] egregie atque plane. Sed quia habere possent colorem negare, dicta sua esse authentica sive fidem, relictis hiis scriptis volentibus ex habundanti ipsa respicere." Daß Wyclif sich im übrigen auch kritisch zu Hildegard verhalten konnte, beweist eine Äußerung, in der er darlegt, er wolle in seiner Argumentation der Heiligen Schrift folgen und nicht den Fabeln oder Vaticinien Hildegards: „Et istis duobus suppositis intendo procedere, non secundum vaticinium Hildegardis vel fabulas, sed secundum fidem scripture et secundum possibilitatem late vie apostatis." Wyclif De apostasia, S. 19. Wyclif folgt hier dem von ihm selbst formulierten Grundsatz, die Auslegung der Heiligen Schrift sei der Prophétie gleichwertig: „Interpretatio equivalet prophecie" (Wyclif Opus evangeliorum, II, Book 3, S. 131). Zu Wyclifs Hildegardrezeption vgl. auch Wyclif Works, S. 11, 492. Vgl. Peacock Repressor, II, S. 483. 477f. 502f. „Now yf our enmyes wyll for lak of other choyse / help forth theyr owne parte wyth theyre wyuys: then haue they some aduantage in dede / for ye tother holy sayntes had none. But yet shall we not lack blessyd holy women agaynst these frerys wyuis. For we shall haue saynt Anastace agaynst frere Luthers wyfe / saynt Hildegardes agaynst frere Huskyns wyfe / saynt Brygyte agaynst frere Lambertes wyfe and saynt Katheryn of senys agynst prest Pomeranys wyfe." Morus Supplication, S. 209. Vgl. Pierce Crede 1767, S. 26. Wyclif De blasphemia, S. 412f.: „Also sith freris seyn that beggynge groundes hom, and puttes horn in hyer degre of al this Chirche, why wolde not Crist byfore tho comynge of freris teche this beggynge, to profite of his spouse ? Hit semes that he shulde not bid, to lousyng of tho fende. Bot, as Seynt Hildegar seis in hir prophesye, this beggynge abode this perilouse tyme, when fais ypocritis disseyven tho puple." Stacey 1964, S. 43. Auch Stacey bringt eine auf Hildegard bezogene Passage Wyclifs aus De Blasphemia: „Also Hildegard says that these cursed sects shall be destroyed and damned in hell", and though this critical -

3 4

5

-

-

-

Das

Epistolarium

231

handelt es sich hierbei um einen kurzen eschatologischen Traktat, der das Auftreten der Pseudo-Propheten der letzten Tage thematisiert. Hinsichtlich dieser Pseudo-Propheten hatte Hildegard eine eigene geschichtstheologische Typologie entwickelt. In der alttestamentarischen Periode sah Hildegard die Israeliten zur Zeit des Elia in dieser Rolle (Kge 3,19): Die Israeliten verehrten Baal und waren durch ihren Glaubensabfall die ersten Vorläufer des Antichrist. In der neutestamentarischen Periode waren es die Pharisäer und Sadduzäer, die diese apokalyptische Typologie erfüllten. In ihrer eigenen Zeit, so glaubte Hildegard, komplettierten aufblühende häretische Gruppierungen wie die Katharer das Corpus Antichristi. Die endzeitliche Dynamik ihrer Ausführungen richtete sich aber, in einer reformtheologischen Stoßrichtung, auch gegen den verkommenen Klerus ihrer eigenen Zeit. Diese synchrone Deutungsperspektive des apokalyptischen Schemas konnte, als die Katharergefahr gebannt schien, von anderen Autoren übernommen werden und zwar unter ausdrücklicher Berufung auf die Autorität Hildegards. In England wurde diese Tendenz dadurch begünstigt, daß während des 14. Jahrhunderts die Bettelmönche zusammen mit dem Adel versuchten, den Einfluß der Weltgeistlichkeit zu schmälern.1 Entsprechende Gegenreaktionen konnten nicht ausbleiben. Hildegard hatte dargelegt, daß die Pseudo-Propheten ein notwendiges, aber vorübergehendes Übel seien, um die Reinigung des korrupten Klerus herbeizuführen. Auf dieser Ebene argumentierten jetzt Wilhelm von St. Amour und seine Nachfolger weiter. Sie hofften, die Mendikanten besiegen zu können, indem sie sie als die Pseudo-Propheten der letzten Tage apostrophierten. Anders als Hildegard, deren Reformimpulse sich immer in einen übergeordneten heilsgeschichtlichen Rahmen einfügen lassen und dabei auch den Säkularklerus miteinbeziehen, griffen die Mendikantengegner aber ausschließlich die Bettelmönche an. Ironischerweise war diese Argumentation begünstigt worden durch apokalyptisches Gedankengut, das in franziskanischen Kreisen selbst aufgekommen war. Kein geringerer als Joachim von Fiore hatte dargelegt, daß der Antichrist um das Jahr 1260 hervortreten werde. Damit war das Feld geöffnet für eine Identifizierung des Antichrist mit dem Mendikantentum des 13. Jahrhunderts. Ein anderer Franziskaner, Johannes de Roquetaillade (ca. 1315-1365), der als Verfasser alchemistischer, prophetischer und philosophischer Schriften bekannt wurde und aufgrund dieser Schriften die Hälfte seines Lebens in franziskanischen und päpstlichen Kerkern zubrachte, verwendete Insurgent gentes im Rahmen seines Werkes Liber ostensor. In diesem Werk zitiert Roquetaillade auch den Scivias und den Liber divinorum operum, vermutlich allerdings aus der Zusammenfassung des Pentachronon. Intensiv ist Johannes de Roquetaillade zu -

-

1

prophetess undoubtedly poured out her scorn upon the corrupt clergy, her dates (1098-1179) preclude the words quoted from being a direct reference to the friars. Wyclif was so anxious to turn his guns on his enemies that he was not always careful to examine closeley his ammunition." Vgl. Knowles 1955, II, S. 64f.

Kapitel 5

232

zeigen bemüht, daß seine eigenen Prophetien mit jenen Hildegards, der allseits akzeptierten prophetischen Autorität der Zeit, in Einklang stehen. Er verkündet, daß ein „reparator angelicus", ein die Wirren der Zeit besiegender großer Kirchenführer,

in naher Zukunft

zu erwarten

sei.

für das Fortwirken von Insurgent gentes im niederländischen der Literatur des Barock liefert eine als Autograph erhaltene sowie in Raum komplette Abschrift des Textes von Joost van den Vondel (1587-1679).' Ob der Text von Insurgent gentes aus der Feder des Wilhelm von St. Amour direkt stammt oder lediglich aus seinem Kreise, läßt sich nicht mehr ermitteln. Eine Auflistung der bekannten Handschriften findet sich bei M.-M. Dufeil, Penn R. Szittya und Sylvain Gouguenheim.2 Die früheste Edition des Textes findet sich im Band XV der Annales ecclesiastices post Baronium aus dem Jahre 1622.3 Spätere Editionen wurden im Jahre 1858 von Johann Albert Fabricius sowie im Jahre 1927 von A. G. Little und R. Easterling vorgelegt.4 Kathryn Ein

Beispiel

Autograph liegt in der UB Gent, Ms 787. Es ist angebunden an einen Text von Karel Couvrechef. Dazu findet sich die erläuternde Beifügung: „A. 1415: Circumferebantur illo tempore variae diversorum revelaciones Prophetiae, Visiones et alia divisions spiritus argumenta. Extat inter alias Prophetia S. Hildegardis cuius etiamnum videtur exemplum adscriptum in penultio codice biblioteca Dominicana Dertusen; Cui über titulatus est ,Manipulus florum Thomae de Hibernia'. Vide applicationem istius apud Petri Averüum Opera Theologici, Parisius A. 1646. Ad octo cavisas spongiae quales isti PP sunt ? Est gens, quae non patitur superiorem se Venatores honorem, et diuviarum. Quomodo nunc cum illis conversandum ? Si familiarius? nimium tibi constabunt; Si sobrius! re despicient, et ledent. ergo caute ab aliis

1

Das

2

caveas." Dufeil 1972, S. 342.

Szittya 1986, S. 220, Fußn. 102. Szittya erwähnt folgende Textzeugen: London, Lambeth Palace Library, Ms 357, f. 77rv; Oxford, Bodleian Library, Ms 158, f. 145-146; Oxford, Bodleian Library, Ms Lat.misc. c. 75 (olim Phillipps, 3119), f. 124v-125r; Oxford, Bodleian Library, Rawlinson C 411, f. 142r144r (18. Jh.); Dublin, Trinity College, 516; Cambridge, Gonville and Caius, 427, S. 97-99 (16. Jh.); Angers, Bibl. Municipale, 56, f. 180v; Dijon, Bibl. Municipale, 1020, f. 2-4 (17. Jh.); möglicherweise Paris, BNF, lat. 15661, f. 82; Paris, Bibliothèque d'Arsenal, Ms 2054, f. 55-57 (18. Jh.); Wien, ÖNB, Cod. 4941, f. lOOv. Diesen Listen -

hinzuzufügen ist nach Kerby-Fulton 1987, S. 396, Fußn. 40) die Handschrift London, British Library, Cotton Domitian A IX, f. 17rv. Weitere Textzeugen nennt

Gouguenheim 1996, S. 199: Roma, Biblioteca Vaticana, lat. 13513, f. 338; Rennes, Municipale, Ms n° 46, f. 18; Toulouse, Bibliothèque Municipale, Ms 493. Eine englische Übersetzung findet sich bei Foxe 1843/1849, III. S. 87f. Eine französische Übersetzung liefert Gouguenheim 1996, S. 198f. Annales ecclesiastici post Baronium, ed. A. Bzovius, XV, Köln 1622, S. 465. Die dort zu findende Angabe, der Text sei „ex libro Thomae de Hibernia, qui ,Manipulus Florum' dicitur et habetur in Annalibus ecclesiasticis anno 1415" ist nur zum Teil richtig. Der Text findet sich nicht im Manipulus Florum des Thomas de Hibernia (t ca. 1316), taucht aber in den Annales zum Jahre 1415 auf. Fabricius Bibliotheca, S. 243f. Little/Easterling 1927, S. 60f.

Bibl.

-

3

4

-

233 Epistolarium Kerby-Fulton hat eine kritische Edition der insularen, in England und Irland

Das

kursierenden Variante, angekündigt. Das Incipit des Textes lautet in den meisten Handschriften: „Insurgent gentes quae comedent peccata populi", eine Wendung, die an Hos 4,8 erinnert („Peccata populi mei comedent, et ad inquitatem eorum sublevabunt animas eorum"). Es folgt eine negativ gefärbte Beschreibung der Mendikantenorden von drastischer Diktion. Der Teufel selbst, so die Quintessenz des Textes, bediente sich der Mendikanten und ihrer vier Laster („Adulationem Invidiam, Hypocrisim et detractionem"'), um seine Ziele durchzusetzen. Anders als bei den authentischen Prophetien Hildegards oder Joachims von Fiore, findet sich in Insurgent gentes aber keine zielgerichtete, moral- oder reformtheologische Aussageabsicht, die auf eine Verbesserung der eigenen kirchlichen Situation hinausliefe. Es geht im Grunde genommen immer nur um eine Schmähung der Mendikanten. Wie Simon Magus, so würden auch die Mendikanten nach ihrem hohen Aufstieg einen um so tieferen Fall erleben. Den Bezug zu Hildegard, deren Name im Text selbst nicht fällt, stellen die meisten Handschriften durch eine vorgeschaltete Rubrik her, in der berichtet wird, daß Hildegard viele Jahre vor Entstehung der Bettelorden verstorben sei, in ihren Prophetien das Kommen der Mendikanten aber visionär vorhergesehen habe. Da der Text insgesamt für die Hildegard-Rezeption des 13. und H.Jahrhunderts von größter Bedeutung ist, sei er nachfolgend in der Edition Fabricius' ...

...

mitgeteilt :

Insurgent gentes quae comedent peccata populi, tenentes ordinem mendicum, ambulantes sine rubore, invenientes nova mala, ut a sapientibus et CHristi [!] fidelibus ordo perversus maledicatur. Sed diabolus radicabit in eis quatuor vitia, scilicet Adulationem ut eis largius detur; Invidiam quando datur aliis et non sibi; Hypocrysim, ut placeant per simulationem et detractionem, ut se ipsos commendent, et alios vitupèrent, propter laudes hominum et seductiones simplicium, sine devotione, sine exemplo martyrii, praedicabunt incessanter principibus Ecclesiarum, abstrahentes sacramenta a veris pastoribus, rapientes Eleemosynas pauperum miserorum, et infirmorum, trahentes se in multitudinem populi, contrahentes familiaritatem mulierum, instruentes qualiter blande maritos et amicos decipiant, et res proprias eis furtive tribuant, tollent enim res iniustas, et male acquisitas, et dicent: Date nobis, et nos orabimus pro vobis, ut aliorum vitia cernantur, et suorum obliviscantur. Heu et res miseras a raptoribus spoliatoribus, praedonibus, latronibus, usurariis, foeneratoribus, fornicatoribus, adulteris, haereticis, schismaticis, apostaticis, a militibus linguosis, et luxuriosis, a periuris mercatoribus, a filiis viduarum, a militibus tyrannis, a principibus contra legem viventibus, et a multis perversis, propter persuasionem diaboli, et dulcedinem peccati, vitam delicatam, brevem, et transitoriam facienda damnationem aeternam, omnia erunt eis apta. Populus vero de die in diem, durior erit et expertus erit seductiones eorum, et cessabunt dare, et cum cessaverint dare, ibunt circa domos famelici sicut canes rabidi, submissis oculis, contrahentes cervices, ut velut vultures pane satientur, quibus clamabit populus super eos, dicens. Vae vobis filii moeroris, vos mundus 1

Zit. nach Fabricius

Bibliotheca,

S. 213.

Kapitel 5

234

seduxit, diabolus infrenavit ora vestra, et corda vestra, sine sapore, mens vestra fuit, oculi vestri delectabantur in vanitatibus, pedes vestri veloces ad currendum in malum, mementote quod eratis non boni aemulatores, pauperes divites, simplices potentes, devoti adulatores, sancti hypocritae, mendici superbi, petitores effrontés, doctores instabiles, humiles elati, pii duri, dulces calumniatores, pacifici persecutores, amatores mundi, desideratores honoris, venditores indulgentiarum, seminatores discordiarum, Martyres delicati, confessores lucri, ordinatores commodi, suspiratores crapularum, mercatores domorum, aedificatores in altum, et quod et altius ascendere non potestis, tunc cecidistis, sicut Simon Magus, cuius per Orationes Apostolorum, dominus ossa contrivit, et plaga crudeli percussit. Sic vaga

contritus est, propter seductiones et iniquitates perversitatis, seientiam [!] viarum vestrarum scire nolumus.1

ordo

vester

vestras.

Ite Doctores

handschriftliche, lateinischsprachige Originaltradition von Indamit auf sich beruhen. Es ist deutlich geworden, daß dieser Text surgent gentes obwohl pseudepigraphisch das Bild Hildegards als Endzeitprophetin in ganz massiver Weise verfestigt hat. Hier läßt sich eine echte Wirkungsgeschichte auch für unechte Texte belegen. Darüber hinaus ist festzuhalten, daß gerade dieser Text eine vergleichsweise breite internationale Verbreitung bzw. Adaption gefunden hat. Es bliebe ein Hinweis darauf nachzureichen, daß Insurgent gentes im 15. Jahrhundert eine späte, aber höchst bezeichnende Wirkungsgeschichte entfalten konnte. Dabei handelt es sich um eine von der Forschung bislang völlig übersehene deutsche Übersetzung des Textes, die innerhalb einer polemischen Publikation des Deutschordensritters Wilhelm von Isenburg (Graf von Eysenburg; bezeugt ca. 1470-1532) herauskam.2 Die Publikation trägt den Titel: Widerlegung der falschen heschuldi- // gung vnd lesterwort etlicher Munich / so sie zu // Collen widder denn Edlen vnnd wolgehorn H. // Wilhelm Grauen zu Eysenburg Deutschs // ordens ec. des Euangeliums // halbenn geprediget // habenn. // Item / ein Prophecey S. Hildegardis von dem // Bettelorden. // Vonn den gleyßnern / wie sie vnther dem falschen verbergenn / // auß dem vii buch Policraticon des bischoues // von Carnoten. [O. O., o. J.; Köln: Ytgen von Aich, 1532]. Diese Publikation stellt eine Rechtfertigung des als Großcomthur und Ordensmarschall des Deutschen Ordens wirkenden Grafen Wilhelm von Isenburg dar, gegen dessen theologische Auffassungen in Köln zwei namentlich nicht genannte Predigermönche zu Sankt Alban und zu Sankt Columban sowie der Barfüßermönch Nikolaus Herborn (= Nikolaus Ferber, gen. Stagefyr, ca. 14801535)3 im Dom aufgetreten waren. Von der Sache her ging es um Auseinandersetzungen konfessionstheologischer Art, insbesondere um die reformatorische Höherbewertung des Glaubens gegenüber den Werken. Isenburg hatte im Jahre 1519 Martin Luther in Wittenberg besucht, eine Begegnung, die ihn offensichtLassen wir die

-

-

1 2

Insurgent gentes. Zit. nach Fabricius Bibliotbeca, S. 243f. Zu Isenburg vgl. Krafft 1881. Joachim 1892/1895, insbesondere I, S. 8-11. 147157; II, S. 25. 43. 70-72. 147f.; III, S. 52f. Contemporaries 1985/1987, II, S. 228f. -

3

Vgl.

Nikolaus Herborn: Schmitt 1896, insbesondere S. 140f.

Kurten 1950.

-

zu

-

Das

Epistolarium

235

nachhaltig prägte. Luther und Erasmus richteten Briefe an ihn, und Agrippa von Nettesheim verteidigte ihn in seiner 1532 erschienenen Apologia adversus Theologistas Lovanienses gegen die Anfeindungen der Kölner Theologen. Cochläus, der Kölner Ketzermeister Jacob Hochstraten1 und andere katholische Kontroverstheologen dagegen griffen ihn in scharfer Form an. Isenburg seinerseits vertrat, wie seine 1526 erschienene Schrift Hauptartikel aus göttlicher Gschrifft und eine Reihe anderer Publikationen beweisen, eine Rechtfertigungslehre, die stark lutherisch geprägt war. Dennoch trat Isenburg nie faktisch zum Luthertum über. Nikolaus Herborn ist als Domprediger zu Köln, Provinzial der Kölner Ordensprovinz und leidenschaftlicher Bekämpfer der Reformation in die Geschichte eingegangen. Seine Kanzelpolemik gegen Isenburg, die von lieh

anderen Franziskanern und Dominikanern flankiert wurde, reicht zurück bis in das Jahr 1525/26. Sie bewirkte, daß auch der Rat der Stadt Köln sich gegen den Grafen aussprach und seine Bücher konfiszieren ließ. Darüber hinaus legte der Kölner Erzbischof Hermann von Wied Isenburg Stillschweigen auf, woraufhin Isenburg seinerseits versuchte, sich vor dem Reichstag von Regensburg zu rehabilitieren. Als streitbare Natur veröffentlichte er zudem eine Reihe apologetischer Schriften. Am Ende einer dieser Apologien erscheinen einige Texte, die seine theologischen Standpunkte autoritativ abstützen sollten. Unter ihnen befindet sich die Prophecey Hildegardis von dem Bettelorden (f. Cv-CIIv). Sie wird hier im Sinne einer Generalabrechnung mit den Bettelorden vorgebracht, deren Vertreter zu den Hauptgegnern Isenburgs in Köln zählten. In der Einleitungspassage des Textes findet sich die Angabe, Hildegard habe die Prophétie „vor lx jaren geschrieben / eh daß d[ie] Bettelorden vffkommen" (f. Cv). Dann beginnt der eigentliche Text: ...

Geyster vfferstehenn / welche fressen werden die sünden // des volcks / haltend die bettel orden / wandlent vnnd lebendte on ey- // nig schäm / vnd werden erfunden viel böße übel also das solche verkerte or- // den von de[n] weisen vn[d] christglaubigen menschefn] sollen vermaledeiet werde[n]. // Der teuffei aber wirt vier böser ding oder laster in ynen wurtzelen / nem // lieh Schmechlerey / Neidigkeit / Gleisnerey / vnd Hinderklaffen. Schmey // chlerey / vff das man[n] ynen desto heufficher vnnd überflüssiger geben sol // Neidigkeit / so man den andern armen gibt vnd ynen nicht. Gleyßnerey / da // mit sie dem volck gevallen durch betrug. Hinderklaffen / als sie sich selbs lo- // ben vnd andere leuthe sehenden / da durch sie lob vnd preiß gegen dem volck // erlangen mügen / vnd die einfeltigen verfüren. Sie werden on andacht vnd exempel der marter den Herren vnd Fur- // sten predigen / vnd den rechten hirten die Sacramenten der kirchen abzie- // hen, Die almüsen der armen / elendigen vnnd krancken rauben / sich selbs // in die menige des volcks einmischen. Vnd werde[n] mit den weibern freundt // schafft machen / die zu[o] underweisen wie sie ire manner vnd freunde betrie- // gen sollen vnd ir eigen gu[o]t ynen dieblich zu[o] Stelen. Es werden

1

Ohne Isenburg namentlich zu nennen, zieht Hochstraten in seinen 1526 erschienenen Catholicae aliquot disputationes gegen ihn zu Felde.

Kapitel 5

236

Sie werdefn] gestolen vn[d] sunst vnrecht gu[o]t begerefn] / sagend / Gebt vns d[a]z // wir wollen Gott vor euch bitten. Andere leuthe gebrech werden sie sehe[n] // vnd irer laster vergessen. Ach sie werden auch grosse erbermliche ding em // pfangen von den Raubern / Wuchern / Eebrechern / Ketzern / Zweidracht // machern / Meyneidigen / Schwetzhafftigen weibern / Vnkeuchen / Mey // neydigen Kauffleuthen, Falschen Richtern / Tyrannischen reutern / vonn // Fürsten die widers gebott Gottesleben / vnd von vielen andern verkerte[n] // menschen. Alle ding werde[n] ynen bequem sein durch eingebung des teuf- // fels vnd sussigkeit der sünden / auch wollustigkeit des kurtzen vergenckli- // chen lebens / sie zu[o] ersettigen / vnd ewig zu[o] uerdam[m]en. Das volck aber wirt ynen von tag zu tag ye härter werdefn] / vnd ire ver- // fürung mercken / vffhören zu[o] geben. Vnd so es vffhhört zu[o] geben werden sie // hungerig bey die heuser gehen wie rosende hu[o]ndt / mit niedergeschlagnen // äugen / mit krum[m]en hälsen / vff das sie / wie turteltauben / mit brodt erset- // tigt werden mügen. Alß dan wirt ynen das volck nachschrien vnd sagen // Wee euch kindern des trübsals / die weit hat euch verfürt / der teuffei hat // ewre meüler gezäumet / ewre hertzen seint on geschmack. Ewer gemüt ist // gewesen vnstandhafftig / ewer fleysch gemein / ewre äugen freweten sich / in eitelheit / ewre füss waren schnei zu[o] lauffen in allem übel. Seit nu[o]n ingedenck das ir warend / Gu[o]te feindt / Arme reichen / Einfei // tige gewaltigen / Andechtige schmeychler / Heilige gleyßner / Demütige // hochfertigen / Vnuerschamte bettler / Vnstanthafftige lerer / Vffgeblaße// [Ciiv] demütigen / Süsse rächer / Fridsame Verfolger / Liebhaber der weit // Eergeitzige / Kauffleuthe des Ablaß / Zweytrachtsäher / Wollüstige mär // terer / Bekenner des gewinnes / Schatzmeyster oder ordinirer des nutzs [?] // Sucher der fresserey / haußkäuffer / hohe zim[m]erleuth / vnd so ir nicht kün // dent höher steygen / scheint ir gefallen wie Simon der zauberer / welchs ge // beindt der Herr zerknitschet durch das gebett der Aposteln / vnnd hau ge // schlagen mit einer graüsamen plag / Also ist ewer Orden zerschlagen vnd // zertrieben vmb ewerer verfürung vnd bübereyen willen. Gehet hin[n] ir le- // rer der verkeru[o]ng / Vätter der boßheit / Kinder der vngerechtigkeit. Die // kunst ewerer wege begeren wir nicht zu wissen.

Daß dieser Text gerade in der Lupuspresse der Familie von Aich in Köln erschien, ist durchaus kein Zufall. Für die Lupuspresse ist eine Schwerpunktsetzung auf deutschsprachigen volkstümlichen Publikationen wie Bauernpraktiken, Prognostica, Sibyllen-Weissagungen, die in Köln auf eine reichhaltige Tradition zurückblicken können, charakteristisch, daneben eine ausgeprägte Hinneigung zu Schriften lutherischer Akzentuierung.1 So brachte die Lupuspresse beispielsweise Andreas Bodensteins Mannigfaltigkeit des einfältigen einigen Willen Gottes, das Hauptwerk des zeitweiligen Weggefährten und Lehrer 1

Vgl. die Drucke: Des Kunckels odder Spinnrockens Evangelia vom Montag an biss auff Sambstag mitsampt den Glossen zu Ehren den Frawen beschrieben. Faksimileausgabe des Volksbuches von 1537 gedr. in Köln bei Sankt Lupus. Hrsg. und übers, von

Hans-Joachim

Koppitz

Sibyllen-Weissagung

1978. -

(Alte

Kölner Volksbücher

um

1525/1989, insbesondere S. 152f.

1500,

3.

Druck),

Köln

Das

Epistolarium

237

heraus, des weiteren den sogenannten Waldenser-Katechismus das von Arnd von Aich selbst geschriebene Evangelischen oder (um 1533/34) Handbüchlein. Wolf gang Schmitz hat darauf hingewiesen, daß nach Bürgers dem Tode des Arnd von Aich für die Zeit von etwa 1530 bis 1539 dessen Witwe Ytgen die Geschäfte leitete.1 Diese Information läßt sich bestätigen durch entsprechende Nachrichten aus den Ratsprotokollen der Stadt Köln. Erst um 1539 übernahm Johann von Aich, der Sohn Arnds und Ytgens, die Offizin (f ca. 1553). Ytgen von Aich war dem reformtheologischen und sozialkritischen Ansatz ihres verstorbenen Mannes verpflichtet. Im Jahre 1534 wurde sie sogar, wie die Kölner Ratsprotokolle belegen, wegen Unterstützung der lutherischen Sache in den Turm geworfen. Erst nach 14 Tagen kam sie gegen Entrichtung einer Kaution wieder auf freien Fuß.2 Insgesamt dokumentiert der Rückgriff auf den ins Deutsche übertragenen pseudo-hildegardischen Text Insurgent gentes im Zusammenhang der konfessionellen Auseinandersetzungen der Stadt Köln eine interessante Nebenspur der Wirkungsgeschichte Hildegards von Bingen. Gerade auf diesem pseudepigraphischen Felde könnte durch eine systematische Suche nach entsprechenden Texten ganz sicher noch mancher bedeutende Fund zutage gefördert werden. Hierbei wären die vielfältigen Druckausgaben von Hildegards Brief an den Klerus von Köln miteinzubeziehen.3 Zu den Brieftraktaten der Explicatio Regulae S. Benedicti, der Explanatio Symboli S. Athanasii und den Solutiones in triginta octo quaestionum sollen in diesem Zusammenhang nur einige grundlegende Beobachtungen angefügt werden. Eine umfassende Darstellung der Text- und Überlieferungsgeschichte dieser Schriften, die von Van Acker und Klaes unter der Classis IX in die kritische Edition des Epistolariums miteinbezogen wurden, ist an dieser Stelle nicht möglich. Hier hat die Forschung noch erhebliche Defizite aufzuarbeiten. Martin Luthers

5.7 Die Brieftraktate

Explicatio Regulae S. Benedicti Die Explicatio [Explanatio] Regulae S. Benedicti ist im Kontext von Hildegards Epistolarium überliefert. Ihre Entstehung verdankt sich sofern der entsprechende Anfragebrief nicht nachträglich interpoliert wurde der Bitte einer nicht näher zu identifizierenden Mönchsgemeinschaft.4 Was den Sitz und die Ordenszugehörigkeit dieser Mönchsgemeinschaft anbetrifft, so wurden unterschiedliche Zuordnungsvorschläge gemacht. Christel Meier geht davon aus, daß 5.7.1 Die

-

-

es

1 2 3 4

sich hierbei

um

einen benediktinischen

(?)

Konvent

aus

dem Hunsrück

Schmitz 1990, S. 362. Zur Lupuspresse vgl. auch Bauernpraktik, S. 121f. Nr 54. Belege bei Schmitz 1990, S. 362, Fußn. 598. Eine materialreiche Auflistung dieser Drucke bietet Van der Linde 1877, S. 73f. In der Briefanfrage heißt es: Congregatio Hunniensis coenobii Hildegardi (PL 197, Sp. 1053f.) Ebd. die Edition der Regula S. Benedicti, Sp. 1055-1066. -

Kapitel 5

238

gehandelt habe.1 Heinrich Schipperges will hinter dem Namen Hunna entweder das rheinische Kloster Hönningen oder das westfälische Kloster Unna am Hellwege erkennen.2 Maria Assumpta Hönmann bezeichnet die anfragenden Mönche als „Augustinermönche aus ,Hunna"', die sich von Hildegard eine Erklärung ihrer eigenen, d. h. der Augustinerregel, erbeten hätten. Mit ihrem Text habe Hildegard die lückenhaften Anweisungen der Augustinerregel für Priestermönche behoben. Sie stehe damit in der Tradition des Hugo von St. Victor (f 1141), der ebenfalls einen Kommentar zur Augustinerregel für Männer geschrieben habe.3 Tatsächlich findet sich eine Rezeptionsspur des Textes im Bereich der Augustiner. Dabei handelt es sich um die aus dem 15. Jahrhundert stammende, im Augustinerchorherrenstift St. Maria Magdalena (Bonn) entstandene Handschrift der UB Bonn Hs. S 455. Dieser Textzeuge ist von der Forschung bislang nicht beachtet worden. Van Acker wiederum erweckt den Eindruck, der eigentliche Adressat der Schrift sei der Rupertsberger Konvent selbst gewesen.4 Letzterer habe sich über einen langen Zeitraum hinweg Verstöße gegen die Regel erlaubt. Hildegards Kommentar zur Benediktsregel sei eine regelrechte Klage über Mißstände in ihrem eigenen Kloster. Der Regelkommentar müsse im Zusammenhang mit der Vita S. Hildegardis und dem Liber vitae meritorum gesehen werden, in denen ähnliche Klagen geführt würden. „Über die gerügten Laster (ingluvies, lascivia morum, amor saeculi, vanitas, inoboedientia) hat Hildegard ausführlich in ihrem LVM gehandelt. Die Schrift [der Kommentar zur Regula Benedict!, Ergänzung] wurde um dieselbe Zeit (1158-1163) abgefaßt und steht mit ihren eigenen Klostererfahrungen in engem Zusammenhang."5 Fest steht, daß Hildegards Regelauslegung in späterer Zeit als benediktinische Reformschrift gelesen wurde. Heinrich Schipperges betont darüber hinaus die starke Verbindung des Textes zur medizinischen Klosterliteratur der Zeit.6 Möglicherweise hat das Anschwellen medizinischer Literatur im 15. Jahrhundert auch die Überlieferung des Kommentars zur Regula Benedicti mit begünstigt. Die handschriftliche Überlieferung des Textes ist relativ reichhaltig. Wie Pitra in seinem Hildegard-Band hervorhebt, ist der Stil der Explicatio Regulae S. Benedicti im Gegensatz zu den eigentlichen Visionswerken leicht verständlich und konzise vermutlich ein wichtiger Mitgrund für die lebhafte Rezeption des ...

-

1 2

3

Meier 1981, Sp. 1271. Schipperges 1980, S. 88.

Die

für 4 5 6

Augustinerregel war von Augustinus ursprünglich geistliche Frauen geschrieben worden.

Van Acker 1988, S. 163. Van Acker 1988, S. 164.

als kurze

Lebensanweisung

Hönmann 1981, S. 32.

-

Schipperges 1964, S. 48-54; hier: S. 48: „Und auch ihr [Hildegards, Ergänzung] Kommentar zur Regel des heiligen Benedikt ist ganz aus dem Wissen der aufkommenden Regimina-Literatur und von Erfahrungen einer ärztlichen Praxis gespeist."

Das

Epistolarium

239

Textes.1 Allerdings fällt auf, daß die meisten Textzeugen erst aus dem 15. Jahrhundert stammen. Seit dieser Zeit wird die Explicatio auch mit einer eigenen Überschrift bzw. einem eigenen Titel überliefert. Der Riesencodex dagegen hatte sie noch ganz selbstverständlich als Bestandteil des Epistolariums behandelt. Ein eigenes Incipit und Explicit fehlen dort. Die Tatsache, daß Hildegards Kommentar zur Regula Benedicti gerade im 15. Jahrhundert eine so starke Beachtung fand, läßt sich recht plausibel erklären. Das 15. Jahrhundert ist die große Zeit der benediktinischen Reformen (Bursfelder Reform). Diese Reformen bewirkten eine mannigfaltige Rückbesinnung auf genuin benediktinisches Gedankengut, insbesondere auf die Regula Benedicti selbst. Von hier aus geriet auch Hildegards Kommentar zur Benediktsregel neu in den Blick. Zudem war der Text auch Bestandteil des Pentachronon und wurde von dort aus popularisiert. In der Tat ist der gehäufte Überlieferungszusammenhang zum Pentachronon auffällig. Lieven Van Acker hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß die Briefzusammenstellung der Handschrift BSB München, clm 324 [olim 536] aus dem 13. Jahrhundert möglicherweise eine erweiterte Form des Pentachronons darstellt, die überlieferungsgeschichtlich Schule gemacht hat.2

Folgende Textzeugen seien genannt: 1. ) R Riesencodex (1170/79; Rupertsberg), überliefert den Text innerhalb des Epistolariums (f. 421ra-425rb) 2. ) Mp München, BSB, clm 2619 (Aid. 89). 13. Jahrhundert (Entstehungsort unbekannt; Zwischenprovenienz: Kloster Aldersbach [Nordbayern, Nähe Vilshofen]). Aldersbach war von 1120 bis 1146 ein Augustinerchorherren=

=

stift,

von

1146 bis 1803 ein Zisterzienserkloster. Der Codex

enthält neben

(f. 49v-57) das Pentachronon Gebenos (f. 1-49) Explicatio 3. ) M München, BSB, clm 324 [536]; Sammelhandschrift des D.Jahrhunderts (entstanden im Zisterzienserkloster Kaishaim), u. a. mit dem Pentachronon (f. l-61v); die Explicatio Regulae S. Benedicti erscheint f. 70v-82r 4. ) Pa Paris, Bibl. Mazarine, Cod. 1646 [olim 1355]. 13. Jahrhundert (Entstehung in Deutschland). Enthält neben dem Pentachronon (f. 1-72) die RB (f. 73-85) der

S. Benedicti

=

=

1

Analecta, S. 495: „Quantum solet Hildegardis

esse in caeteris sibyllina, tantum in illo et commentario discreta verborum et sententiarum série concisa Regulae plana, utitur." Pitra gibt lediglich einige schmale Hinweise auf den Text, ohne ihn zu ediesacrae

ren.

2

XLIX, Fußn. 96: „Möglicherweise sind die zusätzlichen BriefWiederholungen und die Explanatio der Benediktus-Regel Bestandteile einer Sammlung, die sich Gebeno zur Auswahl angelegt hatte; so dürften sie zusammen mit seinem Werk als Restbestand überliefert worden sein. Auf jeden Fall findet

Van Acker 1991, S. texte, die

sich diese erweiterte Fassung der Gebeno-Tradition auch in mehreren anderen Hss."

Kapitel 5

240

Paris, BN, Cod. lat. 3322. Der Codex befand sich im 13. Jahrhundert im Besitz der Zisterzienserabtei Clairvaux. Er enthält neben dem Pentachronon (f. 1-115) die RB (f. 115-131). Nach Van Acker (Epistolarium I, S. XLIX, Anm. 96) werden in der Pariser Katalogbeschreibung der Handschrift (Catalogue Général des manuscrits latins. T. 5. Paris 1966, S. 185188; hier: S. 187) noch acht weitere Handschriften gleichen Typs genannt. 6. ) B Brügge, Stadsbibl., Ms 129. Sammelhandschrift des 14. Jahrhunderts (Entstehungsort unbekannt ; Zwischenprovenienz : Zisterzienserkloster Dunes). Der Codex enthält u. a. Briefe Hildegards und Auszüge aus dem Liber divinorum operum; der Text der RB erscheint f. 83ra-91ra 7. ) Ms = München, BSB, clm 2837 (Aid. 307). Sammelhandschrift des 15./17. 5. ) Pa 1

=

=

Jahrhunderts (Entstehungsort unbekannt; Zwischenprovenienz: „Ex bibl. Can. et episc. in lacu Chemiaco [Chiemsee]"). Der Text der RB erscheint f. 82-107

Ottobeuren, Benediktinerkloster, Ms O 45 (olim II 294). Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts (entstanden in Benediktinerkloster Ottobeuren; möglicherweise unter dem Einfluß des Ottobeurener Priors, Humanisten und studierten Mediziners Nikolaus Ellenbog [1483-1543]). Der Text der RB erscheint f. 175r-187r L London, BL, Cod. Harl. 1725. Handschrift des 15. Jahrhunderts (Entstehungsort unbekannt). Enthält Hildegards Epistolarium (f. 6r-286v), darin u. a. die Explicatio RB (f. 260-268v) Lr London, BL, Cod. Add. 15102. Kopie von R, 1487 angefertigt im Auftrag des Benediktinerabtes Johannes Trithemius auf dem Rupertsberg. Die RB erscheint f. 128-137 Bo Bonn, Universitäts- und Landsbibl., Hs S 455. Handschrift des

8. ) O

9. )

10. ) 11. )

=

=

=

=

15. Jahrhunderts (entstanden im Augustinerchorherrenstift St. Maria Magdalena) mit 41 Briefen Hildegards. Die RB erscheint f. 30v-39v 12. ) Ba Bamberg, Staatsbibl. (olim Kgl. Bibl.) Msc Lit. 151. Ed. II 4. Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts (entstanden im Benediktinerkloster Michaelsberg / Bamberg). Die RB erscheint f. 142-145 13. ) Td Trier, Dombibliothek (Bistumsarchiv) Abt. 95, Hs 39. Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts (entstanden im Benediktinerkloster St. Thomas / Bursfelde). Die RB erscheint f. 188v-196r 14. ) T Trier, Stadtbibliothek, Hs 1259/586 8°. Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts (entstanden im Benediktinerkloster Trier-St. Matthias). Die RB =

=

=

erscheint f. 31-40 15. ) W Wien, ÖNB, Cod. 3702 15. Jahrhunderts (Entstehungsort 236v. =

[lunael f. 102]. Sammelhandschrift des

unbekannt).

Die RB erscheint f. 228r-

Das

Hinzu kommen

Epistolarium

241

verschollenen Handschriften: 1. ) H Himmerod OCist.; der Codex enthielt den Liber divinorum operum, die Vita S. Ruperti, die Vita S. Disibodi, die Briefe sowie den Kommentar an

=

zur

Benediktsregel.

Lüttich, Benediktinerkloster St. Jakob; Handschrift des derts, entstanden im Benediktinerkloster Trier-St. Matthias.

2. ) L

=

15. Jahrhun-

wurde Hildegards Kommentar zur Benediktsregel als Blanckwalds Edition des Epistolariums aus dem Jahre 1566. Diese Edition basiert auf der Grundlage des von Blanckwald selbst abgeschriebenen Riesencodex. Von dort aus geriet der Text geringfügig überarbeitet in den Supplementband (T. 15) der Bibliotheca magna Patrum & Scriptorum ecclesiasticorum (Köln 1622, S. 655-669) sowie in Band 23 der Maxima Bibliotheca Veterum Patrum (Lyon 1677). Er erscheint dort, im Anschluß an den vorausgehenden Anfragebrief der nicht näher zu ermittelnden Hunsrücker Mönchsgemeinschaft, auf f. 590-594. Migne übernahm in Band 197 der Patrologia Latina die Textvorlage der Maxima Bibliotheca Veterum Patrum (Sp. 1053-1066). Eine deutsche Übersetzung der Explicatio Regulae S. Benedicti hat im Jahre 1987 die Baseler Hildegard-Gesellschaft vorgelegt,1 eine kritische Edition des Textes hat der amerikanische Benediktiner Hugh Feiss angekündigt.

Erstmalig gedruckt

Annex

zu

Explanatio Symboli S. Athanasii Explanatio Symboli S. Athanasii ist, ebenso wie die Vita S. Ruperti, Bestandteil eines Antwortbriefes Hildegards an ihren eigenen Rupertsberger Konvent (Ep. 195r). Das Anschreiben wurde, falls es nicht fingiert ist, von Volmar im Auftrage des Konventes an Hildegard gerichtet (Ep. 195). Was die Datierung dieses Schreibens anbetrifft, so verlegt Van Acker es in die Zeit um 1170. Hilberath nimmt dagegen an, daß zumindest die dem Antwortbrief Hildegards beigefügte Explanatio bereits früher, und zwar um 1163, abgefaßt wurde.2 Adelgundis Führkötter hat zudem darauf aufmerksam gemacht, daß der Brief in einer Atmosphäre des Abschiednehmens geschrieben wurde. Sie spielt damit auf einen Besuch Hildegards auf dem Disibodenberg im Jahre 1155 an, was faktisch eine noch frühere Datierung bedeuten würde. Bei diesem Besuch ging es darum, die geistlichen und weltlichen Beziehungen zwischen dem Disibodenberger Mönchs- bzw. Doppelkloster und dem neugegründeten Rupertsberger Nonnenkloster zu klären. Die zunächst mit Abt Kuno von Disibodenberg geführten Verhandlungen wurden nach dessen Tod im Jahre 1155 mit seinem Nachfolger, Abt Helenger, fortgeführt. Sie endigten in einer vom 5.7.2 Die

Die

22. Mai 1158 datierenden Urkunde des Mainzer Erzbischofs

Rupertsberger 1 2

Konvent

zugesichert wurde, daß

Explicatio Regulae (dt.) Hilberath

1987.

1988, insbesondere S. 325.

er

keinerlei

Arnold, in der dem

Leistungen

an

den

Kapitel 5

242

Disibodenberg zu entrichten habe. Außerdem wurde den Nonnen die freie Wahl ihrer geistlichen Mutter eingeräumt und der Disibodenberg wurde dazu verpflichtet, dem Rupertsberg einen geeigneten Mönch als Klosterpropst zur Verfügung zu stellen und zwar nach Wunsch der Nonnen. Damit war die wirtschaftliche und geistliche Lebensfähigkeit des Rupertsberger Klosters zunächst gesichert. Die von Führkötter verwendete Bezeichnung des Briefes als Testament Hildegards bezieht sich auf einige Formulierungen, in denen Hildegard ihre Mitschwestern auffordert, auch nach ihrem Tode in gegenseitiger Liebe zueinander und in geistlicher Disziplin zu verharren.1 Daß Hildegard sich Sorgen um die Disziplin ihres Klosters gemacht hat, ist eine bekannte Tatsache. Offensichtlich richteten sich ihre Bedenken aber auch auf einige theologische Inhalte der monastischen Conversio. Von hier aus könnte die Explanatio Symboli S, Athanasü, um einen von Hans Liebeschütz verwendeten Begriff aufzugreifen, als eine Art „Lehrvision" verstanden werden, deren Zweck es war, fundamentale theologische oder monastische Sachverhalte in einer konzisen Art und Weise klarzustellen.2 Sie wäre damit als Komplementärtext zur Explicatio Regulae S. Benedicti zu verstehen, die ja ebenfalls Klagen über Mißstände im eigenen Kloster zur Ursache hat, wenn auch auf einer mehr disziplinarischen Ebene. Daß Hildegard in ihrem etwa zur gleichen Zeit (1163) entstandenen Schreiben an den Klerus von Köln explizit antihäretische Ziele verfolgte, würde -

hierzu sehr gut passen. Trifft der Datierungsvorschlag um 1163 zu, so wäre die Explanatio nach Abschluß des Liber vitae meritorum sowie in der Zeit der beginnenden Arbeiten am Liber divinorum operum entstanden. Die Tatsache, daß der Text nicht auf eine gesonderte, eigenständige Überlieferung verweisen kann, könnte mit seiner Funktion und seiner Zielgruppe zusammenhängen. Eine Schrift, die sich an Hildegards eigenes Kloster richtete, muß für andere Rezipienten naturgemäß weniger interessant gewesen sein. Möglicherweise wurde sie aus dem gleichen Grunde vom Rupertsberg absichtlich nicht entsprechend popularisiert. Was die literaturgeschichtliche Einordnung der Explanatio Symboli S. Athanasü anbetrifft, so war die Kommentierung des seit dem 6. Jahrhunderts bezeugten [pseudo-Jathanasianischen Symbolums (Quicumqtte vult) im Mittelalter durchaus keine Seltenheit. Es finden sich aus dem 12. bis 16. Jahrhundert insgesamt 23 anonyme sowie 16 mit Namen versehene Kommentare zum Athanasianum. In der Reihe der namentlich überlieferten Kommentare steht Hildegards Text, den N. M. Häring als „rather cryptic"3 bezeichnet, entstehungsgeschichtlich an dritter oder vierter Stelle. Früher entstanden sind lediglich jene des Bruno von Würzburg (ca. 1034/35), des Abaelard (ca. 1142) und des Gilbert von Poitiers (ca. 1142/54). Der Kommentar des Gerhoh von Reichersberg (1093-1169) dürfte etwa zeitgleich zu Hildegards Auslegung zu datieren sein 1 2

3

Briefwechsel (dt.) 1965, S. 103. Liebeschütz 1930, S. 146. Häring 1972, S. 222.

Das

Epistolarium

243

anonym überlieferten Kommentare reichen bis ins S.Jahrhundert zurück. Der aus dem 4. Jahrhundert stammende Text des [pseudo-Jathanasianischen Symbolums stellt eine Art Lehrschrift dar, deren Zweck es war, die katholische Glaubenssubstanz gegen häretische Angriffe, insbesondere aus dem Kreise des Sabellianismus und Modalismus, zu schützen. Im Mittelalter ging man davon aus, Athanasius habe den Text während der Zeit seiner Verbannung in Trier (336/37) geschrieben. Zweifel an der Autorschaft des Athanasius räumte Hugo von St. Victor (f 1141) mit seiner kategorischen Feststellung aus: „Quicumque uult beatus Athanasius composuit".1 In der Tat konnte erst der dänische Humanist und Theologe Gerhard Jan Voss (1577-1649) nachweisen, daß die Verfasserschaft des Athanasius eine literarische Fiktion darstellt.2 Seit dem 8. Jahrhundert wurde das Athanasianum auch im Zusammenhang der Liturgie verwendet. Es erschien dort als Cantica innerhalb des Officiums, und zwar unmittelbar nach den Psalmen in der Sonntagsprim. In Cluny wurde der Text regelmäßig beim Tode eines Mitbruders, anderen Informationen zufolge sogar an jedem Abend, gesungen. Daß Hildegard einen explizit theologischen Text kommentierte, hängt ätiologisch also mit dessen Verwendung im monastischliturgischen Alltagsgeschehen zusammen. Dieser Sachverhalt erklärt auch das Vorhandensein so zahlreicher alt- und mittelhochdeutscher Übersetzungen des

(vor 1167). Die

Symbolums. Die Explanatio Symboli S. Athanasii gehört zu den am schwächsten als eigenständiger Text überlieferten Schriften Hildegards.3 Außerhalb des Epistolariums konnte kein einziger Textzeuge ermittelt werden, der die Schrift tradiert. Innerhalb des Epistolariums liefert der Riesencodex (1170/79) die früheste komplett erhaltene Fassung. Die einen älteren Status repräsentierende Handschrift der ÖNB Wien, Cod. 881 (um 1164/70 [= W]), überliefert Hildegards Brief an den Rupertsberger Konvent nur fragmentarisch. Der Text bricht auf f. 50v mit der Wendung „locum istum, quem ad militandum Deo elegistis, omni defvotione]" ab. Damit fehlt in W gerade die eigentliche Explanatio Symboli S. Athanasii. Eine weitere, allerdings erst aus dem 13. Jahrhundert stammende Briefhandschrift mit dem Text der Explanatio ist der Wiener Codex lat. 963 ([theol. 348] Wr). Hier findet sich die Explanatio auf f. 122va-151ra. Van Acker geht davon aus, daß die Explanatio sowohl in Wru, dem lediglich zu erschließenden Vorläufer von Wr, als auch in R Hildegards Brief an Volmar nachträglich angehängt wurde. Zuvor habe dieser Text als selbständiges Schreiben vorgelegen. In der Briefsammlung des Riesencodex ist die Explanatio naturgemäß nicht als eigenständiger Text ausgewiesen. Er erscheint innerhalb des Antwortbriefes auf f. 395vb-401ra und trägt dort die merkwürdige, aus späterer Zeit stammende Überschrift „Oratio ad congregationem sororum suorum". =

1 2 3

Hugo de Sancto Victore De Voss 1642, S. 37-56. Vgl. Häring 1972, S. 225-246.

sacramentis, II, 9,

9

(PL 176, Sp. 476D).

Kapitel 5

244

Gedruckt wurde der Text zum ersten Mal von Justus Blanckwald im Jahre war Bestandteil von Blanckwalds Edition des Epistolariums. Die Ausgabe Blanckwalds wiederum fand Eingang in die Magna Bibliotheca Veterum Patrum (Bd. 15. Köln 1622, S. 669-674) sowie in die Maxima Bibliotheca Veterum Patrum (Bd. 23, Lyon 1677). In dieser Textfassung wanderte die Explanatio auch in den Hildegard-Band der Patrologia Latina (T. 197, Sp. 10651082). Pitra brachte hierzu lediglich einige (marginale) Textanmerkungen.1 Van Acker hat innerhalb seiner Briefedition (Bd. 2, Nr. CXCVR; S. 445-447) Hildegards Brief ohne die Auslegung des athanasianischen Symbolums ediert. Auch für die Explanatio Symboli S. Athanasii stellt damit der Riesencodex den wichtigsten Textzeugen und die entscheidende überlieferungsgeschichtliche Quelle dar. 1566. Der Druck

5.7.3 Die Solutiones

triginta

octo

quaestiones

Die Solutiones sind Antworten Hildegards auf insgesamt 38 theologische Fragen, die Wibert von Gembloux der Seherin im Auftrage der Mönche von Villers übermittelt hatte.2 Wie aus einem Schreiben Hildegards an Wibert von Gembloux hervorgeht, war der Text unmittelbar nach dem Tode ihres Sekretärs Gottfried, d. h. im Februar 1176, noch nicht fertiggestellt.3 Hildegard gibt diese Tatsache, zusammen mit einer Erkrankung, als Entschuldigung dafür an, daß ihre Antwort noch nicht vorläge. Anfang 1177 schreibt sie, sie habe mittlerweile 14 Solutiones abgeschlossen und arbeite an den anderen weiter. Interessanterweise war aber dem Redaktor des Riesencodex der komplette Text der Solutiones bekannt. Er findet sich dort auf f. 381vb-386ra. Darüber hinaus fällt auf, daß der Redaktor des Riesencodex Hildegards Briefwechsel mit Wibert, der recht ungeduldig auf den Abschluß der Schrift drängte, in einer einzigen Kombination von Frage und Antwort zusammenfaßte. Hildegards Entschuldigungen und ihre wiederholten Bitten um Geduld fielen dabei weg, so daß insgesamt ein 1 2

Analecta,

S. 594f. Wiberts Schreiben an Hildegard liegen vor in der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Handschrift Bruxelles, Bibliothèque Royale, 5527-5534. Sie sind ediert in Guibertus Epistolae, I, Ep. I-XXIX, S. 217-257. Dabei handelt es sich um die Briefe XVI-XXIV. Die 38 Fragen an Hildegard finden sich überliefert im Brüsseler Codex 5527-5534, f. 152v-155r (= Brief XIX; S. 236-242). Zu den Solutiones insgesamt vgl. Bartlett 1992.

3

-

„De questionibus uero quas mihi soluendas misisti, ad uerum lumen prospexi, obsecrans ut de riuulo uiui fontis ad bibendum ab ipso mihi daretur, quatenus aliquas solutiones rescriberem", so Hildegard, „quamuis infirmitate corporis mei usque adhuc laborem, et a lacrimis necdum temperari ualeam, quoniam baculum consolationis mee non habeo, cum tarnen magnum gaudium de anima ipsius habeam, quoniam de mercede eius secura sum. Et licet tanto, ut dixi, solatio destituta et disponendis monasterii nostri utilitatibus occupata sim, tarnen, quantum per gratiam Dei possum, in prefatis questionibus enodandis laboro." Hildegardis ad Guibertum monachum, in Epistolarium II, Ep. CVIr, S. 265-268; hier S. 267f. 46-55.

Das

Epistolarium

245

positiveres Hildegard-Bild entstand. Fragt man, wer dieser Redaktor war, der Hildegards zwischen 1177 und 1179 entstandenes Werk so nachdrücklich anforderte und in die Korrespondenz des Riesencodex einfügte, so kommt niemand anderer in Frage als Wibert selbst. Die Gründe für diesen Befund hat Van Acker einleuchtend dargelegt, so daß sie hier nicht im einzelnen wiederholt werden müssen.1 Wichtig für die Überlieferungsgeschichte der Solutiones sind diese Dinge insofern, als sie erkennen lassen, daß wiederum der Riesencodex am Anfang der Überlieferung einer Schrift Hildegards steht, und zwar in einer von vornherein stilisierten Art und Weise. Daß es sich bei den Solutiones überhaupt um einen Brief handelt, kann im übrigen nur mit äußerster Einschränkung gesagt werden. Inhaltlich betrachtet, trägt das Werk eher lehrhaften Charakter. Hinzu kommt, daß die Solutiones ihre Adressaten, d. h. die Mönche von Villers, nie im Sinne eines echten Briefes erreicht haben.2 Die Überlieferung der Solutiones ist sehr schmal. Außerhalb des Epistolariums findet sich nur ein einziger, von der Forschung bislang übersehener und noch dazu fragmentarischer Textzeuge. Es ist die Handschrift UB Würzburg M. p. th. q. 10. Diese im Jahre 1352 vermutlich in Würzburg entstandene Handschrift enthält auf f. lr-35v verschiedene liturgische Texte zum Offizium des Würzburger Domes. Ein Anhang aus dem 14. Jahrhundert (reduzierter Quaternio, unorganisch angefügt) enthält auf f. 41v-42v einen Antwortbrief Hildegards [Brief 52; PL 197, Sp. 269-271], auf f. 42v-43v ein Fragment des LDO [Pars III, visio 5, cap. 16] sowie auf f. 37r-41v ein Fragment der Solutiones.3 Erstmalig gedruckt wurden die Solutiones innerhalb der auf dem Riesencodex basierenden Briefausgabe des Justus Blanckwald im Jahre 1566. Von dort aus wanderten sie in die Magna Bibliotheca Veterum Patrum (Bd. 15, Köln 1622), in die Maxima Bibliotheca Veterum Patrum (Bd. 23, Lyon 1677) sowie schließlich in die Patrologia Latina (Bd. 197, Paris 1855, Sp. 1038-1054). Pitra gibt unter Hinweis auf die Ausgabe der Patrologia Latina lediglich die Incipits der jeweiligen Solutiones?

1 2

Vgl. hierzu Van Acker 1989, S. 130f. Vgl. Epistolarium II, S. 234: „Wie Chronologie und Inhalt [von Hildegards zweitem Brief an Wibert Ep. CVIr; Ergänzung] im Riesencodex angepaßt wurden wiederum um eine nachträglich angestrebte Anfrage- und Antwortkombination zu ermöglichen -, ist schon früher gezeigt worden; ebenso, daß die in derselben Hs. R angehängten Solutiones XXXVIII quaestionum nicht zu der ersten, an Wibert gesandten Redaktion des Briefes gehört haben können. Das wird übrigens durch die anderen Hss., die diese Fragen und Antworten nicht folgen lassen, bestätigt." Die =

-

von

3 4

Van Acker erwähnten

(f. 155rv). Vgl. Thurn 1984,

S. 92.

Analecta, S. 390-392.

„anderen Handschriften" sind

B

(f. 28vb-29rb) und

Br

Kapitel 5

246

Fragt man nach dem Grund für die geringe Überlieferungsfrequenz der Soluso ist ein Blick auf das Textgenre dieser Schrift zu werfen. Anne Clark

tiones,

Bartlett hat überzeugend dargelegt, daß die Solutiones inhaltlich und stilistisch im Zwischenbereich der akademischen Quaestiones-Literatur, die in der frühen Scholastik aufkam, und der rein kontemplativen Ordensliteratur, wie sie der monastischen Lectio zugrundelag, anzusiedeln sind.1 Hildegard präsentiert sich in ihren Auslegungen, die vor allem auf dem Buch Genesis beruhen, als Visionärin, Naturkundlerin und Äbtissin. Die eigentliche Adressatengruppe des Textes ist eine monastische Gemeinschaft, nicht etwa ein Kreis theologischer Gelehrter oder ein Laienpublikum.2 Von dort her trifft die Beobachtung Bartletts zu, wonach Hildegard „favors resolving problematic passages through the use of meditative images rather than through analytical discussion" ? Anders als etwa Abaelard, Petrus Lombardus, Rupert von Deutz oder Hugo von St. Victor in ihren jeweiligen Genesis- bzw. Hexaemeron-Auslegungen, bevorzugt Hildegard die Verwendung von Metaphern und Paraphrasen. Sie erzeugt dadurch beim Leser, um einen von Bartlett geprägten, treffenden Ausdruck zu verwenden, „a polyvalent image of contemplation".4 Einen ganz ähnlichen Stil der Artikulation pflegten Elisabeth von Schönau, die ihre Visionen zum großen Teil als Antworten auf direkte Fragen ihres Bruders Ekbert formulierte, oder Herrad von Hohenburg (Landsberg), deren Hortus Deliciarum sich zunächst auf die lehrinhaltlichen und wissenschaftlichen Bedürfnisse des eigenen Konventes bezog. Daß dieser Typus der theologischen Artikulation einseitig auf konservative monastische Kreise ausgerichtet war und damit für eine breitere, insbesondere progressiv orientierte akademische Rezeption kaum in Frage kam, liegt auf der Hand. Auf der anderen Seite wird gerade im Binnenbereich der Theologie besonders deutlich, daß Hildegard keine andere Möglichkeit hatte, sich von der Dominanz der männlich geprägten Gelehrsamkeit zu emanzipieren als mithilfe der prophetischen und das heißt: der nicht-wissenschaftlichen Redeform.

Expositiones evangeliorum überlieferungsgeschichtlich betrachtet völlig abseits liegenden Schriften Hildegards zählen die Expositiones evangeliorum. Folgende Handschriften der Expositiones evangeliorum liegen vor: 1. ) R Riesencodex (1170/79; Rupertsberg; f. 434ra-461rb) 2. ) Lo London, British Library, Cod. Add. 15102 (1487 auf Veranlassung des Trithemius als Abschrift aus R auf dem Rupertsberg entstanden; f. 146r5.7.4 Die

Zu den

=

=

191r)

3

Zur Quaestiones-Literatur der Zeit vgl. Landgraf 1934. Häring 1982. Zur spezifischen Form der monastischen und der akademischen bzw. scholastischen Literatur vgl. Leclercq 1963. From Cloisters. Bartlett 1992, S. 156.

4

Bartlett 1992, S. 161.

1 2

-

-

Das

Epistolarium

247

London, BL, Cod. Harl.

1725 (15. Jh. Entstehungsort unbekannt, Rupertsberg, Abschrift aus R; f. 287r-330v). Hildegards Expositiones evangeliorum beinhalten 59 Homilien zu insgesamt 27 Lesetexten der Sonntagsevangelien. Hildegard und ihre unmittelbare Umgebung waren von der Bedeutung der Schrift offensichtlich überzeugt. Die Expositiones finden sich (in einer umschreibenden Formulierung) erwähnt im Vorspann zum Liber vitae meritorum, in dem Hildegard ihre bis zu diesem Zeitpunkt (1163) fertiggestellten Werke aufzählt („cum quibusdam aliis expositionibus"). Namentlich aufgeführt werden sie innerhalb des um 1233 entstandenen Protocollum canonisationis („Librum Expositionis quorundam evangeliorum"). Johannes Trithemius erwähnt die Expositiones in seinem Chronicon Hirsaugiensis ad annum 1147. Er führt sie unter dem Titel „Octo et quinquaginta homilias super Evangelia Dominicalia per anni circulum lib. unum"1 auf, wobei ihm in der Zählung ein Fehler unterlaufen ist. Auch in seinem Catalogus illustrium virorum nennt Trithemius die Expositiones. Er bezeichnet sie dort als „valde obscuras et nisi devotis et eruditis intelligibiles"2 und gibt damit den Grund für ihre ephemere Wirkung an. Eine Bemerkung Pitras deutet darauf hin, daß diese Schrift ursprünglich umfangreicher gewesen ist.3 Die von der Forschung bislang nicht gewürdigten Expositiones könnten wertvolle Einblicke in die exegetische Methode und in das Schriftverständnis Hildegards ergeben. Pitra vermutet, daß Hildegards Evangelienauslegungen auf der Glossa ordinaria basierten, eine These, die angesichts der weiten Verbreitung der Glossa keineswegs unwahrscheinlich ist.4 Die mangelnde Wirkung und Überlieferung von Hildegards Auslegungen der Sonntagsperikopen hängt vermutlich auch damit zusammen, daß sie sich einer rein allegorischen Auslegungsmethode bedienen. Eine genauere Untersuchung der Stilform dieser Homilien müßte erkennen helfen, ob sie möglicherweise in der Tradition der mittelalterlichen Klosterpredigt stehen, einer Gattungsform, die gewissermaßen von Natur aus eine liturgische Ausrichtung besitzt. Sie bezieht sich auf die Perikopen des Kirchenjahres, d. h. auf die in der Meßfeier gelesenen Texte der Evangelien. Eben dies trifft auch auf Hildegards Homilien zu. Wichtigster Textzeuge und Überlieferungsträger der Expositiones ist der Riesencodex. Die übrigen Textzeugen sind Abschriften aus dem Riesencodex: es sind die beiden Handschriften der British Library London, Cod. Add. 15102 (1487 entstanden im Auftrag des Trithemius; darin die Expositiones f. 146r-191r)

3.)

1 2

3 4

Lo 1

=

vermutl.

Trithemius Annales, I, S. 416. Trithemius Catalogus, S. 138. „Vix igitur tertia pars ad nos usque pervenerit ..." Analecta, S. 327. Die Glossa ordinaria wurde im Mittelalter als ein Werk des Walafrid Strabo (ca. 809-849) betrachtet. In Wirklichkeit stammt sie aus der Feder Anselms von Laon (1050-1117) und wurde zu Beginn des 11. Jahrhunderts verfaßt.

Kapitel 5

248

und die ebenfalls im 15. Jahrhundert entstandene Londoner Handschrift Harley 1725 (f. 287r-330v). Im Riesencodex findet sich der Text auf f. 434ra-461rb, wobei die Expositiones formal als eigenständige Schrift gekennzeichnet sind. Auf f. 436rb erscheint eine einleitende Incipitformel („Incipiunt expositiones quorundam evangeliorum divina inspirante gracia Hildegardis exposuit"), und der vermeintliche Textbeginn auf f. 437ra besitzt eine sorgfältig ausgestaltete Zierinitiale. Allerdings weist die Textanordnung des Riesencodex eine gravierende Unregelmäßigkeit auf. Vor dem zusammenhängenden Textcorpus von f. 437ra-461rb sind auf f. 434ra-436va zwei weitere (in der Gesamtzahl bereits mitgezählte) Perikopenauslegungen mit fünf Homilien vorgeschaltet, die eigentlich als Nummern 26 („In Dominica VIII post Pentecosten", Luc 16,1-9) und 27 („In Dominica quarta Quadragesimae", Joh 5,1-14) im Jahreskreislauf der Perikopen auftauchen müßten. Pitra hat sie in seiner Edition der Expositiones ganz folgerichtig in diesem Sinne redigiert und an den jeweils zutreffenden liturgischen Ort gestellt.1 Allerdings hat er dadurch die Reihenfolge der Texte, wie sie im Riesencodex erscheint, (wenn auch aus guten Gründen) durchbrochen. Diese Homilien, die in Nummer 26 aus drei, in Nummer 27 aus zwei eigenständigen Auslegungen bestehen, wurden vom Schreiber, d. h. von Hand 4 des Riesencodex (in der Zählung von Schrader/Führkötter) unmittelbar an den Text der Vita S. Disibodi angeschlossen. Dieser Schreiber hat das Epistolarium (f. 328ra464va) einschließlich der Vita S. Disibodi, die Expositiones sowie die Lingua ignota und Litterae ignotae (f. 461vb-464va) geschrieben. Nach der Explicitformel „Explicit uita sancti Disibodi episcopi" auf f. 434ra, Zeile 14 folgt in der nächsten Zeile, nur durch eine schmucklose dreizeilige Initiale abgehoben, der Vermerk „Expositio euangeliorum per hildegardem exposita". Dann beginnt der Text mit „homo quidam, qui hominem creavit, qui deus et homo est, erat dives, ita ut ei in plenitudine boni nihil deest." Er endet mit „ita ut laus et gratiarum actio inde ad deum per homines proferatur, in mundum, scilicet inter homines saeculorum". Die falsche Zählung des Trithemius erklärt sich daraus, daß die Homilie 26 nicht aus zwei, sondern aus drei Auslegungen besteht. Im Text des Riesencodex kenntlich gemacht sind mithilfe von graphischen Hervorhebungen, d. h. von textstrukturierenden Initialen, aber nur zwei. Die dritte, kürzeste Auslegung hingegen ist der zweiten ohne eigene Initiale unmittelbar angefügt. Sie besitzt lediglich die standardisierte Einleitungsformel „Uel alio m[odo]" (f. 435ra, Zeile 27). Der Schreiber hat diese Auslegung, sei es wegen ihrer Kürze absichtlich, sei es wegen der nachträglichen Interpolation unabsichtlich, nicht eigens kenntlich gemacht. Gravierender ist jedoch die Tatsache, daß Trithemius, der in seiner Schrift De scriptoribus ecclesiasticis Hildegards Werke mit den jeweiligen Incipits aufführt, für die Expositiones ein falsches Incipit, nämlich

1

Analecta. Die

Expositiones erscheinen dort auf S. 245-327, die beiden im Riesencodex

vorgeschalteten Homilien auf S. 318-327.

Das

Epistolarium

249

der vorgeschalteten Auslegung 26, angibt („Homo quidam qui h").1 Dies kann nur bedeuten, daß Trithemius den Text entweder nicht ganz gelesen oder aber seine irrige Anordnung nicht durchschaut hat. Die irrige Anordnung der Expositiones im Riesencodex wiederum erlaubt wichtige Einblicke in den Entstehungsprozeß der Schrift. Ganz offensichtlich lagen die einzelnen Homilien zu bestimmten Sonntagsevangelien auf dem Rupertsberg als gesonderte Texte vor. Sie müssen sukzessive entstanden sein und werden im Riesencodex in eine frühe, möglicherweise sogar erstmalige Gesamtredaktion gebracht worden sein. Dabei sind die beiden abschließenden Nummern (26 und 27) vom Redaktor oder vom Schreiber zunächst übersehen worden, so daß sie nachträglich interpoliert werden mußten. Die Tatsache, daß es sich hierbei um nachträgliche Interpolationen handelt, geht, wie angedeutet, aus dem liturgischen Ort der Perikopen hervor. Der Reihenfolge des Kirchenjahres gemäß dürften sie nicht am Beginn, sondern müßten am Ende der Perikopenauslegungen stehen. Daß sie vom Redaktor nicht einfach dort angehängt wurden, hing vermutlich damit zusammen, daß die im Riesencodex unmittelbar an die Expositiones sich anschließende Lingua ignota den dort zur Verfügung stehenden Raum bereits belegt hatte. Auch in der Londoner Handschrift Cod. Harl. 1725 besitzt der Text (f. 287r) ein eigenes Incipit („Incipit expositiones quorundam evangeliorum quas divina

jenes

inspirante gracia Hildegardis exposuit"). Im Gegensatz zum Riesencodex, wo ein Explicit fehlt, erscheint dieses jedoch in der Londoner Handschrift. Auf f. 330v findet sich die Wendung: „Finis omeliarum super quedas evangelias per sanctam Hildegardem divina inspiratione exposita". Dies könnte damit zusammenhängen, daß man im 15. Jahrhundert nicht mehr registrierte, daß es sich bei den Expositiones um eine unvollständige Sammlung handelte. Die Londoner Handschrift Add. 15102 schließlich bringt auf f. 146r ein Incipit („Expositio evangeliorum per hildegardem exposita"), aber kein Explicit. Der Brief der Villarenser Mönche nach dem Tode Hildegards schließt sich, durch Titel und Zierinitiale als eigenständiges Werk kenntlich gemacht, auf der gleichen Seite (f. 191r) an. Die erste Edition der Expositiones wurde im Jahre 1882 von Kardinal Pitra durchgeführt.

1

Trithemius De

scriptoribus, S. 171.

Kapitel 5

250

5.8

Zusammenfassung

Überlieferungsgeschichte des Epistolariums ist aus mehreren Gründen nicht einfach zu rekonstruieren. Zum einen weisen die frühen Zeugen keinen untereinander identischen Textbestand auf. Zum anderen haben viele Briefe Hildegards bzw. ihrer Korrespondenzpartner bereits zu Lebzeiten der Äbtissin gravierende Stilisierungen erfahren oder sind sogar fingiert bzw. interpoliert worden. Ein Musterbeispiel hierfür liefert der Antwortbrief Bernhards von Clairvaux an Hildegard, der in den späteren Redaktionen von einer zunächst eher zurückhaltenden, vorsichtigen Stellungnahme zu einem eindeutig positiven Befund umgestaltet wurde. Die Entscheidung des Herausgebers der kritischen Edition Lieven Van Acker ging dahin, nicht dem vergleichsweise jungen Textzeugen des Riesencodex als Ausgabe letzter Hand, sondern verschiedenen älteren Textzeugen den Vorrang zu gewähren und aus ihnen kompilatorisch das insgesamt 390 Briefe umfassende Gesamtkorpus von Hildegards Korrespondenz zusammenzufügen. Eine bestimmte Leithandschrift für die Edition hat sich bei diesem Verfahren ebenso wenig herauskristallisieren lassen wie ein Stemma der Überlieferungsträger. Zwar hat der Riesencodex, sieht man einmal von den natur- und heilkundlichen Schriften ab, das für das Mittelalter seitende Faktum einer vom Autor selbst initiierten und legitimierten Werkausgabe konstituiert. Dennoch ist, wie die verschiedenen Fassungen, Teilfassungen, Stilisierungen und letztendlich auch die kritische Edition des Epistolariums exemplarisch beweisen, die Überlieferungsgeschichte der einzelnen Werke je unterschiedliche Wege gegangen. Die Gesamtausgabe des Riesencodex wirkte sich nur partiell in den descripti aus, nicht als Ganze. Auch als maßstabsetzendes Korrektiv war sie nur bedingt relevant. All dies bedeutet letztendlich, daß der Begriff des Originalen für das Mittelalter und für die frühe Neuzeit anders zu definieren ist als dies in der historisch-philologischen Kritik üblich ist. Eine weitere Besonderheit des Epistolariums besteht darin, daß viele Briefe Hildegards eher den Charakter von Sermones, Lehrschreiben, Brieftraktaten oder thematisch gebundenen Äußerungen tragen als von Briefen im neuzeitlichen, privaten und subjektiven Sinne. Hier ist die Frage nach dem Genus litterarium sehr viel pointierter zu stellen als dies bislang geschehen ist. Die Überlieferungsgeschichte hat diesem Phänomen dadurch Rechnung getragen, daß diese Texte früh aus dem Epistolarium ausgegliedert und als selbständige Schriften verbreitet wurden. Als Beispiele hierfür sind zu nennen: die Vita S. Ruperti, die Vita S. Disibodi, die Explicatio Regulae S. Benedicti, die Explanatio Symboli S. Athanasii. Auch Hildegards Brief an die Mainzer Prälaten und an den Klerus von Köln sind als autochthone Werke außerhalb des Epistolariums weitertradiert worden. Eine überlieferungsgeschichtlich gesonderte Rolle spielen schließlich die kaum tradierten Solutiones in triginta octo quaestiones und die ExposiDie

tions

evangeliorum.

Das

Die

Epistolarium

251

insulare, englisch-irische, aber auch die niederländische und französische

Hildegard-Rezeption des Mittelalters beruht in starkem Ausmaß auf dem EpiDemgegenüber standen die Visionsschriften und übrigen Texte hier im Vordergrund. Insbesondere Hildegards Brief an den Klerus von weniger Köln wurde lebhaft rezipiert. Wie eine versifizierte Fassung dieses Briefes durch stolarium.

Heinrich von Avranches oder der im Umfeld des Wilhelm von Saint Amour entstandene Text Insurgent gentes beweisen, kam es dabei auch zu instrumentalisierenden Adaptionen. Voraussetzung für den großen Wirkungserfolg des Kölner Briefes war seine Transposition in einen völlig neuen Argumentationszusammenhang. Seit Mitte des 13. Jahrhunderts wertete man das Schreiben als prophetische, kritisch gemeinte Vorausdeutung Hildegards auf die Mendikanten. In diesem Zusammenhang ließ sich der Text (gewissermaßen post festum nach deren tatsächlicher Entstehung) vom etablierten Klerus gut im Kampf gegen die aufstrebenden Bettelorden einsetzen. Die Editio princeps des Epistolariums (Köln 1566) basierte maßgeblich auf dem Textzeugen des Riesencodex. Diese Ausgabe wanderte im 16. und 17. Jahrhundert in eine Vielzahl großangelegter Textkorpora lateinischer Kirchenväter und frühmittelalterlicher Autoren, deren Zweck es war, in den konfessionstheologisch bewegten Zeiten des Nachtridentinums Schriften von exemplarischer Katholizität zu präsentieren.

KAPITEL 6

Die Sprachschriften (Lingua ignota und Litterae ignotae)

Zu den merkwürdigsten Texten, die Hildegard hinterlassen hat, gehören ihre unter den Bezeichnungen Lingua ignota und Litterae ignotae überlieferten sprachkundlich-experimentellen Schriften.' Obwohl beide Schriften, was die Anzahl der überlieferten Textzeugen anbetrifft, eindeutig zu den weniger wirkungsmächtigen Werken Hildegards zählen, haben Hildegard selbst und ihre unmittelbare Umgebung doch wiederholt auf sie hingewiesen. Diese Hinweise, die von Hildegards Lebzeiten bis in die Phase der um 1233 entstandenen Acta canonisationis reichen, dann aber plötzlich abreißen, bezeugen die Bedeutung der beiden Schöpfungen für Hildegard und verschiedene mit ihr in Verbindung stehende monastische Kreise. Ein neues Bewußtsein vom hohen Rang der Lingua ignota hat die moderne Forschung zum Bereich der Geheim- und Universalsprachen gewonnen, etwa wenn Alessandro Bausani die Lingua ignota als „die berühmteste Kunstsprache des lateinischen Mittelalters" bezeichnet.2

Rezeptionsspuren der Sprachschriften im Mittelalter I. Die Lingua ignota ist in zwei noch vorhandenen und einem verschollenen Textzeugen dokumentiert: 1. ) R Riesencodex, f. 461ra-464ra (entstanden im Kloster Rupertsberg, vor 1179-1181/88) 2. ) B Berlin, StBPrK, Ms lat. qu. 674, f. 58r-62r (entstanden möglicherweise um 1220/30 in Trier-St. Eucharius oder Kloster Rupertsberg, bereits im 13. Jahrhundert im Besitz des Kanonikerstifts Pfalzel bei Trier)3 Verschollener Textzeuge : 3. ) W Wien, Hofbibliothek, Ms 721, f. 490 ff. [?] (seit Anfang des ^.Jahrhunderts verschollen, entstanden im 13. Jahrhundert als Kopie des Riesencodex, Entstehungsort unbekannt [Rupertsberg ?]). 6.1

=

=

=

1

2 3

Angesichts der rätselhaften Inhalte und der noch kaum erhellten Benutzungsfunktion

beider Texte verwundert es nicht, daß die Sekundärliteratur zu diesen Schriften knapp ausfällt. Verwiesen sei auf die neuesten Erhebungen von Gärtner 1998a. Zusammenfassung in Gärtner 1998b. Bausani 1970 (darin zu Hildegards Lingua ignota S. 76-78; Zitat: S. 76). Carlevaris 1999, S. 11: „Wieder ist die Handschrift, trotz ihrer Provenienz, (der älteste Besitzvermerk spricht vom Kloster St. Maria in Pfalzel Liber Monasterii Sancte Maria de palatolis), höchstwahrscheinlich eine St. Eucharius-Handschrift." -

Die

SprachSchriften

253

ignotae sind in vier noch vorhandenen und einem verschollenen dokumentiert. Die Nummern 1, 2 und 5 repräsentieren die gleichen Textzeugen Handschriften wie die Nummern 1, 2 und 3 der Liste zur Lingua ignota: 1. ) R Riesencodex, f. 464ra (entstanden im Kloster Rupertsberg, vor 1179II. Die Litterae

=

1181/88) Berlin, StBPrK,

Ms lat. qu. 674, f. 58r (entstanden möglicherweise um 1220/30 in Trier-St. Eucharius oder Kloster Rupertsberg, bereits im 13. Jahrhundert im Besitz des Kanonikerstifts Pfalzel bei Trier) 3. ) F Florenz, Bibl. Med. Laur., Cod. S. Crucis, Plut. 22, dex. 4, f. 143r (entstanden im 13. Jahrhundert, Entstehungsort unbekannt) 4. ) WR Wien, ÖNB, Cod. 1016, f. 119r (dieser Teil der Handschrift entstand vermutlich noch im 12. Jahrhundert zu Lebzeiten Hildegards, möglicherweise im Kloster Rupertsberg und/oder Zwiefalten) bislang von der For2. ) B

=

=

=

schung nicht beachteter Textzeuge

-

Wien, Hofbibliothek, Ms 721, f. 490 [?] (seit Ende des 19. Jahrhunderts verschollen; entstanden im 13. Jahrhundert als Kopie des Riesencodex, Entstehungsort unbekannt [Rupertsberg ?]).

5. ) W

=

Das früheste Zeugnis Hildegards für beide Texte findet sich in einem 1153/54 an Papst Anastasius IV. adressierten Schreiben. Dort heißt es:

Sed ille qui sine defectione magnus est, modo paruum habitaculum tetigit, miracula uideret et ignotas litteras formaret, ac ignotam linguam sonaret.1

ut

um

illud

Damit ist ein Indiz auf die Entstehungszeit der beiden Texte gegeben: spätestens 1153/54 müssen sie (in welcher Form auch immer) vorgelegen haben. Auch die im Jahre 1163 entstandene praefatio zum Liber vitae meritorum zählt die beiden Sprachschriften auf. Sie werden dort zu jenen Werken gerechnet, die Hildegards eigener Aussage zufolge durch eine visionäre Beauftragung inauguriert wurden : „... eadem uisio ignotamque linguam et litteras mihi ad explanandum ostenderat."2 Diese Selbsteinschätzung birgt die Gefahr in sich, daß bei einer allzu einseitigen Betonung des visionären, gewissermaßen inkommensurablen Charakters der beiden Schriften die historische Einbettung in den Horizont vergleichbarer Texte des Mittelalters verlorengeht. Wir werden an späterer Stelle noch genauer auf diesen Sachverhalt zurückkommen. Ein weiteres Zeugnis aus Hildegards Lebzeiten liefert ein bereits zitierter, um 1170 geschriebener Brief Volmars an Hildegard. Volmar erwähnt darin, voller Sorge auf Hildegards Tod vorausblickend, einige nach seinem Dafürhalten unersetzliche Werke der Meisterin, darunter die „uox inaudite lingue".3 Kurze Zeit nach Hildegards Tod heißt es in der Vita Hildegar dis (ca. 1181): ...

1

Hildegardis

ad Anastasium

2

S. 21 79-81. LVM 1995, S. 8.

3

Volmarus

praepositus

ad

Papam,

in

Hildegardem,

in

...

Epistolarium I, Ep. VIII,

S. 19-22, hier

Epistolarium II, Ep. CXCV, S. 443 20.

Kapitel 6

254

Quis

uero non

phonia Und das Schriften

et

miretur, quod

litteras

prius

non

cantum

uisas

cum

dulcissime mélodie mirabili protulit symlingua edidit antea inaudita?1

1233 entstandene Protocollum canonisationis

um

gleich

zweimal

Linguam ignotam

cum

unter

den Werken

Hildegards

führt die beiden

auf:

suis litteris2

und

(nach dem eidlichen Zeugnis des Rupertsberger Konvents) Cantum eius cum Lingua ignota.3 Auffällig ist, daß Johannes Trithemius, der hervorragende Kenner von Hildegards Werken, die Lingua ignota und die Litterae ignotae völlig unbeachtet ...

ließ. Trithemius nahm die beiden Texte weder in seine umfangreichen Abschriften aus dem Riesencodex auf (London, BL, Cod. Add. 15102), noch erwähnte er sie in seinen verschiedenen Schriftenkatalogen der Werke Hildegards. Dieser Befund ist um so merkwürdiger, als Trithemius selbst zwei Geheimschriften entwickelt hat, die Steganographia und die Kaiser Maximilian I. gewidmete und ihm am 8. Juni 1508 auch persönlich überreichte Polygraphia. Er müßte von daher eigentlich eine Art von natürlichem Interesse an Hildegards Sprachschriften besessen haben.4 Innerhalb der Polygraphia (Vorrede) gibt Trithemius einen historischen Überblick über die Entwicklung der Geheimschrift in Antike und Mittelalter. Er nennt Caesar, Cicero, die seit der Merowingerzeit bekannte Verwendung tironischer Noten (die allerdings nicht zu den Geheimschriften, sondern zu den Abkürzungssystemen gerechnet werden müssen), des weiteren Pharamundus, Chlodio, Beda Venerabiiis, Otfried von Weißenburg, Karl den Großen sowie eine normannische Geheimschrift. Im letzten Buch der Polygraphia kommen ein fränkisches Alphabet hinzu, Hrabanus Maurus mit der 1 2

3 4

Vita Hildegardis 1993, II 1, S. 20. Canonizatio Sanctae Hildegardis in Vita Hildegardis (dt.) 1998, S. 268. Ebd., S. 272-274. Trithemius Polygraphia [Abfassung: 1508; Autograph: Wien, ÖNB, Cod. 3308, f. lr-251r]. Trithemius Steganographia [Abfassung: um 1500]. Dazu: Clavis Steganographiae, Darmstadt: Balthasar Hofmann für Johann Berner, 1606. Die Steganographia kam kurz nach ihrem Erscheinen auf den Index. Eine Apologie der Geheimschriften des Trithemius veröffentlichte der Jesuit Athanasius Kircher in seinem 1663 erschienenen Werk Polygraphia nova et universalis (Rom 1663). Diese Schrift enthielt einen Appendix apologetica ad polygraphiam novam, in que Cryptologia Trithemiana discutitur. Insgesamt vier Drucke und eine französische Übersetzung durch Gabriel de Collange (1561) sicherten der Polygraphia eine weite Verbreitung. 1628 wurde sie von Rafael Sobehrd Mnisovsky (Rafael Mnisch) sogar ins Tschechische übersetzt und als Lehrbuch verwendet. Vgl. die Handschrift Uppsala, UB, Cod. Slav. 60, f. 5r-187r (hierzu Davidsson 1959). Die beste Interpretation der Steganographia liefert immer noch Wolfgang Ernst Heidel: Johannis Trithemii... Steganographia vindicata, reserata et illustrata. Mainz 1676 [Nachdruck Nürnberg 1721]. Vgl. Arnold 1991b, S. 187-195. Brann 1999, S. 135-152. -

-

-

...

-

Die

Sprachschriften

255

ihm zugewiesenen Schrift De inventione linguarum sowie das sogenannte Kryptogramm von Dubthach} Daß in dieser Gruppe Hildegard fehlt, könnte seine Erklärung darin finden, daß Trithemius die Sprachschriften der Äbtissin sofern er sie denn gekannt hat nicht zu den Geheimschriften im eigentlichen Sinne des Wortes gerechnet hat. Möglicherweise empfand er auch eine humanistisch begründete Abneigung gegen die deutschen Glossen und die idiosynkratisch anmutenden Wortschöpfungen Hildegards. Demgegenüber steht fest, daß seine eigenen Geheimschriften in den Bereichen von Geheimdiplomatie und Militärwesen vielfältig zur Anwendung kamen.2 Nicht auszuschließen ist aber auch, daß die beiden Hildegard-Werke von den für Trithemius arbeitenden Kopisten auf dem Rupertsberg übergangen wurden, da sie mit den rätselhaft anmutenden Gebilden, die im 15. Jahrhundert offenbar keine konkrete Benutzungsfunktion mehr besaßen, nicht viel anzufangen wußten. Wichtig erscheint jedenfalls der Hinweis darauf, daß die Entwicklung von kryptischen Schriftsystemen, wie Bernhard Bischoff verdeutlich hat, im Mittelalter durchaus keine Seltenheit war.3 Daß es eine konkrete wenn auch marginal ausfallende Benutzungsfunktion der Sprachschriften zu Zeiten Hildegards in der Tat gab, dafür finden sich Spuren in Textzeugen von Schriften Hildegards, die mit Sicherheit noch zu ihren Lebzeiten entstanden sind. Diesen Spuren gilt es im folgenden nachzugehen.

-

-

-

6.2

Benutzungsfunktionen

-

der

Sprachschriften Rupertsberg

Der zwischen 1154 und 1170 im Kloster

mit

Beteiligung

von

Zwiefaltener Schreibern entstandene Zwiefaltener Briefcodex (Stuttgart, LB, Cod. theol. et phil. 4° 253, f. 28r) liefert das früheste belegbare Beispiel für die Verwendung der Lingua ignota außerhalb des eigentlichen Glossariums. Immerhin ein Wort der Lingua ignota, das Kunstwort loiffolum [= Gen. Plural von loiffol mhd. Hut Volk], erscheint hier im Zusammenhang eines anderen Hildegard-Textes, der Antiphon O orzchis ecclesia. Diese Antiphon enthält insgesamt fünf Kunstwörter nach Art der Lingua ignota. Sie taucht in der Zwiefaltener Briefhandschrift im Anschluß an einen Brief Hildegards an den Frauenkonvent von Kloster Zwiefalten auf. Ihr vorgeschaltet ist eine weitere Antiphon mit dem Incipit O magne Pater. Der komplette Text lautet: —

1

-

Vgl. hierzu Derolez

1952.

2

Chacornac 1963, S. 140 und 164f. führt ein 1620 erschienenes Werk über Kriegsmaschinen und ein auf der Steganographia basierendes Alphabet auf. Blaise de Vigenère berichtet nach Auskunft von Arnold 1991b, S. 193, Fußn. 49, in seinem Traité des chiffres ou manières secrètes d'écrire (Paris 1586), er habe auf seinen Reisen in Deutschland und Italien mehrere Textzeugen der Steganographia gesehen und emp-

3

Vgl.

fiehlt auch die

Polygraphia

als

zur

geheimen Korrespondenz geeignet. Zu den diplomatischen

Bischoff 1954, darin über Hildegard S. 11 und 26. Geheimschriften vgl. Rockinger 1891. Meister 1902. land 1945. Bausani 1970, S. 76-78. -

-

-

-

Gal-

Meister 1906.

-

Kapitel 6

256

O magne Pater / in magna necessitate sumus. / Nunc igitur obsecramus, / obse/ per verbum tuum, / per quod nos constituisti plenos / quibus indigemus: / Nunc placeat tibi, pater, quia te decet, / ut aspicias in nos / per adiutorium tuum / ut non deficiamus, / et ne nomen tuum in nobis obscuretur. / Et per ipsum nomen tuum / dignare nos adiuvare.1 cramus te

sprachlicher Anspielung auf Gen 2,18, wo Eva als adiutorium simile Adams bezeichnet wird, schildert der Text die Rolle Gottes als Helfer des bußfertigen Menschen. Verbindendes Glied zwischen Hildegards Brief an die Zwiefaltener Schwestern und den beiden Antiphonen ist eine kurze Passage auf f. 27v der Zwiefaltener Handschrift, die auf Klg 5,16 Bezug nimmt und das Thema von Schuld und Buße anschlägt („Cecidit corona capitis nostri: vae nobis, quia peccavimus"). Die Lamentationes wurden zwischen Gründonnerstag und Ostersonntag regelmäßig im Gottesdienst gesungen, so daß dieser Text auch von seiner liturgischen Verwendung her als bekannt vorausgesetzt werden konnte. Da in diesem Zusammenhang keine weiteren Lieder Hildegards zitiert werden, müssen sich die beiden Antiphonen auf den vorhergehenden Brief beziehen. Franz Haug, der die Briefsammlung des Zwiefaltener Briefcodex ediert hat, führt die Passage ganz folgerichtig als Annex zu Hildegards Brief auf.2 Hier zunächst der Text der Antiphon mit den fünf unbekannten Wörtern: „O orzchis [= immensa, unermeßliche] ecclesia / armis divinis precincta / et iacincto ornata, / tu es caldemia [= aroma, Duft] stigmatum loiffolum [= populorum, Völker] / et urbs scientiarum. / O, o, tu es etiam crizanta [= uncta, gesalbt] / in alto sono / et es chorzta [= choruscans, funkelnde] gemma."3 Vom Inhalt her handelt es sich bei diesem Stück um eine Votiv-Antiphon mit ekklesiologischem Schwerpunkt, die bei der Weihe von Kirchen eingesetzt werden konnte. Die Kirche wird unter Anspielung auf Apk 21,2 als heilige Stadt und neues Jerusalem beschrieben, das gemäß Eph 6,11-17 umgürtet ist mit der Waffenrüstung Gottes. Diese Rüstung sei es, so Eph 6,13, die „am bösen Tage" das sieghafte Widerstehen gegen die Anfechtungen der Zeit sichere. Die Antiphon O orzchis ecclesia, die auch in dem etwas später entstandenen Riesencodex (f. 405va und f. 472va [hier neumiert]) sowie in dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden Textzeugen Wien, ÖNB, Cod. 963 (f. 156rb, letzte Zeile f. 156va, Zeile 4) erscheint, findet sich im Zwiefaltener Briefcodex nicht in der ansonsten üblichen Form einer neumierten Vertonung, die im liturgischen In

-

Antiphon findet sich darüber hinaus im Codex Dendermonde 9, f. 153r (neu-

1

Diese

2

im Riesencodex, f. 405rb (nicht neumiert) sowie f. 466rab (hier neumiert) Wien, ÖNB, Cod. 963, f. 156ra (nicht neumiert). Vgl. Symphonia (engl.) 1988, S. 252 (lateinischer Text) und 253 (englische Ubersetzung). Symphonia (dt.) 1995, S. 22 (lateinischer Text) und 23 (deutsche Übersetzung); [= Zitiervorlage]. Haug 1931, S. 60. Der Brief selbst findet sich in Epistolarium I, Ep. CCLr, S. 530-

miert),

sowie

-

-

3

532. Eine deutsche Übersetzung bietet Pretsch 1986, S. 169f. Zit. nach Symphonia (dt.) 1995, Nr. 48, S. 126 (lateinischer Text) und 127 Übersetzung). Vgl. auch Symphonia (engl.) 1988, S. 252. -

(deutsche

Die

Sprachschriften

257

Geschehen eingesetzt werden konnte. Ihre Funktion ist an dieser Stelle eine völlig andere. Sie besitzt hier gebetsförmigen Charakter und dient im Sinne eines Bußgebetes der reflektierten Beherzigung der in Hildegards Brief geforderten Umkehrpredigt aus der Sicht der bußfertigen Nonnen. Die fünf Kunstwörter erscheinen in der Zwiefaltener Briefhandschrift auf f. 28r, Zeile 6-8. Wie angedeutet, findet sich eines dieser Kunstwörter, das Wort loiffffol bzw. die Genetiv-Pluralform loifffjolum (= lat. populus, mhd. Hut; Glosse Nr. 45 der Ausgabe Steinmeyer/Sievers)1 auch in der Lingua ignota. Die übrigen vier unbekannten Wörter sind neue Erfindungen Hildegards, zu denen es in der Lingua ignota keine Entsprechungen gibt. Es ist dies ein Hinweis darauf, daß die Lingua ignota sich vermutlich über einen längeren Zeitraum hin entwickelt hat und auch nach ihrer schriftlichen Fixierung im Sinne eines grundsätzlich offen bleibenden Systems weiter mit neuen Wörtern und Formen angereichert werden konnte. Interessanterweise befinden sich unter den neu gebildeten Wörtern ein Adjektiv und zwei Partizipien, Wortklassen also, die in der Lingua ignota nicht repräsentiert sind. Da diese Wörter auch in neumierten Fassungen der Antiphon erscheinen, liegt der Schluß nahe, daß sie gesprochen bzw. gesungen werden konnten. Nicht umsonst hebt Hildegard selbst in ihrem Brief an Papst Anastasius hervor, daß die „ignotam linguam sonaret" [hervorgeh, vom Verf.]. Die tönende Qualität des Wortes ist eine für Hildegard ganz typische Anschauung, die zum Grundbestand ihrer Schöpfungstheologie zählt. Sie findet sich exemplarisch dargelegt u. a. in der zu den Expositiones evangeliorum gehörenden Homilie In nativitate Domini, ad tertiam Missae. Dort heißt es, Gottes Schöpferwort „es geschehe" habe den Ursprung aller Dinge in tönendem Klang hervorgerufen: -

-

In principio, scilicet in ortu mundi, erat Verbum, id est rationalitas quae est Filius Verbum; quamvis sit principium omnium creaturarum, hic tarnen non dicitur principium; sed idem Verbum sonuit principium [hervorgeh. vom Verf.], quod est

Fiat.2

Hildegards Hochschätzung des tonalen oder sonanten Charakters von Sprache wiederum verbindet sich bestens mit ihrer Neigung zur Musik. Wie angedeutet, erscheinen alle fünf Kunstwörter in der Zwiefaltener Briefhandschrift innerhalb des fortlaufend geschriebenen Textes. Ihre Bedeutung ist jeweils von der gleichen Schreiberhand und mit der gleichen Tinte, aber in kleinerer Schrift in lateinischer Transkription über dem betreffenden Kunst-

-

wort

angegeben.

-

Das Erscheinen der genannten Kunstwörter bzw. der gesamten Antiphon innerhalb des genannten Brief-Zusammenhanges ist im Hinblick auf die Datie1

Die deutschen Glossen der Lingua ignota sind ediert bei Roth 1880. Maßgebliche Edition: Steinmeyer/Sievers 1895, S. 390-404. Hildegardis Homilia In Nativitate Domini, ad tertiam Missam, in Expositiones evan-

2

geliorum, III, 1 (= Analecta, S. 249).

Kapitel 6

258

Antiphon und damit auch der Lingua ignota von großer Bedeutung, ein Gesichtspunkt, auf den in der Forschung bislang noch nicht hinreichend aufmerksam gemacht wurde. Lieven Van Acker hat unter Bezugnahme auf Forschungen Hermann Josef Pretschs darzulegen vermocht, daß Hildegards Brief an den Zwiefaltener Schwesternkonvent in die Jahre 1153/54 zu datieren ist.1 Abt Berthold von Zwiefalten (ca. 1090-1169), mit dem Hildegard ein freundschaftliches Verhältnis verband, hatte aufgrund von Konflikten mit dem Mönchskonvent im Jahre 1152 sein Amt zum zweiten Mal resigniert.2 Erst 1158 kehrte er nach Zwiefalten zurück. Pretsch vermutet, daß Berthold während dieser Jahre (zeitweise ?) auf dem Rupertsberg weilte.3 Er könne dort, so Pretsch, im Skriptorium des Männerkonvents mitgearbeitet haben. Ab 1153/54 entstand auf dem Rupertsberg die 135 Schreiben umfassende Sammlung der Zwiefaltener Briefhandschrift. Daß diese Arbeit wohl unter Beteiligung von Zwiefaltener Händen, nicht aber in Zwiefalten selbst, sondern auf dem Rupertsberg getan wurde, dafür spricht die Tatsache, daß die Sammlung auch Briefe enthält, die nicht für Zwiefalten bestimmt waren und von denen es in Zwiefalten keine Vorlagen gab. Pretsch identifiziert auf den folia 75rv, 27rv und 28rv insgesamt fünf Zwiefaltener Hände, unter ihnen die Hand Abt Bertholds. Auch Adelgundis Führkötter glaubte Bertholds Hand auf f. 93v der Briefsammlung, und zwar als sechste Zwiefaltener Hand, identifiziert zu haben.4 In der Zeit von Bertholds Resignation, also um 1152, schrieb Hildegard sowohl an den Männerkonvent als auch an den Frauenkonvent von Zwiefalten streng formulierte Büß- und Mahnschreiben. Diese Mahnschreiben könnten, so folgert Van Acker, von Abt Berthold selbst angeregt worden sein, in der Absicht, mit Hilfe der Autorität Hildegards das Zwiefaltener Doppelkloster zu disziplinieren.5 In der Tat stellt Hildegards Schreiben an die Zwiefaltener Schwestern, auch wenn darin keine konkreten Verfehlungen genannt werden, eine scharfe Ermahnung zum Leben in Sittenstrenge, Keuschheit und Treue zu Jesus Christus dar. Der Anhang, in dem die beiden Antiphonen O magne Pater und O orzchis ecclesia erscheinen, liefert mit seiner flehentlichen Bitte um das Verzeihen und die Hilfe Gottes (O magne Pater) sowie dem leidenschaftlichen Bekenntnis zur Kirche (O orzchis ecclesia) gewissermaßen die Quintessenz und logische Schlußfolgerung aus diesem Schreiben. Wenn nun bereits um die Mitte des Jahres 1153, rung der

-

1 2

3

-

Van Acker 1989, S. 123, Fußn. 152. Zu Abt Berthold vgl. Wallach 1978. Berthold ist als Verfasser des Liher de constructione monasterii Zwivildensis, eine nach dem Urteil Wallachs „der lebendigsten Klo-

sterchroniken ihrer Zeit" (Wallach 1978, Sp. 825), hervorgetreten. Pretsch 1986, S. 150. Pretsch 1995, S. 90: „So gibt es Gründe für die Annahme, daß Abt Berthold Hildegards Gast auf dem Rupertsberg gewesen ist, und zwar bald nach 1152." Vgl. Briefwechsel (dt.) 1965, S. 129. Auch auf Bertholds Bedeutung für das Chronicon Zwifaltense minus geht Führkötter ein: „Berthold legte dieses an, schrieb die Jahreszahlen bis zum Jahre 1243 und zeichnete die Einträge bis 1162 ein." (Ebd., S. 252). Van Acker 1989, S. 124, Fußn. 153. -

4

5

Die

Sprachschriften

259

spätestens aber im Verlaufe des Jahres 1154,

ein Wort aus der Lingua ignota in einem anderen Argumentationszusammenhang eingesetzt wurde und dort vier weitere Wörter erscheinen, die gegenüber dem normalen Wortbestand der Lingua ignota ungewöhnlichere Formen aufweisen (Adjektiv, Partizipien), so läßt sich darauf schließen, daß das Grundraster der Lingua ignota zu dieser Zeit bereits eine gute Weile vorhanden war. Es wäre nur schwer vorstellbar, daß zuerst die entwickelteren und dann die einfacheren Formen vorgelegen hätten. In derselben Zwiefaltener Briefhandschrift finden sich in einer Überschrift (Adresse) zu dem zweiten darin enthaltenen Schreiben, das Hildegards oben

Mahnung an den Männerkonvent von Zwiefalten enthält, die frühesten Verwendungen von Buchstabenzeichen aus den Litterae ignotae (f. 75v, Zeile 5). Es sind dies drei durch Punkte voneinander abgetrennte Wörter. Sie bedeuten in lateinischer Transkription „hildigardis xuiuild [= Zwiefeldensibus] monachis".1 Die Frage, weshalb diese Zeichen ausgerechnet in dem Brief an die Mönche von Zwiefalten auftauchen, ist immer wieder gestellt, bislang aber nicht befriedigend beantwortet worden. Allein die Tatsache, daß der Brief für die Mönche wenig Erfreuliches enthält (Büß- und Mahnschreiben), vermag als Begründung nicht zu überzeugen. Dieser Sachverhalt trifft auch auf eine Menge anderer Hildegard-Briefe zu, ohne daß in diesen Fällen die Litterae ignotae regelmäßig (oder auch nur vereinzelt) verwendet worden wären. Der Zwiefaltener Brief bleibt das einzige Zeugnis für eine solche Verwendung. Am nächstliegenden ist wohl die Annahme, die Benutzung der unbekannten Buchstaben gehe auf Abt Berthold von Zwiefalten zurück, der die mit einem Nimbus visionärer Herkunft versehenen Litterae ignotae auf dem Rupertsberg kennengelernt und als Merkmale einer zusätzlichen Bedeutungssteigerung in einem Brief Hildegards an seinen eigenen Konvent für geeignet gehalten hätte. Allerdings weichen die hier angewandten Buchstaben in ihrer Formgebung geringfügig von den Schreibweisen anderer Hildegard-Handschriften ab, insbesondere hinsichtlich der Zeichen für h, i und o. Die anderen Textzeugen der Litterae ignotae (Riesencodex [f. 464v], die verlorengegangene, in Teilen von Pitra edierte Wiener Handschrift 7212 (eine Abschrift des Riesencodex), die Wiener Handschrift erwähnte

.

.

Cod. 1016 [f. 119r], die Florentiner Handschrift Plut. 22, dex. 4 [f. 143r] und die Berliner Handschrift lat. qu. 674 [f. 58r],3 enthalten nur das Alphabet mit der darüberstehenden Transkription in lateinischen Buchstaben, aber keine mit Hilfe dieser Buchstabenzeichen angefertigten Wörter. Weitere Zeichen, die 1

Eine

Abbildung

dieser Wörter findet sich bei Schrader/Führkötter 1956, Tafel

XII, Abb. 21. Der Brief ist ediert in

2

3

Epistolarium II, Ep. CCXLIr,

S. 520-522. Er

wird von Van Acker in die Zeit 1153 med.-1154 datiert. Eine deutsche Übersetzung des Briefes bringt Pretsch 1986, S. 166f. Eine Abbildung (wenn auch keine Fotografie) der Litterae ignotae nach dem Wiener Codex 721 bietet Pitra, Analecta, S. 497. Eine Abbildung der Litterae ignotae aus dem Berliner Textzeugen Ms lat. qu. 674, f. 58r bringen Schrader/Führkötter 1956, Tafel XII, Abb. 22.

260

Kapitel 6

durch Beschneidung des Codex teilweise verschwunden sind, finden sich auf f. 44r des Zwiefaltener Briefcodex. In lateinische Buchstaben übertragen, läßt sich eine dort erscheinende Marginalie als „epo es [episcopo Constant.]" entziffern. Das Zeichen für o besitzt hier die gleiche Form wie auf f. 75v im Wort für „monachis" und wie im Alphabet des Berliner und des Florentiner Textzeugen. Der Riesencodex und die verschollene Wiener Handschrift dagegen verwenden für das o ein anderes Zeichen. Möglicherweise ist diese (zumindest eingeschränkt nachzuweisende) Formenvarianz ein Signal dafür, daß das Zeichensystem der Litterae ignotae zu diesem Zeitpunkt nicht abschließend fixiert war. Sehr viel wahrscheinlicher ist aber, daß die ungewohnten Zeichen den Schreibern manuelle Probleme bereiteten, so daß auf diese Art und Weise unterschiedliche Formen zustande kamen. Auch der zwischen 1163 und 1173/74 auf dem Rupertsberg und in TrierSt. Eucharius entstandene Genter Textzeuge des Liber divinorum operum (Gent, UB, Ms 241) weist am unteren Rand von P. 123 einen Vermerk in nicht lesbaren Zeichen auf, die den Litterae ignotae entnommen sein könnten. Die Ähnlichkeiten sind geradezu frappant. Eine Transkription und Deutung dieser Zeichen steht indessen noch aus. Zieht man ein erstes Resümee aus den hier gemachten Beobachtungen, so gilt folgendes : Hildegard hat die Komposition der Sprachschriften als Früchte einer visionären Beauftragung betrachtet. Explizite Hinweise auf eine bewußte Anknüpfung an die historische Tradition der antiken und/oder mittelalterlichen Kryptographie finden sich nirgendwo. Dennoch muß eine Einbettung in diese Tradition vorgenommen werden, will man nicht Gefahr laufen, Hildegards Sprachschriften zu enthistorisieren und damit zu monumentalisieren. Für Hildegard selbst waren die beiden Werke, die bereits um 1153/54 soweit entwickelt waren, daß sie in anderen Textzusammenhängen verwendet werden konnten, offensichtlich von großer Bedeutung. Die frühesten Rezeptionsspuren weisen darauf hin, daß die Sprachschriften nicht im Sinne von rein theoretischen Konstrukten, gewissermaßen von gedanklichen Spielereien, erfunden wurden, sondern (auch) eine konkrete Benutzungsfunktion besaßen. Die überlieferten Zeugnisse für ihre tatsächliche Verwendung sind allerdings äußerst schmal, so daß auch der Aspekt des Experimentellen oder Artifiziellen nicht völlig aus dem Blick geraten darf. Im Grunde genommen läßt sich für beide Texte nur jeweils ein einziger klar erwiesener Anwendungsfall belegen. Diese beiden Anwendungsfälle gehören in die Jahre 1153/54 und sind auf einen fast identischen Adressatenkreis beschränkt, das Frauen- und Männerkloster von Zwiefalten. Die lexikalische Uberlieferung der Lingua ignota in den glossierten Handschriften hingegen gibt über ihre Benutzungsfunktion nichts zu erkennen. Außermonastische Benutzungsspuren der Lingua ignota und der Litterae ignotae können ebensowenig nachgewiesen werden wie eine konkrete Verwendung jenseits des genannten Zeitpunktes, d. h. nach 1154.

Die

Sprach Schriften

261

zu können, ist Überlieferung der beiden Schriften genauer beurteilen die und ihren Bild Funktionen ein Inhalten von schärferes es unerläßlich, zu Publikum monastisches ein auf offensichtlich völlig zugeschnitten waren allem vor um es folgende Fragen: gewinnen. Dabei geht

Um die

-

-





Wer hätte diese Schriften benutzen sollen oder können ? Welchem Zweck dienten sie ?

Welches sind die Gründe für ihre

zahlenmäßig

so

geringe Überlieferung ?



6.2.1 Die Lingua ignota Die Lingua ignota besteht aus 1011 fremd klingenden, wie der Name sagt, unbekannten Wörtern. Von diesen 1011 Wörtern sind allerdings zehn Aus-

drücke homonym verwendet, so daß sich die Gesamtzahl der Wortschöpfungen auf 1001 reduziert.1 Hildegard hat die unbekannten Wörter ganz oder teilweise nach Wortschöpfungsregeln gebildet, die bislang noch nicht eruiert werden konnten. Völlig zu Recht hat Alessandro Bausani daher die in der älteren Forschung hin und wieder ventilierte Theorie, die unbekannte Sprache müsse, wie dies auf Elisabeth von Schönau zutrifft, im Zusammenhang des glossolalischen Zwangsredens verstanden werden, zurückgewiesen.2 In ihrer extremsten Form ist diese Meinung von Joseph Goerres vertreten worden. Goerres legte in dem 1837 erschienenen zweiten Band seiner Christlichen Mystik dar, Hildegards Lingua ignota sei weder an die Außenwelt gerichtet, noch zum Verkehr mit ihr bestimmt gewesen. Sie sei jener Region entnommen, „der die Ideen angehören".3 Hildegards innere Ekstasen hätten sich in einer neuen, diesem Zustand entsprechenden idiomatischen Sprachform geäußert. Eine Ansicht, die schon deshalb nicht zutreffen kann, weil Hildegard selbst mehrfach betont hat, sie habe ihre Visionen nicht in einem Zustand der Ekstase oder geistigen Umnachtung empfangen, sondern bei vollem Bewußtsein. Statt dessen plädiert Bausani dafür, die Lingua ignota „typologisch gesehen mit [den] heiligen Spielspra...

1 2

Ein Einzelnachweis der Homonymen findet sich bei Physica (dt.) 1991, S. 25, sowie bei Hildebrandt 1996, S. 109, Fußn. 19. Bausani 1970, S. 78. Daß diese Zurückweisung sich in der Forschung nicht überall durchgesetzt hat, beweist eine Bemerkung Umberto Ecos, in der Hildegards Lingua ignota zu den „Sprachen der mystischen Offenbarungen" gerechnet und mit Glossolalie, Xenoglossie und Sprachen von Geistesgestörten in Verbindung gebracht wird. Eco 1994, S. 17. Nur am Rande sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß Gerhard Mensching 1957 mit einem Puppentheater hervortrat, dessen Text sich einer ausschließlich lautbildenden Sprache bediente. Vgl. Mensching 1957. Goerres 1837, S. 152. Wie wenig überzeugend Goerres' Ausführungen sind, wird deutlich, wenn man auf der nächstfolgenden Seite (S. 153) liest, daß Goerres nicht umhin kommt, gewisse Regelmäßigkeiten der Wortbildung zuzugestehen : „Betrachtet man diese Wortbildungen genauer, dann erkennt man allerdings an einzelnen einen Nachhall deutscher und lateinischer Benennungen: wie in Diveliz das Wort Teufel, in Ispariz spiritus, in Iminois homo, in Jur vir, in Pueriz Papa..." -

3

Kapitel 6

262

der Art Eva Ave oder Sator Arepo"1 in Verbindung zu bringen. Hildegard selbst hätte ein „instinktives Interesse für Spracherfindung"2 besessen. Ganz sicher wird man der Lingua ignota ein artistisches Moment nicht absprechen können. Verschiedene Morphem- und Phonemidentitäten erlauben jedoch, wie noch auszuführen sein wird, den Schluß, daß die künstliche Sprache zumindest partiell auf Wortbildungsmustern der deutschen und der lateinischen Sprache basiert und von daher so etwas wie eine generative Struktur oder ein immanentes Regelwerk besitzt. Marianna Schräder und Adelgundis Führkötter waren der Meinung, Hildegard habe durch die Verwendung der unbekannten Wörter „ihre Aussagen dem allgemeinen Verständnis zu verschließen"3 gesucht. Auch diese Bewertung vermag nicht zu überzeugen. Sie würde bedeuten, daß Hildegard eine Arkansprache geschaffen hätte. Immerhin sind Hildegards Kunstwörtern Interlinearglossen in lateinischer, deutscher oder deutsch-lateinischer Form beigefügt, die den Sinn dieser Kunstwörter offenlegen. Auch wenn die Glossen nicht oder nur teilweise von Hildegard selbst stammen mögen, so gehören sie doch in ihre unmittelbare Umgebung hinein und sind zu ihren Lebzeiten und mit ihrem Wissen in die Texte eingeflossen. Zumindest was den Riesencodex anbetrifft, kann hierüber gar kein Zweifel bestehen. Es kommt hinzu, daß eine größere Anzahl von lateinisch glossierten Pflanzennamen der Lingua ignota auch im Liber simplicis medicinae (LSM) erscheint, so daß von einer bewußten Verdunkelung der jeweiligen Inhalte nicht gesprochen werden kann. Pitra führt insgesamt 157 zwischen der Lingua ignota und LSM (in der Textausgabe des auf dem Pariser Codex Ms 6952 [f. 156r-232r] basierenden Ausgabe Mignes) identische Wörter auf und bringt eine detaillierte Konkordanz dieser Wörter.4 Demnach sind 36 Wörter aus Buch III (De arboribus) und 121 Wörter aus Buch I (De plantis) des LSM auch in der Lingua ignota vorhanden, ob in deutsch, lateinisch oder in der Kunstsprache, hat Pitra nicht weiter differenziert. Eine Präzisierung dieses Befundes ergibt, daß im ganzen 49 deutsche Glossen sowohl in der Lingua ignota als auch im LSM (Ausgabe Migne) erscheinen. Die identischen Wörter lauten in Deutsch (zitiert nach dem Riesencodex): acoleia [Kunstwort: Agonzia], bachminza [Fluischa], bertram [Bagiziz], berwurz [Brumz], bilsa [Pazia], binewurz [Dugrul], cazenzagel [Franzinz], cle [Fluzez], cristi[a]na [Lanischa], cutinbom [Zaimzabuz], denemarka [Maschin], dille [Zugezia], dorth [Sparzun], frideles oga [Zirschia], galgan

chen

von

-

1

-

Bausani 1970, S. 76. Die Theorie des

glossolalischen, pfingstlichen Sprechens als u. a. von Philipp Schmelzeis vertreten. Schmelzeis 1879, S. 444-447. Demnach sei auch „in Hildegard wieder einmal jenes Sprachenwunder hervorgetreten, welches der Herr den Seinigen als eines der Zeichen verheißen hat, durch die sie sich in der Welt als die Vertreter der göttlichen Entstehungsursache

der

Lingua ignota wird ...

Sache beurkunden sollten ..." (S. 447).

2 3

4

Bausani 1970, S. 76. Schrader/Führkötter 1956, S, 52. Analecta, S. 498-502.

Die

263 Sprachschriften [Gulgia], gariofel [Gareiza], grensich [Gischiz], gundereba [Gauriz], hanif [Aseruz], haselwurz [Gruizia], hircescunga [Gurizlaniz], huflatdecha [Laufrica],

huswrz [Fenisgronz], kichera [Gullox], kirvela [Felischa], lenis [Zuzil], lubestichel [Luschia], lunchwrz [Pulicha], melda [Sizia], morcruth [Scrurithil], natscado [Nasciul], nebetda [Nischil], nespilbom [Pazimbu], nessewurz [Gax-

uurinz], nuzbom [Muzimibuz],

nuz muscata [Muzimia], petersilia [Pransiz], radich [Pabruz], pfeffercrut [Gragiz], rosseminza [Gluziaz], spelza [Glachxa], unelovch [Flichziz], venechil [Guris], wermuda [Karischa], sprincwurz [Spiriz], wichun [Circhza], wolfesgelegena [Daschia], zitdewar [Kunx], zucker [Saxia]. Dieser Befund, der vermutlich noch deutlicher ausfallen würde, wenn man

die Florentiner Handschrift Cod. laur. Ashb. 1323 als den vollständigsten Textzeugen des LSM zum Vergleichstext machen würde, verdeutlicht, daß Hildegard vor allem die Botanik in die Lingua ignota integriert hat. Pitra hat insgesamt 180 botanische Wörter, d. h. ca. 20% des Gesamtbestandes, in den Lingua ignota ermittelt.1 Daß diese Wörter im Sinne einer klösterlichen Kräuterlehre, die zu Heilzwecken, möglicherweise auch im Bereich der Küche, eingesetzt werden konnte, für ein monastisches Publikum von besonderem Interesse sein mußte, liegt auf der Hand. Eine Verwendung der reinen Kunstwörter ohne beigefügte Glossen, die die These einer inhaltsverdunkelnden Funktion der Lingua ignota abstützen könnte, läßt sich, zumindest im Bereich der schriftlich überlieferten Textzeugen, nicht dokumentieren. Ob diese Funktion im Rahmen einer mündlichen Verwendung der Lingua ignota vorhanden gewesen sein könnte, muß dahingestellt bleiben. Es fehlen entsprechende Nachrichten hierüber. Der Bestand an deutschen Glossen, die ebenso wie die lateinischen gegenüber den Kunstwörtern durch die Verwendung einer graphisch distinkten Ausdrucksform, konkret einer kleineren Schriftform, als sekundär gekennzeichnet sind, variiert in den beiden überlieferten Textzeugen der Lingua ignota ganz erheblich. Während im Riesencodex (f. 461v-464v) lediglich 260 Kunstwörter deutsch glossiert sind, sind es in dem ca. 50 Jahre später entstandenen Textzeugen Berlin Ms lat. qu. 674 insgesamt 756. Der Grund für diese Diskrepanz könnte, wie H. Reutercrona 1921 vermutet hat, darin liegen, daß im Riesencodex jeweils nur eine einzige Zeile für die Glossierung freigelassen wurde, in der Berliner Handschrift hingegen zwei.2 Diese möglicherweise redaktionell bedingte Entscheidung hatte zur Folge, daß Doppelglossierungen im Riesencodex nur eingeschränkt vorgenommen wurden. Kurt Gärtner hat einen weiteren Grund angeführt: Falls Wibert von Gembloux die Redaktion der Lingua ignota im Riesencodex besorgt hat, könnte die dort zu konstatierende geringe Zahl an deutschen Wörtern auf seine Person zurückgehen Wibert sprach kein Deutsch.3 Wichtig erscheint die Feststellung, daß dort, wo beide Textzeugen deutsche Glossen zu demselben Kunstwort bieten, diese Glossen entweder -

-

-

-

-

1 2

3

Analecta,

S. 496. Reutercrona 1921, S. 97. Gärtner 1998a, S. 10.

Kapitel 6

264

identisch sind oder nur geringfügige Laut- bzw. Schreib Varianten aufweisen.1 Wortalternanz tritt dagegen nirgendwo auf. Das textgenetische Verhältnis zwischen den Fassungen des Riesencodex und der Berliner Handschrift läßt sich dahingehend bestimmen, daß beide Textzeuauf dieselbe (fehlerhafte) Vorgen, wie zwei gemeinsame Varianten beweisen, Berliner der Handschrift fehlen die und in Riesencodex Im lage zurückgehen. Glossen zu den Kunstwörtern pidago (R f. 462rb, Zeile 33; B f. 58v, Zeile 4) und wizianz (R f. 463rb, vorletzte Zeile von unten; B f. 60v, Zeile 10). In der Berliner Handschrift finden sich an diesen Stellen Rasuren im Text. Andererseits weist bezüglich der Kunstwörter der Riesencodex gegenüber der Berliner Handschrift den vollständigeren Text auf: In der Berliner Handschrift sind die im Riesencodex noch vorhandenen Wörter für das weibliche und männliche Geschlechtsorgan ausgelassen möglicherweise die Folge eines zensierenden eine Eingriffs seitens des Schreibers oder Redaktors. Da die beidendesTextzeugen Wortbestandes en äußerliche unterschiedlich geartete Aufteilung (mis page) besitzen, kann man mit verlorengegangenen Zwischenstufen der Uberlieferung rechnen. Was im übrigen die Körperteilglossen anbetrifft, so waren diese bereits im 19. Jahrhundert Gegenstand vielfältiger Anmerkungen. Wilhelm Grimm beies fällt auf daß wir in dem zweiten spielsweise stellte 1848 verwundert fest: leibes menschlichen des wo theile die aufgezählt werden, Wörtern capitel, einer begegnen, die in den gedanken oder in dem mund einer jungfrau, zumal Wollüdie geistlichen, nicht ziemlich erscheinen: doch sie schildert anderwärts ste der männer und frauen auf eine ebenso unerwartete weise."2 In die gleiche Kerbe schlug im Jahre 1880 Friedrich Wilhelm Roth: „Unerklärt bleibt freilich für eine Heilige die Aufführung von absolut obscönen Sachen auch in dieser =

=

=

-

-

„...

gottgeweihte Jungfrauen paßt."3 Sprache, deren Kenntnis jedenfalls nicht für Die Bedeutung der deutschen Glossen für die Lexikographie und SprachgeoViele deutsche graphie des Mittelhochdeutschen ist kaum zu überschätzen. aus dem oder Utensilien für solche Berufsbezeichnungen Wörter, insbesondere den in sich finden des mittelalterlichen Bereich Lingua ignota Skriptoriums, Fülle. Hier müßte in dieser zum ersten bzw. Mal ersten Mal zum überhaupt eine eigene Untersuchung einen detaillierten sprachhistorischen Befund erbrinStudie kann

akzentuierten gen. Im Rahmen unserer überlieferungsgeschichtlich dieses Phänomen nur kurz benannt werden. Nicht wirklich auffällig ist, daß es sich bei den von Hildegard gebildeten unbekannten Wörtern ausschließlich um Substantive bzw. substantivierte Adjektive handelt. Dies entspricht dem allgemeinen Prinzip der textfolgenden 1

2 3

Als Beispiel sei das unbekannte Wort zu „capitulum" genannt. Es erscheint in R (f. 462va, 4. Zeile von unten) als „Mimischonz" und in B (f. 59r, letzte Zeile) als „Mimischanz". Beide Laute liegen aber in dialektaler Aussprache ohnehin nahe beieinander. Grimm 1848, S. 338f. Roth 1880, S. 457.

Die

SprachSchriften

265

Glossierung; es findet sich sowohl in den nach Sachgruppen als auch in den alphabetisch geordneten Glossaren. Andere Wortarten wie Adjektiv oder Partizip kommen, wie oben dargelegt, erst in der vermutlich später entstandenen Antiphon O orzchis ecclesiae hinzu. Die eigentlich syntax- und grammatikbildenden Elemente wie Verben, Adjektive, Konjunktionen und Flexionsformen, deren letztere Genus und Numerus anzeigen, fehlen im ursprünglichen Textbestand der Lingua ignota vollständig. Ansätze zur Formung der Wörter nach deutschen Wortbildungsverfahren lassen sich von daher zwar in einem gewissen Ausmaß beobachten, sie bleiben insgesamt jedoch eher unbedeutend.1 Wichtig erscheint indessen die Beobachtung, daß alle Wörter nach dem deutschen Phonembestand gebildet sind und alle Silben im Deutschen möglich wären. Außerdem sind sie grundsätzlich aussprechbar: damit ist die Lingua ignota wirklich zunächst eine unbekannte Sprache, nicht eine unbekannte Schrift. Betrachtet man den Graphembestand, aus dem die Wörter gebildet sind, so fällt eine deutliche Präferenz des Lautes z, insbesondere in der Bildung der Endsilbe, auf. Schon das erste überhaupt erscheinende Wort (Aigonz Gott) endet auf diesen =

Buchstaben. Viele weitere Wörter schließen auf anz, inz oder iz (Fluanz [= locium, Harn], Rubianz [= sanguis, Blut], Suinz [= sudor, sweiz), Molliz [= pulmo, lunga]. Da der Buchstabe z im Lateinischen funktionslos ist, im Deutschen aber die durch die zweite Lautverschiebung entstandenen Spiranten und Affrikaten bezeichnet, kann man davon ausgehen, daß die Bildung der Kunstwörter stärker vom Deutschen als vom Lateinischen her bestimmt ist. Dieser Eindruck bestätigt sich durch das gehäufte Auftreten der Lautkombination sch, die für das Deutsche, nicht aber für das Lateinische typisch ist (Gunzschula [= murus,

mura]).

Die ca. 1000 Wörter der Lingua ignota sind, wie angedeutet, in einer synthetischen Sprache hergestellt, die vermutlich auf die drei heiligen Sprachen [Pseudo-]Hebräisch, Griechisch und Latein rekurriert, daneben aber auch deutsche Dialekteigentümlichkeiten des Naheraumes bzw. des Rheingaues miteinbezieht.2 Inwieweit darüber hinaus eine sprachliche Beeinflussung durch jüdi1

Genannt seien die Wörter 19-24, in denen bestimmte Morpheme mehrmals in der gleichen Bedeutung verwendet werden (z. B. Nr. 22 „Maiz" [= moder] und Nr. 24 „Nilz-maiz" [= stief-moder]. Auch in den Wörtern Nr. 751-768, die dem Baumka-

pitel entnommen sind, findet sich das über zwanzigmal wiederkehrende ,,-buz" („Zaimza-buz" cutin-bom).

Grundwort

=

2

Hierzu bemerkt May 1929, S. 130f., manche deutschen Glossen der von Hildegard geprägten unbekannten Wörter seien noch zu seiner Zeit (d. h. 1929) „fast unverändert im Gebrauch; man sagt auch jetzt noch im Rheingau Ard statt Erde, Rattich statt Rettich, Arbach statt Erbach, Breme statt Bremse (Insekt), Welbere statt Waldbeere, Bremer statt Brombeere." Dieser Hinweise verliert jedoch dadurch an Schlagkraft, daß es sich bei den von May genannten Beispielen nur um Formen der dialektalen Aussprache (Verschleifung, Vokalwechsel) handelt. Die Form „Bremse" wird zudem erst im 16. Jahrhundert allgemein.

Kapitel 6

266

sehe Bewohner dieser Gegend, mit denen Hildegard im Austausch stand, eine Rolle gespielt haben mag, bliebe zu untersuchen.1 Die naheliegende Frage, welche Beweggründe Hildegard zur Bildung der unbekannten Sprache veranlaßt haben könnten, ist schwierig zu beantworten. Hildegard hat sich nirgendwo theoretisch über Motivation, Zweck und Funktion der Sprachschriften geäußert. Auch diesbezügliche Äußerungen anderer etwa von Zeitgenossen Hildegards liegen uns nicht vor. Die folgenden Überlegunein von daher gewisses Maß an Spekulation. Sie scheinen aber gen besitzen deutlich zu um zu machen, daß die Bildung der Lingua ignota notwendig sein, nicht vordergründig als ein rein technisches Phänomen betrachtet werden kann. Schlägt man die gelegentlich geäußerte These, die Sprachschriften hätten der Umgehung des klösterlichen Schweigegebotes gedient,2 aus dem Felde, so lassen sich im Grunde genommen zwei denkbare Motive für die Bildung der Lingua ignota eruieren: ein sprachtheologisches und ein monastisch-didaktisches. Ersteres ist stärker auf die Motivation der Autorin, letzteres stärker auf die Rolle der Rezipienten/innen bezogen. Was das erstgenannte Motiv anbetrifft, so wollte Hildegard sich mit ihren Wortschöpfungen, wie Angela Carlevaris dem Verfasser gegenüber einmal gesprächsweise geäußert hat, möglicherweise in die Tradition Adams, des (nach biblischer Überlieferung) ersten Sprachschöpfers, stellen.3 Gemäß Gen 2,20 verlieh Adam den herkunftsverwandten Gattungen der Tiere ihre Namen. Diese Namensgebung, die einer Bemerkung Hildegards zufolge von der dritten bis zur sechsten Stunde, also bis 12 Uhr mittags, gedauert haben soll und damit sehr rasch vonstatten ging,4 wurde von jeher als Akt der Domestizierung des Le-

-

1

Ausführungen der Vita Hildegardis 1993, II 1, 4, S. 26 15-17 zufolge, kamen Juden zu Hildegard. Sie wurden von Hildegard belehrt und zum Glauben an Jesus Christus ermuntert. Hans Liebeschütz geht davon aus, diese Belehrungen seien „offenbar vergeblich" gewesen. Liebeschütz 1983, S. 178. Liebeschütz behauptet einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Motiven einer kosmologisch akzentuierten, aus orientalischen Quellen gespeisten Theologie, die um 1200 bei den Juden am Rhein eine Rolle gespielt hätten, und vergleichbaren Denkweisen Hildegards. Diese Zusammenhänge werden von Heinrich Schipperges allerdings bestritten. Liebeschütz 1962, S. 133f. Hildegard selbst hat im Scivias (Scivias 1978, 1 5, 1-8, Den

auch

S. 93-99) einen größeren Abschnitt über die Synagoge verfaßt. May 1929, S. 131: „Man wollte ein Mittel zur Verständigung besitzen, auch wenn die Ordensregel Schweigen gebot." Zur Kritik dieser Auffassung ist zu bemerken, daß Hildegard in ihrer Rolle als Äbtissin die ihr unterstellten Mitschwestern nicht gut zur Übertretung einer Bestimmung der Regula Benedicti hätte auffordern können. Vgl. zu dieser Thematik Liebeschütz 1930, insbesondere S. 124-135. Ferner die grundlegende Arbeit von Borst 1957/1963; darin über Hildegard vor allem II, 2, S. 656-659. Hildegardis, Ad praelatos Moguntinenses (PL 197, Sp. 218-243), hier Sp. 222C: „Mora vero, qua voeavit Adam nominibus eorum cuneta animantia et volatilia coeli, quae in visione scientiae suae vidit et cognovit, et in qua Dominum in claritate divinitatis suae sibl loquentem audivit, spatium habebat sicut horae tertiae usque ad -

2

3

4

Die

267 SprachSchriften bensraumes und Ordnung der Welt verstanden, auch wenn sie sich auf sämtliche

Tiere und nicht nur auf die vom Menschen gebrauchten bezog. Adam selbst galt in der christlichen Tradition des Mittelalters als Repräsentant und Erzieher des Menschengeschlechts, als Typos ursprünglicher Vollkommenheit und reiner Erkenntnis (rationalitas). Man deutete seinen Namen als Bezeichnung für die vier Himmelsrichtungen1 und dachte ihn sich im Sinne einer MikrokosmosMakrokosmos-Vorstellung zusammengesetzt aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde oder auch aus den acht Teilen Erde, Meer, Sonne, Wolken, Wind, Steine, Licht der Welt und Hl. Geist.2 Hinter dieser Auffassung stand die Vorstellung von der Vollkommenheit der Werke Gottes sowie die auf Boethius zurückgehende Theorie, die Natur beginne immer mit dem Vollkommenen. Im 12. und 13. Jahrhundert wurden diese Anschauungen in den großen Summen des Petrus Lombardus (1095-1160), Albertus Magnus (1200-1280), Thomas von Aquin (1225-1274) und Ulrich von Straßburg (f 1277) systematisch ausgebaut und zu Gedankengebäuden von hoher spekulativer Kraft emporgeführt.3 Auch in Hildegards Scivias und in anderen Schriften der Äbtissin finden sich vielfältige Ausformungen dieses Adambildes. So wird der Stammvater als „filius in iustitia" (Scivias III, 1, 246), „iustus et innocens" (III, 2, 441), „purus et simplex in prima apparitione" (I, 4, 248), „forma futuri" (III, 2, 428), „uir perfectus" (I, 2, 251), „imitandus" (I, 4, 992) und „gloriam paradisi" (III, 11, 616) bezeichnet. Wie für Petrus Lombardus, so war auch für Hildegard Adam vor dem verhängnisvollen Apfelbiß eine Art Universalgenie und himmlischer Prophet, im Besitz einer jeden kreatürlichen Kraft und kundig einer jeden Kunstfertigkeit.4 Die weit verbreitete Vorstellung von der scientia infusa Adams, die sein umfassendes Eindringen in die Wesenheit der Dinge ermöglichte und unabhängig von der natürlichen Sinneserkenntnis verlief, glaubte man vor allem in seinem Sprachvermögen bestätigt zu sehen. Hildegard zufolge -

-

..." Ohne ihn namentlich zu erwähnen, richtet sich Hildegard damit gegen Abaelard, der die Auffassung vertreten hatte, Adam müsse mehrere Jahre im Paradies sextam

mit der

tium,

1 2

Namensgebung beschäftigt

gewesen sein: „Non enim breve

temporis

spa-

ommittamus, ad unius linguae inventionem sufficere poterat" (Abaelardus Hexaemeron, VI [PL 178, Sp. 781]). Vgl. hierzu Maurmann 1976, insbesondere S. 36 (Fußn. 88). 67. 87f. 177-179. ut caetera

Hildegard

im LCM

führt die Theorie der

Vgl.

Causae

Zusammensetzung

Adams

aus

den vier Elementen

Curae, S. 45 9-14: „De Adae vivificatione. Adam enim cum terra fuit, ignis eum excitavit, et aer eum suscitavit, et aqua eum perfudit, quod totus movebatur. Tunc deus soporem in eum misit, et in his viribus coctus est, ita aus.

et

quod caro eius per ignem aestuabat et quod per aerem spiravit et quod sicut molen-

3

dinum aqua in eo circuivit." Nach dem Bilde Adams sind alle Menschen aus den vier Elementen geschaffen. Vgl. auch Koehler 1862. Förster 1908. Vgl. Breuning 1959, insbesondere S. 9-15. Murdoch 1975. Ohly 1999, insbesondere Kap. 6, S. 73 (Die Sprache Adams). Vgl. Causae et Curae, S. 45 15f., wo Adam als propheta caelestium... et sciens in omni vi creaturae et in omni arte [peritus]" beschrieben wird. -

-

4

-

„...

Kapitel 6 alle Arten von Musik,

268

er besaß auch selbst eine engelkannte Adam nicht nur dem vor wohltönende Sündenfall sprach er die gleiche Sprache Stimme; gleiche, wie die Engel.1 Alle Sprachen, die später von den Menschen erfunden wurden, waren seinem prophetischen Geiste geläufig.2 Parallel zu den theologischen Bearbeitungen der Adam-Thematik entstanden in den Bereichen von Literatur, Kunst und Volksdichtung vielfältige Ausgestaltungen dieses Motivkomplexes.3 Wie sehr die Thematik auch längerfristig virulent blieb, beweist die in mehr als 100 Textzeugen dokumentierte, gegen Ende des 14. Jahrhunderts aufkommende Gattung der deutschsprachigen, in Prosa abgefaßten Historienbibel.4 Wenn auch das Hauptinteresse der meisten dieser Texte dem von der Bibel vernachlässigten nachparadiesischen Adam galt, so wurde doch auch die biblische Erzählung von der Namensgebung lebhaft variiert. Als Beispiele für dichterische Bearbeitungen des Adam-Stoffes aus dem 11. bis 13. Jahrhundert seien hier stellvertretend für viele andere mehr nur

aufgeführt :

-

-

dem 4. Jahrhundert stammende, lateinische Vita Adae et Evae, eine europäischen Sprachen eingeflossene, im Mittelalter oft erweiterte und veränderte Erzählung vom Leben der Protoplasten nach dem Sündenfall.5 Die mit Illustrationen versehene und in Versen mit Endreimen gedichtete, um 1060/80 in Osterreich entstandene Altdeutsche [Wiener bzw. Millstädter] Genesis6. Die um 1130/40 entstandenen Vorauer Bücher Mosis [Genesis], eine Erzählung, die mit der Schöpfung der Engelchöre beginnt und in der der Verfasser, ähnlich wie Hildegard, darlegt, der Mensch könne mit seinen drei oberen SeeDie

aus

in die meisten -

-

-

1

2

3 4 5

6

Ebd., S. carmen]

148

28-30: „Adam

quoque

ante

praevaricationem angelicum

carnem

[recte:

genus musicorum sciebat et vocem habebat sonantem, ut vox monochordi sonat." Solutiones in Triginta octo quaestionum (PI 197, Sp. 1037-1054), hier Sp. 1041CD: „Omnipotens Deus angelicis verbis Adae locutus est, quae ipse bene cognovit et intcllexit. Per sapientiam enim suam quam a Deo acceperat, et per spiritum prophetiae omnes linguas, quae per homines postmodum inventae sunt, tunc in scientia sua habuit, ac naturas omnium creaturarum ad plenum novit." Die gleiche Thematik schneidet Hildegard in ihrem Brief an die Mainzer Prälaten an. Vgl. Hildegardis ad Praelatos Moguntinenses, in Epistolarium I, Ep. XXIII, S. 61-66, hier S. 63 65-75. Demnach sprach Adam vor dem Sündenfall die gleiche Sprache wie die Engel. Vgl. hierzu Erffa 1989, S. 139-145. Vgl. Gerhardt 1983. Vgl. Meyer 1878/1879. Das in einem nach 1458 entstandenen Textzeugen (Hamburg, Staats- und UB, Cod. 8 in scrinio) überlieferte Adambuch ist eine Prosaauflösung der in Schwellhandschriften der Christherrechronik eingefügten Reimbearbeitung der Vita Adae et Evae (Adam und Eva). Vgl. Murdoch 1978b. Vgl. Hennig 1978. Gutfleisch-Zieschke 1997. et omne

-

269 Sprachschriften lenkräften (memoria, intelligentia und Caritas) die himmlischen Engelchöre

Die

erreichen.1 Lutwins um 1300 entstandenes, insgesamt 3939 Verse umfassendes Gedicht Adam und Eva, bearbeitet nach dem Vorbild der Vita Adae et Evae.1 Eine oberdeutsche Reimfassung der ebenfalls auf der Vita Adae et Evae basierenden, vermutlich noch im 13. Jahrhundert entstandenen Erzählung Adam und Eva? Jacob Ruffs (ca. 1500-1558) Adam und Heva, in dem die Namensgebung von mehr als 80 Tieren durch Adam geschildert wird (Vers 751-972).4 Hinzugezählt werden können der anglo-normannische Ordo representacionis, das Canticum de Creacione und viele ähnliche Texte mehr.5 Wichtig für all diese Schriften ist die Tatsache, daß die beiden zentralen Quellen, aus denen sie geschöpft sind, auch zu Hildegards Zeiten bereits bekannt waren: die Vulgata und die Historia scholastica des Petrus Comestor (ca. 1100-1179). Hinzu kommt, daß diese Texte (wie es nicht anders sein kann) häufig von Geistlichen stammten und zum Vorlesen bestimmt waren. Von einigen (Altdeutsche Genesis) ist ganz explizit bekannt, daß sie auch im Rahmen der klösterlichen Lectio zur Anwendung kamen. Sollte Hildegard von dieser Vorstellungswelt, die zu ihrer Zeit in weiten Teilen ausgebildet war,6 inspiriert gewesen sein, so könnte die Lingua ignota als Versuch betrachtet werden, eine Art paradiesischer Ursprache zu rekonstruieren, wie sie vor der babylonischen Sprachverwirrung gepflegt wurde. Eine ganz ähnliche Sichtweise prägt auch Hildegards Auffassung von der Musik: wie die Sprache, die Adam sprach, so war nach Hildegard auch die Musik, die Adam vernahm, eine paradiesische es war der Gesang der Engelchöre. Von daher kommt es, daß im Menschen, wenn er Musik vernimmt, wehmütige Erinnerungen an seine paradiesische Heimat entstehen. Im Liber vitae meritorum werden diese Zusammenhänge detailliert entfaltet: -

-

-

-

Nam Deus ut faber est, qui folle ignem examinât, et qui eum undique circumuertit, ut opus suum pleniter perficiatur. Cum autem Spiritus hominis recto modo cursu 1 2 3 4

5

Vgl. Hennig 1997. Vgl. Murdoch 1985. Vgl. Murdoch 1978a.

1848, S. 24-31. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die zahllosen bildlichen Darstellungen, auf denen Adam von Tieren umgeben erscheint. Vgl. Erffa 1989, S. 139-145. Ein guter Überblick findet sich bei Stone 1963, insbesondere S. 118-122. Recht materialreich auch Röhrich 1968, insbesondere S. 56-64 und 156. Petrus Lombardus etwa spricht in seinen Sentenzen (IV, d. 1, c. 5) von einer Gotteserkentnis Adams ohne Mittel: „Homo enim, qui ante peccatum sine medio Deum videbat, per peccatum adeo hebuit, ut nequeat divina capere nisi humanis excitatus." Zit. nach Petrus Lombardus Sententiae, II, S. 235. Vgl. zu diesem Aspekt Schnapp Ruff

-

6

Schnapp 1991.

1990.

-

Kapitel 6

270

bonorum operum dirigitur, ut ad indeficientem eternitatem gaudiorum reuertatur, purissimum lumen uidebit et angelicum carmen audiet, quod Adam uidit et audiuit [hervorgeh. vom Verf.], antequam transgressionem mortalitatis adiret; et sie maximo desiderio uestimentum quod exuit requiret, quatinus pariter cum ipso gaudeat. Hec autem de penitentium animabus purgandis et salutandis dicta sunt, et fidelia sunt; et fidelis his attendat, et ea in memoriam bone seiende componat.1

Wie zentral das Thema

Sprache

für

Hildegard

war,

beweist schließlich die

Tatsache, daß Hildegard sogar die Trinität in das Gleichnis der Sprache bzw. des Wortes faßte: Gottvater ist der Klang („sonus"), den man hört, der Sohn die Bedeutung, die man versteht („virtus") und der Geist der Hauch („flatus"), den man empfängt.2 Der Mensch als „rationalis creatura" seinerseits ist nach dem Ebenbild der „rationalitas divina" geschaffen.3 Deshalb steht er über der Natur, die nur das namenlose Rauschen der Töne („strepitus sonituum") kennt.4 Ihm allein ist es gegeben, die „tuba vocis rationalis"5, die Trompete, durch die Gott seine Wunder verkündet, zu verstehen. Allerdings ist für Hildegard klar, daß die

derzeitige, normale Menschensprache nur eine bedingte Annäherung an die Sphäre des ewig Geistigen ermöglicht. Wie Abaelard, so geht auch Hildegard

davon aus, daß der Mensch seine „rationalitas" anstrengen muß, um nicht bei den bloßen „loquela sermonum", das heißt den nichtssagenden Redereien, hängenzubleiben. Diese ordnet Hildegard im LCM den „flegmaticis", und damit dem Bereich des Pathologischen oder Defizienten zu.6 Die Lingua ignota könnte in diesem Sinne als Versuch verstanden werden, die menschliche „rationalitas", so wie sie bei Adam vor dem Sündenfall prototypisch verwirklicht war, unter den Bedingungen einer postparadiesischen Kon1 2

3

4

5

6

Vgl. LVM 1995,

IV 53, S. 206 1140-1550. Scivias 1978, II 2, 7 (S. 129 156-160): „In uerbo sonus, uirtus et flatus est. Sed sonum habet ut audiatur, uirtutem ut intellegatur, flatum ut compleatur. In sono autem nota Patrem qui inenarrabili potestate omnia propalat; in uirtute Filium qui mirabiliter ex Patre genitus est; in flatu uero Spiritum sanctum qui suauiter ardet in ipsis." Vgl. hierzu Kern 1971, Anhang V, VI, VII (S. 245-251) mit ähnlichen Metaphern. Vgl. LDO 1996, 1 1,2 22-34: „Hec omnia in essentia sua uiuunt nec in morte inuenta sunt, quoniam ego uita sum. Racionalitas etiam sum, uentum sonantis uerbi habens, per quod omnis creatura facta est ..." Scivias 1978, III 5, 17 472: „Non sie quod elementa clament in uoce aut conquerantur in scientia rationalis creaturae, sed quod secundum modum suum uoeiferantur in strepitu sonituum et quod querimonias proferunt in timore terrorum, ut ea cum alia creatura iustum Dei iudicium inducit super homines ..." Vgl. LDO 1996, 14, 98 1-4: „Cum autem Deus hominem inspexit, ualde bene ei placuit, quoniam secundum tunicam imaginis sue et secundum similitudinem suam illum creauerat, quatinus per tubam uocis racionalis omnia miracula eius pronunciaret." Von diesen heißt es: „In cogitationibus vero et in loquela sermonum suorum audaces et strenui sunt ut ignis, cuius flamma repente surgit et repente cadit, ac etiam in habitu suo audaciam ostendunt, sed eam in operibus non habent et magis opinione quam opera in conversatione sua demonstrant." Causae et Curae, S. 75 10-14.

Die

SprachSchriften

271

und damit unter den Lebensverhältnissen der mit der Erbsünde beladenen Menschen, neu zu aktualisieren.1 Die auf der Hand liegende Frage, ob die Rekonstruktion einer solchen paradiesischen Ursprache einer monastischen Sprecher- und/oder Schreibergemeinschaft vorbehalten bleiben oder sich an die Allgemeinheit der Gläubigen richten sollte, kann nur annäherungsweise beantwortet werden. Träfe die erstere Annahme zu, so würde diese Sprache zu einem ganz spezifischen Soziolekt eines heilsgeschichtlich privilegierten Adressatenkreises avancieren, von dem die normale Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen bliebe. Ihre enigmatischen Denotate, wie sie in der Lingua ignota und den Litterae ignotae zum Ausdruck kommen, wären nur vor den Konnotationen einer ausschließlich dem Lobpreis Gottes zugewandten, exklusiv klösterlichen Daseinsform zu verstehen. Im Binnenraum dieses idealtypischen Mikrokosmos intensivster Erlösungshoffnung allerdings wären die beiden Sprachsysteme gerade aufgrund ihres im Hinblick differenten Charakters das adauf die normalen Ausdrucksmöglichkeiten Artikulation des zur sprachlichen äquate Medium eigenen, monastisch-privilegierten Status. Auch wenn eine solche Sichtweise aufgrund von Hildegards eher allgemein gehaltener Heils- und Erlösungslehre Probleme bereiten mag, ganz von der Hand zu weisen ist sie sicher nicht. Immerhin wissen wir aus Hildegards Briefwechsel mit Tenxwind von Andernach, daß Hildegard den Nonnenstand in einer sehr engen Verbindung zum Erlösungsgeschehen betrachtet hat. Die von ihr gewählten Formen, dieses Bewußtsein zum Ausdruck zu bringen (lange weiße Gewänder, Blumen im Haar, Schmuck, Tanz, liturgische Vertonungen mit für die konventionelle Gregorianik völlig untypischem, doppeltem Ambitus) waren zu ihrer Zeit durchaus ungewöhnlich und stießen auf den erbitterten Widerstand traditionell orientierter monastischer Kreise (Tenxwind).2 Die Annahme, daß Hildegard eine paradiesische Ursprache rekonstruieren wollte, um durch sie die eigenen Mitschwestern zur Rückkehr ins Paradies zu stimulieren, erhält auch durch die Beobachtung Nahrung, daß in ihren diesbezüglichen Äußerungen die Frage nach dem Nationalcharakter der Paradiesessprache sorgfältig umgangen wird. Nach Rupert von Deutz (ca. 1070-1129) wurde im Paradies Hebräisch gesprochen, und zwar das seinerzeitige Hebräisch des 12. Jahrhunderts. Auch für Hugo von St. Victor (t 1141) war Hebräisch die

tingenz,

-

-

1

2

Die andere heilsgeschichtliche Argumentationsrichtung, jene ins Neue Testament hinein, wird von Hildegard sprachtheologisch nicht so stark ausgestaltet. Hildegard spielt zwar auf das Pfingstwunder an, das den Turm der Kirche als Gegenbild zum Turm von Babel konstituiert (vgl. die Miniatur von der „turris ecclesiae" im illuminierten Scivias). Auch werden die Apostel so vom heiligen Geist durchdrungen, daß sie in „diversis Unguis anima et corpore" sprachen (Scivias 1978, III 7, 7, S. 469 24 5 f.). Doch fehlt hier die typologische Ausdeutung, wie sie durch die Gestalt Adams möglich ist. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung Haverkamp 1984.

Kapitel 6

272

älteste

Sprache der Welt („omnium linguarum ac litterarum mater"1). Schon das Syrisch-Chaldäische mußte von den hebräischen Knaben, die am Hofe König

Nebukadnezars Dienst taten, wie Dan 1,4 berichtet, erst mühsam erlernt werden. Für Hildegard ist diese Frage nicht von Bedeutung. Sie interessiert sich nicht für die historische Entwicklung der Sprachen oder für ihre heilsgeschichtlich bedingte Prävalenz. Was sie interessiert, ist die kreative Potenz des gottnahen, paradiesischen Sprechens und die Annäherung an das Paradies durch das Mittel der Sprache. Es ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung, daß bereits eine Generation später in Hildegards Dunstkreis diese Frage völlig anders aufgefaßt wird. Das oben zitierte Hildegard-Fragment aus dem Berliner Codex lat. qu. 674 (f. 103ra-116ra), das in Teilen (LCAf-Exzerpt f. 103ra-va) noch auf Hildegard selbst, in anderen Teilen hingegen auf ihre unmittelbaren Nachfolger im Geiste zurückgeht, entscheidet die Frage, welche Nationalsprache im Paradies gepflegt wurde, völlig abweichend. Ganz apodiktisch heißt es dort: „Adam et eva teutonica lingua loquebantur, que in diversa non divitur ut romana" (f. 114va). Eine Aussage, die für Hildegard selbst, nach allem, was über ihre Sicht der Paradiesessprache gesagt wurde, ungewöhnlich wäre. Was im übrigen noch einmal die Theorie der vorbabylonischen Ursprache anbetrifft, so kann diese nicht in einem universalistischen, gewissermaßen internationalen Sinne verstanden werden. Es ging Hildegard mit der Lingua ignota nicht um die Heranbildung polyglotter Ausdrucksfähigkeit. Insofern stellt die Lingua ignota keinen Prototyp des Esperanto dar.2 Auch um die Frage nach der ältesten Sprache bzw. dem ältesten Volk der Welt, wie sie u. a. bei Herodot anklingt, ist es Hildegard nicht zu tun.3 Eher finden sich Hinweise darauf, daß 1

Hugo

de

Sancto Victore De

1957/1963, II, 2, S. 651).

2

Von seiten der

grammatica, hg. Jean Leclercq (zit. nach

hat sich Manders 1958 mit der in: Heimat am Mittelrhein. Monatsblätter für Kultur- und Heimatpflege 12 (Sept. 1967), S. 3f. In Buch 2, Kapitel 2 seiner Historien schildert Herodot folgende Episode: Der ägyptische König Psammetichos habe erweisen wollen, daß die Ägypter die ältesten Menschen auf der Erde seien und nicht die Phryger. Um dies zu erreichen, habe er zwei Neugeborene von den Eltern entfernt und einem Hirten übergeben. Dieser habe die Anweisung erhalten, niemanden mit den Kindern sprechen zu lassen. Nur eine Ziege durfte sie mit Milch versorgen. Dies habe Psammetichos getan, um zu ermitteln, welches Wort die Knaben, wenn die Zeit des undeutlichen Lallens vorüber sei, zuerst sprechen würden. In der Tat hätten die beiden Knaben nach Ablauf von zwei Jahren das Wort „Bekos" als erstes Wort überhaupt gesprochen. Psammetichos zog daraufhin Erkundigungen ein, in welcher Sprache dieses Wort vorkomme. Bei seinen Nachforschungen stieß er auf die Phryger, die ihm mitteilten, „Bekos" bedeute in ihrer Sprache Brot. Hierdurch überzeugt, hätten die Ägypter nun zugeben müssen, daß die Phryger älter seien als sie selbst. Vgl. Herodot Historien, übers, von Walter Marg. Mit einer Einführung von Detlev Fehling und Erläuterungen von Bernhard ZimDie Frage nach der ältesten mermann, 2 Bde. München 1991; hier: I, S. 121f.

Esperantisten

und

Interlinguisten

Lingua ignota befaßt. Deutsche Zusammenfassung

3

Borst

-

Die

Sprachschriften

273

Sprache geeignet sein sollte, in den absoluten Bedeutungsgehalt der Wörter einzudringen, so wie er in der reinen Erkenntnis Adams und in den von ihm geformten Wörtern zum Ausdruck kam. Dieser Bedeutungsgehalt sollte akustisch, semantisch und graphisch artikulierbar gemacht werden. Von hier aus wäre es dem Sprecher bzw. der Sprecherin der Lingua ignota möglich, unabhängig von seinem relativen nationalsprachlichen Ausgangspunkt her in den schöpfungstheologisch reinen, überall identischen Sinnkern der Wörter einzudringen, sich von ihnen prägen zu lassen und sie im sprachlichen Geschehen weiterzuvermitteln. In diesem Verständnis hätte Hildegard also keine Universal-, sondern eine (offenbarungsgeschichtlich inspirierte) Realsprache geschaffen. Die Lingua ignota hätte, aus der Sicht ihrer Autorin betrachtet, einen sprachtheologischen Überbau. Auf eine ähnliche Intention, wie sie sich aus der Theorie von der paradiesischen Ursprache heraus ergab, könnte, zumindest was die biblische Verankerung von Hildegards Sprachauffassung anbetrifft, auch die Bezeichnung des Werkes als Lingua ignota hindeuten. Der auf Hildegard selbst zurückgehende Name ist vermutlich aus der Berufungsgeschichte des Propheten Ezechiel gewonnen (Ez 3,5 f.). Dort wird geschildert, wie Gott seinen Propheten auffordert, eine Buchrolle mit der Aufschrift „Klage und Seufzen und Weh" zu essen. Nachdem dies geschehen ist, wird Ezechiel zum Hause Israel entsendet. Dieses spricht, so die Botschaft Gottes an Ezechiel, keine unbekannte Sprache („lingua ignota"), sondern die gleiche Sprache wie Ezechiel selbst. Es ist also in der Lage (paraphrasierend ausgedrückt), die Botschaft des Propheten akustisch zu vernehmen und semantisch zu verstehen, auch wenn es aufgrund seiner Verstocktheit nicht darauf hören wird. Immerhin würde Hildegards Sprache sich, wenn die Anknüpfung an Ezechiel zuträfe, ganz bewußt in die Tradition alttestamentarisch geprägter prophetischer Rede stellen, ein Phänomen, das ja auch diese

-

auf die Visionsschriften zutrifft.1 Die bereits angeschnittene Frage, inwieweit diese Sprache eher eine geschriebene oder eine gesprochene war, läßt sich zur Zeit nicht abschließend beantworten. Der auffällige Mangel an schriftlich überlieferten Zeugen könnte aber als Hinweis darauf gedeutet werden, daß die Lingua ignota stärker in Form mündlicher Rede praktiziert wurde. Die oben erwähnte Hervorhebung des sonanten Charakters dieser Sprache durch Hildegard selbst kann diese Annahme weiter erhärten. Sollte sie zutreffen, so wäre ein Zugang zur Lingua ignota auch von Seiten der Phonetik her zu suchen. Wendet man sich dem Inhalt der Lingua ignota zu, so ist die Frage zu stellen, welche Funktion diese Schrift für einen konkreten Rezipienten/innenkreis

1

Sprache der Welt bzw. nach dem göttlichen Ursprung der Sprache beschäftigte im übrigen noch die Sprachforschung des 19. Jahrhunderts. Vgl. Gaugengigl 1846. Diese These gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Hildegard auch ihren Berufungsbericht im Scivias nach dem Vorbild Ezechiels gestaltet

hat.

Kapitel 6

274

besaß. Hier fällt auf, daß die Kunstwörter selbst keineswegs ausschließlich Themen der Heilsgeschichte oder der Kirche oder auch nur vorrangig bezeichnen. Viele dieser Wörter sind ganz konkreten Gegenständen aus Hildegards unmittelbarem Lebensraum gewidmet. Vom Inhalt her weist die Lingua ignota sogar eine sehr viel größere Nähe zu den heil- und naturkundlichen Schriften Hildegards auf als zu den visionären Werken. Ein großer Teil des Wortbestandes ist, wie oben ausgeführt, bis auf die Reihenfolge hin identisch mit bestimmten Partien aus dem LSM (De arboribus). Daß die Lingua ignota auf der anderen Seite aber keine bloße Fortführung, Erläuterung oder Umschreibung des LSM darstellt, darauf weist etwa das Fehlen entsprechender Wörter zu den Quadrupeden und den Fischen hin. Die denkbare Alternative, der Text sei nur fragmentarisch überliefert worden und die fehlenden Teile seien in einem kompletteren Textzeugen abgehandelt, der verschollen ist, läßt sich nicht belegen. Der Wortbestand der Lingua ignota ist nicht alphabetisch geordnet, sondern nach sachlichen Klassen eingeteilt. Diese Einteilung ist in den beiden Textzeugen eine unterschiedliche. Während im Berliner Textzeugen durch farbig gestaltete Initialen insgesamt 16 Sachgruppen entstehen, lassen sich im Riesencodex lediglich sechs, durch das gleiche Merkmal voneinander abgehobene Gruppen unterscheiden. Dabei bleibt festzuhalten, daß der Textbestand und die Wortfolge bis auf wenige erklärbare Ausnahmen in beiden Textzeugen übereinstimmen. Die Berliner Handschrift beinhaltet demgemäß lediglich eine graphisch stärker strukturierte Variante des Textes, keine Alternativfassung. Elias Steinmeyer hat die deutschen Glossen der Lingua ignota, zusammen mit den Glossae Herradinae, zu Recht unter dem Oberbegriff Gruppenglossare subsummiert. Nach Kurt Gärtner können die Sachgruppen in zehn Abteilungen eingeteilt werden:1 I. (Wörter 1-57): Gott und Mensch II. (Wörter 58-188): Körperteile und Krankheiten III. (Wörter 189-218): Kirche (Personen und Kirchengebäude) IV. (Wörter 219-340): Kultgegenstände und Gewänder V. (Wörter 341-446): Welt (Stände und Berufe)

-

-

-

VI. VII.

VIII. IX. X.

1

-

(Wörter 447-487): Zeitbezeichnungen (Wörter 483-750): Gegenstände des täglichen Lebens (Bekleidung [Gegenstände und Materialien], Geräte und Werkzeuge, Skriptorium, Weberei, Schneiderei, Waffenkammer, Schusterwerkstatt, Kellerei, Wirtund Küche). Wörter 751-815): Bäume (in dem LSM, (aus (aus dem LSM, Wörter 816-935): Pflanzen (aus dem LSM, Wörter 936-1011): Vögel.

schaftsgebäude

Gärtner 1998a, S. 6.

aiphabet. Reihenfolge)

Die

Sprachschriften

275

Aus dieser Anordnung ergeben sich erste Informationen zum gattungsspezifischen Charakter und zu den literarischen Vorbildern von Hildegards Text. Wilhelm Grimm, der mit einem bereits zitierten, 1848 veröffentlichten Beitrag über die Lingua ignota zum Pionier dieses Bereiches der Hildegard-Forschung avancierte, konnte die Textsorte und die maßgebliche Quelle für Hildegards Werk identifizieren. „Aus dieser Übersicht des inhalts ergiebt sich", so Grimm, „dass die glossen nach der weise der etymologien Isidors geordnet sind, welche auch den Trierer glossen zum Vorbild gedient haben."1 Demnach gehört Hildegards Lingua ignota zur Gattung der mittelalterlichen Sachwörterbücher, deren bekanntestes und am weitesten verbreitetes Beispiel eben die Etymologiae des Isidor von Sevilla (560-633) war. Allerdings basiert Hildegards Text nicht auf den Etymologiae direkt, sondern auf einem vergleichbaren Werk aus späterer Zeit. Unmittelbarer Einflußgeber war das umfangreichste Glossenwerk des deutschen Mittelalters, das vor 1101 im mittelrheinischen Gebiet (Worms?) kompilierte Glossarium Heinrici.2 Bereits Elias Steinmeyer hatte die Hildegard-Glossen und die Glossae Herradinae in einen sehr engen Zusammenhang zum Summarium Heinrici gebracht. Steinmeyer konnte aber die Quellenabhängigkeit der Lingua ignota vom Summarium noch nicht unmittelbar nachweisen. Erst Herbert Thoma bemerkte 1958 den bedeutenden Stellenwert, den das Summarium Heinrici für die Entstehung der Lingua ignota besitzt: „Der Einfluß des Summariums macht sich in manchen Sammlungen geltend, so in den (elsässischen ?) Glossen zum Hortus deliciarum der Herrad von Hohenburg aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts. Hildegard von Bingen (f 1179) hat das sachlich geordnete Wortverzeichnis ihrer für die Verständigung der Nonnen untereinander erfundenen Geheimsprache lat. und meist auch deutsch glossiert."3 Der Hinweis auf die Glossen zum Hortus deliciarum ist nicht ohne Interesse. Immerhin war auch Herrad Leiterin eines Klosters, auch der Hortus war für den internen Klostergebrauch geschaffen, auch er besaß keine Parallelhandschrift. Außerdem wissen wir, daß der Hortus deliciarum ca. 1250 deutsche Glossen enthält, von denen etwa die Hälfte aus dem Summarium Heinrici geschöpft ist.4 Damit bestätigt sich zumindest annäherungsweise die Beobachtung Wilhelm Grimms, daß Hildegards deutsche Glossen nicht die Sprachstufe der Mitte des 12. Jahrhunderts repräsentieren: sie sind mindestens hundert muß älter, die aus sie einem schon vorhandenen glossar jähr klosterjungfrau geradezu abgeschrieben haben."5 Neben Isidor verarbeitet das Summarium vor „...

1 2 3

4 5

Grimm 1848, S. 336. Vgl. hierzu Hildebrandt 1995. Thoma 1958, S. 585b. Auch Bergmann 1975, S. 118, Fußn. 123, äußerte sich nicht viel konkreter über eine Abhängigkeit der Hildegardglossen vom Summarium Heinrici: „Da eine eingehende Untersuchung der Glossae Hildegardis fehlt, kann die Vermutung der Benutzung des Summarium Heinrici nur auf einen flüchtigen Vergleich der lateinischen Lemmata in der Umgebung von rusticus gestützt werden..." Vgl. Curschmann 1979, I (Kommentar), S. 63-82 (insbesondere S. 65f.). Grimm 1848, S. 339.

Kapitel 6

276

allem Einflüsse Priscians (Institutiones grammaticae), Bedas (Liber de Schematibus et Tropis), Cassiodors (Expositio psalmorum), und Guidos von Arezzo (Micrologus). Diese Autoren sind damit auch wenigstens vermittelt in die Lingua ignota eingeflossen. Wie bekannt, ist das Summarium Heinrici in zwei verschiedenen Fassungen überliefert. Die Vollform besteht aus 11 Büchern. Während Buch I bis X ein enzyklopädisches Kompendium der Wissensvermittlung des 12. Jahrhunderts darstellt (onomasiologisch), bildet Buch XI ein alphabetisch geordnetes Lexikon aus hebräischen, griechischen (beide in lateinischer Umschrift) und lateinischen Stichwörtern (semasiologisch). Die Kurzfassung des Summarium Heinrici besteht aus sechs Büchern.1 Abgesehen von Buch I und weiten Teilen von Buch II ist das Summarium Heinrici mit insgesamt mehr als 4.000 deutschen Glossen durchsetzt. Diese deutschen Glossen, insbesondere jene in Band XI, wurden auch allein, das heißt ohne die zugrundeliegenden lateinischen Basiswörter, als Interpretamente der bezeichneten Dinge verwendet. Sie dienten ganz eindeutig dem Zweck der Bezeichnung von Realien. Den Forschungen Reiner Hildebrandts zufolge hat Hildegard als Ausgangstext für die Herstellung der Lingua ignota die aus sechs Büchern bestehende Kurzfassung des Summarium Heinrici verwendet. Die primäre Langfassung wurde nur in einigen Fällen ergänzend hinzugezogen.2 Diese Kurzfassung, die sehr bald nach Fertigstellung der Langfassung entstand, zeichnet sich dadurch aus, daß sie den lateinischen Grundtext zugunsten der deutschen Glossen zurückdrängt. Außerdem wurden Buch I (De grammatica) ganz und Buch II (De variis dogmatibus) fast vollständig ausgelassen. Auch das letzte Kapitel von Buch X der Langfassung, das über die Medizin und die Krankheiten des Menschen handelt (De libris et instrumentis medicorum), fehlt in der Kurzfassung. Wie angedeutet, hatte bereits Wilhelm Grimm auf die Tatsache einer Beeinflussung der Lingua ignota durch ein Glossenwerk des deutschen Mittelalters hingewiesen. Grimm sprach allerdings recht ungenau lediglich von ,,einige[m] Zusammenhang mit den Trierer glossen" ? Die von ihm genannten Trierer Glossen lassen sich nun mit der Handschrift C des Summarium Heinrici identifizieren. Es ist dies die Handschrift Trier, StB, Hs 1124/2058 8°, ein aus dem 12. Jahrhundert stammender, in Trier-St. Eucharius hergestellter fragmentarischer Textzeuge der vollständigen Fassung des Summarium Heinrici.4 Auch -

-

1

Beide Fassungen sind ediert: Summarium Heinrici 1974/1982. Hier sei der Hinweis erlaubt, daß in diesem Zusammenhang naturgemäß keine intensive Auseinandersetzung mit den Forschungen zum Summarium Heinrici erfolgen kann. Vgl. jüngst auch -

2

3 4

Meineke 1995. Hildebrandt 1996, S. 90. Grimm 1848, S. 336. Beschreibung in Summarium Heinrici 1974/1982, I, S. XXXVII, und II, S. XXXIX. Demnach enthalten die Blätter lr-74v und 78rv das Summarium, allerdings ohne das Buch I. Statt dessen wird Buch II-XI als Buch I-X gezählt. Auf f. 20v erscheint ein fremder Text mit dem Incipit: „Certissimum remedium ad caducum morbum..." Die

Zuweisung

nach Trier-St. Eucharius (St.

Matthias) geht

aus

einem Provenienzver-

277 Sprachschriften wenn nicht nachgewiesen werden kann, daß Hildegard die Trierer Handschrift direkt benutzt hat, so ist doch keinesfalls auszuschließen, daß es auf dem

Die

Rupertsberg eine diesem Textzeugen ähnliche Abschrift gab, die Hildegard exzerpieren konnte. Die Verwendung des Summarium Heinrici wirft ein helles Licht auf die konkrete Funktion der Lingua ignota. Das Summarium Heinrici gilt als das allgemein gängige Kompendium des Standardwissens vom 11. bis zum H.Jahrhundert. Vermutlich war es auch das wichtigste Lehrbuch für den Elementarunter-

richt in den Klosterschulen. Von seinem Aufbau her ist das Summarium kein sachlich geordnetes Glossar, Vokabular oder Lexikon. Vielmehr stellt es eine enzyklopädische Zusammenstellung oder Summe des Schulwissens der Zeit dar. Die darin befindlichen deutschen Glossen sind eine recht willkürlich, einmal stärker, einmal schwächer hinzutretende Zugabe. Einflüsse des Summarium Heinrici lassen sich im 12. Jahrhundert, wie erwähnt, auch im Hortus deliciarum Herrads von Hohenburg ausmachen, ebenfalls ein Werk mit stark naturkundlich-realer Ausrichtung. Reiner Hildebrandt hat den Aufbau und den Inhalt der Lingua ignota und des Summarium detailliert miteinander verglichen.1 Aus diesem Vergleich geht hervor, daß Hildegard trotz vielfacher Umgruppierungen, Bearbeitungen und Straffungen ca. 180 Glossen des Summarium Heinrici einfach übernimmt. In einer anderen Untersuchung hat Hildebrandt dargelegt, daß die Übereinstimmung zwischen den lateinischen und deutschen Wörtern der Lingua ignota und dem Summarium Heinrici bei 95% liegt.2 Lediglich 5% des Wortbestandes der Lingua ignota geht über das Summarium hinaus. Konkret hat Hildegard die Sechs-Bücher-Fassung des Summarium verkürzend umgearbeitet und einer neuen sachlichen Ordnung unterworfen. Lediglich Buch I des Summarium, das unter dem Generalthema Gott und Mensch steht, wurde von ihr nicht verändert. Hier kommen nur inhaltliche Umgruppierungen sowie ein selbständig zusammengestellter Katalog liturgischer Bücher hinzu (AhdGl 394,95-395,6). Es folgt Hildegards eigentliches Hauptthema, die menschliche Lebenswelt (AhdGl 395,7-401,17). Diese Wörter beginnen mit der Zeiteinteilung und gehen dann auf sehr naheliegende Bereiche des klösterlichen Lebens über: Kleidung, Gebrauchsgegenstände in Haus, Hof und Stall, Waffen, Kelterei, Gebäudeteile und Einrichtungsgegenstände, Gefäße, Essen und Trinken. Darin eingestreut sind ausführliche Abschnitte über die Utensilien der Schreibstube (AhdGl 398,23-46) und der Lederwerkstatt (AhdGl 399,63-400,2). Den Abschluß bilden vier Teile über Bäume, Pflanzen und Vögel. Von Hildegard nicht übernommen aus dem Summarium Heinrici sind die entsprechenden Abschnitte über die Bodentiere, Fische und Würmer, über Himmel, Erde, Länmerk hervor, der sich in einem mittlerweile entfernten Vorsatzblatt der Handschrift fand („Codex monasterii Sancti Mathie extra muros Treverens."). Vgl. auch Becker 1

2

1996, S. 120 Nr. 65. Hildebrandt 1996, S. 91-107. Hildebrandt 1997.

Kapitel 6 der und Berge, ferner über Städte, Wege und Steine sowie schließlich über Musikinstrumente, Spiele, Schiffe und Fischerei. 278

Da die Lingua ignota zu ganz wesentlichen Teilen auf dem Summarium Heinrici basiert, wird deutlich, daß dieser Text selbst in der Tradition der monastischen Wissensvermittlung steht, die im Bereich der klösterlichen Realienkunde eine ganz konkrete Anwendungsfunktion besaß. Damit ist endgültig erwiesen, daß die Lingua ignota keine Geheimsprache (lingua secreta) darstellt, wie diese auch zu Zeiten Hildegards schon in den Bereichen von Diplomatie, Hofkultur und päpstlicher Kurie sowie in verschiedenen monastischen Zirkeln der Cluniazenser und Zisterzienser entwickelt waren. Die Lingua ignota war vielmehr angelegt zur Verwendung in einem dialogischen, didaktischen Konob sie tatsächlich gesprotext. Sie war lernbar und vermutlich auch sprechbar chen wurde, steht auf einem ganz anderen Blatt. Allerdings erschließt sich ihr Verständnis nicht von allein, sondern nur im Hinblick auf ihre Funktion als zu glossierende Primärsprache. Dies bedeutet, daß die Interlinearglossen immer mitgelesen oder mitgedacht werden mußten, um den Wortsinn der unbekannten Wörter verstehen zu können. Die Verwendung der Lingua ignota im Sinne eines monastischen Gebrauchstextes läßt sich nun durch einen Blick auf die Uberlieferungssituation bestens bestätigen. Die beiden vorliegenden Textzeugen sind in klösterlichen Skriptorien entstanden, außermonastische Textzeugen der Lingua ignota finden sich nicht. Auch Hinweise auf diese Texte aus nicht-monastischen Kreisen fehlen vollständig. So wird man davon ausgehen dürfen, daß die äußerst schmale Überlieferung der Lingua ignota mit ihrer spezifischen Gebrauchsfunktion zusammenhängt. Die Nomenklatur der Wortliste war für ein nicht-klösterliches -

Publikum offensichtlich

bedeutungslos oder nicht verständlich. Zum Abschluß meiner Darlegungen zur Lingua ignota ist noch eine Wort über die beiden erhalten Textzeugen nachzureichen. Hier verdient die Tatsache Erwähnung, daß die Berliner Handschrift Ms lat. qu. 674 den Text in einer, man möchte fast sagen, kalligraphisch anmutenden Gestalt präsentiert. Im Riesencodex dagegen spielen diese ästhetischen Gesichtspunkte keine Rolle. Er bietet den Text in einer nüchternen und reduzierForm. Der erste Schreiber der Berliner Handschrift, der die folia lr-62r (Vita, Briefe, Litterae ignotae, Lingua ignota) geschrieben hat, ist identisch mit

ten

dem Schreiber des berühmten Lucca-Codex, der illuminierten, zehn ganzseitige Miniaturen umfassenden Prachtausgabe des Liber divinorum operum (Lucca, Biblioteca Statale, Ms 1942). Marianna Schräder und Adelgundis Führkötter vermuten, sicherlich aus gutem Grund (Propaganda/Heiligsprechung), daß beide Codices, sowohl der Lucca-Codex als auch die Berliner Handschrift der Lingua ignota, auf dem Rupertsberg entstanden sind.1 Aus der Identität der Schreiberhand wiederum ergeben sich Anhaltspunkte für die Datierung des 1

Schrader/Führkötter 1956, S. 80.

Die

SprachSchriften

279

Textzeugen. Er muß um 1220, möglicherweise wie der Lucca-Codex (Bibl. Statale, Ms 1942) im Hinblick auf das eröffnete oder geplante Heiligsprechungsverfahren Hildegards entstanden sein. Der Codex trägt einen frühen, aus dem 13. Jahrhundert stammenden Besitzeintrag des Kanonikerstifts St. Ma-

Berliner

-

-

ria in Pfalzel bei Trier. Daß er, entgegen der Ansicht Schraders/Führkötters auch dort entstanden ist, kann zwar nicht völlig ausgeschlossen werden, es ist aber wenig wahrscheinlich. Schließlich würde dies mit großer Wahrscheinlichkeit bedeuten, daß auch der Lucca-Codex dort entstanden wäre. Die Annahme, daß ein künstlerisch so hochstehender Codex in einer Abtei hergestellt worden ist, deren Skriptorium ansonsten keine vergleichbaren Produkte vorzuweisen hat, vermag nicht zu überzeugen. Einen Hinweis auf die Entstehung des Berliner Textzeugen Ms lat. qu. 674 könnte ein Schaubild geben, das sich unmittelbar vor den Litterae ignotae bzw. der auf dem gleichen folio 58r der Handschrift beginnenden Lingua ignota findet.1 Auf f. 57v erscheint in kreuzförmiger Anordnung ein aus den Großbuchstaben A P H (horizontal) und KPD (vertikal bei zentraler Mittelstellung von P) und 18 beigefügten Wörtern bestehendes Figurengedicht mit Akrostichon. Die beigefügten Wörter lauten: altare

spiteri

habet, ascende pupille hauriendo. alas presbiter habet, kirio predeest. kristum primum derisit. kristo plangitur de crimine.2

poculum

Monika Klaes zufolge stammt das Figurengedicht von einer ins 13. Jahrhundert gehörenden Hand (Hand 1 des Codex), die auch f. 1-62 sowie 103-116 geschrieben hat.3 Diese Hand ist die gleiche, die den illuminierten Lucca-Codex mit dem Liber divinorum operum geschrieben hat. Ob das Figurengedicht in einer inhaltlichen Beziehung zu den beiden Sprachschriften steht, muß offenbleiben. Andererseits findet sich ein anderer, ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammender Textzeuge der Litterae ignotae, die Florentiner Handschrift Biblioteca Medicea Laurenziana, Ms Plut. 22, dex. 4 (f. 145r), in der das gleiche Figurengedicht erscheint.4 Es stammt von derselben Hand, die auch die Litterae ignotae eingetragen hat. Hier ist es nicht vor den Litterae ignotae plaziert, sondern unmittelbar dahinter, und die Lingua ignota fehlen ganz; dennoch verblüfft die Parallelität der Anordnung. Fragt man nach Inhalt, Herkunft und Funktion des Akrostichons, so gilt, daß es auf einen Wunderbericht zurückgeht, der in der Vita Hildegardis steht. In Buch III, Cap. 16 der Vita wird von einem Priester erzählt, der bei anbrechen1

Ebenfalls nicht aufgeführt bei Walther Nicht verzeichnet bei Ernst 1991. 1963/1967 und Walther 1982/1986. Das Gedicht wurde bereits von Degering 1917, S. 16, bemerkt und beschrieben, allerdings ohne jeglichen Deutungsversuch. -

2

Hildegardis 1993,

S. 166*.

3

Vita

4

Monika Klaes erwähnt in Klaes 1993, S. 166* (mit Abbildung 11) gen B, nicht den Textzeugen der Florentiner Handschrift.

nur

den Textzeu-

Kapitel 6

280

der Nacht in Begleitung eines Schülers die Kirche betritt, um das Licht anzuzünden. Die Vita nennt als Ort des Geschehens „Ruodenesheim" (Rüdesheim ?), angeblich „in Sueuia" gelegen. Plötzlich erblickt der Priester über dem Altar zwei hell leuchtende Kerzen, obwohl der Schüler beteuert, er habe die Kerzen zuvor gelöscht. Gleichzeitig findet der Geistliche das Altartuch ausgebreitet wie zum Feiern der Messe. Völlig konsterniert stürzt der Schüler zu Boden und ruft „Gladius domini occidit nos!"1 Dann teilt er dem Priester mit, nur wenn sie die Buchstaben auf dem Altartuch sehen würden, blieben sie vor dem Tode verschont. Der Priester entdeckt daraufhin die fünf in Kreuzesform angeordneten Buchstaben, und zwar genau an der Stelle, an der üblicherweise das heilige Opfer dargebracht wird. Nach sieben Tagen, so geht die Erzählung weiter, verschwanden die Buchstaben wieder. Niemand habe dem Priester den Sinn dieses Rätsels enthüllen können. Erst 16 Jahre später, als der Ruf der erleuchteten Jungfrau Hildegard sich über die ganze Welt ausgebreitet hatte, sei dem Priester die Aufklärung zuteil geworden. Der Priester habe Hildegard besucht und Hildegard selbst habe ihm die Lösung offenbart. Wie einst der Prophet Daniel (Dan 5,25-28) das Menetekel an der Wand auslegte, so nunmehr Hildegard die Buchstaben auf dem Altartuch. Hildegard erweist sich damit als berufene Exegetin einer prophetischen Botschaft. „K. kirium, P. presbyter, D. derisit, A. ascendat, P. penitens, H. homo"2 („Den Herrn hat der Priester verspottet, er stehe auf als reuiger Mensch"). Daraufhin sei der Priester von Furcht ergriffen worden, und sein Gewissen habe ihn der Sünde angeklagt. Er habe sich gebessert, sei Mönch geworden und habe als solcher versucht, die Nachlässigkeiten seines früheren Lebens wiedergutzumachen. In der Tat sei er zu einem höheren Dasein emporgestiegen und habe sich als ein vollkommener Diener im heiligen klösterlichen Wandel erwiesen. Diese Erzählung kann bei aller Naivität, die sie auszeichnet doch in zweierlei Hinsicht einen Anhaltspunkt zur Funktionsbestimmung der unmittelbar folgenden Sprachschriften geben: Erstens bestätigt sie den oben getroffenen Befund, daß Hildegard bzw. ihre frühesten Biographen den monastischen Stand höher schätzten als jeden anderen. Die einzige ,Sünde' des Geistlichen, von der berichtet wird, bestand ja darin, daß er kein Mönch war. Eine Besseund seines wird erst durch die Konvertierung zu diesem Lebens rung Heiligung Stande ermöglicht. Zweitens ist die auf Hildegard oder ihre unmittelbare Umgebung zurückgehende Deutung des Bildgedichts bereits sehr früh weiterentwikkelt worden. Geht man davon aus, daß die Vita Hildegardis spätestens 1188 abgeschlossen war, so ergibt sich, daß, sofern nicht von vornherein parallele Deutungen der Buchstabenfolge vorhanden waren, schon im Verlaufe des 13. Jahrhunderts eine theologische Ausweitung des originalen Hildegard-Teiles stattgefunden hat. Die ursprünglich vorhandenen sechs Hildegard-Wörter in -

1 2

Hildegardis 1993, S. 54 2. Hildegardis 1993, S. 54 34F. Der Wordaut des Akrostichons jenem in den genannten Textzeugen der Lingua ignota ab. Vita Vita

-

weicht also

von

Die

Sprachschriften

281

wurden in den Berliner und Florentiner Textzeugen der 18 Wörter ausgeweitet. Von welchen Kreisen nunmehr Litterae ignotae auf diese produktive Fortführung ausging, ob sie möglicherweise typisch war für eine stiftische Klerikergemeinschaft, wie sie im Kloster Pfalzel lebte, all dies muß im Zusammenhang unserer Fragestellung unbeantwortet bleiben. Auf jeden Fall sollte aber dieser Aspekt künftig mit in die Datierung und Lokalisierung des Berliner Textzeugen Ms lat. qu. 674 der Lingua ignota sowie der beiden Textzeugen Berlin Ms lat. qu. 674 und Florenz Cod. S. Crucis, Plut. 22, dex. 4 der Litterae ignotae einbezogen werden. der Vita

Hildegardis

ignotae Ausführungen zur Uberlieferungsgeschichte der Litterae ignotae können auf sich einige grundlegende Sachverhalte beschränken. Eine schöpfungstheologische Herleitung der Litterae ignotae im Sinne der oben beschriebenen, für die Lingua ignota anzunehmenden Adam-Hildegard-Typologie dürfte kaum in Frage kommen: Adam hat sich nicht schriftlich geäußert. Wirkungsgeschichtlich betrachtet fällt dieses Werk Hildegards noch hinter die Lingua ignota zurück. Eine konkrete Verwendung der unbekannten Buchstaben hat sich, mit Ausnahme des oben besprochenen Briefes an die Zwiefaltener Mönche (Stuttgart, WLB, Cod. theol. et phil. 4° 253, f. 75v 5) und einer im 6.2.2. Die Litterae

Die

Codex enthaltenen Marginalie nirgendwo ermitteln lassen. Ob ein von Bernhard Bischoff erwähnter, aus dem 12. Jahrhundert stammender, in einem kryptischen Alphabet geschriebener Codex der Mönche von Villers (heute ÖNB Wien, Cod. 1134) Hildegards Zeichensystem verwendet oder modifiziert hat, bliebe zu untersuchen.1 Dieser Codex, eine Handschrift von 89 folia Umfang, enthält in einer zweifachen Geheimschrift, einem Minuskel- und einem Majuskelalphabet, ein komplettes Lektionar sowie einen von anderer Hand stammenden Anhang mit heilkundlichen Texten.2 Letztere weisen volkssprachliche Wörter auf. Die Formen beider Alphabete variieren hauptsächlich die Capitalisbzw. die Minuskelformen. Es ist bekannt, daß Hildegard über Wibert von Gembloux mit den Villarenser Mönchen in Kontakt stand. Diese wiederum bezeugten ihre Verehrung für Hildegard, indem sie den Liber vitae meritorum noch zu Lebzeiten der Meisterin in ihrem Kloster vorlasen. Außerdem verfaßten sie nach Hildegards Tod einen respektvollen Brief an die Rupertsberger Nonnen, in dem sie ihre Trauer über das Ableben Hildegards zum Ausdruck brachten. Weshalb die Villarenser Mönche ausgerechnet einen so bekannten Text wie den eines Lektionars in einem geheimnisvollen Buchstabensystem niederschrieben, bleibt allerdings rätselhaft. Hier steht die für die öffentliche Liturgie bestimmte Textsorte des Lektionars geradezu in einem diametralen Gegensatz zur Funktion des Alphabets als einer Geheimschrift. 1 2

Bischoff 1954, S. 10. bei Denis

Abbildung bei.

1795/1800, Sp.

3060-3064. Die Handschrift ist nicht erwähnt

Kapitel 6

282

Grundsätzlich gilt, daß die Litterae ignotae in zwei der vier erhaltenen Textzeugen als feste Überlieferungseinheit mit der Lingua ignota tradiert wurden. Dieser Sachverhalt trifft auf die Berliner Handschrift und auf den Riesencodex zu, vermutlich auch auf den verschollenen Textzeugen Wien Ms 721, eine Abschrift des Riesencodex. Andere Überlieferungswege beschritten die beiden Textzeugen Florenz, Cod. S. Crucis, Plut. 22 dex. 4 und Wien, Cod. 1016. Dort erscheinen die Litterae ignotae ohne die beigefügte (vorausgehende oder nachfolgende) Lingua ignota. Allerdings handelt es sich bei diesen Textzeugen auch nicht um planvoll angelegte Niederschriften der Litterae ignotae. Beide sind später hinzugekommene Anhänge zu Texten Hildegards. Sie geben ihren sekundären Status schon durch die mangelnde Sorgfalt im paläographischen Duktus und im Layout der Textgestalt deutlich zu erkennen. Was für den zeitlichen Aspekt der Rezeption der Lingua ignota gilt, gilt auch für jenen der Litterae ignotae. Sie beschränkt sich ganz auf das 12. (Riesencodex; Berlin, StBPrK, Ms lat. qu. 674; Wien, Hofbibliothek, Ms 721; Wien, ONB, Cod. 1016) und 13. Jahrhundert (Florenz). Damit besitzt die Rezeption eine relativ große Autorennähe. Diese Nähe zur Autorin darf wohl nicht nur in einem chronologischen, sie muß auch in einem überlieferungsgeschichtlich-kausalen Sinne verstanden werden. Die Texte waren offensichtlich nur im direkten Umfeld Hildegards vermittelbar. Sämtliche Abschriften sind (vermutlich) in Skriptorien entstanden, die eine besonders intensive Verbindung zu Hildegard bzw. zum Rupertsberger Konvent aufweisen. Es sind dies: das Rupertsberger Skriptorium selbst (Riesencodex; Wien Cod. 1016; Wien, Ms 721) und das Skriptorium von Trier-St. Eucharius (Berlin, Ms lat. qu. 674). Die Entstehungsprovenienz des Florentiner Textzeugen ist unbekannt; wendet man das hier dargestellte Prinzip der Autorennähe konsequent an, so steht aber immerhin zu erwarten, daß auch er in einem Hildegard nahestehenden Skriptorium entstanden ist.

Wien, Cod.

1016

[theol. 382]

Einen besonderen Hinweis verdient der Textzeuge Wien, Cod. 1016 [theol. 382], f. 119r. Dieser Textzeuge ist von der Forschung zumindest hinsichtlich der Litterae ignotae bislang übersehen worden. Die Litterae ignotae erscheinen dort innerhalb eines Textanhanges (f. 116r-121r), dessen Entstehung Otto Mazal noch in die Lebzeiten Hildegards verweist.1 Der Anhang enthält folgende Texte : f. 116r: einen als Brief Hildegards überlieferten Text mit dem Incipit „Primus sonus ita permansit" (Ep. 374 der Ausgabe Van Ackers) und das Carmen „Möns superat saltus, valles supereminet altus". Dieses Carmen ist ansonsten nur noch in der Zwiefaltener Briefhandschrift überliefert (Stuttgart, LB, Cod. theol. et phil. 4° 253, f. 93v). Es wird in beiden Handschriften ausdrücklich Hildegard -

-

zugeschrieben ; 1

Mazal 1981, S. 295.

Die

SprachSchriften

283

f. 116v-117v mit Fortsetzung auf f. 120r-121r 8: den Brief „Ad clericos sacerdotalis officii Hildigardis (Ep. 170r; Pitra, S. 337-339); f. 118r ein sonst nicht belegtes Stück mit der Uberschrift „Hildigart" und dem Incipit „Qui homini dedit cibum". Dieser Text stellt vermutlich eine Art Beschwörungsformel dar, wie solche auch sonst innerhalb dieser Handschrift erscheinen. Der komplette Text lautet:

Qui homini dedit cibum in paradiso propter floriditatem Vitalis corporis quod bona perficeret, auferat de te hunc dolorem fatigationis huius, et idem qui post inobedientiam homini dedit vestimentum propter confusionem male facti operis, abstrahat a te hunc iudicialem dolorem tuum, et idem qui post periculum facti operis humani generis homini dedit effusionem preciosi sanguinis in redemptionem perditi hominis, ipse te liberet de hoc contrario dolore per sanctissimam humanitatem illam que in occulto latere virginis edificata est; f. 118v-119r: zwei neumierte Lieder: Kyrie eleison und O uirga mediatrix; f. 119r: Die Litterae ignotae auf einem rasierten Liniensystem, das eine neumierte Fassung des Kyrie eleison enthielt, sowie zwei untereinander stehende Absätze, von denen der erste die Fortsetzung des zweiten bildet. Dabei handelt es sich um eine in der Vita Hildegardis erwähnte, in einem Brief an Abt Geodulphus von Brauweiler anzitierte Beschwörungsformel, die Hildegard zur Heilung einer Besessenen (Sigewizza) nach Brauweiler schickte. Diese Beschwörungsformel ist in der Handschrift der StBPrK Berlin, Cod. lat. qu. 674, f. 21r an den Rändern von einer anderen als der regulären Schreiberhand eingetragen worden. Des weiteren finden sich zwei Zeilen mit einer Formel gegen Blutfluß, die auch in einem Brief an Sibylla von Lausanne (Ep. 338) und in der Vita Hildegardis verwendet wird. Van Acker vermutet in dieser Formel einen Text, den Hildegard bei einer Heimsuchung durch Krankheit auf sich selbst an-

wandte;1

Hildegards Brief an Bernhard von Clairvaux (Ep. 1) in der alten, ursprünglichen Redaktion (bricht ab auf f. 119v); f. 121v 5: Hildegards Brief Ad congregationem puellarum suarum (Ep. 192); f. 121v 6 mit Fortsetzung auf f. 118r: Hildegards Brief an Bischof Gunther von Speyer (Ep. 41 r); Der vorausgehende Hauptteil der Handschrift (f. lr-115v) enthält auf f. lr108v den Liber vitae meritorum sowie auf f. 108v-115v Hildegards Responsiones auf die 38 Fragen Wiberts und der Villarenser Mönche. Dieser Hauptteil fällt entstehungsgeschichtlich ins 13. Jahrhundert. Er ist möglicherweise in der Abtei f. 119rv:

Rommersdorf entstanden, zu deren Bibliotheksbestand des 13. Jahrhunderts gehörte.

1

Van Acker 1988, S. 162.

er

bereits

um

die Mitte

Kapitel 6 Was den Anhang (f. 116r-121r) anbetrifft, so unterscheidet Van Acker „wenig-

284

die auf Zwiefalten und den Rupertsberg" hindeuten.1 Sollzwei Hände der Zwiefaltener Bezug zutreffen, so wäre auch hier wieder an die Person des Zwiefaltener Abtes Berthold als des Initiators für die Niederschrift der Litterae ignotae zu denken. Möglicherweise versuchte man, in diesem Anhang Werke Hildegards zusammenzustellen, die überlieferungsgeschichtlich ansonsten nicht oder nur sehr schwach bezeugt waren, um sie dadurch für die Nachwelt zu retten. In diesem Fall wäre der Textzeuge Wien Cod. 1016 älter als der Textzeuge des Riesencodex, da die Wirksamkeit Bertholds auf dem Rupertsberg (zwischen 1152 und 1158) eine gute Weile vor der Entstehung des Riesencodex lag. Versuchen wir abschließend, die Litterae ignotae ein wenig näher zu beschreiben, um weitere Indizien für ihre eingeschränkte Überlieferung zu finden. Die Litterae ignotae bestehen aus 23 Buchstaben, die nach einem graphischen System gebildet sind, das noch nicht offenliegt. Nur im Riesencodex sind nicht 23, sondern insgesamt 25 solcher buchstabenähnlicher Gebilde verzeichnet. Der Grund hierfür liegt darin, daß im Anschluß an die eigentlichen Buchstaben zwei Formen für „et" und „est" angefügt sind, die auch schon als tironische Noten im Gebrauch waren.2 Diese beiden abschließenden Gebilde sind also keine neuen oder zusätzlichen Litterae ignotae, sondern Graphemkombinationen aus den zuvor bereits aufgeführten Buchstaben für e, s und t. Diese Praxis findet sich in keinem der anderen Textzeugen. Ob sie als Hinweis auf eine tatsächliche Anwendung der Litterae ignotae gewertet werden kann, steht dahin. Über den von Hildegard gebildeten Litterae ignotae erscheinen, im Sinne von Interlinearglossen, die jeweils entsprechenden lateinischen Buchstaben. Insgesamt fällt auf, daß die Zeichen für die Konsonanten j und v sowie für den Halbvokal w fehlen. Ob dies zu der Annahme berechtigt, die unbekannten Buchstaben seien nicht für die Transkription deutscher Wörter, in denen diese drei Buchstaben unverzichtbar sind, konzipiert worden, sondern für die Transkription lateinischer Wörter, bleibt mehr als fraglich. Immerhin sind j und v durch i und u ersetzt worden, und v und w gehen teilweise durcheinander. Hinzu kommt, daß uu für w verwendet wurde. Ferner gilt, daß auch in Handschriften mit deutschen Texten vor dem 15. Jahrhundert keine besonderen Zeichen für j und v vorkommen. Das w entstand erst Ende des 12. Jahrhunderts aus zwei v, die zusammenrücken. Die Frage nach dem konkreten Sinn und Zweck des Alphabets läßt sich nur sehr zurückhaltend beantworten. Es fehlen, ebenso wie für die Lingua ignota, ernstzunehmende Versuche, in die genetische und morphologische Struktur, aber auch in die typenbildenden Vorbilder dieses merkwürdigen Buchstabensystems, einzudringen. Bernhard Bischoff rechnet Hildegards Litterae ignotae daher zu den frei erdachten, willkürlich zusammengesetzten Zeichenalphabeten. stens te

1 2

Van Acker 1991, S.XLV.

Zur

Entwicklung und Verwendung der tironischen Noten vgl.

Hellmann 2000.

Die

Sprachschriften

285

vergleicht sie mit einem aus dem 9. Jahrhundert stammenden Kryptogramm, man am Hofe des nordwaliser Königs Mermin [Merfyn Frych] einsetzte, um den Scharfsinn durchziehender Scholaren zu erproben, „wie das gewiß im der Fall ist."1 Briefwechsel der hl. Hildegard Ob nun diese gesellig-spielerische Komponente tatsächlich auf die Litterae ignotae angewandt werden kann oder nicht, feststeht, daß dieses Werk Hildegards, ebenso wie die Lingua ignota, außerhalb des monastischen Bereichs keinerlei Uberlieferung entfaltet hat. Er

das

...

6.3

Zusammenfassung

Die beiden Sprachschriften der Lingua ignota und der Litterae ignotae wurden von Hildegard immer wieder gleichberechtigt neben die großen Visionswerke gestellt. Auch in den Kanonisationsakten werden die beiden Texte ausdrücklich erwähnt. Trotzdem fällt ihre Wirkungsgeschichte vergleichsweise schmal aus. Sämtliche erhaltenen Textzeugen stammen aus dem 12. und D.Jahrhundert, mithin aus einem autornahen Raum. Danach bricht die Überlieferung ab. Was die Erfindung der Lingua ignota anbetrifft, so könnte hierfür ein sprachtheologisches Motiv den Ausschlag gegeben haben. Es ist nicht undenkbar, daß Hildegard sich mit der Schaffung einer neuen Sprache in die Tradition Adams, des nach biblischer Auffassung ersten Sprachschöpfers, stellen wollte. Die ca. 1000, zum Teil deutsch-lateinisch glossierten Wörter sind inhaltlich und funktional sehr stark am Wortbestand des Glossarium Heinrici orientiert, eines Gruppenglossars, das gegen Ende des 11. oder Anfang des 12. Jahrhunderts im mittelrheinischen Raum entstanden ist. Dieser Text diente u. a. der klösterlichen Realienvermittlung, eine Funktion, die vermutlich auch auf die Lingua ignota zutrifft. Als Leithandschriften für die Editon der Lingua ignota müssen beide erhaltenen Textzeugen (der Riesencodex und der Berliner Codex Ms lat. qu. 674) gemeinsam berücksichtigt werden. Der Riesencodex bietet die ältere, autornähere Fassung, der Berliner Codex den größeren Bestand an deutschen Glossen (756 gegenüber 260). Vom Wortbestand her weist die Lingua ignota eine große Nähe zu den natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards, und hier insbesondere zu den botanischen Ausdrücken, auf. Die Litterae ignotae liegen in vier erhaltenen Textzeugen vor. Im Zuge meiner Forschungen neu entdeckt werden konnte der Textzeuge Wien, ÖNB, Cod. 1016. Dieser noch zu Lebzeiten Hildegards entstandene Textzeuge liefert vermutlich die älteste Fassung des Textes. Der Textzeuge des Riesencodex dagegen ist umfangreicher, da er neben den 23 üblichen Buchstaben noch die Zeichenkombinationen für „et" und „est" bietet.

1

Bischoff 1954, S. 26. Das irische Kryptogramm ist beschrieben ebd., S. 18, Nr. 148. Eine Edition auf der Grundlage der Brüsseler Handschrift Cod. 9565-9566 bringt Derolez 1952, S. 364f.

286

Kapitel 6

Auffällig ist, daß Johannes Trithemius entgegen seiner sonst so sorgfältigen Beschreibung von Hildegards Werken die beiden Sprachschriften ignoriert. Es ist dies ein deutliches Zeichen für die versiegende Rezeption dieser Werke außerhalb des näheren Umfeldes der Äbtissin.

KAPITEL 7

Das

naturkundlich-medizinische

Werk

Zwischen den visionären Schriften Hildegards inklusive des Epistolariums einerseits sowie den natur- und heilkundlichen Werken andererseits existiert überlieferungsgeschichtlich betrachtet eine tiefgreifende Zäsur.1 Während die erstgenannte Schriftengruppe in einer wahren Fülle von Textzeugen vorliegt, die

-

-

entstehungsgeschichtlich auf Hildegard und/oder das Rupertsberger Skriptorium zurückgeführt werden kann, lassen sich von den letztgenannten Werken keine in Hildegards Lebzeiten oder in ihr Hausskriptorium gehörenden Uberlieferungsträger ausfindig machen sofern nicht ein dem Riesencodex entsprechender zweiter (mittlerweile verschollener) Band postuliert wird, der die -

und heilkundlichen Schriften enthalten hätte. Die ältesten uns überlieferten vollständigen Textzeugen der natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards, die Kopenhagener Handschrift mit dem Liber compositae medicinae2 sowie die Florentiner und die Wolfenbütteler ITandschriften mit dem Liber simplicis medicinae3, datieren erst aus dem beginnenden 13. (LCM) bzw. endenden H.Jahrhundert (LSM). Die Erklärung für die merkwürdige Überlieferungssituation ist in der Hildegard-Forschung noch immer heftig umstritten, wirklich befriedigende Antworten sind bislang nicht gefunden.4 Immerhin ist es ein merkwürdiges Phänomen, daß die frühesten komplett erhaltenen Textzeugen der natur- und heilkundlichen Schriften sämtlich außerhalb des Rupertsberger Klosters und weit nach Hildegards Tode entstanden sind. Auch wenn es verlockend erscheint, diesen Sachverhalt auf eine niedrigere Wertschätzung der betreffenden Werke durch Hildegard selbst, ihren Konvent und die autornahe Rezeption des 12. und 13. Jahrhunderts zurückzuführen, so fehlen doch hierfür stichhaltige Belege. Auch eine entsprechende theoretische Grundlage auf Seiten der Autorin läßt sich hierfür nicht ausmachen. Ein Problem der Überlieferungsgeschichte muß nicht zugleich ein Problem der Entstehungsgeschichte von Texten sein.5 Im Gegenteil: Hildegard führt den Liber subtilitatum im Vorspann zum Liber vitae meritorum, der ihre bis 1163 entstandenen Werke benennt, ausdrücklich auf. Gleichzeitig legt sie dar, die Abfassung dieser Schrift sei durch eine Vision veranlaßt worden. Eine Bemerkung, durch die das naturkundliche natur-

1

2

3

Recht bezeichnet Moulinier 1995, S. 13, das natur- und heilkundliche Werk Hildegards als „la partie la plus problématique, tant du point de vue de leur contenu que de celui de leur forme ou de la transmission des manuscrits." Kopenhagen, KB, Cod. Ny kgl. 90b 2°. Florenz, Bibl. Med. Laurenziana, Cod. Ashb. 1323. Wolfenbüttel, HAB, Cod. 56, 2 Ganz

Aug.

4

5

zu



(olim 3591).

Vgl. Santos Paz 1996.

Anders Dronke 1984, S. 172.

-

Kapitel 7

288

Werk

zumindest aus der Sicht der Autorin auf die gleiche Bedeutungsebene gehoben wird wie das eigentlich visionäre. Auf der anderen Seite spitzt sich durch eine solche Zuordnung die Frage nach der literarischen Gattung dieses Schrifttums naturgemäß weiter zu. Eine Erklärung für die zeitlich verzögerte und quantitativ so zurückhaltende Überlieferung der unter Hildegards Namen überlieferten natur- und heilkundlichen Schriften könnte darin liegen, daß diese Schriften in wesentlich stärkerem Ausmaß auf die Konkurrenz etablierter Autoren und Texte stießen, als dies für die (päpstlich approbierten) visionären Werke galt. Macer und seine Quellen, Marbods Steinbuch und viele andere, zum Teil in deutscher Sprache vorliegenden Texte dieser Art tauchten Hildegards naturkundliches Werk offensichtlich in eine starke Gegenströmung, die nicht leicht zu überwinden war. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, daß dieses Werk im inneren Bereich der klösterlichen Lebenswelt eine hohe Wertschätzung besitzen mochte. Umgekehrt könnte es sein, daß durch die Schaffung von Überlieferungssynthesen der Schriften Hildegards mit den Werken der etablierten Autoritäten deren eigenes naturkundlich-medizinisches Opus gefördert wurde. Ordnet man das Fehlen einer autornahen Gesamtausgabe der natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards in den größeren Zusammenhang der Literaturgeschichte des 12./13. Jahrhunderts ein, so verliert dieser Sachverhalt allerdings an Gewicht. Man kann dieses Phänomen als eine zeittypische Erscheinung werten: auch andere vergleichbare Autoren haben keine Werkausgabe, schon gar nicht eine Werkausgabe letzter Hand, hinterlassen. Wo solche Autorsammlungen dennoch existieren, da spielen Fragen nach den darin enthaltenen Textsorten, Schriftengattungen und Sprachformen (Vers Prosa) eine zentralere Rolle als der Aspekt der Komplettheit des Werkes. Es kommt hinzu, daß die natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards nur in sehr geringem Ausmaß im Zusammenhang mit anderen Werken aus Hildegards Feder überliefert wurden. Klassische Miszellaneenhandschriften mit übergreifenden Textkombinationen (visionär-naturkundlich-musikalisch) sind selten.1 Überlieferungsgeschichtlich betrachtet, ist dies ist ein deutliches Symptom für die scharfe Trennung zwischen natur- und heilkundlichen Texten einerseits und theologisch-visionären Werken andererseits. Letztendlich ist, um einen weiteren Unterschied zwischen der Überlieferungsgeschichte der visionären und jener der naturkundlichen Schriften zu -

-

-

1

Genannt sei die aus dem 13./14. Jahrhundert stammende Berliner Handschrift StBPrK lat. qu. 674, die neben der Vita Hildegardis, einer Sammlung von Hildegardbriefen, den Litterae ignotae, der Lingua ignota, Gebenos Pentachronon (dies auf

gesondertem Faszikel, von anderer Hand und erst aus dem 14. Jahrhundert stameine Zusammenstellung kleiner Teile des LCM enthält. Von Bedeutung ist dieser Text auch insofern, als der Auszug aus dem LCM vom gleichen Schreiber stammt, der auch den berühmten Lucca-Codex mit dem LDO geschrieben hat (um mend) auch 1220).

Das naturkundlich-medizinische Werk

289

bezeichnen, darauf hinzuweisen, daß von den naturkundlichen Werken sehr viel

früher deutsche Teilübersetzungen bzw. Adaptionen hergestellt wurden als von den visionären Schriften. Außerdem finden sich in sämtlichen vollständigen Textzeugen des LSM an vielen Stellen muttersprachliche, d. h. deutsche, Wörter eingestreut. Vermutlich handelt es sich hierbei um Originalausdrücke Hildegards und nicht um spätere Übersetzungen seitens der Redaktoren. Die Gründe für die Verwendung dieser deutschen Wörter können vielfältiger Art sein. Sie dürften sich gegenseitig ergänzen: möglicherweise beherrschte Hildegard die entsprechenden lateinischen Fachtermini nicht, möglicherweise stellen die deutschen Wörter auch einen Reflex auf ihren Umgang mit Kräutersammlern, Wurzelgräbern und Naturärzten aus der Region dar. Letztendlich können diese Wörter ganz bewußt dem Zweck gedient haben, den Text verständlicher zu machen. Ein ganz ähnliches Phänomen findet sich auch im Bereich mittelalterlicher Rechtstexte. Auch dort werden nicht selten deutsche Rechtswörter in lateinische Fachtexte eingestreut.' Im Zuge einer überlieferungsgeschichtlich zu belegenden Professionalisierung von Hildegards natur- und heilkundlichen Texten im Milieu praktizierender Ärzte kam es dann zur Überführung vieler deutscher Wörter in eine lateinische Fachterminologie.

Hildegards naturkundlich-medizinisches Werk ist, obwohl die wichtigsten Textzeugen seit geraumer Zeit bekannt sind, noch nicht kritisch ediert. Allerdings hat Laurence Moulinier eine kritische Edition des Liber compositae medicinae [LCM] angekündigt. Irmgard Müller (Bochum) und Reiner Hildebrandt (Marburg) haben unabhängig voneinander eine kritische Edition des Liber simplicis medicinae [LSM] in Angriff genommen. Die Gründe für die schleppende Edition des medizinisch-naturkundlichen Werkes liegen zum einen in der schwierigen Überlieferungslage der Texte, zum anderen in der keineswegs abgeschlossenen Diskussion, inwieweit es sich bei diesen Werken tatsächlich um authentische Schriften Hildegards handelt.2 Die nachfolgenden Äußerungen stehen daher immer unter dem Vorbehalt einer endgültigen Klärung der Verfasserfrage. 1

Vgl. Merk 1933, S. 10: „Nur ganz selten sind wir in der glücklichen Lage, neben der lateinischen Aufzeichnung auch eine althochdeutsche Übersetzung einer Rechtsquelle zur unmittelbaren Vergleichung zu besitzen, z. B. das Bruchstück einer ost-

fränkischen

Übersetzung

der Lex salica. Aber Trümmerstücke der altdeutschen sind Rechtssprache gerettet in den zahlreichen deutschen Rechtsausdrücken, welche in den lateinischen Wortlaut der Gesetze und Urkunden eingestreut sind." Baesecke

2

Jacoby

1935.

Zum Phänomen

1986.

insgesamt vgl.

Hirth 1980.

-

Beispiel für eine ablehnende Einschätzung von Hildegards Verfasserschaft des LCM sei Fischer 1929, S. 27, genannt. Nach Fischer ist der Text zwischen 1180 und 1233 entstanden. Singer 1955, S. 12, hält die Schrift für ein Werk des D.Jahrhunderts. Newman 1987, S. 126, schließlich geht davon aus, daß der Text sich über einen sehr langen Zeitraum hin entwickelt hat, ohne je eine wirklich abschließende Form gefunden zu haben. Zum Ganzen vgl. Müller 1998. Als

-

-

-

Kapitel 7

290

Die

Annahme, daß Hildegard sich auch mit Themen

aus

dem Bereich der

Natur- und Heilkunde befaßt haben könnte, bietet keine grundsätzlichen Probleme. Es ist bekannt, daß die mittelalterliche Heilkunde in Europa (abgesehen

den weisen Frauen) durchweg von Klerikern und Ordensangehörigen, insbesondere von Benediktinern und Benediktinerinnen, betrieben wurde. Diese Zeitspanne wird daher zu Recht als die klassische Epoche der Klostermedizin bezeichnet.' Die monastischen Herbarien waren, wie eines der ältesten botanischen Werke des Mittelalters, der Hortulus des Reichenauer Benediktiners Walafrid Strabo (ca. 808-849), beweist, ein wichtiges Darstellungsfeld für die therapeutische Funktion einzelner Kräuter.2 Auch das dem Benedictus Crispus (685-732) zugeschriebene Poematium medicum ließe sich herbeizitieren. Daß den klösterlichen Kräutergärten in diesem Zusammenhang eine herausgehobene Funktion zukam, darauf deutet u. a. der idealtypische (weil in dieser Form nie realisierte) Klosterplan von St. Gallen hin. Der um 820 entstandene Entwurf läßt erkennen, daß in St. Gallen jeweils eigene Gärten für Gemüse, Obstbäume und Heilkräuter vorgesehen waren.3 Eine solche Trennung in Nahrungs-, Genuß- und Heilmittelanbau weist das Capitulare de villis Karls des Großen noch nicht auf.4 Wichtig waren die schriftlich niedergelegten Herbarien auch deshalb, weil sie in ihrer heilpraktischen Auswertung die Verbindung zu dem überlieferten medizinisch-botanischen Wissen der Antike, wie es von Columella, Serenus, Dioskurides, Plinius oder Pseudo-Apuleius entwickelt worden war, vollzogen. Wie sehr zudem auch die Regula Benedicti als ein der Lebensführung und der Gesundheitsfürsorge gewidmeter Text gelesen werden kann, haben meine Ausführungen zum Regelkommentar Hildegards angedeutet. So verwundert es nicht, wenn das mit dem Namen Hildegards in Verbindung gebrachte natur- und heilkundliche Schrifttum als „der literarische Höhepunkt der frühmittelalterlichen Klostermedizin und zugleich als das Ende der Mönchsmedizin"5 bezeichnet worden ist. Hildegards unter der Bezeichnung Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum [= LSu] entstandenes (und ursprünglich auch tradiertes) natur- und heilkundliches Werk fiel bereits im 13. Jahrhundert in zwei getrennt überlieferte von

1 2 3 4

hierzu Schipperges 1964, S. 9. Walafrid hat die innerhalb des Hortulus beschriebenen 23 Heilkräuter im Klostergarten der Reichenau selbst kultiviert.

Vgl.

Vgl.

Keller

1884.-Jacobsen

1992.

Capitulare de villis, ein 70 Kapitel umfassendes Dokument zur karolingischen Krongutverwaltung, ist lediglich in einem einzigen Textzeugen, dem im ersten Viertel

Das

des 9. Jahrhunderts entstandenen Codex Guelf. 254 Heimst, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, erhalten. Kapitel 70 des Textes bringt eine Aufzählung von Pflanzennamen, unter denen sich auch Heilkräuter befinden. Diese Aufzählung geht vermutlich auf das Studium antiker Pflanzenglossare zurück, besaß also kaum praktische Bedeutung. Vgl. Verhulst 1983. 5

Bäumer

1998, S. 203.

Das naturkundlich-medizinische Werk

291

Einzelschriften auseinander.1 Diese beiden Einzelschriften sind, sieht man einmal von bestimmten Textwanderungen ab, auf die später einzugehen ist, eigenständig und in sehr unterschiedlicher Uberlieferungsfrequenz tradiert worden. Sie bilden demnach keine feste Überlieferungseinheit. Dabei wird die Frage, ob der LCM überhaupt als authentisches Werk Hildegards oder nicht eher als eine sekundäre Kompilation und/oder Kontamination auf der Grundlage eines hildegardischen Nukleus (Buch 3 u. 4) betrachtet werden kann, neuerdings mit aller Schärfe gestellt.2 Der LSM beschreibt auf der Grundlage der mittelalterlichen Temperamentenlehre und Humoralpathologie die Heilkräfte der Pflanzen, Elemente, Bäume, (Edel)steine, Tiere und Metalle. Inhaltlich besteht der LSM (zumindest in seinem vollständigsten Textzeugen) aus neun mit eigenen Titeln bezeichneten Büchern, von denen alle mit Ausnahme des zweiten (De elementis) eigene praefationes besitzen.3 In diesen praefationes werden Informationen über den Ursprung der behandelten Geschöpfe und Naturelemente gegeben und einige ihrer Hauptwesenseigenschaften benannt. Der mit 104 Blatt umfassendste Textzeuge des LSM, die Florentiner Handschrift Biblioteca Medicea Laurenziana laur. Ashb. 1323, besitzt folgenden Aufbau:

(prologus)4 (f. lrab) 1. ) De herbis (f. lrb-29vb); 2. ) De quattuor elementis (f. 29ra-31ra); 3. ) De arboribus (f. 31ra-48va); 4. ) De lapidibus (f. 48va-59va); 5. ) De piscibus (f. 59va-68va); 6. ) De volatilibus 1

2

(f. 86va-80rb);

Daß zunächst ein Gesamtwerk vorgelegen hätte (Liber subtilitatum), das später in zwei Einzelschriften zerfiel, wird in der Hildegardforschung nicht mehr ernsthaft bestritten. Eine andere Auffassung vertrat zuletzt Widmer 1955, S. 6. Widmer zufolge hätten von Anfang an zwei selbständige Werke existiert. Die Passage des Liber vitae meritorum, in der auf den Liber subtilitatum Bezug genommen wird, deutet Widmer als unvollständige Aufzählung von Hildegards Schriften. Dies bereitet jedoch insofern Probleme, als Textzeugen des Liber vitae meritorum vorliegen, die in Hildegards Lebzeiten zurückreichen. Es wäre in der Tat ungewöhnlich, wenn Hildegard eine solche unvollständige Aufzählung ihrer Schriften selbst vorgenommen oder genehmigt hätte. So Laurence Moulinier in der Einleitung zur Edition des LCM. Frau Moulinier sei für die Zusendung eines Vorausexemplars dieser Einleitung an dieser Stelle sehr herzlich gedankt. Meine Ausführungen zum LCM basieren zu wesentlichen Teilen auf den Forschungsergebnissen Laurence Mouliniers. Die Argumentation findet sich

zusammengefaßt in Moulinier 2001. Einteilung der Editio princeps aus dem Jahre 1533 in vier Bücher spiegelt keiner

3

Die

4

der überlieferten handschriftlichen Textzeugen wider. Die Spitzwinkelklammer soll darauf hindeuten, daß der Titel prologus nicht Handschrift selbst gewonnen wurde.

aus

der

Kapitel 7

292

7. ) De quadrupedibus [über die vierfüßigen Tiere] (f. 80rb-93va); 8. ) De vermibus venenosis [über die Kriechtiere] (f. 93va-97va); 9. ) De metallis (f. 97va-98vb).

Aus dem Aufbau der Schrift

geht hervor, daß Hildegard mit dem LSM keine über die Natur oder einen Kommentar zu den entsprechenden Schriften des Aristoteles verfassen wollte, wie Albertus Magnus dies später tat.1 Betraut mit der Leitungsfunktion eines ganz speziellen Verantwortungsbereichs, ihres Klosters, beabsichtigte Hildegard offensichtlich, ein Kompendium der praktischen Heilmittelkunde zusammenzustellen, das im monastischen Alltag eingesetzt werden konnte. Von daher wird verständlich, daß sämtliche Naturgegenstände, die im LSM behandelt werden, hauptsächlich unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit, d. h. ihrer medizinischen Verwendbarkeit für den Menschen, erscheinen. Hinter dieser Schwerpunktsetzung steht unausgesprochen Hildegards Auffassung von der Einheit der Welt und des Menschen bzw. der Mikrokosmos-Makrokosmos-Idee : der Mensch ist die ultimative Aufgipfelung der geschaffenen Natur und stellt diese zusammenfassend dar. Außerdem weist die Regula Benedicti in ihrem 36. Kapitel darauf hin, daß es zu den selbstverständlichen Aufgaben der Mönche und Nonnen gehört, Kranke zu pflegen. Gerade im Kranken aber begegnet dem Gläubigen, so entspricht es christlicher Grundauffassung, Christus selbst. Die neun Bücher des LSM sind von unterschiedlicher Länge und Kapitelzahl. Sie besitzen einen zweigliedrigen Aufbau: Zunächst erfolgt die Beschreibung eines jeden Geschöpfes mit der Angabe seiner Natur (vegetabilisch, animalisch oder mineralisch). Dann schließt sich eine Liste der praktischen Anwendungsgebiete an. Hier erfährt man, auf welche Weise der Mensch sich der beschriebenen Mittel und Geschöpfe bedienen könne, um sich zu pflegen, zu ernähren oder zu bekleiden. Auch welche Möglichkeiten zur eigenen sowie zur Gesundheitsvorsorge der Haustiere diese Mittel bieten, wird erläutert. Dabei bleibt zu berücksichtigen, daß die heilkundliche Nomenklatur nicht nur des LSM, sondern aller medizinischen Werke dieser Zeit noch sehr uneinheitlich war und daß die Schrift keinen systematischen Aufbau besitzt. Außerdem läßt sich der Inhalt der neun Bücher nicht immer schlüssig unter ihre Hauptüberschriften subsummieren. So erscheinen im Buch De plantis auch Informationen über Eier, Butter, Honig, Zucker, Essig und anderes mehr. Und das Buch über die Fische müßte richtiger über die Wassertiere heißen. Letztendlich sei angemerkt, daß zu Hildegards Lebzeiten von einzelnen innerhalb des LSM vertretenen Kapiteln selbständige Werke anderer, älterer Autoren existierten. Eine kompilatorische, prozessuale Entstehung von Hildegards Schrift ist daher sehr wahrscheinlich.2 theoretische

1

2

Abhandlung

Versuch, Hildegard von Bingen und Albertus Magnus als naturkundliche Schriftsteller miteinander zu vergleichen, unternimmt Laurence Moulinier in ihrem Beitrag: Moulinier 1993b. Genannt sei das Steinbuch des Marbod von Rennes. Vgl. Riddle 1977. Denkmäler, Das Prüler Steinbuch: S. 37-39 (Text) und 79-88 (Komm.); Das Insbrucker ArzeneiDen reizvollen

-

Das naturkundlich-medizinische Werk

293

gewisse Strukturparallele des LSM zu Hildegards visionären Werken sich aus dem fast völligen Verzicht auf die Angabe von Quellen und Gewährsmännern.1 Lediglich in Buch III, Cap. 58 des LSM (De arhorihus, De unguento) erscheint der Name des Hilarius Aegyptiacus, unter dem vermutlich der heilige Hilarion zu verstehen ist.2 Weitere Einflußgeber könnten z. B. Vitruv (De architectura), Palladius, Quintus Serenus Sammonicus, Walafrid Strabo, Eriugena, Macer, Aethicus Ister (Cosmographia), Marbodus, ein Brief der Mythographi Vaticani oder der Physiologus gewesen sein. Für den LCM lassen sich Spuren der arabischen, insbesondere durch Constantinus Africanus (f 1087) vertretenen, und der salernitanischen Medizin (Regimen Salernitatum; Tractatus de aegritudinum curatione) ausmachen.3 Daneben zählt Hildegard eigene praktische Erfahrungen auf und erwähnt verschiedene Medikamente, die während des 12. Jahrhunderts in der Kloster- und Volksheilkunde gebräuchlich waren. Interessanterweise bietet sie neben kostspieligen Mixturen (composita) auch einfache an (simplicia parabilia), möglicherweise ein Hinweis auf die aktuelle Gebrauchsfunktion des Werkes nicht nur als eines Instruments der Kloster-, sondern auch der Volksheilkunde. Weiterführende Hinweise auf Hildegards Quellen finden sich ansonsten nur in Form von kryptischen Andeutungen. So wird im Buch De plantis (Cap. 51) auf die älteren Autoritäten angespielt („... nisi ut medicinarum philosophie invenerunt ...").4 Und im Buch De animalibus (Cap. 5), das über das Einhorn handelt, deutet die Bemerkung „Quidem enim philosophus erat, qui naturas animalium perscrutaverat "5 auf den Bericht Plinius d. Ä. über die zoologischen Studien des Aristoteles hin.6 Uberhaupt bezeugt Hildegards Text eine gute Bekanntschaft mit der Naturgeschichte des Plinius.7 Auch der Physiologus, in dem die Natur und die Eigenschaften der Eine

ergibt

...

(Text) und 88-104 (Komm.). Vgl. hierzu Schnell 1991. 13. Jahrhundert ist Albertus Magnus zu nennen. Albertus Minerals.

Aus dem

buch: S. 39-42 1 2 3 4 5 6

Über die Problematik, Hildegards Einflußgeber eruieren

zu

-

wollen, hat sich jüngst

Laurence Moulinier geäußert: Moulinier 1998. PL 197, Sp. 1246A: Cap. LVIII „De Unguento Hilarii." Vgl. hierzu Moulinier 1995, S. 233-239. PL 197, Sp. 1149C. PL 197, Sp. 1317D. Vgl. Borst 1994, zu Hildegard: S. 246-249; 320. Borst weist zum einen auf die Ähnlichkeiten in der enzyklopädischen Anlage der Werke des Plinius und Hildegards hin, zum anderen hebt er einen zentralen Unterschied in der Anschauung vom Menschen zwischen Plinius und Hildegard hervor: Hildegard zufolge repräsentiere der Mensch, illustriert im Kosmos-Bild des LDO, die Gesamtheit der geschaffenen Natur. Demgegenüber lege Plinius im kosmologischen Buch II der Etymologiae „kleingläubig" dar, der Menschengeist könne die Gesamtheit der Natur nicht fassen (Borst 1994, S. 248). Im übrigen überstrahle die glühende Bildlichkeit Hildegards die kühlen Sätze von Plinius ohnehin." (Borst 1994, S. 320). Eine 21 Stellen umfassende Konkordanz der verwandten Textteile zwischen Plinius und Hildegard bietet Reuss 1859, S. 58. „...

...

7

Kapitel 7

294

Tiere in eine

mystisch-symbolische Beziehung

zu

Christus und den Menschen

gebracht werden, scheint, wie oben erwähnt, als zoologische Quelle nicht unbe-

sein. Dies lassen entsprechende Ausführungen Hildegards (Cap. 2 und 37) sowie im Buch De animalibus (Cap. 3, 5, 10 und 12) erkennen.1 Schließlich finden sich Anklänge an Vergils Bucolica, an die Aeneis sowie an Ovids Metamorphosen.1 Nichts mit den klassischen Quellen des Mittelalters gemein haben Hildegards Ausführungen über die Fauna und Flora des Nahegaus. Hierfür spricht auch eine Vielzahl deutscher Fachtermini, die ohne Bedenken verwendet werden. Mit der Deutung dieser deutschen Wörter hat sich, beginnend mit F. A. Reuss und Wilhelm Grimm, bereits die Sprachforschung des 19. Jahrhunderts befaßt.3 Grundsätzlich ist bei Untersuchungen dieser Art auf die Verwendung gleicher bzw. ähnlicher Ausdrücke in den naturkundlichen Partien des Liber divinorum operum, des Kommentars zur Regula S. Benedicti sowie der Lingua ignota zu verweisen. Auch die bereits erwähnten, umfangreichen Textwanderungen zwischen LSM und LCM sind im Blick zu nutzt

geblieben

zu

im Buch De avibus

halten. Die moderne Bezeichnung des LSM als Physica findet sich erstmals in der Editio princeps des Werkes. Sie wurde am 14. Januar 1533 in Straßburg von Johannes Schott herausgebracht.4 Diese Bezeichnung, die von den Herausgebern der Patrologia Latina nicht bzw. nur im Inhaltsverzeichnis aufgegriffen

1

Das

griechische Original

des

Physiologus,

im 2. Jahrhundert

n.

Chr. in Alexandria

entstanden, lag, wie entsprechende Hinweise bei Ambrosius und Hieronymus bezeugen, bereits im 4. Jahrhundert in lateinischer Übersetzung vor. Insgesamt kennt man

drei lateinische Übersetzungen des Textes. Für die Wirkungsgeschichte des lateinischen Physiologus war von großer Bedeutung, daß Isidor von Sevilla zahlreiche Geschichten aus ihm in seine Etymologiae aufnahm. Auch eine mittelalterliche Neubearbeitung in Versen (Physiologus Theobaldi) war von großer Wirkung. Sie wurde sogar im Sinne eines Schultextes verwendet. Schließlich existierte eine auf der lateinischen Übersetzung b (37 Kap.) basierende Fassung, die sogenannten Dicta Chrysostomi. Aus der Übersetzung b und der Dicta-Version ist dann ein gewaltiger Strom volkssprachlicher Physiologus-Fassungen und Bestiarien hervorgeflossen. Vgl. Alpers

2

3

1996.

Etwa in De plantis, Cap. 31 zur Bucolica Buch II, Ekloge 102, in De plantis, Cap. 49 zur Bucolica, Buch VIII, Ekloge 15, in De animalibus, Cap. 19 zur Bucolica, Buch IX, Ekloge 54, in De reptilibus, Cap. 2 zur Aeneis, Buch 2, Ekloge 471 sowie in den praefationes von De reptilibus zu den Metamorphosen, Buch I, Ekloge 416. Grimm 1848. Jessen 1862. Fischer-Benzon 1894, S. 193-220; Reuss 1834. insbesondere S. 191-200 und Anhang II [Pflanzennamen in der Physica]. PHYSICAS S. HILDEGARDIS, Elementorum, Fluminum aliquot Germaniae, -

4

-

-

Metallorum, Leguminum, Fructuum, & Herbarum: Arborum, & Arbustorum: Piscium denique, Volatilium, & Animantium terrae naturas & operationes. IUI. Argentorati: Apud Ioannem Schottum, cum Caes. Maiestat. priuilegio ad Quinquennium 1533. [Darin: der Liber simplicis medicinae, S. 1-121]. ...

Das naturkundlich-medizinische Werk

wurde,1 läßt sich nicht auf Hildegard selbst zurückführen; sie sollte daher

295 ver-

mieden werden. Im Lateinischen umschreibt das Wort Physicus den Naturkundigen, aber auch den Arzt. Der Begriff Physica meint also eine Schrift, die sich auf den Wirkungsbereich des Arztes bezieht. Schott prägte den neuen Titel vermutlich mit dem Ziel, die Verkaufsaussichten des Werkes zu steigern, also aus merkantilen Gründen. Der LCM weist im Vergleich zum LS M eine viel weniger klare Struktur auf. Er ist dem Menschen als Gegenstand des sechsten Schöpfungstages gewidmet und behandelt seine physische und psychische Konstitution sowie seine Pathologie und Therapie. Dabei ist die Anthropologie im engeren Sinne eingebettet in eine übergreifende Kosmologie. Die einzige und damit älteste vollständig erhaltene Abschrift des LCM liegt in der Handschrift Kopenhagen, KB, Cod. Ny kgl. 90b 2° vor.2 Auf der Grundlage dieses aus der Mitte oder dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts stammenden, in der Benediktinerabtei Trier-St. Maximin entstandenen Textzeugen hat Paul Kaiser im Jahre 1903 die Editio princeps des Werkes errichtet.3 Der dort zu findende Titel Beate Hildegardis cause et

geht auf den Kopisten der Kopenhagener Handschrift zurück, gehört also dem 13. Jahrhundert an und nicht der Zeit Hildegards. Der Text selbst ist in der Kopenhagener Handschrift in fünf bzw. sechs inhaltliche Abschnitte unterschiedlicher Länge eingeteilt, deren Anfänge durch großformatige Schmuckinitialen gekennzeichnet sind. Ob diese Gliederung ursprünglich ist oder erst nachträglich vorgenommen wurde, wird in der Hildegard-Forschung kontroeure

diskutiert.4 Obwohl der Aufbau des LCM nicht so transparent ist wie jener des LSM, kann sein Inhalt doch zusammenfassend dargestellt werden. Das Werk beginnt, wie dies auf viele historische oder anthropologische Schriften des Mittelalters

vers

1

2 3

PL 197, Sp. 1125-1352. Hier erscheint (f. 1117) der Titel S. Hildegardis Abhatissae subtilitatum diversarum naturarum creaturarum libri novem. Im Inhaltsverzeichnis (Elenchus) zu diesem Band wird der Titel aufgeführt unter der Bezeichnung Physica, cujus titulus ex cod. ms.: Subtilitatum diversarum naturarum creaturarum libri novem. Auf dem Titelblatt selbst wiederum heißt es lediglich: Physicae textum primus integre publici juris fecit Dr. Carl Daremberg. Vgl. jüngst die Kopenhagener Ausstellung Petersen 1999, S. 104, Nr. 143 (mit Abbildung der ersten Seite der Handschrift). Causae et Curae. Auch mehrere Übersetzungen basieren auf diesem Textzeugen. Genannt sei die Übertragung Causae et Curae (dt.) 1933; ferner die kommentierte Übersetzung Causae et Curae (dt.) 1957; schließlich die Neuübersetzung Causae et Curae

4

(dt.)

1990.

die Kapiteleinteilung sei späteren Datums: satis inepte addita, quae tarnen sequimur, alio indice destituti" (Analecta, S. 468). Demgegenüber weist Peter Dronke darauf hin, daß beispielsweise der in den Rubriken verwendete Begriff hyle (im Text erscheint dagegen das Wort „materia") auch schon im 12. und 13. Jahrhundert geläu-

beispielsweise ist der Meinung, „Capitula videntur posterioribus curis

Pitra

et -

fig war. Vgl. Dronke 1981b, S. 113.

296

Kapitel 7

zutrifft, mit einem Kapitel über die Schöpfung.

Dieser erste Teil, der die Beziedes Menschen und den übrigen Geschöpfen thezum zu hungen Weltganzen bzw. eine enthält matisiert, Kosmologie Kosmographie. Der zweite, mit Abstand wichtigste Teil des gesamten Werkes, erörtert in einer durch das Buch Genesis präfigurierten Gestalt die Frage nach dem Ursprung der Welt, des Menschen und der Tiere. Außerdem enthält er eine Charakterologie der neugeborenen Kinder, eine Typeneinteilung des Menschen, Passagen über das Lachen und Weinen, Ausführungen über die Obsternte, den Weinbau sowie über die Sexualität und die Trunkenheit. Schließlich benennt und erklärt er verschiedene Krankheiten des Menschen. Diese heilkundlichen Erörterungen basieren auf der gängigen Humoral- und Temperamentenlehre, wie sie von Hippokrates und Galen entwickelt wurde. Buch 2 macht ca. Dreiviertel des gesamten Textes aus und wirkt aufgrund seines vergleichsweise großen Umfangs disproportioniert. Allerdings ist bei der Verwendung dieses Attributes sogleich darauf hinzuweisen, daß es hier nicht in einem pejorativen Sinne benutzt wird. Schriften nach Art des LCM können nicht vor dem Hintergrund einer organischen oder teleologischen Ordo-Vorstellung hinsichtlich ihres Aufbaues und ihrer Gliederung (deren Berechtigung für derartige Werke erst noch zu erweisen wäre) kategorisiert werden. Teil 3 und 4 des LCM führen die unterschiedlichen Heilmittel gegen die benannten Krankheiten auf. Hier finden sich im Gegensatz zu den übrigen Büchern mit Ausnahme des abschließenden Horoskopes in Buch 5 viele deutschsprachige Ausdrücke. Dieses Phänomen hängt damit zusammen, daß Buch 3 und 4 die medizinische Bedeutung der Pflanzen darlegt. Deren Namen waren durch deutschsprachige Herbarien offensichtlich recht verbreitet. Die deutschsprachigen Wörter des LCM insgesamt weisen Ähnlichkeiten zu den deutschen Glossen des Summarium Heinrici auf. Das Summarium hat, wie weiter oben dargelegt wurde, auch Hildegards Lingua ignota zur Grundlage gedient. Der fünfte und abschließende Teil des LCM ist der heterogenste des gesamten Werkes. Er ist gekennzeichnet durch die häufige Wiederaufnahme von Themen, die in früheren Teilen bereits angesprochen wurden. Es finden sich bunt gemischt Kapitel über grundsätzliche Aspekte der Medizin (z. B. eine medizinische Semiotik mit den Anzeichen des Lebens und des Todes)1, eine Beschreibung der Uroskopie (f. 85va-88ra)2, Ausführungen über die Benutzung -

-

1 2

Die medizinischen Anzeichen erscheinen erstmals auf f. 48-49. Die Uroskopie war in der mittelalterlichen Heilkunde noch vor dem Pulsfühlen das wichtigste diagnostische Mittel. Vgl. Keil 1969, S. 10: „Die Bedeutung der Uroskopie für die mittelalterliche Diagnostik läßt sich schwer überschätzen. Zwar blieb die Harnschau nicht ohne Konkurrenz, aber die anderen Verfahren des Diagnose- und Prognosestellens wie Blutschau, Schweißschau, Bewertung von Fieber und Hautausschlägen sowie die zahlreichen probae spielten bei weitem nicht die Rolle wie das Begutachten des Harns, und selbst die Pulskontrolle war im Abendland nicht in der Lage, der Uroskopie den Rang streitig zu machen." Ahnlich Stoffregen 1977. Stoffregen zufolge ist die griffige Kurzform dieses Traktates (bzw. seiner lateinischen Übersetzung) auch dadurch zu erklären, daß er im Unterricht von Kathedral- und -

Das naturkundlich-medizinische Werk

297

Badekuren (f. 88rb)', nicht zu löschende Brände (f. 88va), Augenkrankheioder eine (auch als Teil 6 bezeichnete) astrologische Erklärung (EmpfängnisLunar). Die abschließende Passage „si quis cerasa comedit" (f. 89rb) steht in einem inhaltlichen Widerspruch zu dem im LSM hierzu Gesagten und besitzt keinerlei Verbindung zum vorausgehenden Text. Das Empfängnis-Lunar hebt sich vom vorhergehenden Text graphisch durch eine Schmuckinitiale ab, wie sie ansonsten nur zur Kenntlichmachung der jeweiligen Bücher oder Hauptabschnitte des LCM verwendet wird. Man hat aufgrund dieses Gestaltungselementes die Überlegung angestellt, ob dem LCM möglicherweise ein sechstes Buch (eben der astrologische Teil) nachträglich angefügt wurde.2 Darüber hinaus vertritt Elisabeth Klein wie ich glaube zu Recht die grundsätzliche Meinung, „que l'ordre du manuscrit initial avait été perturbé par les copistes ultérieurs."3 Festzuhalten ist, daß Buch 3, 4 und (abgeschwächt) auch Buch 5 des LCM den eigentlich medizinischen Teil des Werkes bilden. Buch 3 und 4 zählen in einer unzusammenhängenden Weise verschiedene Rezepte gegen Krankheiten auf, die sich an einzelnen Stellen wiederholen. Diese beiden Bücher sind den praktischen (curae) Anwendungen der Heilmittel gewidmet, während Buch 1 und 2 sowie (in Teilen) auch Buch 5 die theoretischen Aspekte (causae) der Heilkunde beinhalten. Die Vermischung und Verbindung der fünf Teile untereinander ist aber so unzusammenhängend und teilweise widersprüchlich, daß von einer stringenten Gesamtkomposition nicht gesprochen werden kann. Es kommt hinzu, daß auch der Inhalt der einzelnen Bücher keineswegs frei von Wiederholungen, Inkonsequenzen und Brüchen ist. So macht etwa Buch 4 gegenüber Buch 3 noch einmal einen epigonalen, nachträglich entstandenen Eindruck. Es verwendet zwar dessen Ordnungsprinzip a capite ad calcem, tut dies jedoch mit sehr viel geringerer Konsequenz. Buch 3 seinerseits ist wenigstens in zwei Etappen entstanden. Bestimmte Rezepte (etwa jenes gegen den Kopfschmerz, LCM, Kopenhagen, f. 64vb 7-23) erweisen sich als nachträgliche Ausweitungen und Bearbeitungen der entsprechenden Passagen aus dem LSM. Die Veränderungen im Aufbau und Text des LCM gegenüber der exzerpierten Vorlage des LSM bzw. LSu lassen sich, wie Reiner Hildebrandt anhand einer Untersuchung des Wortes orfune (Ms Kopenhagen 90b, f. 8Iva 22) gezeigt hat, auch auf der sprachlichen Ebene dokumentieren.4

von

ten

-

-

Klosterschulen eingesetzt wurde. Im übrigen fällt auf, daß der Harntraktat in Buch 5 des LCM wie die Fortführung einer Wendung aus Buch 2 (f. 38rb) wirkt. Dort heißt es: „Homo autem qui urinam retinere non potest ..." Auch dieser Teil wirkt wie die Wiederaufnahme des Themas über die Verschiedenheit des Wassers aus f. Hr. Heinrich Schipperges wertet den astrologischen Teil als eigenständige Partie, die nachträglich hinzugekommen sei. Ähnlich äußert sich Winterfeld 1904. -

1 2 3 4

Klein 1984, S. 37. Von grundsätzlicher Bedeutung Hildebrandt 1997. S. 129. Dieses Wort erscheint im LSM bzw. LSu an mehreren Stellen als „orfime". Seine reguläre Form ist „rosime" oder „roseme" (vgl. Lexer 1872/1878, II,

Ebd.,

Kapitel 7

298

Zwischen LSM und LCM besteht ein Abhängigkeitsverhältnis. Hierauf deueinen die Incipits bzw. frühesten Bezeichnungen der beiden Werke hin creationem mundi ..." für den LCM bzw. „In creatione homiante („Deus nis ..." für den LSM). Zum anderen existieren in beiden Schriften umfangreiche identische Textpassagen, deren Ausmaß und Bedeutung von der bisherigen Forschung weit unterschätzt wurden. Um den Globalbefund hier nur kurz anzudeuten, sei gesagt, daß Buch 3 und 4 des LCM fast gänzlich aus verschiedenen Kapiteln des LSM geschöpft sind. Dessen kompletteste Gestalt ist uns in der Florentiner Handschrift Ashburnham 1323 überliefert. Der LCM weist mehr als 100 parallele Stellen mit Schotts 1533 erschienener Edition der Physica bzw. 21 loci paralleli mit der Florentiner Handschrift auf. Allerdings finden sich im LCM darüber hinaus auch Textpassagen, die nicht als Übernahmen aus dem LSM betrachtet werden können. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß eine Reihe von Krankheiten, die im LCM erscheinen (z. B. Frénésie, Epilepsie, Lepra, Melancholie) auch im Liber divinorum operum (vor allem in Buch I, Kapitel 3, Abschnitt 1 und 15) behandelt werden. Außerdem präsentieren sich die übernommenen Partien in einer stark redigierten Form. Als Einteilungsprinzip werden nicht, wie im LSM, die Gattungen der Tierklassen verwendet, sondern die Arten der Krankheiten. Es handelt sich dabei also in der Tat um redaktionelle Kompositionen und nicht um einfache Kopien bzw. Exzerpte. Durchgängiges Kompositionsprinzip war vermutlich der Gesichtspunkt der praktischen Umformung des Materials. Was den Florentiner Textzeugen des LSM anbetrifft, so ist die Frage zu stellen, ob er nicht schlechterdings als Hildegards verschollenener Liber subtilitatum bezeichnet werden sollte. Eine der Florentiner Handschrift ähnliche Fassung des LSu hat vermutlich die gemeinsame Klammer zwischen der Pariser Handschrift 6952 (Edition Schott), dem Florentiner LSM-Textzeugen laur. Ashb. 1323 und dem LCAf-Zeugen Kopenhagen, KB, Cod. Ny kgl. 90 b 2° gebildet. Die unter textgenetischen Aspekten wichtige Frage nach dem Alter bzw. der Priorität von LSM und LCM hat Laurence Moulinier am Beispiel des des LCA/-Kapitels De oculorum attenuatione (Hs Kopenhagen, Ny kgl. 90 b 2°, f. 65va) aufgegriffen. Sie hat dabei gezeigt, daß der entsprechende Abschnitt des LSM älter ist als jener des LCM} In einem jüngst erschienenen Beitrag hat Moulinier darüber hinaus die These vertreten, der LCM sei lediglich in seinen Kapiteln 3 und 4 authentisch aus dem LSM bzw. LSu geschöpft, der Rest hingegen sei erst nach Hildegards Tod, genauer gesagt, zwischen 1180 und 1220, ten zum

Summarium Heinrici 1974, S. 379). „Orfine" ist also durch eine Metathese entstanden, die in den rheinfränkischen Raum verweist. Wenn nun „orfime" bereits eine Deformation darstellt, die Hildegard verwendet hat, so stellt „orfune" dem gegenüber eine weitere, spätere Entwicklungstufe dieser Alteration dar.

Sp. 493.

-

1

Moulinier 1995, S. 178f. Irmgard Müller hat u. a. aufgrund dieses Phänomens die Schlußfolgerung gezogen, daß der LCM kein authentisches Werk Hildegards, sondern eine spätere Kompilation sei. Vgl. Müller 1998, S. 3.

Das naturkundlich-medizinische Werk

299

aus hildegardischem und pseudo-hildegardischem Material zusammengetragen worden. Als mögliche Kompilatoren bzw. Redaktoren nennt Moulinier die Namen des Theoderich von Echternach, Gebeno von Eberbach und Wibert von Gembloux.1

des naturkundlich-medizinischen Werkes im Mittelalter Über die Gründe für das Auseinanderfallen des Liber subtilitatum in zwei separat überlieferte Texte kann nur spekuliert werden. Möglicherweise spielten inhaltliche oder funktionale Kriterien eine Rolle, etwa in dem Sinne, daß man die allgemein naturkundlichen Komponenten von den spezifisch heilkundlichen abtrennen wollte. Auch die Unterscheidung in einfach und zusammengesetzt besitzt zumindest im Hinblick auf die äußere Qualifizierung beider Schriften eine sehr unmittelbare Plausibilität. Von der konkreten medizinischen Anwendungsmöglichkeit her betrachtet scheint der LSM die besseren Voraussetzungen geboten zu haben als der LCM. Vielleicht geschah die Aufspaltung aber auch unter dem Einfluß der intendierten Heiligsprechung Hildegards. Die in den Acta canonisationis verwendeten Bezeichnungen LSM und LCM bringen die medizinisch-therapeutische und damit die sozialkaritative Tätigkeit Hildegards sehr viel prägnanter zum Ausdruck als der recht verschwommen klingende, komplizierte Titel Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum. Nicht auszuschließen ist auch, daß die Änderung des Titels aus dem Bemühen resultierte, sich einer medizinhistorisch etablierten, gängigen Begrifflichkeit anzuschließen. Wie dem auch sei, die zeitliche Nähe der gesonderten Aufführung beider Texte zu dem beginnenden Kanonisationsprozeß springt ins Auge. Sie gewinnt an Gewicht, wenn man die Identität der Schreiberhände zwischen dem auf die Heiligsprechung hin konzipierten Lucca-Codex und dem Berliner LCM-Fragment aus dem Ms lat. qu. 674 miteinbezieht. Beide Texte sind um 1220/30, also in auffälliger Nähe zum anlaufenden Kanonisationsprozeß, niedergeschrieben worden. Vom ursprünglichen Gesamtwerk, dem Liber subtilitatum, existiert, sofern man nicht den (allerdings ca. 150 Jahre später entstandenen) Florentiner LSMTextzeugen Florenz, laur. Ashb. 1323 hierfür reklamiert, kein einziger Textzeuge mehr. Seine originale Gestalt läßt sich daher nicht erfassen. Immerhin aber wissen wir, daß der Titel des Gesamtwerkes auf Hildegard selbst zurückgeht. Hildegard erwähnt die Schrift unter dieser Bezeichnung im Prolog zum Liber vitae meritorum. Von dort aus ist auch eine Datierung möglich: spätestens im Jahre 1163, dem Ende der Arbeiten am Liber vitae meritorum, muß ein naturkundlich-heilkundliches Werk dieses Namens in welcher Form und welchem Umfang auch immer vorgelegen haben.2 Hervorzuheben ist, daß Hil7.1

Rezeptionsspuren

-

-

-

-

-

-

1 2

Moulinier 2001. Das Vorwort zum Liber vitae meritorum wurde

Gesamtwerkes (1163)

redigiert.

von

Hildegard

nach Abschluß des

Kapitel 7

300

degard ausschließlich vom Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturaspricht, nicht aber von zwei getrennten Einzelschriften. Gleiches trifft auf Hildegards Sekretär Volmar zu, der in einem um 1170 entstandenen Schreiben Vbi tunc expositio naturarum diuersarum creaturarum an Hildegard fragt: die ...?"' Auch 1181/88 entstandene Vita Hildegardis erwähnt das natur- und Werk nur unter einer zusammenfassenden Bezeichnung, die zuheilkundliche dem stark an Hildegards eigene Titelgebung erinnert:

rum

„...

uirgo in loco, ad quem iussu diuino migrauerat, librum uisionum apud montem sancti Disibodi inchoauerat, consummauit et quedam de natura hominis ac elementorum diversarumque creaturarum, et quomodo homini ex his succurrendum sit, aliaque multa secreta prophetico spiritu manifeIgitur

beata

suarum, quem

stauit.2

Der Mönch Theoderich oder Thiofrid von Echternach gibt in dieser zu Beginn des zweiten Buches der Vita erscheinenden Übersicht über Hildegards Schriften, wie Monika Klaes zu Recht hervorhebt, zwar „kein vollständiges, möglicherweise noch chronologisch geordnetes Werkverzeichnis."3 Wohl aber kann diese Übersicht als eine Art Grobcharakterisierung von Hildegards Schriften

betrachtet werden. Immerhin fällt auf, daß Theoderich das naturkundlich-medizinische Werk unmittelbar nach dem Scivias aufführt und daß dessen Entstehung nicht der Disibodenberger, sondern der Rupertsberger Epoche, d. h. der Zeit nach 1150, zugeordnet wird. Da in späteren Zeiten der Titel des Liber subtilitatum auch auf den LSM allein angewandt wurde, ist, wie angedeutet, die Frage zu stellen, ob nicht der LSM der legitime Nachfolger des LSu ist. In diesem Falle wäre der LCM ein sekundäres Spaltprodukt aus Teilen des LSM, der seinerseits den verschollenen LSu repräsentieren würde, und Material, das nach Hildegards Tod weiterverarbeitet wurde. Ich werde auf diese Frage, die nur im Hinblick auf den vollständigsten Textzeugen des LSM (d. h. die Florentiner Handschrift), eine befriedigende Antwort zeitigen kann, weiter unten noch ausführlicher eingehen. Um 1222 erwähnt Gebeno von Eberbach innerhalb der zweiten Version des Widmungstextes zu seinem Pentachronon, in dem die Schriften Hildegards aufgezählt werden, auch den LSM und den LCM. Er liefert damit den frühesten greifbaren Beleg für eine getrennte Aufführung der beiden natur- und heilkundlichen Schriften: Libros quoque eius, scilicet librum scivias, librumque vite meritorum ac librum divinorum operum, omelias etiam eius ac ignotam linguam cum suis litteris celestemque armoniam cum aliis scriptis eius non paucis, atque librum simplicis mcdi-

1 2 3

Volmarus praepositus ad Hildegardem, in Vita Hildegardis 1993, II 1, S. 20 3-8. Klaes 1993, S. 127*.

Epistolarium II, Ep. CXCV, S. 443f.

Das naturkundlich-medizinische Werk

eine, secundum cine

composite,

rerum

de

creationem

octo

libros continentem, atque curis.1

egritudinum causis, signis

301

librumque

eius medi-

Dieses Zeugnis ist von besonderem Wert, da Gebeno mit den Schriften Hildegards sehr vertraut war. Auch das Protocollum canonisationis von 1233 führt die beiden Schriften nunmehr als eigenständige Werke auf. Laurence Moulinier plädiert dafür, die Zeitspanne zwischen 1180 und 1220 als Trennungslinie für das Auseinanderfallen des Liber subtilitatum in zwei eigenständige Schriften zu benennen. Diesem Vorschlag wird man zustimmen wollen. Allerdings scheint mir der Hinweis Mouliniers auf eine aus dem 12./13. Jahrhundert stammende Handschrift mit dem mittelalterlichen Bibliothekskatalog von Durham nicht hundertprozentig beweiskräftig zu sein. Dort findet sich der Vermerk: „liber simplicis medicinae", leider ohne Angabe des Verfassers. Solange nicht aus anderen Quellen heraus die sichere Zuweisung dieses Manuskripts zu Hildegard gelingt oder weitere Indizien für ihre Verfasserschaft (Incipit/Explicit) ermittelt werden können, hat dieser Hinweis zwar einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad, aber keine absolute Beweiskraft. Dafür klingen die Titel von naturkundlichen Schriften aus dieser Epoche zu ähnlich. Auch eines der pharmakologischen Hauptwerke des Mittelalters, der um 1150 entstandene Circa instans, wird gelegentlich als Liber de simplici medicina dictus Circa instans bezeichnet.2 Dies gilt unbeschadet der Tatsache, daß ein anderer Bibliothekskatalog, jener der Augustiner von York aus dem Jahre 1372, einen „Tractatus simplicis medicine secundum Hildeg." erwähnt und daß ein Katalog der Universitätsbibliothek Heidelberg aus dem Jahre 1438 Hildegards LCM aufführt („Item summa Hildegardis de infirmitatum causis et curis in uno volumine. Cuius primum folium ineipit ,Deus ante creacionem mundi', penultimum vero ineipit ,qui et quarta'").3 Kehren wir zum Protocollum canonisationis zurück. Im Zeugenverhör trat, wie das Protokoll ausführt, ein Kanonikus Bruno, Kustos von St. Peter (Saint Pierre le Jeune)4 in Straßburg, auf. Bruno stammte aus Lorch und wird als Prokurator des Klosters Rupertsberg bezeichnet. In seiner Zeugenaussage, die unter Eid geschah und in der Bruno sich auf die öffentliche Meinung über Hildegard sowie auf die Vita Hildegardis Gottfrieds und Theoderichs berief, reihte er den LSM und den LCM in den Schriftenkatalog Hildegards ein. Dabei 1

2

3

Zitiert nach der Handschrift München, Bay. Staatsbibliothek, Clm2619, f. lr. Vgl. Halm 1892, S. 199, Nr. 819. Die Handschrift gehörte zum Kloster Aldersbach in Oberbayern. Sie enthält neben dem Pentachronon noch Hildegards Auslegung der

Benediktsregel (f. 49v-57). Vgl. hierzu Keil 1978.

Die Handschrift aus dem Bestand der Bibliothek von Durham findet sich erwähnt bei Becker 1885, S. 243f.: Ecclesia Dunelmensis. Jene aus dem Bestand von York ist aufgelistet bei Humphreys 1990, S. 110 (Sign. 453/c). Der Heidelberger Codex ist erwähnt bei Schuba 1981, S. XXVI. Moulinier 1995, S. 31.

-

4

Vgl.

Stein 1920.

Kapitel 7

302

Prolog des Liber vitae meritorum} Allerdings ersetzt Bruno Hildegards Titelformulierung Liber subtilitatum durch die Nennung eines Liber simplicis medicinae und eines Liber compositae medicinae. Außerdem wurde Bruno von den Inquisitoren bzw. vom Rupertsberger Konvent beauftragt, zitierte

er aus

dem

sämtliche Werke der

Schriften,

mit

zum

Seherin, darunter die beiden naturkundlich-medizinischen

Kanonisationsprozeß

nach Rom

zu

bringen:

etiam eius, que conventus iuratus confessus est sua esse, scilicet librum Scivias, librum Vite meritorum, librum Divinorum operum, Parisius per théologie magistros examinâtes; librum Expositionis quorundam evangeliorum, librum Epistolarum, librum Simplicis medicine, librum Composite medicine ac Cantum eius cum Lingua ignota, cum libello qui de eius vita conscriptus (est), per eundem Brunonem sacerdotem, Sancti Petri in Argentina custodem, virum fidelem ac bone fame et supradicti monasterii procuratorem, sub sigillis nostris clausos transmittimus ...2

Scripta

Hervorzuheben in diesem Zitat ist die eidliche Versicherung des Rupertsberger Konvents, Hildegard habe einen Liber simplicis medicinae und einen Liber compositae medicinae, offensichtlich zwei getrennt vorliegende Schriften, verfaßt. Allerdings stammt auch diese Formulierung erst aus der Zeit des anlaufenden Heiligsprechungsprozesses, ist also um 1233 entstanden. Sie kann mithin nicht als zuverlässige Aussage über den Status und die Benennung dieser Schriften zu Hildegards Lebzeiten gewertet werden. Letztendlich ist der Benediktinermönch Richer ([Alberich]; f 1267) aus der in den Vogesen gelegenen Abtei von Senones zu nennen. Richer gibt in seiner Chronik der Abtei von Senones an, er habe 1254 ein heilkundliches Werk Hildegards in Straßburg gesehen: „Hildegardis [s]cripsit etiam librum medicinalem ad diversas infirmitates quam ego Argentinie vidi."3 Was sich hinter der Bezeichnung „Librum medicinalem ad diversas infirmitates" verbirgt (der LCM}), bleibt gleichwohl unklar. Richer, der im übrigen auch als Maler und Bildhauer hervorgetreten ist, berichtet lediglich noch, er habe in Straßburg seine schulische Ausbildung empfangen. Die Begegnung mit Hildegards Werk wird also, so darf man annehmen, im Zusammenhang dieser schulischen Ausbildung erfolgt sein. Mehr läßt sich kaum ermitteln. Richers Chronik der Abtei Senones ist nicht in der Volkssprache abgefaßt, die sich zu dieser Zeit auf breiter Front ausdehnte. Sie erscheint in einem oft fehlerhaften, an der gesprochenen Rede orientierten Latein. Zwar versucht Richer, Rechenschaft abzulegen über die von 1

Canonizatio Sanctae Hildegardis in Vita Hildegardis (dt.) 1998, S. 268: „Preterea cum magistrum terrenum non habuerit, quadragesimo secundo etatis sue anno libres non paucos scribere incepit Spiritus sancti revelatione, quod plenius in accessu libri eius Scivias continetur, scilicet: librum Simplicis medicine, librum Composite medi...

cine ..."

2

3

Canonizatio Sanctae Hildegardis in Vita Hildegardis (dt.) 1998, S. 272f. Richerus Gesta Senonensis ecclesiae, S. 306 5. Zu Richer vgl. Manitius 1931, S. 233f. Gasse-Grandjean 1992, insbesondere S. 152-155. -

Das naturkundlich-medizinische Werk

303

Quellen (mündliche Überlieferung, ältere Chroniken, eigene Anschauung), häufig schöpft er aber aus der reinen Erinnerung. Der Quellenwert seiner Äußerungen ist daher eingeschränkt. Die Chronica Senonensis ist nicht mehr und nicht weniger als eine der typischen, nicht überzubewertenden Lokalchroniken jener Zeit, wie sie in vielen Klöstern nicht nur Lothringens ihm verwendeten

entstanden sind.1

letztgenannten Rezeptionsspuren sichtbar werdende Trennung Hildegards natur- und heilkundlichem Werk in zwei separate Schriften muß sich im Verlaufe des 13. Jahrhunderts allgemein durchgesetzt haben. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bezeichnet der englische Chronist Matthaeus von Westminster den Liber Subtilitatum als „Librum simplicis medicinae secundum creationem octo [!] libros continentem"2 und „Librum compositae medicinae de aegritudinem causis, signis atque curis". Das Zitat, das große Ähnlichkeit zu der weiter oben zitierten Gebeno-Passage aufweist, stammt aus den Flores historiarum des Matthaeus von Westminster, einer Fortsetzung der Flores historiarum ab origine mundi usque ad a. 1250 des Matthaeus Parisiensis, hier zum Jahre 1292.3 Das Zitat ist von besonderer Bedeutung, da es den frühesten Die in den

von

Hinweis auf den Inhalt der beiden Schriften liefert. Die Acta canonisationis nennen zwar die Titel, gewähren aber keinerlei Aufschlüsse über ihren Inhalt. Im übrigen ist die Feststellung des Matthaeus von Westminster, Papst Eugen III. habe alle Werke Hildegards inklusive der natur- und heilkundlichen approbiert, im Mittelalter zwar durchaus verbreitet, aber keineswegs zutreffend.4 Die Approbation bezog sich ausschließlich auf den Scivias, der zu diesem Zeitpunkt nicht einmal fertiggestellt war. 1

Das

Original

hat sich erhalten. Es

Nationalbibliothek Paris. 2

3 4

liegt

unter

der

Signatur

Cod. lat. 10016 in der

Die irrige Angabe des Matthaeus, der LSM umfasse acht anstatt neun Bücher, rührt vermutlich daher, daß das Buch De elementis, das, von einer Ausnahme abgesehen (Brüssel, Bibl. Royale, 2551), immer an zweiter Stelle nach dem Buch De plantis erscheint, eine von den übrigen Büchern abweichende Struktur besitzt. Da es keine praefatio und kein Inhaltsverzeichnis hat, konnte es beim Zählen leicht übersehen werden. Allerdings ist auch nicht auszuschließen, daß Matthaeus einen Textzeugen des LSM vor Augen hatte, der tatsächlich nur in acht Bücher eingeteilt war. Letztendlich könnte die falsche Zählung auf Gebeno zurückgehen. Die weiter oben zitierte, aus dem 13. Jahrhundert stammende Handschrift der BSB München Clm 2619 spricht in ihrem Gebeno-Teil, und zwar im zweiten Prolog zum Pentachronon, ausdrücklich von acht Büchern des LSM. Zit. nach Schrader/Führkötter 1956, S. 55. Matthaeus bringt zunächst eine Aufzählung von Hildegards Schriften, die ähnlich ausführlich ist wie jene in den Acta canonisationis. Dann folgt die Bemerkung: qui omnes recepti sunt et canonizati a papa Eugenio, in concilio Trevirensi, praesentibus multis episcopis tarn Francorum quam Teutonicorum, et sancto Bernardo clarevallensi abbate." Matthaeus Westmonasteriensis Flores, S. 487. „...

Kapitel 7

304

Als maßgebliche Autorität aus dem 15. Jahrhundert, die das (getrennte?) Vorhandensein der beiden natur- und heilkundlichen Werke auf dem Rupertsberg bezeugt, läßt sich Johannes Trithemius anführen. Die Abschriften des Trithemius aus dem Riesencodex (London, BL, Cod. Add. 15102) zählen auf f. lv alle größeren Werke Hildegards auf, darunter auch den LSM und den LCM. Auch in seinem Catalogus illustrium virorum erwähnt Trithemius die beiden Schriften: item aliud simplicis medicinae praenotatum lib. 1. & aliud compositae medicinae praetitulatum Hb. \.'n Trithemius fügt hier die recht interessante Bemerkung an, in beiden Schriften würden die Wunder und Geheimnisse der Natur tiefgründig auf einen mystischen Sinn hin ausgelegt. Als Frau habe Hildegard dies nur deshalb vemocht, weil sie vom heiligen Geist inspiriert gewesen sei.2 In gleicher Weise beschreibt die Hirsauer Chronik des Trithemius das natur- und heilkundliche Werk Hildegards im Sinne von zwei getrennt vorliegenden Schriften: „...

et remedijs omnium morborum humani corporis, opus insigne, quod Medicinam praenotavit compositam, et incipit: Deus ante creationem mundi absque initio fuit et est. Item alium librum de Naturis herbarum, quantum ad curam humani corporis pertinent, satis pulchrum edidit, quem Simplicem medicinam

De causis

praenotavit.3

Auffällig hieran ist, daß Trithemius in seinem Schriftstellerkatalog entgegen seiner sonstigen Gewohnheit von den beiden natur- und heilkundlichen Werken (ebenso wie vom Liber vitae meritorum) nur ein einziges Incipit angibt. Es ist jenes zum LCM („Deus ante creationem ..."). Es läßt sich daher bezweifeln, ob die von F. A. Reuss geäußerte Vermutung zutrifft, Trithemius sei schon damals im Besitz von Abschriften dieser Werke gewesen.4 Die Erwähnung beider Werke in den Hirsauer Annalen führt zwar ein Incipit an, aber ebenfalls nur jenes zum LCM, wie es im Kopenhagener Textzeugen der Kgl. Bibl. Ny kgl. 90 b 2° erscheint. Der LSM hingegen wird lediglich verkürzend als das Buch De herbis erkennbar („Librum de Naturis herbarum"). Sabina Flanagan hat aus dieser Tatsache den Schluß gezogen, daß Hildegard zunächst ein Werk über die Pflanzen, also ein Herbarium, geschrieben habe. In diesem Bereich der Naturkunde habe sie, wie der Umfang des (in der Edition der Patrologia Latina) 230 Catalogus, S. 138.

1

Trithemius

2

„...in his duobus mirabilia sensum

& secreta naturae subtili expositione ad mysticum refert, ut nisi à spiritu sancto talia, faemina scire minime posset." Trithemius

Catalogus, S. 138.

3

4

Trithemius Chronicon Hirsaug., S. 134. Es erscheint nahezu die gleiche Formulierung wie im Schriftstellerkatalog: „In libris medicinis mirabilia multa et secreta naturae subtili expositione ad mysticum sensum refert, ut nisi a Spiritu sancto talia femina scire posset." Vgl. Opera omnia 1855, Sp. 1123-1124: optime novit permagnique habuit clarissimus J. Trithemius, qui archetypum in S. Ruperti monte asservatum sibi transcribi curavit." „...

...

Das naturkundlich-medizinische Werk

305

Kapitel umfassenden Textes erkennen lasse, die besten Kenntnisse besessen. Die übrigen Teile habe Hildegard nach und nach ergänzt, um eine für das Mittelalter typische Erwartungshaltung nach einer regulären Enzyklopädie der Naturgeschichte zu befriedigen. Diese beziehe Zoologie, Botanik und Mineralogie mit ein.1 Sollte die Ansicht Flanagans zutreffen was durch Beobachtungen von Laurence Moulinier abgestützt wurde2 so könnten von dieser supponierten Keimzelle des LSM auch zu Zeiten des Trithemius noch selbständige Textzeugen kursiert sein. Bedenkt man den vergleichsweise großen Umfang von De herbis1 (f. lrb-29vb in der Florentiner Handschrift), so gewinnt die Vermutung an Gewicht, dieser Text sei ursprünglich selbständig gewesen und erst nachträglich mit den später entstandenen übrigen Teilen des LSM verbunden worden. Der in diesem Phänomen sich offenbarende dynamisch-prozeßhafte Entstehungs- und Überlieferungscharakter des Werkes ist in der Hildegard-Forschung, ebenso wie die Annahme späterer, nicht auf Hildegard zurückgehender Ergänzungen, mittlerweile weitgehend akzeptiert.4 Mit dem Circa instans liegt im übrigen ein analoges Beispiel einer dynamisch gewachsenen medizinischen -

-

Schwellhandschrift vor. Die ältesten Fassungen dieses Werkes beinhalten nicht mehr als 273 Kapitel, die jüngste hingegen 486.5 Mit Bezug auf den Florentiner Textzeugen des LSM hat Laurence Moulinier darüber hinaus festgestellt, daß das Kapitel 172 (De Fungis) eine Art Scharnier bildet. Bis dorthin wirkt der Text einheitlich. Hinzu kommen ein an dieser Stelle stattfindender Schreiberwechsel und der Verzicht auf die bis dahin praktizierte Rubrikation. Schließlich tritt eine zweite Zählung auf, die parallel zur ersten praktiziert wird. Da in der tabula das folgende Kapitel als De diversitate fungorum Moyses angekündigt wird, wäre es denkbar, daß hier Moses Maimonides (f 1208) als Autor ins Spiel gebracht wurde. Wie dem auch sei, Laurence Moulinier hat es auf den Punkt gebracht, wenn sie schreibt: „La Physica est bel et bien un texte à plusieurs niveaux et à plusieurs temps, qui ne résulte en aucun cas de la simple mise par écrit des observations personnelles de Hildegarde."6 Eine andere merkwürdige Formulierung aus der zitierten Passage der Hirsauer Annalen fällt auf: Trithemius bezeichnet den LSM als „satis pulchrum". Ob hinter dieser Formulierung möglicherweise eine illuminierte Fassung des 1 2 3

4

Vgl. Flanagan 1989, S. 82. Vgl. Moulinier 1994. Die Bezeichnung dieses Buches als De herbis und De plantis variiert. Vgl. Schrader/Führkötter 1956, S. 58: „Der LSu liegt zwar als ein Werk,

das

5

bestimmte Themata behandelt, vor, aber diese Themata waren in ihrer Besonderheit einer über die ganze Lebenszeit der Meisterin hinreichenden Erweiterung fähig. Die Basis des LSu ist nicht die Vision, sondern die natürliche Erkenntnis und Erfahrung. So konnte die Stoffsammlung und ihre Niederschrift sich nach Abschluß des eigentlichen Werkes noch weiter über die folgenden 20 Lebensjahre Hildegards erstrekken." So Moulinier 1994, S. 84.

6

Moulinier 1994, S. 85.

Kapitel 7

306

Textes steht, bleibt unklar. Theoretisch könnte sich die Angabe auch auf einen besonders reich ausgestatteten Einband oder auf eine kalligraphisch gestaltete Schrift beziehen. Denkbar ist schließlich, daß es in der Tat Miniaturen gab, die der Illustration des Inhaltes dienten. Lassen wir die ausschließlich über literarische Nennungen zu dokumentierende Uberlieferungsgeschichte des Liber subtilitatum damit auf sich beruhen. Die zitierten Belege haben gezeigt, daß im Mittelalter ein Werk dieses Namens bekannt war, auch wenn sich kein einziger (zumindest kein autornah entstandener) Textzeuge erhalten hat. Hinzuweisen ist noch auf die Tatsache, daß, wie der Wolfenbütteler Textzeuge des LSM zeigt, ab dem 13. Jahrhundert die Bezeichnung Liber subtilitatum auch auf den LSM allein angewendet wurde.1 Es läßt sich also nicht davon ausgehen, daß dort, wo die Bezeichnung Liber subtilitatum erscheint, tatsächlich immer das natur- und heilkundliche Werk in seiner (zwei Schriften umfassenden) Gesamtheit bzw. in seiner entstehungsgeschichtlichen Urform gemeint ist. Die aus heutiger Sicht betrachtet so spärlich anmutende Überlieferung der natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards muß in dieser eingeschränkten Weise nicht unbedingt auch auf das Mittelalter zugetroffen haben. Hier gilt die vorsichtige Wertung Irmgard Müllers : „Angesichts des Ruhmes und der Bedeutung Hildegards überrascht [der; Ergänzung] schmale Überlieferungsweg, wie er sich bisher darbietet. Ob diese spärliche Rezeption der historischen Realität entspricht oder ob sie nur Ausdruck eines bisher fehlenden Forschungsinteresses sein könnte, ist noch nicht abschließend zu beurteilen, da die systematische Suche in den Archiven nach originären medizinischen Texten Hildegards erst begonnen hat."2 Auch die Frage, ob die unterbliebene Untersuchung des naturund heilkundlichen Werkes im Rahmen des Heiligsprechungsprozesses durch die Professoren der Sorbonne (um 1230) als Hinweis auf eine Minderbewertung dieser Schriften gegenüber den visionären Werken betrachtet werden darf, muß (obwohl einiges dafür spricht) offenbleiben. Dieses Faktum ist zunächst als ein Phänomen zu konstatieren, ohne voreilige Schlüsse daraus zu ziehen, die eine unvoreingenommene Einordnung der naturkundlichen Schriften in das überlieferungsgeschichtliche Gesamtpanorama Hildegards erschweren könnten. 7.2 Der Liber

simplicis medicinae [LSM; Physica]

Der LSM liegt in fünf vollständigen und acht fragmentarischen Textzeugen vor. Hinzu kommt die Straßburger Editio princeps des Textes aus dem Jahre 1533. Sie ist grundsätzlich in die Bewertung der Überlieferung miteinzubeziehen, auch wenn die handschriftliche Vorlage verschollen ist. Textbestand und Anordnung der Editio princeps sind mit keiner bekannten Handschrift des 1

Der Codex 56, 2

Bezeichnung:

2

Aug.

„Beate

Müller 1998, S. 4.

4"

HAB Wolfenbüttel trägt auf f. lr die Liber subtilitatum de diversis creaturis."

(olim 3591) der

Hildegardis

Das naturkundlich-medizinische Werk

307

LSM identisch. Laurence Mouliner hat der Editio

graphie gewidmet,

auf die hier immer wieder

princeps eine eigene zurückgegriffen wird.'

Mono-

Überlieferung

des LSM 7.2.1 Die handschriftliche des LSM I. Die vollständigen Textzeugen 1. ) F Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Cod. laur. Ashb. 1323 standen vor dem 5. Dezember 1292 [?] in Trier-St. Eucharius) 104f. 2. ) W = Wolfenbüttel, HAB, Cod. 56, 2. Aug. 4° (olim 3591), f. l-174v; =

(ent(ent-

standen im 13./14. Jahrhundert, Entstehungsort unbekannt). 3. ) P Paris, BN, Cod. lat. 6952, f. 156-232 (entstanden um 1425/50 in Speyer). Vorlage für die Edition des Textes in der Patrologia Latina. 4. ) V Vatican, Biblioteca Vaticana, Cod. Ferraioli 921, f. l-68r (entstanden =

=

1449;

ca.

Entstehungsort unbekannt).

Brüssel, BR, Cod. 2551, f. 3-124; (entstanden Mitte des

Jahrhunderts, Entstehungsort unbekannt). IL Die Exzerptüberlieferung des LSM 1. ) A Augsburg, UB, Cod. 111.12° 43, f. 59v-66v (früher Schloßbibliothek Oettingen-Wallerstein in Harburg, dann Bayerische Staatsbibliothek München); (entstanden im 3. Viertel des 15. Jahrhunderts in Nordbayern). 2. ) Bgr Berlin, StBPrK, Ms germ. f. 817, eingestreut in: f. l-61v (fragmentarischer Textzeuge in deutscher Übersetzung (Speyerer Kräuterbuch), entstanden im Jahre 1456 von Wilhelm Gralapfp] aus in Speyer. 3. ) M Mainz, StB, Hs I 525 (44f.; f. 5r-45v: Kräuterbuchkompilation mit über 200 Kapiteln des Macer, ferner einer dt. Übers, von Hildegards Liber de plantis aus dem LSM, dem Circa instans und dem Macer Floridus), entstanden Mitte des 15. Jh. im rheinfränkischen Raum. 4. ) Be Bern, Burgerbibliothek, Cod. 525, f. 18r-23r (entstanden im 15. Jahrhundert, Entstehungsort unbekannt). 5. ) Fr Freiburg i. Br., UB, Ms 178a, f. l-15r (entstanden um 1390/1400, Entstehungsort unbekannt). 5. ) B

=

15.

=

=

=

=

=

6. ) Pal 1

Vatikan, Bibliotheca Vaticana, Cod. Pal. lat. 1207, f. 64r-65v (entstanden 1425/47 in Heidelberg, geschrieben von Gerhard von Hohenkirchen). 7. ) Pal 2 Vatikan, Biblioteca Vaticana, Cod. Pal. lat. 1216, f. 91v-95 (entstanden Ende des 14. Jahrhunderts in Schaffhausen, geschrieben von Nicolaus Hasel und Johannes Ceci). 8. ) Pal 3 Vatikan, Biblioteca Vaticana, Cod. Pal. lat. 1144, f. 128v-129r (entstanden in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Heidelberg, geschrieben z. T. von Erhard Knab). =

=

=

l

Moulinier 1995.

Kapitel 7

308

Versucht man, die vollständigen und fragmentarischen Textzeugen des LSM in ihrem textkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Rang zu evaluieren, so ergeben sich einige neue Aspekte auch im Hinblick auf die Verwendungsund Wirkungsgeschichte des Textes. des LSM I. Die Leithandschrift des LSM: Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Cod. laur. Ashb. 1323 Der älteste erhaltene vollständige Textzeuge des LSM, die Florentiner Handschrift Bibl. Laurenz. Cod. laur. Ashb. 1323, ist etwa 150 Jahre nach der Entstehung des Werkes geschrieben worden. Pater Petrus Becker OSB aus der Abtei Trier-St. Matthias hat den Textzeugen 1983 in Florenz entdeckt,1 Raimund Struck und Reiner Hildebrandt haben auf seine entscheidende Bedeutung für die authentische Textgewinnung des LSM hingewiesen.2 Was die Entstehungszeit des Florentiner Textzeugen anbetrifft, so existieren hierüber unterschiedliche Auffassungen. José Carlos Santos Paz datiert die Abschrift im Anschluß an einen Bibliothekskatalog der Ashburnham-Handschriften in das 14. Jahrhundert. Er gibt nur das Jahr 1385, aus dem ein datierter Besitzeintrag vorliegt, als terminus ante quem für die Entstehung an.3 Laurence Moulinier verweist den Florentiner Textzeugen in die Zeit um 1300. Ich selbst möchte aus Gründen, die weiter unten dargelegt werden, für eine Entstehung unmittelbar vor dem 5. Dezember 1292 plädieren.4 Daß die Abschrift im Kloster Trier-St. Matthias zustande kam, ist unbestritten. Auf dem vorderen Deckblatt findet sich der Vermerk: „Codex monasterij sancti mathie apostoli extra muros Treuerenses ad vsum pastorie Vilmari sedis". Dieser Eintrag entspricht in seinem Stil und seiner Wortwahl den zu dieser Zeit üblichen Besitzeinträgen der Trierer Benediktinerabtei. Die Beschreibung des noch nicht edierten Textzeugen kann sich an dieser Stelle auf einige wenige Details beschränken, die im Hinblick auf die Uberlieferungsgeschichte des LSM von Bedeutung sind. Der Text (104 f. im Format 26 x 20 cm) ist zweispaltig angeordnet und stammt von mehreren Händen. Wie verschiedene Schreibervermerke erkennen 7.2.1.1 Die

1

2

vollständigen Textzeugen

Pater Petrus Becker erscheint in der Sekundärliteratur immer wieder unter dem falschen Vornamen Paulus. Um ihm die volle Finderehre zuzuerkennen, sei dieser Irrtum hier korrigiert. Einen Hinweis auf die Handschrift erhielt Petrus Becker von Pater C. Lambot aus Maredsous. Struck 1985. Hildebrandt 1998a. Hildebrandt bringt eine synoptische Gegen-

überstellung des Kapitels über den weinstock (LSM, III, Cap. 54) aller bekannten Textzeugen. Außerdem liefert er einen Kommentar zu den deutschen Wörtern. Santos Paz 1996, S. 199. Vgl. Catalogue London 1853, Nr. 1323. Der Katalogeintrag gibt lediglich zu erkennen, daß die Handschrift einen anonymen Tractatus de rerum natura enthält. Von moderner Hand ist der Name Hildegards ergänzt. -

3

-

4

Moulinier 1993a, S. 629.

Das naturkundlich-medizinische Werk

309

lassen, wurde eine ältere, mittlerweile nicht mehr vorhandene Vorlage kopiert. Auf f. 52vb (Zeile 29) beispielsweise findet sich der Vermerk: „hic deest sicut in exemplari". Eine spätere Hand fügte die Angabe bei: „Ex alio libro hic descrip-

ersten Bücher des Textes weisen eine Fülle handschriftlicher Marauf. Die Kapitelüberschriften sind teilweise rubriziert, allerdings nur ginalien auf f. l-35r und 101r-104r. Für die übrigen Teile, die die Hauptmasse des Textes ausmachen, fehlen die Rubrikationen. Auch die Initialen, für die entsprechender Raum freigelassen wurde, sind nicht ausgeführt. Am Textende (f. 101-104) findet sich ein lateinisch-deutsches Glossar mit Angabe der Gegenstände, die in den verschiedenen Kapiteln der Schrift behandelt wurden und ihrer Nutzanwendung. Ein ähnliches Glossar besitzt auch der Wolfenbütteler Textzeuge HAB, Cod. 56. 2. Aug. 4° (f. 173ra-174va). Aufgrund der zeitlichen Differenz zwischen Urschrift und Abschrift läßt sich, auch wenn hierfür kein Beweis erbracht werden kann, nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß der Florentiner Codex den authentischen Text in seiner ursprünglichen Gestalt repräsentiert. Bei der Vorstellung des visionären Werkes ist deutlich geworden, daß die autornahe (Rupertsberger) Produktion von Abschriften der Werke Hildegards nach dem gescheiterten Kanonisationsversuch, also nach 1233/37, deutlich abnahm. Dies bedeutet, daß die normierende Textkontrolle, wie sie für die Rupertsberger Textzeugen trotz geringfügiger Abweichungen untereinander gegolten hat, nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Auf der anderen Seite gewähren die im Florentiner Textzeugen reichlich vorhandenen Provenienzvermerke wichtige Einblicke in die konkrete Benutzungsfunktion der Handschrift und somit des Textes selbst. Zunächst fällt auf, daß der Florentiner Codex zwar einen Besitzvermerk, aber keine alten Signaturen der Abteibibliothek von St. Matthias, trägt. Dies ist ein Hinweis darauf, daß der Text von vornherein für eine Verwendung außerhalb des Trierer Klosters hergestellt wurde. Da man jedoch nicht davon ausgehen kann, daß das einzige in St. Eucharius vorhandene Exemplar des Textes weggegeben worden sei, wird man dort (worauf auch die o. a. Schreibervermerke hindeuten) eine ältere Vorlage postulieren dürfen, die in St. Matthias verblieb. Immerhin hatte bereits der mit Hildegard befreundete Abt Ludwig (Amtszeit 1168-1186) ein Spital im Klosterbereich gegründet, das Hospital zum hl. Nikolaus. Unter Abt Theoderich (Amtszeit 1257-1287) erhielt dieses Hospital einen eigenen Bau oder Neubau. Petrus Becker geht davon aus, daß dieses Hospital „vornehmlich als Heim für Bedrängte und Alte weniger für Pilger" gedacht war.1 Seine Hauptfunktion hätte sich damit auf das Kloster selbst gerichtet. Es ist durchaus denkbar, daß in diesem Hospital ein Textzeuge von Hildegards natur- und heilkundlichen Werken bereitlag, der zum Ende des 13. Jahrhunderts hin kopiert werden konnte. Vom 13. Jahrhundert an, so hebt Petrus Becker hervor, sprechen die Quellen deutlicher von einer ärztlichen Fürsorge in St. Matthias. Diese Tendenz schlug sich auch im Handschriftenbestand tus

est." Die

1

Becker 1996, S. 323.

Kapitel 7

310

der Abtei nieder. Es findet sich zu dieser Zeit beispielsweise der Traktat De pestilentia des Kanonikers und Medizinprofessors Peter von Viersen1, und zum 5./6. Juli sowie zum 12./13. Dezember ist in einem Nekrolog der Abtei ein gewisser „Henricus medicus" mit einem Legat eingetragen. Außerdem sind einige Sammelhandschriften mit medizinischen Traktaten nachgewiesen, die das Vorhandensein von Hildegards natur- und heilkundlichen Schriften in ein größeres Spektrum ähnlicher Werke einordnen.2 Wie angedeutet, erscheint auf f. lv des Florentiner LSM-Textzeugen ein Besitzvermerk, der auf eine Verwendung des Codex außerhalb der Trierer Abtei hindeutet: ad usum pastorie Vilmari sedis".3 Demnach wurde die Handschrift für die damals zur Grundherrschaft der Abtei Trier-St. Matthias gehörende, im heutigen Landkreis Limburg-Weilburg liegende Pfarrei Villmar angefertigt. Der Vermerk wurde vermutlich in Trier-St. Matthias eingetragen, unmittelbar nachdem die Kopie fertiggestellt war. Was hat es nun mit der Verwendung von Hildegards LSM in Villmar auf sich ?4 „...

August 1053 hatte Kaiser Heinrich III. den Trierer Benediktinern den Königshof Villmar übertragen. Die Ubereignung geschah zum Dank für eine Schenkung von Reliquien des hl. Valerius durch den Konvent von St. Matthias. Dessen (der Überlieferung nach) in Trier befindliches Grab war 1049/50 geöffnet worden. Heinrich seinerseits gab die Valerius-Reliquien an die kurz zuvor gegründeten Stifte St. Simon und St. Juda in Goslar weiter. Die urkundliche Bestätigung der Schenkung Villmars an die Abtei St. Matthias benötigte, wie Heinz Quirin darlegt, mehr als hundert Jahre, bis sie über Verunechtung und Fälschung zu dem geformt war, was als rechtliche Grundlage des Besitzes galt und in verschiedenen Bestätigungen von Päpsten und Kaisern schließlich sanktioniert wurde.5 Eine Bestätigungsurkunde Kaiser Heinrichs IV. vom Am 5.

alten

1

2

3

von Viersen war von der Universität Trier nach Mainz gewechselt, wo er als Leibarzt des Kurfürsten von Mainz und Rektor der dortigen Universität wirkte. Er ist aber auch in St. Matthias mit einer Stiftung von zehn Goldfloren erwähnt. Bei der Eröffnung der Universität Trier im Jahre 1473 war Viersen als Vertreter der medizinischen Fakultät anwesend. Vgl. Zenz 1949, S. 144. Zu seiner Person vgl. Matheus 1980, S. 118f. Es sind dies die bei Becker 1996 als Nummern 106, 147 und 168 aufgeführten Handschriften. Die Codices stammen aus dem 13. bis 15. Jahrhundert und enthalten nahezu die gleichen Autoren und Texte, die auch mit den natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards kombiniert wurden (Galen, Gerhard von Cremona, Platearius, Circa instans, Petrus Hispanus, Constantinus Africanus, Rhazes und Walter Agilon). Santos Paz 1996, S. 199 Fußn. 17, liest den Besitzvermerk irrtümlich als „ad usum pastorie Vantariensis". Moulinier 1995, S. 50, identifiziert den Eintrag unzutreffend als „ad usum pastorie [?] Vamaricutis [?]". Die Darstellung der im folgenden geschilderten historischen Ereignisse basiert auf

Peter

-

4

Becker 1996. 5

Quirin 1961, S. 76-80, betrachtet diesen Entwicklungsgang als Musterbeispiel für eine mittelalterliche Fälschung. Zur Geschichte Villmars vgl. Hau 1936.

Das naturkundlich-medizinische Werk

311

wurde von König Karl IV. im Februar 1354 erneuert. AllerVerhältnis der Abtei zu den Villmarer Vögten keineswegs spandings war das und auch von Seiten des Trierer Kurstaates gab es immer wieder nungsfrei, des Territoriums zu setzen. Diese Bestrebungen sich in Besitz den Bemühungen, waren Mitte des 16. Jahrhunderts von Erfolg gekrönt. Am 24. Juni 1563 verpachtete die Abtei St. Matthias den Flecken Villmar mit Hof und Pfarrei samt Dörfern und Rechten auf 25 Jahre an Kurfürst Johann VI. von Trier. Und am 18. September 1565 verkauften die Grafen von Isenburg und von Solms als adlige Vögte Villmars die Vogtei mit Einwilligung des Mattheiser Abtes Heinrich III. von Koblenz an den Trierer Kurfürsten. Neben der Arrondierung des kurtrierischen Herrschaftsgebietes im Nordosten diente dieser Kauf der Sicherung der katholischen Konfession gegenüber den virulenten Reformationsbemühungen des Kaspar Olevian (1536-1587). Der Bezug dieser historischen Hintergründe zum Florentiner Textzeugen des LSM läßt sich noch weiter konkretisieren. Ursprünglich war in Villmar kein Mönch aus St. Matthias als Güterverwalter installiert. Dies änderte sich im Jahre 1292, als es zu einer massiven Bedrohung der klösterlichen Eigentumsrechte durch die zu den Häusern Isenburg und Solms gehörenden Vögte kam. Aufgrund dieser gefährlichen Konstellation entschloß sich die Trierer Abtei, ein Mitglied des eigenen Konvents zum Pfarrvikar von Villmar einzusetzen Diesem Konventsmitglied wurde die Sorge um den Besitz der Grundherrschaft anvertraut. Die neue Verwaltungseinheit trug die zusammenfassende Bezeichnung Pastorey. Diese Villmarer Pastorey avancierte rasch zum Haupt- und Verwaltungsort für alle Rechte und Güter der Abtei St. Matthias im trierischen Untererzstift. Hierzu gehörten u. a. die inkorporierten Pfarreien Oberbrechen und Niederberg, die Grundherrschaft Polch sowie Streubesitz in Koblenz, Andernach, Limburg und einigen anderen Ortschaften. Aufgrund der Bedeutung Villmars als Verwaltungszentrum des nördlichen Außenbesitzes von St. Matthias kann es nicht verwundern, daß dort ein eigenes Archiv und eine eigene Bibliothek geschaffen wurden. Da der Besitzeintrag der Florentiner Handschrift den Vermerk „ad usum pastorie Vilmariense" trägt, wird der Codex im Zusammenhang mit der Bestellung des Trierer Verwalters, d. h. um den 15. November 1292, nach Villmar gegangen sein. Vermutlich war gerade die Bestellung des Pfarrvikars der Anlaß für seine Herstellung. Trifft diese Vermutung zu, so kennen wir den ersten Besitzer der Florentiner Handschrift: es war der Benediktiner Hermann von Solms, der von 1292 bis 1317 als Pfarrvikar der Abtei St. Matthias in Villmar tätig war. Hermann von Solms wurde von der Trierer Abtei am 15. November 1292 zur Investitur als Pfarrer von Villmar präsentiert. Nach dem 5. Dezember 1292 fand seine Investitur statt.1 Der 5. Dezember 1292 liefert mithin den terminus ante 22. Oktober 1111

1

„1292 nov. 14: Erzb. Boemund v. Trier erlaubt dem Abt Alexander und Convent von S. Matheis [!] bei Trier die Besetzung der Pfarrei Vilmar mit einem ihrer Conventualen. 1292 fer. 6 post Martini. Orig. in Coblenz." Und in Nr. 2090 zum 15. November 1292 heißt es: „Derselbe communicirt dem Archidia-

Vgl. Goerz 1886, Nr. 2089:

Kapitel 7

312

quem für die Fertigstellung des Florentiner Textzeugen. Die offizielle Amtszeit Hermanns reichte bis zum Jahre 1317. Am 11. August dieses Jahres schlug Her-

mann der Gräfin von Westerburg den Mönch Wiegand zum Kaplan (nicht zum Vikar) vor, blieb aber selbst Pfarrer der Filiale. Ob Wiegand die Kaplansstelle erhielt, läßt sich nicht mehr ermitteln. Wie Petrus Becker wohl zu Recht annimmt, diente Hildegards Werk in Villmar als „Gesundheitsbuch", gehörte

also vermutlich zum medizinischen Grundbestand der Villmarer Pfarrbibliothek. Dies würde bedeuten, daß es im Umfeld der dortigen Pfarrseelsorge eingesetzt wurde.1 Die spätere Provenienzgeschichte der Florentiner Handschrift läßt sich nicht so gut rekonstruieren wie die frühe. Fest steht, daß der Codex im Laufe des 14. Jahrhunderts aus dem Bestand der Pfarrei Villmar ausgegliedert wurde, ohne daß wir die näheren Gründe für diesen Vorgang wüßten. Allerdings weist die Liste der Pfarrvikare von Villmar zwischen dem Amtsende des Hermann von Solms (1317) und dem Amtsbeginn des auf ihn folgenden Vikars eine mehr als hundertjährige Lücke auf. Der nächste sicher zu benennende Villmarer Vikar wurde im Jahre 1422 Heinrich von Köln. Es ist also gut denkbar, daß während dieser langen Vakanz die Pfarrbibliothek aufgelöst oder einzelne Werke daraus versetzt wurden. Hildegards Schrift könnte beispielsweise an einen Arzt abgegeben worden sein. Wie dem auch sei, 1384 erwarb der Mediziner Wilhelm Ries die Handschrift in Aachen aus dem Vorbesitz eines Chirurgen mit Namen Wydonius. Über die Person des Wydonius sowie über seine Beziehungen zur Abtei St. Matthias und zur Pfarrei Villmar läßt sich nichts ermitteln. Was den dritten Besitzer des Codex, Wilhelm Ries, anbelangt, so hält es Laurence Moulinier unter Bezug auf Ernest Wickersheimer für möglich, daß es sich hierbei um den Doktor der Medizin Guilelmus de Ries handeln könnte. Dieser wird im Jahre 1391 in einem Chartular der Kathedrale von Notre Dame in Paris erwähnt.2 Jedenfalls ist sicher, daß der LSM über mehrere Jahrzehnte hinweg außerhalb des Klosters vor Ort (in Villmar) benutzt wurde und daß der Text sich ab 1384 in Händen von praktizierenden (Wund-)Ärzten (?) des niederrheinischen Raumes befand. Auf diesen ganz konkreten Sitz im Leben deutet auch das oben erwähnte deutsch-lateinische Glossar hin (f. 101r-104r). Es stellt eine Synonymenliste mit einem Indikationenverzeichnis dar, die zur leichteren Benutzung solcher Texte gebräuchlich waren. Die Benutzungsfunktion und der

1 2

kon den von der Abtei S. Matheis präsentirten Mönch Hermann v. Solms mit der Pfarrei Vilmar zu investiren. 1292 sab. post Martini. Orig. in Coblenz." Ob darüber hinaus auch der zu Trier-St. Matthias gehörende Mönch Wilhelm von Wolkeringen, der am 8. Mai 1303 in einer Urkunde König Albrechts I. erscheint, als Pfarrvikar von Villmar betrachtet werden kann, ist nicht ganz klar. Vgl. Becker 1996, S. 691. Becker 1996, S. 469, äußert sich mit der Angabe, die Florentiner Handschrift enthalte den „Liber subtilitatum (causae et curae)", etwas ungenau. Moulinier 1995, S. 50. Wickersheimer 1979, I, S. 262. Ries wurde 1391 auf Veranlassung des Parlaments ins Gefängnis geworfen. Vgl. Cartulaire N.-D., III, S. 32. -

-

Das naturkundlich-medizinische Werk

313

Benutzerkreis des heilkundlichen Textes waren mithin, so läßt sich resümieren, völlig andere als die der visionären Schriften Hildegards. Daß infolgedessen auch die Wege der Überlieferung andere waren, kann nicht weiter verwundern. Die Rekonstruktion der Provenienzgeschichte des Florentiner Textzeugen soll mit einigen Hinweisen zu den neuzeitlichen Besitzverhältnissen abgeschlossen werden. Im Jahre 1884 erwarb die italienische Regierung die Handschrift aus dem Privatbesitz des verstorbenen Lord John Ashburnham (1797-1878). Zwei Jahre später beschrieb Léopold Delisle den Codex, doch führte diese Beschreibung noch nicht zur Identifizierung Hildegards als Autorin.1 Delisle hob lediglich die zahlreichen deutschen Wörter im Text hervor und benannte als Vorbesitzer der Handschrift die Familie Huzard. Jean-Baptiste Huzard hatte im Alter von 16 Jahren damit begonnen, Bücher zu sammeln. Bis zu seinem Tode am 30. November 1839 konnte er eine Büchersammlung von etwa 40.000 Bänden zusammentragen. Als diese Sammlung 1843 aufgelöst wurde, erwarb der Bibliophile Guglielmo Libri Carruci Dalla Sommaia (1803-1869) wenigstens drei Handschriften aus der Bibliothek Huzard, darunter den Florentiner Textzeugen des LSM. Libri verlieh dem in der Sammlung Huzard unter der Signatur 1517 stehenden Codex seine heutige Signatur 1323.2 Lord Ashburnham erstand den Codex zwischen 1859 und 1878 von Libri. 1859 war die Handschrift noch innerhalb eines Auktionskataloges von Libri-Codices aufgeführt, den das Auktionshaus Sothebys drucken ließ.3 Es ist an dieser Stelle unumgänglich, noch ein Wort zum Inhalt bzw. Textumfang des Florentiner Zeugen zu sagen. Zum einen muß hervorgehoben werden, daß der Florentiner Textzeuge der umfangreichste aller überlieferten LSAf-Abschriften ist. Er enthält den Textbestand sämtlicher anderen Textzeugen in sich und wird von daher zu Recht die Grundlage der kritischen Edition bilden. Zum anderen ist auf das bedeutsame Faktum hinzuweisen, daß sich innerhalb des Textes umfangreiche Partien des LCM (insbesondere dessen Bücher 3 und 4) wiederfinden, ein Phänomen, das in geringerem Umfang auch auf die übrigen vollständigen Textzeugen des LSM zutrifft. Es ist daher der Frage nachzugehen, ob nicht die Florentiner Handschrift des LSM (als umfassendster Textzeuge) in denjenigen Teilen, in denen sie die erwähnten Textabschnitte des LCM darbietet, den verschwundenen LSu repräsentiert und der LCM lediglich durch nachträgliche Abspaltung und Bearbeitung hieraus entstanden ist. Irmgard Müller hat in einer von ihr erstellten Konkordanz die identischen Teile zwischen dem Florentiner Textzeugen, Buch 3 und 4 der Causae et c«rae-Edition Kaisers, der Physica-Edition Schotts, der Pariser LSMHandschrift 6952 sowie der LSM-Eäition der Patrologia Latina aufgelistet. 1 2 3

Delisle 1886, S. 63.

Vgl. Leblanc 1842, S. 137: „Histoire naturelle et sciences accessoires, n° 1517. Codex monasterii Sancti Mathiae Libri mss 1859, S. 226.

...

Ms du XlVe

sur

vélin

composé de

104 feuillets."

Kapitel 7

314

Eine zweite Konkordanz belegt die Fragmentierung einzelner Abschnitte des LSM in der Fassung der Florentiner Handschrift und deren Verteilung auf die Causae et curae. Aus diesen Konkordanzen geht deutlich hervor, „daß jede Seite des Causae et Curae-Textes aus mehreren wortgleichen Texten einzelner

vielfach lückenlos zusammengesetzt ist."1 Nachfolgend die Konkordanz zwischen der auf der Kopenhagener Handschrift Kgl. Bibl., Ny kgl. 90 b 2" basierenden Causae et Curae-Edition Kaisers und dem Florentiner LSAf-Textzeugen Bibl. Med. Lauren. Ashb. 1323. Die entsprechenden Kapitel aus der Edition Kaisers sind sämtlich den Büchern 3 und 4 der Kopenhagener Handschrift entnommen.

Pbysica-Kapitel

S. 165 S. 166 S. 166 S. 166 S. 167 S. 167 S. 168 S. 168 S. 169 S. 169 S. 170 S. 170 S. 170 S. 171 S. 171 S. 172 S. 172 S. 173 S. 173 S. 173 S. 173 S. 173 S. 174 S. 174 S. 175 S. 175 S. 176 S. 176 S. 177 S. 177 S. 178 l

-

25- 165 07-166 15-166 30- 167: 31- 168 31- 168 04-168 27- 168 02-169 30-169 01-170 14-170 24-170 19-171 30-171 04- 172 24-173 06-173 14-173 22-173 28- 173 32- 174 05- 174 19-175 13-175 24-175 13-176 26- 176 12-177 29- 178 27- 178

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33 15 19 03 02 02 26 31 21 32 13 20 28 27 35 11 29 13 22 27 31 04 16 04 24 31 25 33 25 27 30

Müller 1998, S. 12-17.

Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323

Lib. VII, 004 (ursus) Lib. I, 097 (malva) Lib. I, 097 (malva) Lib. I, 174 (aloe) Lib. I, 006 (pisa) Lib. I, 006 (pisa) Lib. I, 013 (galanga) Lib. I, 198 (balsamita) Lib. I, 178 (balsamita) Lib. II, 002 (aqua) Lib. II, 002 (aqua) Lib. I, 066 (foenecilum) Lib. I, 103 (viola) Lib. I, 066 (foeniculum) Lib. I, 064 (rutha) Lib VII, 014 (bos) Lib. Ill, 005 (persicus) Lib. I, 190 (thus) Lib. I, 109 (absinthium) Lib. I, 109 (absinthium) Lib. I, 170 (brema) Lib. II, 002 (aqua) Lib. I, 189 (aloe) Lib. I, 013 (galanga) Lib. I, 029 (lunckwurcz) Lib. Ill, 043 (juniperus) Lib. I, 211 (huflatta minor) Lib. I, 211 (huflatta minor) Lib. I, 070 (kirbela, cerefolium) Lib. I, 127 (dactylosa, beonia) Lib. I, 065 (hyssopus)

Das naturkundlich-medizinische Werk

Kaiser, S. 178 Kaiser, S. 179 Kaiser, S. 179 Kaiser, S. 179 Kaiser, S. 180 Kaiser, S. 180 Kaiser, S. 180 Kaiser, S. 180 Kaiser, S. 181 Kaiser, S. 181 Kaiser, S. 181 Kaiser, S. 182 Kaiser, S. 182 Kaiser, S. 184 Kaiser, S. 184 Kaiser, S. 185 Kaiser, S. 187 Kaiser, S. 187 Kaiser, S. 187 Kaiser, S. 187 Kaiser, S. 188 Kaiser, S. 188 Kaiser, S. 189 Kaiser, S. 190 Kaiser, S. 190 Kaiser, S. 192 Kaiser, S. 193 Kaiser, S. 193 Kaiser, S. 194 Kaiser, S. 195 Kaiser, S. 195 Kaiser, S. 195 Kaiser, S. 196 Kaiser, S. 197 Kaiser, S. 197 Kaiser, S. 197 Kaiser, S. 198 Kaiser, S. 199 Kaiser, S. 199 Kaiser, S. 200 Kaiser, S. 200 Kaiser, S. 200 Kaiser, S. 201 Kaiser, S. 201

31-179 12- 179 27- 179 36-180 07- 180 13- 180 15-180 25-180 01-181 13- 181 33-182 12- 182 25- 183 01-184 09-184 26- 187 15-187

20-187 25-187 28- 188 05-188 18-189 35-190 14- 190 30-192 30- 193 09-193 22-194 08- 194 13- 195 27- 193 31- 196 03-197 17- 197 28- 197 33-198 32- 199 09- 199 33- 200. 05-200 18- 200

12 21 36 06 13 14 22 32 12 25 09 24 04 08 22 12 20 23 27 04 11 34 12 25 11 09 21 04 17 17 30 02 17

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19

31 04 03 16

11 09 23 33-201 04 09-201 18 19- 201 27

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Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323 Ms Ashb. 1323

315

Lib. I, 167 astrenica, aristologia) Lib. I, 168 astrenica, aristologia) Lib. I, 140 edera, ebich) Lib. I, 141 edera, ebich) Lib. I, 141 edera, ebich) Lib. I, 141 edera, ebich) Lib. I, 064 rutha) Lib. I, 063 salvia) Lib. I, 177 linum semen) Lib. I, 066 foeniculum) Lib. I, 063 salvia) Lib. III, 01 (corylus) Lib. VII, 01 5 (ovis) Lib. I, 107 artesimia) Lib. 066 foeniculum) Lib. 111 tanacetum) Lib. II, 002 (aqua) Lib. 141 edera, ebisch) Lib. 128 pandonia) Lib. II, 002 (aqua) Lib. 066 foeniculum) Lib. 114 agrimonia) Lib. 067 anetum) Lib. 066 foeniculum) Lib. 015 zinngiber/zinnziber) Lib. 064 rutha) Lib. 064 rutha) Lib. V, 006 (welca, welra) Lib. 067 anetum) Lib. 100 urtica) Lib. 027 gariofiles) Lib. 027 gariofiles) Lib. 162 storcksnabel) Lib. III, 016 (oleybaum) Lib. 116 febrifuga) Lib. 015 zinngiber/zinziber) Lib. 113 millefolium) Lib. 021 nux muscata) Lib. 017 cyminum) Lib. 017 cyminum) Lib. VI, 014 (gallus) Lib. VI, 014 (gallus) Lib. VI, 014 (gallus) Lib. VI, 170 (brema)

Kapitel 7

316

Kaiser. S. 202 09-292 Kaiser. S. 202 30-203 Kaiser. S. 203 22-204 Kaiser, S. 204 25- 204 Kaiser, S. 205 01-205

Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser, S. Kaiser. S.

205 205 206 208 208 209 209 210 210 211 211 212 212 212 213 213 213 213 214 214 215 215 215 215 216 216 216 216 217. 217. 217. 218 218 218 219 219 219

15-205 26-206 12-207 09- 208 22-209 04-209 33- 210 15- 210 31-211 18-211 29-212 12-212 27- 212 34- 213 11-213 21- 213 32-214 32- 214 10- 214 34-215 08-215 25-215 29- 215 33- 216 06-216 09-216 22- 216 33-217 04-217 21-217 27-217 04-218 12-218 16-218 16-219 20-219 30-219

22 04 12 33 15

25 11 08 22 03 22 09 31 08 25 04 27 33 11 19 26 04 09 20 08 18 29

32 06 08 17

33 03 16

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26 32 11

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16

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18 19 26 34

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Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb. Ashb.

1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323 1323

Lib. VI, 063 (salvia) Lib. VI, 124 (alentidium) Lib. VI, 054 (musca) Lib. I, 103 (viola) Lib. I, 070 (kirbela, cerefolium) Lib. I, 070 (cerifolium) Lib. I, 156 (verbena) Lib. VII, 037 (talpa) Lib. V, 003 (pavo) Lib. VI, 003 (pavo) Lib. I, 015 (zingiber/zinziber) Lib. I, 100 (urtica, urtica ardens) Lib. V, 033 (anguilla) Lib. V, 033 (anguilla) Lib. VII, 014 (bos) Lib. VI, 059 (hirundo) Lib. VII, 008 (equus) Lib. VII, 008 (equus) Lib. I, 114 (agrimonia) Lib. I, 114 (agrimonia) Lib. I, 068 (petroselinum) Lib. I, 092 (lactucae agrestes) Lib. I, 211 (huflatta major) Lib. I, 115 (dictampnus) Lib. Ill, 030 (platanus) Lib. Ill, 030 (platanus) Lib. I, 112 (origanum) Lib. I, 112 (origanum) Lib. I, 113 (millefolium) Lib. I, 113 (millefolium) Lib. I, 178 (balsamita) Lib. I, 165 (rubea, risza) Lib. I, 165 (rubea, risza) Lib. V, 025 (calx) Lib. VII, 014 (bos) Lib. I, 191 (myrrha) Lib. I, 100 (urtica, urtica ardens) Lib. Ill, 026 (fagus) Lib. I, 181 (lactuca agrestis) Lib. I, 170 (brema) Lib. I, 140 (levisticum) Lib. I, 100 (urtica, urtica ardens)

Das naturkundlich-medizinische Werk

317

Damit ist klar, daß Buch 3 und 4 des Kopenhagener LCM-Textzeugen nahezu komplett aus dem LSM bzw. LSu übernommen sind, wenn auch in neu zusammengesetzter Form. Die entsprechenden Textabschnitte des LCM werden im Florentiner Textzeugen des LSM allerdings ohne eigene Titel aufgeführt. Die Annahme, daß die Florentiner Handschrift einen kompletten Text des LCM enthielte, läßt sich daher ebensowenig beweisen wie die Vermutung, die Übernahmen seien systematisch durchgeführt worden. Es ist bezeichnend, daß jene Partien des LCM, die im Florentiner Textzeugen des LSM erscheinen, meist an den Anfang oder an das Ende bereits fertig vorliegender Kapitel gestellt wurden. Sie sind also nicht organisch in den Text eingefügt, sondern nachträglich interpoliert worden. Bisweilen läßt sich überhaupt kein Bezug zum Inhalt des LSM erkennen, zudem fehlen die entsprechenden Passagen des LCM im abschließenden Glossar bzw. Indikationenverzeichnis des Florentiner Textzeugen. Überlieferungsgeschichtlich betrachtet, liegt die eigentliche Bedeutung der Verschachtelung von Textbausteinen des LCM mit solchen des LSM darin, daß einzelne im LSM auftauchende Teile zwar zum Urbestand des LCM gehören, im Kopenhagener Textzeugen dort aber fehlen.1 Umgekehrt finden sich im Florentiner Textzeugen des LSM einzelne Textpassagen, die in der auf dem Pariser Codex lat. 6952 basierenden Edition der Patrologia Latina fehlen, dagegen im Kopenhagener Textzeugen des LCM auftauchen.2 Das aus dem 13. Jahrhundert stammende, vermutlich in Pfalzel (Kollegiatstift St. Maria) entstandene Berliner Textfragment des LCM (StBPrK, lat. qu. 674, f. 103ra-va) wiederum ist nicht Bestandteil des LSM in der Textredaktion von F. Es bietet ein Exzerpt des LCM, das aus einer Vorlage entnommen wurde, die um 1220/30 vorgelegen haben muß. Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß der um 1220/30 arbeitende Schreiber des berühmten Lucca-Codex mit dem Schreiber des Berliner LCMFragments identisch ist. Fragt man nach einer Erklärung für das Vorhandensein von Textteilen des LCM im Florentiner Textzeugen des LSM, so können eigentlich nur zwei plausible Begründungen gegeben werden:

1

2

Genannt sei f. 63vab des Florentiner Textzeugen. Darin erscheint innerhalb des Buches über die Fische eine Ergänzung zum Kapitel über die Welca. Der Schreiber des Kopenhagener Textzeugen des LCM hat die dort befindliche Textlücke bemerkt und festgehalten: „nihil inveni nihil scripsi" (= Kaiser, LCM, IV, S. 192 12). In F taucht der fehlende Text hingegen auf: „Sed et qui sanitatem corporis retinere uult et dyabolica et nocturna fantasmata ac maliciosa et maledicta ac magica uerba deuitare, iecor eiusdem piscis accipiat" (f. 63va). So taucht im Kapitel De aqua (Buch 2) von F eine Passage auf, die in den gedruckten Editionen des Textes fehlt, aber in der Kopenhagener Handschrift des LCM vorhanden ist. Vgl. F, f. 29ra: „Nam aqua in omni mobili creatura labilis est ..." (= Kaiser, LCM, I, De aquae viribus S. 21 23F.).

Kapitel 7

318

Es muß zur Zeit der Anfertigung von F, d. h. vor dem 5. Dezember 1292, in der Abtei Trier-St. Matthias einen separaten Textzeugen des LCM gegeben haben, der nicht mit der Kopenhagener Handschrift identisch gewesen sein kann. Zwar stammt auch die Kopenhagener Handschrift aus dem 13. Jahrhundert. Zudem ist sie in Trier hergestellt worden (Abtei St. Maximin). Da jedoch der Florentiner Textzeuge Teile des LCM präsentiert, die in K (= Kopenhagen, KB, Ny gl. 90b 2°) nicht vorhanden sind, kann K nicht die Vorlage der Implantate von F gewesen sein. Dieses Phänomen würde noch stärker als dies ohnehin belegt ist, untermauern, wie sehr die Stadt Trier bzw. die in ihrem Umfeld angesiedelten Abteien und Stifte während des 12. und 13. Jahrhunderts ein Zentrum des Hildegard-Schrifttums waren. Oder es hat zur Zeit der Herstellung des Florentiner Textzeugen in TrierSt. Matthias ein Exemplar des heute verschollenen Liber subtilitatum gegeben, von dem der Florentiner LSM-Textzeuge kopiert wurde. In diesem Falle wäre der Florentiner Textzeuge des LSM in direkter Filiation zu dem supponierten Überlieferungsträger des LSu entstanden. Er würde mithin den Inhalt und das Erscheinungsbild des LSu besser erkennen lassen als jeder andere Textzeuge von Hildegards natur- und heilkundlichen Werken. Bliebe zu ergänzen, daß auch der um 1300 an einem bislang nicht bekannten Ort entstandene Wolfenbütteler Textzeuge des LSM (W) Textteile aus dem LCM bietet. Da diese Textteile deutliche Parallelen zu jenen von F aufweisen, liegt der Schluß nahe, daß sie aus der gleichen supponierten Trierer Vorlage des LCM bzw. LSu geschöpft wurden. W wäre demnach ebenfalls in Trier entstanden. Die Textübernahmen zwischen den frühen, d. h. aus dem 13. Jahrhundert stammenden Textzeugen von LSM und LCM, deuten darauf hin, daß in dieser Zeit die inhaltlichen und überlieferungsgeschichtlichen Verbindungen zwischen den beiden Schriften sehr viel manifester waren als dies für die spätere Zeit gilt. Auffällig ist schließlich, daß der Florentiner und der Pariser Textzeuge des LSM häufig lateinische Übersetzungen von Wörtern bringen, die im LCM deutsch verwendet wurden. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Bezeichnung bestimmter Inhaltsstoffe.1 Hinter diesem Phänomen könnte das Bemühen gestanden haben, eine allgemein akzeptierte (lateinische) Fachterminologie einzuführen, Hildegards Text also gewissermaßen zu professionalisieren. Dies wiederum würde bedeuten, daß der Florentiner Textzeuge des LSM in seinen Übernahmen der LCM-Teile den postulierten LSu nicht in seiner originalen Fassung widerspiegelt. Hier sind die Verhältnisse, wie Laurence Moulinier zutreffend -

-

1

Beispielsweise

erscheint im Florentiner

Textzeugen auf f. 97va

das lateinische Wort

„aneto", während die auf der Kopenhagener Handschrift Ny kgl. 90b basierende Druckausgabe des LCM (= Kaiser, IV, De ovibus, S. 218 i) das deutsche Wort „dille" bringt. Auf f. 63va steht in der Florentiner Handschrift das lateinische Wort „lapidem incisorium, id est qui ferro ad opus incidi posset", in der Druckausgabe des LCM (= Kaiser, IV, S. 192 22) hingegen das deutsche Wort „grizstein". Weitere

Beispiele

ließen sich

anfügen.

Das naturkundlich-medizinische Werk

319

urteilt, offensichtlich weitaus verwickelter.1 Moulinier zufolge hat der LSu im 12./13. Jahrhundert Hinzufügungen erfahren, die nicht unbedingt auf Hildegard selbst zurückgingen. Im 14./15. Jahrhundert hingegen sei der Text, so Moulinier, immer mehr ausgedünnt worden. Entscheiden zu wollen, was zum originalen Textbestand des momentan ja nur hypothetisch zu postulierenden LSu gehörte und was später hinzukam bzw. zwischenzeitlich wieder wegfiel, hieße, vor allem angesichts der Tatsache, daß auch der LS M und der LCM noch nicht kritisch ediert sind, textkritisch schwankenden Boden zu betreten. Die hier vorgetragenen Überlegungen können daher nicht mehr sein als vorsichtige Beiträge zu einer weiter in der Diskussion befindlichen, noch keineswegs abschließend geklärten Fragestellung. Hinsichtlich einer Gesamtbewertung des Florentiner Textzeugen möchte ich die Forschungsergebnisse Irmgard Müllers referieren.2 Irmgard Müller sieht im Florentiner Textzeugen des LSM die von Schräder und Führkötter postulierte medizinische Originalschrift Hildegards. Aus dieser seien zu einem späteren Zeitpunkt die einfachen (Simplicia) und die zusammengesetzten (Compositae) Rezepte abgesondert worden. Aus diesen beiden Teilen wiederum seien im Laufe der Zeit zwei selbständige Werke entstanden, die später unabhängig voneinander überliefert wurden, der LSM und der LCM. Dabei sei der LCM kein ursprüngliches Werk Hildegards, sondern eine nachträgliche Kompilation, die durch eine medizinisch-praktische Redaktion einzelner Teile des LSu bzw. der Physica gewonnen wurde. Die betreffenden Teile des LSM fast die vollständigen Bücher 3 und 4 des LCM seien nicht als Ganzes in die Causae et curae eingefügt worden. Vielmehr seien sie in mehrere Fragmente zerlegt und den Indikationen der Drogen entsprechend abschnittsweise zu thematisch einheitlichen Kapiteln zusammengestellt worden. Die LCM-Teile im Florentiner Textzeugen des LSM wiederum seien ebenfalls Produkte einer typischen Kompilationstechnik.3 -

-

1

2 3

-

-

Moulinier 1995, S. 108: „Souvenons-nous toutefois que quelque cent cinquante ans séparent W et F de la rédaction originelle: ils ne représentent donc qu'un stade de son développement et, à l'évidence, le texte qu'ils transmettent a déjà subi une évolution." Müller 1998. Auf einen ganz ähnlichen Fall der Kompilation medizinisch-naturkundlicher Texte (hier basierend auf dem Circa instans) hat Nigel Palmer mit dem von ihm edierten Petroneller Kräuterbuch (15. Jh.) hingewiesen. Vgl. Palmer 1989b. Das deutsch-la-

aus einem lateinischen, mit deutschen Glossen versehenen Bildtext des erweiterten Circa instans. Der Text des Circa instans wurde um 1482 durch eine vollständige, aber auch erweiterte deutsche Übersetzung ergänzt. Die Erweiterungen (10 Zusatzkapitel und 31 Ergänzungen) sind u. a. aus dem lateinischen und deutschen pharmakologischen Schrifttum der Zeit, aus einem italienischen Kräuterbuch, aus dem Buch der Natur Konrads von Megenberg und aus dem Alteren deutschen Macer gewonnen. Die Drogenbeschreibungen des Petroneller Kräuterbuchs weisen gegenüber dem lateinischen Text des Circa instans starke Kürzungen auf. „Durch seine kompilatorische Tätigkeit", so

teinische, illustrierte Petroneller Kräuterbuch besteht

Kapitel 7

320

Die kritische Edition des LSM steht zwar noch aus. Doch hat Raimund Struck im Jahre 1985 das Buch De lapidibus unter Zugrundelegung des Florentiner sowie der vier übrigen vollständigen Textzeugen kritisch ediert.1 Benedikt Konrad Vollmann hat jüngst, ebenfalls auf der Basis des Florentiner Textzeugen, einen weiteren Teilauszug aus dem LSM herausgegeben und eine deutsche Übersetzung beigesteuert. Hierbei handelt es sich um das Buch De elementis.2 Neben dem Florentiner Codex spielt in dieser Edition der Wolfenbütteler Textzeuge des LSM eine besondere Rolle.

vollständigen Textzeugen des LSM 1.) Wolfenbüttel, HAB, Cod. 56. 2 Aug. 4° (olim 3591), f. lr-174v Die aus dem späten 13. oder beginnenden 14. Jahrhundert stammende Wolfenbütteler Handschrift, ist weiter oben bereits aus einer provenienzgeschichtlichen Perspektive heraus vorgestellt worden. Sie umfaßt nach Laurence MouII. Die anderen

linier 199 folia mit den Maßen 18,7 x 13 cm.3 Der Inhalt läßt sich mit Moulinier wie folgt beschreiben: f. lr-174v: S. Hildegardis Physica seu Liber subtilitatum [Terminologie der Beschreibung des 19. Jh.]. Der LSM ist in neun Büchern angeordnet: [1.) f. 2: de herbis; 2.) f. 62: de fluminibus; 3.) f. 67: de arboribus; 4.) f. 90: de lapidibus preciosis; 5.) f. 106: de piscibus; 6.) f. 120: de volatilibus; 7.) f. 141: de animalibus; 8.) f. 162: de vermibus; 9.) f. 168: de metallis]. Auf f. 173-174 folgt ein deutsch-lateinisches Glossar zum LSM, das jedoch, wie der Florentiner Textzeuge, die Namen der Steine nicht aufführt. f. 173-174: Glossarium latino-germanicum : Incipmnt nomina herbarum. f. 176r-199v: (nach einem Leerblatt): einige weitere, von gleicher Hand stammende Rezepte gegen verschiedene Krankheiten. Diese Rezepte beziehen sich vor allem auf die Zahnheilkunde. Da die Tinte des zweiten Teiles eine kräftigere Färbung aufweist, läßt sich von einer etwas späteren Anfertigung dieses Teiles von anderer Schreiberhand ausgehen. Damit besitzt die Wolfenbütteler Handschrift einen Aufbau, der dem des Florentiner LSyW-Textzeugen sehr nahekommt: Prolog, neun Bücher und Syn-

onymenliste. Der einspaltig,

auf jeweils 28 Zeilen sorgfältig geschriebene Hildegard-Text besitzt auf f. lr das Incipit: „Incipit Über subtilitatum de diversis creaturis". Die einzelnen Kapitel des LSM sind in roter Farbe durchnummeriert, meist mit römischer Zählung. Auch die Initialen sind rubriziert, zum Teil sogar ornamental ausgestaltet. Am Textrand befindet sich jeweils zu Beginn der Abhandlung

1989b, Sp. 495, „stellt sich der Bearbeiter des ,P. K.' in die Nähe des Verfassers des ungefähr gleichzeitig entstandenen ,Gart der Gesundheit', dessen Text und Bildmaterial ebenfalls Verbindungslinien zum erweiterten ,Circa instans' aufweist." Palmer

1 2 3

Struck 1985. Vollmann 1998. Moulinier 1995, S. 54f.

Das naturkundlich-medizinische Werk

321

neuen Krankheit ein rotes „C" oder (ebenfalls rot), die entsprechende Indikation (z. B.: „contra dolorem cordis"). Gelegentlich tauchen am Rande Ergänzungen zum Haupttext von der gleichen Schreiberhand auf, von der auch der Text stammt, dazu Anmerkungen von anderen Händen. Im Teil über die Pflanzen sind die mittelhochdeutschen Namen häufig in roter Tinte durchgestrichen und am Rand in sehr kleiner brauner Tinte durch die lateinischen Termini ersetzt. Die Inhaltsangabe weist auf neun Bücher hin, von denen das Buch über die Steine an 4. Stelle steht. Im Text selbst erscheint es allerdings als Uber tertius. Obwohl das Buch über die Bäume erst auf f. 67 einsetzt, findet sich sein eigentlicher Beginn bereits im Buch über die Flüsse („Omnes arbores aut calo-

einer

rem aut

frigus

in

se

habent").

Als Entstehungsort der Handschrift vermute ich aus den oben dargelegten Gründen Trier bzw. eine in der Nähe von Trier gelegene Abtei. 1638/40 gelangte der Codex durch Kauf für einen Preis von 3 Florin in die Wolfenbütteler Bibliothek. Aus wessen Vorbesitz sie erworben wurde, ist nicht bekannt. Auch frühere Provenienzvermerke finden sich nicht. Doch deuten die in den Innendeckeln enthaltenen Bruchstücke mit liturgischen Texten aus dem 14. Jahrhundert auf eine monastische Provenienz hin. Im Vergleich zum Florentiner Textzeugen wirkt der Aufbau des Wolfenbütteler Textzeugen nicht so streng durchorganisiert. Der Text stimmt zwar im Großen und Ganzen mit jenem der Florentiner Handschrift überein, bisweilen zeigt er jedoch Umstellungen, die keinen Sinn ergeben. So werden gelegentlich Sätze an Abschnitte angehängt, zu denen sie inhaltlich nicht passen. Das Kapitel über den Onichinus aus dem Steinbuch bietet hierfür die drastischsten Beispiele. Außerdem gibt es, vor allem in Steinbuch, Textlücken, die nicht durch eine planvolle Redaktion zu erklären sind. Sie müssen entweder auf eine schlechte Vorlage oder auf gravierende Nachlässigkeiten des Schreibers zurückgeführt werden.1 Manche Auslassungen werden als Randergänzungen wieder in den Text integriert (z.B. S. 33 11-34; S. 46 13-21). Raimund Struck geht aufgrund dieser Unregelmäßigkeiten so weit, in Rechnung zu ziehen, daß die Vorlage des Wolfenbütteler Textzeugen zumindest für das Steinbuch dem Schreiber „nur in Form vieler zerschnittener Einzelteile"2 vorgelegen haben könnte. Dagegen hat Melitta Weiss-Adamson darauf hingewiesen, daß der Wolfenbütteler Codex gegenüber dem Florentiner zwar grundsätzlich nur einen sekundären Status beanspruchen kann, daß seine Textfassung aber eine spätere, für die medizinische Handhabung geglättete Version bietet.3 Insbesondere sind in der Wolfenbütteler Handschrift die Indikationen bereits in den Haupttext eingeschaltet. In der Florentiner Handschrift erscheinen sie noch als Marginalnoten. Außerdem wurden in der Synonymenliste am Textende deutsche Namen (vor allem für -

1 2

3

-

Beispiele seien genannt: S. 2 14F.; S. 3 12-17; S. 4 if.; S. 15 S. 34 12-19; S. 43 7-9; S. 50 4-10 u. a. Struck 1985, S. 91. Weiss-Adamson 1995c. Als

13-16;

S. 25 3-12;

Kapitel 7

322

durch lateinische ersetzt. Grundsätzlich läßt sich die Tendenz, mittelhochdeutsche Wörter durch lateinische zu ersetzen, stärker in den LSMTextzeugen aus dem 15./16. Jahrhunderts belegen als in den früher entstandenen. Diese Verfahrensweise ist, so Melitta Weiss-Adamson, pragmatisch bedingt. Sie erscheine analog auch in Texten Ortolfs von Baierland und im Alteren deutseben Macer.1 Nach einem leeren Blatt folgt eine nach Indikationen geordnete Rezept-

Pflanzen)

sammlung. Insgesamt präsentiert sich der Wolfenbütteler Textzeuge, der in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden hat, als eine typische Gebrauchshandschrift des 13. Jahrhunderts, die in klösterlichen Kreisen eingesetzt

wurde.2

2.) Paris, Codex lat. 6952

Papierhandschrift von III + 250 + I f. mit den Maßen 31 x [die Hildegard-Texte auf f. 156r-232r sind kleinerformatig]. Der Pariser Textzeuge des LSM, eine einspaltig geschriebene Papierhandschrift mit den Ausmaßen 19,5 x 13,5 cm kann, so wie sie heute vorliegt, als Bestandteil einer für die Zeit typischen medizinischen Sammelhandschrift aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gelten. Nachfolgend der Inhalt des Codex: Der Codex ist eine

22

f. f. f. f. f. f. f. f.

cm

l-51r: 56: 57r-152v: 153rv: 153v-154v: 155: 156r-232r: 232v-238v:

Liste

von

leer

Synonyma

Passionarius Galeni, librorum septem Rota pitagore

Compendiolum pulsuum

leer

Hildegardis,

LSM

aus dem Pflanzenbuch, in deutscher Sprache (s. u.) f. 239r-250v: Arbor biblice historiée f. 250v: leer. F. A. Reuss hat dem Pariser Textzeugen im Jahre 1835 eine umfangreiche Publikation gewidmet, die die Handschrift in das Blickfeld der Hildegard-Forschung rückte.3 Ursprünglich bildete Hildegards Schrift, wie eine ältere noch vorhandene römische Zählung (I-LXXXI) beweist, einen eigenen Band. Der LSM besitzt im Pariser Textzeugen folgenden Aufbau:

1 2 3

Auszug

aus

dem LSM, insbesondere

Weiss-Adamson 1995c, S. 62. Die ausführlichste Beschreibung liefert Struck 1985, S. XX-XXII, auf dessen Ausführungen unsere eigenen Darlegungen basieren. Reuss 1835. Reuss 1859. Auf S. 52 mit falscher Jahresangabe für das Erscheinen der Editio prineeps des LSM [1513!]. -

Das naturkundlich-medizinische Werk

323

De herbis; De elementis; De arboribus; De lapidibus; De piscibus; De avibus; De animalibus; De reptilibus; De metallis. Der LSM ist sorgfältiger geschrieben als die restlichen Teile der Handschrift. Die erste Inkiale zu Beginn des Textes ist 11 cm hoch, zudem ornamental ausgestaltet (Blumenmotive). Auch die Bücher De herbis und De elementis besitzen rot-blaue, wenn auch schlichter gehaltene Initialen. Die übrigen Kapitelinitialen sind, ebenso wie die Kapitelüberschriften, nur rot hervorgehoben. Bei dem Pariser LSAf-Textzeugen wurde durch ein Versehen des Schreibers Buch III und Buch VII doppelt gezählt, während Buch VI und Buch VIII nicht rubriziert wurden. Die Handschrift enthält 133 Capitel mehr als die Straßburger Druck-

f. f. f. f. f. f. f. f. f.

156v: 184v: 186v: 196v: 204r: 210v: 219v: 228r: 231r:

aus dem Jahre 1533, deren Textvorlage sich nicht eindeutig identifizieläßt. Auf der anderen Seite ist der Text gegenüber dem Florentiner Textzeugen kürzer. Allerdings sind diese Kürzungen nicht so stark wie bei der Brüsseler Handschrift 2551. Im Vergleich zu dem vollständigen LSAf-Textzeugen der Biblioteca Vaticana Rom, Codex Ferraioli 921 gibt es im Hinblick auf Stil und Inhalt eine Reihe von Ähnlichkeiten. Möglicherweise wurde die gleiche Vorlagenhandschrift benutzt. Wie in der Wolfenbütteler Handschrift, erscheinen im Pariser Textzeugen die Indikationen eingearbeitet in den Haupttext und nicht als Marginalnoten. Die weiter oben vorgenommene Zuweisung des LSM in den Bereich der anwendungsbezogenen, praktisch-medizinischen Fachliteratur, die spätestens ab Ende des 13. bzw. dem Anfang des 14. Jahrhunderts auch außerhalb des Klosters Verwendung fand, wird durch den Pariser Textzeugen nachhaltig erhärtet. So trägt Cod. lat. 6952 der Pariser Nationalbibliothek auf f. lr den Besitzvermerk „Nunc sum doctoris Nicolai Gugleri".1 Nicolaus Gugler ist auch als Besitzer einiger anderer heute zum Bestand der Nationalbibliothek Paris gehörender Handschriften bezeugt. Zu nennen sind die Codices Ms lat. lat. 7417, Ms lat. 7395 und Ms lat. 7443 C [olim 7431]. Aus den dort zu ermittelnden Daten geht hervor, daß Gugler sich vorwiegend mit medizinischen und astronomischen Problemen beschäftigt hat und daß er auch selbst als Verfasser solcher Texte hervorgetreten ist. Die in seinem Besitz befindlichen Pariser Handschriften enthalten verschiedene Prognostica, astronomische Texte und

ausgabe ren

1

Vgl. Catalogus Parisiensis 1744, S. 296. Die folgenden Provenienzbeschreibungen basieren maßgeblich auf Moulinier 1995, S. 53. Laurence Moulinier sei für Gedankenaustausch und Korrespondenz zur Person Nikolaus Guglers sehr herzlich gedankt.

Kapitel 7

324

Uroskopien. Zwei Texte des Cod. lat. 7417 sind Urin-Traktate in deutscher Sprache (f. 351r: „Hie endet sich das anndere Theil des Tractats von dem Urteil

des Harns Anno 1540"; f. 354r: „Ein hübscher Tractat von dem Urteyl des Harns durch Maister Ortolff im Bayerland"). Ein dritter, astronomischer Traktat stammt von Gugler selbst: „Compositiones instrumentorum astronomicorum una cum quorundam usum ac utilitates authoris D. Nicoiao Guglero Astronomo 1539" (f. 2r). Auf f. 261v heißt es: „Descripsit Nie. Gugler Norinus ex manu sua anno 1540." Und auf f. 91r bezeichnet sich Gugler als „Omnium facultatum Doctor Imperialis Camerae Antiquus Advocatus Canonicus et Custos Maior Ecclesiae Weissenpurgensis [?]". Um welches Weißenburg es sich dabei handelte, bliebe zu untersuchen. Schließlich zeigt f. 274r Gugler in einer bildlichen Darstellung, wie er damit beschäftigt ist, eine Urinschau vorzunehmen. Da Gugler in dieser Handschrift auch seine Eltern und ihre Lebensdaten aufführt (f. 128r: die Mutter wurde im Jahre 1500 geboren und starb am 24. September 1545, der Vater [Hans Gugler] wurde im Jahre 1480 geboren und verstarb am 3. August 1560 [f. 128v]), können wir mit Sicherheit davon ausgehen, daß er im Jahre 1560 noch lebte. Dies würde bedeuten, daß ein bei Conrad Nopitsch erwähnter Nürnberger Advokat namens Nicolaus Gigler/Gugler, der 1544 nach Nürnberg kam und 1548 verstarb, nicht mit unserem Nicolaus Gugler identisch war.1 In der Tat weist das Bestattungsbuch der Pfarrei NürnbergSt. Lorenz für den 4. Februar 1577 folgenden Eintrag auf: „Den 4. Febru[arii] Der ehrwirdig und hochgelehrt Niclas Gugler, aller faculet[en] doctor, advocat

Speir auswendig verschied[en]."2 hervorgeht, war Gugler 1536/38 in Wittenberg (bei Georg Joachim Rheticus) Student der Astronomie und der Medizin (f. lr: „Per me Nicolaum Gugler Astronomiae et medicinae studiosum 1536"; im hinteren Einbanddeckel: „Est scriptum iste liber Witaeberge per me Nicolaum Gugler anno salutis 1536").3 In seinem Kollegheft aus dem Jahre 1538 (heute NB Paris) hat Gugler das Horoskop Albrecht Dürers und eines weiteren Nürnberger Bürgers aufgezeichnet. In Cod. lat. 7443 C [olim 7431] (f. 335r) erscheint der aus dem Jahre 1562 stammende Vermerk: „Nicolaus Gugler Norimpergen[sis] iudex Ordinarius, utriusque juris doctor, officialis Spirensis, medicus et mathe[et cetera] Wie

aus

zu

Cod. lat. 7395

...

1

Nopitsch 1802, S. 409. Allerdings findet sich laut Auskunft des Landeskirchlichen Archivs Nürnberg vom 11.05.2001 in den Bestattungsbüchern der Nürnberger Pfarrämter St. Sebald und St. Lorenz kein Bestattungseintrag für einen Nicolaus Gigler aus dem Jahre 1548. Auch in den Nürnberger Tauf- und Eheregistern wird dieser Name nicht erwähnt. (Freundliche Auskunft von Herrn Oberarchivrat Dr. Freiherr von Brandenstein). Der Name des Advokaten Dr. Nikolaus Gigler/Gugler ist lediglich in einem reichsstädtischen Amterbuch für die Jahre 1544/48 nachzuweisen. (Freundliche Auskunft von Herrn Dr. Beyerstedt, Stadtarchiv Nürnberg, vom

Vgl.

7.5.2001).

Nürnberg, Bestattungsbuch Nürnberg

2

Landeskirchliches Archiv

3

Jahre 1547-1578 (Sign. L 76), S. 495. Vgl. hierzu Pilz 1977, S. 42 und 216.

St. Lorenz für die -

Das naturkundlich-medizinische Werk

325

maticus omnia haec scribi curavit." Und auf f. lr findet sich der Eintrag: „Nicolaus Gugler NVI Doctor Imperialis Camerae Iudicii Advocatus Serenissimi Regis Daniae [?] Consiliarius."1 Ein unter diesem Besitzeintrag rudimentär noch vorhandener älterer Besitzvermerk deutet ebenfalls auf einen Mediziner als Eigentümer hin: „sum Cosme Tir[]brelii ar. et me. doctoris". Einer Information aus dem ersten Teil der Handschrift zufolge ist der Pariser Codex 6952 vermutlich in Speyer entstanden. Auf f. 51 v der Handschrift findet sich der Vermerk „Taxa pharmacopolarum Spirae, de simplicibus et transmarinis". Marie-Louise Portmann datiert die Entstehung des Hildegard-Teiles (einschließlich der deutschen Ubersetzung), ebenso wie Raimund Struck, in die Jahre 1425/50.2 Bei dieser Datierung spielt, wie Laurence Moulinier gezeigt hat, das Wasserzeichen des Papiers eine wichtige Rolle.3 Eine Bestimmung des Wasserzeichens (Silhouette einer Frau mit erhobenen Armen, ein Kreuz haltend) deutet darauf hin, daß dieser Teil der Handschrift vermutlich in Bern, Zürich oder Sankt Gallen, jedenfalls am Mittel- oder Oberrhein, entstanden ist. Dort

taucht dieses Wasserzeichen zwischen 1425 und 1451 auf. Hervorzuheben ist, daß der Pariser Textzeuge aus zwei Komponenten besteht: dem eigentlichen (lateinischsprachigen) LSM sowie einem deutschsprachigen Anhang mit einem Konglomerat aus dem LSM und einer anderen Quelle. Diese andere Quelle erweist sich bei näherem Hinsehen als der LCM. Aus ihm sind vier Rezepte übernommen, die sich nicht im LSM, sondern nur dort finden : De podagra (K, f. 70va; P, f. 236v), De vermibus in dentibus (K, f. 67ra; P, f. 237r), De febre acuta (K, f. 82ra; P, 237r) und De ebrietate (K, f. 76va; P, f. 237v). Dem Kopisofern sten müssen also sowohl der LSM als auch der LCM vorgelegen haben nicht zum Zeitpunkt der Übersetzung des Textes beide Werke zusammen tradiert wurden. Die verschiedenen Bücher des LSM erscheinen auf f. 156r-232r, der Anhang auf f. 232v-238v. Incipit und Explicit des LSM verwenden den Titel des Liber subtilitatum: „Incipit über beatae Hildegardis subtilitatum diversarum naturarum creaturarum et sie de aliis quammultis bonis". „Explicit liber beatae Hiltegardis [!] subtilitatum diversarum naturarum creaturarum". Incipitund Explicitformel könnten die weiter oben geäußerte These untermauern, daß der LSM den verschollenen LSu repräsentiert. Dann folgen auf f. 232v-238v verschiedene „reeepta varia germanico idiomate", hinter denen sich nichts anderes verbirgt als die mit zusätzlichen Texten angereicherten deutschen Übersetzungen einiger Rezepte aus dem LSM. Dieser Teil stammt von der gleichen Schreiberhand wie der LSM. Zusätzlich finden sich im Buch über die Fische deutsche Übersetzungen einiger Fischnamen, deren Eintragungen allerdings jüngeren Datums sind als der Haupttext. -

-

1

2 3

Vgl. Samaran/Marichal 1962, S. 542. Physica (dt.) 1991, S. 21. Moulinier 1995, S. 52.

Kapitel 7

326

Melitta Weiss-Adamson hat den deutschsprachigen Anhang des Pariser Textzeugen 1995 ediert und in seiner Bedeutung für die deutschsprachige Rezeption des LSM ausführlich gewürdigt.1 Basierend auf den Forschungsergebnissen Weiss-Adamsons kann folgender Befund getroffen werden: Die 13 Blatt umfassende Passage liegt nur in einem einzigen, dem vorliegenden, Textzeugen vor. Der deutschsprachige Anhang ist von der gleichen Hand geschrieben wie der lateinische Grundtext. Er läßt sich inhaltlich und optisch in drei Teile gliedern. Teil 1 (f. 232v-233v) läßt sich als Kräuterbuch bezeichnen. Er enthält Ausführungen über verschiedene Kräuter, die teilweise aus Hildegards LSM stammen („venchel, dille, petersilge, eppe, liebestuckel, punge, burncrasse, poley, wermude, wutscherling, funffblat, garwe und sydenbau"), teilweise auf eine andere Quelle zurückgehen („Wegerich, vehedistel, rosen, adermonia und bal-

Die Aussagen über die letztgenannten Pflanzen unterscheiden sich stark von den entsprechenden Partien des LSM. Teil 2 (f. 233v-238v) enthält ein Krankheitsrezeptar, das innerhalb der Rezeption des LSM einzigartig dasteht. Der Kompilator/Ubersetzer versuchte mit Hilfe der Indikationen einen Heilmittelkatalog zu erstellen, der die Krankheiten nach dem Prinzip „a capite ad calcem" (vom Kopf zum Fuße) und damit systematisierend darstellt. Dieses Prinzip liegt u. a. auch dem um 1280 abgeschlossenen Lehrbuch (Arzneibuch) des Ortolf von Baierland2 zugrunde sowie dem um 1200 zu datierenden älteren deutschen Macer. Es läßt sich aber auch schon in der Antike nachweisen und kann von daher fast als ein ubiquitäres Ordnungsprinzip betrachtet werden. Der um 1420 entstandene Macer-Textzeuge Wien, Cod. 5305 (f. 317ra-334vb) beispielsweise enthält eine ausführliche Gebrauchsanweisung für das Register des Textes.3 Diese Gebrauchsanweisung stammt von dem „paffe[n]" Witschuh von Alsfeld. Sie erklärt sowohl die Art der Hinweise (römische Zahlen für die Capitula, Buchstaben für die weitere Unterteilung) wie die Anordnung des Registers nach dem Prinzip a capite ad calcem. Dieses Prinzip setzt ein hohes Maß an Textverständnis und Textgestaltung voraus. In anderen Textzeugen des LSM erscheinen die Indikationen lediglich als Marginalglossen oder als in den Text eingeschaltete Überschriften. Auch Teil 2 des deutschsprachigen Anhangs verwendet vorwiegend Materialien, die auf Hildegard zurückgehen. Allerdings werden die Hildegard-Teile mit Texten aus einer zweiten Quelle kombiniert. Die Indikationen sind sowohl in deutscher als auch in lateinischer Sprache geschrieben, wobei die Zuweisung einer

drian").

1 2

3

Weiss-Adamson 1995a. Zu Ortolf von Baierland

vgl. Keil 1989a. Daß Ortolf in seinem Arzneibuch, einem volkssprachlichen Lehrbuch, das eine Zusammenfassung und Ubersetzung der wichtigsten, auch lateinischen Fachliteratur darstellt und sich an medizinisch vorgebildete Rezipienten richtet, nicht auf Hildegard rekurriert, hängt wohl damit zusammen, daß die pharmazeutisch-pharmakologischen Spezialgebiete (Herbarium) darin grundsätzlich ausgegliedert sind. Vgl. zum Hintergrund Daly 1967.

Das naturkundlich-medizinische Werk

327

bestimmten Sprachform zu einer bestimmten Quelle (Hildegard-anonyme Quelle) nicht möglich ist. Melitta Weiss-Adamson vermutet, daß das Krankheitsrezeptar von einem Mönch oder Laienarzt angefertigt wurde.1 Teil 3 (f. 238v) stellt eine Lebensmitteldiätetik dar.2 Er listet in konzentrierter Form den Ernährungswert von Fischen, Vögeln und Säugetieren auf. Die Auswahl der Lebensmittel ähnelt jener im Kochbuch Meister Eberhards. In beiden Texten sind das gesamte Buch von den Fischen sowie die entsprechenden Teile über die Vögel Gans, Rebhuhn und Birkhuhn vorhanden. Der Pariser Textzeuge behandelt darüber hinaus Ente, Wildente, Hirsch, Rind, Rinderbutter, Schaf sowie Hirsch und Hirschleber. In das Kochbuch Meister Eberhards werden demgegenüber noch zehn der ersten elf Pflanzen sowie das Auerhuhn miteinbezogen. Auffällig in diesem letzten Teil ist die hohe Fehlerquote. So treten deutsche Textsequenzen auf, die dem lateinischen Text teilweise direkt widersprechen; auch die falsche Bezeichnung von Fischen in deutscher Sprache ist keine Seltenheit. Möglicherweise sind hierfür dialektale Eigentümlichkeiten mit

verantwortlich. Ob der Kompilator/Ubersetzer das Prinzip der Anordnung des Materials nach Indikationen vom Kopf zum Fuß aus seiner zweiten Quelle oder direkt von Hildegard übernommen hat, bleibt unklar. Auch der LCM kennt dieses

Prinzip,

wenn er

in seinem dritten Buch die Krankheiten

vom

Kopf zum

Fuß

abhandelt. Wie erwähnt, finden sich im Kopenhagener Textzeugen des LCM sowie im Pariser Textzeugen des LSM eine Reihe identischer Textabschnitte. Sie betreffen im lateinischsprachigen Teil des Pariser LSM-Textzeugen die LCM-

dentibus3, Item de febre acuta und De ebrietate. Eine Bekanntschaft des Ubersetzers/Kompilators mit diesem Werk Hildegards oder aber mit einem kompletten Textzeugen des LSu muß also

Kapitel:

De

podagra,

De vermibus in

vorausgesetzt werden. Auch hier sei auf die entsprechenden Konkordanzlisten Irmgard Müllers verwiesen. Sie listen u. a. die identischen Textabschnitte zwischen dem Pariser Textzeugen des LSM (hier in der Edition der Patrologia Latina) und dem Kopenhagener Textzeugen des LCM (hier in der Edition Kaisers) auf.4 Fragt man nach dem Inhalt des deutschsprachigen Anhangs zum Pariser Textzeugen, so lassen sich insgesamt 119 Zitate aus dem LSM nachweisen. Davon entstammen 60 dem Buch De herbis, das auch hier gegenüber den anderen Büchern des LSM eine deutliche Spitzenstellung in der Rezeption aufweist. Am zweithäufigsten wird das dritte Buch des LSM, De arboribus, zitiert (21 mal). Auffällig ist, daß die Zitate des deutschsprachigen Anhangs im Pariser Textzeugen nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang zu dem vorausgehenden lateinischen Text des LSM stehen unabhängig davon, daß sie vom gleichen -

-

-

1 2

3 4

Weiss-Adamson 1995a, S. 178. Vgl. Weiss-Adamson 1995b. Vgl. hierzu Grabner 1962. Müller 1998, S. 12-17.

328

Kapitel 7

Schreiber stammen. Viele dieser Passagen fehlen im Pariser Textzeugen, sind aber in der Florentiner Handschrift (entstanden vor dem 15. Dez. 1292) und in der Editio princeps des Textes von 1533 vorhanden. Dies kann nur bedeuten, daß der deutsche Anhang des Pariser LSM-Textzeugen auf einer anderen, mittlerweile verschollenen Kopie des LSM basiert. Diese supponierte Kopie muß eine Textform geboten haben, die jener des momentan zuverlässigsten Textzeugen, der Florentiner Handschrift laur. Ashb. 1323, sehr nahegestanden hat. Worin liegt nun die Bedeutung des Pariser Textzeugen und seines deutsch-

sprachigen Anhangs ? Aufgrund des Berliner und des Augsburger Textzeugen hat man zwar gewußt, daß es eine volkssprachliche Überlieferung des LSM gegeben hat, die möglicherweise bis ins 12. oder frühe 13. Jahrhundert zurückreicht. Auch daß der LSM zur Kompilation von Kräuterbüchern, Nahrungsmitteldiätetiken und Kochbüchern herangezogen wurde, war bekannt. „Neu ist jedoch", so Melitta Weiss-Adamson, „die Überführung des ,LSM' in ein Krankheitsrezeptar, das dem Prinzip ,a capite ad calcem' zu folgen sucht. Dieses komplex gestaltete Rezeptar bildet eindeutig das Herzstück des Pariser Fragments, das von einem kurzen Kräuterbuch und einer Lebensmitteldiätetik flankiert wird."1 Folgt man Irmgard Müller, so läßt sich anhand des deutschsprachigen Anhangs zum Pariser Textzeugen belegen, „wie allmählich der LSu zu einem ,Liber compositae medicinae' umgeformt, gestrafft und zerstückelt wird."2 Alle drei vorliegenden fragmentarischen Übersetzungen des LSM ins Deutsche (StBPrK Berlin, Ms germ. f. 817; Augsburg, UB, Cod. ULI. 2° 43; Paris, BN, Cod. lat. 6952 [Anhang]) sind mittlerweile ediert. Ein Vergleich dieser drei Fragmente zeigt, daß sie drei unabhängig voneinander entstandene Übertragungen repräsentieren, auch dies ein deutlicher Hinweis auf die keineswegs schwach ausgeprägte volkssprachliche Rezeption des LSM. Dieser Befund intensiviert sich noch durch eine jüngst von Bernhard Schnell entdeckte vierte, ebenfalls fragmentarische LSM-Übertragung ins Deutsche. Dabei handelt es sich um die Handschrift der StB Mainz, Hs I 525, einem im rheinfränkischen Sprachraum um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstandenen Text. Er beinhaltet eine alphabetische Kräuterbuchkompilation auf der Grundlage des Älteren deutschen Macer und einer deutschen Übersetzung von Hildegards innerhalb des LSM erscheinenden Liber de herbis? Gegenüber dem Speyerer Kräuterbuch weist diese Übertragung Erweiterungen auf. Eine sprachhistorische bzw. sprachgeographische Untersuchung zu den Dialekteigentümlichkeiten der drei deutschen Übersetzungen, die weitere Hinweise auf ihre Entstehungssituation geben 1 2 3

Weiss-Adamson 1995a, S. 178f. Müller 1998, S. 10. Vgl. das Vorwort zu: Der deutsche Macer (Vulgatfassung). Mit einem Abdruck des lateinischen Macer Floridus „De viribus herbarum". Hrsg. von Bernhard Schnell in Zusammenarbeit mit William Crossgrove. (Texte und Textgeschichte, Bd. 50). Tübingen 2002.

Das naturkundlich-medizinische Werk

329

könnte, steht noch

aus. Immerhin aber markiert das Faktum des Vorhandenseins von gleich drei Teilübersetzungen des LSM einen großen Unterschied zu den visionären Schriften Hildegards. Letztere sind zu dieser vergleichsweise frühen Zeit noch nicht ins Deutsche übertragen worden. Auffällig für den Pariser Textzeugen ist schließlich, daß er hinsichtlich Grammatik und Satzbau gemeinsam mit B häufig von den anderen Textzeugen abweicht. Auch bei Kürzungen gleicht P dem Textzeugen B. In der Regel werden solche Stellen ausgelassen, die nichts Neues bringen, sondern lediglich Bekanntes wiederholen (z. B. S. 56 13-18; S. 58 14-17; S. 59 9-12; S. 76 2-4). Im Ganzen läßt P die Florentiner Handschrift erkennen. Die Frage, ob die Pariser Handschrift, die ja im 16. Jahrhundert in Speyer nachgewiesen ist, die Vorlage des Speyerer Kräuterbuches gebildet haben könnte, bliebe zu untersuchen. Der Pariser Textzeuge des LSM insgesamt liegt (ohne den deutschsprachigen Anhang) in einer von Charles Daremberg und F. A. Reuss veranstalteten Ausgabe in Mignes Patrologia Latina (Bd. 197, Sp. 1117-1352) seit 1855 ediert vor.

3.) Brüssel, BR, Cod.

2551

(olim Nr. 1494)

Der Brüsseler

Textzeuge des LSM, eine Papierhandschrift aus der Mitte des Jahrhunderts (Maße 22 x 14 cm, Umfang IV + 130 + III folia) ist (bis auf die Liste der Nomina zu Beginn) einspaltig zu 28-35 Zeilen geschrieben. Ihr Text stammt von einer einzigen Hand, lediglich das letzte beschriebene Blatt (f. 129v) 15.

weist eine andere Schreiberhand auf. Der Brüsseler Textzeuge enthält sämtliche Bücher des LSM, allerdings fehlen einzelne Kapitel. Nachfolgend der genaue Aufbau: f. l-2v: Index libri, sed incompletus, f. 2v: „Incipit über sanctae Hildegardis prophetisse de diversis infrascriptis materiis quarum registrum ut totius sequitur. Primo de fructibus et speciebus et herbis [in...

f. 3-124:

completus]".

Liber sanctae Hildegardis De rebus physicis. Prologus : In creatione hominis de terra alia terra sumpta est [f. 3r-v: „Prologus. In creatione hominis alia terra sumpta est. Explicit prologus. Tabula et fructuum et registrum specierum sequitur"]. de herbis I de arboribus II de lapidibus III de piscibus IV de avibus V de animalibus VI de venenosis animalibus VII de metallis VIII de fluminibus IX de regionibus aequibus de montibus ...

f. 5-39r: f. 39r-54v: f. 55r-67r: f. 67r-76r: f. 76v-90v : f. 90v-107r: f. 107r-114v: f. 114v-118v: f. 118v-119v: f. 119v-121r: f. 121r-124r:

Kapitel 7

330

f. 124r-129v: Excerptae medicinae (contra paralisim, de natura ciborum) Si succo flammulae pulsum utriusque brachii linis et herbam f. 129v: superligas cum vino et melle hoc etiam facit succus lanceolae per 9 die bibitus. f. 130v: sed „Si mulier ulnam leporis et testiculos porci in balneo edat statim educto fetu ponantur ne matrix sequatur". Am Rande des Textes stehen, meist von der gleichen Hand, die auch den Haupttext schrieb, die Indikationen. Kleinere Verzierungen besitzen lediglich die Kapitelinitialen. Die Brüsseler Handschrift stammt aus dem Vorbesitz des Löwener Regularkanonikers Nicolas van Winghe (t 28. Dezember 1552).1 Van Winghe war als Bibliothekar im Kloster Martinstal bei Löwen tätig. Gleichwohl nimmt Raimund Struck eine Entstehung dieses Textzeugen „in der Trierer Gegend"2 an. Von dort sei die Handschrift ziemlich bald in das 1433 gegründete Kloster St. Martinstal und in den Besitz des Nicolas van Winghe gelangt. Auf fol 130v der Handschrift findet sich der Vermerk: „Sinte Mertens librarie ad manus domini nicolay Winge". Winghe, auch Wingius, Guingius oder Winantius genannt, wurde um 1498 in Löwen als Sohn des Fleischwarenhändlers (macellarius) Nicolas van Winghe (t 1535) und seiner Frau Mary van Winghe (geb. Wagemans) geboren. Zu seiner Verwandtschaft gehörte vermutlich Everard van Winghe, der zwischen 1504 und 1526 in Löwen mehrfach das Amt eines Senators bekleidete und mit Mary Bogaert, einer Tochter des berühmten Medizinprofessors James Bogaert, verheiratet war. Am 27. Oktober 1511 immatrikulierte Nicolas van Winghe sich an der Universität Löwen. Dort erwarb er den Titel eines Magister artium. Im Jahre 1518 trat er dem Augustinerchorherrenkonvent von St. Martinstal bei. Den Ordensregeln entsprechend vermehrte van Winghe den Besitz des Konvents durch das Abschreiben von Handschriften. Unter anderem kopierte er ein komplettes Missale und einen Psalter; ein weiteres Missale und ein Psalter blieben unvollendet. Nach einem intensiven Studium der Heiligen Schrift verfaßte van Winghe eine Reihe von Sermones, die vor allem dem Lesen der Bibel gewidmet waren. Ein in flämischer Sprache geschriebener Traktat über die Göttlichkeit und Tiefe der Heiligen Schrift soll 1593 gedruckt worden sein. Berühmt wurde van Winghe durch eine volkssprachliche Übersetzung der Bibel ins Flämische (Biblia Sacra, Dat is Alle de Heilige Schriften van het Oude en Nieuwe Testament). Diese Bibelübersetzung wurde, nachdem sie 1546 durch die Theologieprofessoren Pieter de Corte und Ruard Trapper approbiert worden war, 1548 von Bartholomäus Gravius gedruckt. Später verglichen die Löwener Theologen Ruard Trapper, Pieter de Corte und Govaert Strijroy die Biblia Wingiana mit der offiziellen Vulgata-Ausgabe Clemens' VIII. und gaben sie nach nochmaliger Approbation vom Juli 1598 zum wiederholten Male für den Druck ...

...

1 2

Vgl. Acquoy 1875, II, S. 270. Struck 1985, S. XXVIII.

Das naturkundlich-medizinische Werk

331

frei. Die Ausgabe erschien bei Moretus in Antwerpen. Van Winghes flämische Bibel übte einen lang anhaltenden Einfluß auf die niederländische Theologie und Sprache aus. Insgesamt erschienen mehr als 20 Ausgaben seiner Bibelübersetzung sowie über 30 Separatausgaben des Neuen Testaments. Neben dieser Bibelübersetzung schuf van Winghe eine Übertragung der Imitatio Christi ins Flämische, die er Thierry von Heeze (Hezius), einem päpstlichen Protonotar, Kanonisten und Vizedekan von St. Lambert in Lüttich, dedizierte. Die Dedikation ist datiert auf den 7. August 1548. Das Werk erschien 1552 in Antwerpen und erzielte 15 Auflagen. Nach einer zehnjährigen Tätigkeit als Subprior in St. Martinstal wechselte van Winghe nach Mishagen bei Eeckeren, etwa 10 Kilometer nördwestlich von Antwerpen gelegen (Syon). Weitere Ämter, die van Winghe in St. Martinstal innehatte, waren das des Bibliothekars und des Prokurators (1532-1540). In dem Kanonessenkloster der Augustinerinnen von Mishagen versah er das Amt eines geistlichen Rektors (confessor und rector). Während seiner Tätigkeit in diesem Konvent übersetzte van Winghe die Geschichte des Jüdischen Krieges und der Zerstörung Jerusalems des Flavius Josephus ins Flämische.1 Die Widmung dieser Übersetzung ist auf den 18. Mai 1552 datiert. Den Anlaß für die Entstehung der Übersetzung könnte ein Brand gebildet haben, der den Konvent von Mishagen kurze Zeit zuvor vernichtet hatte. Van Winghe starb am 28. Dezember 1552 in Mishagen.2 Der zweite Band seiner Josephus-Übersetzung erschien postum bei S. Cocus in Antwerpen. Der Widmungstext ist auf den 12. September 1553 datiert und in St. Martinstal abgefaßt. In seinen letzten Lebensjahren war van Winghe damit beschäftigt, eine Ausgabe der Historia Ecclesiastica des Beda Venerabiiis für einen Antwerpener Drucker zu korrigieren. Wichtig im Hinblick auf van Winghes Stellung in der Geschichte der Theologie ist die Tatsache, daß er wie viele Mitglieder des St. Martinstaler Konvents zu den ausgesprochenen Gegnern des Erasmus zählte. Van Winghe befürchtete, dessen Standpunkte würden zum Luthertum führen. Sein Ordensbruder Martin Lips (f 1537) wollte sogar eine Schrift van Winghes gegen Erasmus edieren, von der sich offenbar nichts erhalten hat. Freundschaftliche Kontakte verbanden van Winghe zu Jacobus Latomus, Rochus Hyems und Gerard Morinck. Auch für das 17. Jahrhundert wird der Brüsseler Codex 2551 (olim Nr. 1494) als in Löwen befindlich bezeugt: „Index codicum ms adhuc exstantium in bibl. Canonicorum regularium s. Augustini in valle s. Martini, Lovanii, anno 1639: jHildegardis prophetissa, de diversis materiis"'.3 Ein älterer, mittlerweile nicht mehr lesbarer Titel soll nach J. Van den Gheyn und Louise Portmann folgen-

-

1

Die

Übersetzung trägt

den Titel Flaut] Josephi seuen boecken van die Joetsche ende Destructie van Jerusalem (Antwerpen, Simon Cock, 18. Mai 1552). Zur Person Van Winghes vgl. Van Herreweghen 1949. Höcht 1934, S. 463. 493. 497. 508. 536f. 539. 541. 556-564. 564-572. 573-584 (insbesondere S. 556-564). Contemporaries 1985/87, III, S. 453f. ...

oorloghe, 2

-

-

3

Sanderus

1641/1644, II, S. 217.

Kapitel 7

332

dermaßen gelautet haben: „Beatae Hildegardis prophetissae de fructibus terrae, de saxis, de metalli, etc."1 Nachdem der Band später Eigentum der Bibliothèque Bourgogne in Brüssel geworden war, wurde er im Zuge der Französischen Revolution nach Paris verschleppt, kehrte von dort aber nach Brüssel zurück. Im Vergleich zu F und den anderen Textzeugen weist B starke Kürzungen auf, die ähnlich auch in P erscheinen. Uberhaupt ist die Intervention des Schreibers/Redaktors in den Textbestand hier im Vergleich zu den anderen kompletten Textzeugen am manifestesten vorhanden. Zwar entspricht das Material im wesentlichen jenem der anderen LSAf-Handschriften, es ist aber häufig anders angeordnet. Auffällig ist vor allem das Auslassen von Stellen, die Beschwörungsformeln enthalten (z.B. 31, 8; 32, 6; 35, 3; 35, 7; 38, 14 53, 1; 72, 8). Weitere Kennzeichen des Brüsseler Textzeugen sind die Steinkapitel, die in den anderen Textzeugen fehlen (z.B. zu: Heliotrop, Ellectorius, Calidonius, Iris,

Gagathas, Dyamas, Dionisius, Cotis, Quirin, Chorallus, Ceraunus, Alabastrus, Propandiem und ein zweites Kapitel über den Iaspis). Diese zusätzlichen Kapitel zeigen starke Ähnlichkeiten zu anderen Lapidarien, u. a. zu Marbods Steinbuch und Arnoldus Saxos De virtute universali, Kap. 8 (De Lapidibus). Außerdem enthalten viele weitere Kapitel einen steinebeschreibenden Teil, der in den anderen Textzeugen fehlt. Die Inhaltsangaben zu Beginn der einzelnen Kapitel scheinen nach Abschrift der entsprechenden Texte zusammengestellt. In der Tendenz, deutsche Wörter durch lateinische zu ersetzen, geht die Brüsseler Handschrift am weitesten von den kompletten Textzeugen. Melitta WeissAdamson hält es für möglich, daß der Schreiber, der den Text modernisieren wollte, eine universitäre Ausbildung genossen hat.2 Insgesamt zeichnet sich der Brüsseler Textzeuge durch eine sichtbare Straffung seiner Vorlage aus, die im wesentlichen dem Textbestand der Florentiner Handschrift entspricht. Allerdings wurden vielfach die therapeutischen Vorstellungen Hildegards gestrichen und durch zeitgemäßere Erkenntnisse ersetzt. Das Kapitel über den Magnes aus dem Steinbuch fehlt ganz. Die Indikationen befinden tiner Handschrift, am Textrand.

sich, wie bei der Floren-

4.) Vatikan, Biblioteca Vaticana, Cod. Ferraioli 921, f.

l-68r

Der vatikanische Textzeuge des LSM ist eine 163 Blatt umfassende Papierhandschrift mit den Maßen 28,5 x 21 cm. Die f. 85-90 sind kleinerformatig (ca. 21, 2 x 12, 5 cm). Die Handschrift ist Mitte oder Ende des 15. Jahrhunderts entstanden. Die Sammelhandschrift enthält folgende Texte: f. l-68r: Hildegardis, LSM; f. 68r-75v: Quaedam medica excerpta in Hyppocrate, Johanne episcopo

f. 76v-84v: 1 2

frisingensi, Johanne Ecstein,

et

Alexandra;

leer;

Vgl. Van den Gheyn

1902, S. 388. Weiss-Adamson 1995c, S. 65.

Physica (dt.) 1991, S. 21. -

Das naturkundlich-medizinische Werk

f. f. f. f.

85r-89v: Quedam de arte memoriae [kleinerformatig]; 91r-117r: Ars memoriae; 124r-138r: S. Aurelius Augustinus: Liber de anima et spiritu; 139r-159v: Expositio canonis missae.

333

Ursula Heierle gebührt das Verdienst, den LSM-Textzeugen im Jahre 1985 entdeckt zu haben. Das aus dem 19. Jahrhundert stammende Inhaltsverzeichnis führt den Text unter der Bezeichnung: „S. Hildegardes [!] Phisica seu subtilitatum diversarum creaturarum" auf. Das Incipit lautet: „Incipit liber beatae Hildegardis subtilitatum diversarum naturarum creaturarum et sie aliis quammultis bonis", das Explicit: „Explicit liber beate Hildegardis subtilitatum diversarum naturarum". Diese Formulierung ist wieder ein deutliches Indiz für die Möglichkeit einer überlieferungsgeschichtlichen Identität von LSu und LSM. Im Kolophon erscheint die Jahresangabe MCCCCXLIX. Der Entstehungsort der Handschrift ist unbekannt. Ein entsprechender Besitzeintrag läßt erkennen, daß im Jahre 1648 das Jesuitenkolleg Köln im Besitz des Codex war („Collegii Societ. Iesu Coloniae"). Später gelangte der Band in die Bibliothek des Marquis Joseph Ferraioli.1 Im Jahre 1926 gab Marquis Filippo Ferraioli die Handschrift an die Biblioteca Vaticana ab. heilWichtig im Hinblick auf die Überlieferungsgeschichte von Hildegards einer von Codex Vielzahl die daß der ist kundlichem Werk Tatsache, insgesamt unterschiedlicher Schreiber stammt und erst nachträglich zusammengebunden wurde. Der Hildegard-Text stammt von Hand 1, die in einer sehr sorgfältigen Schrift f. 1 bis 70 geschrieben hat. Interessanterweise handelt es sich bei dieser Handschrift nicht um einen rein medizinisch-naturkundlichen Sammelband. Der LSM besitzt folgenden Aufbau: 1.) f. 1: de plantis; 2.) f. 24r: de dementis; 3.) f. 25v: de arboribus; 4.) f. 35v: de lapidibus; 5.) f. 42v: de piseibus; 6.) f. 48v: de avibus; 7.) f. 56r: de animalibus; 8.) f. 64r: de reptilibus; 9.) f. 67r: de metallis. Anordnung und Stil sind der Pariser Handschrift 6952 sehr ähnlich. Melitta Weiss-Adamson geht davon aus, daß die Pariser und die vatikanische Handschrift die gleiche Vorlage besaßen. Größere Unregelmäßigkeiten träten in der tabula zum Buch De piseibus auf. Dort sei eine inkonsequente Zählung f. lr und eingebracht worden, f. 45r und 45v seien inhaltlich vertauscht, ebenso der der Liste des dem und mit Ende lv. Die Handschrift beginne Prologs (f. lr) f. lv des das Ende auf Buches Dann des De Pflanzen ersten 82 folge plantis. der in Wolfenbütteler Pflanzen Wie Liste und die weitere der (f. 2rv). Prologs Handschrift sind auch in der vatikanischen die Indikationen der Drogen als Untertitel in den Haupttext eingeschaltet, ein Indiz für eine bereits elaborierte Textstufe. Hier hat der Schreiber der Pariser Handschrift 6952 eine andere Entscheidung getroffen. Er hat die Indikationen weggelassen. Die Entstehungsprovenienz der vatikanischen Handschrift läßt sich derzeit nicht bestimmen; laut Kolophon wurde die Abschrift im Jahre 1449 abgeschlossen. 1

Vgl.

Berra 1960.

Kapitel 7

334

7.2.1.2 Die

Exzerptüberlieferung des LSM fragmentarischen Textzeugen ist

Bei den zunächst auf die Berliner Handschrift Ms germ. f. 817 hinzuweisen. 1.) Berlin, StBPrK, Ms germ. f. 8171 Dieser Textzeuge, der auch unter der Bezeichnung Speyerer Kräuterbuch firmiert, ist, wie Gundolf Keil urteilt, als wichtiges Dokument einer deutschsprachigen Rezeption des LSM zwar früh beachtet worden, hat aber lange Zeit keine adäquate Beschäftigung erfahren.2 Die Handschrift wurde 1456 in Speyer

geschrieben.

Codex, eine Papierhandschrift

von 88 f. Umfang und den Maßen 26,6 x zwei Händen in einer oberrheinischen Bastarda geschrieben. Hand 1 [= Wilhelm Gralap[p]] schrieb f. l-61v und f. 61v-87v. Hand 2 schrieb f. 88rv. Die Handschrift enthält folgende Texte: f. 2r-61v: Herbarium [Speyerer Kräuterbuch; u. a. Macer]. Enthält die praefatio sowie einen guten Teil des zum LSM gehörenden Liber de herbis Hildegards in einer deutschen Übersetzung; f. 61v: Rezept „für den kröpf sude nesselwortzeln"; f. 61v-66r: Auszüge aus dem Bartholomäus; f. 66v: ein Pesttraktat; f. 66v: ein Aderlaßtraktat; f. 66v: „Sinn der höchsten Meister von Paris" mit dem Pestbrief des Gottfried von Franken an die Frau von Plauen; f. 67-99: fehlen; f. 70r: Salbeitraktat; f. 70rv: Gebrannte Wasser; f. 71r-72r: Medizinöl-Traktat; f. 72r: Fortsetzung von f. 70r: Gebrannte Wasser; 72v-73v: Weinbuch Gottfrieds von Franken [= Pelzbuch, Teil II]; f. 74r: Aderlaßtraktat; f. 74v: Therapie von Aderlaßkomplikationen; f. 74v-75v: Aderlaßindikationen;

Der

20,7

f. f. f. f.

cm, ist

75v-76r: 76r: 76rv: 77r-84v:

f. 85r-87v: 1 2

von

Vierundzwanzig-Paragraphentext, Anfang; Laßzeiten;

Vierundzwanzig-Paragraphentext, Fortsetzung; Kurzrezeptar, beginnend mit dem Geiertraktat

aus

dem Bartho-

lomäus ;

chirurgisches Rezeptar;

Bernhard Schnell sei für die freundliche Zusendung einer Beschreibung des Berliner Textzeugen sehr herzlich gedankt. Keil 1995. Vgl. an älterer Literatur: Hoffmann von Fallersleben 1814, S. 218. Wattenbach 1875a (Abdruck der erweiterten Reimvorrede). Pritzel/Jessen 1882, -

S. 689.

-

Degering 1925, S. 114.

-

Jessen 1864, S.

-

123.

-

Das naturkundlich-medizinische Werk

f. 88r: f. 88rv:

335

technische und

Scherzrezepte; Schwangerenblutschau. Erst 1994 hat Barbara Fehringer eine kritische Edition des Textes herausgegeben.1 Um die Bedeutung des Berliner Exzerpts zu umschreiben, bezeichnet Fehringer es als „eine in dieser Vollständigkeit bislang singuläre landessprachige Rezeption der ,Physica'"2. Der Grund für die zögerliche Beschäftigung mit dem so zentralen Textzeugen liegt zum einen in der verwickelten Textgeschichte, die sich aus mehreren Kompilationsschichten zusammensetzt, zum anderen in der schwierigen Verflechtung unterschiedlicher medizinischer Traditionsstränge. Im folgenden sollen zunächst die Forschungsergebnisse Barbara Fehringers und Gundolf Keils bezüglich der Datierung und Kompilationstechnik der Handschrift referiert werden. Im Anschluß daran möchte ich einige jüngst erhobene Einwände Bernhard Schells zu den Befunden Fehringers und Keils anfügen.3 Fehringer und Keil zufolge lassen sich folgende Textschichten im Speyerer Kräuterbuch voneinander abheben: a) Textstufe I: Während des 12./13. Jahrhunderts kam

es zur

Übertragung

dem originalsprachigen (d. h. lateinischen) Heilkräuter-Kapiteln LSM (und zwar dem Liber de herbis) ins Deutsche. Nach Blattverlust sind von diesen 172 Kapiteln noch 165 vorhanden. Dieser Vorgang zielte darauf ab, Hildegards Werk zu einem deutschsprachigen Herbarium oder Hildegard-Kräuterbuch umzuwandeln. Der rheinfränkische oder niederalemannische Übersetzer „benutzte einen ausgezeichneten Text, hielt sich eng an die Vorlage, erweist sich als gewandt in der Wiedergabe und zeigt beispielhaftes Textverständnis. Als Fachmann stellt er sich dort gegen Hildegard, wo sie kraß von der schulmedizinischen Lehrmeinung abweicht."4 Gundolf Keil zufolge ist diese Übersetzung, obwohl sie eine archaische Entwicklungsstufe der medizinischen Fachterminologie repräsentiert, wertvoller als eine jüngere Parallelübertragung. Sie ist vollständiger im Textbestand und sorgfältiger in der Textwiedergabe. Die jüngere Übertragung ist mit 33 Kapiteln des LSM im sogenannten Kochbuch Eberhards von Landshut erhalten (UB Augsburg, Cod. III. 1. 2° 43). Die auf der Hand liegende Frage, ob lediglich das Buch De herbis ins Deutsche übersetzt wurde oder der gesamte LSM, muß derzeit unbeantwortet bleiben. Es existiert kein Textzeuge einer solch vollständigen Übersetzung. Die These Carl Jessens, der deutschsprachige Hildegard-Teil des Speyerer Kräuterbuches bilde die Abschrift einer älteren, ebenfalls deutschsprachigen Vorlage des LSM, läßt sich nicht beweisen.5 Immerhin fällt auf, daß im Speyerer Kräuterbuch im Vergleich zur Pariser Handschrift 6952 (in der Edition der PL) die letzten 30 Kapitel von

von

1 2

3

172

aus

Fehringer 1994. Vgl. die Rezension dieser Fehringer 1994, S. 18.

Ausgabe Moulinier

1995b.

Bernhard Schnell, Einleitung zur kritischen Ausgabe des Alteren deutschen Macer (hrsg. von Bernhard Schnell und William Crossgrove).

4

Keil 1995.

5

Jessen 1864, S.

123.

Kapitel 7

336

De herbis

weggefallen sind. Sie bieten Doppelnennungen, falsche Kapitelüberschriften und als unwesentlich geltende Inhalte, so daß sich die Frage nach ihrer Echtheit stellt. Auch einige Kapitel, die vor allem Informationen zu Nahrungsmitteln wie Butter, Milch, Salz, Essig und Eiern enthalten, aber keine eigentlichen Drogenmonographien darstellen, sind hier nicht vorhanden. Die deutsche Übersetzung großer Teile von De herbis, so die Argumentation Fehringers, erlaubt den Schluß, daß die naturkundlichen Schriften Hildegards offensichtlich früh in der Volkssprache rezipiert wurden. b) Textstufe II: Im Laufe des 14. Jahrhunderts brachte ein oberrheinischer Bearbeiter das deutsche Hildegard-Kräuterbuch in eine halbalphabetische Ordnung. Ordnungsprinzip war der Anfangsbuchstabe der mittellateinischen Pflanzennamen. Gleichzeitig fand eine kompilatorische Verquickung mit dem älteren deutschen Macer statt: das Hildegard-Material wurde um 95 Drogenmonographien aus dem älteren deutschen Macer erweitert.1 Die Erweiterungen geschahen in der Regel so, daß die Macer-Teile den analogen Hildegard-Teilen vorangestellt wurden. Nur im Bereich der pharmakologischen Einleitungen kam es zu organischen Textverschränkungen. Dort favorisierte der Kompilator die Aussagen des (aktuelleren und/oder renommierteren) Macer und kürzte oder unterdrückte jene Hildegards. Sowohl beim Alphabetisieren als auch bei der Zusammenstellung korrespondierender Drogenmonographien unterliefen dem Kompilator Fehler. c) Textstufe III : Ein zweiter Kompilator, der ebenfalls am Oberrhein wirkte, führte zu Beginn des 15. Jahrhunderts nochmalige Erweiterungen an diesem Herbar durch. Die Erweiterungen wurden aus dem salernitanischen Drogenbuch Circa instans und dem lateinischen Macer floridus gewonnen. Der Kom1

Der sogenannte ältere deutsche Macer stellt eine vermutlich

um

1200 in Mittel-

deutschland

hergestellte Prosabearbeitung des um 1070 entstandenen, von Odo von Meung-sur-Loire stammenden Macer floridus dar. Dieser wiederum, eine in Hexametern verfaßte Abhandlung über die gebräuchlichsten Heilkräuter, war einer der

bekanntesten medizinischen Texte des Mittelalters. Der Name Macer rekurriert offenbar auf die Person des Aemilius Macer, eines Freundes Ovids und Autors des verschollenen Gedichts De herbis. Bis in die frühe Neuzeit hinein behauptete sich der Macer floridus als heilkundliches Lehrbuch. Es finden sich zahlreiche volkssprachliche Bearbeitungen und Ubersetzungen ins Englische, Französische, Dänische, Spanische, Italienische und vor allem Deutsche. Der ältere deutsche Macer brachte die Kapitel des Macer floridus in eine neue Reihenfolge und erweiterte sie durch zusätzliche Drogenbeschreibungen. Außerdem versuchte er, den an sich unsystematischen Text für den praktischen Gebrauch einzurichten. Dies geschah durch Hervorhebung der Indikationen mit roter Tinte oder Randbemerkungen, durch ausführliche Inhaltsangaben und Ausbildung vollständiger Register. Hinzu kommen Handschriften, bei denen die Kapitelfolge nach dem Anfangsbuchstaben des lateinischen Namens der jeweiligen Heilkräuter gestaltet wurde. Der jüngere deutsche Macer ist eine spätestens im 14. Jahrhundert im mitteldeutschen Raum angefertigte Prosabearbeitung des Macer floridus.

Vgl.

-

Crossgrove 1985.

Das naturkundlich-medizinische Werk

337

pilator war offensichtlich mit der Pharmakologie des Hochmittelalters gut vertraut. Er verglich die Macer-Versatzstücke mit den Hexametern Odos von Meung und führte zahlreiche Ergänzungen

in den Macer-Teilen durch. Die

Hildegard-Passagen blieben dagegen unberührt. Die Ergänzungen aus dem Circa instans wurden den Doppelkapiteln der Textstufe II meist einfach angehängt. d) Textstufe IV: Eine weitere Umformung nahm der Schreiber des Speyerer Kräuterbuches, Wilhelm Gralap[p], vor. Gralapfp] führte korrigierende Querverweise ein. Gleichzeitig bereitete er den Text für ein Indikationenregister vor. Hierzu numerierte Gralap[p] die 204 Drogenmonographien durch und kennzeichnete ihre Heilanzeigen mit Hilfe rubrizierter Großbuchstaben. Allerdings fehlt das entsprechende Register in der Handschrift, so daß Kapiteleinteilung und Paragraphierung ohne großen Nutzen blieben. Am Ende dieses langen Erweiterungsprozesses (1456) stand das sogenannte Speyerer Kräuterbuch. Daß Wilhelm Gralap[p] aus Speyer der Hauptschreiber des Kräuterbuches war, geht aus dem Kolophon hervor (f. 87v): „Explicit herbarius per me manus wilhelmi gralap in vigilia apostoli anno XIIII centesimo LVI [= 1456] yn Spirensis." Gralap[p]s Name erscheint auch in zwei anderen deutschsprachigen Handschriften des 15. Jahrhunderts, in der Wolfenbütteler Handschrift HAB Cod. 83. 2 Aug. 12mo und im Wiener Codex Hist. prof. 563.1 Bei letzterem handelt es sich um eine poetische Lebensbeschreibung Kaiser Sigismunds (f 1437) aus der Feder Eberhard Windeckes (f ca. 1440). Eberhard Windecke wiederum hat die Vorlage zu einem Gedicht Michel Beheims über eine Prophétie Hildegards geliefert (s. u.). Auch diese Handschrift wurde, wie der Kolophon belegt, im Jahre 1456 abgeschlossen: „Explicit librum totum Tammichi [!] Wilhelme de Argentinensis [!] potum, vnd wart uszgeschriben von mir Wilhelme gralap uff santt kilianen tag Im brochmont Anno etc. [14]LVI°".2 Die Angabe „im Brochmont" bedeutet hier nicht, wie Laurence Moulinier vermutet, die Ortsangabe Bruchsal bei Speyer. Sie ist Bestandteil der Zeitangabe.3 Gemeint ist der Brachmonat, d. h. der Juni. Da jedoch außerdem der Tag des hl. Kilian angegeben ist, der auf den 8. Juli fällt, bleibt eine exakte zeitliche Zuweisung für den Abschluß der Handschrift des Textes ungewiß. Es war entweder der 8. Juni oder der 8. Juli 1456 (der Beschreibung Menhardts zufolge der 8. Juli). Ein Wilhelmus de Gralapp von Strossburg ist zudem als Schreiber einer 1462 geschriebenen, nicht-medizinischen Handschrift bezeugt. Der Text steht unter dem Titel Eyne myrackel Gottes von eime geist, das geschehen ist von dem selben geist in demme lande von Cleven in dem Krysom von Köllen by einer stat geheissen Duyseburgh in eim dorffe ist geheissen Mercke, in dem jore unsers 1

Vgl.

Tabulae cod. Vind. 1868, S. 154 [Nr. 29139]. Menhardt 1960, S. 614f. Un1974, S. 52 (mit Abb. 104). Zur Wolfenbütteler Handschrift vgl. Heine-

terkircher

-

-

1890b, S. 159. du Bouveret 1967, S. 293 (Signatur Bénédictins Vgl. Unterkircher 1974, S. 52 (mit Abb. 104). Moulinier 1995, S. 58: „(Bruchsal près de Spire?)." mann

2 3

von

dort

übernommen). -

Kapitel 7

338

M.cccc und XXXVII Jore. Der Bericht über das Mirakel Original aufgesetzt im Jahr 1457 („in die sancti Nicolaji de Tolentino"). (HAB Wolfenbüttel, Cod. 83. 2 Aug. 12° [Nr. 3807]). Fragt man nach dem genauen Anteil Gralap[p]s an der Entstehung des Speyerer Kräuterbuches, so vertreten Ernst Heinrich Meyer und Barbara Fehringer

herren, do man schreip wurde im

die Ansicht, daß Gralap[p] zwar der Schreiber, nicht aber der Kompilator und/oder Ubersetzer des Textes war.1 Hierauf deuten zahlreiche Dittographien, Abschreibefehler, Zeilensprünge und Auslassungen per homoioteleuton hin. Diese Nachlässigkeiten seien, so vermutet Meyer, beim Abschreiben einer bereits ins Deutsche übersetzten Vorlage entstanden. Von Gralap[p] stamme hingegen die Gliederung. Sie weist in der Einleitung noch eine Paragraphenzählung auf, geht aber bereits im ersten Kapitel auf ein System von alphabetisch geordneten Großbuchstaben über. Auch die Zwischenüberschriften stammen wahrscheinlich von Gralap[p]. Dabei fällt auf, daß Gralap[p] zwar Sicherheit im Umgang mit lateinischen Fachbegriffen erkennen läßt, bei griechischen Wörtern jedoch völlig hilflos wirkt. Ob sich aus dieser Beobachtung der Schluß ziehen läßt, der Abschreiber sei kein Arzt, zumindest kein Arzt im akademisch gebildeten Sinne gewesen, muß, ebenso, wie die Frage, ob Gralap[p] auch der Erstbesitzer der Handschrift war, offenbleiben. Max Wegener hat darauf aufmerksam gemacht, daß Griechisch zu dieser Zeit in Deutschland noch nicht zum Ausbildungsprogramm eines Arztes gehörte.2 Robert Grosseteste führte erst Mitte des 13. Jahrhunderts in Oxford Griechisch ein, Ende des gleichen Jahrhunderts war es in Paris noch unbekannt. Immerhin geht auch Irmgard Müller aufgrund des nicht-medizinischen Charakters der Wolfenbütteler Handschrift Cod. 83. 2 Aug, 12° [Nr. 3807] davon aus, Gralap[p] sei „vermutlich nicht im Umfeld des medizinischen Personals zu suchen."3 Dennoch wäre zu prüfen, ob sich von ihm aus eine Spur zur nahegelegenen medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg ausmachen ließe. Die von Fehringer und Keil geäußerte Vermutung, Hildegards LSM sei wenigstens in Teilen bereits während des 12./13. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt worden und im Laufe des 15. Jahrhunderts zu einem deutschsprachigen Herbarium (eben dem Speyerer Kräuterbuch) ausgebaut worden, ist, sofern sie zutrifft, für eine Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte dieses Werkes sehr wichtig.4 Die frühe Übertragung ins Deutsche wäre als Indiz für eine relativ (zeitlich und räumlich gemeinte) autornahe volkssprachliche Rezeption zumindest von Teilen des LSM (Herbarium) zu werten. Allerdings sollte die Verbindung zu Hildegard auch nicht überstrapaziert werden. Der (postu-

-

1 2 3 4

Meyer 1854/1857, III (1856), S. 253. Fehringer 1994, S. 23. Wegener 1951, S. 19 und 51. Müller 1998, S. 6. Fehringer 1994, S. 28, hält eine Übertragung des Textes bereits im 12. Jahrhundert -

für möglich: „Als wahrscheinliche Übertragungszeit kann das 13., noch das ausgehende 12. Jahrhundert gelten."

möglicherweise

Das naturkundlich-medizinische Werk

339

lierte) Übersetzer des 12./13. Jahrhunderts nimmt eine durchaus kritische Haltung gegenüber manchen Textpassagen des LSM ein. Dies zeigt sich beispielsweise in der Auswahl und in der Bearbeitung der Kapitel. Daß es sich bei dem Berliner Textzeugen nur um einen Auszug (De plantis) aus dem LSM handelt, schmälert die Bedeutung dieser Rezeptionsspur kaum. Es wird ersichtlich, daß

der LSM in Kombination mit anderen medizinischen Autoren und Schriften des Mittelalters (Macer, Circa instans) auch in der Heilbehandlung von nicht-monastischen Bevölkerungskreisen eingesetzt wurde und damit seine ursprüngliche Bestimmung als klösterliches Gesundheitsbuch nachhaltig erweiterte. Dabei ist die Tatsache, daß der LSM im 15. Jahrhundert mit den oben genannten, führenden medizinischen Autoritäten verbunden wurde, von großer Bedeutung: diese Verbindung lieferte offensichtlich die entscheidende Voraussetzung dafür, daß der zu dieser Zeit teilweise überholt wirkende Text Hildegards in medizinischen Fachkreisen fortbestehen konnte. Naturgemäß tritt an dieser Stelle die Frage nach den Trägern dieser Behandlung auf. Wer könnte das deutschsprachige Hildegard-Herbarium benutzt, welche medizinische Klientel könnte von dieser Übersetzung bzw. Kompilation profitiert haben ? Ich möchte dieser Frage hier im Sinne eines kurzen Exkurses

nachgehen. Blickt

auf die Sprachform des deutschsprachigen Textes und versucht dort aus Rückschlüsse auf die soziale Stellung des postulierten Überman, setzers aus dem 12./13. Jahrhundert zu ziehen, so läßt die verwendete Fachterminologie und die Übersetzungstechnik Barbara Fehringer zufolge, deren Thesen ich im folgenden ausbreite, am ehesten auf einen praktizierenden Wundarzt schließen.1 Die Übertragung der einzelnen Kapitel hält sich eng an den vorgegebenen Text, der Übersetzer überträgt Wort für Wort. Mitunter wird das deutsche Wort der Vorlage schlicht übernommen, an einigen Stellen wird die lateinische Satzkonstruktion imitiert. Die Eingriffe des Übersetzers beschränken sich auf gelegentliche Umstellungen von Satzteilen. Hierbei werden stilistische Eigenheiten von Kurzrezepten eingeführt, indem der Übersetzer die Indikationen an die Spitze des Satzes stellt und dadurch die Benutzung des Textes erleichtert. Weitausholende patho-physiologische Exkurse fehlen, Veterinärmedizinisches wird nur in Ausnahmefällen übernommen. Insgesamt bietet der Text eine leicht gestraffte, fast vollständige, sprachlich gekonnte Übersetzung von Hildegards De herbis, die dem unmittelbaren medizinischen Gebrauch dienen sollte. Es ist an dieser Stelle unumgänglich, einige Bemerkungen zur berufsspezifischen Ausdifferenzierung des mittelalterlichen Heilwesens einzuschalten. Diese Informationen erlauben eine genauere Erfassung des konkreten Benutzerkreises von Hildegards heil- und naturkundlichen Schriften. man

von

1

Vgl.

Fehringer 1994, S. 30.

340

Kapitel 7

Die Heilbehandlung des Mittelalters hat verschiedene Entwicklungen durchlaufen und unterschiedliche soziologische Ausprägungen hervorgebracht.1 Dabei stellte sich die Chirurgie oder wuntarzeme der lîparzenie (physica) als eigenständige Disziplin zur Seite. Der wuntarzet, cirulogus oder Chirurg grenzte sich sowohl gegen den akademisch gelehrten lîparzet (physicus, medicus) als auch gegen den apotêker ab. Auch mit dem vor-salernitanischen Mönchsarzt hat dieser Berufsstand nur wenig mehr gemein. Charakteristisch für den spätmittelalterlichen Wundarzt ist sein praxisbezogenes Berufsbild. Ihm fehlte in der Regel ein akademisches Studium der Artes an einer Kloster-, Domschule oder einer Universität. Seine Ausbildung war (zumindest im Spätmittelalter) rein praktisch begründet. Sie basierte auf handwerklicher Lehre, die in einer landessprachlichen Form vermittelt wurde. Der Zugriff auf die lateinische Fachliteratur blieb dem Wundarzt hingegen verwehrt. Akademisch gebildete Wundärzte wie Ortolf von Baierland waren die große Ausnahme. Auf der anderen Seite distanzierte sich dieser Stand recht entschieden von den konkurrierenden niederen Heilberufen, zu denen Bader, Scherer und Laienärzte gehörten. Kleriker blieben aufgrund eines vom IV. Laterankonzil (1215) ausgesprochenen Verbotes seit dieser Zeit von einer operativen Tätigkeit grundsätzlich ausgeschlossen. Es waren daher die Wundärzte, die die eigentliche Hauptlast in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung trugen. Da sie ihre Arzneimittel selbst herstellten, besaßen sie auch im Bereich der Pharmakologie einschlägige Kenntnisse. Nur bei schwierigeren oder fremdländischen Rezepturen griffen sie auf das Angebot von Apothekern zurück. Von daher ist es keineswegs verwunderlich, daß gerade ein Wundarzt sich mit Hildegards Herbarium beschäftigte und es für seine unmittelbaren Berufsbedürfnisse umzugestalten suchte. Auf der anderen Seite bedeutet dies, daß Hildegards Text offensichtlich in der akademischen Ausbildung angehender Mediziner (zumindest während des 12./13. Jahrhunderts) keine Rolle gespielt hat. Was für Hildegards Theologie gilt, gilt mutatis mutandis auch für ihre Medizin: sie war keine akademische Wissenschaft. Die Verbindung des Hildegard-Herbariums zum Circa instans verdient eine besondere Erwähnung. Dieser um 1150 entstandene Text, ein Hauptwerk der salernitanischen Medizin, war eine der wichtigsten mittelalterlichen Drogenkunden. Seine volkssprachliche Rezeption setzte, ebenso wie jene des älteren deutschen Macer, zu Beginn des 13. Jahrhunderts ein.2 Hildegards LSM kann 1 2

Zur Hintergrundinformation vgl. Keil 1983. Zentrum der deutschsprachigen Circa instans-Rezeption war der niederfränkische Raum. Hier findet sich der Herbarijs, eine niederfränkische Bearbeitung des Textes, die in einer Brabanter Abschrift aus dem Jahre 1351 vorliegt (Brüssel, Bibl. Royale, 15624-41, f. 91r-107r; Ausgabe: Vandewiele 1965). Daneben existiert eine weitere niederfränkische Übersetzung, die ebenfalls in die Mitte des 14. Jahrhunderts zurückreicht und in niederländischen Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts erhalten ist (London, British Library, Ms Loan [Portland] 29/332, f. 104r-256v [entstanden nach 1377 im westlichen nordniedersächsischen Raum]); Gent, UB, Ms 1457, f. 102r181r [entstanden in der 2. Hälfte des 15. Jahrhundert in Südwestgelderland]. Aus-

Das naturkundlich-medizinische Werk

341

diesen führenden Autoritäten indessen nicht gleichberechtigt zur Seite gestellt wenn die volkssprachliche Rezeption auf einen gewissen Wirschließen läßt. Die im Circa instans etwa zum schmale, kungserfolg Vergleich zeitgleich einsetzende deutschsprachige Rezeption von Hildegards natur- und heilkundlichem Werk ist zuletzt von Barbara Fehringer angesprochen worden: „Betrachtet man die inzwischen auf fünf komplette Handschriften angewachsene Zahl kompletter PÄjsz'cÄ-Überlieferungen und die mittelalterlichen Bezeugungen zweifellos inzwischen verlorengegangener Abschriften der Naturkunde, so ist erstaunlich, daß dieses medizinische Werk nicht wie sonst üblich von Autoren landessprachiger Medizinliteratur aufgenommen und für ihre Zwecke aufbereitet wurde. Bedenkt man darüber hinaus den Ruf, den Hildegard als Heilende genoß, so wird das Fehlen entsprechender Rezeption geradezu unglaubhaft."1 Ganz sicher könnte jedoch eine gezielte Suche nach medizinischnaturkundlichen Exzerpten und Fragmenten von Hildegards Werk weitere bedeutende Funde zutage fördern. Nachfolgend möchte ich einige Überlegungen Bernhard Schnells anführen, der sich gegen die Grundthese Fehringers und Keils ausspricht, die Übersetzung von Teilen des LSM ins Deutsche falle in eine frühe Zeit, konkret in das 13., möglicherweise sogar noch in das 12. Jahrhundert.2 Die von Fehringer (S. 24) gemachte Beobachtung einer einfach überpunkteten Schreibung des „y" als Datierungshinweis für einen Schreibvorgang vor 1400 lehnt Schnell ab. Doch äußert auch Karin Schneider hierzu, daß der einfache Punkt auf dem „y" „seit dem 14. Jahrhundert zum festen äußeren des Buchstabens" Vorher habe man sich zweier Erscheinungsbild gehört.3 Punkte bedient. Das von Fehringer (S. 24) genannte Fehlen der neueren, d. h. nach 1300 entstandenen pharmakologischen Literatur im Speyerer Kräuterbuch, lasse sich nach Schnell auch in anderen Sammlungen beobachten. Fehringer hatte darauf

werden, auch

...

gäbe: Vandewiele 1970).

Eine in zwei Handschriften erhaltene Kurzform des Circa

instans, die den dritten Teil des Boec van medicinen bildet (Cap. 20-95), scheint nur im holländischen Raum verbreitet gewesen zu sein (Utrecht, UB, Hs. 1328, f. 79r-99v [Utrecht, um 1400]; Den Haag, Koninkl. Bibl. Hs 71 H 45, f. 9ra-24va [holländisch, 2. H. 14.Jahrhundert]. Ausgabe: Daems 1967, S. 116-159). Die hochdeutschen

1 2 3

Bearbeitungen des Textes sind jünger als die niederfränkischen. Sie beinhalten z. T. Versatzstücke aus arabischen Pharmakologien (Leipzig, UB, Cod. 1224, f. lr-190v [Mitte des 15. Jh., ostmitteldeutsch]; Ausgabe: Damm 1939 [Teilausgabe]). Des weiteren finden sich eine aus dem 15. Jahrhundert stammende Übersetzung des Juden von Solms (Erlangen, UB, Cod. B 34, f. 216vb-271rb) sowie verschiedene Fragmenten- und Streuüberlieferungen (Deutsches salernitanisches Arzneibuch, Gart der Gesundheit, Konrad von Megenberg und Jacob van Maerlant). Vgl. Keil 1978. Fehringer 1994, S. 17. Vgl. das Vorwort zu Schnell 2002. Bernhard Schnell sei für eine Vorausfassung des Vorwortes sehr herzlich gedankt. Schneider 1999, S. 92.

Kapitel 7 hingewiesen, daß beispielsweise der Eichentraktat, der Eichenmisteltraktat, der Salbeitraktat, der Kranewittbertraktat und andere Wunderdrogentraktate im Speyerer Kräuterbuch nicht erscheinen. Dieses Phänomen, so Schnell, berechtige jedoch nicht dazu, eine Entstehung des Speyerer Kräuterbuches bzw. seiner 342

vor 1300 anzunehmen. Es gebe zahlreiche Kompilationen, die nachweislich später entstanden seien und ebenfalls keine Wunderdrogentraktate enthielten. Als Beispiel weist Schnell auf die Verknüpfungen des Macer mit Konrads von Megenberg Buch der Natur hin. Die dritte These Fehringers betrifft die Zuordnung der im Speyerer Kräuterbuch greifbaren LSTW-Übersetzung in das elsässisch-rheinfränkische Mundartgebiet. Diese Zuordnung basiert auf der Feststellung, der Schwerpunkt der LSykf-Überlieferung habe bis 1400 am Ober- und Mittelrhein gelegen. Als weiterer Grund werden sprachliche Besonderheiten vorgebracht, die in dieses Mundartgebiet verweisen. So nennt Fehringer (S. 27) beispielsweise i- Abstrakta wie kelti (120 G), heilsami (49 A) oder trückeni (Vorrede, f. 2v). Während Fehringer glaubt, diese sprachlichen Formen der Vorlage des Speyerer Kräuterbuches zuweisen zu können, zieht Schnell die Möglichkeit in Betracht, sie könnten auch auf den Schreiber, d. h. auf Wilhelm Gralap[p], zurückgehen. Zur Abstützung verweist Schnell auf die oben erwähnte Rezension Laurence Mouliniers von Fehringers Edition und auf die bereits erwähnte Handschrift der ÖNB Wien, Cod. 2913. Diese auf das Jahr 1445 datierte Handschrift ist ebenfalls von Wilhelm Gralap[p] geschrieben worden. Sie enthält eine Abschrift von Eberhard Windeckes Kaiser Sigismunds Buch, und zwar, dies ist hier das Entscheidende, in elsässischer Mundart. Punkt vier der Datierungsdebatte betrifft die von Fehringer vorgenommene Zuordnung der „i"-Abstracta zu einer hochmittelalterlichen Textentstehung (S. 27). Schnell weist darauf hin, daß etwa die Verwendung von gâch oder das angebliche Nichtverstehen von fördert nach 1300 kein Indiz für eine Frühdatierung der Textvorlage des Speyerer Kräuterbuches sei. Beide Phänomene fänden sich auch noch im Frühneuhochdeutschen, ersteres im Bayerischen sogar bis heute. Der von Fehringer geltend gemachte Befund, wonach der Hildegard-Ubersetzer einen LSM-Text von hoher innerer und äußerer Vollständigkeit benutzt habe (S. 28), ein Tatbestand, der für eine autornahe Vorlage sprechen würde, kann Schnell zufolge nicht belegt werden. Insgesamt resümiert Bernhard Schnell daher, es gäbe keine überzeugenden Argumente dafür, daß eine Entstehung des Hildgard-Kräuterbuchs im 12. oder 13. Jahrhundert angenommen werden müsse. Im Gegenteil lasse die Kompilationstechnik des Bernensis 525 (s. u.), der ja ebenfalls erst aus dem 15. Jahrhundert stamme, dies als nicht wahrscheinlich gelten. Letztendlich verweist Schnell auf die am Mittelrhein zentrierte Hildegard-Rezeption des Gerhard von Hohenkirchen (f 1488 [?]) sowie auf zwei verschollene, ehemals zum Bestand der Mainzer Kartause gehörenden Hildegard-Handschriften. Eine dieser Handschriften habe den Liber subtilitatum diuersarum creaturarum und im unmit-

Vorlage

Das naturkundlich-medizinische Werk

343

telbaren Anschluß den Macer de urtutihus herharum enthalten. Die andere habe im Bibliothekskatalog der Kartause unter dem Titel gestanden: Liber de beatae Hildegardis de subtilitatum creaturarum. Die Renaissance der Hildegard-Handschriften gerade im 15. Jahrhundert sei zu verstehen als Reflex auf einen humanistischen Impuls, Tradition und Neuproduktion im Bereich der Kräuterbücher miteinander zu verbinden, so wie dies analog für viele andere Texte des lateinischen Mittelalters und der Antike gelte. Offenbar habe ein unbekannter Auftraggeber versucht, die drei berühmtesten lateinischsprachigen Kräuterbücher des Mittelalters (Macer, Circa instans, Hildegards Liber de herbis aus dem LSM) in deutscher Ubersetzung bereitzustellen. Denkbar sei aber auch, daß dieser Weg in Etappen verlaufen sei: Übersetzung von Hildegards LSM, Einarbeitung einer M^cer-Handschrift, die mit Hilfe eines Macer floridus ergänzt wurde, sowie schließlich die Inserierung einer Circa-instans-Handschrift oder Teile daraus. Entscheidend sei jedoch, so Bernhard Schnell, daß sich der Entstehungsprozeß nach Ausweis der Sprache nicht über einen längeren Zeitraum, keineswegs jedoch über drei Jahrhunderte hinweg, erstreckt habe. Von der so entstandenen Vorlage sei dann um 1450 sowohl das Speyerer Kräuterbuch als auch eine bislang unbekannte Schwesterhandschrift abgeschrieben worden. Diese Schwesterhandschrift soll nachfolgend, basierend auf der Beschreibung von Bernhard Schnell, vorgestellt werden. Dabei handelt es sich um die Handschrift I 525 der StB Mainz.

2.) Mainz, StB, Hs I 525 [Sigle Schnell: B 2] 44 gez. Bll., die moderne Zählung der Handschrift berücksichtigt die beiden Streifen nach Bl. 13 nicht (2°); Fragment einer Handschrift; das erste Blatt einer Lage jeweils aus Perg.; Mitüberlieferung: Tierkreiszeichen und Planetentraktat. Mittelalterliche Vorbesitzer sind nicht bekannt. Macer: 5r-45v; Mitte 15. Jh.; rheinfränk. Textbestand : alphabetisch angeordnete Kräuterbuchkompilation mit über 200 Kapiteln auf der Grundlage des Macer und einer Übersetzung von Hildegards von Bingen Liber de herbis; eingearbeitet wurden ferner deutsche Auszüge aus dem Circa instans und dem Macer Floridus; eng verwandt mit B 2 [= Berlin, StBPrK, Ms germ. f. 817; Speyerer Kräuterbuch'], jedoch gegenüber B 2 nochmals erweitert. „92 Kap. Fassung", Gewürzvorrede und Kap. 69 fehlen. Wegen Blattverlust fehlen Kap. 38 (Anfang), 47, 73, 70, 68, 24, 29 (Anfang), 31, 41, 60, 18, 19, 26, 28, 52, 67, 71, 76, 77, 86, 4 und 17; ebenso fehlt die Reimvorrede (Blattverlust ?). Die einzelnen Macer-Kapitel sind gegenüber B 2 teilweise erweitert. Markierung der Textsegmente mit Buchstaben im Text, das Indikationenregister fehlt jedoch. Gegenüber B 2 sind folgende Heilkräuter inseriert: Valeriana, Gold wurtz,

Hvwurtz, Kumel, Kathoplasta, Lorbeer, Morus, Millefolium, Nent, Nigella, Nardus

(lat.), Olbanum (lat.), Polipegium, Porrago, Rutina, Tormentila.

Kapitel 7

344

Eine eingehendere Beschäftigung mit der Mainzer Handschrift dürfte neue Erkenntnisse zur deutschsprachigen Rezeption der natur- und heilkundlichen Werke Hildegards insgesamt zutage fördern.

3.) Bern, Burgerbibliothek, Cod.

525

Die konkrete Funktion des LSM im Bereich der praktischen Heilkunde geht auch aus der Berner Handschrift 525 hervor. Diese (lateinische) Papierhandschrift von 334 fol. Umfang und den Maßen 21 x 15 cm stellt eine im 15. Jahrhundert an unbekanntem Ort entstandene Kompilation medizinischer und tiermedizinischer Schriften dar.1 Sie enthält unter der Überschrift Hyldegardis de simplicibus medicinis auf f. 18r-23r einen Auszug aus Hildegards LSM. Irmgard Müller charakterisiert diesen Textauszug als „Lehrstück" der gleichen Kompilationstechnik und Überlieferungsweise wie sie u. a. im Speyerer Kräuterbuch auftaucht.2 Die Handschrift beinhaltet nach Laurence Moulinier: f. l-17v: Liber fidulcie Algafiky; f. 18r-23r: Hyldegardis de simplicibus medicinae; f. 23v-27v: f. 23v-27v: Praecepta medica varia; f. 28a-188v [recte: 133v]: Tractatus medicus de plantarum vi; f. 134r-166v: Macer de herbis; f. 166r-170b: Plantarum enumeratio cum interpretatione germanica [= deutschlateinisches Synonymenverzeichnis]; f. 171: Praecepta medica; f. 172r-181v: Herbarius; f. 181v-185v: Excerpta ex Sexto philosopho de medicina animalium; f. 186r-205v: Praecepta medica; f. 205v-206v: Tractatus de quattuor principalibus corporis partibus; f. 206v-210r: Praecepta medica et excerpta varia; f. 210r-334v: De viribus herbarum (Serapionis). Bezüglich der Ausstattung und Funktion der Handschrift schreibt Irmgard Müller: „Der Berner Codex 525 umfaßt in seiner Gesamtheit verschiedene Rezept- und Kräuterbücher in lateinischer Sprache, die dem mittelalterlichen Arzt als medizinisches Kompendium über Wirkungs- und Anwendungsweise Die pflanzlicher, tierischer und mineralischer Heilmittel dienen konnten schmucklose Ausstattung, das handliche Format, der Schwerpunkt der pharmakologisch-therapeutischen Thematik, die Abfassung in lateinischer Sprache sowie das zugeordnete Wörterbuch der Pflanzennamen sind deutliche Anzeichen, daß der Codex für oder von einem Arzt für den medizinischen Gebrauch ...

angelegt wurde."3 Der Hildegard-Text enthält Beschreibungen von 41 Heilmitteln pflanzlicher, tierischer und mineralischer Herkunft. Rubrizierungen heben diese Beschrei1 2 3

Eine Beschreibung der Handschrift findet sich bei Müller 1998, S. 7. Müller 1997, S. 421.

Hagen 1874,

S. 439f.

Das naturkundlich-medizinische Werk

345

bungen optisch voneinander ab. Im Gegensatz zur Pariser Handschrift Cod. lat. 6952 (Edition in der Patrologia latina, Bd. 197) sind den meisten Drogenbeschreibungen im Haupttext detaillierte Indikationen zugeordnet, die durch contra kenntlich gemacht sind. Außerdem werden durch Marginalglossen häufig Stichworte angegeben, die die Suche nach einem passenden Rezept erleichtern. Die deutschen Wörter sind häufig durch lateinische Fachtermini ersetzt. Von den 28 Drogenbeschreibungen des Hildegard-Teiles sind 20 wörtliche Auszüge aus dem LSM. Sechs Beschreibungen sind dem Circa instans des Platearius entnommen, eine dem Macer floridus, eine weitere ist noch nicht zugeordnet.

Die 20 Partien aus dem LSM sind teilweise gekürzt, wobei sich die Streichungen meist auf umständliche, aus der Humoralpathologie abgeleitete Begründungen der Drogenwirkungen oder der Angabe ihrer Qualitäten beziehen. Eine spätere Hand hat die Drogenbeschreibungen mit Indikationen versehen. Insgesamt ist der LSM-Te\\ durch Zusätze aus anderen Rezept- und Kräuterbüchern sowie durch eine entsprechende Gliederung des Materials zu einer

griffigen Rezeptsammlung

für den

täglichen

Gebrauch

umgestaltet

worden.

Zwar sind die Hildegard-Materialien mit Texten anderer Autoren kombiniert. Die Überschrift weist das Ganze jedoch als ein Werk Hildegards aus. Eine

noch ausstehende eingehendere Untersuchung dieses Textzeugen müßte die authentischen Hildegard-Partien von den unter Hildegards Namen mitüberlieferten Texten scheiden. Hildegard Müller nennt sieben Besonderheiten des Berner Hildegard-Textes gegenüber der Pariser Handschrift Cod. lat. 6952 sowie der Florentiner Handschrift Cod. laur. Ashb. 1323:1 1. ) Der größte Teil der Texte enthält wörtliche Auszüge aus den Pariser und Florentiner Handschriften. Sie sind den Büchern I (plantae), III (arbores) und VIII (reptilia) entnommen. Die übliche Numerierung der Drogenmonographien fehlt zwar, doch läßt die Reihenfolge der Texte die beiden genannten Vorlagen erkennen. 2. ) Die deutschen Drogennamen der Pariser und Florentiner Handschriften sind in der Berner Handschrift größtenteils durch lateinische ersetzt. 3. ) Einige Texte von Cod. Bernensis 525 sind nur mit solchen der Florentiner Handschrift identisch (savina, abies, ulworm). Sie enthalten Anwendungen, die im Pariser Textzeugen fehlen. 4. ) Zehn Exzerpte stammen aus keiner bisher bekannten Hildegard-Handschrift, sondern aus dem Circa instans (savina, scabiosa, tartarus, lethargium, virga pastoris, enula campana, enula ortulana, fu, centrum galli; dazu beinhaltet

-

-

ferrugo nur sinngemäße Übereinstimmung). 5. ) Das Drogenkapitel brathseos (= savina), das im LSM fehlt, stimmt wörtlich mit dem aus dem 11. Jahrhundert stammenden Macer floridus überein. 1

Müller 1997, S. 423f.

Kapitel 7

346

6. ) Die im Florentiner Textzeugen obligat erscheinende humoralpathologische Begründung fehlt im Berner Text. 7. ) Die im Text eingestreuten Marginalglossen zeigen eine terminologische Ver-

wandtschaft zur Sprache der Florentiner Handschrift. Irmgard Müller zieht aus diesen Beobachtungen den Schluß, daß der Berner Textzeuge auf einer bislang nicht ermittelten Handschrift des LSM basiert, die zugleich die Vorlage für den Florentiner Textzeugen, nicht jedoch für den Pariser geboten habe. Die Ergänzungen aus dem Circa instans und dem Macer sind, so Müller, von der gleichen Hand geschrieben worden wie die Hildegard-Teile. Da sie graphisch von diesen nicht abgesetzt sind, mußte den Benutzern und späteren Kopisten der gesamte Text als von Hildegard stammend erscheinen. Damit gibt der Bernensis 525 ein Lehrstück für eine Kompilationstechnik, die auch für andere Hildegard-Handschriften vorausgesetzt werden kann. Konkret verweist Irmgard Müller auf die Kompilationstechnik der Berliner Handschrift Ms germ. f. 817 (15. Jh.), das sogenannte Speyerer Kräuterbuch. Darin erscheine ein Konglomerat des ins Mittelhochdeutsche übersetzten LSM, angereichert durch umfangreiche Teile des Älteren deutschen Macer und ergänzt durch Partien aus dem Lateinischen Macer und dem Circa instans. Durch einen jahrhundertelangen Deformationsprozeß sei sowohl im Speyerer Kräuterbuch als auch im Bernensis 525 ein ursprüngliches Kräuterbuch „umgewandelt, verformt, verkürzt, erweitert und auch zerstückelt"' worden. Eben diese Kompilationstechnik gelte auch für den unter Hildegards Namen tradierten Liber compositae medicinae. Dessen Bücher III und IV bestünden fast ausschließlich aus isolierten Texten des LSM, die nach Indikationen neu geordnet und lückenlos miteinander verbunden worden seien. „Wie sich mithilfe der Florentiner Handschrift des LSM nachweisen ließ, sind auf dem Wege der Uberlieferung zahllose Drogenkapitel des LSM in mehr als 100 Textfragmente zerstückelt [und] losgelöst worden, so daß durch freie Kombination ein neues Kompendium entstand."2 Auch der weiter oben vorgestellte deutschsprachige Anhang der Pariser LSAf-Handschrift 6952 bestätigt diesen Befund. Er beginnt mit einer mittelhochdeutschen Übersetzung ausgewählter LSAf-Kapitel (Fenchel, Dill, Petersilie, Liebstöckel u. a.). Die pure Aufzählung der Drogen und ihrer Anwendungen bricht jedoch plötzlich ab und geht über in eine nach Indikationen geordnete deutschsprachige Rezeptsammlung. Sie enthält ebenfalls Fragmente aus dem LSM, diesmal jedoch geordnet nach medizinischen Indikationen. „So wird der Leser anhand der Kompilation unmittelbar Zeuge des Transformationsprozesses und des Übergangs von der einfachen Drogenbeschreibung zur ...

...

anwendungsorientierten Rezeptsammlung; 1

2 3

Müller 1997, S. 427. Müller 1997, S. 428. Müller 1997, S. 428.

Das naturkundlich-medizinische Werk

347

Die aus dem 15. Jahrhundert datierende, bezüglich ihrer Entstehungsprovenienz nicht lokalisierbare Handschrift Bern 525 gehörte, wie ein entsprechender Besitzeintrag auf der Innenseite des Deckels bekundet, einem „Doctor Barbatus". Schrader/Führkötter zufolge soll Barbatus „ein Ausburger von Bern"1 gewesen sein. Dieser Begriff bezeichnet in der Verwendung Schräders und Führkötters jemanden, der in Bern seine Bürgerrechte verloren hat, eine Aussage, die der Überprüfung bedarf. Um 1500 gelangten insgesamt 15 medizinische Handschriften aus der Vorprovenienz von Barbatus, der mit bürgerlichem Namen Elling oder Helling hieß, in die Burgerbibliothek Bern. Hierzu gehören die Handschriften Cod. 71 („Barbato pertinet emptus in Padua pro II flor."), Cod. 227 („Fuit Barbati doctoris a. 1472"), Cod. 252 („Barbatus doctor emit in Heidelberg II flor."), Cod. 373 („Barbato doctori pertinet"), Cod. 430 („Barbara doctori pertinet"), Cod. 527 (nicht-medizin. Inhalts) und Cod. 556 („Fuit Barbati doctoris bernensis"). Aus den Besitzeinträgen dieser Codices geht hervor, daß Barbatus einige seiner Handschriften in Heidelberg und Padua erworben hat, wo er, wie Irmgard Müller vermutet, „wahrscheinlich seine medizinische Ausbildung erwarb."2 Auch wenn die Entstehungsprovenienz des Hildegard-Auszugs aus Cod. Bernensis 525 derzeit im dunkeln liegt, ist seine aktuelle Gebrauchsfunktion im Rahmen eines ärztliches Kompendiums doch deutlich erkennbar.

4.) Augsburg, UB, Cod. III, 1 f. 433

Der vermutlich aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts stammende, von seiner Entstehungsregion her nur grob auf den ostfränkischen oder nordbayerischen Raum einzugrenzende Augsburger Textzeuge UB, Cod. III, 1 f. 43 (früher Oettingen- Wallersteinische Schloßbibliothek in Harburg), ist zuletzt in einer Publikation von Melitta Weiss-Amer vorgestellt worden.4 Die folgenden Ausführungen basieren auf den Forschungsergebnissen Weiss-Amers. Demnach handelt es sich um einen Sammelband von 84 Blatt Umfang mit den Maßen 31 x 22 cm. Der Text ist einspaltig von einer einzigen Hand in einer sorgfältigen Bastarda geschrieben. Die Zeilenzahl schwankt zwischen 35/40 Zeilen. An den Blatträndern erscheinen Marginalien von einer jüngeren Hand des 16. Jahrhunderts (f. 23r, 35r, 73r-79r). Der Codex enthält folgende Texte: f. 2r: Recepta et notae: Ein purgatt zu der zeyt des herbstes fur allenn gebrechenn ...; f. 2rv: Jahreszeitenlehre; Exzerpte aus dem Secretum secretomm, deutsch; f. 2v-3r: Medizinische Anweisungen [f. 3r: sechs Verse in Latein]; f. 3r-4v: Monatsregimen; f. 4v-32v: Sammlung von Rezepten, deutsch und lateinisch; 1 2 3 4

Schrader/Führkötter 1956, S. 56. Müller 1997, S. 422; die Provenienzvermerke nach Müller 1997, S. 429, Anm. 14. Beschreibung der Handschrift bei Schneider 1988, S. 234-238. Weiss-Amer 1992.

Kapitel 7

348

f. 33v-34v: f. 34v: f. 35r-36v: f. 36v-37v: f. 37v: f. 38r-47v: f. 48r-55v: f. 56r-58v:

Heilwasser;

Sechs medizinische Pflanzen; deutsch und lateinisch; Medizinische Rezepte gegen den Stein;

Branntweintraktat; Calmus viridis (Heilkraft des grünen Kalmus); Anonyme Exzerpte aus dem Arzneibuch des im 13. Jh. in Würzburg wirkenden Chirurgen Ortolf von Baierland; Heilpflanzen, deutsch und lateinisch; Auszüge aus den Problemata des Pseudo-Aristoteles;

59r-60v: Kochbuch des Eberhard von Landshut [1. Hälfte 15. Jh.]; f. 60v-69r: Text zur Nahrungsmitteldiätetik aus der Regel der Gesundheit (deutsch und lateinisch); darin verarbeitet folgende Auszüge

f. 59r-60v:

aus

Hildegards Physica (LSM): Hildegards LSM, Buch VI (de avibus), Kapitel

10 (deutsch); Kochrezepte nach Meister Eberhard, Koch des Herzogs Heinrich von Landshut: 1-23, 24; f. 64r-65r: Hildegards LSM, Buch V (de piscibus), Kapitel 9-12, 15, 17, 20-22,

24-25, 27-28, 30-34,

35.

f. 65v-66v: Hildegards LSM, Buch I (de plantis), Kapitel 1-9, 11; f. 69r-70r: Von den Ölen; f. 73r-79r: Ein Pferdetraktat, Meister Albrant zugeschrieben [Roßarzneibuch; vgl. VL 2. Aufl., Bd. 1, S. 157f.]; f. 79v-83v: Salbenbuch, deutsch. In einer grob zusammenfassenden Aufführung enthält der Band demnach folgende Teile: f. 2r-58v : ein Arzneibuch; f. 59r-70r: ein Kochbuch; f. 73r-79r: Meister Albrants Roßarzneibuch; f. 79v-83v: ein Salbenbuch.1 Der Codex besteht mithin aus einem humanwissenschaftlichen, einem diätetischen, einem veterinärmedizinischen und einem pharmakologischen Teil. Ohne das Roßarzneibuch ließe er sich, da das Kochbuch mehr über die Gesundheitslehre als über die Kochanleitung handelt, der Gattung humanwissenschaftlicher Sammelband zurechnen. Durch den veterinärmedizinischen Teil führt er darüber hinaus und weist in seiner Gesamtanlage Ähnlichkeiten auf zu dem in dieser Zeit beliebten Typus vom Buch des Menschen, Tieres und Garten. Dieser Werktypus bildet eine Art fachlichen Volksbuches, das die sogenannten Eigenkünste (artes mechanicae) zur Darstellung bringt. Wichtig für diese Literatur ist 1

Das Salbenbuch stellt eine Beschreibung verschiedener medizinischer Öle und ihrer Herstellung dar. Seine 13 Kapitel finden sich, wie Keil 1964 in seiner Rezension der Dissertation Anita Feyls festgestellt hat, fast wörtlich in dem aus dem 14. Jahrhundert stammenden Breslauer Arzneibuch (f. 147v-149v).

Das naturkundlich-medizinische Werk

349

ihre unmittelbar praktische Gebrauchsfunktion. Als Parallelbeispiel für den vorliegenden Sammelband kann das Alemannische Büchlein von guter Speise1 herangezogen werden. Diesem geht ein Macer voraus, und es folgen ihm Rezepte für kranke Rosse sowie Besegnungen für Vieh und Menschen. Eine ähnliche Zusammenstellung weist der aus dem 15. Jahrhundert stammende Münchener Codex cgm415 auf. Er enthält ein Kochbuch (f. 1-20 und 37-98), eine Abhandlung über das Weinlesen (f. 20-37) und zwei Arzneibücher (f. 98-349).2 Was die Gattung des altdeutschen Kochbuches betrifft, so handelt es sich hierbei um eine im 15. Jahrhundert verbreitete Literaturform, die in vielen Einzel- und Sammelhandschriften, aber auch in frühen Drucken, begegnet. Die Inhalte dieser Texte variieren naturgemäß, je nachdem ob sie für die fürstliche, klösterliche oder bürgerliche Küche bestimmt waren und ob ihre Verfasser medizinische Kenntnisse besaßen oder nicht. Das älteste Kochbuch in deutscher das Buoch von guoter spise, dessen früheste erhaltene Niederschrift um 1350 innerhalb des Hausbuchs Michaels de Leone erscheint, beschränkt sich auf den Aspekt der Speisenzubereitung, sagt aber nichts über ihren diätetischen Wert aus.3 Gleiches gilt für das Tegernseer Kochbuch. In den vorwiegend für begüterte Stadtbürger bestimmten Frühdrucken hingegen finden sich die diätetischen Gesichtspunkte sehr viel stärker berücksichtigt, ja es werden zu dieser Zeit bereits eigene Kochbücher für Kranke verfaßt.4 Der gesamte Textbestand der Augsburger Handschrift ist, wie erwähnt, von einer einzigen Hand geschrieben worden. Die Sprache wechselt häufig zwischen Latein und Deutsch, teilweise sogar innerhalb ein und desselben Traktats. Die Frage, ob der Schreiber der Handschrift gleichzeitig auch ihr Kompilator war, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Wolfgang Hirth vertritt die Ansicht einer Identität zwischen beiden Personen.5 Er plädiert dafür, die Entstehung des Codex in die Zisterzienserabtei Seligenthal/Landshut zu lokalisieren. Gerhard Eis und Gundolf Keil dagegen gehen davon aus, daß der Text die Kopie einer älteren Vorlage darstellt. Das Schriftbild sei zu sauber und einheitlich für eine Originalkomposition.6 Dieser letztgenannten Ansicht stimmt Melitta Weiss-Amer zu. Der Verfasser des Kochbuchs, Meister Eberhard, gibt sich als ein gelehrter Autor zu erkennen, der mit der diätetischen Literatur seiner Zeit gut vertraut ist. Er berücksichtigt sorgfältig die Wirkung der verschiedenen Eßwaren auf die Gesundheit der einzelnen Organe. Dabei vertritt er die in der mittelalterlichen

Sprache beispielsweise,

1 2 3

4 5 6

Vgl. Birlinger 1865. Hayer 1978. Die 1ère von der koderie. Vgl. Schneider 1973, S. 205-208. Vgl. Daz buoch von guoter spise (enthält auf S. 12 eine Liste mit weiteren vollständigen und fragmentarischen Ausgaben des Textes). Zu Michael de Leone vgl. -

-

Kornrumpf 1987. Z. B. von Ryff 1545. Vgl. Aichholzer 1999. Hirth 1969, S. 29. Eis/Keil 1958, S. 238.

-

Kapitel 7

350

Schulmedizin weit verbreitete Lehre von den Elementarqualitäten heiß und kalt sowie feucht und trocken. Damit steht er in großer Nähe zu den allgemein gängigen Gesundheitslehren der Zeit. Die Angabe „meyster" könnte bedeuten, daß Eberhard den Magistertitel führte, ob im Fach Medizin erworben, bleibt unklar. Die Auswahl des von Meister Eberhard kompilierten Materials spricht, so Melitta Weiss-Amer, gegen die Annahme, er hätte „an einer der großen medizinischen Schulen der Zeit, wie etwa Salerno, Bologna, Montpellier oder Paris, seine Ausbildung erhalten."1 Seine Vorlagen wurden entweder im deutschen Sprachraum verfaßt (LSM) oder sie lagen bereits in deutscher Ubersetzung vor (Regel der Gesundheit, Breslauer Arzneibuch). Insgesamt stellt Eberhards Kochbuch eine Kombination von heilkundlichem und diätetischem Schriftgut aus dem Bereich der mittelalterlichen Klostermedizin (Hildegard), der Schule von Salerno (Breslauer Kochbuch) und der deutschen Fachliteratur um 1300 (Konrad von Eichstätt) dar. Vermutlich waren all diese Titel in der Bibliothek Herzog Heinrichs in Landshut vorhanden, so daß Eberhard sich ihrer bequem bedienen konnte. Ein ähnlicher Fall solch kompilatorischen Handelns liegt in dem um 1200 abgefaßten diätetischen Brief des Magisters Theodorus an Friedrich II. vor.2 Die Handschrift enthält, teilweise innerhalb des sogenannten Kochbuchfs] des Meisters Eberhard, verschiedene Textpartien aus dem LSM? Anita Feyl hat das Kochbuch (f. 59r-70r) innerhalb ihrer 1963 erschienenen Dissertation, die einen Beitrag zur Erforschung der altdeutschen Fachliteratur liefern möchte, ediert. Aufgrund dieser germanistischen Schwerpunktsetzung hat die Autorin (bis auf wenige kürzere Abschnitte) die mittellateinischen Textpassagen kategorisch ausgeklammert. Die Folge war, daß die Autorschaft Hildegards für die lateinischen Einschübe lange Zeit unentdeckt blieb. Die Auszüge Hildegards, insgesamt 33 Kapitel, stammen aus den Büchern De avibus, De piscibus und De plantis. Sie dokumentieren die Wirkung des LSM im Bereich der heilkundlich orientierten Diätetik und Kochkunst und liefern damit ein interessantes Zeugnis für den wirkungsgeschichtlichen Erfolg des LSM auf einer unerwarteten Nebenlinie. Da sie eine bilinguale, gleichzeitig deutsch und lateinisch verlaufende Rezeption des Textes dokumentieren, sind diese Auszüge aus Hildegards LSM von besondeInteresse. Wie angedeutet, wird das Kochbuch des in Diensten Heinrichs III. des Rei-

rem

chen von Bayern-Landshut (1404/50) stehenden Eberhard von Landshut durch den vorliegenden Textzeugen in einer ostfränkischen, um 1495 entstandenen, allerdings fragmentarischen Fassung überliefert. Sprachliche Regionalismen sind hier, vermutlich aufgrund der vordringenden, auf Allgemeinverständlichkeit abhebenden Fachsprache nicht sehr ausgeprägt vorhanden.4 1 2 3 4

Weiss-Amer 1992, S. 95. Vgl. Sudhoff 1916. Zum Kochbuch vgl. auch Feyl 1961. Einzelbelege bei Feyl 1963, S. 81.

Hirth 1966.

Feyl 1963. -

-

Keil 1980a. -

Das naturkundlich-medizinische Werk

351

Durch Blattverlust zwischen f. 59 und f. 60 gingen etwa zwei Fünftel des verloren. Inhaltlich betrachtet sind, wie Gundolf Keil hervorhebt,1 die 23 erhaltenen Rezepte des Kochbuchs der deutschen Kochbuchliteratur der Zeit verhaftet. Sie sind größtenteils auch andernorts überliefert, vor allem im sogenannten Buch von guter Speise. Fünf weitere Rezepte weisen große Ähnlichkeit mit Rezepten des Würzburger Kochbuchs auf. Im Anschluß an das Kochbuch Eberhards erscheinen auf f. 60v-70r zwei zusätzliche Traktate zur Nahrungsmitteldiätetik. Der erste von ihnen stammt aus der Regel der Gesundheit und geht auf Konrad von Eichstätt (3. Viertel 13. Jh. 1342) zurück, der zweite, er handelt „von den ölen", gehört zur Freiberger Arzneimittellehre und wurde im 13. Jahrhundert verfaßt. Da die Zählung Feyls in 113 Einzelabschnitte die lateinischen Passagen des Kochbuchs größtenteils unberücksichtigt läßt, sei der Inhalt des Hildegard-Teiles, basierend auf der Beschreibung Karin Schneiders, nachfolgend noch einmal

ursprünglichen Textumfangs

-

aufgeführt.

f. 59r-60v:

Kochrezepte (Feyl, Abschnitte 1-23 [Abschnitt 1-17 und 21-23 deutschsprachig, Abschnitt 18-20 lateinisch]; Abschnitt 24 [deutschsprachig]: „Item hienach volgt, wie man ein ganß pratenn soll" Hildegard von Bingen, Physica, Buch VI, Cap. X: „De =

Ansere", deutsch)

f. 60v-64r : diätetische Liste von Lebensmitteln (Feyl, Abschnitte 25-61 [deutschsprachig]: „Hienach volgt vonn den kuchenspeisen, warr zu sie gut sein

f. 64r-65r:

)

Hildegard von Bingen, Physica, „De Piscibus" [lateinisch, bei Feyl getilgt]. Nach Feyl handelt es sich um eine lateinische Abhandlung über verschiedene Fischarten mit dem Incipit: „Sequitur de quibusdam piscibus et vtilitatibus eorum in latino et primo de lucio." Es werden behandelt: lucius, barbo, carpo, breßma, forula, persick, ascha, rotaug, haßela, blicka, sleya, grundula, steinpeiß, kugelhaubt, cancerr, oel, alrupp, lampreda, allet. Zwischen carpo und breßma sind, so Feyl (S. 103, Fußn. 44), zwei allgemeiner gehaltene Bemerkungen eingefügt. Die erste beginnt: „Item nota de quanto profundior et purior et mobilior de tanto pisces in eo nutrire est melior". Die zweite beginnt: „Item pisces morantes in aqua meridionali non multum valent."). Der Text bringt damit 19 der insgesamt (Ausgabe

der PL) 37 Fischarten. diätetische Liste von Lebensmitteln, Fortsetzung: „Hienach volgt ein capitell von dem prot" (Feyl, Abschnitt 68 [deutschsprachig]) f. 65v-66v: Hildegard von Bingen, Physica, „De Plantis" (Auszüge, lateinisch; fehlt bei Feyl); es werden behandelt (nach Feyl, S. 104, Fußn. 46): Triticum, siligo, auena, ordeum, spelta, pisa, faba, lens, hirsch, hanff

f. 65r:

1

Keil 1980a.

Kapitel 7

352

f. 66v-69r: diätetische Liste te

69-100

von

Lebensmitteln, Fortsetzung (Feyls AbschnitAbschnitt 69: „Hienach volgt ein

[deutschsprachig];

capittel vonn dem fleisch" [deutschsprachig]; Abschnitte 71-73: Hildegard von Bingen, Physica, „De Avibus" [„Rephuhn", „Awerhuhn", „Durteltaub"; deutschsprachig]) f. 69r-70r: medizinische Öle (Feyls Abschnitte 101-113 [deutschsprachig])"1. Betrachtet man die Auswahl, Anordnung und Sprachform (deutsch-lateinisch) der implementierten Hildegard-Teile, so ergeben sich folgende Gesichtspunkte: Die erste zitierte Hildegard-Passage (Abschnitt 24) erscheint nicht in lateinischer, sondern in deutscher Sprache. Es ist eine Ubersetzung von Buch VI, Cap. 10 des LSM (De avibus; darin De Ansere). Auffällig ist, daß dieser Teil nicht, wie fast das gesamte übliche Hildegard-Material, im diätetischen Teil des Kochbuchs untergebracht ist, sondern im kulinarischen. Da der nächstfolgende Auszug aus dem LSM, der bereits zur Diätetik gehört, lateinisch zitiert wird, stellt sich die Frage, ob nicht die eigentlichen Kochrezepte an ein lateinunkundiges, auf einem niedrigeren Bildungsniveau stehendes Publikum gerichtet waren. Allerdings würde dies bedeuten, daß dieser (deutschsprachige) Teil einen beide Teile jedoch innerDa hätte. gesonderten Überlieferungsweg genommen halb ein und derselben Handschrift erscheinen, ist dies kaum vorstellbar. Im Anschluß an Abschnitt 67 der Edition Feyls folgen die oben aufgeführten diätetischen Abhandlungen über 19 Fischarten (f. 64r-65r). Vergleicht man diese Abhandlungen mit dem Fischbuch des LSM, so zeigt sich, daß sie etwa zur Hälfte mit Buch V (De piscibus) des LSM identisch sind. Mit Ausnahme der Abhandlung De Allee ist sogar die Reihenfolge des LSM beibehalten. Die Textlücken ergeben sich daraus, daß Hildegard oft Fische bzw. Meeresbewohner behandelt, die unter rein kulinarischen Gesichtspunkten betrachtet im Mittelalter keine Rolle spielten, etwa den Wal. Aus einer biblisch-theologischen Perspektive heraus betrachtet und damit für Hildegard waren sie dennoch von Belang. Ganz konsequent fehlen im Kochbuch fast alle Meerwasserfische, während die Süßwasserfische nahezu vollständig übernommen sind. Auf f. 65v-66v rezipiert der Verfasser des Kochbuchs Teile von Buch I des LSM (De plantis). Allerdings wählt er hier stark aus. Von Hildegards insgesamt 213 Pflanzenbeschreibungen werden lediglich 10 der ersten 11 übernommen (s. o.). Die meisten dieser Pflanzen dienten im Mittelalter der Herstellung von Brot, so daß sich ein für ein Kochbuch durchaus sinnvolles Selektionsprinzip erkennen läßt. Im Anschluß an einen diätetischen Teil (Abschnitt 69f. der Edition Feyls) übernimmt der Text die Kapitel über das Rephun, Pirckhun und Awerhun aus dem LSM (Buch X [De avibus]). Überblickt man die rezipierten LSM-Teilc des Kochbuchs zusammenfassend, so zeigt sich, daß dem Kompilator wenigstens drei Bücher des LSM zur Verfügung gestanden haben. Es sind dies die Bücher De plantis, De piscibus und De -

l

Weiss-Amer 1992, S. 89f.

-

Das naturkundlich-medizinische Werk

353

avibus. Die Textpräsentation weist gegenüber jener der Pariser Handschrift 6952 eine Vielzahl von Eingriffen auf. Der Kompilator strafft das Material, und wenn es ihm nötig erscheint (Gänsekapitel), übersetzt er es ins Deutsche. In einem Abschnitt (De avibus, Cap. XVI: De Rephun) kombiniert er das Hildegard-Material mit der pseudo-arnaldischen Regel der Gesundheit.1 Dieser Text stellt die Hauptquelle für das Kochbuch dar. In seiner freien, Epochen-, Sprach- und Genregrenzen unbekümmert überschreitenden Art der Kompilation stellt das Kochbuch Meister Eberhards eine interessante Rezeptionsvariante des LSM innerhalb eines vollkommen pragmatisch orientierten Benutzungszusammenhanges dar. Es dominiert eine unakademische Perspektive in der Verwendung von Hildegards Rezepten. Wichtig erscheint die Beobachtung, daß der LSM auch jenseits der strengen, medizinisch operierenden Heilkunde (aber doch in ihrem Umfeld) auf dem Felde benachbarter Disziplinen, hier der Diätetik und Kochkunst, eine gewisse Wirkung entfalten konnte.

5.) Freiburg, UB,

Ms 178a

1985 entdeckte und edierte Raimund Struck ein 15 Blatt starkes LSM aus dem Bestand der UB Freiburg i. Br. (Sign. Ms 178a).2 Dieser Textzeuge er enthält auf f. lra-15ra nur Auszüge aus Buch IV, Kap. 1-23 (De lapidibus PL 197, 1247-1265) des LSM war ursprünglich zusammengebunden mit den heute separat vorliegenden Handschriften Hs 178 und Hs 178b der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br. Die Hs 178 beinhaltet Briefformulare und Schriften des Jakobus Mennel (ca. 1460-1526), eine Tatsache, die von Struck vielleicht nicht ganz hinreichend gewürdigt wurde.3 Das Alter dieser Texte läßt sich auf die Jahre 1496-1505 Im

Jahre

Fragment des

-

=

-

datieren. Mennel gilt als Historiker, Genealoge, Jurist und (gelegentlich) auch als Arzt. 1477 hatte er die neugegründete Universität Tübingen bezogen. Dort war er Schüler des Historikers und Universitätsrektors Johannes Nauclerus (1428-1510), der seinerseits Kontakte zu Erasmus, Reuchlin und Trithemius unterhielt. Nach der Promotion zum Magister Artium im Jahre 1484 wirkte Mennel in Rottenburg am Neckar als Lateinschulmeister und Notar. 1493 las er an der Universität Freiburg i. Br., 1495 an der Universität Basel über Aristoteles. In Basel studierte er zudem die Rechte. 1496 wurde Mennel Bürger und 1

2

Zu diesem Text vgl. Strauss 1963. Bei dieser zur Regimen-Literatur gehörenden Schrift handelt es sich nicht um eine Originalkomposition, sondern um die deutsche Ubersetzung des lateinischen Traktats De qualitatibus ciborum. Der Traktat wurde um 1300 von dem Arzt Konrad von Eichstätt verfaßt. Er ist bei Konrad Teil seines Regimen sanitatis, der als Sanitatis Conservator bekannt war und eine Kompilation der Regimina des Rhazes, Avicenna und Averroes darstellt. Vgl. Struck 1985. Zur Handschrift selbst vgl. Hagenmeier 1974, S. 169. Zu Mennel vgl. Burmeister/Schmidt 1987. Burmeister 1990. Burmeister 1994 (ohne Angabe, Mennel sei Arzt gewesen). -

3

-

-

Kapitel 7

354

Stadtschreiber von Freiburg, im Jahre 1500 überdies Kanzler des Johanniterordens. Im Jahre 1503 wurde er zum Doktor der Rechte promoviert, zwei Jahre später stieg er zum Kaiserlichen Rat auf. Zwar behielt Mennel seinen Wohnsitz in Freiburg bei, doch befand er sich bis 1519 fast ständig in der Nähe Kaiser Maximilians. Reisen führten ihn u. a. nach Italien, Osterreich und in die Niederlande. Max Wehrli bezeichnet Mennel darüber hinaus als „Arzt in Konstanz".1 Die vielen Veröffentlichungen Mennels betreffen rhetorische (Rhetorica minor), juristische (Passion in form eines gerichtshandels, Straßburg 1514) und historisch-genealogische Themen. Im Jahre 1507 stellte Mennel einen kurzen Auszug aus dem 19.000 Verse umfassenden, 1337 abgeschlossenen Schachzabelbuch des Konrad von Ammenshausen, eines Benediktinermönchs und Leutpriesters aus Stein am Rhein, her. Die schriftstellerische Bedeutung Mennels liegt aber stärker im Bereich der maximilianeischen Hofhistoriographie, zu der er verschiedene herausragende Beiträge geliefert hat.2 Die Hs 178 b enthält Texte des Jacobus de Voragine sowie eine Historia passionis Jesu Christi. Darin eingestreut sind deutsche Texte in ostalemannischer Mundart. Das LSAf-Fragment umfaßt auf 15 Blatt die Kapitel 1-23 des Buches De lapidibus (Blattgröße 26,6 x 19 cm, Text zweispaltig, Zeilenzahl 36/38). Die Schrift ist eine homogen wirkende gotische Textura. Die Initialen sind rubriziert und teilweise ornamental ausgestaltet. Auch die Kapitelüberschriften, Steinnamen und Indikationen wurden rubriziert. Die Indikationen sind am Seitenrand eingetragen. Sie stammen von der gleichen Hand wie der Haupttext. Infolge von Zusätzen ist der Text des vorliegenden Fragments in den einzelnen Kapiteln umfangreicher als der in PL 197, Sp. 1247-1265 abgedruckte der Pariser Handschrift 6952. Die mittelhochdeutschen Wörter sind vielfach weggefallen bzw. durch lateinische Begriffe ersetzt. Der Zeitpunkt der Entstehung des Fragments wird von Raimund Struck auf den „Beginn des 15. Jahrhunderts" geschätzt.3 Das Papier, so Struck aufgrund einer Bestimmung des Wasserzeichens, sei um 1390-1400, vermutlich in Italien, hergestellt worden. Uber den Entstehungsort des Fragments selbst läßt sich nichts Genaues ermitteln. Lediglich auf f. 15v befindet sich ein fragmentarischer Besitzeintrag: „Item iste über est fratris", der auf eine monastische Herkunft rückschließen läßt. Ein Schreibervermerk (ebenfalls auf f. 15v) dokumentiert („und ich weiss nit wie sy mich lie") darüber hinaus eine Herkunft aus Deutschland. 1 2

Wehrli 1980, S. 712. Genannt seien die Fürstliche

Chronick, genannt Kayser Maximilians Geburtsspiegel (6 Bde., 1512-1517), das reich illustrierte Kayser maximilians besonder Buch genannt

der Zaiger und das Buch von den erlauchtigen und claren Weyhern des loblichen husz Habsburg (beide Texte 1518, ONB Wien). Zu erwähnen sind überdies das Chronicon

episcopatus

3

Constantiensis

Ritterorden. Struck 1985, S. XVIII.

von

1519 und eine verschollene Geschichte der

geistlichen

Das naturkundlich-medizinische Werk

355

Bis auf

einige fehlende Textstellen enthält das Freiburger Fragment annäherungsweise den gleichen Text wie die Florentiner Handschrift. Zumindest im Buch De lapidibus kommt es vom Textumfang her diesem näher als alle anderen erhaltenen Textzeugen. Allerdings finden sich auch zahlreiche Stellen, in denen der Text von jenem der Florentiner (und auch der Wolfenbütteler) Handschrift abweicht und Ubereinstimmungen mit P und B aufweist. Sollte die Information, daß Mennel, der Besitzer des Freiburger Textzeugen, auch Arzt war, zutreffen, so würde dies hervorragend zur heilpraktischen Benutzungsfunktion der übrigen aus dem 14./15. stammenden Textzeugen passen, bei denen es sich ebenso verhält. Zum Abschluß unseres Überblicks über die Fragmentüberlieferung des LSM ist auf einige jüngst entdeckte Textzeugen hinzuweisen, die sämtlich durch Laurence Moulinier vorgestellt und auch ediert wurden (Bibl. Vat. Cod. Pal. lat. 1216; Cod. Pal. lat. 1144; Cod. Pal. lat. 1207). Die folgenden Ausführungen basieren mithin gänzlich auf den Forschungsergebnissen Laurence Mouliniers. Hinsichtlich der Verbreiterung der Quellen- und Überlieferungsbasis des naturund heilkundlichen Werkes hat nach diesen Entdeckungen Barbara Fehringer eine sehr pointierte Meinung vertreten: „Durch die genannten Neuentdeckungen", so Fehringer, „ist die Überlieferungssituation für den ,Liber simplicis medicinae', was die Anzahl der Handschriften betrifft, den Verhältnissen bei den theologischen Werken vergleichbar geworden."1 Diese Beurteilung der Sachlage ist nach meinem Dafürhalten etwas zu euphemistisch geraten. Immerhin fehlt für die natur- und heilkundlichen Werke die komplette autornahe Überlieferung, wie sie im Bereich der visionären Schriften so hervorragend

repräsentiert

ist.

6.) Vatikan, Bibl. Vat., Cod. Pal. lat. 12162 Die vatikanische Handschrift Cod. Pal. lat. 1216 ist eine deutsch-lateinische Sammelhandschrift des 14./15. Jahrhunderts. Der Papiercodex umfaßt 268 f. + II f. und besitzt die Maße 21 x 15 cm. Die Hildegard-Teile sind Ende des 14. Jh. in Schaffhausen geschrieben worden. Der Codex, der später in den Bestand der Bibliothek des Pfalzgrafen Ottheinrich (1502-1559) wanderte, enthält Auszüge aus medizinischen Texten verschiedener Autoren und Epochen (f. lr: „Experimenta ad varios morbos collecta de diversis authoribus").3 Neben Vindicianus erscheinen Cophon, Pseudo-Hippokrates, Johannes de Parma und Arnaldus de Villanova. Die Hildegard-Partien (f. 91v-95) sind Ende des 14. oder Anfang des 15. Jahrhunderts entstanden. Sie umfassen 42 heilkundliche Rezepte, die 37 verschiedenen Kapiteln des LSM entnommen sind. Hiervon sind 10 Rezepte veterinär1994, S. 14.

1

Fehringer

2

Vgl. Moulinier 1995, S. 60f. Vgl. Schuba 1981, S. 210-218.

3

Moulinier 1993a. -

Kapitel 7

356

medizinischer Art. Die Hildegard-Passagen präsentieren sich als ein zusammenhängendes, isoliert dastehendes Werk von einer Hand, die ansonsten im Codex nicht nachzuweisen ist. Von den exzerpierten LSM-Kapiteln entfallen 23 Kapitel auf Buch I (De plantis), vier auf Buch III (De arboribus), fünf auf Buch IV (De lapidibus), eines auf Buch V (De piscibus), drei auf Buch VI (De avibus) und eines auf Buch IX (De metallis). Die Rezepte auf der Basis der Steine (38-42) genießen eine Sonderstellung. Sie wurden an das Textende plaziert. Der Grund hierfür könnte darin liegen, daß das Buch De lapidibus separat kopiert wurde. Auf eine solche Möglichkeit deutet auch der Freiburger Textzeuge Ms 178a hin, der, wie oben gezeigt, lediglich ein 15 Blatt umfassendes Textfragment aus dem Steinbuch enthält. Auffällig ist in dem vorliegenden Textzeugen des LSM die bereits angesprochene Verwendung muttersprachlicher, d. h. deutscher Wörter. Die meisten dieser deutschsprachigen Wörter treten im Bereich der Botanik auf. Hier können insgesamt 15 deutsche Bezeichnungen nachgewiesen werden, während zur Angabe von Krankheiten lediglich drei verwendet werden (z. B. „constrictio guthuris id est strengelen", „dolor capitis id est heubtsucht" [A 8], Edition

Moulinier).

Als Schreiber und Vorbesitzer von Cod. Pal. lat. 1216, läßt sich ein gewisser Nicolaus Hasel, Pfarrer von Pfiffligheim bei Worms, ermitteln. Auf f. 97r erscheint der Vermerk: „finitum domini 1445° in die Nazarii per manum Nicolai Hasel plebani in Peffelkeim". Der Ausdruck plebanus bezeichnet einen einfachen Pfarrer oder Leutpriester, keinen hochstehenden Kleriker und Ordensmann, auch dies ein Hinweis auf die nicht-akademische Verwendung des LSM. Auf f. 252v hat sich Hasel ein weiteres Mal verewigt: „anno domini 1480 pridie Margarethe virginis Nicolaus Hasel subscripsit". Ein anderer Provenienzvermerk stammt von einem gewissen Johannes Ceci. Er ist auf das Jahr 1484 datiert (f. 78r: qui scripsit expertus sum [MCCCCJLXXXIIII Johannes Ceci"). Der erste Teil der Handschrift (f. 1-107) mit den LSM-Auszügen entstand am Ende des 14. Jahrhunderts (vgl. die Notiz auf f. 51v: „conscriptus in Schafhusen die Agnetis anno 1389"). Er enthält Ergänzungen von der Hand Haseis und Cecis. Der zweite Teil (f. 108-260) gehört entstehungsgeschichtlich in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts und wurde in der Gegend von Worms geschrieben datum per magistrum montani de Wormacia qui habuit illo a (vgl. f. 224r: domicello de Lutzenburg"). Die Tatsache, daß ein einfacher Landpfarrer den Text besaß, ist nicht weiter verwunderlich, wenn man in Rechnung zieht, daß die medizinisch-pharmazeutische Grund vers orgung (ohne die Chirurgie) der Bevölkerung von sehen der lateinkundigen Geistlichen geleistet werden konnte. Auch ein Textzeuge des Alteren deutschen Macer, der weiter oben erwähnte, um 1420 entstandene Wiener Codex 5305, deutet auf diesen Sachverhalt hin. Er enthält eine aus zwanzig Reimpaaren bestehende Gebrauchsanweisung für das Register zum deutschen Macer (Wien, Codex 5305, f. 335rb-338va) aus der Feder des „paffe[n] Wit„...

„...

Das naturkundlich-medizinische Werk

357

alsfelt". William Crossgrove geht davon aus, daß dieser Textzeuge spätere Abschrift darstellt, die medizinische Tätigkeit des „paffen Witschuh" bereits ins 13. Jahrhundert fällt.1

schuh

von

eine

7.) Vatikan, Bibl. Vat., Cod. Pal. lat.

1144 Der vatikanische Codex Pal. lat. 1144 ist eine natur- und heilkundliche Sammelhandschrift aus dem 14. und der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Der Codex ist im ersten Teil (f. 1-296) eine Papier-, im zweiten Teil (f. 297-316) eine Pergamenthandschrift. Die Maße des Codex sind 20,5 x 15 cm. Die HildegardTeile sind in der 2. Hälfte des 15. Jh. in Heidelberg geschrieben worden. Teil 1 (f. 1-296) beinhaltet neben einem Auszug aus Hildegards LSM u. a. folgende Autoren: Isidor von Sevilla, Arnaldus de Villanova, [Pseudo-]Albert, Thomas von Cantimpré und Rhazes.2 Teil 1 stammt von verschiedenen Händen und wurde in Heidelberg angefertigt. Teil 2 (f. 297-316) umfaßt zwei Pergament-Quinionen aus dem H.Jahrhundert. Er stammt von einer einzigen Hand und beinhaltet philosophische Texte. Die Handschrift enthält auf f. 128v-129r das einzige bekannte Exzerpt des LSAf-Buches De plantis. Während des 15. Jahrhunderts gehörte der Codex einem gewissen Erhard Knab (1420-1480).3 Knab hatte sich 1439 an der Universität Heidelberg immatrikuliert. 1440 wurde er zum Baccalaureus artium promoviert, 1443 erwarb er den Titel eines Licentiatus artium. Im Jahre 1451 wurde Knab zum Dekan der

Artistenfakultät ernannt. Zu dieser Zeit begann er mit medizinischen Studien. Diese Studien mündeten 1453 in den Erwerb des medizinischen Baccalauréats. 1455 wurde Knab Rektor der Artistenfakultät, 1462 wird er zum ersten Mal als Licentiatus medicinae erwähnt. Da Knab sich noch 1456 als Baccalaureus medicinae bezeichnet, muß die Promotion zum Lizentiaten nach 1456 stattgefunden haben.4 Nachdem Knab 1464 die Erlaubnis erhalten hatte, ein Jahr lang in Speyer praktizieren zu dürfen, wurde er 1465 zum Rektor der Universität Heidelberg gewählt. Auch von 1470 bis 1476 bekleidete er dieses Amt. 1466 wirkte Knab mit an der Erarbeitung eines Bibliothekskataloges der Universität Heidelberg. Knab verstarb 1480, nach einer mehr als dreißig Jahre währenden akademischen Tätigkeit an der Universität Heidelberg. Knabs schriftstellerisches Werk ist breit angelegt. Es umfaßt u. a. zahlreiche Kommentare zu den Summulae logicales des Petrus Hispanus, zur Rhetorik des Aristoteles, zur Ars 1 2

Vgl.

Crossgrove 1998.

Beschreibung der Handschrift findet sich bei Schuba 1981, S. 95-100. Eine Edition des Textes bringt Moulinier 1993a innerhalb ihres Aufsatzes S. 647f. Zur Person Knabs vgl. Jeudy/Schuba 1981. In der vatikanischen Handschrift Cod. Pal. lat. 1083 findet sich auf f. 40vb der Schreiet lectus est ille über bervermerk: „Scriptus per me Eberhardum Knab arcium magistrum et medicine baccalaureum in universitate Haidelbergensi anno domini 1456 die 25 Februarii." Eine

-

3 4

...

...

Kapitel 7

358

minor des

Donatus, vor allem aber zu Werken des Galenius, Hippokrates und Gilles de Corbeil. Unter den Schriften, die Knab während seiner Zeit als Professor der Medizin verfaßte, sind folgende Titel zu nennen : die Consilia medica, die Regimina (u. a. für den Bischof von Speyer) sowie eine zwischen 1464 und 1466 entstandene Practica tarn in phisicis quam in chirurgis. Letzteres Werk zerfällt in zwei Teile. Teil eins trägt den Titel Practica medicinalis oder, Bezug nehmend auf Constantinus Africanus, Viaticus. Teil zwei wird als Chirurgia bona bezeichnet. Beide Teile dienen dem Zweck, ein Handbuch für den praktizierenden Arzt bereitzustellen. Man kennt etwa 20 Handschriften aus dem Privatbesitz Knabs. In der Regel handelt es sich dabei um medizinische Texte, die entweder von Knab selbst stammen oder aber für ihn kopiert wurden. Wie viele dieser Handschriften, so ist auch der vorliegende Codex ein Kon-

glomerat

von

ursprünglich selbständigen, später zusammengebundenen

Faszi-

keln. Die folia 128v-129r mit den Hildegard-Teilen wurden von Knab selbst geschrieben. Sie umfassen sechs Kapitel aus dem Buch De plantis. Es sind dies die Kapitel: De Farn, De Winda, De Agrimonia, De Nachtschade, De Ringula und De Fungis. Knab hat den Text des LSM lediglich exzerpiert, ohne ihn neu zu organisieren. Welche Textvorlage er verwendete, läßt sich nicht mehr ermitteln. Immerhin fällt auf, daß im Hinblick auf die Pflanzennamen eine größere Einheitlichkeit herrscht als bei dem der Ausgabe Mignes zugrundeliegenden Pariser Codex 6952. Mit Ausnahme von Winde und Ringula werden ausschließlich lateinische Namen verwendet.

8.) Vatikan, Cod. Pal. lat.

1207

Der vatikanische Codex Ms Pal. lat. 1207 ist eine Papierhandschrift mit Texten, die zwischen 1425-1447 geschrieben wurden. Sie umfaßt 148 + II f. und hat die Maße 21 x 15 cm. Die Handschrift ist ein Autograph des in Heidelberg tätigen Magister artium und Doktors der Medizin Gerhard von Hohenkirche[n]

(1382—1448[?]).1 Auf f. 8v findet sich der Schreibervermerk: „Gherardus de Hohenkirchen magister arcium et doctor medicine". Auf f. 59r erscheint ein datiertes Explicit: „Explicit metrum factum anno 1447 die 28 aprilis per G[herardum] de H[ohenkirchen]." Der Text ist zweispaltig in einer Kurrentschrift gehalten, die Rubrikation zurückhaltend. Laurence Moulinier, von der ich die nachfolgende Inhaltsbeschreibung übernommen habe, datiert die Handschrift nach Ludwig Schuba in die Zeit 1425-1447.2 Der Sammelband enthält folgende Texte: f. 2v-7r: die Statuten der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg [Eidesformel Hohenkirchens u. a. vom 16. Juli 1425; Textauszug aus den Bestimmungen Ruprechts I.]; ...

1 2

Zu seiner Person

vgl. Keil 1980b. Zum Text insgesamt Moulinier 1999, S. 225. Schuba 1981, S. 192-196. -

vgl. Moulinier

1999.

Das naturkundlich-medizinische Werk

359

f. 7v-8r:

eine Liste der Rektoren der Universität Köln für die Jahre 1389—

f. llr-13v: f. 14rv:

Notata et excerpta [Farbkanon der römischen Liturgie]; Der Arzt und die ärztliche Kunst nach dem Canon [Sammlung von Zitaten aus dem Dekret, den dekretalen und Kanonisten]; De leprosis examinandis; Gerardus de Hohenkirchen: Metrum de accidenti et morho

f. 15r-16v: f. 18r-59r:

1418;

Galeni Gerardus de Hohenkirchen [?]: De Febribus (Zitate zahlreicher medizinischer Autoritäten: Galenus, Hippokrates Avicenna; außerdem Empirica [f. 64r], Hildegard von Bingen [f. 64r-65v], Gilbertus Anglicus [f. 65v; 85v], Albertus Magnus [de rerum natura, f. 85v], Experimentum rosarii [f. 86r], Gerardus de Solo [f. 87r], Johannes de Sancto Amando [f. 87r], Petrus Hispanus [f. 89r], Platearius, Expérimenta Rasis, Tractatus quinte essencie (Johannes de Rupescissa [f. 89v]), Thomas de Aquino, Albicus [f. 90v], Garipontus Salernitanus.1 f. 90v: Notiz über Untersuchung eines Lepraverdächtigen; f. 93v-100cr: In Galeni de methodo medendi libros 8-11, glossa; De febribus putridis et pestilentialibus ; f. lOlr: Stephanus Arnaldi [?], De aurea; f. 101r-114v; 117rv: De medicinis simplicibus et compositis; f. 115r-117r: De dosatione medicinarum; f. 118rv: Roger Bacon, De leone viridi; f. 119ra-120ra: Laudatio medicinae; f. 121r-130v: In Galeni librum de interioribus glossa; f. 131r-143v: Albertus de Saxonia, Textus de proportionibus f. 144r-147v: Gerardus de Hohenkirchen, Glossa in metrum de phlebotamia; f. 147v-148v: Gerardus de Hohenkirchen: 25 Protokolle von Lepra-Untersuchungen, die zwischen dem 1. März 1442 und dem 30. Oktober 1443 in Heidelberg durchgeführt wurden. (Bei diesen Untersuchungen waren neben Hohenkirchen noch Magister Henricus Munsinger und Johannes de Tubhingen (Tübingen) als behandelnde Ärzte beteiligt). Auf f. 65v wird Hildegard zitiert, und hinter der Rubrik Empirica auf f. 64v erscheinen kurze Auszüge aus Hildegards LSM. Dabei handelt es sich um 13 Kapitel des Buches De plantis, drei Kapitel des Buches De arboribus, fünf Kapitel des Buches De lapidibus und zwei Kapitel des Buches De animalibus. Es folgen 23 Rezepte, die Hildegard zugeschrieben werden, die aber in keinem Textzeugen des LCM zu finden sind. Insgesamt gilt, daß als Vorlage ein kompletter oder zumindest sehr umfangreicher Textzeuge des LSM gedient haben

f. 60r-91r:

l

Vgl. Schuba 1981, S. 192.

Kapitel 7

360

muß. Laurence Moulinier, die die beiden Hildegard-Passagen ediert hat, vermutet hierin einen dem von Migne abgedruckten Pariser Codex 6952 ähnlichen Textzeugen.' Auffällig ist, daß der LSM-Text des Vatikanischen Codex 1207 (von zwei Ausnahmen abgesehen) in der Abfolge der Bücher und im Aufbau der Kapitel dem Pariser Textzeugen folgt. Was die Person Hohenkirchens anbetrifft, so sind wir durch die entsprechenden Erhebungen von Guldolf Keil, auf denen die folgenden Ausführungen basieren, gut unterrichtet. Der gebürtige Nordniedersachse Hohenkirchen erwarb in Erfurt das Baccalauréat der Artistenfakultät. 1401 ist er als Student in Prag bezeugt. Dort wird er im Jahre 1404 als Magister artium bezeichnet, wenig später als Doctor medicinae. 1408 ist Hohenkirchen Dekan der medizinischen Fakultät Prag. Ein Jahr später schließt er sich einer Gruppe deutscher Professoren und Studenten an, die aus Protest gegen den tschechischen Nationalismus Prag verlassen und sich nach Leipzig wenden. Dort gründen sie die Leipziger Universität. Im Oktober 1409 konstituiert Hohenkirchen als vierter unter 45 Kollegen den Lehrkörper der Universität Leipzig. Hohenkirchen wirkte in Leipzig als Professor pathologiae und wurde 1415 zum ersten Dekan der neugegründeten medizinischen Fakultät gewählt. Anschließend ist er in Köln belegt, wo er 1418 Rektor der Universität wurde. Das gleiche Amt versah er 1420 und 1429 an der Universität Heidelberg. Das Todesjahr Hohenkirchens ist in der Literatur umstritten. Genannt werden die Jahre 1429 und 1448.2 Daß der Prag-Leipziger und der Köln-Heidelberger Namensträger identisch sind, läßt sich nicht beweisen. Der Heidelberger Namensträger konnte es durch sein therapeutisches Wirken und vermutlich auch durch seine Tätigkeit als kurpfälzischer Leibarzt zu erheblichem Wohlstand bringen. Seine bedeutende Handschriftensammlung ging an das Collegium Dionysianum der Universität Hei-

delberg.3

Bezeugt ist Hohenkirchen auch in

einem um 1460 im Gebiet von Speyer Sammelwerk mit angelegten deutschsprachigen Pesttraktaten. Innerhalb dieses heute zum Bestand der Universitätsbibliothek Salzburg gehörenden Codex (Signatur: Hs M III 3) erscheint eine Regel für die Pest von meinster Gerhart Hohenkirche (f. 195vab). Darüber hinaus ist von Hohenkirchen ein lateinischer Pesttraktat bekannt, der in der Handschrift 397 der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt überliefert ist.4 Lassen wir die handschriftliche Überlieferung des LSM damit auf sich beruhen. Die vielfältigen Neuentdeckungen der letzten etwa 15 Jahre haben gezeigt, daß dieses Werk reichhaltiger überliefert wurde als lange Zeit angenommen, 1 2 3

4

Laurence Moulinier, Vorwort zur Edition des LCM (Typoskript, unpag.). Edition in Moulinier 1999, S. 235f. Sudhoff 1909, S. 100, nennt das Jahr 1429. Weisert 1968, S. 11 und 59, nennt das Jahr 1448. Vgl. auch Abe 1960. Vgl. Lorenz 1983. Vgl. Maitz/Staub/Keil 1999. -

Das naturkundlich-medizinische Werk

361

diese Überlieferung sich nicht mit jener der visionären Schriften kann. Hier gilt der grundsätzliche Befund Laurence Mouliniers : «Plusieurs versions de la Physica coexistent en effet à cette époque, intégrales ou morcelées."1 Was die geographische Zuordnung des Verbreitungsraumes betrifft, so läßt sich zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert der Rhein als wichtige Achse der Textstreuung ausmachen. Trier und Heidelberg bildeten offensichtlich besondere Zentren. Es gibt deutliche Hinweise darauf, daß das Buch De plantis im Sinne eines ursprünglich eigenständigen Herbariums eine gesonderte Überlieferung erfahren hat und daß die Vereinigung dieses Herbariums mit den übrigen Büchern des LSM erst nachträglich zustande kam. Die Übertragung von Teilen des LSM (de herhis) ins Deutsche geschah, sollten die Forschungen Fehringers und Keils zum Speyerer Kräuterbuch zutreffend sein, in der Frühzeit (13. Jh.) vermutlich vor allem durch praktizierende Wundärzte. Sie wandten Hildegards Rezepte im Rahmen der eigenen Therapien an und benutzte die Drogenmonographien zur Herstellung von Rezepturen. In die Nähe der Universitätsmedizin rückte der LSM erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Hierbei bildete die Universität Heidelberg mit ihrer medizinischen Fakultät einen rezeptionsgeschichtlichen Schwerpunkt. Allerdings scheint Hildegards Schrift auch dort nicht im Bereich der akademischen Lehre eingesetzt worden zu sein (etwa im Sinne eines Leitfadens für die Vorlesungen). Ihr Wirkungsfeld lag vielmehr im Bereich der praktischen Heilanwendung. Bezeichnenderweise findet sich der LSM nirgendwo innerhalb der gerade für den Universitätsbetrieb so typischen Überlieferungsform der Pecien-Handschriften.2 Was die genealogischen Verhältnisse der komplett überlieferten handschriftlichen Textzeugen untereinander anbetrifft, so bilden W und F einen (älteren) Zweig. Beide Textzeugen stammen aus dem Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts. Sämtliche von Portmann als Add. W bezeichnete Passagen von W finden sich in F. Hinzu kommt, daß beide Textzeugen ein deutsch-lateinisches Indikationenregister besitzen. Demgegenüber gehören V und P zu einer anderen, später entstandenen Familie. Die zahlreichen identischen Varianten dieser beiden Texte erlauben den Schluß, daß sie entweder von einer gemeinsamen Vorlage kopiert wurden oder daß einer der beiden Textzeugen von dem anderen abgeschrieben wurde. Der Textzeuge B wiederum, in dem Kaiser eine Kompilation aus dem LSM und dem LCM erblickt, unterscheidet auch

wenn

messen

1

2

Moulinier 1993a, S. 643.

Sofern die Pecien auch für Handschriften medizinischen Inhalts vorausgesetzt werden können. Bei Pecien handelt es sich um ungebunden gelieferte Faszikel bestimmter Texte, die an Studenten abgegeben wurden. Die Texte selbst wurden in ihrer Reinheit durch vorgegebene exemplaria, d. h. kontrollierte Ausgaben, gesichert. Hierfür waren sogenannte petiarii zuständig, d. h. Professoren, die die Vorzugstexte bestimmten und zum Kopieren an die stationarii, die universitären Handschriftenverkäufer, weitergaben. Vgl. hierzu Marichal 1990.

Kapitel 7

362

sich

von diesen beiden Textfamilien sehr deutlich.' Er besitzt, ebenso wie der Matthaeus von Westminster genannte Textzeuge des LSM, nur acht Bücher. Außerdem besitzt B einige Kapitel, die in den anderen Textzeugen fehlen. Sie müssen als spätere Ergänzungen gelten. Bezüglich der Anordnung des Materials bietet B als einziger Textzeuge eine Reihenfolge, in der die Ausführungen über die Metalle und Erze jenen über das Wasser und die Fische vorausgehen. Außerdem begnügt sich das Kapitel über die Flüsse in B nicht damit, nur einige deutsche Flüsse wie den Rhein oder die Donau aufzuzählen. Er bringt weitere 15 Kapitel über biblische Flüsse bzw. Stätten. Kommen wir nun zur Editio princeps des LSM.

von

princeps des LSM (Straßburg 1533) Die Editio princeps des LSM erschien 20 Jahre nach jener des Scivias und 33 Jahre vor jener des Epistolariums. Sie kam im Jahre 1533 bei Johann[es] Schott in Straßburg heraus. Schotts Edition basiert entweder auf einem mittlerweile verschollenen Textzeugen des LSM oder auf einer stark bearbeiteten Fassung einer der bekannten Handschriften. Irmgard Müller hält es für möglich, daß der durch Richer von Sens (f 1267) erwähnte, 1254 in Straßburg liegende Textzeuge eines von ihm so genannten Liber medicinalis ad diversas infirmitates die Vorlage von Schotts Druck gebildet hat.2 Auch Laurence Moulinier, die dieser Frage eine eigene Monographie gewidmet hat, tendiert in diese Richtung.3 Da Schotts Druck eine Stufe der Textüberlieferung repräsentiert, die sonst nirgendwo dokumentiert ist, gebührt ihm der gleiche textkritische Status wie den handschriftlichen Textzeugen. Nachfolgend zunächst der genaue Titel des Werkes: PHYSICAS. // HILDEGARDIS. Elementorum, Fluminum aliquot Germaniae, Metallorum, Legu- // minum, Fructuum, & Herbarum: Arborum, & Arbusto// rum: Piscium deniqfuej, Volatilium, & Animantium ter- // rae naturas & operationes. IUI Libris mirabili experientia posteritati tradens. // ORIBASII // Medici Simplicibus LIBRI // Quinque. // THEODORI // pbysia DIETA, docens quibusnam salubri- // ter utendum, uel abstinendum. // ESCVLAPII // LIBER Vnus, De Morborum, Infirmitatum, // PassionumqfueJ corporis humani caussis, // decriptionibus, & cura. // Omnium Capitum Indice copiosissimo in cake operis subscripto. ARGENTORATI apud Ioannem Schottum, cum Caes. Maiestat. priuilegio ad Quinquennium. M.D.XXXIII. [Mit getrennter Zählung für die einzelnen Schriften: 4 unpag. Bl., 277 S.; LXXIX S. für Aesculapius und 2 unpag. Bl. (Index, dreispaltig); Hildegards LSM: S. 1-121]. 7.2.2 Die Editio

Vgl.

2

Kaiser 1901. Müller 1998, S. 3:

3

Gesta Senonensis, S. 306. Moulinier 1995a.

1

„Möglicherweise legte Schott dem Physica-Druck das Exemplar zugrunde, das Richer 1254 in Straßburg gesehen hatte, der Nachweis steht indes noch aus." Die entsprechende Angabe des Richer von Senones findet sich in Richerus

Das naturkundlich-medizinische Werk

363

Aus der Titelangabe geht hervor, daß Hildegards LSM, der hier erstmals als PhysicafsJ bezeichnet wird, im Verband mit drei weiteren naturkundlich-medizinischen Schriften herausgegeben wurde. Schott bezeichnet alle vier vertretenen

Autoren bzw. Schriften in seinem auf den 14. Januar 1533 datierten Vor-

als „quatuor non spernendae autoritatis Medicos", Hildegards Werk gerät sogar in den Rang eines „monumentum hoc aere perennius" (ebd.). etwa eines Herausgebers oder Förderers Da keine weiteren Vorworte muß wohl davon erscheinen, ausgegangen werden, daß die Initiative zum Druck des Werkes von Schott stammte. Schott selbst wiederum verhält sich in seinen einleitenden Worten an den Leser sehr zurückhaltend. Wir erfahren nichts über seine Gründe, den LSM gedruckt herauszugeben. Auch zur Person und zum Werk Hildegards äußert er sich nur in wenigen, noch dazu recht allgemein gehaltenen Floskeln, die vor allem Hildegards adlige Herkunft hervorheben. Bezüglich der Wirkungsgeschichte dieses Druckes konnte François Ritter ermitteln, daß ein Exemplar von Schotts Edition unter der Signatur R 10.235 zum Bestand der alten medizinischen Fakultät Straßburg gehörte.1 Wie angedeutet, ist unklar, ob Schotts Edition auf einem mittlerweile verschollenen Textzeugen beruht, den der Straßburger Drucker noch in Händen hielt, oder ob sie lediglich einen der bekannten Textzeugen umgestaltet und editorisch bearbeitet hat. Grundsätzlich gilt, daß manche Humanisten in ihrem radikalen Eifer, stets neue Texte erstmalig drucken zu wollen, die Eigenart besaßen, diese Texte verschwinden zu lassen, sobald die Edition vorlag. Mitunter wurde aber auch die Druckvorlage während des Druckvorganges regelrecht verbraucht.2 Dies könnte auch auf Schott zutreffen. Auffällig ist jedenfalls, daß die Druckausgabe das Material nicht in neun, sondern nur in vier Büchern präsentiert. Außerdem wird die praefatio von De plantis zur Einleitung des gesamten Werkes erhoben, und das Buch De lapidihus fehlt ganz. Ob hierfür die heidnisch anmutenden Passagen einzelner Kapitel dieses Buches den Ausschlag gaben, mithin ein Akt zensorischen Eingriffs in den genuinen Textbestand vorliegt, bleibt offen. Es könnte auch sein, daß Schotts handschriftliche Textvorlage dieses Buch schlichtweg nicht enthielt.3 Im Vergleich zum Pariser Textzeugen Cod. 6592 und zum Speyerer Kräuterbuch ist hervorzuheben, daß die Editio princeps des LSM umfangreiche Texterweiterungen zu einzelnen Drogenkapiteln aufweist, die in den beiden genannten handschriftlichen Textzeugen fehlen. Diese Zusätze unterscheiden sich in Struktur und Inhalt von den übrigen Teilen der Drogenkapitel. Sie bestehen lediglich aus einer reduzierten Aufführung

wort

(unpag.)

-

1 2

Ritter 1939, S. 786. Münk Olsen 1984/85, S. 173: „Les humanistes, après avoir déployé tant d'efforts pour trouver les textes qui les passionaient, semblent avoir eu une fâcheuse tendance à les faire disparaître, une fois qu'ils en avaient procuré une édition prin-

Vgl.

ceps." 3

-

Zur Bewertung der 460.

Steintherapie im Mittelater vgl. Meier 1977, insbesondere S. 413-

Kapitel 7

364

meist recht

komplizierter (zusammengesetzter) Rezepte. Die eigentlichen Drogenmonographien hingegen bringen darüber hinaus Angaben über die Qualität der Indikationen, Hinweise auf die beste Zubereitungsform und Erklärungen der therapeutischen Wirkungen der Rezepte. Damit weicht die Editio princeps in einem wesentlichen Punkt vom Pariser Textzeugen ab. Dieser bietet in der Regel nur einfache Rezepturen mit selten mehr als zwei Ingredienzien. Der Charakter eines Liber simplicis medicinae hat sich im Pariser Textzeugen daher ohne Zweifel reiner erhalten. Die in der Editio princeps zu findenden zusammengesetzten Rezeptzusätze sind auch im Florentiner Textzeugen des LSM enthalten. Dieser besitzt sogar noch 21 Rezepte dieser Art mehr als die Editio princeps des LSM. Die oben geäußerte Theorie, der Florentiner Textzeuge des LSM enthalte annäherungsweise auch den LCM in sich, erhält von hier aus neue Nahrung. Zudem findet sich in der Druckausgabe des LSM die humanistische und

medizinisch-fachwissenschaftliche Tendenz, deutsche Wörter und Glossen ins Lateinische zu übersetzen oder durch Umschreibungen zu erläutern. Was die Person des Verlegers Johann[es] Schott (1477-1548) anbetrifft, so mögen an dieser Stelle einige grundlegende Informationen genügen.1 Schott wurde am 19. Juni 1477 geboren. Sein Vater Martin Schott betrieb von 1481 bis zu seinem Tode im Jahr 1499 in Straßburg einen eigenen Verlag, sein Großvater mütterlicherseits war Johann Mentelin, der erste Drucker des Elsaß. Darüber hinaus war Schott verwandt mit dem Straßburger Kanoniker Peter Schott, einem berühmten Humanisten, dessen Schrift De mensuris syllabarum er am 24. Dezember 1500 druckte. Am 7. Dezember 1490 immatrikulierte Schott sich an der Universität Freiburg im Breisgau, am 15. Februar 1492 schrieb er sich an der Universität Heidelberg ein. Dort erwarb Schott am 10. Januar 1493 das Baccalauréat. 1497 in Basel immatrikuliert, beendete Schott nach dem Tode seines Vaters Martin Schott (1499) seine akademische Laufbahn und übernahm in Straßburg die väterliche Offizin. Schotts Zeitgenossen rühmten dessen perfekte Lateinkenntnisse. Dies läßt die Vermutung zu, daß er selbst wohl eher eine wissenschaftliche Karriere im Sinn hatte. Schotts Offizin befand sich zuerst im Haus Zum Baumgarten („in Thomae loco pomerio"), später im Haus Zum Tiergarten. Ob Schott sich 1503 zum Druck der Margarita philosophica des Kartäuserpriors Georg Reisch (t 1525) in Freiburg i. Br. niederließ, ist noch nicht geklärt. Reischs Werk enthält (intentional) die gesamte mittelalterliche Wissenschaft mit den zwei Zyklen des Quadrivium und des Trivium. Schotts erster Druck ist die am 21. März 1500 erschienene Schrift Vier und zwanzig Alten Ottos von Passau. Nach einem nochmaligen Aufenthalt in Basel (1506) kehrte Schott wieder nach Straßburg zurück, wo er zunächst für Johann Knobloch d. Ä. (druckte 1500-1528) tätig war. Schotts intensivste Verlagstätigkeit setzte mit dem Jahre 1509 ein. Neben humanistischen und antiken Werken, die er zum Teil in griechischer Sprache herausbrachte, druckte Schott ab 1520 1

Vgl.

Schmidt 1893.

Ritter -

1955, S.

Benzing 1982, S. 148 und 439.

170. -

Das naturkundlich-medizinische Werk

365

Autoren wie Luther, Hutten, Karlstadt, Bucer oder den Kartäuser Otto Br[a]unfels. Letzterer war ein glühender Verehrer Luthers. Zwischen 1519 und

1534 ließ Br[a]unfels insgesamt 17 Drucke bei Schott erscheinen. Generell gilt, daß Schott die Reformation in Straßburg leidenschaftlich unterstützte. Seine Kontakte zu den oberrheinischen Humanisten waren vielfältig und lebhaft. Den Buchschmuck für Schotts Drucke besorgten häufig Wächtelin, Hans Baidung Grien und Hans Weiditz. Sein im Jahre 1513 gedruckter Ptolemäus gilt als eines der schönsten Werke der Straßburger Druckkunst überhaupt. Zwischen 1530 und 1545 konzentrierte Schott sich vor allem auf den Druck naturkundlicher und medizinischer Schriften. 1531 beispielsweise brachte er eine Ausgabe des berühmten Tacuinum sanitatis heraus, die zwei Jahre später in deutscher Übersetzung erschien.1 Zu erwähnen sind schließlich das 1532 gedruckte, mit Illustrationen von Hans Weiditz ausgestattete Kreüterbuch des Otto Br[a]unfels (2. Aufl. 1534) sowie das vom gleichen Autor stammende Onomasticon seu lexicon medicinae simplicis (Erstauflage 1532, Zweitauflage 1544). Schotts Ausgabe des Tacuinum sanitatis verrät redaktionelle Eingriffe in den Text, eine Tatsache, die, wie oben angedeutet, möglicherweise auch auf seine Edition des LSM zutrifft. Bezeichnenderweise erscheinen auch die in diesem Sammelwerk befindlichen, unter dem Namen des Oribasus zusammengefaßten Schriften in einer völlig anderen Anordnung als die übrige Textüberlieferung des Autors.2 Leider verschweigt Schott, welchen Textzeugen er seiner Edition von Hildegards Werk zugrundegelegt und welche textkritischen Gesichtspunkte er bei der Edition berücksichtigt hat. Auch bei den mitabgedruckten übrigen Werken dieser Publikation benennt Schott nur in einem einzigen Fall seine Vorlagenhandschrift. Demnach druckte er den Liber Esculapii nach der heute in der BR Brüssel liegenden Handschrift Cod. 1342-1350. Im Jahre 1544 brachte Schott den LSM ein weiteres Mal heraus. Hierzu erweiterte er den Druck von 1533 um die Editio princeps eines anderen bis dahin ungedruckten Textes, der sogenannten Trotula (38 Seiten).3 Trota bzw. Trotula ist der Name einer salernitanischen Ärztin des 12. Jahrhunderts. Diese Trotula war die Verfasserin eines der gängigen salernitanischen Kompendien des Mittelalters, der Practica secundum Trotam. Der heute nur noch in zwei Handschriften überlieferte Text betrifft u. a. die Gebiete von Gynäkologie und Geburtshilfe. Daneben behandelt er Kinder-, Haut- und Magenbeschwerden. Allerdings wurden unter dem Namen Trotula auch drei völlig andere Schriften verbreitet: Die erste dieser Schriften (Trotula maior, Incipit: „cum auctor") ist 1 2

3

Das Buch vom gesunden Leben. Schachtafeln. Die auf Seite 122-233 erscheinenden Oribasi medici de simplicibus Libri V enthalten in den Büchern IUI eine Fassung der im 6. Jahrhundert anonym entstandenen Dynamidia Hippocratis. Daneben enthält der Text Auszüge aus einem Herbarium des 4. Jahrhunderts, das der Umgebung des Apuleius zugeordnet wird, sowie einen heilkundlichen Traktat des 6./7. Jahrhunderts. Vgl. Green/Schleissner 1995.

Vgl. Wickershelmer 1950, S. 88.

-

-

Kapitel 7

366

ganz der Frauenheilkunde gewidmet und basiert auf Übersetzungen des Constantinus Africanus (f 1087). Die zweite (Trotula minor, Incipit: „Ut de curis mulierum") befaßt sich ebenfalls mit der Frauenheilkunde, daneben mit Kos-

metik, einigen Kinderkrankheiten und verschiedenen Urogenitalbeschwerden.

Die dritte schließlich ist eine kurze Abhandlung mit dem Titel De ornatu. Der Bezug der Editio princeps dieses Textes zum Werk Hildegards ergibt sich zum einen aus der Tatsache, daß handschriftliche Textzeugen der Trotula, die im deutschen Sprachgebiet zusammen mit den Albertus Magnus zugeschriebenen Secreta mulierum tradiert wurden, im Besitz zweier Mediziner der Universität Heidelberg nachgewiesen sind. Dabei handelt es sich um den Arzt Johannes Spenlin aus Heidelberg sowie um Martinus Rentz, der von 1480 bis 1503 als Ordinarius der Medizin in Heidelberg wirkte. Zum anderen hatte auch der Editor der Trotula, Georg Kraut, in Heidelberg Medizin studiert. Kraut war als Arzt in Dinkelsbühl und in Hagenau tätig. Durch die Trotula und die Person von Schotts Freund Georg Kraut ergaben sich mithin weitere Verbindungen nach Heidelberg, einem ausgesprochenen Zentrum der natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards. Außer der Trotula fügte Schott der Zweitauflage seines medizinischen Sammelwerkes die aus der Feder des Octavianus Horatianus stammende Schrift De Curationibus hinzu (144 Seiten). Hier der Titel des Druckes von 1544: EXPERIMEN // TARIUS ME // DICINAE. // CONTINENS // TROTVLAE curandarum AEgritudinum Muliebrum, an- // te, in & post partum LIB. unicum, nusquàm antea editum. // Oct. Horatiani, De Curationibus omnium ferme Morborum // Homini accidentium // Libros Quatuor. // LIB. item, Quatuor, Hildegardis, De elementorum, Fluminum // aliquot Germaniae, naturis // operationibus. // ORIMetallorum, Leguminum, Fructuum, // BASII de Simplicium, quae Medicis praecipuè in // usu sunt, virtutibus LIB. Quinquè. // THEODORI Dietam: quibus uel salubriter uten- // dum, uel cautius abstinendum. Hippocratis item bre- // uissimam, per singulos Anni Menses. // ESCVLAPII De Morborum, Infirmitatum, Corpo- // risqué accidentium // LIB. unum utilissimum. // Argent, apud Ioannem Schottum. // origine Christi Anno M.D.XLIIII [mit getrennter Zählung für die einzelnen Schriften]. diese zweite Edition verschweigt, auf welcher Vorlage sie basiert. Auch Lassen wir damit die beiden Erstdrucke des LSM auf sich beruhen. Es ist deutlich geworden, daß die Drucklegung in Kreisen erfolgte, die sowohl humanistisch als auch natur- und heilkundlich interessiert waren und deren geographisches Zentrum das Gebiet des Ober- und Mittelrheins darstellte. In der Person Schotts personalisieren sich diese Konstellationen auf eine herausragende Weise. Dabei scheinen die engen Kontakte, die über die Rheinschiene von Straßburg aus in die Gegend von Heidelberg verliefen, der Verbreitung von Hildegards Werk sehr förderlich gewesen zu sein. Es ist bereits angeklungen, daß die im Jahre 1855 von Charles-Victor Daremberg und F. A. Reuss in Band 197 der Patrologia Latina herausgegebene Aus...

...

...

...

Das naturkundlich-medizinische Werk

367

gäbe des Liber simplicis medicinae auf den Pariser Codex 6952 rekurrierte. Die Herausgeber bemühten sich jedoch, ca. 200 Abweichungen, die zwischen dem Text der Erstausgabe und jenem des Pariser Codex bestanden, zu korrigieren. Die eigentliche Textedition stammt von Daremberg, die Einführung und die Anmerkungen von Reuss. Was die Personen von Daremberg und Reuss anbetrifft, so gilt folgendes : Hinter der abgekürzten Namensform F. A. Reuss verbirgt sich vermutlich Friedrich Anton Reuss, der als Bibliothekar, Privatdozent und Professor in Würzburg nachgewiesen ist. Reuss verstarb im Jahre 1860. Nicht in Frage kommt aufgrund seiner Lebensdaten der Prager Mineraloge und Brunnenarzt Franz Ambras Reuss (1761-1830). Charles-Victor Daremberg wurde am 14. April 1817 in Dijon geboren. Er studierte in Paris Medizin, wo er 1841 mit einer Arbeit über Galenius den Titel eines Dr. med. erwarb. An der Universität Breslau wurde Daremberg dazu im Fach Philosophie promoviert. 1846 wurde er Bibliothekar an der Pariser Académie de médecine. Bereits 1845 hatte Daremberg eine Forschungsreise nach Deutschland unternommen, um nach Handschriften zur Geschichte der Medizin zu forschen. Als Beauftragter des französischen Ministeriums unternahm er in den folgenden Jahren insgesamt etwa 20 solcher Forschungsreisen, die ihn auch nach England führten. Auf der Grundlage der neu gefundenen Handschriften edierte Daremberg eine ganze Reihe medizinhistorischer Texte, u. a. solche von Galenius, Hippokrates, Philostrates, Oribasus und Rufus von Ephesus. 1849 wurde er zum Bibliothekar der Mazarinischen Bibliothek in Paris ernannt. 1864 hielt Daremberg medizinische Veranstaltungen am Collège de France, ab 1871 wirkte er als Professor der Medizin an der medizinischen Fakultät. 1868 zum Mitglied der Académie de médecine ernannt, verstarb Daremberg am 24. Oktober 1872 in Mesnil-le-Roi (Dep. Seine-et-Oise). Eine Vielzahl bedeutender Publikation aus seiner Feder betreffen das Gebiet der Medizingeschichte, insbesondere jene der Antike.1 Bevor ich mich der Uberlieferungsgeschichte des Liber compositae medicinae zuwende, soll ein Exkurs zu einer spekulativen wirkungsgeschichtlichen Nebenlinie des LSM eingeschaltet werden. Dieser Exkurs thematisiert mögliche Verbindungen zwischen Hildegards LSM und Wolframs von Eschenbach Parzival. Hierbei sei betont, daß ein tiefergehendes Eindringen in die WolframForschung an dieser Stelle nicht erfolgen konnte. Primär geht es darum, eine Spur zu benennen, die durch weitere Spezialuntersuchungen näher zu erforschen bliebe.

1

folgende Titel : Notices et extraits des manuscrits médicaux grecs, latins français des principales bibliothèques de l'Europe (1853); La médecine, histoire et

Genannt seien et

(1865); Histoire des sciences médicales (2 Vols, 1870); Dictionnaire des antiquités grecques et romaines (3 Vols, 1877/1906). doctrine

Kapitel 7

368

7.2.3 Wolfram von Eschenbach als Kenner des LSM} Im folgenden gilt es, einer vereinzelt geäußerten These

nachzugehen, derzuden Gral Eschenbachs Parzival in betreffenden Stelfolge einigen len von Hildegards LSM beeinflußt worden sein könnte. Grundsätzlich gilt hierbei der Hinweis, daß eine motivgeschichtliche Untersuchung wie die vorliegende mit den daraus konstruierten wirkungsgeschichtlichen Zusammenhängen methodisch nicht unproblematisch ist. Zu wenig weiß man von den konkreten Lese- oder Hörgewohnheiten und von den wichtigsten Beeinflussungsfaktoren Wolframs. Was hätte Wolfram, so fragt man sich unwillkürlich, ein Dichter, der jede Buchgelehrsamkeit entschieden ablehnte, in Eisenach, der Wildenburg (Odenwald) oder in Franken vom naturkundlichen Werk Hildegards erfahren haben können? Weshalb sollte ihn dieses Werk stärker geprägt haben als die Schriften der wesentlich bekannteren medizinischen Autoritäten eines Ortolf von Baierland, Macer, Marbod u. a.? Da diese (virtuelle) Rezeptionsspur dennoch von großem Reiz ist, sei sie im folgenden knapp referiert. Im Kapitel über den Liber vitae meritorum wurde ausgeführt, daß Hildegard im Rahmen dieser Schrift (Buch VI, Cap. 1-5) das Einhorn auftreten läßt. Hildegard schildert, wie das Einhorn am linken Oberschenkel des „uir" erscheint und dessen Knie leckt. Wolfram

Et

ecce

von

in sinistro femore

suo

unicornis

apparuit, qui genua eius

lambens dicebat:

,Que facta sunt destruentur, et non facta edificabuntur'.1 Der „uir" wird in der unmittelbar auf diese Vision folgenden Auslegung

von

auf Gott als den Weltenrichter, das Einhorn auf den inkarnierten Logos und das Lecken der Knie auf die Übernahme richterlicher Gewalt gedeutet („id est iudicialem potestatem a Deo pâtre accipiens" [LVM, S. 265 24f.]). Jürgen Werinhard Einhorn hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich das gleiche Motiv in einem aus dem 12. Jahrhundert stammenden Dedikationsrelief der Benediktinergründung Holzkirchen in Unterfranken findet.2 Dieses Relief zeigt einen bärtigen Mann, der mit seinen beiden Händen ein Einhorn festhält. Da eine andere Darstellung auf demselben Stein Christus verkörpert, wurde der bärtige Mann mit Gottvater identifiziert. Dieser hält das Einhorn als Symboltier seines Sohnes im Schoß. J. W. Einhorn zufolge dürfte diese Darstellung am ehesten mit der geschilderten Passage aus Hildegards Liber vitae meritorum in

Hildegard

Verbindung zu bringen sein. Hildegards Ausführungen seien, so Einhorn, genauso singulär wie das Holzkirchener Bildwerk. Ob nun Hildegard durch das kurz vor ihren (supponierten) Predigtreisen fertiggestellte Relief beinflußt wurde oder umgekehrt das Relief nach der Lektüre des Liber vitae meritorum entstanden ist, läßt sich nicht entscheiden. Nicht auszuschließen ist auch die gemeinsame Abhängigkeit von einer unbekannten gemeinsamen Tradition. Fest steht jedenfalls, daß eine ganz augenfällige Synchronizität in der Entstehung 1 2

LVM 1995, VI 1, S. 265 5-7. Einhorn 1998, S. 131. Thorndike 1923, S. 124-154. -

Das naturkundlich-medizinische Werk

369

beider Dokumente existiert. Christoph Gerhardt hat auf eine weitere singulare mittelalterliche Hildegard-Rezeption aus dem Bereich der Tier-Symbolik, hier der Pelikanallegorese, hingewiesen.1 Hildegard hat das Motiv des Einhorns aber nicht nur in einem christologischen Sinne verwendet. Eine andere Deutung findet sich im Liber simplicis medicinae, und zwar im Buch De animalibus, Cap. V.2 Dort tritt das Einhorn als naturalistisches Wesen auf, das eine ganz spezifische Bedeutung für die Heilkunde besitzt. Das Einhorn habe, so Hildegard, mehr Wärme als Kälte. Es sei ein Pflanzenfresser. Die Menschen und fremden Tiere meide es. Den Mann fürchte das Einhorn und scheue sich vor ihm, den Frauen aber folge es. Dies sei der Grund dafür, daß es so schwer zu fangen sei. Dann schildert Hildegard die Episode eines Einhorn-Fanges: Ein „philosophus", der die Natur der Tiere untersucht habe, sei mit einer Gruppe von Männern, Frauen und Mädchen zusammen unterwegs gewesen. Die Mädchen hätten sich bald von der Gesellschaft der Erwachsenen getrennt und zwischen den Blumen gespielt. Da sei ein Einhorn aufgetaucht. Als es die Mädchen erblickt habe, habe es im Sprung innegehalten, sich auf die Hinterbeine niedergelassen und die Mädchen betrachtet. Es habe sich gewundert, daß die Mädchen zwar eine menschliche Gestalt besäßen, aber keine Bärte. Dies habe seine Aufmerksamkeit so sehr gefesselt, daß der „philosophus" sich unbemerkt von hinten heranschleichen und das Einhorn habe fangen können. Hierauf folgen einige detaillierte Bemerkungen Hildegards, um welche Art von Mädchen es sich handeln müsse, damit ein solcher Fang gelinge: Die Mädchen müßten adliger Herkunft sein, nicht einfacher Abstammung („rusticae"). Sie dürften nicht zu kindlich sein, sondern halberwachsen („moderate adolescentiae"). Solche Mädchen würde das Einhorn lieben, weil es wisse, daß sie anlockend und reizend seien. Des weiteren berichtet Hildegard, das Einhorn ernähre sich von den Kräutern des Paradieses, die es mit seinen Hufen ausscharre. Dies sei der Grund dafür, daß es so vielerlei Kräfte besitze und die übrigen Tiere fliehe. Unter seinem Horn trage das Einhorn ein gläsern-durchsichtiges Erz, in dem der Mensch, wenn er hineinschaue, sein eigenes Antlitz wiedererkenne. Gleichwohl sei dieses Erz nicht sehr wertvoll. Dann folgt eine bemerkenswerte Passage. Hildegard empfiehlt die Leber des Einhorns, mit Eidotter zu einem „smalcz" vermischt, als Salbe zur Behandlung jeglichen Aussatzes. Die pulverisierte Leber heile immer, es sei denn, so Hildegards bekannte Cautele, der Kranke sei für den Tod bestimmt und Gott wolle ihn nicht heilen.3 Zum Schluß folgen zwei ähnlich geartete Ratschläge: Ein 1

Gerhardt 1979, S. 37 (mit Anm. 80). Auch an anderer Stelle weist Gerhardt auf die Rezeption des aus dem 12. Jahrhundert stammenden Geiertraktates bei Hildegard hin. Gerhardt 1981, hier S. 112: „Des weiteren werden die Kompendien des 12. und 13. Jhs. genannt die auch Geierrezepte bieten, aber nur Hildegard von Bingen und Thomas Cantimpré scheinen Einfluß des deutschen Geiertraktates zu zeigen." -

2

3

Vgl. PL 197, Sp. 1317D-1318D. Vgl. hierzu Bargheer 1931, S. 97-99, 283 (Erwähnung der pulverisierten Wal-Leber als Mittel gegen Epilepsie).

Kapitel 7

370

Gürtel aus der Haut des Einhorns schütze gegen Pest und Fieber, Schuhe aus Einhornleder verliehen gesunde Füße, Unterschenkel und Gelenke.1 Nun ist bekannt, daß Wolfram von Eschenbach in seinem Parzival den Versuch schildert, die schwärende Wunde des Amfortas mit einem Karfunkel zu heilen und daß dieser Karfunkel sich Wolfram zufolge unter dem Horn des Einhorns findet.2 Hier die entsprechende Textpassage: ein der heizt monîcirus: / daz erkennt der meide rein sô grôz, / daz ez slaefet ûf der meide schôz. / wir gewunn des tieres herzen / über des küneges smerzen. / wir nâmen den karfunkelstein / ûf des selben tieres hirnbein, / der dâ wehset under sîme horn. / wir bestrichen die wunden vorn, / und besouften den stein drinne gar: / diu wunde was et lüppec var.3 1

Einhorn 1998, S. 16, 217 und 374, hat darauf hingewiesen, daß das Motiv des Gürtelschneidens in einem emblematischen Frontispiz aus dem Jahre 1668 wiederkehrt. Dabei handelt es sich um die Darstellung einer lorbeerbekränzten Dido, die mit aus der Haut eines Einhorns geschnittenen Streifen das im Hintergrund erkennbare Weichbild einer Stadt einmißt. Diese lorbeerbekränzte Dido ist zugleich die nimbierte Hildegard von Bingen, die im Begriff ist, heilkräftige Gürtel aus der Decke des Tieres zu fertigen. Die Publikation, in der diese Darstellung erscheint, ist ein Huldigungsschreiben des Benediktiners Paris Gille aus Salzburg. Das Benediktinerkollegium der Salzburger Universität ehrte mit einer Reihe von Darstellungen den

Grafen Guidobald von Thun anläßlich seiner Erhebung zum Kardinal unter dem Sinnzeichen des Einhorns. Den 12 Kapiteln der Schrift sind ebenso viele emblematische Kupferstiche beigegeben, die auf Zeichnungen des Burkhard Schrammann beruhen. Die Dido-Hildegard-Darstellung ist der zweite Stich der Folge. Zusammen mit anderen Huldigungsschreiben erschien dieses Werk als Corona gratulatoria im Jahre 1681 bei Johann Baptist Mayr in Salzburg. Der Titel der vorliegenden Einzelschrift lautet: „Guidobaldo ex Comitibus de Thun, S. R. E. Cardinali, Archiepiscopo Salisburgensi dixerunt Musae Salisburgenses Anno M.DC.LXIIX. Zum Motiv der das Fell des Einhorns zerlegenden Hildegard vgl. Einhorn 1999. Zur Heilkraft Zur Heilfunktion von Gürteln vgl. Jungbauer 1930/31, insbesondere Sp. 1226-1228. von Tierhäuten vgl. Gerhardt 1984, hier S. 146 Anm. 9; ebd. zum Schwalbenstein: S. 151 Anm. 52. Zum Krötenstein vgl. Bächtold-Stäubli 1932/33, insbesondere ...

-

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-

Zur therapeutischen Zum Schlangenstein vgl. Olbrich 1935/36. Funktion der Edelsteine bei Hildegard vgl. Meier 1977, S. 344; zu den medizinischen

Sp. 631-633.

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2

Eigenschaften allgemein ebd., S. 361-413. Zum Karfunkelstein vgl. Ziolkowski 1961, vor allem S. 306-308. Die spezielle Verwendung des Karfunkelsteins als Heilmittel ist zwar nur selten bezeugt, doch gilt der Karfunkel als Stein, der die Kräfte aller anderen Steine in sich schließt. Möglicherweise schöpft Wolfram aus dem Straßburger Alexander. Dieser berichtet, daß das treget" (5581). Parzival, I, S. 798 (Buch 9, 482 24-483 4). Im Stellenkommentar zu dieser Passage legt Neilmann dar, daß die Entstehung eines Edelsteins (draconites) im Kopf eines Tieres ansonsten nur vom Drachen berichtet wird. Auch Einhorn „den karbunkel

3

Wolfram

von

Eschenbach

das Herz des Einhorns als Heilmittel sei aus anderen Zusammenhängen nicht bekannt. Vgl. Wolfram von Eschenbach Parzival, II, S. 690. Zur mündlichen Überlieferung solcher Motive (hier des Pelikans bzw. Steinkauzes) bei Hildegard vgl. -

Das naturkundlich-medizinische Werk

371

Es ist dies das

erste Mal in der Geschichte des Einhorn-Signums, daß von der Heilkraft des Karfunkels nicht nur gesprochen, sondern daß eine konkrete Anwendung geschildert wird. Der Heilungsversuch bleibt aber ebenso vergeblich wie andere, die mit Hilfe von Antidota, Gewürzen, dem Wasser der Paradiesesflüsse, dem Blut des Pelikans, dem Drachenwurz und dem Gral unternommen wurden. Auch das Herz des Einhorns bewirkt nicht den gewünschten Erfolg, wie Wolfram ausführt. Gerade diese Stelle aber bietet die Möglichkeit

Verbindung (zumindest einer motivgeschichtlichen) zu Hildegard von Bingen. Wie das Zitat zeigt, hat Wolfram die Leber durch das Herz ersetzt, ein Motivwandel, der in entsprechenden Dichtungen verbreitet war.1 In Bruder Lustig findet sich daneben der Fall, daß Herz und Leber parallel gebraucht werden. Daß nun sowohl das Herz wie der Karfunkel des Einhorns die Heilung des Amfortas nicht zustande bringen, könnte bedeuten, daß Wolfram an dieser Stelle bewußt auf Hildegards oben erwähnte Cautele rekurriert: Gott habe die Heilung eben nicht gewollt. Eine Verbindung zwischen Wolfram und Hildegard läßt sich nicht durch direkte Zitate oder Namensnennungen im Werk Wolframs belegen. „Daß [jedoch; Ergänzung] einem Laien wie Wolfram", so Jürgen Werinhard Einhorn, „Hildegards naturkundliches Werk bekannt sein konnte, ist jetzt unbezweifelt."2 In der Tat hat Roswitha Wisniewski diese Spur gezielt verfolgt und weitere Ähnlichkeiten zwischen Wolframs Parzival und Hildegards LSM, genauer gesagt dem Buch De lapidibus von Hildegards LSM, aufgezeigt.3 Die Forschungsergebnisse Wisniewskis seien im folgenden referiert, ohne daß es im einer

(mit Anm. 182). An anderer Stelle (S. 17 mit Anm. 80) weist Gerhardt darauf hin, daß das Einhorn (ebenso wie der Pelikan) bei Hildegard nicht Gerhardt zu den natürlichen, sondern zu den spirituellen Tierfiguren gehöre. Gerhardt 1979, S. 37 1989.

1

2 3

-

Die Anregung, anstelle der Leber das Herz zu verwenden, könnte Wolfram aus der in der Fabelliteratur wohlbekannten Erzählung vom gegessenen Hirschherzen empfangen haben. Dieses Motiv findet sich erstmals in der aus dem 7. Jahrhundert stammenden, unter dem Namen Fredegars überlieferten Chronik. Ein Löwe will einen Hirsch fressen, aber der Fuchs raubt vorher dessen Herz und verschlingt es (MG SS rer. Merov. II, Hannover 1888, S. 81). Das gleiche Motiv taucht im 12. Jahrhundert in der Kaiserchronik, V. 6854-6921, auf, nur ist es dort ein Gärtner, der das in seine Kulturen eingedrungene Tier tötet. In der um 1190 entstandenen Esope der Marie de France wird das Motiv vom gegessenen Hirschherzen zum ersten Mal mit dem seit der Karolingerzeit bekannten Leo-aegrotans-Motiv in Verbindung gebracht. Letzteres findet sich in der fälschlicherweise Paulus Diaconus oder auch Notker dem Dichter zugeschriebenen Fabula de Leone et Vulpe (Vgl. Marie de France [Carmen XXVII des Paulus Diaconus]). Die Ratgeber des Königs Löwe empfehlen als Heilmittel gegen dessen Krankheit das Herz eines Hirschen. Vgl. Marie de France Fabeln, S. 227-231, Nr. LXX. Einhorn 1998, S. 219. Wisniewski 1957, insbesondere S. 44-51. Vgl. zur gesamten Thematik auch Haage 1992.

-

Kapitel 7

372

Rahmen dieser Studie möglich wäre, den geäußerten Thesen im Detail nachzugehen. Allerdings sei darauf hingewiesen, daß Joachim Bumke Wisniewskis Theorie ablehnend gegenübersteht.1 Wolframs Angaben über den Gral unterscheiden sich auf eine grundsätzliche Art und Weise von jenen anderer mittelalterlicher Dichter. Für Wolfram besteht der Gral nicht aus einem Kelch oder einer Schale, sondern aus einem „stein". Dieses mittelhochdeutsche Wort kann neuhochdeutsch sowohl Stein als auch Edelstein bedeuten. Da Wolfram an zwei Stellen auf die Reinheit des Steines hinweist, läßt sich annehmen, daß es sich um einen Edelstein handelt.2 Die Verbindung zu Hildegard ergibt sich aus der Frage nach der Herkunft des Edelsteins. „Wir müssen nach einer Quelle suchen", so Wisniewski, „die gleich Wolfram einen Edelstein und den Engelsturz miteinander in Verbindung bringt, und diese Überlieferung muß in einer Quelle bestehen, die erkennen läßt, daß sie Wolfram, einem Laien des Mittelalters also, bekannt gewesen sein könnte."3 Eben diese Voraussetzung findet sich erfüllt in der praefatio zu Hildegards Steinbuch. Die entsprechende Passage lautet dort:

lapis ignem et humiditatem in se habet. Sed dyabolus pretiosos lapides abhorret et odit et dedignatur, quia reminiscitur, quod decor eorum in ipsis apparaît, antequam de gloria sibi a Deo data corrueret, et quia etiam quidam pretiosi lapides ab igne gignuntur, in quo ipse poenas suas habet. Nam Deus primum angelum quasi pretiosis lapidibus decoraverat, quos idem Lucifer in speculo Divinitatis splendcre videns, et inde scientiam accepit, et in eis cognovit quod Deus multa mirabilia facere voluit tunc mens ejus elevata est, quia decor lapidum qui in ipso erat in Deo fulgebat, putans quod ipse aequalia et plura Deo posset, et ideo splendor ejus extinctus est. Sed sicut Deus Adam in meliorem partem recuperavit, sie Deus nee decorem nee virtutem pretiosorum lapidum istorum perire dimisit, sed voluit ut in terra essent in honore et benedictione, et ad medicinam.4 Omnis

...

Hildegards Bericht, die Edelsteine seien nach der Empörung Luzifers auf die Erde gelangt, weil Gott gewollt habe, daß sie dort zur Ehre, zum Segen und zur medizinischen Anwendung benutzt würden, erinnert an die Ausführungen Wolframs über den Gralsstein: die newederhalp gestuonden, / dô strîten beguonden / Lucifer und Trinitas / swaz der selben engel was, / die edelen und die werden / muosen ûf die erden / zuo dem selben steine. / der stein ist immer reine. / ich enweiz op got ûf si verkôs / ode ob

1970, S. 259f. Bumkes Haupteinwand gegen die These Wisniewskis besteht in dem Hinweis, daß der Gral bereits auf der Erde war, als die neutralen Engel herunterkamen (Wolfram von Eschenbach Parzival, 471, 15ff.).

1

Bumke

2

Wolfram von Eschenbach Parzival, 469,3. 4; 471,22. Wisniewski 1957, S. 44. Die Suche nach konkreten Quellen bei Wolfram ist metho-

3

4

disch nicht ohne Schwierigkeiten. Ahnlich wie bei Hildegard lassen sich direkte Einflüsse auf Wolframs Werk oft zwar annehmen, aber nicht definitiv beweisen. Hildegardis, LSM, praefatio zum Buch De lapidibus (PL 197, Sp. 1247C-1250A).

Das naturkundlich-medizinische Werk

373

vürbaz verlos: / was daz sîn reht, er nam se wider. / des Steines pfligt iemer sider / die got derzuo benande / und in sînen engel sande. / hêr, sus stêt ez umben ers

grâl.1

Auch hier gelangt der Gral nach dem Engelssturz auf die neu erschaffene Erde, an einen Ort also, der ihm als Aufbewahrungsort nicht ursprünglich zugedacht war. Als ein Gegenstand, der aus überirdischen Räumen herstammt, bedarf er des Schutzes. Zuerst gewährten Engel diesen Schutz, dann, so revidiert Wolfram seine Meinung (798, 1), seien es besonders berufene Christen („getouftiu vruht") gewesen. Diese beiden Erzählungen können auf eine einheitliche Fabel zurückgeführt werden: Die Edelsteine, die nach Hildegard im Uranfang der Schöpfung das Gewand Lucifers schmückten, befinden sich seit dem Engelssturz auf der Erde, um den Menschen zu nützen. Auch die Eigenschaften und Wirkungen des Gralssteines erinnern an das, was Hildegard über den Charakter der Edelsteine sagt: ab

igne et ab aqua gignuntur; unde etiam ignem et humietiam multas vires et mukös effectus operum tenent, ita quod plurimae operationes cum eis fieri possunt, ista tarnen opera quae bona et honesta, et utilia homini sunt, non autem opera seduetionum, fornicationum, adulteriorum, inimicitiarum, homicidiorum, et similium, quae ad vitia tendunt et quae homini contraria sunt, quoniam natura eorundem pretiosorum lapidum quaeque honesta et utilia quaerit, et prava et mala hominum respuit, quemadmodum virtutes vitia abjiciunt, et ut vitia cum virtutibus operari non possunt.2 Et sic

pretiosi lapides

ditatem in

se

habent,

et

Lassen wir die möglichen Verbindungen zwischen Hildegards LSM und Wolframs Parzival damit auf sich beruhen. Es ist deutlich geworden, daß zwischen Hildegards Bericht über die Entstehung und Eigenschaften der Edelsteine einerseits und Wolframs Vorstellung vom Gral andererseits gewisse Parallelen bestehen. Eine direkte Abhängigkeit läßt sich allerdings nicht beweisen. Die namhaft gemachten Gemeinsamkeiten sind zwar vorhanden. Ob sie jedoch die Annahme rechtfertigen, hier sei mehr im Spiele als eine bloße Motivparallele, muß dahingestellt bleiben. Daß mittelhochdeutsche Schriftsteller wie Wolfram von Eschenbach oder Heinrich von Veldeke grundsätzlich an Themen und Szenen aus dem Bereich der Heilkunde interessiert waren (wenn auch meist im Zusammenhang von Kampfesschilderungen), mag eine Stelle aus Heinrichs Eneit zeigen (Verse 11901-06). Dort wird das Herausziehen einer im Knochen festsitzenden Speerspitze mit Hilfe einer Zange geschildert. Und Wolfram selbst läßt Gawan einen Hämatothorax durch Einführen einer Kanüle entlasten (Parzival, X, 306, 5-17). Dennoch bleibt als resümierender Befund lediglich der Hinweis auf eine nicht auszuschließende Möglichkeit einer solchen Beeinflussung Wolframs durch Hildegard. 1 2

Wolfram von Eschenbach Parzival, I, S. 780 (Buch 9, 471 mentar in II, S. 683. Physica, III (De Lapidihus), Praefatio (PL 197, Sp. 1248).

15-29) mit Stellenkom-

Kapitel 7

374

compositae medicinae [LCM; Causae et curae] Der LCM [Causae et curae] liegt lediglich in einem einzigen vollständigen Textzeugen (Kgl. Bibl. Kopenhagen, Ny kgl. 90b 2°) sowie einem Exzerpt (StBPrK Berlin Ms lat. qu. 674, f. 103rv) vor. Beide Textzeugen stammen aus dem 13. Jahrhundert. Auch für den LCM gilt mithin, daß von einer autornahen Wortes) nicht Überlieferung (zumindest einer solchen im strengen Sinne des dem 16. zwischen als der hat kann. Anders LCM LSM der gesprochen werden und dem 19. Jahrhundert auch keine Drucklegung erfahren. Erst 1903 hat Paul Kaiser den Text auf der Grundlage der Kopenhagener Handschrift Ny kgl. 90 b 2° ediert. Immerhin findet sich ein knapper Hinweis auf den LCM in der 1549 erschienenen Schrift André Tiraqeaus De nobilitate, et iure primigeniorum} 7.3 Der Liber

Überlieferung des LCM Königl. Bibliothek Kopenhagen, Cod. Ny kgl. 90 b 2° 7.3.1 Die handschriftliche

einzig erhaltene vollständige Textzeuge des LCM ist die heute zur Königlichen Bibliothek Kopenhagen gehörende Handschrift Cod. Ny kgl. 90 b 2°.2 Der Codex, dessen nachfolgende Beschreibung vollständig auf den Forschungen Laurence Mouliniers basiert, stammt vermutlich aus der Mitte oder aus dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts. Er enthält auf f. lra-92va (hinzu kommt das im 15. Jahrhundert entstandene Register auf f. 92va-93rc) ausschließlich den LCM. Ort seiner Entstehung ist die Benediktinerabtei TrierSt. Maximin (alte Signatur: R 5). Der Codex hat die äußeren Maße 28,8 x 20,5 cm (Schriftspiegel 22 x 15 cm) und ist von zwei verschiedenen Händen in zwei Kolumnen zu je 34 Linien geschrieben worden. Hand 1 hat die folia lr bis 35v, Hand 2 den Rest ab f. 36r geliefert. Daneben sind Korrekturen einer der beiden Schreiberhände sowie wenigstens zweier weiterer (späterer) Hände vorhanden, die auf das Wirken eines Korrektors schließen lassen. Gelegentliche Marginalien (Nota; n. b.) am Textrand stammen aus dem 13. und aus dem 15. Jahrhundert, bleiben insgesamt jedoch auffällig gering. Letztendlich hat ein Rubrikator die Majuskeln zu Beginn der jeweiligen Indikationen bearbeitet und zwei andere Der

Hände haben, nachdem der Text schon vorhanden war, die Zwischenüberschriften geliefert. Diese Zwischenüberschriften geben den Inhalt des zugehörigen Abschnitts nicht immer zuverlässig wieder (vgl. f. 62vb De nervorum contractione). In einem Fall, De stranguiria [!] (f. 70ra), gewährt die Überschrift sogar eine völlig irrige Auskunft über den Inhalt des Kapitels. Außerdem unter1

2

Tiraqueau De nobilitate, f. 174v (Nr. 339): „Hildegardis virgo Moguntincnsis, eruditione et sanctimonia Celebris, inter multa doctrinae suae monumenta scripsit in medicina, quae Simplicia, quae composita tollendis aegritudinibus prosunt." Die Handschrift findet sich knapp erwähnt bei Knoblich 1999, S. 158, Nr. 109. Beschreibung bei Jorgensen 1926, S. 444. Vgl. auch Schrader/Führkötter 1956, S. 4f. und 55f. Ströbing 1963, [vgl. insbesondere S. 89f. und den Anhang mit acht Faksimile-Tafeln aus der Kopenhagener Handschrift und beigefügter Transkription nach der Ausgabe Kaisers]. Moulinier 1995a, S. 47f.

-

-

-

Das naturkundlich-medizinische Werk

375

scheidet sich die Schreibweise der Fachbegriffe in den Überschriften bisweilen der im Text selbst verwendeten (f. 3Iva: De alitu halitum). Zu einem späteren Zeitpunkt vermutlich im 15. Jahrhundert ist die in arabischen Zahlen durchgeführte Kapitelzählung und die Bezeichnung der fünf Bücher durch das Wort „Uber" am oberen Spaltenrand der jeweiligen Buchanfänge hinzugekommen. Die Kapitelzählung ist für jedes Buch gesondert durchgeführt. Demnach besitzt Buch 1 insgesamt 49 Kapitel, Buch 2 hat 284 Kapitel, Buch 3 hat 39 Kapitel, Buch 4 hat 65 Kapitel und Buch 5 hat 27 (gezählte) Kapitel. Bei letzterem wären es einige mehr, wenn nicht die Zählung in Teil 6 abgebrochen bzw. stark zurückgenommen worden wäre (man käme dann auf insgesamt 35 Kapitel). Diese gesonderte Zählung der Kapitel ist im Register nachgeahmt. Es zerfällt in fünf Teile. Die Handschrift besteht aus 11 Lagen, die durch römische Ziffern jeweils am Lagenende bezeichnet sind. Demnach endet Lage 1 auf f. 12v, Lage 2 auf f. 20v, Lage 3 auf f. 27v, Lage 4 auf f. 35v, Lage 5 auf f. 43v, Lage 6 auf f. 51v, Lage 7 auf f. 59v, Lage 8 auf f. 67v, Lage 9 auf f. 75v, Lage 10 auf f. 83v und Lage 11 auf f. 93r. Dies bedeutet, daß Lage 1 einen Sexternio bildet, Lage 3 und Lage 11 einen Quinio, die übrigen Lagen jeweils Quaternionen. Die Lagenformel lautet mithin: VI+IV+V+7(IV)+V. Lediglich Buch 4 endet mit einer Lage (Lage 10 f. 83va). Da jedoch Buch 5 noch auf der gleichen Lage einsetzt, auf der Buch 4 endet (f. 83vb), ist von einem einheitlichen und nicht von einem mehrstufigen Entstehungsprozeß auszugehen. Dies bedeutet gleichzeitig, daß die Handschrift mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die ursprüngliche Fassung des Textes darstellt, sondern eine spätere Kopie. Buch 5 ist im Gegensatz zur sonstigen Praxis oberhalb des Textes nicht explizit als über bezeichnet. Gleiches gilt für den durch eine eigene Schmuckinitiale (f. 89v) ausgezeichneten sechsten Teil, der ein Empfängnis-Lunar beinhaltet. Ob der Kopenhagener Textzeuge aus fünf oder sechs Büchern besteht, bleibt letztendlich unklar. Die Initialgestaltung aus dem 13. Jahrhundert deutet auf sechs, die im 15. Jahrhundert nachgetragene Zählung der Bücher auf fünf hin. Auf f. lr des Textes erscheinen zwei Provenienzvermerke aus St. Maximin. Auf dem oberen Rand hat eine Hand des 13./14. Jahrhunderts festgehalten: „Codex monasterii sancti maximini prope treverim siti." Auf dem unteren Rand findet sich ein Eintrag von einer sehr viel späteren Hand. Er lautet: „Ex libris Imperialis Monasterii St. Maximini". Diese zweite Hand läßt sich mit dem aus Nancy in Lothringen stammenden Maximiner Mönch und Bibliothekar Nikolaus Petreius identifizieren.1 Petreius hat gegen Ende des 16. Jahrhunderts (um von

-

-

-

=

1

Petreius hat sich namentlich

verewigt in einer heute in Berlin liegenden Maximiner Handschrift (Berlin StBPrK, Ms lat. f. 738, f. Or.). Dort heißt es: „Anno Domini 1593. Ex libris Imperialis Monasterii S. Maximini, per fratrem Nicolaum Petreium Nanceianum Lotharingum in ordine redactis ac chartulis titularibus ut videre est in dorso notatis." Vgl. Knoblich 1999, S. 15 (Beschreibung der Berliner Handschrift, einer aus dem 10. Jahrhundert stammenden Abschrift von Ambrosius Autpertus'

Kapitel 7

376

1593) umfangreiche Bestände der Maximiner Abteibibliothek mit dem oben zitierten Besitzvermerk ausgestattet. Vermutlich im Zusammenhang mit der Okkupation der Abtei durch französische Soldaten gegen Ende des 18. Jahrhunderts oder bedingt durch die bald darauf erfolgende Säkularisation gelangte die Handschrift (wohl zu Beginn des 19. Jahrhunderts) zusammen mit weiteren Maximiner Codices in den Besitz von Joseph Goerres (1776-1848).' Später wanderte sie in die Bibliothek des Frankfurter Mediziners Georg Franz Burkhard Kloss (1787-1854). Dort trug sie die Nummer 4598.2 Dessen Sammlung, in der sich auch ein aus dem 15. Jahrhundert stammender Textzeuge des Pentachronon befand, wurde 1835 in London bei Sotheby's versteigert, so daß der Codex seinen Weg nach Kopenhagen finden konnte.3 Hier wurde er im Jahre 1859 von dem Bibliothekar Carl Jessen im Zuge einer Durchsicht der medizinischen Handschriften der Kopenhagener Bibliothek entdeckt.4 Nachdem Kardinal Pitra innerhalb seines 1882 erschienenen Hildegard-Bandes (Analecta Sacra, Bd. 8, S. 468-482) einen kurzen Auszug veröffentlicht hatte, wurde der gesamte Text 1903 von Paul Kaiser ediert. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Kaiser die Handschrift in einer entsprechenden Veröffentlichung vorgestellt. Die Ausgabe Kaisers ist voller Fehler und kann die derzeit noch ausstehende kritische Edition nicht ersetzen. Daß der Kopenhagener Textzeuge auch für die Maximiner Abtei geschrieben wurde, darauf läßt ein unter Abt Rorich von Eppelborn (Amtszeit 1367-1411) entstandener, aus dem Ende des 14. Jahrhunderts (um 1393) datierender Bibliothekskatalog schließen, der unter der Rubrik Primo libri collationum als Nr. 16 ein medizinisches Werk Hildegards nennt. „Item de medicina sancte Hildegardis in uno volumine".5 Da zu dieser Zeit keine andere heilkundliche Schrift Hildegards im Bestand von St. Maximin nachgewiesen ist, bezeichnet dieser Eintrag vermutlich den Kopenhagener Textzeugen des LCM. Die Tatsache, daß eine der überlieferungsgeschichtlich betrachtet wichtigsten Handschriften mit Texten Hildegards von Bingen in St. Maximin entstanden ist, Abhandlung über die Apokalypse, ebd., S. 33f.). Knoblich 1994 zufolge hat Petreius den entsprechenden Besitzvermerk in nahezu alle Maximiner Handschriften eingetragen.

2

Vgl. Traube 1901. Traube weist darauf hin, daß die Maximiner Bibliothek auch schon im 15. und 16. Jahrhundert Abgänge zu verzeichnen hatte. Sie geschahen (im Sinne von nicht zurückgegebenen Entleihungen) häufig zu Gunsten des Jesuitenkollegs Claramontanum (Clermont). Die meisten Maximiner Handschriften habe Goerres, so nimmt Traube an, vor der Plünderung der Bibliothek durch den französischen Bücherbeauftragten Maugérard in den Jahren 1802/03 erworben. Traube datiert diese Erwerbungen in die Jahre 1794-1802. Vgl. Catalogue Kloss 1835, S. 327. Der Titel lautet hier Hildegardis (Beate) Cause et

3

Vgl. Catalogue Kloss

1

Curiae[\].

einen Preis

4 5

1835, S. 327 Nr. 4597. Die

3 Livre und 3 1862.

von

Shilling.

Vgl. Jessen Der Katalog ist ediert bei Keuffer 1899, S. 54.

Kopenhagener Handschrift

erzielte

Das naturkundlich-medizinische Werk

377

muß nicht weiter verwundern. Hildegard unterhielt persönliche Kontakte zur Abtei St. Maximin und verfaßte u. a. einen Hymnus auf deren Patron, den hl. Maximin.1 Außerdem besaß St. Maximin mindestens einen weiteren Codex, in dem ein Text Hildegards enthalten war. Dabei handelt es sich um die heute zur Stadtbibliothek Trier gehörende Handschrift 307/1979 8°. Dieser aus dem 15. Jahrhundert stammende Sammelband enthält auf f. 91r-93r unter der Uberschrift Ex libro Hildegardis de primo ve einen Auszug aus dem Liber divinorum operum (Pars III, Visio X, Cap. XVI-XVII). Vermutlich handelt es sich dabei um einen (unvollständigen) Textzeugen des Pentachronon, in dem die 10. Vision von Buch 3 des LDO ebenfalls enthalten ist.2 Letztendlich kann damit gerechnet werden, daß zwischen den Skriptorien von Trier-St. Matthias, einem ausgesprochenen Zentrum der Hildegard-Uberlieferung, und Trier-St. Maximin enge Kontakte bestanden und möglicherweise Handschriften zum Kopieren ausgetauscht wurden. Vom Erscheinungsbild her trägt der Kopenhagener Textzeuge Züge einer repräsentativen Handschrift. Er wirkt nicht wie eine Gebrauchshandschrift. Der Text ist zweispaltig angeordnet und in einer sorgfältigen, bereits etwas gotisierend wirkenden Minuskel geschrieben. Jeder Textabschnitt besitzt zweizeilige rote Initialen, die an einzelnen Stellen kalligraphisch ausgestaltet sind (z. B. f. 5vb, 2. Zeile von unten). Hinzu kommen für den Beginn der fünf Inhaltsteile des LCM sowie für den angefügten sechsten, angeblich unechten Teil üppiger gestaltete Zierinitialen, die der Textstrukturierung dienen. Sie sind angebracht auf f. Ira: „(D)eus ante creationem", auf f. 12ra: „(D)eus ita creavit hominem", auf f. 65ra: „(C)um adolescenti homini", auf f. 72va: (M)ulier ergo quae obstrusa", auf f. 84vb: (C)um homo sanus in corpore est" sowie schließlich auf f. 90rb: „(H)omines qui accipiunt". Ob die Aufteilung in fünf bzw. sechs Bücher auf den Schreiber des Textes bzw. die von ihm verwendete Vorlage zurückgeht, läßt sich nicht sagen. Eine frühere oder gar von Hildegard selbst stammende Erwähnung einer solchen Einteilung findet sich jedenfalls nir1

Isabel Knoblich hat darauf hingewiesen, daß während des 13. und 14. Jahrhunderts „das Interesse des Konventes an seiner Bibliothek nachgelassen haben muß, denn aus diesen Jahrhunderten stammen nur sehr wenige der noch existierenden Handschriften. Erst im 15. Jahrhundert", so Knoblich, „wohl im Zusammenhang einer Klosterreform durch Johannes Rode (f 1439), der auch St. Matthias/Eucharius in Trier erneuerte, wuchs wieder das Interesse an wissenschaftlicher Literatur. In dieser Zeit schrieb oder erwarb man in St. Maximin Werke spätmittelalterlicher Autoren, wie Thomas a Kempis oder Nikolaus von Dinkelsbühl, ergänzte Fehlendes älterer Autoren, wie z. B. Werke von Bernhard von Clairvaux, Hildegard von Bingen und Jacobus de Voragine und erwarb erstmals ins Lateinische übersetzte Texte zur Astronomie und Astrologie von griechischen und arabischen Gelehrten." Knoblich 1999, S. 1041. Trifft diese Darstellung der Entwicklung zu, so ist die Anfertigung einer Abschrift des LCM im 13. Jahrhundert in St. Maximin um so höher einzuschätzen. Vgl. den Uberblick in Analecta, S. 485: „Dies istos édita sunt. In libro Divinorum operum p. III, vis. X (c. 1017-1037, usque in libri finem)." -

2

-

...

-

Kapitel 7

378

Das sehr sorgfältig wirkende Erscheinungsbild des Textes macht es wie aber, angedeutet, wahrscheinlich, daß er von einer Vorlage kopiert wurde. Hierauf weist auch ein auf f. 73vb 28, zu findender Schreibervermerk hin: „nichil inueni nichil scripsi". Die Vorlagenhandschrift des Kopenhagener Textzeugen muß als verschollen gelten. Ob sie zum Bestand von St. Maximin oder zu was wahrscheinlicher ist jenem von St. Matthias gehörte, bleibt ebenfalls unklar. Einen deutlichen Bruch in der Darbietung des Textes bewirkt das von einer Hand des 15. Jahrhunderts stammende Register der Kapitelanfänge mit zugehöriger Blattangabe. Es erscheint auf f. 92va, Zeile 22 bis f. 93rc (Incipit: „Incipiunt capitula libri ..."). Dieses Inhaltsverzeichnis, das gemäß der Aufteilung des Textes fünf Bücher besitzt, ist in einer flüchtigen Kurrentschrift geschrieben, die auf kalligraphische Gesichtspunkte keinerlei Rücksichten nimmt. Was den eigentlichen Text betrifft, so besitzt dieser zwar sauber eingetragene Kapitelüberschriften von den gleichen beiden Händen des 13. Jahrhunderts, die auch den Text selbst geschrieben haben. Die Anzahl der Benutzungsspuren im Text (Marginalien) läßt sich aber bei weitem nicht mit jener des Florentiner Textzeugen des LSM vergleichen. Die Frage ist, wie man dieses Phänomen deuten soll. Ist es denkbar, daß der Kopenhagener Textzeuge des LCM dazu gedacht war, Hildegards Status als Autorin naturkundlicher Werke zu erhöhen, ähnlich wie der opulent ausgestattete Lucca-Codex mit dem Liber divinorum operum dies für den Bereich der visionären Werke tun sollte ? Wir sollten diese Möglichkeit jedenfalls nicht ausschließen. Die in arabischen Zahlen angefügte Kapitelzählung des LCM ist vermutlich von der gleichen Hand angefügt worden, die auch das Register herstellte. Es fällt auf, daß die innere Einteilung des Textes irreführend ist. Sie zeigt, daß die Schreiber oder Redaktoren den Gesamtplan des Werkes offenbar nicht mehr überblickten. Die Kapitelüberschriften spiegeln den Inhalt des LCM nicht zuverlässig wider. Sie dienen lediglich der Groborientierung im Text. Vor allem stört, daß die einzelnen Abschnittsüberschriften auf unterschiedliche Weise in den Text integriert sind. Teilweise stehen sie über den mit Großinitialen markierten Abschnitten, teilweise am Rand der entsprechenden Passagen, teilweise sind sie auch in freien Halbzeilen begonnen und dann über den Kolumnenabschluß hinausgeführt worden. Eine weitere Merkwürdigkeit des Textes besteht darin, daß das Incipit einen anderen Titel nennt als das Explicit bzw. der Kolophon. Im Incipit, das von Hand 1 stammt, findet sich die Formulierung: „Beate Hildegardis cause et eure" (f. Ira). Im Explicit dagegen, das Hand 2 schrieb, heißt es: „Expliciunt prophétie sanetae Hildegardis" (f. 92va). Hier ist also aus dem medizinischen Fachtitel Cause et eure die völlig anders akzentuierende Bezeichnung prophétie geworden. Zudem ist Hildegard von einer Seligen (beata) zu einer Heiligen

gendwo.

-

-

(saneta) aufgestiegen. Die

wenigen Marginalien

telverzeichnis lassen darauf

und das

nachträglich hinzugekommene Kapischließen, daß der Kopenhagener Textzeuge im erst

Das naturkundlich-medizinische Werk

379

13. Jahrhundert nicht sehr intensiv benutzt wurde. Ohne Inhaltsverzeichnis muß eine solche Benutzung fast unmöglich gewesen sein. Andererseits scheint eine Benutzung, wie das nachgetragene Inhaltsverzeichnis beweist, im 15. Jahrhundert eingetreten bzw. beabsichtigt gewesen zu sein. Möglicherweise sollte der Text durch eine Reihe entsprechender Eingriffe von einem repräsentativ wirkenden Codex zu einem Gebrauchstext umgestaltet werden. Heinrich Schipperges hat die Ansicht vertreten, daß die Überschriften innerhalb des Kopenhagener Textzeugen nicht auf Hildegard selbst zurückgehen. Sie würden, so Schipperges, eine Terminologie vertreten, die erst im 13. Jahrhundert entstanden sei.1 Als Beispiel zitiert Schipperges den aristotelischen Begriff hyle für materia, der nur in den Kapitelüberschriften am Textrand auftauche, nicht aber im Text selbst. Dieser Begriff sei, so Schipperges, zur Zeit Hildegards noch nicht gebräuchlich gewesen. Die Begriffe generatio und corruptio wiederum seien aus dem bekannten aristotelischen Buch De generatione et corruptione übernommen, das erst um die Mitte des 12. Jahrhunderts ins Abendland gelangt sei. Schipperges' Ansicht wurde zwar von Peter Dronke durch den Hinweis relativiert, Hildegard „might have known the concept and term hyle from innumerable sources"2 (Ambrosius, Augustinus, Calcidius, Asclepius, Bernardus Silvestris). Auf der anderen Seite ist die These, daß Kapitelüberschriften von Hildegard-Texten nicht auf Hildegard selbst zurückgingen, auch hinsichtlich der Visionsschriften geäußert worden. Auch hier besitzen die Zwischenüberschriften eine andere Terminologie als die eigentlichen Texte. Sehr viel wichtiger ist jedoch die Tatsache, daß neben den Überschriften ganze Abschnitte des Kopenhagener Textzeugen als unecht betrachtet werden können. Dies gilt insbesondere für den sechsten Teil am Ende des Textes (f. 89vb-92va). Er enthält unter der Überschrift „De conceptu" ein auf einen 30tägigen Monat bezogenes Empfängnis-Lunar, das auf der Vorstellung basiert, der Mondstand sei bei der Empfängnis (nicht der Geburt) eines Menschen für seinen Charakter und sein Schicksal bestimmend. Astrologische Vorstellungen solcher Art sind orientalischer Herkunft. Sie waren im Mittelalter recht verbreitet, stehen aber in diametralem Gegensatz zu Hildegards sonstigen Äußerungen. Vermutlich müssen sie als interpoliert betrachtet werden.3 Hinzuweisen ist noch auf zwei Besonderheiten am Ende des Textes. Zum einen erscheint auf f. 92va, Zeile 17-19, innerhalb des Kolophons eine Wendung, die einen lateinischen, auf der Homonymie von Über (= frei) und Über (= Buch) beruhenden Wortwitz verwendet. Sie lautet: „Expliciunt prophétie sancte Hildegardis. Explicit iste liber, scriptor sit crimine liber. Amen dicant omnia" („Hier üaben die prophetischen Worte der üeiügen Hildegard ein Ende. Hier 1

2

3

Causae et curae (dt.) 1957, S. 41. Dronke 1981b, S. 113. Vgl. Weisser 1982. Weisser zählt mehr als 70 zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert entstandene Lunare dieser Art auf. Als Parallelbeispiel aus dem 12. Jahrhundert nennt Weisser die Handschrift der British Library, Ms Egerton 821, f. 8v-12r.

Kapitel 7

380

hat dies Buch ein Ende, den Schreiber niemand schände. Alle Kreatur sagt ,AMEN"'). Wilhelm Wattenbach zufolge handelt es sich bei diesem Wortspiel um eine im Mittelalter recht geläufige Formel.1 Zum anderen taucht im unmittelbaren Anschluß an des Explicit und vor dem Beginn des Registers auf f. 92va ein von dritter Hand (14. Jh.?) stammender Textsplitter aus dem Regimen sanitatis salernitanum auf.2 Es sind die beiden Zeilen : „febris acuta tisi pedicon scabies sacer ignis / cancer lippa lepra frenesis contagia praestant." Sie stammen von der gleichen Hand, die auf f. 48rb am Spaltenrand die Marginalie „non comedat" angebracht hat. Das Regimen wurde erst in der zweiten Hälfte des 13. oder zu Beginn des 14. Jahrhunderts kompiliert, kein erhaltener Textzeuge reicht in die Zeit vor 1300 zurück. Einen Hinweis auf die Entstehung des Kopenhagener L CM-Textzeugen kann dieser Eintrag, der zudem von späterer Hand stammt, daher nicht vermitteln. Auffällig an der Kopenhagener Handschrift ist schließlich, daß der Schreiber die Inhaltsangabe „de causis, signis atque curis aegritudinum" verkürzt und in die handliche Titelformulierung „Beate Hildegardis Cause et Cure" umwandelt. Meines Wissens ist diese Titelformulierung die früheste, die sich des Ausdrucks Caus[a]e et cur[a]e bedient und von dem älteren Titel Liber compositae medicinae abrückt. Die im 15. Jahrhundert entstandene Zusammenstellung der Kapitelüberschriften auf f. 92va-93ra deutet darauf hin, daß der Kopenhagener Textzeuge des LCM während dieser Zeit im Kloster St. Maximin als medizinisches Handbuch benutzt wurde. Er bildet damit ein ganz seltenes Beispiel für die faktisch belegte, innermonastische Verwendung einer heil- bzw. naturkundlichen Schrift Hildegards im 15. Jahrhundert. Die Florentiner Handschrift des LS M wurde außerhalb des Klosters in Villmar eingesetzt. StBPrK Ms lat. qu. 674, f. 103ra-br Das einzig erhaltene Exzerpt des LCM ist in der Berliner Handschrift StBPrK Ms lat. qu. 674 (f. 103ra-rb) enthalten.3 Diese Handschrift ist ein Sammelwerk mit authentischen und Hildegard zugewiesenen Texten aus dem 13./14. Jahrhundert. Sie wurde von zwei Händen geschrieben und besteht aus drei Teilen. Im ganzen umfaßt der Codex 116 folia der Größe 28,6 x 20,8 cm. Mit Ausnahme der folia 57-62, die eine einspaltige Anordnung aufweisen, ist der Text zweispaltig geschrieben.

Berlin,

Teil 1 f. 1-62 enthält folgende Texte: Vita Hildegardis; f. lra-24vb : f. 25ra-54ra: Teil des Epistolariums mit 56 Briefen; f. 56v-57r: leer; -

1 2 3

Wattenbach 1875b, S. 428. Zum Regimen vgl. Keil 1989b. Erwähnt bei Krämer 1989, S. 659.

Das naturkundlich-medizinische Werk

381

Buchstabenzeichnung bzw. Buchstabengedicht. Dieses Buchstabengedicht, auf das im Zusammenhang unserer Ausführungen zur Lingua ignota und zu den Litterae ignotae ausführlicher eingegangen wurde, besteht aus den fünf kreuzförmig angeordneten Buchstaben A, P, H, K und D sowie 18 hinzugefügten Wörtern, f. 57va: Litterae ignotae f. 58r-62r: Lingua ignota und dritte Teil der Handschrift stammt aus dem Anfang des erste Der 13. Jahrhunderts und wird Hand 1 zugeordnet. Der Schreiber des ersten Teils ist

f. 57v:

identisch mit dem Schreiber des berühmten, um 1220/30 im mittelrheinischen Raum entstandenen Lucca-Codex, einer illuminierten Luxusausgabe von Hildegards Liber divinorum operum. Hierzu paßt, daß auch die in der Berliner Handschrift enthaltenen Texte Vita Hildegardis und Pentachronon von Autoren stammen bzw. Texte repräsentieren, die eine hagiographisch-panegyrische Absicht verfolgten. Teil 2: f. 63r-102v. f. 63r-99vb : Exzerpte aus dem Pentachronon Gebenos von Eberbach. f. 99vb-102va: die 15 von Augustinus der erythräischen Sibylle zugeschriebenen Zeichen (Augustinus, De civitate Dei, XVIII, 23). Letztendlich folgen einige endzeitliche Revelationes, die fälschlicherweise Hildegard zugewiesen sind. Diese Texte stammen laut Kolophon von dem Schreiber Gulielmus de Valle, der sie Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts niedergeschrieben hat. Das Explicit auf f. 102va lautet: „Explicit prophetia sanete hyldegardis hiis omnibus completis petit actor [!] grates de benedictis et veniam de obmissis. Et quia difficile est invenire supra illud quod inventum est et difficilis quod non est. Guillelmus de valle scripsit." Teil 3: f. 103r-116ra (= Lage 14): naturkundliche Texte. f. 103ra-103va: Hildegard, LCM, Auszüge, identisch mit S. 25f. der Ausgabe f. 103r-116r:

Kaisers;

Hildegard zugewiesenes, kompiliertes Fragment. Ein

vemutlich

aus

LCM und LDO

Degering hat die in f. 103r-116r überlieferten Texte, die ohne Incimitten im Wort ["... tum infrigidari"]) einsetzen und ohne dazu pit (noch als enden, „Excerpte aus Hildegards Schriften"1, Bernhard Schmeidler Explicit als „Aphorismen"2 und Elias von Steinmeyer als „heilmittellehre"3 bezeichnet. Sie stammen von Hand 1, dem Schreiber des Lucca-Codex, gehören also in das beginnende 13. Jahrhundert. Im Gegensatz zu den folia 63-102 weisen die folia 103r-116r keine Rubrikationen und mehrfarbigen Initialen auf. Dennoch ergibt Hermann

1 2 3

Degering 1917, S. 17. Auch zitiert in: Schipperges 1956, S. 43. Briefl. Mitteilung an Schipperges. Zit. nach Schipperges 1956, S. 43. Steinmeyer/Sievers 1895, hier S. 414.

Kapitel 7

382

Zuweisung des Textes zum Schreiber des Lucca-Codex einen eindeutigen Datierungshinweis : die von ihm herrührenden Teile des Berliner Fragments die

um 1220/30, und zwar im mittelrheinischen Raum, entstanden sein. Sie liefern mithin den frühesten, ca. 30-40 Jahre nach Hildegards Tod entstandenen Textzeugen des LCM. Monika Klaes zufolge zeigt die Schreiberhand dieser Passage im Berliner Fragment folgende Besonderheiten:1 wenig ausgeprägte Ober- und Unterlängen, durchgängige Verwendung von rundem „d", rundem „r" nach „o" und rundem „s" am Wortausgang. Außer bei „bb" und „pp" treten noch keine Bogenverbindungen auf. Die Schäfte sind gegabelt, bei „u", „n", „m" und „i" bilden sich bereits Quadrangeln aus. Die untere Schlaufe des „g" bleibt noch offen. Sehr häufig sind „i"-Striche, die „e"-Cauda wird nicht mehr verwendet. Auch die Orthographie, so Klaes, erhärte die Annahme einer Entstehung dieses Teiles der Handschrift zu Beginn des 13. Jahrhunderts : vor „i" + Vokal steht fast durchgängig „c", nur vor „i" + „o" bisweilen noch ein „t". Häufig wird „y" verwendet („hyeme", „Dysibodi", „syllabarum", „ymago", „hystorie"). Vor „n" und „m" ist „d" assimiliert, durchgängig findet sich die Schreibweise „ewangelium" und „karitas". Heinrich Schipperges hat den naturkundlichen Hildegard-Teil der Berliner Handschrift (f. 103r-116r) im Jahre 1956 vorgestellt und das betreffende Textfragment, dessen Anfangspartien (f. 103ra-rb) sich mit den folia 9va-10ra der Kopenhagener Handschrift Ny kgl. 90 b 2° bzw. mit den Seiten 25,15-26,15 des LCM in der Ausgabe Kaisers, identifizieren lassen, ediert.2 Die auf die LCM-Teile (f. 103ra-rb) folgenden Passagen der Berliner Handschrift enthalten nach Schipperges „eine komplex durchfigurierte Elementenlehre"3, die zwar in der bildhaften Sprache Hildegards vorgetragen wird, vermutlich aber aus zweiter Hand stammt. Auch in formaler Hinsicht, so Schipperges, zeigt die „rondoartige Aufgliederung, bei der Naturbeschreibungen abwechseln mit resümierenden und moralisierenden Spekulationen, die künstlerische, wenn auch recht fremdartige Behandlung eines einheitlichen Stoffes, der im Kern in Hildegards Mystik wurzelt und mündet."4 Der Text stellt Schipperges zufolge vermutlich eine kompilierte und kommentierte Zusammenstellung entsprechender Partien aus dem LCM und (dies lege sein Inhalt nahe) aus dem Liber divinorum operum dar: „Wörtliche Auszüge und sinngemäße Anauf eine sekundäre Abschrift hin, also auf klänge weisen", so Schipperges, eine Kontamination mit Verarbeitung mindestens zweier Vorlagen. Dafür sprechen weiter der abgebrochene Stil, häufige Verweise (etwa „quere") sowie technische Schreibeigentümlichkeiten und Verschreibungen."5 Ob die so zustande gekommene Kontamination auch durch eine Vermischung des LCM mit dem

müssen

„...

1 2 3 4 5

Klaes 1993, S. 167*. Schipperges 1956, S. Schipperges 1956, S. Schipperges 1956, S. Schipperges 1956, S.

47-74. 43. 43. 46.

Das naturkundlich-medizinische Werk

383

Pentachronon Gebenos und/oder anderen apokalyptischen Schriften der Zeit erklärt werden könnte, bedarf weiterer Forschungen. Trifft der Befund einer Kontamination bzw. sekundären Kompilation, dem Peter Dronke sich mit dem Hinweis auf einige theologisch fragwürdige Passagen anschloß,1 zu, so offenbart das Berliner Fragment eine Lücke in der Überlieferungsgeschichte des LCM, die momentan nicht geschlossen werden kann. Wir wissen nicht, von welcher Vorlage bzw. welchen Vorlagen der Schreiber oder Kompilator des Berliner Fragments aus gearbeitet hat. Dies ist um so bedauerlicher, als der Text eine höchst bemerkenswerte, unikat bleibende Verbindung zwischen dem naturkundlichen und dem theologischen Schriftenkreis Hildegards vollzieht. Überlieferungsgeschichtlich betrachtet, nimmt er daher eine herausragende Stellung ein. Das Berliner Fragment steht singulär da als ein wenn auch möglicherweise auf späterer Bearbeitung basierender Versuch eine Synthese zwischen Hildegards visionärem Werk und ihrem naturkundlichen Schrifttum zu schaffen. Daß der Versuch einer solchen Synthese im Vorfeld der geplanten Heiligsprechung und damit zu einer Zeit, da man Hildegards Werk ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit entgegenbrachte, entstand, verleiht dem Text zusätzliche Bedeutung. Inhaltlich bietet er Ausführungen zur Astronomie, Metereologie, Geographie, zu einem anatomisch-kosmologischen Proportionskanon, zur Physiologie des Stoffwechsels, des Geschlechtslebens, der Embryologie, des Schlafes, der Sinne, weiterhin Beiträge zur Pathologie und Therapie, aber auch zur Trinitäts- und Inkarnationslehre, zur Topologie des Jenseits, zur Paradiesesehe und Paradiesessprache, zur Weltaltertypologie und zum Jüngsten Gericht. Im einzelnen finden sich Passagen über das Wasser und die Nahrung, über Sonne, Luft und Trockenheit, über den Einfluß der Planeten auf die Säfte des Menschen sowie über die erwähnten Aspekte des Paradieseslebens. Eingeschlossen sind überdies Exegesen zum Buch Genesis sowie zum Prolog des Johannesevangeliums, den Generalthemen des Liber divinorum operum. Hervorzuheben ist, daß im gesamten Text zur Bezeichnung von Heilpflanzen deutsche Wörter auftauchen. Exemplarisch seien genannt: vehedistel (Edition Schipperges S. 48 44), dampher (S. 49 74), troffun (S. 50 87), wolfesmiliche (S. 50 87), helwehuth (S. 50 101), sweice (S. 50 106), lanchsuth (S. 51 132), wackun (S. 51 132), sweizen (S. 51 139), kerbela (S. 52152), bewe (S. 52154), swertdela (S. 52 165), nathscathdo (S. 53 181), ulwurm (S. 53 185), gelswesuth (S. 61 450), brunnecrasso (S. 61 452), ansere (S. 61 455) und troffo (S. 61 459). Durch seinen heterogenen, synthetischen Inhalt kommt dem Berliner Fragment, wie angedeutet, eine ausgesprochene Schlüsselstellung zu. Die Rezeptionsgeschichte von Hildegards Schriften wirft mit dieser Zusammenstellung ein völlig neues Licht auch auf die Autorin. Sie zeigt, daß Hildegards naturkund-

-

1

Dronke 1981b, S. 109. Dronke verweist etwa auf die merkwürdige Passage, wonach im Paradies deutsch gesprochen worden sei sowie auf die Äußerung, die Engel seien nicht erschaffen worden. Beides passe nicht gut, so Dronke, mit Hildegards sonstigen Ansichten zusammen.

Kapitel 7

384

liehe Texte grundsätzlich geeignet waren, mit theologischen Fragestellungen ihres eigenen (LDO) sowie des Schrifttums anderer Autoren verbunden zu werden. Außerdem beweist das Berliner Fragment, daß im 14. Jahrhundert, wie die Hinzufügung der vermutlich auf dem Pentachronon beruhenden Texte durch Gulielmus de Valle erkennen läßt, prinzipiell nicht zwischen primärer (authentisch hildegardischer) und sekundärer (auf Gebeno zurückgehender) Überlieferung unterschieden wurde. Beide Überlieferungströme konnten offensichtlich bedenkenlos nebeneinanderher existieren und sogar miteinander kombiniert

werden.

Wo der Berliner Textzeuge mit dem LCM-Fragment entstanden ist, steht, ebenso wie die Frage, wo der Lucca-Codex hergestellt wurde, noch offen. Hermann Degering nimmt eine Entstehung in Pfalzel bei Trier an,1 Marianna Schräder und Adelgundis Führkötter plädieren für eine Entstehung auf dem Rupertsberg.2 Fest steht, daß die Berliner Handschrift einst zum Besitz des Kollegiatstifts St. Maria in Pfalzel bei Trier gehörte. Dies beweist ein auf f. lr erscheinender Besitzeintrag: „Liber Monasterij Sancte Marie de palatolis".3 Nach der Zerstörung dieses Klosters durch die Franzosen im Jahre 1676 kam der Codex in den Besitz des Jesuitenkollegs Agen an der Garonne. Auf f. lr findet sich der aus dem 17. Jahrhundert stammende Eintrag: „Collegii Aginn. societ. Jesu inscript.". 1836 erwarb ihn Sir Thomas Phillipps aus dem Bestand des Antiquars Thorpe (1791-1851). Aus der Cheltenhamer Sammlung von Lord Thomas Phillipps (1792-1872; Sign. 9303) wurde die Handschrift 1895 von Sir Max Wächter erstanden, der sie Kaiser Wilhelm II. anbot. Dieser gab sie an die Berliner Bibliothek ab. Sollte der Text im Stift Pfalzel entstanden sein, so könnte dies bedeuten (sofern er nicht gänzlich auf der Textbasis des Pentachronon oder einer vergleichbaren Zusammenstellung zustande kam), daß dort eine wahre Fülle von Hildegard-Texten vorhanden war, aus der der Kompilator schöpfen konnte (Vita Hildegardis, Epistolarium, Litterae ignotae, Lingua ignota, Pentachronon, Liber compositae medicinae, Liber divinorum operum). Da dies bislang aber durch keine andere Information erhärtet werden kann, ist wohl eher auf eine RupertsDies gilt unbeberger oder allgemein mittelrheinische Herkunft zu schließen.Stift in Briefverschadet der Tatsache, daß Hildegard selbst mit dem Pfalzeler kehr stand, zumindest vom dortigen Abt einen Anfragebrief erhielt.4

1 2

3 4

Degering 1917, S. 17. Schrader/Führkötter 1956, S. 80. Vgl. Krämer 1989, S. 659. Vgl. Abbas ad Hildegardem, in Epistolarium II, Ep. CLXXXII, S. 41 iE: „Pfalzel [?], ca. 1173." Inhaltlich geht es in diesem Schreiben um die Frage, ob der ungenannte Abt sein Amt behalten oder es lieber resignieren solle.

Das naturkundlich-medizinische Werk

385

Ein verschollener Textzeuge des LCM Ein früher, vermutlich ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammender Textzeuge, der noch im 15. Jahrhundert in Heidelberg vorhanden war, ist mittlerweile verschollen. Dieser Textzeuge wird unter dem Titel „Summa Hildegardis de infirmitatum causis et curis in uno volumine" unter jenen Büchern aufgeführt, die Kurfürst Ludwig III. von der Pfalz (t 1436) der Heidelberger HeiligGeist-Kirche testamentarisch übereignete.1 Ludwig verband damit die Auflage, die Sammlung der Universität zur Verfügung zu stellen.2 In einer am 18. Dezember 1438 vom Rektor der Universität Heidelberg, Johannes von Rybeisen von Bruchsal, ausgestellten Urkunde wird der Empfang der Bücher bestätigt und vermerkt, daß sie angekettet worden seien. Die Urkunde trägt darüber hinaus die Unterschrift der vier Dekane der Universität, unter denen sich (für die medizinische Fakultät) Gerhard von Hohenkirchen befand, der Besitzer des zwischen 1425 und 1447 in Heidelberg kopierten LSM-Fragments Bibl. Apost. Vat., Ms 1207. Der verschollene LCM-Textzeuge wurde der Universität zusammen mit den übrigen Schenkungen von Pfalzgraf Otto von Mosbach, dem Testamentsvollstrecker Ludwigs III. und Regenten der Pfalz bis zur Volljährigkeit Ludwigs IV., übermittelt. Neben 82 theologischen Bänden, 11 Bänden kanonischen und kaiserlichen Rechts sowie sechs Büchern in astronomia umfaßte die Schenkung insgesamt 55 Bände heil- bzw. naturkundlichen Inhalts. In der vom 18. Dezember 1438 datierenden Urkunde führte der Rektor der Heidelberger Universität, Johannes de Rybeisen, den Bestand nach Fächern sowie nach Papier- und Pergamentcodices getrennt auf. Unter der Nummer 37 erscheint „Item Summa Hildegardis de infirmitatum causis et curis in uno volumine. Cuius primum folium incipit ,Deus ante creacionem mundi', penultimum zusammen mit ca. 20 vero incipit ,qui et quarta'."3 Da Hildegards Schrift 1466 Bänden in einem bereits anderen angefertigten Register der Bibliotheksbestände des Heilig-Geist-Stiftes nicht mehr auftaucht, muß sie zwischen 1438 und 1466 verlorengegangen sein. Dies bedeutet, daß unsere Handschrift die im Jahre 1622 erfolgte Abwanderung der Palatina nach Rom nicht mitgemacht hat. Ob der verschollene Textzeuge von Heidelberg aus nach Speyer wanderte, wo der deutschsprachige Anhang zum Pariser LSyW-Textzeugen 6952 mit seinen vier deutschsprachigen Rezepten aus dem LCM entstanden ist, entzieht sich einer Klärung. Der erwähnte Textbeginn des vorletzten Blattes „qui et quarta" findet sich im Kopenhagener Textzeugen des LCM nicht. Lediglich auf f. 89v taucht eine ähnliche Wendung auf („Qui in quarta luna concipitur ..."). So muß die 1438 noch vorhandene Heidelberger Summa Hildegardis wohl als verloren -

-

gelten. 1

2

3

Die Liste, in der Hildegards Werk erwähnt wird, gehört heute zum Bestand des Badischen Generallandesarchivs Karlsruhe, 43/79. Eine Abbildung findet sich in: Bibliotheca Palatina 1986, S. 8f. Vgl. hierzu Schuba 1981, S. XVII-XXXVII. Zit. nach Schuba 1981, S. XXVI.

Kapitel 7

386

7.3.2 Die Editio

princeps des LCM (Leipzig 1903) Die Erstausgabe des LCM brachte Paul Kaiser im Jahre 1903 auf der Grundlage der Kopenhagener Handschrift Cod. Ny kgl. 90b 2° heraus. Kaiser edierte den Kopenhagener Textzeugen ohne kritischen Apparat, aber mit einem Index nominum et rerum sowie einem Index verborum germanicorum. Diese Edition erfuhr 1980 eine unveränderte Neuauflage.1 Sie ist zuerst von Max Manitius und später von Heinrich Schipperges heftig kritisiert worden.2 Manitius, dessen Kritik am schärfsten ausfiel, warf Kaiser vor, er habe es verabsäumt, die Quellen des LCM TM eruieren, und auch die textkritische Behandlung, so Manitius, „giebt zu Bedenken Anlaß."3 Insbesondere beanstandete Manitius Kaisers Verbesserungen von Hildegards Latein. Dieses sei zwar ein „technisches" Latein gewesen, es komme aber dem gesprochenen Vulgärlatein sehr nahe und dürfe daher nicht frisiert werden. Außerdem kritisierte Manitius die Entscheidung des Herausgebers, die exakte mittelalterliche Orthographie der Handschrift nur bei der Benennung der Krankheiten und Heilmittel beizubehalten, ansonsten aber die antike Schreibung einzuführen. Paul von Winterfeld schlug in die gleiche

Kerbe und beanstandete in einer 1904 erschienenen Rezension von Kaisers Edition mehr als 300 falsch aufgelöste Abkürzungen.4 Elias von Steinmeyer rügte weitere Mängel.5 Bei all dieser philologisch berechtigten Kritik ist aber die Tatsache zu würdigen, daß der LCM überhaupt in einer Edition vorgelegt und damit der wissenschaftlichen Erforschung zugänglich gemacht wurde. Das Verzeichnis der im Text erscheinenden deutschen Wörter schließlich ist unabhängig von der Qualität der Edition von Bedeutung. 7.3.3 Natur- und heilkundliches

Sondergut

Wenigstens kurz hingewiesen sei auf die Handschrift Cod. Pal. lat. 1254 der Biblioteca Vaticana.6 Diese Handschrift ist eine von mehreren Händen im Wechsel geschriebene medizinische Sammelhandschrift. Sie umfaßt 256 + III f. und hat die Maße 29 x 22 cm. Der Codex ist um 1400 in Süddeutschland entstanden. Er ist für die Uberlieferung von Hildegards natur- und heilkundlichem Wissen insofern von Bedeutung, als er eine heilkundliche Passage überliefert, die nicht aus dem LSM oder dem LCM herrührt. Auf f. 112v findet sich ein Blutsegen Elildegards. Er ist Teil des Abschnittes 99r-144v der Handschrift, der in der Beschreibung Ludwig Schubas mit De aegritudinibus mulierum überschrieben ist. Dieser Abschnitt enthält mediziniCurae.

1

Causae

2

„Seine [Kaisers; Ergänzung] Ausgabe ist voller Fehler. Leider haben sich alle späteren

et

Untersuchungen 3 4 5 6

und

Teilübersetzungen

Causae et curae (dt.) 1957, S. 42. Manitius 1903, Sp. 1342. Winterfeld 1904. Steinmeyer 1903. Schuba 1981, S. 299-303.

auf diese unkritische Edition

bezogen."

Das naturkundlich-medizinische Werk

387

sehe Anweisungen, Beschwörungen und Benediktionen bezüglich von Menstruations- oder Geburtsbeschwerden der Frau. Hildegards Blutsegen ist überliefert innerhalb des Epistolariums und der Vita Hildegardis. Medizinische Anweisungen und Benediktionen1 dieser Art gehen, ebenso wie die auch von Hildegard berichteten Teufelsaustreibungen, zurück in älteste (heidnische) Zeiten. Sie sind überlieferungsgeschichtlich von Interesse, da sie nicht selten deutsch tradiert wurden. Außerdem eröffnen sie Querverbindungen zwischen dem visionären und dem naturkundlichen Schriftenkreis Hildegards, wie dies ja auch für die Berliner Handschrift Cod. lat. qu. 674, f. 103r116r

gilt.

In der Vita Hildegardis (Liber III, cap. 10) wird berichtet, wie Sibylle von Lausanne sich mit der Bitte um Heilung von Blutfluß an Hildegard wandte. Auf diese Bitte hin sandte Hildegard Sibylle einen Brief, in dem die Worte standen „In sanguine Ade orta est mors, in sanguine Christi exstineta est mors. In

eodem

sanguine Christi impero tibi, o sanguis, ut fluxum tuum contineas."2 Grundlage dieser Formel ist Rom 5,9-12, wo die Sünde Adams und das Blut Jesu Christi als Mittel der Erlösung typologisch einander gegenübergestellt werden. Zudem ist der biblische Bericht von der Heilung der blutflüssigen Frau durch Christus miteinzubeziehen (Mt 9,20-22; Mk 5,25-34; Lk 8,43-48). Durch diesen Bericht auf der einen und die Schilderung von Hildegards Heilung Sibylles auf der anderen Seite entsteht eine Art Christus-Hildegard-Typologie. Adolph Franz schreibt die Erfindung des Spruches Hildegard zu.3 Dann bringt er die interessante Notiz: „Derselbe ist uns jedoch nur in deutschen Fassungen des 15. Jahrhunderts begegnet; den lateinischen Text hat erst Johann Weyer (Wieras) in seinem Werke ,De praestigiis daemonum [et incantationibus ac venefieiis]' ([Basel] 1563) bekannt gemacht. Seitdem wurde dieser Text bei Blutungen sowohl in Deutschland als auch in England viel gebraucht."4 Die deutsche Fassung des Blutsegens aus dem 15. Jahrhundert lautet: In dem Blutt ade ist uf entsprungen der tod / In dem blutt xisti ist erlöschen der tod / in de[m] selben blutt xisti so gebutt ich dir o blutt das du dienen fluss verstellist in dem namen des vatter und des sons und des Hailigen gaistes amen und wenn

du dis

wortt

gesprachest so sprich drü pater noster und ave maria.

Hinzu kommt eine Fassung aus dem 16. Jahrhundert, die den Endreim det und dadurch noch volkstümlicher wirkt:

verwen-

Durch Adams blued erhuob sich der todt / durch Xristus blued starb er der todt / Ich gebuet dir blued, durch Xristus blued / daz du still stees und nit wieder gêst!

1

Vgl. Franz 1909,1, S. 85. 266. 308f. 394. 419f. 433. 436f. 442; II, S. 188. 259. 421. 484.

3

498. 511. 553-555. 566f. Vita Hildegardis 1993, III 10, S. 51 5-7. Franz 1909, II, S. 512.

4

Ebd.

2

Kapitel 7

388

Die

englische Fassung

findet sich ab dem 16. Jahrhundert. Sie lautet:

In the bloud of Adam death was taken + / In the bloud of Christ it was all to shaken + / And by the same bloud I doo thee charge, / That thou doo runne no

longer at large.1

Weyer (1516-1588) sollte in anderem Zusammenhang einmal gründlicher nachgegangen werden. Weyer, ein Calvinist und ab 1550 Leibarzt des Herzogs Wilhelm V. von Jülich, war Schüler des Agrippa von Nettesheim. Dieser zählte seinerseits zum Schülerkreis des Johannes Trithemius. Bekannt wurde Weyer als erster Bekämpfer des Hexenwahns. Weitere veränderte Fassungen des Spruches finden sich bis in das 1818 erschienene Browadem [=probatum]büchlein. Hierbei handelt es sich um ein medizinisches Rezeptbuch. Hildegards Schreiben an Sibylle ist außer in der Vita in zwei Schreiben überliefert, die zwischen 1154 und 1170 bzw. 1164 und 1170 in der Rupertsberger Schreibstube entstanden sind. Dabei handelt es sich um die sogenannte Zwiefaltener Briefhandschrift (WLB Stuttgart, Cod. theol. et phil. 4° 253, f. 57v und die Handschrift der ÖNB Wien Cod. 881, f. 22r).2 Eine ähnliche Beschwörungsformel findet sich auch in der Vita Sancti Disibodi. Dort heißt es in einem Wunderbericht, in dem der Heilige einem Stummen die Sprache wiedergeben möchte: Dem Hinweis auf Johann

In nomine illius, qui muto dixit ,Effate', et ille loqui coepit, tibi uinculum infirmitatis, quod linguam hominis huius debilitasti, praecipio, ut soluaris et hinc recé-

linguam eius ad loquendum impedias.3 Die Formel läßt erkennen, daß die Stummheit hier als Folge eines dämonischen das

nee

amodo

Wirkens betrachtet wird. Die Verbindung von Medizin und Dämonie erscheint innerhalb der Vita Hildegardis noch an anderen Stellen. Genannt sei die Heilung der Besessenen von Brauweiler, eine Episode, die in der Vita breit entfaltet wird. Auch diese Episode ist in einem entsprechenden Briefwechsel, den Hildegard mit dem Abt von Brauweiler, Gedolphus, führte, zusätzlich dokumentiert.4 Eine seit sieben Jahren besessene Frau (Sigewiza) ging nach Brauweiler, einer in der Nähe von Köln gelegenen Benediktinerabtei. Durch Fürsprache des hl. Nikolaus, des Patrons der Abtei, erhoffte sie, Genesung zu erlangen. Uber einen Zeitraum von drei Monaten hinweg wurde Sigewiza exorziert. Plötzlich erklärte der Dämon aus ihr heraus, er werde nur auf die Gebete eines alten, rheinaufwärts wohnenden Weibes weichen, das er spöttisch Scrumpelgardis nannte. Daraufhin wandte 1

Zit. nach Ebermann 1903, S. 78.

2

Vgl. Analecta, S. 521. Vita Disibodi 1855, Sp. 1105. Vgl. Vita Hildegardis 1993,

3 4

Sp. 278D-282A) [nicht

ediert in

III 20-22, S. 55-65;

Epistolarium I].

Hildegardis,

Briefe (PL 197,

Das naturkundlich-medizinische Werk

389

sich

Gedolphus, der Abt von Brauweiler, an Hildegard. Der von Hildegard gegebenen Antwort war eine Beschwörungsformel beigefügt. Sie lautet ego indocta et paupercula feminea forma, o blaspheme et derisor Spiritus, tibi dico in ilia ueritate, qua ego paupercula et indocta forma de lumine sapientie haec uidi et audiui, et per eandem sapientiam tibi precipio, ut de ista homine in uera stabilitate et non in turbine instabilitatis tue exeas.1 et

Nachdem diese Formel über die Besessene ausgesprochen worden war, sei der Dämon unter Geheul ausgefahren. Doch sei er, da man verabsäumt habe, von neuem ein Kreuz zu bezeichnen, wieder zurückgekehrt. Der Dämon erklärte, er werde nur in Anwesenheit der hl. Hildegard aus seinem Opfer weichen. So wurde die Frau auf den Rupertsberg gebracht. Der Dämon fing an zu toben und ereiferte sich in Schmähreden und unzüchtigen Worten. Sooft er Irrtümer von sich gab, korrigierte Hildegard ihn. Dieser Disput, hinter dem man unschwer das Gesprächsmodell des Priester-Teufel-Dialoges der Handschrift Dendermonde 9 (Anhang) erkennt, reichte von Maria Lichtmeß bis Karsamstag. Nach einer nochmaligen Beschwörung durch die Formel „Vade Satana, de tabernaculo corporis mulieris huius et da in eo locum spiritui sancto" sei der Dämon endgültig entwichen. Es bleibt festzuhalten, daß sich neben den großen medizinischen Schriften eine heilkundlich-dämonologische Sonderüberlieferung entwickelt hat, die sich an den exorzistischen Formeln festmachte und Eingang in verschiedene Volkssprachen fand. Diese Sonderüberlieferung ist vor allem in der Vita Disibodi, in den Briefen und in der Vita Hildegardis niedergelegt. 7.4

Zusammenfassung

natur- und heilkundliche Werk Hildegards bietet überlieferungsgeschichtlich betrachtet eine Reihe schwerwiegender Probleme. Zum einen ist dieses Werk von Hildegard selbst nur mit dem (zusammenfassenden ?) Titel Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum bezeichnet worden. Von dieser Schrift existiert (zumindest unter diesem Namen) kein einziger Textzeuge mehr. Erstmals in Gebenos Pentachronon (um 1222) und dann wieder im Protocollum canonisationis (um 1233) werden anstelle des Liber subtilitatum zwei getrennte Schriften genannt, der Liber simplicis medicinae und der Liber compositae medicinae. Richer von Sens gibt an, 1254 in Straßburg einen Hildegard zugeschriebenen (einbändigen?) Liber medicinalis ad diversas infirmitates gesehen zu haben, ohne daß diese Formulierung erkennen läßt, um welches Werk es sich dabei handelte. Ob dieser Band, wie Schrader/Führkötter (S. 55, Fußn. 46) ventilieren, die von dem Kanoniker Bruno im Vorfeld der geplanten Heiligsprechung Hildegards auf dem Rupertsberg angefertigte und in den Acta inquisitionis erwähnte Abschrift war, bleibt ungewiß. Sollte dies zutreffen, so könnte der

Das

1

Vita

Hildegardis 1993, III 21, S. 61

io6-62

in.

Kapitel 7

390

Band oder eine Kopie hiervon gleichzeitig die Vorlagenhandschrift der Straßburger Editio princeps des LSM von 1533 gewesen sein. Matthaeus von Westminster erwähnt im Jahre 1292 den LCM unter dem Titel Liber compositae medicinae de aegritudinis causis, signis ac curis. Die heutige Forschung nimmt an, daß die beiden Schriften des LSM und des LCM aus dem Liber subtilitatum hervor gewachsen sind. Dabei gilt der LCM in den Augen einiger Wissenschaftler (z. B. Irmgard Müller, Laurence Moulinier) mittlerweile lediglich noch als sekundäre Kompilation. Diese Kompilation könnte dadurch entstanden sein, daß große Teile des LSM in Einzelteile zerlegt und den Indikationen der Drogen gemäß zu einheitlichen Kapiteln ausgestaltet wurden, die für die Verwendung im Rahmen einer praktischen Heilbehandlung geeignet waren.1 Dieser Nukleus aus dem LSM könnte durch Hildegard nahestehende Kreise ergänzt und zu einem fünf bzw. sechs Bücher umfassenden Werk von loser Kohärenz ausgebaut worden sein. Äußerer Anlaß hierfür könnte der geplante Heiligsprechungsprozeß gewesen sein. Die älteste Spur des so zustande gekommenen LCM findet sich auf f. 103ra-va der Berliner Handschrift Ms lat. qu. 674. Dieses Fragment ist älter als der komplett erhaltene Textzeuge Hs Kopenhagen Ny kgl 90b 2°. Es stammt von der Hand des LuccaSchreibers (1220/30), ist also dem Umfeld der geplanten Heiligsprechung zuzuordnen. Auffällig für beide Textzeugen des LCM, den vollständigen und den fragmentarischen, ist der kalligraphische oder repräsentative Charakter dieser Handschriften. Von ihrem äußeren Erscheinungsbild erwecken sie nicht, oder zumindest nicht in ihrer Urform, den Eindruck von Gebrauchshandschriften. Sie unterstützen damit die These einer panegyrischen Entstehungsintention des LCM. Der LSM andererseits repräsentiert in Gestalt des um 1292 entstandenen Florentiner Textzeugen Ashb. 1323 zumindest approximativ vermutlich den verschollenen LSu. Hierbei ist darauf hinzuweisen, daß eine Identität beider Werke sich faktisch nicht beweisen läßt. Es fehlt ein Textzeuge des LSu, und der frühest erhaltene vollständige Textzeuge des LSM ist erst ca. 140 Jahre nach dem LSu entstanden (1292). Diese überlieferungsgeschichtliche Lücke kann zur Zeit nicht oder nur auf dem Weg der Hypothesenbildung geschlossen werden. Resümiert man den derzeitigen Forschungsstand, so hat hat die Ausdifferenzierung des unter Hildegards Namen überlieferten natur- und heilkundlichen Werkes drei Hauptstufen durchlaufen: 1.) Zu Beginn stand gewissermaßen als produktive Keimzelle der vor 1163 abgeschlossene LSu. Dieser ist möglicherweise aus einem selbständigen älteren Herbarium hervorgewachsen, das zu einer naturkundlichen Enzyklopädie ausgebaut wurde. -

-

-

-

1

-

-

Blickt man auf die im 13. Jahrhundert entstandene Spruchdichtung des Freidank, so läßt sich ein literarisches Gegenbeispiel dafür anführen, wie ein ursprünglich nicht geordnetes Textmaterial durch den Prozeß der Uberlieferung in bestimmte Formen gebracht wurde. Auch die Glossa ordinaria könnte hierfür herbeizitiert werden.

Das naturkundlich-medizinische Werk

391

2. ) Hieraus ist auf einer zweiten Stufe der LCM entstanden. Die erhaltenen Textzeugen des LCM reichen nicht in autornahe Zeit zurück. Es ist daher mög-

lich, ja wahrscheinlich, daß dieser Prozeß

erst in der Zeit nach Hildegards Tod Abschluß des Pentachronon (also zwischen 1180 und 1220/22) stattgefunden hat. Der LCM wurde zum Teil durch Ausgliederung und Bearbeitung aus dem LSu (Buch 3 und 4), zum Teil aus anderen Materialien kompiliert. Diese anderen Materialien bedürfen der genauerer Identifizierung. Sie verweisen nur teilweise in den Gedanken- und Schriftenkreis Hildegards (Parallelen zum LDO; bis dato nur unfertig vorliegende Hildegardiana bzw. [Pseudo-JHildegardiana), teilweise sind sie aus vergleichbaren natur- und heilkundlichen Werken der Epoche geschöpft (Empfängnis-Lunar). Der LSu seinerseits existierte überlieferungsgeschichtlich betrachtet im LSM (Florentiner Textzeuge) fort. 3. ) Die dritte Stufe, die sich zeitlich nicht genau fassen läßt, bestand darin, den LSM mit Hilfe von Kapiteleinteilungen, Indikationenregistern und Übertragungen deutscher Wörter in die lateinische Fachsprache zu einem medizinisch-pharmakologischen Gesundheitsbuch für die Praxis auszugestalten. Bei all diesen Überlegungen ist, wie angedeutet, zu berücksichtigen, daß auch der älteste erhaltene vollständige Textzeuge des LSM, die Florentiner Handschrift Cod. laur. Ashb. 1323, überlieferungsgeschichtlich noch etwa 140 Jahre von der Entstehung der ursprünglichen Fassung des LSu entfernt ist. Zur Frage, welche Entwicklung der Text während dieser Zeit genommen hat, läßt sich derzeit nichts aussagen. Sie ist aber als ein grundsätzliches Problem der Textkritik dauerhaft im Blick zu halten. Ob der LSM seinerseits aus zuvor selbständig existierenden Teilen zusammengefügt wurde (etwa Herbarium, Steinbuch), ist, obwohl manches für diese Auffassung spricht, gleichfalls nicht abschließend zu beantworten. Erschwerend kommt hinzu, daß der Riesencodex, die Ausgabe letzter Hand von Hildegards Schriften, das natur- und heilkundliche Werk nicht überliefert. Möglicherweise beruht dies auf einem Zufall ein ergänzender zweiter Teil des Riesencodex könnte an anderer Stelle im Kloster, etwa in der Infirmarie, aufbewahrt worden sein -, möglicherweise erfuhren das natur- und heilkundliche Werk auch eine geringere Wertschätzung durch Hildegard und/oder das Rupertsberger Skriptorium. Letztendlich ist nicht auszuschließen, daß dieses Werk sich zu Lebzeiten Hildegards wirkungsgeschichtlich gegen die starke Konkurrenz etablierter Autoren (Macer, Ortolf von Baierland, Circa instans) nicht durchsetzen konnte. Fest steht, daß das natur- und heilkundliche Werk keine in die Lebzeiten Hildegards zurückreichende Überlieferung besitzt. Der älteste und kompletteste Textzeuge des Liber simplicis medicinae, die Florentiner Handschrift Cod. laur. Ashb. 1323, ist vermutlich kurz vor dem 15. Dezember 1292 abgeschlossen worden, eine Datierung, die so von der Forschung bislang nicht vorgenommen wurde. Er wurde in der Abtei TrierSt. Matthias hergestellt und diente zur Grundlage der medizinischen Versorgung einer zum Fernbesitz der Abtei gehörenden Außenstelle in Villmar. Dieser Textzeuge, der im Rang einer Leithandschrift steht, ist noch nicht ediert.

und

vor

-

392

Kapitel 7

Der Liber compositae medicinae liegt lediglich in einem einzigen vollständigen Textzeugen vor, der um 1300 in Trier-St. Maximin entstandenen Hand-

schrift Kopenhagen Cod. Ny kgl. 90b 2°. Auch er ist noch nicht kritisch ediert. Daneben ist ein Fragment aus dem möglicherweise nach Hildegards Tod fragmentierten Buch 1 des LCM vorhanden, das in der Berliner Handschrift Ms lat. qu. 674, f. 103ra-va überliefert ist. Dieser Text stammt vom Schreiber des berühmten Lucca-Codex, ist also um 1220/30 entstanden. Die Verquickung des Z,CM-Exzerpts mit einem weiterführenden natur- und heilkundlichen Teil (f. 104ra-116ra) knüpft an Hildegards Schriften an. Ob sie von Hildegard selbst stammt, bedarf weiterer Untersuchungen. Jedenfalls bietet dieses Fragment eine höchst interessante Verbindung zwischen der visionären und der naturkundlichen Gedankenwelt der Autorin. Gleiches gilt für andere Teile des LCM, insbesondere Buch 1 und 2, die Parallelen zum LDO aufweisen. Die Wirkungsgeschichte von Hildegards naturkundlichen Schriften im Mittelalter ist wesentlich geringer als jene der visionären Werke. Dies trifft sowohl hinsichtlich der Anzahl wie der Qualität der überlieferten Textzeugen zu. Ob Wolfram von Eschenbach, wie von einzelnen Forschern behauptet, sich von einer Passage über das Einhorn in Hildegards LSM anregen ließ, muß in Zweifel gezogen werden. Johannes Trithemius hat die natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards nicht in seine umfangreichen, auf dem Rupertsberg angefertigten Kopien von Hildegards Schriften aufgenommen, er führt sie aber in seinen Schriftstellerkatalogen unter Hildegards Werken auf. Blickt man auf die Überlieferungsgeschichte des LSM, so zeigt sich, daß im 14. und 15. Jahrhundert auffällig viele, z. T. nur fragmentarisch überlieferte Textzeugen entstanden sind. Sie wanderten in den Besitz von Chirurgen und praktizierenden Ärzten. Auch im Bereich der Kochkunst (Diätetik) und der (deutschsprachigen) Herbarien spielten Hildegards naturkundliche Schriften eine Rolle. Hier ist auf deutsche Übersetzungen und bearbeitete Kompilationen mit Texten anderer medizinischer Autoritäten hinzuweisen (Macer, Circa instans). Zu nennen sind das Kochbuch Meister Eberhards (UB Augsburg, Hs III, 1, f. 43), das Speyerer Kräuterbuch (StBPrK, Ms germ. f. 817) sowie ein deutschsprachiger Anhang zum Pariser Codex 6952 (f. 232v-238v). Letzterer beinhaltet auch vier deutschsprachige Rezepte aus dem LCM. Hinsichtlich ihrer Übersetzung in die Volkssprache (hier ins Deutsche) ist die Wirkung der naturkundlichen Schriften wiederum lebhafter als die der visionären Werke, bei denen solche Übersetzungen fehlen. Das Speyerer Kräuterbuch läßt Barbara Fehringer und Gundolf Keil zufolge erkennen, daß das Buch De herbis aus dem LSM bereits um 1200 ins Deutsche übersetzt wurde, eine Forschungsmeinung, der Bernhard Schnell skeptisch gegenübersteht. Eine Berücksichtigung des naturund heilkundlichen Werkes im Kreise der akademischen, universitären Medizin des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit kann nur sehr eingeschränkt nachgewiesen werden. Fachärzte aus dem Umfeld der Universität Heidelberg bzw. der Rheinachse sind hier als Hauptnutzer zu bestimmen. Interessant ist,

Das naturkundlich-medizinische Werk

393

daß die akademisch-fachärztliche Verwendung des Textes den umgekehrten Weg beschritt und die volkssprachliche Rezeption gerade nicht unterstützte : es kam zur Ubersetzungen deutscher Wörter ins Lateinische. Die neuzeitliche Überlieferungsgeschichte der natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards beginnt mit dem Erstdruck des 1533 bei Schott in Straßburg erschienenen LSM [Physica]. Die Editio princeps des LCM wurde auf der Grundlage der Kopenhagener Handschrift Ny kgl. 90 b 2° im Jahre 1903 von Paul Kaiser veranstaltet, eine Ausgabe, die philologisch nicht befriedigen kann. Insgesamt ist durch eine Reihe von Neufunden sowie durch die aktuellen Forschungen an den Textzeugen des 14./15. Jahrhunderts die Frage nach dem auktorialen Anteil Hildegards an den unter ihrem Namen überlieferten naturkundlichen Texten mit neuer Vehemenz aufgebrochen.

ZWEITER TEIL HILDEGARDS WERKE IM SPIEGEL IHRER REZEPTION

KAPITEL 1

Hildegard

in den chronikalisch-annalistischen

des

Schriften

Mittelalters

Wir verlassen nunmehr die handschriftliche Überlieferung der Werke Hildegards und wenden uns der Rezeption Hildegards in anderen Schriften des Mittelalters zu. Grundsätzlich gilt hierbei, daß Untersuchungen zur Frage nach dem Fortleben Hildegards im Schrifttum des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, ebenso wie zur Frage nach der Überlieferung ihrer Werke durch den frühen Buchdruck, relativ selten sind.1 Der Grund hierfür scheint auf der Hand zu liegen: bei dem Versuch, die authentische Textgestalt der Schriften Hildegards zu eruieren, standen die Handschriften als älteste Traditionszeugen naturgemäß im Vordergrund. Die Druckwerke als Sekundärprodukte der Überlieferung und die Testimonien des außer-hildegardischen Schrifttums gerieten hierdurch in den Hintergrund. Außerdem genossen die autorennahen, handgeschriebenen Codices gegenüber den entstehungsgeschichtlich ferner liegenden, maschinengefertigten Drucken und den oft auf purer Fama beruhenden Berichten Dritter gewissermaßen aus grundsätzlichen Erwägungen heraus eine höhere Dignität. Unter wirkungsgeschichtlichen Gesichtspunkten betrachtet, stellt sich die angesprochene Sachlage, d. h. das Verhältnis von Primärüberlieferung und Rezeption dieser Primärüberlieferung im literarischen Leben der Nachwelt, allerdings ein wenig anders dar. Hier ist zum Beispiel die Frage, ob und wenn ja, wann es zu gedruckten Editionen einzelner Werke Hildegards (bzw. „Pseudo-Hildegards") kam, durchaus von Belang.2 Selbst die Frage, warum es im Einzelfall nicht oder erst vergleichsweise spät zu solchen gedruckten Editionen kam, muß die Hildegard-Forschung interessieren. Erlaubt sie doch im Sinne einer Schlußfolgerung e silentio Rückschlüsse auf konkurrierende Strömungen der Zeit, die eine Rezeption der Gedanken Hildegards erschwert, verzögert oder verhindert haben könnten. Gleiches gilt für die Präsenz Hildegards im Schrifttum anderer Autorinnen und Autoren der Epoche. Wie läßt sich die Bedeutung Hildegards aufgrund von Zitationen und Nennungen in Schriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit umschreiben ? Kann man Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten zur handschriftlichen, von Hildegard selbst inaugurier-

-

1

Was den letztgenannten Aspekt betrifft, so seien folgende Beiträge genannt: Van der Linde 1877, S. 25-27. Roth 1887, besonders S. 25f. Wieland 1907. Schrader/Führkötter 1956, S. 17 Anm. 72. Schwitzgebel 1979. Von grundlegender Bedeutung Jürgensmeier 1979. Meier 1990b. Zu Pseudo-Hildegard vgl. Jenks 1977. Struve 1977, S. 82-84, weist auf die Bedeu-

-

-

-

-

2

tung Hildegards für die Entwicklung der Vorstellung eines über die Kirche hereinbrechenden Strafgerichts im 15. Jahrhundert hin. -

Kapitel 1

398

Textüberlieferung aufzeigen ? Ist Hildegard tatsächlich, wie es das gänzliche von Inkunabelausgaben ihrer Werke insinuiert, nach dem gescheiterten Kanonisationsprozeß von 1233 in ein rezeptionsgeschichtliches Loch gefallen? Zum Gegenstandsbereich der hier angeschnittenen Problematik zählt letztendlich auch die Frage nach dem Auftauchen Hildegards im Bereich der nichtauthentischen, apokryphen oder pseudepigraphischen Hildegard-Literatur. Dabei soll insbesondere auf einige polemische Drucke des 16. Jahrhunderts hingewiesen werden, die sich mit dem Namen Hildegards verbanden, ohne tatsächlich von ihr zu stammen. Auch sie bilden einen wichtigen, bislang weitgehend vernachlässigten Bereich der Rezeptionsgeschichte. Im Grunde genommen verdienten diese Schriften, zu denen hier nur erste Inventarisierungshilfen gegeben werden können, eine eigene Spezialuntersuchung. ten

Fehlen

1.1

Vorbemerkungen

Es ist bereits im Zusammenhang der Erörterungen zur Überlieferungsgeschichte des Scivias darauf hingewiesen worden, daß die älteste Druckausgabe einer Schrift Hildegards, eben jene des Scivias, erst relativ spät, genauer gesagt zu Beginn des 16. Jahrhunderts (1513), veröffentlicht wurde. In der sogenannten Inkunabelzeit, d. h. in der Frühzeit des Buchdrucks, die von der Erfindung der

Druckkunst

um 1450 bis zum Jahr 1500 einschließlich reicht, wurde Hildegards überraschenderweise nicht gedruckt. Auch ihre übrigen Schriften Hauptwerk wurden vom frühen Buchdruck nahezu vollständig ignoriert.1 Streng genomaus einer explizit druckhistorischen Perspektive heraus men lassen sich betrachtet nur einige rezeptionsgeschichtliche Marginalien eruieren. So wird Hildegards Brief an den Klerus von Köln in einer 1474 erschienenen Ausgabe des Speculum historiale Vinzenz' von Beauvais erwähnt.2 Und eine 1496 bei Johann Froschauer veröffentlichte Ausgabe der Revelationes des Pseudo- Methodius (Hain 11120) beinhaltet auf f. e 4v ein apokryphes Zitat aus Hildegards Prophezeiungen. Wobei die Kontamination Hildegards mit anderem Pro-

-

-

1

Freundliche Auskunft von Herrn Dr. Holger Nickel (Zentralredaktion für die Herausgabe des Gesamtkataloges der Wiegendrucke, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz) vom 4.9.1997. In der Tat kam, wie erwähnt, Hildegards Liber simplicis medicinae [Physical erst 1533 (Straßburg: Johann Schott) als gedrucktes Werk heraus. Die Briefe erschienen 1566 in einer von Justus Blanckwald besorgten Teilausgabe (Köln: Johann Quentel). Der Liber divinorum operum wurde 1761 von Giovanni Domenico Mansi erstmalig veröffentlicht, der Liber vitae meritorum gar erst 1882 in einer von Kardinal Johann Baptist Pitra veranstalteten Edition. Der Hinweis auf diesen Hildegard-Brief [= Epistolarium I, Ep. XVr] erscheint im Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais (Ausgabe Douai 1624), T. 4, Buch XXVII, Cap. LXXXIII, S. 1125. Auch im Epilog zum Speculum historiale erwähnt Vinzenz Hildegard: Epilogus Speculi historialis continens tractatum de ultimis temporibus, Cap. CVIII („De quibusdam dictis Ioachim & sancte Hildegardis"). Vincentius Speculum historiale. -

2

Hildegard in den chronikalisch-annalistischen Schriften

399

für die Überlieferung des späten Mittelalters durchaus typisch ist.1 Ein weiteres Beispiel für die Präsenz Hildegards in Druckwerken der Inkunabelzeit liefert die von dem Nürnberger Arzt und Humanisten Hartmann Schedel (1440-1514) 1493 herausgebrachte Weltchronik (Liber chronicarum). Auf f. e 4v der deutschen Ausgabe vom 23. Dezember 1493 erscheint eine mit kurzem Begleittext versehene Abbildung. Sie zeigt Hildegard in typisierter Darstellung als Jungfrau mit langen offenen Haaren sowie mit Palmzweig und Nimbus. Die gleiche Darstellung findet sich in der Schedeischen Weltchronik aber auch für andere Heilige und Selige. Den Bildattributen Palmzweig (Martyrium) und Nimbus (Heiligkeit) ist daher keine große Bedeutung beizumessen. Auch der Begleittext zu dieser Abbildung (hier zitiert nach der lateinischen Ausgabe vom 12.Juli 1493) klingt recht unverbindlich: „Hildegardis virgo admirabilis spiritus habuit prophétie."2 In ganz ähnlicher Weise bringt die im Jahre 1499 bei Johann Koelhoff d. J. gedruckte Koelnische Chronik einen kurzen Passus über Hildegard (f. CLXIXv). Hildegard wird darin als „eyn gestanden jonffer von iairen" bezeichnet, die viel über zukünftige Dinge geschrieben habe.3 Schließlich sei auf eine im Jahre 1481 bei Konrad Zeninger in Nürnberg

phetiegut

1

Der Verfasser der Revelationes gibt sich als Methodius, Bischof von Olympus, später von Tyrus und angeblich auch von Patara aus. Er soll unter Diocletian in Chalcis den Märtyrertod erlitten haben. In Wirklichkeit wurden die Revelationes im letzten Drittel des 7. Jahrhunderts, vielleicht in Byzanz, geschrieben. Bald darauf übersetzte sie Petrus, ein Mönch syrischer Herkunft, aus dem Griechischen ins Lateinische. Diese lateinische Fassung erlangte im Westen große Wirkung. Sie wurde zu einem bedeutenden Vermittler antiken und orientalischen Offenbarungsgutes. Im 15. Jahrhundert entstanden insgesamt fünf lateinische (H 11119-11122, 11124) und ein deutschsprachiger Wiegendruck (H 11123). Methodius Revelationes. Im Text der Inkunabel wird Hildegard mit der Wendung zitiert: „Proprer tyrannidem prineipum & cupiditatem prelatorum ecclesia percussa est ut vidua" (f. e 4v). Zu Pseudo-Methodius vgl. Sackur 1898. Kmosko 1931. Rudolf 1976. Es erscheint konsequent, daß die Revelationes weder in der Clavis Patrum Graecorum unterden Spuria des Methodius noch in der Patrologia Graeca (Bd. 18) berücksichtigt sind. Vgl. hierzu Wilhelmy 1998b. Mews 1998, S. 89. Im erläuternden Text schreibt Schedel: „Hildegardis ein iunckfraw guots alters hat in teutschen landen bey dem Rheyn wunderperlicher weyse gereichßnet [geblüht], vnnd het auß götlicher kraft die gnad. das sie (wiewol sie ein layin vnd vngelert was) offt wunderperlich im schlaff -

-

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2

-

3

entzugt. lernet nicht allain latein reden sunder auch schreyben vnnd tichten. also das sie ettliche bûcher cristenlicher 1ère machet. Von der sagt man, das sie künftige ding verkünndet hab. Ir hat auch sannt Bernhart ettliche brieff geschriben. So hab sie auch an die von Cölne von künftiger betrübnus der pfafheit geschriben. wie die pfafheit ere vnd ruom on verdienst, vnd verdienstnus on das werck haben wollen." (Schedel Liber, f. CCIv). Schedels Informationen über Hildegard greifen zurück auf das Speculum Historiale des Vinzenz von Beauvais). Hier der gesamte Passus: „Sent Hildegardis tzo Byngen [Überschrift]. Sent Hildegart eyn gestanden jonffer van iairen in Duytschlant was eyn hillige persoin. Die schreiff vill wunderlicher ind zokunfftiger dynge. Ind als men saget so schreiff sent Bernart

Kapitel 1

400

erschienene Schrift der hl. Birgitta von Schweden (1303-1373) hingewiesen. Sie trägt den Titel Onus mundi (dt. Ausgabe: Bürde der Welt) und enthält einen kurzen prophetischen Text Hildegards bzw. Pseudo-Hildegards (s. u.).1 Die Ignoranz der Inkunabelzeit den Werken Hildegards gegenüber gewinnt an Bedeutung, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in diesem Zeitraum ca. 27.000 verschiedene Titel (inklusive der späteren Auflagen) unter die Presse wanderten. Auch von den insgesamt zehn noch vorhandenen vollständig überlieferten handschriftlichen Textzeugen des Scivias wurde nur ein einziger im 15. Jahrhundert hergestellt, jener des sogenannten Trierer Scivias.2 Alle anderen entstanden früher, die meisten, nämlich sechs, im 12. Jahrhundert. Hinzu kommt eine aus dem 15. Jahrhundert stammende Ubersetzung des Scivias ins Tschechische. Für den Liber vitae meritorum kann nur ein einziger, noch dazu unvollständiger, Textzeuge aus dem 15. Jahrhundert nachgewiesen werden (Hannover, NLB, Cod. XIII 859), für den Liber divinorum operum sind es zwei

1 2

ouch brieff an Sij. Disse selve Hildegart schreve ouch vill zokunfftiger dynge zo der paffschaft zo Coellen van der zo körnender tribulacien der server paffschaft. ind licht begrave[n] in dem Cloister genant Up sent Robertz berch by Bingen up dem Rijn. Ich vinden ouch alsus geschrevefn] van der vernoempde[n] jonfferen sent Hildegart dat sent Hildegart geborefn] sij by den tzijde[n] des pays Eugenuis [!] des üj. und keyser Henrichs des iiij. do Buggo bysschoff zo Wormß was und Henricus bysschoff tzo Mentz anno dni MC. ind levede LXXXij iair. ind is begrave[n] up sent Robertz berch XV. kal. Octobris by Keyser Frederichs zijde[n] des erste[n]. Ind dae is ouch begravefn] sent Robert mit sijnre [!] moder Bertha ind Witbertus eyn confessoir. welche berch yn zo behoirte van rechts erffgetzails wegen." Vgl. GW 4400. Das Werk erschien zunächst in Latein, dann in Deutsch. Es wurde wiederholt nachgedruckt. Dabei handelt es sich um eine Papierhandschrift von 518 folia, die unter der Signatur Hs 722/277 in der Stadtbibliothek Trier liegt. Das Sammelwerk enthält auf f. l-120r einen Liber epistolarum S. Hildegardis virg, auf f. 121r-293r den Liber Hildegardis de

operatione

Dei sowie auf f. 294r-518v den Scivias. Die Niederschrift des Scivias

wurde, wie ein Vermerk auf f. 518v beweist, im Jahre 1487 abgeschlossen. Kopist war Ewaldus Molner, Mönch der Kartause St. Beatus bei Koblenz, zu deren Besitz die Handschrift zählte. Als

Vorlage benutzte

Ewaldus eine im Jahre 1210

fertiggestellte

Scivias-Abschnh, die ein Priestermönch namens Otto aus der Abtei Trier-St. Eucharius unter dem Abbatiat des Abtes Gottfried (1190-1210) angefertigt hatte (heute Bernkastel-Kues, Bibl. des St.-Nikolaus-Hospitals, Cod. 63). Gottfried hatte als Kaplan seines Vorgängers Abt Ludwig Hildegard bereits bei der Vollendung des

Liber divinorum operum geholfen. Neben dieser vollständigen Scivias-Nbscnnh entstand im 15. Jahrhundert noch eine Sammelhandschrift mit Exzerpten verschiedener Hildegardschriften (Niedersächsische Landesbibliothek, Ms XIII 859). Sie enthält Teile des Scivias, des Liber Vitae Meritorum, des Liber Divinorum Operum und der Vita. Dieses Sammelwerk wurde 1419 auf der Grundlage des Riesencodex angefertigt, den der Kopist auf dem Rupertsberg benutzte. Aus dem Scivias sind folgende Teile erfaßt: I 3, Kapitel 23 und Kapitel 30 (auszugsweise); I 4, Kapitel 7 sowie Kapitel 30 (929-942; 946-953); II 6, Kapitel 64 und 65.

401 Hildegard in den chronikalisch-annalistischen Schriften (allerdings vollständige) Abschriften (Trier, StB, Hs 722/277 4° und London, BL, Cod. Add. 15418). Eine etwas stärkere Verbreitung erfuhr lediglich das Epistolarium mit drei umfassenden Abschriften (Trier, StB, Hs 722/277 4°; London, BL, Cod. Add. 15102 [Abschrift aus dem Riesencodex] sowie London, BL, Cod. Harl. 1725 [ebenfalls Abschrift aus dem Riesencodex]). Die große Zeit der

scheint aber im 15. Jahrhundert endgültig vorbei gewesein. sen zu Die entscheidende Frage lautet nun: welche Rückschlüsse können aus diesem Befund gezogen werden? Deutet die im 13. Jahrhundert einsetzende und sich im 14. und 15. Jahrhundert fortsetzende Flaute in der Produktion (und damit in der Rezeption?) von kompletten Abschriften des Scivias und der anderen Visionsschriften auf einen generellen Bedeutungsrückgang Hildegards hin ? Eine Frage, die nur dann sinnvoll zu beantworteten ist, wenn die namentliche und textliche Präsenz Hildegards in anderen Schriften der Zeit mit in den Gesamtbefund eingebracht wird. Der folgende Überblick versucht, die eingangs formulierte Frage nach dem Weiterleben Hildegards im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit anhand von konkreten Hinweisen auf die rezipierenden Autoren und Texte zu beantworten. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann dabei nicht erhoben werden, ist aufgrund der in unserer Studie vorgenommenen Schwerpunktsetzung auf der handschriftlichen Textüberlieferung aber auch nicht erforderlich.1 Zur Methodik der Darstellung sei angemerkt, daß das eruierte Material in grob entwicklungsgeschichtlicher Anordnung dargeboten wird. Hierdurch soll einer künstlichen Systematisierung post festum etwa nach Schriftengattungen entgegengewirkt werden. Das Mittelalter kannte eben keine strikte Trennung von annalistisch-chronistischen Werken einerseits und apokalyptischen Werken andererseits: die Apokalypse war stets konstitutiver Bestandteil der Weltgeschichte. Die Hildegard-Kompilation des Gebeno von Eberbach (Pentachronon) bleibt aus den Erhebungen so weit es geht ausgeschlossen. Sie stellt einen eigenen Strang der Überlieferung von Hildegards Werk dar, der in einer von José Carlos Santos Paz angekündigten Spezialuntersuchung auch eine eigene Aufarbeitung erfahren wird.

Hildegard-Abschriften

-

-

-

Hildegards Lebzeiten Versucht man zu ermitteln, ob Hildegard im Vorfeld der Inkunabelzeit tatsächlich in ein rezeptionsgeschichtliches Loch gefallen ist, so zeigt schon ein bloß impressionistisch gearteter Überblick, daß dies keineswegs der Fall war. Eher trifft das Gegenteil zu. Hildegards Stimme war in der geistigen Landschaft des beginnenden 13. bis endenden 16. Jahrhunderts so vertraut, daß sie zu den fraglos akzeptierten Autoritäten der Zeit gehörte. Ihre prophetisch-eschatolo1.2

Rezeptionszeugnisse

1

Ich verweise auf Stein

i.

aus

parallele

(Freiburg Br.).

und

ergänzende Forschungen

von

Frau Prof. Elisabeth

Kapitel 1

402

sowie kirchen- und gesellschaftskritischen Äußerungen wurden auf breiter Front rezipiert oft allerdings im Gewände einer radikalen Adaption. Im Mittelpunkt stand dabei immer wieder die Aussage vom „tempus muliebre". Sie erscheint in Scivias, Buch III, Cap. 10 und 11 und ist von dort aus in das Pentachronon hineingewandert. Diese Formulierung beschreibt Hildegards eigene Gegenwart als eine Zeit weibischer Schwäche. Sie bietet den Anknüpfungspunkt für eine umfassende Konzeption zur Periodisierung der Endzeit. Demnach wurde das „tempus muliebre" um das Jahr 1100 durch einen Tyrannen (Heinrich IV.) inauguriert; es findet sich im Bild des feurigen Hundes symbolisiert. Doch bedeutet diese Epoche noch nicht den endgültigen Untergang. Zuvor sind vier weitere Zeitalter zu erwarten: die Zeit des gelben Löwen, die nach einem Strafgericht über die verdorbene Geistlichkeit Frieden und Fruchtbarkeit bringt, die Zeit des fahlen Pferdes, die mit dem Einbrechen fremder Völker beginnt und einen ständigen Wechsel von Krieg und Frieden nach sich zieht, die Zeit des schwarzen Schweines, in der die Ketzerei überhandnimmt und der Antichrist geboren wird, und schließlich die Zeit des grauen Wolfes, die durch das siegreiche Auftreten Christi gekennzeichnet ist. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß sich dieses allegorische Geschichtsbild, maßgeblich beeinflußt durch die starke Streuung des Pentachronon, langfristig zum Allgemeingut mittelalterlicher Apokalyptik und Geschichtsanschauung fortentwikkeln konnte. Erste wirkungsgeschichtliche Reaktionen auf Hildegards Schriften stammen noch aus den Lebzeiten der Rupertsberger Äbtissin. Sie sind von herausragender Bedeutung, da sie nicht aus Kreisen herrühren, die Hildegard in besonderer Weise nahegestanden hätten. Johannes von Salisbury (ca. 1115-1180) richtete im Jahre 1167 ein in der BriefSammlung des Thomas Becket (1118-1170) zu findendes Schreiben an Girardus de Pucelle1, das er mit folgenden Worten schloß:

gischen

-

1

Girardus wurde zwischen 1115 und 1120 in England geboren. In Frankreich studierte er als Schüler des Johannes von Salisbury Philosophie. Vor 1156 wurde Girardus in Paris Lehrer (Magister) der Theologie sowie beider Rechte. Darüber hinaus genoß er hohes Ansehen am Hofe des französischen Königs Ludwig VII. Nach 1162 begab sich Girardus nach England und zählte bald zum engsten Kreis um Thomas Becket. Dieser gewährte Girardus als erstem ein Beneficium. Girardus scheint Thomas Bekket ins Exil gefolgt zu sein, doch entschloß er sich 1165 oder 1166, nach Deutschland zu gehen, wo er während des Schismas eine zwielichtige Rolle spielte. Dies führte zur Entfremdung mit Thomas Becket und Johannes von Salisbury. In Köln trieb Girardus vermutlich juristische Studien. Zu dieser Zeit befand sich in der rheinischen Stadt ein bedeutendes Zentrum kanonistischer Forschung und Lehre. Nach der Aussöhnung mit Becket ging Girardus nach Frankreich zurück und nahm dort (1168?) seine Lehrtätigkeit wieder auf. Außerdem stand er von 1174 bis 1183 in Diensten Erzbischof Richards, des Nachfolgers von Thomas Becket. Im Jahre 1183 wurde Girardus Bischof von Coventry und Lichfield. Er starb vermutlich im Jahre 1184. Zu Girardus vgl. Kuttner/Rathbone 1951, S. 296-303. Hohenleutner 1953, S. 44f. -

-

den chronikalisch-annalistischen

403 Schriften visiones et oracula beatae illius et celeberrimae Hildegardis [quae] apud vos sunt [mittite] quae mihi ex eo commendata est et venerabilis, quod earn dominus Eugenius speciali charitatis affectu familiarius amplectebatur. Explorate etiam diligentius et rescribite an ei sit de fine hujus schismatis aliquid revelatum. Praedixit enim in diebus papae Eugenii, quod non esset nisi extremis diebus pacem et gra-

Hildegard in

...

tiam in urbe habiturus.1

von Salisbury an Girardus de letzterer sich Köln eine wo Pucelle nach Zeitlang aufhielt. Marianna Schräging, der und Adelgundis Führkötter heben hervor, daß der Ruf Hildegards zu dieser Zeit bereits weit rheinabwärts gedrungen sei. Alfred Haverkamp hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß die topographisch und verkehrsstrategisch günstige Lage des am Zusammenfluß von Nahe und Rhein gelegenen Klosters Rupertsberg einen bedeutenden Einfluß auf die Entfaltung von Hildegards Wirksamkeit, Ruf und Schrifttum hatte.2 Von daher darf es nicht verwundern, daß Girardus die Schriften der Seherin besaß.3 Allerdings fällt auf, daß der Brief des Johannes von Salisbury eine gewisse Detailkenntnis von Hildegards Persönlichkeit, ihren Schriften und ihren Beziehungen zu Papst Eugen III. erkennen läßt. Das Schreiben stammt aus einer Zeit, da Johannes nicht mehr in England weilte, sondern bereits nach Frankreich übergesiedelt war. Seine Kenntnisse über Hildegard und ihr Werk dürfte er sich jedoch während seiner Tätigkeit in England erworben haben. Johannes von Salisbury war Sekretär und Begleiter der Erzbischöfe Theobald von Canterbury und Thomas Becket. Theobald wiederum war von seinem König wiederholt mit Gesandtschaften an den päpstlichen Stuhl auch an Eugen III. betraut worden. Diese Beziehungen nach Rom verstärkten sich nach dem Tode Papst Anastasius' IV. noch, als mit Hadrian IV. ein Engländer die Cathedra Petri bestieg. Vermutlich aufgrund seiner Aktivitäten am päpstlichen Hof hat Johannes von dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Eugen III. und Hildegard Kenntnis erlangt. Sein Wunsch, über die Visionen Hildegards unterrichtet zu werden, kann sich im übrigen nur auf den Scivias, auf die Briefe sowie auf den 1163 fertiggestellten Liber vitae meritorum bezogen haben. Der Liber divinorum operum lag noch nicht vor. Immerhin stellt die Bitte des Johannes von Salisbury um Übersendung der „visiones et oracula" Hildegards ein sehr frühes Zeugnis für die Rezeption der prophetischen Schriften Hildegards dar. Daß dieses Zeugnis von der Nachwelt offenbar hoch geschätzt wurde, beweist ein Hinweis auf das

Es ist

anzunehmen, daß der Brief des Johannes

-

1

Zit. nach PL 199, Sp. 220C [= Ep. 199 des Johannes von Salisbury]. Der Brief findet sich bereits in den Annales des Caesar Baronius auf das Jahr 1148. In dieser Fassung zitiert ihn J. Stilting innerhalb der AA.SS, V, S. 629-701. Auch in PL 197, c. 28 Nr. 34 erscheint der Text, allerdings mit der Briefnummer 171. Weitere Zitationen bei LlEbeschütz 1930, S. 5, bei Schmeidler 1941, S. 338, sowie bei Schrader/Führköt-

1956, S. 7. Haverkamp 2000. Schrader/Führkötter 1956, S. 7.

ter

2 3

-

Kapitel 1

404

Interesse des Johannes von Salisbury an Hildegard in der Vorrede zu der im Jahre 1628 erschienenen zweiten Druckausgabe des Scivias. Dort wird die ent-

sprechende Briefpassage Girardus de Pucelle Virorum zitiert.1

unter

dem Schreiben des Johannes von Punkt VI der Elogia quaedam Ecclesiae

aus

Salisbury

ac

an

Doctorum

Eine weitere zeitgenössische Nachricht über Hildegard findet sich in der Chronik des sogenannten Wilhelm Godell. Bei dem anonym bleibenden Chronisten handelt es sich um einen Zisterzienser, der zeitweise in der Abtei Pontigny bei Autun lebte. Im Jahre 1172 unternahm dieser Zisterzienser eine Reise an den Rhein, in deren Verlauf er auch Hildegard von Bingen aufsuchte. In einer Chronik, die er noch vor dem Jahre 1180 niederschrieb, gab er seine Eindrücke über die berühmte Seherin wieder. Im Verlaufe des 13. oder 14. Jahrhunderts wurde die Chronik irrtümlicherweise dem Mönch Wilhelm von Godell aus der Abtei S. Martial in Limoges zugeschrieben. Hier die entsprechende Hildegard-

Passage:

Anno Domini 1172

Hoc Anno vidi in Alemannie partibus feminam provecte etatis [Hildegardem de Bingen; Fußnote 4], virginem, cui tantam gratiam contulit virtus divina, ut, cum ipsa laica et illiterata sit, mirabiliter tarnen ab hoc mundo rapiatur frequencius et in summis discat non solum quod postea in imis dicat, set [!] pocius, quod satis mirabile est et inauditum, etiam scribendo Latine dictet et dictando libros catholice doctrine conficiat; libros etiam eius vidi et legi, quos ipsa, ut dixi, illiterata Latine dictavit. Sexaginta denique compleverat annos in huiusmodi gratia, quando eam vidi.2 ...

geht hervor, daß der Chronist Hildegard (auf dem Rupertsberg) persönlich kennengelernt und ihre Schriften gesehen hat. Nicht zutreffend scheint die Bemerkung zu sein, Hildegard sei des öfteren in Ekstase geraten („ab hoc mundo rapiatur frequencius"). Dieser Aussage widersprechen Hildegards eigene Bemerkungen im Vorbericht zu Scivias und in einem Brief an Wibert von Aus diesem Text

Gembloux, in denen

es

heißt:

apertis exterioribus oculis, ita ut numquam in eis defecuigilanter die ac nocte illa uideo.3 Bleibt ein Hinweis darauf nachzuliefern, daß sich der Text des Pseudo-Wiltantum

tum ...

extasis

in anima mea,

patiar;

sed

helm Godellus fast wörtlich bei Vinzenz wiederfindet (s. u.).

1 2 3

von

Beauvais und Robert

von

Auxerre

Revelationes 1628, Vorsatzblatt [unpag.]. Chronicon die. Godellus, S. 198 (zu AD 1172). Der Text wurde ebenfalls veröffentlicht von Schrader/Führkötter 1956, S. 9. Hildegardis ad Guibertum monachum, in Epistolarium II, Ep. CIIIr, S. 258-265, hier S. 261 73-75.

Hildegard in

den chronikalisch-annalistischen

Schriften

405

nach Hildegards Tod Etwa zwei Generationen nach Hildegards Tod äußerten der Bischof von Paris und die mit einem Inquisitionsmandat für den Heiligsprechungsprozeß beauftragten Pariser Theologen das bedeutsame Diktum, in Hildegards Schriften fänden sich keine menschlichen, sondern nur göttliche Worte.1 Bereits vorher hatte das Skriptorium von Kloster Rupertsberg damit begonnen, der Nachwelt die Schriften Hildegards in einer von der Autorin selbst legitimierten Textgestalt zu überliefern (Riesencodex). Im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts verfaßte der Zisterziensermönch Gebeno von Eberbach (bezeugt 1213-1224) als Epitomator die bislang ungedruckt gebliebenen Prophetiae Hyldegardis de quinque futuris temporibus.2 Teile dieser Schrift finden sich, ergänzt durch ein ausführliches Inhaltsverzeichnis des gesamten Gebeno-Textes, im Hildegard-Band Kardinal Pitras.3 Die Prophetiae sind Bestandteil des Speculum futurorum temporum oder Pentachronon Gebenos, einer zwischen 1220 und 1224 entstandenen Exzerptkompilation von verschiedenen Schriften Hildegards. Neben Auszügen aus dem Scivias und dem Liber divinorum operum enthält das Pentachronon einige Briefe Hildegards, insbesondere solche zeit- und kirchenkritischen Inhalts. Im Vorwort zu seinem Werk legt Gebeno dar, es sei ihm vor allem darum gegangen, die durch den kalabrischen Abt Joachim von Fiore (ca. 1130-1202) und andere „pseudo-prophetas" (Katharer?) bestärkte Naherwartung vom Kommen des Antichrist zu widerlegen. Gleichzeitig habe er beabsichtigt, anhand von Hildegards Schriften den eigenen Zeitgenossen „quaedam valde utilia et nostris temporibus necessaria de praesenti statu Ecclesiae et de futuris temporibus"4 vor Augen zu stellen. Hildegard spielt dabei die Rolle der geläufigen Autorität. Schließlich wollte Gebeno Hildegards in dieser Zeit (1227) anlaufenden Heiligsprechungsprozeß fördern. Wichtig ist bei all dem, daß bereits 40 Jahre nach Hildegards Tod eine prototypische Instrumentalisierung ihrer Prophétie im Sinne eine Mahnrede an 1.3

Rezeptionszeugnisse

-

-

1

2

3

„Quod über Scivias, liber Vite meritorum, liber Divinorum operum, quos beata Hildegardis sine terreno magistro, sed Spiritu sancto dictante conscripsit, ad mandatum episcopi Parisiensis per omnes magistros Parisienses tunc in theologia legentes sunt diligenter examinât!, ita quod quilibet magistrorum très quatuor habuit ad examinandum; in restitutione vero librorum episcopo magistrorum omnium sententia fuit,

non in eis esse verba humana, sed divina ..." Canonizatio Sanctae Hildegardis in Vita Hildegardis (dt.) 1998, S. 278. Vgl. hierzu Widmann 1882, S. 1 Of. Jürgensmeier 1979, S. 284-285. Analecta. Darin: Ex Hildegardis operibus Gebenonis Speculum futurorum temporum, S. 483-488. Die Textauswahl Gebenos berücksichtigt aus dem Scivias die protestifi-

catio, ferner visio

5

Sp. 1017-1037) und

4

Teil II (PL 197, Sp. 490C-493C) sowie visio (PL 197, Sp. 709-711. 716-722) von Teil III.

von

10

(PL 197,

Eine exakte Inhaltsbeschreibung liefern Adelgundis Führkötter und Angela Carlevaris in der Einleitung zur kritischen Edition von Scivias, Führkötter/Carlevaris 1978, S. LUI. Zum Geschichtsbild Gebenos vgl. Czarski 1983, S. 180-188. Zit. nach Analecta, S. 483. 11

Kapitel 1

406

die

Zeit stattfindet. Wir werden weiter unten zeigen, daß dieses Phänoin anderen Zusammenhängen auch später immer wieder auftaucht. Außer-

eigene

men

dem bleibt

festzuhalten, daß Gebenos selektive Hildegard-Rezeption wirkungs-

geschichtlich zu einer Abwertung ihrer Theologie und einer Aufwertung ihrer Prophétie führte. Ob Gebenos Textselektion eine spezifisch zisterziensisch geprägte Form der Hildegard-Rezeption inauguriert oder fortgeführt hat, bliebe

untersuchen. Wie Arno Borst zu Recht hervorhebt, war dem Pentachronon quer durch Europa hin weiteste Verbreitung beschieden.1 „Das Buch", so Borst, „begründete Hildegards Prophetenruhm und regte noch Heinrich Heinbuche von Langenstein [1325-1397], Dietrich von Niem [ca. 1340-1418] u. a. an."2 José Carlos Santos Paz (Universidade da Coruna, Santiago de Compostella) möchte in einer von ihm vorbereiteten, derzeit im Druck befindlichen Edition des Pentachronon ca. 150 vollständige und unvollständige Textzeugen nachweisen.3 Max Manitius zufolge fanden sich Gebenos Auszüge im 15. Jahrhundert u. a. in Durham, Cheltenham sowie in München.4 Selbst in der Vita Hildegardis, die ein gewisser Bruno, Kustos von St. Peter in Straßburg, und seine Mitstreiter Arnold, Scholast an St. Peter in Mainz, und Magister Johannes, zunächst Scholast (12361251), dann Propst (1251-1260) in Mainz, für die römischen Inquisitionsakten anfertigten, finden sich Anklänge an Gebeno.5 Gleiches gilt für die Annales Stadenses des Albert von Stade (gest. nach 1264). Sie stimmen weitgehend mit Gebenos Speculum überein.6 Alberts Entlehnungen aus Hildegard sind von zu

1 2 3

4

Borst 1960. Borst 1960, Sp. 537. Für diese mündliche Information des Autors sei ihm hier sehr herzlich gedankt. In einem 1998 erschienenen Beitrag nennt Santos Paz 17 Handschriften aus dem 13. Jahrhundert. Vgl. Santos Paz 1998, S. 217. Manitius 1931, S. 232. Casimir Oudinus bringt mit über 20 Textzeugen die (m. W.) bislang vollständigste Auflistung: Oudinus 1722/1732, I, Sp. 51 f. Weitere GebenoHandschriften werden genannt bei Hauréau 1887, S. 181 f., sowie (ausführlicher) in der Histoire littéraire de la France 30 (1888) 616-619. Canonizatio Sanctae Hildegardis in Vita Hildegardis (dt.) 1998, S. 273. Auch veröf-

5

Inquisitionis, S. 128f. Bruder datiert die Entstehung dieses Teils der Inquisitionsakten aufgrund der Amtsbezeichnung des Magisters Johannes in die Zeit

fentlicht in Acta 1236-1251.

6

Annales Stadenses, S. 330 5-15 [Annales 1144-1152]. Der umfangreiche, bis S. 332 50 gehende Text beginnt mit den Worten: „Tempore eiusdem Conradi regis et Eugenii papae, puella quaedam, Hildegardis nomine, iuxta Pinguiam Celebris habebatur. Haec cum quadraginta duorum esset annorum, magnae choruscationis igneum lumen aperto coelo adveniens totum cerebrum eius transfudit et totum cor et totum pectus eius, et sic earn sanetus Spiritus inflammavit, ut statim omnium katholicorum [!] librorum Seriem, tarn novi quam veteris testamenti, ad integrum intelligeret, cum tarnen nichil umquam didicerit, nisi solum psalterium more nobilium puellarum, a quadam inclusa in monte saneti Ysibodi, quod est claustrum nigrorum monachorum. Fecit autem très libros, scilicet librum Sei vias, librum divinorum operum, et librum

407 Schriften besonderem Interesse, da es sich bei ihm um einen Autor handelt, der nach einer gescheiterten Klosterreform (1240) von den Benediktinern zu den Franziskanern übergewechselt war. Der Name Hildegards wurde, wie im Zusammenhang

Hildegard in

den chronikalisch-annalistischen

den Klerus von Köln ausgeführt den Gegnern der Mendikanten zur Abstützung des eigenen Standpunkts in Anschlag gebracht. Albert von Stade nun zitiert längere Passagen aus Hildegards Werk zu einer Zeit, da er bereits Franziskaner ist. Seine Hildegard-Passage setzt ein mit der Schilderung des Lebens und Schaffens der Seherin. Bereits die Tatsache, daß Hildegard als Frau und noch dazu ohne ordentliche Bildung Bücher und Briefe an bedeutende Persönlichkeiten geschrieben habe, ist ihm Beweis genug für die übernatürliche Herkunft ihrer Visionen. Ganz ähnlich argumentieren der bereits erwähnte [Pseudo-JWilhelmus Godellus in seinem Chronicon, Robert von Auxerre in seinem zwischen 1198 und 1207 [continuatio bis 1220] entstandenen Chronicon1 sowie Vinzenz von Beauvais (ca. 1184/94-1264) in seinem bis zum Jahre 1250 reichenden Speculum Historiale.2 Daß des letzteren Ausführungen über Hildegard in der Tat auf breiter Front rezipiert wurden, beweist u. a. eine Notiz auf f. lr einer Scivias-hhschnh, die im Jahre 1331 in Kloster Weingarten entstand. Dort findet sich der Vermerk: „Monasterij Weingartensis 1628. Visiones S. Hildegardis Ord. Bened. Vide de illa in Speculo Vincentij Beluacensis Histor. Cap. LXXXXIII lib. 27".3 Was im übrigen noch einmal Albert von Stade anbetrifft, so schreibt dieser Hildegards Warnung vor den Häretikern keine eschatologische Bedeutung zu. Ihre Endzeitprophetien aus Scivias III 11 unserer

Darlegungen über Hildegards

Brief

wurde, im sogenannten Bettelordenstreit

-

an

von

-

epistolarum, et hoc Deo iubente, ymmo cogente, in quibus valde quaedam utilia de temporibus et de antichristo prophetavit, et miserum statum ecclesiae futurum praevidit spiritu prophetico et praedixit." futuris

1

Chronicon, S. 236 11-15 (zu AD 1147): „Per idem tempus in Alemanniae habebatur admirabilis virgo quaedam provectae aetatis [Hildegardem de Bingen; Zusatz Verf.], cui tantam gratiam virtus divina contulerat, ut, cum ipsa laica et illiterata esset, mirabiliter tarnen ab hoc mundo raperetur frequentius et in summis disceret non solum quod postea in imis diceret, sed pocius, quod satis mirabile est et inauditum, etiam scribendo Latine dictaret et dictando libros catholicae doctrinae conficeret." Vincentius Speculum hist., Liber 27, Cap. 83 (f. 11-25): „Per idem tempus in Alemaniae partibus admirabilis quedam virgo prouectae aetatis erat, cui tantam diuina virtus gratiam contulerat, vt cum laica & illiterata esset, mirabiliter tarnen rapta frequentius in somnis disceret, non solum quod verbis effunderet, sed etiam quod scribendo latine dictaret, vt dictando catholicae doctrine libros conficeret. Author. Haec fuit vt aestimo sancta Hildegardis, quae multa fertur praedixisse de futuris. Ad qua[m] scripsisse dicitur etiafm] beatus Bernardus Clareualle[n]sis ..." Ebenfalls von Vinzenz berücksichtigt ist Hildegards Brief an den Kölner Klerus. „Haec [sc. sancta Hildegardis] ad colonie[n]ses scribens, de futura clericorum tribulatione dicit, quod clerici gloriafm] absq; merito volu[n]t habere, & meritu[m] absque opere." (Ebd.). Fulda, Hess. LB, Cod. B 6 a (J. 10 fol.), f. lr. Robertos

partibus

2

3

Kapitel 1

408

576), die Albert ausführlich zitiert, deutet

er nicht in einem Sinn. Wörtlich dagegen versteht Albert Hildegards Kritik am Klerus, wie sie im Liber divinorum operum artikuliert ist.1 Hier verbindet sich das franziskanische Armutsideal des gescheiterten Reformers mit Hildegards konservativen Vorstellungen vom Ordo der Welt: der Klerus hat sich nicht um profane Belange zu kümmern, die Übel der Welt sind heilsnotwendig, um die Menschen zur Gerechtigkeit zu läutern, das Wirken des Antichrist kündigt die neue Heilszeit an. Insgesamt kann gesagt werden, daß Alberts Vorstellung vom Ende der Welt oft nicht mehr ist als ein Exzerpt aus Hildegards Werken. Auch im Jahre 1150, als Albert den Apokalypse-Kommentar des [Pseudo-]Alexander Minorita überarbeitete, fügte er diesem Text längere Zitate aus Schriften Hildegards bei.2 Symptomatisch für den enttäuschten Erneuerer ist wiederum die Tendenz, die eigene Gegenwart als zur Epoche des Antichrist gehörend zu betrachten. Der Blick in die anbrechende Endzeit dient als Folie zur Deutung einer unter radikal negativen Vorzeichen stehenden Erfahrung der Gegenwart. Auch der Zisterzienser Caesarius von Heisterbach (um 1180-um 1240) zitiert Hildegard im Rahmen einer virulenten anti-franziskanischen Polemik. Sowohl seine Vita S. Engelberti als auch seine Osterhomilie weisen entsprechende Bezüge auf.3 In die gleiche Richtung geht der pseudepigraphische Hildegard-

(Scivias 1978,

S.

chronologischen

1

Die

cap. 16

2

entstammt dem Liber divinorum operum, III, visio 5, 197, (PL Sp. 1017D-1018A) bzw. nach LDO 1996: III 5, XVI (S. 433 9-13).

von

Albert zitierte Stelle

Sie lautet hier: „Scelera quoque eorum super nos cadunt, et omnisque ecclesia per eos arescit, quia quod iustum est non clamant legemque destruunt, quemadmodum lupi agnos deuorant; atque in crapula uoraces sunt adulteriaque quamplurima perpétrant; et per talia peccata absque misericordia nos iudicant." Alexander Super Apocalypsim, S. 351 10-18: „Ab anno MCC et ultra suspecta sunt mihi tempora et momenta. Et virgo Hildegardis, cuius libros Eugenius papa canonizavit, eiusdem temporis meminit, quando dicit: Vidi ad aquilonem, et ecce quinque bestiae stabant Dicit autem has quinque bestias significare quinque ferocissimos cursus temporalium regnorum fortiter in se bacchantes. ..."; S. 422 7-11: „Tempore autem eiusdem Conradi régis et Eugenii papae puella quaedam, Hildegardis nomine, Celebris haberi coepit et usque in tempora Anastasii papae et Adriani, qui Anastasio successit, et imperatoris Frederici primi peduravit. ..."; S. 456 9-12: „Dicit virgo Hildegardis, cuius superius mentionem fecimus, quod circa ilia tempora etiam multae haereses et plurimae turpitudines cum aliis malis pullulabunt, quae Antichristum in proximo adesse ostendunt. ..."; S. 495 4-10: „De istis imitatoribus apostolorum ait Hildegardis in libro Divinorum Operum inter cetera: In ipsis etiam diebus multae prophetae et plurimi sapientes erunt, ita ut etiam occulta prophetarum et aliarum scripturarum sapientibus tune ad plenum pateant, et filii et filiae eorum prophetent, sicut ante multa tempora praedictum est Die Auszüge aus Hildegard finden sich nur in der Handschrift C. Sie stimmen mit jenen der Chronica überein. Namentlich erwähnt sind der Liber Scivias, der Liber divinorum operum und der Liber episto...

"

...

larum. 3

Caesarius van

in AA.SS, Nov. III, ed. Carl de Smedt, Franz Delehaye, Albert Poncelet, Paul Peeters, Bruxelles

Wundergeschichten, 7,

Otroy,

Hippolyt

Hildegard in

den chronikalisch-annalistischen

Schriften

409

Text Insurgent gentes.1 Näheres zu diesen beiden Rezeptionswegen ist im Kapitel über die Wirkungsgeschichte von Hildegards Kölner Brief ausgeführt. Praepositinus von Cremona (1130/35-1210), der Mainzer Domscholaster und spätere Kanzler der Universität Paris, erinnert in seinen Traktaten ebenfalls an Hildegard. Auffällig ist jedoch, daß die vom Aristotelismus geprägte Frühscholastik des Praepositinus mit ihrer begrifflich-rationalen Ausrichtung die bildhafte Lichtmetaphorik Hildegards nicht mehr adäquat zu handhaben wußte.2 Friedhelm Jürgensmeier erblickt in diesem theologiegeschichtlichen Paradigmenwechsel die ausschlaggebende Ursache für einen von ihm namhaft gemachten Bedeutungsrückgang der Schriften Hildegards im 13. Jahrhundert

generell. Der englische Geschichtsschreiber Matthaeus Parisiensis OSB (ca. 12001259), ein Mitglied der northumbrischen Abtei St. Albans, geht in seiner bis zum Jahre 1259 reichenden Chronica maior auch auf Hildegard von Bingen ein. Als Benediktiner ist Matthaeus der rasche Aufstieg der neugegründeten Mendikantenorden ein Dorn im Auge. Er wirft den Bettelorden vor, sich bei Kollekten zu bereichern, die Absolution zu verkaufen und überheblich zu sein. Auch daß die neuen Orden angeblich vom Papst begünstigt werden, mißfällt ihm. Kurz und gut: Matthaeus Parisiensis zufolge kündigt das Auftreten der Mendikanten keine neue Heilsepoche, sondern das beginnende Ende der Zeiten an. Zur Abstützung dieser Sichtweise verweist Matthaeus auf Hildegard von Bingen. Hildegard habe schon vor langer Zeit das Erscheinen der Bettelorden vorhergesagt, mit der Einschränkung allerdings, die gegenwärtigen Zeitumstände ließen das „verum testimonium", d. h. die reine Nachfolge des Evangeliums, nicht zu.3 Von Hildegards übrigen Prophetien und Endzeitvisionen nimmt Matthaeus keine Notiz. Auch Johannes von Wallingford OSB (f 1258), der zeitweise ebenfalls Mönch in St. Albans war und der sich in seiner Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen

1 2

3

1910, S. 664-681; hier: S. 650B. Innerhalb der um 1224/25 entstandenen Osterhomilie zitiert Caesarius eine längere Passage aus Hildegards Brief an den Kölner Klerus. Zur Einordnung dieser Schrift vgl. Kerby-Fulton 1987. Vgl. hierzu Berg 1975, S. 57. Vgl. Matthaeus Parisiensis Chronica, S. 200 44-2OI 3 (zu AD 1240): „Sancta quoque Hyldegardis, primo inclusa, postea abbatissa, admirabilis sanctitatis domina, ut in quam, dum in hoc seculo viveret, per soporem quadriduanum immisit Dominus spiritum prophecie et perfectam subito literarum scientiam, scilicet tempore Alexandri pape, famosa valde facta est. Et quia de novis fratribus et eorum statu et predicacione ac subita et inopinata proveccione manifeste prophetavit et expresse prelocuta est, ut presens tempus verum perhibet testimonium, facta sunt eius dicta per diversa mundi climata celebria et magnatibus approbata." Auf S. 234 15-18 heißt es unter der Überschrift „De controversia mota inter fratres Predicatores et Minores : [d... Hü iam sunt qui in sumptuosis et diatim ampliatis edificiis et celsis muralibus thesauros exponunt impreciabiles, paupertatis limites et basim sue professionis, iuxta ...

prophetiam Hyldegardis Alemannie, impudenter transgredientes. ...]".

Kapitel 1

410

Weltchronik nahezu

vollständig

auf Matthaeus Parisiensis stützt, führt Hilde-

gard im Zusammenhang des Bettelordenstreits an.1 Gleiches gilt für Richer von Sens OSB (f ca. 1267)2 sowie für den anonymen Fortsetzer der Flores historiarum des Matthaeus Parisiensis. Letzterer zitiert Hildegards Brief an den Kölner Domdekan Philipp von Heinsberg, in dem das Ende der Bedrückung der Benediktiner durch die Franziskaner vorhergesagt wird.3 In sehr kritischer Weise hingegen äußert sich der Franziskaner John Pecham (ca. 1230-1291) über Hildegard. Pecham, seit 1279 Erzbischof von Canterbury und Primas von England, liefert damit das einzige, dafür aber sehr drastische, Beispiel für eine negative Rezeption Hildegards im Rahmen des Bettelordenstreits.4 1

2

Iohannes Wallingford Chronica, S. 510 2f. (zu AD 1256): „Devotio populi tepet circa fratres, nec erogantur elemosine consuete, ut videatur prophetia sancte Hildegardis de Alemannia iamiam verificari." Richerus Gesta Senonensis, S. 306 5-20: „De beata Hildegarde sanctimoniali et prophetiis eius (cap. 15): Ante hos annos ferme triginta fuit in inferioribus Alamannie partibus sanctimonialis quedam inclusa sanctissime conversationis et vite Hiltigardis nomine, cui Deus inter cetera etiam gratiam prophétie contulerat, et quod mirum est dictu, quod numquam, ut fertur, antea didicerat, lingua loquebatur Latina et scribebat. Prophetavit quippe de statu regnorum et eventibus rerum futurarum et inde libros propria manu conscripsit. Scripsit etiam librum medicinalem ad diversas infirmitates, quem ego Argentine vidi. Scripsit siquidem de ordine futurorum Predicatorum et fratrum Minorum, qui temporibus nostris primum esse ceperunt. Dixit quippe aperte, quosdam fratres venturos alte tonsoratos in habitu religioso, sed inusitato, qui in principio sui quasi Deus ab omni populo reciperentur; nec aliquid proprium habituros predixit, sed tantummodo elemosinis fidelium victitarent nec de his elemosinis in crastino reservarent, et ita tali paupertate contempti civitates et castclla et rcgiones predicando circuirent; et ita in primordio suo Deo et hominibus cari haberentur; sed cito a proposito suo decidentes, viliores haberentur. Hec Hiltigardis de Predicatoribus et Minoribus fratribus fertur predixisse; quod postea verum actus ipsorum esse probavit." S. 306 32-36 (Cap. 16): „De principio ordinis Predicatorum: Sed quia prophetia illius venerabilis sanctimonialis Hiltigardis ne fieret preteriri non poterat, in primordio sui nostri Predicatores omnibus in bono satis clarucrunt; multos quippe ab erroribus suis et a via sua mala averterunt, et hereticos, quibus universa terra iam prope occupata erat, represserunt et multos eorum igni dari fecerunt, et adeo in exercitatione sua valuerunt, ut etiam quidam eorum miraculis claruisse referantur." Und S. 327 50-328 2 (Cap. 44) heißt es: „Superius de ordine ...

Predicatorum secundum propheciam

3 4

sancte

Hyltegardis sanctimonialis aliquantulum

digessimus, qui in principio sui magne auetoritatis habiti sunt. Sed deinde a proposito paulatim déclinantes, processu temporis a statu suo paululum decidere visi sunt, sicut multifariis modis ipsorum acribus comperiri potest." Matthaeus Westmonasteriensis Flores (zu AD 1292). Das Zitat stammt aus Hildegard, Ep. 48 (PL 197, Sp. 249A-252B).

Pechams Äußerungen standen im Zusammenhang mit der Widerlegung verschiedener anti-franziskanischer Schriften, die sich ihrerseits auf Hildegard beriefen. Vgl. Iohannes de Peckham Tractatus, S. 76f. Zur Problematik vgl. Kerby-Fulton 1987. Bund 1988. Santos Paz 1998, S. 211f. -

-

-

Hildegard in den chronikalisch-annalistischen Schriften

411

Weissagungen Hildegards, die sich nicht auf das Ende der Welt beziehen, finden sich weiterhin in der Chronica S. Pantaleonis,1 in einer Fortsetzung der Gesta Treverorum2 sowie bei Alberich von Troisfontaines (f nach 1251).3 Auf1

2

Chronica Coloniensis, S. 76 (zu AD 1138). G. Waitz edierte die Annales unter dem falschen Titel Chronica regia Coloniensis als Rezension C 2 (f. 64, col. 1 med). Das Hildegard-Zitat stammt aus dem Liber divinorum opemm II, 5, 9 (PL 197, Sp. 910). Die Stelle findet sich lediglich in der 2. Fassung der Annales. Vgl. Breuer 1966. Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Handschrift Bruxelles, Bibl. Royale, 467. Diese aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stammende Handschrift enthält die Chronica regia Coloniensis. Darin eingeschaltet ist auf f. 64r-101va das Pentachronon Gebenos. Die Prachthandschrift ist mit einer Reihe farbig illuminierter Herrscherdarstellungen ausgestattet. Auf f. 64 erscheint die Prophetin Hildegard von Bingen mit Nimbus. Gesta Treverorum, continuata III, S. 386 36-38 (zu AD 1186): «Compléta est ergo in ea prophetia beatae virginis Hildegardis, quam in presentia totius cleri, et postea scripto de ea prophetavit, dicens: Scindetur pallium dilatationis diviciarum tuarum." „Anno gratie Vgl. auch Gesta Treverorum, continuata IV, S. 390 3-11 (zu AD 1190): Sciscitante papa, 1190 suscepit regimen Treverensis ecclesie Johannes cancellarius quid hoc esset, respondit, quod beata Hyldegardis predixisset, coronam Treverice estimabat ultimam esse dignitatis deiectam iacere debere Septem annis, et illam diemclerum Treverensem culillius infelicis septenii. Que Hyldegardis cum presencialiter est peccatum nosDomina ei: et dicerent quod quidam paret pro peccatis, trum? ipsa memorabile verbum intulit, dicens ,Spiritus sanctus non confundit'. ..." Albericus Chronica, S. 842 16-29 (zu AD 1153): „Eodem anno quedam virgo Christi Hildegardis de Alemannia, cum esset valde magni nominis, Spiritu sancto debriata, per capitulum et seniores Cistercienses, qui litteras suas ei miserant, sciscitata et rogata, ut secundum quod Deus ei manifestaret, rescriberet eis, si quid esset in ordine quod Deo displiceret; rescripsit epistolam istam in persona Domini nostri Iesu Christi Cisterciensi capitulo generali in hec verba: Ego fons vivus dico qui prop ter nomen Hec autem Hildemeum tunica mea induti peregrini sunt in venatione mundi. Latinum fecit librum didicerit, epistolarum egregium, in gardis cum neque litteras et librum qui Scivias, id est de alium multa novissimis continentur, temporibus quo sciens vias, intitulatur, et tertium qui inscribitur Divinorum operum expositio." S. 853 35-40 (zu AD 1170): „In lectu egritudinis sue diu iacens sancta Hildegardis, vidit hoc anno vigilans corpore et animo pulcherrimam ymaginem, sanctam videlicet ecclesiam mirabiliter adornatam, sed facies eius pulvere aspersa erat, et vestis ipsius in dextro latere scissa fuit, et pallium eius suam elegantem pulchritudinem amiserat, et calciamenta ipsius superius denigrata erant, et ipsa voce magna et lugubri de suis mirabiliter sacerdotibus conquerebatur, et cetera que ibi habentur." Vgl. auch S. 812 3F. (zu AD 1099): „Nata est in Alemannia quedam virgo mirabilis, que dicta est sancta Hildegardis de cuius libris de prophetia mirabili quedam Deo dante intendimus declarare." Ebd., S. 833 50-53 (zu AD 1141): „Hoc anno sancta Hildegardis cum esset annorum 42 et 7 mensium, librum Scivias per Spiritum sanctum mirabiliter visitata incepit et per 10 annos consummavit, in diebus Henrici Maguntini archiepisauctoritatis copi et Conradi Romanorum régis. Que fuerit ista Hildegardis et quanteText teilweise insinuant epistole magnatum terre ad earn transmisse ..." Der weitere nach Scivias 1978, Protestificatio, S. 3f., oder nach der Vita. ...

...

3

...

-

-

Kapitel 1

412

grund dieser letztgenannten Zeugen zieht Martin Haeusler den Schluß, Hildegards prophetische Autorität habe „offenbar besonders in konservativen monastischen Kreisen" viel gegolten.1 Ein weiteres Dokument zur Rezeptionsgeschichte Hildegards im O.Jahr-

hundert liefert die anonym entstandene Fortsetzung der Chronik des Magnus Reichersberg (t 1195). Der unbekannte Autor sieht im Siege Rudolfs I. von Habsburg über Otakar nach der Schlacht am Marchfeld (1278) die Erfüllung eines Vatiziniums, das er Hildegard von Bingen zuweist:

von

est autem illud vaticinium sicut in gestis legitur Hiltigardis, quod sie inventum aput Predicatores in Chremsa [Krems/Donau; Ergänzung]: ,Surget gallus qui suscitabit filios aquile. Surget leo et ducet filiam sine filia, et erit inelytus valde, et potestas eius a mari usque ad mare, et erit gloriosus et subiugabit sibi plurimos, et erit timor eius super multos. Filius aquile pugnabit cum leone, et vincet eum et interficiet, et spolia eius distribuet. Et post hec erit pax et tranquillitas per X et X et dimidium X. Postea vero mala infinita consurgent.'2

Completum se

habet

et

Auch diese Prophétie ist über ihren konkreten Inhalt hinaus als Beispiel für das Interesse der Dominikaner bzw. der Mendikanten überhaupt an den Visionen [Pseudo-]Hildegards von Belang. Der Grund hierfür ist einleuchtend: Äußerungen dieser Art ließen sich hervorragend zur Selbstlegitimation der jeweiligen Ordensgemeinschaft verwenden. Lebhaften Ausdruck fand dieses Bestreben in der von Migne abgedruckten Revelatio Hildegardis de fratribus quatuor Mendicantium ordinum? Allerdings waren es ausschließlich Pseudepigraphien, die von den Mendikanten in der angesprochenen Weise funktionalisiert wurden. Eine dem Katalanen Arnaldus de Villanova (ca. 1240-1311) zugeschriebene, um 1305/06 entstandene Expositio super Apocalypsim erwähnt neben einem Abt Joachim [Joachim von Fiore?] und Cyrill von Konstantinopel verschiedentlich auch Hildegard von Bingen.4 [Pseudo-]Arnaldus liefert damit einen wichtigen 1 2 3 4

Haeusler 1980, S. 65. Magnus Presbyter Annales, S. 534 (AD 1278). Vgl. hierzu Kleinschmidt 1974, S. 120f. und 221. Natales, Res Gestae, Scripta, Sp. 82-84. Grundlegend für das Endzeitverständnis des Arnaldus: Gerwing 1996. Darin zu Arnaldus' Hildegard-Rezeption: S. 340-351. Guadalajara Medina 1996, S. 142. 153. 155. 168. 204. 334. 371. 384. Vgl. auch Pou Y Marti 1991, S. 70. Mensa I Valls 1998, S. 154f. Zu den Hinweisen des [Pseudo-]Arnaldus auf Hildegard vgl. Arnaldus Super Apocalypsi, S. 74, 95, 105, 175, 180, 250, 257, 258, 274, 277. Bezeichnend S. 105: „Quantum ad secundum vero dicit quod DICTUM EST ILLIS: quibus verbis innuit quod tempore quinto misit electis aliquos nuntios, per quos certificati sunt de dilatione finalis iudicii et causa dilationis. Quinto enim tempore suscitavit Deus in Ecclesia Ioachim abbatem et Cyrillum presbyterum et Hildegardim sanetimonialem et Horoscopum et plures alios servos suos, qui per spiritum prophetiae -

-

-

-

dant electis certitudinem de toto cursu finalium Ecclesiae temporum, et qui apertis eloquiis inquiunt singulis UT QUIESCANT, id est in Christo pacem habeant, et expectent ADHUC MODICUM TEMPUS, quia tempus Ecclesiae sextum et septimum, in quibus omnia consummabuntur, est modicum respectu praecedentium."

Hildegard in den chronikalisch-annalistischen Schriften

Anhaltspunkt schen Raum:

für die

Wirkungsgeschichte Hildegards

im

413

spanisch-französi-

Quinte» etiam tempore suscitavit Deus in ecclesia Ioachim abbatem et Cyrillum presbiterum et Hildegardim sanctimonialem et Horoscopum et plures alios servos suos, qui per spiritum prophetiae dant electis certitudinem de toto cursu finalium ecclesiae temporum.1 Die Nennung der fünf Zeitalter läßt offen, ob [Pseudo-JArnaldus sich auf Gebeno von Eberbach oder auf Hildegard selbst stützt. Auch Gebeno bringt in seinem Pentachronon die berühmte eschatologische Vision Hildegards, in der die oben beschriebenen fünf zeitlichen Reiche eine Rolle spielen (Scivias Teil III, visio 11 sowie Liber divinomm operum, Buch III, visio 5, cap. 26). Insgesamt gilt für die katalanische Hildegard-Rezeption des 13./14. Jahrhunderts die Aussage Martin Aurells: „C'est en revanche à la source sicilienne, joachimite et orientale, que les prophètes catalans de la fin du XHIe et du XlVe siècle allaient puiser leur inspiration. Aux classiques de l'Ecriture (Daniel et l'Apokalypse) ou de la patristique (Augustin et Jérôme) qu'ils connaissaient de longue date et qui nourissaient une réflexion modérée sur les fins dernières, ils ajoutèrent, à partir de 1282, les textes de Joachim et de ses apocryphes, de l'évêques Méthode, de Cyrille de Constantinople, d'Eusèbe d'Alexandrie, d'Hildegarde de Bingen et des Sybilles d'Erythrée et de Cumes; ces auteurs allaient donner un tour bien plus extrémiste à leurs élucubrations visionnaires."2 Im argumentativen Umfeld des [Pseudo-JArnaldus de Villanova bewegt sich der französische Dominikaner Johannes von Paris, gen. Quidort (f 1306). Quidort gilt als spekulativ begabter Denker und bedeutender Vertreter der Pariser Thomistenschule. Auch er kennt Hildegards Prophezeiungen : Anno vero ab incarnatione Domini 1178 sancta Hildegardis sanctimonialis ordinis Cisterciensis in Brabantia [!] prophetavit de tempore muliebri in hunc modum.3

biographischen Irrtümer Hildegard wird als brabantische Zisterzienserin ausgegeben beweisen allerdings, daß es Johannes weniger auf die Person Hildegards als auf ihre Visionen ankommt: „Es geht ihm offensichtlich darum", so Manfred Gerwing, „eine allgemein bekannte, namhafte prophetische Autorität anzuführen, die, im Rufe der Heiligkeit stehend, bedenkenswerte Weissagungen über die Zeit des Antichrist artikuliert hat, die vielen seiner Zeitgenossen ohnehin bekannt waren."4 Wie angedeutet, ist das „tempus muliebre" nach Hildegard eine krisenhafte, durch moralischen Verfall gekennzeichnete Zeit, die das Die

-

-

1 2

3

4

Zit. nach Rusconi 1992, S. 69. Aurell 1992, S. 193f. Iohannes Parisiensis De antichristo, f. XLVI. Der Antichrist-Traktat des Johannes von Paris ist in insgesamt acht Handschriften überliefert. Die Leithandschrift ist Oxford, Bodleian Library, Canon. Pat. lat. 19, f. 14-35. Kritische Edition von Peters Clark 1981. Gerwing 1996, S. 341.

Kapitel 1

414

Kommen des Antichrist

pondiert

ankündigt. Diese prä-apokalyptische Epoche korresmit dem Schallen der fünften Posaune und beginnt mit dem Jahre

Kennzeichnung von Hildegards eigenem Lebenskontext. folgerichtig begegnet Hildegard ihrer Zeit vorwiegend unter dem Signum der moralisatio. Johannes von Paris schließt sich dieser Sichtweise weitgehend im Gegensatz zu [Pseudo-JArnaldus de Villanova an. Auch er verzichtet darauf, das Kommen des Antichrist in einer chronologisch fest umrissenen, computistisch determinierenden Weise zu datieren. Eine ähnliche Zurückhaltung in der Bestimmung des Zeitpunktes für das Auftreten des Antichrist übt Heinrich von Harclay (ca. 1270-1317). Heinrich war seit 1312 Kanzler der Universität Oxford. Am päpstlichen Hof von Avignon vertrat er deren Anliegen gegen die Dominikaner. Theologisch gehörte Heinrich zu den Gegnern des Thomas von Aquin OP und zu den Anhängern des Duns Scotus. In seinem Werk Utrum astrologi vel quicumque calculatores possint probare secundum adventum Christi legt Heinrich ganz programmatisch dar, daß, wenn schon die Apostel und Propheten die Wiederkunft Christi nicht hätten voraussagen können, dieses Unvermögen erst recht auf die reinen Dichter zutreffe. Mit letzteren meint Heinrich Joachim von Fiore, die erythräische Sibylle, Hildegard von Bingen und Ovidius Naso. Hildegard wird von Heinrich 1100. Sie dient der

Ganz

-

-

als „monialis teutonica"1 bezeichnet, die viele Bücher und Briefe verfaßt und mit aller Welt in Kontakt gestanden habe. Ausdrücklich erwähnt er den Scivias, ein Werk, das Bernhard von Clairvaux so sehr geschätzt habe, daß er es in seine Bibliothek aufgenommen habe. Aus dem Scivias zitiert Heinrich Hildegards Formulierung, sie selbst sei nicht Autorin, sondern lediglich Überbringerin dieser Schrift. Fragt man nach dem Grund für die Hildegard-Bezüge Heinrichs, so läßt sich folgendes sagen: Heinrich von Harclay wollte deutlich machen, daß er Hildegard und ihr Werk bestens kenne. Darüber hinaus ging es ihm darum, Hildegards demütige Selbsteinschätzung herauszustellen und mit der überheblichen Position manch selbsternannter Propheten seiner eigenen Tage zu kontrastieren. Dabei rekurrierte Heinrich auf das capitulum in fine von Scivias, Buch III, cap 11. Dieses Kapitel enthält die bekannte Prophétie von den fünf Tieren, die Hildegard als die fünf dahineilenden Reiche in ihren sündhaften Bestrebungen deutet. Diese Reiche werden nach Hildegard vergehen, wie die Welt insgesamt vergeht, ohne daß hierfür ein exakter Zeitpunkt angegeben würde. Genau diese Zurückhaltung hebt Heinrich als das eigentliche, entscheidende Verdienst der genannten Dichter hervor: die Pseudo-Propheten terminieren das Weltende exakt (aber falsch), die Dichter hingegen üben Diskretion und treffen gerade darin die Wahrheit: Videtur michi quod moderni racionatores multo Ioachim vel Hildegardis.2. 1

2

magis increpandi

Henricus Harclaiensis Astrologi, S. 77f. Santos Paz 1998, S. 21 If., S. 78. Wenige Zeilen weiter heißt

diffinit

aliquod

certum

tempus adventus Antichristi.

es:

sunt

quam vel

„Patet ergo quod non

Magis

ergo presumtuose

Hildegard in den chronikalisch-annalistischen Schriften

415

Auch der französische Franziskaner Iohannes de Rupescissa ([Jean de Roqueca. 1315—1365)1 erwähnt Hildegard als prophetische Autorität, bezeichnenderweise wiederum in Kombination mit Joachim von Fiore:

taillade];

Omnes

enim, qui

...

inceperunt a perhempni fonte Spiritus Dei haurire aliquid de temporis et de ipso scripserunt licet repu-

claritate intellectus prophetalis secundi tentur a filiis carnis fantastici ...2

In seinem 1356 entstandenen Vademecum in

tribulatione, das auch eine deutscherfuhr, sprachige Überlieferung prophezeit Johannes die Verfolgung und Besdes verdorbenen die Rückkehr des Papsttums von Avignon nach Klerus, serung

Rom, einen französischen Endkaiser sowie ein tausendjähriges Friedensreich.3 Die erste Ankunft des Antchrist verheißt Johannes für das Jahr 1367. Wie Joachim von Fiore, wollte Johannes dabei nicht als Prophet, sondern als wissenschaftlicher Exeget verstanden werden. Seine Hochachtung für Hildegard geht auch daraus hervor, daß er sie als „sancta prophetissa" (S. 505) und „contemporeanea S. Bernardi Clarevallensi & eius amica" (ebd.) bezeichnet. Außerdem hebt er hervor, Papst Eugen III. habe Hildegards Bücher auf dem Konzil von Trier kanonisiert („canonizavit", ebd.). Unter dem direkten Einfluß des Iohannes de Rupescissa stand Heinrich der Taube (f 1364).4 Heinrich war ein juristisch gebildeter Kaplan, der in Bologna (?) die Rechte studiert hatte und später Leiter der bischöflichen Kanzlei von Eichstätt wurde. Nach einem Besuch Roms im Jubeljahr 1350 scheint Heinrich längere Zeit in Avignon gewesen zu sein. Hier schloß er sich dem päpstlichen Kandidaten für das Bistum Eichstätt, Berthold von Nürnberg, an. Durch ihn konnte Heinrich auch den Hof Karls IV. kennenlernen, dessen Kanzler Berthold im Jahre 1364 wurde. Als Geschichtsschreiber setzte Heinrich die Flores temporum, das franziskanische Gegenstück zur Chronik des Dominikaners Martin von Troppau (1. Drittel 13. Jh.—1278), von 1292 zunächst bis 1343 und dann bis 1363 fort.5 In den Flores temporum wechseln Papst- und Königsgeschichte einander ab, allerdings mit einem Schwerpunkt auf der Reichsgeschichte. Vermutlich während seiner Zeit in Avignon lernte Heinrich das Vademecum in tribulatione des Iohannes de Rupescissa kennen. In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde Heinrichs Werk von den beiden Nürnbergern Johannes Plattenberger (zuletzt erwähnt 1467)6 und Dietrich Truchseß (t 1467)7 für ihre ...

1

loquuntur moderni de adventu Christi primo et gardis et Ioachim et alii." Vgl. Bignami-Odier 1952. Herkommer 1982.

3

Zit. nach Barnay 1992, S. 189. Iohannes de Rupescissa Vade

4

Vgl. Colberg

2

5 6 7

secundo quam isti, scilicet Hilde-

-

mecum.

1995.

Heinrich Taube Chronik [zu den

Vgl. Stengel 1963. Vgl. Kurras 1989. Vgl. Kurras 1995.

Quellen:

S.

LIVf.;

zur

Abfassungszeit:

S.

XLIf.].

Kapitel 1

416

am 11. Juli 1459 vollendete deutsche Weltchronik (Excerpta chrowirkte indirekt auch auf es benutzt. Hierdurch nicarum) Sigmund Meisterlins OSB (ca. 1435-1497)1 Nürnberger Chronik von 1488 sowie auf die Schedeische Weltchronik von 1493. Später verwendete es auch Aventin für seine Annales Boiorum. Heinrich nennt Hildegard zwar nicht namentlich, er übernimmt jedoch in weiten Teilen die Endzeitprophetien des Iohannes de Rupescissa, die ihrerseits auf Ausführungen Hildegards basieren. Martin von Troppau selbst erwähnt Hildegard in seinem Chronicon (1268/77) wenigstens kurz und liefert damit den Anknüpfungspunkt für eine entsprechende Nachricht in der Chronica des auf Martin basierenden Johannes Longus.2 Wirkungsgeschichtlich war aber auch diese kurze Erwähnung von großer Bedeutung, da die Chronik des Martin von Troppau das am weitesten verbreitete Geschichtswerk des späten Mittelalters war und Übersetzungen in fünf Volkssprachen erlebte. Tatsächlich manifest wird Hildegards Rolle innerhalb der mittelalterlichen Weltchronistik im Liber de rebus memorabilioribus sive Chronicon des Heinrich von Herford OP (bezeugt 1326-1370).3 Diese Chronik, die bis zum Jahre 1355 reicht, steht vor allem unter dem Einfluß des Speculum Historiale des Vinzenz von Beauvais (bis 1249). Heinrich nennt zwar Joachim von Fiore, und er zitiert Hildegard von Bingen. Doch steht er beiden skeptisch gegenüber. Von Joachim berichtet Heinrich nur dessen Verdammung, und Hildegard kennt er bloß im Auszug des Gebeno von Eberbach. Seltsamerweise entnimmt Heinrich dem Pentachronon aber keine prophetischen Texte, sondern neben einigem biographischem Material lediglich Hildegards Briefwechsel mit Bernhard von Clairvaux.4 An anderer Stelle findet sich Hildegards Satz über das „tempus muliebre", den auch schon Vinzenz von Beauvais in seinem Speculum historiale aus Gebeno zitiert hatte.5 Da Heinrich aber die Jahreszeiten Hildegards verändert und den eigentlichen Beginn des „tempus muliebre" nicht angibt, büßt diese Prophezeiung ihren Sinn ein, eine Tendenz, die sich schon bei Vinzenz von

zweibändige,

1 2

Vgl.

Colberg 1987. Martinus Troppaviensis Chronicon, S. 436 35F. (zu AD 1146): „Eodem tempore fuit in Alemannia Hildegardis monialis famosa, que in Pinguia super Renum [!] requiescit." Iohannes Longus Chronica, 43, 2, S. 801 47-49 (zu AD 1145): „Eius [Eugens III.; Ergänzung] tempore floruit in Alemannia Hildegardis monialis formosa [!] magnaque prophetissa, cuius corpus in Pigna super Rhenum requiescit; cuius virginis prophecias in hoc monasterio penes non habemus." Henricus Herfordensis Liber. Vgl. Hillenbrand 1981. Henricus Herfordiensis Chronicon, c. 93, S. 181-183. ViNCENTius Speculum bist., Buch 31, Cap. 108, S. 1325: „Sed et Anno ab incarnatione Domini 1178. Sancta Hildegardis de tempore muliebri prophetauit, in hunc modum. Anno inquit, post incarnationem Christi 1188. Apostolorum doctrina, et ardens iustitia, quam in Christianis, et spiritualibus constituerat Deus tardare, et in haesitationem verti coepit; sed hoc muliebre tempus non tamdiu durabit, hucusque perstitit." -

3 4 5

-

Hildegard in

den chronikalisch-annalistischen

Schriften

417

angedeutet hatte.1 Der Grund für Heinrichs zurückhaltende VerwenHildegards und noch mehr Joachims Prophetien liegt darin, daß er dung keine Spekulationen über das baldige Ende der Welt anstellen möchte. Wie Vinzenz von Beauvais und damit letztendlich Augustinus, geht er davon aus, daß die Vermischung der Guten und Bösen in dieser Welt erst mit dem jüngsten Gericht bereinigt werde. Ein weiteres Zeugnis für die Präsenz Hildegards innerhalb der spätmittelalBeauvais

von

-

-

terlichen Weltchronistik liefert das um 1340 entstandene Mare historiarum des Giovanni Colonna (ca. 1298-1343).2 Colonna war Mitglied des Dominikanerordens. Um 1330 lebte er in Avignon. Berühmtheit erlangte Colonna u. a. als Freund Petrarcas. In einer Art tabellarischer Auflistung des von ihm bearbeiteten historischen Materials erscheint in seinem Mare historiarum eine Überschrift „De Hildegarde prophetissa Theutonie, et de Ricardo de Sancto Victore et eius libris, et de gestis Ludovici regis Francorum post reditum suum de Siria, et de morte Corradi imperatoris."3 Eine interessante pseudepigraphische Spur Hildegards aus der Mitte des 14. Jahrhunderts konnte Stuart Jenks ausfindig machen. Dabei handelt es sich um eine angebliche Prophétie Hildegards im Zusammenhang des Geißler- und

Flagellantenphänomens.4

Der

entsprechende

Text

ein in seiner

längsten

Redaktionsstufe 26 Zeilen umfassendes Gedicht wurde von Michael de Leone (ca. 1330-1355) in seine Schrift De cronicis temporum modernorum hominum aufgenommen.5 Das Gedicht erscheint dort zwischen dem von Michael selbst -

-

1

2

3 4 5

Henricus Herfordiensis Chronicon, c. 90, S. 164: „Item hoc anno sancta Hildegardis de tempore muliebre prophetavit in hunc modum: Anno inquit, post incarnationem Cristi 1196. apostolorum doctrina et ardens justitia, quam in cristianis et in spiritualibus constituerat Deus tardare et in hesitationem verti incipiet." Zu Colonna vgl. Ross 1970. Colonna Mare, S. 277 4if. Es handelt sich lediglich um eine kurze Inhaltsübersicht. Der Text selbst ist noch nicht ediert.

Jenks

1977.

Hier der von Jenks edierte Text :

„NOTA VERSUS DE FLAGELLATORIBUS : Hec

Hiltgardis scriptura bone mulieris / Que quondam vixit, Bernhardo sic quoque scripsit. / Annis millensis tri C quadraginta novenis / Aquila bis surget, sed maiorem minor occet. / Gens cruce signata veniet, curret vagabunda / Undique vexillis veluti navis it sine velis / Et dicet plura fidei minime valitura. / Atque leget cartas, quas per Dominum fore scriptas / Simplicibus dicet. Domini sententia profert / ,Bethsaida ve te'. Venient sic pseudoprophete. / Hinc errat vulgus, vicietur ab hiis quoque clerus, / Namque regi nolunt, nec patrum dogmata colunt. / Rusticus absolvit socium. Deus hoc quia non vult / Dixit leprosis, ,Ostendite presbiteris vos'. / Non scripsisse legi Dominum nisi quando Moysi / Porrexit tabulas Synai de monteque binas, / Et Jhesus scripsit, ,Lapidet hanc, quis sine ve sit'. / Nescio principum vel quis sit finis eorum, / A quo ceperunt, vel quern fructum rapient tune. / Surgunt cum muscis, finem rapiuntque locustis. / Ocia cum pane faciunt. Hoc est, quia sane / Scandala quod venient, per que cito talia cessent. / Opera flagiferum curant destruere clerum. / Videntur dura, sed non sunt opera pura. / Gens nimis insula, Christi génitrice repuisa. / Astat est

Kapitel 1

418

verfaßten Bericht über die am 2. Mai 1349 in Würzburg einbrechenden Geißlerzüge und der am 20. Oktober 1349 veröffentlichten Bulle Papst Clemens' VI. Inter sollicitudines, in der die Geißler verurteilt werden. Der Text stammt von einem Zeitgenossen Michaels und wurde Hildegard zugeschrieben, vermutlich, um ihm eine größere Autorität zu sichern. Tatsächlicher Verfasser ist aller Wahrscheinlichkeit nach Andreas von Zirkenbach, ein Domvikar aus Hammelburg, der in zwei Urkunden des Jahres 1351 und 1358 nachzuweisen ist. Inhaltlich geht es um die Beschreibung bzw. Bekämpfung des Geißlerphänomens. Die Prophezeiung [Pseudo-]Hildegards ist aber noch in anderer Hinsicht von Interesse. Sie wird im Manuale des Michael de Leone [UB Würzburg, M. p. misc. f. 6, f. 35v-36v] mit drei Prophezeiungen der echten Hildegard kombiniert. Es sind dies die folgenden Texte: „Justicia enim postquam ad supernum" aus dem Liber divinorum operum (Pars III, visio 5, cap. 16), „In illibus diebus imperatores Romae" und „Et tunc herum iniquitas", ebenfalls aus dem Liber divinorum operum (Pars III, visio 5, cap. 25-26); schließlich: „In lecto egritudinis diu iacens" aus dem Briefcorpus (= Brief an Werner von Kirchheim [Ep. 149r, PL S. 333-337]). All diese Texte beziehen sich auf den künftigen Status des Reiches und des Klerus. Darüber hinaus erscheint am Rande des Textes folgender Vermerk von Michaels Schreiber [Gyselher von Salcza?]: et alia ab ipsa Hiltgardi sunt predicta non ut sic eveniant sed ut timorem salutarem inducant, ut patet ex aliis eius dictis. Ad idem animadvertere versus ipsius circa ortum et occasum flagellatorum de quibus supra in Cronicarum collecta [sic].1

Hec

Die drei authentischen

Hildegard-Prophetien lassen sich noch in einer weiteren nachweisen. Eine Sammelhandschrift der UB Würzburg [M. p. th. q. 10] enthält zwei der drei Texte, die Michael in sein Manuale aufgenommen

Überlieferung

1

vexillis velut generacio Lyllis." Zit. nach Jenks 1977, S. 1 lf. Der Text läßt sich in fünf Handschriften nachweisen, von denen drei zeitgenössisch sind. Die zwei anderen sind Abschriften aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Die zeitgenössischen Handschriften sind das Manuale des Michael de Leone (Würzburg, UB, M. p. misc. f. 6, f. 28va-28vb), zweitens Michaels Hausbuch (München, UB, 2° cod. ms. 731, f. 267vb267ra), drittens eine Ebracher Handschrift (Staatsarchiv Würzburg, Ms Nr. 6, f. 33r). Die Handschrift Würzburg, UB, M. ch. f. 84, F. 77r ist eine Abschrift aus dem 15. Jahrhundert, die Handschrift UB Würzburg, M. ch. f. 151, f. 31v-32v entstand im 16. Jahrhundert. Gedruckt existiert die Prophezeiung (ziemlich fehlerhaft) in der von Ignaz Gropp vorgelegten Ausgabe: Michael de Leone Chronik, c. 122. In der von Johann Friedrich Boehmer edierten, bis heute maßgeblichen Ausgabe der Chronik erscheint dagegen lediglich das Incipit der Prophétie. Der Rest fehlt mit der Begründung, das Gedicht sei ohne historischen Gehalt. Vgl. Boehmer 1843, I, S. 477, Anm. 1. Zu Michael de Leone vgl. Keyser 1964. Kornrumpf 1987. Manuale des Michael de Leone, Würzburg, UB, M. p. misc. f. 6, f. 35v. Vgl. zu dieser geradezu klassischen Auffassung über die Funktion der Prophétie: Southern 1972, -

S. 161.

Hildegard in den chronikalisch-annalistischen Schriften

419

Hildegards 38 Quaestionum Solutiones, die wurden. Ein Vergleich beider Handschriften von Michael nicht berücksichtigt daß eine dem sie zu führt auf gemeinsame Quelle zurückgehen, die Ergebnis, sich mit großer Wahrscheinlichkeit in der Würzburger Dombibliothek befunden hat und die Hildegards Liher divinorum operum fälschlicherweise mit dem Liber vite meritorum identifizierte. Wir wissen, daß Michaels vertrauter Schreiber Gyselher von Salcza im Jahre 1352 in der Würzburger Dombibliothek tätig war und dort die Rubricae missarum für Michael abschrieb.2 Man wird in dieser Tätigkeit das verbindende Element Gyselhers bzw. Michaels zu den Texten der hl. Hildegard erblicken dürfen. Uber den konkreten Inhalt der Prophetien Hildegards bzw. Pseudo-Hildegards hinaus sind die erwähnten Texte für Michael auch deshalb von Bedeutung, weil Michael sich an einer wichtigen Stelle seiner Chronik ganz der visionären Sprache Hildegards anschließt. hatte.1 Des weiteren erscheinen dort

Auflistung weiterer Testimonien Die Vielzahl der Erwähnungen von Hildegards Prophetien oder Bezugnahmen auf ihre Biographie macht es unmöglich, all diesen Äußerungen im Detail nachzugehen. Da sie in weiten Teilen untereinander identisch, zumindest aber sehr ähnlich sind, ist dies jedoch auch nicht erforderlich. Im Sinne einer Abrundung des Befundes seien nachfolgend einige weitere Testimonien benannt:3 1.4

Summarische

Theodoras monachus, Annales Palidenses [Kloster in der Nähe von Hildesheim; abgefaßt 1182?]. Ed. G. H. Pertz (MGH SS XVI), Hannover 1859, 48-98: hier: AD 1158, S. 90 26-30: His etiam diebus in sexu fragili signa potentie sue Deus ostendit, in duabus ancillis suis, Hildegarde videlicet in monte Roperti iuxta Pinguiam, et Elisabeth in Schonaugia, quas spiritu prophétie replevit, et multa eis genera visionum que scripte habentur per euangelium revelavit. Annales et notae Scheftlarienses maiores a. 1092-1247 (abgefaßt um 1240). Ed. Ph. Jaffé (MGH SS XVII), Hannover 1861, 335-343; hier: S. 339 13F. (AD 1229): Hoc tempore secundum visionem Hiltegardis decus clericorum et maxime claustralium vilescere cepit. Annales S. Disibodi anno 891-1200. Ed. G. Waitz (MGH SS XVII), Hannover 1861, 4-30; hier: S. 25 12-15 (AD 1136): -

-

-

1

2 3

F. lr-35r enthalten die rubricae missarum des Domes, geschrieben von Gyselher von Salcza im Jahre 1352. F. 36r-43r bringen die Prophezeiungen Hildegards, die nach dem Schriftbild in das erste Viertel des 14. Jahrhunderts zu datieren sind. Vgl. hierzu Wegner 1970, S. 21. Vgl. hierzu auch Gouguenheim 1996, S. 191, Fußn. 16.

Kapitel 1

420

anno 11. Kai. Ianuarii obiit divae memoriae domna Judda, 24 annis in sancti Dysibodi inclusa, soror Megenhardi comitis de Spanheim. Haec sancta mulier inclusa est Kaiend. Novembris, et aliae très cum ea, scilicet Hyldegardis et suimet vocabuli duae; quas etiam, quoad vixit, sanctis virtutibus imbuere studuit.

Eodem monte

Christian von Mainz, Liber de calamitate ecclesiae moguntinae. [Chronica des Christian von Mainz (1249-1253)]. Ed. H. Reimer (MGH SS XXV), Hannover 1880, 236-248; hier: S. 243 19-22: -

Erat

quedam

sancta

virgo

nomine

Hildegardis,

que per

spiritum

vidit

ipsum

Abrnoldum] moriturum; scripsisse quoque ei dicitur in hec verba: O pater, enim funes abstracti canibus qui insequuntur te. Non autem sunt tibi, prospice acquievit monitis aliquorum. cicius

Annales Zwiefaltenses (abgefaßt im 14. Jh.). Ed. Otto Abel (MGH SS X), Hannover 1852, 64-92; hier: S. 56 24F. (AD 1142): Hiis temporibus über Scivias multum chatholicus [!] cuidam incluse nomine Hiltgardis a Deo revelatus est. -

Fragmenta (14. Jh.). Ed. O. 1896, 16-19; hier: S. 19 19F. (AD

Annalium S. Blasii Brunsvicensium Maiorum

Holder-Egger (MGH XXX, I), -

Hannover

1155): Hildegardis in monte sancti Ruperti iuxta Bingiam et Elizabeth in Sconougia prophétie spiritu claruerunt. Levold von Northof, Die Chronik der Grafen von der Mark (abgefaßt ca. 1350-1359). Ed. Fritz Zschaeck (MGH SS Rerum Germanicarum. N. S. VI), Berlin 1929, hier: S. 22 16-18 (AD 1149): Hoc tempore erat Hildegardis, que mansit prope Pinguiam super Renum et multa miranda predixit. Johannes Longus de Ipra (7 1383), Chronica Monasterii Sancti Bertini (MGH SS XXV), Hannover 1880, 736-866; hier: S. 801 47-49: Eius tempore [1145; Ergänzung] floruit in Alemannia Hildegardis monialis formosa magnaque prophetissa, cuius corpus in Pigna super Rhenum requiescit; cuius virginis prophecias in hoc monasterio penes non habemus. Annales Marbacenses (Marbach im Elsaß [abgefaßt 1375-1380]). Ed. Rogerus Wilmans (MGH SS XVII) Hannover 1861, 142-182; hier: S. 179 23-25 (AD 1332): A. D. 1332 in die beati Stephani circa crepusculum noctis vise sunt choruscaciones horribiles, audita sunt tonitrua terribilia, et grando mirabilis cecidit super terram. Prophetia Hiltgardis : Si in mense Decembri tonitruum sonuerit, anone habundanciam, pacem et concordiam significat. -

-

-

Hildegard in den chronikalisch-annalistischen Schriften

421

Jacobus de Guisia, Annales historiae illustrium principum Hanoniae (abgeca. 1400-1414). Ed. E. Sackur (MGH SS XXX), 44-334; hier: S. 221 9-14 (AD 1165): Cap. XXXVI. De Hildegarde virgine, que predixit multa de futuris, et de exulatione sancti Thome Cantuariensis. Anno Domini MCLXV. Philippus apud Mortuum mare. Eodem tempore floruit in Alemannia sancta virgo Hildegardis, que multa fertur predixisse de futuris. Ad quam scripsisse dicitur etiam beatus Ber-

faßt -

-

-

nardus Clarevalensis. Hie ad Colonienses scribens de futura clericorum tribulacione dicit, quod clerici gloriam absque merito volunt habere et meritum absque opere.

-Thomas Ebendorfer (1388-1464), Chronica Pontificum Romanorum (abgefaßt ca. 1458-1464). (MGH Scriptores Rerum Germanicarum. N. S. Bd. XVI). Ed. Harald Zimmermann. München 1994; hier: S. 384 9-16 (AD 1148/52): Per idem tempus

Hyldegardis Pigwie inclusa virgo provecte etatis, cum prius esset tarnen rapta in sumnis frequencius disceret, quod non verbis sed et Latino ydiomate in scriptis effunderet; ad hanc extat epistola beati Bernardi et eiusdem plures ad clerum Moguntinum, Coloniensem et Treuerensem layca illiterata, exhortatorie,

mirabiliter

ut mores tetros

cionem interserit inproperans, meritum sine opere.

in melius reformarent, ubi et futuram cleri tribulaquod clerici gloriam siciunt habere absque merito et

[Quelle : Hildegards Brief an den Klerus von Köln, Gebenos Pentachronon oder

Vinzenz

von

Beauvais?].

Zusammenfassung Hauptüberlieferungsträger der Schriften Hildegards im späten Mittelalter, genauer gesagt, nach dem gescheiterten Kanonisationsversuch von 1233/37, ist die Kompilation des Zisterzienserpriors Gebeno von Eberbach (Pentachronon). Originäre Hildegard-Texte werden zu dieser Zeit zwar ebenfalls noch kopiert, 1.5

doch meistens nur noch in Form selektierender Auszüge; Inkunabeldrucke fehlen ganz. Trotzdem ist Hildegard im Schrifttum der Zeit, insbesondere in den Chroniken und annalistischen Werken, auf vielfältige Weise präsent. Es existieren Textauszüge, pseudepigraphische Schriften sowie reine Namensnennungen. Insgesamt läßt sich eine deutliche Tendenz zur Reduktion Hildegards auf ein autoritativ zitiertes Appelativum feststellen. Eine produktive Auseinandersetzung mit Hildegards Werk findet im Bereich der chronistisch-annalistischen Literatur nicht mehr statt. Daß diese Tendenz auf der anderen Seite keinen Verlust an Einfluß bedeutet, muß gleichfalls betont werden. Schon die Erwähnung von Hildegards Namen, verbunden mit kurzen Textzitaten, verbürgt an der Wende vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit offensichtlich die erwünschte Wirkung. Hildegard ist zur klassischen Autorität emporgestiegen, die gar nicht mehr ausführlich gelesen werden muß. Allerdings sind es ausschließlich prophetische Texte und Informationen aus ihrer Biographie, die in

422

Kapitel 1

den historischen und literarischen Schriften des 13. bis 15. Jahrhunderts auftauchen. Von besonderer Bedeutung sind Hildegards Brief an den Klerus von Köln sowie die apokalyptischen Teile aus dem Scivias und dem Liber divinorum operum, wie sie sich im Pentachronon Gebenos finden. Sie bieten die besten Möglichkeiten, durch einen Rückgriff auf apokalyptisches Gedankengut den Reformimpulsen der eigenen Zeit die nötige Durchschlagskraft zu verleihen. Daneben tritt in formelhafter Gleichmäßigkeit die Aussage, Hildegard habe die aktuelle Verwirrung von Volk und Klerus zuverlässig vorausgesagt. Die naturund heilkundlichen Texte sind in den chronikalisch-annalistischen Rezeptionsbereichen bedeutungslos. Bei einzelnen Schriftstellern lassen sich stereotype Zitationsstafetten nachweisen, die nahezu vollständig aus den Vorlagen geschöpft sind und langfristig tradiert werden ([Pseudo-JWilhelm Godellus, Robert von Auxerre, Vinzenz von Beauvais). Darin wird Hildegard in eine Reihe gestellt mit den spätantiken Sibyllen, mit Pseudo-Methodius, Joachim von Fiore, Birgitta von Schweden, Elisabeth von Schönau und anderen prophetischen Gestalten. Innerhalb dieser Reihe nimmt sie allerdings einen durchaus prominenten Platz ein. Eine systematische Durchforstung des spätmittelalterlichen chronikalischen Schrifttums nach weiteren Hildegard-Spolien würde diesen Befund vermutlich nur erweitern, nicht aber revidieren.

KAPITEL 2

im rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

[pseudo-jhlldegard

Mystik, Ars moriendi, Reformschrifttum und Predigtliteratur Ein reichhaltig überlieferter Reformtext, der unter dem Namen Hildegards tradiert wurde, wurde u. a. von Dietrich von Niem (ca. 1340-1418) aufgegriffen. Die Prophétie wird zitiert nach ihrem Incipit und lautet Quamvis bominibus. Vom Inhalt her geht es um das Auftreten eines Rex romanorum sowie um die

2.1

Zeit des Großen Schismas im Vorfeld des Konzils von Basel. Der Text, den José Carlos Santos Paz ediert hat, liegt in elf Handschriften vor, von denen keine vor dem Beginn des 15. Jahrhunderts entstanden ist.1 Es sind dies: Antwerpen, Museum Plantin-Moretus, lat. 179, f. 25v-26v (15. Jh.); Basel, UB, Cod. A. IV. 20, f. 266v-267r (2. Viertel des 15. Jh.); Basel, UB, Cod. E. I. 4, f. 555rv (1. Hälfte 14. Jh.?); Köln, Historisches Archiv, Gymnasialbibliothek, Hs 4°214, f. 186r-187v

Erneuerung der Kirche

zur

(1440/55); Prag, Metropolitetni Kapitoly, D XII (577), f. 213v-215r (1414); Prag, Metropolitetni" Kapitoly, F XII (858), f. 285v-286v (1465/73?); Prag, Universitetni' Knihova, 299 (i.G.23), f. 160v-161v (1415/16); Prag, Universitetni Knihova, 2377, f. 95v-98r (1428/29); Trier, StB, Hs 1928/1478, f. 225r-226v (15. Jh.); Vaticano, Bibl. Apost., Pal. lat. 1257, f. 112r-114r (1422); Wien, ÖNB, Cod. 11413 (rec. 1886), f. 24r-25r (16./18. Jh.) Auch im Werk des Dominikaners Johannes Tauler (ca. 1300-1361) hat Hildegard Spuren hinterlassen. Eine Kolportage schreibt Tauler das Vorwort zu einer 1566 erschienenen Sammlung der Briefe Hildegards zu, und in seinen

Predigten zitiert Tauler einzelne Bilder aus dem Scivias.2 In einer dieser Predig-

bezieht Tauler sich ausdrücklich auf zwei Illustrationen aus dem illuminierRupertsberger Codex. Es handelt sich um Darstellungen der personifizierten Gottesfurcht, der Armut im Geiste sowie der unerkennbaren Gottheit. Louise Gnädinger vermutet, Tauler habe diese Bilder „offensichtlich im gesamten Zusammenhang der Handschrift" kennengelernt.3 Darüber hinaus seien sie ten

ten

1 2 3

Santos Paz 2000, S. 39-42. Dieses Vorwort wird erwähnt von Chladenius Dissertatio, S. 40: lerus, cujus praefatio in Epistolas Hildegardianas extat." Gnädinger 1993, S. 37.

„Applaudat Tau-

Kapitel 2

424

ihm auch in Form von Fresken bzw. auf die Wand applizierten Kopien geläufig gewesen, die sich im Refektorium des Schwesternkonvents von St. Gertrud am Neumarkt in Köln befunden hätten.1 Taulers Predigt selbst stand unter dem Thema ,In domo tua oportet me manere' (Lk 19,5).2 Allerdings beschreibt Tauler die Personifikation der Armut im Geiste hier nicht in allen Details so, wie sie im Scivias (vgl. visio I, cap. 3) zu betrachten ist. Dort trägt sie ein unauffälliges, blasses Kleid und weiße Schuhe. Der Kopf fehlt, denn Gott selbst ersetzt ihr das Haupt durch einen von oben herabströmenden rotgoldenen Gnadenfluß. Bei Tauler hingegen tritt die Armut im Geiste, ebenso wie die Furcht Gottes, barfuß auf.3 Im unmittelbaren Umfeld Taulers zitiert der Wanderprediger Heinrich von Nördlingen (um 1310 vor 1387) die prophetische Autorität [Pseudo-JHildegards. Er tut dies in einem aus dem Jahre 1349 stammenden Brief an Margarete Ebner OP (1291-1351). Unter dem Eindruck der erwarteten apokalyptischen Plagen war es in den Kreisen um Tauler und Rulman Merswin ein Problem, ob man sich unter Gottesfreunden gegenseitig vor dem kommenden Unheil warnen solle, um ihm zu entfliehen. Hintergrund der Debatte war der Ausbruch der Beulenpest im Jahre 1349, die (so die Überlieferung) allein in Straßburg 16.000 Opfer gefordert haben soll. Heinrich beruft sich auf eine Aussage Hildegards, wonach die Gottesfreunde tatsächlich um die Errettung aus dem Verderben füreinander besorgt sein sollten.4 Die Österreichische Nationalbibliothek Wien überliefert unter dem Namen Hildegards einen aus dem H.Jahrhundert stammenden, in niederdeutscher Sprache geschriebenen Traktat Vom Tod und letzten Gericht (Cod. 2739, f. 195v-200r). Die rubrizierte Überschrift lautet: „Dit iz uzgenommen dem buoge der seligen hildegarde von dem dode yklichs". Der Text schildert die spezifischen Todesarten von vier verschiedenen Menschentypen, über die [Pseudo-]Hildegard angeblich in Form von Visionen Aufschluß erhalten haben will. die in der Ars moriendi eine bedeutende Rainer Rudolf zufolge treten hier Rolle spielenden Anfechtungen des Teufels in der Todesstunde zum ersten Mal auf."5 Dieser Text [Pseudo-JHildegards findet sich auch in einer aus dem Jahre -

„...

1 2

Vgl. Prieur 1983, S. 165, Anm. 110. Vgl. Tauler Predigten, S. 379f. Weitere Hildegardbezüge Zitat) und

3 4

5

S. 311.

Taulers ebd., S. 175 (mit

Wir unterscheiden uns mit dieser Aussage von Gnädinger 1993, S. 277, die eine absolute Bildidentität behauptet. Vgl. Ebner Mystik, S. 267 qf., Brief LUI, mit der zugehörigen Anm. S. 390. Demnach sind die betreffenden Prophezeiungen im Werk Hildegards nicht zu belegen. Heinrich Denifle erwähnt Taulers Bezüge auf Hildegard in einer gedruckten Ausgabe seiner Schriften (Köln 1543, f. 33rb). Denifle 1879, S. 30. Rudolf 1957, S. 13. Das Incipit lautet: „O alle menschen nemint bit ernste war vnz elendem ende"; das Explizit: „des si sin ewig name an ende gebenediet Amen."

[Pseudo-JHildegard im Rahmen

literarischer

Rezeptionszusammenhänge

425

stammenden Sammelhandschrift der UB Salzburg, die u. a. einen Textzeuder Visio Tnugdali enthält.1 gen Die gleiche Wiener Handschrift enthält einen weiteren Hildegard zugeschriebenen Text: Wie man den Weg des geistlichen Lebens einschlagen soll (Cod. 2739, f. 167vb-168vb). f. 167vb beginnt mit der Wendung: „Iz geschach eyne gotliche offenbarunge der seligen Hildegarde." Auch dieser Text stammt aus dem 14. Jahrhundert. Auf f. 215v erscheint ein Provenienzvermerk, der in einem zeitgenössischen moselfränkischen Dialekt abgefaßt ist. Er benennt einen gewissen Peter von Wünningen als Vorbesitzer der Handschrift; dieser habe sie an die Beginenklöster Camp und St. Martin bei Boppard weitervererbt.2 Wichtig ist dieser Textzeuge auch deshalb, weil von ihm einige Inkunabel- und Frühdrucke erschienen sind (Leipzig 1498, Augsburg 1508 und Köln 1543). Ein plastisches Beispiel für die Rezeption Hildegards im Umfeld der sogenannten Sibyllen-Weissagungen liefert das um 1320/21 entstandene SibyllenLied? Dieser Texttyp steht in der Tradition antiker, biblischer und patristischer Prophetien über den Untergang der Welt und das Jüngste Gericht. Dabei handelt es sich um Unheilsprophetien, die von weiblichen Trägerinnen vermittelt werden. Eine besondere Rolle als Quelle für die sibyllinischen Prophetien spielt ein von Augustinus verwendetes Akrostichon über die 15 Vorzeichen des Jüngsten Gerichts (De civitate Dei, XVIII, 23). Die Erklärung dieser angeblich von der erythräischen Sibylle stammenden Weissagung fand breitesten Einklösterliche und in in die mittelalterliche Weltchrodas Schulprogramm gang nistik. Einen parallelen Texttyp zu den Sibyllen-Weissagungen bilden die Revelationes des Pseudo-Methodius. Das Sibyllen-Lied ist in sechs Handschriften überliefert, eine kritische Edition steht noch aus. Die Vorzugshandschrift (UB Leipzig, Rep. II 70 a) umfaßt fünf Strophen. In Strophe 4 beantwortet die in einem Dialog mit König Salomon befindliche Sibylle die Frage nach den letzten Fürsten des Reiches. Kurioserweise beruft sie sich hierbei auf Hildegard von Bingen! Zuvor hatte sie geweissagt, die Welt werde bis zum Jahre 1321 (spätere Redaktionen: 1361) bestehen und dann in Chaos versinken: Es werde ein A auftreten und ein anderes A schlagen. Danach käme ein H. Schließlich kämpften 1441

-

-

1 2

Universitätsbibliothek Salzburg M I 476, Text 15 (f. 103r 5O-103v 51). Vgl. Palmer 1982, S. 311. Die gesamte Handschrift, die im übrigen vorwiegend aus Tauler-Predigten bestellt, wurde 1929 von A. L. Corin ediert: Tauler Sermons. Die Hildegard-Texte erscheinen auf S. 381-382 und S. 383-387. Corin gibt die Lesarten einer älteren Ausgabe (Tauler Predigten) sowie Hinweise auf die Frühdrucke Leipzig 1498, Augsburg 1508 und Köln 1543 (s.o.). Der Inhalt ist angegeben bei Naumann 1915 (durch Corin überholt). Vgl. des weiteren Lieftinck 1936. Dazu: Kunisch im Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 58 (1939), S. 131-136. Strauch 1920, S. 16 und 20. Pfeiffer 1857, Bd. II: Meister Eckhart, S. VIII (Nr. 11). Beschreibung der Handschrift bei Menhardt 1960, S. 232-247. Mit der Typisierung Hildegards als (tiburtinisclier) Sibylle hat sich wiederholt Peter Dronke befaßt: Dronke 1995 Dronke 1997. -

-

-

3

-

Kapitel 2

426

über sieben

Jahre hin ein F und ein L, bis das F den Sieg davontrüge. Eine Entschlüsselung der Initialen wird nicht gegeben. Aufgrund der genannten Jahreszahl 1321 und der siebenjährigen Kampfesdauer läßt sich aber darauf schließen, daß die Auseinandersetzungen zwischen Friedrich dem Schönen von Osterreich (F) und Ludwig dem Bayern (L) gemeint sind. Daß dieser Kampf in Wirklichkeit acht Jahre dauerte und nicht mit dem Sieg von F (= Friedrich), sondern von L (= Ludwig) endete, spielt dabei keine Rolle: spätere Redaktionen änderten diese Angaben um. Wichtig ist, daß diese Informationen einen Parteigänger Friedrichs (u. U. Pfalzgraf Rudolf, den älteren Bruder Ludwigs) als Auftraggeber vermuten lassen.1 Was die Berufungen des Gedichts auf Hildegard von Bingen anbetrifft, so

können diese nicht im wortwörtlichen Sinne verstanden werden. Es wird keine unmittelbare Quelle genannt. Vielmehr geht es dem Verfasser um die idealtypische Stilisierung einer christlichen Endzeitvisionärin. Ähnlichkeiten in einzelnen Details der Prophetien, etwa im Motiv der Wolfszähne oder des Regenbogens, resultieren nicht aus direkter Abhängigkeit, sondern aus übergeordneter Motivgemeinschaft. F. Vogt hat darauf hingewiesen, daß einzelne Passagen des Sibyllen-Liedes, darunter die Hildegard-Texte, in eine zweite Dichtung dieser Art, die sogenannte Sibyllen-Weissagung, eingeflossen sind. Diese SibyllenWeissagung ist zwischen 1360 und 1378 im rheinfränkischen Raum entstanden.2 Neben ca. 40 handschriftlichen Textzeugen existieren von dem reichhaltig überlieferten Werk 14 Druckausgaben mit Erscheinungsjahr 1451/53-1517 sowie 16 weitere mit Erscheinungsjahr bis 1640.3 Die fragmentarisch erhaltene Erstausgabe der Sibyllen-Weissagung von 1451/53 entstand in der Offizin Johann Gutenbergs und gilt als ältester mit beweglichen Lettern hergestellter deutschsprachiger Text überhaupt ein deutlicher Hinweis auf das Bedürfnis der Zeit nach Schriften solcher Art! Vom Inhalt her handelt es sich um eine Menschheitsgeschichte in Reimpaarversen. Im Stile einer mittelalterlichen Chronik setzt das Werk mit der Erschaffung der Welt ein und spannt den Bogen bis hin zum Weltende. Eine unmittelbare Nachwirkung erzielte die sibyllinische Dichtung in der Konstanzer Weltchronik.4 Diese bis zum Jahre 1383 reichende volkssprachliche Darstellung der Weltgeschichte schöpft in ihrem eschatologischen Teil u. a. aus dem Sibyllen-Lied. Sie verarbeitet die dort enthaltenen Prophetien Hildegards und nennt als Termin für den Beginn der Hungerzeit und der Kriege das Jahr 1361. Es folgen weitere Bestandteile des Sibyllen-Liedes, die entfernt an Hil-

1

Den

Prophetien Joachims

Friedrich. 2 3 4

Vgl.

von

Fiore

zufolge trägt der letzte

Neske 1985. Palmer/Schnell 1992. S. 278-280 [Sibyllenlied]. -

Herrscher den Namen

Repertorium 1988, lMarn/6/101a, -

Vgl. die Faksimile-Edition der Ausgabe 1525: Sibyllen-Weissagung auch die Faksimile-Ausgabe Weissagungen. Konstanzer Weltchronik.

Vgl.

1525/1989. -

[Pseudo-JHildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

427

degard erinnern. Die entsprechenden Partien sind insofern von Interesse, als sie ganz auf der Linie von Hildegards gesellschafts- und kirchenpolitischen Reformideen liegen. Es geht um Auswüchse der Mode, Verfall der Sitten, Kritik am Unglauben der Zeit, Niedergang des Klerus und ähnliches mehr. Sie verknüpfen die eigentliche Sibyllen-Tradition und deren eschatologisch-apokalyptische Tendenz mit einer weit ausholenden Kritik am Sittenverfall der eigenen Zeit. Auch die nur in einer einzigen Handschrift überlieferte Oberrheinische Chronik erwähnt Hildegard im Zusammenhang eines virulenten Endzeitbewußtseins.1 Die Oberrheinische Chronik ist die älteste Weltchronik in volkssprachlicher Prosa. Formal lehnt sie sich an die im Mittelalter weit verbreiteten Papstund Kaiserchroniken an, deren klassisches Muster der Dominikaner Martin von Troppau mit seinem Chronicon geschaffen hatte. Die Oberrheinische Chronik berichtet (inklusive der Nachträge) bis zum Jahr 1349. Dabei gemahnt die über Venedig und Marseille nach Avignon vorrückende Pest an Prophetien der Apokalypse und Hildegards von Bingen: men, das die prophecien Apocalipsis und Hiltgardis und ander prophecien von dem iungesten tage und von dem endecrist nie so gar wurdent erfüllet

Und meinet

als dis iores.2

Magister Heinrich von Langenstein schrieb im Jahre 1383 Kloster Eberbach aus einen traktatartigen Brief De schismate an den Bischof von Worms, Eckard von Ders (1371-1405). Darin trug er aus den Schriften Hildegards all das zusammen, was er zur Aufrichtung der eigenen, verwirrten Zeit (Avignon!) finden konnte.3 Heinrich deutet Hildegards Prophezeiungen im Hinblick auf das Papstschisma und verkündet das baldige Kommen des Antichrist. Er betrachtet die Geschichte unter dem Modell des sich verschlimmernden Ablaufs. Hildegard tritt auf als Sibylle der Germanen: Der oben erwähnte

von

unerschöpflichen Barmherzigkeit, indem er aus dem unausUberfluß seines Mitleids auch denen Erbarmen zu zeigen sucht, die ihn nicht suchen, und um die Sterblichen, deren naturgemäße Gier nach Neuigkeiten ihm bekannt ist, anzuspornen, hat es oft, einzigartig barmherzig, gewährt, über die genügenden Mahnungen der alten Schriften und Väter hinaus auch neue Propheten zu inspirieren, den Frommen Visionen einzugeben und neue Sibyllen Das setze ich voraus, da es mich dazu bewegt, in diesem Brief zu erleuchten etwas weiteres über die Weissagungen und Mahnungen der wundersam erleuchteten Sibylle der Germanen, der Nonne Hildegard, zu unserer Erbauung und Verbesserung in diesen abwegigen Tagen mitzuteilen. [Text in dt. Übers.].4 Gott, der in seiner

sprechlichen

...

1 2 3 4

Oberrheinische Chronik, S. 41-66. Oberrheinische Chronik, S. 64.

Vgl. Helm

1920.

Vgl. Sommerfeldt 1909. Hohmann 1977, S. 36 (Anm. 37) und S. 225. Der lateinische Originaltext lautet nach Sommerfeldt 1909, S. 47: „Verum deus inex-

hauribilis misericordie, querens misereri eciam eorum, qui eum non querunt, ex ineffabili sue pietatis habundancia, et excitare mortales, quos naturaliter novitatum novit

Kapitel 2

428

In einem um 1384 entstandenen Brief tröstet Heinrich den Wormser Bischof über den Tod seines Bruders. Dabei vergleicht er die Endzeitprophetien Hildegards mit jenen Joachims von Fiore. Beide Autoren versichern, so Heinrich, daß vor der Ankunft des Antichrist eine Zeit der Reformen stünde, in der die Kirche „die Morgenröte ihrer ursprünglichen Heiligkeit" [„aurora primitive sanctitatis"] wiedererlange. Diese Aussage finde sich nicht nur bei Joachim, sondern auch „in den Büchern der schon genannten Sibylle [„in libris dicte Sibille"], d. h. Hildegards.1 In dem am Himmelfahrtstag 1390 in Wien gesprochenen Sermo de ascensione Domini erwähnt Heinrich von Langenstein Hildegard ein weiteres Mal. Er vergleicht sie hier mit Methodius und stellt sie in eine Reihe mit anderen, namentlich nicht genannten Sibyllen.2 Von Bedeutung sind Heinrichs Hildegard-Bezüge auch insofern, als sie eine über Gebenos Kompilation hinausgehende Vertrautheit mit Hildegards Schriften erkennen lassen. Seine Worte „Hec sancta virgo ab infancia visiones solita habere mirandas, ut in eius vita legitur", gehen, wie Peter Dronke ermitteln konnte, nicht auf Gebeno zurück.3 Sie setzen eine Kenntnis der autobiographischen Stelle in Vita, CC, 22 f. voraus („tercio etatis mee anno tantum lumen vidi, quod anima mea contremuit, sed pre infantia de his nichil proferre potui"). Ein weiteres Dokument zur spätmittelalterlichen Hildegard-Rezeption liefert ein Text des päpstlichen Kanzleibeamten und kirchenpolitischen Schriftstellers Dietrich von Niem (ca. 1340-1418).4 Dabei handelt es sich um Exzerpte aus Gebenos von Eberbach Pentachronon, die Dietrich zwischen Oktober 1411, dem Fertigstellungsdatum seines Viridarium imperatorum et regum Romanorum, und 1413/14, dem Abfassungszeitraum seiner Privilégia aut iura imperil circa investituras episcopatum et abbatiarum, erstellt hat. Da auch die Privilégia Hildegard zitieren, kann man wohl davon ausgehen, daß die Gebeno-Exzerpte den Privilégia als Stoffsammlung gedient haben. Irrtümlicherweise ordnet Dietrich den Gebeno-Text direkt Hildegard von Bingen zu, ohne Gebeno zu erwähnen. Der Text findet sich in einer Handschrift der Universitätsbibliothek Würzburg (Cod. M. ch. f. 131), die ursprünglich zum Bestand des Würzburger Schottenklosters St. Jakob gehörte (alte Signatur: D VI). Eine zweite Würzburger Handschrift, Codex M. ch. f. 138 (olim B XIII), enthält auf f. 247-258 das gleiche

avidos,

sepe singulari misericordia ultra veterum hortamenta scripturarum et doctosufficienda novellos dignatus inspirare est vates, devotis infundere visiones et Hec premisi, ut in hac epistola de vaticiniis et hortamentis novas illustrare Sibillas mirande illustracionis Theotonicorum Sibille, sanctimonialis Hyldegardis, aliquid sub deviis istis diebus ad edificacionem nostram et correccionem in medium adducturi rum

...

amplius 1 2

moveamur." Zit. nach Sommerfeldt 1909, S. 306f. „Tercio quidem innixi sunt revelacionibus, que facte dicuntur

de ultimis temporibus, ut Methodio Martiri, aliis." Zit. nach Sommerfeldt 1909, S. 46. 3 4

Dronke 1997, S. 117. Vgl. Heimpel 1951b.

Hilligarde

et

quibusdam singulariter

aliis nonnullis Sibillis

et

[Pseudo-]Hildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

429

Hildegard-Material noch einmal. Hierbei handelt es sich um ein Autograph des Johannes Trithemius aus der Vorlage der Handschrift Codex M. ch. f. 131. Der Einband von Cod. Ms Chartaceus f. 131 zeigt Eigentümlichkeiten eines Würzburger Buchbinders, bei dem Johannes Trithemius, der Abt des Schottenklosters, arbeiten ließ (Würzburger Trithemius-Meister). Nach Hermann Heimpel besteht kein Zweifel daran, daß die Handschrift im Auftrage des Trithemius gebunden wurde. Der Codex umfaßt insgesamt 228 Blätter mit verschiedenen biblisch-historischen Schriften, f. 211-222 bilden einen später beigefügten Sextern, dem f. 223 als dreizehntes Blatt nachträglich angefalzt wurde. Diese dreizehn Blätter unterscheiden sich durch die Papierqualität und den Schriftduktus deutlich von dem vorhergehenden Teil. Sie bilden eine separate Einheit. Nimmt man die von Dietrich exzerpierten Texte genauer in den Blick, so zeigt sich, daß vorwiegend aus dem Scivias, dem Liber divinorum operum sowie aus dem Epistolarium zitiert wurde (Briefe Hildegards an den Kölner und an den Trierer Klerus, an Werner von Kirchheim, Papst Anastasius sowie an Konrad III.). An einer Stelle schöpft Dietrich allerdings nicht aus Gebeno, sondern unmittelbar aus Hildegard. Diese Stelle (f. 212) betrifft die Einleitung sowie den Schluß von Buch III, visio 10 des Scivias. Dietrich hat also Hildegards Werke nicht nur durch den Auszug Gebenos gekannt. Daß er sie offensichtlich hoch schätzte, beweist ein von ihm selbst erwähnter Besuch an Hildegards Grab, in dessen Zusammenhang er auch die Bücher der Seherin gesehen haben will. Dieser Besuch hat vermutlich in den Jahren 1408/09 stattgefunden und geschah im Rahmen einer kirchenpolitisch begründeten Reise Dietrichs nach Köln und Aachen. Doch geht Hermann Heimpel davon aus, daß Dietrich auf dem Rupertsberg keine Exzerpte angefertigt habe, „diese vielmehr aus irgendeiner Hs und wohl in Italien gemacht habe."1 Diese Annahme ist nicht unwahrscheinlich. In den Privilégia aut iura imperil circa investituras episcopatum et abbatiarum oder, wie der Text später genannt wurde, der Cronica aus den Jahren 1413/14, erwähnt Dietrich, daß die Rupertsberger Nonnen sich häufig weigerten, ihre Handschriften zu zeigen. Eine von ihnen habe ihm, Dietrich, mitgeteilt, sie fürchteten nichts so sehr wie gewaltsamen Raub. Hier die Ori-

ginalpassage :

Corpus eius [Hildegards, Ergänzung] exanime in predicto monasterio [Rupertsberg; Ergänzung] cunctis petentibus palam demonstratur, quod et ego vidi, et libri eius ibidem sub magna custudia sunt, et moniales loci illius sepius libros negant timentes,

1

2

ut

ab

una earum

intellexi, quod spolientur eis violenter.2

Heimpel 1951b, S. 91. Heimpel 1951b, S. 91 mit Fußn. 17. Dietrichs Privilégia sind erstmals abgedruckt bei Schard 1566, S. 837B. Eine kritische Edition der Schrift findet sich unter dem Titel Cronica in: Dietrich von Nieheim Cronica, hier: S. 251 8-n. Weitere Hinweise zur Hildegard-Rezeption Dietrichs finden sich bei Heimpel 1951a, S. 45. 231. 241. 247f.

Kapitel 2

430

Die Hildegard- bzw. Gebeno-Exzerpte des Dietrich von Niem aus der Würzburger Handschrift Cod. M. eh. f. 131 stellen kein Autograph Dietrichs von Niem dar, dies hat Hermann Heimpel auf Grund eines Schriftvergleichs sichergestellt. Fragt man nach der Funktion, die Hildegards Texte innerhalb von Dietrichs Schriften besaßen, so gilt folgendes : Dietrich sah den mit dem Hause Luxemburg einhergehenden Reichsverfall der letzten zweihundert Jahre als Erfüllung einer Prophezeiung Hildegards an:

virginem Hildegardam, qualiter imperium negligentiam imperatorum, qui fuerunt post earn, valde diminueba-

Quia tangitur hie propter

per eadem

sanctam

tur

Hauptthema, das er den neu installierten Habsburgern wie einen Fürstenspiegel vor Augen hält, betrifft das Schisma, die Konzilsidee, die Reformbedürftigkeit von Kirche und Reich sowie die Neubelebung des Kreuzzugsgedankens. Ein interessantes Dokument zur Wirkungsgeschichte des illuminierten Scivias liefert der Adamas colluctancium aquilarum (Bibl. Vat., Cod. Pal. lat. 412) des Juristen und Kirchenschriftstellers Winand von Steeg (1371-1453).2 1394 hatte Winand sich an der Universität Heidelberg immatrikuliert. Zwei Jahre später wurde er dort zum Baccalaureus artium, im Jahre 1401 zum Baccalaureus iuris promoviert. Auch später pflegte Winand Kontakte zur Kurpfalz, vor allem durch seine enge Verbindung zum kurpfälzischen Landesherrn Ludwig III. Für 1417 ist ein Aufenthalt Winands am kurpfälzischen Hof in Amberg bezeugt. Winand von Steeg beherrschte sowohl die lateinische als auch die hebräische Sprache. Darüber hinaus galt er als bestechender Lehrer der Redekunst. Von seiner hohen Bildung legt nicht nur eine Vielzahl einschlägiger Schriften Zeugnis ab, er durchlief auch eine glänzende Karriere. Nacheinander begegnet Winand als Lehrer des Kirchenrechts an der Universität Würzburg, als Rechtsvertreter der Stadt Nürnberg beim Konzil von Konstanz und schließlich als Sekretär König Sigismunds. Dem kunstsinnigen Pfalzgrafen Ludwig hat Winand zwei Traktate gewidmet. Der erste Text ist der Möns quatuor fluvialium arborum. Es basiert auf Winands Vorlesungen über die Arbores consanguinitates et affinitates und wurde dem Kurfürsten aus Anlaß von dessen Hochzeit mit Mechthild von Savoyen am 30. November 1417 zugeeignet (Bibl. Vat., Cod. Pal. lat. 411). Der zweite Text ist eben der Adamas colluctancium aquilarum oder Diamant der kämpfenden Adler. Beide Handschriften besitzen reichen Bildschmuck. Wichtiger ist aber die Tatsache, daß dieser Bildschmuck, wie die Anfangsbuchstaben der 62 Kapitel des Adamas belegen, von Winand selbst angefertigt wurde: „Winandus de Stega decretorum doctor et canonicus pataSein

viensis me ornavit". Bei dem Adamas handelt es sich um eine Pergamenthandschrift von 105 f. Umfang und den Maßen 32 x 23,5 cm. Verstreut über den Text finden sich 1 2

Dietrich von Niem Vgl. Graf 1991.

Deploratio Romani imperil, Zit.

nach Heimpel 1951b, S. 97.

[Pseudo-JHildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

431

55 mit Wasserfarben lavierte Federzeichnungen unterschiedlicher Größe. Diese Zeichnungen wirken zwar laienhaft, sie erregen aber durch ihre Thematik und die Vielfalt ihrer Motive die Aufmerksamkeit des Betrachters. Was den Inhalt des Adamas anbetrifft, so handelt es sich um ein Werk mystischallegorischer, symbolistischer Art. Winand, ein hervorragender Kenner der Werke des sogenannten deutschen Symbolismus (u. a. vertreten durch Rupert von Deutz, Hildegard von Bingen und Heinrich von Langenstein), beschreibt darin drei zentrale Erscheinungsformen der Kirche in ihrer Auseinandersetzung mit dem Teufel: die Ecclesia gradiens, die Ecclesia navigans und die Ecclesia volans. Jeder dieser drei Erscheinungsformen ist ein Teil des Textes gewidmet. Der Hauptteil beginnt mit der Schilderung der Ursache des Kampfes zwischen Teufel und Kirche. Luzifer begann nach dem Engelssturz mithilfe seiner teuflischen Anhängerschaft Anschläge auf die Geschöpfe Gottes und die Kirche Christi zu verüben. Diese Anschläge verfolgt Winand im weiteren Verlauf des Textes durch alle Zeiten hin bis in seine eigene Gegenwart. Es ist dies die Zeit des Konzils von Konstanz (1414/18), des Kirchenschismas, der Häresie und der Simonie. Im Adamas erscheint ein siebenseitiges Exzerpt mit dem Text von Scivias, Buch II, visio 3, cap. 1-16. Agnes Graf, auf deren Forschungsergebnisse ich mich hier stütze, hat die überzeugende Ansicht geäußert, dieser Text sei aus dem illuminierten Scivias geschöpft. Als Begründung zitiert sie eine Angabe Winands über seine Textvorlage: „Unde illa alamanica Sebilla Hildegardis videndo ecclesie figuram et ipsam figuratum prout ex eius originalo scripto (Bibl. Vat., Cod. collegi magno volumine et precioso in loco sue requiei Pal. lat. 412, f. 25v). Der Hinweis auf das gemalte Bild der Kirche stützt diese These ab. Es wäre kaum nachvollziehbar, daß Winand für die Bilder auf den illuminierten Scivias, für den Text aber auf den Riesencodex oder eine andere Vorlage zurückgegriffen hätte. Außerdem weist nach Graf Winands Text nur geringfügige Abweichungen vom Text des illuminierten Scivias auf. Da Winand im Jahre 1399 von Papst Bonifatius IX. die Pfründe des Altars der Unschuldigen Kinder im Kloster Rupertsberg verliehen bekommen hatte, wird er sehr wahrscheinlich auch Zugang zu den Beständen der Klosterbibliothek gehabt haben. Zu dem ScwM5-Fragment des Winand gehören vier lavierte Federzeichnungen nach der Vorlage des illuminierten Scivias. Sie fügen sich mit drei wei-

insgesamt

teren

Zeichnungen

zu

einem

eigenen Zyklus

zusammen.

Das

Scivias-Exzerpt

und die zugehörigen Illustrationen finden sich auf f. 22r-38r bzw. Kapitel 14-18 des Adamas. Diese Kapitel gehören zum 2. Teil der Handschrift, der der Ecclesia gradiens gewidmet ist. Im einzelnen behandeln die Illustrationen folgende Themen: f. 24v: Typologische Gegenüberstellung der Erschaffung der Stammeltern sowie Ecclesia unter dem Kreuz Christi (Graf, Abb. 15); f. 27v: Die Synagoge als Teufelsbraut und Dirne (Graf, Abb. 16); f. 31v: Die Kirche (Graf, Frontispiz); f. 38r: Der Teufel (inthronisiert) verfolgt die Kreuzigung Christi (Graf, Abb. 19). Es ist an dieser Stelle nicht notwendig, eine Detailbeschreibung 1

Zit. nach Graf 1991, S. 63.

Kapitel 2

432

der vier Darstellungen zu liefern. Hierzu sei auf den Beitrag von Agnes Graf verwiesen. Grundsätzlich gilt, daß Winand bei der zeichnerischen Umsetzung der Bildvorlagen recht frei verfuhr und dabei offensichtlich die antijudaistischen Momente der Savzks-Bildvorlagen verstärkte. Dieses Verfahren steht in einem auffälligen Gegensatz zur sorgfältigen Wiedergabe der Textvorlage. Daß Winand selbst kein Freund der Juden war, geht u. a. aus seiner Mitwirkung am Heiligsprechungsprozeß des Werner von Bacharach hervor. 1426 war Winand die treibende Kraft zur Durchführung dieses Verfahrens. Werner von Bacharach war im Jahre 1287 im Kindesalter von Unbekannten ermordet worden. Eine christliche Magd wollte wissen, Juden seien für diesen Mord verantwortlich gewesen. Eine Aussage, die dazu führte, daß die Juden des Ortes wegen Ritualmordes angeklagt und auf grausame Weise hingerichtet wurden. Werner von Bacharach andererseits wurde schon bald als Märtyrer verehrt. Die Legende vom Ritualmord wurde bald darauf noch durch die Legende einer Hostienschändung überhöht: Die Juden hätten sich in den Besitz einer Hostie setzen wollen, die Werner kurz zuvor empfangen hatte. Als dies mißlungen sei, hätten sie den Jungen aus Zorn ermordet. Von der Funktion her besitzen die Illustrationen ähnliche Aufgaben wie dies auf illustrierte naturkundliche, medizinische oder botanische Texte der Zeit zutrifft. Sie sollen dem Leser die Orientierung im Text erleichtern und ihm helfen, sich das Gelesene leichter einzuprägen. Darüber hinaus verfolgen die Illustrationen den Zweck, bestimmte inhaltliche Schwerpunktsetzungen deutlicher herauszuprofilieren. In diesem Zusammenhang hat Agnes Graf darauf hingewiesen, daß die stark antiketzerische, judenfeindliche Tendenz des Adamas auch mit der Person Kurfürst Ludwigs III. zusammenhängen könnte. Ludwig war, wie eine bedeutende Büchersammlung an das von ihm gegründete Heidelberger Heilig-Geist-Stift beweist, ein begeisterter Büchersammler und inniger Kunstfreund. Darüber hinaus war er von strenger Frömmigkeit und Rechtgläubigkeit geprägt. „Dies dürfte", so Agnes Graf, „auch für die Konzeption des Adamas ausschlaggebend gewesen sein. Mit seinem Traktat entspricht Winand der Frömmigkeit des Kurfürsten. Er zeichnet mit Hilfe mystischer Textzitate und ihrer bildlichen Umsetzung mittels des akademisch genauen Merkbildes eine übermächtige Gestalt der Ecclesia. Diese überragt ihre Vorgänger- und Widersacherin, die Synagoge, die ihrerseits stellvertretend steht für alles Teufelswerk auf der Erde, also auch die Ketzerei, an Größe und Schönheit."1 In eine ganz andere Richtung weist eine deutsche Sammelhandschrift des ausgehenden 15. Jahrhunderts, die unter der Signatur MS Q 127 in der ehemaligen Zentralbibliothek der deutschen Klassik (heute Herzogin Anna Amalia Bibliothek) von Weimar liegt.2 Der Codex besteht aus drei Teilen: Teil A (f. 1103) beinhaltet chronistische Texte, etwa die Schwäbische Chronik des Thomas Lirer, eine Druckabschrift der Gmünder Kaiserchronik (ein volkssprachliches 1 2

Graf 1991, S. 83. Graf 1989.

Vgl.

[Pseudo-]Hildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

433

Kompendium der Reichsgeschichte) und eine Königsliste von Nimrod bis Marcus Antonius. Teil B (f. 104-137) bringt die Fortsetzung der Gmünder Kaiserchronik bis zu König Ruprecht I. (1400-1410) sowie ein Korpus mit prophetischen Texten; Teil C (f. 138-171) schließlich enthält astrologische Prophezeiungen und erbauliche Schriften. Einige früher beigebundene Inkunabeldrucke sind mittlerweile separiert worden. Wichtig für unseren Zusammenhang ist ein in Teil B erscheinender Abschnitt (f. 121r-127v) mit deutschsprachigen Prophezeiungen Hildegards. Dem Wasserzeichen des verwendeten Papiers nach (Turm mit vier Zinnen) stammt der Text aus den Jahren 1460/70. Unmittelbar daran anschließend folgen zwei Prophetien, von denen die erste (f. 127v-130v) Heinrich von Langenstein (Heinrich von Hessen) und die zweite (f. 130v-131v) Anselm von Marsisco zugewiesen ist.1 Die gesamte Textgruppe gehört zu dem noch aufzuarbeitenden deutschsprachigen Prophezeiungsschrifttum in der Tradition Joachims von Fiore. Der Hildegard-Text steht unter der Überschrift „Diez ist ain prophecey sannd Hildegart [...]". Das Incipit lautet „Eins lag ich krank in meinem pette [...]". Hierbei handelt es sich um Hildegards Brief an Werner von Kirchheim (Epistolarium II, S. 333-337). Die zweite Prophétie entstammt dem Liber divinorum operum (Buch III, visio 5, cap. 16). Im Inhaltsverzeichnis wird der Teil mit den Prophetien Hildegards und Heinrichs (f. 121r131v) als „prophecey so sannt Hiltgartt gethun von der blag so über die gaistlichen geen wurd" bezeichnet. Dieses zusammenhängende Material ist noch in zwei weiteren Textzeugen überliefert: in einem Codex der UB München (2° cod. ms. 684, f. 87r-95r) sowie in Eberhard Windeckes Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Zeitalters Kaiser Sigmunds.2 Christine Stöllinger-Löser hat darauf hingewiesen, daß Windecke auch die im selben Corpus enthaltene Vision auf das Jahr 1401, eine antikurial und kirchenreformerische Prophétie, deren lateinisches Original wohl um 1294 in Süditalien entstanden ist, Hildegard zuweist.3 Bei Eberhard Windecke beginnt das Hildegard-Material unter der Überschrift „Dis ist die prophétie, die sant Hiltgart geton hat und bewert ist" mit einer knappen biographischen Einführung in Hildegards Leben und Werk. Hildegard habe „siben güt buocher gemacht, die do bewert sint in dem concilium zü Triere" (= Cap. CCCXV, S. 350)4 Es folgt als Kapitel CCCXVI der Edition Altmanns Hildegards Brief an Werner von Kirchheim (CC CM 91 A, -

-

1 2

3

4

Vgl. Donckel 1932. Vgl. die Ausgabe Windecke Denkwürdigkeiten, S. 350-360

c. CCCXV-CCCXXIV. Hierzu Grundmann 1976/78, S. 56f. Kornrumpe/Völker 1968, S. 56-60. 348. Stöllinger-Löser 1999. Die in unterschiedlichen Fassungen überlieferte lateinische Fassung liegt mindestens in sechs Handschriften vor. Die (verkürzten) deutschen Übersetzungen werden zum Teil ohne Angabe eines Verfassers überliefert, zum Teil werden sie Heinrich von Langenstein oder auch Hildegard von Bingen zugewiesen. Auch Mitüberlieferungen im hildegardischen bzw. pseudo-hildegardischen Schriftenkorpus finden sich. Stöllinger-Löser erwähnt 14 deutsch-niederländische Handschriften sowie 13 Drucke. Windecke Denkwürdigkeiten, S. 350. -

Kapitel 2 S. 333-337). Er trägt die Überschrift „Also ich eins tags kräng an minem bette lag und ein schon bilde sach" (S. 351-354). Das nächste Kapitel (CCCXVII) steht unter der Überschrift „Von der gerechtikeit" (S. 354-357) und enthält den Auszug aus Hildegards LDO (Buch III, visio 5, cap. 16). Damit sind die authen434

tischen Hildegard-Prophetien abgeschlossen. Der folgende Teil unter der Überschrift „Also sant Hiltgart an irem slofe lag und got in einer verschinüng ließ gesehen in eins Bischofs wise" ist nicht authentisch. Er beinhaltet die von Christine Stöllinger-Löser untersuchte Vision auf das fahr 1401. Man kann also davon ausgehen, daß Eberhard Windecke die beiden authentischen HildegardProphetien aus einem Textzeugen des Pentachronon geschöpft und dann mit der Vision auf das Jahr 1401 unter dem Namen Hildegards verbunden hat. Jedenfalls ist die Aussage Wilhelm Altmanns, es sei „völlig ausgeschlossen" daß die Hildegard-Passagen Windeckes wirklich auf Hildegard zurückgingen, zu korrigieren. Sie stammen wenigstens teilweise von ihr. Eine deutsche Fassung von Hildegards Brief an Werner von Kirchheim (Epistolarium II, S. 333-337) findet sich, verbunden mit zwei weiteren Prophetien Hildegards, darüber hinaus in der 1471 von Ulrich Joergmair in Ostschwaben geschriebenen Sammelhandschrift der BSB München, cgm 523, f. 267ra-273rb.2 Die erste der dort enthaltenen beiden Hildegard-Prophetien entstammt einer Fehlinformation des Schreibers oder Redaktors der Handschrift zufolge dem Liber vitae meritorum. Sie bringt aber dann das (deutsche) Incipit von Hildegards Brief an Werner von Kirchheim: Die Weissagung beschreibt die haylig aebtissin sand Hylligart in dem dritten buoch der verdienstnueß des lebens von dem kuenfftigen wesen der priesterschafft. In dem bette meiner kranckhayt was ich lag (!) ligende. In dem jare gottes menschwerdunnge tausent hunndert und sybenczigk jar ...3 von

In der Tat findet sich der Brief Hildegards an Werner von Kirchheim auf f. 267ra-269va, Zeile 20. Dabei handelt es sich um den gleichen Text wie in der Handschrift UB München 2° cod. ms. 684, f. 87r-9r und in Eberhard Windeckes Buch von Kaiser Sigmund (Cap. CCCXVI, S. 351-357), aber in einer anderen Übersetzung. Auf f. 269va, Zeile 21 folgt unter der Überschrift „Von der verseumnusse der priesterschafft" das schon bekannt Exzerpt aus dem LDO (Buch III, visio 5, cap. 16; Incipit: „Die gerechtigkait für war nach dem alls sy zuo dem obristen richter yr clage gethan hett ..."). Es endet auf f. 271 va, Zeile 18 („die knechte zuo rechter gehorsam irer ondertänigkait chomen Amen". Dann erscheint ein merkwürdig disloziert wirkender biographischer Abriß über Hildegard, der sich auf eine Coronica martiniana, vermutlich also auf das Chronicon summorum pontificum imperatorumque des Martin von Troppau OP 1 2 3

Ebd.,

S. 350, Fußn. 4. Woher Windecke diese Texte

eigener Aussage zufolge nicht ermitteln. Vgl. Schneider 1978, S. 65, Nr. 33. Ebd.

bezogen hat,

konnte Altmann

fPseudo-JHildegard im Rahmen

literarischer

Rezeptionszusammenhänge

435

Das Chronicon war das am weitesten verbreitete geschichtliche des Handbuch späten Mittelalters. Es wurde in viele Volkssprachen übersetzt, u. a. ins Griechische, Persische, Armenische, Italienische, Englische, Kastilische und Französische. Deutsche Ubersetzungen sind ab dem 14. Jahrhundert bekannt.1 Allerdings findet sich in Martins von Troppau Chronicon im Zusammenhang der Darstellung des Episkopats Papst Eugens III. nur die knappe Bemerkung: „Eodem tempore fuit in Alemannia Hildegardis monialis famosa, que in Pinguia super Renum requiescit."2 Der biographische Abriß enthält neben der allseits bekannten Information, Hildegard habe sieben Bücher geschrieben und dem Bezug zum Konzil von Trier (irrtümlich in das Jahr 1146 verlegt) die irrige Zuweisung der mitgeteilten Texte zum Liber vitae meritorum. Auf f. 271vb, Zeile 13, beginnt unter der Uberschrift „Das ist die Weißsagung sand hildegarten von dem kuenfftigen wesen des Römischen Kayserthums" ein Auszug aus dem Liber divorum operum (Buch III, visio 5, cap. 25). Er reicht bis f. 272vb, Zeile 29. Nach einer neuen Zwischenüberschrift folgt ab f. 272vb, Zeile 36 bis f. 273rb, Zeile 19 das unmittelbar sich anschließende Kapitel 26 der ails es das in dem 5. Schau des von Buch III des LDO. Die Schlußwendung: beschrieben Seimas beweyset. Et est finis" ist [= Scivias; Ergänzung] puch Bestandteil des Originaltextes Hildegards und keine fälschliche Zuweisung seites des Schreibers oder Redaktors der vorliegenden Handschrift.3 Allerdings zeigt die unkorrekte Schreibung Seimas für Scivias, daß dem Kopisten dieses Werk Hildegards offenbar nicht bekannt war. Man kann daher davon ausgehen, daß die Abschriften der Münchener Handschrift egm 523 nicht aus den Originalschriften Hildegards geschöpft wurden, sondern aus dem Pentachronon bzw. einer reduzierten Form des Pentachronon. Vermutlich handelte es sich hierbei um eine feste Uberlieferungseinheit. Der Brief an Werner von Kirchheim und verschiedene Auszüge aus dem Liber divinorum operum werden ja auch in einer bestimmten Redaktionsstufe des Onus mundi verwendet.4 Auch der von Andreas Osiander 1527 herausgegebene Druck Sant Hildegardten Weissagung vber die Papisten beinhaltet eine deutsche Übertragung des Briefes an Werner von Kirchheim {Epistolarium II, S. 333-337) sowie von LDO, Buch III, visio 5, cap. 16. Im übrigen sei darauf hingewiesen, daß das literarische Modell einer im Bett empfangenen Vision, wie es in Hildegards Brief an Werner von Kirchheim erscheint, auch in den um 1215 entstandenen sogenannten Visionen von St. Thomas begegnet. Bei diesem Text handelt es sich um eine anonym überlieferte lateinische Vision, deren Original um 1215 im Zisterzienserinnenkloster St. Tho-

(f 1278) beruft.

„...

Vgl.

2

Brincken 1972a. Martinus Troppaviensis

3

Ebd.

1

4

Chronicon, S. 436 35F.

Vgl. Montag 1968, S. 170. Die dort zu findende Information, sämtliche Hildegard zugewiesene Prophetien seien nicht authentisch, ist also nicht richtig.

Kapitel 2

436

der Kyll entstanden ist.1 Ein aus dem 15. Jahrhundert stammender Textzeuge dieser Vision findet sich in der Sammelhandschrift der StB Trier, Hs 771/1350 8°, f. 112v-125r. „Vorbild für die Mitteilungsform des Traumgemas an

sichts wie für die gelegentliche Dialogform (Abschnitte 28, 31, 33 der dt. Übers.) dürfte Hildegard von Bingen sein", so Heribert Rissel.2 Ein bedeutendes Zeugnis für die Rezeption Hildegards im 15. Jahrhundert liefert ein Gedicht des württembergischen Reimdichters Michel Beheim (1416— 1475). Beheim wird zu den letzten fahrenden Dichtern des späten Mittelalters gerechnet. Seine Lieder, zu denen er auch die Melodien beisteuerte, ähneln ein wenig den Produktionen der Meistersinger, obwohl Beheim als lohnabhängiger Berufsdichter weder Mitglied des Stadtbürgertums war noch eine Singschule besucht hatte. In der Regel geht es in Beheims Liedern, die meist zwischen 1449 und 1466 entstanden sind, darum, nach Art der Lieder Walthers von der Vogelweide Stellung zu beziehen zu aktuellen politischen, kirchlichen oder gesellschaftlichen Ereignissen. Unbeirrt tadelt Beheim Fehlentwicklungen der Stände. Hussiten, Ketzer und anderen Aberglauben bekämpft er als kirchlich zuverlässige Stimme energisch. Seine Klage über den Niedergang der Sitten ist traditionell, die Ausführlichkeit ihrer Schilderung macht sie jedoch zu kulturgeschichtlich wertvollen Dokumenten. Die insgesamt 452 Lieder Beheims sind in elf verschiedenen, jeweils einstimmigen Liedweisen gedichtet bzw. komponiert. Die Verse folgen dem Prinzip der Silbenzählung. Beheims Hildegard-Gedicht trägt den Titel Ain brophenci von Sant Hilgart und ist in der sogenannten Osterwaise komponiert.3 Es paraphrasiert in deutscher Sprache über insgesamt 529 (bzw. mit Schlußzeile „dis liet macht Michael Pehen") 530 Verse hinweg die Kirchenkritik und Endzeiterwartung der rheinischen Seherin.4 Vom Inhalt her handelt es sich um eine Kombination von Hildegards Brief an Werner von Kirchheim (Epistolarium II, S. 333-337; hier ohne den Topos einer im Bett empfangenen Vision: Vers 1-277) und einer Passage aus dem LDO (Buch III, visio 5, cap. 16; hier: Vers 278-529). Beide Texte sind von Michel Beheim nicht klar benannt und gehen ohne Zwischenüberschrift (bei Windecke Von der gerechtikeit) ineinander über. Der Übergang findet sogar in ein und derselben Strophe statt (Strophe 28, Vers 277/278). Vermutlich haben Beheim Hildegards Texte nicht direkt zur Verfügung gestanden, sondern wurden über Vermittlung rezipiert. Als Quellen hierfür kämen neben einer Fassung des Pentachronon vor allem Heinrich von Langenstein und Eberhard Windecke in Frage. Jedenfalls fällt auf, daß Beheim auch den bei Windecke vorhandenen Abschnitt Von der -

1 2 3 4

-

Vgl.

Rissel 1999. Rissel 1999.

Abdruck der Melodie bei Michel Beheim Gedichte, HI/1, S. 475. Gedichte, Osterwaise Nr. 108, S. 367-383. Beheim bringt weitere Gedichte prophetischen Inhalts, so Nr. 109 („aber ain prophenci" [auf das Jahr 1460]) oder Nr. 110 („ain brophenci und ain offenung" [Prophezeiung Gamaleons]).

Michel Beheim

Vgl. Müller

1978.

[Pseudo-JHildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

437

gerechtikeit, einen Auszug aus dem Liber divinorum operum (Buch III, visio 5, cap. 16), bearbeitet. Andererseits muß darauf hingewiesen werden, daß beide sich in einigen Details voneinander unterscheiden (Verhältnis Klerus / Laien; Ablaßfrage). Hinzu kommt, daß die pseudo-hildegardische Vision auf das Jahr 1401, die bei Windecke unmittelbar auf die beiden authentischen Hildegard-Prophetien folgt, bei Beheim fehlt. Fest steht jedenfalls, daß Beheim Hildegard vor allem als unbestrittene Autorität gegen den allgemeinen Verfall der Sitten in Anschlag bringt. Eine besondere Bedeutung erhält Beheims Gedicht durch die Tatsache, daß es vertont ist. Hier die ersten beiden Strophen des Hildegard-Gedichts :

Textfassungen

Zu ainen Zeiten Sant Hilgart / ain brophenci geoffet wart, / wann ir erschain ain pilde. / Daz waz in weibes furm gestalt, / sein schone dy waz manigvalt, / sein sussikait und milde / Und seiner klarhait wimel / kains menschen zung pegreiffen macht. / sein lenge van der erden rächt / hoch auff pis an den himel. // Ir antlot laucht mit grasser klar, / ir gsicht waz über sich enpar, / ir klait von weisser seiden / Gewirket und geschnitten waz. / kain Schneider in der weit mocht das / so maisterlich geschneidert. / Daz waiss klait waz umb schniten / mit ainem guldin mantel rain, / durchlegt mit kastlichem gestain, / saffir und margariten.1

Auch ein um 1470 entstandenes, später unter dem Titel Darmstädter Gedicht über das Weltende (Hess. LB u. Hochschulbibl. Darmstadt, Cod. 2194) publiziertes Textfragment beruft sich ganz programmatisch auf die Autorität Hil-

degards :

sante Hildegart vil gesacht, // Dat dar na waer geschach, // Des wyr eyn deil haent geseyn. // Nw hoert, wat sal noch gescheyn.2

Vns hait

Allerdings

läßt sich

aufgrund

dieses eher

allgemein gehaltenen

Rekurses nicht

nachweisen, daß der Verfasser des Gedichts eine bestimmte Stelle aus dem Werk

Hildegards im Sinne gehabt hätte. Volkssprachliche Antichristspekulationen in Verbindung mit dem Kaisergedanken gehörten zum literarischen Allgemeingut der Zeit. Das Darmstädter Gedicht über das Weltende ist eine Art Epilog zur sogenannten Karlmeinet-YLompilation, einer zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstandenen literarischen Lebensgeschichte Karls des Großen. Deren letzter Teil, an den das Gedicht über das Weltende anschließt, basiert im wesentlichen auf dem Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais und, vermittelt darüber, auf der Historia Karoli Magni? Weitere Quellen liefern Jacob Maerlant mit seinem Spieghel historiael und Jan van Boendale (Jan de Clerc) mit den Brabantsche Yeesten (vollendet kurz vor 1317?). Das Darmstädter Gedicht über das Welt1 2

3

Michel Beheim Gedichte, S. 367f. Zit. nach Rooth 1977, S. 25. Der Darmstädter Textzeuge des Karlmeinet, Hs 2292, stammt vom selben Schreiber wie der Darmstädter Textzeuge des Gedichts über das Weltenende (Hs 2194). Außerdem existieren sprachliche Gemeinsamkeiten.

Kapitel 2

438

ende wird dem Typus der eschatologischen Dichtungen über das Jüngste Gericht zugerechnet. Die 332 paarweise gereimten Verse lassen sich in drei Abschnitte gliedern: 1.) Der Antichrist (Vers 5-96); 2.) Die Fünfzehn Vorzeichen (Vers 97-246); 3.) Vom jüngsten Tag (Vers 247-333). Der Darmstädter Textzeuge seinerseits verweist auf einen älteren Kompilator, der um oder kurz vor 1300 wirkte. Die Sprache läßt das Kölnische als Entstehungsraum der Texte vermuten.

Der wichtigste Gewährsmann für die Nachwirkung Hildegards im 15. Jahrhundert ist Johannes Trithemius (1462-1516).' Die große Bedeutung des Trithemius für die Popularisierung Hildegards würdigt ein eigenes Kapitel unserer Studie. Ein bislang wenig beachtetes Dokument zur Wirkungsgeschichte des Scivias erwähnt Werner Lauter im Band II seiner verdienstvollen Hildegard-Bibliographie.2 Dabei handelt es sich um einen Auszug mit Prophezeiungen Hildegards in tschechischer Sprache. Der vermutlich im frühen 16. Jahrhundert entstandene Text lagert seit 1842 unter der Signatur V E 89 in der Bibliothek des Nationalmuseums von Prag. Soweit ein knapper Abriß zur Präsenz Hildegards in den mystischen und volkssprachlichen Schriften des späten Mittelalters. Wenden wir uns nunmehr der polemischen und pseudepigraphischen Uberlieferung zu.

Pseudepigraphische und polemische Überlieferung Von der Forschung bislang weitgehend übersehen wurden einige zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert erschienene Texte, die auf den Scivias bzw. auf andere Visionsschriften Hildegards rekurrieren, ohne dabei als klassische Editionen oder Teileditionen dieser Werke gelten zu dürfen. Es fällt auf, daß diese Texte, zumindest soweit sie dem 16. Jahrhundert angehören, im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation angesiedelt sind. Dies bedeutet im Regel2.2

fall: Sie müssen von ihrem funktionalen Charakter her verstanden werden. Dabei zeigt sich, daß Hildegards Papst- und Kirchenkritik aus dem 12. Jahrhundert bereitwillig in den zeitgenössischen Kontext der jeweiligen Rezeptionsepochen transponiert wurde. Diese Transponierungen gingen so weit, daß als Herausgeber einiger Texte sogar lutherische Theologen in Erscheinung traten. Genannt seien Andreas Osiander oder Flacius Illyricus. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung dieser Schriften sei angemerkt, daß die funktionalistische Verwendung von Visionsliteratur natürlich sehr viel älter ist als der vorliegende Fall.3 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang nur auf die Papstvaticinien oder auf die in großer Zahl hervorsprießenden apokalyptischen Texte des späten Mittelalters. 1

Vgl.

Kohl 1928.

allem S. 389-395.

Arnold

Schräder 1952. -

1970/1984, II,

-

2

Lauter

3

Vgl. hierzu Dünninger

S. 10, Nr. 8. 1962.

1991b,

S. 64f.

Hinkel 1979, -

vor

[Pseudo-JHildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

439

Nachfolgend werden die bibliographischen Angaben der betreffenden Werke einige Informationen zu ihrer historischen Einordnung vermittelt. Eine genaue Beschreibung der Inhalte und geistesgeschichtlichen Stellung kann im Rahmen der vorliegenden Studie nicht mehr geleistet werden.

und

1.) [Birgitta]: Bürde der Welt [Onus mundi; dt.]. Nürnberg: Konrad Zeninger 1481. 4°

[darin: Hildegard

von

Bingen].

Auf die Präsenz Hildegards innerhalb dieses Werkes hat Ulrich Montag im Rahmen seiner 1968 erschienenen Dissertation Das Werk der hl. Birgitta von Schweden in oberdeutscher Überlieferung hingewiesen. Meine eigenen Ausführungen basieren auf den Forschungsergebnissen Montags. Der Leipziger Theologe Johannes Tortsch (ca. 1400-1445) stellte im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts eine Schrift zusammen, die verschiedene Texte aus den Offenbarungen der hl. Birgitta (1303-1373) verarbeitete. Das auf einem mehrstufigen Entwicklungsprozeß beruhende Werk war zunächst in Latein abgefaßt, wurde aber schon bald (spätestens 1434) ins Deutsche übersetzt. Die älteste Fassung ist in der Handschrift Ms 521 der Bibliothek des Corpus Christi College von Cambridge bezeugt. Ein bislang von der Forschung nicht beachteter Textzeuge des 15. Jahrhunderts mit dem lateinischen Text findet sich im Bestand der Trierer Dombibliothek [Bistumsarchiv Trier, Abt. 95, Hs 8, f. 103rHOr].1 Spätere Druckauflagen übernahmen den Titel Onus mundi [Bürde der Welt], der auch schon in Handschriften verwendet wurde. Angaben zur Verfasser- oder Herausgeberschaft des Textes erschienen im Werk selbst nicht. Es steht aber fest, daß Johannes Tortsch als Inaugurator der Schrift gelten kann. Tortsch dürfte kurz vor 1400 in Hof an der Saale geboren sein. Im Wintersemester 1414 oder 1415 immatrikulierte er sich an der Universität Leipzig, wo er am 18. September 1417 den Grad eines Baccalaureus artium und am 28. Dezember 1418 den eines Magister artium erwarb. Bereits Anfang 1421 war Tortsch Geistlicher. 1428 wurde er zum Rektor der Universität Leipzig gewählt. 1433 wurde er Sententiar der Theologischen Fakultät, 1436 erhielt er das Lizentiat. Zwischen 1429 und 1436 ist Tortsch mehrfach unter den Prüfern der philosophischen Fakultät erwähnt. In den Jahren zuvor muß er die Revelationes der hl. Birgitta kennengelernt haben, denn spätestens 1424 war die erste Fassung von Onus mundi fertiggestellt. Das Werk ist Ausdruck einer tiefen Ergriffenheit, die Birgittas Visionen auf Tortsch ausübten. Die Bürde der Welt ist für die Hildegard-Philologie von großer Bedeutung. Der Text erwähnt oder zitiert neben Birgitta einige andere (meist ältere) prophetische Autoritäten. Sie sollen Birgittas Aussagen abstützen. So erscheint u. a. Hildegard von Bingen, des weiteren Sibylla, Gregor der Große und Joachim von

1

Fiore.

Als Provenienz erscheint ein Kloster „prope Hildensem".

Kapitel 2

440

handschriftliche Überlieferung des Textes führt zu dem daß die Bürde der Welt die bedeutendste Schrift dieser Art in OberBefund, deutschland war. Vom Inhalt her handelt es sich um Offenbarungen, Mahnungen und Reformvorschläge. Die Tatsache, daß der Text schon früh ins Deutsche übersetzt wurde, zeigt, daß er auch in Laienkreisen Aufnahme fand. Auf der Grundlage der vierten Redaktionsstufe wurden 1481 und 1482 zwei deutsche Drucke herausgegeben (Nürnberg, Konrad Zeninger [GW 4400] und Augsburg, Anton Sorg [GW 4401]), vier Jahre bevor die erste gedruckte lateinische Ausgabe erschien (Rom, Eucharius Silber [GW 4399]). Von Fassung I-III des Textes existiert jeweils eine Handschrift, von Fassung IV liegen dagegen neun TextDie

zeugen

reichhaltige

vor.

Hildegard von Bingen ist bereits in Onus Mündt, Textstufe II, Kap. 13 und 26 sowie Onus Mundi, Textstufe III, Kap. 4 erwähnt. Allerdings sind nach Ulrich Montag nicht alle Zitationen authentisch. Eine Handschrift des Jahres 1471 (m 5 cgm 523) etwa enthält, wie oben dargelegt, Weissagungen, die unter dem Namen Hildegards von Bingen firmieren. Ein Teil davon soll angeblich aus dem =

3. Buch des Liber vitae meritorum und dem Scivias

stammen.

Statt dessen bein-

Hildegards Brief an Übertragung Prophétie Kirchheim (Epistolarium II, S. 333-337). Ob die zweite authentisch ist, steht dahin. Authentische Hildegard-Zitate bringt jedenfalls Stufe IV. Ulrich Montag hat den lateinischen Erstdruck und die um 1434 entstandene Leithandschrift (ba) synoptisch ediert. Diese Handschrift, die aus dem Franziskanerkloster Bamberg stammt, gehört heute zum Bestand der Staatsbibliothek Bamberg, Msc. Hist. 160 (E. VII. 18).1 In Kapitel XXV (f. 115r-157v) erscheint darin eine Prophétie „wie sant Hildigart dise betrüpniß hat vorgesehen".2 Dabei handelt es sich um ein Zitat aus dem Liber divinorum operum (Buch II, [visio 1], cap. 9), in dem die Überhandnähme der Sünden in Kirche und Welt und die daraus entstehenden Strafen geschildert werden. haltet die

Werner

1 2

erste

eine deutsche

von

von

bei Leitschuh/Fischer 1887/1912, I, S. 262f. Montag 1968, S. 325-327. Hier der komplette Textabschnitt: „Sant Hildigart, ein stifterin und mainsterin des münsters sant Ruprechcz, das do leyt bey Bingen, die do

Beschreibung

hat gelebt noch gotes geburt m° c° und in dem lxx jare, die do het vil offenbarung von got, und ire bûcher bestetigt sein von dem pabste Ewgenio dem dritten in dem concilio zu Thrier. In einem irem buch, daz do haysset daz götlich werck an dem andern teil in dem ix capitel spricht sie also: Wann die sünd unter dem volck überhant nemmen, als haß, morden und die stumenden sünd, so würt daz gesecz gots geteilt, und die kirch würt geengstet als ein witibe, und die fürsten und die edeln und die reichen werden aus getriben aus iren steten von irn geleichen oder von irn untersten, und werden gejagt von einer stat zu der andern, also daz die edligkait irer gepurt zu nihte [155v] gemacht würt, und sie werden kumen von reichtum in armut. Die ding werden alle geschehen, wann die alt slang, der teüffel, ein plosen würt dem volck Wandlung der siten und der claider, dem sie werden noch volgen und werden sich mancherlay in iren geberden vernewen und verwandeln."

[Pseudo-JHildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

441

Wie lebhaft die Wirkungsgeschichte der Bürde der Welt war, zeigt sich darin, daß der Text auch im 16. und 17. Jahrhundert noch gedruckt wurde.1 Diese späten Auflagen gingen langsam dazu über, auch die anderen prophetischen Autoritäten gleichberechtigt neben Birgitta zu stellen. Darüber hinaus ist offensichtlich ein von Berthold Pi[r]stinger, Bischof von Chiemsee und Weihbischof von Salzburg, verfaßtes Werk ähnlichen Inhalts durch Tortschs Schrift angeregt worden. Es ist dies der im Jahre 1519 niedergeschriebene, 1524 bei Johann Weyssenburger in Landshut gedruckte Text Onus ecclesiae. Dieses Werk zitiert die Revelationes der hl. Birgitta, daneben eine Vielzahl anderer prophetischer Autoritäten, zu denen wiederum Hildegard von Bingen gehört.2

[dt.]: Diss biechlin wirtt genant // die Weissagung von zukünff//tiger betriebtnuß. die dyse // gantzn weit übergeen wirtt // Weliche

2.) Birgitta

aus

Finsta

grausammen be=//triebtnuß vnns klarlichen // aussprechenn ist. // Sant Birgitta // Sant Sibilla // Sant Gregorius // Sant Hilgart // Sant Joachym.

[Hrsg. von Johannes Tortsch]. (Anno domini. M.CCCCC.X. Gedruckt // vnd vollendt durch Hanns schensperger // den Jungen/ an sant Thomas des haili=//gen zwelfpotten abent.//). [Druckort Augsburg]. 30 Bl. 8°.

[Vgl. Carl Büttinghausen, Ergözlichkeiten [!] aus der Pfälzischen und Schweizerischen Geschichte und Litteratur. Zürich 1766, S. 44-46. Weller, Repertorium typographicum, Suppl. (1874), Nr. 54. Proctor, An Index of German Books 1501-1520 in the British Museum. London 1903, S. 80, Nr. 10733. Gustav Edvard Klemming, Birgitta-literatur. Bibliografi. Stockholm 1883, S. 48, Nr. 49. Collijn, Bd. I, S. 94 und 213f. Montag, Das Werk der hl. Birgitta von Schweden, S. 151-196; 325-327 u. passim. Jürgensmeier, S. 288f. VD 16, B -

-

-

5598].

-

-

-

angezeigte Druck ist so selten, daß in Deutschland kein einziges aufzufinden ist. Collijn weist Exemplare in Göteborg (G. Bergström), Exemplar Koberg (Silfverschiöld, fr. Per Hierta) und London (Brit. Mus.) nach. Die Bedeutung des Druckes liegt vor allem darin, daß er aus der Zeit vor Erscheinen der Editio princeps von Hildegards Scivias (1513) stammt. Zu Inhalt und Autorschaft vgl. Nr. 1. Im Vergleich zu den Handschriften und Vorgängerdrucken der Bürde der Welt wird Hildegards Name hier manifest genannt. Mir hat vorgelegen eine spätere Ausgabe des Werkes unter dem Titel: Diß biechlin zaygt // an die weyssagung von[n] zuokunfftiger // betruebtnuß. Der hier

1

2

Augsburg 1502 bei Lucas Zeissenmair (Collijn 1934, I, S. 199f.); Augsburg 1504 bei Hanns Froschauer (Collijn 1934,1, S. 201f.); Augsburg 1510 bei Hans Schönsperger d. J. (Collijn 1934,1, S. 213f.); Augsburg 1522 bei Hans Schönsperger d. J. (Collijn 1934, I, S. 27l£); Dillingen 1569 bei Sebaldus Mayer (Collijn 1938, II, S. 381ff.); Dillingen 1573 bei Sebaldus Mayer (Collijn 1938, II, S. 428f.) sowie Neiße 1625 bei Johann Schubert (Collijn 1946, Sp. 86). Vgl. Werner 1901.

Kapitel 2

442

Woelliche grausa // men betruebtnuß uns klärlichen // aussprechen ist. Sannt bir" // gitta. Sannt. Sybilla. // Sant Gregorius. Sant // Hilgart. Sant Jo— // achim. // Und wirt genant die Bürde der weit. Augsburg: Hans Schönsperger 1522. 26 f. Enthält in Kapitel 25 Wie sant Hildgart die betruebtnuß hat vor gesehen einen deutschsprachigen Auszug aus dem Liber divinorum operum, Buch II, [visio 1], cap. 9. Aine sagt der Allt Joachim [von FioreJ. Die Annder die // heyligfraw Hilldegradis [!] / so jnen vo[n] gott geoffen- // hart ist worden / der propheceyen gar nahend sind // [München : Johann Schobser, ca. 1517]. [BSB München, Rar. 423, Beibd. 2]. Unterhalb des Titelblattes erscheinen eine Nonne und ein Mönch in einem

3.) Namhaffter Offenbarungen // zwo.

Dialog befindlich, vermutlich Darstellungen Hildegards und Joachims. Die weibliche Gestalt hält ein aufgeschlagenes Buch in Händen, zwischen beiden Figuren schwebt in einer Wolke die Taube des Heiligen Geistes. Hans Schobser (druckte 1500-1530) ist vor allem als Drucker amtlicher Schriften für die herzogliche Kanzlei in München hervorgetreten. Daneben fertigte er volkstümliche Schriften, Einblattdrucke (Zeitberichte), geistliche und weltliche Lieder, Gebete, Kalender, Bauernpraktiken, auch einige lutherische Schriften, an, des weiteren Kampfschriften des Luthergegners Kaspar Schatzger sowie die Werke des Johann Aventin. Charakteristisch für Schobser ist, daß er ausschließlich deutschsprachige bzw. deutsch-lateinische Schriften druckte. Das Erscheinungsdatum des vorliegenden Werkes ist umstritten. Emil Weller1 weist den Druck in das Jahr 1515, Robert Proctor2 nennt als vermutliches

Erscheinungsjahr

c. 1517. Vom Inhalt her handelt

es sich um einen Dialog zwischen den Personifikationen der Furcht und der Vermessenheit. Gegenstand von deren Unterhaltung sind aktuelle Mißstände in Kirche und Politik sowie die Ankündigung einer entsprechenden Vergeltung. Die Furcht kritisiert den Kaiser, der sich nicht um seine Untertanen kümmere sowie die Fürsten und Regenten, die „weder brieff noch ayd volennden" (f. 3r) und nur dem Eigennutz folgten. Niemand sei ihnen zu stark und sie würden „die armen schinnden auff das marckh" (ebd.). Die Kleriker werden beschuldigt, Unkeuschheit und Simonie zu treiben und die Seelsorge zu vernachlässigen. Gegen die beschwichtigenden Einwände der Vermessenheit kündigt die Furcht das baldige Strafgericht Gottes an: „Da guot vnnd böß verdorben sind / alls vatter mueter mit dem kind / Demnach so fürcht ich pillich mir / das vnns all got wer straffen schir" (f. 5v). Daraufhin fordert die Vermessenheit die Furcht auf, ihre Prognose durch ein oder zwei Offenbarungen zu beurkunden. Entsprechend tritt zunächst Joachim von Fiore auf, dann Hildegard von Bingen. Letztere wiederum wird mit Birgitta und Cyrill in Verbindung gebracht. Wie so oft, ist Hildegard auch hier die unbestrittene pro-

1 2

Weller 1864b, S. 111. Proctor 1903, S. 139, Nr. 11584A.

[Pseudo-JHildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

443

phetische Autorität, die als Posaune Gottes auftritt. Inhaltlich handelt es sich bei diesem Text vermutlich um eine frei Bearbeitung aus dem Liber divinorum

operum, Buch II, visio 1, cap. 9. Da die versifizierte Form dieses Textes sehr selten ist, sei sie nachfolgen zitiert: Als ain wittib die verlassen ist // auch werden Fürsten wie man list // Mit dem Adel unnd den reychen // vertriben / von den Stetten weychen // Der Adel wirt zuo nicht gemacht //

zuo armuet gesacht // Diss alles soll geschehen zwar // so sych die schlanng emplösset gar // Sitten verkert / unnd die klaider // es ist nun war man sycht es laider // Wann frawen der männer sytten hand // die mann sych stellen es ist schand // In Klaidung / paerd / sytten / women // an allen glydern / an allen orten // Auoff üppigkait sträflich gericht // als unns bezeugt täglich geschieht // Dann was an got sonnderlich leyt // das schmächt als hoffertigkeit // Dann hüet Gosineus üppigs gepenndt // das krönt haubt Cristi smächt und schenndt // So jm sein halß ward hert geschlagen // wil fraw unnd man halß offen haben // So gott ain strick am halß thet tragen // woell wir in nun mit ketten klagen // Von sylber gold Edel gestern // das har muoss auff gepüffet sein // Mit ayer und schwebel thuot mans Sachen // so got sein har was zamm gepachen // Mit seinem rosen färben pluot // die prüst man auch anstellen thuot // So Maria die sol zaygen // damit jr kind zuo gnaden naygen // Zaygts weyb dem mann / Man der frawen // Das man zuo unkeijsch muos als setzen // mam wil es für kain sünd mer schätzen // das man got sein hertz thuot roetzen // Das er für unns ain creijtz entschloß // pluot unnd wasser davon floß // Das er die fleckh von uns möcht waschen // unnd rayniget dich kot unnd aschen // Wider das fleckh wir klaider all // wie wol got aber das gefall // Mag der mensch allain gesehen //

jr reychtumb

Kapitel 2 der sein gaißlung thuot verjehen //

444

In der ain fleck den anndern ruert // der ganntz leyb uberschlagen wirt // vol Schwartz / weiß / und roter strennen // Als die so hennd unnd fueß zieren // mit pantoffel / korallen / schnieren // So got stuond auff aym nagel schmal // in bayder hannd verwundt mit qual // Allso thuo wir alls verkeren // so got gelitt auff diser erden // Darumb unns got mag straffen vil // alls Birgitta unns sagen wil // der red ich nit all hye mag schreiben // ...

S. Udalricus, Rescriptio in qua Nicoiao Papae de continentia clericorum respondit, etc. „Civis Utopiensis, sub intersignio Chimerae, anno reformationis novae" [= Zwolle, Simon Corver, c.

4.) [Pseudo-]Hildegardis, Prophetia; 1521].

f. lr:

Prophetia // Sanctae Hildegardis Abbatissae. // Rescriptio Sancti Odalrici // Episcopi, in qua Nicoiao Papae de continentia // clericorum, non iuste sed impie, non // canonice, sed indiscrete // tractanti respondit. // Epistola M. Iohannis Hauverlant. // ad M. Ortvvinum Gratium // Dau-

entrianum. // f. lv: leer. f. 2r: Prophetia sanctae Hildegardis // Abbatissae, fere sexaginta annos ante // mendicantiufm] ordinem institutionefm] // prophetata, ex uetustissimo // ac uix legibili exemplari // conscripta. // IN diebus illis prophetauit scire no sancta// Hildegardis Abbatissa dicens. // Insurgent spiritus //lumus. f. 3r: Haec est rescriptio sancti Odalrici // episcopi, in qua Nicoiao Papae, de // continentia clericorum non iuste, // sed impie, non canonice sed indiscre //te tractanti ita respondit. // N[hsn.] Icolao, domino & patri peruigili, sanctae Ro- // manae ecclesiae Prouisori, 8 Folia (Sig.: A-B4, 34 Zeilen); Exemplare in s'Gravenhaage (KB) und Kopen...

...

.

hagen (KB). Nicht autopsiert. Beschreibung nach: Nijhoff-Kronenberg, Nederlandsche Bibliographie van 1500 tot 1540. Tweede Deel door M. E. Kronenberg. S'Gravenhage 1940, S. 923 (Nr. 4154). Nach Nijhoff-Kronenberg ist die Hildegard-Prophetie nicht authentisch: „De Prophetia van S. Hildegardis is al evenmin authentiek; zie o. a. Acta Sanctorum Mart. I (Antv. 1684), S. 667 en Potthast II. S. 1373." (Ebd.).

[Pseudo-]Hildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge 445 5. ) Birgitta aus Finsta [dt.]: Diß biechlin zaygt // an die weyssagung vofnj zukunfftiger // hetrühtnusz. Wo[e]lliche grausa//men betrübtnuß vns klafejrlichen / aussprechen ist. Sannt Bir=/gitta. Sannt. Sibylla.// Sant Gregorius. Sant // Hilgart. Sant Jo=/achim.// Vnd wirt genant die Bürde // der weit [Hrsg. von Johannes Tortsch]. (Gedruckt in Augspurg durch Hans Scho[e]nsperger auf // dem Weyn....

...

...

marckt. Anno domini. //

MCCCCCXXij Jar. // [1522]. 26 Bl. 4° [Vgl. Roth, Zur Bibliographie der hl. Hildegardis, [Zu Inhalt und Verfasserschaft vgl. Nr. 1]. 6. )

VD 16, B

S. 231.

5599].

-

Jakob Koebel: Die Legend des heyligen her- / tzogen sant Ruprechts / bey Byngen vff sant Ru- / prechts berg leyplich rastende. [Kleeblatt] Die Legend von der seligen / jungfrawen sant Hildegard der Christlichen Sibilla / vnd offenbarerin der heymlichen wunderwerck gotes / die Aptißin vff sant Ruprechts bergk gewessen ist. // Gedruckt zu Oppenheym vff mo[n]tag nach sant Grégorien des heylige[n] babsts tag. Anno 1524. 4 + XLII Bl., 24 Holz-

schnitte. Jakob Koebel (ca. 1460-1533) druckte ab 1489 in Heidelberg, spätestens ab 1499 in Oppenheim, wo er eine eigene Offizin erwarb und zum Stadtschreiber ernannt wurde. Er unterhielt enge Beziehungen zu den deutschen Humanisten Konrad Celtis, Johann Reuchlin, Konrad Peutinger, Franz Bonomus und Heinrich von Bünau. Als Luther auftrat, sympathisierte Koebel mit Teilen seiner Lehre, vollzog jedoch keine faktische Trennung vom Papsttum. Aus seiner Druckerei gingen vor allem naturwissenschaftlich-mathematische, daneben auch juristische und historische Werke hervor, die er teilweise selbst verfaßte. Besondere Aufmerksamkeit erlangte Koebels Sibille wissag (Heidelberg, Knoblochtzer, 1492), eine deutsche Übersetzung der Vaticinia Sibillarum. Überhaupt war für seinen Verlag das deutschsprachige volkstümliche Schrifttum typisch, das Koebel zum Teil mit gediegenen Holzschnitten versah. Das vorliegende Werk ist äußerst selten; eines der wenigen erhaltenen Exemplare befindet sich in der Abtei Eibingen. Der Text zählt zwar nicht zu den pseudepigraphischen Hildegardensien, er gehört aber in das gleiche Umfeld wie die übrigen hier angezeigten Schriften. Hervorzuheben ist die im Titel erscheinende Bezeichnung Hildegards als „christlicher Sibylle" und „offenbarerin der heymlichen wunderwerck gotes". Auf f. XHIIb erscheint ein „gebet zu der heyligen sant Hildegard". Die Vorlage für Koebels Texte lieferte der „bekannte Hildegardiscodex zu Wiesbaden".1 Koebel fertigte aus der damals zum Rupertsberg gehörenden Handschrift eine wörtliche Übersetzung der Vita Ruperti ins Deutsche an. Die Hildegard-Legende hat Koebel nur bezüglich Buch I und II aus der lateinischen 1

Falk 1887, S. 45. Falk seinerseits beruft sich für diese S. 72.

Angabe

auf Bruder 1882,

Kapitel 2

446

Vita Hildegardis geschöpft. Der Schluß ist vorwiegend tionis entnommen. Koebel widmete seinen Druck der

aus

den Acta canonisa-

Rupertsberger Äbtissin

Adelheid von Ottenstein, die ja auch maßgeblichen Anteil an der Entstehung der Editio princeps des Scivias hatte (vgl. zu diesem Druck auch die Ausführungen über die Vita Ruperti). Die Bedeutung beider Texte, der Vita Ruperti und der Vita Hildegardis, liegt darin, daß sie frühe Zeugnisse einer Rezeption Hildegards in deutscher Sprache darstellen. Über die Textvorlagen und die spätere Druckgeschichte ist im Zusammenhang der handschriftlichen Überlieferung berichtet worden.

7.)

Hildegardten Weis- // sagung / vber die Papisten I vnd genanten // Geystlichen / Welcher erfullung / zu vn-//sern zeytten hat angefangen vnd

Sant

Eyn Vorred durch Andrean Oslander. 7/ ym M.D.XXVII. far. [1527]. [Nürnberg: Hieronymus Andreae]. 4°. 6. Bl. [Ex. BSB München, Sig. 4°H.eccl.828; Wolfenbüttel QuH 90.1 (2)]; [Vgl. hierzu Textedition mit Einleitung durch Hans-Ulrich Hofmann in: Como 1928. Andreas Oslander d. Ä., Gesamtausgabe. Bd. 2. Gütersloh 1977, Nr. 85. S. 485501: St. Hildegards Weissagung]. Oslander (1498-1552), ein ehemaliger Augustinereremit, wurde im Jahre 1522 zusammen mit Lazarus Spengler erster protestantischer Prediger an der Kirche St. Lorenzi in Nürnberg. 1527 trat er mit einer Schrift hervor, die von einer „wunderlichen Weissagung von dem Papsttumb" handelt.1 Sie zeugt von Oslanders erbittertem Kampf gegen Rom. Das Werk enthält 30 Holzschnitte zu einzelnen Päpsten, die mit rätselhaften Attributen ausgestattet sind. Hans Sachs steuerte zu den Abbildungen Reimpaare bei. Dem (ebenfalls protestantischen) Rat der Stadt war das Werk, das rasch weite Verbreitung fand, höchst unangenehm. Oslander, Hans Sachs und der Drucker Hans Guldenmund (druckte vol II zogen sol werden. //

-

1526-1560) erhielten Verweise, denen aber keine weiteren Konsequenzen folgNoch im gleichen Jahr (1527) veröffentlichte Osiander eine zweite Schrift

ten.

Weissagungen, eben das vorliegende Werk. Es ist entweder gleichzeitig mit oder unmittelbar nach der wunderlichen Weissagung entstanden, und zwar als deren Ergänzung. Osiander berichtet in der Vorrede, er habe den Text mit Hildegards Prophetien im Kartäuserkloster der Stadt Nürnberg gefunden. Von dort stamme auch die wunderliche Weissagung. In der Tat besaßen verschiedene Nürnberger Bibliotheken gleich mehrere solcher oder ähnlicher Schriften, über deren Verbleib heute freilich nichts mehr bekannt ist. Erwähnt seien folgende Paralleltexte: Item ein puch; das helt in im sant / Hiltgarten weißsagung, eine Handschrift, die 1455 bis 1461 zum Bestand des Dominikanerinnerklosters mit

1

Einleitung durch Hans-Ulrich Hofmann in Andreas Osiander d. Ä.: Gesamtausgabe (Schriften und Briefe April 1525 bis Ende 1527), II, Gütersloh 1977,

Edition mit

Nr. 84, S. 403-484.

[Pseudo-JHildegard im Rahmen

literarischer

Rezeptionszusammenhänge

447

gehörte.1 Des weiteren die Revelacio Hildegar dis de malis pastoEnde des 15. Jahrhunderts. Sie lag im Benediktinerkloster St. Agidien ribus vom und wird von Ruf (S. 551, 30) erwähnt. Sodann die Schrift De prophecia Hildegardis multa, genannt in Sigismund Meisterlins Katalog der Kirchenbibliothek St. Sebald, 1486-1502. Schließlich ein Text unter der Überschrift: Ein prophezey, so Sant Hiltgart gethan von der plag so über die gaistlichen geen wert. Saec. XV.2 Dem Inhalt nach handelt es sich bei Oslanders Druck um prophetisch-aszetische Mahnreden Hildegards an einen als erschlafft dargestellten „papistischen" Klerus: „Diese Prophecey vnd Weissagung ist von der Pfafferey / vnd von der plage die vber sie sol ergehen" (a iii). Sie gipfelt in Oslanders Wunsch, Gott möge „vns der verstockten Würrich bald abhelffe" (a ii). Interessanterweise ist die deutsch erschienene Prophétie samt der biographischen Einleitung, aber ohne das Vor- und Nachwort Oslanders, im Jahre 1600 ins Lateinische rückübersetzt worden.3 Betrachtet man die Schrift genauer, so zeigt sich, daß sie aus zwei inhaltlich zueinander passenden, miteinander verknüpften Hildegard-Texten besteht. Ob die Verknüpfung aus der Vorlage stammt oder von Oslander vorgenommen wurde, läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Fest steht jedenfalls, daß eine Kombination beider Texte und zwar in deutscher Übersetzung auch schon als Handschriften kursierte. Genannt seien der aus dem Jahr 1465 stammende Codex UB München, 2° cod. ms 684, f. 87r-89v, der um 1460/70 entstandene Weimarer Codex Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Ms Q 127, f. 121r-122v sowie zumindest bezüglich des ersten Teiles auch die um 1471 hergestellte Handschrift BSB München, cgm 523, f. 267ra-273rb.4 Das erste Stück ist eine Predigt, die Hildegard auf ihrer Reise nach Schwaben um 1170 in Kirchheim/Teck gehalten haben soll. Auf Verlangen des Pfarrers Werner von Kirchheim wurde sie aufgezeichnet und ihm zugeschickt. Dieser Antwortbrief Hildegards (Epistola 52) an Werner von Kirchheim ist bis auf die getilgte DatumsSt. Katharina

-

-

-

-

angabe vollständig wiedergegeben (Epistolarium II,

S. 333-337) Das zweite dem aus ist ein Liber divinorum operum, und zwar Buch 3, Abschnitt Stück visio 5, cap. 16. Darin wird der verdorbene Zustand der Geistlichkeit in der gegenwärtigen Epoche des feurigen Hundes beschrieben und eine gewaltsame Veränderung der Dinge angekündigt. Beide Teile der Kompilation stammen aus den Jahren 1170 bis 1173. Die in ihnen geführte Klage über die Unsittlichkeit 1 2

3 4

Sie ist erwähnt in Ruf 1933, S. 616, 21. Erwähnt bei Ranner 1813, S. 28, Nr. 229c.

In Wolf 1600, I, S. 397-399; 21671, I, S. 328-331. Die Handschrift München, Bay. StaatsbibL, cgm 523, enthält auf f. 267ra-269va eine deutsche Übersetzung von Hildegards Brief an Werner von Kirchheim, auf f. 269va271va eine deutsche Übersetzung aus dem Liber divinorum operum, Buch III, visio 5, cap. 16, auf f. 271vb-272vb eine deutsche Übersetzung von LDO, Buch III, visio 5, cap. 25 sowie auf f. 272vb-273rb von LDO, Buch III, visio 5, cap. 26.

Kapitel 2

448

der Geistlichen wird in einem Fall von der Personifikation der anderen von der Personifikation der Gerechtigkeit geführt. Beide im Kirche, Male wird ein Strafgericht durch die aufgebrachte Laienwelt angekündigt. Da alle genannten Texte, der Brief an Werner von Kirchheim sowie die erwähnten Passagen aus dem Liber divinorum operum, zum Inhalt des Pentachronon gehören, wird man davon ausgehen können, daß die Ubersetzungen ins Deutsche auf der Vorlage des Pentachronon basieren. Oslander hat zur Frage nach der Vorlage für seinen Druck im Vorwort einige interessante Bemerkungen angebracht, die hier nicht übergangen werden sollen. Demnach hat sich Hildegards Text in Verbindung einer illustrierten Weissagung über das Papsttum gefunden. Daneben besaß Oslander zwei separate Ausgaben dieser Texte. Beide Texte seien, so Oslander, von einem meyster (Magister?) aus dem Lateinischen ins Deutsche übertragen worden. Diese Ubersetzungen seien jedoch so schlecht gewesen, daß Oslander gerne eine neue angefertigt hätte, doch habe er keine lateinische Vorlage bekommen können. Diese Aussage bedeutet nicht nur, daß Teile des Pentachronon unabhängig voneinander ins Deutsche übersetzt wurden, sondern auch, daß in Nürnberg zur Zeit Oslanders die deutschen Fassungen gegenüber den lateinischen überwogen haben. Hier die entsprechende Passage aus Oslanders Vorrede: „Die Weissagung ist auch bey der andern gemalten Weissagung vom Bap= //stumb / gefunden / Wer sie aber gemacht hat / und wie alt sie ist / zeiget sie selbs an / Wir aber // haben yhr auch zwue / wilche yede ein beson= // dem meyster gehabt / der sie aus lateinischer // sprach verdeutschet hatt / und sind beyde zu // gleich der Deudschen und Lateinischen sprach / nicht wol be= // rieht gewesen / Darumb wirs lieber vonn newem wolten ver // deutscht haben / wir kondten aber kein lateinisch bekomen." (unpag., fol lr). Bezeichnenderweise wurde Oslanders Veröffentlichung nicht mehr von dem gemaßregelten Hans Guldenmund, sondern von einem anderen Drucker hergestellt, der noch dazu seinen Namen verschwieg. Wir wissen aber, daß dieser Drucker Hieronymus Andreae, gen. Formschneider (druckte 1525-1556) war. Andreae brachte u. a. Musikdrucke für Hans Ott, Nachdrucke des deutschen Psalters und das Betbüchlein Luthers heraus. Der Nürnberger Rat hatte Formschneider infolge seiner Mitarbeit an den Papstbildern durch Ratsverlaß vom 28. März 1527 zwar dazu verpflichtet, sämtliche Druckerzeugnisse seiner Presse der Zensur vorzulegen. St Hildegards Weissagung ist in diesem Zusammenhang jedoch nirgendwo erwähnt. Offenbar gab das Werk keinerlei Anlaß zur Kritik. und

Habgier

[Pseudo-]Hildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

449

Hildegardten Weissagung // vber die Papisten / vnd genanten // geistlichen I wilcher erfullung // zu vnsern Zeiten hat an- //gefangen / vnd vol- //

8. ) Sant

zogen sol wer- // den. // Ein Vorrede durch Andrean // Oslander. Im M.D.XXVII. iar. // [Wittenberg: Georg Rhau 1527]. 4°. 7 Bl. [Ex. BSB München, Sig. 4° Polem.2457/32; Wolfenbüttel, Sig. 169.9 Theol.4° (9)] Ebenfalls im Jahre 1527 erschien eine weitere Druckausgabe des Osianderschen Werkes, diesmal bei Georg Rhau in Wittenberg (* 1488; druckte 15251548). Dabei handelt es sich um einen stark überarbeiteten Nachdruck der Aus-

gabe des Hieronymus Andreae. Schwer verständliche Ausdrücke, die Oslander ungeglättet aus der spätmittelalterlichen Handschrift übernommen hatte, sind hier größtenteils durch geläufigere Formulierungen ersetzt. Der Text macht daher einen eleganteren Eindruck. In den Wortformen und im Satzbau zeigt er mitteldeutsche Eigentümlichkeiten. Rhau gilt unter den Druckern und Verlegern der Wittenberger Reformation als eine der profiliertesten und gebildetsten Persönlichkeiten. Er wirkte als Thomaskantor in Leipzig und bedeutender Musikdrucker in Wittenberg. Seiner die Erstdrucke des Großen Katechismus und der Convon ihm selbst redigierte Andachtsbücher, die sich durch erlesene Illustrationen (Cranach) auszeichnen. „Daß Rhau seine Verlegertätigkeit als bewußtes Bekenntnis zur Reformation aufgefaßt hat, beweisen die Vorreden zu seinen Drucken sowie die Tatsache, daß allein zwischen 1539 und 1543 sechs der in seiner Offizin beschäftigten Drucker lutherische Prediger geworden sind."1

Offizin

entstammen u. a.

fessio Augustana, ferner einige

Hildegarten weis-//sagung vher die Papisten vnd ge // nanten geistlichen / welcher erfullung zu vnsern zey // ten hat angefangen / vnd volzogen soll // werden. // Ein Vorred durch Andream // Oslander. Jm M.D.XXVII. jar. // [Zwickau: Gabriel Kantz 1527]. 4°. 6 Bl.

9. ) Sant

[Ex. BSB München, Sig. 4°H.eccl.827]

Der Zwickauer Druck von Oslanders Schrift ist ein ziemlich getreuer Nachdruck der Wittenberger Ausgabe von Georg Rhau. Gabriel [nicht Kaspar!] Kantz stammte aus Schwäbisch Hall und druckte in den Jahren 1524/25 im mährischen Altenburg. Seit 1526 ist er in Zwickau bezeugt. Dort übernahm er die Offizin Johann Schönspergers d. J. (druckte 1523-1528?), die er zuvor als Geschäftsführer geleitet hatte. Am 3. oder 5. September 1529 verstarb Kantz am

Englischen

1

Schweiß.

Geck 1963,

Sp. 374.

Kapitel 2 10.) DE PRAE-//SENTI CLERICORUM //tribulatione, futurorumque Tem-//

450

porum euentu, Diuae Hilde-//gardis Prophetiarum, seu // Diuinarum reuelatiol'/num libellus baud // poeniten-//dus. [Editore Hieronymo Gebvilero]. HAGANOE IN OFFICINA // Guilhelmi Seltz. Anno // domini 1529. 8° 19 Bl. [Ex.: BSB München, Sig. P. lat. 806; UB München, Sig. 8 Theol. 1050:6; Wolfenbüttel, Sig. 1164.29 Theol.80 (2)]. [Vgl. hierzu Georg Wolfgang Panzer, Annales Typographici, Vol. 7. Nürnberg 1791, S. 104; Jürgensmeier, S. 289]. Der Drucker der vorliegenden Publikation, Wilhelm Seltz (druckte 1527— 1529), hatte 1520 in Straßburg das Druckrecht erlangt. Er druckte u. a. Schriften von Sebastian Brant und Johann Bugenhagen. Hieronymus Gebwiller (1473-1545), der Herausgeber der Schrift, war seit 1501 Leiter der berühmten Humanistenschule in Schlettstadt. Hier gehörte u. a. Beatus Rhenanus zu seinen Schülern. 1509 wurde Gebwiller Leiter der Domschule in Straßburg. In diesem bedeutenden Amt war er der erste Humanist, noch dazu Laie und verheiratet. Im Jahre 1524 verließ Gebwiller Straßburg und ging nach Hagenau, um die Leitung der Schule Saint-Georges zu übernehmen. Für Schulzwecke kommentierte er mehrere Schriften des Aristoteles, die Faber Stapulensis herausgebracht hatte, und versah sie mit eigenen Vorworten.1 Daneben stammen aus seiner Feder u. a. eine Lebensbeschreibung der hl. Odilia, ein Werk über die Verehrung der Gottesmutter sowie Flugschriften gegen den Franziskaner Thomas Murner und verschiedene Reformatoren. Eifrig verteidigte Gebwiller den katholischen Standpunkt gegen die neue Lehre. Auf der anderen Seite kritisierte er heftig die Dekadenz des katholischen Klerus und kündigte ihm harte Strafen an. Um seine Position zu untermauern, berief er sich wie Oslander auf die Prophetien der hl. Hildegard, die er aus einem „vetustissimus codex" geschöpft zu haben vorgab. Bezeichnend für diese Rückwendung in die Vergangenheit ist die Tatsache, daß Gebwiller auch den Hortus deliciarum Herrads von Landsberg kopierte. Sein Werk mit den Hildegard-Prophetien entstand im Winter 1527/28, als die Hagenauer Schule infolge eines Ausbruchs der Pest geschlossen war. Es handelt sich um eine Reformschrift im Gewände historischer Retrospektion. Der Tenor ist klar: Wenn Priester und Mönche Buße tun, so wird die Kirche nicht untergehen, trotz aller Verfolgungen und Häresien. Damit wird Hildegard zur Gallionsfigur eines zwar reformoffenen, im Ganzen aber doch konservativen Humanismus, wie ihn am Oberrhein Sebastian Brant, Johann Geiler von Kaysersberg und Jakob Wimpfeling vertraten. ...

1

Z. B. „Artificialis introductio Jacobi Fabri Stapulensis: In Decem Ethicorum Libros Aristotelis : Adiuncto Familiari Commentario Judoci Clichtovei Declarata. Leonardi aretini dialogus de Moribus: Ad Galeotum Amicum Dialogo Parvorum Moralium Aristotelis ad Eudemium Respondens. Jacobi Fabri Stapulensis introductio in politicam. Xenophontis dialogus de economia." Joannes Groninger Argentorati ex officina sua impressoria publicavit. Anno ab incarnatione domini virtutum M.D.XI. Mense Martio. -

[Pseudo-]Hildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge 451 Fragt man nach der Textvorlage von Gebwillers Druck, so gilt, daß es sich

eine nicht näher zu identifizierende Handschrift des Pentachronon haben muß. Gebwillers Druck stellt also möglicherweise die Editio gehandelt des Pentachronon bzw. einer bestimmten Bearbeitung dieses Textes princeps dar. Auf diesen Sachverhalt deuten Gebwillers Widmungstext und Vorwort sowie der Inhalt der Schrift hin. Die Widmungsvorrede richtet sich an Friedrich Brechter, „Sacrae Cesariae atque Catholicae Maiestatis Gubernatori in Hochfelden".1 Im Vorwort leitet Gebwiller die Berechtigung der prophetischen Ermahnung durch einen langen und gelehrten Exkurs ab. Er begründet die Legitimität dieser Redeform durch verschiedene Beispiele aus dem Alten Testaments sowie der ägyptischen und der römischen Geschichte. Hildegard von Bingen rechnet Gebwiller zusammen mit Methodius und Birgitta von Schweden zu den prophetischen Gestalten der neueren Zeit. Dann folgt ein biographischer Abriß über Leben und Werk Hildegards. Gebwiller hebt hervor, daß Hildegard, obwohl ungebildet, ihre Schriften in Latein abgefaßt habe. Ihre Mahnungen, so Gebwiller, richteten sich an Kleriker und Laien. Die Texte Hildegards beginnen mit der Protestificatio zum Scivias. Allerdings ist der erste Teil von „Et ecce" bis „hoc mod edocta et die" weggelassen und am Ende ist nach „Clama ergo & scribe sic" folgende Passage nahtlos angefügt: hierbei

um

meum dicit dominus ad gloriam meam, & et ad tuam confusioperficio, o Diabole tibi per fortitudinem brachij mei oppositus in Aquilone, in

Hoc modo opus nem

& in Occidente, neenon etiam in Solis cursu ubi resistens, ab oriente Meridie, ita te subuertens in Occidente, quatinus in omni parte confusus sis. Quia in ecclesia mea quae mons est fortitudinis, ad interitum tuum o turpißime falsator, facio opus iusticie & sanetitatis, ita ut tu deuictus omnino intereas, qui uolebas ut plures in ea interirent. Qui autem acutas aures interioris intellectus habet, hie in ardenti amore speculi mei ad uerba haec anhelet, & ea in conscientia

Septrentione, & à

animi sui componat.

Auf der nächsten Seite (unpag, Signatur B) beginnt das Pentachronon mit Auszügen aus verschiedenen Schriften Hildegards. Als Überschrift erscheint: „INCIPIT PROPHECIA SAN=/ctae Hildegardis de 5 futuris tem=/poribus, quae incoeperunt / Anno domini 1100". Der Text des Pentachronon endet in der Druckausgabe Gebwillers mit Hildegards Brief an den Klerus von Trier. Zum Abschluß des gesamten Werkes fügt Gebwiller ein Exhortatorium Elegiacum Carmen sowie ein Friedrich Brechter gewidmetes Distichon an.

1

Ebd., f. 1 (unpag.; Sign.

A

2).

Kapitel 2

452

11.) Isenburg, Wilhelm

von:

Widerlegung

lesterwort etlicher Munich /

so

sie

zu

der falschen beschuldi-l/gung vnd // Collen wider denn Edlen vnnd

degardis von dem Bettelorden. // Vonn den gleyßnern / wie sie vnther dem falschen scheyn // der Geystligkeit den Eergeytz gern wolten verbergenn // auß dem vij buoch Polycraticon des bischoues II von Carnoten. [Köln: Johann von Aich 1532]. 4°. 10 Bl.

4° Polem. 3220] sich wehrt in dieser Schrift gegen den Vorwurf der Ketzerei, der ihm Isenburg seitens verschiedener Kölner Mönche entgegengebracht worden war. Er erwähnt einen Predigermönch, der in Köln-St. Alban gegen ihn gepredigt habe, und einen anderen, der zu St. Columban gegen ihn aufgetreten sei. Im Dom schließlich habe ihn der Barfüßermönch Nikolaus Herborn von der Kanzel herab attackiert. Isenburg vertritt in dieser Schrift die Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben. Außerdem lehnt er die Heiligenverehrung ab. Wie im Zusammenhang unserer Darlegungen zur Wirkungsgeschichte von Hildegards Brief an den Klerus von Köln dargelegt, handelt es sich bei Isenburgs Schrift um eine deutsche Ubersetzung und polemische Adaption von Insurgent gentes. Der Druck erschien in der von Arnd (druckte ca. 1512-1530) und Johann von Aich (druckte ca. 1530-1557) betriebenen Kölner Lupuspresse. Ihre Offizin lag in der Tranckgasse gegenüber der St.-Lupuskirche. Diese Druckerei fühlte sich stark dem protestantischen Gedankengut verpflichtet. Sie hat mitten im dezidiert katholischen Köln Drucke dieser Tendenz veröffentlicht und in einem Fall, dem Evangelischen Bürgers Handbüchlein (Köln, Johann von Aich 1531 u. 1544), sogar selbst verfaßt. Daneben waren für die Lupuspresse Prognostiken, Prophezeiungen und Sibyllen-Weissagungen typisch. Hervorzuheben ist, daß Hildegards Text in Neuhochdeutsch, d. h. in der Volkssprache, erscheint. Offensichtlich wurde dieser Text vom Drucker und nicht von Isenburg selbst beigefügt, wie aus dem Vorwort hervorgeht. Er dient jedoch ganz der Abstützung von Isenburgs Grimm gegen die Bettelorden und deren „Müncherey". Insgesamt bestätigt sich hier die eingangs formulierte These vom funktionalen Charakter solcher Veröffentlichungen besonders krass. Ein Gesamtverzeichnis der Lupuspressendrucke für die Jahre 1511 bis 1555 bringt Hartmut Beckers im Anhang seiner Faksimile-Edition Bauernpraktik und Bauernklage}

[Ex. BSB München

-

-

1

Bauernpraktik. Isenburgs Widerlegung Drucke.

erscheint dort als Nr. 54 der

aufgeführten

[Pseudo-JHildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

453

12.) [Prophetia de politicorum

et ecclesiasticorum certaminum eventu] DVAE VE/'ITERES PROPHETIAE DE //pia Ecclesiae instauratione, ad nostra // (PROPHETIA DE POLITItempora pertinentes. // M. Fla. Illyricus CORUM ET // Ecclesiasticorum certami-i'/num eventu. // Ex ueteri codice Bihliothecae // Hilfeldensis.) II PROPHE-//TIA S. HILDEGARDIS, QUAE // ante 400 annos uixit, De ruina Papae, & II pia Ecclesiae reformatione post impe-//rij inclinationem sequutura. Ex sylva locorum communium Henrici Tol-//ken, olim ante annos 130. Canonici // Magdehurgensis ad uerhum. // [Magdeburg, Michael Lotter, um 1550]. 8°. 2. Bl. ...

...

...

[Ex.: Wolfenbüttel, Sig. Michael Lotter

680.47

Theol.(5)]

(druckte bis 1556) siedelte Ende

1528 mit seiner Druckerei keine mehr erhalten hatte, nach Magdeburg Wittenberg, Aufträge um. Bis 1531 war seine Werkstatt im Haus zum Lindwurm untergebracht, das dem Stadtkämmerer Ebeling Altmann gehörte. Lotter war der bedeutendste Lutherdrucker Magdeburgs. Flacius Illyricus (1520-1575) gilt als der entschiedenste Anhänger Luthers. Luther selbst scheint, ebenso wie Melanchthon und Erasmus, nicht explizit auf Hildegard rekurriert zu haben. Anders Flacius Illyricus. Zum Zeitpunkt des Druckes dieser Schrift war Flacius gerade aus Wittenberg, wo er seit 1544 als Professor für hebräische Sprachlehre wirkte, vertrieben worden und hatte sich in Magdeburg niedergelassen. Dort erlangte er Berühmtheit als Anreger und Leiter der sogenannten Magdeburger Centurien, der ersten evangelisch-lutherischen Geschichtsdarstellung.1 In diesem Gemeinschaftswerk, das zwischen 1559-1574 in 13 Bänden erschien, sollte anhand des historischen Stoffes der Abfall der katholischen Kirche von der Reinheit der apostolischen Lehre aufgezeigt werden. Die Tendenz der Schrift ist düster und wird beherrscht vom Blick auf die Wirklichkeit des Satans. „In erster Linie manifestiert diese Kirchengeschichte die Anfänge, Fortschritte und ruchlosen Anstrengungen des Antichrists", so heißt es im Vorwort zu den Magdeburger Centurien.2 Zwar gelangt die Darstellung nicht bis zur Zeit Luthers. Dennoch gewinnt die Gestalt des Reformators fast übernatürlichen Charakter. Sein Erscheinen bedeutet das Aufleuchten göttlicher Wahrheit inmitten chaotischer Verwirrung und ruft die Gegenkräfte der Finsternis auf den Plan. Der vorliegende Druck des Flacius stilisiert Hildegard zu einer Art prototypischer Vorläuferin Martin Luthers. Auffällig ist, daß Hildegard als „virgo sancta" bezeichnet wird. Die erste der beiden Prophetien sie stammt nicht von Hildegard ist eine 16 Zeilen umfassende, in Versform gekleidete Sibyllenvon

wo er

-

-

1

Der genaue Titel lautet: Ecclesiastica Historia integram ecclesiae Christi ideam congesta per aliquod studiosos et pios viros in urbe Magdeburgica, 13 Basel 1559-1574. Zit. nach Zeeden 1950, S. 49.

plectens, 2

com-

Bde.,

Kapitel 2

454

Weissagung, die Flacius „ex veteri codice Bibliothecae Hilfeldensis" geschöpft zu haben behauptet. Sie beginnt: „B. Studium perdet, L tota damnificatur" und endet: „Crescent urbs, uillae,

notât

haec doctrina Sibillae".

Prophétie Hildegards nimmt in den Augen des Flacius den Untergang Papstkirche vorweg und sanktioniert ihn. Der Text stellt einen gekürzten

Die

der und bearbeiteten Auszug aus dem Liber divinorum operum (Buch III, visio 5, cap. 25 und 26) dar. Dieser Text findet sich auch im Pentachronon des Gebeno von Eberbach. Vermutlich hat Flacius Illyricus bzw. sein Gewährsmann Henricus Toke, aus einem der vielen Textzeugen des Pentachronon geschöpft. Die Textfassung ist nicht identisch mit jener aus De Praesenti Clericorum tribulatione, wo diese Passagen (ausführlicher) ebenfalls erscheinen (vgl. Nr. 10). Flacius gibt als Quelle für seine Hildegard-Texte die Alphabetica sylva locorum communium (auch Rapularius genannt) des Magdeburger Kanonikers Henricus Toke (ca. 1390-1454) an.1 Hinter diesem Titel verbirgt sich das persönliche Zitaten- und Notizbuch Tokens. Es gelangte irgendwann in den Besitz des Flacius, später wird es von Gottfried Wilhelm Leibniz erwähnt. Toke entstammte einer angesehenen Bremer Bürgerfamilie. 1406 hatte er in Erfurt das Studium der Theologie aufgenommen, 1408 erwarb er dort den Grad eines Baccalaureus, 1411 den eines Magister Artium. Zunächst als Professor in Erfurt tätig, wechselte Toke 1419 an die neugegründete Universität Rostock, zu deren Rektor er 1424 ernannt wurde. Seine universitäre Ausbildung schloß er 1426 in Erfurt mit der Promotion zum Dr. theol. ab. Bald darauf ging Toke als Magister, Lektor und Prediger an die Domkirche von Magdeburg. 1432 ist er als Vertreter des Erzbischofs von Magdeburg auf dem Konzil von Basel bezeugt, wo er sich insbesondere um die böhmische Frage kümmerte. Ende 1434 oder Anfang 1435 scheint Toke das Konzil wieder verlassen zu haben, um an die Domkirche seiner Heimatstadt Bremen zu gehen. Doch hält er sich 1439 bereits wieder in Magdeburg auf, wo er sich vor allem mit der Reform der Klöster beschäftigt. Eines von Tokes Hauptanliegen war die Abschaffung der sogenannten Heilig-Blut-Wallfahrten nach Wilsnack. Nicolaus Cusanus setzte das Verbot der Wilsnacker Wallfahrt 1451 in seiner Eigenschaft als päpstlicher Legat durch. Toke stand in seinen Predigten und Schriften zwar auf dem Boden der alten Kirche. Dennoch finden sich vielfache Anklänge an die spätere Lehre der Reformatoren. So kritisiert Toke den Mißbrauch der Ablässe, er erkennt die Mängel der römischen Kurie, das Konzil steht ihm über dem Papst und er beanstandet die Mißstände der Klöster.

1

Vgl.

Breest 1883. S. 153-156.

Janicke -

Holzel 1998, insbesondere

Holzel 1995.

1894. -

-

[Pseudo-JHildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge 455 13. ) [Flacius Illyricus, Mitarb.]: Catalogus testium veritatis, qui, ante nostram aetatem,

Pontificum

nihus, errorihus, meier, S. 289].

ac

Romanorum Primatui variisque Papismi superstitioimpiis fraudibus reclamarunt. Basel 1567. [Vgl. Jürgens-

Der Catalogus testium veritatis entstand im Sinne eines Ergänzungswerkes zu den Magdeburger Centurien. Er sollte nachweisen, daß die Anliegen der Reformation zu allen Zeiten im Wirken frommer Christen und befähigter Lehrer aktuell gewesen seien. Dem gleichen Zweck diente eine von Flacius veranstaltete Ausgabe von Otfrieds Evangelienbuch (Basel 1571). In der mir vorliegenden, bei Jacob Stoer und Jacob Chouet (o. O.) 1608 gedruckten Ausgabe des Catalogus findet sich der entsprechende Eintrag über Hildegard in den Spalten 1487/89. Der Intention des Gesamtwerkes folgend, legt Flacius einen besonderen Nachdruck auf die Schilderung von Hildegards Papst- und Kirchenkritik. Aber auch die Mendikanten, die Flacius als „novos Iuda socios" (Sp. 1488) schmäht, werden einer beißenden Kritik unterzogen. Als Nachfolger im Geiste Hildegards findet Iohannes de Rupescissa (Jean de Roquetaillade) ausdrückliche Hervorhebung. Im übrigen erwähnt Flacius seine aus Henricus Toke geschöpften Hildegard-Prophetien, die er zusammen mit der Sibyllen-Weissagung gesondert veröffentlicht habe (s. Nr. 12). Im Hinblick auf diese Prophetien versteigt sich Flacius dazu, Toke und Hildegard als „Lutherani" zu bezeichnen (Sp. 1487). 14. ) PROPHETIA // oder // Weissagung // Hildegardis I etwa im Clol/ster S. Ruprechtsberg bey Bingen/ // gewesener Aeptissin/ [etjc. // Darinnen sie // Vor vngefähr 450. Jahren von diesen unsern // letzten Zeiten/ also klar und offenbahrlich/ was sich darinn // begeben werde/ geschrieben hat/ als wann sie solche Zeiten Selbsten // erlebt/ und die Sachen also vorgehen gesehen hätte; // Zur Warnung vnd Nachdencken allen friedliebenden Patriol'/ten/ so wie geist-

als weltlichen Standes/ in Druck gegeben/ // vnd zum friedseligen Newen-Jahr verehret // und offerirt // Von // Georgio Bellamera Ubio. O.O 1620, IIS. [Ex. Wolffenbüttel, Sign.: Hist. Germ. C. 513, 19]. Bei diesem Titel, der von uns noch nicht eingesehen werden konnte, handelt es sich vermutlich um eine Flugschrift.

Kapitel 2

456

theologica de Visionibus Hildegardis academiae magnificentissimo serenissimo principe regio domino Friderico Augusto electoratus saxonici berede praeside Martino Chladenio SS. Theologiae doctore ac professore publico ordinario, ut et alumnorum regio-electoralium ephoro praesentium temporum causa M. David Christianus Langius Wittebergensis Saxo Die IuniiA. MDCCXVI. Wittenberg: ex officina Viduae Gerdesianae, 1716. 40 S. [Erwähnt bei Fabricius, Bibliotheca Latina mediae et infimae aetatis, T. 3. Patavia 1754. (Nachdr. Florentiae 1858), S. 243]. Die hier angezeigte Dissertation über die Visionen Hildegards bringt im Anschluß an eine Lebensbeschreibung der Äbtissin umfangreiche Zitate aus dem Epistolar und den Visionsschriften. Als eigentliche Textausgabe kann sie (entgegen früheren Annahmen) nicht gelten. Die Schrift ist wegen ihrer vielen zerstreuten Hinweise auf die ältere Wirkungsgeschichte Hildegards trotzdem von Bedeutung. So weist Chladenius auf entsprechende Äußerungen von [Pseudo-TJohannes Tauler („applaudat Taulerus, cuius praefatio in Epistolas Hilde15.) Fridericus Chladenius, quarum scrutinium

Dissertatio

rectore

-

-

gardianas extat" [S. 40]), Petrus Canisius, Trithemius, Johannes Blanckwald, Ärnoldus de Wion (Lignum vitae, Venedig 1595) oder der Magdeburger Cen-

turionen hin. Er kennt eine Scivias-Ausgabe Coloniae 1628, merkwürdigerweise jedoch nicht die Ausgabe Paris 1513. Im übrigen unterzieht der Verfasser den Inhalt von Hildegards Visionen einer scharfen, auf der protestantischen Schultheologie der Zeit beruhenden Kritik. Ihre kirchenkritischen Briefe hingegen finden seine ungeteilte Zustimmung.

Zusammenfassung Erhebungen zur Präsenz Hildegards in der mystischen, volkssprachlichen, pseudepigraphischen und polemischen Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit haben in einer hier nur vorläufig möglichen Bilanz folgende Punkte festzuhalten: 1.) Als Einzeltexte wurden die prophetischen Werke Hildegards seit dem 13. Jahrhundert, genauer gesagt, nach dem gescheiterten Kanonisationsversuch von 1233/37, kaum noch überliefert. Neben dem nachlassenden hagiographischen Interesse scheint ein Hauptgrund hierfür die machtvoll sich durchsetzende, stärker begrifflich-rational ausgerichtete Scholastik gewesen zu sein. Seit ca. 1220/24 gewann Gebeno von Eberbach mit seiner selektiven Quellenkompilation (Pentachronon) eine entscheidende Bedeutung für die Weitervermittlung von Hildegards Werk. Diese Form der Überlieferung führte zu einer eingeengten Rezeption von Hildegards Werk im Sinne eines kirchenkritisch akzentuierten Reformschrifttums. Dabei waren es vor allem die apokalyptischen Passagen ihres Werkes, die von den Rezipienten als Katalysatoren der intendierten Reformen eingesetzt wurden. Viele später entstandene Testimonien spitzen die Anliegen des Pentachronon weiter zu. 2.3

Unsere

-

-

[Pseudo-JHildegard im Rahmen literarischer Rezeptionszusammenhänge

457

2. ) Dennoch konnte Hildegard ihren Ruf als eine der wichtigsten prophetischen Autoritäten des Mittelalters eindrucksvoll behaupten. Ihr Name gehörte, verbunden mit kurzen Textpassagen aus den visionären Schriften und den Briefen, zum Allgemeingut der mittelalterlichen Literatur. Zentral sind ihre Nennungen und Zitationen im Zusammenhang der Antichrist-Spekulationen, des Bettelordenstreits sowie der Kirchen-, Gesellschafts- und Papstkritik. Des weiteren taucht Hildegard im Umfeld der Ars-moriendi-Literatur, der Mystik (Tauler, Heinrich von Nördlingen) und der volkssprachlichen Dichtung (Michel Beheim) auf. Die pseudepigraphisch-polemische Literatur bezeugt durch eine radikale Instrumentalisierung Hildegards die Vertrautheit mit dem Namen der berühmten Prophetin auf besonders deutliche Weise. 3. ) Hildegards naturwissenschaftliches und musikalisches Werk scheint zu dieser Zeit durch das prophetische und das pseudepigraphische Schrifttum weitgehend majorisiert worden zu sein. Auch die Briefe wurden nur selektiv (wenn auch lebhaft) rezipiert, mit einem hohen Anteil apokrypher Adaptionen. Die gedruckte Überlieferung dieser Teile von Hildegards Werk setzt erst im bereits fortgeschrittenen 16. Jahrhundert ein (1533 bzw. 1566). 4. ) Im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation erfahren Hildegards Schriften eine nochmalige starke Funktionalisierung. Hildegards Kirchenkritik wird enthistorisiert und in einen zeitgenössischen Argumentationszusammenhang transponiert. Dabei gewinnt die apokryphe und pseudepigraphische Überlieferung zusehends an Gewicht vor den authentischen Schriften. Hildegard wird mit einem Nimbus zeitloser Bedeutsamkeit versehen und zur Symbolfigur eines überkonfessionell agierenden Reformmodells kirchlicher Erneuerung emporstilisiert. Die protestantische Hildegard-Rezeption eines Oslander oder Flacius Illyricus ihrerseits greift in weiten Teilen auf ältere Texte zurück, die reformkatholische Standpunkte aus der Zeit des Konzils von Basel aktualisieren (Toke). 5. ) Die deutschsprachige Rezeption der visionären Texte Hildegards basiert maßgeblich auf dem Pentachronon, ein Befund, der in gleicher Weise für die Überführung in den Druck gilt.

KAPITEL 3

Johannes Trithemius (1462-1516) als

Propagator Hildegards

von

Bingen

Im Verlaufe der

bisherigen Ausführungen ist immer wieder angeklungen, welch Bedeutung Johannes Trithemius für die Verbreitung der Werke und der Geltung Hildegards von Bingen besaß. Diese Aspekte sollen im folgenden etwas näher ausgeführt werden. Betrachtet man die unterschiedlichen Wege, über die die Schriften Hildegards zentrale

im Mittelalter und in der frühen Neuzeit tradiert

wurden, so lassen sich, wenn der relativ spät einsetzenden, meist apokryph verlaufenden Uberlieferung der heilkundlichen Schriften absieht, vier typische Arten der Vermittlung voneinander unterscheiden : Die erste Variante resultierte aus den Bemühungen einer Reihe von Personen und Institutionen aus dem unmittelbaren Lebensumfeld Hildegards. Sie unternahmen es, die Schriften der rheinischen Seherin in einer möglichst authentischen, von der Urheberin ganz unmittelbar autorisierten Textgestalt zu verbreiten. Neben Hildegard selbst sind hier vor allem ihre Sekretäre Volmar, Wibert und der Trierer Abt Ludwig zu nennen, möglicherweise auch die Nonne Richardis von Stade. Fest eingebunden in die Vervielfältigung ihrer Schriften waren darüber hinaus u. a. die Skriptorien der Benediktinerabteien Rupertsberg, Trier-St. Eucharius, Zwiefalten und Gembloux sowie der Zisterzienserabtei Villers in Brabant. Bis ins 16. Jahrhundert hinein lassen sich dabei die meisten Abschriften von Hildegards Werken direkt oder indirekt auf das Kloster Rupertsberg zurückführen. Möglicherweise stand hinter diesem Phänomen das Bemühen, Hildegards schwer zugängliche Texte in einer quasi normierten Sprachgestalt zu überliefern, um sie auf diese Weise vor Fehldeutungen zu schützen. Dem Riesencodex als Ausgabe letzter Hand wuchs im Rahmen dieser Bemühungen eine besondere Bedeutung zu: er avancierte zur Leithandschrift und damit zur kanonbildenden Vorlage von Hildegards Werken. Der zweite Weg der Popularisierung von Hildegards Schriften bestand im Zugriff unterschiedlicher, oft anonym bleibender Skriptorien und Schreiber des 12. bis 16. Jahrhunderts. Ihnen kam es auf Hildegards Texte an, ohne daß eine besondere Ursprungsechtheit erwartet wurde. Die Textzeugen dieser Phase der Überlieferung sind Dokumente einer sich diversifizierenden Wirkungsgeschichte, die chronologisch und geographisch immer weitere Kreise um das eigentliche Entstehungszentrum von Hildegards Schriften schlug. Die dritte Art der Tradierung und Rezeption von Hildegards Schriften entstand aus der Praxis, bereits exzerpierte und in Texten späterer Autoren zitierte Sequenzen noch einmal abzuschreiben. Dieser Status der Überlieferung schöpft nicht mehr aus primärer, sondern bereits aus sekundärer Quelle, ohne man

-

-

-

einmal

von

Johannes

Trithemius

459

daß die Schriften Hildegards noch selbst vorgelegen hätten. Als Beispiele für eine solche Form der Überlieferung sei an die vielfältige Einzelüberlieferung von Hildegards Brief an den Klerus von Köln oder auf die entsprechenden Abschnitte in den Chroniken des [Pseudo-JGodellus, Robert von Auxerre und Vinzenz von Beauvais hingewiesen. Diese Texte bilden standardisierte Zitationsstafetten, die mehr oder weniger identische Passagen aus Hildegards Schriften bzw. Bemerkungen über Hildegard in einer fast formelhaft anmutenden Weise weitertradieren.1 Gleichzeitig wurden diese Passagen aus ihrem entstehungsgeschichtlichen Kontext herausgelöst und damit enthistorisiert. Ein Prozeß, der langfristig darauf hinauslief, Hildegards Werk zu parzellieren und in Form von autochthonen Einzelprophetien zu überliefern. Eine vierte Weise der Vermittlung von Hildegards Schriften liefert die Kompilation des Zisterzienserpriors Gebeno von Eberbach. Hier haben wir es mit einer Form der Werkaneignung zu tun, die sich auf eine ganz bestimmte Person und deren spezifische Sichtweisen Hildegards zurückführen läßt. Gebenos Speculum futurorum temporum sive Pentachronon war ein wichtiges, wenn nicht das zentrale Gelenk, über das die Schriften Hildegards im späten Mittelalter rezipiert wurden. Dennoch konnte diese Kompilation nicht die Kenntnis des gesamten Werkes ersetzen. Sie war in ihrer Entstehung und Wirkung von Voraussetzungen geprägt, die auf die Person Gebenos und nicht auf jene Hildegards zurückverweisen. Diese Form der Überlieferung ist stark von funktionalen Gesichtspunkten bestimmt. Sie äußert sich etwa in Gebenos Bemühen, mithilfe von Hildegards Schriften seiner eigenen Zeit den Spiegel vor Augen zu halten.2 Auch Gebenos reformmonastisch, zisterziensisch geprägte Form der Textauswahl verfolgt bestimmte Sonderinteressen. Ein Befund, der dazu führte, daß Hildegard in den Klöstern zisterziensischer Prägung eine besonders intensive Nachwirkung erlebte. Gelegentlich wurde sie sogar selbst zur Zisterzienserin mutiert. Als letztes kommt hinzu, daß Gebeno mithilfe des Pentachronon Hildegards zu dieser Zeit anlaufenden Heiligsprechungsprozeß fördern wollte. Auch dies eine stark instrumentalisierende Form des Umgangs mit Hildegards Schriften. -

-

vorgelegten Beobachtungen zur Rolle des Johannes Trithemius für die Verbreitung der Schriften Hildegards wurden erstmals veröffentlicht als Embach 2000b.

1

Die hier

2

Hoc anno vidi in AleChronicon die. Godellus, hier S. 198: „Anno Domini 1172 partibus feminam provecte etatis virginem [Hildegard, Ergänzung], cui tantam gratiam contulit virtus divina, ut, cum ipsa laica et illiterata sit, mirabiliter tarnen ab hoc mundo rapiatur frequencius et in summis discat non solum quod postea in imis dicat, set [!] pocius, quod satis mirabile est et inauditum, etiam scribendo Latine dictet et dictando libros catholice doctrine conficiat; libros etiam eius vidi et legi, quos ipsa, ut dixi, illiterata Latine dictavit. Sexaginta denique compleverat annos in huius mundi gratia, quando earn vidi." Dieser Text erscheint fast wortwörtlich bei Robert von Auxerre und Vinzenz von Beauvais. Robertos Chronicon, S. 286. Vincentius Speculum hist., S. 1125. Vgl. hierzu Embach 2001. Vgl. hierzu Meier 1990b. ...

mannie

-

-

Kapitel 3

460

Stellt man die Frage, in welches überlieferungstypologische Modell Johannes Trithemius mit seinen Bemühungen um eine Geltendmachung der Werke Hildegards gehört, so spricht vieles dafür, ihn mit Gebeno von Eberbach zu vergleichen. Wie Gebeno im 13. Jahrhundert, so versuchte Trithemius an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, Person und Werk Hildegards auf breiter Front

neu zu

popularisieren.

nun die historischen Voraussetzungen für ein sahen seine konkreten Erscheinungsformen aus, wie Unterfangen, seine Wirkungsabsichten, wo seine Grenzen ?

Welches

waren

3.1 Der historische und

derartiges wo lagen

biographische Hintergrund der Hildegard-Rezeption des Trithemius Wie bekannt, hatte Johannes Trithemius am 21. November 1482 in der Benediktinerabtei Sponheim bei Bad Kreuznach die Mönchsgelübde abgelegt. Nicht einmal ein Jahr später, am 7. Juli 1483, wurde er, gerade 21 Jahre alt, zum Abt des Konvents gewählt. Über einen Zeitraum von 23 Jahren hinweg verblieb Trithemius in dieser Stellung, bevor er, veranlaßt durch Kritik an seiner Amtsführung und den Vorwurf, nekromantischen Neigungen zu frönen, im Jahre 1506 nach Würzburg wechselte. Hier übernahm er die kleine, aus lediglich vier bis fünf Mitgliedern bestehende Abtei St. Jakob. Diese nach ihrer iro-schottischen Gründungsgeschichte auch Schottenkloster genannte Abtei leitete Trithemius bis zu seinem Tode im Jahre 1516. Dazwischen lag eine fruchtbare Zeit monastischer Reformen und wissenschaftlicher Studien. Besondere Bedeutung erlangte Trithemius als Vertreter der Bursfelder Kongregation sowie als Mitglied des Heidelberger Humanistenkreises um den Wormser Bischof Johannes von Dalberg (1455-1503) und den deutschen Erzhumanisten Konrad Celtis (14591508). Auch die Tatsache, daß Trithemius bei Kaiser Maximilian I. (1459-1519) in hohem Ansehen stand, bezeugt den Rang seiner Stellung. Es liegt auf der Hand, daß Trithemius allein schon aufgrund der räumlichen Nähe zwischen den Klöstern Sponheim und Rupertsberg ständig mit Leben und Schaffen Hildegards in Berührung kam. Insofern kann man dem grundsätzlichen Befund Klaus Arnolds, Hildegard sei im Leben des Trithemius auf „besonderes Interesse"1 gestoßen, nur beipflichten. Allerdings scheint uns die wahre Bedeutung seiner Hildegard-Rezeption bislang keineswegs angemessen gewürdigt worden zu sein. Die gängigen Beurteilungen von Trithemius' Leistungen auf diesem Felde stützen sich fast ausschließlich auf seine chronistischannalistischen Werke, d. h. auf die Sponheimer und Hirsauer Chronik sowie auf die Hirsauer Annalen. Seine literarhistorischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Bemühungen sowie seine Verdienste als Kopist von Hildegards Schriften blieben dagegen nahezu ausgeblendet. Eine bedauerliche Engführung, da gerade die letztgenannten Aspekte für eine ausgewogene Beurteilung der Hildegardl

Vgl. Arnold 1991b, S. 64.

Jobannes Trithemius

461

Rezeption des Trithemius von größter Bedeutung sind. Immerhin besaß der Sponheimer Abt eine solch ausgedehnte Kenntnis des Lebens und der Schriften Hildegards, daß man, wenn man seine zerstreuten Bemerkungen zusammenfassen würde, eine zwar unkritische, doch komplette Werk- und Lebensbeschreibung der rheinischen Seherin in Händen hielte. Seine historischen Werke gehen auf Hildegards Herkunft ein, beschreiben die Gründungsgeschichte von Kloster Rupertsberg, benennen Hildegards weltliche und kirchliche Briefpartner und schildern einzelne, besonders wichtige Geschehnisse aus ihrem Leben. Auch ihren Tod und ihre Bestattung spart Trithemius nicht aus. Die literarhistorischen Schriften legen naturgemäß ein besonderes Gewicht auf Hildegards Schriften. Sie bringen ausführliche Titellisten ihrer Werke, zum Teil mit Nennung der Incipits und Kurzcharakterisierung der Inhalte. In der Tat steht Trithemius als einflußreicher (wenn auch schillernder) Popularisator Hildegards unerreicht in seiner Zeit. Er war und dies gilt trotz seiner mitunter frei interpolierenden Art der Geschichtsschreibung der bedeutendste Vermittler Hildegards an der Wende vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit. Ein Befund, der im übrigen auch auf seine Beschäftigung mit Person und Werk Elisabeths -

-

Schönau zutrifft.1 Stellt man die Frage nach den unmittelbaren Anknüpfungspunkten für das Interesse des Trithemius an Hildegard, so ist zunächst darauf hinzuweisen, daß Trithemius seine Kontakte zu Kloster Rupertsberg bzw. zu Hildegard mit seinen monastischen Amtstätigkeiten in Verbindung bringen und in eine von ihm selbst dargestellte, jahrhundertealte Beziehung zwischen Kloster Sponheim und Kloster Rupertsberg einbetten konnte.2 Trithemius selbst wollte wissen, daß bereits im Jahre 1202 der Mönch Petrus von Bingen, ein abgesetzter Prior des Klosters Sponheim, zum Propst von Kloster Rupertsberg eingesetzt worden sei. Und im Jahre 1208 sei es der Abt von Sponheim gewesen, der einen Streit um die Wahl der Meisterin von Kloster Rupertsberg entschieden habe. 1224 schließlich soll, so berichtet Trithemius, die Abtei Rupertsberg über den Mainzer Erzbischof Siegfried II. von Eppstein (1200-1230) durchgesetzt haben, den Äbten von Sponheim unterstellt zu werden. Äußerer Anlaß hierfür sei die Aufnahme von Rupertsberger Inklusen in das Kloster Sponheim gewesen.3 Fest steht

von

-

1

hierzu die Zusammenstellung der Testimonien bei Roth 1884, S. LXXXVIIZutreffend das grundsätzliche Urteil Nikolaus Staubachs: „Wie eingehend sich der Abt [Trithemius; Ergänzung] mit ihr [Elisabeth; Ergänzung] beschäftigt hat, bezeugen seine zahlreichen Nachrichten und Notizen über ihr Leben und ihre Schriften, die ihn zu einem Hauptgewährsmann ihrer Rezeptionsgeschichte machen." Staubach 1986, S. 307. Arnold 1991b, S. 64: „...für das Kloster [Rupertsberg; Ergänzung] und seine Reform setzte er [Trithemius; Ergänzung] sich persönlich ein ..." Diese Informationen des Trithemius werden in ihrem Wahrheitsgehalt von Josef Heinzelmann bestritten: „Genausowenig gab es enge Beziehungen Hildegards und des Rupertsbergs zum Hauskloster der Spanheimer, Sponheim." Heinzelmann

Vgl.

XCI.

-

2 3

1997, S. 55.

Kapitel 3

462

jedenfalls, daß Kloster Rupertsberg in den Jahren 1492/93 (Trithemius zufolge im Jahre 1494) nach den Gesichtspunkten der Bursfelder Kongregation reformiert wurde. Der Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg (1484-1504) hatte den Deutzer Abt Gerlach von Breitbach mit der Durchführung dieser Maßnahme betraut. Äbtissin war zu dieser Zeit Guda Specht von Bubenheim,

die zusammen mit fünf weiteren Nonnen aus dem Zisterzienserinnenkloster Schönau auf den Rupertsberg gewechselt war.1 Bei der Durchführung der Reform soll Trithemius eine führende Rolle gespielt haben. Aber auch über die Einführung der Bursfelder Reform hinaus soll Trithemius sich in vielerlei Hinsicht für den Konvent eingesetzt haben. Marianna Schräder und Adelgundis Führkötter gehen sogar davon aus, daß Trithemius ein „enges Freundschaftsverhältnis"2 mit dem Rupertsberger Konvent verbunden habe. Hinzu kamen seine humanistisch-literarischen Interessen, die ihn schon bald dazu antrieben, Hildegards Werke in den Originalhandschriften von Kloster Rupertsberg zu studieren. Umfangreiche Abschriften, die Trithemius aus den Originalen anfertigen ließ, wanderten in die Bibliothek von Kloster Sponheim. Ein weiterer Anknüpfungspunkt bildete der regionale Hildegard-Kult des 15. Jahrhunderts. Seit 1480 erschien Hildegard in der Allerheiligenlitanei der Mainzer Agende,3 und bereits 1412 war ihr Name in einer Hagenauer Handschrift des Martyrologium Usuardi aufgetaucht. Neben diesen eher äußeren gab es aber auch innere Gründe für die Hinwendung des Trithemius zu Hildegard. Im Laufe seines Lebens betätigte sich Trithemius in verschiedenen Wirkungsbereichen, in denen ihm Hildegard als geistesverwandte Größe und historisches Vorbild erschienen sein muß. Genannt seien seine Bemühungen um die Erneuerung des kirchlichen Lebens, seine Kommentierung der Benediktsregel, seine naturphilosophischen Spekulationen sowie seine Entwicklung von Geheimschriften, konkret der Steganographia und der Polygraphia. 1

Vgl.

hierzu Gallia

Christiana,

c.

653f.: „Guda

Specht cognominata,

de Bubenheim

orta, reformandi huius monasterii gratia, e Sconaugiensi cum quinque aliis sororibus hue accessit an. 1494 statimque in magistram consensu omnium instituta, ibidem praefuit annis ferme Septem; quo tempore, vel circiter, ut jam diximus, Ringavienses cives totum pene monasterium devastarunt." Hofmeister 1935, S. 79. Auch Klo-

Trithemius reformiert und zu literarischer Blüte geführt. Schrader/Führkötter 1956, S. 57. An anderer Stelle äußert sich Marianna Schräder etwas unbestimmter hierzu : „An der Einführung der Bursfelder Reform auf dem Rupertsberg scheint der Sponheimer Abt beteiligt gewesen zu sein und setzte sich mit tatkräftiger Hilfe für das Kloster der hl. Hildegard in manchen Bedrängnissen jener Tage ein." Schräder 1952, hier S. 173f. Dabei handelt es sich um die unter dem Mainzer Erzbischof Diether von Isenburg (Amtszeit 1459/61 und 1475/82) herausgegebene Agenda Moguntinensis (H 369; GW 468). Der Druck wurde am 29. Juni 1480 abgeschlossen. Hersteller war der Mainzer Drucker Johann Neumeister. Vgl. hierzu Reifenberg 1972. ster

2

3

Schönau wurde

-

von

Johannes Trithemius

463

Betrachtet man die Hildegard-Rezeption des Trithemius unter entwicklungsgeschichtlichen Aspekten, so fällt auf, daß sie einen deutlichen Schwerpunkt auf der Sponheimer Zeit, d.h. auf den Jahren 1483 bis 1506, besitzt. Sämtliche Erwähnungen Hildegards in Schriften des Trithemius gehen in die Sponheimer Jahre zurück. Der Wechsel nach Würzburg brachte offenkundig auch in dieser Hinsicht eine gewisse Zäsur mit sich. Vollständig erloschen ist das Interesse des Trithemius an Hildegard aber auch an seiner neuen Wirkungsstätte nicht. Zwar mußte Trithemius seine bedeutende Bibliothek, in der sich mit großer Wahrscheinlichkeit Abschriften aller Werke Hildegards befanden, in Sponheim zurücklassen. Doch zumindest der heute in London liegende Codex Add. 15102, der die Briefsammlung und einige kleinere Hildegard-Werke enthält, wanderte, wie ein entsprechender Besitzvermerk auf f. lr beweist, mit nach Würzburg. Darüber hinaus existiert ein zweiter, ehemals zum Bestand des Würzburger Schottenklosters gehörender Codex mit Schriften Hildegards. Es ist die heute in der Universitätsbibliothek Würzburg liegende Handschrift M. ch. f. 131. Der

Codex beinhaltet neben anderen Schriften

nes et

prophetiae S. Hildegardis

cum

einige nicht näher bestimmte „Visioprologo Gebenonis."1 Ob dieser Text es

handelt sich vermutlich um das Pentachronon des Gebeno von Eberbach von Sponheim aus mit nach Würzburg genommen oder ob er von Trithemius erst dort erworben wurde, muß offenbleiben. Es existiert kein intakter Katalog der Sponheimer Bibliothek. Sein Vorhandensein neben einer regulären Zusammenstellung von Werken Hildegards kann jedenfalls als Zeichen dafür gewertet werden, daß das reformtheologisch inspirierte Hildegard-Bild Gebenos von Eberbach durchaus auf der Linie des Trithemius lag. Daß die zum Bestand der UB München gehörende Handschrift 2° Cod. ms. 684, in der sich eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Namensnennung des Trithemius findet, tatsächlich zur Büchersammlung des Sponheimer Abtes gehörte, läßt sich nicht beweisen. Diese Handschrift enthält neben anderen prophetischen Schriften auf f. 87r-92r auch einige Hildegard von Bingen zugewiesene deutschsprachige Prophetien.2 Versuchen wir nun, die unserer Darstellung zugrundeliegende Quellenbasis kurz zu umreißen. Hier ergibt sich der Befund, daß Trithemus in insgesamt sechs seiner Schriften ausführlich auf Hildegard von Bingen eingeht. Nachfolgend die entsprechenden Titel und Belegstellen: -

-

1 2

Vgl. Vgl.

hierzu Lehmann 1961, S. 42. Mit

kompletter Beschreibung der Handschrift.

Kornrumpf/Völker 1968, S. 56-60. Im 16. Jahrundert gehörte der Codex der UB Ingolstadt (Sign. KK [RR?] 95). Die gleichen Texte finden sich auch in der Handschrift der BSB München cgm 523, f. 267ra-271va sowie in Eberhard Windekkes Buch vom Kaiser Sigmund. Vgl. Schneider 1978, S. 65 Nr. 33.

Kapitel 3

464

1. ) De viris illustribus ordinis sancti Benedicti.

Abfassungszeit ca. 1492. ZitierEd. Busaeus. 2 Bde. Mainz, Johannes vorlage: Opera pia spiritualia. Johannes Albini 1604/05. Hier: Bd. 1, S. 16-149. Darin über Hildegard: S. 55 und 113.' 2. ) De scriptoribus ecclesiasticis. Als Manuskript abgeschlossen und erstmalig gedruckt im Jahre 1494. Zitiervorlage: Druckausgabe Paris, Bernhard Rembolt 1512. Darin über Hildegard: f. XCIv-XCII.2 3. ) Catalogus illustrium virorum Germaniae. Abfassung seit 1491, als Manuskript abgeschlossen 1495. Erstdruck: Mainz, Peter Friedberg, nach dem 14. September 1495. Darin über Hildegard: f. XXr-XXIr.3 Zitiervorlage: Johannes Trithemius, Opera historica. Ed. Marquart Freher. 2 Bde. Bd. 1. Frankfurt 1601, S. 121-183. Darin über Hildegard: S. 138. 4. ) Cbronicon Hirsaugiense. Abfassung seit 1495, als Manuskript abgeschlossen 1503. Zitiervorlage: Druckausgabe Basel, Jacob Parcus, 1559. Darin über et

Hildegard: S. 170, 171, 172, 173, 174, 175, 191, 193, 201, 204.4

176, 177, 178, 180, 181, 186, 189, 190,

5. ) Cbronicon Sponheimense. Abfassung seit ca. 1495, als Manuskript abgeschlossen 1509. Zitiervorlage: Trithemius, Opera historica. Ed. Marquart Freher. Frankfurt a. M. 1601, Bd. 2, S. 236-435.5 Darin über Hildegard: S. 247, 250,

257, 410.

6. ) Annales Hirsaugienses (Überarbeitung des Cbronicon Hirsaugiense). Abfassung seit 1509, als Manuskript abgeschlossen 1514. Zitiervorlage: Annales Hirsaugienses. 2 Bde. Sankt Gallen, Johann Georg Schlegel 1690. Darin über Hildegard: Bd. 1, S. 415f., 420-423, 443, 445, 471. Bd. 2, S. 142f.

1

Die la

Druckausgabe erschien innerhalb des Sammelwerkes Benedicti régucommentariis [Kommentare des Johannes von Turrecremata und des Smaragdus], Köln 1575, S. 427-615. Der Erstdruck von De scriptoribus ecclesiasticis kam 1494 bei Johann Amerbach in Basel heraus (H ""15613). Es folgte eine Ausgabe Paris, Berthold Rembolt, 1497 (H 15614, HC 5879). Die dritte Ausgabe erschien 1512 wiederum bei Rembolt in Paris; sie enthielt ein 20seitiges Additamentum. Weitere Ausgaben kamen in den Jahren 1531, 1540, 1546 (mit Ergänzungen durch Balthasar Werlin) sowie 1594 in Köln bei Quentel (Erben) heraus. Das Werk erscheint innerhalb der von Marquart Freher 1601 in Frankfurt herausgegebenen Opera historica des Trithemius in Band 1, S. 184-400. Der Friedberg-Druck (H "15615) ist der einzige frühe Druck dieses Werkes. Es existiert nur diese eine Druckausgabe aus dem 16. Jahrhundert. Daneben erscheint das Werk in den Opera historica des Trithemius (Frankfurt 1601), Bd. 2, S. 1-235. Von diesem Werk des Trithemius existiert kein früher Druck. Die Ausgabe Frehers innerhalb der Opera historica von 1601 stellt die Editio princeps dar. ...

2

3 4 5

erste cum

Johannes Trithemius 3.2 Fiktionale Elemente der

465

Hildegard-Äußerungen des Trithemius

Einen geradezu überdeutlichen Ausdruck fand die Hildegard-Begeisterung des Trithemius in einigen mitunter stark fiktional wirkenden Berichten, die den Zweck verfolgten, Hildegards auctoritas zu vermehren bzw. ihre Verbindungen zur Grafschaft und zum Kloster Sponheim zu untermauern.1 Wir knüpfen bei den folgenden Ausführungen an eine Studie Marianna Schräders aus dem Jahre 1952 an, die sich mit der Herkunftsgeschichte Hildegards und deren Darstellung im Werk des Johannes Trithemius befaßt.2 Der erste Bericht erscheint sowohl in der Hirsauer als auch in der Sponheimer Chronik. Das Chronicon Hirsaugiense entstand zwischen 1495/1503, das Chronicon Sponheimense zwischen 1495/1509. Die Hirsauer Chronik wurde erstmals 1559 bei Jacob Parcus in Basel gedruckt, die Sponheimer Chronik erschien 1601 innerhalb der von Marquart Freher herausgegebenen Opera historica des Trithemius (Bd. II, S. 236-435). Die Annales Hirsaugienses wiederum stellen eine von Trithemius zwischen 1509/1514 redigierte Überarbeitung des Chronicon Hirsaugiense dar, die erst 1690 zum Druck gelangte.3 Gegenstand des angesprochenen Berichts ist ein vorgeblicher Besuch des hl. Bernhard von Clairvaux (ca. 1090-1153) bei Hildegard auf dem Rupertsberg. Dieser Besuch, den Bernhard im Zuge einer Reise von Frankfurt nach Köln unternommen haben soll, wird von der Hirsauer Chronik in das Jahr 1149, von der Sponheimer Chronik in das Jahr 1150 gelegt.4 Erst die Annales Hirsaugienses geben das Jahr 1147 als Zeitpunkt für die Begegnung an. Mit dramatischer Bewegtheit schildern die Hirsauer Chronik sowie in gekürzter Form die Sponheimer Chronik und die Hirsauer Annalen, welch großartigen Empfang Hildegard und ihr Konvent dem hl. Bernhard bereitet hätten. Unmittelbar nach dem Begrüßungszeremoniell habe man Bernhard die Visionsschriften Hildegards (volumina) vorgelegt. Um welche Schriften es sich dabei gehandelt haben sollte, geht aus dem Bericht nicht hervor. Von den Visionsschriften im engeren Sinne war ja zu diesem Zeitpunkt nicht einmal der Scivias fertiggestellt. Auf der Grundlage dieser Schriften habe sich ein Dialog zwischen Bernhard und dem Rupertsberger Klosterpropst Heribertus entwickelt. Ergebnis des Gesprächs sei die Anerkennung von Hildegards Sehergabe durch Bernhard gewesen: „Haec scripta non sunt humanitus adinventa", so soll Bernhard geurteilt haben, „nec potest ea mortalis homo capere, nisi ad Dei similitudinem intus & in anima -

-

1

Zu den Fälschungen des Trithemius insgesamt vgl. die im Sinne einer Ehrenrettung vorgetragene Dissertation von Mentz 1882. Jan 1951. Geldner 1956/58. StauZur Geschichte der Grafschaft Sponheim vgl. Lehmann 1869 (mit bach 1986. unkritischer Übernahme der Darstellung des Trithemius aus dem Chronicon Sponheimense). Weydmann 1899. Mötsch 1987/1991. Mötsch 1992. Vgl. Schräder 1952, S. 174-177. Trithemius Annales. So Schräder 1952, S. 174. -

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-

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2 3 4

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Kapitel 3

466

fuerit reformatais per amorem."1 Auffallend an diesen Worten ist, daß sie stark an das Votum der mit einem Inquisitionsmandat beauftragten Universität Paris erinnern, wonach Hildegards Visionstrilogie keine menschlichen, sondern nur göttliche Worte enthalte.2 Einer Bitte des Heiligen entsprechend, habe Hildegard Bernhard daraufhin eine Reliquie des Klostergründers Rupert geschenkt. Bei der feierlichen Begegnung seien viele hohe Gäste zugegen gewesen, namentlich Graf Meginhard von Sponheim, Abt Kuno von Kloster Disibodenberg sowie Abt Bernhelm von Kloster Sponheim. Gegen Ende der feierlichen Begegnung habe sich Bernhard in liebenswürdiger Weise verabschiedet. Dann habe er seine von vielen Wundern begleitete Reise nach Boppard, Koblenz, Trier und Köln fortgesetzt. Eigentlicher Sinn und Zweck dieser Reise sei es gewesen, in den Städten entlang des Rheines das Kreuz zu predigen, d. h. zum Kreuzzug aufzurufen. Prüft man die geschichtlichen Hintergründe dieser Erzählung, so erweist sich recht schnell deren völlige Unhaltbarkeit. Es steht fest, daß Bernhard nicht 1149 bzw. 1150, sondern bereits 1147 zum letzten Mal am Rhein weilte. Am 6. Januar dieses Jahres hielt er sich, von Speyer nach Worms ziehend, in Kreuznach auf. Von dort aus reiste er den Rhein hinunter nach Köln weiter. Den Ausführungen der ältesten Hildegard-Vita zufolge war Hildegard zu diesem Zeitpunkt aber noch gar nicht auf den Rupertsberg umgezogen.3 Diese älteste Vita war von Hildegards früh verstorbenem Propst, dem Mönch Gottfried, zwischen 1170 und 1175 abgefaßt und bei seinem Tode im Jahre 1176 als Fragment hinterlassen worden. Der Echternacher Mönch Theoderich, der das Werk Gottfrieds fortsetzte, machte sie zum integralen Bestandteil der von ihm selbst stammenden zweiten Redaktionsstufe der Vita. Theoderich stellte seinem aus drei Büchern bestehenden Werk den Gottfried-Teil als Buch 1 voran. Bezeichnenderweise erschien eine vom Bischof von Verdun angeführte Abordnung, die Papst Eugen III. Ende 1147 oder Anfang 1148 von Trier aus losgeschickt hatte, um Hildegards Sehergabe zu prüfen, noch auf dem Disibodenberg, jenem Kloster, in dem Hildegard nach dem Zeugnis der Gottfried-Vita seit vielen Jahren lebte zunächst als Inklusin und dann als Äbtissin.4 Eugen III. befand sich vom 30. November 1147 bis zum 13. Februar 1148 in Trier.5 Grund -

1 2

Trithemius Annales, I, S. 415. Hier der Text der Pariser Theologen: „Quod liber Scivias, liber Vite meritorum, liber Divinorum operum, quos beata Hildegardis sine terreno magistro, sed Spiritu sancto dictante conscripsit, ad mandatum episcopi Parisiensis per omnes magistros Parisienses tunc in theologia legentes sunt diligenter examinati, magistrorum omnium sententia fuit, non in eis esse verba humana, sed divina." Zit. nach Vita Hildegardis (dt.) ...

1998, S. 278.

3

4

5

Vgl. hierzu Haverkamp 2000b. Vita Hildegardis 1993,1 4, S. 9: „At papa uenerabilem Virduni presulem et cum eo Adelbertum primicerium aliasque personas idoneas dirigit ad cenobium, sub quo eadem uirgo tot annis degebat inclusa ..." Vgl. Hauck 1913, S. 977. ...

Johannes

Trithemius

467

für seinen Aufenthalt war der Besuch einer Provinzialsynode in Reims. Im Rahmen dieses Aufenthaltes die älteren Historiker sprechen von einer eigenen Trierer Synode, die der Reimser vorgeschaltet worden sei ließ er Hildegards prophetische Erstlingsschrift untersuchen. Es wird berichtet, Eugen III. selbst habe in Trier Teile des Scivias vorgelesen, und die Teilnehmer der Synode hätten den Text begeistert aufgenommen. Wenden wir diese Daten nunmehr auf Bernhards angeblichen Besuch bei Hildegard an. Wibert von Gembloux, Hildegards Sekretär während ihrer beiden letzten Lebensjahre, gibt in einem Brief an seinen Mitbruder Bovo indirekt das Jahr 1150 als Datum für einen Umzug Hildegards auf den Rupertsberg an.1 Die Kirch- bzw. Kapellenweihe wurde einer Urkunde des Mainzer Erzbischofs Heinrich gemäß sogar erst am 1. Mai 1152 vollzogen.2 Wenn nun Bernhard nach 1149/50 nicht mehr an den Rhein kam und Hildegard 1147 noch im Kloster Disibodenberg lebte, dann kann die von Trithemius geschilderte Begegnung zwischen beiden so nicht stattgefunden haben. Es bleibt im Grunde genommen nur der Schluß, daß es sich hierbei um eine historisch nicht haltbare Aussage, vermutlich um eine literarische Fiktion, handelt, die einer ganz bestimmten Wirkungsabsicht diente. Worin diese Absicht bestand, ist nicht schwer zu erraten: Es ging Trithemius um eine Aufwertung Hildegards durch die öffentliche Anerkennung ihrer Person seitens der wichtigsten kirchlichen Autorität des 12. Jahrhunderts, eben Bernhards von Clairvaux. Den gleichen Zweck verfolgte die von Trithemius vermittelte Information, Bernhard sei 1147 oder 1148 anläßlich des supponierten Provinzialkonzils in Trier gewesen und habe auch von dort aus Hildegards Sehergabe bestätigt. Diese Information findet sich bereits in dem zwischen 1491/95 abgefaßten und 1495 gedruckten Catalogus illustrium -

-

virorum Germaniae:

Eugenius multis

quoque tertius in concilio

apud

Treuerim habito sancto Bernardo & et clericis praesentibus, libros huius omnibus lectos approbauit ...3

Cardinalibus, Episcopis, Abbatibus,

virginis publice

coram

Auch die Vita Hildegards überliefert diese Episode, die sich gleichwohl durch keinerlei Urkunden oder Handschriften belegen läßt.4 Zumindest die Nach-

1

2 3 4

war im September 1177 als Klosterspiritual und Sekretär Hildegards auf den Rupertsberg gekommen. In seinem Brief an Bovo, den Derolez in die zweite Hälfte des Jahres 1177 datiert, schreibt er, das Kloster habe sich innerhalb eines kurzen Zeitraumes, „hoc est annorum XXVII", zu großer Blüte entwickelt. Hieraus ergibt sich das Jahr 1150 als Datum für den Umzug von Hildegards Konvent auf den Rupertsberg. Guibertus Epistolae, II, S. 368 (Ep. XXXVIII). Vgl. Stumpf 1863, S. 53f. Trithemius Catalogus, S. 138. „Auch der heilige Bernhard, der Abt von Clairvaux, war dort [in Trier; Ergänzung]

Wibert

anwesend. Durch sein Eintreten und mit Unterstützung aller anderen wurde der höchste Priester gedrängt, nicht zuzulassen, daß eine so hervorragende Leuchte durch Verschweigen zugedeckt werde, sondern durch seine Autorität diese große

Kapitel 3

468

richten über die am 13. Januar 1148 erfolgte Kirchweihe von Trier-St. Eucharius hätten doch Bernhard unter den Anwesenden erwähnen müssen!1 Hierzu paßt die stilkritische Beobachtung, daß Trithemius die Begegnung zwischen Bernhard und Hildegard in Form eines Dialoges mit wörtlich zitierter Rede und Gegenrede dargestellt hat. Die Verwendung einer solchen literarischen Darstellungsform, die in der antiken, mittelalterlichen und humanistischen Tradition sehr geläufig war, läßt deutlich erkennen, wie manifest die namhaft gemachten Stilisierungstendenzen in der Tat waren.2 Sie kennzeichnen die Kolportage des Trithemius als eine panegyrische, nicht aber historisch-biographische Äußerung.3 Die dialogische Fiktion wird von Trithemius im heuristischen Sinne, d. h. im Sinne eines Mittels zur Wahrheitsfindung bzw. Instrumentes zur Verdeutlichung dieser Wahrheit, eingesetzt. Eine solche Verdeutlichung war in den Augen des Trithemius augenscheinlich notwendig, obwohl doch ein authentisches Zeugnis für die Unterstützung Hildegards durch Bernhard vorlag. Hildegard selbst hatte sich ja an Bernhard gewandt mit der Bitte, ihre Sehergabe zu prüfen. Und Bernhard hatte diese Gabe wenn auch in sichtlich zurückhaltendem Ton positiv beurteilt.4 Trithemius empfand diese Zurückhaltung wohl als -

-

Herr zu ihrer Zeit offenbaren wolle. Dem gewährte der Vater Väter so gütig wie klug seine Zustimmung ..." Zit. nach Vita der ehrwürdige Hildegardis (dt.) 1998, S. 95. Vgl. Becker 1996, S. 468: „Eine persönliche Beziehung von Bernhard von Clairvaux zur St. Eucharius-Abtei ist nicht bekannt, und für die bisweilen behauptete Anwe-

Gnade

1

zu

stärken, die der

senheit bei der Kirchweihe gibt es keinen Beleg." Wir können auf die historische Tradition der Gattung Dialog, die über die sokratisch-platonische Philosophie, die Patristik und das lateinische Mittelalter verläuft, hier nicht im einzelnen eingehen. Wichtig erscheint der Hinweis E. W. B. HessLüttichs, wonach der Dialog immer als „Kommunikation zwischen realen oder fiktiven [hervorgeh. vom Verf.] Partizipienten" gedeutet werden kann. Die Dialogisierung realer oder fiktiver Szenen und Themen ist als bewußtes Stilmittel weit verbreitet. Verwiesen sei auf die gerade im Frühhumanismus stark aufkommende Dialogliteratur (Johannes Tepl, Ackermann aus Böhmen [um 1400]; Ulrich von Hutten, Gesprächsbüchlein [dt. 1521]; Hans Sachs, Dialog zwischen einem Chorherren und einem Schumacher [1524]). Hess-Lüttich 1994, Sp. 607. Vgl. auch Artikel „Dialog", in Lexikon des Mittelalters 3, München (u. a.) 1986, Sp. 946-965. Bereits früh hatte J. Stilting Zweifel an einem Besuch Bernhards bei Hildegard auf dem Rupertsberg gehegt. Im Anschluß an Mabillon und in scharfer Kritik an Trithemius bezeichnet er diese Nachricht als „valde suspectus". Vgl. AA.SS, Septembris V, ed. J. Stilting et alii, Antwerpen 1755, S. 629-701: De S. Hildegarde virgine, magistra sororum ord. S. Benedicti in monte S. Ruperti juxta Bingium in Dioecesi Moguntina [Nachdr. in PL 197, 91-130; hier Sp. 22, Kap. 23]. Vgl. Hildegardis ad Bernardum abbatem Clarevallensem (Ep. I) und Bernardus Abbas Clarevallensis ad Hildegardem (Ep. IR), in Epistolarium I, S. 3-6 und 6-7. Allerdings liegt Bernhards Antwortbrief an Hildgard in zwei Fassungen vor. Die zweite, um 1180 auf dem Rupertsberg redigierte Fassung enthält eine längere Interpolation, die das ursprünglich zurückhaltende Votum Bernhards zu einem eindeutig ...

2

3

4

Johannes

Trithemius

469

etwas zu eindeutig und wollte ein klareres Votum liefern. Wie immer man dieses Vorgehen auch beurteilen mag, so verdient doch ein Aspekt hervorgehoben zu werden: Trithemius besaß ein deutliches Bewußtsein dafür, daß nicht Papst

Eugen III., sondern Bernhard von Clairvaux, „die Chimäre seiner Generation", er selbst sich nannte, die zentrale theologische Autorität der Hildegard-Zeit war. Eine Autorität, deren persönlicher Approbanz man sich in größtmöglicher Deutlichkeit zu versichern hatte. Im übrigen beschränkte sich sein Versuch, Hildegards Rang durch die Nennung hoher Persönlichkeiten aufzuwerten, nicht auf Bernhard von Clairvaux. Die Schilderung der Zustimmung Papst Eugens III. sowie die geradezu exhaustive, fast penibel anmutende Aufzählung

wie

Hildegards hochgestellten weltlichen und kirchlichen Briefpartnern verfolgte den gleichen Zweck. In eine ganz andere Richtung weist die Erwähnung des Sponheimer Grafen Meginhard und des ersten Sponheimer Abtes Bernhelm. Hier geht es nun sehr deutlich um Sponheimer Eigeninteressen. In der Darstellung des Trithemius ist Meginhard ein Bruder der seligen Jutta, Hildegards Lehrmeisterin auf dem Disibodenberg, und gleichzeitig Mitbegründer von Kloster Sponheim. Trithemius schildert ihn als großen Wohltäter von Kloster Disibodenberg, aber auch von Kloster Rupertsberg, für das er Grund und Boden zur Verfügung gestellt habe. Demgegenüber nennen ihn die Urkunden und ältesten Handschriften von Hildegards Klostergründung nicht ein einziges Mal. Auch Meginhards Tochter Hiltrud, die den Ausführungen des Trithemius zufolge zur ersten Generation des Rupertsberger Konvents gehört haben soll, wird von ihm lobend erwähnt: Sie sei eine vorbildliche Jungfrau und nahe Verwandte Hildegards gewesen,

von

„quae multis in Christo virtutibus clara fuit".1 Bernhelm

schließlich, der Grünbei Trithemius den Rang eines eifrigen Sponheim, genießt dungsabt Förderers der Wissenschaften, dem das Kloster eine frühe literarische Blüte zu verdanken habe. Diese fast kategorisch positiv anmutende, mit vielen iterativen Momenten versehene Schilderung von Kloster Sponheim und seinen Beziehungen zu Kloster Rupertsberg erhärtet den Verdacht, daß es Trithemius mit seinen diesbezüglichen Äußerungen nicht ausschließlich um Hildegard zu tun war. Umgekehrt sollten offensichtlich auch Grafschaft und Kloster Sponheim vor den Augen der Öffentlichkeit herausgehoben werden und vom Rufe der berühmten Visionärin profitieren. Trithemius spielt in diesem Zusammenhang die Rolle von

Kloster

positiven umgestaltet. Während die kürzere, echte Fassung nur in einem einzigen Textzeugen vorliegt (Stuttgart, Württ. Landesbibl., Cod. theol. et phil. 4° 253), ist die längere Redaktion in 11 Textzeugen überliefert. Vgl. die Textausgaben: Bernardus Opera, S. 323f. [= Ep. CCCLXVI]. Bernhard Werke, S. 672f. und 1187f. [= Ep. CCCLXV1J. Dort S. 1188: „Die mündliche Intervention Bernhards geht demnach auf das Konto phantasievoller Biographen Hildegards, genauso wie die Interpolation in Ep. 366." -

1

Trithemius

Annales, I, S. 422.

Kapitel 3

470

der Grafschaft Sponheim, aber auch seiner eigenen Ruhm und Ansehen ihm naturgemäß am Herzen liegen mußten. Abtei, deren Dieser Ruhm und dieses Ansehen wiederum strahlen zurück auf Hildegard, die von Trithemius bei jeder nur möglichen Gelegenheit mit Sponheim in Verbindung gebracht wird. Trithemius tut dies im Bewußtsein der Macht und des Einflusses, den die Grafen von Sponheim über Jahrhunderte hinweg im mittelrheinischen Raum innehatten. Noch Ernst Weydmann urteilt hierüber: „Die Sponheimer waren von jeher, sobald sie in den ersten Gliedern auftauchten, ein bedeutendes Geschlecht, gross an Stand und Reichtum, den Reichsfürsten ebenbürtig."1 In dem von Trithemius praktizierten Verfahren einer symbiotischen Verquickung von Personen- und Landesgeschichtsschreibung läßt sich der Versuch erblicken, Sponheim und Hildegard in eine Art von panegyrisch-lokalpatriotischer Wirkungseinheit zu setzen, von der beide Partner profitieren sollten. Diese Tendenz einer bilateralen Bedeutungssteigerung Hildegards bzw. Sponheims beschränkt sich nun keineswegs auf die historischen Werke des Trithemius. Sie findet sich in allen Schriften des Sponheimer Abtes, in denen auf die rheinische Seherin Bezug genommen wird. Auch innerhalb seiner literarhistorischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Äußerungen betont Trithemius die weit- und kirchengeschichtliche Größe Hildegards, thematisiert er ihre Beziehung zu Sponheim. Wie langfristig die Verbindung Hildegards mit Sponheim wirkungsgeschichtlich war, beweist eine im 18. Jahrhundert von dem Eibinger Klosterpropst Edmund Watzelhahn (1731-1768) stammende Bemerkung. Sie erscheint auf einer unmittelbar nach Hildegards Tod entstandenen Abschrift des ältesten Rupertsberger Fundationsbuches. Dort heißt es: „Fundatio monasterii S. Ruperti Ord. S. Benedicti prope Bingiam anno Christi 1147 per Hildegarden! Sponheimensem [!] primam Magistram et Abbatissam."2 Berücksichtigt man diesen generellen Befund, so verliert die in jüngster Zeit erneut heftig aufgebrochene Debatte um Hildegards Herkunft ein wenig an Brisanz. Marianna Schräder hatte an verschiedener Stelle die These geäußert, Trithemius habe Hildegard durch eine von ihm selbst verfaßte, fingierte Herkunftslegende zu Unrecht mit dem Ort Böckelheim, ihren Vater Hildebert mit den Sponheimern in Verbindung gebracht.3 Daran ist auf jeden Fall soviel richtig, daß die zeitgenössischen Hildegard-Viten des 12. Jahrhunderts den Geburtsort Hildegards verschweigen, während Trithemius ihn und zwar als erster Historiker überhaupt benennt. Trithemius zufolge ist es der zur Grafschaft Sponheim gehörende Ort Böckelheim. Diese sowohl in der Hirsauer als auch in der Sponheimer Chronik erscheinende Information wurde von Marianna Schräder energisch in Zweifel gezogen. Schräder begründete ihre Bedenken mit dem Hinweis, Territorium und Burg Böckelheim hätten im 12. Jahrhundert zum Lehensgut eines

Hofhistoriographen

-

-

-

1 2

3

Weydmann 1899, S. 2.

Abschrift des ältesten Rupertsberger Fundationsbuches. Abt. 701 A VII 3, Nr. 5, f. lv. Vgl. hierzu Schräder 1952, S. 171-184.

Landeshauptarchiv Koblenz,

Johannes

Trithemius

471

der Bischöfe von Speyer gehört, diese aber seien mit den Sponheimern verfeindet gewesen. Außerdem gelang es Schräder, für Hildegards Vater den Namenszusatz „von Bermersheim" zu ermitteln, in ihren Augen ein Hinweis auf Hildegards möglichen Geburtsort. Demgegenüber hat Franz Staab die auf Trithemius zurückgehende Angabe von Böckelheim als Hildegards Geburtsort und damit die Zuverlässigkeit seiner Hildegard-Äußerungen insgesamt kürzlich wieder in ein positiveres Licht gestellt. Gerade hinsichtlich der mittelalterlichen Geschichte Sponheims habe Trithemius, so Staab, gute Kenntnisse besessen. Außerdem bringe die dritte Hildegard-Vita, eine durch Wibert von Gembloux überarbeitete Fassung der Gottfried/Theoderich-Vita, den Zusatz, Hildegard sei in einer Stadt oder einem Städtchen (municipio) im Gebiete von Mainz geboren worden.1 Diese Bezeichnung aber treffe auf Böckelheim mit seiner großen Festung, in der über Weihnachten 1105 Heinrich IV. gefangen gewesen sei, sehr viel besser zu als auf Bermersheim. Die Ausführungen Staabs wiederum wurden jüngst von Josef Heinzelmann zurückgewiesen.2 Hauptargument Heinzelmanns ist der Hinweis auf andere, durchgängig festzustellende historische Unrichtigkeiten in der Berichterstattung des Trithemius. Durch diese gerieten auch seine Aussagen über Hildegard in den Bereich der Dichtung. Statt Bermersheim und Böckelheim bringt Heinzelmann den in der Nähe von Kirn gelegenen Ort Niederhosenbach als Geburtsort Hildegards in Anschlag. Zur Abstützung seiner These verweist Heinzelmann u.a. auf eine aus dem Jahr 1112 stammende Disibodenberger Urkunde, die einen Hildebrecht de Hosebach erwähnt. Im gleichen Jahr (1112) sei Hildegard als Inklusin in das Kloster Disibodenberg aufgenommen worden, und NiederVOberhosenbach „liegen bei Kirn, also im Einzugsbereich des Disibodenbergs."3 Ob sich aus dieser zeit- und namensgeschichtlichen Parallelität allerdings eine zwingende Identität zwischen Hildegards Geburtsort und dem Ort Niederhosenbach ergibt, möge dahingestellt bleiben. Wir können das Pro und Kontra dieser Debatte, die augenscheinlich noch keineswegs zum Abschluß gelangt ist, hier nicht weiter verfolgen.4 Statt dessen sei auf eine andere ungesicherte Information des Trithemius in Sachen Hildegard hingewiesen : auf seine im Chronicon Sponheimense auftauchende Behauptung, Hildegard habe im Jahre 1150 eine Predigtreise nach Schwaben unternommen.5 -

-

-

1

S. 369 (Ep. XXXVIII, 106): Hildegardis in territorio sita Germanie in citerioris est, municipio [Textpartibus Maguntine ciuitatis, que verlust] orta est." Vgl. auch Klaes 1993, S. 153* und 93. Heinzelmann 1997, insbesondere S. 16-19. Heinzelmann 1997, S. 23. Weitere Hinweise Heinzelmanns zu dieser Fragestellung s. Heinzelmann 1997, S. 28

Guibertus

Epistolae, II,

„...

...

2 3 4 5

und 47f. Trithemius Chronicon, S. 251.

Kapitel 3

472

vorläufigen Bewertung der mit stark fiktionalen Hildegard-Passagen des Trithemius. Die ältere Fordem hatte Sponheimer Abt zur Erklärung seiner Fälschungen entweder schung charakterliche Mängel, psychologische Eigenheiten oder auch Streben nach Fürstengunst und materiellem Gewinn angelastet.1 Wohlmeinendere Forscher nannten die Verklärung der nationalen Vorzeit und die Erhöhung des frühen benediktmischen Mönchstums zum Reformmodell für die eigene Zeit als Motive für die Fiktionen.2 Demgegenüber stellte Paul Joachimsen fest, daß Trithemius auch von der Fälscherpsychologie her gesehen seinen historischen Ort an der Epochengrenze einnehme.3 Klaus Schreiner schließlich vermochte unter Zugrundelegung der von Horst Fuhrmann herausgearbeiteten Grundkategorien des mittelalterlichen Fälscherwesens darzulegen, daß diese Fälschungen vielfach als Kommen wir zu einer Momenten durchmischten

Versuch zustande kamen, einer höheren Wahrheit oder einem besseren Recht zum Siege zu verhelfen. Von dort aus finde auch das fehlende Unrechtsbewußtsein des Trithemius eine plausible Erklärung.4 Wir möchten an diese Darlegungen Schreiners anknüpfen und die These formulieren, daß bei der Debatte um die tatsächlichen oder bloß behaupteten Hildegard-Fälschungen des Sponheimer Abtes zwei Aspekte bislang ein wenig zu kurz gekommen sind: die Frage nach den konkreten Funktionen sowie die Frage nach den historischen Wurzeln dieser Fälschungen. Was die Funktionen anbetrifft, so scheinen uns diese einen doppelten Zweck zu verfolgen. Zum einen ging es Trithemius durch eine Verbindung Hildegards mit Bernhard von Clairvaux um eine hagiographisch akzentuierte Aufwertung von Hildegards historischer Größe. Durch den unmittelbaren Kontakt und die unzweideutige Approbierung seitens eines bedeutenden Heiligen sollte Hildegards eigene Heiligkeit bestätigt werden. Pointiert formuliert: Bernhard wird zu einer Art von Berührungsreliquie stilisiert, durch deren Kontakt auch Hildegard sakrosankt wird. Zum anderen verfolgte Trithemius eine lokalpatriotisch inspirierte, gewissermaßen sippengebundene Aufwertung der Grafschaft und des Klosters Sponheim. Hildegard wird zu einer prototypischen Sponheimerin, Sponheim zum berufenen Sachwalter Hildegards erklärt. So hat Trithemius, wenn er über Hildegard schrieb, immer in doppelter Weise „pro domo" geschrieben. Was die Einbettung seiner fiktiven HildegardAussagen in den gattungsgeschichtlichen Kontext der spätmittelalterlichen Heiligenbiographie anbetrifft, so mag der Hinweis genügen, daß Trithemius sich recht deutlich an das hagiographische Schema der klassischen Viten-Literatur anlehnte. Dieter von der Nahmer hat zur typologischen Charakterisierung die1

2

3 4

Schneegans 1882, S. 178, spricht von einer „krankhaften Geistesrichtung" des Trithemius. Hessel 1932, S. 3, diagnostiziert „innere Gebrochenheit". Und Lehmann 1961, S. 4, folgt dem „Zwiespältigen und Vielfältigen im Wesen des Abtes."

Vgl. etwa Jan 1951, S.41f. Joachimsen 1910, S. 55f. Ähnlich Schreiner 1985.

Andreas 1959, S. 507. Schreiner 1966. Fuhrmann 1963.

1966/67, S. 130f.

-

-

Fuhrmann -

Johannes Trithemius

473

Personengeschichtsschreibung dargelegt, daß Historiographie hierin niemals ganz oder auch nur vorrangig unter faktengeschichtlichen Gesichtspunkten entfaltet wird. Die eigentlichen Kausalitäten entziehen sich einem innerweltlichen Plausibilitätsprinzip, sie stehen sub specie aeternitatis bzw. sub specie sanctitatis.1 Von daher erklärt es sich, daß das Phänomen der Fiktion von den mittelalterlichen Hagiographen als legitimes literarisches Mittel betrachtet wurde, Zusammenhänge zu verdeutlichen, die durch eine rein historische Darstellungsweise blaß und wirkungslos bleiben würden. Die Grenze zwischen Literatur und Geschichte verlief hier völlig anders, als man dies vom heutigen Standpunkt aus wahrnimmt. Hinter all dem stand die Überzeugung, daß Geschichte nicht aus sich selbst heraus existiere, sondern, wie Augustinus es in De doctrina christiana (III, 32) darlegt, einen symbolisch-transzendenten Bedeutungshorizont besitzt. Dieses figurative Geschichtsbild, das für die gesamte Heiligenliteratur des Mittelalters bestimmend ist, prägt auch die zumindest in dieser Hinsicht stark traditionell wirkenden Hildegard-Fiktionen des Trithemius. Sie stehen, dies haben unsere Darlegungen angedeutet, unter einem ser

Art

von

-

-

-

-

Primat der Gattung, die ihrerseits stark beeinflußt ist vom mittelalterlichen Sagen- oder Legendenbegriff.2 Neben den historisch nicht beweisbaren Aussagen lassen sich aber auch ernsterzunehmende Bemühungen des Trithemius um eine Erschließung von Leben und Werk Hildegards anführen. Betrachtet man die unterschiedlichen Etappen und Inhalte dieser Bemühungen, so fällt auf, daß sie von Anfang an zwei parallele Anliegen verfolgten: die Verlebendigung des Hildegard-Kultes und die Erhöhung von Hildegards Geltung als Schriftstellerin. Dabei sei betont, daß viele Humanisten, insbesondere solche aus dem kirchlich-monastischen Bereich, bemüht waren, die Heiligsprechung ihnen besonders vorbildlich erscheinender Personen zu fördern. Dieses Phänomen trifft keineswegs auf Tri-

themius allein zu.3

1 2

Zum Hintergrund vgl. Von der Nahmer 1994, insbesondere S. 106. 129. 139. Gerade im Bereich der Hagiographie kam die Legende als gleichzeitig real und fiktional gebundene Gattung zur Geltung. Hierauf deutet hin, daß die Legenda aurea des Jacobus de Voragine OP (um 1263/67), eine der wichtigsten Sammlungen von Heiligenviten überhaupt, ursprünglich den Titel Historia lomhardica trug. Dieter von der Nahmer weist darauf hin, daß die mittelalterliche Heiligenlegende ihren Sitz im Leben häufig in der klösterlichen Lesung hatte. Sie sollte die memoria an einen bestimmten Heiligen stiften oder wach halten. Von der Nahmer 1991. Walter Berschin schließlich macht darauf aufmerksam, daß die mittelalterlichen Heiligenviten in der Regel nicht vom besten Kenner (Zeitgenossen) eines Heiligen verfaßt wurden, sondern vom besten Stilisten und Lateinkundigen. Vgl. Berschin 1997, S. 121. Vgl. Weiss 1985. -

3

Kapitel 3

474

Hildegard-Kultes durch Trithemius Es ist viel darüber spekuliert worden, ob es bereits an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert zu einer Eröffnung von Hildegards Grab in der Rupertsberger Klosterkirche gekommen sei. Den historischen Anknüpfungspunkt für eine solche Annahme bildet die mit einem ganz merkwürdigen Zusatz versehene Erwähnung einer Hildegard-Reliquie aus dem Jahre 1403. Dort heißt es: „Es wird gezeigt der Schleier der heiligen Prophetin, mit dem sie begraben war".' Die Worte „mit dem sie begraben war" besitzen naturgemäß nur dann einen Sinn, wenn es tatsächlich bereits vor 1403 eine Eröffnung des Grabes gegeben hat. Wie dem auch sei, die früheste zuverlässig bezeugte Öffnung der Gruft fand erst im Jahre 1489 statt. In diesem Jahr sandte der Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg (1484-1504) eine kirchliche Kommission auf den Rupertsberg, mit dem Auftrag, das Grab Hildegards zu untersuchen. Man hoffte, neben den Gebeinen dort auch die Heiligsprechungsurkunde zu finden.2 Am 17. November 1489 führten der Mainzer Generalvikar Wolfgang von Bicken und der Mainzer Leutpriester (plebanus) Dr. Johann Bertram aus Nürnberg (Nürnberg ?) den Auftrag aus. Mit anwesend waren die Rupertsberger Äbtissin Adelheid von Reiffenberg (1469-1493) und ihr Konvent, der Mainzer Kanoniker Peter Nothaft sowie weitere durch ihren Glauben würdige Männer. Der Vorgang findet sich knapp erwähnt in einer handschriftlichen Notiz auf dem Vorsatzblatt des Riesencodex. Dort heißt es, man habe die „ladulam sive loculum reliquiarum hildegardis virginis" eröffnet. Zwar seien die Reliquien, wie erwartet, vorhanden gewesen, „sed sine testimonio literali de eius canonisatione" (ebd.). Zum 3.3 Die

Propagierung

des

Schluß erscheint der aufschlußreiche Vermerk, man habe diesen Vorgang schriftlich dokumentiert, damit in künftigen Zeiten der Sarg Hildegards nicht von Unwissenden wieder und wieder geöffnet werde. Statt dessen solle man zu Gott beten, er möge, wenn es sein Wille sei, zur Verherrlichung seines Namens sowie zu Hilf und Heil des christlichen Volkes die Glorie seiner ihm geweihten Jungfrau Hildegard offenbaren.3 Ob Trithemius an dieser ersten Eröffnung von Hildegards Grab irgendeinen Anteil genommen, ob er gar eine aktive Rolle dabei gespielt hat, muß offen bleiben. Es fehlen entsprechende Nachrichten. Bedingt durch Kriegswirren und vordringlichere Maßnahmen im Bereich der Ordensreform, möglicherweise aber auch durch das enttäuschende Resultat der Untersuchung, wurde die Angelegenheit nicht weiterverfolgt. Denkbar wäre eine wie immer geartete Beteiligung des Trithemius aber durchaus. Wir wissen, daß der Sponheimer Abt sich spätestens 1487 eifrig mit den Schriften Hildegards befaßte. 1

Zit. nach Simon 1979, S. 372. Leider

gibt die Verfasserin nicht den Titel ihrer Quelle

an.

2

3

Über die Bemühungen des

13. Jahrh.,

Zit. nach Van der Linde 1877, S. 33. codex vgl. Zedler 1931, S. 4f.

Hildegard heilig zu sprechen vgl. May 1998. Vgl. auch Simon 1979, S. 372f. Zum Riesen-

Johannes

Trithemius

475

der im Jahre 1489 geäußerten Bedenken, zu einer Hildegards Grab. Sie wurde wiederum veranlaßt nochmaligen Öffnung durch den Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg. Trithemius, auf dessen Berichterstattung wir mangels älterer Dokumente angewiesen sind, war der einzige mit Namen genannte Zeuge des Geschehens. Anwesend waren darüber hinaus die Rupertsberger Äbtissin Guda Specht von Bubenheim und ihr Konvent. Man begnügte sich diesmal nicht mit einer bloßen Eröffnung des Sarges, sondern erhob die Gebeine Hildegards. Eine solche Erhebung der Gebeine kam im Mittelalter einer informellen Heiligsprechung gleich.1 Sie bedeutete die Kanonisierung per viam cultus oder, da zu diesem Akt die Zustimmung des jeweiligen Ortsbischofs notwendig war, als bischöfliche Heiligsprechung.2 Was den liturgischen Ablauf einer solchen elevatio anbetrifft, so gab es hierfür feste Regeln. Dem Ereignis selbst gingen Tage des Fastens und Betens voraus. Vom Himmel oder vom Heiligen mußte ein Zeichen der Zustimmung eintreffen (Wunder), erst dann wagte man die Grabesöffnung. Der Leichnam eines wirklichen Heiligen verströmte einen wunderbaren Wohlgeruch, gab Lichterscheinungen von sich oder zeigte sich in besonderen Fällen auch unverwest. Dann wurde der Leib erhoben (elevatio), zur Verehrung ausgestellt, in Prozessionen umhergeführt, dem Altar übertragen (translatio) und endlich neu beigesetzt (depositio). Auch wenn die Erhebung des Jahres 1498 nicht diese umfassende Gestalt besaß Hildegard lag ja bereits vor dem Hochaltar -, so muß sie doch als bewußte Anknüpfung an die reguläre Form der elevatio gedeutet werden. Trithemius berichtet in der Sponheimer Chronik wie folgt über den bedeuBereits 1498 kam es,

trotz

von

-

tungsvollen Vorgang:

anno [1498; Ergänzung] tumba S. Hyldegardis virginis in monte sancti Ruperti cum maxima reverentia fuit aperta, in praesentia totius conventus ibidem,

Eodem

& aliorum ad hoc ordinatorum, quorum Sanctae Hildegardis elevavimus.3

unus

fuit Iohannes Trithemius.

In den Hirsauer Annalen stellte Trithemius

als frühester

...

Ossa

Zeuge überhaupt

fest, daß Hildegard am Tage des hl. Lambertus [Lambert, Bischof von Maastricht, f 17.9.705/06] verstorben und in der Kirche ihres Klosters, das sie auf dem Rupertsberg erbaut habe, vor dem Hochaltar beigesetzt worden sei.4 Diese Informationen gehen weit über das hinaus, was die frühe Hildegard-Vita der -

1 2

Vgl. hierzu Angenendt 1994. Zum Thema Elevation und Translation ebd. insbesondere S. 172-176. Vgl. hierzu Brosch 1938.

Kemp 1948. Vauchez 1981. Nersinger 1990. Galavotti 1992. Trithemius Chronicon, S. 410. Vgl. Velten 1969, S. 216. in die S. Lamperti, hoc est, XV. Kaiend. Octobris Trithemius Annales, I, S. 471: moritur sanctissima Christi famula beata Hildegardis Praeposita & Magistra Sanctimonialium in monte Divi Ruperti prope opidum Bingen cujus corpus in eadem Ecclesia, quam ipsa dudum à fundamentis construxerat, ante majus altare fuit cum reverentia populi magna sepultum." -

-

3 4

-

-

-

„...

...

-

Kapitel 3

476

Mönche Gottfried und Theoderich aus dem 12. Jahrhundert berichtet hatte. Hier hieß es einfach, Hildegard sei „an ehrbarem Ort"1 begraben worden, die Nasen und wobei während der Bestattung „ein wunderbar süßer Duft Herzen mancher Menschen"2 umfangen habe. Die Nachricht der frühen Vita, Hildegard sei „bei beginnender Abenddämmerung"3 an einem Sonntag gestorben, läßt sich komputistisch allerdings nicht belegen. Bei der Nennung des Wochentages handelt es sich um eine Stilisierung, die in die gleiche Richtung weist wie die Nachricht, beim Ableben Hildegards hätten sich wunderbare Zeichen (helle Bögen, rotschimmerndes Kreuz, Wohlgeruch, Wunder) ereignet. Unter Umständen ist das Fehlen einer genauen Ortsangabe für die Grablegung ein Hinweis darauf, daß Hildegard zunächst in einem normalen Erdgrab auf dem Klosterfriedhof bestattet wurde. In Verbindung mit verschiedenen Wunderberichten, die als Autorisation für eine Erhebung oder Umbettung notwendig waren, wäre es durchaus denkbar, daß ihre Gebeine in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts also in der Zeit des anlaufenden Heiligsprechungsverfahrens vor den Hochaltar der Klosterkirche überführt wurden.4 Ob die Entstehung des sogenannten Brüsseler Antependiums im Jahre 1230 mit diesem Ereignis in Verbindung gebracht werden kann, kann zwar nicht definitv bewiesen werden, es ist aber doch sehr wahrscheinlich. Das prachtvolle, mit Gold- und Silberdraht bestickte rotseidene Altartuch zeigt Hildegard mit einem Nimbus. Sein Format und die auf dem Antependium dargestellten Heiligen (u. a. Rupertus) lassen, so Elsje Janssen, „keine Zweifel zu, daß es für den Hochaltar der Klosterkirche"5 bestimmt war. Wenn nun zutrifft, daß Trithemius mit seinem Bericht über die Erhebung von Hildegards Gebeinen im Jahre 1498 an die erste Elevatio aus dem O.Jahrhundert anknüpfte, dann ist seine exakte Aussage über die Lage des Grabes vor dem Hochaltar nicht in erster Linie eine topographische, sondern eine hagiographische Information: Sie sollte Hildegards Heiligkeit bestätigen. Hierzu paßt, daß Trithemius zum Dank für seine Mithilfe an der Elevatio einen Unterarm mit Handknochen Hildegards erhielt, eine Reliquienschenkung, die ganz eindeutig auf eine bereits stabil gewordene Kulttradition zurückverweist. Was im übrigen die Behauptung von Hildegards Heiligkeit anbetrifft, so läßt Trithemius an die...

-

-

1 2

3

4 5

Zit. nach Vita Hildegardis (dt.) 1998, S. 233. Vita Hildegardis (dt.) 1998, S. 233/235. Vita Hildegardis (dt.) 1998, S. 233. Bezeichnenderweise ist die Angabe, Hildegard sei an einem Sonntag verstorben, in der jüngsten Ubersetzung der Vita durch Monika Klaes (S. 233) verschwunden. In der deutschen Übersetzung von Adelgundis Führkötter findet sie sich noch. Vgl. Vita Hildegardis (dt.) 1968, S. 120: „Über dem Gemach, in dem die heilige Jungfrau bei der ersten Dämmerung der Nacht am Sonntag ihre glückliche Seele Gott zurückgab ..." Auf diese Hypothese weist Adelheid Simon im Anschluß an eine ungedruckte Studie von Karl Reischmann hin. Vgl. Simon 1979, S. 372. Janssen 1998, S. 106.

Johannes

Trithemius

477

Sachverhalt auch durch einen Hinweis auf ihre Wunder und die ihrer Schriften nicht den geringsten Zweifel aufkommen: sem

Wirkung

Multis haec Virgo miraculis damit tarn in vita, quam post mortem & fama titatis & revelationum ejus totum orbem Christianum suo replevit odore.1

sanc-

Offenbar in unmittelbarem Zusammenhang mit der Reliquienerhebung unternahm Trithemius einen weiteren Schritt zur Propagierung eines eigenständigen Hildegard-Kultes. Auf Bitten des Rupertsberger Konvents, nach anderen Informationen auf Bitten des Augsburger Karmeliterprovinzials Johannes Fortis, dichtete er eine Sequenz zu Ehren Hildegards und des hl. Rupert.2 Die Sequenz, auch Prosa genannt, war eine vor allem im ausgehenden Mittelalter sehr beliebte musikalisch-poetische Kunstform, die große Ähnlichkeiten mit dem Hymnus aufwies. Sie erschien innerhalb der Meßliturgie zwischen dem Alleluja und dem Evangelium und wurde im Sinne eines zusätzlichen Propriumsgesanges verwendet. Ihr Zweck war der hochgestimmte Lobgesang auf einen bestimmten Heiligen innerhalb einer Messe oder Votivmesse. Die ca. 4.500 noch im 15. Jahrhundert existierenden Sequenzen wurden durch die liturgischen Reformen des Tridentinums und durch das Missale Pius'V. von 1570 auf fünf Texte reduziert. Dies war der Grund dafür, daß auch die HildegardSequenz des Trithemius längerfristig nicht überleben konnte. Sie verschwand vermutlich gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als im Erzbistum Mainz der römisch-tridentinische Meßritus eingeführt wurde.3 Trithemius selbst benennt das Incipit seiner Dichtung: Item scripsi et[iam] de Laus sit tibi, domine

sancta

Hildegarde virgine unam sequentiam, gloriae Jesu, corona virginum

rex aeterne

Ruperto duce Bingiorum similiter sequentiam unam instantiam Dominae Gudae gen est ...4

quae incipit: De sancto

...

et totum

officium Missae ad

Spechtin, Abbatissae monasterii eius, quod

circa Bin-

Sequenzen die Rupertus-Sequenz war Bestandteil einer regulären Votivgehören zu einer ganzen Sammlung von Offizien und Kollekten, die Trithemius im Laufe seines Lebens gedichtet hat. Er selbst faßte diese Sammlung, die in einem 1514 gedruckten Verzeichnis seiner Schriften erwähnt wird, später unter dem Incipit Officiorum de multis sanctis ad missam lifberj zusammen.5 Aus diesem Incipit geht die Funktion des Textes klar hervor: er sollte die Grundlage schaffen für die Stiftung oder Intensivierung einer liturgischen memoria Hildegards im gottesdienstlichen Geschehen von Kloster Rupertsberg. Beide

-

messe

-

1 2 3 4 5

Trithemius Annales, I, S. 423. Die Information, Johannes Fortis sei der Inspirator der Sequenz gewesen, findet sich bei Bruder 1882, S. 70, Anm. 2. Vgl. Reifenberg 1975, S. 17. Trithemius Nepiachus, Sp. 1844. Auch zit. bei Silbernagl 1868, S. 263. Das Schriftenverzeichnis aus dem Jahre 1514 findet sich abgedruckt bei Lehmann

1961, S. 71-74.

Kapitel 3

478

Richtung weisen ja die Odo lectiones, eine für den monastisch-liturgischen Gebrauch gekürzte und entsprechend aufbereitete Fassung der Hildegard-Vita, die bereits im 13. Jahrhundert von den Mönchen in Gembloux am Fest der hl. Hildegard verlesen wurde.1 Ob die Hildegard-Sequenz des Trithemius außer in Kloster Rupertsberg auch in anderen monastischen bzw. kirchlichen Kreisen Verwendung fand, läßt sich nicht mehr erhellen. Bezogen auf Kloster Rupertsberg stellte sie jedenfalls einen deutlichen Schritt in Richtung auf eine Zementierung der Verehrung Hildegards als Heiliger dar. Was den Text der Sequenz anbetrifft, so galt dieser lange Zeit als verschollen. Der Grund hierfür lag in der irrtümlichen Annahme, daß lediglich eine Prosafassung gedruckt worden sei. Diese ist erschienen innerhalb der von Johannes Busaeus herausgegebenen Paralipomena opusculorum Petri Blesensis et Ioannis In eine ganz ähnliche

Trithemii (Mainz 1605). Dennoch hat sich auch die versifizierte Form erhalten. Helmut Hinkel hat 1979 auf eine im Mainzer Priesterseminar liegende Ausgabe der Pastorum instructiones des Karl Borromaeus hingewiesen (Sign. R 142), auf deren letzter, unbeschriebener Lage ein handschriftlich nachgetragener Text mit der versifizierten Fassung der Hildegard-Sequenz erscheint.2 Diese Fassung steht unter dem Titel In Solemnitate Hildegardis und setzt im Gegensatz zur Prosadichtung mit einem Alleluja-Vers ein. Der Alleluja-Vers, ein gattungstypologischer Bestandteil der mittelalterlichen Sequenzen, schildert Hildegard als im Himmel bei ihrem Bräutigam Christus weilend und sich mit den Engeln freuend. Die folgenden 16 Textstrophen preisen die Heilige als Erfüllerin der Ordensgelübde Armut und Keuschheit und feiern ihre Sehergabe. Könige und Gelehrte hätten Hildegard aufgesucht, Krankheiten des Leibes und der Seele habe sie geheilt. Zum Schluß wird Bingen als Ort ihrer Ruhestätte gepriesen und die Einwohner zur Freude aufgerufen, da die Stadt durch die Gegenwart Hildegards und Ruperts vor inneren und äußeren Gefahren geschützt sei. Hervorzuheben ist die Reihenfolge in der Schilderung der Vorzüge Hildegards. Trithemius weist zunächst auf Hildegards prophetische Worte und Schriften hin, erst dann auf ihre Heilungswunder. Die heilkundlichen Schriften werden nicht erwähnt. Nachfolgend der komplette Text dieser Sequenz. Ob diese Sequenz mit Noten bzw. Neumen versehen war und wer in diesem Falle die zugehörige Melodie komponiert hat, muß an dieser Stelle offen bleiben: -

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1 2

Der Text findet sich in Analecta, S. 434-438. Hinkel 1979, S. 392. Der genaue Titel des Werkes von Karl Borromaeus lautet: Pastorum instructiones ad concionandum, confessionisque et Eucharistiae sacramenta ministrandum utilissimae, Douai 1624.

Johannes Trithemius

479

In Solemnitate Sanctae HILDEGARDIS

Alleluja. Hildegardis Sponsa Christi migravit a corpore, vivit in aeternitate Regis conjuncta osculis in quo gaudens cum angelis sine fine permanet. Sequentia 9 ,) In hoc loco quondam vixit, 1. ) Laus sit tibi Domine, Hic sepulta requiescit, Rex aeternae gloriae, IESU corona Virginum, Sed in coelo iam exultât [constitit] Qui Beatam hodie Spiritus cum Angelis. HILDEGARDEM gloriae, 10 .) Gaude foelix Bingionum Introducis coelestium. Ipsa tibi semper grata, Virgo fuit desponsata, Castitatis [Virginitatis] annulo. 3. ) Tuo vivens [vincens] in amore, Mundum sprevit cum decore Tibi soli serviens.

2. )

4. )

Cujus

mentem

illustrasti,

Cui mira revelasti, Quam archanis intéresse Tribuisti superum. 5. ) Mundum Verbis et Exemplis, Illustravit HILDEGARDIS Sponsa tua IESU CHRISTE, Te docente ab intus. 6. )

Stupent Reges

et

Doctores,

Plebs devota, quae Sanctorum,

Hildegardis et Ruperti Muniris praesentia. 11 .) Si te premit vis hostilis,

Si conturbat lis civilis, His patronis defenderis, Supplicans fideliter. 12 ) Et nos mundum abnegantes, Castitatem profitentes, Matrem

13

Ejus Scripta concupiscunt, Et expetunt

suffragia.

8. ) Membra sanat aegrotorum,

Morbos curat animorum, Vincla solvit Captivorum, Miseretur Omnium.

imitemur,

In amore ferveamus, IESU Christi quem speramus,

Castitatis

In 14

) Tu

15

)

Verba Sancta Claros mores,

In Virgine paupercula. 7. ) Incurvati se prosternunt,

)

Cujus

nostram

festa colimus.

aeterna

amatorem

gloria.

ergo CHRISTI Pia mater et Patrona Prece semper adjuva. Esto nobis in periclis nos

Sponsa,

Firma tutrix

Castitatis, Sponso sponsas socians. 16 ) Ejus amor nos incendat, [accendat] Et post mortem introducat In aeterna gaudia. Amen. Amen. Amen.

prosae, quam ego Ioannes Trithemius Abbas Spanhemensis ad preces conventus Divi Ruperti iuxta oppidum Bingionum nostri ordinis edidi, Anno

[Finis

1498].1

Bleibt anzufügen, daß der Besitzvermerk des Mainzer Druckes, in dem sich der Text dieser Sequenz findet, herausgeschnitten wurde. Eine Zuweisung zu einem bestimmten Vorbesitzer ist daher nicht möglich.

1

Zit. nach Hinkel 1979, S. 407f.

Kapitel 3

480

3.4 Trithemius als

Popularisator von Hildegards Schriften Bereits zwei Jahre vor der ersten Reliquienerhebung, d. h. im Jahre 1487, hatte Trithemius im Kloster Rupertsberg Abschriften der Werke Hildegards anfertigen lassen. Diese Abschriften, die in die Bibliothek von Kloster Sponheim wanderten, wurden aus dem Riesencodex geschöpft. Sie sind wenigstens teilweise erhalten und liegen heute als Codex Add. 15102 in der Bibliothek des British Museum in London.1 In den Annales Hirsaugienses berichtet Trithemius hierüber wie folgt: „Nos vero cuncta eius scripta non solum legimus in virginalibus libris, qui sunt in eius monasterio apud Bingios repositi, sed fecimus etiam pro nobis rescribi, cum adhuc monasterio praesederemus D. Martini in Spanheim".2 Auf f. lv des Londoner Codex erscheint eine Art Vorwort zu den Hildegard-Texten. Trithemius gibt darin einen kurzen Abriß über Leben und Werk Hildegards. Außerdem versucht er, die Eigenart ihrer visionären Begabung zu charakterisieren. Ausdrücklich hält Trithemius fest, daß die Abschrift im Jahre 1487 auf seine Veranlassung hin angefertigt worden sei. Ein Sponheimer Mönch habe sie im Kloster Rupertsberg hergestellt.3 Merkwürdigerweise bezeichnet Trithemius die Londoner Kopie als Liber epistolarium. Diese Bezeichnung greift entschieden zu kurz. Der Codex enthält eine ganze Reihe weiterer Hildegard-Schriften. Folgende Werke sind berücksichtigt: f. 2r-145v: Die Epistolae, darin enthalten: f. 71-96r: die Solutiones f. 96v-128: die Vita S. Ruperti et eius matris Berthae; f. 128-137: die Expositio in Regulam S. Benedicti; f. 137v-145v: die Vita S. Disibodi; f. 146r-190v: die Expositiones evangeliorum; f. 191rv: der Brief der Villarenser Mönche nach dem Tode Hildegards; f. 192r-206r: die Epistola ad prelatos Moguntinenses propter divina nobis interdicta [11 Texte]; f. 207r-221r: der Ordo virtutum; f. 224r-245r: die Vita Hildegar dis. Betrachtet man das Inhaltsverzeichnis dieser Texte, so springt ins Auge, daß die drei Hauptwerke Hildegards, der Scivias, der Liber vitae meritorum und der 1

Vgl. Catalogue London 1850, S. 86f. Watson 1979, S. 40 Nr. 114.

S. 172*f.

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2

3

Schrader/Führkötter 1956, S. 57. 155. 160. Klaes 1993,

Van Acker 1991, S. XXVIIIf.

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-

Trithemius Annales, I, S. 423. „Hec omnia scripta habentur in maximo

-

quodam uolumine et ualde precioso, de quo quod manu sancte Hildegardis sit conscriptum. Vidi librum grande uel dixi uolumen in predicto monasterio sancti Ruperti, de quo hee omnes que sequuntur epistole licet cum festinacione scripte sunt anno Domini millesimo quadringentesimo octogesimo septimo per quendam monachum sancti Benedicti de cenobio Spanheim iubente me eiusdem monasterii abbate licet indigno." Johannes Trithemius, British Library London, Add. 15102, f. lv. opinio uulgi

est,

Johannes

Trithemius

481

Liber divinorum operum, fehlen. Die Erklärung für dieses Phänomen kann eigentlich nur darin bestehen, daß es mindestens einen weiteren Codex gegeben haben muß, der die drei Visionsschriften enthalten hat. Leider ist dieser eigentliche Hauptteil der Hildegard-Kopien des Trithemius verschollen. Daß die Existenz eines solchen Bandes postuliert werden muß, resultiert aus der Reihenfolge der für Trithemius kopierten Schriften. Sie entspricht im Londoner Codex Add. 15102 mit Ausnahme der an den Schluß gewanderten Vita Hildegardis der Anordnung des Riesencodex. Vor allem die Reihenfolge der Briefe folgt minutiös jener des Riesencodex.1 Dieser Befund verliert auch dadurch nicht an Gewicht, daß der Riesencodex im Anschluß an die Expositio evangeliorum (f. 434r-461v) und vor dem Brief der Villarenser Mönche zum Tode Hildegards (f. 464v-465r) die Lingua ignota (f. 461v-464v) und die Litterae ignotae (f. 464v) enthält. Diese beiden Texte fehlen zwar in der Londoner Handschrift. Doch könnte dies dadurch seine Erklärung finden, daß Trithemius sie ganz bewußt negiert hat, um nur die theologischen Schriften Hildegards zu überliefern. Im Riesencodex bilden die drei fehlenden Hauptwerke Hildegards einen unmittelbar aufeinander folgenden Block. Der Scivias erscheint dort auf f. lv-135v, der Liber vitae meritorum auf f. 135v-201v und der Liber divinorum operum auf f. 202r-308r. Zieht man die überlieferungsgeschichtlichen Schlußfolgerungen aus diesem kodikologischen Befund, so läßt sich sagen, daß der Londoner Codex Add. 15102 mit großer Wahrscheinlichkeit den zweiten Teil eines wesentlich umfassender angelegten Werkes mit Abschriften von Texten Hildegards bildet. Der erste Teil dieser Abschriften, der die visionstheologischen Hauptwerke Hildegards enthielt, ist wohl verlorengegangen. Zwar existiert mit dem Codex 722/277 der Stadtbibliothek Trier eine weitere um 1487/89 entstandene Sammelhandschrift von Texten Hildegards.2 Und diese Handschrift enthält sogar (neben einem Teil der Briefe) den Liber divinorum operum und den 5avias. Allerdings fehlt der Liber vitae meritorum. Endgültig gegen eine Veranlassung des Trierer Codex durch Trithemius spricht der Schreiberkolophon. Daraus geht hervor, daß die Trierer Handschrift 722/277 von dem Kartäuser Ewald Molner angefertigt wurde. Seine Vorlagen bildeten zum einen die Kueser Handschrift 63, die im Jahre 1210 in Trier-St. Eucharius hergestellt worden war und den Scivias beinhaltet,3 zum anderen der aus dem 12. Jahrhundert stam-

1

2

-

Weitere Abschriften der Briefe nach der Vorlage des Riesencodex finden sich in dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden Codex der ONB Wien Cod. 963 [theol. 348], dessen genaue Kopie die Handschrift 722/277 der StB Trier ist, und in dem aus dem 15. Jahrhundert stammenden Codex Harley 1725 der British Library London. Vgl. Kentenich 1910, S. 60f. Schomer 1937, S. 6, Fußn. 18. Führkötter/CarDerolez/Dronke 1996, S. CVIII-CIX. levaris 1978, S. L. Vgl. Kraus 1864, S. 37 Nr. 79. Marx 1905, S. 69f. Montebaur 1931, Nr. 326. Schrader/Führkötter 1956, S. 17, 42, 46, 195. Führkötter/Carlevaris 1978, S. XLVI-XLVIII. Becker 1996, S. 127 Nr. 92. -

-

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3

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Kapitel 3

482

mende Genter Codex 241, der den Liber divinorum operum enthält.1 Es ist nicht gut vorstellbar, daß Trithemius gerade für die drei Hauptwerke Hildegards vom Riesencodex den er ja für die übrigen Texte bereits exzerpiert hatte abgewichen wäre. Wirft man einen Blick auf die Qualität der von ihm veranlaßten Abschriften, so scheint zumindest der Ordo virtutum recht nachlässig kopiert worden zu sein. Audrey Ekdahl Davidson hat darauf hingewiesen, daß bei der Transkription der Neumen erhebliche Fehler begangen wurden. Der Riesencodex bleibe der einzig zuverlässige Textzeuge des Ordo virtutum} Hervorzuheben ist auf jeden Fall, daß Trithemius bemüht war, die Opera omnia Hildegards und zwar in der kanonischen Textgestalt des Riesencodex kopieren zu lassen. Zumindest in diesem Punkte ging der Sponheimer Abt ganz entschieden über Gebeno, der ja lediglich eine selektive Teilkompilation aus Hildegards Schriften angefertigt hatte, hinaus. Sollte sich unsere Hypothese bestätigen, so wäre Trithemius der einzige Autor zwischen dem 12. (Entstehung des Riesencodex) und dem 19. Jahrhundert (Hildegard-Ausgabe in Mignes Patrologia Latino) gewesen, der bemüht war, die komplette Hildegard zu überliefern. Die auf der Hand liegende Frage, weshalb er die von ihm gesammelten Hildegard-Schriften dann nicht auch noch zum Druck beförderte, kann hier nur spekulativ beantwortet werden. Vermutlich war Trithemius zumindest in dieeben kein klassischer Humanist wie etwa Faber Stapulensis sem Punkt (ca. 1450-1536). Dieser war ständig damit beschäftigt, eine Vielzahl bislang nur handschriftlich kursierender Werke zum Druck zu befördern, um sie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Insgesamt ca. 300 Werke eigener und fremder Feder gab Faber im Laufe seines Lebens heraus. Darunter befand sich auch die 1513 in Paris bei Henri Etienne erschienene Editio princeps des Scivias, das erste gedruckt erschienene Werk Hildegards überhaupt.3 Demgegenüber fällt auf, daß Trithemius die Schriften Hildegards ausschließlich zu eigenen Zwecken kopierte. Auch die verführerische Theorie, Trithemius und Faber, der im Sommer 1509 auf dem Rupertsberg weilte und, wie Trithemius 20 Jahre zuvor, Kopien von Schriften Hildegards anfertigen ließ, könnten über diese Dinge miteinander in Kontakt gestanden haben, führt in die Aporie. Zwar lassen sich einzelne Verbindungen zwischen Trithemius und dem Pariser Gelehrtenkreis um Faber Stapulensis nachweisen. Eine direkte Beziehung zu Faber -

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1

Montebaur 1931, Nr. 327. Saint-Genois 1949/1952, S. 386 Nr. 555. Becker Schrader/Führkötter 1956, S. 47f. Knaus 1962. Derolez 1972. 1996, S. 115 Nr. 42. Wilhelmy 1998e, Nr. 68. Ekdahl Davidson 1991. Der Scivias erschien innerhalb eines Sammelwerkes von sechs Texten prophetischen Charakters: [Faber Stapulensis, Hrsg.], Liber trium virorum et trium spiritualium virginum. Hermae über unus. Uguetini über unus. F. Roberti libri duo. Hildegardis Scivias libri très. Elisabethae virginis libri sex. Mechtildis virginis libri quinque. Paris 1513, f. 28r-118v. Vgl. hierzu Rice 1971, S. 112-115.

Vgl.

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2 3

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Johannes Trithemius

483

bestand aber offenbar, ebenso wie zu Clichtoveus, nicht.1 Wie in manch anderer Hinsicht, so besitzt die Hildegard-Rezeption des Trithemius auch im Hinblick auf die Frage nach einer möglichen Drucklegung von Hildegards Schriften einen eher konservativen Zug. Vielleicht mag hierfür auch die zumindest bis 1506 geltende grundsätzliche Reserve des Sponheimer Abtes gegenüber den auf Papier gedruckten Büchern mit verantwortlich sein. In seinem 1492 entstandenen Werk De laude scriptorum bezeichnet Trithemius Druckwerke abfällig als „res papirea" und prophezeit ihnen gegenüber den auf Pergament Lebensdauer.2 geschriebenen Handschriften eine nurdesgeringe Trithemius auf dem Felde der biblioUnbestritten sind die Verdienste graphischen Erfassung und literaturgeschichtlichen Würdigung von Hildegards Werken. Wiederholt veröffentlichte der Sponheimer Abt ausführliche Listen mit den Schriften der rheinischen Seherin und wies auf ihre Bedeutung als Schriftstellerin hin. Er berücksichtigte Hildegard sowohl in seiner kirchlichen Literaturgeschichte De scriptoribus ecclesiasticis und in seinem Catalogus scriptorum ecclesiasticorum sive illustrium virorum Germaniae als auch in seinem Werk De viris illustrihus ordinis S. Benedicti. Die früheste literarhistorische Erwähnung Hildegards bei Trithemius findet sich innerhalb der 1494 fertiggestellten und noch im selben Jahr gedruckten Schrift De scriptoribus ecclesiasticis. Dieses Werk gilt als die bedeutendste Publikation des Sponheimer Abtes. Als erster gedruckter Schriftstellerkatalog hat es den Ruhm des Trithemius unter den Gelehrten seiner Zeit begründet, wie unzählige Auszüge daraus in Handschriften und Drucken bezeugen. Das Buch berücksichtigt insgesamt 963 Autoren, die mit Titellisten ihrer Werke verzeichnet sind. Damit lieferte Trithemius die erste moderne Literaturgeschichte, die sich der Form einer kritischen Bibliographie bediente. Aus eigenen Äußerungen -

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1

2

Eine später erschienene Ausgabe von De scriptoribus ecclesiasticis enthält zwar auch einen Abschnitt über Faber Stapulensis; allerdings handelt es sich dabei um einen Nachtrag von fremder Hand. „Scriptura enim", so führt Trithemius zu Beginn des 7. Kapitels von De laude scriptorum aus, „si membranis imponitur ad mille annos poterit perdurare: impressura autem cum res papyrea sit, quam diu subsistet ? Si in volumine papyreo ad ducentos annos perdurare potuerit, magnum est." Trithemius De laude, S. 750. Neben den rein technischen Aspekten nennt Trithemius tiefere Gründe für die Behauptung einer Superiorität des handgeschriebenen vor dem gedruckten Text. Das Abschreiben von Handschriften wird als heilige Arbeit bezeichnet, der sich das Drucken von Büchern niemals auf eine Stufe stellen lasse: „Nos autem fratres charissimi mercedem istius sancti laboris intuentes ab eius studio non cessemus, etiamsi multa milia voluminum habeamus. Scriptis enim codicibus nunquam impressi exaequo comparantur" (ebd., S. 751). Vgl. hierzu Giesecke 1998, S. 182-185. Embach 2000a. Erst 1506 bezeichnete Trithemius in einem Brief an seinen Bruder den Buchdruck als „ars illa mirabilis et prius inaudita imprimendi et characterizandi libros." Zit. nach Giesecke 1998, S. 184. Der Trithemius-Text liegt in einer von Klaus Arnold besorgten deutsch-lateinischen Ausgabe vor: Trithemius De laude. -

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Kapitel 3

484

des Trithemius wissen wir, daß er seit 1487 an seinem wissenschaftlichen Erstling arbeitete. Eben in dieser Zeit entstanden die von ihm veranlaßten Kopien der Schriften Hildegards. Man wird wohl davon ausgehen dürfen, daß diese zeitliche Koinzidenz nicht auf einem Zufall beruht. Offensichtlich ließ Trithemius die Kopien anfertigen, um Kenntnisse für die Darstellung der Werke Hildegards innerhalb seiner Literaturgeschichte zu sammeln. Diese Vermutung wird bestätigt durch die Beobachtung, daß Trithemius nach einer kurzen biographischen Einführung nicht nur die Titel von Hildegards Schriften nennt, sondern in den meisten Fällen auch deren Incipits angibt. Zwar konnte Trithemius viele Incipits aus den von ihm ausgewerteten Vorlagen übernehmen, etwa aus dem Speculum Historiale des Dominikaners Vinzenz von Beauvais (ca. 1184/94-1264), aus der Schrift De praecipuis aliquibus Carthus. famil. Patribus des Karmeliters Arnold Bostius (1445-1499) oder aus dem Supplementum Chronicarum des Augustinereremiten Jakob von Bergamo (1434-1520). Zumindest auf seine Hildegard-Bibliographie trifft dies jedoch nicht zu. Da der Einführungstext zum Hildegard-Kapitel von De scriptoribus ecclesiasticis sämtliche auch später immer wieder kolportierten Klischees enthält, sei er hier komplett -

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zitiert:

Hildegardis abbatissa coenobij sancti Ruperti confessoris, in opposito Binge[n]sis oppidi, ex altera parte Naij fluuij, Moguntinae dioecesis, ordinis diui patris Benedicti, natione Teutonica, ex comitatu Spanheimensi, discipula quondam beatae Gutte (+ forsan Iuttae, aut Iudithae) virginis, sororis Megenhardi comitis de Spanheim, fundatoris nostri, virgo sanctissime conuersationis, & à pueritia sua diuinis reuelationibus illustrata, cuius vita multis miraculis comprobata, odorem suae sanctitatis in longinquas dispersit regiones, adeo vt Eugenius tertius, Anastasius quartus, Hadrianus quartus, Alexander tertius, Romani pontifices, scriptis eae crebrius visitantes, se & Romanam ecclesiafm] illius orationibus commendarent. Sed & Eugenius tertius in concilio Treuirensi, sancto Bernardo praesente, scripta 8t opuscula eius coram omnibus lecta, publice approbauit eamque, vt coepto perstaret in proposito, literis denuo roborauit. Omnia autem quae scripsit, ex reuelatione divina didicit.1

Hildegards Werke werden in folgender Reihenfolge angegeben: 1. ) In regulam S. Benedicti lib. 1. Et ego paupercula foe; 2. ) Triginta quaestionum lib. 1. Charitas quae cu[m] abstin; 3. ) Vita S. Ruperti confessoris lib. 1. Nam vt in vera visione; 4. ) Vita S. Disibodi episcopi lib. 1. In mystica visione & c; 5. ) Homiüae 58 in Euangeüjs lib. 1. Homo quidam qui h; altaris lib. 1. In visione que animae [= Brief Van Acker Nr. XXIII]; 7. ) Scivias grande volumen üb. 1. Et factu[m] est anno no; 8. ) Vitae meritorum Üb. 3.; 9. ) Simpücis medicinae Üb. 1.; 6. ) De

sacramento

Prälaten; Epistolarium. Ed. *

1

Trithemius De

scriptoribus, S. 170f.

an

die Mainzer

Johannes

Trithemius

485

Compositae medicinae lib. 1.; Diuinorum operum üb. 1. Et factum est in 6. anno; Ad Colonienses üb. 1. Qui erat, Sc qui est, &; Ad Treuirenses lib. 1. Ego paupercula form; Exhortatorium secularium. lib. 1. O turbae ho[m]i[nu]m nascen [= Brief „Ad saeculares homines diversorum populorum"; Pitra, Analecta Sacra Bd. 8, S. 341-345 Nr. VII]; 15. ) Ad sorores suas lib. 1. O filiae quae vestigia [= Explanatio symboli S. Athanasii; Epistolarium. Ed. Van Acker, Nr. CXCVR]; 16. ) Ad monacüos griseos lib. 1. Ego paupercula in le [= Brief an den Prior von Eberbach (c. a. 1169). Epistolarium. Ed. Van Acker, Nr. LXXXIVR]; 17. ) Carmina diuersa. lib. 1. Qui sunt hi qui vt nub [= Ordo virtutum]; 18. ) Et sancto Bernardo epi. 1. In spiritu mysterioru[m]; 19. ) Epistolar[um] ad diuersos 135 üb. 1. O mitis pater, ego pau. Betrachtet man diese Liste, so fällt auf, daß die Reihenfolge der Titel nicht der Textanordnung des Riesencodex entspricht. Möglicherweise kannte Trithemius also weitere Abschriften von Hildegards Werken. So hat F. A. Reuss in der Vorrede zu seiner Edition der Physica die These geäußert, Trithemius habe auf dem Rupertsberg den Archetypus des Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum gesehen und kopieren lassen.1 In der TitelÜste von De scriptoribus ecclesiasticis wird der Scivias mit einem Sternchen versehen und besonders hervorgehoben. Trithemius bezeichnet ihn als grande volumen", an anderer Stelle darüber hinaus als „mirabile opus"2, unter Umständen ein Hinweis auf den illuminierten Rupertsberger Scivias. Vom Liber vitae meritorum fehlt das Incipit, ebenso vom Liber simplicis medicinae und vom Liber compositae medicinae. Die Beifügungen „Üb. I" zum Scivias und zum Liber divinorum operum sowie „Üb 3" zum Liber vitae meritorum dürfen wohl nicht wörtlich verstanden werden. Dies würde bedeuten, daß Trithemius von den genannten Schriften nur Teile, und zwar jeweils die ersten Bücher, gekannt habe.3 Hildegards Briefe an den Kölner (Nr. 12) und den Trierer Klerus (Nr. 13), an die Mainzer Prälaten (Nr. 6) sowie einige andere traktatartige Schreiben (Nr. 1, 2, 3, 4, 6, 14, 15, 16, 18) werden als selbständige Schriften deklariert, ein durchaus verbreitetes Phänomen. Es zeigt sich hierin die Tendenz, die Briefe aus ihrem aktuellen, adres10. ) 11. ) 12. ) 13. ) 14. )



1 2 3

Opera omnia 1855, Sp.

1123-1124.

Trithemius De viris, S. 55. In dieser Weise äußert sich Jakob Marx bei der Beschreibung einer mittlerweile verschollenen Himmeroder Handschrift mit Texten Hildegards: „Derselbe Codex, der von den Gelehrten [Martène und Durand; Ergänzung] als optimae notae bezeichnet, enthielt auch noch andre Schriften der heiligen Seherin, die vita S. Disibodi, vita S. Ruperti ducis und die vita S. Berthae ipsius matris, eine Expositio brevis in regulam S. Benedicti und Libri VI meritorum, welches letztere ein umfangreiches Werk, nach der Anzahl der Kapitel zu schließen, gewesen sein muß. Trithemius kannte bloß drei Bücher davon, hat also nicht das ganze Werk vor sich gehabt." Marx 1862, S. 562f.

Kapitel 3

486

satenspezifischen Zusammenhang herauszulösen und nach ihrem jeweiligen Hauptinhalt zu klassifizieren. Diese Tendenz ging mit der Zeit soweit, daß manche Briefe Hildegards eigene Titel erhielten und gleichberechtigt neben die selbständig entstandenen Werke traten. Eine Praxis, die allerdings nicht auf Trithemius zurückgeht, sondern auf eine bereits länger bestehende Uberlieferungstradition verweist. Die von Hildegard in der Vorrede zum Liber vitae meritorum selbst verwendete Bezeichnung „Visio subtilitates diversarum naturarum der die beiden naturkundlich-medizinischen Texte ursprünglich zusammengefaßt waren, erscheint in den Listen des Trithemius ebensowenig wie die Bezeichnung Pbysica für den Liber simplicis medicinae oder Causae et curae für den Liber compositae medicinae.1 Man kann hieraus den Schluß ziehen, daß Trithemius den beiden heilkundlichen Texten als eigenständigen, voneinander getrennt existierenden Werken begegnete. Eine Scheidung, die im übrigen bereits für die um 1227 zusammengestellte Liste der Hildegard-Werke in den Acta inquisitionis gilt. Der Titel Pbysica für den Liber simplicis medicinae wurde erstmals 1533 in der Straßburger Ausgabe Johann Schotts verwendet, die Bezeichnung Causae et curae findet sich zum ersten Mal in der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Kopenhagener Handschrift Cod. Ny kgl. 90b 2°. Seiner Auflistung der Titel fügt Trithemius die unbestimmte Angabe bei: „Scripsit & alia". Hieran schließt sich ein allgemeines Eulogium auf die Rechtgläubigkeit und die ethische Qualität von Hildegards Schriften an:

creaturarum",

unter

In omnibus autem opusculis suis catholica doctrina met, vel instruat mores ...2

relucet,

que vel fidem confir-

hyperbolische Art, in der Hildegard charakterisiert wird, ist ein übergreifendes Phänomen des Schriftstellerkataloges und trifft auch auf andere Autoren zu. Gleiches gilt für die Anordnung der biographischen Informationen, die dem Schema doctrina vita conversatio devotio folgt. Das Hildegard-Kapitel wird beendet durch einen Hinweis auf ihre Geltung bei Päpsten und Herrschern sowie eine Erwähnung ihres Sterbedatums. Eine interessante wirkungsgeschichtliche Spur von Trithemius' HildegardEintrag aus De scriptoribus ecclesiasticis hat jüngst Thomas Kock aufgezeigt.3 Demnach wurde das entsprechende Trithemius-Kapitel im Chorherrenstift Rookloster, einem Zentrum der brabantischen Devotio moderna, innerhalb eines dort entstandenen regionalen Bibliothekskataloges verwendet. Dieser Die

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1

2 3

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Bei der bibliographischen Identifizierung von Hildegards Schriften ist das grundsätzliche Problem zu berücksichtigen, daß es Buchtitel im modernen Sinne des Wortes noch nicht gab. Meist wurde nach dem Incipit oder nach einer summarischen Inhaltsangabe zugeordnet. Von großer Bedeutung für die Frage der Benennung von Hildegards Werken sind ihre eigenen Äußerungen in der Vorrede zum Liber vitae meritorum sowie die Zusammenstellungen der Vita Hildegardis 1993 (Vorrede zu II 1, S. 20) und den Acta inquisitionis (Ed. Klaes, S. 268). Trithemius De scriptoribus, S. 171. Kock 1999, S. 231-246; insbesondere S. 236f.

Johannes

Trithemius

487

Katalog, das sogenannte Rookloster-Register, diente der bibliographischen Verzeichnung und dem bibliothekarischen Bestandsnachweis von Hildegards

Schriften sowie der Schriften anderer Autoren in verschiedenen Klöstern des brabantischen Raumes. Auf diese Art und Weise konnten Handschriften- und Buchbestände in einem monastisch und/oder geographisch zusammengehörigen Gebiet miteinander vernetzt und somit zentral nachgewiesen und möglicherweise auch entliehen werden. Das Rookloster-Register liegt heute unter der Signatur Cod. Ser. n. 12694 in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien.1 Aus entsprechenden Schreibervermerken geht hervor, daß es bis zum Jahr 1532 aktualisiert wurde. Wann die Arbeiten daran begonnen wurden, liegt im dunkeln. Der Kopist des Trithemius-Teiles kann namentlich identifiziert werden. Es ist der 1534 verstorbene Rookloster Chorherr Antonius Geens. Geens ist auch sonst als Sammler und Kompilator bezeugt, etwa einer dreibändigen Sammlung von Heiligenlegenden. Im übrigen war Geens als refectarius auch für die Tischlesung in seinem Kloster zuständig. Der Hildegard-Eintrag des Registers (f. 168v) folgt den Ausführungen des Trithemius sehr genau. Zunächst erscheinen Angaben zur Person Hildegards, zu ihrer Ordenszugehörigkeit, ihrer Lehrerin Jutta, der Approbation von Hildegards Schriften sowie ihrer Lebenszeit. Auch die Aufzählung von Hildegards Werken inklusive der Incipits ist fast wörtlich aus Trithemius übernommen. Von den drei Werken, für die Trithemius kein Incipit angibt (LMM, LSM und LCM), fehlen diese auch im Register. Während Trithemius allerdings ausdrücklich von 135 Briefen Hildegards spricht, ist diese Angabe im Register unterdrückt. Möglicherweise ist dies ein Signal dafür, daß in den drei besitzenden Bibliotheken (Park, Martinstal und Groenendaal) unterschiedlich umfangreiche Ausgaben von Hildegards Epistolarium vorhanden waren. Auf der anderen Seite geht das Register über Trithemius hinaus, indem es drei weitere Werke Hildegards aufführt, die bei Trithemius fehlen. Sie belegen das Bemühen, den Katalog aktuell zu halten. Es sind dies die folgenden Titel: „[1.] Speculum futurorum temporum per translationem fratris gebenonis de erbach. Honorabilibus viris semper in christo. [2.] Sigillum sancte marie in quo honorius exponit tota cantica canticorum. de beata maria. [3.] Visiones eiusdem Hildegardis abbatisse."2 Am Rande dieser Liste erscheinen verschiedene Siegeln und Abkürzungen, die bestimmte Klöster repräsentieren. So steht „P" für die Prämonstratenserabtei Park bei Löwen. Ein Zeichen, das Kock durch eine „3" auflöst, steht für Kloster Martinstal bei Löwen, das „S" für das Chorherrenkloster Zevenborren, „v" für das Augustinerchorherrenkloster Groenendaal. Die Abkürzung „huyo" wird für die Kreuzherren in Huy und „Gern" für das Benediktinerkloster Gembloux verwendet. Aus der Liste geht nun hervor, daß Park im Besitz von Hildegards Kommentar zur Regula Benedicti, des Scivias und einer Sammlung von Hildegards Briefen war. Martinstal besaß eben1

Das Vorwort des auch als registrum universale bezeichneten Werkes ist ediert. Van Mierlo 1928, S. 281-283. Vgl. auch Obbema 1977. Zit. nach Kock 1999, S. 236f. -

2

Vgl.

Kapitel 3

488

falls den Kommentar zur Benediktsregel, den Scivias und eine Briefsammlung, darüber hinaus das Pentachronon und einen Band mit nicht näher bezeichneten Visiones eiusdem Hildegar dis abbatissae. In Groenendaal lag eine Handschrift des Liber divinorum operum, in Zevenborren das Pentachronon. In Huy befand sich eine Abschrift des Pentachronon, in Gembloux ein unter dem Namen Sigillum sanctae marie firmierender, mit Hildegard in Verbindung gebrachter Text. Das Register zeigt einerseits sehr deutlich die weite Verbreitung von Hildegard-Texten im Gebiet des heutigen Belgien, andererseits bestätigt es die große Bedeutung des Trithemius für die Popularisierung von Hildegards Werk. Die Aufzählung von Hildegards Werken in der 1495 gedruckten Schrift De viris illustribus germanie [Catalogus illustrium virorum Germaniae] ist nahezu identisch mit jener aus De scriptoribus ecclesiasticis. Allerdings enthalten die Titel in größerem Umfang erläuternde Bemerkungen. De viris illustribus germanie ist ein Auszug aus De scriptoribus ecclesiasticis, den Trithemius auf Drängen seines Freundes Jakob Wimpfeling (1450-1528) angefertigt hatte. Das nach dem Vorbild des Hieronymus (347-420), Gennadius von Marseille (f ca. 492/505), Isidor von Sevilla (560-633), Sigbert von Gembloux (1030-1112) und Vinzenz

von

Beauvais OP

(ca. 1184/94-1264) zusammengestellte

Autorenver-

zeichnis war als Nachschlagewerk für Gelehrte gedacht.1 Hauptanliegen der Schrift war es, ein Kompendium derjenigen Autoren zu liefern, die für die geistige Tradition Deutschlands von besonderer Bedeutung waren. Bereits am 8. Februar 1491 an Wimpfeling gesandt, wurde es von Trithemius noch einmal ergänzt und am 31. Juli 1495 abgeschlossen. Es enthält Angaben über 304 Autoren, darunter Hildegard von Bingen, Hrotsvita von Gandersheim und Elisabeth von Schönau. Im Hildegard-Kapitel deuten die den Buchtiteln beigefügten Erläuterungen darauf hin, daß Trithemius einen guten Teil der von ihm genannten HildegardSchriften tatsächlich gelesen und nicht nur bibliographisch beschrieben hat. Hier die Charakterisierung von Hildegards Werken nach De viris illustribus

germanie:

Scripsit autem multa opuscula ex reuelacione angelica, de quibus extant subiecta: In regulam sancti benedicti breuis explanatio lib. I. ad Wibertum monachum de triginta quaestionibus sibi ab eo propositis libr. I. Vita Sancti Ruperti Ducis & confessons üb. I. vita quoque sancti Disibodi episcopi Hyberniensis, qui pro Christo peregrinus in Alemaniam veniens, in comitatu Spanhemensi multis miraculis clarus requiescit libr. I. Super Euangeüjs Dominicaübus homeüas LVIII. composuit valde obscuras & nisi devotis & eruditis intelügibiles. Item de Sacramento altaris contra quosdam huius temporis haereticos lib. I. volumen quoque magnum 1

Aus Hieronymus' Werk De viris illustribus übernahm Trithemius für sein Buch De scriptoribus ecclesiasticis 87, aus Gennadius' gleichlautendem Werk 60 Beschreibungen von kirchlichen Schriftstellern. Aus Isidors von Sevilla Abhandlung De viris illustribus wurden 20 Einträge, aus Sigberts von Gembloux Werk über die kirchlichen Schriftsteller (De viris illustribus) mehr als 100 Einträge übernommen.

Johannes

Trithemius

489

quod praenotauit Scivias, id est, scito vias, scilicet Dei & sanctorum, de quibus valde subtiliter & religiose disputât. Aliud quod inscripsit vite meritorum, opus non spernendum lib. 3. item aliud simplicis medicinae praenotatum lib. I. & aliud compositae medicinae praetitulatum lib. I. in his duobus mirabilia & secreta naturae subtili expositione ad mysticum sensum refert, vt nisi à spiritu sancto talia, faemina scire minime posset. Scripsit aliud volumen grande cuius titulus est, diuinorum operum lib. I. ad clerum Treuerensis vrbis de futuris Ecclesiae calamitatibus lib. I. ad Colonienses quoque de eadem materia lib. I. Miranda in his praedicit, tarnen sine determinatione temporis. Scripsit etiam ad petitionem quorundam sacerdotum exhortatorium secularium lib. I. ad sorores suas exhortationis lib. I. ad monachos griseos lib. I. Carmina diuersa dulci melodia composita. Ad sanctum Bernardum Clareuallensem epistolam vnam. Epistolarum quoque ad diuersos Hb. I. è quibus legi centum, triginta quinque, in quibus omnibus doctrina Catholica relucet, quae vel fidem confirmet, vel instruat disciplinam. Vndecimus in eodem volumine epistolarum multas literas Co[n]radi tercij, et Frederici primi Imperamultorumque Episcoporum Moguntinensis, Treuerensis, Coloniensis, Bremensis, Hierosolymitani, Bambergensis, Wormaciensis, Spirensis & aHorum pene innumerabilium, qui ex diuersis mundi regionibus fama sanctitatis eius & diuinatorum,

rum

reuelationum prouocati: per nuncios & epistolas orationibus eius & diuersarum quaestionum solutionem ab ea quaerebant.1 ...

se com-

mendabant,

Wiederum modifiziert erscheint die Charakteristik von Hildegards Werken im Chronicon Hirsaugiense. Offensichtlich war Trithemius bemüht, die erläuternden Beifügungen zu den reinen Titelnennungen immer stärker auszudehnen. Insbesondere die medizinischen Werke profitierten hiervon. Noch einmal wird deutlich, daß der Liber compositae medicinae und der Liber simplicis medicinae Trithemius als zwei voneinander getrennte Werke vorlagen. Immerhin spricht er im Hinblick auf letzteres von einem „alium librum". Auch die Tatsache, daß Trithemius nun nicht mehr, wie in De scriptoribus ecclesiasticis, von 135 Briefen Hildegards spricht, sondern von 150, läßt erkennen, daß er seine Textkenntnisse kontinuierlich vertieft hat.2 Nachfolgend die bibliographischen Erläuterungen aus dem Chronicon Hirsaugiense:

Scripsit autem Hbrum magnum & multae subtilitatis, quem Scivias praenotavit, qui incipit, Et factum est in anno nono. Item Divinorum operum libros très. Vite meritorum libros 3. De causis & remediis omnium morborum humani corporis, opus insigne, quod Medicinam praenotavit compositam, & incipit: Deus ante creationem mundi absque initio fuit & est. Item alium Hbrum de Naturis herbarum, quantum ad curam humani corporis pertinent, satis pulchrum edidit, quem Simplicem medicinam praenotavit. Item in regulam S. patris nostri Benedicti brève quidem sed utile opusculum composuit, sie ineipiens: Et ego paupercula foemina forma. Item ad 30 subtilissimas quaestiones Wiberti monachi per epistolam sibi prepositas, per spiritum sanctum edocta, tarn profunde, proprie & catholice 1 2

Trithemius Catalogus germ. S. 138 (Erstdruck: Mainz, Peter Friedberg, 1495, f. XXr-XXIr). In seiner Schrift De viris illustribus ordinis S. Benedicti nennt Trithemius die Zahl von 136 Briefen Hildegards. Vgl. Trithemius De viris, S. 56.

490

Kapitel 3

respondit, ut legentes merito vertat in stuporem. Hoc opusculum sie ineipit, Charitas quae cum abstinentia peccatorum fidem instruit. Scripsit etiam per visionem coelitus instrueta, vitam saneti Disibodi episcopi Hiberniensis, de quo supra iam diximus. Vitam quoque saneti Ruperti ducis & confessons. In octo & quinquaginta Evangelia dominicalia per circulum anni homilias, totidem multum subtiles, difficiles Sc profundas. Epistolas etiam ad diversas personas plusquam 150 exhortatorias scripsit, in quibus singulos de occulto mentis statu eorum, ad meliora admonitos facit. Ad Treverenses, Moguntinenses & Colonienses literas & plures & prolixas scripsit, in quibus futuram eis calamitatem praedicit ..." 3.5

Zusammenfassung

Johannes Trithemius hat an der Wende vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit den bedeutendsten Beitrag seiner Zeit zur Popularisierung Hildegards von Bingen geleistet. Seine diesbezüglichen Aktivitäten, die einen deutlichen in der Schwerpunkt Sponheimer Zeit (1483-1506) besitzen, betreffen vier Bereiche:

1. ) Die

teilweise mit fiktiven Elementen durchmischte Darstellung der Lebensgeschichte Hildegards innerhalb der chronistisch-annalistischen Werke. 2. ) Die Auflistung und Würdigung der Schriften Hildegards innerhalb der literarhistorischen Werke. 3. ) Die Anfertigung von Kopien vermutlich sämtlicher Werke Hildegards aus dem Rupertsberger Riesencodex. 4. ) Die Intensivierung der Verehrung Hildegards als Heiliger. Diese wiederum geschah durch eine Verlebendigung des Reliquienkults und die Stiftung -

-

einer liturgischen memoria (Sequenz). Die Tatsache, daß Trithemius sich in seinen Äußerungen schichte Hildegards gleichzeitig realer wie fiktionaler Elemente tet nur unter

zur

Lebensge-

bediente, berei-

faktengeschichtlichen Gesichtspunkten Schwierigkeiten.

Unter

funktionalen und literarisch-stilistischen Gesichtspunkten betrachtet, weisen beide Strategien in die gleiche Richtung. Sie dienen dem doppelten Zweck einer Bedeutungserhöhung Hildegards und einer Steigerung des Ansehens von Kloster und Territorium Sponheim. Bei den vielfältigen Aktivitäten des Sponheimer Abtes zugunsten Hildegards fällt auf, daß sich in seinen eigenen Werken keine direkten Zitate aus Hildegards Schriften finden. Hildegards Einfluß auf das Denken und Schaffen des Trithemius bleibt daher trotz aller emphatischen Bekenntnisse sehr unbestimmt. Gleiches gilt für die nebulös wirkende Quellenbasis, auf der Trithemius seine Äußerungen errichtet hat. Sein biographisches Material basiert ganz auf den bekannten Informationen der Vita Hildegardis, der Vita Ruperti und des Epistolariums, möglicherweise auch auf mündlich tradierter Fama. Dennoch scheint die Vermutung gerechtfertigt, daß Trithemius auch über seine frühhumanistische Begeisterung für alte Schriften hinaus ein inhaltlich begründetes Interesse -

-

1

Trithemius Chronicon

Hirsaug., S. 174f.

Johannes genommen hat. Er

Trithemius

491

respektierte ihr zeitgebundenes prophetisches dem er Wirken, behauptete, dies alles sei tatsächlich auch eingetroffen. Darüber hinaus schätzte er Hildegard als zeitloses Muster einer benediktinischen Reformgestalt, die auch der eigenen Epoche noch manches zu sagen habe (Bursfelder Reformation). Gerade hierin trifft sich die Hildegard-Begeisterung des Trithemius mit jener seines Vorläufers aus dem 13. Jahrhundert, Gebeno von Eberbach. an

Hildegard von

SYNTHESE UND AUSBLICK

Diskussionen

Unsere

Erhebungen zur Überlieferungsgeschichte

der Schriften

Bingen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit haben in einer Gesamtansicht folgende Punkte festzuhalten:

Hildegards von übergreifenden

Betrachtung der Überlieferung und damit des Wirkungserfolges von Hildegards Schriften erzeugt Rückwirkungen auf den vorausgesetzten Autorund Werkbegriff. Die Untersuchung hat ergeben, daß der bislang auf Hildegard angewandte Autorbegriff dynamisiert und der bislang auf Hildegards Schriften angewandte Werkbegriff sequenzialisiert werden muß. Eine Dynamisierung des Autorbegriffs bedeutet zunächst, daß gravierende Unterschiede in der überlieferungsgeschichtlichen Präsenz Hildegards als Autorin zu registrieren sind, je nachdem, ob diese Präsenz sich auf die großen Visionsschriften, das Epistolarium, die 1.)

Eine

kleineren Brieftraktate oder das natur- und heilkundliche Werk bezieht. Darüber hinaus bedeutet dies, daß der tatsächliche Anteil Hildegards an den unter ihrem Namen überlieferten Schriften einer sehr genauen Überprüfung bedarf. Hier gilt, daß vor allem das Epistolarium und noch wesentlich stärker das naturkundliche Werk drastischen Eingriffen unterzogen waren. Diese Eingriffe fallen zum Teil in die Lebzeiten Hildegards (Epistolarium), zum Teil in die Zeitspanne unmittelbar nach ihrem Tode bis zum anlaufenden Heiligsprechungsprozeß (natur- und heilkundliches Werk). Was das Epistolarium anbetrifft, so sind die dort festzustellenden Stilisierungen als Autorvarianten zu verstehen, d. h. sie wurden mit Billigung und (vermutlich) auf Antrieb Hildegards vorgenommen. Allerdings ist dies ein Vorgang, der nicht unter moralischen, sondern unter allgemein zeit- und gattungsgeschichtlichen Gesichtspunkten zu bewerten ist. Bezüglich des natur- und heilkundlichen Werkes sind die Eingriffe offensichtlich ohne Hildegards Zutun vorgenommen worden. Sie verfolgten aber das gleiche Ziel der Inauguration eines bestimmten, panegyrisch besetzten Hildegard-Bildes. Textgenese und Überlieferung des Werkes greifen somit unmittelbar ineinander. Die Überlieferungsgeschichte, so läßt sich das namhaft gemachte Phänomen zusammenfassend charakterisieren, hat in gewissem Rahmen Hildegards Werke fortgeschrieben, verdeutlicht und den veränderten Zeitumständen angepaßt. Im Hinblick auf die Sequenzialisierung des Werkbegriffs gilt, daß der gesamte Schaffensprozeß Hildegards in drei Abschnitte unterteilt werden kann. Die Abschnitte eins und zwei fallen in die Lebzeiten Hildegards, Abschnitt drei stellt die produktive Fortschreibung ihres Werkes zwischen 1180 und 1220/30 dar. Die drei großen Visionsschriften und mit gewissen Abstrichen das Epistolarium sind hierbei als der eigentliche Nukleus von Hildegards Werk zu betrachten. In den gut dreißig Jahren zwischen ca. 1141 und 1173 hat Hildegard die Visionstrilogie geschaffen, unterstützt von ihrem über alles geschätzten Sekretär Volmar. Der Verlust Volmars (1173) bedeutete eine tiefgreifende Zäsur -

-

im

Schaffensprozeß Hildegards.

-

-

Synthese und Ausblick

496

Nach 1173 hat

Hildegard

Rang verfaßt. Auf das kurze

nur

noch Werke

Intermezzo des

vergleichsweise marginalem Disibodenberger Mönchs Gott-

von

fried betrat im Jahre 1177 Wibert von Gembloux (1124/25-1213/14) als Hildegards Sekretär die Bühne des Geschehens. In Wibert, dem Protagonisten der zweiten Phase, läßt sich eine forcierende, man möchte fast sagen gewaltsame Kraft erkennen. Wibert drängte Hildegard zu zwei epigonalen Werken, die sich vom Rang her nicht mit den Schriften aus der Volmar-Zeit messen lassen. Es sind dies die Responsiones auf die Triginta octo quaestiones der Villarenser Mönche und die im Zusammenhang der Wibert-Briefe überlieferte Martins-Vita. Die dritte Phase der Werkgenese trat postum nach Hildegards Tod ein und diente der weiteren Ausdifferenzierung des natur- und heilkundlichen Schriftenkreises. Außerdem sind in dieser Phase virulente Bemühungen um die Konsolidierung von Hildegards fama und sanctitas festzustellen. Die Ergebnisse einer Problematisierung des Autoren- und Werkbegriffs lassen sich durch eine überlieferungsgeschichtlich akzentuierte Betrachtung weiter untermauern. Nimmt man die etablierte Scheidung zwischen visionären Schriften einerseits und natur- bzw. heilkundlichen Texten andererseits zur Hand, so kann gesagt werden, daß Hildegard im 12. und 13. Jahrhundert, gemessen an der Zahl der überlieferten Textzeugen, den größten Erfolg als Verfasserin visionärer Texte hatte. Die frühe Approbation des Scivias durch Papst Eugen III. auf dem Provinzialkonzil von Trier an der Jahreswende 1147/48 war hierfür von ausschlaggebender und langfristiger Bedeutung. Diese Approbation erzeugte ein sich rasch verfestigendes Klischee von der geist-inspirierten prophetissa teutonica, das in der Folgezeit nur noch zementiert, nicht aber mehr grundsätzlich modifiziert oder gar revidiert wurde. Innerhalb der supponierten Visionstrilogie behauptet der Scivias, überlieferungsgeschichtlich betrachtet, einen deutlichen Vorrang vor dem Liber vitae meritorum und dem Liber divinorum operum. Mit zur Gattung der Visionsschriften wurden auch die Briefe gezählt, eine Zuordnung, die auf Hildegard selbst zurückgeht und die von der Sache her durchaus gerechtfertigt erscheint. Die Briefe tragen nicht selten den Charakter von kleinen Traktaten, Sermones oder Mahnschreiben, sind also in ihrer Ausrichtung recht allgemein gehalten. Dies hatte zur Folge, daß sie in der weiteren Überlieferungsgeschichte häufig aus dem Gesamtkorpus des Epistolariums herausgelöst und autochthon tradiert wurden. Der individuelle, adressatenspezifische Charakter der einzelnen Schreiben wurde dabei immer stärker zurückgedrängt zugunsten des jeweiligen inhaltlichen Aspekts. Verschiedene Briefe erhielten sogar eigene Überschriften oder Titel, die sie den regulären Werken gleichberechtigt zur Seite stellten. Genannt seien Hildegards Brief an den Klerus von Köln, an den Klerus von Trier oder an Werner von Kirchheim. Andere innerhalb von Briefzusammenhängen entstandene Schriften, etwa die Explicatio Reguale S. Benedicti, die Vita S. Ruperti, die Vita S. Disibodi oder die Explanatio Symboli S. Athanasii haben ihren epistolographischen Charakter von Anfang an verleugnet. Auf der anderen Seite ist das Faktum einer systematischen Sammlung und Komposition von Hildegards Briefen zu einem kohären-

Diskussionen

497

Ganzen (Epistolarium) von Bedeutung. Hildegard steht literaturgeschichtlich in einer Reihe standardsetzender Briefcorpora, wie sie seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert etwa durch die Hildesheimer Sammlung (um 1085), die Sammlung des Bamberger Scholastikus Meginhard (f 1085), die Briefe Heinrichs IV. (f 1106), die Regensburger Briefe (Ende 11. Jh.), den Codex Udalrici (1125), die Briefsammlung Bernhards von Clairvaux (1145) oder auch die Reinhardsbrunner (1165) und die Tegernseer Briefsammlung (1185) markiert sind. Man wird in dieser Tendenz der Redaktion und Offentlichmachung von Briefcorpora auch eine Bewegung weg vom anonymen Autorbegriff erkennen dürfen, unabhängig davon, ob nun jede überlieferte Sammlung tatsächlich von Hildegard selbst bzw. vom Rupertsberger Konvent initiiert wurde oder nicht. Da die Ausgestaltung einer einfachen Sammlung von Briefen zu einer regulären, hierarchisch geordneten Korrespondenz von Hildegards Sekretären betrieben wurde, tritt hier die korporative Komponente in der Überlieferung ihrer Werke deutlich in den Vordergrund. Eine zusätzliche Focussierung der Überlieferung auf die visionären Inhalte von Hildegards Werk zog die unter dem Titel Pentachronon bekannt gewordene, um 1220 entstandene Kompilation des Zisterziensers Gebeno von Eberbach nach sich. Durch diese Kompilation wurde Hildegards Werk fast nur noch unter dem Blickwinkel des apokalyptisch-eschatologischen und reformkirchlichen Schrifttums gelesen. Die im Pentachronon enthaltenen Antichristspekulationen aus dem Scivias und dem LDO wurden (im Grunde genommen gegen Hildegards eigene Intention) separiert und auf breiter Front rezipiert. Wie eine niederdeutsche Bearbeitung des Elucidariums beweist (Straßburg, Bibl. Nat. et Univ., Ms 2101, f. 1-64) wurden entsprechende Textpassagen aus dem Scivias (P. 3, visio 11, cap. 25) Mitte des 15. Jahrhunderts auch in die Volkssprache übersetzt. Weitere deutsche Handschriften und frühe Drucke ließen sich anfügen (z.B. BSB München, cgm 523, f. 267ra-273rb ; UB München, 2° cod. ms 684, f. 87r-92r; Weimar, Ms Q 127, f. 121r-127r). Auch die von Eberhard Windecke und Michel Beheim präsentierten deutschsprachigen Hildegard-Texte basieren auf Material, das im Pentachronon niedergelegt ist. Die frühen Drucke (Namhaffter Offenbarungen zwo [um 1518]; Diß biechlin zaygt an die Weissagung von zuokunfftiger betruebtnuß [1522 und früher]: Sant Hildegardten Weissagung vber die Papisten [1527]) rekurrieren auf ein fast identisches Korpus aus dem Pentachronon, wobei Hildegards Brief an Werner von Kirchheim und die apokalyptischen Stellen aus dem LDO (Buch III, visio 5, cap. 16, 25 u. 26) vorneweg rangieren. So läßt sich sagen, daß die Entwicklung Hildegards zur deutschsprachigen Autorin über das Pentachronon Gebenos von Eberbach verlaufen ist. Daß das Pentachronon auch als lateinischer Text auf breiter Front rezipiert wurde und zwar bis ins 16. Jahrhundert hinein beweist neben der starken handschriftlichen Verbreitung ein 1529 bei Wilhelm Seltz in Hagenau erschienener Druck De Praesenti Clericorum tribulatione, futurorumque TEMPORUM EUENTU; Diuae Hildegardis Prophetiarum_ Dieser von Hieronymus Gebwiller herausgegebene Text stellt eine komprimierte Fassung des ten

-

-

Synthese und Ausblick

498

Pentachronon dar. Auf der anderen Seite entfalteten der ebenfalls im Pentachronon enthaltene Brief Hildegards an den Klerus von Köln sowie ihre Schreiben an den Klerus von Trier und an Werner von Kirchheim eine vitale separate Wirkung. Hierbei wurde nicht selten die Apokalyptik instrumentalisiert und in den Dienst der Reform gestellt. Für den mittelalterlichen Leser war dabei die Scheidung zwischen originaler Hildegard-Uberlieferung und sekundärer Gebeno-Überlieferung nicht zu leisten. Auch im Pentachronon begegnete ihm ja Hildegard, wenn auch in einer sehr einseitigen Form. Wirkungsgeschichtlich war das Pentachronon von großer, allerdings keineswegs nur positiver Bedeutung: Hildegard sank hierdurch vielfach zur reinen Weissagerin und Sibylle herab. Ergänzend hinzuweisen ist auf die Tatsache, daß neben der reinen Gebeno-Überlieferung auf der einen und der reinen Hildegard-Überlieferung auf der anderen Seite vielfältige Hybridformen entstanden, die primäres Hildegard-Material mit sekundärem Gebeno-Material vermischten. Auch das Pentachronon wurde also dynamisch weitervermittelt. Die häufig bezeugten Überlieferungssymbiosen von Teilen der visionären Schriften Hildegards mit Texten vergleichbarer Autorinnen und Autoren des Mittelalters ([Pseudo]Methodius, Joachim von Fiore, Merlin, Iohannes de Rupescissa, Arnaldus de Villanova, Mechthild von Hackeborn, Elisabeth von Schönau, Birgitta von Schweden) dokumentieren zum einen das große Bedürfnis der Zeit nach Texten phrophetisch-visionären Charakters. Zum andern deuten sie auf einen Primat der Gattung Visionsliteratur vor den jeweils enthaltenen individuellen Visionstexten hin. Diesem Primat der Gattung hatte offenbar auch Hildegard Tribut zu zollen: es kam zur Überlieferung ihrer Schriften im Konvoi mit Schriften vergleichbarer Gestalten. Innerhalb der bekannten Überlieferungssymbiosen nimmt Hildegard gleichwohl eine durchaus prominente Stellung ein. Für alle Formen der Exzerptüberlieferung (Pentachronon und Original-Hildegard) gilt, daß Hildegards Texte im Kohabitat renommiertester Autorinnen und Autoren tradiert wurden. Das natur- und heilkundliche Werk ist für die frühe Zeit der Überlieferung (12./13. Jh.) lediglich in rudimentären Spuren greifbar. Hier gilt der grundsätzTexte der liche Befund Gundolf Keils: „[die; Ergänzung] heilkundliche[n] wurden nur Medium kaum wurden im Aevum punktuell ins gelesen, Heiligen Mittelhochdeutsche übersetzt und erlangten erst in der Postmoderne die heute übliche Beachtung Genau genommen läßt sich für die genannte Zeitkurzes Exzerpt aus dem Liber compositae medisehr nur ein einziges, spanne cinae ausfindig machen. Es erscheint in dem um 1220 entstandenen, in diesem Teil der Handschrift vom Schreiber des Lucca-Codex stammenden Berliner Codex Ms lat. qu. 674. Eine wirklich manifeste Überlieferung des natur- und heilkundlichen Werkes setzte erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts ein, dann jedoch in einer Weise, die vermutlich nicht mehr den von Hildegard etablierten Textstatus des Liber subtilitatum widerspiegelt. Zwar gibt es überzeugende ...

1

Keil 1998, S. 14.

Diskussionen

499

Indizien dafür, daß der um 1292 entstandene Florentiner Textzeuge des Liber medicinae (Florenz, Cod. laur. Ashb. 1323) den verschollenen Liber subtilitatum repräsentiert. Doch ist die Situation hinsichtlich des Liber compositae sehr viel verwickelter. Dieser Text stellt, insbesondere in seinen Büchern 3 und 4, eine Kontamination und Bearbeitung von Partien aus dem Liber Simplicis bzw. dem Liber subtilitatum dar. Er bildet damit eine sekundäre Kompilation, die in der vorliegenden Form nicht oder nur für den Nukleus von Buch 3 und 4 auf Hildegard zurückgeführt werden kann. Ursache seiner Entstehung war möglicherweise der anlaufende Heiligsprechungsprozeß sowie die daraus entstandenen Bestrebungen, Hildegards natur- und heilkundliches Werk aufzuwerten und an die gängige medizinische Fachliteratur der Zeit heranzuführen. Als Redaktoren des LCM kommen vor allem Theoderich von Echternach, Wibert von Gembloux und Gebeno von Eberbach in Frage. Bezeichnenderweise sind im Umfeld der angestrebten Kanonisierung eine ganze Reihe von Aktivitäten festzustellen, die sämtlich darauf hinausliefen, Hildegards memoria zu verlebendigen, ihre sanctitas zu erweisen und einen eigenen Hildegard-Kult zu begründen. Neben dem Pentachronon entstanden zu dieser Zeit die illuminierte Prachtausgabe des Liber divinorum operum (Lucca-Codex) und das berühmte Baseler Antependium, ein kunstvoll besticktes Altartuch, das Hildegard erstmals mit Nimbus zeigt. Daß diese Bemühungen von Erfolg gekrönt waren, beweist eine im Jahr 1284 in Trier-St. Matthias (Quirinuskapelle) erfolgte Hinterlegung von Hildegard-Reliquien oder ein um 1300 im Zisterzienserinnenkloster St. Thomas an der Kyll entstandenes Gebet zu Hildegard als Schützerin und Helferin (StB Trier, Hs 1149/451 8°). Hildegard erscheint in diesem frühesten Zeugnis einer liturgischen Verehrung gleichberechtigt neben den altchristlichen Märtyrerinnen im Kreis der von der Kirche verehrten Frauen und Jungfrauen. Auch die Brüsseler Handschrift 467 aus der Mitte des 13. Jahrhunderts mit einer farbigen Miniatur der nimbierten Hildegard (f. 64r) ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Der Grund für die stärkere Verbreitung des visionären Schrifttums im 12. und 13. Jahrhundert gegenüber dem naturkundlichen liegt vermutlich darin, daß zu dieser Zeit die Visionsschriften für eine Rezeption auch außerhalb des eigenen Klosters besser geeignet waren als die naturkundlichen Texte. Das naturund heilkundliche Werk diente in seiner starken Prägung durch die jahrhundertealte Tradition der monastischen Herbarien schwerpunktmäßig dem Bedarf in einem innerklösterlichen Kontext. Wie die Erhebungen zum Liber simplicis medicinae gezeigt haben, ist es keineswegs unwahrscheinlich, daß Hildegard erst ein Herbarium geschaffen und dieses dann allmählich durch zusätzliche Materialien zu einer Art Enzyklopädie der Naturkunde angereichert hat. Wie dem auch sei, die Überlieferung dieser Schriften im 14. und 15. Jahrhundert führte zu einer allmählichen Öffnung des Rezipientenkreises. Es entwickelte sich nunmehr eine Art forensischer, nicht auf den monastischen Bereich eingeschränkter Benutzung. Ein weiterer Grund für die spärliche Überlieferung des natur- und heilkundlichen Werkes im 12./13. Jahrhundert liegt darin, daß zu

simplicis

-

-

Synthese und Ausblick

500

dieser Zeit die Konkurrenz etablierter Autoren im Bereich der Heilkunde stärker war als im Bereich des Visionsschrifttums. Macer, Ortolf von Baierland und Marbod von Rennes müssen schwer zu schlagende Rivalen um die Gunst eines nach heilkundlichen Texten Ausschau haltenden Publikums gewesen sein. Im 15. Jahrhundert treten dann vor allem akademisch nicht ausgebildete Wundärzte in den Blick, die Hildegards heil- und naturkundliches Werk verwendeten. Es lieferte ihnen die Grundlage für die Herstellung therapeutischer Mittel. Eine akademische Verwendung von Hildegards heilkundlichem Werk innerhalb der neugegründeten Universitäten (Heidelberg) hat sich dagegen, ebenso wie eine akademische Rezeption von Hildegards theologischen Schriften, nur in rudimentären Spuren nachweisen lassen. Bezeichnend für den dennoch eintretenden Wirkungserfolg der natur- und heilkundlichen Schriften im 15. Jahrhundert ist die Tatsache, daß in dieser Zeit verschiedene deutschsprachige Teilübersetzungen des Liber simplicis medicinae entstanden. Ob diese Übersetzungen auf ältere, mittlerweile verschollene Vorstufen aus dem beginnenden 13. Jahrhundert (Speyerer Kräuterbuch) rekurrieren, bedarf weiterer Untersuchungen. Was den genuinen Anteil Hildegards an den natur- und heilkundlichen Schriften anbelangt, so muß, zumindest im Hinblick auf den Liber compositae medicinae, von einem dynamischen, textgenetisch variablen Überlieferungsprozeß ausgegangen werden. Die oben erwähnte Berliner Handschrift Ms lat. qu. 674 zeigt in ihrer Verbindung von authentisch naturkundlichem HildegardMaterial (LCM) mit Texten aus dem theologisch-anthropologischen Schriftenkreis, daß zwischen dem natur- und heilkundlichen Werk einerseits und dem visionären Schrifttum andererseits mancherlei Querverbindungen bestanden. Auch der Liber divinorum operum, die Explicatio Regulae S. Benedicti, die Vita Sancti Ruperti, die Briefe, die Lingua ignota und die Vita Hildegardis besitzen teilweise umfangreiche natur- bzw. heilkundliche Partien.

2.) Für die autornahe Überlieferung von Hildegards Schriften im

12. und frühen dem Kloster eine übervon daß Skriptorium Rupertsberg gilt, ragende Bedeutung zukommt. Hildegard befand sich ähnlich wie Bernhard von Clairvaux in der privilegierten Lage, eine eigene Schreibstube oder Kanzlei für die Verbreitung ihrer Werke nutzen zu können. Sie hat von diesem Privileg, das sie (zumindest in dieser Hinsicht) auf eine Stufe stellte mit hochrangigen geistlichen und weltlichen Würdenträgern, reichhaltig Gebrauch gemacht. Damit ist angedeutet, daß die Verbreitung ihrer Werke stark korporative Strukturen besitzt: ohne das Leistungsvermögen des Rupertsberger Skriptoriums wäre der Wirkungserfolg von Hildegards Schriften so nicht zustande gekommen. Zugleich kann dieses Faktum das Phänomen erklären, daß es im Bereich der Hildegard-Philologie nicht sinnvoll ist, mit dem Begriff des Archtetyps zu operieren. Da Hildegard ihre Texte auf Wachstafeln niederschrieb, existieren keinerlei Autographen ihrer Schriften. Zieht man die spezifische Produktionsweise des Rupertsberger Skriptoriums in Rechnung, so gewinnt dieser Sachverhalt eine historische Plausibi13. Jahrhundert

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Diskussionen

501

Rupertsberger Schreibstube kam es, bei aller Sorgfalt in der Texterstellung, von Anfang an mehr auf die Disponibilität von Hildegards Schriften an als auf eine textkritische Purifizierung der frühesten Textzeugen. Die Kopierarbeiten erfolgten daher nicht in hierarchischer Abhängigkeit von einem alles determinierenden Archetyp, sondern unter simultaner Verwendung mehrerer quasi-identischer Vorlagen. Die Anwendung konventioneller historisch-kritilität: Der

scher Editionsmethoden, wie sie von der Lachmann-Schule im Hinblick auf Texte der lateinischen Antike entwickelt wurde, muß hinsichtlich der Schriften Hildegards daher modifiziert werden. Sie ist in den Horizont einer prävalenten, explizit überlieferungsgeschichtlich akzentuierten Textphilologie zu stellen. Auch bei den frühest entstandenen Textzeugen von Hildegards Schriften ist das intentionale Moment einer auf den Wirkungserfolg der angefertigten Kopien hin ausgerichteten Herstellungsweise permanent miteinzubeziehen. Dieser Sachverhalt ist um so wichtiger, als es von Hildegards Texten keine greifbare mündliche sowie eine nur sehr rudimentär ausgeprägte, zudem nicht autornahe volkssprachliche Tradition gibt. Die frühe Uberlieferung war cum grano salis immer eine schriftliche, lateinische und autorgesteuerte, die über ein pulsierendes Hausskriptorium verlief. Sehr deutlich wird dieser Sachverhalt, wenn man das Schicksal der Rupertsberger Schreibstube nach dem Tode Hildegards betrachtet: mangels entsprechender Zeugnisse muß man davon ausgehen, daß das Skriptorium seinen Betrieb einstellte oder zumindest drastisch reduzierte. Erst gegen 1220/30 scheint die Tätigkeit der Rupertsberger Schreibstube wieder aufgeflammt zu sein, bezeichnenderweise aber wiederum im Zusammenhang mit Hildegard (Acta Canonisationis, Lucca-Codex ?). Der Anteil von Hildegards Sekretären insbesondere jener Volmars an der Herstellung ihrer Schriften ist in der Forschung immer wieder angesprochen worden. Eine adäquate Würdigung des Skriptoriums und seiner Bedeutung für die Verbreitung und Uberlieferung von Hildegards Werken steht dagegen noch aus. Insbesondere im Hinblick auf die Korrekturverfahren des Rupertsberger Skriptoriums könnte eine solche Untersuchung völlig neue Einblicke in die Textgenese und in die Verbreitung von Hildegards Schriften zutage fördern. Vor allem müßte eine solche, hier nur als Desiderat zu benennende Darstellung auf die näheren Umstände der Entstehung des Riesencodex eingehen. Uber die herausragende Bedeutung des Riesencodex im Sinne einer Ausgabe letzter Hand der Schriften Hildegards ist sich die Forschung grundsätzlich einig, auch wenn die Handschrift unter texteditorischen Gesichtspunkten nicht die ihr gebührende Beachtung gefunden hat. Die Herausgeber der historisch-kritischen Editionen haben in der Regel das Prinzip vertreten, den jeweils ältesten erhaltenen Textzeugen zur Grundlage einer Edition zu machen. Eine Entscheidung, durch die der Riesencodex als vergleichsweise junger Textzeuge an den Rand gedrängt wurde. Doch selbst wenn man davon ausgeht, daß ein Teil der Texte des Riesencodex erst nach Hildegards Tod geschrieben wurde, so steht doch fest, daß der weitaus größere Teil noch zu ihren Lebzeiten entstanden ist. Da dies auch für das stark stilisierte Epistolarium gilt, müssen wir von einer Initi-

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Synthese und Ausblick

502

dieser Stilisierungen durch Hildegard selbst ausgehen. Ob man hinter diesem Vorgang hagiographische oder gar autohagiographische Bemühungen erkennen muß, ist sehr in Frage zu stellen. Ich sehe hierin in erster Linie ein allgemein zeittypische Phänomen, das durch den Begriff der Autorvarianten zu umschreiben ist. Dieser Sachverhalt ist insofern von Bedeutung, als der Riesencodex während des gesamten Mittelalters und der frühen Neuzeit die zentrale Quelle von Textabschriften der Werke Hildegards war. Über Zwischenstufen wanderten diese Abschriften bis in die Hildegard-Ausgabe der Patrologia Patina hinein (Scivias, ein Teil des Epistolariums, die Solutiones triginta octo quaestiones, die Explicatio Reguale S. Benedicti und die Explanatio Symboli S. Athanasia). Fragt man nach dem Zeitpunkt für die Inangriffnahme des Riesencodex, so könnte der Brief Bernhards von Clairvaux an Hildegard in seiner stilisierten Fassung hierfür einen Anhaltspunkt gewähren: Bernhard von Clairvaux wurde am 18. Januar 1174 heiliggesprochen. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß die Briefsammlung des Riesencodex, die den Bernhard-Brief in seiner manipulierten, d. h. forciert hildegard-freundlichen Fassung enthält, nach diesem auch für die öffentliche Reputation Hildegards so entscheidenden Ereignis begonnen wurde. Der Riesencodex wäre zumindest in seiner Tendenzhaltung mithin nicht ein Projekt Volmars, sondern Wiberts. Die früher behauptete planmäßige und streng durchorganisierte Herstellung des Riesencodex läßt sich nach meinen Beobachtungen nicht mehr aufrechterhalten. Ich erblicke in dem über einen Zeitraum von wenigstens 10 bis 15 Jahren hinweg entstandenen Codex zugespitzt formuliert ein Rupertsberger Kanzleiprodukt.

ierung

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3.) Die frühe Überlieferung von Hildegards Schriften gewährt keine Hinweise darauf, ob Hildegard sich sofern man ihr überhaupt ein reflektiertes auktoriales Selbstbewußtsein unterstellen möchte als exklusiv monastische Autorin verstanden hat. Zwar sind sämtliche Abschriften von Texten Hildegards aus dem 12. und 13. Jahrhundert in Klöstern entstanden, und die meisten dieser Abschriften haben sich auch an Klöster, Klosterinsassen oder Kleriker als Adressaten gerichtet. Weltliche Abnehmer von Hildegards Schriften sind in dieser Zeit nicht zu ermitteln. Der Inhalt der Visionsschriften und die Entwicklung der Überlieferung sprechen jedoch gegen eine allzu enge monastische Zielbestimmung: angesprochen ist nicht der privilegierte Ordensinsasse, sondern der kreatürliche Mensch im Spannungsfeld von Gottebenbildlichkeit und Erlösungsbedürftigkeit. Hinzu kommt, daß sich der Rezipientenkreis von Hildegards Schriften an der Wende vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit nachhaltig geöffnet hat, gefördert durch Humanismus, Reformation und Buchdruck. Was die Klöster als Abnehmer der Werke Hildegards anbetrifft, so besaßen neben den Benediktinern vor allem die machtvoll aufstrebenden, straffer organisierten Zisterzienser ein besonderes Interesse am Werk Hildegards. Diese Affinität äußerte sich u. a. in der gelegentlich vermittelten Fama, Hildegard sei selbst Zisterzienserin gewesen. Im 15. Jahrhundert gesellten sich die Kartäuser diesem Kreise hinzu; auch sie rezipierten Hildegards Schriften in einer auffal-

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Diskussionen

503

lend intensiven Weise. Auf die Kartausen von Aggsbach, Mainz, Köln und Basel, in denen Texte Hildegards kopiert wurden, ist hingewiesen worden.

negative Form der Uberlieferung, die mengenmäßig fast gegen Null für die Litterae ignotae, die Lingua ignota und die Expositiones evanist geht, Die beiden erstgenannten Werke stellen anspruchsvolle, festzustellen. geliorum möglicherweise sprachtheologisch inspirierte Experimente, möglicherweise auch didaktisch ausgerichtete Klostertexte dar, die in Hildegards eigenem Konvent offensichtlich nie eine wirklich intensive Anwendung erfahren haben. Zumindest fehlen uns heute entsprechende Zeugnisse für eine solche Annahme. Vermutlich waren beide Texte so sehr an die subjektive Eigenart Hildegards gebunden, daß mit ihrem Tod eine weitere Verwendung nicht mehr zustande kam. Trotzdem ist auch die Lingua ignota ein in mehrfacher Hinsicht höchst bemerkenswerter Text. Zum einen kann diese Schrift als kühner Versuch betrachtet werden, eine synthetische Sprache nach dem Ideal der paradiesischen Ursprache zu rekonstruieren. Zum anderen stellt sie durch ihre Anknüpfung an das Summarium Heinrici die Verbindung Hildegards zum enzyklopädischen Schrifttum des frühen und hohen Mittelalters her. Durch die beigefügten ca. 750 deutschen Glossen ist die Lingua ignota schließlich eine bedeutende Quelle für die deutsche Sprachgeschichte und Sprachgeographie des 12. Jahrhunderts. Was die Expositiones evangeliorum anbetrifft, so handelt es sich hierbei um Auslegungen der Sonntagsperikopen, die wahrscheinlich für das eigene Kloster geschrieben wurden. Eine intensivere Beschäftigung mit diesem Text könnte neue Aufschlüsse über Hildegards exegetische Methode sowie über ihre Bedeutung für die Gestaltung der monastischen Liturgie erbringen. 4. ) Eine

5. ) Verfolgt man die Streuung von 15. Jahrhundert nach diachronischen

Hildegard-Handschriften im 13., 14. und Gesichtspunkten, so läßt sich für das 13. dem Jahrhundert (nach gescheiterten Kanonisationsversuch) eine drastische Reduktion in der Herstellung entsprechender Textzeugen feststellen. Diese Tendenz setzte sich im 14. Jahrhundert fort und intensivierte sich noch. Gemessen an der Quantität der entstandenen Textzeugen stellt das 14. Jahrhundert den Tiefpunkt der mittelalterlichen Hildegard-Rezeption dar. Im 15. Jahrhundert scheint es dagegen auf breiter Front zu einem neu erwachten Interesse an Hildegard gekommen zu sein. Zwar wird Hildegards Werk nunmehr vorrangig in Form von Textauszügen tradiert und übersetzt (Exzerptüberlieferung; Pentachronon). Doch ist Hildegard möglicherweise begünstigt durch die benediktinische Reformbewegung der Bursfelder Kongregation plötzlich wieder eine vielzitierte Quelle, wenn es um Fragen der kirchlichen Zucht und Ordnung geht. 6. ) Der in der zweiten Hälfte des 13. und im 14. Jahrhundert einsetzende Rückgang in der Herstellung von Abschriften der Werke Hildegards wird wirkungsgeschichtlich kompensiert durch die Präsenz Hildegards in einer Vielzahl maßgeblicher Chroniken, annalistischer Werke und apokalyptischer Texte der -

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Synthese und Ausblick

504

Zeit sowie in der Überlieferung des Pentachronon. Zu dieser Zeit ist der Ruf Hildegards soweit gefestigt, daß sie im Sinne einer geläufigen Autorität zitiert wird, die nicht mehr ausgiebig gelesen werden muß. Dabei ist es vor allem Hildegards Schreiben an den Klerus von Köln, das in einer (wenn auch stark funktionalisierten Weise) neu popularisiert wird. War dieses Schreiben noch zu Zeiten Gebenos als anti-häretischer Traktat betrachtet worden, der sich gegen die Katharer wandte, so avancierte er im späten 13. Jahrhundert zu einem leidenschaftlichen Protest gegen die vehement nach vorne drängenden Bettelorden. Die Wirkungsgeschichte des Kölner Briefes war zumindest in dieser inhaltlichen Umwidmung von gewaltiger Dynamik. Ein Grund hierfür liegt vermutlich in der Stellung Kölns als eines bedeutenden kirchlichen und weltlichen Machtzentrums. In England, aber auch im Pariser Universitätsstreit, war Hildegards Text eine der schärfsten Waffen im Kampf des Weltklerus gegen die neuen Orden (novi fratres). Die versifizierte Fassung des Kölner Briefes aus der -

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Feder des englischen Hofdichters Heinrich von Avranches bezeugt die Bedeutung dieses Textes, ebenso wie die ausgiebigen Bezugnahmen durch William Langland, auf eindrucksvolle Weise. Im südfranzösisch-spanischen Raum hat Hildegard vor allem über das Werk des Arnaldus de Villanova Spuren hinterlassen. Insbesondere die apokalyptischen Elemente ihrer Visionsschriften wurden hier rezipiert. Bis nach Madrid hat sich ein apokalyptischer Text [Pseudo-JHildegards, die Hildegardis et Merlini vaticinia cum commentariis Joachimi abbatis (Madrid, Königl. Bibl., Ms B 70) verbreitet. Im belgisch-niederländischen und nordfranzösischen Raum erscheint der Name Hildegards nicht selten innerhalb von Legendaren. Sowohl mit ihrer eigenen Vita als auch mit der Vita S. Ruperti (Hamburg, UB, Cod. theol. 1530 4°, mittelniederländisch) ist sie hier präsent.

7.) Die Inkunabelzeit hat Hildegards Werk vollständig ignoriert.

Es gibt keiHildegards. Die Editio princeps einer Faber Stapulensis zum Druck beförderte Scivias, kam 1513 in Paris heraus. 1524 erschien eine gedruckte deutschsprachige Übersetzung der Vita Ruperti, 1533 folgte der Liber simplicis medicinae [Physica], 1566 Teile des Epistolariums. Der Liber divinorum operum wurde erst 1761 (durch J. D. Mansi), der Liber vite meritorum sogar erst 1882 (durch J. B. Pitra) ediert. In der Zeit nach dem Konzil von Trient wurde Hildegard mit ihrem Epistolarium vor allem von orthodox katholischen Kreisen entdeckt, die ihre Briefe in die großen Textsammlungen patristischer und mittelalterlicher Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts hineinzogen. Dennoch war Hildegard in einer selektiven Beschränkung auf ihre scharfe Papst- und Kirchenkritik auch für lutherische Theologen, etwa den Magdeburger Centurionen Flacius Illyricus oder den Nürnberger Stadtprediger Andreas Oslander, von Interesse. Die hierin erkennbar werdende Stilisierung Hildegards zu einer überkonfessionell agierenden Reformtheologin, deren Visionen funktionalisiert und in völlig neue zeitgeschichtliche Kontexte transponiert werden konnten, hat ihre Wurzeln im

einzigen Wiegendruck Hildegard-Schrift, der von nen

mit Texten

Diskussionen

505

Umfeld des Konzils von Basel (1414/18). Der Baseler Konzilstheologe Heinrich Toke beruft sich in seinem Rapularius wiederholt auf Hildegard und liefert damit den Anknüpfungspunkt für entsprechende Äußerungen im 16. Jahrhundert. 8.) Die Wirkungsgeschichte Hildegards außerhalb der engen, an die Überlieferung der eigenen Texte gebundenen Form läßt sich vor allem im Umkreis der Mystik, der Ars-moriendi- Literatur und des pseudepigraphischen Schrifttums belegen. Was die Mystik anbetrifft, so haben u. a. Tauler, Hadewijch, Margarete Ebner und Heinrich von Nördlingen auf Hildegard zurückgegriffen. Entlegene Formen der Rezeption liefert ein in der Tradition des Jesuitentheaters stehendes Hildegard-Theaterstück aus dem 17. Jahrhundert sowie eine Hildegard-Anleihe des niederländischen Barocklyrikers Joost van den Vondel. Die Ars-moriendiLiteratur verwendet in einer aus dem Jahre 1441 datierenden Handschrift, die auch einen Textzeugen der Visio Tnugdali enthält (Salzburg, UB, Ms M I 476, T. 15), Äußerungen Hildegards bzw. Pseudo-Hildegards. Wirkungsgeschichtlich bedeutender sind verschiedene, zum Teil pseudepigraphische Drucke aus dem beginnenden 16. Jahrhundert. Sie konzentrieren sich, basierend auf Auszügen des Pentachronon, auf Hildegards visionäres Schrifttum, das in einer um Fragen der Echtheit unbesorgten Art und Weise für die eigenen Belange herbeizitiert wird. Interessanterweise sind es hierbei, soweit diese Schriften auf einen Verfassernamen zurückgeführt werden können, vor allem wiederum lutherische bzw. kirchenkritische Autoren, die Hildegard zitieren. Den bedeutendsten Beitrag zur Popularisierung Hildegards an der Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit leistete der gelehrte Benediktinerabt und Humanist Johannes Trithemius. Doch lassen auch seine Bemühungen um Hildegard die Frage offen, inwieweit Hildegards Werk über das Kopieren, Zitieren und das emphatische Bekenntnis hinaus eine tatsächliche Prägung im Denken und Schaffen der jeweiligen Rezipienten entfalten konnte.

LITERATURVERZEICHNIS SiGLEN

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BGPhMA BGPhThMA NF

Beiträge Beiträge

Geschichte der Philosophie im Mittelalter Geschichte der Philosophie und Theologie im Mittelalter. Neue Folge. Corpus Christianorum. Continuatio Mediaeualis Corpus Christianorum. Series Latina Fontes Christiani Monumenta Germaniae Historica Patrologiae latinae cursus completus,

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zur zur

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Jacques-Paul Migne

Patrologiae

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accurante

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Inquisitionis Acta inquisitionis S. Benedicti in

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completus,

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Verfasserlexikon,

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REGISTER Heilige Schrift Genesis 2 x8 256 2

20

266

Klagelieder 5 16

256

Ezechiel

Lukas I 387 16 1-9 248 19 5 424

843-4

Johannes 5 1-14

248

59-12

387

3 5

273

Römerbrief

1 4

272

Epheserbrief

Daniel

525-28

280

Hosea

4 8 229, 233 Matthäus

920-22

387

Markus

525-34

387

6 11-17 256 613 256

Offenbarung 1 11 1 19 21 2

93 93 256

582

Personen

Adelheid von Ottenstein 99, 446 Adelheid von Reiffenberg 60,102,474 Aelred von Rievaulx 200 Aethicus Ister 293 Agilon, Walter 310 Agrippa von Nettesheim 235, 388 Aich, Arnd von 237, 452

Aich, Johann von 237, 452 Aich, Ytgen von 234, 237 Alberich

von

Troisfontaines

127,

411

Albero von Montreuil 66-67, 147 Albert von Stade 406-408 359 Albertus de Saxonia Albertus Magnus 267, 292-293, 359, 366

Albicus

205

348 Albrant Albrecht I. (Dt. König) 312 Alexander (Abt der Abtei S. Matthias bei Trier) 311 Alexander III. (Papst) 38,156-157,182 Alexander IV. (Papst) 225 Alexander Minorita 408

Altmann, Ebeling Alvarez, Diego Ambrosius Ambrosius

453 107

Autpertus

Amerbach, Johann Anastasius IV.

294, 379

464

(Papst)

253, 257, 403,

164, 182, 186,

429

Andreae, Hieronymus Andrea, Lambert 109

446-449

Andreas von Karlstadt 365 Andreas von Zirkenbach 418 Anna Lerch von Dirmstein 60, 110 Anselm Casimir Wambolt von 110 Umstadt Anselm von Laon 247 Anselm von Marsisco 433 Anton

von

Apuleius

Aristoteles

Asclepius

Köln)

68,

379

Ashburnham, John

313

Athanasius Alexandrinus

243

Augustinus

Lippstadt

Aventin, Johann 442 Baillet, Louis 113, 173 Balderich

67

Baidung Grien,

Hans

206

290

292-293, 348, 353, 357, 450

365

Baluze, Etienne 127, 171-172 Baronius, Caesar 107, 170-171, 210, 403

Beda Venerabiiis 254, 276, 331 Beheim, Michel 337, 436-437, 457, 497 B ehern, Franz

375

Mailand

von

241

Arnold II. (Erzbischof von 74, 91 Arnoldus de Almelo 73 456 Arnoldus de Wion Arnoldus Saxos 332

22, 61, 92, 214, 238, 379, 381, 417, 425, 473

359

Albini, Johannes

Arnaldus de Villanova 355, 357, 412-414, 498, 504 Arnold (Erzbischof von Mainz) 91 Arnold (Scholaster des Mainzer Petersstiftes) 72, 406 Arnold I. (Erzbischof von Trier) 38,

192

Benedictus Crispus 290 Benedikt 121-123, 238 379 Bernardus Silvestris Bernhard von Clairvaux 18,24,41, 66-68, 70, 73, 86, 128, 135, 164-165, 177-178, 185, 190-191, 213, 225,

250, 283, 377, 414-416, 465-469, 472, 497, 500, 502

Bernhelm Berno

von

Berthold

von

Sponheim

Reichenau

von

466, 469 106

Henneberg

60, 102,

462, 474-475 Berthold Berthold Berthold

von von von

Nürnberg Regensburg

Zwiefalten

Bertram, Johann Bertulf 69, 74

474

415 212

258-259, 284

Personen

Bigne, Margarinus de la Binius, Severinus

Caspar Lerch von Dirmstein Cassiodor 276 Cave, Wilhelm 171 Ceci, Johannes 307, 356 Celtis, Konrad 445, 460

197

171

192 Birckmann d. Ä., Arnold Schweden von 400, 422, Birgitta

439, 441-442, 451, 498 Blackwell 228 Biaise de

Vigenère

255 456

Blanckwald, Johann Blanckwald, Justus 57, 191, 193-198, 200-201, 241, 244-245, 398

Blotius, Hugo 147 Boccaccio, Giovanni Bodenstein, Andreas

96 236

Boehmer, Johann Friedrich 418 Boemund von Trier (Erzbischof von

Trier)

Boethius

311 267

Boetzer, Anton Bogaert, James

107-110 330 Bogaert, Mary 330 225 Bonaventura 179 Bonifatius 98 Bonifatius VIII. (Papst) Bonifatius IX. (Papst) 431 Bonomus, Franz 445 Borromaeus, Karl 478 Bostius, Arnold 484 Boussard, Geoffroy 106 Br[a]unfels, Otto 365 Brant, Sebastian 450 Brechter, Friedrich 451 Bruno (Kustos und Priester von St.

Peter in

Straßburg)

Isenburg-Braunsberg 242 von Würzburg

Bucer, Martin

Busaeus, Johannes

Busch, Hermann Bzowski, Abraham Caesar

450 100 107

254

Calcidius

von

215,

379

Calenius, Gerwinus 191-193, Calmet, Augustin 170 Canisius, Petrus 193, 456

195

109

Christian I. von Buch 70 420 Christian von Mainz 179 Christine von Stommeln Cicero 254 228 Clemens III. (Papst) Clemens VI. (Papst) 418 Clemens VIII. (Papst) 330 170 Clemens XIII. (Papst)

106, 483

235

331

355

Cophon

Corver, Simon

444

Curvelus, Johannes

100-101

Cyrill von Konstantinopel Damoiseau, Augustin Daniel Daniel

von

Mainz

von

Prag

Dante, Alighieri

204-207, 478

Heisterbach 220-222, 408-409

Caesarius

254

Cholinus, Maternus Chouet, Jacob 455

Cölestin V. (Papst) 98 Colloredo, Fabio 170 Colonna, Giovanni 417 Columella 290 Constantinus Africanus 293, 310, 358, 366

149

365

Bugenhagen, Johann

Chlodio

Cocus, S.

72, 129, 158,

von

Chamonal, R. 111 Chaucer, Geoffrey 228 Chladenius, Fridericus 456

Clichtoveus, Jodocus Cochläus, Johannes

301-302, 406 Bruno Bruno

60

412, 442

113

194-195, 164, 186

198

20

Daremberg, Charles-Victor 366-367 David von Augsburg 24, 212 Decius

97

Dederoth, Johannes 152 Delisle, Leopold 313 Denis, Michael 61

179 von Andalo Diether von Isenburg 108, 462 Dietrich von Niem 20, 406, 423,

Diana

428-430

Dionysius Areopagita Dioskurides

290

105

Register

584

Disibod

Döring,

Friedrich Barbarossa

209-210

Matthias

Donatus

62,

358

Dürer, Albrecht

93, 324

Dunbar, William

228

Duns Scotus

414

200, 214 Ebendorf er, Thomas 421 Eberhard von Eberbach 69,74,85,112 Eberhard von Landshut 335, 348-351 147 Eberhard von Nellenburg Ebner, Margarete 424, 505 Eckard von Ders 19, 427-428 100

Ekbert von Schönau 97, 139, 200, 246 Elisabeth von Schönau 28, 59, 86, 96-97, 100, 104, 108, 131, 135-140, 148, 155, 202, 213, 246, 261, 422, 461, 488, 498 Elisabeth von St. Thomas an der Kyll 186

Eilenbog, Nikolaus 240 Engelbert von Berg 220-223 Engelhus, Dietrich 62, 151-153 Erasmus

von

Rotterdam

100-101,

235, 331, 353, 453

Etienne, Henri (= Heinrich Stephanus)

96, 99, 102, 104-105, 482 Eugen III. (Papst) 66-69, 71, 73, 113, 182, 201, 303, 403, 415, 435, 466469, 496 Faber Stapulensis 44, 57, 59, 71, 7778, 80, 86, 96-112, 114, 137, 170171, 194, 450, 482-483, 504 Fabritius, Heinrich 192

Falconberg, Eustachius Ferraioli, Filippo 333 Ferraioli, Joseph 333 Fitzralph, Richard 228 331 Flavius Josephus Fortis, Johannes 477 Franceschini 170 Franziskus von Assisi

Freher, Marquart Freidank

223

223

464-465

390

Friedberg, Peter Friedrich (Abt des berg) 100

70,

426

Froschauer, Johann

Durand, Ursin

Egidius

(Dt. Kaiser)

85, 116, 156, 213, 350 Friedrich der Schöne von Osterreich

152

87

Klosters

Johannis-

398

254 Gabriel de Collange Galenus 296, 310, 358-359, 367

Gamans, Johannes

206

Salernitanus Gebeno von Eberbach

Garipontus

359

17-27, 73-74, 76, 83, 86, 114, 127, 137, 148, 159, 185, 187, 190-191, 213-219, 239, 288, 299-301, 303, 381, 383-384, 389, 401, 405-406, 411, 413, 416, 421-422, 428-429, 454, 456, 459460, 463, 482, 491, 497, 499, 504 Gebwiller, Hieronymus 450-451, 497

Gedolphus (Abt von Brauweiler) 388-389

Geens, Antonius

487

Gennadius von Marseille 488 359 Gerardus de Solo Gerhard (Propst der Mainzer Dom-

kirche)

72

Gerard Groote 102 Gerhard von Borgo San Donnino 224-225

Gerhard Gerhard

von

Cremona

310

Hohenkirchen 307, 342, 358-360, 385 Gerhoh von Reichersberg 200, 242 462 Gerlach von Breitbach von

Germanus 122 Gernot von Gent 55 Gero (Gottfried) von Salem

71, 74, 84 Gertrud von Bingen 91 Gertrud von Gent 55 Gertrud von Hackeborn 97 106 Gertrud von Helfta 200 Gertrudis von Stahleck Gilbert von Poitiers 70, 242 359 Gilbertus Anglicus Gille, Paris 370 Gilles de Corbeil 358 Girardus de Pucelle 70, 402-404 Giselbert von Westminster 213

Goerres, Joseph

261, 376

Goethe, Johann Wolfgang von

13, 60

Personen

Gottfried (Abt der Abtei Trier-St.

Eucharius) 400 Gottfried (Sekretär Hildegards)

244

Gottfried von Clairvaux 177 Gottfried von Franken 334 Gottfried von Kempen 192 Gottfried von St. Disibod 41, 58, 158, 301, 466, 476, 496

Gower, John

338, 342 Graveson, J.-H.

307, 334,

337-

170

Gravius, Bartholomäus

Gregor der Große Gregor IX. (Papst) Grimm, Wilhelm

330

24, 439 72, 223 38, 264, 275-276,

294

Gropp, Ignaz

418

Guda

Specht von Bubenheim 462, 475 Gugler, Nicolaus 323-324 Guido von Arezzo 276 Guidobald von Thun 370

Guldenmund,

Hans

Gulielmus de Valle Gunther von Speyer

446-448 381, 384

164, 186, 283

Gutenberg, Johann 426 Gyselher von Salcza 418-419 Hadewijch von Antwerpen 21, 121, 178, 505

Hadrian IV. 403

Hämo

(Papst)

70, 156, 182,

York

223 Hartwig von Bremen 117 Hasel, Nicolaus 307, 356 Hatto (Abt des Klosters Reichenau) 98 Heinrich I. (Erzbischof von Mainz) 66-67, 467 Heinrich II. (König von England) 70 Heinrich III. (Dt. Kaiser) 310 Heinrich III. von Koblenz 311 Heinrich IV. (Dt. Kaiser) 310, 402, 471, 497 Heinrich der Taube 415-416 von

Heinrich

Avranches 23, 217, 222-224, 227, 251, 504 Heinrich von Bünau 445 Heinrich von Harclay 414 von

Heinrich Heinrich Heinrich Heinrich Heinrich

von

Herford

von

Huntingdon

416-417 214

Köln 312 Landshut 348, 350

von von

Langenstein

von

406, 427-428, 431, 433, Heinrich Heinrich

Molenark

von von

424, 457,

228-229

Gralapfp], Wilhelm

585

19-20, 24, 436 220

Nördlingen

121, 178,

505

Heinrich von Pölde 151 Heinrich von Veldeke 373 Heinricus Michahel 150

Helenger von Disibodenberg

185,

191, 208, 241

Heloise 178 Henry of Kirkstede 228 Henryson, Robert 228 Henschen, Gottfried 60, 90, 204 Herborn, Nikolaus (= Nikolaus Ferber, gen.

Stagefyr)

Heribertus

234-235, 452

465

Hermann von Himmerod 228 Hermann von Solms 311-312 Hermann von Stahleck 91 Hermann von Wied 235 Hermas 96-100, 104

Herodot

272

Herold, Johannes

Herrad

von

196

Hohenburg

23-24, 246,

275, 277, 450

Ä., Anton 197 Hieronymus 96, 294, 488 Hierat d.

Hilarion 293 Hildebrecht de Hosebach 471 Hiltrud von Sponheim 117,469 Hincmar von Reims 204

Hippokrates

296, 355, 358-359, 367

Hochstraten, Jacob

Honorius 227

235

Augustodunensis

73, 213,

Hrabanus Maurus 210, 254 von Gandersheim 488

Hrotsvita

Hugo von Lincoln Hugo von St. Victor

246, 271 Hutten, Ulrich

223

105, 238, 243,

365

Huzard, Jean-Baptiste Hyems, Rochus 331

313

Register

Illyricus, Flacius 455, 457,

Iohannes de

27, 153, 438, 453-

Rupescissa

415-416, 455, 498

231, 359,

Kilian

Isidor von Sevilla 275, 294, 357, 488 Ittig, Thomas 198

Jackson, John 169 Jacob van Maerlant 21, 437 Jacobus de Guisia 421 Jacobus de Voragine 354, 377, 473 Jakob von Bergamo 484 Jan van Boendale (Jan de Clerc) 437 Jessen, Carl 376 Joachim von Fiore 22, 225, 229, 231-233, 405, 412-417, 422, 426, 428, 433, 439, 442, 498 Joergmair, Ulrich 434

Johann I. (Erzbischof von Trier) 228 Johann VI. von der Leyen (Erzbischof 311 von Trier) Johann Geiler von Kayscrsberg 450 Johann Krumm (Curvello) von Euskirchen

101

Johann von Mertzenich 107 Johannes (Propst des Mainzer Petersstiftes) 406 Johannes Cassian 122 Johannes de Oxenedes 225 Johannes de Parma 355 Johannes de Sancto Amando 359 Johannes de Tubhingen 359 Johannes Longus de Ipra 416, 420 Johannes Scotus Eriugena 293 Johannes Tortsch 439 Johannes von Dalberg (Bischof von Worms)

460

Johannes von Paris,

gen.

413-414

Johannes von Rybeisen Johannes von Salisbury

Quidort 385

70-71, 74,

402-404

Johannes von Wallingford 409 Joost van den Vondel 232, 505 Jordan von Sachsen 179 Jutta von Sponheim 469, 487 Kaiser, Paul 374-376, 381, 386 Kantz, Gabriel 449 Karl IV. (Dt. Kaiser) 311,415

Karl der Große

254, 290, 437

Kaspar von Westhausen

504

25,

101

Westhausen 100-102 Kircher, Athanasius 254 Kloss, Georg Franz Burkhard 376 Knab, Erhard 307, 357-358 Knobloch d. Ä., Johann 364 Koebel, Jakob 203, 205-207, 445-446 Koelhoff d. J., Johann 399 Konrad (Abt des Klosters Kaisheim bei von

Donauwörth)

85

Konrad (Priester) 213 Konrad III. (Dt. König) 191, 429 Konrad von Ammenshausen 354 Konrad von Eichstätt 350-353 Konrad von Hersfcld 206 Konrad von Mainz 85 Konrad von Megenberg 342 Konrad von Würzburg 140

Kraut, Georg

Kuno

von

366

Disibodenberg

241,

Lachèze, Pierre 111 Lachmann, Karl 12 Lambert (Bischof von Maastricht)

Langland, William Latomus, Jacobus

466

475

23, 228, 504

331

Laurens, Bartholomäus

192

Leibniz, Gottfried Wilhelm Lengton, Stephen 223

454

Levold von Northof 420 Libri Carruci Dalla Sommaia,

Guglielmo

313

Lips, Martin Lipsius, Justus

331

Lioba

179

Lirer, Thomas Lotter, Michael

199 432 453

Ludwig III. von der Pfalz 385, 430432

Ludwig IV. 385 Ludwig VII. (König von Frankreich) 402

Ludwig IX. (1214-1270) 223 Ludwig der Bayer 426 Ludwig von Trier (Abt der Abtei Trier-St. Eucharius) 53, 95, 118,

157-158, 162-163, 202, 309, 400, 458

Lupus

von

Ferrière

178

587

Personen

Luther, Martin

212, 234-237, 365,

445, 448,

453 269

Lutwin

Macer, Aemilius 392, 500

293, 336, 368, 391-

Magnus von Reichersberg Mang, Christoph 109 Mang[in], Sara 109 Manitius, Max

412

Manriques, Angelus Mansi, Johann Dominikus von

Moretus

500

Marcus Antonius Marianus Scotus Marie de France

433 210 371

Marquad von Hattstein Martène, Edmond Martin Martin

von

Tours

von

Troppau

434-435

127, 165,

288, 292-293,

Rennes

332, 368,

Masius, Johannes

99-102

von

303, 362,

415-416, 427, 224, 303, 409-

Westminster

126,

390

376

(Dt. Kaiser)

254, 354,

460

Mayr, Johann Baptist

370

Mechthild von Hackeborn 96-97, 104-106, 498 Mechthild von Magdeburg 17, 24, 121, 212 Mechthild von Savoyen 430 Meginhard von Sponheim 466, 469

Meisterlin, Sigmund Melanchton, Philipp

416 453 Mennel, Jakobus 353-355 Mentelin, Johann 364 Menzelius, Willibald 192 Merlin 498

Mermin

[Merfyn Frych]

192,353

214

Neumeistcr, Johann

Nider, Johann

462

178

101, 104-105, 152,

454

Nikolaus

Nothaft,

Dinkelsbühl 377 324 Christian Conrad

von

Nopitsch,

Peter

474

Notker der Dichter 371 Octavianus Horatianus 366 91 Odalricus von Are Odilia, hl. 450 336-337 Odo von Meung-sur-Loire

Olevian, Kaspar

311

Oribasus 365, 367 Ortolf von Baierland

348, 368, 391,

Oslander, Andreas

322-326, 340,

500

21, 59, 435, 438,

446-450, 457, 504

Oswald von Wolkenstein Otakar 412 Otfried von Weißenburg

177

101, 254,

455

Ott, Hans 285

Merswin, Rulman 424 Methodius 398, 422, 425, 428, 451, 498

Michael de Leone

331 230 Moses Maimonides 305 Munich, Constantin 109 Münich, Johannes 109 Müntzer, Thomas 194 Munsinger, Henricus 359 Murner, Thomas 450

Morus, Thomas

Nicolaus Cusanus

88

Maugérard, Jean-Baptiste Maximilian I.

Morinck, Gerard

Nennius

158

410

Matthaeus

193

331

Nauclerus, Johannes

200, 214

Matthaeus Parisiensis

34, 57, 105, 108, 110-112, 115, 170, 173, 201204, 209, 214, 216, 241, 262, 329, 358, 360, 412, 482 Mnisovsky, Rafael Sobehrd 254 Molner, Ewaldus 27, 86, 167, 400, 481

171

Marbod

111

Migne, Jacques-Paul

Mombritius, Boninus

386

170-173, 398, 504

Michaud, M.

22,349,417-419

Ottheinrich

448

(Pfalzgraf)

355 Otto I. (Dt. Kaiser) 172 Otto IV. (Dt. Kaiser) 223 Otto von Mosbach 385 Otto von Passau 364

Register

588

Oudinus, Casimir

171

Ovid 294, 336, 414 293 Palladius Papebroch, Daniel 60, 90, 204

Parcus, Jacob

465 Peter 228 85 Paschalis III. (Papst) Pateshull, Peter 228 Paul von Geldern 215 Paulus Diaconus 371

Partridge,

Pecham, Johannes Pecock, Reginald Peter Abaelard von

228

70, 178, 242, 246, 267, 310

Wünningen

425 Petrarca, Francesco 417 Petreius, Nikolaus 375-376 Petrus Comestor 269 Petrus Hispanus 310, 357, 359 Petrus Lombardus 246, 267, 269 Petrus von Bingen 461 Petrus von Dacia 179 Petrus von Marca 172 Peutinger, Konrad 445 254 Pharamundus von

Philipp von Heinsberg

211-212, 216,

410

Philipp von Park 88, 186 Phillipps, Thomas 61, 384 Philostrates

Pierre d'Ailly 20 Pieter de Corte 330

Pitra, Johann Baptist

19, 61, 112119, 123, 128, 154-155, 173, 202, 204, 213, 238-239, 244247-249, 259, 262-263, 295, 398, 405, 504

Pius V. (Papst) 477 Platearius 310, 359

Plinius senior Priscian

415

290, 293

Praepositinus von

Cremona

222, 409

276

Quentel, Heinrich Quentel, Johann

Radulf (Villarenser Mönch) Raimon Lull 105 Rainald von Dassel 139

88

105

130

Reginbald von Rommersdorf

147

Reisch, Georg 364 Rembolt, Berthold

464 366

Rentz, Martinus

Reuchlin, Johann

353, 445

Reuss, Franz Ambros Reuss, Friedrich Anton

367

294, 322,

366-367, 485

Rhau, Georg Rhazes

310,

449 357

Rhenanus, Beatus 101-104, 450 Rheticus, Georg Joachim 324 Richard

(Erzbischof von

bury) 402 Richard II. (König 229

von

Canter-

England)

23,

Richard von St. Victor 105 Richardis von Stade 117, 458 Richerus Senonensis 216, 226, 302, Robert

367

Plattenberg, Johannes

290,

362, 389, 410 Ries, Wilhelm 312

Pi[r]stinger, Berthold (Bischof von Chiemsee) 441

117, 190, 245, 376,

Serenus Sammonicus

293

Regaus, Beda

226-227, 410

Viersen

Quintus

191 192

Raymundus, Jordanus

270

Peter Peter

Quentel, Peter Quentel, Sophia

191 191 -192, 398

von

Auxerre

von

Avignon

404, 407, 422,

459

Robert Robert

von

Uzès

98

96, 98

Rodd, Thomas (1796-1849) Rode, Johannes 152,377 Roger Bacon 359

169

Rorich

von Eppelborn 376 Rosweydus (Mönch der Abtei Trier-St.

Maximin) Roth, F.W.

210 E. 112,202,264 Rudolf (Pfalzgraf) 426 Rudolf I. von Habsburg 412 Ruff, Jacob 269 Rufus von Ephesus 367 Rulman, Merswin 178 Rupert von Deutz 246, 271, 431 Rupertus, hl. 110, 205, 476

Personen

Ruprecht I. (Dt. König) 358, 433 Ruysbrook, Johannes 102,105,193 Sachs,

Hans

446, 468

Schatzger, Kaspar 442 Schedel, Hartmann 399 Schmelzeis, Johann Philipp 112, 205,

19, 111-

262

Schobser, Johann

442

Schönsperger, Johann Schott, Andreas Schott, Johannis]

445, 449

198-199

294-295, 298, 362-366, 393, 398, 486

Schott, Martin 364 Schott, Peter 364 Schrammann, Burkhard 370 Schürer, Matthias 101 Seltz, Wilhelm 450, 497

Serarius, Nicolaus 59, 205-207 Seuse, Heinrich 178, 193

Sibylle von Lausanne

283, 387-388

Sichardus, Johannes

196

Siegfried II. von Eppstein 461 Sigbert von Gembloux 488 Sigismund (Dt. Kaiser) 337 Silber, Eucharius 440 Simon Magus 233 Sonnius, Michel

Sorg,

Anton

446 366

70, 201, 206, 210,

171, 192-195, 200, 206-207, 209-210 Taulerjohannes 73-74,193-195, 198, 423-424, 456-457, 505 von

228

Andernach

189, 203,

Tepl, Johannes

468 104

Theobald von Canterbury 403 Theoderich (Abt des Klosters St.

Eucharius)

20, 57-65, 87, 102, 127, 159, 165, 168, 171, 185, 194, 198, 203, 205-206, 209-210, 215, 240, 246-249, 254-255, 286, 304-305, 353, 388, 392, 429, 438, 456-491, 505 365 Trotula (bzw. Trota)

309

415

Hutten

von

100, 468

Straßburg 267 Utenbroeke, Philippe 21 Van Velthem, Lodewijch 21 Vergil 294 von

(Papst)

Vinzenz Vinzenz

von

156-157

355

Aggsbach

27

Beauvais

21, 62, 398399, 404, 407, 416-417, 421-422, 437, 459, 484, 488 von

Vitruv

293

Volgatius Pratensis

100, 102 38,40-41,49,51,53,63,117, 119, 144, 148, 157-158, 162, 185, 189-191, 208, 215, 241, 243, 253, 300, 458, 495, 501-502 Voss, Gerhard Jan 243 Volmar

271

Thanner, Johann

441, 445 330

Trithemius, Johannes

Vindicianus

330

Surius, Laurentius

Tenxwind

Ruard

Victor IV.

455

Taylor, William

Trapper,

105

403

Strijroy,

457, 505

Tortsch, Johannes

Ulrich Ulrich

Elias von 386 Arnaldi 359

Govaert

331

Thiofrid von Echternach 301 Thomas Becket 70, 223, 402-403 Thomas de Cobham 45 Thomas de Hibernia 232 Thomas von Aquin 225, 267, 359, 414 Thomas von Cantimpré 357 Thomas von Kempen 102, 377 Thorpe, Thomas 384 Tiraqeau, André 374 Toke, Heinrich 27, 152, 454-455,

(Erzbischof von Trier) 147 Uguetinus (= Wetinus) 96-98, 104-

Steinmeyer,

Stoer, Jacob

Thierry von Heeze (Hezius)

Udo

440

Stephanus Stilting, Johannes

Theoderich von Echternach 26, 35, 50, 124-125, 182, 300, 466, 476, 499 22 Theodorius Theodulf von Orleans 205

Truchseß, Dietrich

197

Spengler, Lazarus Spenlin, Johannes

589

Wächtelin

365

Register

590

Wächter, Max

384

Walafrid Strabo 247, 290, 293 Walther (Dekan des Mainzer Peters-

stiftes)

Walther

72 von

der

Vogelweide 227, 436

Watzelhahn, Edmund 90, 182, Weiditz, Hans 365 Werlin, Balthasar 464

470

Bacharach 432 Kirchheim 18, 22, 208, 219, 418, 429, 433-436, 440, 447-

Werner Werner

von von

448, 496-498

Weyer, Johann (Wierus)

Weyssenburger, Johann Wez[z]elin von Köln

387-388 441 38, 158, 162

von Gembloux 26, 40-41, 52, 71, 74, 88, 119-124, 129-130, 148, 154, 162, 185-186, 189-190, 201, 203, 244-245, 263, 281, 283, 299, 404, 458, 467, 471, 496, 499, 502

Wibert

Wiegand (Mönch

in Trier-St.

Matthias)

312

384 Wilhelm IL (Dt. Kaiser) 388 Wilhelm V. (Herzog von Jülich) Wilhelm Godellus 404, 407, 422, 459 105 Wilhelm von Auvergne 158-159 Wilhelm von Auxerre

Wilhelm Wilhelm Wilhelm Wilhelm Wilhelm

von

Conches

Isenburg 234-235, 452 Malmesbury 214 von Saint-Thierry 24 von

von

St. Amour

228, 231-232, Wilhelm

70

von

von

225-226,

251

Wolkenringen

312

Wimbledon, Thomas

228, 230 Wimpfeling, Jakob 450, 488 Winand von Steeg 24, 92, 430-432 Windecke, Eberhard 337, 342, 433437, 463, 497

Winghe, Everard van Winghe, Mary van Winghe, Nicolas van

330 330 330-331 Winterfeld, Paul von 386 Witschuh von Alsfeld 326, 357 Witzel d. Ä., Georg 59, 89, 192 Wolfgang von Bicken 474 Wolfger von Erla 227 Wolfram von Eschenbach 140, 367368, 370-373, 392 Wolter, Bernhard 108-110 Wyclifjohn 228-231 Wydonius 64, 312 Wyelius, Alardus 198-199 Zeninger, Konrad 399, 440

591

Handschriften

Angers

Bibliothèque Municipale 56

232

Antwerpen Museum Plantin-Moretus lat. 179 423 Augsburg

Universitätsbibliothek 307,328, 335,347,349,

111.12° 43 392

Bamberg

Staatsbibliothek Hist. 160 (E. VII. 18) 440 Lit. 151 (Ed. II. 4) 240 Basel

Universitätsbibliothek A. IV. 20 423 A. V. 23 203 E. I. 4 423 Berlin

Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz germ. f. 817 307, 328, 334, 343, 346, 392 lat. f. 738 375 lat. qu. 371 86 lat. qu. 674 12, 61, 118, 158, 165, 185, 188, 214, 252-253, 259, 263264, 272, 278-285, 288 299, 317, 374, 380, 387, 390, 392, 498, 500 lat. qu. 835 185, 203, 209 theol. lat. f. 699 40,185,188 theol. lat. f. 727 54, 129, 134-135, 143-146, 149-150, 161-162 theol. lat. qu. 371 77-79, 82-83, 86 Bern

Burgerbibliothek

71 347 227 347 252 347 373 347

430 525 527 556

347

26, 307, 342, 344-347 347 347

Bernkastel-Kues Bibliothek des St. Nikolaus-Hospitals 63 76-79, 81-82, 87, 167, 400 481 Bonn

Universitätsbibliothek 238, 240

S 455

Brugge

Stadsbiblioteek 129

240

Bruxelles

Bibliothèque Royale

467 411, 499 1342-1350 365 2551 303, 307, 323, 329, 331 3196-203 206 5387-96 120, 124, 186 5527-34 120, 124, 186, 244 8060-4 203, 209 9565-6 285 11568 76-77, 79, 81-82, 88 15624-41 340

Cambrai

Bibliothèque Municipale 811

28, 137

Cambridge

Corpus Christi College

107 288 404 521

215, 218, -229 213, 218 214, 228-229 439

Gonville and Caius 427 229, 232 St. John 's 27

College

214, 225-229

Trinity College

360

215

College

Register

592

University Library

Dd. XI. 78 Ii. VI. 11 ClTTÀ

del

224, 229 214,225-229

VATICANO

Bibliotbeca Apostolica Ferraioli 921 307, 323, 332 Pal. lat. 311 76-80,84,704,112113, 132, 142, 162 Pal. lat. 411 430 Pal. lat. 412 24, 92, 430-431 Pal. lat. 1083 357 Pal. lat. 1144 307, 355, 357 Pal. lat. 1207 307, 355, 358, 360, 1216 307, 355 1254 386 1257 423 13513 232

Darmstadt

Hessische Landes- und Hochschulbibliothek

157 516

229 232

Erfurt

Wissenschaftliche Allgemeinbibliothek

Ampi. Qu. 98 215 Ampi. Theol. 99 216 Erlangen

Universitätsbibliothek B 34

341

229

FlRENZE

Biblioteca Medicea Laurenziana Ashb. 1323 26, 64, 186, 263, 287, 291, 298-299, 307-308, 312-320,

328-329, 345, 355, 391, 499 253, 259, 279-282

Frankfurt

am

Main

Stadt- und Universitätsbibliothek Fragm. Lat. I 95 160, 169 Freiburg

Den Haag

Koninklike Bibliotheek Hs 71 H 45

341

Dendermonde

Biblioteek der Abdij St. Bieters en Paid 9 29, 43, 52-54, 63, 76-80, 86, 123, 128-131, 134-140, 142-149, 154155, 162, 256, 389 Dessau

Stadtbibliothek BB 3944

Chapter Library

3625

Plut. 22 dex. 4

397 360 533 215 947 214 2194 437 2292 437

152

Dijon

Bibliothèque Municipale 232

Douai

28, 137

im

Breisgau

Universitätsbibliothek 178 353 178a 307, 353, 356 178b 353-354

Fulda

Hessische Landesbibliothek B6a

77,79,81-82,86,407

Gent

Universiteitsbiblioteek 50, 55, 76-80, 83, 140, 142-145, 160-163, 165-169, 173-175, 260, 482

241

787 232 1457 340

giessen

Universitätsbibliothek 726

Bibliothèque Municipale 869

Trinity College

exeter

385

Pal. lat. Pal. lat. Pal. lat. vat. lat.

1020

Dublin

86

Göttingen

Stadtarchiv Urk. Nr. 643

151

Handschriften

593

Limburg

Hamburg

Staats- und Universitätsbibliothek Cod. 8 in scrinio 268 Cod. theol. 1530 4° 203, 504 Hannover

Niedersächsische Landesbibliothek XIII 859 56, 62, 77-80, 83, 129,

151, 400 Heidelberg

Universitätsbibliothek cpg 848

189

Sal. X, 16

71, 76-77, 79, 81-82, 84,

93-94

Diözesanbibliothek/Bistumsarchiv 525

209

London

British Library Add. 15102 58, 60, 168, 185, 203, 209, 215, 240, 246-247, 249, 254, 304, 401, 463, 480-481 Add. 15418 159-160, 168-169, 229, 401

Add. 17292 88, 186, 201 Add. 20034 203 Arundel 337 214, 228-229 Cotton Domitian A IX 217, 232

Universitätsbibliothek

Cotton Vespasian E.VII 229 Cotton Vitellius D. Ill 228-229

KK

Egerton

Ingolstadt

[RR?]

95

463

Innsbruck

229

Ferdinandeum 1950

177

Sign.

379

177

Royal

Karlsruhe

Generallandesarchiv

[Portland] 8 C VII

Lambeth Palace 357

481 340 228-229

240, 247-249, 401,

Loan

Universitätsbibliothek o.

821

Harleyl725 62,185,203,209,215,

232

29/332

Library

Lucca

385

Biblioteca Statale 1942 12-13, 54, 158, 160, 165-166,

Historisches Archiv

169, 172-173, 175, 278-279, 288, 299, 317, 378, 381, 384, 390, 392, 498, 501

43/79 Köln

GB 4° 214 GB4°214

137

86,215,423

Kongelike Bibliotek Ny kgl. 90b 2° 287, 295, 297-298,

304, 314, 317-318, 327, 374, 376, 378-380, 385-386, 390, 392-393, 486

(Tschechien) Schloßbibliothek

Kynzvart 40

186

Leipzig

Rep.

341 II 70 a

425

Lille

Bibliothèque Municipale

453

B 70

504

Mainz

Stadtarchiv II 70

87

Stadtbibliothek 1 330 I 525

77-80,82,86-87,106 307, 328, 343

München

Universitätsbibliothek 1224

Madrid

Biblioteca Nacional

Kopenhagen

28, 137

Bayerische Staatsbibliothek cgm415 cgm 523

349

434-435, 440,447,463,497 18, 76, 85-86, 137, 187,

clm324 213, 239 clm 935 94

Register

594

elm 2619 239,301,303 elm 2837 240 elm 13075 76,78-79,81-83,89 elm 14048 78 elm 22213 76,78-79,81-83 elm 22253 86,737,186

Hauptstaatsarchiv 67

3187

Universitätsbibliothek 2° Cod. ms 684 433-434, 447, 497 2° Cod. ms 731 22, 418 2° Cod. ms 684 463 Münster

Gymnasium Paulinum (olim)

23

126, 206

Ottobeuren

Benediktinerkloster O 45

Library

413

228-229 228-229 229 229 229

Hatton 56 215, 218, 229 Lat. misc. c. 75 232 Rawlinson C 411 232 Seidon 1659 217 Merton College 160 76-79, 82, 229

Trinity College 229

Bibliothèque de l'Arsenal 232

Bibliothèque Mazarine 1646

239

Bibliothèque nationale de France lat. 2592 lat. 2858 lat. 2873

86, 137, 186

V E 89 438 Universitetm Knihova 299 423 2377 423

Rennes

Bibliothèque Municipale 46

232

Salzburg

Universitätsbibliothek 425, 505

M I 476 M III 3

215 178 97

360

St. Gallen

Stiftsbibliothek Eins. 285

Paris 2054

7395 323-324 7417 323-324 7443 C 323-324 10016 303 10870 209 15661 232 Nouv. acq. lat. 760

Nationalmuseum

217 229

Canon. Pat. lat. 19

516

lat. lat. lat. lat. lat. lat.

Metropolitetm Kapitoly

217, 229, 232

Digby 32 Digby 98 Digby 186 Digby 357 Digby IX

317, 322-323, 325, 328, 333, 335, 345-346, 353-354, 358, 360, 363, 367, 385, 392

A XXI 92 D XII 423 F XII 423

Oxford 158 507 623

218

lat. 3322 18, 240 lat. 3631 97 lat. 3632 97 lat. 4126 214 lat. 4895 A 214 lat. 6952 25, 262, 298, 307, 313,

Prag

240

Bodleian

lat. 3319

94

Strassburg

Bibliothèque Nationale et

Univer-

sitaire

2101

73, 497

Stuttgart

Württembergiscbe Landesbibliothek Cod. theol. et phil. 4° 253 40, 94, 184, 188, 213, 255, 281-282, 388, 469

Handschriften Toulouse

Bibliothèque Municipale 493

232

Trier Bibliothek des Priesterseminars

55, 129, 131-132, 134, 140, 142-143, 147-149, 154, 162, 201, 209 Bistumsarchiv 439 Abt. 95, 8 Abt. 95, 39 240 Stadtbibliothek 68

662/835 8° 718/273 4° 722/277 4°

186 86

76-82, 86-87, 148, 160, 167-169, 185, 215, 400-401, 481 771/1350 8° 137, 186, 436

1124/2058 8° 276 1129/2054 152 1130/2055 152 1149/451 8° 499 1151/455 209 1259/586 8° 240 1928/1478 423 2397/2343 8° 186

40,180,185,188,213,243, 388 41, 148, 185, 188, 203, 208209, 213, 243, 256, 481 1016 129, 147-149, 154, 186, 201, 209, 253, 259, 282, 284-285

881 963

1134 281 2739 424-425 2777 177 2913 342 3702 240 4941 232 5305 326, 356 11413 423 lat. 624 186 lat. 624 50 487 s.n. 12694

Wiesbaden

Hessische Landesbibliothek

683

135, 160, 163-166, 174-175, 186

Tübingen Universitätsbibliothek Mc 141 18, 24 Uppsala

Universitetsbibliotek Slav. 60 254

142-143 2

Universiteitsbiblioteek 341

Weimar

Herzogin Anna Amodia Bibliothek Q 127 432, 447, 497 Wien

Österreichische Nationalbibliothek 628 721

7,11,34,36,39,43,47,53-56, 76-80, 84, 95, 103, 129, 134, 143, 149, 153, 158, 160, 163, 169, 174, 183, 185, 188, 195, 202-203, 208, 213, 239, 243-249, 252-253, 256, 259, 263-264, 282-285, 481-482

Staatsarchiv 23 II

90

Wolfenbüttel

Herzog August Bibliothek 56. 2. Aug. 4° 287, 306-309, 83. 2. Aug. 12° 338 125. 2. Extravag. 213 Heimst. 951

129, 134, 150

Würzburg

Utrecht 1328

13, 17, 76, 78-80, 84, 112, 114,

1

Troyes

Bibliothèque municipale

595

204

54, 61, 129, 153, 185, 204, 209, 216, 252-253, 259, 282

Staatsarchiv 6

418

Universitätsbibliothek M. ch. f. 131 428, 463 M. ch. f. 84 418 M. M. M. M.

ch. f. 138 428 ch. f. 151 418 p. misc. f. 6 418 p. th. q. 10 245, 418

320

ERUDIRI SAPIENTIA Studien

Im

zum

Mittelalter

und zu seiner

Rezeptionsgeschichte

Auftrag des Hugo von Sankt Viktor-Instituts Frankfurt am Main herausgegeben von Rainer Berndt SJ

Band I Petrus Canisius Sf (1521-1597). Humanist und Berndt. 500 Seiten. 2000.

Europäer, herausgegeben

von

Rainer

Band II

„Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst."

herausgegeben von Rainer Berndt.

Hildegard von Bingen (1098-1998),

696 Seiten. 2001.

Band III

„Scientia" und „disciplina". Wissenstheorie und Wissenschaftspraxis im 12. und 13. Jahrhundert, herausgegeben von Rainer Berndt, Matthias Lutz-Bachmann und Ralf M. W. Stammberger 294 Seiten. 2002.

zusammen

mit Alexander Fidora und Andreas Niederberger.

Band IV Michael Embach: Die Schriften Hildegards von Bingen Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. 600 Seiten. 2003. -

weitere Bände in

Vorbereitung