Enzyklopädien der Frühen Neuzeit: Beiträge zu ihrer Erforschung 9783110930603, 9783484107090


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German Pages 342 [344] Year 1995

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Table of contents :
Enzyklopädie und Philosophia perennis
Der Wandel der Enzyklopädie des Mittelalters vom Weltbuch zum Thesaurus sozial gebundenen Kulturwissens: am Beispiel der Artes mechanicae
Sekundäre Ordnungen des Wissens im Buch der Natur des Konrad von Megenberg
Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte am Beispiel des Faustbuchs von 1587
Die Cyclopaedia Paracelsica Christiana und ihr Herausgeber Samuel Siderocrates: Enzyklopädie als anti-humanistische Kampfschrift
Wissenschaftstheorie oder Metaphysik als Grundlage der Enzyklopädie?
Bibelenzyklopädien im Spannungsfeld von Konfession, Topik und Buchwesen
Willibald Kobolt: Die Groß= und Kleine Welt (1738)
Enzyklopädie der Welt und Verzettelung des Wissens: Aporien der Empirie bei Joachim Jungius
Unordnung als Methode: Pierre Bayles Platz in der Geschichte der Enzyklopädie
Imitation de la nature? Probleme der Darstellung in der Encyclopédie
Altes Handwerk und ökonomische Enzyklopädie: Zum Spannungsverhältnis zwischen handwerklicher Arbeit und „nützlicher“ Aufklärung
Aufklärerische Selbstreflexion in deutschen Enzyklopädien und Lexika zur Zeit der Spätaufklärung
Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel
„Enzyklopädie“ im Wörterbuch
Symposion „Enzyklopädien der Frühen Neuzeit“ (Wien, 21.–23. Oktober 1992). Ein Bericht. Aus der Ausschreibung: Problemkreise des Symposions
Protokoll der Diskussionen, verfaßt von RALF GEORG BOGNER und HERFRIED VÖGEL
Register zentraler Quellen zur Enzyklopädik
Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur
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Enzyklopädien der Frühen Neuzeit: Beiträge zu ihrer Erforschung
 9783110930603, 9783484107090

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Enzyklopädien der Frühen Neuzeit

Österreichische Akademie der Wissenschaften · Wien Akademie der Wissenschaften und der Literatur · Mainz

Enzyklopädien der Frühen Neuzeit Beiträge zu ihrer Erforschung

Herausgegeben von Franz M. Eybl, Wolfgang Harms, Hans-Henrik Krummacher und Werner Welzig

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995

Gedruckt mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur · Mainz, des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft · Essen und des Vereins der Freunde der Österreichischen Akademie der Wissenschaften · Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Enzyklopädien der frühen Neuzeit : Beiträge zu ihrer Erforschung / [Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien ; Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz]. Hrsg. von Franz M. Eybl... -Tübingen : Niemeyer, 1995 NE: Eybl, Franz M. [Hrsg.]; Österreichische Akademie der Wissenschaften (Wien)

ISBN 3-484-10709-X © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort

Enzyklopädien mannigfaltiger Art und unterschiedlichen Zuschnitts sind Zeugnisse des Wissens ihrer Zeit, seines Zuwachses und seiner Gewichtung sowie der Bemühungen um seine Ordnung und Vermittlung. Sie können damit auch Schlüssel zum Verständnis der jeweiligen Epoche und ihrer Texte sein. Da die mittelalterliche Enzyklopädik und die französische Encyclopedic d'Alemberts und Diderots bereits verstärktes Interesse gefunden haben, scheint es sinnvoll, Anstöße zur breiteren Erforschung auch der frühneuzeitlichen Enzyklopädik zu geben. Diesem Ziel gilt der vorliegende Band, dessen Beiträge ihren Schwerpunkt in der frühen Neuzeit haben, aber auch auf das Mittelalter zurückgreifen und bis ins 19. und 20. Jahrhundert blicken. Sie gehen zum größten Teil auf ein interdisziplinäres Symposion zurück, das die Herausgeber mit Hilfe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und deren Kommission für literarische Gebrauchsformen im Herbst 1992 in Wien veranstaltet haben. Zu weiterer Erforschung der Enzyklopädik anzuregen, ist auch der Zweck der den Beiträgen folgenden Zusammenstellung von Problemkreisen, die die Herausgeber in der Ausschreibung für das Symposion zu dessen Vorbereitung skizziert hatten. Ein zusammenfassender Bericht hält die Fragen fest, die in den Arbeitssitzungen des Symposions zu den Vorträgen und in einer Abschlußdiskussion erörtert wurden. Die im vorliegenden Band behandelten Enzyklopädien und sonstigen Quellen sind in einem Verzeichnis zusammengefaßt, das zugleich als Werkregister dient. Eine Bibliographie schließlich, die mit Hilfe der Beiträger zusammengestellt worden ist, enthält eine Auswahl aus der Forschungsliteratur zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Enzyklopädik. Die Kurztitel in den Fußnoten verweisen, sofern nicht auf das Erstzitat im jeweiligen Beitrag, auf diese Verzeichnisse. Die Herausgeber danken der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, dem Verein der Freunde der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft dafür, daß sie mit namhaften Beträgen, die auf unbürokratische Weise gewährt wurden, das Erscheinen dieses Bandes ermöglicht haben.

Inhaltsverzeichnis

WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN (Berlin) Enzyklopädie und Philosophia perennis

l

CHRISTEL MEIER (Wuppertal/Münster) Der Wandel der Enzyklopädie des Mittelalters vom Weltbuch zum Thesaurus sozial gebundenen Kulturwissens: am Beispiel der Artes mechanicae

19

HERFRIED VÖGEL (München) Sekundäre Ordnungen des Wissens im Buch der Natur des Konrad von Megenberg

43

UWE RUBERG (Mainz) Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte am Beispiel des Faustbuchs von 1587

64

STEFAN RHEIN (Breiten) Die Cyclopaedia Paracelsica Christiana und ihr Herausgeber Samuel Siderocrates: Enzyklopädie als anti-humanistische Kampfschrift . .

81

ULRICH G. LEINSLE (Regensburg) Wissenschaftstheorie oder Metaphysik als Grundlage der Enzyklopädie?

98

FRANZ M. EYBL (Wien) Bibelenzyklopädien im Spannungsfeld von Konfession, Topik und Buchwesen 120 DIETMAR PEIL (München) Willibald Kobolt: Die Groß= und Kleine Welt (1738)

141

CHRISTOPH MEINEL (Regensburg) Enzyklopädie der Welt und Verzettelung des Wissens: Aporien der Empirie bei Joachim Jungius 162

VIII

Inhaltsverzeichnis

SEBASTIAN NEUMEISTER (Berlin) Unordnung als Methode: Pierre Bayles Platz in der Geschichte der Enzyklopädie 188 CLAUDIA ALBERT (Berlin) Imitation de la nature? Probleme der Darstellung in der Encyclopedic 200 RAINER S. ELKAR (Siegen) Altes Handwerk und ökonomische Enzyklopädie: Zum Spannungsverhältnis zwischen handwerklicher Arbeit und „nützlicher" Aufklärung 215 WOLFGANG ALBRECHT (Weimar) Aufklärerische Selbstreflexion in deutschen Enzyklopädien und Lexika zur Zeit der Spätaufklärung 232 HANS-HENRIK KRUMMACHER (Mainz) Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel

255

WERNER WELZIG (Wien) „Enzyklopädie" im Wörterbuch

286

Symposion „Enzyklopädien der Frühen Neuzeit" (Wien, 21.-23. Oktober 1992). Ein Bericht Aus der Ausschreibung: Problemkreise des Symposions 295 Protokoll der Diskussionen, verfaßt von RALF GEORG BOGNER und HERFRIED VÖGEL 297 Register zentraler Quellen zur Enzyklopädik

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Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur

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WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN Enzyklopädie und Philosophia perennis

I. Was ist Philosophia perennist Philosophia perennis ist der Rahmen der Enzyklopädie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Sie ist die Fassung der Philosophie im monotheistischen Rahmen. Dieses Konzept hat seinen Namen im späten florentinischen Platonismus bekommen, bei Agostino Steucho, 15401 im gleichnamigen Buch; das Konzept dieser Philosophie bestimmt die Wissenschaft zwischen Spätantike und Aufklärung. Steucho beginnt seine Philosophia perennis mit einer Definition: Ut unum est omnium rerum principium, sie unam atque eandem de eo scientiam semper apud omnes fuisse ratio multarumque gentium ac litterarum monumenta testantur. Haec partim nata a prima hominum origine, per omnes aetates devoluta est ad posteros: Partim ex multiplici rerum consideratione parta, Philosophiae nomine semper Celebris fuit.2 Die erste Quelle, „a prima hominum origine",3 geht von Adam über die praenoachidische Weisheit bis zu Abraham, den Sibyllen, Homer und Plato. Das ist die Weisheit Gottes, die in ihrem Aufenthalt in der Welt eine Verfallsgeschichte in drei Phasen erlebt. Der Verfall wird durch Wissenschaft kompensiert: Sapientiam, sive Veritatem venientem ad homnines, vel offerentem se de celo, tribus gradibus esse progressam. In primis hominibus uberiorem, largam, & tradente Deo perfectam: postea crescentibus annis dissipatam, disiectam, eversam, magnisque temporum, atque hominum iniuriis affectam, ad posteros tanquam fabulam & somnium, vilem, laceramque pervenisse.4 So ist die ursprüngliche Kenntnis der Schöpfung der Welt, der Prinzipien des Chaos, des Wassers, der Tiere, der mens opifex, der Sintflut, der Riesen, des 1

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Augustinus Steuchus, De perenni philosophia, Lyon 1540, Neudr. London/New York 1972. - Vgl. dazu: Charles B. Schmitt, Perennial Philosophy: From Agostino Steucho to Leibniz, in: Journal of the History of Ideas 27, 1966, S. 505-532. Steucho, De perenni philosophia, cap. I, S. 1. Ebda. Ebda., cap. II, S. 6.

Wilhelm Schmidt-Biggemann Turms von Babel, der festen Beziehung von göttlichem und menschlichem Wissen den Menschen abhanden gekommen; sie haben diese geschichtlichen Wahrheiten für obskure Fabeln gehalten. Die Philosophie nun sei entstanden, weil die Menschen Geschichte als fabulös zurückgewiesen hätten. Wo die Geschichten verändert worden seien, sei die wahre Geschichte neu und anders erzählt worden. Aus der Veränderung der ursprünglich richtigen Weltgeschichte sei so die Mythologie geworden, so daß am Ende „veritas pro fabulis, obscura vel falsa, pro veris & certis haberi coeperunt." Diese Weltgeschichte der Weisheit hat die Dreiteilung der Philosophie zur Folge: Primum fuit illud totum, quod ab origine mundi, quasi per manus, & famam succedente fama, in multas gentes se diffudit, quod nisi violatum postea fuisset, magna rebus humanis ea lux extitisset. Alterum genus a Philosophie, naturas causasque rerum speculantibus habuit ortum, quod a primo quidem plurimum recessit, iudiciis humanis saepenumero labentibus, & quam quaerunt veritatem, non invenientibus. Tertia demum Philosophia illuxit, omnes claritate sui, prioris tenebras depellens, non uno se loco continens, sed radiis replens universa.5 Diese dritte erleuchtet zur Wahrheit und heilt von Irrtum; die Sapientia, „principium habentem a Deo, qui primo homini magnitudinem, divinitatem, arcanaque sublimia sua revelarit, & is in Deo filium ac genitorem esse didicerit: hinc claret fuisse profectum, quod omnes fere gentes aliqua monumenta de Patre ac Filio, & Spiritu, de Angelis bonis & malis, de creatione eorum, & mundi, recondita suis literis habuerint."6 Philosophia perennis setzt also die Geltung einer philosophischen Theologie voraus, sie geht von der Konvenienz von Philosophie und Theologie aus. Diese Konvenienzforderung hat zur Folge, daß Wissenschaft nur im Rahmen der Offenbarung sinnvoll betrieben werden kann. Damit ist die Philosophie, zumal die Metaphysik festgelegt auf den Rahmen der natürlichen Theologie und der heilsgeschichtlichen Ökonomie.7 Gilt Philosophie als die Grundlage und Grundlegung aller Wissenschaften, dann hat sie in ihrer Fassung als Philosophia perennis drei Essentials: 1. Monotheismus, 2. Schöpfungstheologie, 3. Heilsgeschichte.

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Ebda. Ebda. Zur ·& vgl. den Artikel „Ökonomie, Theol." von Ulrich Dierse in: Hist. Wb. der Philosophie, Bd. 6, Sp. 1154-1162.

Enzyklopädie und Philosophia perennis Diese Essentials sind untereinander verknüpft: Natürlich ist die Schöpfungstheologie ohne Monotheismus sinnlos, und die Ökonomie der Heilsgeschichte ist von der Vorstellung göttlicher Liebe und Gerechtigkeit abhängig. Entscheidend für dieses Wissenschaftsmodell ist, daß die Einheit von Monotheismus, Schöpfungstheologie und Heilsgeschichte als Fundamentum inconcussum aller Wissenschaft gilt. Historische Gegenposition zur Philosophia perennis ist eine Philosophie, die zwar nicht den Gottesbegriff, aber die Schöpfungslehre für bezweifelbar hält: Diese Gegenposition wird meist unter dem Namen des Averroes verhandelt und hängt mit der Einführung der aristotelischen Logik und Metaphysik in den mittelalterlichen philosophischen Kanon zusammen. Die Hauptmerkmale des Averroismus: 1. Die Frage nach der Geschaffenheit oder Ewigkeit der Welt läßt sich philosophisch streng nicht beantworten. Die Grundfrage der Analytik des Aristoteles: , was wird von was ausgesagt, läßt keine Antwort auf die Genese der Welt und ihrer Beschaffenheit finden. 2. Die Seele des Menschen ist dadurch, daß sie an theoretische Wahrheiten schlechterdings gebunden ist, nicht als individuelle Seele zu begreifen, sondern nur als Gattungsseele. Dadurch ist es fraglich, wie das jüngste Gericht, das Ende der Heilsgeschichte, im Bezug auf die individuelle Seele denkbar ist. 3. Im Verlauf der Durchsetzung der aristotelischen Philosophie kam im Streit um den Nominalismus die für die Philosophia perennis gefährlichste Variante ins Spiel: die Frage nach der Äquivozität von Sein. Wenn man von Gott nur äquivok reden konnte, dann gab es keine Möglichkeit mehr für die Wissenschaft von der göttlichen Offenbarung, für die Theologie. Das Ergebnis, auch das Ergebnis der Wirkungsgeschichte von Dionysius Areopagita, war, daß sich die Theologie in Frömmigkeit auflösen mußte.

II. Schöpfungstheologie und Enzyklopädie im Mittelalter Die Philosophia perennis ist durch Monotheismus, Schöpfungstheologie und Heilsgeschichte bestimmt. Die philosophische Ausformung der monotheistischen Theologie ist platonisch-neuplatonischen Ursprungs, fürs Mittelalter ist sie orientiert an einer Einheitsphilosophie plotinischer und proklischer Providenz. Dabei ist die Überlieferung von Plotin und Proklos in der Theologia Aristotelis8 und des 8

Die sogenannte Theologie des Aristoteles. Aus dem Arabischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. Fr. Dieterici, Leipzig 1883, Neudr. Hildesheim 1969 (Es

Wilhelm Schmidt-Biggemann Liber de Causis9 sozusagen der Rahmen, innerhalb dessen sich die Henologie - die Vorstellung des einen Gottes - fassen ließ. Das war die Bedingung der Zusammenstimmung von Theologie und Philosophie der drei großen theistischen Konfessionen Judentum, Christentum und Islam. Die christliche Philosophie hatte mit den Schriften des Ps.-Dionysius Areopagita weitere Stabilisierungen des Monotheismus zur Verfügung. In der Aufnahme der neuplatonischen Philosophie bei den Arabern und Christen überlagerten sich zwei Typen von Enzyklopädie: die philosophischtheologische Universalwissenschaft versucht, die Prädikate Gottes und die Schöpfung als Emanationseinheit zu begreifen. Ergebnis sind Sieben-TageWerke, Schöpfungs- und Weltentwürfe, Muster etwa Liber de Causis, Theologia Aristotelis, Secreta secretorum.10 Diese Art der Philosophie hatte ihre Analogie in den Weltentwürfen des christlichen Mittelalters, vor allem in Eriugenas Divisio naturae und ihren Folgen bei Hildegard von Bingen und Honorius Augustodinenesis.11 Daneben gibt es Enzyklopädien, die Gesamtdarstellungen von Disziplinen und Wissenschaften sind.12 Diese zweite, eher didaktisch disziplinäre Form der Enzyklopädie ist seit AI Farabis Zusammenstellung der Wissenschaften das Muster der arabischen Schulphilosophie geblieben, für Avicenna und AI Rhasali, noch für Averroes. Im christlichen Mittelalter ist das schönste Beispiel dieser Enzyklopädistik Hugo von St. Victors Didascalicon. Ich möchte hier nur über die an der Schöpfungstheologie orientierte Enzyklopädievorstellung handeln. Die Henologie des Neuplatonismus stabilisierte den Monotheismus, indem die Philosophie des Einen als die Bedingung jeden Seins begriffen

sind arabische Plotin-Exzerpte aus den Enneaden IV und V; vgl. Bd. II der Plotin-Ausgabe von Paul Henry und Hans Rudolf Schwyzer, Paris/Brüssel 1959. Die genaue Auflistung S. 495-497). 9 Otto Bardenhewer, Die pseudo-aristotelische Schrift über das reine Gute, bekannt unter dem Namen Liber de Causis, arabisch-lateinisch, Freiburg i. Br. 1882 (Es handelt sich um eine Kurzfassung der des Proklos.) 10 Ed. einer lateinischen Fassung der Secreta secretorum in: Hiltgart von Hürnheim, Mittelhochdeutsche Prosaübersetzung des secretum secretorum, hrsg. v. Reinhold Müller, Berlin 1963 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. LVI). 11 Christel Meier, Eriugena im Nonnenkloster. Überlegungen zum Verhältnis von Prophetentum und Werkgestalt in den figmenta phrophetica Hildegards von Bingen, in: Frühmittelalterliche Studien 19,1985, S. 466-497; dies., Virtus und operatic als Kernbegriffe einer Konzeption der Mystik bei Hildegard von Bingen, in: Grundfragen christlicher Mystik, hrsg. v. Margot Schmidt in Zus.-Arb. mit Dieter R. Bauer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 73-100; dazu der Sammelband: Eriugena redivivus. Zur Wirkungsgeschichte seines Denkens im Mittelalter und am Übergang zur Neuzeit, hrsg. v. W. Beierwaltes, Heidelberg 1987. 12 Vgl. Meier, Grundzüge.

Enzyklopädie und Philosophia perennis wurde. Gott ist das unprädizierbare Eine, das mit Überbietungsprädikaten gekennzeichnet ist. Aus ihm emanieren sein Selbstdenken und seine Schöpfung; das ist die ursprüngliche Trennung Gottes von seinen Hypostasen: Gott war der Grund allen Seins und Denkens, und die Schöpfung wurde nach demselben Muster der ursprünglichen Trennung Gottes von seiner Hypostase begriffen. So konnte die Schöpfung nur als Gedanke Gottes gefaßt werden, deshalb war die Schöpfung vernünftig. Wie genau hat man sich diesen Zusammenhang vorzustellen? Wenn die Schöpfung vernünftig war, dann mußte ihre Vernünftigkeit als Vernunft des Schöpfers ausweisbar sein; d.h. Gott mußte sich die Schöpfung gedacht haben, „ehe" sie wurde (das „ehe" ist modal gemeint, nicht zeitlich, denn Zeitlichkeit setzt die Existenz der Welt voraus.) Alle Dinge mußten deshalb im Gedanken Gottes ihr Urbild, ihren Archetypus haben. Dieser Archetypus der Schöpfung bei Gott war das Wesen der Dinge.13 1. Avicennas Enzyklopädie: Die Wissenschaft vom Möglichen und Notwendigen Avicenna ist - soweit ich sehe - der erste gewesen, der die Fragestellung von den möglichen Welten bei Gott auf die philosophische Pointe gebracht hat. Dasjenige, was sich Gott bei der Schöpfung der Dinge gedacht hatte, ist für ihn die Essenz, das Wesen der Dinge, das dann zur Existenz, zum Ding außerhalb des (göttlichen und menschlichen) Denkens geschaffen wurde. Der Terminus technicus: aus einem intramentalen wird ein extramentales Wesen. In dieser nachhaltigen Fassung des philosophischen Theorems „de ente et essentia" entsprachen die Gedanken Gottes „vor" der Schöpfung der Möglichkeit des Denkens überhaupt.14 Sie waren die Substanz des Intelligib13

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Das ist eine hyper-realistische Sichtweise der Universalien, aber realistisch/nominalistisch beinhaltet eine schiefe, weil erkenntnistheoretische und nicht theologische Sichtweise. Die Rede von Archetypen läßt sich nur schöpfungstheologisch resp. emanatistisch beschreiben. Vgl. besonders: Eriugena, De divisione naturae, PL 122, 550 B. Dort wird das „inanis " der Schöpfungsgeschichte als Ort der Archetypen beschrieben. Die Schöpfungsgeschichte geschieht in zwei Etappen: 1. Mundus intelligibilis = erster Tag; 2. Mundus sensibilis = Tage 2-6; 7. Tag: Ruhetag. Über esse und essentia: „Manifestum est igitur quod id quod enuntiatur de eo necesse est ut aliquo modo habeat esse in anima; enuntiationes enim, re vera, non sunt nisi per id quod habet esse in anima et, secundum accidens, sunt per id quod est in exterioribus. lam igitur intellexisti nunc qualiter differant et id quod intelligitur de esse et quod intelligitur de aliquid, quamvis haec duo sint comitantia." Avicenna, Liber de Philosophia Prima sive Scientia Divina IV, hrsg. v. S. van Riet, Leiden 1977, S. 39. Vgl. ebda., S. 40: „Dicemus igitur nunc quod quamvis ens, sicut scisti, non sit genus nee praedicatum aequaliter de his quae sub eo sunt, tarnen est intentio in qua conveniunt secundum prius et posterius; primum autem est quidditati quae est in substantia, deinde ei quod est post

Wilhelm Schmidt-Biggemann len, die darin bestand, daß sie sich durch die Intelligenz, die als selbstdenkende Sphäre konzipiert war, denken ließen. Diese Denkbarkeit hatte die Kriterien Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit; das Notwendige war dem Zufälligen = Möglichen entgegengesetzt und das Mögliche dem Unmöglichen. Notwendiges war wirklich dergestalt, daß es gedacht werden mußte, Mögliches war dadurch bestimmt, daß es gedacht werden konnte. Notwendiges war wirklich, und Mögliches konnte durch die vehementia essendi, die dynamische Notwendigkeit, wirklich werden. Es konnte aus der Sphäre der Intelligenz der Sphäre der Materialität aufgedrückt werden. Da aber nichts wirklich werden konnte ohne möglich zu sein, und da das Mögliche nur durch den ersten Grund aller Notwendigkeit, die notwendige vehementia essendi, wirklich wurde,15 war logisch klargestellt: Die Welt war aus den möglichen Gedanken Gottes, aus der Sphäre der Intelligenz, dergestalt enstanden, daß Seine Kraft die Essentien, die möglichen Denkinhalte des Intelligiblen, zur Existenz gebracht hatte. Diese logischen Erwägungen Avicennas waren die Grundlage für seine Enzyklopädie. Sie präzisierten den Rahmen, den die natürliche Theologie für alles zugelassene Wissen bildete. Der Rahmen allen möglichen Wissens bestand in den Gedanken Gottes, die zur Wirklichkeit kamen. Die äußere Realität war nur eine Entäußerung dieser Gedanken als Sphäre des Intelligiblen. Wissen der Dinge war dann das Wissen der intelligiblen Essenz der Dinge, sofern sie uns zugänglich war.16 Diese intelligible Essenz war die Sphäre des Seins, die oberhalb der Materialität lag, die Sphäre der Prägekräfte der Natur, die Sphäre, in der die geistige Natur durch Materialität noch nicht degeneriert war. Insofern hatte die Kenntnis der essentiellen Natur eine therapeutische Kraft für die materiale Natur. Sie enthielt nämlich

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ipsam. Postquam autem una intentio est ens secundum hoc quod assignavimus, sequuntur illud accidentalia quae ei sunt propria, sicut supra diximus." Vgl. dazu die doppelte Theologie des Möglichen bei Avicenna, Philosophie prima. Zunächst wird die zirkuläre Definition von Möglich beschrieben: Was weder unmöglich noch notwendig ist - das Mögliche ist „quod, cum consideratum fuerit per se, eius esse non est necessarium; et palam est etiam quod eius esse non est impossibile." (ebda., S. 43) - Dieses Mögliche wird durch die Vehementia essendi (- aristotel. Begriff der Notwendigkeit, An. Post. I, 2, 71b-72a) wirklich. Den Begriff „Kompossibilität" - und damit die Bindung an den Satz vom Widerspruch (Leibniz: „possibile est quod non implicat contradictionem"; Leibniz, Vorausedition, Reihe VI, Fasz. II, Nr. 103, S. 405) hat Avicenna offensichtlich noch nicht - jedenfalls kenne ich ihn bei ihm nicht. Das „quoad nos" der Possibilienlehre und die Vorstellung davon, daß Möglichkeit interne Widerspruchsfreiheit eines Dings sei - sofern es Essenz ist - hat dann später Duns Scotus besonders herausgestellt. Vgl. Scotus, Ordinatio I, dist. 2, p. 2, qu. 1-4; Editio Vaticana, Bd. 2, S. 282: „Possibile logicum est modus compositionis formatae ab intellectu cuius termini non includunt contradictionem, .... sed possibile reale est quod accipitur ab aliqua potentia in re sicut a potentia inhaerente alicui vel terminata ad illud sicut ad terminum."

Enzyklopädie und Philosophia perennis die ideale, die heile Natur, die nicht erkranken konnte und die das Gesundheitsmuster aller Natur war. Avicenna hat deshalb die Vorstellung gehabt, eine Enzyklopädie der Essentien sei zugleich medicina mentis et corporis. Seine Darstellung der Universalwissenschaft hieß Buch der Genesung (Sifa) und enthielt 18 Bücher in vier Hauptabteilungen: Logik, Physik, Mathematik und Metaphysik. Der Vorteil dieser Fassung der Wissenschaft als Lehre vom Möglichen: Theologie, Philosophie, Wort- und Realienwissenschaften wurden in eine Schöpfungs- und Emanationstheologie integriert, die selber logische Struktur hatte. Die Wissenschaften wurden so Gegenstand einer logisch strukturierten Enzyklopädie, die auf diese Weise Scientia de omni scibile werden konnte, die Wissenschaften vom Wesen der Natur. 2. Lullus: „Scientia de omni scibile" Es ließ sich der theologische Rahmen der Enzyklopädie im Christentum präziser fassen als im Islam. Der Grund dafür war eher kontingent. Mit Dionysius Areopagitas Lehre von den göttlichen Namen De Divinis Nominibus wurde die göttliche Prädikatenlehre Teil der philosophisch-theologischen Lehrtopoi. Das hatte Folgen für die Konzeption der Wissenschaft von allem Wißbaren. Schöpfung war theologisch nur als Schöpfung aus dem Nichts begreifbar. Sie mußte also Gott entstammen. Daraus wiederum mußte geschlossen weden, daß die Schöpfung dem Schöpfer ähnlich war; und tatsächlich galt biblisch für den Menschen, daß er nach dem Bilde und Gleichnis Gottes geschaffen war und Ihm ähnlich. Theologisch hieß „ähnlich", daß die Schöpfung zwar mit denselben Prädikaten wie Gott benannt werden konnte, daß sich diese Prädikate aber nur in abgeschwächter, kontingenter Form in der Welt wiederfanden. Das Denkmuster in modalen Kategorien: Das, was Gott in vollkommener Autarkie enthielt, fand sich kontingent in der Welt. In diesem Gedankenzusammenhang hat Raimundus Lullus seine Scientia de omni scibile gefaßt. Das war, wie immer diese Invention im einzelnen dargestellt wurde, eine bedeutende Erfindung. Denn sie präzisierte die Möglichkeit des Wißbaren überhaupt nicht nur formallogisch nach den beiden Begriffen des logisch und real Möglichen, wie bei Avicenna, sondern sie bestimmte die Prädikate Gottes im losen Anschluß an Dionysius Areopagita und vielleicht auch im Anschluß an verwandte neuplatonisch-kabbalistische Motive. Es war eine kategoriale Festlegung, die über die formale Bestimmung der Widerspruchsfreiheit hinausging, indem bestimmte, absolute, intuitiv gewisse Begriffe als eingeborene Kategorien gedacht werden mußten. Die Kombinatorik dieser ersten Begriffe, die von den Prädikaten Gottes ab-

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Wilhelm Schmidt-Biggemann

stammten, ermöglichte dann, alles menschenmögliche Wissen als abkömmlich aus den Prädikaten Gottes zu begreifen. Augustin hatte, vor allem in De Trinitate, die Vorstellung von eingeborenen göttlichen Ideen im Menschen dargestellt. Dionysius Areopagita hatte die Prädikate Gottes, die uns im Lobgebet bekannt waren, bestimmt, und Avicenna hatte die Kompossibilität der Gedanken im Intellekt definiert. Wie Augustin, Dionysius und Avicenna ging auch Lull davon aus, daß jedem Geist bestimmte Prädikate innewohnten, die als seine Definitionsmerkmale galten. Da jeder Geist vom Schöpfergeist stammte, waren diejenigen Begriffe, die wir notwendig denken mußten, die also Definitionsmerkmale unseres Geistes waren, irgendwie auch die Prädikate Gottes. Als solche Prädikate fanden sie sich in aller Schöpfung; sie waren also diejenigen Begriffe, die als Kategorien allen Wissens - sowohl des formalen Wissens seiner eigenen Ordnung als auch der Elemente dieser Formalität - die Elemente der Wissenschaft von allem Wißbaren sein mußten. Faßte man das Wissen als analog zur Schrift auf, dann waren diese Kategorien das „Alphabetum cogitationum humanarum". Ein solches Alphabet von 6x9 Begriffen hat Raimundus Lullus entworfen: I. Absolute Begriffe (göttliche Prädikate, Kategorialbegriffe der Moral): Bonitas, Magnitudo, Aeternitas, Potestas, Sapientia, Voluntas, Virtus, Vertitas, Gloria. II. Relative Begriffe (könnte man als logische Klasse beschreiben): Differentia, Concordantia, Contrarietas, Principium, Medium, Finis, Maioritas, Aequalitas, Minoritas. III. Quaestiones (modale und praepositionale Klasse): Utrum, Quid, de Quo, Quare, Quantum, Quäle, Quando, Ubi, Quomodo / cum Quo (hier klemmt es mit den Neunergruppen). IV. Subjecta (Substanzen der natürlichen Theologie): Deus, Angelus, Caelum, Homo, Imaginatio, Sensitiva, Vegetativa, Elementativa, Instrumentativa. V. Virtutes (Habitus praktischer Philosophie; die vier Kardinaltugenden, die vier göttlichen "Tugenden, dazu Geduld und Frömmigkeit): lustitia, Prudentia, Fortitudo, Temperantia, Fides, Spes, Charitas, Patientia, Pietas. VI. Vitia (das Gegenteil des Tugend-Habitus: die Laster), die sieben Todsünden, sowie Lüge und Wankelmut: Avaritia, Gula, Luxuria, Superbia, Acedia, Invidia, Ira, Mendacium, Inconstantia.17

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Am präzisesten dargestellt in der Ars brevis (1308) Op. 126, CC, Bd. 37, S. 172-263. Dieses Alphabet findet sich in vielen Schriften Lulls, es ist das Denkmuster seiner Philosophie.

Enzyklopädie und Philosophia perennis Diese Begriffe waren nicht einheitlich. Es gab Relationsbegriffe und grammatische Begriffe, die nur synkategorematisch galten, die vitia, die Laster, hatten einen eher negativen Bestand und waren im einzelnen zwar definierbar, aber nur im Schatten der Tugend sichtbar. So blieben als eigentliche Konstitutionskriterien der unsichtbaren und der sichtbaren Welt: 1. Die göttlichen Prädikate. 2. Die Substantiae. 3. Die Tugenden. Aus diesen Konstitutionsbegriffen der Wirklichkeit, so stellte sich Lullus vor, könne apriorisch alles mögliche Wissen kombiniert werden; mit der Darstellung der Kombinationsmöglichkeiten dieses „Alphabetum cogitationum humanarum" hätte er die Möglichkeit alles Wißbaren schlechterdings erschöpft. Das hätte vorausgesetzt, daß die Begriffe des Alphabets einfach und vollständig wären und daß sie untereinander kompossibel wären. Das ist unter der Bedingung denkbar, daß die Begriffe tatsächlich einfach sind: denn einfache Begriffe vom Charakter A/B/C können sich nicht widersprechen, weil sie keine gemeinsamen Elemente haben, die kontradiktorisch sind. Lulls Anspruch war, daß neben diesem Wissen kein anderes denkbar sei, der Anspruch war so radikal wie der Fichtes in seiner Wissenschaftslehre. Zwischen Avicenna und Lullus wurde das apriorische Modell vermessen, das Enzyklopädie als Philosophia perennis denkbar machte. Philosophia perennis war das philosophische Gerüst, das in seinem Grundmuster - Monotheismus, Schöpfungstheologie und Heilsgeschichte - allen Wissenschaftlern selbstverständlich war, so selbstverständlich, daß sie sich für ihre einzelne Sammelarbeit nur implizit darauf bezogen. Philosophia perennnis war das Hintergrundmodell aller Wissenschaftlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit. Aber Philosophia perennis war nur Modell und Gerüst, keineswegs die empirische Ausfüllung. Die Schöpfung zeigte in Natur und Geschichte die Einzelheiten und den Stoff der Universalwissenschaft. Dadurch, daß in der Philosophia perennis die Schöpfungstheorie betont wurde und nicht die Erlösungstheologie, konnte in der Schöpfung alles inveniert und gesammelt werden, was empirisch vorhanden war. Das war der Sinn von inventio und historia. Der schöpfungstheologische Rahmen der Philosophia perennis eröffnete eben die Möglichkeit, das Wissen der Heiden von Moral und Natur zu rezipieren. Die Kommentare des Calcidius zu Platons Timaios™ und des Macro-

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Platon, Tlmaeus. A Calcidio translatus commentarioque instructus. In societatem operis coniuncto P. J. Jensen ed. J. H. Waszink, London/Leiden 1962 (Plato latinus, Bd. IV).

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bius zum Somnium Scipionis19 zeigen, wie die Vorstellung der Schöpfungstheologie eben nicht ein Kuriositätsverbot für die heidnische Philosophie provozierte, sondern es allererst eröffnete. Diese Eröffnung wissenschaftlicher Empirie verband sich mit dem naturwissenschaftlichen Aristotelismus. Schon Avicenna hatte die aristotelischen Ergebnisse in den Rahmen seiner Schöpfungsmetaphysik integriert. Noch vor Raimund Lulls spekulativer Enzyklopädie hat sich Albertus Magnus - auch darin der lateinische Avicenna - daran gegeben, den neuplatonischen Liber de Causis als Schöpfungstheologie zu interpretierten und den gesamten aristotelischen Kurs in neuplatonische Schläuche umzugießen. In seiner Schule haben sich Philosophia perennis und empirische Naturphilosophie verbunden (Berthold von Mosburg, Dietrich von Freiberg).20

III. Die alte Welt der Renaissance: Enzyklopädie und Eschatologie Dominicus Gundissalinus hat seine Enzyklopädie - seine Bearbeitung von AI Farabis Enzyklopädie, des Lehrers von Avicenna - mit der Klage über das Altern der Welt begonnen,21 und in der Tat bildete das Verhältnis von Enzyklopädie und Heilsgeschichte stets ein Problem. Die Verzeitlichung der Schöpfungstheologie implizierte, daß jedes Ganze, nach Aristoteles' großem Wort, einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hatte. Diese Weisheit zeigte sich in der Phüosophia perennis: Es gab den Anfang der Schöpfung, in der Gott sich im Logos entäußerte. Es gab die Mitte, für die Christen war es der Erlöser, für die Mosleme der Prophet, und es gab das Ende, das jüngste Gericht. Dieser weltgeschichtliche Rahmen war der Rahmen der Heilsgeschichte und zugleich der Rahmen allen möglichen Wissens. Origines' enhält den christlichen Ausgangsgedanken einer einheitlichen Weltgeschichte, bei Eusebius' Praeparatio Evangelii und bei Augustins Civitas Dei wurde der Gedanke einer Weltgeschichte als Heilsgeschehen ausgebaut. Diese Vorstellung hatte zwei Auswirkungen: Einerseits 19 20 21

Ambrosii Theodosii Macrobii Commentarii in Somnium Scipionis, hrsg. v. J. Willis, Leipzig 1963. Vgl. Von Meister Dietrich zu Meister Eckhardt, hrsg. v. Kurt Flasch, Hamburg 1984. „Cum plures essent olim philosophi, inter omnes tarnen ille solus simpliciter sapiens dicebatur, qui omnium rerum scientiam certa cognitione comprehendisse credebatur. Nunc autem, mundo senescente, non dico sapiens, sed, quod minus est, philosophus nemo dici meretur; quia, qui sapientie studere velit, iam vix invenitur aliquis." Domingo Gundisalvo, De Scientiis, hrsg. v. Manuel Alonso Alonso, Madrid/Granada 1954, S. 55f,

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war es möglich, daß die Weisheit der Heiden integriert wurde, soweit sie der christlichen Offenbarung nicht widersprach. Was war diese sapientia priscal Diese Weisheit umfaßte alles Wissen in Metaphysik, Mathematik und Moral, das aus der Betrachtung der Natur nicht unmittelbar hervorging. Sapientia prisca war der durch die menschliche Vernunft faßbare Teil der göttlichen Offenbarung, den Gott allen Menschen als vernünftigen Lebewesen hatte zukommen lassen. Sapientia prisca war die geschichtliche Fassung der Philosophia perennis, die es ermöglichte, die Ergebnisse der theoretischen Wissenschaften sowie die ethischen und politischen Konzepte der nicht-christlichen Antike ins Schöpfungsweltbild des Monotheismus zu integrieren. Die Vorstellung der Philosophia prisca war, ebenso wie die natürliche Theologie, schon ein spätantikes apologetisches Konzept, das von den frühen christlichen Apologeten verwandt worden war22 und das das ganze Mittelalter hindurch galt. Es war die Bedingung für die Akzeptierung der sieben freien Künste (Martianus Capella), ermöglichte die Rezeption von Ciceros Rhetorik^3 es ermöglichte die Rolle, die die aristotelische praktische Philosophie im Mittelalter seit Albertus Magnus spielte. Das Konzept der Heilsgeschichte implizierte, daß das Ende der Geschichte in ihrem Beginn mitgedacht war. Aber für die Organisation des universalen Wissens scheint die Frage nach der Wiederkunft des Herrn und nach dem Gericht über Lebende und Tote erst im Anschluß an die Reformation wirklich wichtig geworden zu sein. Die Begründung für diesen Sachverhalt liegt darin, daß die Reformation und ihre Vorwehen - vergebliche Reformbemühungen, Pestängste und apokalyptische Bewegung, etwa bei Savonarola - die Theologie in ihrer Rolle als Leitwissenschaft verstärkten, so daß an der apokalyptisch gefärbten Theologie vorbei niemand argumentieren konnte. Mit der Reformation verband sich für die protestantischen Gebiete der deutlichste apokalyptische Schub. In den katholischen Ländern wirkte die Rechtsinstitution Kirche diesen endzeitlichen Unsicherheiten entgegen. Die Apokalyptik hatte Folgen für die innere Legitimation von Wissen überhaupt, denn sie stellte die Wissenschaft insgesamt und folglich auch die Enzyklopädie zur Disposition. Bei der Wiederkunft des Herrn, der im Jüngsten Gericht Lebende und Tote richtete, ging es ja nicht um das gelehrte Wissen der Menschen, sondern um ihr Seelenheil, um ihre Rechtfertigung. Das Konzept der Heilsgeschichte war schließlich mit einer an Gerechtigkeit ausgerichteten Geschichte gekop22 23

Justinus Martyr, Adhortatio ad Graecos; Clemens von Alexandrien, Stromateis; Eusebius, Praeparatio ad Evangelium. Vgl. Alexandre Clerval, Les ecoles de Charles au Moyen-Age, Paris 1895, Neudr. Genf 1977, chapitre III: Les etudes a Chartes au XI siede. Les Science profanes, S. 108-129.

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pelt; und für Gerechtigkeit brauchte man keine Wissenschaft, die über die biblische Offenbarung hinausging. Die Garantie der Möglichkeit einer Universalwissenschaft durch die Philosophia perennis war in Frage gestellt, und das um so dramatischer, als es doch angesichts der Naherwartung der Wiederkunft des Herrn im 16. Jahrhundert überhaupt keinen Sinn mehr zu haben schien, Wissenschaft zu betreiben. Sollte Wissenschaft trotzdem einen Sinn behalten, so war es nötig, daß ihre Legitimität neu präzisiert wurde. Dabei blieb die Philosophia perennis im protestantischen wie im katholischen Raum das Gerüst der Universalwissenschaft. Aber die Wissenschaft selbst und mit ihr die Universalwissenschaften wurden Momente einer nun eschatologisch pointierten Argumentation. Sobald in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Wissenschaft als Universalwissenschaft, nicht mehr nur als Theologie im protestantischen Bereich, wieder installiert wurde - und das geschah im lutherischen Raum durch Melanchthon, im calvinistischen Raum durch Ramus und seine Schule - war das theologische Argument für die Reinstallation von Universalwissenschaft: Die Wissenschaft trägt dazu bei, die Wiederkunft des Herrn zu beschleunigen, indem sie die Schöpfung so vollständig wie möglich katalogisiert und damit zeigt, daß das Wissen der Welt sich erschöpft und die Zeit sich erfüllt hat. Diese theologische Argumentation machte zwei bedeutende universalwissenschaftliche Projekte möglich und wurde durch sie gestützt: Einmal die Bewegung, möglichst vollständig alles menschliche Wissen topisch, nach dem Muster von inventio und dispositio zu verzeichnen. Die Begründung für diese Wissenschaft lag in der Schöpfungstheologie. Wenn Gott in die Schöpfung die Samen zur Erkenntnis der Dinge gelegt hatte, dann war der heilsgeschichtliche Zweck dann erfüllt, wenn die seminalia rerum,24 wenn die Signatur der Dinge, ihre Kräfte und Wirkungen vollständig erfaßt waren. Dann war der Fundus der Natur, den die Gelehrsamkeit nach dem Heilsplan Gottes auszuschöpfen hatte, dargestellt. Es wurde die historische Aufgabe der Gelehrten, den Fundus der Natur und der geschichtlichen Weisheiten zu erfassen, damit die Bedingungen für die Wiederkunft des Herrn erfüllt waren. Der Fleiß der frühen polyhistorischen Gelehrten hatte auch das Motiv, diesen Beitrag zur Heilsgeschichte zu leisten.25 Dieses Motiv treibt die Abfassung der ramistischen Enzyklopädien voran. 24 25

Zum Konzept der Seminalia rerum vgl. den Artikel „Logoi Spermatikoi" in: Hist. Wb. der Philosophie. Bd. 5, Sp. 501. und Leinkauf, Mundus combinatus, S. 92-110. „Ad Te clamat mundus senescens, ut qui illuminabas juventutem suam, ne despicias senectutem suam! sed jubilare facias ossa sua, et reviviscere ut aquilae juventutem suam, O Deus omnium populorum, da omnibus populis agnoscere vocem tubae tuae et ambulare in Lumine tuo" (Psal. 89,15.16). Comenius, Opera, Bd. 14, S. 368. Vgl. zum Zusam-

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Das zweite Moment: Die Wissenschaft sah sich in den apokalyptischen Endkampf zwischen Gog und Magog verwickelt, auch die Enzyklopädiker wollten ihren Beitrag zu diesem Kampf leisten durch eine umfassende Pädagogisierung der Welt. Die Verbesserung des Wissens und der Sitten war ein durchaus synergistisches Unternehmen, das den Sieg der protestantischen Religion herbeiführen sollte. Denn die Einheit der Religion, die man sich bei den Protestanten Ende des 16. Jahrhunderts nur als Sieg des Protestantismus vorstellen konnte, war die biblisch offenbarte Bedingung der Wiederkunft des Herrn. Dieser Sieg des Protestantismus sollte durch die Verkündigung des Evangeliums, die Offenlegung der Geheimnisse der Natur und die Verbesserung des Menschengeschlechts erreicht werden. Das war auch das Programm der rosenkreuzerischen Reform, wie sie der Kreis um Johann Valentin Andreae initiierte und von der er sich alsbald - zumindest teilweise distanzierte. Dieser Drang zu einer theologisch motivierten universalen Pädagogik war den protestantischen Enzyklopädien eigen, vor allem den calvinistischen und den Entwürfen der lutherischen „Reformorthodoxie". Er findet sich in Johann Thomas Freigius' Petri Rami Professio Regia von 1576,26 in Duplessis-Mornays Buch De Veritate Religionis Christianae21 das ebenso wie Johann Arndts Wahres Christentum28 den Rahmen der Philosopha perennis

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27

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menhang: G H. Turnbull, Hartlib, Dury and Comenius, London 1947, und Wolf Peter Klein, Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins, Berlin 1992, bes. S. 57-187. Johann Thomas Freigius, Petri Rami Professio Regia; Hoc est septem artes liberales, in Regia cathedra per ipsum Parisijs apodictico docendi genere propositae, & per Johannem Thomam Freigium in tabulas perpetuas, ceu quaedam, relatae: ac ad publicum omnium Rameae Philosophiae studiosorum editae, Basel 1576, S. 3: „Ramus philosophiam cum eloquentia ita coniugendam censuit, ut cum puerum septimo anno acceperit, anno decimoquinto aetatis perfectus philosophus sit, et iam aptus ad Rempublicam." Duplessis-Mornay, De la Verite de la religion chrestienne, contre les athees, epicuriens, pay ens, juifs, mahumetistes et autres infideles, zuerst Antwerpen 1581. Für die Apokalypse einschlägig: ders., Trakte de leglise, auquel sont disputes les principales questions, qui ont este muves sur ce poinct en notre temps. Zuerst Paris 1581. Widmung an Heinrich IV. von Navarra mit der Mahnung zur Standfestigkeit gegen den Antichristen: „Pour ce que Qui en peut rester, il fault prendre courage: car, Dieu qui vous a couronne, semble vouloir couronner cest oeuvre par vous, & tous ces effortz qufls semblent faire maintenant, ne sont que les convulsions, signes evidens & infallibles de la mort qui luy est prochaine" (Bl. A2V). - „II faut que L'Antechrist perisse, Qu'il soit desconfit par l'Esprit de la bouche de Christ, & aboly par la clarte de son advenement" (S. 230). Für diese Befreiung vom Antichristen wird Marsilius von Paduas politisches Konzept in Anspruch genommen, vgl. ebda., S. 224. Man kann sich das Entsetzen und die grenzenlose Enttäuschung Mornays, des „Hugenottenpapstes", vorstellen, als Heinrich IV. zum Katholizismus konvertierte. Zuerst Magdeburg 1610, danach zahllose Auflagen.

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betont, in Alsteds verschiedenen Enzyklopädien,29 in Ratichius' All-Unterweisung30 bis zu Comenius' großen Plänen der Weltverbesserung für die Beschleunigung der Wiederkunft des Herrn.31 Eschatologie war auch die Bedingung für Robert Fludds Versuch, die Geschichte beider Cosmi zusammenzustellen,32 damit der Kampf zwischen Gut und Böse endlich durch die Wiederkunft des Herrn beendet werden konnte. Alle haben sie um die Wiederkunft des Herrn gebetet: Robert Fludd hat seine Enzyklopädie an die apokalyptischen Reformvorstellungen der Rosenkreuzer geknüpft,33 Alsted hat selbst einen Apokalypse-Kommentar geschrieben,34 Comenius hat die Visionen von Apokalyptikern gesammelt35 und in seinen Clamores Eliae verzweifelt die Wiederkunft des Herrn erbeten. Die Welt sei alt, die Menschheit und die Zeit seinen reif, das Wissen sei gesammelt, die Gelehrten hätten ihre Aufgabe erfüllt. Et annon videmus Omnia in tales jam evidenter sese disponere eventus? Annon infinita particularia ex aurifodinis Dei, Naturae, Scripturae, Ratiocinüqve humani, ignorata prioribus seculis, in lucem proferuntur in dies? Annon reliqvorum desiderium in hominum animis exardescit magis magisqve? Tantus apparatus ad qvid erit Coelesti Salomonis, si Operariorum suorum particulariter elaborate non in unam tandem absolutam structuram componi jusserit? Et compositions hujus formam annon ostendere credi debet, qvi täm infallibile omnium malorum remedium (Universalitatis, Simplicitatis, Spontaneitatisqve viam) ostendere incipit? Cui bono talia revelaret, si mori Nos et Mundum in tenebris nostris vellet?36

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Zum Zusammenhang vgl. die Alsted-Bibliographie von Jörg Jungmaier im und mein Vorwort zum Neudruck der Encyclopaedia. 30 Ratke, Allunterweisung. 31 Comenius, Consultatio. Vgl. dazu Schmidt-Biggemann, Enzyklopädie, Eschatologie und Ökumene. 32 Robert Fludd, Utriusque Cosmi, maioris scilicet et minoris, metaphysica, physica atque technica historia, Oppenheim/Frankfurt/M. 1617-21. 33 Robert Fludd, Tractatus apologeticus integritatem Societatis de Rosea Cruce defendens, Leiden 1617. 34 Johann Heinrich Alsted, Diatribe de mille Annis Apocalypticis, non illis Chiliastarum & Phantastarum, sed BB. Danielis & Johannis, Frankfurt/M. 1627, 21630; dt. Übersetzung Diatribe de mille Annis Apocalypticis. Christlicher vnd wolgegründeter Bericht Von Der künfftigen Tausendjährigen Glückseligkeit der Kirchen GOttes auff dieser Erden/ ... An jetzo aber vmb gemeiner erbawung willen der Christlichen Kirchen trewlich Verdeutschet Durch Sebastianum Francum Schleusingens, o.O., o.Dr. 1630. - Vgl. SchmidtBiggemann, Apokalyptische Universalwissenschaft. 35 Johann Amos Comenius (Hrsg.), Lux e Tenebris Hoc est Prophetiae Donum quo Deus Ecclesiam Evangelicam (:in Regno Bohemiae & incorporates Provinciis:) sub tempus horendae ejus pro Evangelio persequutionis, extremaeque dissipationis, ornare, ac paterne solari, dignatus est, Amsterdam 1657. 36 Comenius, Consultatio, Opera, Bd. 2, Sp. 392.

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IV. Das Ende der Enzyklopädie im theologischen Rahmen: Von Comenius bis Diderot Der Dreißigjährige Krieg und die englische Restauration beendeten die Vorreiterrolle der Theologie, die die Reformation initiiert hatte. Die Theologie verlor ihre wissenschaftspolitische Spitzenstellung wegen der Unlösbarkeit der Konfessionsstreitigkeiten und den vergeblichen apokalyptischen Erwartungen. Mit dem Verlust der eschatologischen Glaubwürdigkeit war auch die apokalyptische Abzweckung der Wissenschaft obsolet geworden. Der Verlust der Spitzenstellung betraf nicht nur die apokalyptischen Enzyklopädisten; wegen der desaströsen Rolle der politischen Theologie im Dreißigjährigen Krieg betraf er die Spitzenstellung der Theologie insgesamt. So diskreditierte der Glaubwürdigkeitsverlust der Theologie auch die katholischen Entwürfe einer Universalwissenschaft, die sich nie unter den Druck der Apokalypse hatten stellen lassen: vor allem Patrizzi sowie Athanasius Kircher und seine Schule. Aber zugleich zeigte sich, daß die Sammlung von wissenschaftlichen Kenntnissen, die unter apokalyptischem Druck vermehrt worden war wie kaum vorher, ein eigenständiges Schwergewicht bekam. Nicht mehr der theologische Zweck der Dinge, sondern deren selbständige Kenntnis wird jetzt wichtig. Die Universalwissenschaft überlebt als Institution, obwohl ihre theologische und eschatologische Legitimation verloren gegangen ist. Wo Wissenschaft keinen Zweck außerhalb ihrer hat, wird sie - wenn sie denn überlebt - notwendig Selbstzweck. So ging es nun auch den Enzyklopädien: Die Ansammlung enzyklopädischer Kenntnisse bekam mehr und mehr polyhistorischen Selbstzweck. Mit ihr wurde die Gelehrsamkeit selbst zur Institution, die sich keinem fremden Legitimitätsdruck mehr zu beugen hatte. Das hatte vor allem das Aufblühen der universitären Einzelwissenschaften in den Philologien und in der Geschichte zur Folge. Die einzelnen philologisch-historischen Wissenschaften entwickelten ihre eigene Litterärkunde und organisierten ihre eigene Wissenschaftlichkeit nach topischem Muster. Die Wissenschaften standen nicht mehr unter theologischem Legitimationsdruck, es waren jetzt auch diejenigen Wissenschaftler, die schon vorher sich den Fragen nach den theologischen Bedingungen ihres Handelns entzogen hatten wie etwa Francis Bacon - neu akkreditiert. Und für die Emanzipation der Einzelwissenschaften war es bezeichnend, daß sich der Kopernikanismus erst jetzt allgemein durchzusetzen begann. Das Aufblühen der Einzelwissenschaften hatte freilich, wie alles, seinen Preis. Es zeigte sich nämlich, daß mit der Zunahme des Wissens in den Einzelwissenschaften die Verwaltung des Wissensstoffes nach topisch-ramistischen Mustern nicht gewährleistet werden konnte. Die Sachordnung der wissenschaftlichen Stoffe war innerlich nicht mehr zu begründen.

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Mit der Entlassung der Einzelwissenschaften aus dem Rahmen einer theologisch-philosophischen Leitwissenschaft war auch die Vorstellung von der Einheit des Wissens nicht mehr haltbar; ohne das theologische Konzept der Einheitswissenschaft, ohne Philosophia perennis konnte auch im genauen Sinne keine Ganzheit des Wissens behauptet werden. Das Konzept Avicennas, die Fülle der Gedanken Gottes als die Einheit der Schöpfung und damit als Denkbedingung der Enzyklopädie zu begreifen, konnte dann, wenn Theologie nicht mehr Leitwissenschaft, sondern eine Wissenschaft unter vielen war, nicht mehr als theologische Raison d'etre der Universalwissenschaft begriffen werden. Beides zusammen führte dazu, daß die Universalwissenschaften sich nicht mehr an Sachzusammenhängen eines übersichtlichen Sachgebietes topisch organisierten, sondern alphabetisch. Die berühmtesten Beispiele sind hier Ephraim Chambers Cyclopaedia und Johann Heinrich Zedlers Universal Lexikon, später die Encyclopedic von Diderot und d'Alembert. Das Auseinanderbersten der alten topischen Enzyklopädien hatte Symptomcharakter. Es war Symptom für die gesteigerte Wichtigkeit der Einzelwissenschaften, für den Verlust der theologisch legitimierten Einheitswissenschaft und für die neue Fassung von Wissen. Ephraim Chambers, Verfasser der berühmten englischen Cyclopaedia, hat - wohl im Anschluß an Lockes Konzept „of general terms"37 - argumentiert, daß alle Ideen Individuen seien, die vielfältig geordnet werden könnten. Deshalb sei es am zweckmäßigsten für die Invention, Begriffe alphabetisch in einem Wörterbuch zu präsentieren, jedoch Dispositionsschemata der einzelnen Disziplinen mitzuliefern.38 Zwar war am Beginn der Aufklärung, als Chambers Cyclopaedia und Zedlers Universal Lexikon konzipiert wurden, die Philosophia perennis als Hintergrundsvorstellung von Wissenschaft noch in Kraft. Aber sie war für die neuen, eben alphabetisch-zufälligen Wissensordnungen nicht mehr ordnungsbestimmend. Mit der Selbständigkeit der Einzelbegriffe', mit ihrer Entlassung aus dem Ganzen einer Universalwissenschaft wurden die Wissenschaften und ihre Begriffe vielfach disponibel, sie hatten nicht mehr ihren „richtigen", d.h. von der Schöpfungs- und Heilsordnung vorhergesehenen Platz. Es gab deshalb auch keine theologisch-philosophische Gewähr mehr dafür, daß alle Felder des Wissens vollständig ausgefüllt würden, daß der wissenschaftliche Gesamtplan, der Auftrag der Universalgelehrten, ge- und erfüllt werde. Am Konzept von Chambers Cyclopaedia wurde das sichtbar, und es entsprach durchaus der Vorgehensweise von Zedlers Universal Lexi37 38

Essay on human understanding, III, HI, 13. Chambers, Cyclopaedia, zit. Ausg. London 1750, Preface, S. II, 1. Vgl. Schmidt-Biggemann, Diderots Encyclopedie-Konzept, bes. S. 121.

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kon, das eklektisch, praxisorientiert und metaphysikfern aus Einzellexika kompiliert und von verschiedenen Fachleuten je einzeln disponiert wurde. Der Anspruch war, möglichst viel zusammenzubringen, ohne jedoch einen theologisch-metaphysischen Vollständigkeitsanspruch zu vertreten, wie das Fludd, Alsted oder Comenius getan hatten. In Chambers Doppeldeutigkeit der Emanzipation der Einzelheiten und der vielfältigen Disposition hat auch d'Alembert sein Enzyklopädie-Konzept plaziert. Im Discours preliminaire de l'Encyclopedie schreibt er: L'ouvrage que nous commengons (et que nous desitons de finir) a deux objets: comme encyclopedic, il doit exposer, autant qu'il est possible, l'ordre et l'enchainement des connaissances humaines: comme dictionnaire raisonne des sciences, des arts & des metiers, il doit contenir sur chaque science & sur chaque art, soil liberal, soil mecanique, des principes generaux qui en sont la base, et les details les plus essentiels, qui en font le corps et la substance.39 Diderot - radikaler und deshalb scharfsichtiger - hat die theologisch-metaphysischen Bedingungen der begrifflich durchdachten Universalwissenschaft gesehen und deshalb für sein Konzept der Encyclopedic abgelehnt. Sein Artikel „Encyclopedic" in eben dieser Encyclopedic stellt das klar: Das einzige System, in dem die Willkür ausgeschlossen wäre, ist - wie wir schon in unserem Prospekt gesagt haben - das System, das seit aller Ewigkeit im Willen Gottes existiert hat; und dieses System, in dem man von jenem ewigen ersten Wesen zu allen im Laufe der Zeit aus seinem Schöße hervorgegangenen Wesen gelangen könnte, würde jener astronomischen Hypothese gleichen, bei der sich der Philosoph in der Idee in den Mittelpunkt der Sonne versetzt, um die Erscheinungen der Himmelskörper in ihrer Umgebung zu berechnen. Zwar hat diese Ordnung Einfachheit und Größe, doch könnte man ihr in einem Werk, das von Philosophen verfaßt und an alle Menschen und Zeiten gerichtet ist, einen schwerwiegenden Fehler vorwerfen: den Fehler eines allzu engen Zusammenhangs mit unserer Theologie, einer erhabenen Wissenschaft, die zweifellos nützlich ist, weil der Christ von ihr seine Kenntnisse erlangt, und die um so nützlicher erscheint, als sie Opfer von ihm fordert und ihm dafür Belohnungen verspricht. Das ist der Abschied von Avicennas Projekt einer Enzyklopädie, die die Possibilien beschreibt. Für Diderot gilt nur noch die säkularisierte Fassung der Wissenschaft, und die sieht und schildert er in den schönsten Farben: Für uns aber wäre dieses allgemeine System, in dem die Willkür ausgeschlossen ist und das wir nie besitzen werden, vielleicht gar nicht so vorteilhaft. Welcher Unterschied bestünde denn zwischen der Lektüre eines Werkes, in dem alle Triebkräfte des Weltalls dargelegt wären, und der Erforschung des Weltalls selbst? Fast keiner! Wir wären immer nur in der Lage, einen gewissen 39

d'Alembert, Discours preliminaire, (Euvres, Bd. l, S. 17.

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Wilhelm Schmidt-Biggemann Abschnitt dieses großen Buches zu verstehen, und sobald die Ungeduld und die Neugierde, die uns beherrschen und so häufig den Lauf unserer Beobachtungen unterbrechen, Verwirrung in unsere Lektüre gebracht hätten, würden unsere Kenntnisse ebenso unzusammenhängend sein, wie sie sind. Da wir die Kette der Induktionen verlieren und die früheren und späteren Zusammenhänge nicht mehr wahrnehmen würden, so würden wir bald die gleichen Lükken und die gleichen Ungewißheiten spüren. Wir bemühen uns jetzt, diese Lücken durch die Betrachtung der Natur auszufüllen, doch in dem anderen Fall würden wir uns bemühen, sie durch das Ausdenken eines unermeßlichen Buches auszufüllen, das unserer Ansicht nach nicht vollkommener als das Weltall und deshalb der Vermessenheit unserer Zweifel und Einwände nicht weniger ausgesetzt wäre.40

Diderot übt sich in der aufgeklärten Pose der skeptisch-affektierten Bescheidenheit. Erst die Enzyklopädieentwürfe des Deutschen Idealismus und der Romantik versuchten erneut, den alten Anspruch der Einheit des Wissens zu begründen: in Fichtes Wissenschaftslehre, in Schellings und Novalis' Naturspekulation, in Hegels Geschiehtskonzeption. Aber das ist ein anderes Feld.

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Denis Diderot, Philosophische Schriften in 2 Bänden, übers, v. TTieodor Lüder, Berlin 1961, Bd. l, S. 185.

CHRISTEL MEIER

Der Wandel der Enzyklopädie des Mittelalters vom Weltbuch zum Thesaurus sozial gebundenen Kulturwissens: am Beispiel der Artes mechanicae

Bücher wollen an ihrem Titelanspruch gemessen sein. Dieser ist bei der Enzyklopädie naturgemäß besonders hoch, hat sie doch aller Disziplinen circulus seu universitas zu behandeln;1 deshalb - sagt Alsted - kann sich eine Enzyklopädie ohne Artes mechanicae nicht Enzyklopädie nennen: „Neque enim Encyclopaedia? nomen meretur institutio, qus disciplinas illas ne attingit quidem, quibus circulus ille integratur."2 Die mechanischen Künste machen die Enzyklopädie erst zum Ganzen; aber sie sind, wie sich zeigen soll, überhaupt ein neuralgischer Punkt der Enzyklopädie, nicht erst in der frühen Neuzeit. Alsted beklagt, sie würden trotz ihres Nutzens bis ins tägliche Leben hinein auf der einen Seite und trotz ihres erhellenden und illustrierenden Beitrags für die mathematischen Wissenschaften auf der anderen Seite geringgeachtet.3 Wie sie schon bei den Griechen gegenüber den liberalen Disziplinen der Freien als ,illiberale' Künste mit unangemessener Verachtung den Sklaven überlassen worden waren,4 so würden noch die sogenannten scholastici der eigenen Zeit sie mit geschwollenem Kamm und hochgezogenen Brauen von oben herab betrachten.5 Doch hätten die Werkkünstler in ihrer Berufung durch Gott selbst und ihrer Begabung mit seiner Weisheit eine hohe Legitimation aufzuweisen: „Ecce vocavi Bezeleel, et implevi eum spiritu dei, sapientia et intelligentia et scientia, in omni opere ad excogitandum, quidquid 1

Alsted, Encyclopaedia, hier Tomus Sextus Encyclopcedice, in quo Artes mechanicce methodice digeruntur, S. 1860: aus der „Praefatio in Artes mechanicas": „mearum partium esse duxi, hoc dare operam, ut opus responderet titulo, hoc est, ut in circulum seu universitatem disciplinarum et ills venirent, quae vulgo mechanic« appellantur". 2 Ebda., S. 1860. 3 Ebda. 4 Ebda., S. 1860, korrigierend: „Nee est, quod aliquis opinetur artes has, utpote illiberales, überall ingenio non esse dignas. Hoc enim nomine appellantur, quod apud Graecos liberi homines excolerent artes eruditas, et servi occuparentur circa mechanicas: etsi etiam ita dictae sunt in ordine ad liberales. Quod ergo illiberales dicuntur, non de illarum contem[p]tu et despectione, sed de ipsarum cum liberalibus collatione intelligi debet." 5 Ebda., S. 1860: „Quae verba [sc. Ex. l,l ff.] possunt dejicere cristam et supercilium nostrorum scholasticorum, ut vocant, qui ex alto despiciunt artes mechanicas, et earum cultores."

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fabrefieri potest ..." (Ex. 31, Iff.).6 Gegenüber solchen Gaben zu Fertigkeiten, ohne die das menschliche Leben gar nicht auskommen kann, die im übrigen mit den liberalen Disziplinen verwandt sind, ja aus diesen hervorgehen und ihre öffentlichen Vermittler bleiben,7 müssen die erhobenen Brauen der Verächter sinken. Ihre Schätzung, die von Seiten der Freunde der Werkkünstler ( ) ohnehin besteht, soll neu garantiert werden durch ein diesen Künsten angemessenes, noch mangelndes methodisches Fundament, das von den Freunden der Wissenschaftssystematik, und das heißt des enzyklopädischen Denkens ( ),8 erwartet wird: „Sumus enim id conati, ut facem methodi mechanicis inferremus, et rectis ingeniis ansam daremus hanc Encyclopaedia? partem uberius et accuratius illustrandi."9 Alsted vertritt damit eine Position, durch die eingelöst wird, was schon Theoretiker des 13. Jahrhunderts angeregt hatten, und die zugleich vorbereitenden Charakter besitzt im Hinblick auf die zentrale Stellung von Handwerk und Gewerbe (metiers) in der Encyclopedic Diderots und d'Alemberts.10 In der Enzyklopädie des Mittelalters gibt es, vereinfacht gesehen, die praktischen Werkkünste, die Artes mechanicae, nicht. Diese Stoffrubrik sieht der genuine mittelalterliche Typ der Gattung kaum vor. Nicht bei Lambert von St. Omer, Herrad von Hohenburg, Honorius Augustodunensis, Alexander Neckam, Arnoldus Saxo, Bartholomaeus Anglicus, Thomas von Cantimpre, in der Image du monde, bei Konrad von Megenberg, Petrus Berchorius 6

Der biblische Künstler und Architekt Bezeleel, der erst spät in der Enzyklopädie innerhalb dieser Disziplin auftritt (z.B. noch nicht bei Vinzenz von Beauvais), heißt bei Lauretus, Sylva allegoriarum, Neudr. 1971, S. 179: „artifex praecipuus tabernaculi testimonii, et vasorum ejus ..., qui non per excessum accipit a Deo, sed multo studio et labore, et non sicut Moyses in nube et monte". - Schon im 12. Jahrhundert hatte jedoch Theophilus Presbyter (Roger von Helmarshausen) in seiner Scheaula de diversis artibus (Theophilus, The Various Arts, hrsg. v. Charles R. Dodwell, London 1961), Praefatio zu Buch III (S. 60ff.) mit derselben biblischen Referenz wie mit der Berufung auf David und Salomon diesen mechanischen Künsten eine besondere Dignität zugesprochen: „Legerat namque in Exodo Domino Moysi de constructione tabernaculi mandatum dedisse et operum magistros ex nomine elegisse, eosque spiritu sapientiae et intelligentiae et scientiae in omni doctrina implesse ad excogitandum et faciendum opus in auro et argento et aere, gemmis ligno et uniuersi generis arte, noueratque pia consideratione Deum huiusmodi ornatu delectari, quem construi disponebat magisterio et auctoritate Spiritus sancti, credebatque absque eius instinctu nihil huiusmodi quemquam posse moliri ..." (es folgt eine längere Ausführung über solche Begabung und ihre Wirkungen). Diese Traditionslinie ist mindestens bis in die Karolingerzeit zurückzuverfolgen. 7 Alsted, Encyclopaedia, S. 1860: „... hujusmodi dona, quibus vita nostra carere minime potest, quaeque cum artibus liberalibus habent cognationem, unde propagines illarum et traduces appellari solent." 8 Ebda., S. 1860. 9 Ebda. 10 Zu beidem Genaueres unten.

Der Wandel der Enzyklopädie des Mittelalters

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sind die mechanischen Künste vertreten,11 oder wo in anderen Enzyklopädien doch, so haben sie eine Marginalstellung, z.T. ohne Disziplinenstatus, wie bei Isidor von Sevilla, ebenso Hraban, später Bandini.12 Gleichwohl gibt es auch im Mittelalter Enzyklopädien, die ihnen eine hohe Bedeutung zusprechen wie Brunetto Latinis Tresor, freilich ohne die konkrete Ausführung,13 oder die sie mit einiger Ausführlichkeit behandeln, wie zuerst Vinzenz von Beauvais.14 Eine auffällige Absenz der Artes mechanicae ist jedenfalls zwischen Isidor/Hraban und 1250 etwa zu konstatieren. Dies ist die Epoche des Weltbuchs Enzyklopädie im Sinn eines Abbilds der Schöpfungswelt, einer imago mundi, in der der Mensch als Weltbildner nicht wesentlich einbezogen ist. Er ist vielmehr Betrachter der von Gott für ihn geschaffenen Welt, die Enzyklopädie infolgedessen ein ,Bild' zur Weltbetrachtung, das in den Erscheinungen auch den auctor erkennt, der mit seinem Wort das Buch geschaffen, mit seinem Finger es geschrieben hat.15 Diese Konzeption läßt den Artes mechanicae keinen eigenen Raum. Daraus ergeben sich zwei Überlegungen, die Klärung erfordern, bevor die Situation im hohen Mittelalter verständlich werden kann. Einmal wird bewußt, daß das Vorhandensein der Werkkünste in der Enzyklopädie nicht selbstverständlich ist, wie es nach den berühmtesten neuzeitlichen Vertretern dieser Gattung scheinen könnte etwa der Encyclopedic der französischen Aufklärung -, sondern daß ihre Präsenz in diesem Werktyp nachiragenswert, ja problematisch ist. Zum anderen läßt aber ein Blick auf die antike und frühmittelalterliche Enzyklopädie erkennen, daß sie bereits Bestandteil von Enzyklopädien gewesen waren.16 Unter welchen Voraussetzungen bleibt zu untersuchen.

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Zu einer kurzen Charakterisierung und Einordnung dieser Werke Meier, Grundzüge, bes. 483ff.; zu Bartholomaeus Anglicus insbesondere Meyer, Bartholomäus Anglicus. Eine Charakterisierung von Bandinis Enzyklopädie vor dem Traditionshorizont bei Meyer, Enzyklopädiekonzept; die Artes mechanicae sind kurz behandelt im Eingang des Buches 31 (Teil V) De sectis philosophorum bei der Klassifizierung der Disziplinen (Cod. Vat. lat. 2029, Bl. 461v-462r): lanificium, armatura, navigatio, agricultura, venatio, medicina, ars theatralis (462ra). Dazu Meier, Cosmos politicus, hier S. 344f.: der Politik als höchster Wissenschaft sind Rhetorik und Artes mechanicae als Ausübungen in Wort und Tat zugeordnet. Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex, hier Speculum doctrinale, Buch 11: lanificium, armatura (architectoria, scientia militaris), ars theatrica, navigatio, mercatura, venatio, agricultura, alchimia; Buch 12/13: medicina; Buch 6: unter Ökonomik agricultura (nach Palladius); dazu Lusignan, Les arts mecaniques. Dazu Meier, Grundzüge, S. 472ff.; insbes. Neckam, De naturis rerum, S. 125: „Mundus ergo ipse, calamo Dei inscriptus, littera quaedam est intelligent!, repraesentans artificis potentiam, cum sapientia ejusdem et benignitate. Sicut autem totus mundus inscriptus est, ita totus littera est, sed intelligent! et naturas rerum investiganti ad cognitionem et laudem Creatoris." S. auch Meier, Cosmos politicus, S. 318ff. Dazu Fuchs, Enzyklopädie; Grimal, Encyclopedies antiques; Fuhrmann, Fachliteratur;

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Vor einer direkten Antwort auf diese Fragen ist zunächst zu bedenken, welchen Zweck die Artes mechanicae in der Enzyklopädie eigentlich erfüllen sollen oder können. Richten sie sich an den Spezialisten oder sollen die Laien über diese Künste informiert werden? Für den Fachmann erscheint die Benutzung einer Enzyklopädie in diesem Fall unsinnig; schwierig zu denken ist unter dem Aspekt der Nutzung aber auch der Gebrauch, die Rezeption aus Werken dieser Gattung für den Laien, handelt es sich doch bei den Artes um einen Bereich menschlicher Aktion, der in nicht-literarischer Erfahrung und in der mit ihr ausgeübten non-verbalen Tätigkeit besteht. Normalerweise werden sie erlernt an der Praxis und praktisch genutzt, ohne daß die schriftliche Form notwendig würde; operando, nicht legendo werden sie erworben und vermittelt oder, wie Alsted sagt: „oculari inspectione et manuali exercitatione extra scholam".17 Jedes Eindringen dieser Künste in die Schriftlichkeit, ins Literarischwerden signalisiert, daß die Praxis irgendwie zur Theoretisierung hin überschritten wird, daß sie in einen neuen Legitimationshorizont heraufgehoben werden, es sei denn, es geht allein um gedächtnisstützende Notizen ohne literarischen Anspruch. Diese Feststellung gilt bereits für den fachwissenschaftlichen Traktat, sie gilt um so mehr für eine nicht nur implizite, in anderen Sachgruppen mitgeleistete, sondern eine explizite, eigenständige Behandlung der Artes mechanicae in der Enzyklopädie; denn damit erst wird eine generelle Relevanz dieser Disziplinengruppe unterstellt. Die antike und frühmittelalterliche Situation - um nun eine zweite Vorüberlegung auszuführen - zeigt nicht nur eine Initialphase für die literarische Konsolidierung dieser Artes, sondern ist zugleich auch Basis geblieben für deren spätere Entwicklung.18 In der (römischen) Antike zeichnen sich vier Bereiche von Artes mechanicae-Literatur ab: 1. die Memorialnotizen für die Praxis ohne eigentlichen literarischen Anspruch (niedrigste Stufe); 2. das elaborierte Fachprosaschrifttum; 3. in Versen verfaßtes Fachschrifttum (bis hin zu besten dichterischen Werken wie den Georgica Vergils); 4. die Artes mechanicae im enzyklopädischen Kontext. Während auf der ersten Stufe der Material- und Notizensammlungen etwa Frontin seine Schrift über die Wasserversorgung Roms De aquaeductu urbis

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Fontaine, Isidore de Seville et la mutation de l'encyclopedisme antique; Fontaine, Isidor de Seville et la culture classique. Alsted, Encyclopedia, Tom. VI, S. 1864b. Ausführlicher zu den Artes mechanicae in den Enzyklopädien der Antike und der Übergangszeit Christel Meier, Pascua, rura, duces. Verschriftungsmodi der Artes mechanicae

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Romae einordnet als Aufzeichnungen für den unmittelbaren Gebrauch, zur Orientierung bei der Amtsführung (und höchstens noch dem Nachfolger von Nutzen),19 setzen literarisch anspruchsvollere Fachschriftsteller ihre Werke von solcherart Commentarii (d. h. Notizenbüchern, ähnlich den Aufzeichnungen auf Wachstafeln) ab, um ihre Kunst auf einer höheren, allgemein-humanen Stufe zu etablieren. Zum Erweis ihrer Dignität schließen sie sie an hohe, ja göttlich inspirierte Künste an - wie z.B. Vegetius die Pferdemedizin (Mulomedicina} an die göttlich begründete Wissenschaft der Humanmedizin20 oder sie suchen den Zusammenhang mit mehreren geschätzten Wissenschaften, erweisen diese als Voraussetzung für die eigene Disziplin, bis sie schließlich enzyklopädisches Niveau erstreben. So beginnen Vitruv und Columella ihre fachwissenschaftlichen Werke mit der Klage über die mangelhafte, wohl nicht oder nicht mehr gegebene literarische Kultivierung ihrer Künste, Architektur und Agrikultur. Sie deuten dies jeweils als Zeichen der Vernachlässigung oder des Verfalls der Disziplin selbst. Vitruv schreibt in der Vorrede des vierten Buches seines Augustus gewidmeten Werkes De architectura (ca. 25 v. Chr.): „Cum animadvertissem ... plures de architectura praecepta voluminaque commentariorum non ordinata sed incepta, uti particulas errabundas, reliquisse, dignam et utilissimam rem putavi antea disciplinae corpus ad perfectam ordinationem perducere".21 Columella, dessen Werk unter Claudius entsteht, sieht den Grund für die Misere der Landwirtschaft seiner Zeit in ihrer öffentlichen Geringschätzung: „rem rusticam sordidum opus et id esse negotium quod nullius egeat magisterio praeceptove."22 Um zu widerlegen, daß diese Kunst ohne Intelligenz auskomme - „facillimam esse nee ullius acuminis rusticationem [plerique crediderunt]"23 -, weist er nach, daß sie im Grunde eine schwierige und ausgedehnte Wissenschaft sei, ihre völlige Beherrschung, die nur die Begabtesten erreichen, der Weisheit sehr nahe komme, weil sich in ihr verschiedene Künste als Teildisziplinen zusammenschließen müßten: die Naturwissenschaften, Astronomie, Meteorologie, Tier-

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in Lehrdichtung und Fachprosa der römischen Kaiserzeit, in: Frühmittelalterliche Studien 28, 1994, S. 1-50, mit ausreichenden Literaturnachweisen und Belegen. lulius Frontinus, De aquaeductu urbis Romae commentarius, hrsg. v. F. Krohn, Leipzig 1922, S. 1,18-2,7: „ea quae ad universam rem pertinentia contrahere potui, ... in hunc commentarium contuli, quem pro formula administrationis (respicere possem) ... huius commentarii pertinebit fortassis et ad successorem utilitas, sed cum inter initia administrationis meae scriptus sit, in primis ad meam institutionem regulamque proficiet." P. Vegeti Renati (i.e. Flavius Vegetius Renatus), Digestorum artis mulomedicinae libri, hrsg. v. Ernst Lommatzsch, Leipzig 1903, S. 12ff. (Prol.). Vitruvius, De architectura libri decem, hrsg., übers, und mit Anm. versehen v. Curt Fensterbusch, Darmstadt 41987, IV, l, S. 166. L. lunius Moderatus Columella, De re rustica libri duodecim, hrsg. und übers, v. Will Richter, 3 Bde., München/Zürich 1982,1 20, Bd. l, S. 20, 157ff. Ebda., I 33, S. 28,256f.

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zucht, Ackerbau und Bodenkunst.24 Seine Kritik richtet sich darauf, daß sie nur von den Schlechtesten und ohne Kenntnis betrieben würde, ihre lehrhafte Vermittlung nicht existiere, während sonst für jede Kunst, darunter auch etliche Artes mechanicae, wie (angewandte) Geometrie, Architektur, Navigation und Kriegskunst, Musik und Tanz, ja selbst für jede Afterkunst bis hin zu Haarkräuseln und Kopfputz Lehrer gewonnen würden;25 aber die Agrikultur „tarn discentibus ege[a]t quam magistris", und dies obwohl sie das menschliche Wohl am unmittelbarsten fördere und ethisch einwandfrei sei im Gegensatz etwa zum Kriegshandwerk, Handel, Geldverleih und schlimmeren Gewerben26 (wie es schon Cato im Eingang seiner AgrikulturSchrift betont hatte).27 Gegenüber dieser eigenständigen, aber komplex angelegten agricolatia Columellas gründete Vitruv sein Modell der Architekturwissenschaft von vornherein auf die Bewältigung eines ehrgeizigen Fächercurriculums durch den angehenden, schließlich vollkommen ausgebildeten Architekten: Einführung in Schriftbeherrschung, Zeichentechnik, Geometrie, Optik, Arithmetik, Geschichte, Philosophie, Physiologie (im alten Sinn), Musik, Medizin, Jurisprudenz, Astrologie mußte er aufnehmen.28 Erst nach der Absolvierung dieses Cursus einer „encyclios disciplina" könne er Architekt im rechten Sinne heißen: „nisi qui ab aetate puerili his gradibus disciplinarum scandendo scientia plerarumque litterarum et artium nutriti pervenerint ad summum templum architecturae.29 Wurde hier die eine Ars mechanica in eine Gruppe benachbarter Wissenschaften integriert und erlangte sie dadurch einen generellen Stand im kulturell-wissenschaftlichen Feld, so wird sie von anderen Autoren von vornherein in einem enzyklopädischen Kontext gedacht und entsprechend innerhalb der neu ausgebildeten Spielarten des enzyklopädischen Werkes beschrieben. So hatte Cato in den (nicht erhaltenen) Libri ad Marcwn Filium wohl Landwirtschaft und Medizin zusammen mit Rhetorik, Jurisprudenz und Kriegswesen behandelt:30 Varro bündelte in den Disciplinae die sieben freien Künste mit

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Ebda., I 21ft, S. 22ff. Ebda., I 3ff., S. lOff. Ebda., I 4, S. 12, besonders: „sola res rustica, quae sine dubitatione proxima et quasi consanguinea sapientiae est, tarn discentibus egeat quam magistris" etc. M. Porcius Cato, De agri cultura, hrsg. und übers, v. William D. Hooper, Cambridge (Mass.)/London 1979, I 1-4, S. 2. Vitruvius, De architectura (wie Anm. 21), 12ff., S. 22ff.: „Architect! est scientia pluribus disciplines et variis eruditionibus ornata" etc. (wie in dem folgenden längeren Abschnitt über den Beitrag der anderen Disziplinen zur Architektur ausgeführt wird). Vitruvius, De architectura (wie Anm. 21), I 7,19ff, S. 30. Fuhrmann, Fachliteratur, S. 184f.; Fuchs, Enzyklopädie, Sp. 509f.

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der Medizin und Architektur,31 während Celsus die praktischen Künste Medizin, Landwirtschaft und Kriegskunst mit Rhetorik und Philosophie kombinierte.32 Bereits in solchen synthetischen Fächerkombinationen werden hier und da Notwendigkeit und Anteile von praxis- und theorieorientierten Darstellungen reflektiert.33 Die veränderten Bedingungen für die Artes mechanicae in ihrem Verhältnis zum enzyklopädischen Entwurf, die dann der ältere Plinius mit seiner Naturalis historia schafft, sind noch für entsprechende Werke des hohen Mittelalters von paradigmatischer Bedeutung. Nach den genannten Vorgängerwerken, die sich als additive Enzyklopädien bezeichnen lassen, hat Plinius als erster den Punkt für ein integrafives Enzyklopädiekonzept gesucht. Das heißt, die römischen enzyklopädischen Werke vor Plinius stellen Kombinationen her von jeweils mehreren Disziplinen, deren Teile dann auch in den Bahnen des jeweiligen fachwissenschaftlichen Schrifttums abgehandelt werden können, z. B. die Agrikultur unter Heranziehung der landwirtschaftlichen Spezialwerke, die Medizin unter Benutzung der erreichbaren medizinischen Literatur usf. Erfolgt die Zusammenführung mehrerer derartiger Teile zu einem neuen Ganzen, so richtet sich die Auswahl der aufgenommenen Disziplinen nach dem Bildungscurriculum (Varro)34 bzw. nach dem Interesse und den Bedürfnissen des jeweils anvisierten Benutzerkreises (Cato, Celsus).35 Solche additiven enzyklopädischen Konstruktionen jeweils mehrerer Fachwissenschaften transzendiert Plinius mit seinem neuen Ansatz zu einer echten Systembildung, die die Anlage seines Werkes im Ganzen bestimmt, allerdings auch Reduktionen fordert. Gemäß einem stoisch-synkretistischen Konzept organisiert er die Naturalis historia von der Natur, der „parens rerum omnium Natura", her.36 Die Natur, die „naturae potentia"37 letztlich 31 32 33

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Fuhrmann, Fachliteratur, S. 184f.; Fuchs, Enzyklopädie, Sp. 509. Fuhrmann, Fachliteratur, S. 184f.; Fuchs, Enzyklopädie, Sp. 510. Vitruvius, De architectura (wie Anm. 21), I 9, S. 32ff., sagt, die Artes bildeten eine Kombination aus zwei Faktoren, der Praxis (opus) und der Theorie (ratiocinatio) bzw. der Ausführung und der Konzeption, von denen die erste Sache des Fachmanns, die zweite auch des Gebildeten überhaupt sei. Fuchs, Enzyklopädie, Sp. 507ff.; s. auch ders., Enkyklios Paideia, ebda., Sp. 387ff.; eine derartige Disziplinenenzyklopädie, freilich im poetischen Rahmen, ist auch De nuptiis Mercurü et Philologiae von Martianus Capella (Anfang 5. Jh.). Fuchs, Enzyklopädie, Sp. 509f.; was bei Cato noch kaum mehr als ein Ansatz zur Enzyklopädie war, wurde in Celsus' Artes zu einem „folgerichtig aufgebauten Lehrwerk ... zusammengefaßt". Plinius, Naturalis historia, hrsg. v. Ludwig Jan u. Carl Mayhoff, Leipzig 1875-1906, Neudr. Stuttgart 1967-70, 37, 205 (im Schlußsatz des Werkes); Fuhrmann, Fachliteratur, S. 190f.; Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Bd. 2, München 1992, S. 1003ff. Ebda., 2, 27; von Albrecht, ebda., S. 1007.

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gleichgesetzt mit der Welt und mit Gott, wird zur integrierenden Instanz, nach der auch die primäre Ordnung des Werks ausgerichtet ist.38 Es ist aber eine Natur in Sympathie mit dem Menschen und für ihn: der Autor einer kulturellen Spätzeit in einer hochentwickelten Zivilisation erfährt die Natur auch wesentlich als das Material für den menschlichen Gebrauch. Die Grunddisposition des umfangreichen Werkes folgt der Kosmos- und Seinsordnung, so daß nacheinander behandelt werden: Kosmos und Erde (Kosmologie und Geographie, Buch 2 und 3-6), danach entsprechend der Seinsschichtung der Mensch, die Tiere und Pflanzen bis zu den unbelebten Mineralien: Buch 7 Anthropologie, Buch 8-11 Zoologie, Buch 12-19 Botanik, Buch 33-37 Mineralogie. In diese naturorientierte Ordnung ist die Nutzung der Natur, d.h. sind die Artes mechanicae impletiert, quer zur Systematik zwar und nicht als eigene Gruppe: aber sie sind doch mit einer Fülle von Informationen über Agrikultur, Gartenbau, Tierhaltung und -zucht, Jagd, Nahrungsgewinnung, Textilherstellung, Holzbehandlung, Schreinerei, Metallund Edelsteinbearbeitung, Farbengewinnung und -Verwendung durch das ganze Werk präsent,39 erarbeitet aus zahlreichen antiken Quellenschriften. In die primäre Grunddisposition stößt jedoch als Ars mechanica allein die Medizin zusammen mit der Pharmakologie vor, indem sie einen eigenen Ort in der Bücherfolge, und zwar als Medizin in der Botanik Buch 22-27 und als Medizin in der Zoologie Buch 28-32, erhält.40 Darin wird deutlich, daß die neue Systematisierung gerade dort sich nicht völlig hat durchsetzen können, wo Naturbeschreibung und Gebrauch auch in den Quellen schon untrennbar verbunden waren, so daß hier das fachwissenschaftliche Prinzip Bestand hatte. Plinius war die Neuerung seines Werkes voll bewußt, wenn er es als ein „novicium opus", sein Verfahren als einen so von keinem Griechen oder Römer bis dahin gegangenen Weg beschreibt: „iter est non trita auctoribus via ... nemo apud nos qui idem temptaverit, nemo apud Graecos qui unus omnia ea tractaverit."41 Der Rahmen, den Plinius seinen enzyklopädi-

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Ebda., 15, 7; 9, 20; von Albrecht, ebda. Z. B. Plinius, Naturalis historia, Buch 8-10 Jagd, Fischfang und Haustierhaltung, Purpurfärberei, Nahrungszubereitung (unter Land- und Wassertieren, Vögeln); Buch 11 Bienenzucht und Seidenherstellung (unter Insekten); Buch 12 Gartenbau, Nutzpflanzen; Buch 14 Weinbau, Buch 15 Olgewinnung u.a.; Buch 16 Holz-, Rohr-, Binsengebrauch, Tischlerei; Buch 19 Gartennutzung, Leinen-, Leder- und Wollegewinnung oder -Verarbeitung; Buch 33ff. Metall-, Stein- und Edelsteingebrauch, -Verarbeitung. Bei verschiedenen dieser Punkte treffen sich kulturhistorische Interessen mit solchen an den Werkkünsten. Auch bei den Nutzpflanzen als Heilmitteln finden sich untermischt Kosmetik, Färberei, Magie, bei dem Tiergebrauch das Wasserleitungssystem, Arten der Salzherstellung und -gewinnung usf. Plinius, Naturalis historia, Praefatio l und 14; dazu N. P. Howe, In Defense of the Ency-

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sehen Bemühungen gab, war groß, kosmosumspannend, sein Ziel ist: „omnibus naturam, naturae omnia sua dare":42 sein Werk umfaßt die gesamte „rerum natura" - um mit Plinius' Formulierung auf mittelalterliche Enzyklopädie-Titel vorauszuweisen.43 Über die Darstellung der umfassenden natura rerum und ihren Gebrauch durch den Menschen hinaus, die auf die „utilitas iuvandi" seines Werkes beim Rezipienten aus sind,44 richtet Plinius die Intensität seiner Arbeit drittens auf die möglichst vollständige Einbringung des Fachschrifttums, dessen Ergebnisse er aus ca. 2000 Schriften - wie er sagt - nach den Artikeln in seiner neuen Ordnung sortieren mußte in etwa 20000 Exzerpten.45 Diese Exzerptionsarbeit und Distribution nach der neuen Systematik haben den andauernden Wert seines Werkes über die Zeiten (zuletzt bis in die heutige Altphilologie hinein, die geradezu eine Pliniusrenaissance erlebt)46 begründet. Isidors von Sevilla Lösung des Problems, seine Etymologien zu disponieren, die zur Basis der mittelalterlichen Enzyklopädik werden sollten, hat eine Kombination aus dem Modell des Plinius und dem additiven Verfahren von dessen Vorgängern erbracht, die beide auch seine Quellen waren. Wenn die ersten Bücher echte Disziplinenbücher sind, und die sieben freien Künste, ferner die Medizin und die Jurisprudenz zum Inhalt haben (Buch 1-5 A), so folgt eine weitere Reihe von Büchern, die nach Plinius „de natura rerum" handeln: über den Menschen, die Tiere (Vierfüßler, Reptilien, Fische und Vögel), über die Elemente, den Kosmos, die Erde, dazu die Mineralien (Buch 11-16). Dazwischen steht ein Block neuen nicht-paganen Wissens, das die Kirche und ihre wichtigsten Fakten und Lehren behandelt: Zu ihm wird übergeleitet mit der im frühen Mittelalter aktuellen, eigens als Fach gelehr-

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clopedic Mode. On Pliny's Preface to the Natural History, in: Latomus 44,1985, S. 561576, hier 575; doch unterschätzt Howe wohl (S. 571) die Neuheit des Unternehmens. Plinius, Naturalis historia, Praefatio 15, 22, 16f.; gleichwohl gibt es auch Skepsis gegenüber der Natur (Stiefmutter: 7,1), wie auf der anderen Seite der Kulturfortschritt zu beklagen ist, weil er von der Natur abführt (33,3; 36,3). Zur Materie ebda., Praefatio 13: „rerum natura, hoc est vita, narratur ..." De natura/naturis rerum heißen die entsprechenden Werke Isidors, Bedas, Hrabans, des Alexander Neckam, Thomas von Cantimpre; De proprietatibus rerum nennt Bartholomaeus Anglicus seine Enzyklopädie, Historia naturalis Vinzenz den ersten Teil des Speculum maius. Plinius, Naturalis historia, Praefatio 16; dazu Howe, Pliny's Preface, S. 563. Plinius, Naturalis historia, Praefatio 17 (nach Zitat „thesauros oportet esse, non libros"). Darin dokumentiert sich neues Interesse und ein gerechteres Urteil über die Leistung des Plinius (abzulesen an der Bibliographie von G. Serbat, Pline L'Ancien, Etat present des etudes sur sa vie, son oeuvre et son influence, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 2, 32,4, Berlin 1986, S. 2069-2200, an der Darstellung von Albrechts, Geschichte der römischen Literatur (wie Anm. 36), Bd. 2, S. 1003-1011).

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ten Chronologie (Buch 5 B): dann folgen Buch- und Schriftwesen (Buch 6), gleichfalls als theologische Propädeutik, sowie göttliche und heilige Personen, die Stände der Kirche (Buch 7) und die Kirche als Institution im Verhältnis zum Judentum sowie zu den entsprechenden paganen Einrichtungen (Buch 8): Für die Frage nach den Artes mechanicae bedeutsam ist der Schlußteil des Werkes (Buch 17-20), der an die Materialien über die Erde und ihre Bodenschätze die Agrikultur und weitere mechanische Künste anschließt, nachdem die Medizin bereits vorn bei den Disziplinen und die Architektur in der Mitte bei der Geographie unter ,Städte' ihren Ort gefunden hatten.47 Einen vollständigen Disziplinenstatus erlangten diese Künste außer der Medizin - also nicht, sondern blieben in einer Schwebestellung zwischen solchen und bloßen Teilen der gesamten Dingwelt, der „natura omnium rerum" in dem weiteren plinianischen Sinn. Als im Hochmittelalter die Frage der Artes mechanicae neu mit Intensität diskutiert wurde, gewannen diese Partien in Isidors Enzyklopädie eigenes Interesse, wurden als autoritative Quelle für die Position dieser Artes im Wissenschaftssystem genutzt. So sagt Robert Kilwardby um 1250 in De ortu scientiarum^ in dem Teil über die mechanischen Künste: „Notandum quod de his quae ad has artes [sc. mechanicas] spectant, multa tractat Isidorus in libro Etymologiarum. De his enim quae spectant ad lanificium multa continentur libro XIX, cap. XX et deinceps ,..".48 In dieser Art werden auch für die weiteren Künste armatura, navigatio, agriculture, medicina, theatrica, venatio die loci bei Isidor angeführt.49 Doch hier in der konsequenten Wissenschaftstheorie des Hochmittelalters wird schärfer zugesehen:

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Isidor von Seville, Etymologiarum Libri: Buch 4; Buch 15, 2-12. Kilwardby, De ortu scientiarum, S. 130f.; auf die besondere Stellung Kilwardbys in der Theorie der Werkkünste hat zuerst aufmerksam gemacht Franco Alessio, La filosofia e le „artes mechanicae" nel secolo XII, in: Studi medievali, 3e Ser., tom. 6, 1965, S. 71161, hier 157ff.; ferner ders., La riflessione sulle „artes mechanicae" (XII-XIV sec.), in: Lavorare nel Medioevo. Rappresentazione ed esempi dall' Italia dei secc. X-XVI, Todi 1983 (Convegni del Centro di studi sulla spiritualitä medievale 21), S. 257-293, hier 289ff. Kilwardby, De ortu scientiarum, S. 131, Indem er unter armatura, wie üblich, auch architectura faßt, gibt er recht genau alle Passagen zu den Artes mechanicae an (mit von der Ausgabe abweichender Paragraphenzählung); interessant ist die Beobachtung, daß die Agrikultur wieder in Medizinisches führt und auch die Nahrungsgewinnung z.T. in dies hineinreicht: „Residuum eius ad res medicinales spectat de quibus etiam est totus über IV ... De escis et potibus quae partim ad medicinam, partim ad venationem spectant, secundum praenarrata, in libro XX, cap. l et 2, et ad venationem spectant multa eorum de quibus est über XII et de quibus est XVII." Mit diesen Bemerkungen wird zugleich deutlich, daß die Abgrenzungen zwischen den Werkkünsten immer schwierig waren und erneut Diskussionsstoff bilden mußten für neue Systematisierungen, die auch die institutionellen Verschiebungen zu berücksichtigen hatten.

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Dies habe ich hinzugefügt, nicht weil Isidor die genannten Artes mechanicae zusammenstellt und abhandelt in der Art von Disziplinen, sondern weil er viel von den Materien dieser Künste wörtlich (mit denselben, den eigentlichen Begriffen) darstellt und ähnlich auch viele ihrer Wirkungen .. .50 Isidors Entwurf, der durch mehrere unterschiedene Anlageprinzipien und Interessensfelder eine erhebliche Komplexität gewann,51 wurde, obwohl von Hraban in seine Enzyklopädie großenteils wörtlich übernommen, doch auf eine Seinsordnung hin umstrukturiert: auf die hierarchische Gliederung von Gott bis zu allen Teilbereichen der Welt,52 in der die am Schluß beibehaltenen Artes mechanicae-Partien nur noch Appendixfunktion besitzen und der ideellen Gesamtsystematik eigentlich widersprechen.53 Folgerichtig verschwinden sie danach für geraume Zeit aus der Enzyklopädie bis zu der Zeit des zitierten Robert Kilwardby im 13. Jahrhundert. Der Wiedereintritt der Artes mechanicae in die Enzyklopädie des hohen Mittelalters als Stoffbereichs mit zugleich eigenem systematischen Ort geschieht nicht unmotiviert, sondern ist Resultat einer doppelten Vorbereitungsbewegung: des Verlaufs der wissenschaftstheoretischen Diskussion seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts einerseits54 sowie der beginnenden und zunehmend selbstbewußteren Wiederaufnahme des stofflich-praktischen Überlieferungsvorrats für die einzelnen Werkkünste aus Antike und Spätantike andererseits.55 Vinzenz von Beauvais, dessen Speculum als erste Enzyklopädie die Artes mechanicae wieder adaptiert und dies theoretisch auch

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Ebda., S. 131; Kilwardby sieht Isidors Werk in seiner weitgespannten Vielfältigkeit der Materien und betroffenen Disziplinen, findet aber Artes liberales und mechanicae der geistlich-theologischen Zielsetzung zugeordnet: „Liber enim Isidori in generali multa perstringit diversis scientiis utilia, sed praecipue theologiae, in qua nunc oportet uti artibus liberalibus, nunc de mechanicis nonnulla dicere" (in der Edition ist der Satz mißverstanden und entsprechend durch Zeichensetzung und ein zweites (oportet) im Schlußteil verdorben). Zu den genannten Gegenstandsbereichen und systematischen Prinzipien der Anlage kommt vor allem das philologisch-etymologische Interesse, auf Grund dessen bestimmte Partien wie in Wortlexika angelegt sind, bestimmte Sachgebiete wie Wortfelder behandelt werden: z.B. Teile über die mechanischen Künste (Buch XX). Dazu Meier, Grundzüge, S. 475,479; Meier, Homo Coelestis, hier S. 160ff.; Meyer, Enzyklopädik und Allegorese, hier S. 296ff.; Hraban ist dabei beeinflußt von Isidors De natura rerum und der Clavis des Ps.-Melito. Der Disziplinencharakter hat hier keine Geltung; was der Mensch aus und mit den natürlichen Dingen macht, ist nur ein Anhang, eine species-Stelle in der Weltstruktur und -Systematik. Hraban, De universo, hrsg. v. Migne, PL 111, Sp. 9f. erläutert seine Ordnung und schließt die Übersicht (nach den Produkten der Erde): „de variis artibus atque artificiis et aliis multis: quae omnia in prooemio enumerari longum est" (Sp. 10). Zu diesen Wissenschaftsentwürfen ausführlicher Meier, Cosmos politicus, S. 342ff. (mit Lit.). Dazu unten bei Anm. 80-87.

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begründet, gibt damit auf beide Seiten dieses Prozesses seine spezifischen Antworten. Der erste wissenschaftstheoretische Entwurf, der im 12. Jahrhundert die Artes mechanicae als eigene Disziplinengruppe aufnimmt und gleichberechtigt neben die anderen - aristotelisch eingeteilten - Hauptzweige der Philosophie stellt, die Theorik, Praktik und Logik, ist der des Didascalicon Hugos von St. Victor.56 Die sieben jeweils sehr umfassend verstandenen handwerklichen Künste (lanificium, armatura, navigatio, agricultura, venatio, medicina, theatrica scientia), die befaßt sind mit der „fabrica omnium rerum", bilden nach ihrer Zahl das Gegenstück zu den septem Artes liberales,57 wie später Robert Kilwardby richtig bemerkt, indem er die Feststellung hinzufügt, er halte dies für eine an sich willkürliche Reduktion der in der Realität sehr viel zahlreicheren Artes mechanicae.58 Die ausdrückliche und begründete Eingliederung in den Wissenschaftskanon einerseits und ihre Wertung andererseits, nach der sie die unterste Stufe des Wissenschaftsordo einnehmen, sind damit wesentliche Fakten geworden. Diese Künste sind notwendig für den in den irdischen Bedingungen lebenden Menschen zur Erfüllung seiner körperlichen Bedürfnisse, sie tragen aber nicht zu seinem Heil, d. h. seinem eigentlichen Ziel, bei wie die höheren Disziplinen.59 Doch diese noch bis ins 13. Jahrhundert fortgeführte, nie ganz verschwindende Geringschätzung oder 56

Hugo von St. Victor, Didascalicon, S. 38ff.; dazu Peter Sternagel, Die artes mechanicae im Mittelalter. Begriffs- und Bedeutungsgeschichte bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Kallmünz 1966 (Münchener historische Studien. Abt. Mittelalt. Geschichte 2), S. 67ff.; ferner Lucia Miccoli, Le ,arti meccaniche' nelle classificazioni delle scienze di Ugo di San Vittore e Domenico Gundisalvi, in: Annali della Facoltä di Lettere e Filosofia 24, Bari 1981, S. 73-101; Elspeth Whitney, Paradise Restored: The Mechanical Arts from Antiquity through the Thirteenth Century, Philadelphia 1990 (Transactions of the American Philosophical Society 80/1). 57 Hugo von St. Victor, Didascalicon, S. 38f.; wie zudem der Septenar der liberalen Künste in Trivium und Quadrivium sich teilt, so auch die mechanischen Disziplinen: „ex quibus tres ad extrinsecus vestimentum naturae pertinent, quo se ipsa natura ab incommodis protegit, quattuor ad intrinsecus, quo se alendo et fovendo nutrit, ad similitudinem quidem trivii et quadrivii, quia trivium de vocibus quae extrinsecus sunt et quadrivium de intellectibus qui intrinsecus concepti sunt pertractat." 58 Kilwardby, De ortu scientiarum, S. 131, 21ff.: „Videtur autem mihi sine praeiudicio Hugonis et ceterorum doctorum, quod si oportet mechanicas septiformi arte comprehend! propter hoc, ut quadam congruentia respondeat septenarius in mechanicis septenario in artibus liberalibus, polest aliquantulum congruentius poni apud catholicos ..."; zu dann folgenden Einzelverbesserungen wie zur Revision der Gesamtsystematik der Artes mechanicae s. unten. 59 Hugo, Didascalicon, S. 12: „ut... defectuum, quibus praesens subiacet vita, temperetur necessitas"; S. 16f.: „opus artificis imitantis naturam" (Ausführungen der Erfindungen, die den Mängeln abhelfen); S. 39: „mechanica est scientia ad quam fabricam omnium rerum concurrere dicunt". Zur Fortsetzung dieser von Hugo neu begründeten Bestimmung der Werkkünste Sternagel, Artes mechanicae (wie Anm. 56), S. 85ff.

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Minderstellung der Werkkünste (die sie z.B. auch allegorisch als Schlammflüsse erscheinen läßt gegenüber dem klaren heilsamen Wasser der Artes liberales bei Gottfried von St. Victor)60 wird nicht mehr geteilt von den Philosophen, die von arabischer Wissenschaftsdiskussion beeinflußt sind. Wenn bei Dominicus Gundissalinus in De divisione philosophiae (12. Jh.) die praktischen oder Handlungswissenschaften insgesamt stark an Boden gewinnen, trifft auch die mechanischen Künste kein abwertendes Urteil mehr: sie werden der Ökonomik, einem Zweig der praktischen Philosophie, unterstellt und haben als „fabriles artes" gleiche Berechtigung wie die freien Künste, beide Gruppen zusammen sind „honestae artes".61 Ehrenwert seien deshalb auch die „Artes mechanicae et fabriles", weil sie dem Mangel des Menschen abhülfen und etwas Nützliches für seinen Gebrauch fertigten, entweder aus organischen oder anorganischen Stoffen.62 Weiter geht - unter dem Einfluß der gleichen Quellen - wohl Robert Kilwardby. Unter dem Dach der „scientia activa" sieht er für das „bonum spirituale" die Ethik, für das „bonum corporale" die Mechanik zuständig.63 Doch gibt es etliche Gründe dafür, daß die Mechanik dabei nicht die minderwertigere ist: Das Streben für den Körper ist ein natürliches, da die Verbindung von Seele und Körper natürlich, gottgegeben ist: das Werk des artifex Mensch ahmt die Natur und ihr Werk nach, damit steht der Mensch höher als alle übrigen Lebewesen, da er zu einem Teil für sich selbst sorgen kann, er hat eine „ratio artium excogitativa", die zudem noch geübt und geschärft wird durch solche Erfindung.64 Das Werk dieser Artes wird mit dem schöpfernahen opus naturae so nahezu gleichwertig: „Deus non solum in natura sed in artifice multipliciter praedicandus et laudandus est.65 Mit der Aufhebung der relativierend abwertenden Einstufung wird auch der Bestand der 60 61

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Godefroy de Saint-Victor, Föns philosophiae, S. 36, v. 21ff., bes. 39f. Gundissalinus, De divisione philosophiae, S. 139f. (dazu S. 193, 310); vgl. Sternagel, Artes mechanicae (wie Anm. 56), S. 78ff.; Alessio, La filosofia (wie Anm. 48), S. 129ff. (bisher gründlichste Analyse); Betonung der Abhängigkeit von Al-Farabi seit der Ausgabe von Ludwig Baur. Die Stoffe werden - das ist bemerkenswert - zur Einteilungsgrundlage für die Artes mechanicae: Gundissalinus, De divisione philosophiae, S. 139: „Fabriles autem siue mechanice artes uocantur secundum quas fabri de materia proposita aliquid utile humanis usibus operantur. quarum species, quamuis multe sint secundum materias, tarnen in quibus uel ex quibus fiunt comprehend! possunt. omnis enim artis mechanice materia aut est corpus animatum aut inanimatum ...". Kilwardby, De ortu scientiarum, S. 123ff., hier S. 124, 12ff. Ebda., S. 127, bes. 128, 5ff: „Oportet enim ut natura illis [sc. animalibus] provideret quae sibi per artis industriam nescierunt subvenire. Homini autem cui data est ratio quae artium est excogitativa non oportuit naturam in talibus providere, quia per rationem et artem haec sibi ipse potest invenire ac preparare, et revera multo magis modo claret ratio hominis haec inveniendo quam a natura habendo claruisset." Ebda. S. 128,10f.

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überlieferten Artes mechanicae einer Durchmusterung unterzogen, um Ungereimtheiten der Systematik, Gewichtung und Überalterung auszugleichen: die theatrica wird in ihrer antiquierten paganen Form gestrichen, in ihren noch aktuellen Teilbereichen wie praktischer Musik anders zugeordnet;66 von der armatura wird die Architektur als selbständige Kunst getrennt.67 Solcherart Differenzierungvorschläge, die nach Kilwardby erheblich weiterführen könnten, wenn wirklich die Siebenzahl transzendiert werden sollte hin zu einer sachbezogenen Systematik dieser Künste in generates und speciales mechanicae,68 werden ergänzt durch eine Begriffskritik: statt navigatio der übergreifende Begriff „mercatura", ähnlich statt venatio die weitere Bezeichnung „cibativa vel nutritiva", statt lanificium „vestitiva vel cooperativa", d.h. Handels-, Lebensmittel- und Bekleidungslehre.69 Mit diesen Reflexionen ist eine Stufe des Umgangs mit den Artes mechanicae erreicht, auf der die Traditionsbindung mit der überkommenen Siebenergruppe gelöst und der Weg für eine freiere, nach neuen zeitspezifischen Erfordernissen jeweils sachgemäße Disponibilität dieser Disziplinen in die Neuzeit hinein geöffnet ist. Als Konsequenz aus diesem in der Theorie begründeten Wandel kann nun, in der Mitte des 13. Jahrhunderts, auch ein neuer Typ der Enzyklopädie realisiert werden. Der Autor des Übergangs in der Praxis ist Vinzenz von Beauvais mit seinem Speculum maius: Erst auf der dritten Stufe seiner Werkerstellung erhalten die Artes mechanicae darin ihren Ort. Wenn er sein Speculum zunächst traditionell beginnt, d.h. als Naturenzyklopädie nach der Imago mundi des Honorius Augustodunensis, dann mit einem „conspectus" der Universalgeschichte ergänzt zu der Einheit einer „tota historia naturalis et temporalis", so transzendiert er erst in einem nächsten Schritt der Werkerar66 67

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Ebda., S. 130, 17£f.; dazu S. 131f., 27ff.; die praktische Musik ist von medizinisch-therapeutischer Wirkung und wird dort zugeordnet. Ebda., S. 132,llff.: „Ut tarnen numerus septenarius harum artium servetur, potest architectonica poni tertia ut illa separetur ab armatura, et fabrilis utrique subserviat secundum diverse opera quae facit pertinentia ad armaturam et architectonicam." Ebda., S. 133,4ff. am Beispiel der venatio mit ihren Unterarten, dann: „Si enim talia essent nomina generalium mechanicarum, videtur quod aliquo modo proprie possent speciales mechanicas continere ..."; Z. 25ff.: „Nullam enim video necessitatem quare in tarn innumerabilibus artibus ponamus praecise septenarium artium liberalium. Et forte facile inveniri posset aliqua mechanica quae non faciliter ad aliquam istarum reduceretur." Ebda., S. 132,25ff. z.B. für die konventionelle Bezeichnung lanificium: „Si forte quis nominaret illam artem, quam Hugo vocat lanificium, artem vestitivam vel coopertivam vel aliquod aliud nomen consimilis significationis, omnes speciales artes operativas in lana, lino, pilo, pelle et huiusmodi posset continere eo modo quo ars generalis debet continere partiales." Ähnliches gilt für navigatio = mercatura (Z. 30ff.), agricultura = terraecultus (S. 133,lff.).

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beitung die natürlichen Ordnungen, den Ordo rerum et temporum, zu einem im erkennenden Subjekt liegenden ordo: zur Organisation des Wissens nach einem den Erkenntniskräften des Menschen entsprechenden Wissenschaftssystem, wie es dem Speculum doctrinale zugrunde gelegt wird.70 Mit seiner Disziplinengliederung und d. h. auch der Einbeziehung der Artes mechanicae in die Enzyklopädie hat er das Wissenschaftsmodell Hugos von St. Victor genutzt und in der Vierteilung der Grundwissenschaften Theorik, Praktik, Mechanik und Logik sowie in der jeweiligen weiteren Ausfächerung in die Einzeldisziplinen sich ihm angeschlossen.71 Damit ist wiederum eine neue additive Enzyklopädie mit einer Art Mischsystematik entstanden, bestehend aus historia naturalis, historia temporalis und Disziplinensumme. Diese Gesamtform (die stoffliche Überschneidungen in Kauf nimmt) dokumentiert eine Übergangssituation in der mittelalterlichen Enzyklopädik; sie erinnert zugleich an die kombinatorische Disposition von Isidors Etymologiae und die antike Disziplinenenzyklopädie. Wenn Vinzenz Hugos und Richards von St. Victor Wissenschaftsentwurf und damit auch ihre Erläuterung der Artes mechanicae übernimmt, so ist sein Ansatz um die Mitte des 13. Jahrhunderts in der Theorie schon etwas traditionell, fast antiquiert: deutliche Aktualität zeigt aber die praktische Durchführung, da zum einen die Aufnahme der Werkkünste generell neu geleistet und damit eine Entwicklung in Gang gesetzt wird, zum anderen in der übernommenen Siebenergruppe und deren Einzelabhandlungen hinsichtlich Abfolge, Gewichtung und Quellengebrauch durchaus eigene zeitspezifische Akzente gesetzt sind, d.h. im Praktischen die Kritik- und Erneuerungsfähigkeit sich wenigstens ansatzweise gespiegelt findet, die bei Gundissalinus und Kilwardby in der Theorie erreicht wurde. Zunächst fällt auf - das bemerkt bereits Lusignan72 -, daß die Medizin aus den Artes mechanicae herausgezogen und in einem eigenen umfangreichen Komplex theoretisch und praktisch, auch nach neueren arabischen Quellen, abgehandelt ist (Buch XII-XIV): denn sie war inzwischen zu einer umfangreichen eigenständigen Wissenschaft avanciert.73 An ihre Stelle tritt im Siebenerver70

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Meier, Homo Coelestis, S. 166ff.: in den Erkenntniskräften des Menschen spiegelt sich nach Vinzenz das trinitarische Prinzip von Gott und Welt, von diesen Kräften her wird dann als Reparationsarbeit das Wissen der verschiedenen Bereiche und Disziplinen gewonnen und genutzt („restitutio per doctrinam") - zunächst noch nach dem traditionellen Fächersystem Hugos von St. Victor; Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex, hier Speculum Naturale, Sp. 13ff. Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex, Speculum Historiale, S. 20ff.; Speculum Doctrinale, Sp. 9ff., 993fc; vgl. Hugo, Didascalicon, S. 23ff.; Richard von St. Victor, Liber exceptionum, S. 105ff. (bes. Lib. I 5). Lusignan, Les arts mecaniques, S. 45. Gundolf Keil, Die medizinische Literatur des Mittelalters, in: Artes mechanicae in middeleeuws Europa, hrsg. v. Ria Jansen-Sieben, Brüssel 1989, S. 73-111; vgl. Medizin im

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bund - gleichfalls bemerkenswert - die Alchemie, und auch für ihre Darstellung hat Vinzenz modernere, vor allem arabische Literatur (Avicenna u. a.) konsultiert.74 Während die Architektur, Kriegskunst, Textilherstellung, Schiffahrt und Handel sowie Jagd und Schaustellerkunst einigermaßen traditionell nach Isidor und dem antiken Fachschrifttum abgehandelt werden,75 findet die Agrikultur wieder eine gewichtige Sonderstellung dadurch, daß sie nur kurz unter den Werkkünsten, einläßlich aber innerhalb der praktischen Philosophie, und zwar der Ökonomik, erörtert wird.76 Dieser Platz, den Gundissalinus theoretisch schon allen Artes mechanicae gab,77 ist der Situation im Hochmittelalter ebenso angemessen wie - vor allem im Raum der italienischen Stadtkommune - die Einordnung der mechanischen Künste in die Politik, die dritte praktische Disziplin, bei Brunetto Latini und Jean d'Antioche, die damit eine Anregung aus Ciceros De inventione fortentwickeln im Bezug auf das aktuelle politische Handlungswissen in Wort und Tat, d. h. in den Disziplinen Rhetorik und Artes mechanicae.78 Gegenüber den Neuerungen, die Vinzenz bringt, hat seine Quellenbenutzung und Darstellung bei den übrigen Werkkünsten irritiert - etwa wenn er mittelalterlichen Abendland, hrsg. v. Gerhard Baader und Gundolf Keil, Darmstadt 1982 (Wege der Forschung 363), Einleitung, S. 1-44. 74 Hier sind arabische Quellen (Razi, Avicenna u. a.) bei Vinzenz genutzt, s. Lusignan, Les arts mecaniques, S. 44; Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruples, Speculum Doctrinale XI, Sp. 1053E-1054A: „Medicinam quoque magister Richardus inter septem mechanicas artes computat, sed quoniam haec ipsa non tantum in operatione manuum sicut caeterae, sed etiam in mentis speculatione consistit, videlicet quantum ad causarum considerationem; unde quasi media est inter practicam et theoricam, huius tractatum sequent! libro difficilius aliquantulum prosequendum reseruamus, et huius loco quoddam Alchimiae compendium interseremus; nam et ipsa competenter inter mechanicas numerari potest, et ad quasdam aliarum non parum utilis est, ut ad fabrilem et ad medicinam. Ad fabrilem quidem propter metallorum examinationem, commixtionem, disgregationem, transmutationem. Ad medicinam itidem propter substantiarum vel qualitatum salubrium a noxiis, quas frequenter etiam in medicinis simplicibus permixtae sunt, separationem" etc. 75 Dazu kurz Lusignan, Les arts mecaniques, S. 40ff.; eine genauere Analyse für das Gewicht und die spezielle Auswahl von Quellenmaterial im Kontext auch der jeweiligen fachwissenschaftlichen Überlieferung bleibt noch notwendig. 76 Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex, Speculum Doctrinale XI, Sp. 1053: „Praeterea de agi iculturae peritia plenius habitum est superius libro de oeconomica, ubi de rerum domesticarum administratione disertum est"; Lusignan, Les arts mecaniques, S. 43f.; s. auch Speculum Doctrinale VI, Sp. 481ff. neben der Lenkung und Versorgung der familia steht die Verwaltung der „res familiäres sive domesticae", die dann ganz nach Palladius' Opus agriculturae abgehandelt wird. 77 Gundissalinus, De divisione philosophiae, S. 139 zum zweiten Bereich der drei praktischen Disziplinen (Politik, Ökonomie, Individualethik), der drei Aspekte hat (disciplina, sollicitudo, doctrina): „... doctrina uero eos honestis artibus instruendo, alios si quidem liberalibus, alios fabrilibus [siue mechanicis] prout quemque decet." 78 Sternagel, Artes mechanicae (wie Anm. 56), S. 114ff.; Meier, Cosmos politicus, S. 342ff. (mit Nachweis aus Ciceros De inventione über Brünettes Rettoricd).

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unzeitgemäß die Architektur nach Isidor und Vitruv abhandelt statt entsprechend der gotischen Baukunst seiner Zeit, die Kriegskunst nach Vegetius statt nach der Praxis der Kriegsführung im 13. Jahrhundert.79 Doch läßt eine solche Sichtweise die Bedingungen des historischen Prozesses der neuen Literalisierung dieser Artes außer acht, in denen auch Vinzenz steht. Die Entwicklung der Werkkünste läuft in Praxis und Theorie lange Zeit zweigleisig: denn seit der Karolingerzeit wird langsam, seit dem 12. Jahrhundert schneller und dichter ein Fachschrifttum erst aufgebaut, das zunächst, wie in anderen Gebieten, etwa der Artes liberales, der Rechtswissenschaft, der Geschichte, von der hochstehenden antiken Literatur in dem entsprechenden Feld lernt, ehe es in Annäherung an das Rezipierte unter den Voraussetzungen und Bedürfnissen der eigenen kulturellen Entwicklung zu Innovationen gelangt, die, beides miteinander verschmelzend, es modifizieren und schließlich hinter sich lassen.80 An den antiken Fachschriften und mit ihrer Hilfe können dabei verschiedene Grade und Aspekte des neuen Gebrauchs realisiert werden: von einem mehr äußerlichen Repräsentationswert, der im Besitz der Codices, etwa an frühen Prachthandschriften des Vegetius und Vitruv, auch bei Laien dokumentiert wird, bis zur vollen inneren Inbesitznahme, in der Aneignung auch der Einzelinhalte für eine neue Praxis, die z.T. erst in der frühen Neuzeit ganz erreicht ist.81 Zum Beispiel hat sich in Untersuchungen der Vegetius-Überlieferung gezeigt, daß verschiedene Zeiten, Räume, Trägergruppen auch unterschiedliche Interessen an der antiken Fachschrift hatten - bei einer sich steigernden Rezeptionsfrequenz insgesamt bis in die frühe Neuzeit hinein.82 Die Lehren und Kompetenzen, die aus dem Werk des Vegetius entnommen wurden, reichten von den dicta und facta, der Vermittlung moralischer Lehren und sogar naturkundlichen Wissens über spezifische Elemente der Fürstenerziehung zu den im eigentlichen Sinn militärischen Inhalten. Auch diese waren verwendbar unter ganz verschiedenen Problemstellungen 79

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Lusignan, Les arts mecaniques, S. 42f.: „Ce qui ne peut manquer de nous frapper dans ce conseil que suit Vincent, c'est l'incroyable decalage qu'il entrame entre le discours sur les arts et la pratique du XIIIe siecle" etc. Diese Entwicklung näher zu untersuchen, ist mein Projekt zur mittelalterlichen Enzyklopädie im Sonderforschungsbereich 231 „Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter" in Münster für die Werkkünste beschäftigt. Zu Vegetius s. Anm. 82; über die Agrikultur und Architektur laufen Dissertationen in meinem Projekt (wie Anm. 80). Dazu die wertvollen Forschungen von Charles Reginald Shrader, The Ownership and Distribution of Manuscripts of the De re militari of Flavius Vegetius Renatus before the Year 1300, Diss. Columbia University 1976 (University Microfilms International, Ann Arbor 1991) und Forster Hallberg Sherwood, Studies in Medieval Uses of Vegetius' Epitoma rei militaris, Diss. University of California, Los Angeles 1980 (University Microfilms International, Ann Arbor 1991); Flavius Renatus Vegetius, Epitoma Rei Militaris, hrsg., übers, u. komm. v. Fritz Wille, Aarau/Frankfurt/M./Salzburg 1986, S. 8.

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und in sich wandelnden sozialen Kontexten von der Auswertung für die Bildung einer christlichen Kriegerschaft in der Karolingerzeit (Hrabans De anima an Lothar II.), der Zeit der Normanneneinfälle,83 über mehr philosophisch-politische Reflexionen des 12. Jahrhunderts zur Funktion des Kriegs im christlichen Raum (Johannes von Salisbury),84 zur Begründung christlicher Ritterschaft überhaupt bis zu den Fragen der Organisation militärischer Kräfte für die neue oberitalienische Stadtkommune (Aegidius Romanus und seine Übersetzungen) oder für das Frankreich des hundertjährigen Krieges85 - eine Geschichte der Rezeptionen, die bis ins 18. Jahrhundert noch reichen sollte. Für die Beurteilung der Wiederaufnahme der Artes mechanicae in die Enzyklopädie des hohen Mittelalters wird es also notwendig sein, analog dem einen Beispiel des Vegetius, Überlieferung und neue Verschriftlichungsimpulse auch der anderen Werkkünste zu verfolgen und auszuwerten. Seit dem 8./9. Jahrhundert gibt es neben Vegetius auch eine konstante Vitruv-, Faventinus-, Frontin- und Palladiusüberlieferung: im England Bedas, in den Zentren der Karolingerzeit wie Fulda oder Karls des Kahlen Hof, in St. Denis, auf der Reichenau, in St. Gallen usf.86 Von einer neuen Qualität sind im 12. Jahrhundert die Sammelcodices zu solchen Werkkünsten, die im Handschriftenverbund etwa Palladius' De agricultura, die Strategemata Frontins und De re militari des Vegetius sowie Vitruvs De architectura, z.T. auch kombiniert mit medizinischen Traktaten, gemeinsam tradieren - und zwar in wechselnden Zusammensetzungen.87 Funktionen und Bedingungen dieser Codices gesammelter Werkkünste zu ermitteln, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Verständnis des neuen Erfolgs dieser Artes im Rahmen der Enzyklopädie. Auch die Aufwertung der praktischen Philosophie und des dadurch bewirkten mittelalterlichen Aufschwungs der Ökonomik als wissenschaftlicher Disziplin setzt ein bereits ausgebildetes, in die Literalität drängendes theoretisches Potential der Werkkünste frei. Seinen ersten Höhepunkt bildet Konrads von Megenberg Oeconomica. Hier wurde Stoff aus den Artes mechani83 84 85 86

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Sherwood, ebda., S. 64ff., bes. S. 113ff. Ebda., S. 163ff. und S. 359ff. Ebda., S. 211ff, bes. S. 253ff.; Shrader, Ownership (wie Anm. 82), S. 97ff. Einige solcher Handschriften sind mit genannt bei Shrader, ebda., S. 19ff., 66, 72f., 79, 85ff., 91f., 95, 116, 197f., 330; im übrigen sind diese Traditionen weiter zu erforschen, nicht nur - wie bisher in altphilologischen Arbeiten überwiegend - zur Textherstellung. Vgl. z.B. Pierre Ruffel u. Jean Soubiran, Recherches sur la tradition manuscrite de Vitruve, in: Pallas 9,1960, S. 3-154; zu Columella in der Ausgabe von Will Richter (wie Anm. 22) Bd. 3, S. 651ff. (mit Lit.); ferner Cato et Varro, De re rustica, hrsg. u. übers, v. W. D. Hooper u. H. Boyd Ash, London 1979, S. XVIII ff. Dazu etwa Shrader, ebda., S. 66, 72, 79, 85f., 330.

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cae in größerem Umfang eingebracht, ja auch ganze Disziplinen von ihnen konnten in diesen Kontext integriert werden.88 Den Ökonomikschriften stehen im Hinblick auf die Frage nach den Werkkünsten einerseits verschiedene Typen des sogenannten Hausbuchs, andererseits die Fürstenspiegelliteratur nahe. Beide beschleunigen den Fortschritt in der Verschriftlichung der Artes mechanicae.89 Im Feld dieser enzyklopädischen Literatur hat Vinzenz mit seiner Darstellung der mechanischen Disziplinen durchaus eine frühe innovative Position. Der Grad der Bewußtheit hinsichtlich der Artes mechanicae als Sachgebiet sui generis, d. h. auch als Disziplinengruppe, wird außer durch Sammelcodices, Enzyklopädie, Fürstenspiegel, Hausbuch und Ökonomik ablesbar an mittelalterlichen Bibliothekskatalogen mit diesen Künsten als eigener Rubrik, wie sie bereits für das 9. Jahrhundert in Fulda zu erschließen ist:90 die weitere Erforschung dieser Verzeichnisse dürfte für die Werkkünste von Bedeutung sein.91 Nach der Neueingliederung der Artes mechanicae in verschiedene Wissenschaftsentwürfe im 12. Jahrhundert, ihre teilweise erlangte Gleichbewertung mit den liberalen Künsten sowie ihre Sammlung in eigenen Codices, nach ihrer Wiederaufnahme in die Enzyklopädie im 13. Jahrhundert treten sie im 14. und 15. Jahrhundert in eine Phase der stark expandierenden Verschriftlichung, in der handschriftlichen Vervielfältigung der Einzelschriften, in der Integration in neue weiträumige Werke, auch in zahlreichen Übersetzungen in die Volkssprachen oder in Bearbeitungen,92 die an neue Rezipientengruppen gerichtet sind, sowie schließlich in den Neugründungen fachwissenschaftlichen Schrifttums, das wiederum Einfluß nimmt auf Großwerke bis ins 16. und 17. Jahrhundert. Das Ergebnis ist ein starker Wandel, eine wach-

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Wie theoretisch Gundissalinus alle Artes mechanicae hatte praktisch schon Vinzenz die agricultura in die Ökonomik eingefügt; in welcher Art und in welchem Umfang Konrad von Megenberg u.a. die Werkkünste in der Ökonomik behandelt, bleibt eigens darzustellen. Der Literaturtyp Hausbuch, der in sich noch uneinheitlich erscheint und wenig erforscht ist (abgesehen von einigen Einzelexemplaren), und die weit besser untersuchte FürstenSpiegelliteratur (z. B. Aegidius Romanus) sind noch unausgeschöpfte Residuen von Artes mechanicae-Wissen. Nach freundlicher brieflicher Auskunft von Gangolf Schrimpf, Fulda, ist insbesondere aus der Handschrift Basel F III 42 (15. Jh.) in Zusammenhang mit zwei älteren Fragmenten in der Bibliothek des Klosters Fulda unter Hraban auf eine solche Abteilung zu schließen (artes mechanicae) mit Enzyklopädie, Alchemie, Militärkunst, Medizin, Agrikultur, Architektur. Auch hierfür gibt es bisher keine Untersuchung. Es wäre von besonderem Interesse, ob auch hier eine Entwicklungsstufe im 12./13. Jh. erkennbar wird. Einige Beispiele für Vegetius gibt Shrader, Ownership (wie Anm. 82), S. 97ff.; Sherwood, Studies (wie Anm. 82), S. 31 Iff.

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sende Differenzierung in einem inzwischen komplexen literarischen Gesamtfeld. Um von der spätmittelalterlichen Situation noch einen Ausblick zu wagen auf die Enzyklopädie der frühen Neuzeit und ihre Behandlung der Artes mechanicae, sei die Betrachtung beschränkt auf zwei Werke, die zwei zeitliche Stufen repräsentieren und sich zudem gerade hinsichtlich dieses Gegenstands grundlegend voneinander unterscheiden: Reischs Margarita philosophica von 150393 und Alsteds Encyclopaedia von 1630.94 In Kilwardbys Überlegungen von 1250 waren bereits zwei Möglichkeiten des Verfahrens in der Darstellung der mechanischen Künste erwogen: entweder das Beharren bei der konventionellen Siebenergruppe als dem Gegenstück zu den Artes liberales oder eine echte aktuelle Systematik mit zahlreichen Haupt- und Untergruppen,95 für die das strategische Instrumentarium nach einer Zeit intensiver Logikförderung bereits hier zur Verfügung gewesen wäre (offenbar drängte dazu noch nicht die Notwendigkeit). Reisch geht den ersten Weg mit der Beibehaltung des Septenars,96 wie übrigens die letzte mittelalterliche Enzyklopädie, der noch ungedruckte umfangreiche Föns memorabilium universi Domenico Bandinis (bis 1418),97 und kleinere Werke des 16. Jahrhunderts auch.98 Sein Stand wäre formal wie stofflich weitgehend der des 13. Jahrhunderts, wenn er nicht zusätzlich zur Abhandlung der Artes mechanicae nach den liberalen Künsten diese selbst jeweils in ihre theoretische und praktische Seite zerlegte und dadurch die mechanischen Bereiche auch an wichtiger Stelle unkonventionell wieder eingeholt hätte.99 Alsted dagegen ist ein hervorragender Vertreter des neuen systematischen Verfahrens. Er schließt die Mechanica, nachdem er in der Reihenfolge der universitären Fakultäten (mit Hauptgewicht bei Philologie und Philosophie) die Wissenschaftsbereiche abgehandelt hat, zwanglos an die Medizin an und präsentiert in einer komplexen Mischung von Traditionellem und Neuem 93 94

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Reisch, Margarita philosophica; dazu Dierse, Enzyklopädie, S. l Iff. Zu Alsted vgl. Anm. 1; Schmidt-Biggemann, Einleitung zur Ausgabe, Bd. l, S. V ff.; eine Übersicht über die Materien des Buches VI über die Mechanica Abb. 1. S. auch Dierse, Enzyklopädie, S. 18ff. Vgl. oben Anm. 58 und 68. Reisch, Margarita philosophica, Neudr. 1973, S. 505f., unter der Ethik eingeordnet findet sich die traditionelle Reihe dieser Artes (nach Hugo von St. Victor). Vgl. Anm. 12. Dazu Dierse, Enzyklopädie, S. 9ff.; im 17. Jh. sind die Artes mechanicae neben den liberales (wenigstens teilweise) da, aber meist durch eine neue Systematik überlagert: ebda., S. 16f. Reisch, Margarita philosophica, Neudr. 1973, S. 145ff. unterscheidet so bei Arithmetik, Musik, Geometrie jeweils speculativa und practica (was die ganzseitigen Illustrationen mit der personifizierten Ars und den Anwendungen schön zeigen, vgl. S. 204 zur Geometrie: Abb. 3); diesem Prinzip wäre genauer nachzugehen.

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Abb. 1: Reisch, Margarita philosophica, Basel 1517, S. 204, Eingangsbild zu Buch VI: Die theoretische Geometrie und ihre praktische Anwendung.

SCIAGRAPH!A T A B U L A VIG'ESIMA N O N A

Otbutau Librom vigefimum odavam ecnonum,itemque trigefimam, AKTES MECHANIC^ AnkuItanA' Vinicaltnn. Tubqui (_ Hotacuhura. Paftoritia. rAbfctati: «eftais. VetatotuiCPiTcatan. ftbquä £ Aucupium. Molinaria. Piitona, CoquinariatS' Laniohum. . fabquian^CttcTiTiationun. •T>pogripliica. , Miliurif. Ptsfiantioic$:|KaisJ Atduteiäo-C Inrentrix. nica ^ Direiärix. Compaftotia libtomm. .MercanuaienunDoofordidanun. rMctaHübflönuä. 'Pccpaiatona: m ans Metallipoliionufi. (ßa&eiaotw», ..... IfibtU ^ Stanni · lit.

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>. 3: Alsted, Encyclopedia, 1630, Bd. l, Taf. 30: bersicht ber die Artes mechanicae nach den vier aristotelischen Causae.

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„alle handwerklichen Berufe mit den Fertigkeiten und Fähigkeiten ..., die zu Beginn des 17. Jahrhunderts benennbar waren - das vielleicht umfangreichste Berufsinventar, das in dieser Zeit im Überblick gedruckt ist."100 Damit war ein Stand erreicht, von dem her es dann zu einem neuen Höhepunkt von Handwerk und Berufen in der französischen Aufklärungs-Encyclopedic kommen konnte, die den homo faber - so der Discours preliminaire - nicht nur im freien Entwerfen von Systematisierungsmustern, sondern auch praktisch in allen seinen Werktätigkeiten finden wollte, die bis dahin in der Enzyklopädie immer zu kurz gekommen seien.101

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Schmidt-Biggemann, Einleitung zur Ausgabe, Bd. l, S. XIV; Alsted teilt ein in die drei Bücher: l. Mechanologia generalis et specialis miscellanea; 2. Mechanologia physica; 3. Mechanologia mathematica. Er begreift dann eine Vielzahl dieser Artes unter die Hauptgenera: Abb. l, vgl. auch Abb. 2. d'Alembert, Discours preliminaire, zit. Paris 1777, S. IX, XXI ff., LXIIIff.; Diderot, Encyclopedie III, S. 182f., 211f„ 216, 248ff.; dazu Dierse, Enzyklopädie, S. 52ff. und 268.

HERFRIED VÖGEL

Sekundäre Ordnungen des Wissens im Buch der Natur des Konrad von Megenberg

Konrads von Megenberg Buch der Natur ist in weit über hundert Handschriften (72 davon bewahren den Text vollständig) und acht Drucken des 15. und 16. Jahrhunderts überliefert.1 Die mittelalterlichen Codices tradieren das Werk in zwei Fassungen, von denen die eine einen strophischen Prolog besitzt,2 die andere einen Widmungstitel3 führt. Nur diese Ausgabe enthält einen Abschnitt über Gott, die Engel und die Seele, welcher dem ersten Kapitel über den Menschen vorausgeht.4 Der Erstdruck (Augsburg: Johann Bäm1

Gerold Hayer, Die Überlieferung von Konrads von Megenberg Buch der Natur. Eine Bestandsaufnahme, in: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, hrsg. v. Volker Honemann u. Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 408-423; Ergänzungen dazu ders., zu lob dem hochgebornem fürsten Rudolfen dem vierden herczog in Österreich. Zur Rezeption von Konrads von Megenberg Buch der Natur, in: Festschrift für Ingo Reiffenstein zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Peter K.Stein u.a., Göppingen 1988 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik Bd. 478), S. 473-492, hier S. 478, Anm. 28. Die sechs Drucke des 15. Jahrhunderts verzeichnet auch Wilhelm Ludwig Schreiber, Handbuch der Holz- und Metallschnitte des XV. Jahrhunderts, 3. Aufl., vollständiger Nachdruck des Gesamtwerks, Stuttgart/Nendeln 1969, Nr. 3778-3783, S. 185-187. - Zu Leben und Werk Konrads: Margit Weber, Konrad von Megenberg. Leben und Werk, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 20, 1986, S. 213-324; Georg Steer, Konrad von Megenberg, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, 2., völlig neu bearb. Aufl., hrsg. v. Kurt Ruh u.a., Bd. 5, Berlin/New York 1985, Sp. 221-236; Buckl, Megenberg aus zweiter Hand, S. 27-53. 2 Das Buch der Natur von Konrad von Megenberg. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache, hrsg. v. Franz Pfeiffer, Stuttgart 1861, S. l f. (vgl. hierzu Nischik, Das volkssprachliche Naturbuch, S. 384-393); ein weiteres Kennzeichen dieser Fassung ist ein Epilog in Reimpaarversen (494,19-30). - Bloße Stellenangaben in Klammern beziehen sich hier wie im folgenden auf Seiten und Zeilen in Pfeiffers Edition. 3 Zitiert bei Hayer, zu lob dem hochgebornem fürsten (wie Anm. 1), S. 480. Beschreibung der Handschriften bei Buckl, Megenberg aus zweiter Hand, S. 55-110. Während Hayer (S. 477 mit Anm. 27) die zeitliche Priorität der Prologfassung in Frage stellt, zeigt Buckl (zusammenfassend S. 274, 305f.), daß die erweiterte Fassung jünger ist und nicht mehr von Konrad selbst herrührt. 4 Konrad von Megenberg, Von der sei. Eine Übertragung aus dem Liber de proprietatibus rerum des Bartholomäus Anglicus, hrsg. v. Georg Steer, München 1966 (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters H. 2). Eine Handschrift (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 589) überliefert den Abschnitt Von der sei und den gereimten Prolog (vgl. Hayer, Die Überlieferung [wie Anm. 1], S. 414f.; Buckl, Megenberg aus zweiter Hand, S. 122-126).

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ler 1475)5 enthält weder den Traktat über die Seele noch den Versprolog, sondern hat eine Art Vorrede in Prosa mit Werkbeschreibung und Verfasserangabe und am Ende ein Kolophon („Hie endet sich das buch der natur ...") mit Namen des Druckers, Ort und Datum. Die letzte Ausgabe des Buchs der Natur erschien unter dem Titel Naturbuch/ Vonn nutz/ eigenschafft/ wunderwirckung vnnd Gebrauch aller Geschöpff/ Element vnnd Creaturn/ Dem menschen zu gut beschaffene Nit allein den ärtzten vnd kunstliebern/ Sondern einem ieden Hauszuatter inn seinem hause nützlich vnnd lustig zuhaben/ zulesen vnd zuwissen bei Christian Egenolff in Frankfurt/M. (1536; unveränderter Nachdruck 1540 in derselben Offizin).6 Die Illustration des Titelblatts7 zeigt links, einer Hochleiste ähnlich, Organe des Menschen, rechts verschiedene Gefäße, Hölzer und Krauter. Beide Reihen sind am oberen Blattrand durch eine Ackerbau-Szene, am unteren durch die Darstellung einer Arzneiküche verbunden. Wie die übrigen Drucke des 15. Jahrhunderts beruht auch der Egenolff-Druck auf dem Erstdruck bei Bämler. Doch gehen die redaktionellen Eingriffe so weit, daß man von einer Neukonzeption des Buchs der Natur sprechen kann: Drei Kapitel (V. „von de merwundern"; VII. „vö manigerley schlangen"; XII. „von wunderlichen prunnen/ vnd von selczamen menschen") wurden ganz ausgeschieden, der Artikelbestand über Tiere, Pflanzen und Steine ist stark reduziert.8 Die einzelnen Artikel selbst sind vielfach gekürzt, insbesondere sind allegorische Auslegungen der res9 getilgt, ebenso Aussagen des Autors über seine Zeit, sein Buch und sich selbst.10 Den meisten Lemmata sind Illustrationen beigegeben,11 gelegentlich finden sich gedruckte Marginalien, die Krankheiten und Arzneien vermerken. Ein deut5

Beschreibung bei Karl Sudhoff, Deutsche medizinische Inkunabeln. Bibliographischliterarische Untersuchungen, Leipzig 1908 (Studien zur Geschichte der Medizin H. 2l 3), Nr. 60, S. 73. 6 VD 16 C 4913f., Teilfaksimile (Titelblatt, Bücher 7 und 8 über Bäume und Krauter) München 1963; vgl. Josef Benzing, Die Drucke Christian Egenolffs zu Frankfurt am Main von Ende 1530 bis 1555, in: Das Antiquariat 11,1955, S. 139-140,162-164, 201202,232-236, hier S. 164 (Nr. 104) und 202 (Nr. 174). Beschreibung bei Steer, Zur Nachwirkung des Buchs der Natur, S. 573f. 7 Abbildung bei Josef Benzing, Christian Egenolff und seine Verlagsproduktion, in: Aus dem Antiquariat. Beilage zum Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe 29/9, 1973, S. A 348-A 352, hier S. A 350. 8 Das Kapitel über die Bäume etwa umfaßt 26 Einträge gegenüber 53 im Bämler-Druck, die arbores aromaticae sind von 29 auf acht vermindert. Hinzugekommen ist ein Artikel über „Die tugent vnd natürliche wircklicheit des Öles von Wacholterberen..." (Bl. XL f.) mit zahlreichen Heilanzeigen. 9 Vgl. Ruberg, Allegorisches im Buch der Natur. 10 Vgl. Steer, Zur Nachwirkung des Buchs der Natur, S. 579f. 11 Vgl. Heinrich Röttinger, Der Frankfurter Buchholzschnitt 1530-1550, Straßburg 1933 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte H. 293), bes. S. 9f. mit Anm. 23, S. 4 mit Anm. 10 und S. 25, Anm. 3.

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sches und ein lateinisches Register verzeichnen die behandelten res in alphabetischer Ordnung, das deutsche führt zudem Namen von Krankheiten auf.12 Die Ausstattung des Egenolff-Druckes berücksichtigt offenbar den Gebrauch des Buches. Bild und Text des Titelblatts präsentieren ein Hausbuch, das allgemein nützliche Kenntnisse über die Natur, vor allem aber heilkundliches Wissen verspricht. Die Sachregister und Marginalien erlauben einen schnellen Zugriff auf spezielle Informationen. Abbildungen verleihen dem Text eine überschaubare Struktur und sollen möglicherweise die Identifizierung bestimmter Gegenstände, etwa der Tiere und Pflanzen, erleichtern. Während Textbestand und Einrichtung des Egenolff-Druckes ein konkretes Bild der Gebrauchssituation, für die das Naturbuch berechnet war, vermitteln, ist der Gebrauch der autorisierten Fassung einigermaßen unsicher. Vereinzelten Äußerungen Konrads zufolge kommen sowohl (gebildete) Laien als auch Geistliche als Adressaten des Buchs der Natur in Betracht. So hat man hinter den „guot freund" (485,33; vgl. 54,24), die Konrad als seine Auftraggeber nennt, Laien im Umkreis der Wiener Stephansschule vermutet, deren Rektor er von 1342 bis 1348 war.13 An anderer Stelle freilich beklagt sich Konrad über die „ainvaltig pfaffen" (310,31), die nur wenig von der heilsgeschichtlichen Bedeutung der Tiere wüßten, worin man einen Hinweis auf ein klerikales Zielpublikum gesehen hat.14 Eine Differenzierung der Leserschaft nach geistlichen und weltlichen Benutzerinteressen andererseits ist kaum zu begründen. Zwar bietet das Buch der Natur in unterschiedlichem Umfang sowohl Heilanzeigen als auch spirituelle Deutungen der beschriebenen res,15 doch gehören nach mittelalterlicher Naturauffassung beide Aspekte der Schöpfung zusammen.16 12

Z. B. die Marginalien „Hirn artznei", „Cholica. Niern wee", „Augenfel", „Lebersucht", „Apostemen heilen" und „Zanwee" im Abschnitt über die wohlschmeckenden Bäume. 13 Die Verwendung des Buchs der Natur im Unterricht ist allerdings unwahrscheinlich; vgl. Hayer, zu lob dem hochgebornem fürsten (wie Anm. 1), S. 476, sowie Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte, München 1988 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters Bd. 90), S. 95ff. Hayer, Die Überlieferung (wie Anm. 1), S. 411f., stellt zur Diskussion, daß die „guot freund" in Regensburg, wo Konrad 1350 als Scolasticus bezeugt ist, zu suchen sein könnten. 14 Vgl. Hayer, zu lob dem hochgebornem fürsten (wie Anm. 1), S. 474-476; Georg Steer, Geistliche Prosa, in: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter 1250-1370. Zweiter Teil: Reimpaargedichte, Drama, Prosa, hrsg. v. Ingeborg Glier, München 1987 (De BoorNewald, Geschichte der deutschen Literatur Bd. III/2), S. 306-370, hier S. 350f.; ders., Konrad von Megenberg (wie Anm. 1), Sp. 233; Ruberg, Allegorisches im Buch der Natur, S. 324; Hayer, Kontextüberlieferung und Gebrauchsfunktion, S. 63ff. 15 Vgl. die instruktive Darstellung bei Nischik, Das volkssprachliche Naturbuch, S. 254294. 16 „Wan der almehtige got hat uns alliu dinc ze nutze unde ze guote geschaffen, einhalp zuo dem libe und anderhalp zuo der sele, und also hat er uns die Sternen gegeben an

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Das Buch von den natürlichen Dingen, wie Konrads Werk in den Handschriften betitelt wird, geht auf den Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpre, genauer auf die nicht mehr autorisierte dritte Redaktion zurück.17 Konrad unterteilt sein Buch, weitgehend der Ordnung seiner Quelle folgend, in acht Kapitel, die er „stuck" nennt. Entgegen der Vorlage stellt er das Kapitel über den Menschen an den Anfang, dann werden der Makrokosmos, die Tiere und Pflanzen, die Steine und Metalle und schließlich wunderliche Quellen und Menschen behandelt. Nach eigener Aussage hat Konrad das lateinische Buch um „mer dan daz drittail gemert und den sin erlaucht" (485,34f.). Insbesondere die Abschnitte über die Pflanzen sind gegenüber der Vorlage stark erweitert,18 derjenige über die Krauter allein um 30 Artikel, die größtenteils auf der Schrift De vegetabilibus des Albertus Magnus beruhen. Andererseits bezieht Konrad in Formeln wie „daz spraech ich ungern" oder „des gelaub ich Megenbergaer niht" verschiedentlich Position gegen seine Vorlage,19 und offenbar hat er auch Kenntnisse aus eigener Beobachtung integriert. Unklar bleibt Konrads Angabe, er habe ,den Sinn des Buches erleuchtet'. So läßt sich das Bild des Erleuchtens auf allegorische Deutungen beziehen, die den Beschreibungen zahlreicher res und ihrer Proprietäten hinzugefügt sind, aber auch allgemein als Hinweis auf die ausführliche und verständliche Darstellung des Materials interpretieren.20 Die einzelnen Kapitel des Buchs der Natur sind so aufgebaut, daß zunächst mehr oder weniger umfangreiche Einführungen in die jeweiligen Wissensgebiete geboten und diese dann in speziellen Artikeln phänomenologisch erschlossen werden.21 Dabei können die Ordnungsprinzipien wechseln. So werden die Glieder und Organe des Menschen in der Reihenfolge ,vom

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dem himel und allez daz üf ertriche ist". Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen und Wörterbuch v. Franz Pfeiffer, Bd. l, Wien 1862, Nr. 11, S. 157, Z. 6-9. Zuletzt dazu Helgard Ulmschneider, Ain puoch von latein ... daz hat Albertus maisterleich gesamnet. Zu den Quellen von Konrads von Megenberg Buch der Natur anhand neuerer Handschriftenfunde, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 121,1992, S. 36-63. Eine Ausgabe der Thomas HI-Redaktion wird von Konrad Vollmann, München, vorbereitet. Vgl. die tabellarischen Übersichten bei Nischik, Das volkssprachliche Naturbuch, S. 406-426. Vgl. ebda., S. 244f., sowie Manfred Günter Scholz, Quellenkritik und Sprachkompetenz im Buch der Natur Konrads von Megenberg, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, hrsg. v. Johannes Janota u.a., 2 Bde., Tübingen 1992, Bd. 2, S. 925-941. Darauf hingewiesen sei, daß dem ersten deutschsprachigen Kompendium des Wissens über die Schöpfung, dem am Ende des 12. Jahrhunderts verfaßten Lucidarius, die Lichtmetapher in den Titel geschrieben ist. Keine .Einführung' haben das Kapitel über die Bäume und der Abschnitt über die Wunderbrunnen. Der allgemeine Teil über die Planeten folgt nach den entsprechenden

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Kopf zu den Füßen' behandelt, die Elemente nach dem Kriterium ihrer Schwere, die Tiere, Pflanzen, Steine und Metalle nach der Ordnung des Alphabets. Ohne erkennbare Systematik bleibt das letzte Kapitel über die Quellen und Wundermenschen. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß Konrad die Disposition seines Buchs nicht an exponiertem Ort (etwa in einer Art Vorwort) offenlegt, sondern von Fall zu Fall, also gebunden an eine fortlaufende Lektüre, erklärt.22 Über den Inhalt des Buchs wird der Leser zum ersten Mal ausführlich am Ende des ersten Kapitels unterrichtet: daz ander stuck sol sagen von den vier elementen, von den winden, von regen, taw, sne, reif, tonr, plitzen und ändern Sachen, die in den elementen geschehent, und auch von den siben planeten. daz dritt stuck wirt sagen von aller tier natür, si gen oder si slingen sich auf der erd, si swimmen in dem wazzer oder si fliegen in dem luft. daz vierd stuck von allen paumen und von irr art. daz fünft stuck von allen kräutern und edeln würzen, daz sehst von allen edeln stainen. daz sibent von allem gesmeide. daz aht und daz letzst von mangen wunderleichen prunnen (54,12-22). Das zweite Kapitel über die Planeten und Elemente eröffnet dann mit einem knappen Hinweis auf die von der Vorlage abweichende Ordnung: „Ich läz des puoches Ordnung ze latein, wan ez ist hie gar ungeordent, und wil anheben des ersten von den himeln und von den planeten, und dar nach von den elementen" (55,6-9). Vor dem ersten Artikel über die vierfüßigen Tiere, die der erste Abschnitt des dritten Kapitels behandelt, macht Konrad auf die alphabetische Ordnung des Stoffes aufmerksam: „Nu hab wir gesait von den tiern in ainr gemain; für paz well wir sagen von ainem iegleichen tier aigencleichen, und des ersten von den, der nam sich ze latein anhebt an ainem A, dar nach an ainem B, reht als daz ABC stet" (119,21-25). Derselbe Hinweis findet sich auch zu Beginn des Abschnitts über die Meerwunder sowie am Anfang der Kapitel über die Bäume und über die Edelsteine. Das achte „stuck" über die Wunderquellen ordnet Konrad nachträglich dem Element Wasser zu: „Daz ist daz aht stückel und daz letzst des puochs nach unserm gehaiz, in dem wir sagen wellen von etleichen wunderleichen prunnen, und daz stückel gehoert wol zuo dem stück von den elementen, dö wir von dem wazzer haben gesait" (482,3-7). Die Reihenfolge der beschriebenen Quellen folgt keinem bestimmten Schema. Dasselbe gilt schließlich für den als Anhang ausgewiesenen Abschnitt über die Wundermenschen, was dort auch ausdrücklich vermerkt wird:

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Einzelartikeln (68,12-24) und erschöpft sich in einem Hinweis auf Konrads Übersetzung der Sphaera mundi des Johannes von Sacrobosco. Vgl. Palmer, Kapitel und Buch, S. 80-86 (mit einer Dokumentation der gesamten Buchstruktur).

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Herfried Vögel nu vant ich ain puoch ze latein der selben lai, daz hat noch ains Stucks mer, daz sagt von den wunderleichen menschen.... nu sagt daz puoch ze latein von den und von disen under ainander an alle ordenung. dem wil ich nu volgen unz an daz end (485,35-486,1; 489,12-14).

Die Ordnung des Buches - dies geht aus den zitierten Passagen hervor befriedigt nur bedingt ein potentielles Bedürfnis nach gezielten Informationen über spezifische Wissensbestände. So wird etwa nur der Leser den Artikel über die Finger rasch nachschlagen können, dem das aus der Medizin geläufige Gliederungsprinzip a capite ad calcem23 vertraut ist, und ebenso muß der Benutzer die natürlichen Zusammenhänge kennen, um problemlos den Artikel über den Tau, der dem Element Luft zugeordnet ist, zu finden. Auch die alphabetische Ordnung in den Kapiteln drei bis sieben ist in dieser Hinsicht nur von eingeschränktem Wert. Die Artikelfolge nämlich richtet sich nicht nach den deutschen, sondern nach den lateinischen Bezeichnungen der Dinge, was für den lateinunkundigen Leser, der nach den volkssprachigen Begriffen suchte, eher verwirrend als hilfreich sein mußte. Hier stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls wie die mittelalterlichen Schreiber und ihre Auftraggeber auf die angedeuteten Schwierigkeiten reagierten, das heißt die Frage nach redaktionellen Möglichkeiten der Texterschließung außerhalb des Textes selbst. Dabei kommen insbesondere Gliederungshilfen wie Register, Abschnittsbezeichnungen, Rubrizierungen, Illustrationen und anderes mehr in Betracht.24 Jene Formen der Strukturierung nenne ich „sekundäre Ordnungen", Ordnungen also, die nicht die Materie, sondern den Gebrauch des Buches organisieren. Das ,Beiwerk' zum Text dürfte schließlich auch Anhaltspunkte dafür liefern, für welche Gebrauchssituationen die Codices bestimmt oder zumindest für welche sie tauglich waren.25 Zu den wichtigsten Möglichkeiten sekundärer Ordnung gehören Inhaltsverzeichnisse, die in den Codices Register oder Tafel genannt werden. Sie extrapolieren gewöhnlich Kapitel und Artikelüberschriften in deutscher Sprache. Sehr sorgfältig angelegt ist etwa das Inhaltsverzeichnis der Münchener Pergamenthandschrift cgm 38 aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die Pfeiffers Edition zugrundeliegt. Der Schreiber ließ für das Register 23 24

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Vgl. Gundolf Keil, Organisationsformen medizinischen Wissens, in: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur, S. 221-245, hier S. 230ff. Zur historischen Ausprägung des Inventars an Gliederungsmitteln sowie zum Verhältnis von Buch und Textstruktur ausführlich Palmer, Kapitel und Buch, bes. S. 44f., 51ff., 76ff. Vgl. auch Johann Peter Gumbert, Zur .Typographie' der geschriebenen Seite, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter, S. 283-292. Vgl. Karl Stackmann, Die Bedeutung des Beiwerks für die Bestimmung der Gebrauchssituation vorlutherischer deutscher Bibeln, in: De captu lectoris. Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken, hrsg. v. Wolfgang Milde u. Werner Schuder, Berlin/New York 1988, S. 273-288.

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acht nicht gezählte Blätter frei, die aber nicht alle benötigt wurden, so daß der verbleibende Raum zwischen Register und Werkanfang mit der Genealogie der oberpfälzischen Familie von Preckendorff (Einträge von 1389 bis 1561), welcher der Codex gehörte, gefüllt werden konnte. Das Verzeichnis wurde demnach erst angelegt, als die Niederschrift des Textes abgeschlossen war. Durch Angabe von Blattzahlen wird auf die Stellen verwiesen, wo die Artikel zu finden sind. Mit der Überschrift „Daz ist daz püch von den naturleichen dinge ze daeutsch braht vö maist5 cunrat von megenberch" setzt die alte Foliierung ein. Auch der cgm 590 (1. Hälfte 15. Jh.)26 ist mit einem präzisen Inhaltsverzeichnis ausgestattet. Innerhalb des Registers sind die Kapitelgrenzen durch rote Initialen gekennzeichnet, nicht jedoch das achte „stuck" über die Wunderbrunnen und -menschen, das ohne besondere Auszeichnung in der Liste der Metalle aufgeführt wird. Während hier wie im cgm 38 die Blattverweise nicht zwischen Recto- und Versoseiten unterscheiden, begegnet in der Berliner Folio-Handschrift 912, die das Buch der Natur zusammen mit dem Reisebericht Johanns von Mandeville überliefert,27 ein System, das das Nachschlagen weiter vereinfacht. In den Registern zu beiden Werken beziehen sich die Stellenangaben nicht auf ein Blatt, sondern jeweils auf eine Doppelseite, also auf 2V1V, 3r/2v und so weiter. Das gleiche System ist im cgm 258 angewandt. Das Inhaltsverzeichnis befindet sich dort nicht am Anfang, sondern am Ende des Buches (neue Zählung BI. 147r-151r). Wohl um das Nachschlagen nicht zu erschweren, sind die Blätter jeweils auf der Versoseite gezählt. Die Stellenangaben beziehen sich auf diese und die Rectoseite des folgenden Blatts. Die Registrierung der Artikel erfolgt nach unterschiedlichen Prinzipien. Bis „Von der tan" (Bl. 149rb) werden wie gewöhnlich die Überschriften wiedergegeben, danach - nicht ganz konsequent die lateinischen und deutschen Bezeichnungen der res („Alnus erlpawm", „Amigdal9 mädel" ... bis „Auru golt" ... „plübü"). Die Abschnittsbezeichnungen orientieren sich jedoch weiterhin an den Superscripta (z.B. „Von den wolsmekenden pawme in einer gemain"). Durch die Wiedergabe der lateinischen Begriffe wird die alphabetische Ordnung der res durchsichtig, die der Auswurf deutscher Überschriften verschleiert.28 Darüber hinaus mag das auf diese Weise entstandene Lexikon der Pflanzennamen auch praktische 26

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Vgl. Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, neu beschrieben v. Karin Schneider, Tl. 2: Cgm 201-350, Tl. 3: Cgm 351-500, Tl. 4: Cgm 501690, Tl. 5: Cgm 691-867, Wiesbaden 1970-84 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis, Editio altera V,2-5), hier Tl. 4, S. 191f. Vgl. Hermann Degering, Kurzes Verzeichnis der germanischen Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek, Bd. 1: Die Handschriften in Folioformat, Leipzig 1925 (Mitteilungen aus der Preußischen Staatsbibliothek Bd. 7), S. 125. Vgl. Palmer, Kapitel und Buch, S. 83.

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Bedürfnisse, etwa bei der Zusammenstellung von Rezepturen, befriedigt haben. Daß der Besitzer der Handschrift nicht zuletzt auch an allegorischen Auslegungen interessiert war, zeigen zahlreiche Nota-Vermerke im Tierkapitel. Aus dem Berliner Codex 912 wiederum läßt sich ersehen, daß die Verzeichnisse nicht immer verläßlich sind. Während nämlich das Register dort das Kapitel über die Wunderbrunnen ankündigt, fehlt es im Text. Dies deutet darauf hin, daß der Schreiber zunächst das Inhaltsverzeichnis angelegt hat, in das er nach der Fertigstellung der Handschrift die Blattzahlen eintrug. In anderen Codices brechen die Blattverweise der Register plötzlich ab,29 sind fehlerhaft30 oder fehlen ganz.31 Der cgm 586 (datiert 1453)32 gliedert das Inhaltsverzeichnis in 13 lateinisch überschriebene tabulae ohne Blattangaben (Mensch; Planeten und Elemente; vierfüßige Tiere; Vögel; Meerwunder; Fische; Reptilien; Würmer; Bäume; aromatische Bäume; Krauter; Edelsteine; Metalle), die Einteilung des Buches in acht „stuck" bleibt jedoch erhalten. Die Abschnittsgrenzen im Text sind durch Schmuckinitialen markiert und werden darüber hinaus durch knappe Inhaltsangaben in roter Schrift hervorgehoben. So heißt es am Übergang vom ersten zum zweiten Kapitel: „Hie lert er von den himeln vnd von den vier elementen gar weißlichen zusagen" (Bl. 26r), und am Anfang des dritten Kapitels: „Das dritt stück diß püchs lert vns von den tiren in ains gemain" (Bl. 48V). Gelegentlich wird ein Bezug zu den tabulae hergestellt, wie etwa vor dem Abschnitt über die Meerwunder: „Nun wil er lernen in ains ändern taffein von den merwundern allenthalbn in ainer gemain etc. etc." (Bl. 93V). Die Ordnung des Registers, die mittels der Einrichtung der Handschrift auch den Text erfaßt, verdeutlicht die topische Ordnung des Buchs der Natur33 und unterstreicht dessen enzyklopädischen Anspruch. Hinweise auf das Lehrangebot des Buches in den Schreiberzusätzen sowie 29

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Z. B. Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. 2° 987. Auch Teilregister sind möglich, wie im cpg 300 der Universitätsbibliothek Heidelberg, dessen Inhaltsverzeichnis sich lediglich auf das erste „stuck" über den Menschen bezieht. Vgl. Die altdeutschen Handschriften der Universitäts-Bibliothek in Heidelberg, verzeichnet u. beschrieben v. Karl Bartsch, Heidelberg 1887 (Katalog der Handschriften der Universitäts-Bibliothek in Heidelberg Bd. 1), Nr. 145, S. 57. Z. B. Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. 2° 1464. Z. B. München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 295, cgm 589 (mit der Registerüberschrift: „Incipit Liber de naturis rerum"). Ein Kaufvermerk im Vorderdeckel des cgm 295 weist einen Laien als Besitzer aus: „Item das puch hab ich Martein Räutter dye zeit pfleger zu Radegk chauft von Gamrechten Lampotinger umb XIIII fl. hat Linhart Golsar den chauf darumb gemacht anno 1462. Aber hab ich ym geben LX dn". Vgl. Anm. 59. Vgl. Schneider, Die deutschen Handschriften (wie Anm. 26), Tl. 4, S. 183f. Vgl. Palmer, Kapitel und Buch, S. 84; Von der sei, hrsg. v. Georg Steer (wie Anm. 4), S. 15f. Entsprechend wird das achte Kapitel, das diese Ordnung durchbricht, nicht in

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der Verzicht auf Stellenangaben im Register lassen vermuten, daß der Codex nicht zum Nachschlagen, sondern zur lectio - vielleicht in der klösterlichen Gemeinschaft, wie es der Segenswunsch „Diuinum flamen inceptum compleat amen" nahelegen mag - gedacht war.34 Der cgm 588 hingegen, der wie der cgm 590 das Buch der Natur zusammen mit Gottfrieds von Franken Pelzbuch überliefert, hat im Register anstelle von Blattangaben eine durchgängige Zählung der Artikel in roter Tinte.35 Für das Inhaltsverzeichnis wurden Kapitel- und Artikelüberschriften ausgezogen, die dann im Text nicht mehr auftauchen. Die Artikel sind dort nur zum Teil numeriert. Im Kapitel über die Bäume etwa reicht die Zählung von Agnus castus (Bl. 154V) bis Cedrus (Bl. 157V), setzt dann aus bis zur Ulme (Bl. 177V) und bricht nach dem Balsam (Bl. 180r) erneut ab. Die Artikelzahlen stehen in wechselnden Größen und Farben manchmal beim Lemma, manchmal am oberen oder unteren Blattrand. Sie stimmen stets mit der Zählung im Register überein und sind offenbar gelegentlich eingetragen worden. Anders als im cgm 586 wird durch die Registergestaltung im cgm 588 die theologisch-philosophische Struktur des Buchs der Natur eher verwischt. Dem entspricht, daß im Text Kapitel und Artikel lediglich durch Initialen voneinander abgesetzt werden. Die praktische Funktion der Abschnittszählung bleibt in diesem Fall allerdings unklar. Zwar erlaubt das Verfahren die Reduzierung anderer Gliederungsmittel und somit des Aufwands bei der Herstellung der Handschrift, doch ist zu bezweifeln, daß es auch den Interessen der Benutzer entgegenkam. Denn diese haben es offenbar nicht für hilfreich erachtet, den Text konsequent nach dem Findesystem des Registers auszuzeichnen. Auch der cgm 1116, den Dietrich von Tuchern 1406 im Auftrag des Grafen Johannes von Querfurt (1390-1418) niederschrieb,36 zählt im Register Kapitel und Artikel (12 „Von den engein" bis VII10 „Von blye"), und auch diese

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einer eigenen Tafel verzeichnet, sondern an die Metalle angehängt. In der erwähnten Berliner Handschrift Ms. germ. 2° 912 werden die Brunnen und Wundermenschen in den Abschnitten über das Element Wasser bzw. über den Menschen beschrieben; vgl. Hayer, Die Überlieferung (wie Anm. 1), S. 411. Vgl. Klaus Schreiner, Gebildete Analphabeten? Spätmittelalterliche Laienbrüder als Leser und Schreiber wissensvermittelnder und frömmigkeitsbildender Literatur, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache, hrsg. v. Horst Brunner u. Norbert Richard Wolf, Wiesbaden 1993 (Wissensliteratur im Mittelalter Bd. 13), S. 298-327, der auf lesende Laienbrüder in spätmittelalterlichen Klöstern aufmerksam macht. Vgl. Schneider, Die deutschen Handschriften (wie Anm. 26), Tl. 4, S. 185-187. Zu Geschichte und möglichen Funktionen der Kapitelzählung vgl. Palmer, Kapitel und Buch, S. 51f. Vgl. Hayer, zu lob dem hochgebornem fürsten (wie Anm. 1), S. 482-484; Buckl, Megenberg aus zweiter Hand, S. 79-87.

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Handschrift hat keine Überschriften. Allerdings war Dietrich bemüht, die Buchstruktur transparent zu machen. Jedes Kapitel beginnt auf einer neuen Seite mit auffällig großen Lettern, die einzelnen Lemmata sind durch Großund Fettschrift optisch hervorgehoben. Auf das Register folgt eine Gliederung des Buchs („Nota dis buch hat acht teil oder acht stuck ...", Bl. 5V), dafür fehlt aber die Inhaltsangabe vor dem zweiten Stück (54,11-22). Anstelle einer Foliierung erscheinen jeweils die Stücknummern auf der Vorderseite der Blätter. Die redaktionelle Einrichtung der Handschrift, so scheint es, sollte das Buch auch als Nachschlagewerk brauchbar machen. Dabei dürften außer dem bei Vollendung des Codex 16jährigen Grafen seine Beamten, vielleicht seine Lehrer als Benutzer in Frage kommen. Zugleich läßt sich an der Handschrift ablesen, daß ein Interesse an allegorisch-deutenden Passagen auch für nichtgeistliche Leser anzunehmen ist. Zahlreiche Nota-Vermerke markieren den allegorischen Sinn der Dinge und „stehen somit zumindest gleichberechtigt neben der Darstellung der lügenden der beschriebenen Lebewesen und Steine, auf deren Nutzen oder Schaden für den Menschen, deren besondere, oftmals kuriose Wesenseigenschaften mit Zeigehänden gewiesen wird".37 Dies bestätigt auf andere Weise auch der dezidiert medizinisch ausgerichtete cgm 249, der unter der Überschrift „Hie hebt sich an daz püch der natur aller Creatur Darczv Erczney zu allen Gelydern dez menschen" eine teils gekürzte, teils erweiterte Fassung des Buchs der Natur ohne Inhaltsregister bewahrt.38 Dem Text sind an verschiedenen Stellen Rezepte beigegeben, und mehrfach in der Handschrift ist Platz für Nachträge gelassen (nach dem Artikel über den Rücken allein drei Viertel der Blattseite). Insbesondere finden sich zahlreiche Ergänzungen zu den Krautern. Dabei ist bemerkenswert, daß die Zusatzartikel in der Mehrheit mit deutschen Überschriften versehen sind, während die Pflanzen selbst nach ihrer lateinischen Bezeichnung alphabetisch geordnet werden. Hier wurde also die Gliederungstechnik des Buchs der Natur übernommen, was das Funktionieren dieses Systems in einem spezifischen Gebrauchszusammenhang belegt. Am Ende der Handschrift ist ohne erkennbare Systematik ein Sachregister begonnen, das die Handschrift auch nach allegorisch-heilsgeschichtlichen Aspekten erschließen sollte. Unter den Stichworten „De uerbo dei", „Auaricia" und anderen sind Fundstellen ausgezogen, werden einschlägige Artikel benannt oder Blattzahlen angegeben wie z. B. unter „De sancta Cruce" „Rp In Colüba 82" oder unter „De potentibus" nach einigen Exzerpten „Rp eciam In aper". 37 38

Hayer, zu lob dem hochgebornem fürsten (wie Anm. 1), S. 484. Vgl. Schneider, Die deutschen Handschriften (wie Anm. 26), Tl. 2, S. 135-137; Hayer, Kontextüberlieferung und Gebrauchsfunktion, S. 69.

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Die Kapitel- und Artikelgrenzen sind in den meisten Handschriften traditionell durch Initialen und Überschriften gekennzeichnet. Sie machen die Gliederungsstufen des hierarchischen Werkaufbaus transparent und erscheinen in roter Tinte oder sind rubriziert. In einigen Handschriften sind die Anfänge der Stücke besonders ausgewiesen, in anderen werden Kapitel- und Artikelgrenzen gleich behandelt. Dies ist etwa der Fall im cgm 587.39 Die Handschrift besitzt kein Register, und auch sonst ist die Ausstattung eher unauffällig. Sie scheint nicht zum Abschluß gebracht worden zu sein. Jedenfalls sind am Anfang und am Ende zahlreiche Blätter nicht beschrieben. Zudem fehlt das achte Kapitel, obwohl es noch angekündigt wird. Der schon genannte cgm 590 andererseits gliedert die Artikel durch rote Überschriften und Initialen. Darüber hinaus ist an vielen Stellen Raum für Zeichnungen freigehalten, die aber bis auf zwei (zum ersten und zweiten Kapitel) nicht ausgeführt sind. Während auf diese Weise eine sinnenfällige Strukturierung erreicht werden sollte, sind in derselben Handschrift die Kapitelübergänge nicht besonders ausgezeichnet. Die Heidelberger Handschrift cpg 311 wiederum ist mit zahlreichen Illustrationen versehen, besitzt jedoch - anders als der cgm 590 - kein Register.40 Die auf 1476 datierte Handschrift des Freisinger Domherrn Diepold Waldeck schließlich (cgm 585),41 die vielfach Umstellungen und Kürzungen aufweist und insgesamt ein naturkundlich-medizinisches Interesse ihres Besitzers verrät, verzichtet fast völlig auf Überschriften, doch sind andererseits ganze Textpassagen, z.B. der Anfang des Artikels über die Luft und der größte Teil des Artikels über den Jaspis mit roter Tinte geschrieben. Die Ordnung des Stoffes wird hier von individuellen Benutzerinteressen geradezu optisch wahrnehmbar überlagert. Die Beispiele sollten gezeigt haben, daß die Ausstattung der Handschriften die Ordnung des Buchs der Natur in Kapitel („stuck"), Abschnitte und Artikel, die sich an traditionellen Formen mittelalterlicher Buchgliederung orientiert, mehr oder weniger stützt. Für die einzelnen Varianten mögen äußere Gründe wie Produktionskosten oder die Vorlage der Schreiber verantwortlich sein. Doch ist auch mit spezielleren Interessen und Kompetenzen der Auftraggeber zu rechnen, die die Einrichtung der Codices beeinflußt haben. Sekundäre Ordnungen können daher neben Besitzervermerken und 39

40 41

Vgl. Schneider, Die deutschen Handschriften (wie Anm. 26), Tl. 4, S. 184f. Der Codex kam von Hans Stüpff, der 1467 als Rentmeister in München und Straubing genannt wird und der auch den cgm 401 (deutscher Psalter von Heinrich von Langenstein) und den cgm 525 (Psalter mit Glosse des Nikolaus von Lyra, deutsch von Heinrich von Mügeln) besaß, an das Münchener Karmeliterkloster. Vgl. Die altdeutschen Handschriften der Universitäts-Bibliothek in Heidelberg (wie Anm. 29), Nr. 146, S. 57. Vgl. Hayer, Kontextüberlieferung und Gebrauchsfunktion, S. 69.

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Leserspuren - und unter Berücksichtigung von Eingriffen in die Textgestalt42 - wichtige Bausteine für eine Rekonstruktion der Gebrauchssituation liefern, in denen die Bücher ihre Funktion erfüllten. Dabei dürfte den Registern besondere Bedeutung zukommen. So ist es kaum anders vorstellbar, als daß Codices mit Inhaltsverzeichnissen die Möglichkeiten der Benutzung erheblich erweiterten.43 Nicht zuletzt aber dürfte eine Typologie sekundärer Ordnungsmerkmale auch die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Handschriften klären helfen. Mit dem Medienwechsel von der Handschrift zum Druck ändern sich die Bedingungen, die sekundäre Ordnungen provozieren. Nicht mehr die individuellen Ansprüche der Auftraggeber oder die Gewohnheiten der Schreiber, nicht mehr unterschiedliche Kopiervorlagen bestimmen die Aufmachung der Bücher, sondern die wirtschaftlichen Interessen der Verleger. Zugleich wird der potentielle Benutzerkreis des Buchs der Natur wesentlich erweitert, anonym und ständisch indifferent. So preist die Vorrede der Bämler-Ausgabe von 1475 das Buch als „eyn nüczliche kürczweylige materi/ darjnne eyn yegklicher mensch vil selczsamer sachen vnterrichtet mag werde" (Bl. 4r). Anders als es für die Handschriften anzunehmen ist, hatte die Ausstattung der Drucke daher nicht auf spezifische Gebrauchssituationen zu reagieren, sondern diese allererst zu entwerfen. Der Erstdruck von Johann Bämler (1475) stellt wie die Handschriften dem eigentlichen Werkanfang („Hye nach volget das püch der natur ...", Bl. 4r) ein Register voran (Bl. l r -3r), das den Inhalt in zwölf Kapitel gliedert (Mensch; Planeten und Elemente; vierfüßige Tiere; Vögel; Meerwunder; Fische; Schlangen; Würmer; Bäume; Krauter; Steine und Metalle; Wunderbrunnen und -menschen) und in diesem Punkt an den oben beschriebenen cgm 586 erinnert. In anderen Hinsichten weicht das Register von den aus den Handschriften bekannten ab, wie etwa die Einträge zu den ersten drei Kapiteln verdeutlichen: Zu dem ersten haltet dz püch jnn von de mesche in einer gemein · Darnach vö~ ds hyrnschal/ vö" de hyrn · vö dem har/ vö de schlaff Also vö~ de haubt piß auff die füsse des menschen/ vnd vö allen gelidern jnnwendig vn außwendig was ir natur vn eygenschafft ist · vn wie sich der mensch dar mit halten vnd sich vor schaden bewarn vnd im selbs helffen sol/ vn ist · xxxiij · pletter die dauo sage. 42

43

Vgl. Georg Steer, Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse, in: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, hrsg. v. Kurt Ruh, Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte Bd. 19), S. 5-36. Andererseits mag es verwundern, daß in keiner der mir bekannten Handschriften ein (alphabetisches) Sachregister angelegt wurde. Zur Geschichte alphabetischer Register vgl. Brincken, Tabula alphabetica.

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Das ander Capital oder stuck sagt vö den himeln ... des Capitels anfang vacht an an de · xxxij · plat mit seiner figur/ vn ist xxvj pletter gar eygenlich nach einander beschriben. Das dritt Capitel sagt von natur der tier/ Als vö dem Esel · Roß · Hund · wolff · Fuchs · Luchs. Vnd von ändern heymlichen vn wilden tiern der vil an der zal sind · was yegklichs natur an im hab · vn welches gut schad/ nucz ods vnnucz sey dz vindest du an dem · Ixviij plat des dritte Capitels anfang mit einer figur/ dar bey ettliche tier geformiert sind. Der Artikelbestand wird nicht im einzelnen aufgelistet, sondern ähnlich der Inhaltsangabe vor dem zweiten Stück (54,12-22), die der Druck gleichfalls enthält, nur summarisch beschrieben. Dazu kommen stets Hinweise auf die Blattzahlen, mit denen die Kapitel beginnen. Nur unvollständig hingegen werden Angaben zu ihrem Umfang sowie Verweise auf ganzseitige Holzschnitte, die den Kapiteln vorausgehen, gemacht. In nahezu allen Registereinträgen wird der Nutzen des Buches betont: Das vierte Kapitel verspricht Kenntnisse „von edlen vnedlen vögeln/ ds ob sibenczig an ds zal sind ... dz zemal nücz vn gut zu hören ist". Vergleichbare Informationen werden über die Meerwunder angekündigt („... wie die gsitt sind vn was ir art vn eygeschaft vn ir Übung auf dem mer ist das ist selczsam zu hören ..."), über die Fische („... wie mä die prauche niesse vnd meyde sol dz oft not ist zu wisse ..."), über die Schlangen („... was ir natur ist dz zemal wundslich zu höre ist..."), über das Gewürm („... welches nucz ods vnnucz sey..."), über die Bäume („... wie man die zu gesuntheit vn zu erczney niesse vn prauche sol ..."), über die Krauter („... wie man das alles zu erczney zu gesuntheyt vnd sunst nüczen nyessen vn prauchen sol das gar ein nüczliche materi ist vn not zu wissen wen man der ding teglichen prauche thüt ...") und schließlich über die Edelsteine („... was natur vn krafft sy an in haben vnd war zu sy gut sind ..."). Auf das Register folgt ein rot gesetztes Vorwort, das noch einmal den Werkinhalt zusammenfaßt, eine Reihe von Autoritäten aufzählt und den Übersetzer „Cunrat von Megenberg" nennt.44 Sämtliche Kapitelanfänge sind mit Schmuckinitialen versehen, außerdem die Teilabschnitte IV B, VI 83-86 nach der Ausgabe Pfeiffers sowie die über die Metalle und über die Wundermenschen. Wie in den Handschriften wird die Artikelfolge durch Überschriften gegliedert. Sie erscheinen jeweils vom Text abgesetzt, so daß die Blätter gut überschaubar sind. Der erste der insgesamt zwölf Holzschnitte45 befindet sich zwischen Register und Werkanfang auf der Rückseite des dritten Blattes. Er zeigt eine 44 45

Zitiert bei Steer, Zur Nachwirkung des Buchs der Natur, S. 575, Anm. 22, und Sudhoff, Deutsche medizinische Inkunabeln (wie Anm. 5), S. 73. Vgl. 494,4-18. Vgl. Der Bilderschmuck der Frühdrucke, begründet v. Albert Schramm, fortgeführt v. der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Bd. 3: Die Drucke von Jo-

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Gruppe von drei stehenden Figuren, wobei die Figur rechts ein aufgeschlagenes Buch, die links ein Gefäß (Harnglas ?) in der Hand hält. In der Mitte ist ein fast nackter Mann zu sehen. Nicht nur das erklärte Thema des ersten Kapitels, der Mensch, ist hier bildlich erfaßt, sondern auch das heilkundliche Wissen, das aus dem Buch gewonnen werden kann, scheint in der Figurenkonfiguration angedeutet. Auch die Funktion der übrigen Holzschnitte ist nicht etwa nur darauf beschränkt, die Inhalte der Kapitel darzustellen. Vielmehr halten sie die Ordnung des Registers auch im Text, der den Stoff in acht Stücke unterteilt, präsent. Schließlich dienen sie dazu, die einzelnen Kapitel aufzufinden. Der Druck nämlich besitzt keine Foliierung, so daß die Stellenangaben im Register nur dann hilfreich sind, wenn die Zählung der Blätter von Hand nachgetragen wird, was in dem von mir benutzten Exemplar46 nicht geschehen ist. Während der Registertext dem Buch der Natur eine Reihe von lebenspraktischen Funktionen zuschreibt, dient die Ausstattung des Drucks nur sehr unvollkommen dessen alltäglichem Gebrauch. Insbesondere ist die Möglichkeit des schnellen Zugriffs auf spezielle Informationen nicht gegeben. Vielmehr präsentiert sich der Druck als Lesebuch, das Nützliches und Kurzweiliges verspricht. Er war offenbar ein Erfolg. 1478 und 1481 erschienen zwei weitere Ausgaben des Buchs der Natur bei Bämler, deren Textgestalt und Ausstattung mit dem Erstdruck übereinstimmen.47 Das von mir eingesehene Exemplar des zweiten Bämler-Druckes48 gehörte laut einem Eintrag auf der freien Rückseite des ersten Blattes einst der BenediktinerAbtei Tegernsee. Unmittelbar darunter ist der Vorbesitzer genannt: „Hüne librum obtulit deo et sancto Quirino per sua et suorum salute honestus vir Johannes Leytner de Schliers. 1497". Dieser hat aus Anlaß seiner Profeß im selben Jahr unter Abt Quirin I. Regler (1492-1500) wohl seinen gesamten Bücherbesitz dem Kloster vermacht.49 Dabei handelt es sich um einige Inkunabeln und über 20 lateinische Handschriften, die sämtlich theologisch-philosophischen Inhalts sind. Die Leserspuren freilich sind nicht einschlägig. Der

46 47 48 49

hann Baemler in Augsburg, Leipzig 1921, Neudr. Stuttgart 1990, Abb. 453-465; Helmut H. Schmid, Augsburger Einzelformschnitt und Buchillustration im 15. Jahrhundert, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens l, 1958, S. 274-322, hier S. 289f. München, Bayerische Staatsbibliothek, 2° Inc. c.a. 347. Vgl. Sudhoff, Deutsche medizinische Inkunabeln (wie Anm. 5), Nr. 61 und 62, S. 73f. München, Bayerische Staatsbibliothek, 2° Inc. c.a. 710 m. Zur Identität Leytners s. Pirmin Lindner, Familia S. Quirini in Tegernsee. Die Äbte und Mönche der Benediktiner-Abtei Tegernsee von den ältesten Zeiten bis zu ihrem Aussterben (1861) und ihr literarischer Nachlaß, Tl. l, München 1897, Nr. 515, S. 93; die dem Kloster geschenkten Bücher Leytners verzeichnet Virgil Redlich, Tegernsee und die deutsche Geistesgeschichte im 15. Jahrhundert, München 1931 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte Bd. 9), S. 171f., Anm. 11 (das Buch der Natur fehlt).

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Druck wurde - wahrscheinlich von Leytner selbst - foliiert. Darüber hinaus sind die Überschriften rubriziert und die Namen von Autoritäten sowie lateinische Begriffe unterstrichen worden. Einige wenige Marginalien bezeugen ein medizinisches Interesse, etwas dichter finden sich Anstreichungen bei heimischen Tieren. Auch das Münchener Exemplar des Druckes von 1481 stammt aus Tegernsee und wurde 1487 angekauft.50 Es ist weder mit Blattzählung versehen noch rubriziert. Wenige Nota-Vermerke verweisen sowohl auf Heilanzeigen (z. B. zu 200,26) als auch auf allegorische Auslegungen (z. B. zu 219,30). 1482 folgen zwei weitere Augsburger Ausgaben des Buchs der Natur bei Hans Schönsperger und Anton Sorg.51 Beide gehen auf die Bämler-Drucke zurück, wie ein Vergleich des Abschnittbeginns über die Metalle zeigt: Bämler 1475: Das ist nun das sibend stuck des buches/ in de wir sagen wollen von de geschmeide. wan das ist sibner ley/ gold/ silber/ kocksilber/ kupffer/ czyn/ pley vnd eisen Die geschmeid hat got beschaffen zu meschlichem nucz. Den messing begreiffet man vnds de kupffer vn den stahel vnder de eisen. Schönsperger 1482: Das ist nun das sibent stuck des buches in de wir sagen wollen von dem geschmeide wann das ist sibnerley gold silber kocksilber kupffer zyn/ pley vnd eysen · Die geschmeid hat got beschaffen zu menschlichem nucz · Den messing begreifft man vnder de kupfer vn den stahel vnds de eisen. Sorg 1482: Das ist nun das sibent stuck des büchs in dem wir sagen wollen von dem geschmeid · Wann das ist sibnerley gold · silber · kocksilber · kupffer · zyn · pley vnd eisen · Dye geschmeid hat got geschaffen zu menschliche nucz · Den messing begreifft man vnds de kupffer · vnnd den Stachel vnder dem eisen.

Die Ausstattung der Drucke weicht nur geringfügig von den Bämlerschen ab. Schönsperger läßt im Register sämtliche Hinweise auf Kapitelanfang und -umfang beiseite. Auch die zwölf Holzschnitte, die Nachschnitte der Bämlerschen sind, werden nicht erwähnt. Zudem ist der Teil über die Metalle nicht wie in den Drucken von Bämler mit einer Schmuckinitiale ausgezeichnet, sondern lediglich durch die Überschrift von dem über die Edelsteine abgesetzt. Das Münchener Exemplar dieses Drucks52 ist rubriziert, hat aber 50

51 52

München, Bayerische Staatsbibliothek, 2° Inc. c.a. 1039; handschriftlich auf Bl. : „Das puech gehört degernsee zue sant kürein, vnd ist gekaufft so man czalt an. cccc. vnd Ixxxvij jar". Vgl. Sudhoff, Deutsche medizinische Inkunabeln (wie Anm. 5), Nr. 63 und 64, S. 7577. München, Bayerische Staatsbibliothek, 2° Inc. c.a. 1181.

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keine Foliierung, was mit den fehlenden Blattverweisen im Register zusammenhängen mag. Im Kapitel über die vierfüßigen Tiere hat sich der Benutzer an den lateinischen Bezeichnungen orientiert. Jedenfalls ist von Asinus bis Taurus ein rotes ABC an den Blattrand gemalt, es wird also entgegen den deutschen Überschriften die lateinische Ordnung der res hervorgehoben. Dasselbe Verfahren ist noch einmal im Kapitel über die Meerwunder angewandt. Dort sind zudem sämtliche allegorische Deutungen mit Nota-Zeichen versehen, während das Tierkapitel keinerlei Anstreichungen aufweist. In den übrigen Abschnitten jedoch sind Allegorien gelegentlich wieder vermerkt. Die Auszeichnungen des Benutzers insgesamt deuten darauf hin, daß er eine lateinische Bildung besaß. Auch im Druck von Sorg wird im Register auf Blattangaben verzichtet. Die Holzschnitte jedoch sind bis auf die zum neunten und zehnten Kapitel erwähnt. Dabei handelt es sich um Nachschnitte der ,Figuren' des Druckes durch Schönsperger, mit Ausnahme der Illustration zum elften Kapitel, die anstelle des mit Edelsteinen geschmückten St. Ulrich einen Steinschneider zeigt.53 Der letzte Augsburger Druck des Buchs der Natur erschien 1499 wieder bei Schönsperger.54 Die Textgestalt bleibt gegenüber der Ausgabe von 1482 unverändert, ebenso sind die Holzschnitte aus dem füheren Druck übernommen. Neu ist das illustrierte Titelblatt. Unter der Überschrift „Hie nach volgt das buch der natur · innhaltende zum ersten vö eigenschafft vnd natur deß menschen. Darnach von der natur vn eigenschafft deß hymels. ds tier, des gefügeis, der kreüter. ds stein, vn von vil ändern natürlichen dingen", die den Anfang der Vorrede zitiert, zeigt der Holzschnitt eine typische MagisterDiscipulus-Szene (Abb. l).55 Der Lehrer liest aus einem Buch, ihm gegenüber stehen vier Schüler. Auf einem Regal im Hintergrund liegen weitere Codices. Auf einem dieser Bücher steht ein Gefäß, auf das einer der Schüler zu blicken scheint. Die Rückseite des Titelblattes ist freigehalten. Dann folgt das Register, in dem zur leichteren Auffindung der Kapitelanfänge auf die Lagenzählung des Druckes hingewiesen wird.56 Die Recto-Seite des dritten Blattes füllt erneut ein Holzschnitt (Abb. 2). Er zeigt links eine Figur vor aufgeschlagenem Buch, im Hintergrund ist ein Regal zu sehen, auf dem Arz53

54 55

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Im Register heißt es dazu: „Das eylfft capitel hat ein figur daran die heydennischen meyster außweisent vnd [l]ernent von dem edlen gestein ...". Vgl. Schramm, Bilderschmuck der Frühdrucke (wie Anm. 45), Bd. 4: Die Drucke von Anton Sorg in Augsburg, Leipzig 1921, Neudr. Stuttgart 1990, Abb. 830-841. Vgl. Sudhoff, Deutsche medizinische Inkunabeln (wie Anm. 5), Nr. 65, S. 77. Vgl. Wilhelm Ludwig Schreiber u. Paul Heitz, Die deutschen „Accipies" und Magister cum discipulus-Holzschnitte als Hilfsmittel zur Inkunabel-Bestimmung, Straßburg 1908, Nr. 108, S. 64. Etwa am Ende des Eintrags zum ersten Kapitel: «... Vnd vahet das lesen an in dem ersten quatern an dem plat do vnden aij vertzeichnet ist".

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neibüchsen lagern. Im Vordergrund rechts steht eine zweite Figur, die mit einem Zeigestab auf einen der Behälter deutet. Der am Tisch sitzende Leser hat den Kopf nach hinten gedreht und blickt auf das bedeutete Gefäß. Der Holzschnitt der Verso-Seite des Blattes schließlich zeigt die aus dem Erstdruck bekannte Szene beim Arzt (Abb. 3). Erst das vierte Blatt bringt die Vorrede, an die sich das erste Kapitel, mit einer verzierten Initiale geschmückt, anschließt. Für die neu hinzugekommenen Illustrationen greift Schönsperger auf vorhandene Holzstöcke zurück. Beide waren ursprünglich für die Chirurgia des Hieronymus Brunschwig, die Johann Grüninger 1497 in Straßburg druckte, geschnitten. Im selben Jahr brachte Schönsperger einen Nachdruck dieser Ausgabe heraus (Hain 4019), für den er die Holzstöcke Grüningers benutzte.57 Brunschwig wendet sich in der Vorrede an diejenigen, „die da begerent zu leren yn chirrurgia das ist die hätwirckung in ds wund ertznie", präsentiert sein Werk also als Lehrbuch, das Buchwissen und praktisches Erfahrungswissen vermitteln will.58 Die überwiegende Zahl der Holzschnitte zeigt Lehrer und Schüler in Situationen ärztlicher Praxis, die Konzeption der Bebilderung unterstreicht somit den didaktischen Anspruch des Werks. Mit der Integration der Magister-Discipulus-Szenen in das Bildprogramm des Buchs der Natur scheint Schönsperger dessen Lehrangebot hervorzuheben und insbesondere dessen medizinische Inhalte zu akzentuieren. Wichtiger aber ist, daß die drei Holzschnitte unterschiedliche Gebrauchssituationen des Buches verbildlichen: Der erste dessen Verwendung in der Lehre, der zweite die Vertiefung und Erweiterung des Buchwissens durch empirisches Wissen, der dritte die Kombination beider Wissensbereiche symbolisiert in Harnglas und Buch - im Hinblick auf ihren Nutzen für den Menschen. Liest man die Szenen in Folge, dann wandert das aufgeschlagene Buch von der Hand des Lehrers über die Hand des Schülers in die Hand des praktischen Arztes. Alle drei Holzschnitte situieren Rezeption und Gebrauch des Buches in der Umgebung von Experten. Zieht man aus den Querschnitten durch das Formenspektrum sekundärer Ordnungen Bilanz, dann ergibt sich ein insgesamt inkohärentes, keinesfalls aber zu linearen Entwicklungen hin sich klärendes Bild. Bereits der cgm 38 aus dem 14. Jahrhundert weist alle signifikanten Möglichkeiten sekundärer Buchorganisation auf, die eine zielgerichtete, auswählende Lektüre erleichtern konnten, und bis heute macht sein Register Pfeiffers Edition als Nach57 58

Vgl. Schramm, Bilderschmuck der Frühdrucke (wie Anm. 45), Bd. 20: Die Straßburger Drucker. II. Teil, Leipzig 1937, Neudr. Stuttgart 1986, Abb. 348f., zu Grüninger S. 3-9. Das Buch der Cirurgia des Hieronymus Brunschwig, Straßburg: Johann Grüninger 1497. Begleit-Text von Gustav Klein, München 1911 (Alte Meister der Medizin und Naturkunde in Facsimile-Ausgaben und Neudrucken nach Werken des 15.-18. Jahrhunderts Bd. 3), hier S. 4 (neue Paginierung). Ein weiteres Faksimile erschien München 1968.

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schlagewerk praktikabel. Demgegenüber verzichten nicht wenige Handschriften59 und sämtliche Drucke des 15. Jahrhunderts auf ausführliche Inhaltsverzeichnisse und zwingen dadurch zu kontinuierlicher Lektüre. Das grundsätzliche Spannungsverhältnis hinsichtlich der Funktion des Buchs der Natur, das hier zum Ausdruck kommt, betrifft die mittelalterliche Naturenzyklopädie überhaupt. Sollte die Darstellung der Schöpfung als Weltbuch60 letztlich die Taten des Schöpfers verherrlichen, so waren mit der Gattung immer schon auch pragmatische Gesichtspunkte verbunden. Insbesondere Heinz Meyer hat am Beispiel der lateinischen Enzyklopädie gezeigt, daß alphabetische tabulae es erlaubten, die Konkurrenz zwischen philosophischtheologisch begründeten Konzeptionen und praktischen Benutzerinteressen auszugleichen.61 Auch der Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpre kommt solchen Interessen entgegen, indem er einzelne Dingbereiche nach der Ordnung des Alphabets untergliedert. Als Konrad von Megenberg den Liber übersetzt, hat er aber offenbar kein Nachschlagewerk im Sinn. Augenfällig wird dies, wenn er die alphabetische Ordnung bestimmter Kapitel erläutert, ohne den lateinischen ordo rerum für einen illiteraten Benutzerkreis ins Deutsche zu transformieren. So bleiben die alphabetischen Artikelfolgen an die lateinische Ordnung gebunden. Andererseits ist mir kein Fall bekannt, in dem versucht worden wäre, eine Reihenfolge nach den deutschen Bezeichnungen der res herzustellen. Zwar läßt sich an einigen Handschriften zeigen, daß Register die Benutzbarkeit verbessern sollten. Doch erst mit den Sachregistern der Drucke des 16. Jahrhunderts war ein Fluchtpunkt erreicht, von dem aus die Ordnung des Buchs das Wissen um die Ordnung des Werks entbehrlich machte.

59 60 61

Vgl. Buckl, Megenberg aus zweiter Hand, S. 55-109 (zu den B-Handschriften) und S. 312-316 (zu den A-Handschriften). Vgl. Meier, Grundzüge, bes. S. 472ff. Vgl. Meyer, Ordo rerum, Zusammenfassung S. 337ff.

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. 7: Konrad von Megenberg, Buch der Natur, Augsburg 1499, Titelblatt: Magister-Discipulus-Szene.

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Abb. 2: Konrad von Megenberg, Buch der Natur, Augsburg 1499, Bl. 3": Szene in der Apotheke.

Sekundäre Ordnungen des Wissens im Buch der Natur

«- · Abb. 3: Konrad von Megenberg, Buch der Natur, Augsburg 1499, Bl. Jv: Szene beim Arzt.

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UWE RUBERG

Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte am Beispiel des Faustbuchs von 1587

Ältere Enzyklopädien in der frühen Neuzeit - abgestorbene, erstarrte Fossilien oder wirksame Fermente? Vor diese vereinfachende Alternative sieht sich leicht, zu leicht geführt, wer exemplarisch über die Wirkungsgeschichte der Enzyklopädik auf literarischen Rezeptionsfeldern Klarheit zu gewinnen versucht. Mit dem Titel meines Beitrags sei eine Sproßproblematik der Enzyklopädik, die Integration enzyklopädischer in narrative, nicht-enzyklopädische Texte, als ein spezieller Aspekt der Intertextualität markiert. Es geht mir im folgenden also nicht um die Umarbeitungen enzyklopädischer Texte durch Umorganisation, Erweiterung, Kürzung, Übersetzung in die Volkssprachen, sei es in gereimte Fassungen wie Jakob van Maerlants Der naturen bloeme (um 1270, nach dem Liber de natura rerwn des Thomas von Cantimpre), sei es in Prosa wie Dantes Convivio (1303-08). Ebenfalls nicht näher verfolgen möchte ich hier die spezifische Literarisierung durch satirische Parodie enzyklopädischen Anspruchs und enzyklopädischen Sammlergeistes: Zu denken wäre an das 1590 - drei Jahre nach dem Faustbuch - erschienene letzte Werk Johann Fischarts, den Catalogus Catalogorum perpetuo durabilis, der, die Meßkataloge persiflierend, die Summierung der Wissens- und Unterweisungsgebiete karikiert durch ein ausuferndes pseudo-enzyklopädisches Bücherverzeichnis von 530 Titeln, darunter Cosmographia Purgatorij ...; Thesaurus Thesaurorum thesaurizatus ex multis thesauris per R. P. F. de Funibus; Commentaria commentariorum, cum Additionibus additionum & Annotationibus super Annotated... etc. Nicht weniger lohnend wäre, 300 Jahre später, Gustave Flauberts fragmentarisch gebliebener letzter Roman Bouvard et Pecuchet (1872-80), in dem die beiden wissenshungrigen Protagonisten, ursprünglich Kopisten von Beruf, aus allen erreich1

Johann Fischart, Catalogus Catalogorum perpetuo durabilis. Das ist: Ein ewigwerende/ Gordianischer/Pergamenischer vnd Tirraninonischer Bibliothecken gleichwichtige vnd richtige verzeichnuß vnd registratur ..., [Bibl. Dieziana, Stadtb. Berlin: 8° 9186a], Bl. B7V, C4r, Elr; vgl. in der Edition von M. Schilling Nr. 216, 299, 521. Fischart führt Bücherlisten Rabelais' weiter, wie im 17. Kapitel der Geschichtklitterung, wo bereits enzyklopädische Titel wie Gemma Gemmarum, Summa und Laborint figurierten (nach der Ausgabe letzter Hand von 1590 hrsg. v. Ute Nyssen, Düsseldorf 1963, S. 206f.).

Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte

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baren Büchern aller Wissensgebiete summa summarum bitter ironisch einen Thesaurus der Gemeinplätze, ein „Dictionnaire des idees resues", zusammenschreiben - Flaubert selbst nannte sein Vorhaben „une espece d'encyclopedie critique en farce".2 Mein Interesse gilt einem relativ klar abgrenzbaren Rezeptionssektor, der Umsetzung enzyklopädisch tradierten Wissens ins Narrative anhand einer Fallstudie zum Faustbuch von 1587. Schon früher hatte eine narrative Nutzung und Integration von Tatbeständen des tradierten Buchwissens in bestimmten Typen der mittelalterlichen Erzählliteratur ihre Rolle gespielt. Zu erinnern ist vornehmlich an vier Erzählkomplexe, die sämtlich auch in zahlreichen Druckauflagen des 16. Jahrhunderts weiterlebten und damit in die Literaturgeschichte der frühen Neuzeit hineinreichen: Herzog Ernst (präsent in der sog. Volksbuch-Prosa in mindestens 14 Auflagen zwischen 1560 und 1830), Alexander (in Hartliebs Fassung mit 18 Druckauflagen zwischen 1473 und 1670), St. Brandons Meerfahrt (ähnlich oft prosaisiert, bearbeitet und gedruckt) und schließlich Mandevilles Reisen in den deutschen Übertragungen von Velser und Diemeringen (von 1580-84 fast jährlich gedruckt, zuletzt 1697). In die jeweiligen Reiseschilderungen sind ethnographische, geographische, astronomische, kosmologische, naturkundliche, religionskundliche und historische Berichte und Exkurse aufgenommen, am ausgiebigsten bei Mandeville, dem „armchair voyager". Zwischen den Gattungsmerkmalen von Reisebericht und enzyklopädischem Schrifttum changierend, konnte Mandevilles Text noch in der jüngsten Monographie wieder als geographisches Kompendium aufgefaßt werden, das auf die Totalität topographischer Erfassung des bekannten Erdkreises ziele.3 Dagegen bleibt jedoch festzuhalten, daß Mandeville die Wissenskumulation letztlich bestimmend durch eine narrativ-fiktionale Strukturkomponente überformt. Auch die Mitüberlieferung bietet vorwiegend Narratives. Der Quellenhorizont jedoch - soviel bleibt richtig festgehalten4 - kommt dem einer Enzyklopädie gleich, denn nächst den gerüsthaften Itineraren verschiedener Pilger und Missionsreisender (des Dominikaners Wilhelm von Boldensele, des Franziskaners Oderico de Pordenone) rangieren enzyklopädische Werke wie das Speculum naturale und Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais, der Livres dou tresor Brunetti 2 3

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Gustave Flaubert, Bouvard et Pecuchet, hrsg. v. Edouard Maynial, Paris 1954, S. III. Christiane Deluz, Le Livre de Jehan de Mandeville. Une „Geographie" au XIVe siecle, Louvain-la-Neuve 1988 (Universite Catholique de Louvain. Publications de l'Institut d'Etudes Medievales - Textes, Etudes, Congres 8), S. 33ff.; siehe jetzt auch Klaus Ridder, Jean de Mandevilles „Reisen". Studien zur Überlieferungsgeschichte der deutschen Übersetzung des Otto von Diemeringen, Tübingen 1992 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 99). Deluz, ebda., Kap. La Librairie de Mandeville, S. 39ff.

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Latinis und die Otia Imperialia des Gervasius von Tilbury an zweitwichtigster Stelle. Vergleicht man, mit der Weltreisemotivik im Visier, die beiden wichtigsten Eigengewächse in der Erzählprosa des 16. Jahrhunderts, den Fortunatus (1509) und das Faustbuch (1587), beide nicht jahrhundertelang vorgeprägte, sondern eigenständig neue Geschichten gestaltend, beide in der Verfasseranonymität verbleibend, so tritt hinsichtlich der Quellennutzung ein auffälliger Unterschied hervor. Der auf die patrizische Lebenswelt ausgerichtete Fortunalus-Autor stützt sich auf das Itinerar aus dem Reisebericht des Nürnbergers Hans Tucher5 (gedruckt 1482) und verweist anläßlich der Bereisung des Fernen Orients die Wißbegierigen für Wunder, Abenteuer und Landessitten auf „das buch Johannem de montevilla/ vnnd andere mer bücher/ deren die solch land alle durchtzogen sind",6 ohne hier das Wissenswerte aus den Reiseberichten solcher - vermeintlichen - Augenzeugen detailliert auszubreiten. Anders der Faustbuch-Autor. Er legt nicht, wie im Fortunatus geschehen, einen erfahrungsgesättigten Authentizitätsgrund durch die Verwendung erprobter Itinerare, greift vielmehr mit wörtlichen Exzerpten gerade detailreich - materialiter und singulariter - auf enzyklopädische Schriften zurück, freilich ohne je Autoritäten oder Gewährsleute zu nennen. Daß der auf weiten Strecken kompilatorische Charakter des Faustbuchs nicht expliziert wird, wäre eo ipso im 16. Jahrhundert nicht einmal in einem für Laien bestimmten volkssprachlichen Traktat- oder Erbauungstext anstößig; für einen dominant narrativ bestimmten Text wie die Faust-Historia ist dieses Schweigen über die heran- und hereingezogenen Quellen gewiß durchaus gattungskonform. Das allumfassende Wissen über die Welt in ihren innersten Zusammenhängen steht im Faustbuch eben nicht im Kontext gelehrsamer Explikation und enzyklopädischer Darbietung, sondern es wird zum Angelpunkt in Fausts exemplarischem Lebensschicksal. Die Erzählkomplexe Teufelsbündnis und Magie, letztere im Fortunatus in Gestalt des Ubiquität verleihenden Wunderhütchens spät einbezogen und noch eher marginal, können im Faustbuch virulent werden, weil die Thematik um Wissensbesitz und Wissensvermittlung, Wissensdurst und Wissensschranken zum Problem geworden ist. Ein kontrastierender Blick auf die Ausgangslage in Brandons Meerfahrt kann dies verdeutlichen. 5

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Dazu nach den Vorarbeiten von Marjatta Wis (1962, 1965) und Anne Simon (1987) Hannes Kästner, Fortunatus. Peregrinator mundi. Welterfahrung und Selbsterkenntnis im ersten deutschen Prosaroman der Neuzeit, Freiburg 1990, S. 265ff. Fortunatus, hrsg. v. Jan-Dirk Müller, in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, Frankfurt/M. 1990, S. 490,19f.; Kommentierendes zur Quellennutzung S. 1167, 1197f., 1210f.

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Der irische Abt Brandan, so lesen wir in der sog. „Reisefassung" der Legende, stößt bei seinem Bücherstudium auf unbegreifliche Wunder der Schöpfung, die Existenz zweier Paradiese auf Erden, dreier Himmel und neun Fegefeuer, unbewohnbarer Landstriche, monströser Lebewesen, ja einer Antipodenwelt. Ungläubig verbrennt er dieses Buch, offenbar eine göttlich sanktionierte enzyklopädische Wissenssumme. Auf Gottes Geheiß muß er zu einer neunjährigen Seefahrt aufbrechen, um - gleichsam als ein geistlich instrumentiertes Pendant zu Alexander und Herzog Ernst - persönlich die Wunder der Welt als wirklich zu sehen und zu erfahren und um schließlich das verbrannte Buch als Zeuge neu zu schreiben - und das heißt: in seiner ursprünglichen Substanz zu bestätigen und wiederherzustellen.7 Den Doktor Faustus hingegen führt sein theologisches Bücherstudium nicht in Glaubenszweifel, sondern in eine bohrende Unzufriedenheit mit dem begrenzten Buchwissen. Zunächst versucht er mit den Mitteln der Zauberkunst und des Teufelspaktes unerlaubt, sich das Menschenmaß überschreitende Wissen des Mephostophiles anzueignen. Erst als dieser nach widerwilligen Auskünften über Verdammnis und Errettung weitere Antworten und Disputationen über solche „Gottseligen Fragen"8 verweigert, sucht er sein Heil auf dem Umweg einer kosmographischen und geographischen Exploration, in einer „diskursiven" Inaugenscheinnahme der gesamten Welt. Also Erkenntniserweiterung als Weltmensch durch empirische Weltbegegnung? Unter dieser Perspektive wird auch die Funktion der Rückgriffe auf enzyklopädisches Wissen und enzyklopädische Texte zu beurteilen sein. Seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat die zunächst positivistische Spurenfahndung in der Literaturwissenschaft nicht nur Mandevilles Reisen, sondern auch das Faustbuch als getarntes literarisches Beutelager erscheinen lassen. Aus der „Handbibliothek" des Faustbuch-Redaktors, wie sie sich anhand der aufgedeckten Quellen rekonstruieren ließ,9 erwähne ich die Kompendien zu Zauberei, Dämonologie, die protestantischen Exempei7

Brandans Reise gleicht „eher einer Büß- als einer Forschungsfahrt", mit Werner Röcke, Die Wahrheit der Wunder. Abenteuer der Erfahrung und des Erzählens im Brandanund Apollonius-Roman, in: Wege in die Neuzeit, hrsg. v. Thomas Cramer, München 1988, S. 252-269, zit. S. 255. 8 S. 881, Z. 12 (S. 44, Z. 6); zitiert wird nach der Ausgabe Historia von D. Johann Fausten, Frankfurt/M.: Johann Spies 1587, hrsg. v. Jan-Dirk Müller, in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts (wie Anm. 6), S. 831-986; jeweils angefügt ist die Fundstelle in der kritischen Ausgabe von Stephan Fussel und Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart 1988 (Reclam ÜB 1516). 9 Stephan Fussel, Die literarischen Quellen der Historia von D. Johann Fausten, in: Das Faustbuch von 1587. Provokation und Wirkung, hrsg. v. Richard Auernheimer u. Frank Baron, München/Wien 1991, S. 15-39, hier bes. S. 19f. Im Anhang ihrer Ausgabe (s. Anm. 8) haben Fussel und Kreutzer Quellentexte in Exzerpten zusammengestellt (S. 217-296).

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Sammlungen und das lateinisch-deutsche Realienlexikon des Petrus Dasypodius nur im Vorübergehen, um den herangezogenen kosmographischen, geographischen und naturkundlichen Wissenssummen auch unter funktionalen Aspekten nachgehen zu können. Für die Städtebeschreibungen im Verlauf der ausgedehnten natur- und kulturhistorischen Erkundungsreise Fausts durch Europa, die Türkei und Ägypten war anfänglich naheliegend Sebastian Münsters Cosmographia (zuerst 1544 und 1550) als Informationsgarant vermutet worden.10 Seit den Hinweisen Gustav Milchsacks (1892) stellte sich jedoch heraus, daß nicht die nach geographischen Gesichtspunkten ordnende Cosmographia Münsters Pate gestanden hat, sondern die bereits 1493 erschienene Weltchronik Hartmann Schedels, die die Städte nach ihrem historischen Rang - ihrem Alter entsprechend - reiht. Überzogen ist freilich Kritik, die den Faustbuch-Autor der acht- und interesselosen, mechanisch kumulierenden Kompilation schilt, da er anscheinend nur die durch ihre Holzschnitt-Illustrationen auffallenden Städte weitgehend in Schedels Abfolge exzerpierend einbezogen habe.11 Manches Mißverstandene und Mißverständliche, manche Sinntrübung12 dürfte auf den Zwang zur Komprimierung, wohl auch auf - wie immer zu erklärende - Eile der Abfassung zurückzuführen sein. Nach narrativen Kriterien ist die Abfolge der Reiseziele und die Auswahl aus Schedels Vorgaben jedoch weder beliebig noch absurd. Der Faustbuch-Text muß denn doch etwas mehr als den schalen Charme einer tabellarischen Registratur vermittelt haben. Immerhin bezeugt diese Reisepassage auf dem geflügelten Reitpferd Fausts anfängliche Erhebung über den menschlichen Normalhorizont, seine neue Bewegungsfreiheit ohne Erdenschwere. Er kann unabhängig von vorgezeichneten Itinerarien einen geographisch verblüffenden, aber nachvollziehbaren eigenen Kurs steuern. Der rasche, sprunghafte Ortswechsel nach Lust und Eingebung entspricht freilich nicht der Etikettierung seiner Reise

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Georg Elliger, Zu den Quellen des Faustbuchs von 1587, in: Zeitschrift für Vergleichende Literaturgeschichte und Renaissance-Litteratur N. F. l, 1887/88, S. 156-181, hier S. 158-161; skeptisch schon Hugo Hartmann, Zu den Quellen des ältesten Faustbuchs, in: Vierteljahresschrift für Litteraturgeschichte l, 1888, S. 183-189: Fausts Reisen, Kapitel 26 und 27. Hans Henning, Das Faust-Buch von 1587. Seine Entstehung, seine Quellen, seine Wirkung, in: Weimarer Beiträge 6, 1960, S. 26-57, zu Schedels Weltchronik, anknüpfend an Milchsack, S. 38; Barbara Könneker, Faust-Konzeption und Teufelspakt im Volksbuch von 1587, in: Festschrift für Gottfried Weber, hrsg. v. Heinz Otto Burger u. Klaus von See, Berlin/Zürich 1967, S. 159-213; das „belanglose Reisekapitel" wird hier als nur sekundäre Füllmasse angesehen (S. 199ff.). Jan-Dirk Müller bespricht die „nicht selten verwirrt und verstümmelt" (S. 1328) auftretenden Entlehnungen aus Schedels Weltchronik im Stellenkommentar seiner Ausgabe (wie Anm. 8, S. 1402ff.).

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als „Pilgrimfahrt".13 Jerusalem steht nicht auf seiner Agenda, dafür die türkischen Residenzen Konstantinopel und Kairo. Es mag kein Zufall sein, daß Faust zu den orientalischen Zielen von Krakau aus aufbricht, das wegen der dort gelehrten Nigromanzie berühmt und berüchtigt ist.14 Fausts Weg ist als magische Reise gekennzeichnet,15 der Aufwand bleibt für seinen Erkenntniszuwachs freilich ohne außerordentlichen Ertrag. Der Länder- und Städtereise (Kapitel 26) waren zwei noch anspruchsvollere Reisen im Erzähltext unmittelbar voraufgegangen, Fausts Höllenbesichtigung (Kapitel 24) und seine Gestirnsreise (Kapitel 25). Im achten Jahr des Teufelspaktes verlangt Faust von Mephostophiles eine Inspektionsreise „daß er der Hellen Qualitet/ Fundament vnd Eygenschafft/ auch Substantz mochte sehen/ vnd abnemmen" (892,6ff. / 52,17ff.). Früher in der anfänglichen Disputationsphase hatte Mephostophiles sich auf Fausts Fragen nach „Substantz/ Ort vnnd Erschaffung" (864,4f. / 30,20) der Hölle betont kurz gefaßt. So streute er unkommentiert einen Katalog von zehn lateinischen bzw. griechischen Namen der höllischen Unterwelt ein, der offensichtlich durch den Lucidarius vermittelt ist, eine für den Laien gedachte Wissenssumme, die seit etwa 400 Jahren in Gebrauch - hier wohl in einem Druck von 1572 benutzt ist. Der Lucidarius hatte beispielsweise zum vierten Namen seiner Liste erklärt: „Sie heißt auch Terra obliuionis/ das bedeut die Erden der

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„Reyß oder Pilgrimfahrt", 901,27t / 60,5. Die Krakauer Universität wird als die hohe Schule angesehen, an der der historische Faust die schwarze Magie gelernt habe; Zeugnisse nach Johannes Manlius und Johann Weier bei FüsseVKreutzer (wie Anm. 8), S. 271 und 293. Gegen den Verdacht auf naive Kompilatoren-Bequemlichkeit gab auch Jan-Dirk Müller zu bedenken, ob die Städteabfolge der Reise-Stationen nicht zu verstehen sei als ein „versteckter Hinweis auf Faustus' dämonische Ressourcen, dank denen er sich nicht um eine zweckmäßige Route kümmern muß" (wie Anm. 8, Kommentar, S. 1402). Bereits in seinem Beitrag „ Curiositas" und „erfarung" der Welt im frühen deutschen Prosaroman (in: Literatur und Laienbildung, S. 252-271) hatte Müller die „geographische Ungeheuerlichkeit" der Reiseroute unter den Vorzeichen einer inkriminierten „diffusen curiositas" als durchaus plausibel angesehen, insofern sie eine „hierarchisch strukturierte Welt" (Schedels Weltchronik) „zur Ansammlung beliebiger Gegenstände der Augenlust" nivelliere (S. 258). - Müllers Frage angesichts fehlender Kohärenz und Konsistenz des Geographischen wie auch des Kosmographischen und Naturkundlichen: „unfreiwilliges Defizit eines gedankenlosen Kompilators oder bedeutsame Geste der Gleichgültigkeit ... [bzw.] demonstrativer Nachlässigkeit?" dürfte für das Faustbuch kaum im Sinne einer prinzipiellen Alternative zu beantworten sein. In der an Fausts Städtereise demonstrierten Beliebigkeit der Stationen „eine Depotenzierung erfahrbarer Realität" gespiegelt zu sehen, erscheint mir überpointiert. Narrative Integration kann nicht nur „verweigert", sondern auch an einem weniger anspruchsvollen, Brüche nicht scheuenden Modell orientiert sein (zu Jan-Dirk Müller, Ausverkauf menschlichen Wissens. Zu den Faustbüchern des 16. Jahrhunderts, in: Literatur, Artes und Philosophie, hrsg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger, Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 7), S. 163-195, Zitate S. 179, 180, 182, 184).

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Vergessung/ Wann die seelen/ die darein kommen/ seyn verlern/ vnd wirdt jr vor Gott nimmer gedacht." Wenn im Faustbuch die deutschen Übersetzungen der Namen und ihre eschatologischen Bedeutungen oder Auslegungen fortgelassen sind, so ist auch dies kein Indiz für krude oder verpfuschte Kompilation. An die Adresse Fausts, des Doctor Theologiae, gerichtet, ist die Erinnerung an den lateinischen Namen der Hölle weder änigmatisch noch unbillig. Er hätte hier des theologischen Sinnes der Hölle als des Zustands der Gottverlassenheit innewerden sollen. Das Arrangement, daß Faust, nicht befriedigt von „papierenen" Auskünften, selbst die Hölle zum Gegenstand seiner empirischen Autopsie machen will, heißt doch wohl, daß er nolens volens den Engelsturz Luzifers und der Seinen nachvollzieht. Der Höllenflug im Drachenwagen wird als ein Blendwerk16 dargestellt, mindestens im Hinblick auf die Resultate seiner Wahrnehmungskraft, denn nach seiner Rückkehr bleibt ihm nicht viel mehr als der Eindruck, eine Zeitlang in einem „finstern Thurn" gesessen zu haben (895,32f. / 55,18), was seinerseits nur einen der Namen der Hölle, mit denen ihn Mephostophiles früher konfrontiert hatte (873,1 / 37,33), bestätigt. Das Kapitel (25) Wie Doct. Faustus in das Gestirn hinauf/ gefahren soll der visuell-empirischen Verifizierung kosmographischer und astronomischer Lehrinhalte dienen, die Mephostophiles in Kapitel 21 vorgetragen hatte. Faust inspiziert die geozentrisch erklärte Gegenbewegung der Planeten gegen das Firmament und bringt eher flüchtige und verschwommene Erinnerungen mit zurück an die Elementarsphären aus Wasser, Luft und Feuer, an den Ort der Geister unter dem Himmel, an die Größe und Entfernungen der Planeten, an die Winzigkeit der Erde, die wie ein Dotter im Eiweiß des Weltmeeres anzusehen sei. Dieses Bild17 wie auch die textliche Grundsubstanz der Kapitel 21 und 25 stützen sich wiederum teils auf die Weltchronik Schedels, teils auf den Lucidarius.18 Zwar bekundet Faust, auf dem guten Sinn der gewünschten Autopsie insistierend: „Ich sähe also mehr dann ich begerte" (901,9f. / 59,20f.). Aber ist dem zu trauen? Das erzählerische Arrangement legt einige Skepsis nahe. Faust spricht von seiner „Himmelfart vnter das Gestirn", der feurig auffahrende Wagen weckt Erinnerungen an 16 17

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Zu Fausts gestörter Wahrnehmung während des Höllenaufenthalts Müller, Ausverkauf menschlichen Wissens (wie Anm. 15), S. 183 mit Anm. 55. Zur Weltbildvorstellung von Dotter und Ei bei Honorius Augustodunensis, Wilhelm von Conches, im Lucidarius und anderweitig Barbara Maurmann, Die Himmelsrichtungen im Weltbild des Mittelalters. Hildegard von Bingen, Honorius Augustodunensis und andere Autoren, München 1976 (Münstersche Mittelalter-Schriften 33), S. 19f. mit Anm. 19. Nachweis und Wortlaut der Quellentexte bei Füssel/Kreutzer (wie Anm. 8), S. 229f,, 2321

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die gottgefällige Auffahrt des Elias,19 aber am Ende imitiert Faust doch nur die Vermessenheit der Luftfahrt des romanesken Alexander, zu genau entspricht sein Wagen mit den beiden Drachen, der ihn schon hinab in die Hölle getragen hatte, dem von zwei Greifen gezogenen Wagen Alexanders. Zudem sollen alle wissenschaftlich unklaren oder anfechtbaren Resultate der Höllen- wie auch der Gestirnsreise voll auf Faustus selbst zurückfallen, denn es hat nicht Mephostophiles oder der Erzähler das Wort, sondern in einer Art Gedächtnisprotokoll aus seinem Nachlaß Faust selbst (896,11-16 / 55,2731); Fausts kosmographische „Expertise" ist eingeschaltet als - fingiertes Dokument aus einem Gelehrtenbriefwechsel medizinischen und prognostischen Charakters. So erscheint der Interpretationsgedanke bestechend, Fausts Forschen und Wissen solle zusätzlich dadurch diskreditiert werden, daß er nicht zuletzt auf seiner „fürwitzigen" Kosmonautenfahrt - ganz entgegen seinem eigenen Urteil - mit einem überholten Wissensstand aus hoffnungslos obsoleten Enzyklopädien abgespeist worden sei.20 Im Sinne der notwendigen Gegenprobe müßte wahrscheinlich gemacht werden, daß der Faustbuch-Autor entweder bewußt Schedels Wehchronik und den Lucidarius nicht durch ihm verfügbare Werke mit aktuellerem Kenntnisstand21 ersetzen wollte oder doch, daß er „aus fahrlässigem Nichtwissen"22 bei veralteten Enzyklopädien und damit „nicht nur auffällig hinter seiner Zeit, sondern sogar eindeutig unter seinem Niveau"23 des übrigen Quellenhorizontes blieb. Angesichts der erkennbaren Struktur seiner rekon19

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Vgl. Maria Magdalena Witte, Elias und Henoch als Exempel, typologische Figuren und apokalyptische Zeugen. Zu Verbindungen von Literatur und Theologie im Mittelalter, Frankfurt/M. 1987 (Mikrokosmos 22), bes. S. 21, 32, 81ff. u.ö. „Um der religiösen Mahnung willen erscheint alles extensiv ausgebreitete Wissen sonst als wertlos. Die Historia zitiert seine möglichen Inhalte nur, um sie zu diskreditieren. Sie wählt sie einseitig aus, unter Bevorzugung veralteter Autoritäten, verstümmelt und verdreht sie und setzt sie willkürlich zusammen". Müller, Ausverkauf menschlichen Wissens (wie Anm. 15), S. 191; ders., noch nicht in gleicher Entschiedenheit, im Kommentar seiner Edition: „Kurioses zur Brandmarkung der ,curiositas'?" (wie Anm. 8, S. 1342f.). Jan-Dirk Müller denkt an die Fazilitäten des Frankfurter Buchmarktes, ohne jedoch die möglichen „Ersatzangebote" zu konkretisieren (Faustbuch-Edition, wie Anm. 8, S. 1328; Ausverkauf menschlichen Wissens, wie Anm. 15, S. 179). Eine Durchsicht der Meßkataloge Georg Willers fördert kaum Einschlägiges zutage; Sebastian Francks Cosmographey von 1534 (s. unten S. 74) tritt nach 1580 nicht in Erscheinung; die Kosmographie Apians (s. unten ebda.) ist 1581 in französischer Übersetzung und 1584 in erweiterter lateinischer Fassung angeboten, Eisenmengers Cyclopaedia Paracelsica Christiana ist 1585 aufgeführt, des Ortelius Thesaurus Geographicus erst 1587 (vgl. Fabian, Messkataloge). Max Wehrli in seiner Ausgabe der Historic von Doktor Johann Faust, Zürich 1986, S. 337. Kreutzer, „Der edelste der Triebe", S. 65. Als Erklärung für die „Rückständigkeit" deutet Kreutzer den Rückstand des verfügbaren Buchwissens gegenüber der im Prinzip für Fausts Lebensgeschichte narrativ geforderten „Weltkenntnis im eigentlichen Sinne" an (S. 66).

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struierten „Handbibliothek"24 hat man vorauszusetzen, daß der Autor deutschsprachige enzyklopädische Kompendien, die protestantischen Geistes und auch für Laien faßbar sein sollten, favorisierte. Offenkundig war es ihm um narrativ verwendbare Texfpartien, nicht um spezifisches Fachwissen als solches zu tun: Zu welchen anderen Werken moderneren Zuschnitts hätte er greifen können? Das neue heliozentrische Weltbild war anscheinend auch im neunten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts volkssprachlich noch nicht enzyklopädisch kondensierbar und integrierbar; Kopernikus, der ja selbst an wichtigen kosmologischen und naturphilosophischen Positionen des Mittelalters festhielt, hatte sein Werk lange zurückgehalten. Auch die Theorien Giordano Brunos und Tycho Brahes über die Planetenbewegungen waren noch kaum in kleinerer Münze für den Nichtwissenschaftler assimilierbar. Gregor Reischs Margarita philosophica, ohnehin lateinisch, ohnehin aus vorreformatorischer Zeit (1496, zuerst gedruckt Basel 1503, Ausgabe letzter Hand 1517), hätte auch in den späteren Drucken, z.B. Basel 1583, für den kosmographisch-astronomischen Part wohl kaum Innovatives über den Lucidarius oder Schedels Weltchronik hinaus vermittelt oder ausgelöst. Eisenmengers deutsche Cyclopaedia Paracelsica Christiana, 1585 zuerst erschienen, wäre vermutlich für die erste Abfassung des Faustbuchs ohnedies zu spät gekommen. Des weiteren wäre zu fragen, inwieweit die „alten" Enzyklopädien gegen Ende des 16. Jahrhunderts als „veraltet", überholt, letztlich wertlos angesehen wurden. Schedels Weltchronik blieb gewiß wissenschaftlich nicht unumstritten, stand aber dessenungeachtet vor allem bei interessierten Laien als eine humanistischer Gelehrsamkeit verdankte, gründlich kompilierte, umfassend dokumentierte, qualitätvoll bebilderte und durch Register erschlossene historische Enzyklopädie weiterhin in hohem Ansehen. Schätzungsweise sind durch die Anfangsauflagen Kobergers in Nürnberg ca. 1500 lateinische und 1000 (inhaltlich praktisch identische) deutsche Exemplare auf den Markt gekommen,25 und die drei Raubdruckauflagen Schönsbergers in Augsburg bis 1500 dokumentieren, wie verbreitet und wohl lange verfügbar das Werk geblieben ist. Gemessen an Schedels gewichtigem Werk hatte und behielt der deutsche Lucidarius eher den Charakter eines Elementarbuches. Das Werk des hohen Mittelalters mit seinen drei Teilen Kosmologie, Ekklesiologie und Eschatolo24 25

Vgl. Fussel, Die literarischen Quellen (wie Anm. 9). Anna-Dorothee von den Brincken, Universalkartographie und geographische Schulkenntnisse im Inkunabelzeitalter, in: Studien zum städtischen Bildungswesen, S. 398429, hier S. 414, nach Adrian Wilson u. Peter Zahn (1976); Elisabeth Rücker, Hartmann Schedels Weltchronik. Das größte Buchunternehmen der Dürerzeit, München 1988, zur Druckverbreitung S. 124.

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gie war seit der 38. Druckauflage, Straßburg 1535/36, in einer beträchtlich korrigierten und umakzentuierten Fassung in Gebrauch. Jakob Cammerlanders Anpassung des Werkes an die Bedürfnisse des 16. Jahrhunderts betrifft konfessionell Protestantisches, aber auch eine Erneuerung und Ausweitung der Natur- und Weltbeschreibung; so wird im ersten Buch die Beschreibung Europas durch 35 Kapitel aus der Chronica des Christian Egenolff ersetzt.26 Bis 1806 erschienen in Cammerlanders Nachfolge insgesamt 88 Drucke, seit 1655 unter dem Titel Kleine Cosmographia. Kritik an einer vermeintlich unkritischen Ausbeutung des „obsoleten" Lucidarius aus dem 12. Jahrhundert sollte nicht übersehen, daß der Faustbuch-Autor die Bearbeitung Cammerlanders, also ein Buch des 16. Jahrhunderts, benutzt.27 Druckauflagen und Bearbeitungen sind gewiß nicht mehr als ein Indikator für ein aktuell gebliebenes oder aktualisiertes Interesse an Enzyklopädien; es wäre lohnend, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, aus welchen Gründen durchaus mittelalterliche Enzyklopädien bis weit in die Neuzeit hinein immer wieder im Druck aufgelegt worden sind: das Speculum maius des Vinzenz von Beauvais, wichtige Quelle auch für Schedels Weltchronik, zuletzt Douai 1624; Isidors von Sevilla Etymologiae bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, De proprietatibus rerum des Bartholomaeus Anglicus, lateinisch zuletzt 1609 in Frankfurt/M., französisch in über 20 Editionen in dichter Folge bis 1556, spanisch 1494 und 1529, englisch zuletzt in London 1582.28 Noch im 16. Jahrhundert gelangte nicht die avancierte wissenschaftliche Forschungsarbeit in den Buchdruck, sondern als auflagenträchtig galt offenbar weiterhin das Kompendium oder Lehrbuch, das aufgrund seines enzyklopädischen Herkommens sein Renommee bereits mitbrachte und dem mindestens als Handbuch oder als Fachbuch bestimmter Disziplinen noch immer grundlegende Relevanz beigemessen wurde.29 Kehren wir zum Gestirnsfahrt-Kapitel zurück, denn es bietet noch einen Probierstein, um den Status „veralteten" Wissens im narrativen Zusammen26

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Edition der Bearbeitung Cammerlanders in: Volksbücher von Weltweite und Abenteuerlust, hrsg. v. Franz Podleiszek, Leipzig 1936, S. 99-149; die obigen Angaben zu Cammerlanders Bearbeitung nach Walter Buckl, Überlieferungsgeschichte - Rezeptionsgeschichte - Literaturgeschichte. Das Beispiel des Lucidarius, in: Mediävistische Literaturgeschichtsschreibung. Gustav Ehrismann zum Gedächtnis. Symposion Greifswald 1991, hrsg. v. Rolf Bräuer u. Otfrid Ehrismann, Göppingen 1992 (GAG 572), S. 153172, hier S. 165ff. Auch der stichwortartige Katalog europäischer Länder im Reisekapitel könnte an Cammerlander orientiert sein, s. den Kommentar in der Edition Füssels und Kreutzers (wie Anm. 8), S. 197 zu 60,11, mit S. 233. Näheres bei Meyer, Bartholomäus Anglicus, S. 237, 270-274. Auf weitere literarische Gattungen des 16. Jahrhunderts (Bauernkalender, Praktiken, Neue Zeitungen), in denen ebenfalls „offensichtlich veraltete Weltbilder unverändert

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hang exemplarisch zu erörtern. Der Faustbuch-Autor - oder sein Protagonist - „verpaßte", wie mit Verwunderung konstatiert wurde,30 die Entdekkung Amerikas. Der Flug mit dem Drachenwagen vermittelt dem sich zurückwendenden Faust auch einen Eindruck von der Gesamtheit der bewohnten Erde, allerdings nicht auf einen Blick, nicht einmal an einem und demselben Tag. In seinem Briefprotokoll heißt es darüber: „da sähe ich viel Königreich/ Fürstenthumb vnnd Wasser/ also daß ich die gantze Welt/ Asiam/ Aphricam vnnd Europam/ gnugsam sehen kondte" (899,20-23 / 58,12-15). Wie konnte Faustus Amerika übersehen, das selbst schon zu Lebzeiten des historischen Faust geographisch und literarisch präsent wurde? Wollte Mephostophiles, sein Reiseführer, ihm den neuen vierten Kontinent vorenthalten? Sollte Fausts wissenschaftliche Kompetenz durch das narrative Arrangement als eklatant beschädigt hingestellt und kompromittiert werden? Die Erklärung dürfte eher in den Persistenzkräften althergebrachter Weltordnungsmodelle zu suchen sein. Seit den autoritativen Erdbeschreibungen aus griechisch-römischer Antike war die Vorstellung von einer Dreiteilung der Ökumene fest und formelhaft geworden. Sie wurde im Mittelalter in das traditionelle heilsgeschichtliche Weltbild integriert, indem man sie mit der Aufteilung der Welt nach der Sündflut unter Sem, Harn und Japhet, die drei Söhne Noahs, verband. Auch in Schedels Weltchronik wird zu Beginn des zweiten Weltalters und prominent auf der beigegebenen Weltkarte diese Zuordnung in Erinnerung und vor Augen gebracht. Bezeichnend ist, daß Cammerlander bei seiner Bearbeitung des Lucidarius, immerhin 1536, an der Vorstellung von den drei Kontinenten nichts ändert, und noch in der späteren Ausgabe von 1572, Frankfurt/M. (durch Weyand Hauen Erben), liest man auf dem Titelblatt: M. Elucidarius. Von allerhand Geschöpften Gottes/ den Engeln^ den Himmeln/ Gestirns/ Planeten/ und wie alle Creaturen geschaffen seyn auff Erden. Auch wie die Erd in drey theil getheilt /und deren Länder/sampt der völcker darinn/ Eigenschafften und wunderbarlichen Thieren/ Auß Plinio Secundo/ Solino/ und anderen Weltbeschreibern ein kurze lustige Anzeigung.^

Vielleicht hatte die Redeweise von den drei Weltteilen auch deshalb nicht von heut auf morgen ausgedient, weil man ja zunächst damit rechnete, in Amerika Regionen „Indiens" erreicht zu haben. In erster Linie hielt sich die

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weiter verbreitet werden", weist auch Jan-Dirk Müller hin (Ausverkauf menschlichen Wissens, wie Anm. 15, S. 179). Könneker, Faust-Konzeption (wie Anm. 11), S. 200; Die Historia von D. Johann Fausten (1587). Ein wissenschaftliches Symposium, hrsg. v. Günther Mahal, Vaihingen a. d. Enz 1988, Nachwort, S. 99. Der Titel unverändert auch in der Frankfurter Ausgabe von Christian Egenolffs Erben 1589; Wortlaut bei Füssel/Kreutzer (wie Anm. 8), S. 310.

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Dreiteilung in Kompendien der Bibelerklärung. Der norddeutsche Hof- und Stadtprediger Heinrich Bunting versah 1581 sein Itinerarium Sacrae Scripturae mit einer figurierten Karte: Die gantze Welt in einem Kleberblatt (s. Abb. 1); er bildete kein vierblättriges, sondern ein dreiblättriges Kleeblatt mit den drei alten Erdteilen ab und ließ „Amerika die Newe Welt" als hier unwesentliches Akzidenz mit einer kleinen Ecke marginal in dieses Bild hineinreichen. Das Schematische seines Weltbildes ist ihm bewußt, aber auch willkommen, da es als Mittelpunkt der Welt Jerusalem, den Gründungsort der Kirche, sinnenfällig mache.32 So gehen die Redeweisen von drei oder vier Kontinenten im 16. Jahrhundert je nach Kontext nebeneinander her: 1534, also zwei Jahre vor Cammerlanders Elucidarius, handelt Sebastian Franck in seinem Weltbuch: Spiegel vn bildnisz des gantzen erdbodens wie selbstredend auch vom vierten Erdteil Amerika; nicht anders die Kosmographia des Geographen und Mathematikers Apianus (d.i. Peter Bienewitz), lateinisch und auch französisch: Cosmographie ou description des 4 parties du monde, Antwerpen 1581 u. ö. Wenn der Autor der Druckprosa seinen Faustus durch dessen Rede von den drei Teilen der Welt tatsächlich kompromittieren wollte, dann müßte ihn der Tübinger Studiosus theologiae Johannes Feinaug, der noch im gleichen Jahr 1587 eine durchweg vorlagennahe Reimfassung in den Druck gibt, gründlich mißverstanden haben - er läßt Faust berichten: „Sah Asiam und Africam, Europam und Americam," und vermerkt als sachlich korrekte Information in der Rand-Nota: „Drey teil des erdreichs Asia, Africa, Europa/ vnnd America die newe weit itzt der vierte teil".33 Wahrscheinlich hat Feinaug hier nicht eine Erzählpointe seiner Vorlage verfehlt oder bewußt durchkreuzt, sondern vielmehr eine schlichte Ergänzung im Sinne der ihm geläufiger gewordenen Vierteilung der Erde anbringen wollen. Auf ein günstigeres Leserurteil über Faust ist damit nicht abgezielt. Wirklich einbezogen und bereist wird der neue Kontinent erst in der anonymen Fortsetzung des Faustbuchs von 1593 durch Wagner, den Schüler und Erben, bereist im Namen der Wißbegier, aber auch der touristisch aktuellen Überbietung des Meisters. Im letzten Reisekapitel zur Welterkundung, das heißt vor dem Übergang zu den episodenhaften Begegnungsreisen im Schwankteil, gibt Faust zu erkennen, daß sein eigentliches, höchstes Reiseziel das irdische Paradies ist. 32

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Heinrich Bunting, Itinerarium Sacrae Scripturae. Das ist: Ein Reisebuch über die gantze heilige Schrifft in zwey Bücher getheilet, Wittenberg: Zacharias Krafft 1588 [Stadtbücherei Mainz], S. 3, 6f. Der Tübinger Reim-Faust von 1587/88, in Reime gebracht von Johannes Feinaug, hrsg. v. Günther Mahal, Kirchheim/Teck 1977, S. 100. - Auch die Wolfenbütteler Handschrift modifizierte, und zwar durch Subtraktion: statt „die gantze Welt" im Druck von 1587 liest man: „Also das ich die Welt Asiam, Aphricam vnd Europam genugsam sehen

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Das Hybride dieser Coda ist evident, ebenso aber auch der ursächliche Ernst, der ihr innewohnt. Die Paradies-Suche ist Reflex der Faustus untersagten Fragen „von der Freuwden der Seelen/ von den Engeln" (884,9f. / 46,17). Die theologischen Probleme sind alles andere als „bereinigt",34 sie sind nur abgeleitet auf die Reisen, die sie stellvertretend weitertragen. Daher heißt es in vielsagender Verknüpfung der Suche-Ebenen im Kapitel (27) Vom Paradeiß: „Sondern vermeynet/ dieweil etliche hohe Jnsulen mit jhren Gipffein so hoch seyen/ wolle er auch endlich das Paradeiß sehen können/ dann er hatt seinen Geist nit darumb angesprochen/ noch ansprechen dorffen" (916,24-29 / 71,32-72,1). Seiner Reisestrategie sekundieren die Hinweise, die man aus dem Lucidarius und Schedels Weltchronik über das irdische Paradies erlangen konnte. Dieses galt in der enzyklopädischen Literatur des Mittelalters lange als eine Insel, die so hoch gelegen war, daß sie von der Sündflut nicht erreicht noch zerstört werden konnte. So gesehen, ist es nicht inkonsequent, daß Faust sich stets gebirgige Inseln zur Landung sucht - dementsprechend wird Schedels Insel-Kapitel exzerpiert -, und schließlich erreicht er zuversichtlich die „Jnsel Caucasus/ welche mit jren Gipffein vnd Hohe alle andere Inseln vbertrifft" (916,29-31 / 72,21). Dem aufs Geratewohl Fliegenden erscheint aus der Vogelschau auch das Hochgebirge als Insel. Die Rand-Nota „Berg Caucasus" rückt dies geographisch zurecht. Durch diese Doppelschichtigkeit wird narrativer Gewinn aus Schedels Insel-Kapitel gezogen, wo „der perg Caucasus" erwähnt wird, weil Schedel ihn mit Berufung auf Solinus vag auf die Insel Tilos „in india" lokalisierte (Bl. 19ra). Entscheidend für Fausts Landung auf dem Kaukasus ist diese Indiennähe, der alte Wunschtraum der Paradiessucher. Faust hält ostwärts Ausschau nach dem „hortus deliciarum", dem Garten, der da nach Gen. 2,8 einmal im äußersten Orient am Rande Indiens gepflanzt wurde. Er findet die hohe Insellage des irdischen Paradieses bestätigt, aber vom Inneren erschließt sich seinem Blick nur die tradierte landschaftliche Minimalausstattung, eine Tallandschaft mit der Quelle der vier Paradiesesflüsse, keinerlei heilsgeschichtliche Dimension. Als viel dramatischer und unübersehbar nimmt er die Verschlossenheit des Paradieses wahr. Mephostophiles erklärt - „in guter antwort", wie es diesmal ausdrücklich heißt -, das überhelle Licht sei das feurige Schwert des Cherubim, den Gott zur „verwarung" des Gartens auf die

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konndte". Das Faustbuch nach der Wolfenbütteler Handschrift, hrsg. v. Harry Gerald Haue, Berlin 1963, Bl. 43r, S. 74. Für „bereinigt" und abgeschlossen hält die theologischen Probleme Hans-Gert Roioff, Artes et Doctrina. Struktur und Intention des Faustbuchs von 1587, in: Festschrift für Herbert Kolb, hrsg. v. Klaus Matzel, Hans-Gert Roioff u.a., Bern/Frankfurt a. M. etc. 1989, S. 528-557, hier S. 549.

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feurige Wand postiert habe. Außerdem konfrontiert er Faust mit der unvorstellbaren Ferne und der Unzugänglichkeit des Paradieses. „Gute Antwort" heißt hier offenbar auch: vereinbar mit den Vorstellungen zeitgenössischer Geographie und lutherischer Theologie. Die plane, im Luddarius vereinfacht vertretene Lehranschauung, das irdische Paradies sei Bestandteil des erfahrbaren orbis terrarum, läßt sich narrativ und nur narrativ noch verwenden. Auch in Schedels Weltchronik sprechen die referierten Texte noch von der Zugehörigkeit des Paradieses zu den Provinzen Indiens, aber Schedels Weltkarte bildet es im Unterschied zu den meisten mittelalterlichen Mappae mundi35 nicht mehr am Rande der geographischen Welt ab. Die enzyklopädischen Summen Gregor Reischs und Sebastian Münsters, die divergierende, konkurrierende Ortungstheorien abwägen, legen eine Existenz des Paradieses in der Nähe des Mond-Kreises,36 in der feurigen Sphäre oder dort, wo Engel- und Geistwelten sich berühren, nahe. Einige hineinzitierte Gestirnskoordinaten („hinauff bis zu der mitnächtigen Linien", 917,3f. / 72,6f.) im Faustbuch weisen wohl ähnlich auf die faktische Existenz, aber mehr noch auf die Latenz des Paradieses zwischen Himmel und Erde. In diesem Sinne verstehe ich auch Mephostophiles' tadelnden Hinweis, Faustus hätte das Paradies während seiner Gestirnsfahrt besser sehen können, habe es aber nicht wahrgenommen (917,26f. / 72,25f.). Faust hat das Paradies falsch gesucht, und offensichtlich war auch angesichts des Paradieses Fausts Frage nach seinem „Fundament vnd Vrsprung" (917,12f. / 72,14) inadäquat oder doch unvollständig. Das Kapitel schließt abrupt mit Mephostophiles' Behauptung, das Paradies sei für jedermann (auch für ihn selbst) unzugänglich.37 Nach geistlichen Dimensionen des Paradieses und seiner eschatologischen Bestimmung weiterzufragen, würde in eine Richtung führen, wie sie der Luddarius angibt: „das nyemandt darein mag kommen/ dann mit eim guten wirckenden glauben" (I 6.4), so Cammerlanders lutherische Umarbeitung, die die Bedingung „mit guten werken" des alten Textes ersetzt. Georg Rudolf Widmann hat 1599 in seiner Bearbeitung des Faustbuchs die Paradies-Thematik wieder ganz aus der narrativen Reise-Darstellung 33 36 37

Zur Darstellung des irdischen Paradieses auf mittelalterlichen Weltkarten Ruberg, Mappae mundi, S. 570-577; Arentzen, Imago mundi, S. 206-214. Reisch, Margarita philosophica, Neudr. 1973, S. 285. Jan-Dirk Müller sieht das Paradies „schon durch die Anlage der Historia disloziert: nämlich aus der göttlichen Heilsordnung herausgelöst ... Die (Un-)Ordnung der Historia spiegelt die gestörte Ordnung des Wissens" (Ausverkauf menschlichen Wissens, wie Anm. 15, S. 182). „Disloziert" wäre das Paradies nicht nach den Ordnungen mittelalterlicher und zeitgenössischer Enzyklopädik, die es ebenfalls inmitten „erfahrbarer" geographischer Sachverhalte behandelt; gut plaziert erscheint es im narrativen Zusammenhang des Faustbuchs, insofern die „erfahrene" Verschlossenheit die Vorstellung vom verlorenen Paradies aktiviert.

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herausgenommen und sie in einem Lehrgespräch zwischen Faust und Mephostophiles erneut in einen zeitgenössischen enzyklopädischen Darbietungsduktus überführt. Dies geschieht im Zuge der Umgestaltung des Faustbuchs zu einem protestantischen Erbauungsbuch, also eher gattungsbedingt als in kritischer theologischer Absetzung von der narrativen Behandlung der Paradieses-Thematik im Faustbuch, denn dessen Quintessenz wird auch bei Widmann durch Mephostophiles expliziert: „du kanst mein Herr Fauste selbst leichtlich abnemen und gedencken, daß das Paradeyß nicht in dieser Welt stehe, sondern etwan gegen Osten, gar nahe bey dem Himmel liege".38 Bei Widmann wird somit bestätigt, was auch aus dem Paradiessuche-Kapitel des Faustbuchs herauszulesen ist: Für das Paradies der Bibel gibt es keine irdischen, auch keine „wissenschaftlichen" Surrogate. Dialoge wie diese werfen generell die Frage auf, wie sich im Faustbuch die Frage-Antwort-Disputationen zwischen Faust und Mephostophiles mutatis mutandis zum durchgehenden Magister-Discipulus-Gesprächstyp verhalten, der in der enzyklopädischen Literatur im Lucidarius befolgt und im 16. Jahrhundert etwa in Gregor Reischs Margarita phüosophica übernommen wurde. Der springende Punkt im Faustbuch wäre wohl die schwankende Verläßlichkeit des Mephostophiles, der bald „gute", bald trügerische oder lügnerische Auskünfte gibt. Zuletzt sei noch angesprochen, daß das Faustbuch bei der älteren Enzyklopädik nicht nur stoffliche und stilistische, sondern auch strukturelle Anleihen macht. Neben der narrativen biographischen Struktur (im wesentlichen mit konstitutiven Zügen einer Anti-Legende)39 wird dem Text eine - während der Schwankfolge im 3. Teil bis zu Fausts letzten Tagen allerdings „pausierende" - systematische Struktur unterlegt, die sich aus der Abfolge der „durchlaufenen" Wissensgebiete ergibt. Diese thematischen Stationen durch Disputation und Welterkundung hindurch sind im Stenogramm: Luzifer Engel - Hölle - Teufel - Seele des Menschen - Astronomisches - Meteorologie - Kosmologie - Lebewesen - Geographie - Mirabilia. Man braucht sich nur an die oben (s. S. 74) zitierte Titulatur von Cammerlanders Elucidarius zu erinnern, um zu erkennen, das im Faustbuch die am philosophischen ordo-Gedanken orientierte, seit Hrabans De universo zu einem enzy38

Georg Rudolf Widmann, Fausts Leben (in der Bearbeitung von Johann Nicolaus Pfitzer), hrsg. v. Adelbert von Keller, Tübingen 1880 (Bibl. des Litterarischen Vereins 146), Kap. 20: D. Fausti fünffte Frag an seinen Geist: von dem Paradeyß, S. 184. 39 Friedrich Ohly, Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld, Opladen 1976 (Rhein.-Westf. Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 207), S. 102f., 104; Maria E. Müller, Der andere Faust. Melancholie und Individualität in der Historia von D. Johann Fausten, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60, 1986, S. 572-608, hier S. 575-578.

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klopädischen Prinzip erhobene Disposition durchscheint, der zufolge letztlich theologisches Heilswissen nach der Hierarchie der Seinsfülle oder nach der Ordnung der Heilsgeschichte vorgeführt und abgehandelt wurde.40 Die Eckpfeilerkapitel älterer Enzyklopädik, im Elucidarius die Kapitel vom allwissenden Schöpfergott und vom Jüngsten Gericht und dem „status gloriae sive perditionis", entfallen im Faustbuch, genauer: ihre Thematik erscheint ins Persönliche gewendet und gebrochen in Fausts Anfängen als Theologe und in seinem Ende als der Verdammnis anheimfallender Teufelsbündner. Symptomatisch ist, daß Mephostophiles in einer als „gottlos vnd falsch" deklarierten Antwort die Welt als unerschaffen und ewig aus sich selbst bestehend ausgibt (887,6-11 / 48,22-28) und damit, als Versucher Fausts Neigungen verstärkend, gerade die Stellung des Schöpfergottes irritierend zu eliminieren versucht. Auch der strukturell vergleichende Aspekt ergibt, daß ein sich autonom verstehender Versuch der Wissenserweiterung sub specie salutis sich als Wissensschrumpfung entpuppt. Mephostophiles' Lehre von der ungeschaffen ewigen Welt ist aus dem Anfangskapitel der Schedelschen Weltchronik hereinzitiert, wo sie ebenfalls als „alter irthum" antiker Philosophie deklariert wird. Auch hier werden enzyklopädisch bereitgestellte Argumente und Wissenspartikel narrativ genutzt, und zwar in einer Art, wie sie der episodenhaft offenen Reihung im Schwankteil des Faustbuchs durchaus entspricht: punktuell, nicht selten sprunghaft, verknappt und kontaminiert. Nicht an kohärentem wissenschaftlichen Diskurs, sondern an der ihrerseits kompilierenden Faktur der Enzyklopädik ist das Faustbuch zu messen. Selbst wenn die Enzyklopädien mittelalterlicher Provenienz über kurz oder lang in den Ruch des Fossilen gerieten - das Zeug zum Leitfossil haben sie behalten.

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Zu den Gliederungskriterien für mittelalterliche Enzyklopädien Meyer, Enzyklopädik und Allegorese, Kapitel Werkdisposition und ordo rerum, S. 294-299, mit weiterführender Literatur (Collison, Encyclopaedias; Meier, Grundzüge).

STEFAN RHEIN

Die Cyclopaedia Paracelsica Christiana und ihr Herausgeber Samuel Siderocrates: Enzyklopädie als anti-humanistische Kampfschrift

Harscher Anti-Akademismus zeigt sich unverblümt in den programmatischen Zitaten, die Samuel Siderocrates dem zweiten Buch der Cyclopaedia Paracelsica Christiana1 voranstellt: Hier kommen u. a. drei sehr verschiedene Stimmen zu Wort, der frühchristliche römische Bischof Clemens, der von beiden Konfessionen als ketzerisch indizierte Sebastiane Castellio,2 und der Reformator Martin Luther, die fast gleichsinnige Botschaften verkünden: Clemens warnt vor den heidnisch-antiken Philosophen, Castellio vor den Gelehrten und Luther vor den Akademien, den „domus mendacii", also den Brutstätten der Lüge.3 Auch in der eigenen kurzen Vorrede zum zweiten Buch bestimmt Siderocrates die Tradition, die es zu verlassen gilt: „die Heydnische[n] Lehrmeyster sampt jren Lehrjüngern".4 Die Emphase des Widerspruchs könnte ein Beschreibungsmuster nahelegen, das eine marxistischen Theoremen verpflichtete Enzyklopädieforschung jüngst so formuliert hat: „Die Enzyklopädie ist, verdient sie ihren Namen, Oppositionswissen."5 Mag

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Cyclopaedia Paracelsica Christiana. Drey Bücher von dem waren Ursprung und herkommen der freyen Künsten, auch der Physiognomia, obern Wunderwercken unn Witterungen, darinn auß der H. Schrifft mit beständigen grund nach notturfft dargethan würt, daß alle freye Kunst, als Schreiberey, Rednerey, Rechnung, Singkunst, Erdmesserey, Gestirnkunst sampt der Naturkündigkeit unn Artzneykunst, nit auß menschlichen vermeinten erfindungen, sonder allein von Gott dem Allmächtigen, als vom reichen überquellenden Bronnen herkommen, daß auch solche Kunst allein bey Gott durch den Glauben gesucht, und inn den Büchern Gottes unnd seiner Diener bezeuget, unnd gelehrt sollen werden. Erstlichen von einem Anonymo liebhaber der warheit zusammen getragen und gestellt, und jetzt übersehen, corrigiert, gebessert unnd inn Truck verfertiget von Samuele Siderocrate Brettano Fürstlichem Speirischen Medico zu Brüssel, [Straßburg] 1585 [HAB Wolfenbüttel: 91.1 Quod. (3)]. Die Cyclopaedia erschien zur Herbstmesse 1585 unter der Rubrik „Mancherley Bücher in allerley Künsten", vgl. Fabian, Messkataloge, S. 399. 2 Vgl. Hans R. Guggisberg, Castellio auf dem Index (1551-1596), in: Archiv für Reformationsgeschichte 83, 1992, S. 112-129. 3 Siderocrates, Cyclopaedia, Bl. A2v-A4r. 4 Siderocrates, Cyclopaedia, Bl. A4V. 5 Sandkühler, Enzyklopädie, S. 756. Zu Sandkühlers Konzept von Enzyklopädie als Form der Komplexitäts-Reduktion angesichts einer Krise des Wissens - Enzyklopädie ist Archiv und Antizipation - vgl. Sandkühler, Ka-meh und das alte Neue, bes. S. 119f.

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ein Spezifikum der Cyclopaedia Paracelsica Christiana schon durch diese Schlaglichter zumindest angeleuchtet sein - die Cyclopaedia ist nicht einfach nur die enzyklopädische' Akkumulation von selbstverständlichem, von der Gelehrtenwelt sanktioniertem Wissen -, so verlangt diese Diagnose zugleich und in besonderem Maße, die programmatisch akzeptierten und attackierten Wissensparameter vorzustellen und die Konfliktsituation in einen historischen Kontext zu stellen. Die 1585 gedruckte Cyclopaedia nennt auf dem Titelblatt als Autor einen ,,Anonym[en] liebhaber der warheit" und als Herausgeber den fürstlichen speyerischen Medicus Samuel Siderocrates. Ihn mit kurzen Strichen biographisch einzuführen erscheint nicht zuletzt durch den fehlerhaften Eintrag „Enzyklopädie" im 1992 neu aufgelegten Deutschen Wörterbuch von Hermann Paul als notwendig: Hier ist von einem „S. Eisenberger" die Rede, der eine „Cyclopaedia Paracelsa Christiana" verfaßt habe.6 Samuel Eisenmenger, mit gräzisierendem Humanistennamen: Siderocrates, wurde am 28. September 1534 im kurpfälzischen Bretten als Sohn des lutheranischen Pfarrers geboren.7 Er studierte, von seinem Landsmann Melanchthon angezogen, in Wittenberg (imm. 24. November 155l),8 wo er am 25. Februar 1552 zum Baccalaureus artium promoviert wurde.9 Am 17. August 1552 wurde er an der Universität Heidelberg immatrikuliert.10 Unter dem gleichen Tagesdatum ist auch Melanchthons Neffe Sigismund aufgeführt, der wie Siderocrates als Wittenberger Baccalar in die kurpfälzische Universitätsstadt gekommen war.11 Ob die beiden Brettener aber auch tatsächlich ihr Studium in Heidelberg aufnahmen, ist zweifelhaft; denn schon wenige Monate später, am 14. November 1552, inscribierten sie sich an der Universität Tübingen. Dort 6

Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, Tübingen 91992, S. 227. - Vgl. den Beitrag von Werner Welzig in diesem Band. 7 Nikolaus Müller, Georg Schwartzerdt, der Bruder Melanchthons und Schultheiß in Bretten, Leipzig 1908, S. 74. 8 „Samuel Eisenmenger natus in urbe Palatini Bretta", vgl. Carl Eduard Foerstemann, Album Academiae Vitebergensis, Bd. l, Leipzig 1841, S. 272b. 9 Julius Köstlin, Die Baccalaurei und Magistri der Wittenberger philosophischen Facultät 1548-1560, Halle 1891, S. 4. Siderocrates wird erwähnt von Wolfram Kaiser, Ärzte und Naturwissenschaftler im Kreis um Luther und Melanchthon, in: Medizin und Naturwissenschaften in der Wittenberger Reformationsära, hrsg. v. W. Kaiser u. Arina Völker, Halle 1982 (Wiss. Beitr. der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 82/7), S. 127165, hier S. 155 u. 160. Siderocrates veröffentlichte 1560 zwei Epitaphien auf seinen Lehrer (Dlvo Philippo Melanthoni Breüano praeceptori olim suo in omni aeternitate colendo), die zusammen mit einem Kreuzgedicht des Martin Roland auf einem Einzelblatt gedruckt wurden, vgl. Wilhelm Hammer, Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte, Bd. l, Gütersloh 1967, S. 194f. Nr. 260. 10 „Samuel Eysenmanner, Brettanus Spir. dioc.", vgl. Gustav Toepke, Die Matrikel der Universität Heidelberg, Bd. l, Heidelberg 1884, S. 615. 11 Zu Sigismund Melanchthon vgl. Müller, Georg Schwartzerdt (wie Anm. 7), S. 235-239.

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erhielt Siderocrates am 31. Januar 1554 die Magisterwürde, hatte seit dem 30. September 1557 die ,Lectio mathematices et astronomiae' inne, wurde am 30. Januar 1558 in das Artistenkollegium aufgenommen, war 1562/63 Dekan der Artistenfakultät und wurde am 31. Oktober 1564 zum Doktor der Medizin promoviert.12 An dieser - bislang einhellig behaupteten - Tübinger Chronologie sind indessen Zweifel angebracht: In den Akten der Universität ist 1557 von einem Auftrag an Leonhard Fuchs die Rede, bei Melanchthon Erkundigungen über Siderocrates einzuholen; dieser wurde dann - offensichtlich nach positiver Auskunft - „per privatas literas" vom Dekan der Artistenfakultät nach Tübingen berufen.13 Siderocrates war demnach an die Wittenberger Universität zurückgekehrt, wohl nachdem er im Januar 1554 Magister geworden war. Unter dem 9. August 1555 wird er in einem Brief Melanchthons erwähnt, der ihn als Anwesenden nennt.14 Ein Zeugnis dieses Wittenberger Intermezzos ist die Vorrede des Siderocrates zu dem Matthäus-Kommentar des David Chytraeus, einem Druck aus der Wittenberger Offizin des Johannes Crato. Die Vorrede ist in Wittenberg verfaßt und auf den 25. März 1555 datiert.15 Adressiert ist sie an den Straßburger Theologen Johannes Marbach, den Siderocrates als verehrten Lehrer anspricht; vor vier Jahren („ante quadriennium") habe er bei ihm in Straßburg gehört und sei von ihm zur wahren Einsicht von Gottes Lehre geführt worden (S. 7). Johannes Marbach (15211581) war 1547 zum Pastor in St. Nikolaus und Professor an der theologischen Fakultät der Akademie berufen worden und lehrte in enger Anlehnung an Luther und Melanchthon. Offensichtlich ist Siderocrates vor seinem Wittenberger Studienbeginn (November 1551) in Straßburg zur Schule gegangen.16 12

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„Daniel Eysenmanner Brettensis", vgl. Die Matrikeln der Universität Tübingen, Bd. l, hrsg. v. Heinrich Hermelink, Stuttgart 1906, S. 361, Nr. 26. In den Matrikeln der Tübinger Artistenfakultät stehen die Namensformen „Samuel Isinmänger" - mit dem Immatrikulationsdatum 14.11.1552, so daß der Vorname „Daniel" offensichtlich fehlerhaft ist - , „Samuel Eisenmenger", „Sam. Isenmengerus", „Sam. Siderocrates", „Isenmenger". Vgl. auch Norbert Hofmann, Die Artistenfakultät an der Universität Tübingen (1534-1601), Tübingen 1982 (Contubernium, Bd. 28), S. 247 (Siderocrates hielt die Mathematikvorlesung bis August 1567), S. 234 (Siderocrates war 1566/67 ,consiliarius decani'). Vgl. Hofmann, ebda., S. 195. Der Brief ist abgedruckt in Corpus Reformatorum. Philippi Melanthonis opera quae supersunt omnia, Bd. 8, hrsg. v. Karl Gottlieb Bretschneider, Halle 1841, Sp. 516. David Chytraeus, Commentarius in Matthaeum Evangelistam, ex praelectionibus Davidis Chytraei collectus, Wittenberg 1560 [HAB Wolfenbüttel: YC 33.8° Heimst.], S. 3-9. Siderocrates hat nach eigenen Aussagen die Aufzeichnungen des Chytraeus von dessen Rostocker Schüler Eberhard Overmann erhalten. Zu Marbach vgl. Theologische Realenzyklopädie, Bd. 22, Berlin 1992, S. 66-68 (James M. Kittelson). Weitere Informationen zur Schul- und Studienzeit sind höchstwahrschein-

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Vor der Tübinger medizinischen Fakultät hielt Siderocrates zwei iatromathematische Reden, in denen er in Nachfolge Melanchthons Mathematik und Medizin zur astrologischen Medizin verband.17 In diesen Reden zog er zum Beleg seiner Lehre neben den Autoritäten Hippokrates, Galen, Ficino, Melanchthon auch Paracelsus heran. Spätestens in Tübingen ergaben sich für Siderocrates Möglichkeiten, näher mit der Gedankenwelt des Paracelsus in Kontakt zu kommen, etwa durch die Bekanntschaft mit Michael Toxites, dem Herausgeber zahlreicher Paracelsica, der den Tübinger Schriften des Siderocrates Literarisches beisteuerte.18 Auch tauschte sich Siderocrates brieflich etwa mit den bekannten Paracelsisten Leonhard Thurneysser und Gerhard Dorn aus.19 In den Tübinger Jahren muß sich Siderocrates von der Wittenberger Theologie entfernt und häretischen, spiritualistischen Gedanken zugewendet haben: 1567 wird er wegen schwenckfeldischer Sympathien gezwungen, Tübingen zu verlassen. Pfingsten 1567 erhält er nach Auskunft der Universitätsakten seine letzte Besoldung und feiert am 21. September mit einer Essenseinladung an seine Kollegen (samt Ehefrauen) den Ausstand. Martin Crusius (1526-1607), der berühmte Tübinger Griechischprofessor, schreibt: „Factus Schwengfeldianus fuit, nee abduci se ä sententia est passus; Igitur 1568. di-

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lich in der Vorrede an Sigismund Melanchthon, die Siderocrates seiner Oratio de methodo iatromathematicon syntaxeon (Tübingen 1563) voranstellte, aufgeführt. Wolf-Dieter Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit, Stuttgart 1985, S. 233f., 243f. Ein weiteres Werk der Tübinger Zeit ist der 1562 erschienene Libellus geographicus, vgl. H. Staigmüller, Württembergische Mathematiker, in: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte 12, 1903, S. 227-256, hier S. 243, und Ernst Glowatzki u. Helmut Gotische, Die Tafeln des Regiomontanus: ein Jahrhundertwerk, München 1990 (Algorismus, Bd. 2), S. 153f. Zu Toxites vgl. Joachim Teile, in: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hrsg. v. Walther Killy, Bd. 11, Gütersloh 1991, S. 389. Zum Verhältnis der beiden Paracelsisten vgl. Charles Schmidt, Michael Schütz, genannt Toxites. Leben eines Humanisten und Arztes aus dem 16. Jahrhundert, Straßburg 1888, S. 4-6, 68-79. Seine Beiträge in Siderocrates-Drucken sind vermerkt in VD 16, E 865f. So Karl Sudhoff, Gedanken eines unbekannten Anhängers des Theophrastus Paracelsus von Hohenheim aus der Mitte des 16. Jahrhunderts über deutschen Jugendunterricht, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 5,1895, S. 83-90, hier S. 84. Gerhard Dorn hat drei seiner Paracelsus-Ausgaben Siderocrates gewidmet, vgl. Karl Sudhoff, Bibliographia Paracelsica. Besprechung der unter Hohenheims Namen 1527-1893 erschienenen Druckschriften, Berlin 1894 (Neudr. Graz 1958), S. 341 Nr. 196, S. 343 Nr. 197, S. 344 Nr. 198. In einem frühen Verzeichnis von Paracelsisten und Theosophen erscheint auch „Doctor Samuel Eisenmenger", vgl. Julian Paulus, Alchemic und Paracelsismus um 1600. Das Verzeichnis spagyrischer Mediziner des Augsburger Stadtarztes Karl Widemann, in: Frühneuzeit-Info, 3, H. 2, 1992, S. 48-72, hier: S. 51 Nr. 38 und S. 53, und ders., Alchemic und Paracelsismus um 1600. Siebzig Porträts, in: Analecta Paracelsia, hrsg. v. Joachim Teile, Stuttgart 1994, S. 335-406, hier: S. 351 f. (mit der Vermutung, der Salzburger Paracelsist Karl von Rauchenberg sei der Verfasser der Cyclopaedia).

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missus ad Marchionem Durlacensem Carolum pervenit."20 Caspar Schwenckfeld (1489-1561), der mit seinen Angriffen auf das verfaßte Kirchentum (und seiner Gegnerschaft gegen die Realpräsenz) in den sog. linken Flügel der Reformation eingruppiert wird, hatte durch Reisen und langjährige Aufenthalte gerade in Süddeutschland eine große Anhängerschar gewinnen können.21 Nach seiner universitären ,resignatio' ging Siderocrates in den Hofdienst und übernahm verschiedene Arztstellen, zunächst, wie Crusius berichtet, am Hof des Markgrafen Karl von Baden in Durlach. Diese Leibarztstelle verließ Siderocrates 1572 und ging in gleicher Position an den Hof des Speyerer Bischofs Marquard.22 Ärztliche Dienste übte er auf Vermittlung Marquards auch an den bischöflichen Höfen von Köln und Straßburg aus.23 Neben diesen Hofstellen hat sich Siderocrates wohl in seiner Heimatstadt Breiten aufgehalten, zumindest von 1578 bis 1583, da er für diese Jahre zusammen mit seiner Frau Zipora Maler in den evangelischen Taufbüchern als Gevatter aufgeführt wird und eine seiner Töchter hier Hochzeit feierte.24 Noch vor 20

Zitiert nach Hofmann, Artistenfakultät (wie Anm. 12), S. 209f. Um die schwenckfeldische Gedankenwelt des Siderocrates näher beschreiben zu können, bedarf es einer ausführlichen Untersuchung seines Traktats Vom ersten Adam [Württembergische Landesbibliothek Stuttgart: Cod. theol. et phil. 4° 51], Der Leser und Sammler spiritualistischer, vor allem schwenckfeldischer Schriften Daniel Sudermann besaß Werke des Siderocrates, vgl. Monica Pieper, Daniel Sudermann (1550-ca. 1631) als Vertreter des mystischen Spiritualismus, Stuttgart 1985, S. 51 u. 66. 21 Zu Schwenckfeld vgl. die Einführung von R. Emmet McLaughlin, Caspar Schwenckfeld, in: Die Refonmationszeit I, hrsg. v. Martin Greschat, Stuttgart 1981, S. 307-321. Zu seiner süddeutschen Präsenz vgl. Martin Brecht u. Hermann Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, Stuttgart 1984, bes. S. 236-241. 22 Siderocrates war in Durlach von einem lutheranischen Prediger attackiert worden und wurde durch Vermittlung der schwenckfeldischen Familie Streicher aus Ulm von Bischof Marquard angestellt, vgl. Corpus Schwenckfeldianorum, Bd. 12, hrsg. v. Eimer Ellsworth Schultz Johnson, Berlin 1932, S. 351f., S. 357-359. Zu Marquard von Hattstein (29.8.1529-7.12.1581) vgl. NDB Bd. 16, Berlin 1990, S. 242-244 (Günter Christ). Weitere Literatur wird vermerkt von Kurt Andermann, Zeremoniell und Brauchtum beim Begräbnis und beim Regierungsantritt Speyerer Bischöfe. Formen der Repräsentation von Herrschaft im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 42,1990, S. 125-177, hier S. 130 Anm. 23. Andermann beschreibt eindrucksvoll die Einbalsamierung (die u. a. Siderocrates vornahm) und Überführung des Bischofs. 23 Vgl. Heinz-Peter Mielke, Schwenkfeldianer im Hofstaat Bischof Marquards von Speyer (1560-1581), in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 28, 1976, S. 77-82, bes. S. 79f. Die speyerische Bestallungsurkunde für Siderocrates ist auf 7.11.1572 datiert, vgl. Manfred Krebs, Die Dienerbücher des Bistums Speyer 1464-1768, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 57, 1948, S. 55-195, hier S. 109 Nr. 835. Vgl. Heinz-Peter Mielke, Das süddeutsche Schwenkfeldertum zwischen Toleranz und Orthodoxie, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 13, 1994, S. 63-77. 24 Vgl. Müller, Georg Schwartzerdt (wie Anm. 7), S. 74f. mit Anm. 147 (Taufbucheinträge zum 22.8.1578, 9.10.1580, 13.11.1583; die Hochzeit der Tochter Justina am 28.9.1580);

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dem Erscheinen der Cyclopaedia stirbt Siderocrates am 28. Februar 1585, keineswegs in Brüssel,25 sondern in Bruchsal, das im 16. Jahrhundert auch „Brusella" oder „Brüssel" heißen konnte.26 Für die Drucklegung der Cyclopaedia ist im besonderen der Aufenthalt am Hof des Bischofs Marquard von Speyer von Interesse; Marquard hat, so die auf den 22. Juni 1583 datierte Vorrede des Siderocrates zum ersten Buch der Cyclopaedia, nicht nur die Publikation veranlaßt, sondern auch das Manuskript des anonymen Autors zur Verfügung gestellt.27 Marquard, der von einem Verwandten als ein „großer Schwenckfelder" beurteilt wurde Schwenckfeld hatte sich im übrigen auch in Speyer aufgehalten -, versammelte um sich einen Kreis von Schwenckfeldianer, unter ihnen seit 1572 Samuel Siderocrates.28 Die Vorrede der Cyclopaedia weiß von dem Autor nur zu berichten, er sei „ein Bischöflicher Cantzler zu Saltzburg" gewesen; mehr Informationen, so Siderocrates, habe Bischof Marquard nicht gehabt, der ihm aufgetragen habe, er solle das Manuskript „corrigirn, bessern, und wo es mich zuvil oder wenig geduncke, mindern und mehren."29 Zur Verfasserschaft sind einige Vermutungen geäußert worden; so identifizierte Karl Sudhoff den österreichischen Kanoniker Karl Rauber,30 Heinz-Peter Mielke Bischof Marquard31 und Joachim Teile sieht auffällige Parallelen zur Offenbarung Göttlicher Mayestat des Aegidius Gutmann.32 Für den enzyklopädiehioffensichtlich pendelte Siderocrates zwischen Breiten und dem nahegelegenen Udenheim, dem heutigen Philippsburg, der Residenz der speyerischen Bischöfe. 25 So z.B. Sudhoff, Gedanken eines unbekannten Anhängers (wie Anm. 19), S. 83. 26 Vgl. Albert Krieger, Topographisches Wörterbuch des Großherzogtums Baden, Heidelberg 21904, Bd. l, Sp. 305. Auf dem Titelblatt der Cyclopaedia wird Siderocrates als Arzt in Bruchsal vorgestellt; Bruchsal war die größte Stadt des Hochstifts Speyer, und offensichtlich war Siderocrates hier ebenfalls tätig. 27 Druckort der Cyclopaedia ist wohl Straßburg, wohin der Speyerer Kreis Kontakte hatte; Marquard besaß dort ein Haus, vgl. Heinz-Peter Mielke, Die Niederadligen von Hattstein, ihre politische Rolle und soziale Stellung, Wiesbaden 1977 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, Bd. 24), S. 315. 28 Vgl. Mielke, Schwenckfeldianer (wie Anm. 23), S. 79: „In Eisenmenger dürfen wir eine entscheidende Stütze der Gemeinschaft [sc. des Speyerer Schwenckfelder Konventikels] sehen, vielleicht sogar den Motor der schwenkfeldischen Bewegung überhaupt nach dem Tode ihres Begründers 1561." Auch der Schwenckfeldianer Aggaeus van Albada hielt sich zeitweise in Speyer auf, vgl. Hartmut Harthausen, Geistes- und Kulturgeschichte Speyers vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 3, hrsg. v. Wolfgang Eger, Stuttgart 1989, S. 349-434, hier: S. 364. 29 Siderocrates, Cyclopaedia, B1. (:)2r. 30 Sudhoff, Gedanken eines unbekannten Anhängers (wie Anm. 19), S. 89f. Sudhoffs Identifikation wird entschieden widersprochen von Joachim Teile, Johann Huser in seinen Briefen. Zum schlesischen Paracelsismus im 16. Jahrhundert, in: Parerga Paracelsica, hrsg. v. Joachim Teile, Stuttgart 1991, S. 159-248, hier S. 222 Anm. 109. 31 Mielke, Schwenckfeldianer (wie Anm. 23), S. 79 Anm. 17. 32 Joachim Teile, in: Literatur Lexikon (wie Anm. 18), Bd. 4, S. 135. Der physikotheologische Autor Gutmann verfaßte 1575 die Offenbarung Göttlicher Mayestat, einen über

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storischen Argumentationszusammenhang ist folgende Charakterisierung zunächst hinreichend: Die Cyclopaedia Paracelsica Christiana vertritt die Publikationsinteressen eines spiritualistisch-christlich und paracelsisch motivierten Kreises und dokumentiert auf diesem ideologischen Hintergrund bestimmte Textstrategien des Aufbaus, des Kanons und der Legitimation von Wissen.33 Die Cyclopaedia ist das einzige deutschsprachige Werk des 16. Jahrhunderts, das im Titel das Stichwort 'Enzyklopädie' führt.34 Ihren Wissensstoff bietet sie in drei Büchern. Das erste Buch gliedert sich mit seiner Überschrift „Von Ursprung der Freyen Kunst" - auf den ersten Blick traditionell - in den geläufigen Ordnungsrahmen der artes liberales ein; das sprachliche Trivium erscheint in Kapiteln zu „Buchstaben", „Schreibkunst", „Büchern", „Rednerkunst", „Zungen und Sprachen", das mathematische Quadrivium in Kapiteln zu „Zahlkunst", „Meßkunst" und „Gestirnkunst". In dem Abschnitt zu „Zungen und Sprachen" wird ein didaktischen Curriculum entworfen und angemahnt, das sich aber nicht an dem Ideal des humanistischen Lateinunterrichts, sondern an dem „Ebenbild von den Teutschenkauffleu-

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1000 Seiten umfassenden Kommentar zum 1. Kapitel der Genesis, den Carlos Gilly als naturphilosophische Enzyklopädie bezeichnete; vgl. Johann Valentin Andreae (15861986). Die Manifeste der Rosenkreuzerbruderschaft (Katalog einer Ausstellung in der Bibliotheca Philosophica Hermetica), hrsg. v. Carlos Gilly, Amsterdam 1986, S. 30f. Erst 1619 wurde das Manuskript zum Druck gebracht (Hanau: J. W. Däschen, 1619 [HAB Wolfenbüttel: Na 49]). Die Parallelen zwischen der Cyclopaedia und der Offenbarung sind offenkundig - ich greife den Darlegungen zur Cyclopaedia vor -: in Deutsch geschrieben; Forderung nach deutschsprachiger Unterweisung; Polemik gegen antike Bildung; Bibel als zentrale Wissensquelle; Adam als Ahnherr aller Wissenschaften. Im Unterschied zur Cyclopaedia beruft sich die Offenbarung nicht auf die Autorität des Paracelsus und würdigt die jüdische Tradition. Bereits Friedrich Breckling vermutete in Aegidius Gutmann den Verfasser der Cyclopaedia, vgl. seinen „Catalogue Festium veritatis" in Gottfried Arnold, Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie von Anfang des Neuen Testaments bis auff das Jahr Christi 1688, Frankfurt/M. 1729 (Neudr. Hildesheim 1967), Tl. 3/4, S. 1089-1110. Die Verquickung paracelsischen und schwenckfeldischen Gedankenguts in Opposition zur zeitgenössischen Medizin und Theologie findet sich auch bei Wolfgang Talhauser (gest. ca. 1548), so Joachim Teile, Wolfgang Talhauser. Zu Leben und Werk eines Augsburger Stadtarztes und seinen Beziehungen zu Paracelsus und Schwenckfeld, in: Medizinhistorisches Journal 7, 1972, S. 1-30, bes. S. 12-15. Henningsen, Enzyklopädie, S. 285. Henningsen hat als erster die Cyclopaedia in die einschlägigen Gattungsverzeichnisse aufgenommen. Für seine Vermutung - verfaßt „um 1550" - gibt er keine Quelle an. Zur Frühgeschichte des Enzyklopädiebegriffs gibt wichtige Ergänzungen Seifert, Der enzyklopädische Gedanke, S. 117. Seifert bietet als frühen Beleg für „cyclopaedeia" eine 1517 publizierte Rede Melanchthons, vielleicht eine Anregung für den Melanchthon-Schüler Siderocrates, der höchstwahrscheinlich den lateinischen Werktitel (Cyclopaedia Paracelsica Christiana) formuliert hat, während der deutsche Titel (Drey Bücher von dem waren Ursprung ...) wohl von dem Autor stammt. Ohne Erwähnung der Cyclopaedia - und auch sonst belanglos - Klinkowstroem, Enzyklopädien.

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ten" orientiert. Das Artes-System wird deshalb nicht normativ übernommen, sondern pragmatisch entwickelt, ja in seiner Substanz vielmehr destruiert: Der Schüler lernt „inn Teutschen Land inn ... Teutschen Schulen" lesen und schreiben, rechnen, richtige Briefe aufsetzen etc., dies alles in l 1/2 Jahren, „mit dem er sein lebenlang vor meniglich wol bestehen mag", noch ein halbes Jahr dazu für den, der es zur Meisterschaft bringen will, danach Auslandsaufenthalte in Italien, Spanien und Frankreich zum Sprachenlernen, weitere Erfahrungen in „Finantzerey, Wücherey unnd alle Büberey", und fertig ist nach insgesamt 5 Jahren der deutsche Kaufmann, „ohn alle Grammatica, Dialectica und Poeterey":35 ein Artes-Konzept also ohne klassisches Trivium, oder präziser: ein Entwurf der freien Künste mit einer nationalen Um-Schreibung der sprachlichen Grundfächer. Die Polemik zielt auf die lateinischsprachige rhetorische Erziehung des Humanismus, der Zeitverschwendung, politische Nutzlosigkeit - fehlende Praktikabilität z.B. in der Kommunikation mit der Obrigkeit - und unnationale Distanznahme gegenüber der Muttersprache vorgeworfen werden.36 Dieses Angriffsmuster wird gemeinhin unter dem Stich wort 'pädagogischer Realismus' im 17. Jahrhundert angesiedelt und erstmals mit dem Frankfurter Memorial von 1612 des Wolfgang Ratke (1571-1635) verknüpft.37 Die gängige Herleitung realistischer Strömungen aus der frühkapitalistischen Wirtschaftsform findet in der Cyclopaedia einen frühen Beleg: pädagogische Direktive ist das „Ebenbild von den Teutschenkauffleuten"; die Hinweise auf die gegenüber der lateinischen Grammatik- und Rhetorikbildung viel schnellere deutschsprachige Unterweisung belegen die intendierte Ökonomisierung des Wissens.38 Eine solche wirtschaftshistorische Herleitung läßt gleichwohl einen möglichen 35

Siderocrates, Cyclopaedia, Buch I, S. 15. Polemik gegen das „traditionelle Bildungssystem" diagnostiziert auch Michael Giesecke bei der Cyclopaedia, doch scheint mir seine historische Einordnung: „eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Idealen der Gelehrsamkeit und der Ausbildung" irreführend (Giesecke, Buchdruck, S. 180f.). 37 Die Argumentation Ratkes wird ausführlich nachgezeichnet von Gerhard Michel, Wolfgang Ratke: Die Muttersprache in Schule, Staat und Wissenschaft, in: Stadt - Schule Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, hrsg. v. Albrecht Schöne, München 1976, S. 185-197. Vgl. auch Gunter E. Grimm, Muttersprache und Realienunterricht. Der pädagogische Realismus als Motor einer Verschiebung im Wissenschaftssystem (Ratke - Andreae - Comenius), in: Res publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, hrsg. v. Sebastian Neumeister u, Conrad Wiedemann, Wiesbaden 1987, S. 299-324. Ähnlichkeiten zwischen der Cyclopaedia und Ratke beim Einsatz für den schulischen Gebrauch der Muttersprache sieht Irmgard Weithase, Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, Tübingen 1961, Bd. l, S. 63f. 38 Z. B. Siderocrates, Cyclopaedia, Buch I, S. 17: „Also mag dein Son alle Jar sprachen lehrnen, wann er will nicht nach der Grammatica, sondern auß täglicher Übung, wann er dann die sprachen kan, mag er als dann die Grammatica selbst wol besehen unnd 36

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Entstehungshorizont unbeachtet: das paracelsische Milieu, in dem Muttersprache und Beschäftigung mit den natürlichen res blühten, Buchgelehrsamkeit, Rhetorik und Antike dagegen verpönt waren. Den pädagogischen Realismus in das 16. Jahrhundert vorzudatieren und eine spezifisch paracelsische Reformpädagogik zu etablieren, erlaubt nicht nur die Cyclopaedia, die sich pointiert Paracelsica nennt, sondern beispielsweise auch das Werk des Paracelsisten Georg Forberger (1543-nach 1604), der seine Gegnerschaft gegen das Latein und die Forderung nach „Schulen ... darinn die gemeine Jugend alle gute Kunst Teutsch studieren möge", häufig vorbrachte.39 Paracelsus selbst hatte in seinem reichen Schrifttum die Grundakkorde angeschlagen: Bruch mit der antiken Tradition, Deutsch als Wissenschaftssprache, die Erfahrung („erfarnus") als natürliche Sachautorität, Aversion gegen die Sprachfixiertheit der humanistischen Zeitgenossen.40 Die Cyclopaedia ist demnach eine auf Realienwissen zielende reformpädagogische Enzyklopädie aus paracelsischem Geist. Daß Realienwissen im Mittelpunkt steht, beweist der Aufbau des ersten Buches - kurzes Eingehen auf die verba, ausführlichere Behandlung der Zahl- und Meßkunst und breite, etwa 2/3 des ganzen Buches umfassende Darstellung der Gestirnkunst -, vor allem aber auch die Themen des zweiten und dritten Buches: zum einen „Naturkundigkeit" oder „Physiognomia", zum anderen die oberen Wunderwerke und die Witterungen, also zum einen Naturkunde, zum anderen Meteorologie. Wer die Elle traditioneller Aufbauschemata an die Cyclopaedia anlegen wollte, könnte die drei Bücher unter ,artes liberales', ,physica' und ,metaphysica' rubrizieren. Daß solche Schematisierungen textkonstitutiv sind, dokumentiert nicht nur die Titelgebung des ersten Buches „Ursprung der freyen Kunst", sondern auch die Vorrede zum dritten Buch: sie erwähnt die aristotelische Physik und Metaphysik, jedoch nicht als Vorbild, sondern als Gegenbild, dem das eigene Vorhaben, die natürlichen und übernatürlichen Dinge zu beschreiben, polemisch entgegengesetzt wird. Es greift also zu kurz, den Aufbau der Cyclopaedia anhand der Reihenfolge der sieben freien Künste, lediglich ergänzt durch Naturkunde und Medizin, zu skizzieren, zumal die

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nicht siben Jar darinn verzehren, so dein Sohn Teutsch kan ohn Grammatica und ihm ein Teutsche Rhetorics inn die hand kommet, so verstehet er dieselb als bald und kans inn vierzehen tagen brauchen, da er sonst inn der Lateinischen müßte drey Jar haben. Also sihest du, was für ein underschied sey inn Lehrungen der künsten inn der Mutter sprach unnd inn den frembden Zungen." Rudolph Zaunick, Der sächsische Paracelsist Georg Forberger. Mit bibliographischen Beiträgen zu Paracelsus, Alexander von Suchten, Denys Zacaire, Bernardus Trevirensis, Paolo Giovio, Francesco Guicciardini und Natale Conti, Wiesbaden 1977 (Kosmosophie, Bd. 4), S. 12, vgl. auch S. 13 u. 30. Ausführlich Stefan Rhein, Vergil oder die ,Königskerze': War Paracelsus Humanist?, in: Nova Acta Paracelsica 7, 1993, S. 45-71.

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Medizin als Teil der Naturkunde im zweiten Buch behandelt wird.41 Das aristotelische Gegenbild wird nicht näher ausgeführt; als heidnisches Lügengebilde verfällt es dem Verdammungsurteil, das nicht argumentiert, sondern gegen das „Teuffelsgespenst inn den Heydnischen Büchern" zu Felde zieht.42 Unter den heidnischen Büchern verbergen sich die antiken Autoren, die entweder als gesamte Bildungsmacht oder einzeln mit Beschimpfungen überzogen werden. Keiner bleibt ungeschoren, nicht der Zauberer Vergil und der Hurenbock Terenz (Buch I, Bl. A3r), nicht die Geschichtsschreiber Livius und Plutarch (I, S. 149), nicht Homer mit seiner überlangen Ilias (I, S. 160), nicht die Redner Isocrates, Demosthenes, Cicero (I, S. 6), nicht der Meßtheoretiker Euclid (I, S. 58), vor allem aber nicht die natur- und medizinkundlichen Autoren Hippokrates, Galen, Plato, Avicenna und an ihrer Spitze Aristoteles, der „Narristoteles". Grobianische Plastizität gewinnt beispielsweise ein Angriff auf einen galenistischen Arzt und seine antiken Lehrmeister: „Er und seine Heydensgenossen [haben] besudelt, beschissen, gefälscht und wie eine Sau einen Lustgarten verwüstet, verderbt und gar außgereutet und also sein dreck an die statt gethan, darauß kochst du, darauß sudelst du, darauß reichst du deine Artzneyen, woll ein beschissene Apotheck ist daß, woll stinckende Artzney gehen darauß, nur den Sewen damit zu, die werden davon feißt, unn geben dir feine auffgedreygte bratwürst, die habe du dir für dein Artzlon, dann solche Artzneyen seind keiner ändern besoldung wirdig" (II, S. 57). Die antiken Autoritäten und ihre aktuellen Statthalter werden radikal und ausnahmslos destruiert. Den freigewordenen Raum beansprucht die Cyclopaedia neu zu besetzen. Sie versucht dies nicht in thematischer Vollständigkeit, sondern vorrangig auf den Gebieten der Anfängerbildung und der Naturkunde zu leisten. Der Anfangsunterricht sollte, wie oben angedeutet, auf der deutschen Sprache basieren und pragmatisch ausgerichtet sein. Für die Naturkunde, dem zentralen Thema der Cyclopaedia, reichten indessen Muttersprache und Praktikabilität allein nicht aus - obgleich sie auch hierfür oft gefordert werden. Die Autoritäten mußten vielmehr gewechselt, neue - oder auch alte neu - etabliert werden. Sie sind im Titel der Cyclopaedia ausgewiesen: die Bibel und Paracelsus. Auf mögliche paracelsische Einflüsse habe ich bereits bei der Wahl des Deutschen als Sprache des Textes und des geforderten Realienunterrichts hingewiesen; indessen darf nicht vergessen werden, daß die medizinische und pharmazeutische Gebrauchsliteratur sich schon vor und unabhängig von Paracelsus auf den „gemeinen Mann" als Adressaten

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Dierse, Enzyklopädie, S. 13. Siderocrates, Cyclopaedia, Buch III, Bl. a3r.

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einstellte.43 Paracelsus wird an einigen Stellen der Cyclopaedia namentlich erwähnt (I, S. 16,127); einige Werktitel werden genannt, die Archidoxen (II, S. 25, 26, 60, 71, 72), das Paramirum (II, S. 60), das Paragranum (II, S. 60), die Kometenschriften (III, S. 62); die paracelsische Spagyrik erhält den Rang der einzigen wahren Arzneikunst (II, S. 79-81); chemiatrische Arzneimittel werden empfohlen (II, S. 67, 70 [Antimon]); die Elementenlehre der Tria prima (Salz, Schwefel und Mercur) avanciert zur Grundformel für Kosmologie, Anthropologie, Krankheits- und Gesundheitstheorie (II, S. 65, 67, 7l).44 Eindeutig im Mittelpunkt aber steht die Autorität der Bibel, der Nachweis, daß alle res und alle artes göttlichen Ursprungs sind. Die Cyclopaedia bietet keine enzyklopädische Bibelerschließung, gewandet sich auch nicht als Bibelkommentar, etwa zur Genesis, sondern versucht eine umfassende Naturerschließung mit Hilfe biblischer Belegstellen, die so zahlreich sind, daß sie viele Buchseiten zu einem Mosaik aus Bibelstellen machen. Die zentrale Autorität der Heiligen Schrift engt die Auseinandersetzung mit den antiken Autoritäten vor allem auf den Glaubensaspekt ein: Es geht nicht um Fachkompetenz, sondern um das Ja oder Nein zum christlichen Gott; die Bezeichnungen ,antik', ,alt', griechisch', ,römisch' etc. werden deshalb durchweg durch die religiöse Kampfvokabel »heidnisch1 ersetzt. Die Cyclopaedia beruft sich explizit auf die beiden Bücher Gottes, die Schöpfung und die Bibel, und erklärt das eine durch das andere. Die Darstellung setzt mit der Erschaffung Adams ein, von Siderocrates am Seitenrand mit „Buch der Schöpfung" glossiert (I, S. 1). Wie viele mittelalterliche Enzyklopädien präsentiert sich die Cyclopaedia als Weltbuch, als Spiegel weltlicher Ordnung, als Aufweis des ordo rerum, der von Gott gestiftet ist. Die Entwicklung der 43

Vgl. Joachim Teile, Arzneikunst und der „gemeine Mann". Zum deutsch-lateinischen Sprachenstreit in der frühneuzeitlichen Medizin, in: Pharmazie und der gemeine Mann. Hausarznei und Apotheke in deutschen Schriften der frühen Neuzeit, hrsg. v. Joachim Teile, Wolfenbüttel 21988, S. 43-52. 44 Zu diesen paracelsischen Spezifika, zur Chemiatrie, zur tria-prima-Lehre etc. vgl. etwa Walter Pagel, Paracelsus. An Introduction to Philosophical Medicine in the Era of the Renaissance, Basel 1958. Nicht verschweigen will ich folgende Vermutung, die nicht mehr als ein vorläufiger Lektüreeindruck ist: Die paracelsische Konnotierung der Cyclopaedia ist eine Beigabe des überzeugten paracelsistischen Herausgebers Siderocrates. (1) Der Titel Cyclopaedia Paracelsica Christiana ist auf dem Titelblatt typographisch abgesetzt und nicht in den Gesamttitel eingepaßt. (2) Paracelsus wird in der programmatischen Vorrede gar nicht erwähnt, nur in der Herausgeber-Praefatio. (3) Oft wird auf Werke des Paracelsus nur zur weiteren Lektüre hingewiesen, seine Gedanken prägen selten die Argumentation. Eine Häufung der Paracelsus-Stellen ist vor allem bei den tria-prima-Stellen zu beobachten, so daß Interpolation vorliegen könnte. Karl Sudhoff schätzt die Anregungen des Paracelsus im einzelnen für nicht bedeutsam ein, betont indessen m.E. den Paracelsismus der Cyclopaedia zu stark („Lebhaft ist die Parteinahme für die Theophrastische Medicin und Naturbetrachtung"), vgl. Sudhoff, Bibliographia Paracelsica (wie Anm. 19), S. 355.

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Enzyklopädie verlaufe, so Christel Meier, von einer schöpfungsorientierten zu einer anthropozentrischen Ausprägung, also von dem ordo rerum zum ordo artium.45 Mir scheint, daß die Cyclopaedia, natürlich weit nach dem historischen Umschlag zu datieren, beide Modelle verknüpft; denn einige Kapitel nach dem Schöpfungsanfang werden die göttlichen Schöpfungsgaben in eine pädagogische Abfolge eingereiht. Die von Gott geschaffenen res sollen nunmehr vom Menschen auch gelernt werden, ausgehend von den Buchstaben bis hin zu Tieren, Krautern, Wasser etc.: Die Cyclopaedia ist der Ort, wo sich die res zu artes transformieren.46 Die Cyclopaedia ist deshalb auch ein Lehrbuch, das programmatisch den auf den antiken Bildungsgütern basierenden Unterricht ersetzen will. In seiner Vorrede diffamiert der anonyme Autor die ,,unnütze[n] Heydnische[n] Bücher" und setzt dagegen die wahre christliche Unterweisung durch die Bücher Gottes: Dann wir Christen selten uns schämen, daß wir den frembden unnd abgöttischen Lehrbüchern nachtrachten und nicht vil mehrers Gott den Herrn umb sendung des heiligen Geysts bitten sollen, der uns die rechte Wegweiß inn die Biblische Schulen fürzeigt, wie wir daselbst die pletteltafel erlehrnen, den weg zu dem Buchkasten Gottes finden, die uberschrifft der H. Bücher kennen, darinn lesen, die H. Kunst darauß fassen, unnd den übernatürlichen weg zu der ewigen Seligkeit ergreiffen sollen, dardurch des Satan gottlose Heydnische Schul verstört und ausgetilget würde. Das gebe Gott der Allmächtig, daß alle christliche Potentaten solche Vermanung zu gemüt und hertzen füren und solche Heydnische Gottslästerliche Kunst und Lehrbücher inn den Schulen und bey menniglich abstellen, dardurch die grausam Gottslästerung abgeleint unn der gerechte zorn Gottes, der über dise Irthumb erreget ist, zum theil gemiltert werde. Diesem sollen auch die Schrift und die Lehrmeyster selbst nachgedencken, wie hoch und tieff sie in den verderblichen Irthummen stecken.47 Das reformpädagogische Ziel ist klar beschrieben, die humanistischen Gelehrten, Schulmänner und Lehrbücher sind als Gegner unmißverständlich genannt, die Ablehnung des zeitgenössischen Wissenschaftsbetriebs ist unschwer diagnostizierbar. An dieser Stelle läßt sich übrigens eine Akzentverschiebung zwischen dem Verfasser und dem Herausgeber der Cyclopaedia feststellen: Während der Anonymus, der unbekannte „Bischofliche Cantzler zu Saltzburg", offenkundig noch heftigere Attacken gegen den humanistischen Gelehrsamkeitsbetrieb vorbrachte, hat Siderocrates, immerhin selbst Mitglied der Respublica litteraria, nach eigenem Bekunden „auß billichen unnd erheblichen Ursachen, so vil müglich gewesen, auch dise straffung 45 46 47

Meier, Cosmos politicus, bes. S. 318-321. Vgl. Siderocrates, Cyclopaedia, Buch I, S. 14-18. Siderocrates, Cyclopaedia, Buch I, Bl. Blr/v.

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[= antiheidnische ,Strafpredigten'] gemiltert, corrigiert und offt vil außgelassen", ohne allerdings das „fundamentum authoris" zu verändern (I, Bl. ij2v), und glossiert die oben skizzierte Forderung nach ,unheidnischem' Unterricht am Seitenrand mit dem Hinweis auf Paulus, der sehr wohl antikes Wissensgut, z. B. Arat oder einen griechischen Vers, rezipiert habe; unnütz und verführerisch, so Siderocrates weiter, seien die heidnischen Bücher indessen besonders für die Jugend (I, Bl. Blr/v). Die Stoßrichtung gegen den humanistischen Unterricht ist also beiden, Autor und Herausgeber, gemeinsam. Folgerichtig werden mögliche humanistische Präsentationsformen des Wissens von der Cyclopaedia auch nicht herangezogen: Es fehlt die humanistische Leitwissenschaft Grammatik mit ihrem sprachlich-formalen, philologisch-kritischen und historisch-antiquarischen Zugriff auf das textuelle Wissen;48 es fehlen humanistische Dispositionen wie die Loci; es fehlen die humanistischen Ordnungsbegriffe aus Rhetorik und Dialektik (Syllogismus, Enumeratio, Enthymem, Exemplum etc.); es fehlt der humanistische Gestus, durch Rekurs auf formale Vorbilder die eigene Ordnung zu legitimieren; es fehlt der Ansatz, das Wissen als 'historia' zu begreifen.49 Charakteristika der humanistischen Enzyklopädien, die etwa William Melczer versammelt hat - Berufung auf antike Autoritäten, antikisierende Textelemente (wie Biographie), Abkehr von der scholastischen Methode, dem Moralisieren und der Theologie, also Säkularisation -, finden sich ebenfalls nicht in der Cyclopaedia.50 Und in Anthony Graftons Beschreibung des späthumanistischen Enzyklopädismus - Polyhistorie, ohne Methodenreflexion, Realitätsferne, ohne nationale Bindung - hätte sich die Cyclopaedia zumindest in den letzten beiden Punkten nicht wiedererkannt, da Praxisbezug und deutschsprachiger Unterricht ihre besonderen Anliegen sind.51 Wo die antiken Autoritäten umgestürzt und die humanistischen Modi der Wissensvermittlung ihrer Legitimation beraubt sind, müssen neue Parameter 48

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Zum „grammatischen Universalismus", zur polyhistorischen Philologie und zur Polymathie vgl. Kühlmann, Gelehrtenrepublik, S. 288-292. Der Zusammenhang von Grammatik (bzw. Philologie) als einer jedem speziellen Fachwissen vorausgehenden Grundlagenwissenschaft und der enzyklopädischen Wissenschafts- und Bildungsidee der frühen Neuzeit wird eindrucksvoll entfaltet von Zedelmaier, Bibliotheca universalis, S. 265285. Zu den humanistischen Leitbegriffen und Modellen der Wissensorganisation vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 1-66. Melczer, Les encyclopedies. Andere Akzente setzt der Artikel von A. H. T. Levi, Ethics and the Encyclopedia, der zwei Stränge der Enzyklopädie herausarbeitet: rhetorischphilologisch-didaktisch mit dem Primat der Ethik und neuplatonisch-naturkundlich-mythologisch-hermetisch mit dem Leitbegriff Musik. Grafton, The world of the polyhistors. Im Unterschied zu dem klassischen humanisti-

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eingezogen werden. In der Cyclopaedia sind dies: Gott, die Leitwissenschaft Physiognomie und die Praxis. Gott, in dem alles Wissen begründet ist, hat seinen ersten Schüler in Adam, der den menschlichen Beginn aller Einzelwissenschaften darstellt. Adam war der erste, dem Sprache, Schrift, Zahlen gelehrt wurden, Adam war Erdmesser und Gestirnkünstler (II, S. 35), „unser erster Vatter [war] ein gewaltiger Kreutermeister, Apotecker und Arzt" (II, S. 39), Adam war der erste Leser des Buches der Natur und der Sterne, er war überdies, da er alles, was beispielsweise in den Archidoxen steht, weiß, gleichsam der erste Paracelsist (II, S. 25, 26). Mit der Primus-Rolle Adams ist im übrigen kein Kontinuitätskonstrukt verknüpft - etwa im Sinne einer theologia prisca und philosophia perennis.52 Keine wissensgenealogischen Zwischenstufen verbinden Adam und die Gegenwart, die beide Leser des unveränderlichen Buches des Natur sind: „An diesem allem hat sich Adam gantz wol benügen lassen. Inn disem Buch hat er gelesen, nach diesem Buch hat er gearbeitet, auß diesem Buch hat er seine Kinder gelehret und ihnen künfftige ding verkündigt, wie du jetzo nach lengs hören würdest" (I, S. 153). Der Entwurf einer adamischen Weisheit, oftmals - und nicht nur in der Cyclopaedia - polemisch gegen die antik-humanistische Wissenschaft ausgespielt, war im 16. und 17. Jahrhundert in einem naturkundlichen Milieu beheimatet, das die Welt als magische Konkordanz von Sichtbarem und Unsichtbarem deutete und nach Ursprache und Weisheitsuniversalismus suchte.53 Zur naturkundlichen Leitwissenschaft avanciert in der Cyclopaedia folgerichtig die Physiognomie, die „hochlöbliche Zeichenkunst" der sichtbaren und unsichtbaren Eigenschaften, Kräfte und Wirkungen (II, S. 50). Ohne Berücksichtigung der spekulativen Philosopheme ,Ursprache' und ,Universchen Paradigma von Enzyklopädie gibt Arno Seifert der frühneuzeitlichen Enzyklopädie auch andere Konturen: Der Enzyklopädiebegriff setzte sich nur langsam durch und wurde zunächst von Außenseitern favorisiert; er findet eine erste breitere Aufnahme bei Fachspezialisten (z.B. Juristen, Mediziner), vgl. Seifert, Der enzyklopädische Gedanke, S. 118, 120 Anm. 25, 121 Anm. 27. Diese Beobachtung paßt auf den paracelsisch und spiritualistisch geprägten Arzt Siderocrates; „cyclopaedia" changierte demnach zwischen der Zustimmung zur gelehrten Tradition und der Betonung der fachspezifischen Praxis. 52 Zu diesen Geschichtsentwürfen, die mit Adam (oder Moses) den Beginn jeder Wissenschaft setzen, vgl. Stefan Rhein, Der jüdische Anfang. Zu Reuchlins Archäologie der Wissenschaften, in: Reuchlin und die Juden, hrsg. v. Arno Herzig u. Julius H. Schoeps, Sigmaringen 1993, S. 163-174, und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis im Spätmittelalter. Eine Skizze, in: Innovation und Originalität, hrsg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 9), S. 14-34. Aus der Cyclopaedia könnten dagegen beispielsweise Angriffe auf die jüdische Kultur vorgebracht werden, so Buch I, S. 169: „Ja alle Juden sampt ihrem Narrechten Dalmud und unrichtigem Zoar mögen sich wol verkriechen gegen disem Buch [sc. Buch Salomon]." 53 Vgl. ausführlich Aleida Assmann, Die Weisheit Adams, in: Weisheit, hrsg. v. Aleida Assmann, München 1991, S. 305-324.

Die Cyclopaedia Paracelsica Christiana

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salweisheit' verengt sich in der Cyclopaedia die adamische Weisheit zu einer praktikablen Heuristik der Natur. Adam ist der erste Physiognomiker, der im physiognomischen Ur-Akt Eva erkennt, „das Weibsbild innerlich und eusserlich gekennet" (II, S. 18). Allen Tieren und Krautern ist „ein Register", „ein Merkzeichen" eingedruckt, das ihren Nutzen zu „Artzneyungen unnd gesundmachungen" (II, S. 50) anzeigt. In einem Satz: „Gott der Herr [hat] die Physiognomiam dem Menschen fürnemblich zu erkennung aller natürlichen, sichtbaren, auch verborgenen dingen, auch also zu Verhütung zufelliger kranckheiten, bewarung des gesunds und hinlegung zugefallenen schmerzen fürgegeben" (II, S. 52). Von der „Physiognomey des Erdbodens" (II, S. 24), der „Physiognomey der lebendigen gethieren" (II, S. 42) bis zur „Physiognomia, erkentnuß deß menschlichen Leibs" (II, S. 65) reicht die physiognomonische Naturerschließung. Zu den Phänomenen oder ad fontes, so ließen sich die differenten Ziele der adamischen und der humanistischen Naturkunde reduzieren.54 Sie implizieren auch differente Methoden, die die Cyclopaedia in der Kontrastierung von humanistischem Textwissen und praktischer Wissensaneignung beschreibt. „Practic" „on alle Grammatic und Theorie" tut not; zum Vorbild wird die handwerkliche Wissensvermittlung von Lehrmeister auf Lehrjünger, die face-to-face-Unterweisung durch Wort und Werk des - so die Aufzählung - Zimmermanns, Eisenschmieds, Goldschmieds, Steinhauers und anderer Kunstmeister (II, S. 111). Für den universitären Lehrbetrieb, der in den 80er Jahren des 16, Jahrhunderts noch uneingeschränkt auf der lateinischen Sprache fußte55 und dem humanistischen Bildungskonzept, wenn auch zumeist in melanchthonischer Umformung, folgte, war die Cyclopaedia also ganz offensichtlich nicht geschrieben, auch nicht als Propädeutik für den artistischen Unterricht; eine ausdrückliche Kritik an den „Hohenschulen" unterstreicht dies (I, S. 60). Die Apostrophen im Text ergeben ein vielfältiges Bild: Von dem engagierten Autor werden Gegner und Freunde gleichermaßen angesprochen. Die Gegner firmieren als „Ihr Lästerer", etwa als Lästerer der Astrologie (I, S. 121, 166), als Verächter eines deutschsprachigen Unterrichts oder als galenistische Ärzte („Lieben Junckherrn Galenisten und Heydnische Lehrjünger, thut ewere äugen recht auff" II, S. 57, vgl. auch II, S. 57, 59). Die Freunde werden zu „Liebe brüder, bedenckt euch" (II, S. 79) oder zu „Fürwar liebe Freund, diß ist ewer Ampt" (II, S. 114), ja sogar der Apostel Paulus wird als Kampf54

55

Zur „naturphysiognomischen Grundstimmung" (Erich Rothacker), insbesondere zu Paracelsus vgl. ausführlich Wolf Peter Klein, Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins, Berlin 1992, S. 121ff. Vgl. Uwe Pörksen, Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien, Tübingen 1986, S. 45ff.

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gefährte gegen die heidnische Rhetorik dankbar begrüßt („Danck hab mein lieber Apostel Paule, das du uns ... falsche Teüffelische Rednerkünstlerey ... so dapffer entdeckt hast" I, S. 12). Die Apostrophen gewinnen Aussagekraft, wenn sie weder pure Diffamierung noch bloße Affirmation sind, sondern sich in persuasiver Absicht an bestimmte Gruppen wenden. So richtet sich der Exkurs über die Notwendigkeit des deutschsprachigen Unterrichts an die „Hausväter, Vormünder unnd Pflegväter" (I, S. 15), die Mahnung zu ehrlichem Umgang mit Geld an „Selsorger, Vorsteher, Lehrer, Gesetzler, Richter, Oberkeit, Haußväter, Redner, Beyständer, Rhatgeber" (I, S. 22), die Aufforderung zu rechter Meßkunst an verschiedene Berufsgruppen: „Ihr Lehrmeister", „Ihr Kaufleut", „Ihr Schneider", „Ihr Maurer" (I, S. 57/8). Das zweite Buch wendet sich vorrangig an Ärzte und Apotheker und entwirft ihnen ein umfassendes Berufsbild, das den im ersten Buch entwickelten Bildungsgang exemplarisch nachzeichnet: von der Kenntnis der deutschen Sprache bis hin zur naturkundlichen Kennerschaft (natürlich ohne medizinisches Fachstudium). Diese beiden Berufsgruppen standen als intendierte Leser gewiß vorrangig im Blickfeld,56 ohne daß die Cyclopaedia eine berufsspezifische Fachenzyklopädie genannt werden dürfte; die Bücher l und 3 sind dafür zu allgemein, zu unspezifisch formuliert. Der Rezipientenkreis ist kein universitäres, humanistisch-akademisch orientiertes Fachpublikum. Die anvisierten Leser müssen gleichwohl Kontakt mit der humanistischen Bildungswelt gehabt haben, um die wütenden Angriffe auf die Antike goutieren zu können; sie sind also auch keine Illiteraten, keine Bauern, für die - dies sei nebenbei bemerkt - sich die Cyclopaedia, etwa in der Frage der gleichrangigen medizinischen Versorgung, einsetzt.57 Die Leser müssen auch Kontakt mit der humanistischen Berufswelt gehabt haben und sich wie der Verfasser der Cyclopaedia an ihren akademischen Schranken gestoßen haben. Denn ärgerlich ist die heidnische Bildung, „die aller grausamste Gotteslästerung" aber ist, daß in den freien Künsten, in der Theologie und in der Arzneikunde sich nur solche betätigen dürfen, die den Weg des Humanismus, nicht den der Heiligen Schrift gegangen sind. Es geht also um die freie Zulassung zu Berufen, und dies ist nicht eine gequält aktualisierende Formulierung, sondern fast wörtliches Zitat:

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Auch die Firmierung des Herausgebers auf dem Titelblatt als „Fürstlichem Speirischen Medico" suggeriert einschlägige Kompetenz. Siderocrates, Cyclopaedia, Buch II, S. 29: „Mit was underschied hat Gott dich, burger und bawren beschaffen? hat er dem bawren nicht so wol seinen H. Geist des lebens eingegeistet, als dir und dem Burger? ... der bawr ist gleich so wol ein geschöpft und Tempel Gottes, als König, Keyser, Edelman und Burger. Fahre mit deiner Artzney gleich, macht die Recept dem Bawren eben so gut ...".

Die Cyclopaedia Paracelsica Christiana

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[Greuliche Gotteslästerung ist,] daß derselbe zu solcher Meysterschafft keineswegs zugelassen würdet, Er könne dann seine Kunst und H. Schrift auß dem narrechten Aristotele verthädigen, die Artzney auß des unbegründten Galeni bescheisserey verfechten unn die freye Kunst mit heydnischer Sophisterey verblümlen (I, Bl. A3r/v). In beruflicher Konkurrenz zum humanistischen Gelehrtenadel stand vor allem der gehobene Handwerkerstand, Schreibmeister, Rechenmeister, Meßmeister, Apotheker, die große Zahl nichtakademischer Ärzte wie Bader, Wundärzte und Bruchschneider. Für diese Gruppen war die Cyclopaedia kein Sammelwerk spezifischen Fachwissens; sie insistiert selbst auf ihrem thematischen Schwerpunkt, den Ursprung, nicht den Gebrauch des Wissens zu behandeln. Sie offerierte ihnen vielmehr eine generelle Nobilitierung ihrer Berufe durch umfassenden Rückbezug auf den göttlichen Ursprung, sie war Medium der Selbstverständigung im noch Undefinierten Feld zwischen illiteraten Handwerkern und humanistischen Gelehrten. Handwerklich-technisches Wissen, Wissensaneignung durch Praxis und volkssprachliche Kommunikation über Fachwissen sollten durch biblischen Beleg ihrer eigenen Dignität versichert werden.58 Adam statt Cicero, Deutsch statt Latein, Handwerk statt Universität: Die Cyclopaedia als „Oppositionswissen"? Gewiß aber ein Reflex auf die Krise des etablierten späthumanistischen Wissens- und Bildungssystems.59

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Die Gruppe, aus der die potentiellen Leser stammen (volkssprachlich, nicht-akademisch), wird vorgestellt von Michael Hackenberg, Books in Artisan Homes of Sixteenth-Century Germany, in: The Journal of Library History 21, 1986, S. 72-91; vgl, auch Wolfgang Adam, Privatbibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Fortschrittsbericht (1975-1988), in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15, 1990, S. 123-173, hier S. 152-155. Zum Adressatenkreis der Cyclopaedia vgl. auch Gilly, Andreae (wie Anm. 32), S. 23f.: „Die Cyclopaedia Paracelsica Christiana [wurde] zur populären Leitfibel des einfachen Mannes, der in die Ideenwelt des Paracelsus vordringen wollte." Zur Bildung der Kaufleute vgl. Johannes Fried, Kunst und Kommerz, München 1993. Für ein nächtliches Telefongespräch danke ich Joachim Teile (Heidelberg). Hinweise von Kurt Andermann (Karlsruhe), Peter C. Erb (Schwenkfelder Library), Carlos Gilly (Basel) und Paul Warmbrunn (Speyer) habe ich dankbar aufgenommen.

ULRICH G. LEINSLE

Wissenschaftstheorie oder Metaphysik als Grundlage der Enzyklopädie?

„Encyclopaedia est methodica comprehensio, rerum omnium, in häc vitä homini discendarum."1 In dieser bekannten und einflußreichen Definition Alsteds in der Encyclopaedia von 16302 liegt die systematische Problematik der Einzelwissenschaften im Rahmen der Gesamtenzyklopädie versteckt. Philosophischer Gesamtrahmen einerseits und Eigenständigkeit der Einzelwissenschaften andererseits kennzeichnen das Selbstverständnis der Wissenschaften im Rahmen der Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Auch dort, wo sich die Natur- und Geisteswissenschaften von Philosophie und speziell von der Metaphysik emanzipiert haben, werden metaphysische Voraussetzungen gemacht. Andererseits enthalten die meisten philosophisch akzentuierten Enzyklopädien der Frühen Neuzeit eine „Metaphysica" als Teildisziplin. Wenn dies so ist, kann die Metaphysik eigentlich nicht mehr als vorgeordnete Grundlegung der gesamten Enzyklopädie gelten. Die Enzyklopädien und enzyklopädischen Entwürfe des 17. Jahrhunderts haben sich zudem mit einer neuen Gestalt und Funktion von Metaphysik auseinanderzusetzen. Die bislang zumeist topische Gliederung der Enzyklopädie tritt nun in Konkurrenz zum wissenschaftstheoretischen Anspruch dieser Metaphysik, Lehre von allen Dingen, allem Intelligiblen bzw. allem Wißbaren zu sein. Die neue Metaphysik tritt zudem z.T. auf als reine Ontologie unter Ausgliederung der metaphysischen Theologie.3 Deshalb ist auch zu unterscheiden zwischen metaphysisch-theologischen Grundlagen der Enzyklopädie, wie sie in der Tradition der „philosophia perennis" der frühen Neuzeit gegeben sind und vor allem in der Pansophie ausgestaltet werden, und ontologischen Begründungen im Sinne einer ontologischen Prinzipien- und Kategorienlehre. 1

Alsted, Encyclopaedia, 1. l, c. l, prcecepta, Bd. I, S. 49. Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 132f. 3 Elisabeth M. Rompe, Die Trennung von Ontologie und Metaphysik. Der Ablöseprozeß und seine Motivierung bei Benedictus Pererius und anderen Denkern des 16. und 17. Jahrhunderts, Diss. phil. Bonn 1968; Ernst Vollrath, Die Gliederung der Metaphysik in eine Metaphysica generalis und eine Metaphysica specialis, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 16, 1962, S. 258-284.

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Das Spannungsverhältnis zwischen Enzyklopädie und der zur Ontologie gewordenen Metaphysik als Teildisziplin der Enzyklopädie tritt vor allem auf in den philosophischen Enzyklopädien des 17. Jahrhunderts. Herangezogen werden weiters Autoren, deren Philosophieverständnis insofern enzyklopädisch ist, als sie die Philosophie als eine Enzyklopädie verschiedener Disziplinen bestimmen. Hier stellt sich jeweils die Grundfrage: Was ist die Grundlage der Enzyklopädie: die Metaphysik (als Ontologie) oder eine wissenschaftstheoretische Disziplin oder nur ein topisches Ordnungsmuster? Diese Thematik soll an folgenden Fragen aufgezeigt werden: 1. Gibt es eine grundlegende Disziplin, welche die Einteilung und Anordnung der Disziplinen der Enzyklopädie bestimmt? Kann dies nach ihrem aristotelischen Anspruch die Metaphysik sein? Oder handelt es sich um eine wissenschaftstheoretische Disziplin, ggf. mit metaphysischen Voraussetzungen? 2. Welche Stelle beansprucht die Metaphysik in der Enzyklopädie und welche hat sie tatsächlich inne? Wie wirkt sich diese Stellung auf die Konzeption der Metaphysik selbst aus? 3. Wird die Grundlegung der Enzyklopädie in erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Disziplinen geleistet, so stellt sich die Frage nach der Stellung einer Ontologie, die sich als Lehre von der Erkenntnis aller Dinge versteht. Gibt es für sie noch eine Funktion im Gesamt der Enzyklopädie?

1. Metaphysisch bestimmte Wissenschaftsklassifikation: Clemens Timpler (1563/4-1626) Der erste, ebenso umstrittene wie einflußreiche Vertreter der neu konzipierten Metaphysik im Rahmen eines enzyklopädischen Philosophieverständnisses ist Clemens Timpler, Professor am Gymnasium in Burgsteinfurt.4 Er veröffentlicht 1604 ein Metaphysicae Systema methodicum, dem er 1606 eine Technologia voranstellt.5 Damit verändert sich nicht nur äußerlich die Stellung der Metaphysik als jener Kunst, die den Gesamtbereich des Intelligiblen zum Gegenstand hat.6 Das Gesamt der „artes" aber ist die , 4

5 6

Vgl. Joseph S. Freedman, European Academic Philosophy in the Late Sixteenth and Early Seventeenth Centuries. The Life, Significance and Philosophy of Clemens Timpler (1563/4-1624), 2 Bde., Hildesheim/Zürich/New York 1988 (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, Bd. 27); Ulrich G. Leinsle, Das Ding und die Methode. Methodische Konstitution und Gegenstand der frühen protestantischen Metaphysik, Augsburg 1985 (Reihe wissenschaftlicher Texte, Bd. 36), S. 352-369. Timpler, Metaphysica; vgl. Leinsle, ebda., S. 353; Freedman, ebda., S. 745-748. Timpler, Metaphysica, 1606, 1. I, c. l, S. 39.

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der „circulus et orbis doctrinae", den jeder durchlaufen muß, der sich den Ruhm umfassender Bildung (eruditio) erwerben will.7 Diese Enzyklopädie schließt im Rahmen der „artes principales" (Theologie und Philosophie) eine Metaphysik ein, deren wissenschaftstheoretische Stellung als Allgemeine Theoretische Erste Philosophie umschrieben wird. Philosophie selbst ist definiert als „ars ex naturali artis lumine bene contemplandi & agendi". Sie wird eingeteilt in Erste und aus dieser Hervorgegangene; die Erste wieder in theoretische und praktische; die theoretische in allgemeine und spezielle. Die allgemeine oder Metaphysik betrachtet alles Seiende und Nichtseiende „certo modo".8 Von einem wissenschaftsbegründenden Anspruch der Metaphysik kann hier nur in einem sehr eingeschränkten Sinne die Rede sein. In der Unterordnung des Speziellen unter das Allgemeine erstreckt er sich auf die Disziplinen der Speziellen Ersten Philosophie: Physik und Mathematik, während Ethik, Ökonomik und Politik die Praktische Erste Philosophie bilden. Nur im Rahmen der gesamten Ersten Philosophie kann von einer Begründung der daraus entstandenen Disziplinen Medizin, Jurisprudenz, Physiognomica und Optik gesprochen werden.9 Ihrer enzyklopädischen Stellung nach ist hier die Metaphysik also keine wissenschaftsbegründende Disziplin. Zudem fehlt in diesem enzyklopädischen Aufriß eben jene Disziplin, die diesen Aufriß ermöglicht und beinhaltet, die „Technologia, sev tractatus generalis, De natura & differentiis artium liberalium".10 Diese Wissenschaftstheorie hat nicht nur deskriptiven, sondern normativen Charakter. Sie handelt von der Definition, den Ursachen, Gesetzen und Unterscheidungen der äußeren und inneren artes, gibt also in einer Verbindung ramistischer und aristotelischer, von Zabarella übernommener Elemente eine allgemeine Wissenschaftslehre. Im Rückgriff auf die Kunstdefinition Lukians bestimmt Timpier Kunst (ars) als „Systema methodicum certorum praeceptorum de re aliqua scibili vtiliq; traditorum ad erudiendum & perficendum hominem."11 Als methodisch geordnetes Gesamt von Aussagen ist die einzelne Kunst wesentlich bestimmt durch ihre Ursachen: Materialursache sind die Lehrsätze; Formalursache ist die methodische Anordnung. Durch die Form aber ist die Sache als solche bestimmt; was also die Kunst als solche bestimmt und unterscheidet, ist die Methode.12 Von dieser Grundbestimmung aus sollte man eine methodisch-topische Konzeption der Gesamtenzyklopädie erwarten. Timpier hat auch bei der 7 8 9 10 11 12

Timpier, Technologia, c. 3, theor. 46, Metaphysica, 1606, S. 22. Ebda., theor. 1-10,8.21. Ebda., theor. 11-31, S. 21f. Ebda., S. 1. Ebda., c. l, probl. 2, S. 4; vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 82f. Ebda,, c. l, probl. 7, S. 10.

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Einführung der Technologia seine Metaphysik nicht umgestaltet. Sie bleibt auch jetzt dem Titel nach „ceu domina & regina" aller philosophischen Disziplinen.13 Ihre wissenschaftstheoretische Stellung ergibt sich aus der Notwendigkeit der Behandlung der Prinzipien und Attribute alles Seienden. Erst an zweiter Stelle steht die Beschäftigung mit den immateriellen Substanzen.14 Den Nutzen der Metaphysik sieht Timpier gerade darin, daß sie den übrigen Wissenschaften ihre Gegenstände zuteilt, ihre Prinzipien darlegt und billigt. Zudem hat sie die Analyse der in den Einzelwissenschaften behandelten Gegenstände bis zu den obersten Gattungen zu leisten. Dadurch soll das analytische Wissensstreben des Menschen in einer letzten Weise gesättigt werden. Zugleich verfolgt die Metaphysik einen didaktisch-pädagogischen Zweck: Die Studenten sollen durch diese allgemeinsten Kenntnisse befähigt werden, die anderen Disziplinen leichter zu erlernen.15 All dies wird getreu nach Suärez vorgetragen, auf den mehrmals verwiesen wird.16 Mit der Technologia sind diese Lehren nicht harmonisiert worden. Die aus diesen Begründungen gezogene Folgerung ist denn auch eine primär praktische: Man soll mit aller Sorgfalt die Metaphysik als „nobilissima disciplina" lernen.17 Im Anspruch, als „ars generalis" den übrigen Disziplinen ihre Prinzipien zu leihen, sieht aber Timpier ein Subalternationsverhältnis der Wissenschaften unter die Metaphysik als „generalissima & suprema,... princeps & domina" begründet.18 Doch behalten die einzelnen Disziplinen ihren Betrachtungsmodus, sind also methodisch und formal selbständig. Aufgrund ihrer wissenschaftsbegründenden Stellung ist die Metaphysik deshalb die „ars catholica & generalis" und somit im „ordo accurate; & perfects doctrina;" an erster Stelle zu lehren.19 Sie ist auch im Studiengang Grundwissenschaft, während die Technologia als nachträgliche Reflexion über die Anordnung der Disziplinen erscheint, die selbst nicht von wissenschaftskonstitutiver Bedeutung ist. Die Technologia folgt in ihrer Wissenschaftsklassifikation metaphysischen Prinzipien; sie müßte deshalb auch dieser Subalternation Rechnung tragen. Dem ist jedoch, wie die Auffächerung der Ersten Philosophie zeigt, nicht ganz so: Metaphysik und Erste Philosophie treten hier in einer nicht-aristotelischen Weise auseinander; denn auch Physik und Mathematik

13 14 15 16 17 18 19

Timpier, Metaphysica, 1606, Widmung (von 1604), S. )(3r. Ebda., 1. I, c. l, q. l, S. 39f. Ebda., q. 8, S. 52. Vgl. Franciscus Suärez, Disputationes Metaphysicae, Nachdr. d. Ausg. Paris 1860, Hildesheim 1965, 1,4,5, Bd. I, S. 27. Timpier, Metaphysica, 1606, 1. I, c. l, q. 8, S. 52. Ebda., q. 11,8.55. Timpler, Technologia, c. 3, probl. 5, S. 29: „deniq; omnes artes speciales erunt subalternatae Metaphysicae, tanquam arti catholics & generali".

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gehören zu ihr, allerdings als ihr spezieller Teil. Hinzu tritt eine praktische „Philosophia prima", über deren Zuordnung zur Metaphysik nichts gesagt wird. Die genaue Ausgestaltung des Subalternationsverhältnisses ist also Timpier ebensowenig gelungen wie der Ausgleich zwischen methodischer Selbständigkeit der Einzeldisziplin und metaphysischem Herrschaftsanspruch. Für die Technologie, selbst bleibt noch jede wissenschaftstheoretische Begründung aus; sie selbst trägt aber der in der Metaphysik dargelegten Ordnung der Wissenschaften nur teilweise Rechnung.

2. Metaphysische Prinzipienlehre der Enzyklopädie: Johann Heinrich Alsted (1588-1638) Im Unterschied zu Timpier kommt der Herborner Enzyklopädist Johann Heinrich Alsted vom Lullismus (1609) zur Enzyklopädie (1610), von dieser zur Metaphysik (1611) und schließlich zur Theologie (1618).20 Der Bedeutung der wechselnden Konzeptionen der Enzyklopädie bei Alsted für die Stellung und den Anspruch der Metaphysik ist deshalb nachzugehen. Noch relativ unbekümmert und topisch wird im Systema mnemonicum minus von 1610 die Metaphysik in den Rahmen der 23 Disziplinen der Enzyklopädie eingeordnet. Mit der „Theologia arcana, seu supernaturalis" bildet sie den Kreis der „sapientiae" neben 8 „artes", 9 „scientiae" und 4 „prudentias". Den Primat unter allen Disziplinen hat streng lullistisch aber die Mnemonica als „psychologische Fundamentalkunst".21 Im Systema mnemonicum maius wird der Metaphysik ausdrücklich die Archelogia als Prinzipienlehre vorgeordnet.22 Seit dieser Zeit ist die Metaphysik in allen Ausführungen der Enzyklopädie bei Alsted vertreten, doch werden ihr verschiedene erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Disziplinen vorangestellt: 1612 in der Philosophia digne restituta sind dies Archelogia und Technologia, Hexilogia und Canonica. Dieses fundamentale Geviert entspricht Alsteds Bestimmung der Philosophie einerseits als Enzyklopädie und andererseits als „divinarum humanarumque rerum scientia". Ihrer absoluten, wissenschaftstheoretischen Betrachtung entsprechen Archelogia und Technologia als Grundlegung, ihrer Betrachtung vom menschlichen Subjekt her Hexilogia als Lehre

20

21 22

Vgl. Leinsle, Ding und Methode (wie Anm. 4), S. 363-395; Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 100-139; Walter Michel, Der Herborner Philosoph Johann Heinrich Alsted und die Tradition, Diss. Frankfurt/M. 1969. Alsted, Systema mnemonicum, Systema mnemonicum minus 1,1, S. 12; vgl. SchmidtBiggemann, Topica Universalis, S. 113-119. Alsted, Systema mnemonicum, Systema mnemonicum maius IV,3, Bd. II, S. 188.

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von den Habitus und Canonica als Methodik des Studiums und seiner Institutionen.23 Die Einteilung der Disziplinen ist wie bei Timpier Geschäft der Technologia; die allgemeinen Prinzipien der Enzyklopädie aber gehören nicht mehr in die Metaphysik, sondern in die Archelogia. Dennoch bleibt der Metaphysik, nunmehr als einziger „sapientia", im Rahmen der theoretischen Wissenschaften der erste Platz. Daran ändert sich, äußerlich betrachtet, auch in der philosophischen Enzyklopädie von 1620 wenig. Die Metaphysik wird als einzige „Discipline philosophica theoretica generalis" den speziellen Disziplinen vorangestellt. Ihr vorgeordnet bleiben die vier Disziplinen der „Praecognita": Archelogia, Hexilogia, Technologia und, nunmehr sachlich richtiger umbenannt, Didactica. Weggefallen ist allerdings bereits im Aufriß die Bezeichnung der Metaphysik als „sapientia".24 Damit fallen aber aus theologischen Gründen, wie W. Schmidt-Biggemann gezeigt hat, zugleich alle metaphysisch-theologischen Implikationen des ursprünglichen Lullismus Alsteds.25 Das Grundschema der ersten Disziplinen wird auch im Triumphus Bibliorum Sacrorum von 1625 übernommen, in dem die jeweilige Disziplin, mit dem Beiwort ,sacra' versehen, entsprechend dem reformierten Schriftprinzip aus der Bibel begründet wird.26 Verändert hat sich dagegen die Stellung der Metaphysik abermals in der Enzyklopädie von 1630, in der sich Alsted wieder als gemäßigter Lullist zeigt. Innerhalb der „Praecognita" ist nicht mehr die Archelogia, sondern die Hexilogia die erste Disziplin. An die Stelle ursprünglich metaphysischer Prinzipienlehre tritt eine theologisch begründete und limitierte Erkenntnispsychologie als Grunddisziplin der Enzyklopädie und dokumentiert somit auch deren didaktischen Bezug zum Menschen. Die Archelogia ist auch nicht mehr lullistische Prinzipienlehre, sondern umfaßt dem Programm nach die Erkenntnis- und Seinsprinzipien der einzelnen Disziplinen, nicht der Dinge.27 Die spezielle Archelogia bringt dann allerdings die Prinzipien der einzelnen Disziplinen, auch die der Metaphysik. Andererseits erheben deren Prinzipien den Anspruch, in allen niedrigeren Disziplinen zu gelten.28 Methodische Grundlage dieser erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Disziplinen ist die Bestimmung der Philosophie als „systema multorum

23 24 23 26 27 2ii

Johann Heinrich Alsted, Philosophia digne restituta, Herborn 1612; vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 121-124. Alsted, Cursus Philosophic! Encyclopaedia, Elenchus. - Metaphysik als 1. V, S. 149-295. Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 125-131. Alsted, Triumphus, IV,7, S. lOf. Alsted, Encyclopaedia, I. Ill, c. 1, reg. l, Bd. I, S. 73. Ebda., 1. III, c. 7, reg. 8, Bd. I, S. 79: vgl. Alsted, Metaphysicae Methodus exquisitissima, Herborn 1611, Prcecognita, S. 9f.

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systematum".29 Die methodische Darstellung eines jeden Systems erfolgt in dem von Bartholomäus Keckermann (1572-1609) übernommenen Schema von „Lexicon, Praecognita, Systemata, Gymnasia". Das „Systema" selbst ist in Lehrsätzen, Regeln und Kommentaren aufzubauen.30 Die vier erkenntnisbzw. wissenschaftstheoretischen Disziplinen sind als „Praecognita" allen durch sie begründeten Disziplinen, also der gesamten restlichen Enzyklopädie und in deren Rahmen auch der Metaphysik vorauszuschicken. Sie liefern deren theoretische und didaktische Grundlage. In diesem System der Enzyklopädie scheint sich nun die Metaphysik selbst in eine subalterne Disziplin verwandelt zu haben, vor allem nach dem Wegfall des lullistischen Optimismus, in ihr etwas von der göttlichen Weisheit zu erreichen. Tatsächlich gestaltet Alsted die Grundform seiner Metaphysik, wie er sie in der Metaphysica Methodus von 1611 erstmals präsentierte, für die Enzyklopädie nach dem allgemeinen Schema von „Praecepta" und „Regulae" um, beläßt es aber inhaltlich bei wenigen Änderungen.31 Ausdrücklich wird auch hier noch festgehalten, daß die Metaphysik virtuell die gesamte Philosophie ist und sich so weit „in tractatione entis" erstreckt, bis die Bestimmung des adäquaten Gegenstandes der niedrigeren Disziplinen erreicht ist.32 Die Metaphysik erscheint als Habitus der ersten Prinzipien und der daraus abgeleiteten Konklusionen, als „sapientia".33 Zugleich behauptet sie noch einen Herrschaftsanspruch als „scientia absolutissima, omniumque excellentissima".34 Da sie in ihren Prinzipien die gesamte Philosophie virtuell in sich enthält, kann sie gewissermaßen im Sinne einer absoluten Herrscherin sagen: Die Philosophie, das bin ich.35 Dieser Anspruch wird ihr allerdings faktisch von der Archelogia als Prinzipienlehre streitig gemacht. Im Systema mnemonicum nennt Alsted die Arche29

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Alsted, Encyclopaedia, 1. II, c. 4, reg. 10, Bd. I, S. 67; vgl. Otto Ritschi, System und systematische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophischen Methodologie. Programm zur Feier des Gedächtnisses des Stifters der Universität, König Friedrich Wilhelm III., Bonn 1906, S. 37-40. Vgl. Leinsle, Ding und Methode (wie Anm. 4), S. 271-280; August Nebe, Vives, Alsted, Comenius in ihrem Verhältnis zu einander. Beiträge zum Programm des Gymnasiums Elbersfeld, Ostern 1891, Elbersfeld 1891, S. 12. So wird der ursprüngliche 3. Teil De non ente zum 1. Kapitel des 1. Teils gezogen: vgl. Alsted, Metaphysics Methodus (wie Anm. 28), S. 269-274; Alsted, Cursus Philosophie! Encyclopaedia, 1. V, c. l, reg. 9-12, S. 154; Alsted, Encyclopaedia, 1. XI, p. l, c. l, reg. 10-17, Bd. I, S. 575. Alsted, Encyclopedia, I. Ill, c. 9, reg. 3, n. 2, Bd. I, S. 82: „Metaphysica est virtualiter tota philosophia." - Vgl. ebda., n. 10: „Metaphysica eö usque progreditur in tractatione entis, donec inferiores disciplinae habeant sua subiecta adaequata." Ebda., 1. I, c. 4, Prcecepta, Bd. I, S. 55; vgl. Alsted, Metaphysicae Methodus (wie Anm. 28), Prcecognita, S. 13-15. Alsted, Encyclopaedia, 1. I, c. 4, reg. l, Bd. I, S. 55. Ebda., 1. III, c. 9, reg. 3, Bd. I, S. 82.

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logia schlicht die „doctrina de principibus".36 In der Enzyklopädie von 1630 bekommt sie ihre letzte Ausgestaltung, ist nun aber nicht mehr wie 1620 die erste Disziplin der Gesamtenzyklopädie. Die allgemeine Archelogia handelt von den allen Disziplinen gemeinsamen Erkenntnisprinzipien: Hl. Schrift, „recta ratio" und „experientia". Sie bringt außerdem 14 verschiedene Einteilungsmöglichkeiten der Prinzipien. Die spezielle Archelogia dagegen führt die Prinzipien der einzelnen Disziplinen auf, auch die der Metaphysik. Die hier angeführten Prinzipien sollen nach Alsted regulativen Charakter haben und als „praecognita" fungieren: Sie sind also bereits vor der Durchführung der einzelnen Disziplin zu wissen. Inhaltlich sind es aber teils wissenschaftstheoretische Regeln, teils ontologische Lehrsätze, z.B.: 3. Ens est terminus generalissimus. 4. Omne ens est unum, verum, bonum. Et ideö omne ens appetit id, quod est melius, ac proinde unum & verum. 5. Modi & relationes non componunt sed distinguunt. ... 8. Substantia & accidens exhauriunt totam universitatem rerum, si excipias transcendentia. 9. Inter ens & non-ens est infinita distantia.37 Folgt man also der Archelogia, dann sind wesentliche Lehrsätze der Metaphysik als Axiome bereits vor deren methodischer Behandlung bekannt. Die Metaphysik selbst besteht dann in der Kommentierung der Grundsätze und der Ableitung weiterer Lehrsätze. Die allgemeinsten Prinzipien sind ihrer Bedeutung, nicht ihrem Wortlaut nach angeboren, z.B.: „Esse melius est quäm non esse; Deus colendus est."38 Auch das Prinzip „Deus est" ist angeboren; es wird sprachlich gebildet aus dem ersten Nomen (Deus) und dem ersten Verbum (sum). Vom Sein Gottes aus soll die Metaphysik erst durch Analogie zum gemeinsamen Sein der Dinge herabsteigen. Das Widerspruchsprinzip wird folgerichtig in der Archelogia aus dem Prinzip „Deus est" abzuleiten versucht.39 In der Metaphysik dagegen wird diese Forderung nicht berücksichtigt. Durch die Einbeziehung inhaltlicher Lehrsätze und Alsteds weiten Prinzipienbegriff, der auch Definitionen, Postulate und Hypothesen umfaßt, wird die Archelogia selbst zu einer metaphysisch bestimmten Lehrsatzsammlung.40 Der Metaphysik bewahrt Alsted 1630 noch das „Imperium theoreticum" über die Wissenschaften, während das „Imperium poeticum" der Logik, das „Imperium practicum" der Theologie und Politik zukommt.41 Im Systema

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Alsted, Systema mnemonicum, Systema mnemonicum maius IV,6, Bd. II, S. 194. Alsted, Encyclopaedia, I. Ill, c. 9, reg. 3, Bd. I, S. 82. Ebda., 1. III, c. 7, reg. 6, Bd. I, S. 79; vgl. Alsted, Triumphus, 11,9, S. 6. Alsted, Encyclopedia, 1. HI, c. 7, reg. 11, Bd. I, S. 80. Ebda., 1. III, c. 7, reg. 2, Bd. I, S. 78. Ebda., 1. II, c. 3, reg. 4, Bd. I, S. 65.

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mnemonicum hatte Alsted 1610 die Metaphysik noch als Königin geschildert, die ihre Fürsten, Statthalter und leitenden Beamten empfängt und ihnen ihre Aufgaben zuweist. Zunächst verleiht sie ihnen die gemeinsamen Vorrechte; dann weist sie jedem einzelnen seine Provinz, d.h. jeder einzelnen Disziplin ihren Gegenstand, zu.42 Auch 1630 hält Alsted noch an einer generellen Subalternation der übrigen Disziplinen unter die Metaphysik fest, weil ihre Gegenstände und Prinzipien von dieser abhängen. Doch ist diese Subalternation nur in einem so entfernten Sinne gegeben, daß sie von den Philosophen meist nicht beachtet wird.43 Durch dieses vage Subalternationsverhältnis, das nicht weiter ausgestaltet wird, sind die enzyklopädischen Disziplinen als relativ selbständige Einheiten nicht mehr in der Metaphysik als Teil der Enzyklopädie begründet, sondern samt dieser in einer metaphysischen Prinzipienlehre und einer theologisch fundierten Erkenntnispsychologie.

3. Einlösung des Herrschaftsanspruchs? Abraham Calov (1612-1686) Den Herrschaftsanspruch der Metaphysik über die Disziplinen der Enzyklopädie, den Alsted nur behauptet, programmatisch durchgestaltet zu haben, ist das Verdienst des mehr als Vertreter der Lutherischen Hochorthodoxie denn als Enzyklopädist bekannten Abraham Calov.44 Er kommt von der Enzyklopädie zur Metaphysik und Theologie. Deshalb sollten die Ungereimtheiten, die bei Alsted durch die Einfügung einer Metaphysik in die Enzyklopädie entstanden, hier nicht zu erwarten sein. Calovs Tractatus novus de methodo von 1632 versteht sich ausdrücklich als methodische Grundlegung einer Gesamtenzyklopädie, die Theologie, Medizin, Gnostologie, „Habitus intelligentiae", Metaphysik, Pneumatik, Physik, mathematische Wissenschaften und praktische Philosophie umfaßt.45 Daneben haben wir von ihm eine Encyclopaedias Mathematicce.46 1632/33 veröffentlicht er die Gnostologia und ab 1634 liest Calov in Rostock Metaphysik.47

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Alsted, Systema mnemonicum, Systema mnemonicum maius IV,8, Bd. II, S. 202. Alsted, Encyclopaedia, I. Ill, c. 1, reg. 10, Bd. I, S. 63. Vgl. Leinsle, Ding und Methode (wie Anm. 4), S. 411-433. Abraham Calov, Tractatus novus de methodo docendi et disputandi, In qvo de totius Encyclopaedias in communi, tüm in speciei, de Theologiae, Medicinae, Gnostologia;, Habitu intelligentiae, MetaPhysicae Pneumaticae, Physicae ... agitur, secundum certa principia sub initium adserta, 1632, in: ders., Scripta, S. 1036. Calov, Encyclopaedias Mathematics, ebda., S. 899-1035. Calov, Gnostologia, ebda., S. 1-37; Calov, Metaphysica divina, ebda., S. 87-899; vgl. Leinsle, Ding und Methode (wie Anm. 4), S. 412f.

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In seinem Frühwerk sieht Calov die Methodologie als Fundament aller Wissenschaften; denn die Methode ist etwas Göttliches: Ein Rest theologischer Legitimitation der Grundlagen der Gesamtenzyklopädie hat sich erhalten. In sich betrachtet, ist die Methodologie allerdings nur ein instrumenteller Habitus und der dritte Teil der Logik; als solcher aber zugleich deren Zusammenfassung und Krönung.48 Sie gehört jedoch nicht zu den „discipline architectonicae" und kann deshalb den anderen Disziplinen keine konstitutiven Gesetze vorschreiben. Dies kann nur die Metaphysik und die im Anschluß an Georg Gutkes Intelügentia eingeführte Noologie.49 Die Methodologie ist durchgängig als Instrumentaldisziplin konzipiert, die der Metaphysik als Königin die Aufgabe läßt, „disciplines saltim inferiores in ordinem cogere".50 Die Methodologie bleibt die „famula disciplinarum"; sie hat nur aufzupassen, daß keine Konfusion entsteht, hat also gewissermaßen Polizeifunktion. Aufgabe der Methodologie insgesamt ist die Sicherung der „rerum ordinata perceptio".51 Konstituiert ist eine Disziplin aber durch das Objekt und die Prinzipien, die bei Calov nun zu Erkenntnisprinzipien der einzelnen Disziplin werden.52 So dürfen etwa die Prinzipien der Uranologia als naturwissenschaftlicher Disziplin nicht mit denen der mathematischen Uranoscopia vermischt werden; als Vermischung beider lehnt Calov folgerichtig die physikalische Geltung des kopernikanischen Weltbildes ab.53 Allerdings ist es grundsätzlich möglich, auf allgemeinere, disziplinüberschreitende Prinzipien zu rekurrieren.54 Die Lehre von den Erkenntnisprinzipien wird von Calov im Anschluß an Georg Gutke und Valentin Fromme in der Noologia der Metaphysik vorangestellt und dieser wieder eine Gnostologia als „habitus mentis principaiis, contemplans cognoscibile, qua tale" vorgeordnet.55 Beide sind nicht Instrumental-, sondern Realdisziplinen mit regulativem Anspruch: Die Gnostologia ist Objekttheorie der simplex apprehensio, der grundlegenden Form von Erkenntnis, und deshalb auch noch den „praecognita philosophica" vorauszuschicken.56 Die Noologie, die an die Stelle von Alsteds Archelogia tritt, ist 48 49 50 51 52 53 54 55 56

Calov, Tractatus, , S. 1036; vgl. ebda., praecog., s. l, m. l, S. 1044. Ebda., praecog., s. l, m. l, S. 1040. Ebda. Ebda., prascog. s. 2, m. l, a. l, S. 1049. Ebda., p. l, S. 1100: „Disciplinis modü praescribit objectü & juxta hoc cognoscendi principia." Ebda,, S. 1101; vgl. John Dillenberger, Protestant Thought and Natural Science. A historical interpretation, Garden City, N. Y. 1960, S. 94f. Calov, Tractatus, p. l, S. 1101. Calov, Gnostologia, Protheoria, S. 2; vgl. Wilhelm Risse, Die Logik der Neuzeit, Bd. I, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 511. Calov, Gnostologia, Protheoria, S. 3.

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dagegen die Lehre von den Prinzipien der einzelnen Disziplinen, gewonnen aus der Verwandtschaft der Dinge, also aus einem erkenntnismetaphysischen Ansatz.57 Sie stellt der Metaphysik alle Prinzipien zur Verfügung, und diese benutzt sie „in administratione muneris Regii". Praktisch kann damit die Noologie der Metaphysik vorschreiben, was die „Regina imperans" dann gnädig zu befehlen hat, „ut solent Consiliarii Regii."58 Beim strengen Lutheraner Calov sind jedoch die theologischen Implikationen der Archelogia Alsteds mitsamt der Lehre von angeborenen Prinzipien eliminiert.59 Das königliche Geschäft der unter die Kuratel von Gnostologie und Noologie gestellten „Metaphysica divina" besteht dann vor allem in der nun bei Calov programmatisch durchgeführten Ableitung der Objekte der einzelnen Wissenschaften. Die angebliche Göttlichkeit der zur Ontologie gewordenen Metaphysik garantiert nicht die Behandlung Gottes in ihr - diese wird der separaten Pneumatik zugewiesen -, sondern ihre Herleitung aus Natur und hl. Schrift und damit ihre Stellung auch über der Theologie.60 Um der wissenschaftsbegründenden Aufgabe der Metaphysik Rechnung zu tragen, fügt Calov im Rahmen der speziellen Metaphysik zur Kategorienlehre einen eigenen Traktat hinzu: die Horistike („ Objectorum 61 Disciplinarum determinatio"). Sie soll die Technologia Timpiers und Alsteds in umfassender Weise ersetzen.62 Ermöglicht wird dies dadurch, daß alle Diziplinen von Seiendem handeln. Die Horistike hat also aus den Kategorien durch zusätzliche Bestimmungen so weit fortzuschreiten, bis das Objekt einer jeden Disziplin adäquat bestimmt ist. Das Vorgehen hat eine ontologische Konstitution der Gegenstände zum Ziel. Entsprechend der von Calov selbst als synkritisch bezeichneten Methode sind gemeinsame Merkmale herauszuarbeiten, indem die Dinge im Katalog der Kategorien aufgesucht und miteinander verglichen werden.63 So wird etwa unter den „objecta substantialia" der Geist aufgesucht, seine Existenz nachgewiesen, die ihm eigene Erkenntnisweise bestimmt und er schließlich als Objekt der Pneumatik festgesetzt. Diese ist dadurch als von der Metaphysik verschiedene Wissenschaft 57

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Calov, Noologia, c. 1; vgl. Max Wundt, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1939 (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 29), S. 259. Calov, Noologia, c. l, S. 43. Vgl. ebda., c. 2, S. 45f. 48f. Calov, Metaphysica, Prcefatio, S. 94; vgl. ebda., s. l, prooem., S. 124. Ebda., tr. post., S. 827-899. Ebda., tr. post., a. l, c. l, S. 841. Ebda., tr. post., a. 2, S. 841f: „Huius causa primö rerum classes lustrandae, ... postmodum ad qvae capita revocari qveant omnia doceatur, atq; ita demum Objecta constituantur, quo tandem eadem disciplinis suis adjudicentur, quo & fines disciplinarum constituantur, ipsaeq; prsecognoscantur, prout par est."

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konstituiert.64 Keinen Einfluß hat die Horistike naturgemäß auf die der Metaphysik vorgeordneten Disziplinen Gnostologie und Noologie, die Instrumentaldisziplinen und die Offenbarungstheologie.65 Die Horistike ist wesentlicher Bestandteil der Metaphysik: In ihr wird das Königtum, der Herrschaftsanspruch der Metaphysik realisiert: Andernfalls wäre es ein Königtum „sine re", und die Einzelwissenschaften wären ohne Haupt.66 Die Zuweisung der Gegenstände an die Wissenschaften aber kann nach Calov nur der Metaphysiker vornehmen, da er die ersten Prinzipien appliziert und das Ding als solches betrachtet.67 Auch die Verfassung der Einzelwissenschaften erfordert diese Disziplin für ihre ordnungsgemäße Konstitution, die Unterscheidung der Prinzipien und die Schlichtung von Kontroversen unter den Disziplinen.68 Die Metaphysik beansprucht ja die „directio axiomatica" in der Zuweisung der Prinzipien, die „directio noematica" in der Definition der allgemeinsten Termini und die „directio objectiva" in der Festlegung der Gegenstände der Disziplinen der Enzyklopädie.69 Doch Calov kann keine strenge Subalternation der Disziplinen unter die Metaphysik aufrechterhalten: Ihre Gegenstände werden nicht durch akzidentelle Zufügungen zu ,ens' konstituiert;70 dadurch ist auch der Einfluß der Metaphysik auf die Wissenschaften nicht mehr genau beschreibbar: „Occultä ratione" influiert und leitet die göttliche Metaphysik, ihre Untertanen.71 Der Leitungsfunktion der Metaphysik entspricht bei Calov noch ein reziprokes Bedürfnis der Untertanen, da sie weder ihre Objekte bestimmen noch ihre Prinzipien beweisen können.72 Tatsächlich haben aber in diesem monarchisch regierten Staatswesen längst die Räte die Oberhand gewonnen. Der absolute Monarch, der virtuell alle Untertanen verkörpert, darf und kann nur ausführen, was die Räte er-

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Ebda., tr. post., a. 2, c. 2, S. 842; vgl. ebda., tr. post., a. 2, c. 7, S. 872. Ebda., tr. post., a. l, c. l, S. 833. Ebda., S. 830: „(1) ob regiminis eminentiam, ne scientiarum Reginae titulum sine re habeat, ac Domina & Regina audiat sine muneris Regis administratione ... (2) Ob scientiarum indigentiam, ne fiant ac sine capite." Ebda., S. 831: „Determinari enim non possunt objecta, nisi ab eo, qvi Ens qvä Ens considerat, ac per classes rerum representatives exhibet. Id vero non praestat nisi Metaphysicus." Ebda., S. 830: „(1) Qvod id reqviratur ob accuratam disciplinarum constitutionem. ... (2) Ob principiorum pernecessariam discretionem; ... (3) Ob fundamentalem plurium controversiarum decisionem, qvas alibi nuspiam in sede propriä, nisi hie expediri qveunt." Ebda., S. 837. Ebda., tr. l, s. l, prooem., S. 120. Ebda., Prcecognita, S. 108. Ebda., PrcECognita, S. 102: „Accedit inferorum disciplinarum indigentia. Qvae omnes expetunt directricem & in statuminandä principiorum veritate, & objectorum determinandä varietate."

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kannt und vorgelegt haben.73 Der Herrschaftsanspruch der Metaphysik ist im Programm eingelöst; doch faktisch ist ihr beherrschender Einfluß wissenschaftstheoretisch nicht mehr zu erheben.

4. Neue wissenschaftstheoretische Aufgaben der Metaphysik im Rahmen der Pansophie Im Rahmen der Pansophie als eines utopischen enzyklopädischen Entwurfes, in dem nun alles Wißbare umfassend und allgemeingültig dargelegt werden soll,74 übernimmt die Metaphysik neue Grundlegungsfunktionen im Rahmen der Enzyklopädie. Die neuen Aufgaben führen allerdings zu einer gründlichen Umgestaltung und schließlich zu einer Infragestellung der Metaphysik. 4.1 Das enzyklopädische Alphabet: Johann Heinrich Bisterfeld (1605-1655) Der umfassende Anspruch der Pansophie kann menschenmöglich nur realisiert werden, wenn es gelingt, alles auf einfachste Prinzipien bzw. Bausteine zurückzuführen. Die Topik der Enzyklopädie verlangt deshalb hier nach einem einheitlichen Grundkonzept. Ein solches liefert der Schwiegersohn Alsteds, Johann Heinrich Bisterfeld, in seinem Philosophies pnmce Seminarium von 1652.75 Die Ausgestaltung der versprochenen Enzyklopädie Bisterfelds ist allerdings ausgeblieben.76 Schlüssel der enzyklopädischen Darstellung der Wissenschaften, die ganz auf die Praxis ausgerichtet ist, ist Bisterfelds Lehre von der „panharmonia rerum", insbesondere von der Parallelität des „orbis rerum" und des „orbis disciplinarum".77 Diese Übereinstimmung gründet im 73 74 75

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Vgl. Emil Weber, Die philosophische Scholastik des deutschen Protestantismus im Zeitalter der Orthodoxie, Leipzig 1907, S. 118-122. Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 139-154; Klaus Schaller, . Untersuchungen zur Comenius-Terminologie, 's Gravenhage 1958. Vgl. Ulrich G. Leinsle, Reformversuche protestantischer Metaphysik im Zeitalter des Rationalismus, Augsburg 1988 (Reihe wissenschaftlicher Texte, Bd. 42), S. 27-40; Johann Kvacsala, Johann Heinrich Bisterfeld, in: Ungarische Revue 9, 1889, S. 628-642: Joseph Trausch, Schriftstellerlexikon oder biographisch-literarische Denkmäler der Siebenbürger Deutschen, Bd. I, Kronstadt 1879, S. 152f. Vgl. Bisterfeld, Seminarium, Ad lectorem: „id uti in exiguo hoc compendeo haud obscure innuimus, ita alias fusius, si Deus nobis vitam & valetudinem concesserit, continuä per universam Encyclopcediam inductione demonstrabimus." Ebda., c. 5, reg. 12, n. 3, S. 80: „Ex panharmonia rerum, oritur ineffabilis earum immeatio, seu mutua unio & communio." - Vgl. Loemker, Leibniz, S. 328; Massimo Luigi Bianchi, Signature rerum. Segni, magia e cognoscenza da Paracelso a Leibniz, Roma 1987 (Lessico Intellettuale Europeo, Bd. 43), S. 144f; Massimo Mugnai, Der Begriff der Harmonie als metaphysische Grundlage der Logik und Kombinatorik bei Johann Heinrich Bisterfeld, in: Studia Leibnitiana l, 1973, S. 43-73.

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theologisch gedeuteten „ordo rerum" als Seele des Reiches der Natur, der Gnade und der Glorie, jeder menschlichen Gesellschaft, aber auch der Enzyklopädie, die Bild des Universums ist.78 Den Nachweis dieser Panharmonie zu liefern in der Parallelität von erkennendem Geist, erkannten Dingen und menschlicher Erkenntnis, ist nun Sache der Metaphysik.79 Dies tut sie, indem sie die verschiedenen Ebenen auf eine, das Viele auf möglichst wenige Prinzipien reduziert. Als solche erscheinen die angeborenen notiones communes, die zum Alphabet der Enzyklopädie werden.80 Weil diese angeborenen Begriffe in allen Lebensbereichen gelten, ist die Metaphysik die Basis der gesamten Enzyklopädie, auch der praktischen Lebensgestaltung. Sie ist implizit bereits die gesamte Enzyklopädie.81 Die Erste Philosophie ist also wie bei Francis Bacon Lehre von den disziplinüberschreitend geltenden Prinzipien und transzendentalen Begriffen, definiert als Lehre von der Erkenntnis der Dinge, und als solche „mater, nutrix et magistra" der übrigen Disziplinen.82 Ihre Aufgabe wird es, die Konstitution der Dinge aus ihren metaphysischen Realprinzipien aufzuzeigen: der Essenz, die die Intelligibilität der Dinge garantiert,83 und der Konsistenz (als Ko-Existenz), die das Ordnungsgefüge ebenso des Universums wie seines Abbildes, der Enzyklopädie, begründet.84 Denn die Enzyklopädie ist die Darstellung der Wissenschaften bzw. der Dinge in ihrem Verhältnis zueinander. Die wissenschaftstheoretische Bedeutung der Ontotogie für die Enzyklopädie aber basiert auf einer metaphysisch angenommenen Parallelität von Sein und Erkennen, Enzyklopädie und Welt, die es gestattet, aus angeborenen Begriffen allein die Genealogie und Anatomie aller Dinge darzulegen.85

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Bisterfeld, Seminarium, c. 5, reg. 12, n. 4, S. 80: „Utque panharmonia rerum, est omnis humanae praxeos, putä contemplationis, actionis, & effectionis, seu veritatis, honestatis, & utilitatis, mensura & basis; ita immeatio, est omnis geneseos janua, omnisque analyseos per universam Encyclopsdiam clavis." - Vgl. ebda., c. 8, reg. 6, S. 130: „Ordo est anima mundi." 79 Ebda., c. l, reg. l, S. If. 80 Ebda., c. l, reg. 4, S. 4f: „Philosophia prima explicat notiones communissimas. ... Primae sunt nobis insitae & innatae"; vgl. ebda., c. l, reg. l, S. 2. 81 Ebda., c. l, reg. 4, S. 5f.; vgl. Rossi, Le origini, S. 208f. 82 Bisterfeld, Seminarium, c. l, reg. 6, S. 8f. 83 Ebda., c. 2, S. 14: „Principia entis, sunt Entitates, ex quibus ens est, seu constat. Suntque Essentia & Consistentia. Essentia est, Entitas, per quam ens simpliciter & per, se esse, concipitur." 84 Ebda., c. 3, S. 31: „Consistentia, per quam ens est ad Ens; per quam ens cum aliquo & respective esse concipitur." 85 Vgl. Leinsle, Reformversuche (wie Anm. 75), S. 29-34.

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4.2 Theorie der möglichen Welt: Johann Amos Comenius (1592-1670) Die Neubestimmung der Aufgabe der Metaphysik durch ihre Einordnung in einen neuen Gesamtkontext wird am deutlichsten in den verschiedenen pansophischen Entwürfen Comenius'.86 Auch Comenius kommt von einer ca. 1630 erstmals in Leszno entworfenen Ersten Philosophie zur Pansophie.87 In deren Rahmen wird uns die Metaphysik erstmals in der Fassung der Janua rerum von 1643 (allerdings nur in drei erhaltenen Kapiteln) greifbar.88 Erst posthum gedruckt wurde 1681 jene Fassung der Janua rerum, die nun Teil des pansophischen Gesamtwerkes sein sollte.89 Sie wurde dann nach Comenius' Plan von Christian Vladislav Nigrin verkürzt in die Consultatio Catholica eingefügt.90 Während Alsted die Metaphysik im wesentlichen nur in die Enzyklopädie einfügt, ist bei Comenius zugleich eine Neukonzeption der Aufgabe dieser Disziplin gegeben. Denn die Pansophie hat im Unterschied zur topischen Ordnung der Enzyklopädie selbst ein metaphysisch-theologisches Grundkonzept. Die menschliche Pansophie hat als Zusammenfassung der gesamten menschlichen Weisheit im Geist oder in einem Buch durch Lehrsätze noch topischen Charakter. Dennoch ist der „Liber Pansophiae" zugleich eine „epitome Librorum Dei", des Buches der Welt, des Geistes und der Offenbarung, als Teilhabe an dem für Menschen allerdings unerreichbaren Wissen Gottes.91 Das Ordnen der Dinge in ihre Klassen, einstmals eine zentrale Aufgabe 86

Vgl. u.a. Milada Blekastad, Comenius. Versuch eines Umrisses von Leben, Werk und Schicksal des Jan Amos Komensky, Oslo/Prag 1969; Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 139-154; Jaromir Cervenka, Die Problematik der Metaphysik des Comenius, in: Studia Comeniana et Historica 3, 1973, Nr. 6, S. 69-71; Leinsle, Reformversuche (wie Anm. 75), S. 40-63. 87 Comenius, Opera, Bd. 18, 1974, S. 11-34; Jaroslav Ludvikovsky, Komenskeho Metafysika z leningradskeho rukopisu, in: Listy filologicke 3,1955, S. 87-95. 88 Comenius, Janua rerum, 1643, Opera, Bd. 18, S. 151-168; vgl. Comenius, Dva Spisy vsevedne - Two Philosophical Works, ed. George Henry Turnbull, Prag 1951 (Filosofickä Biblioteca Bd. 1,2), S. 147f.; Jaroslav Ludvikovsky, Die Janua rerum des Comenius im Lichte neuer Handschriftenfunde, in: Charisteria F. Novotny octogenario oblata, Prag 1961, S. 241-245. 89 Comenius, Opera, Bd. 18, S. 147-236; Schaller, Einleitung zu Comenius, Janua rerum, Neudr. 1968. 90 Comenius, Consultatio, Opera, Bd. l, Sp. 277-330; vgl. Ludvikovsky, Janua (wie Anm. 88), S. 240-248; Jan Patöcka, Entstehung und Aufbau der Opera didactica omnia von J. A. Komensky, in: ders., Jan Amos Komensky. Gesammelte Schriften zur Comenius-Forschung, St. Augustin 1981 (Schriften zur Comenius-Forschung, Bd. 12), S. 162166; ders., Epilogus, ebda., S. 326-345. 91 Comenius, Pansophiae Seminarium 1,1, Opera, Bd. 14, S. 13, Z. 5; vgl. Comenius, Pansophia Christiana 111,35, can. 26, Opera, Bd. 14, S. 69, Z. 5-7; ebda., 111,4, can. l, S. 52, Z. 12; Comenius, Pansophiae praeludium, n. 7, Opera, Bd. 15,2, S. 15, Z. 5-11; - Vgl. Jan Patöcka, Betrachtungen über die „Pambiblia" des J. A. Comenius, in: ders., Komensky (wie Anm. 90), S. 401-407.

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der Metaphysik, ist jetzt die enzyklopädische Aufgabe der gesamten Pansophie, gemäß ihrem Motto: „Sapientis est ordinäre".92 Ordnen aber geschieht durch Reduktion auf wenige Prinzipien und Elemente, vor allem auf Maß, Zahl und Gewicht, nach denen Gott selbst alles geordnet hat (Weish 11,20).93 Die Pansophie wird dadurch zur Abbreviatur oder Tabulatur der Gedanken Gottes in der Betrachtung der möglichen Welt im Denken, der idealen im Sprechen und der realen im Handeln Gottes.94 Das von Campanella übernommene Schema der drei Welten wird in der Consultatio Catholica am weitesten ausgestaltet: Über dem abstrakten Idealplan der möglichen Welt erheben sich die ideale, intelligible und materielle Welt und die vier „mundi ideati": der „mundus artificialis", „moralis", „spiritualis" und „aeternus". Zugleich ist hier die Pansophie in den praktischen Dienst des umfassenden Plans zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse gestellt.95 Im Unterschied zur Enzyklopädie Alsteds und Calovs mediatisiert Comenius die Metaphysik im Schulsinne nicht unter eine eigene Prinzipien- und Wissenschaftslehre, wohl aber unter das Gesamtkonzept der Pansophie. In diesem ist als erkenntnistheoretische Grundlegung in der Consultatio der Pansophia die Panaugia vorangestellt. In ihr fallen die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Entscheidungen hinsichtlich der drei Bücher der Welt, des Geistes und der Schrift, der drei Erkenntnisvermögen: Sinne, Verstand und Glaube, und der drei Methoden: Analysis, Synthesis und Syncrisis. Ebenso wird in der Panaugia bereits die sonst der Technologia vorbehaltene Sichtung der Pansophia, Pampaedia, Panglottia und Panorthosia in einem ersten Aufriß durchgeführt.96 Dagegen werden die gegenüber Alsted weit ausgestalteten „artes mentis" (Mathetica, Gnostica, Didactica, Dialectica und Diacritica) und „artes ingenii" (ars meditativa, Heuretica, ars iudicii, ars memoriae) dem „mundus artificialis" zugewiesen und erst nach der Metaphysik behandelt.97 Auch hier werden die entscheidenden erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen also vor der Metaphysik im 92 93 94 95

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Comenius, Consultatio, Bd. l, Sp. 259; vgl. Comenius, Pansophia Christiana 111,6, Opera, Bd. 14, S. 33, Z. 5f. Comenius, Consultatio, Bd. l, Sp. 261; vgl. Patocka, Epilogus (wie Anm. 90), S. 347. Comenius, Consultatio, Bd. l, Sp. 260.318; vgl. Comenius, Pansophia Christiana 111,43, can. 32, Opera, Bd. 14, S. 73, Z. 19. Vgl. Comenius, Consultatio, Bd. l, Sp. 15: Synopsis Operis Consultatorü; Aufbau der Pansophia und Panaugia: ebda. Bd. l, Sp. 121; vgl. Jaromfr Cervenka, Die Weltenschichten bei Campanella und Comenius, in: Acta Comeniana 4, 1979, S. 131-144; Jan Patocka, Utopie und System der Ziele der Menschheit bei Comenius, in: ders., Komensky (wie Anm. 90), S. 380. Comenius, Consultatio, Bd. l, Sp. 120-245. Ebda., Bd. l, Sp. 739-797; Patocka, Epilogus (wie Anm. 90), S. 319, rechnet Comenius deshalb zum „konstruktiven Rationalismus".

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Sinne der traditionellen Schuldisziplin getroffen. Doch sind diese selbst wieder metaphysisch-theologisch im Gesamtkonzept der Pansophie begründet. Die Ordnung der Pansophie soll die Ordnung der Dinge selbst sein und die Konstitution der Dinge offenbaren. Ihr Ziel ist der Nachvollzug der Schritte der Konstitution bzw. Konstruktion der Dinge bzw. der Welten.98 Die Pansophie soll deshalb das am besten geordnete Buch überhaupt werden, ein Bild des Kosmos und „systema continuum", das alles im richtigen Zusammenhang zu erkennen gestattet." Durch die überall eingehaltene Trichotomie wird zudem dauernd die theologische Verankerung in der Trinität sichtbar.100 Im Rahmen der theologisch-metaphysischen Gesamtschau der Pansophie und deren Aufgabe, die Ordnung des Universums zu übernehmen, scheint für die herkömmliche Schulmetaphysik kein rechter Platz mehr zu sein. Entsprechend dem Wandel des Pansophiegedankens verändern sich auch Aufgabe und Gegenstand der Metaphysik bei Comenius. Die Prima Philosophie von 1630 kann die Metaphysik noch frei von pansophischen Gedanken als „scientia entis in genere" definieren.101 Sie hat die Gott und den Geschöpfen gemeinsamen oder sie unterscheidenden Bestimmungen zu untersuchen.102 Sie ist also in traditionellem Sinne Lehre von den Transzendentalien. Nach frühen Ansätzen (ca. 1634/35), die „Pansophia Christiana" insgesamt als „Janua rerum" aufzufassen und die Metaphysik durch sie zu ersetzen, wird diese in den späteren Praecognita philosophica selbst zur „Janua rerum", während sie vorher nur als allgemeinste Grundwissenschaft konzipiert war.103 Diesem Programm trägt die Fassung von 1643 Rechnung. Die Erste Philosophie ist in Parallele zur Tür der Sprachen das Tor zu den Dingen. Sie hat die ersten Punkte, Linien, Samen, Wurzeln und Fundamente der menschlichen Weisheit zu legen, „pueris pueriliter, simplicibus simpliciter, sapientibus sapienter".104 Wohl auch unter dem Einfluß Descartes' wird die Metaphysik um die Mitte der fünfziger Jahre als Wissenschaft von den allgemeinen Vorstellungen, angeborenen Ideen, den Instinkten und Fähigkeiten des Menschen verstanden, 98 99 100 101 102 1(13

104

Comenius, Consultatio, Bd. l, Sp. 748; vgl. ebda., Bd. l, Sp. 261.263.265. Comenius, Pansophia Christiana 111,57-59, Opera, Bd. 14, S. 79, Z. 2-22; vgl. Comenius, Consultatio, Bd. l, Sp. 267f. Comenius, Pansophiae pradudium, n. 107, Opera, Bd. 15,2, S. 47, Z. 43-45. Comenius, Prima Philosophia, Prolegomena, Opera, Bd. 18, Sp. 13, Z. 2. Ebda. Z. 11-16; vgl. Jan Patocka, Die Philosophie der Erziehung des J. A. Comenius, in: ders., Komensky (wie Anm. 90), S. 437f. Z. B. Comenius, Pansophiae praeludium, n. 6, Opera, Bd. 15,2, S. 14, Z. 39-39; vgl. ebda., praefatio, S. 9, Z. 8-14; ebda., n. 98, S. 44, Z. 28-31. - Vgl. Jaromir Cervenka, Die Grundlagen der pansophischen Idee des Johann Amos Comenius, in: Acta Comeniana 25, 1969, S. 78f. Comenius, Janua rerum, 1643, Ad Lectorem, Opera, Bd. 14, S. 157, Z. 28-31.

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also zur Analyse des menschlichen Geistes.105 Eine Verknüpfung aller Auffassungen bietet die um 1661 entstandene Fassung der Janua rerum, die 1681 gedruckt wurde. Die Metaphysik ist „janua rerum", damit aber auch Tür zur „universalis eruditio". Aufgrund ihrer Aufgabe, die angeborenen Begriffe zu erforschen, ist sie zugleich „Lux Mentium".106 Durch diese dem Menschen als Strahl des göttlichen Lichtes mitgegebene Ausstattung und deren Analyse in der Metaphysik soll nun deutlich werden, was der Mensch wissen, wollen und können soll.107 Dadurch ist die Metaphysik eine Pansophie im kleinen, die ideale Norm ihrer Ausgestaltung mittels der Prinzipien, die überall angewendet werden.108 Als „Janua rerum" im umfassenden Sinne ist die Metaphysik nicht auf die Dinge dieser Welt beschränkt. Bereits 1630 wird die „scientia entis" auf alles ausgedehnt, was irgendwie ist und gewußt werden kann; ausgeschlossen bleibt alles, was nicht ist, da es davon auch kein Wissen gibt.109 In der Janua rerum von 1681 wird nun auch das, was nicht ist oder nicht sein kann, in die Metaphysik einbezogen. Sie beschäftigt sich nicht nur mit der bestehenden Welt, sondern mit allem, was sein bzw. nicht sein kann oder soll. Sie ist „scientia idearum" und „mundus possibilium": geordnete Darstellung der Möglichkeiten, so als ob wir die ewige Weisheit vor der Erschaffung der Welt belauschten.110 Diese zur Theorie der möglichen Dinge gewordene Metaphysik bekommt nun in der Consultatio Catholica ihren Platz als Theorie der möglichen Welt und Basis der sieben restlichen Welten, also des gesamten Gebäudes der Pansophia.111 Die mögliche Welt wird definiert als ein vollständiges, wohlgerundetes System von Gedanken, das alles enthält, was von einem gesunden Geist distinkt begriffen, zu seinem Heil erstrebt und mit Gewißheit bewirkt werden kann. Das System alles Möglichen ist aber seinerseits universale abstrakte Beurteilungsnorm und Kriterium für alles Vernunftgemäße, Erstrebbare und Operable.112 Fundament und Gegenstand der Metaphysik ist somit 105 106 107 108 109 110 111 112

Comenius, Via Lucis, Widmung, n. 17, Opera, Bd. 14, S. 288, Z. 12-20; vgl. Cervenka, Problematik (wie Anm. 86), S. 71. Comenius, Janua rerum, 1681, c. 2, n. 29, Opera, Bd. 18, S. 168, Z. 8-15; c. 3, n. 20, ebda., S. 171, Z. 5-7; c. 37, n. 2, ebda., S. 220, Z. 30-36. Ebda., Praefatio, n. 38, S. 160, Z. 10-27; c. 3, n. l, S. 168, Z. 35-37. Ebda., n. 41, S. 161, Z. 6-8; vgl. Praefatio, n. 18, ebda., S. 155, Z. 26-29. Comenius, Prima Philosophia, prolegomena, Opera, Bd. 18, S. 13, Z. 3f. Comenius, Janua rerum, 1681, Praefatio, n. 29, Opera, Bd. 18, S. 158, Z. 1-4; n. 32, ebda., S. 158, Z. 46 - S. 159, Z. 4; c. 8 Ann. l, ebda., S. 180, Z. 26-29. Comenius, Consultatio, Bd. l, Sp. 275. Ebda., Bd. l, Sp. 277; vgl. Klaus Schaller, Die Pädagogik des Johann Amos Comenius und Anfänge des pädagogischen Realismus im 17. Jahrhundert, Heidelberg 21962, S. 38f.; Dietrich Mahnke, Der Barock-Universalismus des Comenius, in: Zeitschrift für die Geschichte der Erziehung und des Unterrichtes 21, 1931, S. 68f.; Rossi, Origini, S. 212f.; Cervenka, Weltenschichten (wie Anm. 95), S. 143f.

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nicht mehr das Seiende außerhalb des Menschen, sondern die dauernde Tätigkeit des Geistes selbst. Denn er schafft diese Welt, die zwar nicht real ist, aber wegen ihrer Vollständigkeit und durchgängigen Ordnung eine denkbare oder imaginäre Welt zu heißen verdient.113 Sie ist der „mundus typicus", dessen Erforschung allen realen Welten, auch der des „mundus archetypus" im Geist Gottes, vorausgehen muß. Auch die Welt Gottes ist also den Gesetzen des Möglichen im Denken des Menschen unterstellt und nur eine Realisierung derselben: Gott denkt und kann nur nach den Gesetzen der pansophischen Metaphysik denken und schaffen, da der menschliche Geist die reale Abbildung des göttlichen ist.114 Aufgabe der pansophischen Metaphysik ist deshalb in engem Anschluß an die Panaugia die Analyse des menschlichen Geistes und die grundlegende Klassifizierung der intelligiblen Gegenstände. Das Alphabet des Denkens soll über Bisterfeld hinaus zugleich Alphabet der Dinge sein; denn die mögliche Welt enthält alle Gesetze zur Konstruktion der wirklichen Welten.115 Die pansophische Metaphysik wird somit selbst zum Ausdruck der ewigen, für alle Dinge und Wissenschaften geltenden Methode: der des Geistes selbst. Sie ist als metaphysische Prinzipien- und Methodenlehre nicht nur „lux mentium", sondern auch „lex rerum".116 4.3 Vorstufe der mathematischen Erkenntnis: Erhard Weigel (1625-1699) Eine grundlegende Neubestimmung und gegenüber Comenius eine Abwertung der Metaphysik im Rahmen einer nunmehr mathematischen Pansophie vollzieht der Lehrer Leibniz' in Jena, Erhard Weigel.117 Weigel kommt von der Mathematik zur Enzyklopädie, von dieser zur Pansophie und konzipiert seine Metaphysik als Corporis Pansophici Pantologia (1673) erst in diesem Rahmen.118 Enzyklopädie und Pansophie sind ganz im Sinne Comenius' als Sachordnung der gesamten Wissenschaften verstanden. Allerdings ist sich Weigel bereits mehr als Comenius bewußt, daß nicht die „nuda res" in die Enzyklopädie Eingang findet; vielmehr ziehen die Dinge in diesem „theatrum contemplatorium" ein Bühnengewand an, entsprechend den Betrach-

113

Comenius, Consultatio, Bd. l, Sp. 277; vgl. ebda., Sp. 285. Vgl. ebda., Sp. 320-323; vgl. Cervenka, Weltenschichten (wie Anm. 95), S. 143f. 115 Comenius, Consultatio, Bd. l, Sp. 292; vgl. ebda., Sp. 309.315. 116 Ebda., Bd. l, Sp. 309f.; vgl. ebda., Sp. 317.753£ 117 Vgl. Leinsle, Reformversuche (wie Anm. 75), S. 63-87; Wilhelm Hestermeyer, Paedagogia mathematica. Idee einer universellen Mathematik als Grundlage der Menschenbildung in der Didaktik Erhard Weigels, zugleich ein Beitrag zur Geschichte des pädagogischen Realismus im 17. Jahrhundert, Paderborn 1969. 118 Weigel, Pantologia; vgl. Weigel, Idea. 114

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tungsweisen.119 Geblieben ist aber das theologische Fundament der Pansophie in den drei Erkenntnisquellen: Offenbarung, Natur und angeborene Begriffe und Wahrheiten im Menschen.120 In Anknüpfung an Alsted nimmt Weigel bereits in die Analysis Aristotelica von 1658 eine Hexilogia auf; seinem geplanten Corpus pansophicum schickt er eine Pantognosia voraus, eine universale Erkenntnislehre des exakten Erkennens unter Einbeziehung der Logik.121 Hier fallen jene Entscheidungen, die auch der neu konzipierten Pantologia ihre Stelle anweisen. Grundsätzlich hat die Erkenntnis zwei Stufen: die „cognitio denominativa", die nur das „quid" und „quäle" der Dinge erfaßt, und die „cognitio aestimativa", in der auch das „Quantum" der Sache und der Qualitäten erfaßt wird.122 Dem ersten Grad entspricht die Prädikation als Grundoperation des Menschen, dem zweiten das Rechnen. Die denominative Erkenntnis führt nur zur Erfassung der Dinge in Gattungen und Arten; erst die ästimative führt zur Berechnung, Konstitution und Konstruktion des Dinges und damit zum Ziel aller wissenschaftlichen Erkenntnis, in das tätige Konstruieren.123 Die erste Art der Erkenntnis ist nun die metaphysische; sie kann aber auch in ihren Definitionen niemals „exercite" das Wesen der Dinge erfassen, sondern nur „titulotenus", in einem distinkten Begriff, der „essentia titularis", die aber nur Stellvertreterfunktion für die Sache selbst hat.124 Das wirkliche Wesen ist vergleichbar der in der Algebra gesuchten Unbekannten, zu deren Berechnung ggf. eine Wurzel (res oder Coss) angenommen werden muß.125 Da die Metaphysik bei der denominativen Erfassung der „essentia titularis" stehen bleibt, entsprechen ihr auch nur „demonstrationes notionales", die in der Sache nichts beweisen.126 Die Wirklichkeit der Einzeldinge aber kann nur quantitativ-numerisch erfaßt werden. Diese Aufgabe übernehmen nun, da die Ontologie zum Lexikon, zur „Nomenclatura Entis" herabgesunken ist, die Pantometria und Archimetria.121 Durch den Ausbau der Mathematik Weigels zu einer universalen „SachRechnung" oder Logistica, die zugleich als euklidische Metaphysik verstan119 120 121

122 123 124 125 126 127

Weigel, Pantognosia, s. l, c. 8, § 6, S. 28; vgl. Hestermeyer, Paedagogia (wie Anm. 117), S. 54. Vgl. Hestermeyer, Paedagogia (wie Anm. 117), S. 127. Weigel, Idea, s. 3, m. 2, c. 13, § 46, S. 286: „Et in hoc ipso tota Hexilogia, quam alioqui satis confuse nescio quo loco proponunt Scholastici, consistit, nee ullis verborum ambagibus hie opus est." - Weigel, Pantognosia, s. 1: Pantognosia Seu De Modo quodvis exacte cognoscendi. Weigel, Pantognosia, s. l, c. l, § 9f., S. 3. Ebda., s. 2, c. l, § 1-6, S. 51-54. Ebda., s. l, c. 4, § l.§ 3, S. 10; vgl. ebda., s. l, c. 10, § 4, S. 34. Weigel, Idea, s. 2, c. 4, § 4, S. 67. Ebda., s. 2, c. 4, § 15, S. 73. Erhard Weigel, Philosophia mathematica, Theologia naturalis solida, Jena: Brucker/Ehrich 1693, Archimetria, prooem., § 3, S. 3; vgl. Weigel, Idea, s. 3, m. 2, c. 3, § 8, S. 184.

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den wird, ist die herkömmliche Metaphysik außer Kurs gesetzt.128 Einzig die mathematische Betrachtung auch metaphysischer Gegenstände in der Pantometria ist wissenschaftlich.129 Die Pantologia ist die Vorbereitung dazu auf dem denominativen Erkenntnisgrad. Wollte man aber bei der bloßen Nomenklatur stehen bleiben, so gliche man Kindern, die am Sandhaufen Krieg spielen.130 Ontologie erscheint als kindliches Sandkastenspiel in Nachbildung der Wirklichkeit. Zudem ist die metaphysische Weise des Begreifens begründet im bloßen formalen Begriff, den Weigel „conceptus concipiens" nennt. Dieser vertritt nur den objektiven Begriff: Er steht „vice conceptuum objectivorum".131 Metaphysik hat also durchgängig nur mit Stellvertretern zu tun und entspricht darin gut dem „barocken Ersatzhimmel" einer „metaphysischen Ersatzkunst", die illusionäre Räume, auch eines geordneten Universums, zu schaffen vermochte.132 Eine solche Metaphysik hat für Enzyklopädie und Pansophie ihre Grundlegungsfunktion eingebüßt. Während sie 1658 noch mit der Arithmetik zusammen die Erste Philosophie und damit den Stamm des Baumes der Wissenschaft bildet, werden in der Pansophie Metaphysik und Logik zu den Ohren, Arithmetik und Logistica (Sach-Rechnung) aber zu den Augen am Haupt der Pansophie.133 Metaphysik ist als Pantologia mit einer gewissen Berechtigung zwar bewahrt, aber auch überboten und aufgehoben durch die wissenschaftlich-mathematische Erkenntnis der Dinge. Ihr Platz in der Enzyklopädie ist kein grundlegender, sondern ein im Prinzip entbehrlicher. Ihre Rechtfertigung erhält sie als didaktische Vorstufe zur Wissenschaft, die für Weigel wesentlich Mathematik ist.

5. Ergebnis Alsteds Definition der Enzyklopädie als methodische Zusammenfassung aller in diesem Leben vom Menschen zu lernenden Dinge134 diente als Leitfaden unserer Fragestellung nach der Grunddisziplin der Enzyklopädie. 1. Als methodische Zusammenfassung ist die Enzyklopädie grundgelegt in einer methodisch-wissenschaftstheoretischen Disziplin, wie sie seit Timpiers 128

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Weigel, Idea, s. 3, m. 2, c. 13, § 18, S. 273; vgl. Enrico de Angelis, II metodo geometrico nella filosofia del Seicento, Pisa 1964, S. 161; Hestermeyer, Paedagogia (wie Anm. 117), S. 144f. Erhard Weigel, Compendivm Logistic«, Jena: Cröker 1706, II, obs. l, S. 44f. Weigel, Idea, s. 2, c. 4, § 20, S. 75. Weigel, Pantologia, s. l, def. 3, § 10, S. 11. Wolfgang Philipp, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Das Zeitalter der Aufklärung, Bremen 1963 (Klassiker des Protestantismus Bd. 7), S. XXXIXf. XLV. Weigel, Idea, s. 3, m. 2, c. 3, § 9, S. 184f. Alsted, Encyclopaedia, 1. l, c. l, prcecepta, Bd. I, S. 49.

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Technologia der Metaphysik besonders dort vorausgeschickt wird, wo der Glaube an das Genügen rein topischer Ordnung noch nicht gebrochen ist. 2. Als Zusammenfassung der vom Menschen zu lernenden Dinge setzt sie eine erkenntnistheoretische Reflexion auf die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen voraus (Hexilogia, Gnostologia, Pantognosia). Eine solche wird besonders dann vordringlich, wenn weder ein ungebrochener Glaube an das Genügen topischer oder methodischer Ordnung, noch ein schlichtes Ausgehen von den Dingen gegeben ist. 3. Als Zusammenfassung der Dinge ist die Enzyklopädie an die zur Ontologie gewordene Metaphysik verwiesen. Wird diese selbst als streng homogene Wissenschaft konzipiert, muß ihr wie bei Alsted eine Prinzipienlehre (Archelogia) vorgeordnet werden. Diese enthält dann sowohl methodologische als auch inhaltlich-metaphysische Prinzipien der Gesamtenzyklopädie. 4. In jedem dieser Fälle werden traditionelle wissenschaftstheoretische Aufgaben der Metaphysik (Bestimmung der Prinzipien und des Gegenstandes der Wissenschaften) an andere Disziplinen abgegeben. Wird die Metaphysik dennoch als Grunddisziplin der Enzyklopädie dargestellt, kann sie noch als Objekttheorie der Wissenschaften (Horistike) konzipiert werden. Die ontologisch-nominelle Bestimmung der Gegenstände der Einzelwissenschaften reicht aber nicht aus, der Metaphysik wirklich Einfluß auf die Teildisziplinen der Enzyklopädie zu sichern. Ihr Herrschaftsanspruch ist auch auf dem Weg der Horistike nicht einzulösen. 5. Im Rahmen einer theologisch verankerten Pansophie wird das Aufgabengebiet der Metaphysik neu bestimmt und in ihrer Funktion beschränkt. Sie bekommt in diesem Gesamtrahmen eine erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlegungsfunktion (Bisterfeld, Comenius), allerdings nicht als Theorie der existierenden Dinge, sondern als Analyse des menschlichen Geistes. Gerade dadurch tritt sie aber in ihrem normativen Anspruch in Konkurrenz zu den mathematischen Standards wissenschaftlicher Erkenntnis, denen sie nicht genügen kann (Weigel). Sie kann folglich auch nicht die wissenschaftstheoretisch grundlegende Darlegung der Dinge sein, die vom Menschen in diesem Leben zu lernen sind.

FRANZ M. EYBL

Bibelenzyklopädien im Spannungsfeld von Konfession, Topik und Buchwesen

„WJr leben anjetzo in Lexicon- und 7c»Mr/ia/en=Tagen", befindet ein Rezensent der Zeitschrift Neue Bibliothec im Jahre 1715, und er fährt fort: Dann Seculum darff ich es nicht nennen; weil ich nicht glaube/ und es auch vor die solide Gelehrsamkeit nicht gut wäre/ daß diese Mode/ welche hauptsächlich nur von dem Ingenio einiger Buchhändler entsprungen/ so lange währen wird. Inzwischen so lange es Mode/ so lange muß man es ertragen/ und kan man keinem Buchhändler verübeln/ wenn er alles per Lexica will ediret haben; wann nur die Sache nicht gar zu ungereimt heraus kommt.1 Die Fülle von neuen Speziallexika und Fachenzyklopädien an der Wende zum 18. Jahrhundert, so der Konsens der Forschung, ist das Signal für das Ende der Universaltopik als Organisationsform der Wissenschaften, für die Ablösung der Enzyklopädie des alten, frühneuzeitlichen Typs durch die Polymathie.2 Zwei Gegensätze benennt dieses Urteil, die in Wahrheit miteinander zu tun haben, denn die „solide Gelehrsamkeit" der frühen Neuzeit hängt mit dem „Ingenio einiger Buchhändler", also mit dem Buchwesen, enger und länger zusammen als der Rezensent das wahrhaben möchte. Die neue Technik des Buchdrucks beeinflußte die Formen der gedruckten Nachschlagewerke bereits im 16. Jahrhundert, und wie der Buchdruck der neuzeitlichen Form enzyklopädischer Wissenserschließung seine Gestalt aufprägt, deren späte Auswirkung die Rezension beklagt, so beruht das Phänomen der enzyklopädischen Erschließung auch der Bibel auf einer Kombination von geistig-religiösen mit medialen Voraussetzungen. Der Versuch, die Entwicklung der frühneuzeitlichen Bibelenzyklopädik zu skizzieren, geht von zwei epochenbestimmenden Sachverhalten aus, vom Buchdruck und von der Glaubensspaltung. Im Zeichen des Buchdrucks ist zunächst nach den vom neuen 1

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Neue Bibliothec Oder Nachricht und Urtheile von neuen Büchern Und allerhand zur Gelehrsamkeit dienenden Sachen, 42. Stück, Frankfurt/Leipzig: Renger 1715 [StB Kremsmünster: 8° A l/V], S. 129-133, zit. S. 129. „Die Enzyklopädie unterscheidet sich von der Polymathie darin, daß sie eine Verbindung der Wissenschaften aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten ist, während der Begriff Polymathie nur die Vielheit oder Gesamtheit des Wissens ausdrückt." Dierse, Enzyklopädie, S. 24.

Bibelenzyklopädien im Spannungsfeld

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Status des biblischen Textes vorgegebenen Möglichkeiten seiner Erschließung, sodann nach der Hermeneutik des Zugriffs unter nunmehr konfessionellem Vorzeichen zu fragen.

L

Das Zeitalter des Buchdrucks beginnt mit der Bibel. „Um die Überlegenheit der , ars scribendi' vor aller Augen zu demonstrieren, war die .Reproduktion' desjenigen Werkes, welches die Identität der mittelalterlichen europäischen Kultur wie kein anderes bestimmt hatte, gerade gut genug."3 „Der Übergang zum Druck bedeutet nicht nur die Verbreitung der Heiligen Schrift, sondern auch für den ganzen Umgang mit ihr eine Wende."4 Das geht ebenso auf die prinzipiell ubiquitäre Verfügbarkeit wie auf den verbindlichen Textcharakter in Wortlaut und Kanon zurück. Bereits im 12. Jahrhundert „löst sich ,der' Text eines Buches von seiner schriftlichen Fassung in diesem oder jenem anderen Manuskript. Diese Unterscheidung erlangte Bedeutung, lange bevor die Drucktechnik es möglich machte, diesen Text in einer kritischen Edition zu fixieren."5 Die gegenüber dem System des Abschreibens beträchtliche „Reduktion der Reproduktionsvorgänge bedeutet Sicherung des Textes"6 auf neuem Niveau und mit großer Verbindlichkeit. Somit verhalf der Druck „sogleich der abendländischen Kirche auf lange Zeit zu einem recht einheitlichen Text ihrer Bibel."7 Ähnliche Verbindlichkeit kommt dem Kanon der biblischen Bücher zu. Bis ans Ende des Mittelalters gestattete die „gleichsam bewegliche Autorität des Schriftwortes innerhalb der christlichen Tradition"8 eine durchaus unterschiedlich Gewichtung der einzelnen Bücher, die nun zum Kanon zusammenwachsen und konfessionell unterschiedlich festgelegt werden. Im 15. und 16. Jahrhundert ist der Kanonisierungsprozeß der biblischen Bücher und ihrer Reihenfolge vollendet, die Bibel wird für die christlichen Konfessionen der „Zentrale Informationsspeicher des Glaubens".9 3

Giesecke, Buchdruck, S. 140. Heinrich Karpp, Schrift, Geist und Wort Gottes. Geltung und Wirkung der Bibel in der Geschichte der Kirche. Von der Alten Kirche bis zum Ausgang der Reformationszeit, Darmstadt 1992, S. 120. 5 Illich, Im Weinberg des Textes, S. 113. 6 Müller, Körper des Buchs, S. 209; dort auch S. 212f. zum Verhältnis von Generationenkette und authentischem Text. 7 Karpp, Schrift, Geist und Wort Gottes (wie Anm. 4), S. 121. - Zur Verbreitung und den damit einhergehenden Problemen für die Autorität der Kirche vgl. S. 123ff. 8 Ebda., S. 86. 9 Giesecke, Buchdruck, S. 244. 4

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Franz M. Eybl

Mit der Ablösung des Textes als einer abstrakten Bezugsgröße vom Buch als seinem Träger, die Ivan Illich ins 12. Jahrhundert verlegt, entsteht die Relation von Text und Kommentar bzw. Erschließung. Man beginnt zu dieser Zeit, für die Suche im Text der Bücher Erschließungsinstrumente zu entwikkeln. So „... wurde eine Lawine von bis dahin beispiellosen Erfindungen ausgelöst; Register, Bibliotheksinventare und Konkordanzen."10 Der Buchdruck ändert die althergebrachten Erschließungsinstrumente und führt zu neuen Formen der „Textverarbeitung",11 also zu einer Umwandlung auch der Instanzen des Kommentars. Erst die Garantie identischer Texte in identischen Drucken ermöglicht ein komplementäres Verweisinstrument von jener Korrektheit und Zielgenauigkeit, wie sie im 16. Jahrhundert angestrebt und durchgesetzt wird. Die neuen Maßstäbe der Korrektheit hängen so eng mit der Technik zusammen, daß in einer Baseler Konkordanz von 1531 nicht etwa der Kompilator das Wort ergreift, sondern der Drucker Hieronymus Frobenius, Sohn des berühmten Johannes. Er tritt auf dem Titelblatt in ein Gespräch mit dem Käufer ein (EMPTORIS ET FROBENII DIALOGVS), um auf die Bewältigung der Hauptschwierigkeit hinzuweisen, nämlich der Genauigkeit: „Wie Du weißt, ist es der Natur dieses Werkes gemäß am schwierigsten, dafür einzustehen, daß keinerlei Irrtum in den (Verweis-)Zahlen auftritt" („Scis esse naturam huius operis, ut difficillimü sit praestare ne quid erroris sit in numeris").12 Hierin habe des Druckers größte Sorgfalt bestanden. Neben der Korrektheit der Verweise gewinnt auch die Zielgenauigkeit des Verweisens neue Qualität. Das Buchwesen entwickelte „Normen und Programme zur Steuerung der typographischen Kommunikation",13 versah 10

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„Sie sind alle dazu da, in Büchern bestimmte Abschnitte und Themen zu suchen, die man sich vorher überlegt hat. ... Das neue Seitenbild, die Kapiteleinteilung, Distinktionen, das konsequente Durchnumerieren von Kapitel und Vers, die neue Inhaltsangabe für das ganze Buch, die Übersichten zu Beginn eines Kapitels, die dessen Untertitel benennen, die Einführungen, in denen der Autor erklärt, wie er seine Darlegung aufbauen wird, sie sind alle Ausdruck eines neuen Ordnungswillens". Illich, Im Weinberg des Textes, S. 110. - Vgl. die im Beitrag von Herfried Vögel, Anm. 24, genannten Arbeiten zum Problem der Texterschließung im mittelalterlichen Buch, insbes. Palmer, Kapitel und Buch. Zedelmaier, Bibliotheca universalis, S. 51ff. [Conradus von Halberstadt d.J.j, CONCORDANTIAE MAIORES SACRAE BIBLIAE SVMMIS VIGILIIS iam denuo ultra omnes aeditiones & castigatse, & locuple/ tatae: addito insuper dictionum elencho, Basel: Frobenius 1531 [VD16, C 4908; StB Kremsmünster. 2° Bn 26]. Frühere Ausgaben dieser Konkordanz bei Frobenius 1525 und 1526 (VD 16, C 4902 bzw. C 1526). - Wie signifikant dieser Standpunkt für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts war, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß eine in Lyon bei Sebastian Gryphius 1545 erschienene Konkordanz CONCORDANTI/E maiores sacrce Biblice, Summis uigilijs iam denuo ultra omnes editiones castigatce [StB Kremsmünster: 4° Bc 78] als Vorrede AD LECTOKEM (Bl. a2r) den Text des Frobenius wörtlich abdruckt. Giesecke, Buchdruck, S. 420ff., Abschnitt Titelblatt und Paginierung: Die Informationen bekommen eine Adresse.

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die Drucke (in einem längeren Prozeß) mit einem Titelblatt, die Seiten mit Ziffern und die Textabschnitte mit Absätzen und schuf so ein System von Verweismöglichkeiten. „Erst die Normierung der Adressierung der verschiedenen Nachrichten macht es möglich, daß die Autoren unmißverständlich mit ihren Botschaften aneinander anschließen konnten."14 Bei der Bibel bestand das Verfahren, einzelne Textstellen genauer nachzuweisen, zunächst in einem Buchstabenverweissystem, wobei jedes lange Kapitel der Schrift in sieben, jedes kurze in vier gleiche, mit den entsprechenden Buchstaben des Alphabets bezeichnete Teile gegliedert wird,15 um das Auffinden der Zitate zu erleichtern. Die Konkordanzen verwenden diese Gliederung, die die Bibeln zur Zeit des Frühdrucks bereits im Text mitdrucken.16 Der neuen Zielgenauigkeit wissenschaftlichen Verweisens genügte diese Grobgliederung bald nicht mehr. Wieder ist es das Druckwesen, das die Verszählung als neue Verweisadresse durchsetzt, und es ist ein Lexikograph, der sie zuerst anwendet: Robert Estienne (Robertus Stephanus) mit einer Bibelausgabe des Jahres 1541. Während seine Konkordanz von 1540 noch in der alten Buchstabengliederung verharrt war, benutzte die Konkordanz von 1555 bereits die Versverweisung.17 In der Lutherbibel tritt die Verszählung zuerst in der Frankfurter Ausgabe Johann Feyerabends von 1583 sowie im Wittenberger Druck des Zacharias Lehmann 1586 und 21594 auf.18 In der zweiten Hälfte

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Giesecke, Buchdruck, S. 424. „CUilibet volenti requirere cöcordantias in hoc libro: unü est primitus attedendu: uidelicet: qd cum in primis concordätijs: que dicuntur concordantie sancti iacobi: quodlibet capitulum in septem particulas distinguatur: secundü septem primas literas alphabeti: uidelicet: A.b.c.d.e.f.g. Jn isto opere per eundem modum: & in totidem particulas distinguuntur capitula: longiora in septe partes equales: capitula vero breuiora tantü in partes quatuor distinguuntur: videlicet in A.b.c.d. vt breuiori capitulo in quatuor partes diuiso: A primam cötineat partem: B vero secundam: que a principio recedat: & vsque ad medium protendatur: C vero recedat a medio: & parte tertiam cötineat capituli breuioris: D vero post tertiä parte usq3 in finem capituli protendatur". Concordantiae maiores 1531 (wie Anm. 12), Bl. a2r. „Seit 1481 enthalten diese Ausg. auch ein Register der Lektionstexte und ,Interpretationes Hebrfaicorum]. nomfinum].' sowie im NT ,Capitulationes4 am Beginn oder am Rand, Marginalkonkordanzen und Kapitelgliederungen durch Buchstaben A-G." Heimo Reinitzer, Art. „Bibeldruck", in: LGB2, Bd. 1: -Buch, Stuttgart 1987, S. 349353, zit. S. 349b. „Olim & numerus capitis, & primores Alphabeti literae singulis vocibus addebantur, quo & caput Scripturee, & initium, medietas, sive finis illius per illas Alphabeti literas indicaretur. Ex quo vero Robertus Stephanus an. 1541. Biblia in versiculos distinxit, versiculi etiam in Concordantiis adnotari, ac literae supprimi coeperunt; ejusdemque Impressoris opera elegantissimae Concordantia;, capitum, & versiculorum numero instructs prodierunt, an. 1555." Calmet, Dictionarium historicum, Praefatio, Bl. (a)4r. Heimo Reinitzer, Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, Wolfenbüttel 1983 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 40), S. 260f., Katalognr. 159 und 160.

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des 16. Jahrhunderts setzt sich die Verszählung in den lateinischen wie deutschen, das heißt in den Bibeln aller Konfessionen durch. Die tridentinische Ausgabe der Vulgata, 1590 zunächst zum Druck zugelassen, dann wiederum revidiert und schließlich 1592 als verbindliche Editio Sixtina unter Clemens VIII. veröffentlicht, erhob die Verszählung zum katholischen Standard. Da jedoch viele Leser die Bibel noch in alten, mit Buchstaben gegliederten Ausgaben besitzen, weist etwa eine katholische Vulgatakonkordanz noch des Jahres 1663 neben der Versangabe auch die Buchstabenverweisung auf,19 wie auch die Bibelenzyklopädien teilweise noch länger auf die Buchstaben und nicht auf die Verse verweisen. Dem gesicherten Text tritt ein neues System des Adressierens zur Seite, das die älteren Formen der Bibelerschließung übernehmen, die Konkordanzen, die biblischen Onomastica oder die moraltheologischen Kompendien nach dem Muster eines Petrus Berchorius. Durch den Buchdruck war der spezifische, einheitliche Textcharakter der Bibel durchgesetzt, bis mit Spinoza die „Wiederauflösung der so mühsam hergestellten und noch mühsamer bewahrten Einheit der Bibel" durch ihre „Historisierung, die Zuweisung ihrer einzelnen Teile an chronologisch fixierbare Zeitstellen" eintritt.20 Aber zeitgleich mit der neuzeitlichen Kanonisierung der biblischen Textgestalt wächst die Sorge um das rechte Verstehen des Gotteswortes. Wie das Buch der Natur zunehmend nur vom Fachmann und seinen neuen optischen Beobachtungsinstrumenten entziffert werden kann (Blumenberg), so verdunkelt sich der Sinn der biblischen Bücher in gleichem Maße, in dem das Reformationsjahrhundert ihre Kanonisierung und Popularisierung vorantreibt. Über ihre Auslegung entbrennen die konfessionellen Streitigkeiten der frühen Neuzeit. Der Anspruch, die Bibel auf der Basis der bis dahin entwickelten philologischen Zuverlässigkeit des Textes und der neuen Genauigkeitsstandards im Verweissystem enzyklopädisch aufzuschließen, wird historisch zu jenem Zeitpunkt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts greifbar, da die Konfessionen ihre Lehrgebäude ausdifferenziert haben. Die Bibelenzyklopädik ist die Antwort auf ein dreifaches Problem. Mit der Konfessionalisierung verliert die mittelalterliche vierfache Zuordnung von Sinn zwischen den sprachlichen Zeichen der Schrift (verba) und den bezeichneten Sachverhalten (res) ihre umfassende Gültigkeit. Die Auswertung der Bibel konnte daher weder bei den alten Erschließungsinstrumenten der Onomastica und Konkordanzen 19

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CONCORDANTI/E BiBLioRVM luxTA exemplar Vulgatae editionis SIXTI V. PONTIFICIS MAX. iussu recognitum, et CLEMENTIS VIII. AUTORITATE editum. Novo studio et industria Theologorum Coloniensium Revise, emendatae, et auctcE, Köln: Friesenhagen/Hilden 1663 [StB Kremsmünster: 2° Bc 56]: „Numerus versuum, post litteras ABCDEFG indices Sectionum cujusq3 capitis, adscriptus est" (Überschrift Bl. ). Blumenberg, Lesbarkeit der Welt, S. 101.

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stehen bleiben, die bloß zu den gleichen verba führen, noch bei den Kompendien moralischer oder natürlicher res, da die Verweisstruktur der verba auf die res, da die Frage des Schriftsinns zum zentralen Problem der konfessionellen Auseinandersetzung geworden war. Zweitens vervielfältigte der Buchdruck die Möglichkeit, mit Text umzugehen, und es differenzieren sich im Zuge der Konfessionalisierung neue pragmatische Bereiche des Umgangs mit der Bibel, sei es durch die Geistlichen, sei es durch die Laien. Daher erschließt die Bibelenzyklopädik ihren Gegenstand jeweils im Hinblick auf bestimmte Zwecke, vornehmlich für Predigt und Katechese, und damit auf eine komplementäre Lese- und Gebrauchskompetenz. Drittens entstand mit der Zuwachsgeschwindigkeit an Wissen das Problem der Ordnung des Wissens und somit die wissenschaftstheoretische Notwendigkeit, auch den biblischen Stoff im Kategoriensystem der Wissenschaft schlechthin aufzubereiten. Denn da die „Dunkelheit der Bücher" der Natur und der Offenbarung „ihre ,Philologie' zur Sache des Fachmanns" macht,21 gerät die Methode der Bibelerschließung nach ihrer medienbedingten Verfahrensoptimierung in wissenschaftlichen Rechtfertigungszwang. Die Bibelenzyklopädien erheben den Anspruch, die res der Bibel mit dem wissenschaftlichen Paradigma zu verrechnen, um so deren Wahrheit und Gültigkeit zu untermauern und die Instrumente zum Lesen des Buchs der Natur und des Buchs der Offenbarung in gleicher Tauglichkeit für beides zu zeigen. Die Problembereiche der Bibelenzyklopädik sind damit die Beziehung zwischen res und verba, die Zweckbindung des jeweiligen Kompendiums und die Erschließung und Ordnung des biblischen Wissensstoffes im enzyklopädischen Wissenschaftsparadigma. Das sind zugleich die Topoi ihrer Vorreden bis hinein ins 18. Jahrhundert.

II. Am Beginn frühneuzeitlicher enzyklopädischer Bibelerschließung steht die methodologische Überlegung des Dominikaners Sixtus Senensis (|1569) in seiner oft aufgelegten Bibliotheca Sancta (Venedig 1566).22 Sie steht im historischen Kontext epochaler wissenschaftlicher Ordnungskonzepte wie Conrad Gesners Bibliotheca universalis (1545-48) als neuartiger „Bestandsaufnahme

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Ebda., S. 98. Nahezu zeitgleich kommt die Bibelhermeneutik des Matthias Flacius Illyricus heraus: Clavis Scripturae Sacrae, seu de sermone sacrarum literarum in duas partes divisa; quarum prior singularum vocum atque locutionum S. Scripturae usum & rationem explicat; posterior de sermone sacrarum literarum plurimas generates regulas tradit, 2 Bde, Basel 1567 u.ö.

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gelehrter Überlieferung"23 oder Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae (1565) als enzyklopädischer „Totalität einer moralisch disziplinierten, menschlichen Erfahrung",24 am Einschnitt im Umgang mit der schriftlichen Überlieferung um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Im Mittelalter war die Schrift allein der Garant für die Bewahrung der Tradition, jetzt müssen Bücher aufbewahrt, gefunden und ausgewertet werden, um dem drohenden Traditionsverlust zu steuern.25 Bibliothek, Bibliographie und Exzerpierkunst werden auf neue theoretische Grundlagen gestellt, Enzyklopädien besorgen die Ordnung des Wissens. Sixtus erarbeitet umfassend die für die Bibelenzyklopädik relevanten Problembereiche. Die Kunst, die heiligen Schriften auszulegen, umfasse drei Schritte. Mittels der ars definitiva werden die Sinnebenen der Schrift aufgezählt, unterschieden und definiert. Die ars inventiva erlaubt, in den Schriften nach dem festgelegten Sinn verborgene Bedeutungen ans Licht zu bringen. Und die ars dispositiva lehrt das so an Sinn Gefundene zu kommunizieren und durch verschiedene Darstellungsweisen, -formein und -methoden nach der bestgeeigneten Ordnung zu explizieren.26 Die Lehre vom zweifachen Schriftsinn („historicus & mysticus") erlaubt Sixtus, die verba, die ihrerseits wörtlich (sensus historicus) oder metaphorisch („per similitudinem quadam") zu verstehen sind, von den res zu unterscheiden.27 Sixtus trennt mit dieser Aufteilung die konfessionelle Bindung des jeweiligen Inventionsverfahrens (ars definitiva) von der rhetorischen inventio als den Konfessionen gemeinsamer und zugleich zweckorientierter Findekunst (ars inventiva). Das Kernproblem der Bibelenzyklopädien bleibt jedoch das Problem der Anordnung, die Disposition des Wissens, wobei das iudicium am stärksten gefordert ist. Im dritten Buch entwickelt Sixtus mit der ars dispositiva eine erste umfassende Systematik der Ordnungsmöglichkeiten. Einerseits behandelt er Methoden der Strukturierung des biblischen Textes, andererseits die hermeneutischen Gattungen im engeren Sinne und schließlich die Formen der Aufbereitung. Dabei bietet er ein Repertorium dessen, was 23 24 25

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Zedelmaier, Bibliotheca universalis, S. 45; vgl. Müller, Körper des Buchs, S. 214f. Zedelmaier, Bibliotheca universalis, S. 241. Vgl. Müller, Körper des Buchs, S. 214f. sowie ders., Überlegungen zu Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit..., in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 18, 1993, H. l, S. 168-178, insbes. S. 176. „... docet inuentos diuins Scripturae sensus decenti riteque accommodata explanationis dispositione in lucem emittere, & per varios exponendi modos formulas & methodos aptissimo ordine explicare". Sixtus Senensis, BIBLIOTHECA SANCTA ... Ex PRAECIPVIS CATHOLICAE ECCLESIAE Auctoribus collecta, & in octo libros Digesta. ... POSTMODUM A REVERENDO SOCIET. IESV PATRE IOANNE HAYO SCOTO, REVISA, Köln: Peter Cholinus 1626 [StB Kremsmünster: 4° B 2], S. 165a, Abschnitt B-C. „... sensus Mysticus, & spiritualis ... nö per verba, sed per res ipsas significatus". Ebda., S. 165b, Abschnitt Cf.

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an Sekundärliteratur mit dem biblischen Material hergestellt und gefüllt werden konnte, vom Index bis zum Speculum, von der stilistischen Bearbeitung bis zur biblischen loci-communes-Sammlung, jeweils auf spezifische Zwecke bezogen. Zusammengenommen ergeben solche Dispositionsmethoden ein Raster zur Orientierung der lectio, das die Textlandschaft der Bibel und die Vielfalt mit ihr verknüpfter Gesichtspunkte und Bedeutungen strukturiert, entworfen zur Instruktion oder besser: zur Entlastung der memoria und verbunden mit den Bedürfnissen und Notwendigkeiten einer akademischen Praxis, die sich in diesen Methoden und ihren literarischen Formen deutlich widerspiegelt.28 Die Kompilatoren der Bibelenzyklopädien unterscheiden drei Möglichkeiten der Anordnung biblischer Belegstellen. Als ordo artificialis gilt das Alphabet, ordo naturalis ist die der Topik folgende Anordnung und ordo doctrinae meint die Zusammenstellung der Schriftzitate als Belegsammlung für eine Glaubenslehre bzw. für Teile daraus. Wenn die eine, den Wissenschaften gemeinsame, Dispositionsmethode der topica universalis zugleich die eine Wahrheit bedeutete,29 so war der ordo naturalis der Universaltopik dafür der beste Garant, weil das topisch ordnende iudicium die Einheit des Wissens demonstrierte. Das alte Deutbild des geordneten Hauses verwenden dafür die Bibelökonomien, die es als Signal für Ganzheit, Ordnung und praktische Zugriffsmöglichkeit aus dem Bereich der memoria auf die Heilige Schrift übertrugen. Von Georg Eders Oeconomia universalis Sacrorum Bibliorum (1568 u.ö.) bis Johann Heinrich Alsteds Memoriale Bibliorum & Oeconomia Bibliorum (Herborn 1620) - Alsted thematisiert die Verbindung von memoria und Bibelökonomie bereits im Titel - reichen die Versuche, mit Hilfe der enzyklopädischen Wissensorganisation das Muster für die Sacherschließung der Bibel zu gewinnen. Überwunden werden sollte die beschränkte Brauchbarkeit der Konkordanzen. „Ich habe unternommen", schreibt George Bullock in der Praefatio zu seiner Oeconomia methodica Concordantiarum Scripturae Sacrae (Antwerpen 1572), die „einzelnen Wörter in den Schriftkonkordanzen teils nach ihrer Bedeutung (ratio), teils nach ihrer vielfachen Beziehung (relatio) so in analytischer Anordnung (ordine quidam analytico) zu verarbeiten,... daß sie nicht nur alles umfassen, was bisher die Konkordanzen enthielten, sondern darüber hinaus noch mehr, was man in diesen bislang lange und schmerzlich vermißte".30 Während dort alles ver28 29 30

Zedelmaier, Bibliotheca universalis, S. 170. Zur Systematik des Sixtus vgl. S. 167ff. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 250. „... conatus sum, singularum vocum in sacris Scripturs concordantiis, vel eo magis & ordinem, & vsum, & synonymiam, & homonymiam, & sensum, & consensum, & applicationem, secundüm earum siue rationem, siue relationem multiplicem, ita per vniuersum huius Oeconomia? corpus ordine quodä analytico digerere: & ita in tabulas analyticas,

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worren („plane iacerent confusa") und in unmethodischem Durcheinander läge („sine omni methodo, Sacrae Scripturae verba, disiecta erant"), präsentiere sein Buch eine neue Ordnungsmöglichkeit. Die Ordnung des Alphabets sei ordo artificialis, die natürliche Ordnung31 jedoch ergebe sich aus den analytisch herauspräparierten Universalien und Einzelheiten, also durch die Denkformen der Logik und der Dialektik. Bullock beruft sich damit auf die „methodisch garantierte innere Ordnung einer Sache",32 auf den ordo naturalis. Bullock reflektiert das Trennen des Zusammenhängenden und das geordnete Zusammenführen des Getrennten als das Amt des Enzyklopädisten, er nennt die resolutio seu diuisio als analytischen sowie die compositio als synthetischen Schritt. Sixtus' ars definitiva und inventiva kommt bei der kunstvollen Unterscheidung und Distinktion dessen, was im Text an Sinn verworren und verwickelt ist, zum Tragen („quae confusa inuolutäque sunt ... artificiose distinguere, apteque & ordinate digerere"). Die ars dispositiva weist dem Aufgelösten und voneinander Gerissenen sodann erneut einen festen Platz zu („quae soluta sunt ac distracta, in vnum denuo certa quadam serie ... colligere & colligare"), wobei Bullock die Klassifikationsmethoden der zeitgenössischen Enzyklopädik anwendet. Das Ergebnis ist eine ramifizierte Bibel, deren Begriffe Bullock vom allgemeinen zum weniger allgemeinen, vom Großen zum Kleinen, vom Hohen zum Niederen fortschreitend als loci anordnet („ä cömunibus scilicet, ad minus cömunia; ä maximis ad minima; ä superioribus ad inferiora, vsq; ad infima"). Drei bis sechs Kolumnentitel pro Seite halten Überkategorien fest: „Moralia" - „Bona" „Deus" - „Affectuum Deo attributorum - „Ira Dei", und innerhalb der vier Spalten pro Seite folgen den Zwischenüberschriften, jeweils spezifischeren loci, die entsprechenden biblischen Verse von der Genesis bis zur Apokalypse. In unserem Beispiel sind es für den Zorn Gottes die loci „Indignatio dei", „Laus Dei", „Vltio Dei", „Condemnatio" usw. Daß einzelne Verse sol-

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tä vniversales quäm particulares redigere; vt non solüm omnia quae vllae antea Concordantiae, etiam maiores, habebant; sed & insuper quamplurima, in illis hactenus multum diuque desiderata, contineant." George Bullock, OECONOMIA METHODICA CONCORDANTIARVM SCRIPTVILC SACR/E: ... In qua quid (praeter omnes hactenus impressas Concordantiarum editiones) praestitum sit, ad omnium concionatorum, & S. Theologiae studiosorum commoditatem, quilibet ex praefatione Authoris facile intelliget, Antwerpen: Christopher Plantin 1572 [StB Kremsmünster: 2° Bc 51], PRAEFATIO, SEV INTRODVCTIO IN PRÄSENS OPVS, Bl. ++lr. - Zum englischen Katholiken George Bullock [Bullocus] (1521-1580) vgl. IBN Pars C, vol. 26, N. 15705. „Omnia sacrae scripturas verba reducuntur ad tabulas, vel Alphabeticas; secundüm ordinem artificialem verborum Analyticas; aut Vniversales Particvlares secundüm naturalem ordinem & vsum, tarn rerum, quäm verborum." Bullock, Oeconomia, TABVLAE ANALYTICAE GENERALES, Bl. aa2r. Schmidt-Biggemann, Topica universalis, S. 65.

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cherart an zwei oder mehr Stellen auftauchen, hält Bullock für einen Vorzug seines Verfahrens; es ist das Ausschöpfen der verschiedenen res, die von den verba der Bibel bezeichnet werden. Eine „Tabula analytica" bringt am Schluß des Bandes einen methodisch-analytischen Dichotomienbaum, also eine ramistische Methodik der Begrifflichkeit, sowie eine Tabelle der in der Oeconomia präsentierten systematischen Anordnung mit Seitenverweisen. Die aus Konkordanzen gewohnte alphabetische Ordnung habe sich verboten, ginge es doch um die res, das heißt um den Sinn der biblischen Worte: ... si cui displicet, quöd ordinem hie vt alias concordantiae alphabeticum, non sequimur; intelligere eum oportet, analyticam illud Methodü non ferre: in qua non verborum, sed rerum habita ratione proceditur: vtq; propter res verba instituta sunt, ita ordinem verborum, rerum ordini subiiciendum esse; non secus quäm Scripturae Sacrae litera, ipsius sensui.33 Mit diesem Verfahren wird das System der Universaltopik als ordo naturaiis auf das Buch der Offenbarung übertragen. Der Zusammenhang von res und verba ist universalwissenschaftlich-enzyklopädisch hergestellt, der Konflikt zwischen ordo naturae und doctrinae noch - und historisch nur einen kurzen Moment lang34 - durch die umgreifende enzyklopädische Topik harmonisiert. Bullocks Versuch ist nicht zuletzt die Demonstration, daß der Stoff der Bibel unter dem Begriff der Enzyklopädie als eines „ganz weiten, wissenschaftskonstitutiven Philosophiebegriffs"35 dargestellt werden kann. Daß die dialektische Wissensordnung der Wissenschaft auch die res der Bibel zu ordnen vermag, ist damit dargelegt. Die zugrundeliegende Vorstellung von der Übereinstimmung des Wissens in den Büchern konnte auch umgekehrt dadurch demonstriert werden, daß die Bibel den ordo für die Erschließung der Wissenschaft und der literarischen Tradition abgab. Johann Heinrich Alsteds Triumphus Bibliorum sacrorum seu Encyclopaedia Biblica, erschienen 1625 nach der theologischen „Wende" des Autors, „führt den Nachweis, daß alle Disziplinen und Künste in der Heiligen Schrift implizit enthalten sind".36 Und Filippo Picinellis Lumi riflessi; o, dir vogliamo concetti della Sacra Bibbia osservati ne i volumi non sacri (Mailand 1667; lat. Lumina Reflexa, Frankfurt/M. 1702) belegen in enzyklopädischer Form die genaueste Übereinstimmung der einzelnen Bibelverse mit den Aussagen der klassischen und heidnischen Schriftsteller („OMNIUM VETERUM CLASSICORUM Ac ETHNICORUM Au33 34

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Bullock, Oeconomia, Bl. ++3V. Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica universales, S. 64.

Ebda., S. 132. Joachim Dyck, Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1977, S. 68; zum genauen Verfahren Alsteds in seinen Abschnitten über Rhetorik (cap. XXIV) und Poetik (cap. XXVII) S. 66ff. - Vgl. auch den Aufsatz von Ulrich G. Leinsle in diesem Band.

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THORUM EXACTISSIMUS CONSENSUS", heißt es auf dem Titelblatt der Übersetzung), mit den „volumi non sacri". Aber damit ist nicht mehr die Universalgültigkeit der topischen Wissensordnung, sondern der Vorzug der Heiligen Schrift vor der Tradition des Wissens bewiesen. Wo die Kompendien die Beziehung zwischen res und verba konfessionell akzentuieren, weil die Glaubensverkündigung ihr Hauptzweck ist, entstehen Formen der Bibelenzyklopädik, die auf andere Ordnungsprinzipien zurückgreifen. Für die Glaubensverkündigung bedarf es keiner Universaltopik, hier genügen die topischen Subsysteme der Theologie, insbesondere jenes der Moraltheologie, der Dogmatik und der Pastoraltheologie, als Auswahl- und Anordnungsprinzipien. Das Problem der ars inventiva wird in solchen Büchern an die jeweils vorausliegende, konfessionell vorgegebene ars definitiva gebunden. Matthäus Vogels Schatzkammer Heiliger Göttlicher Schrift (Straßburg 1581-88) zeigt dabei die evangelische, Hieronymus Lauretus' Sylva allegoriarum (Barcelona 1570 u.ö.) die katholische Spielart des Verfahrens. Die Prediger sind die Hauptadressaten fast aller biblischen Kompendien, schon wegen ihres Preises und ihres Formats. Ihnen und dem Laien37 bietet der als Superintendent zu Göppingen und Abt von Alberspach wirkende lutherische Geistliche Matthäus Vogel (1519-1591) seine Schatzkammer, die in Straßburg ab 1581 in sieben, rasch erneut aufgelegten, Bänden zu erscheinen begann. Eine leicht gekürzte, einbändige lateinische Fassung Thesaurus Theologicus, ex sola sacra scriptura depromptus wird in Tübingen 1592 „!N STVDIOSORVM THEO- logise, & Ministrorum Ecclesiae iuniorum gratiam" (Titelblatt) herausgegeben und ebenfalls mehrfach aufgelegt.38 Die Entstehung des Kompendiums schildert Vogel als Auftragsarbeit und als kontinuierlichen 37

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Das Werk findet sich z. B. auch in der Bibliothek des Hans Pleickhard von Berlichingen, der unter seinen Theologica „In Folio, vnd weyssem Copertt Eingebunden" auch „Volumina quatuor M. Mathaej Vogelns, Schatzkammer der Hayligen Geistlichen schafft" besitzt, wie das Nachlaßverzeichnis 1594 ausweist. Volker Honemann u. Helgard Ulmschneider: Eine ritterschaftliche Bibliothek des 16. Jahrhunderts: Das Verzeichnis der Bücher des Hans Pleickhard von Berlichingen (t 1594), in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 20, 1979, Sp. 833-894, zit. Sp. 845, Nr. 4. Zu Vogel vgl. Jöcher Bd. IV, Sp. 1692. - Bd. I der Schatzkammer Heiliger Göttlicher Schrift Der erste [bis sibende vnd leiste] Theil. Darinnen ... Alles allein auß der Bibel/ Altes vnd Newes Testaments zusamen getragen/ vnd in gute richtige Ordnung gesetzt erschien 1581 bei Alexander Hock, die Zweitauflage dieses Bandes 1587 bei Georg Gruppenbach, der auch die weiteren Drucke firmiert. Von der benutzten Ausgabe [HAB Wolfenbüttel: Tb 4° 54: 1-4] erschienen Bd. I 1594, Bd. II 1597 (Widmung dat. 1583), Bd. III 1603 (Widmung dat. 1585), Bd. IV 1602 (Widmung dat. 1585), Bd. V 1599 (Widmung dat. 1585) und Bd. VI-VIII1603 (Widmungen dat. 1586 und 1588). Übereinstimmend mit den Datierungen der Widmungen berichtet Vogel in Bd. VIII (4588) vom Publikationszeitraum 1581-1586 für die ersten sieben Bände (Bl. ):(4r). - Wolfenbüttel verwahrt auch einige Ausgaben der lateinischen Kompaktausgabe: Matthäus Vogel, THESAVRVS THEOLOGICVS Ex SOLA SACRA SCRIPTVRA DEPROMPTVS, JN Qvo VNICO

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Lektüre- und Exzerpiervorgang. Aufgegeben war ihm durch Veit Dietrich, beim Durcharbeiten der biblischen Bücher alles das, „was dieselben in einem jeglichen Capitel für Lehr oder Exempel geben wurden (doch auffs kürtzste/ als nur derselben jnhalt/ sampt verzeichnus des Loci Communist oder Titels in marginel vnter welchen ein jede Lehr oder Exempel gehörte) in ein besonder Buch/ vnd noch ohn alle Ordnung" zu verzeichnen.39 „... vnder dem lesen" habe Vogel „allererst die meinung/ welche die Spruch vnnd Exempel/ auch Phrases heiliger Schrifft/ in ihrem wahren verstand/ einhellig gegeben/ mit kurtzen Propositionibus begriffen".40 Ein zweiter Lektüredurchgang sichert das Gefundene unter Einbeziehung der lutheranischen Doktrin dogmatisch ab, wobei Vogel Luther, Pomeranus, Melanchthon, Brentius, Urbanus Regius und Veit Dietrich konsultierte. Die Exzerpte hat Vogel sodann als Text miteinander verbunden und mit Hilfe eines zweiten, eines durchlaufenden explikativen Texts geordnet. Dieser behandelt die Ebene des ausgelegten Schriftsinnes und ist in einzelne Sätze (propositiones} gestückelt. Im Abschnitt „Von dem Predigtamt" etwa lauten drei propositiones: „Werden also die Menschen/ welche sonst von Natur Kinder des zorns sein/" - „Vnnd ohn die Widergeburt nicht mögen selig werden." - „Vom heiligen Geist im Kirchenampt/ durch Gottes Wort vnd Sacrament im Glauben/ zu Gottes Kindern vnd Erben widergeborn." Zu den propositiones stellt Vogel passende Schriftverse als biblisches Beweismaterial, wobei auch diese Zitate in einen fortlaufenden Text verschmelzen: „Die Menschen sind allzumal Sünder. [Rom. 3.] Auß sündlichem Samen gezeuget/ [Psal. 51.] Vnd fleischlich gesinnet/ [Rom. 8.] Vnd demnach von Natur Kinder des zorns/ [Ephes. 2.] Vnd des Tods. Dann fleischlich gesinnet sein/ ist der Tod. [Rom. 8.]".41 Diese „stehte cohcerential oder ordentliche zusammenfügung/ vnd Vereinigung der Biblischen Gezeugnus"42 ergibt eine systematisch geordnete und zweifach vertextete Exzerptensammlung, deren Text den inneren Zusammenhang der res abbildet. Als eigenständige Traktate handeln die Bände von den „fürnemen Articuln vnser Christlichen Religion", von den „heiligen zehen Gebott", „von dem Stand vnd Ampt weltlicher Obrigkeit", „von dem Haußregiment Christlicher Eheleut", „von dem Kirchenregiment" sowie „von allerley Creutz vnd Leiden", wie die Titelblätter jeweils zusammenfassen, und der siebte Band umfaßt „ein Kirchenhistoria/ allein auß der Bibel".

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OMNES Loci THEOLOGICI TESTIMONIIS VERBI DEI EXPLICANTVR & confirmantur, Tübingen: Gruppenbach 1592 [258 Theol. 2°], 1596 [Eb 26 2°], 1607 [Je 1402] und 1612 [Je 1403]. Vogel, Schatzkammer, Bd. I, Widmung, Bl. ):(2V. Ebda., Bd. I, An den Christlichen Leser, Bl. ):(6r. Ebda., Bd. I, S. 329. Ebda., Bd. I, An den Christlichen Leser, Bl. ):(6r.

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Vogels Anliegen ist, daß er „die wahre Catholische Christliche Lehr ... allein mit der heiligen Schrifft werten (in welchen Gott selbs redet) bestettigte/ vnnd erklärte".43 Seine loci hat er dabei „nicht in die Bibel hinein getragen/ sondern auß der Bibel/ als einem Heilbrunnen/ herauß geschöofft [l]".44 Und auch die Synthese des im Exzerpierakt Aufgelösten zum explikativen Text ergibt sich gleichsam von selbst. Der ,,Summarische[] Ausszug vnd General Register", in dem Vogel diesen Text aus dem Gesamtwerk in einen abschließenden achten Band herauszieht, stelle „nicht meine/ oder eines ändern Menschen/ sondern GOTtes selbs Lehr/ vermanung/ straff/ warnung vnd trost"45 dar. Der hermeneutische Auswahlakt beim Exzerpieren (ars inventiva) und die Topik der Anordnung (ars dispositiva) werden als erkenntnistheoretische Problembereiche dadurch ausgespart, daß das Objekt der Darstellung selbst, daß die Bibel die Begründungszusammenhänge liefert, weil „wie jmmer in heiliger Schrifft/ ein Spruch auß dem ändern herfleußt/ vnd sich selbs aufliegt vnnd erkläret".46 Jedes Vermittlungsproblem zwischen dem Schriftwort und dem exzerpierenden Bibelleser ist ausgeschaltet, denn nicht der Autor wählt aus und ordnet an, sondern Gott spricht unmittelbar aus dem biblischen Text. Dem Lutheraner ist wichtig, daß er dem Leser „die dunckle Spruch nicht anders/ dann durch andere helle vnnd klare Spruch/ gleicher heiliger Schrifft/ erklärte/ vnd also die Schrifft durch Schrifft auslegte".47 Die res sind allesamt klar, unklar sind manche verba: das ist konsequent lutherisch gedacht, ist doch die Schrift nach Luther „sui ipsius interpres".48 Das Verfahren verzichtet auf den Ordnungsanspruch der Universaltopik, es hat mit der Verwendung des ordo doctrinae die Umwandlung in einen neuen Text zum Ergebnis.49 Harmonisiert wird die Heilige Schrift mit der Konfession. Wieder steht 43 44 45 46

47 48

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Ebda., Bd. I, Widmung, Bl. ):(4r. Ebda., Bd. VIII, Widmung, Bl. ):(6r. Ebda., Bl. ):(4V. Ebda., Bd. I, Widmung, Bl. ):(5r; vgl. auch die Erklärung der Verkettung von Schriftstellen, die „solcher gestalt/ in einander geschlossen vnnd geflochten wurden/ daß jmmer ein Propositiol oder Tittel/ wie auch ein Spruch der Schrifft/ dem ändern/ nicht weniger/ als sonst in einer wolgeordneten Red oder Schrifft/ ein jeder Periodus dem ändern/ ordentlich nachfolgte/ vnnd anhieng/ vnd also durch die hell vnd klare/ die dunckle Spruch außgelegt/ vnd mit drauff volgenden Exempeln/ noch besser würden erkläret." Ebda., Bl. ):(3V. Ebda., Bd. I, Widmung, Bl. ):(5V. Karpp, Schrift, Geist und Wort Gottes (wie Anm. 4), S. 154f.; das Lutherwort WA 7,97,23. - Vogel betont in der Widmung des vierten Bandes, er habe sich „souil müglich gewesen/ gehüttet/ daß ich nicht mein eigene Wort mit vndermengte/ sondern beflissen/ lautier klare Gezeugnus vnnd Spruch heiliger Schrifft einzuführen". Vogel, Schatzkammer, Bd. IV, Widmung, Bl. ):(3r. Als bloßes Ordnungsprinzip verwendet den ordo doctrinae für seine Sammlung von „Parabeln und Gleichnissen" Caspar Titius, Loci THEOLOGIE ALLEGORICI Oder Gleichnis

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die Evidenz enzyklopädischer Ordnung in Zusammenhang mit der Evidenz einer Wahrheit, hier der lutherischen Glaubenslehre, die zur neuen Textur des Exzerpierten führt. Was hier durch Rückgriff auf die evangelischen Glaubenspositionen betreffend die Geltung der Schrift abgesichert ist, löst im katholischen Beispiel Lauretus durch strikten Traditionsbezug. Die katholische Bibelenzyklopädik hat das Dispositionsmuster des ordo doctrinae mit gutem Grund nicht verwendet, weil ihre Glaubenslehre gerade nicht ausschließlich aus der Bibel herzuleiten und damit deckungsgleich anzuordnen wäre. Bereits Lauretus benutzt daher die alphabetische Anordnung (ordo artificialis). Eine ausführliche Vorrede behandelt die ars definitiva allegorischer Schriftauslegung, „die in der mittelalterlichen Exegese bewährte Lehre von der allegorischen Signifikanz der biblischen und natürlichen res".50 Die ars inventiva setzt Lauretus nur in Maßen ein. Von vorneherein nimmt er nur auf, was die Autoritäten bereits als Allegorie erkannt haben: Saepe etiam invenies locum citatum pure absque ulla allegoria: ut intelligas, nobis quidem videri allegoriam ibi latere, sed nos earn non invenisse in ullo authore, quem nobis legere contigerit, nee voluisse fingere ex nostro capite, sed exercendis lectorum ingeniis praetermisisse.51 Die Autorität der kirchlichen Tradition löst im Katholizismus das Problem der individuellen exegetischen Kompetenz. Aber auch von manchen nicht nachgewiesenen Allegorien gilt nicht die Willkür des Autors, nicht die eigene, in der nachtridentinischen Kirche so sehr institutionell abgesicherte Autorschaft, vielmehr sind bisweilen während der Arbeit am Buch bloß die Nachweise verloren gegangen („sed per incuriam aliquando praetermissus est author")· Als Nachschlagewerk angelegt und damit auf die komplementäre Gebrauchskompetenz eines rhetorisch Gebildeten abgestimmt, kommt das Lexikon des Lauretus dennoch ohne Topik nicht aus. Die ars dispositiva äußert

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Kästlein/ Darinnen unter den gewöhnlichen Locis, als gewissen Fachen auffgehaben [sie]/ und zu finden allerley Schöne geistliche und anmutige Gleichnüß ... Mehrers theils aus Predigten/ Reiner und Gottseliger Kirchenlehrer zusammen gezogen, Wittenberg: Fincelius 1663 [HAB Wolfenbüttel: Theol. 4° (1)], Widmung der Erben des Autors, Bl. b2r. Barbara Bauer, Jesuitische ,ars rhetorica' im Zeitalter der Glaubenskämpfe, Frankfurt/ Bern/New York 1986 (Mikrokosmos 18), S. 478 zu Lauretus' Sylva allegoriarum. „,.. mihi in animo erat omnia complecti vocabula, in quibus aliquid allegoriae inveniri posset apud aliquem autorem alicujus notae, qui ad manus meas venisset." Lauretus, Sylva allegoriarum, Köln: Demen 1681 [Privatex.], Bl. *3V. - Die folgenden Zitate stammen aus der Vorrede, ebda., Bl. *3v-*4r.

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sich nicht im Alphabet der Lemmata,52 sondern in der Disposition der Artikel. Während etwa Domenico Nani Mirabellis Polyanthea nova (1503 u.ö.) oder Joseph Längs Florilegium (1598 u.ö.) die Nachweise zu den einzelnen Lemmata von der Bibel zu den antiken Klassikern und den Modernen fortschreitend, also dem Rang der Autoritäten gemäß gruppieren,53 verwendet Lauretus eine sachbezogene Topik der res significatae: „Hoc tantüm servare curavimus, nee tarnen perpetuo, ut quae de Deo dicuntur, primum haberent locum, deinde in Angelis, de bonis, de virtutibus: postremo de daemonibus, haereticis, & malis, ac vitiis."54 Somit verbindet sein Lexikon gemäß den fortlebenden Auslegungstraditionen der Gegenreformation die mittelalterliche Allegorik55 mit der Präzision der Konkordanz und mit der zumindest angedeuteten topischen Ordnung der einzelnen Lemmata. Ordo artificialis des Alphabets und ordo naturalis der Nachweise gehen hier eine genau umgekehrte Verbindung ein als bei Bullock, denn die Disponibilität des Bibelwissens geht vor dessen Verknüpfung mit dem enzyklopädischen Wissenschaftsparadigma.

III. Der Zwiespalt zwischen den Erfordernissen der Disponibilität und der wissenschaftlichen Evidenz durch methodische Ordnung kennzeichnet die Enzyklopädik des 17. Jahrhunderts und führt zur Ablösung topischer Systeme durch das Alphabet, das seinerseits topisch geordnete Lemmata zusammenhält. Auch die Bibelenzyklopädien konnten diesen Zwiespalt nur durch 52 53

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„Quoniam autem in tanta multitudine tumultarie collecta ordo servari non potuit, nisi alphabeticus, meritö Sylvae nomen indidimus libro." Ebda., Bl. *3V. Herangezogen wurden spätere Ausgaben: (Domenico Nani Mirabelli, Bartholomaeus Amantius, Franciscus Tortius und) Joseph Langius, FLORILEGII MAGNF, SEU POLYANTHEA FLORIBUS NOVISSIMIS SPARST, LIBRI XX. ... ELENCHUS Titulorum lotius Opens Epistolce nunc primum adjunctus, Straßburg: Lazarus Zetzners Erben 1645 [Privatex.]; Nanni, Polyanthea Opus suauissimis floribus exornatum compositum per Dominicum Nanum Mirabellium: Ciuem Albensem: artiumq3 doctorem ad cömunem vtilitatem. ... Anno 1507 [Kolophon: arte & impensis Petri Liechtenstein Coloniensis Germani] Venetijs [StB Kremsmünster: 2° Fy 31]; Nani, POLYANTHEA OPVS SVAVISSIMIS FLORIBVS EXORNATVM, authore Dominico Nano Mirabellio, Ciue Albense, artiumq; doctore, ad communem Reipublicae literarie, utilitate, longe quäm antea auctius factum, & ab innumeris erroribus uindicatum, Salingiacu [Solingen] excudebat loannes Soter, Anno M. D. XXXIX. [StB Kremsmünster: 2° Fy 32]. Lauretus, Sylva, Bl. *3V. „... der Unterschied zwischen einem allegorischen Bibelwörterbuch und Repertorien spiritueller Realbedeutungen verschmilzt, wenn man die mittelalterliche Bibelallegorese noch als gültigen Schlüssel zur heilsgeschichtlich bezogenen Weltdeutung anerkennt". Bauer, Jesuitische ars rhetorica (wie Anm. 50), S. 479.

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Kompromisse lösen, die zwischen der Anordnung der Artikel und deren innerer Disposition getroffen wurden. Die Kompendien verwenden entweder das Alphabet zur Reihung von topisch unterschiedlich streng gegliederten Sachartikeln oder die - lutherische - Glaubenslehre, um die res geordnet darzubieten, auf die die verba der Bibel verweisen. Weder der Universalitätsnoch der Ordnungsanspruch der „Ökonomien" lebt weiter fort, denn die Ordnung der Natur (ordo naturae), und das heißt: die Universaltopik, kann den Stoff der Bibel nicht mehr praktikabel organisieren. Für die Strukturierung der Lemmata dagegen ist sie noch von großem Vorteil, was der Jesuit Antoine de Balinghem (1571-1630)56 mit seiner topischen Erarbeitung der Bibel belegt. Das neue Verfahren, das er im Titel seines Buchs Scriptura Sacra in locos communes nova et commodiore quam hactenus methodo ... dlgesta (Douai 1621 u.ö.) signalisiert, besteht im umfassenden Ausbau der topischen Binnengliederung. Balinghem reklamiert mit den gleichen Argumenten wie Bullock für sich, endlich jene Ordnung geschaffen zu haben, die seinen Vorgängern fehlte: „Bislang nämlich wurde alles konfus und durcheinander unter irgendeinen Titel gestellt, wobei man weder die Ordnung der Natur noch die der Glaubenslehre („nullo ordine neque naturae, neque doctrinae") zu beachten schien".57 Der Vorzug seines Werkes bestehe in der vollständigen hermeneutischen Erschließung und Bereitstellung des Schriftsinns, im Ausbau der ars inventiva und der ars dispositiva. Was Sixtus in seiner Methodenlehre vorschlägt (vgl. methodus 3: „De syllabica exponendi ratione"), liefert Balinghem als Ergebnis zum Nachschlagen. Das Werk ist ein Alphabetum morale mit dem Anspruch der vollständigen Bibelaufarbeitung. Die kirchliche Auslegungstradition gewährleistet die Verbindlichkeit der Auslegung („omne ä bonis authoribus"), und die Zweckorientierung ist für die Kürze der Belegstellen verantwortlich, da es Zeit58 56

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Antoine de Balinghem, SCRIPTVRA SACRA IN Locos COMMVNES NOVA ET COMMODIORE QVAM HACTENVS METHO- do cum interpretatione difficiliorum digesta. ET TOMIS DVOBVS PROPOSITA, IN QVORVM I. Pro quavis materia Sententiae, II. Exempla, Orationes etiam & Aspirationes, turn ex vetere turn novo Testamente apte copioseque incredibili cum omnium verbi Dei amantium, turn maxime Concionatorvm commodo & utilitate referuntur, unoque hoc volumine comprehenduntur, Köln: Wilhelm Friessem 1659 [StB Kremsmünster: 4° Bc 170]. - Vgl. Augustin u. Aloys de Backer, Bibliotheque de la Compagnie de Jesus, hrsg. v. Carlos Sommervogel. Premiere Partie: Bibliographie, Nouvelle Edition, Brüssel/Paris 1890-1900, Bd. l, Sp. 831-841; zu den Ausgaben der Scriptura Sacra ... digesta Sp. 836, Nr. 18: Douai: Balthasaris Belleri 1621, 2°, 2 Bde; Köln: Friessem 1659; Paris: Joh. Boudot 1705; Leiden 1711; etwas abweichend davon die Angaben bei Le Long, Bibliotheca Sacra, Bd. 2, S. 624. „Hactenus enim confuse universa atque permixtim sub aliquo uno titulo, nullo ordine neque naturae, neque doctrinae seruato videntur collocata". Balinghem, Scriptura, Bl. ++2r. „... quia non omnibus vacat (potissimum concionatoribus, atq; pastoribus quos hie noster qualiscüque labor spectat maxime)". Ebda., Bl. ++4r.

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und Mittel des geistlichen Lesers zu schonen gilt. Die neuartige Bereitstellung der biblischen res („rerum singularum suas in partes distributionem") erfolgt durch genaueste topische Gliederung der Artikel,59 was etwa beim Lemma „Peccatum", dem mit über fünfzig Seiten längsten des Kompendiums (S. 671-722), nicht weniger als 32 Unterkapitel erforderlich macht. Der Verlust des Gesamtzusammenhangs, den das Abdanken der Universaltopik bedeutete, wird hier durch die topische Organisation der Lemmata kompensiert. Die Verschiebung der topischen Organisationsform von der Gesamtdisposition in die einzelnen Artikel hinein bewahrt die biblischen Handbücher davor, zu bloßen Konkordanzen zu werden und den Ordnungsanspruch aufzugeben, den die Topik in Bezug auf die res behauptet hatte. Daß schon vor der Mitte des 17. Jahrhunderts, wie auch die alphabetisch geordnete Zweitauflage von Zwingers/Beyerlincks Theatrum Vitae Humanae belegt, die topische Darbietung der res in enzyklopädischen Kompendien60 und auch in der Bibelenzyklopädik selbst in Frage steht, zeigt sich an zwei ausführlichen Beigaben Balinghems. Als zweigeteilte Praeparatio ad locos communes bringt Balinghem eine umfangreiche biblische Inventionslehre für den Prediger (S. [lj-117) und eine geistliche Hermeneutik (DE INTELLIGENDI Atque tractandi Sacras Litteras Ratione, S. 118-[136]). Der Buchtyp des enzyklopädischen Kompendiums konnte für sich selbst die Verweise der biblischen verba auf die res nicht mehr überzeugend zusammenfassen, die topische Ordnung verlor ihre wissenschaftliche Evidenz. Ihr muß erneut eine Hermeneutik beigegeben werden. Insgesamt verlagert sich der wissenschaftliche Anspruch der Enzyklopädik vom Problem der systematischen Wissensordnung zum Problem der summarischen Texterfassung und des Aufweises der „Binnenreferentialität innerhalb eines Universums aus Texten",61 hin also zu Polymathie und Polyhistorismus des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Wenn der Verzicht auf 59

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„Principiö enim ea ponentur quae cujusque rei naturam spectabunt, ut sunt genus, differentia, causa? reique principia, & caetera quae ad ista possunt reuocari, ut definitiones quas vocant nominales: quseque rei explicandae conducunt, ut sunt ea quibuscum ipsa confertur. Turn ad effecta fiet progressio, atque in ijs quidem princeps dabitur locus ijs, ä quibus animus simul cum corpore afficitur; inde fiet transitio ad ea quae in intellectu, deinceps ad ea quas in voluntate, memoria, corpore recipiuntur, postmodum ea proponentur effecta quae honorem, quae famam, quae filios, & propinquos, quae posteros, quae alienos spectant. Et quoniam res duplicem habent considerationem, absolutam & relativam: illam tanquam priorem consequetur ista. Extremo autem loco collocabuntur rerum inter se Antitheses, & ad virtutem colendam, vitij fugam cohortationes tanquam rebus extrinsecae." Ebda., Bl. ++2r. Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica universalis, S. 65 zu Beyerlinck: „Bei der zweiten Auflage des Theatrum, 1656, war der universalwissenschaftliche enzyklopädische Kredit der Topik schon weitgehend verspielt." Christoph Meinel, Enzyklopädie der Welt und Verzettelung des Wissens: Aporien der

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metaphysisch verankerte Wissenssysteme und die empirische Isolierung des Einzelfaktums den wissenschaftlichen Fortschritt des 17. Jahrhunderts bezeichnet, so heißt Faktizität im Bereich der Bibel: die Faktizität des Textes als philologischer Fall. Nach Spinoza und Richard Simon, nach dem Einbrechen der Bibelkritik, einer Schwelle, die nach Reinhart Kosellecks klassischer Untersuchung Kritik und Krise62 mit jener zur Aufklärung zusammenfällt, erfährt die Bibelenzyklopädik über die Unbrauchbarkeit einer auf die Bibel übertragenen Universaltopik hinaus die Unlösbarkeit des Unterfangens, in einem einzigen Buch die res-verba-Beziehungen umfassend darzustellen. Die Problematik verschiebt sich vom topischen Findeverfahren auf die philologische Quellenarbeit. Das novitas-Argument Balinghems zielte noch auf die detailfreudigste topische Verortung der Bibelverse, das novitas-Argument etwa des Robertus Cameracensis63 beruht schon auf dessen philologischer Akribie. Seine Universalis aurifodina scientiarum divinarum hwnanarumque (zuerst 1680), keine Bibelenzyklopädie, sondern eine Sentenzensammlung, entspricht dem Aufbau zahlreicher ähnlicher Spezialsammlungen, v.a. für die Prediger, und bietet alphabetisch gereihte Artikel zu Themen vornehmlich aus der Moraltheologie. Höchste Präzision waltet in den Sachartikeln, von der Durchnumerierung der Nachweise bis zu einem ausgefeilten System von Binnenverweisen.64 Die Autoren sind alphabetisch gereiht, die Fundstellen jeweils aufs Genaueste zitiert. Der ausufernden Überlieferung, aus der seine Vorgänger unkritisch „de manu ad manum, de libro ad librum, de loco ad locum, sive certum, sive incertum"65 geschöpft haben, setzt er das humanisti-

Empirie bei Joachim Jungius, in diesem Band, S. 167. Meinel spricht vom Gegensatz zwischen (polyhistorischer) „Summe" und (enzyklopädischem) „System". 62 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/M. 1973 (stw 36), S. 87ff. über Richard Simons Histoire Critique du Vieux Testament (1678). - Simon schuf mit seinem Grand Dictionnaire de la Bible (2 Bde., Lyon 1693, 21703) das erste biblische Reallexikon, gefolgt von Calmet (s.u.). LThK2, Art. „Bibellexika", Bd. 2, Sp. 367-370, zit. Sp. 369. 63 Robert von Cambrai OFMCap: LThK2 VIII/1336; Lexicon Capuccinum. Promptuarium Historico-Bibliographicum Ordinis Fratrum Minorum Capuccinorum (1525-1950), Rom 1951, Sp. 1479. 64 Vgl. das Lemma „LINGUA" mit seinen 117 Nummern: der „Definitio" (hier nach dem Hl. Bernhard) folgen die „Sententiae Patrvm" und die „Sententiae Paganorvm", woran sich Verweise auf die Lemmata Detractio, Domare, Eloquentia, Laus Dei, Locutio, Maledictio, Monachus, Mores, Passio Christi, Pax, Reus und Vaniloquium anschließen. Robertus Cameracensis OFMCap, UNIVERSALIS AURIFODINA SCIENTIARUM DIVINARUM HuMANARUMQUE Quae ex aureis SS. Patrum, Conciliorum, Doctorum, nee non Philosophorum, Paganorum fere ducentorum visceribus eruta; Sententiarum plus quam octoginta millia, sub titulis septingentis & ultra, Theologica simul & philosophica Ordine alphabetico digesta, copiosisssime [sie] suppeditat, 2 Bde., Köln: Wilhelm Metternich 1700 [StB Kremsmünster: 2° Bb 30], Bd. l, Liber X, S. 890-893. 65 Ebda., COLLECTOR AD LECTOREM, Bl. ++3'-++[4]r.

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sehe Quellenprinzip entgegen. Er selbst habe nämlich die Bücher gekauft und in vierzehnjähriger Arbeit philologisch korrekt exzerpiert, seine Sammlung sei „ex fontibus aureis hausta" (ebda.). Der Buchtyp bleibt gleich, neu ist die textkritische Exaktheit. Der Text der Überlieferung selbst ist zum Gegenstand wissenschaftlichen Tuns geworden, da er womöglich verderbt ist, und Robertus verwendet die neuesten Ausgaben und die neuesten philologischen Standards, um dem gegenzusteuern. Das einige Jahre später erschienene Gegenstück, die der Bibelerschließung gewidmete Aurifodina universalis scientiarum divinarum (Lilie 1696), ist nichts anderes als eine Konkordanz, deren hohe philologische Präzision noch 1879 eine Neuauflage sinnvoll erscheinen ließ.66 Das obsolete System sollte durch neue Genauigkeit gerettet werden, als ob die Philologie das Schwinden des Bezeichneten bannen hätte können. Analog zur Differenzierung von Fachlexika gegenüber den Enzyklopädien trennen sich spätestens um 1700 die Handbücher für die Praxis, in denen die topischen Teilsysteme der Moral- und Pastoraltheologie weiterhin die Darbietung des Materials strukturieren, von den enzyklopädischen Bibellexika mit wissenschaftlichem Anspruch. Kritische Präzision ist nur mehr um den Preis zu haben, die Adressatengruppe der Pastoraltheologie zu verlieren. Das Dictionarium historicum, criticum, chronologicum, geographicum, et literale sacrae scripturae (Paris 1719-1722, lat. Augsburg/Graz 1729) von Augustin Calmet (1672-1757) verweist diese Leser auf die Konkordanzen, die Predigthandbücher, die „Dictionaria Moralia". Er selbst versteht sich als Philologe („Potissimus nobis scopus litera, historia, critica"), sein eigenes Bibellexikon gehorche den Standards der Bibelkommentare.67 Die Problematisierung der Textüberlieferung weist auf das neue wissenschaftliche Paradigma 66

AURIFODINA SACRA SCIENTIARUM DIVINARUM Ex FONTIBUS AUREIS UTRIUSQUE TESTAMENTI ERUTARUM A V. P. ROBERTO Cameracensi Capucino Cui ACCESSERUNT TITULI Novi PLUSQUAM QUINQUE MlLLIA ET SENTENTI/E SUPER QuiNQUAGINTA MlLLIA EOITIO SECUNDA, 2

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Bde., Paris 1879. Die Erstausgabe war mir nicht zugänglich; die Neuauflage enthält keine Vorrede, die über Verfahren und Ziel des Autors Auskunft gäbe. Auch hier sticht das System der Querverweise hervor (INDEX ThuioRUM COMPARATIVUS, Bd. 2, S. 578ff.). - Vgl. als Beispiel für die umfangreichen, auf Vollständigkeit und Genauigkeit bedachten Nachschlagewerke des Polyhistorismus Petrus Franciscus a Conceptione SP, POLYGRAPHIA SACRA, SEU ELUCIDARIUM BIBLICUM HISTORICO-MYSTICUM, In quo Omnes & singulae Divinarum Scripturarum voces secundum sensum Litteralem, Anagogicam & Moralem ordine Alphabetico ex fontibus tum Hebraicis, tum Graecis ac Latinis, ex optimisque Sacrae Paginae Interpretibus sie explicantur & enarrantur, ut quilibet Divini Verbi Studiosus hie facillimo negotio reperiat, quidquid in aliis prope innumeris & vastissimis hujus generis voluminibus, non sine maximis sumptibus & laboribus inquirere hactenus consuevit, 19 Tie. in 4 Bdn., Augsburg/Graz: Philipp, Martin u. Johannes Veith 1722-25 [StB Kremsmünster: 2° Bc 226]. „Parüm hie ad asceticam; suae enim sunt Concionatoribus Concordantiae Latinae, & Dictionaria Moralia eorum votis abunde respondentia, Potissimus nobis scopus litera, histo-

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hin, in dem für die topische Wissensorganisation kein Platz mehr ist. Wenn Calmet in der Vorrede die Tradition der Bibelenzyklopädik mustert und seine Vorgänger verwirft, so erwähnt er auch Bullocks Oeconomia, die zwar den Predigern und Moraltheologen noch nützlich sei, dennoch ob ihrer Weitläufigkeit und ihrer zu eigenwillig und sklavisch befolgten Methodik unbequem.68 Die Verabschiedung der topischen Wissensorganisation und die philologische Problematisierung der gedruckten Überlieferung gehen Hand in Hand, das Schrifttum zur Bibel wird zum Text unter Texten. Während Balinghem, der Evidenz enzyklopädischer Aufbereitung bereits mißtrauend, noch eine ergänzende Methodik des Bibelstudiums entworfen hatte, bringt Calmet zu diesem Thema eine Bibliographie.69 Philologie und Theologie - bei Calmet sind sie bereits klar geschieden. Auch die Bibel selbst wird von der Begründungsquelle wissenschaftlichen Tuns zum philologischen Anwendungsbereich, wird vom metaphysischen Ausgangspunkt zum wissenschaftlichen Gegenstand. Der Textcharakter der Bibel, Ergebnis des Druckwesens, holt gewissermaßen ihre enzyklopädischen Aufbereiter ein. Dies geschieht spätestens mit der bibliographischen Erfassung der Bibelausgaben, ihrer Kommentare und ihrer Erschließungsinstrumente durch Jacques Le Long (1665-1721). Sixtus' Bibliotheca Sancta war mit der methodologischen Entfaltung des Umgangs mit der Bibel im Zeitalter des Druckes befaßt, Le Longs Bibliotheca Sacra (Paris 1702, 21709)70 mit der bibliographischen Bändigung der daraus resultierenden Produkte. Sixtus'

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ria, critica." Augustin Calmet, DICTJONARIUM HISTORICUM, CRITICUM, CHRONOLOGICUM, GEOGRAPHICUM, ET LITERALE SACIL« SCRIPTURE, Cum figuris Antiquitates Judaicas repraesentantibus, ... e Gallico in Latinum translatum, & nonnihil expurgatum. AB R. P. D. JOAN. DOMINICO MANSI, 2 Bde., Augsburg/Graz: Philipp und Martin Veith und Johannes, Bruder der Erben 1729 [StB Kremsmünster: 2° Bc 204], Bd. l, Praefatio, Bl. (a)5v. Vgl. zur Verwissenschaftlichung des Umgangs mit der Bibel die Absichtserklärung, „ut Dictionarium Biblicum eodem consilio, quo Commentaria in S. Scripturam, ederemus, literae nempe potissimum, historiae, & criticse inhärentes; adjecta difficilium vocum explicatione, collatis inter se hebraico simul & Vulgatae Textibus." Ebda., Bl. (a)5r. - Die frz. Erstausgabe erschien in Paris 1719 (LThK2 Bd. 2, Sp. 886) bzw. 1722 (Friedrich Wilhelm [ab Bd. 2: Traugott] Bautz, Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Hamm [ab Bd. 2: Herzberg] 1975ff., Bd. l, Sp. 864f.), eine weitere Ausg. in 4 Bänden 1730; von den zahlreichen lat. Ausg. finden sich in der StB Kremsmünster Venedig 1734, Augsburg 1736, 1738 und 1776, zudem eine dt. Ausg. Liegnitz 1751-54. „Opus est quantum Concionatoribus, atque de rebus moralibus agentibus utile, tantüm prolixitate sua, atque methodo nimis servili & morosa, incommodum." Ebda., Bl. (a)4rf. BIBLIOTHECA SACRA, SIVE CATALOGUS OPTIMOKUM LIBRORUM Studio Sacrce Scripturce servientium. Ebda., S. 1-68. Jacques Le Long, BIBLIOTHECA SACRA IN BINOS SYLLABOS DISTINCTA: QUORUM PRIOR Qui JAM TERTIO AUCTIOR prodit, omnes sive Textus sacri sive Versionum ejusdem quävis Linguä expressarum Editiones; nee non praestantiores MSS. Codices, cum Notis historicis & criticis exhibet. POSTERIOR VERO CONTINET OMNIA EORUM OPERA quovis idiomate conscripta, qui hue usque in sacram Scripturam quidpiam ediderunt, simul collecta tum

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Bibliotheca Sancta vereinigte Theologie, philosophische Hermeneutik und Philologie, Le Longs Bibliotheca Sacra ist - nach den Begriffen der frühneuzeitlichen Enzyklopädik: nur mehr, nach dem heutigen Wissenschaftsparadigma: bereits - ein bibliographisches Handbuch. Wenn die frühneuzeitlichen Enzyklopädien „Ordnungsentwürfe zur Strukturierung der expandierenden Textvielfalt"71 darstellten, so sind die Werke eines Calmet und Le Long Instrumente zur Strukturierung der expandierenden Vielfalt biblischer Sekundärliteratur. Die Bibelenzyklopädik vollzieht damit nach, was an ihrem Beginn das Konzept der Bibliotheca universales motivierte: die Ordnung der Texte und ihre Inbezugsetzung angesichts der medialen Flut. Durch das Druckwesen wurde der Text der Bibel verbindlich und zugleich Anlaß einer neuen unüberschaubaren Menge von Texten, durch die Philologie geriet er in Frage. Die Bibelsammlungen des 18. Jahrhunderts sind nicht zuletzt als „Zeichen tiefer Unsicherheit gegenüber der Bibel als Buch und Wort Gottes" zu deuten, „einer Verunsicherung auch dem Wortlaut der Bibel gegenüber".72 Mit Sixtus und Le Long sind zwei historische Einschnitte in der Geschichte der Bibel bezeichnet, die Anfang und Endpunkt der enzyklopädischen Bibelerschließung im konfessionellen Zeitalter markieren. „WJr leben anjetzo in Lexicon- und /oarna/en=Tagen", befand die Rezensionszeitschrift Neue Bibliothec im Jahre 1715, und die „Sache", die da kritisiert wurde, weil sie „gar zu ungereimt heraus kommt", war Johann Hungers Biblisches RealLexicon (Chemnitz 1715-19).

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ordine Auctorum alphabetico disposita; turn serie sacrorum Librorum. Hvic CORONIDIS Loco SVBJICIVNTVR GRAMMATICS ET LfixicA LiNGUARUM, Pracsertim Orientalium, quae ad illustrandas sacras Paginas aliquid adjumenti conferee possunt, 2 Bde., Paris: Antonius Urbanus Coustelier 31723 [StB Kremsmünster: 2° B 1], ausführlicher als die von Christian Friedrich Boerner besorgte Ausg. Antwerpen 21709 [StB Kremsmünster: 8° B 1]. Zedelmaier, Bibliotheca universalis, S. 242. Reinitzer, Biblia deutsch (wie Anm. 18), S. 306.

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Willibald Kobolt: Die Groß= und Kleine Welt (1738)

Über Willibald Kobolt wissen wir nur sehr wenig.1 Am 11. April 1676 zu Konstanz geboren, trat er 1694 in den Benediktinerorden ein und feierte am 17. Oktober 1700 seine Primiz. In Weingarten war er bis zu seinem Tod am 6. 11. 1749 als Professor der Theologie und Physik und als Ordinari-Prediger tätig; die ihm nachgesagte eingehende Beschäftigung mit den Naturwissenschaften und der Alchemie dürfte sich wohl nur aus seinen Schriften und auch hier nur auf vordergründige Weise ableiten lassen.2 Auch die Behauptung, er habe eine „recht emsige schriftstellerische Tätigkeit" entfaltet,3 entbehrt einer tragfähigen Grundlage. Neben zwei Übersetzungen von Erbauungsbüchern4 kennen wir nur fünf weitere Werke von ihm: außer der im folgenden vorzustellenden Enzyklopädie hat er vier weitere anthologieähnliche Schriften verfaßt. Der Hortus Allegoricus (1737) enthält 300 Gleichnisse oder Allegorien.5 Ein nach demselben Prinzip zusammengestelltes Poma1

Den gegenwärtigen Forschungsstand repräsentiert Elfriede Moser-Rath, „Schertz und Ernst beysammen". Volkstümliches Erzählgut in geistlichen Schriften des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Volkskunde 61,1965, S. 38-73, hier S. 53-62. Die Ausführungen konzentrieren sich vor allem auf Kobolts Sammlung Schertz und Ernst (s.u.); die bibliographischen Angaben fußen auf Pirmin Lindner, Professbuch der Benediktiner-Abtei Weingarten, Kempten/München 1909, S. 66f., und sind nicht vollständig. - Der folgende Beitrag ist gegenüber der auf dem Symposion vorgetragenen Fassung erweitert und um einige Gesichtspunkte ergänzt; dabei sind einige Anregungen aus der Diskussion mitberücksichtigt. 2 Diese Behauptung dürfte sich im wesentlichen auf Kobolts Groß= und Kleine Welt (s.u.) stützen; dieses Werk enthält auch einen alchemistischen Exkurs: Anhang zu dem Gold/ von dem Goldmachen (S. 95-98). 3 Moser-Rath, Schertz und Ernst (wie Anm. 1), S. 53, mit Hinweis auf fünf Titel (teilweise nach Lindner, Professbuch). 4 Joachim le Contat, Erneuerung des Geistes durch zehntägige geistliche Übungen, Augsburg/Graz 1734 (nach Lindner, Professbuch); Christlicher Hauß=Prediger Oder Lehr= und Geistreiche Betrachtungen, Erklärungen, und Gebett Über die Sonn= und Feyrtägliche Evangelia, Augsburg 1731. Laut Vorwort handelt es sich um eine bearbeitete Übersetzung eines Werkes des Salzburger Benediktiners Franciscus Metzger (freundlicher Hinweis Inge B. Milfull, Eichstätt). 5 Hortus Allegoricus Oder Neu=angelegter sittlicher Blumen=Garten Mit Etlich Hundert Auserlesenen Sinn= und Lehrreichen Allegorien Oder Gleichnussen Als mit eben so viel schön= und wohlriechenden Blumen besetzt und ausgezieret, Augsburg: Veith u. J. H. Müller 1737 [BSB München: 4 Asc. 521]; nicht bei Lindner und Moser-Rath.

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Hum morale allegoricum folgt 174l.6 Die Sammlung Etliche Hundert Geistliche Waitzen-Körnlein (1746)7 ist ein Florilegium mit 500 Zitaten aus den Schriften vor allem der Kirchenväter, wobei Kobolt auf konsequente und durchgängige Quellenangaben verzichtet. Deutlich auf die Gattung der Exempelsammlung verweist schließlich als Abwechslung von hundert und achtzig kurtz- und curieusen Geschichte und Fahlen Kobolts letzte Schrift Schertz und Ernst beysammen (1747).8 Als „Fablen" bietet Kobolt allerdings nicht nur Tierfabeln, sondern auch Schwanke und andere eindeutig fiktionale Kurztexte, die „Geschieht" hingegen ist das historisch verbürgte oder als solches geglaubte Exempel. Die Texte erscheinen nicht als in sich abgeschlossene Sinneinheiten, sondern werden stets von einleitenden und/oder abschließenden Kommentaren eingerahmt, in denen Kobolt die jeweils intendierte Lehre deutlich herausstellt.9 Das im Rahmen der Enzyklopädik bedeutsame Werk Kobolts ist seine 1738 erschienene Enzyklopädie Die Groß- und Kleine Welt.10 Im folgenden sollen der Aufbau des Werkes und Kobolts Darstellungsart sowie sein Umgang mit den Quellen und sein Verhältnis zur Tradition analysiert werden. Ausgehend von der Frage nach dem Adressatenkreis und der intendierten Funktion der Enzyklopädie ist abschließend Kobolts besonderer literarhistorischer Stellenwert herauszuarbeiten. 6

Pomarium Morale-Allegoricum. Oder Neu-gepflantzter sittlicher Baum=Garthen/ Mit 300. auserlesenen Allegorien, oder wohl=ausgeführten Gleichnussen/ als mit eben so vilen fruchtbahren Bäumen besetzt. Zum Lust und Nutzen aller Geist= und Weltlichen Stands=Personen, absonderlich zur Bequemlichkeit deren Prediger gewidmet/ mit zwey= fachen Registeren versehen/ und in Drey Theil abgetheilet, Konstanz: Neyer 1741 [ÜB Eichstätt: B 6. 169942]. 7 Etliche Hundert Geistliche Waitzen=Körnlein Den Acker des Hertzens zu besäen. Das ist: Etliche Hundert Lehr= und Geistreiche Sprüchlein, Auß Vil. HH. Vätteren und Asceten gezogen, und in Druck gegeben, Ravensburg: Herckner 1746 [BSB München: Asc. 5513 a]. 8 Schertz und Ernst beysammen. Das ist: Eine Abwechslung von hundert und achtzig kurtz= und curieusen Geschicht= und Fablen, Mit Allzeit beygefügter anständiger Sitten=Lehr Zum Lust und Nutzen Aller geistlich= und weltlichen Stands=Persohnen vorgetragen, Augsburg: Rieger 1747 [BSB München: L. eleg. m. 466c]. 9 Sehr skeptisch ist das Münchener Exemplar von einem Benutzer des 19. Jahrhunderts beurteilt worden. Der Besitzervermerk lautet: „Ex libris Conradi Heringi, Studiosi litt. ad St. Stephani Augustae Vind., qui hanc mixtam et compositum libellum ,Schertz und Ernst' summa cum indignatione perlegit, neque vero laetas atque suaves narrationes, quas in ista scriptura coaretatas desideraverat reperit; quare unicuique, in cujus manus istud scriptum incidat, ex toto animo suadet, ut istud quam celerrime abjiciat in obscurissimum receptaculum ejusque obliviscatur. die 22 Sept. 1873 Bobinge, prope Augustam Vind. Conrad Hering." 10 Kobolt, Groß= und Kleine Welt, Augsburg: Veith u. Happachische Interessenten 1738 [BSB München: 2° Asc. 61m]; die im Text angeführten Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Werk.

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Kobolts Enzyklopädie zeichnet sich durch ein recht informatives Titelblatt aus, das alles Wesentliche über Inhalt, Aufbau und Intention der Schrift mitteilt: Die Groß= und Kleine Welt, Natürlich^ Sittlich^ und Politischer Weiß zum Lust und Nutzen vorgestellt, Das ist: Der mehrist= und fürnehmsten Geschöpffen natürliche Eigenschafften, und Beschaffenheit, auf die Sitte, Policey und Lebens=Art der Menschen ausgedeutet. Ein Werck, welches in 4. Theil abgetheilt ist mit mancherley curios- und nutzlichen mehrentheils allegorischen Concepten, Moralien, Geschieht und Fabeln versehen; mithin zur Auferbaung und Ergötzlichkeit aller Gelehrt^ und Ungelehrten/ Geistlich= und Weltlichen Stands=Personen/ auch zu sonderer Bequemlichkeit deren Prediger gewidmet. In der Vorrede erläutert Kobolt sein Programm ausführlicher. Als „grosse Welt" versteht er im Gegensatz zu den Geographen nicht den Erdkreis, wie er auf Landkarten dargestellt wird, sondern den Makrokosmos, das Universum, also im Sinne der Philosophen „die gantze Versammlung aller erschaffenen Dingen" (Bl. )()(2V). Die „kleine Welt" ist der Mensch; die dieser Vorstellung zugrundeliegende Theorie vom Zusammenhang zwischen dem Makro- und dem Mikrokosmos11 entfaltet Kobolt in aller Breite am Ende des zweiten Teils (S. 279-294), in dem er den Menschen behandelt, nachdem er zuvor im ersten Teil „die Himmels=Gestirn/ die vier Elementen/ Meteora oder Lufft=Gesichter/ die Mineralia oder Metallen/ die Edelgestein und Erd= Säfft" (Bl. )()(2r) vorgestellt hat. Der dritte Teil ist den Tieren, der vierte schließlich den Pflanzen gewidmet. In dieser Anordnung der Materie sind zwei Prinzipien verschränkt. Da das Buch mit einem Kapitel über Gott, die Gottesmutter und die Engel einsetzt, ist einerseits eine fallende Linie zu beobachten. Auf die himmlischen Wesen folgt der Mensch, der mit jenen den Verstand gemeinsam hat, dann die Tiere, „welche sich in dem mitleren Grad des Lebens befinden" (ebda.) und mit denen der Mensch die Empfindlichkeit gemeinsam hat, und am Ende die Pflanzen: „Jn dem dritten oder untersten Grad des Lebens befinden sich die wachsende unempfindliche Geschöpf/ als da seynd die Bäum/ Krauter/ und Blumen etc." (S. 539). Der Schritt vom Makro- zum Mikrokosmos, vom Großen zum Kleinen, führt jedoch dazu, daß „die lebenlosen Dinge", mit denen der Mensch nur „das Wesen oder die Wesenheit" (Bl. )()(2r) gemeinsam hat, gleich im Anschluß an die himmlischen Wesen vorgeführt werden und nicht erst nach den Pflanzen, wie es dem Prinzip der hierarchischen Abstufung von regnum minerale,

11

Die maßgebliche ältere Forschungsliteratur verzeichnet Michael Schilling, Imagines Mundi. Metaphorische Darstellungen der Welt in der Emblematik (Mikrokosmos Bd. 4), Frankfurt/M. u.a. 1979, S. 43, Anm. 11.

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vegetabile und animate entsprechen würde. Mittelalterliche Autoren verfahren in dieser Hinsicht zum Teil konsequenter als Kobolt. So gliedert etwa Vinzenz von Beauvais sein Speculum naturale nach der Abfolge der Schöpfungstage, widmet dem Menschen deshalb die letzten Bücher seiner Enzyklopädie, während Thomas von Cantimpre mit den Büchern über den Menschen sein Werk eröffnet, dann in absteigender Folge vierfüßige Tiere, Vögel, Fische, Pflanzen und schließlich die unbelebte Natur behandelt. Bartholomaeus Anglicus und die von ihm abhängigen Autoren, darunter auch Petrus Berchorius, orientieren sich zuerst an der absoluten Hierarchie, äußern sich also zuerst über Gott, die Engel und den Menschen, bevor sie (nach einem kosmologischen Zwischenspiel) der Ordnung der Elemente folgen und über die Luft und die Vögel, das Wasser und die Fische sowie die Erde und die auf ihr lebenden Tiere und Pflanzen schreiben.12 Die einzelnen Teile in Kobolts Enzyklopädie, unter denen der dritte mit etwa 245 Seiten der umfangreichste ist, setzen sich aus bis zu zehn „Capiteln" zusammen, die wiederum in verschiedene „Absätze" gegliedert sind. Ein konsequentes, durchgängig systematisches Gliederungsprinzip läßt Kobolt dabei nicht erkennen; die meisten Absätze sind nur einem Gegenstand gewidmet - so handelt 111,1.1 „Von dem Löwen" -, manche bieten Ausführungen über mehrere Themen: so läßt Kobolt sich in 111,8.10 über „Phoenix und Par adeyß=Vogel" aus und erläutert in 111,5.2 unter der Überschrift „von noch etlich ändern Fischen" Aal, Lachs, Forelle und Felchen. Offensichtlich zielt Kobolt nicht auf enzyklopädische Breite und schon gar nicht auf Vollständigkeit in der Behandlung der verschiedenen Sachbereiche ab, sondern fühlt sich einem gewissen Prinzip der Kürze verpflichtet und läßt sich dabei vom Deutungspotential der Gegenstände und seinen diesbezüglichen Kenntnissen leiten. Die beiden Kapitel über die Fische, in denen Kobolt insgesamt 18 verschiedene Arten abhandelt, beschließt er mit dem Eingeständnis: Noch viel andere Fische thue ich theils Kürtze halber mit stillschweigen umgehen/ theils der Ursachen weilen ich keine sonders merckwürdige Eigenschafften an ihnen finde/ welche füglich auf die Sitten der Menschen möchten ausgedeutet werden (S. 403). Mit entsprechenden naturkundlichen Werken kann und will Kobolt offensichtlich nicht konkurrieren. Während Conrad Gesner in seinem Vogelbuch über 100 Vögel vorstellt, beschränkt sich Kobolt auf 38 und räumt abschließend ein:

12

Zu den mittelalterlichen Enzyklopädien und ihren Ordnungsprinzipien zuletzt Meier, Grundzüge; Meyer, Bartholomäus Anglicus; Meyer, Enzyklopädik und Allegorese, bes. S. 294-299; Meyer, Werkdisposition und Kompilationsverfahren.

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Es kunte noch viles von unterschiedlichen/ in Teutschland mehrentheils unbekandten Art= und Gattungen der Vöglen gemeldet werden/ wie in Doctor Gesners Vogel=Buch/ in Aldrovandi Ortinologia [!], und bey ändern Naturalisten mehr zu sehen ist. Mir aber/ der ich nichts anders intendirt habe/ als auch von diser Materi ein kleine Notitiam, samt einigen nutzlichen Reflexionibus oder geistlichen Anmerckungen zu geben/ seye dises Wenige hiervon genug (S. 516). Daß das Prinzip der Kürze der Deutungskompetenz meistens nachgeordnet ist, zeigt sich auch daran, daß Kobolt manche Kapitel mit einem „Anhang" beschließt, um „hin und wider etwas curioses einzumischen/ und dardurch den Lust des Lesers anzureitzen" (Bl. )()(2V). So folgt auf den „Absatz von dem Haar und Bart" ein Anhang... von den Peruquen und kahl- oder GlatzKöpffen (S. 220-222), dem Absatz über die Füße des Menschen schließt sich ein Exkurs Von Dem Tantzen und Podagra (S. 234-238) an; insgesamt schiebt Kobolt 24 solcher Exkurse in sein Werk ein, die sich in der Durchführung nicht von den „Absätzen" unterscheiden, sondern ebenfalls mit „sittlicher Application" (Bl. )()(2V) geboten werden. Auch seine Art der Darstellung erläutert Kobolt in der Vorrede: Dise [Dinge]/ sage ich/ thue ich vorstellen auf dreyerley Art/ natürlich/ sittlich und politischer Weiß. Natürlich zwar/ weilen ich die natürliche Eygenschafften der Creaturen beschreibe: Sittlich aber/ weilen ich insgemein die natürliche Eygenschafften geistlicher Weiß auslege/ und durch vielhundert allegorische Conceptlein oder Gleichnussen theils auf die Tugenden/ theils auf die Laster appliciere/ und anbey dem christlichen Leser zeige/ wie daß er auch von den unvernünfftigen Thieren ja auch von den empfindlichen Creaturen viel Gutes und Löbliches sehen und erlernen könne. Politischer Weiß endlichen stelle ich sie vor/ indeme ich/ nicht zwar allezeit/ doch zum öffteren/ wann es sich schikket/ und die Materi mir Anlaß gibt/ ein kleinen politischen Discurs darüber führe. Ich nimme aber da die Politic nicht in sensu rigoroso, allein für jene Staats=Wissenschaft und Erfahrenheit/ welche einem regierenden Herren/ und seinen Ministris vonnöthen ist/ Land und Leuthe wohl zu regieren/ sondern in sensu latiori, in einem weiteren Verstand/ nemlich für eine jedem Menschen anständige Lebens=Art/ die nach der Richtschnur der Billichkeit/ und gesunden Vernunfft einem jeden anzeigt/ was er nach seiner Stands=Gebühr zu thun oder zu lassen habe (Bl. )()(2V). Kobolts Verfahren orientiert sich am mittelalterlichen Prinzip vom mehrfachen Schriftsinn,13 ohne damit genau zur Deckung zu gelangen. Kobolts „natürliche Weiß" entspricht dem sensus litteralis, die „sittliche" und „politische Weiß" korreliert mit dem geistigen Sinn, bietet aber eine andere Differenzie-

13

Dazu immer noch grundlegend Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes; Hennig Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980; Christel Meier, Das Problem der Qualitätenallegorese, in; Frühmittelalterliche Studien 8, 1974, S. 385-435.

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rung. An die Stelle der Unterscheidung zwischen dem allegorisch-heilsgeschichtlichen, dem moralisch-tropologischen und dem anagogisch-eschatologischen Sinn tritt die Dichotomie von „sittlich" und „politisch", wobei in der sittlichen Auslegung die drei mittelalterlichen Abstufungen des geistigen Sinns weitgehend zusammenfallen, während die politische Deutung als eine besondere Ausfaltung des tropologisch-moralischen Sinns aufgefaßt werden kann. Um die Tugenden und Laster des Menschen geht es allemal; auf der sittlichen Ebene werden die Tugenden und Laster absolut gesetzt bzw. auf das Verhältnis zwischen dem Menschen und Gott bezogen, während sie auf der politischen Ebene aus der Perspektive der zwischenmenschlichen, im weitesten Sinne sozialen Beziehungen gesehen werden. So können „In sensu morali, das ist/ in sittlichem Verstand/... erstlich durch die Engel verstanden/ und irrdische Engel genennet werden alle recht tugendsame und vollkommene Menschen" (S. 5); Christus ist „eine sittliche Sonn der Catholischen Kirchen/ die er mit dem Glantz seiner Lehr und Heiligkeit erleuchtet und unterweiset" (S. 11), „in sittlichem Verstand kann durch den Comet=Stern die strenge Gerechtigkeit GOttes verstanden werden" (S. 23), während „ein politische Sonnen ... ein jeder König/ Fürst oder Regent in seinem Land und Reich" (S. 11) sein soll, und auch ein glücklicher und geseegneter Ehe=Stand/ ein wohl angeordnete Hauß= Haltung kan ein kleiner politischer Himmel benahmset werden/ in welchem der Hauß=Vatter und die Hauß=Mutter gleichsam die Sonn und der Mond/ wohlgezogene Kinder und Christlich gesittete Ehehalten aber die Sternen seynd/ welche ihren Mit=Burgern ihrer Gemeind und Nachbarn mit ihrem guten Exempel und auf erbaulichen Lebens^ Wandel vorleuchten (S. 8). Diese Beispiele lassen die ganze Bandbreite von Kobolts Auslegungsverfahren „in sittlichem Verstand" erkennen und illustrieren wohl auch hinreichend sein Verständnis von politisch „in sensu rigoroso" und „in sensu latiori". Auch auf die formelhafte Wendung zum „Lust und Nutzen" geht Kobolt ein und begründet sie mit dem horazischen Prinzip des prodesse et delectare. In diesem Zusammenhang verweist er auf die schon genannten Anhänge und auf die „Apologos morales, oder sittliche Fabel=Reden", die er „unterschidlichen Thieren ... beygesetzt"14 habe. Wir dürfen vielleicht auch die eingestreuten Exempel, „die denckwürdigen Begebenheiten/ die sich mit solchen Dingen zugetragen haben" (Bl. )()(3r), in diesem Sinne verstehen, ohne daß sie in dieser Funktion restlos aufgehen müßten, wie andrerseits auch die

14

Kobolt, Groß= und Kleine Welt, Bl. )()(2V. Das Werk enthält über 30 verschiedene Tierfabeln; das Verzeichnis bei Moser-Rath, Schertz und Ernst (wie Anm. 1), S. 58-62, ist unvollständig.

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allegorische Auslegung nicht ausschließlich auf der Seite des mit Ernst und Anstrengung zu erwerbenden Nutzens zu verbuchen ist. Kobolts Umgang mit den naturkundlichen Fakten möchte ich exemplarisch an seinem Absatz „Von dem Löwen" (S. 295-303) demonstrieren. Mit diesem Tier eröffnet Kobolt den 3. Teil Von den unvernünftigen Thieren. Der Artikel, der etwa 16 Spalten umfaßt, setzt mit einem lateinischen Dichterzitat ein, das den Löwen als König der vierfüßigen Tiere dem Adler als dem König der Vögel gleichstellt: „Rex Leo quadrupedum est, Aquila est Regina Volucrum."15 Wie die meisten lateinischen Zitate übersetzt Kobolt auch diesen Vers („Jm Wald der starcke Löw regiert/ Jm Lufft der Adler Scepter führt") und bietet dazu auch ein entsprechendes Hieronymus-Zitat.16 Die wichtigste Eigenschaft des Löwen ist seine furchterregende Stärke, die auch in zwei Bibelversen überliefert wird.17 Andererseits läßt Kobolt auch nicht den Hinweis auf die Furcht des Löwen vor dem Feuer und dem krähenden Hahn fehlen, bevor er auf die Verbreitung, das Aussehen und das Verhalten des Tieres eingeht (schläft mit offnen Augen, geht majestätisch langsam, verwischt seine Spuren mit dem Schweif, besondere Ernährungsweise). Die gleichsam ungebrochene rein naturkundliche Beschreibung wird nach knapp zwei Spalten abgelöst von einer Darstellungsweise, in der die „sittliche Application" und das exemplarische Erzählen zunehmend Eingang finden. Die Anmerkungen über die Ernährungsweise des alten Löwen enthalten den Hinweis auf die Speisung der alten durch die jungen Tiere, „aus welchem", so moralisiert Kobolt, „ja die Kinder die Treue und Danckbarkeit gegen ihren alten Eiteren lernen sollen" (S. 296). Die weiteren Verhaltenseigenarten des Löwen illustriert Kobolt stets mit einem Exempel. Die Liebe des Löwen zu seinen Jungen veranlaßt Kobolt zunächst zu einer moralisierenden exclamatio („wolte GOtt/ daß auch die Christliche Eiteren allzeit solche Lieb und Sorg gegen ihren Kinderen trugen/ als wie der grimmige Löw gegen seinen Jungen!" ebda.), bevor er die schon bei Aelian überlieferte Geschichte vom Löwen erzählt, der sich mit Hilfe eines Menschen am Bären zu rächen weiß, weil dieser seine Jungen getötet hat.18 Die lang anhaltende Rachgier des Löwen sieht Kobolt im Schicksal eines Jünglings bestätigt, „der einen Löwen mit einem Pfeil verletzet hat/ dieser aber nach einem gantzen Jahr den Jüngling unter einer grossen Menge Volck ersehen/ gekennet und

15 16 17 18

Kobolt, Groß= und Kleine Welt, S. 295. Das Zitat kann ich nicht ermitteln. Ebda., S. 295: „Uti leo inter bestias, ita aquila inter aves regnum tenent". Prov. 30,30 („Leo fortissimus bestiarum, ad nullius pavebit occursum"); Amos 5,8 („Leo rugiet, quis non timebit?"). Kobolt, Groß- und Kleine Welt, S. 296f.; vgl. Conrad Gesner, Thierbuch, Zürich: Froschauer 1563, Bl. 103rf.

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angegriffen hat".19 Nachdem Kobolt auch auf die Dressur des Löwen durch die Züchtigung eines Hundes hingewiesen hat,20 setzt er sich mit der Vorstellung auseinander, daß der Löwe sich besänftigen lasse, wenn man sich vor ihm demütige. Diese auch durch ein Dichterwort21 bestätigte These relativiert Kobolt durch den ausführlichen Bericht vom Schicksal des „Löwen= Meisters" in Holland, der auch durch demütige Gebärden seinen ergrimmten Löwen nicht davon abhalten konnte, ihn zu töten (S. 297). Das Exempel beweist hier, daß es keine Regel ohne Ausnahme („Widerspiel") gebe. Die Dankbarkeit des Löwen sieht Kobolt im breit entfalteten Androclus-Exempel bestätigt, das zugleich auch moralisiert wird: „Aus welcher Begebenheit die Menschen sich theils zu schämen haben/ daß sie zu Zeiten grausamer seynd/ als die wilde Thier/ theils aber den schuldigen Danck und Erkanntlichkeit für die empfangene Gutthaten zu erlernen haben" (S. 298). Als Parallel-Figur zu Androclus nennt Kobolt in vier Zeilen den Abt Gerasimo, der ebenfalls einem Löwen einen Dorn entfernt und sich dadurch dessen Dankbarkeit gesichert haben soll: „Dem H. Abbt Gerasimo hat auch ein Löwe/ dem er einen Dorn aus dem Fuß gezogen/ in seinem Closter für einen Esel gedienet/ und Wasser getragen" (ebda.). Nach der mit Moralisationen und Exempeln durchsetzten naturkundlichen Beschreibung „natürlicher Weiß" geht Kobolt zur sittlichen und politischen Deutung über, die nach dem traditionellen Verfahren der Allegorese erfolgt und deshalb noch einmal die jeweils auszulegenden Eigenschaften als Ansatzpunkte der Deutung wiederholen muß, dabei aber auch neue, bisher noch nicht genannte Fakten zur Sprache bringt. In der sittlichen Auslegung wird der Löwe nacheinander mit Christus, der sündigen Seele und dem Teufel gleichgesetzt (S. 298-300); als neue Charakteristika werden dabei das Jagdverhalten des Löwen und seine Freigebigkeit genannt, die Wiederbelebung der totgeborenen Jungen am dritten Tag durch das Geschrei des Löwen, die verschiedenen Arzeneimittel, die das Tier liefert, und der der Löwin nachgesagte Ehebruch mit dem Panther. „In sensu politico" wird der Löwe 19

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21

Kobolt, Groß= und Kleine Welt, S. 297; Vgl. Gesner, Thierbuch, Bl. 103V: „So discs thier verletzt wird/ so ist es deß empfangnen Schadens lange zeit eingedenck/ vnderstehet denselbigen nach langer zeit zu rechen/ dermassen daß auch zu zeiten nach einem gantzen jähr ein Jüngling/ so ein Löwen mit einem pfeil verletzt hat/ vnder der gantzen menge gerochen worden." Dieses Motiv (wie viele andere) kennt auch die mittelalterliche Naturkunde; vgl. Dietrich Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100-1500), Berlin 1968, S. 337, mit Verweis auf Berchorius, aber anzuführen wäre auch Vinzenz von Beauvais, Speculum naturale, Douai: Beller 1624, Sp. 1419 (XIX.68). Kobolt, Groß= und Kleine Welt, S. 297: „Corpora magnanimo satis est prostrasse leoni" (Ovid, Tristia 111,5.33).

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ad bonam partem auf die pflichtbewußten und pflichtgerechten Regenten, ad malam partem auf schlimme Regenten und ungerechte Richter bezogen.22 Obwohl dieses Deutungsspektrum schmaler ist als das der sittlichen Auslegung und obwohl hier nur noch eine weitere Eigenschaft, das Verhalten bei der Nahrungsaufnahme, beschrieben wird, nimmt dieser Teil des Abschnitts den gleichen Umfang ein wie die sittliche Auslegung. Den Abschluß bildet ein Sittliches Fabel-Gedicht, die Fabel vom Esel, dem Löwen und den Wölfen, kontaminiert mit der Fabel vom Löwen und Frosch;23 der Esel muß sich vom Löwen belehren lassen, daß man sich von der leeren Stimm oder blossen Worten nicht soll schröcken lassen/ noch auch mit der Stimm oder Worten sich proglen oder prahlen/ sondern vilmehr das Werck erwarten/ und in der That/ was man vermöge/ zeigen (S. 303). Wenn wir den am Löwen-Abschnitt gewonnenen Befund verallgemeinern, ist zunächst festzuhalten, daß Kobolt zwischen Beschreibung und Deutung des naturkundlichen Sachverhalts keine rigide Trennung vornimmt. Die „natürliche Weiß" der Darstellung ist bereits mit Exempeln und Moralisationen durchsetzt, die deutenden Passagen „in sensu morali" und „in sensu politico" können naturkundliche Fakten nachliefern. Insgesamt wird den rein deskriptiven gegenüber den exemplarisch-illustrierenden und den allegoretischen Passagen weniger Umfang gewidmet. Von den ca. sechs Spalten bis zum Übergang zur expliziten Deutung (S. 298) sind nur zwei Fünftel der Beschreibung „natürlicher Weiß" gewidmet. Die in den übrigen zehn Spalten neu ausgebreiteten naturkundlichen Kenntnisse ließen sich auf einer Spalte zusammenfassen. Dieser Befund mag sich ändern in den Kapiteln, die mehreren Gegenständen gewidmet sind,24 doch ist die Tendenz unverkennbar: auch wenn die naturkundlichen Fakten (wie etwa die verschiedenen optischen Merkmale des Löwen) nicht durchgängig einer Allegorese gedeutet werden, 22 23

24

Ebda., S. 300-302. In diesem Zusammenhang bringt Kobolt das Vergil-Zitat „Parcere subjectis, & debellare superbos" (Aen. VI,853). Zu den verschiedenen Bearbeitungen dieser beiden Fabeln vgl. Gerd Dicke u. Klaus Grubmüller, Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen, München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften Bd. 60), S. 440f. (Nr. 383/384). So beschreibt Kobolt in IV,5.4 (S. 646-650: „Von Noch ändern unterschidlichen Krautern") auf sieben Spalten zwölf verschiedene Krauter mit ihren medizinischen Wirkungen, beschränkt sich aber in der anderthalbspaltigen Deutung auf die Gleichsetzung der Bibel mit einem Kräutergarten: „Übrigens auf all die gemeldte Krauter/ insonderheit/ ein Morali/ oder sitliche Application zu machen/ will mir zu schwer/ und weitläufig fallen. Sage also nur kürtzlich/ und überhaupt/ daß die göttliche heilige Schlifft/ gleich seye einem wohl eingerichten/ und heilsamen Kräuter=Garten/ in welchem für alle Zustand/ und Anliegen kräfftige Hülfs=Mittel zu finden seynd" (S. 649).

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kommt ihnen wohl nur selten ein eigenständiger Erkenntnis- und Mitteilungswert zu. Die Fakten sind weitgend nur Auslöser für Exempel, Moralisationen und Allegoresen; sie werden deshalb auch nur über das Inhaltsverzeichnis aufgeschlüsselt, nicht aber über die beiden alphabetischen Register am Ende des Bandes, denn diese sind größtenteils den „Gleichnissen" und den „Geschichten und Gedichten" vorbehalten. So finden sich unter den 17 Einträgen unter dem Buchstaben T im Register der Gleichnisse nur zwei Stichworte („Tauben", „Tachs"), die den Bedeutungsträger angeben, während in den übrigen Fällen die Bedeutung als Stichwort erscheint. Auf den Löwen-Abschnitt wird im Gleichnis-Register unter den Buchstaben B („Böß= und ungerechte Richter und Obere seynd zornig= und hungerigen Löwen gleich"), C („Christus wird ... durch den Löwen angezeigt"), F („Fürsten und Regenten seynd pollitische Löwen") und S („Sündige Seel wird mit einer Löwin verglichen") verwiesen; im „Register Aller Geschichten und Gedichten" wird das Löwen-Kapitel unter L („Löw rächet sich an seinem Beleidiger") und M („Mehr mit Wercken als mit Worten soll man zeigen was man kan") angeführt. Beide Register scheinen jedoch nicht auf Vollständigkeit angelegt zu sein; unter den Gleichnissen wird der Vergleich des Löwen mit dem Teufel nicht nachgewiesen, im zweiten Register fehlen die Exempel von der Dankbarkeit des Löwen und von seiner Liebe zu seinen Jungen. Das Löwen-Kapitel sagt wenig aus über Kobolts Umgang mit seinen Quellen. Nur die Bibelzitate sind annähernd vollständig durch Marginalien nachgewiesen; die drei eingestreuten lateinischen Verszitate werden einem nicht namentlich genannten „Poeten" zugesprochen oder auch stillschweigend als Zitat vorausgesetzt. Sonst wird im Text nur noch Aelian namentlich als Quelle genannt, ohne daß damit eine direkte Übernahme bewiesen wäre; dieselbe Geschichte bietet (ebenfalls mit dem Hinweis auf Aelian) auch Conrad Gesner in seinem Thierbuch, dem Kobolt auch sonst verpflichtet ist, ohne daß er ihn wie auch seine anderen Quellen jedesmal anführt.25 Die Haupt25

So dürfte etwa Kobolts Abschnitt „Artzeney von dem Löwen" weitgehend Gesners Thierbuch entnommen sein: „Man schreibt/ das Blut von dem Löwen gedörret und zum Pulver gemacht/heile den Krebs/ wann mans darauf streuet: das Schmaltz oder die Fette von dem Löwen mit Rosen=Wasser gemischt und angestrichen/ vertreibe die Fleck und Mackel in dem Angesicht/ und seye ein kräfftiges Mittel wider die gifftige Schlangen= Biß etc. Auch seine Gall mache helle Augen/ und etwas darvon eingenommen/ seye gut für die hinfallende Kranckheit und das 4tägige Fieber" (S. 299f.). Vgl. Gesner, Thierbuch, Bl. 104rf.: „DAs Löwenblut gedört/ gepulvert/ auff den krebs gesprengt heilt jhn. Löwen vnschlit ist ein köstliche artzney zu allen harten düßlen/ trüsen vnd andere harte mißgewächs. Mit anderen salben/ oder rosöl gemischt angestrichen/ vertreibt die macklen vnd fläcken deß angesichts. Sein hertz in der speiß genommen sol gut sein für daß viertägig kaltwehe: vnd sein leber in wein gebeitzt vnd getruncken für den schmertzen der läber. Sein gall mit wasser in die äugen gethan/ macht ein helles gesicht: vnd mit seinem vnschlit ein wenig eingenommen/ für den fallenden siechtag ...".

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quellen nennt er in der Vorrede. Mit den Namen der Autoren führt er die Tierbücher Conrad Gesners an, das Vogelbuch des Ulysse Aldrovandi, den Jndisch- und Sinesischen Lust- und Staats-Garten des Erasmus Francisci, Johann Hübners Curieuses Handlungs-Lexicon sowie die Kräuterbücher des Jakob Theodorus und des Pietro Mattioli und nennt auch Petrus Berchorius.26 Nur mit dem Werktitel verweist er auf die Polyanthea des Andreas Spanner und die Summa de exemplis des Joannes de San Geminiano.27 Hinter den Werken vieler, im Vorwort nicht namentlich genannter „Commentaristen/ Historicorum, Prediger und Asceten"28 verbergen sich, wenn wir den Marginalien im Haupttext trauen dürfen, Autoren wie Antonius von Padua, Laurentius Beyerlinck, Albertus Crantz, Benignus Kybler. Aber abgesehen von Zitaten aus der Bibel und den Kirchenvätern vermitteln die Marginalien doch relativ spärlich genaue Quellenangaben. Der getreue Quellennachweis ist - wie für viele Predigtautoren - für Kobolt belanglos; seine diesbezüglichen Angaben dürften nur einen Bruchteil der kürzend-kompilierenden Übernahmen erfassen. Auch sind in diesem Punkt keine durchgängigen Prinzipien erkennbar, etwa in dem Sinne, daß Kobolt nur das Außergewöhnliche durch Quellenangaben beglaubigen wollte. So beruft er sich auf Johannes Hübners Lexikon, um das seltsame Phänomen der „Blut=Ampel" zu bezeugen:

26

27 28

Neben der kürzenden deutschen Bearbeitung könnte Kobolt auch die lateinischen Versionen gekannt haben: Conrad Gesner, Historiae animalium über I de quadrupedibus uiuiparis, Zürich: Froschauer 1551, über II de quadrupedibus ouiparis, 1554, über III, qui est de avium natura, 1555, über IIII, qui est de piscium et aquatilium natura, 1558; weiters Ulisse Aldrovandi, Ornithologia, Bd. 1-3, Bologna: Senensus/Tebaldinus 15991648; Erasmus Francisci, Ost= und Westindischer wie auch Sinesischer Lust= und Stats= Garten/ Mit einem Vorgespräch Von mancherley lustigen Discursen; Jn Drey Haupt= Theile unterschieden, Nürnberg: Endter 1668; Hübner/Marperger, Curieuses Handlungs-Lexicon, 31717; Jacobus Theodorus Tabernaemontanus, Neu vollkommen Krauter-Buch, 4. Aufl. Basel: König 1731, Nachdr. München 1963; Petrus Andreas Mathiolus (Pietro Andrea Mattioli), Kreutterbuch, 4. Aufl., hrsg. v. Joachim Camerarius, Frankfurt/ M.: Jacob Fischers Erben 1626, Nachdr. München o. J. [1982]; Petrus Berchorius, Reductorii moralis ... libri quatuordecim: perfectam officiorum atque morum rationem, ac pene totam naturae complectentes historiam, Venedig: Scotus 1583. Spanner, Polyanthea sacra; Joannes ä San Geminiano, Summa. Kobolt, Groß= und Kleine Welt, Bl. )()(3r: „Jn Beschreibung der vierfüßigen Thieren hab ich mich meistens an die Thier=Bücher Doct. Gesneri, und der Vöglen an die Ortinologiam [!] oder Historiam de avibus Aldrovandi gehalten: Jn Beschreibung der Edelgesteinen aber an Erasm. Franc. Jndisch= und Sinesischen Lust= und Staats=Garten/ auch Hrn. Joan. Hybners Natur= und Kunst=Lexicon &c. Jn Beschreibung der Bäumen/ Krauter und Pflantzen an Mathioli und Tabernaemontani Kräuter=Bücher etc. Jn anderen unterschidlichen Materien hab ich mich des Petri Berchorii bedienet/ der Polyantheae, der Summae Exemplorum & similitudinum, wie auch vieler Commentaristen/ Historicum, Prediger und Asceten/ neben dem/ was meine wenige Gedancken beygetragen haben ...". Vgl. Anm. 26.

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Endlichen lise ich auch von einem leuchtenden Blut: dann ein Blut=Ampel/ oder sogenannte Lebens=Kertz soll durch die Chymische Kunst aus Menschen=Blut verfertiget werden/ welche nicht nur brinnet so lang der Mensch bey Leben ist/ sondern auch durch ihren hellen oder duncklen Schein des Menschen Gemüths= und Geblüts=Aenderungen deutlich anzeige. Dergleichen solle Oliverius Arto, ein Engelländer/ und Hieronymus Reiter, Burgermeister zu Leipzig eine gehabt haben/ welche auch bey erfolgtem Todt dieser beyden Männer augenblicklich verloschen seyen. Wie Joh. Hybner schreibet in seinem curieusen Natur= und Kunst=Lexico.29 Aber derselbe Autor gilt auch als Gewährsmann für die Einteilung der Fische in verschiedene Klassen,30 und seinen „Anhang zu der Leinwat. Von dem Papier"31 kompiliert Kobolt aus Hübners Einträgen unter den Stichworten „Papier" und „Papiermacher", ohne auch diesmal die Quelle zu nennen. Kobolt übernimmt nicht nur die Fakten, sondern gelegentlich auch moralisierende Anmerkungen wie etwa in einem seiner Krauter-Kapitel: Aber wie meines Erachtens ... Herr Johann Hybner in seinem Eruditen Natur= und Kunst=Lexicon gar recht anmercket/ so hetten wir in unseren wehrten Teutschland/ eben so wohl auch solche Krauter die so gut/ wo nicht bessere Würckung thäten/ als das Thee=Craut/ und Caffe, wann man nur auch den Glauben daran hätte etc.32 Auch ganze Exempelreihen entnimmt Kobolt seinen Quellen. So hat er den „Anhang zu den wilden Thieren/ von der Jägerey und dem Jagen" nach drei Spalten zu einem vorläufigen Ende gebracht, als er plötzlich wieder neu einsetzt: „Aber indem ich diese Materi zu beschliessen gedachte/ reitzet mich die Jagd=Lust noch einmahl von neuem an mit der Feder zu der Jägerey und dem Waidwesen mich umzuwenden" (S. 345). Auf drei weiteren Seiten bringt Kobolt dann andere Exempel und Moralisationen zum Thema Jagd, bevor er auch einen Quellenhinweis bietet: „Die gemeldte Begebenheiten erzehlet 29

30 31 32

Ebda., S. 257. Vgl. Hübner/Marperger, Curieuses Handlungs-Lexicon, 31717, Sp. 267: „Blut=Lampe, Lebens=Kertze, Biolychnium, ist eine durch Chymische Kunst aus eines Menschen Blute verfertigte Lampe oder Kertze, welche nicht nur des Menschen Lebens= Zeit über brennet, sondern auch durch ihren lichten oder dunckeln Schein, von des Menschen Gemüths= und Geblüts=Aenderungen deutliche Anzeige thut. Dergleichen haben Olivarius Arto, ein Engelländer, und Hieronymus Reuter ein Bürgermeister in Leipzig gehabt, und sind beyde nach erfolgtem Lebens Ende augenblicklich verloschen." Kobolt, Groß= und Kleine Welt, S. 382f.; vgl. Hübner/Marperger, Curieuses HandlungsLexicon, 31717, Sp. 625. Ebda., S. 632-635; vgl. Hübner/Marperger, Curieuses Handlungs-Lexicon, 31717, Sp. 1193f. Ebda., S. 649; vgl. Hübner/Marperger, Curieuses Handlungs-Lexicon, 31717, Sp. 1625: „Wann wir aber unsere Gedancken eröffnen wollen, so müssen wir bekennen, daß wir in unsern gesegneten Teutschland an solchen Krautern keinen Mangel haben, die eben so viel und vielleicht noch mehr als Thee und Caffee thun, nur ist unsere Neugierigkeit schuld, welche gern viel Geld unnöthig ausgiebt."

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der erudite Scribent Joseph. Albert. Loncin in seinem Christlichen Weltweisen im dritten Theil ä fol. 324." (S. 347). Dem unbefangenen Leser wird dadurch suggeriert, nur die Exempel stammten aus dem genannten Werk, einem mehrbändigen Narrenspiegel. Die genaue Überprüfung ergibt jedoch, daß auch die als Klage über die törichten Jäger vorgetragenen Moralisationen nicht Kobolts geistiges Eigentum sind, obwohl er einen solchen Eindruck zu erwecken sucht, indem er sich auf sein eigenes Werk beruft: Thorrechte Jäger seyn diejenige/ die zwar wohl mit dem Garn und Stricken wissen umzugehen/ das Gewild darein zu bringen und zu hinterlisten/ aber anbey kein Achtung geben/ daß sie nicht selber dem Teuffei in das Garn fallen/ oder seinen Fallstricken entgehen. Thorrecht seynd/ die sich so offt und vil in dem Gehöltz oder Waldung aufhalten/ und aber indessen nie gedencken/ daß Christus für sie an dem Holtz des Creutzes gestorben seye. Thorrecht/ die zwar den Fuchs und Wolffen luderen/ aber darbey auch selbst ein lauteres Luder=Leben führen. Jch will geschweigen/ daß sie ein eintzige gute Sitten^ Lehr schöpffen aus so vil löblichen Eigenschaften der wilden Thieren/ die ich bißhero erklärt und ausgelegt habe (S. 345f.). Dasselbe findet sich in etwas breiterer Formulierung und in teilweise geänderter Abfolge der Gedanken schon in der Quelle, deren Autor Loncin (oder Conlin) jedoch nicht verschweigt, welche Lehren die Jäger aus dem Verhalten von Hirsch, Hase, Bär und Gemse ziehen können.33 Auch die auf die Quellenangabe folgenden Schlußsätze haben bei Conlin ihre Entsprechung, und die Verse am Ende des Exkurses sind eine unverkennbare Überarbeitung des Epigramms, das Conlin der Abbildung vom Jagenden Narren beigibt.34 Conlins Verse tendieren zur Ständekritik und betonen den närrischen Aspekt der Jagd: Das Jagen ist ein Fürsten=Lust Doch ist der Mißbrauch auch bewust Daß öffters um ein klein Stück Wild Es gantzen Acker=Feldern gilt/ Der Leib wird in Gefahr gesetzt Da ja ein Haas den ändern hetzt. 33

34

Albertus Josephus Loncin von Gominn (d.i. Joseph Albert Conlin), Der Christliche Welt=Weise Beweinent Die Thorheit Der neu=entdeckten Narrn=Welt/ Welcher die in disem Buch befindliche Narrn zimblich durch die Hächel ziecht/ jedoch alles mit sittlicher Lehr und H. Schrifft untermischet. Worin über 200. lustig und lächerliche Begebenheiten/ deren sich nit allein die Herren Pfarrer auf der Cantzel/ sondern auch ein jede Privat-Persohn/ bey ehrlichen Gesellschafften nutzlich bedienen können. Der wahre Dritte Theil, Augsburg: Walder 1708, S. 322f.: „Narren seind jene Jäger/ welche/ ob sie sich zwar wohl verstehen auf das Luder/ dennoch als wie die Luder leben/ und einen schandlichen/ unehrbaren Wandel führen/ auch folgsam in dem grünen Kleid sich kein Hoffnung zur Seeligkeit machen können." Conlin, Der Christliche Welt=Weise, Th. 3, Abb. n. S. 312.

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Kobolt schwächt die ständekritische Komponente ab und führt zusätzlich einen religiösen Aspekt ein (S. 347): Das Jagen ist ein schöne Lust/ Doch ist der Mißbrauch auch bewußt: Dann offt ein klein und schlechtes Wild Deß Unterthanen Acker gilt. Der Leib darbey in G'fahr wird g'setzt/ Ja auch die Seel offt hart verletzt.

Auch wenn Kobolt annähernd wörtlich zitiert, läßt sich meistens eine sprachliche Überarbeitung feststellen. So wird im Hübner-Zitat über die „Blut= Ampel" aus der Zeitangabe „des Menschen Lebens=Zeit über" ein adverbialer Nebensatz („so lang der Mensch bey Leben ist"), das Adjektiv „licht" ersetzt Kobolt durch „hell", statt des Funktionsverbgefüges „Anzeige thut" setzt er das einfache Verb „anzeige", und für „nach erfolgtem Lebens Ende" schreibt er: „bey erfolgtem Todt". Sonst ist als Grundprinzip für Kobolts Kompilationstechnik eine Tendenz zur Kürzung zu beobachten. Dies betrifft sowohl die Übernahme der Fakten als auch der Exempel und Moralisationen. So sind zwar die Ausführungen über die Einteilung der Apfelsorten35 weitgehend identisch mit Hübners entsprechendem Eintrag, doch fehlt dessen Hinweis auf ein französisches Buch, in dem 163 Arten genannt werden.36 Aus der langen Reihe der Exempel, die Conlin anführt, um die Jagd als eine verderbenbringende Beschäftigung auszuweisen, streicht Kobolt nicht nur die antiken Figuren, sondern reduziert auch die Reihe der Zeugen aus der 35

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Kobolt, Groß= und Kleine Welt, S. 579: „Was aber die Aepfel selber anbelangt/ seynd derselben gar vil unterschidliche Art und Gattungen. Plinius lib. XV. c. 14. erzehlet/ deren neun und zwantzigerley/ welche schon damahlens in Italien bekannt waren. Bauchinus aber Hb. 1. Hist. Plant, c. 1. meldet wohl von 70. Arten. Es mügen aber alle füglich in drey Gattungen hauptsächlich abgetheilt werden/ nemlich in süsse/ saure und mittelmäßige/ oder eines von der Säure und Süsse vermischten Geschmacks: die ersten wärmen und laxiren/ die andere kälten und constringiren/ die dritte seynd dem Geschmack die annemlichiste/ und der Gesundheit die gedäulichiste. Die ungeschmacke und wässerige/ seynd zur menschlichen Nahrung wenig dienlich." Hübner/Marperger, Curieuses Handlungs-Lexicon, 31717, Sp. 108f.: „die Aepfel seynd unterschiedlicher Arten. Plinius lib. 15. c. 14. erzehlet deren neun und zwantzigerley, welche dazumal in .Italien bekannt gewesen. Bauhinus lib. 1. Histor. plant, c. 1. kam schon bis auf 70. Arten, und der Frantzösische Tractat, so An. 1670. zu Paris unter dem Titul: Instruction pour connoitre les bons fruicts gedruckt worden, hat deren 163. Solche Arten aber alle anzuführen, würde gantz unnöthig seyn, massen sich selbige nach der Landes=Art, wo sie wachsen, ob sie gleich einerley, allezeit verändern, und müssen also die gantze Anzahl in saure, süsse und säuerliche, weinsaure oder sauersüsse eingetheilet werden. Die ersten sind kalt und zusammenziehend: Die ändern warm und laxirend: Die dritten haben eine vermengte Natur, welche aber den Magen und dem Hertzen mehr angenehm, als die ändern beyden Sorten. Über dem sind annoch die ungeschmackte oder wässerige, welche aber gar nicht geachtet werden."

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neueren Zeit von 14 auf acht. Während Erasmus Francisci aus dem Schicksal des sizilianischen Wunderschwirnmers Cola Pesce, dem Vorbild für Schillers Taucher, eine doppelte Lehre zieht und auch die Sensationslust des Königs anprangert,37 beschränkt Kobolt sich darauf, vor der Geldgier des Schwimmers zu warnen. Als dessen Grabschrift erwägt er PS. 68,2 („Jch bin versunkken oder stecken blieben in dem tieffen Schleim des Geitzes/ da kein Grund ist/ welcher unersättlich ist") und interpretiert ihn als negatives Exempel, das von anderen noch überboten wird: Ein grosse Vermessen= und Thorheit ist es gewesen/ daß der Cola Pesce wegen einem Stuck Gold in einen so gefährlichen Wasser=Schlund zum zweyten mahl sich gestürtzt hat: aber ein noch viel grössere ist es/ daß ein mancher wegen einem Stuck schnöden Gelds oder anderen verbottenem Wollust sich gar in den Höllen=Schlund stürtzet (S. 80). Wie mit fremden Quellen geht Kobolt auch mit Selbstzitaten im eigenen Werk um. Die verschiedenen Fassungen stimmen teilweise wörtlich überein, doch bietet die Groß- und Kleine Welt meistens etwas weitschweifigere Formulierungen und Umstellungen mancher Abschnitte. So stellt er in der Enzyklopädie den Deutungsteil der berühmten Fabel vom Streit der Glieder mit dem Magen dem Bildteil voran, während in der Sammlung Schertz und Ernst die unveränderte Deutung (der Magen ist die „gemeine Cassa oder Rent= Cammer eines Landes oder Fürsten") auf die Erzählung folgt;38 im Hortus Allegoricus, der wohl nur wenig früher als die Groß- und Kleine Welt entstanden ist,39 bringt Kobolt den Bildteil in weitgehend wörtlicher Übereinstim37

38

39

Francisci, Lust= und Stats=Garten (wie Anm. 26), S. 73: „Scheint aber/ selbiger Sicilianischer König sey nicht gesinnt/ wie David/ gewest: welcher/ als er nach dem Bethlehemitischen Brunnen^Wasser lüstern worden; solches/ wie es gebracht/ dennoch nicht trincken wollen: weil er es gleichsam für das Blut derer/ die es mit Lebensgefahr geholet hatten/ geschätzt/ und nimmer zum ändern mal einen solchen Hazard/ ein solches Wage=Stücklein/ seinen getreuen Kriegs=Dienern würde aufgebürdet haben. Dieses Sicilianischen Königs Lüsternheit und Vorwitz aber hat sich/ mit der ersten ausgestandenen Lebensgefahr des armen Fischers/ als wie gleichsam mit dessen Fleisch und Blut/ nicht sättigen lassen wollen; sondern ihn endlich/ durch die wiederholte güldne Reitzungen/ nemlich um sein Leben gebracht. Also geht es aber gemeiniglich denen/ die sich den Geitz lassen angeln: wenn sie noch immer mehr Guts und Geldes/ nach zwar mitten aus dem Busen der Gefahr/ ja aus dem Rachen und Zähnen des Todes/ und aus dem Pfahl des Verderbens/ zu erfischen gedencken; werden sie selbst gefischet und von dem Untergange erhaschet." Kobolt, Groß= und Kleine Welt, S. 241 f., Kobolt, Schertz und Ernst, S. 407-409; dazu Dietmar Peil, Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Deutungs- und Überlieferungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. u.a. 1985 (Mikrokosmos Bd. 16), S. 107-109. Die früheste der in der Enzyklopädie abgedruckten Approbationen ist auf den 25. März 1737 (Druckfehler?), die Widmung auf den 31. 12. 1737 datiert; in der Vorrede zum Hortus Allegoricus, dessen Widmung das Datum vom 10. 11. 1736 trägt, kündigt Kobolt das umfangreichere Werk als bereits verfertigtes Buch an.

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mung, aber mit anderer Deutung: „Demnach gleichwie ein Glied des Leibs für das andere sorget ... soll auch in einer jeden Communitaet in einer Christlichen Gemeind ein sittliches Mit=Glied für das andere Sorg tragen/ und sich bemühen."40 Ein ähnlicher Befund ergibt sich aus dem Vergleich der Löwen-Deutung „in sensu politico", wie sie die Enzyklopädie bietet, mit dem entsprechenden „Gleichnuß" aus dem Hortus Allegoricus („Regierende Herren und Obere sollen gleich seyn denen Löwen").41 In wesentlichen Punkten ist Übereinstimmung zu konstatieren, manche Motive sind umgestellt (wie der Hinweis auf die Furcht des Löwen vor dem Feuer), im Hortus Allegoricus ausgelassen (wie die Auslegung des Hahnenrufs als Strafpredigt, S. 301) oder knapper ausgeführt wie die Verpflichtung der Obrigkeit zur Hilfe gegenüber den Schwachen und Bedrängten. Knapper fällt im Hortus Allegoricus auch die angehängte Fabel aus; zwar bleibt die Deutung bis in einzelne Formulierungen hinein identisch, aber statt der Fabelkontamination erscheint im Hortus Allegoricus die bekanntere Version vom Esel in der Löwenhaut.42 Auch wenn Kobolt sich in seinen verschiedenen Werken oft wiederholt, bleibt dennoch festzuhalten, daß solche Wiederholungen immer auch Spuren einer (zumindest stilistischen) Überarbeitung erkennen lassen. Die von Kobolt genutzten naturkundlichen Quellen genossen teilweise ein beträchtliches Renommee, doch waren die von ihnen vermittelten Kenntnisse zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht selten schon überholt. Dieser Befund legt die Frage nach Kobolts Einstellung zu den naturkundlichen Fakten und ihren Übermittlungsträgern nahe. Zu konstatieren ist zunächst eine gewisse Hilflosigkeit Kobolts gegenüber widersprüchlichen Berichten, wie sie etwa zum Verhalten des Habichts vorliegen: Plinius, Aristoteles und jElianus sagen/ der Habich esse das Hertz nicht von den Thieren/ sonderlich der Vöglen/ die er gefangen hat: hingegen Albertus M. sagt/ sie essen es/ und Aldrovandus bezeuget/ er habe mit Augen gesehen/ daß sie es essen. Also unrichtig und ungleich seynd zum öfftern von einem Ding die Bericht und Zeugnussen auch der fürnehmsten Scribenten/ wie ich schon mehrmahlen in den Beschreibungen der vierfüßigen Thieren/ der Fischen/ der Edelgestein/ und anderen Sachen beobachtet habe.43 Solche Unsicherheiten halten Kobolt jedoch nicht davon ab, auch strittige Fakten mitzuteilen und sie einer Deutung zu unterziehen. Daß ihm offen40 41 42

43

Kobolt, Hortus Allegoricus, S. 152. Ebda., S. 464-466. Zur Fabelkontamination s.o. vor Anm. 23; zu den früheren Bearbeitungen der Fabel vom Esel in der Löwenhaut vgl. Dicke/Grubmüller, Fabeln des Mittelalters (wie Anm. 23), Nr. 117, S. 122-128. S. 419. - Vielleicht ist Kobolts Hilflosigkeit auch in einem Zusammenhang mit dem neuzeitlichen Konflikt zwischen der Autorität der Tradition und dem Erfahrungsdruck

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sichtlich die Deutung wichtiger ist als die gesicherten Fakten, wird deutlich, wenn Kobolt im Pelikan-Kapitel von der Beschreibung zur Auslegung überleitet: hiervon mag der geneigte Leser glauben oder nicht glauben/ was ihm beliebt/ indessen aber ist es gewiß/ daß GOtt der Allmächtige/ als ein himmlischer Pelican die Menschen gleichsam als seine Junge ... über die Maassen liebe (S. 510). Mit diesem Verfahren scheint Kobolt einer guten Tradition zu folgen. Während Hübner etwa den Mythos vom Phönix in aller Kürze referiert, aber als „Fabel-Possen" abtut,44 bestreitet Kobolt zwar den Realitätsgehalt der Tradition („Mit dem Vogel Phönix hat es eben eine solche/ oder noch grössere Unrichtigkeit/ als mit dem vorgemeldten Pelicanen ..."), bringt diese „Unrichtigkeit" aber ausführlich zur Sprache und läßt dann die Gegenargumente Aldrovandis folgen, bevor er die Haltung der Kirchenväter in diesem Punkt entschuldigt: Ulysses Aldrovandus Medic. & Philos. Bononiensis, ein gar acurater Author halt es alles gar vor ein pur lauter Gedicht/ was von einem solchen Vogel Phönix gesagt/ oder geschrieben wird/ mit vermelden/ es stimme übel mir der heiligen Schrifft und Erschaffung der Vögel/ und von der Arch Noe Übereins. Wann aber ein heiliger Vatter hiervon etwas geschrieben hat (als wie der Heil. Ambrosius lib. 5. Exempl. c.23.) so glaube ich/ es sey mehr relative ex mente aliorum, als assertive, und ex mente propria geschehen/ das ist/ nur Erzehlungs=Weiß/ was andere sagen/ oder von der Sach glauben. Unterdessen haben gleichwohl die H. Vatter/ und Lehrer daraus Gelegenheit genommen über das/ was von dem Vogel Phönix berichtet/ oder gedichtet wird/ zu moralisiren/ oder ein geistliche Sitten=Lehr zuziehen (S. 511). Offensichtlich fühlt Kobolt sich dieser Tradition verpflichtet und dadurch wohl auch legitimiert, seinerseits ebenfalls auch die strittigen Fakten auszulegen und gelegentlich selbst die in seinen Quellen angemeldeten Zweifel zu ignorieren. Diese Haltung führt wohl auch zu einer konservativen Position hinsichtlich des Weltbildes. Zwar spricht auch Kobolt von einer „Erd=Kugel" (S. 26), behandelt die Erde aber nicht als Himmelskörper, sondern nur als

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der Empirie zu sehen, wie er in der oberdeutschen Predigtliteratur insgesamt zu beobachten ist (freundlicher Hinweis von Franz Eybl und Werner Welzig). Hübner/Marperger, Curieuses Handlungs-Lexicon, 31717, Sp. 1244: „Phoenix ist auch ein Nähme eines erdichten Vogels, von welchem die Alten fabuliret, daß er 660 Jahr lebe, sich, wenn er alt, ein Nest von Cassia und Weyrauch=Zweigen bereite, und darauf sterbe, hernach aus dessen Gebeinen erstlich ein Würmlein wachsen, daraus endlich wieder ein junger Phoenix erwachsen solle, und was der Fabel=Possen mehr sind. Womit sie aber zweiffels ohne auf etwas anderes zielen wollen; da es bey den Alten gar gebräuchlich war, ihre geheimste Wissenschaften in Gleichnissen und Fabeln vorzustellen, welches weiter zu untersuchen nicht hieher gehörte."

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Element, und hält an überkommenen Auffassungen fest, wenn er über den Sternenhimmel schreibt: ... diser ist ein unermeßlich=grosse himmlische Sphaera, oder Himmels=Kugel in einer reinen vesten und Hechten Materi bestehend/ welche unverweßlich und unzerstörlich ist/ und in welcher die Sonn/ der Mond und die Sternen/ in schönster Ordnung ausgetheilt sich befinden/ welche durch ihren gewissen ordentlichen Lauff den Tag und die Nacht/ wie auch die vier Jahrs=Zeiten unterscheiden (S. 7). Nichts läßt darauf schließen, daß Kobolt die Redewendung vom „unschreiblich schnelle(n) Lauff" (S. 9) der Sonne metaphorisch gemeint haben könnte. Allerdings soll auch nicht verschwiegen werden, daß Keplers Weltbild sich relativ langsam durchsetzte; noch Johann Hübner hält an der alten These vom Stillstand der Erde fest.45 Die Frage nach dem Adressatenkreis des Werkes und der damit verbundenen Intention findet unterschiedliche Antworten. Auf dem Titelblatt gibt Kobolt sein Buch aus als „zur Auferbauung und Ergötzlichkeit aller Gelehrt^ und Ungelehrten/ Geistlich= und Weltlichen Stands=Personen/ auch zu sonderer Bequemlichkeit deren Prediger gewidmet." In der Vorrede beschreibt er ausführlich, wie er sich den Gebrauch seines Werkes in der Hand des Predigers vorstellt: Daß ich aber in dem vorgesetzten Titel dises Buchs auch den HHrn. Predigeren ein besonderen Vortheil und Beyhülff verspräche/ das Geschieht gantz nicht dämmen/ als wolle ich ihnen Maaß oder Unterweisung geben/ sondern es ist nur von einer Bequemlichkeit/ und Erspahrung der Zeit und Mühe zu verstehen/ indeme sie da von gar unterschidlichen Materien beysammen finden/ was sie sonst in vielen Bücheren (die ein mancher auch nicht so gleich beyhanden hat) mit langer Zeit und Mühe aufzusuchen genöthiget wären. Als zum Exempel/ will einer etwann einen Heiligen in einer Lob=Predig per allegoriam mit Sonnen/ mit dem Löwen oder Adler/ mit dem Ceder= oder Palm=Baum etc. vergleichen/ so hat er schon beysammen nicht nur die Eigenschafften der Sonnen/ deß Löwen oder Adlers/ deß Ceder= oder Palm=Baums/ sondern auch die Moralia, oder sittliche Application darüber: er hat auch eine kleine Erudition und Bericht von denckwürdigen Begebenheiten/ die sich mit solchen Dingen zugetragen haben: er hat weiters auch einige Text von diser Materi aus der Heil. Schafft/ der HH. Vätter und Weltweisen. Wann er dann die Sach noch ein wenig amplificiren oder ausführen will/ so wird ihm ausser dem Exordio und Epilogo zu einer vollständigen Predig weiter nichts mehr ermanglen (Bl. )()(3r).

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Hübner/Marperger, Curieuses Handlungs-Lexicon, 31717, Sp. 643f.: „Es hat zwar Copernicus vorgegeben, daß die Erde sich bewege und herum lauffe, hingegen die Sonne am Himmel stehe, allein wir geben billig des Tychonis de Brahe seiner Meynung Beyfall, als welcher die Erde für unbeweglich hält ...".

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Diese sehr konkrete Rezeptionsanleitung weist die Sammlung vor allem als ein Handbuch für Prediger aus, das nach dem Schema der Enzyklopädie angelegt ist, sich aber nicht in der Vermittlung bloßen Faktenwissens erschöpft, sondern zugleich auch durch die Moralisationen und Exempel Anwendungsmöglichkeiten erschließt. Die Frage, ob und in welchem Ausmaß das Werk in diesem Sinne genutzt worden ist, läßt sich heute kaum noch schlüssig beantworten. Nur wenige Exemplare dieser nur einmal aufgelegten Enzyklopädie sind heute in öffentlichen Bibliotheken noch nachzuweisen, was wohl auf eine eher spärliche Verbreitung des Buches schließen läßt. Eine andere Antwort auf die Frage nach der intendierten Funktion gibt Kobolt in seinem Rückblick am Ende des Werkes. Nunmehr sieht er seine Bemühungen dadurch legitimiert, „daß wir aus der Menge/ Unterschied/ und Fürtrefflichkeit der Geschöpffen den Erschöpffer erkennen lernen/ dessen Allmacht/ Güte und Freygebigkeit lieben preißen und ehren: die Geschöpff sollen uns dienen für eine Leiter/ auf welcher wir mit dem Gemüth zu GOTT/ und Himmlischen Dingen auf steigen" (S. 675). Das Buch soll dazu anleiten, in der Schöpfung den Schöpfer zu erkennen und ihn dann entsprechend zu verehren. Es geht also um mehr als nur um moralisierende Belehrung, obwohl auch diese Absicht ausdrücklich eingestanden wird.46 Zwar nimmt Kobolt die traditionellen Metaphern von der Natur als Leiter der Erkenntnis47 und vom Buch der Natur wieder auf,48 aber wichtiger als die über die detaillierte Naturerkenntnis vermittelten Einsichten in einzelne Glaubensgrundsätze und wichtiger als die auf diesem Wege gewonnenen Prinzipien eines gottgefälligen Lebenswandels ist die Erbauung überhaupt, verstanden als Hinwendung zu Gott. Am Ende des Buches steht die Auffor46

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48

Vgl. Kobolt, Groß= und Kleine Welt, S. 676: „Diesem zu Folg hab ich mich in gegenwärtigen Schrifften nach der Maaß meiner wenigen Kräfften bemühet/ auch von den natürlichen Eigenschafften/ so mancherley Geschöpffen Anlaß zu nemmen eine geistliches morale, oder Sitten=Lehr zumachen/ und durch mehr als tausend Gleichnussen dem christlichen Leser zur Liebe/ und Hochschätzung GOttes/ der Tugend und Himmlischer Dingen/ wie auch zur Flucht/ und Abscheuhung der Laster etc. anzuweisen ...". Dazu Uwe Ruberg, Vom Aufstieg im Mittelalter. Das Konzept der Himmelsleiter in Text und Bild, in: Geisteswissenschaften - wozu? Beispiele ihrer Gegenstände und ihrer Fragen. Eine Vortragsreihe der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Wintersemester 1987/88, hrsg. v. Hans-Henrik Krummacher, Wiesbaden 1988, S. 211-244, bes. S. 232f. Kobolt, Groß= und Kleine Welt, S. 675: „Auf dieser Leiter/ das ist durch die Erkantnuß und Betrachtung der Creaturen/ seynd unzahlbare Heilige zu Gott/ und zu einer grossen Volkomenheit aufgestigen/ indeme ihnen die gantze Welt für ein großes Buch/ und alle Geschöpff für lauter Buch=Staben gedient haben/ in welchem sie die Vollkommenheiten GOTTes ersehen/ und gleichsam deutlich gelesen haben." Die Leitermetapher greift Kobolt im Hortus Allegoricus, S. 490-491, wieder auf, die Buchmetapher wird dort auf den Menschen bezogen: „Der Mensch ist gleichsam ein Buch/ und seine Werck seynd die Buchstaben" (S. 14).

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derung zum Lobgesang Gottes nach dem Vorbild der drei Jünglinge im Feuerofen und gemäß der Maxime des heiligen Benedikt: „Ut in omnibus glorificetur DEus" (S. 676). Die Fähigkeit, im Buch der Natur49 zu lesen, ist nicht auf das Mittelalter beschränkt wie umgekehrt die Ausrichtung auf das Erkenntnisziel von Gottes Allmacht, Güte und Barmherzigkeit keine besondere Errungenschaft der frühen Neuzeit ist. Schon Richard von St. Viktor sieht hierin den Sinn der Naturbetrachtung,50 entfaltet aber dennoch weiterhin die in der Natur angelegten punktuellen Deutungsansätze. Demgegenüber bevorzugen die einschlägigen Autoren wie etwa der Theologe Johann Gerhard oder der Dichter Barthold Brockes im 17. und 18. Jahrhundert die eher globale Interpretation der Natur als Zeugnis für Gottes Allmacht, Weisheit und Güte, ohne deswegen auf die detaillierte Naturbeobachtung zu verzichten.51 Die PhysikoTheologen pflegen diese Art der Naturbetrachtung in besonderem Maße. An diesem Diskurs, wie es heute heißt, versucht auch Kobolt teilzuhaben, ist also einerseits durchaus auf der Höhe seiner Zeit, bleibt aber zugleich auch durch das Festhalten an der punktuellen Allegorese nach mittelalterlichem Zuschnitt stärker der alten Tradition verhaftet und vertritt vor allem auch im Hinblick auf das naturkundliche Wissen seiner Zeit völlig überholte Positionen. In eine andere Richtung verweist seine Erinnerung an die „Heiligen", die die Gewohnheit hatten, daß sie aus einem jeden Ding/ was sie gehört und gesehen/ Gelegenheit genommen haben/ das Hertz und Gemüth zu erheben/ und von den zeitlichen zu den ewigen Dingen zu wenden. Als zum Exempel wann sie gesehen haben ein Lämmlein auf die Schlacht=Banck führen/ da haben sie sich gleich des unbefleckten Lamm GOttes erinnert/ welches für uns ist geschlachtet und geopfferet worden (S. 675). Diese Art des Umgangs mit der Welt läßt sich ebenfalls weit in die Anfänge der Kirche zurückverfolgen, hat aber erst im 17. Jahrhundert in der literarischen Form der occasional meditations bei Joseph Hall ihre besondere Ausprägung erfahren und ist in Deutschland vor allem von Christian Scriver als zufällige Andacht populär gemacht worden.52 Aber man wird Kobolt nicht gerecht, wenn man ihn auf den Schnittpunkt der Koordinaten von allegoreti49 50 51 52

Zu dieser Metapher zuletzt Ohly, Die Welt als Text, mit Hinweisen auf weitere Literatur. Vgl. Dietmar Peil, Emblematisches, Allegorisches und Metaphorisches im .Patrioten', in: Euphorien 69, 1975, S. 229-266, hier S. 247. Vgl. ebda., S. 246-251. Vgl. Dietmar Peil, Zur Angewandten Emblematik' in protestantischen Erbauungsbüchern. Dilherr - Arndt - Francisci - Scriver, Heidelberg 1978 (Beihefte zum Euphorien 11), S. 77-85.

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scher Naturbetrachtung mit physiko-theologischem Einschlag einerseits und zufälliger Andacht andererseits fixieren wollte. Seine besondere Leistung besteht vielmehr darin, auf durchaus pragmatische Weise und vornehmlich mit dem Blick auf die Bedürfnisse des Predigers die Formen der Enzyklopädie, des allegorischen Wörterbuchs und der Exempelsammlung miteinander verschmolzen zu haben, ohne daß die eine Form in der anderen vollständig aufginge. Mögen andere Repräsentanten dieser drei Formen als eigenständige Werke auch viel umfangreicher angelegt sein und auch einen moderneren Wissenshorizont vermitteln, so bleibt Kobolt doch das Verdienst, eine Kontamination geschaffen zu haben, die zwar als Nachschlagewerk angelegt worden ist, die aber auch als erbauliches Lesebuch rezipiert werden kann. Zumindest in der Geschichte der Exempelsammlungen nimmt Kobolt somit eine besondere Position ein, der die Exempelforschung bisher nicht adäquat entsprochen hat.53 Innerhalb der Enzyklopädik ist Kobolts wissenschaftliche Position zwar als antiquiert anzusehen, doch bringt sein Werk die Gattung der Enzyklopädie in einen besonderen Funktionszusammenhang und verdient deshalb durchaus Beachtung.

53

Michael Chesnutt und Wolfgang Bruckner (Chesnutt/Brückner, Exempelsammlungen) lassen Kobolt unerwähnt.

CHRISTOPH MEINEL

Enzyklopädie der Welt und Verzettelung des Wissens: Aporien der Empirie bei Joachim Jungius

Die Vorstellung einer Enzyklopädie des Wissens als orbis doctrinae ist dem Selbstverständnis moderner Wissenschaft fremd. Denn seit der Wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts beruhen Erfolg und Progreß zumal der Naturwissenschaft ja gerade darauf, daß man das Detail isoliert und auf Totalität verzichtet. An die Stelle hierarchischer Welt- und Werteordnungen, die gar kosmologisch und theologisch verankert waren, trat damit zunächst die irritierende Unbestimmtheit nackter und systematisch nicht geordneter Faktizität. Eine den neuen Wissenschaften adäquate Disposition der empirischen Gegenstände und Einzeltatsachen war erst noch zu leisten. Die Ordnungsfelder einer universalwissenschaftlichen Topik, die das 16. Jahrhundert entwickelt hatte, waren dieser Aufgabe nicht gewachsen. Gemäß ihrer Herkunft aus Rhetorik und Logik blieben sie wort- und begriffsorientiert. Vor den Aufgaben der Sachordnung, wie sie sich vor allem in den neuen Erfahrungswissenschaften stellten, mußten die topischen Systeme versagen. Aber auch mit Baconscher Empirie alleine ließen sich Sach- und Wissensordnungen nicht gültig begründen. Erst die naturgeschichtliche Tradition des 18. Jahrhunderts sollte hier neue Wege weisen. Wir dürfen daher mit Recht vermuten, daß die in den Wissenschaften der frühen Neuzeit aufbrechende Erfahrungwirklichkeit dem Problem einer adäquaten Disposition des gelehrten Wissens zentrale Bedeutung beimessen mußte. Damit aber ist ein Wendepunkt in der Geschichte der Enzyklopädik markiert. Im folgenden geht es darum, am konkreten Beispiel zu verfolgen, wie sich in den Wissenschaften Verfahren der Repräsentation (Systembildung) und Verfahren der Produktion (Arbeitsmethodik) gegenseitig bedingen. Die Fallstudie gilt dem Hamburger Philosophen und Naturforscher Joachim Jungius (1584-1657), einer markanten Gestalt jener Übergangszeit. Jungius steht für die Krise der zeitgenössischen Gelehrsamkeit und für das Ringen um ein neues, naturwissenschaftliches Weltbild.1 Wenn sich sein 1

Christoph Meinel, Joachim Jungius. Empirisme et reforme au seuil de l'epoque moderne, in: Archives Internationales d'Histoire des Sciences 37, 1987, S. 297-315; ders., In physicis futurum saeculum respicio. Joachim Jungius und die Naturwissenschaftliche

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Werk den großen Entwicklungslinien der frühneuzeitlichen Wissenschaft gleichwohl nicht recht einfügen will, so liegt dies nicht zuletzt daran, daß Jungius an der Aufgabe gescheitert ist, von der Sachordnung des empirischen Wissens her eine neue Universalwissenschaft zu begründen - ein letzter und aussichtsloser Versuch, Enzyklopädik und Polymathie, humanistische Gelehrsamkeit und neue Naturwissenschaft zu verbinden.

Das Programm einer empiristischen Wissenschaftsreform Drei Grunderfahrungen haben den Bildungsgang von Jungius geprägt: (i) die Bekanntschaft mit Mathematik und Astronomie - auch und gerade im Sinne der auf Beobachtung und Experiment gestützten Naturwissenschaft, (ii) die Erfahrung, daß Logik und Metaphysik den neuen, empirischen Sachverhalten nicht gerecht wurden, und (iii) schließlich die Begegnung mit der Lehrkunst des Wolfgang Ratke und dessen Utopie einer Generalreformation sämtlicher Wissenschaften. Alle drei Erfahrungen mündeten ein in die Vision einer scientia totalis mit empirisch belegten Voraussetzungen, streng beweisbaren Aussagen und einem der Natur kongruenten Aufbau. Jungius war überzeugt, eine Reform der Wissenschaften müsse vom empirischen Gegenstand her erfolgen, weil nur dieser die Übereinstimmung von objektivem Sein und subjektivem Wissen garantiere. Dies zielte auf nicht weniger als die Forderung, von der Naturlehre her die Philosophie, d. h. die Gesamtheit der Wissenschaften, zu verbessern.2 Voraussetzung hierfür war in didaktischer Hinsicht, die auf falschen Prämissen gegründeten Lehrsysteme zu kritisieren, ja zu falsifizieren; Voraussetzung in sachlicher Hinsicht war, die tatsächlichen Prinzipien des Seins und damit des Wissens empirisch zu ermitteln. Den ersten Schritt nannte Jungius Doxoskopie, d. h. Sichtung und Prüfung der herrschenden Lehrmeinungen. Sie hatte der eigentlichen Wissenschaftslehre als protodidacüca vorauszugehen. Ihr Ziel war, den Intellekt von VorUrteilen zu befreien, damit sich ihm die Wirklichkeit gewissermaßen von selbst einprägen könne. Doch nur ein winziger Teil dieses ehrgeizigen Vorhabens ist ausgeführt worden. Fassen läßt er sich vor allem im Werkkomplex der Doxoskopien zur Naturlehre und Naturphilosophie, aus dem allein die

2

Revolution des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1984 (Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft, Bd. 52). So Jungius an Johannes Seidener (2. Oktober 1641), in: Gottschalk Eduard Guhrauer, Joachim Jungius und sein Zeitalter, Stuttgart/Tübingen 1850, S. 361; vgl. auch Meinei, In physicis (wie Anm. 1), S. 13, 18.

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schulischen Disputationen noch zu Lebzeiten von Jungius im Druck erschienen sind.3 Ihr gemeinsames Ziel war, die Fehler und Widersprüche in der aristotelischen physica wie auch im Erfahrungswissen der chymici und Praktiker aufzudecken, um den Boden für eine neue wissenschaftliche Beweislehre zu bereiten. Diese sollte von der Syllogistik und der bloßen Begriffsanalyse abgetrennt und stattdessen in der Sachanalyse empirisch verankert werden. Grundwissenschaft in dieser Hinsicht war für Jungius die Physik, und zwar der sensorisch-empirischen Verfügbarkeit ihres Gegenstandes wegen. Dabei war physica durchaus aristotelisch als Lehre vom Naturkörper und seinen Veränderungen verstanden. Beim Studium des mineralischen, pflanzlichen und tierischen Reichs hoffte Jungius, durch Beobachtung, Zergliederung und Unterscheidung schließlich zu untersten, einfachsten, unteilbaren Erfahrungstatsachen zu gelangen, aus denen sich die Vielfalt aller Erscheinungen zusammensetzt. Diese Letztbestandteile glaubte er im Bereich des StofflichChemischen empirisch auffinden zu können, und zwar in den principia hypostatica als den nicht weiter zerlegbaren Grundbausteinen der Körperwelt. Wären diese erst einmal ermittelt und begrifflich erfaßt, dann sollte sich eine Wissenschaft von der Körperwelt aus solchen Elementarbegriffen in der gleichen Weise konstruieren lassen, wie die stoffliche Welt selbst aus den Elementen des Seins aufgebaut ist. Damit besäße auch die Naturlehre eine Logizität und Axiomatik, wie sie bisher allein der Geometrie vorbehalten war. Nun erst könne man daran gehen, die nächste Stufe der Wissenschaften, die Philosophie, in analoger Weise neu zu strukturieren. Denn Jungius' Reformprogramm läßt sich keineswegs auf eine Materie- oder Elementenlehre reduzieren. Die Vorstellung aufsteigender Komplexität aus quasi-atomistischen Grundelementen bestimmte sein Denken ganz allgemein. Sie begegnet uns in dem Versuch, die Morphologie der Pflanzen aus konstitutiven Bestandteilen wie Wurzel, Stengel und Blatt zu erklären. Und sie bildet den Kern seiner nur fragmentarisch überlieferten Protonoetik als der Lehre von den protonoemata, den unauflöslichen Grundbegriffen, mit deren Hilfe das Alphabet des Verstandes, eine endliche Menge nicht weiter zerlegbarer Begriffe und Elementarrelationen, gewonnen werden sollte.4

3

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Joachim Jungius, Disputationes Hamburgenses, hrsg. v. Clemens Müller-Glauser, Göttingen 1988 (Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft Bd. 59); Joachim Jungius, Praelectiones physicae, hrsg. v. Christoph Meinel, Göttingen 1982 (Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft Bd. 45). Joachim Jungius, Protonoeticae philosophiae sciagraphia, in: Hans Kangro, Joachim Jungius' Experimente und Gedanken zur Begründung der Chemie als Wissenschaft. Ein

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Wenn alle Wirklichkeit tatsächlich aus Zusammensetzungen zunehmender Komplexität besteht, dann sollte sie sich durch empirisch kontrollierte Analyse (diacrisis) in einfachere Teile und letztlich in ihre nicht weiter unterscheidbaren Grundbestandteile zerlegen lassen: Dies wäre der Gang der Forschung. Waren aber die Letztbausteine ermittelt, so sollten sich aus ihnen, in Umkehrung des Verfahrens, in der Synthese (syncrisis) alle höheren Ordnungen darstellen lassen: Dies wäre der Gang der Lehre. Syndiacrisis nannte Jungius seinen Ansatz. Das didaktische und strukturelle Modell lieferten Arithmetik und Geometrie. Von diesen ausgehend, sollte man sich den concretae matheseos scientiae wie Astronomie und Optik zuwenden, um dann zur Physik und schließlich zur Metaphysik zu gelangen.5 Die Naturlehre more geometrico zu axiomatisieren, um ihre Erscheinungen aus wenigen Grundtatsachen herleiten zu können, hieß also nichts anderes, als in der Körperwelt diejenigen Elemente aufzufinden, die dem Punkt, der Linie oder dem Dreieck in der Geometrie entsprächen. Denn der natürlichen Stufenfolge von Zahl, Figur, Substanz und Begriff korrespondierte die Hierarchie der Wissenschaften von Arithmetik und Geometrie über die Naturlehre bis hin zur Philosophie.6 Was in der Mathematik die Einheit oder die einfachen geometrischen Figuren sind, das waren für Jungius in der Naturlehre die principia hypostatica und in der Philosophie die protonoemata, die unauflöslichen Grundbegriffe. Die Wissenschaften insgesamt reformieren konnte demnach nur heißen, zunächst die Grundelemente - der Mathematik, der Natur, der Sprache, des Denkens - in aufsteigender Ordnung neu ermitteln und aus diesen dann die gesamte Erscheinungsvielfalt der Wirklichkeit more geometrico deduzieren, gerade so, wie Euklid die wissenschaftliche Darstellung der Geometrie mit der Definition des Punktes hatte beginnen lassen. Die Empirie der Jungiusschen Doxoskopien war also nicht Selbstzweck und führte gerade nicht in die beschreibende Tradition der späteren Naturgeschichte, sondern blieb Propädeutik im Vorhof der eigentlichen Wissenschaft, Steinbruch für BauBeitrag zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts, Wiesbaden 1978 (Boethius Bd. 6), S. 256-271. 5 Joachim Jungius, Über den propädeutischen Nutzen der Mathematik für das Studium der Philosophie, hrsg. v. Johannes Lemcke u. Adolf Meyer, in: Beiträge zur JungiusForschung, hrsg. v. Adolf Meyer, Hamburg 1929, S. 94-120. 6 Zum ordo resolutivus in den Wissenschaften vgl. Joachim Jungius, Logicae Hamburgensis additamenta, hrsg. v. Wilhelm Risse, Göttingen 1977 (Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft Bd. 29), S. 203; ferner Francesco Trevisani, Geometria e logica nel metodo di Joachim Jungius, in: Rivista Critica di Storia della Filosofia 2, 1978, S. 171208; allgemein noch Hermann Schüling, Die Geschichte der axiomatischen Methode im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, Hildesheim/New York 1969 (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie Bd. 13).

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materialien der zu erneuernden physica, Empirie also in theoretischer Absicht. Ihr Ziel war die scientia totalis als System von bewiesenen Schlußsätzen, deren systematische Darstellung dem ordo didascalicus des Voranschreitens vom Einfachen zum Zusammengesetzten (oder umgekehrt) folgt: ä constituentibus ad constitutum, ä partibus ad totum, ä simplicioribus subjectis ad compositiora ... Ita Architectus primum trabes, tigna, lapides, marmora, lateres, tegulas, calcem, arenam explicat; hinc porro fundamentum, columnas, frontispicium, parietes, tectum; denique aedes privatas, templa basilicas, theatra discipulo proponit. Ita Physicus ä similiaribus corporibus ad dissimilaria non viventibus; ab his ad viventia, ä plantis ad animalia, ab imperfectioribus animalibus ad perfectiora contendit.7

Wissenschaftspraxis als Verzettelung des Wissens Wie nun spiegeln sich die methodologischen und wissenschaftssystematischen Vorstellungen von Jungius in seiner Arbeitsweise wider, und inwiefern dürfen wir umgekehrt seine Wissenschaftslehre auch als Korrelat der Praxis wissenschaftlichen Arbeitens begreifen? Der handschriftliche Nachlaß8 liefert zu diesen Fragen vielfältiges Material. Hinzu kommen Äußerungen aus dem Kreis der Schüler und derjenigen, in deren Obhut der Nachlaß sich später befand. Mit heute noch an die 45000 Blatt - einem Drittel des ursprünglichen Volumens - gehört der Nachlaß von Jungius zu den umfangreichsten Gelehrtennachlässen der frühen Neuzeit. Seine authentische Ordnung ist weitgehend erhalten, doch der ursprüngliche Nutzungszusammenhang durch spätere Maßnahmen teilweise zerstört. Denn wir sollten uns Bücher- und Handschriftensammlung eines Gelehrten stets als Einheit vorstellen. Mischformen und Kontaminationen aller Art waren die Regel: Texthandschriften, die mit den Büchern verwahrt wurden, Druckschriften, die bei den Manuskripten lagen, Marginalien in Büchern, eingelegte Notizblätter oder Briefe sowie handschriftlich nachgetragene Register. Vermutlich dürften auch Realien wie Instrumente, Globen oder Herbarien zum Normalbestand eines gelehrten supellex gehört haben. Wenn Bibliothekare dies später entflochten haben, geschah es nach formalen, nicht nach Nutzungs- und schon gar nicht nach historischen Gesichtspunkten. Voraussetzung aller gelehrten Arbeit war natürlich die Verfügbarkeit von Literatur. Jungius' eigene Büchersammlung, deren Bestand sich rekonstruie7

Joachim Jungius, Logica Hamburgensis, hrsg. v. Rudolf W. Meyer, Hamburg 1957 (Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft Bd. 1), S. 240, 244. 8 Christoph Meinel, Der handschriftliche Nachlaß von Joachim Jungius in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Stuttgart 1984 (Katalog der Handschriften der Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg Bd. 9).

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ren und in seiner Entwicklung verfolgen läßt, umfaßte rund 1000 Bände.9 Ungewöhnlich war der Grad ihrer Spezialisierung: Mathematik, Naturlehre und Philosophie waren in großer Breite und Aktualität vertreten; die zeittypischen Humaniora, Rhetorik, Literatur und Philologie fielen hingegen kaum ins Gewicht. Exemplare, die sich erhalten haben, zeigen Jungius als einen präzisen und kritischen Leser mit einem Hang zur Pedanterie. Die Auseinandersetzung mit der herrschenden Lehre und die schulische Praxis des Disputierens setzten ein breites Spektrum einschlägiger Schriften voraus: Der 1630 begonnene Vorlesungszyklus zur Naturkunde zitiert 60 verschiedene Autoren; ebenso viele Namen mit mehr als 100 Einzeltiteln bietet die Logica Hamburgensis auf. Vermutlich haben wir uns viel zu sehr an die Vorstellung gewöhnt, die neuzeitliche Naturwissenschaft habe mit Experiment und Beobachtung begonnen. Tatsächlich war der Erfahrungsraum frühneuzeitlicher Wissenschaft in erster Linie von Texten konstituiert, die sich ihrerseits wieder auf Texte, und nicht auf Natur, bezogen. Die Binnenreferentialität innerhalb eines Universums aus Texten war auch in den Naturwissenschaften die Regel, der Rückgriff auf eigene Beobachtung, gar das Experiment die Ausnahme. Dies gilt selbst für den Empiriker Jungius, der sich auch dort, wo er mit Gründen aus der Erfahrung und der Beobachtung aufwartete, meist nur auf angelesene Erfahrung berief. Der noch ,historisch' geprägte experientia-EegriK der frühen Neuzeit weist fließende Übergänge auf zwischen dem, was man verläßlichen Autoren entnahm, und dem, was dem strengen Begriff des Experiments gehorcht.10 Im Kapitel De experientia der Logica Hamburgensis definierte Jungius „si plures experientiae sive vulgäres sive per observationem comparatae literis consignentur, Historia scientialis dicitur" und nannte Aristoteles' Historia animalium und Georg Agricolas De re metallica als Beispiele.11 Es ist dennoch durchaus legitim, Jungius' Art der Literaturauswertung empirisch zu nennen. Sie zielte auf das Einzelne, das Überprüfbare, das Faktische; sie isolierte Details und forschte nach Widersprüchen. Was Jungius an Beobachtungen, Lesefrüchten, Definitionen, Literaturverweisen, Zitaten, Tatsachen und Gedanken auf Zetteln notierte oder auf den zahlreichen mit Quaerenda und Digerenda überschriebenen Blättern zur weiteren Untersuchung festhielt, verrät exzessive Benutzung aller verfügbaren Quellen. Keine Schrift scheint ihm zu abgelegen, kein Autor zu obskur gewesen zu sein, um 9

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Christoph Meinel, Die Bibliothek des Joachim Jungius. Ein Beitrag zur Historia litteraria der frühen Neuzeit, Göttingen 1992 (Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft Bd. 67). Arno Seifert, Cognitio historica. Die Geschichte als Namensgeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1976 (Historische Forschungen Bd. 11), bes. S. 116-138. Jungius, Logica (wie Anm. 7), S. 209.

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nicht doch noch die eine oder andere Erkenntnis zu liefern. Die Breite der Informationen, sofern diese auch nur den Anschein überprüfbarer Gegebenheit hatten, war konstitutiv für sein Programm einer empirischen Bestandsaufnahme. Charakteristisch für Jungius' Verzettelungstechnik ist das einheitliche Oktavformat. Längere Entwürfe, Vorlesungsmanuskripte und sonstige Texthandschriften wurden hingegen stets auf Quartblätter notiert und damit schon äußerlich klar von den Zetteln der Materialsammlung unterschieden. Die ca. 16 10 cm großen, hochformatig beschriebenen schedae seiner Exzerptensammlung hat Jungius meist mit einem Kopfrubrum, dem titulus, versehen. Die Disposition der Inhalte folgt dem Prinzip der Zergliederung. Auf diese Weise kam möglichst nur ein einziger Sachverhalt, eine isolierte Beobachtung, ein einzelner Gedanke auf einem Blatte zu stehen. Diacrisis, analysis und anatomia als Leitbegriffe der naturwissenschaftlichen Forschungsmethode sind hier auf die literarisch-wissenschaftliche Arbeitsweise übertragen. Papier und Tinte scheint Jungius stets dabei gehabt zu haben. Makulierte Druckbögen, die leeren Rückseiten von Briefkonzepten oder gar Stilübungen der Lateinschüler kamen dem sparsamen Gelehrten gerade recht. Für eine Quellenangabe, eine bibliographische Notiz, eine hastig hingeworfene Forschungsidee fand sich immer noch Platz. Waren genügend Blätter zum gleichen Gegenstand beisammen, wurden diese in ein auf die Hälfte gefaltetes Quartblatt gelegt und das Rubrum auf die Umschlagseite des so entstandenen manipulus (Bündels) übertragen. Schließlich konnten mehrere manipuli durch einen gemeinsamen Umschlag zu Packen, fasces, zusammengefaßt werden. Wachstum und Verzweigung des Materials waren dabei kumulativ und nach allen Richtungen hin offen. Die Sammlung strukturierte sich gewissermaßen von selbst, indem sie gerade nicht eine schon vorgegebene Topik durch exempla auffüllte. Leere Systemstellen, also Umschläge zu festgelegten Oberbegriffen ohne empirische schedae darin, kommen daher nicht vor. Wo sich auf diese Weise Gruppen von zusammengehörigen Teilbefunden herausbildeten, ließen diese sich als emergente Eigenschaften des Materials selbst betrachten, als empirische Vor-Ordnungen auf ein natürliches' System von classes und genera hin. Dieser Funktionsweise des Zettelkastens entspricht die im Grunde verblüffende Tatsache, daß trotz des gewaltigen Umfanges der Sammlung offenbar nicht nur die einfachsten übergeordneten Ordnungskriterien (Signaturen, Blattzählungen) fehlten, sondern auch keinerlei Erschließungshilfsmittel (Verweissysteme, Indizes) vorhanden waren. Erst drei Tage nach Jungius' Tod hat sein Schüler und Mitarbeiter Martin Fogelius ein erstes, 330 Packen umfassendes Verzeichnis der Handschriften angefertigt. Es dürfte uns einen recht getreuen Eindruck von der Art und Weise vermitteln, wie Jungius die

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Sammlung in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt hatte, und bestätigt zugleich das merkwürdige Fehlen einer systematischen Aufstellung nach Sachgebieten. Zwar finden wir die Quarthandschriften (etwa 14 % des Bestandes) klar von den Oktavformaten der schedae getrennt, treffen auch Gruppierungen unter die Fachbezeichnungen Logica, Medica, Physica, Politica, Historica, Philologica und Mathematica an, doch läßt sich weder hier noch innerhalb der Manuskriptgruppen irgendein durchgängiges Schema erkennen. Nirgendwo konstituieren Jungius' tituli eine innere Ordnung des Wissens. Und doch hatte das Chaos bei Jungius Methode. Denn sein Zettelkasten unterscheidet sich völlig von allen damals gängigen Organisationsprinzipien gelehrter Notizensammlungen, wofür die mit Jeremias Drexels Aurifodina artium et scientiarum (Antwerpen 1638) einsetzende und in Vincenz Placcius' Ars excerpendi (Stockholm/Hamburg 1689) gipfelnde Schriftengattung zur Technik des wissenschaftlichen Arbeitens und Exzerpierens zahlreiche Beispiele darbietet. Wenn darin Materialsammlungen in Gestalt von Zettelkästen mit losen schedae darinnen überhaupt erwähnt sind, so doch lediglich, um vor dieser rasch unübersichtlich werdenden Form zu warnen.12 Als Normalform gelehrter Aufzeichnungen begegnen uns stattdessen stets kompakte libri excerptorum, d.h. sequentielle bzw. hierarchisch-dispositive Aufschreibesysteme, in die man Notizen nach einer vorgegebenen chronologischen oder sachlichen Ordnung eintrug. Allenfalls interimistische „Memorial=Zettuln", „Schreibtäflein" oder „codicilli reminiscentiae" finden sich ausnahmsweise einmal erwähnt, auf die man beim Lesen notierte, was später in Ruhe mit einem „Titul" versehen und an die passende Stelle des Exzerptenbuches übertragen wurde.13 Das zweiteilige Exzerpierverfahren diente dazu, daß „die Gedanken unter den Lesen nicht zerrüttet" und die Notizen nicht in der Eile unter einem falschen titulus eingetragen würden, wo sie dann mit dem Federmesser später wieder ausradiert werden müßten. Verfahren, bei denen Information einzeln verzettelt wurde, blieben im wesentlichen auf das Erstellen von Indizes und Bibliographien beschränkt. Die technischen und methodischen Grundlagen des Registermachens hatte bereits Conrad Gesner in seiner Bibliotheca universalis (Zürich 1545) ausführlich beschrieben.14 Stichworte wurden danach untereinander auf ein Blatt Papier geschrieben, dieses anschließend zerschnitten und die einzelnen Abschnitte alphabetisch oder sachlich geordnet. Nun konnten die Zettel in der richtigen Reihenfolge abgeschrieben oder in Kladden geklebt werden. Genial mutet Gesners Erfindung an, Blankoalben von bis zu 100 Blatt anzu12 13 14

Placcius, De arte excerpendi, S. 70-73. Udenius, Excerpendi ratio nova, S. 74, 158-159. Zedelmaier, Bibliotheca universalis, S. 101-106; Wellisch, How to make an index.

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legen, über deren Seiten jeweils vier senkrechte Fäden liefen, die die einzelnen Schnipsel fixierten. So konnte nach Bedarf entnommen, hinzugefügt und umgesteckt werden, bis die endgültige Reihung erreicht war - ein Zettelkasten in Buchform, dessen Fortentwicklung uns erst ein ganzes Jahrhundert danach bei Georg Philipp Harsdörffer begegnet, der zum Registermachen eine Schachtel mit 24, mit den Buchstaben des Alphabets bezeichneten Fächern empfahl, um die verzettelten Stichwörter vorzusortieren.15 Doch sowohl Gesners Zettelbuch als auch Harsdörffers Zettelkasten sind bloße Interimslösungen und Ordnungshilfen, ausschließlich dazu bestimmt, das Material wieder in alphabetische Reihung zu bringen oder einem festliegenden Klassifikationssystem unterzuordnen. Wie die Beispiele zeigen, waren den Zeitgenossen die mit alphabetischen oder hierarchischen Aufschreibesystemen verbundenen Nachteile durchaus bewußt. Denn Korrekturen und Ergänzungen ließen sich in den gebundenen Exzerptenbüchern schwer anbringen, auch mußte von Anfang an Raum für spätere Eintragungen bleiben, was die Bände unhandlich machte.16 Doch die übliche Art der Nutzung wog die Nachteile der Kodexform offenbar auf: gaben doch fast alle Autoren den Rat, der Gelehrte solle seine libri excerptorum in regelmäßigen Abständen lesen oder durchblättern, um sich Inhalt und Ordnung einzuprägen. Seit Drexels Aurifodina, wo das „excerpta relege" und das „edisce quaedam" die fünfte und sechste Regel des Exzerpierens bildeten, zieht sich die Auffassung vom Exzerpieren als bloßem „adjumentum memoriae" durch die gesamte einschlägige Literatur.17 Um in die voluminösen Kodizes, die wir uns als Quartbände von durchaus bis zu 1200 Seiten vorstellen sollten,18 Nachträge einfügen zu können, empfahl Placcius, sie bogen- oder lagenweise und relativ locker auf Bänder zu heften, keinesfalls aber zu leimen, um jederzeit ganze Lagen, einzelne Blätter oder auch bloß kleine Papierstreifen einschießen sowie fehlplazierte Bögen herausnehmen zu können (Abb. l).19 Gebräuchlich waren zwei Grundtypen: loci communes und adversaria. Bei den loci communes, der älteren und wohl auch verbreiteteren Form, handelte es sich in der Regel um knappe bibliographisch-inhaltliche Ver15

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Georg Philipp Harsdörffer, Delitiae philosophicae et mathematicae. Der philosophischen und mathematischen Erquickstunden dritter Theil, Nürnberg 1653, Neudr. hrsg. v. Jörg Jochen Berns, Frankfurt/M. 1990 (Texte der Frühen Neuzeit Bd. 3), S. 57. Udenius, Excerpendi ratio nova, S. 62-65; Drexel, Aurifodina, S. 88-142; Morhof, Polyhistor, Bd. l, S. 561. Drexel, Aurifodina, S. 3-10, 84, 258-262; Udenius, Excerpendi ratio nova, S. 3, 160; Placcius, De arte excerpendi, S. 47. Philomusus, Industria excerpendi, S. 26-27, 30-32. Placcius, De arte excerpendi, S. 65-68 u. Tab. I.

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Abb. 1: Exzerptenbücher, aus: Vincentius Placcius, De arte excerpendi. Vom Gelahrten Buchhalten, Stockholm/Hamburg: Liebezeit 1689, S. 67 [ÜB Erlangen].

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weise zu Stichworten und Sachverhalten. Diese folgten einem lexikalischalphabetischen ordo verborum, meist aber dem ordo rerum einer systematischen Einteilung nach Sachgebieten. Der Gedanke einer im Gegenstand begründeten, »natürlichen' Ordnung war hierbei zentral und häufig mit ramistischen Vorstellungen von systematischer Klassifikation verknüpft. So lehnte etwa der bedeutende ramistische Logiker Bartholomäus Keckermann selbst alphabetische loci communes als willkürlich ab und forderte „tituli methodice dispositi", die „sua natura" in Haupt- und Unterbegriffe gegliedert waren.20 Um jede Willkür auszuschließen, war deren systematische Disposition stets aus bewährten Lehrbüchern der jeweiligen Disziplin zu übernehmen: „nee alia erit locorum communium forma & Methodus, quam ipsius doctrinae, cuius ista sunt capita et tituli".21 Daß ein vielleicht schon bald obsoletes System den Fortschritt der Wissenschaft hemmen könne, kam kaum jemandem in den Sinn. Placcius allein, dessen Ars excerpendi sich im Vorwort auf keinen geringeren als Francis Bacon berief, erkannte den Konflikt zwischen dem neuen empirischen Wissen und den Zwängen eines starren Systems und empfahl, Exzerpte zur Medizin - als der sich am raschesten entwickelnden Wissenschaft - möglichst nach dem System der jeweils modernsten Lehrbücher zu ordnen.22 Der zweite Typus gelehrter Materialsammlungen, adversaria oder memorialia genannt und von der Praxis kaufmännischer Buchhaltung abgeleitet, weshalb Placcius auch von der „gelehrten Buchhalter=Kunst" sprach, nahmen Lesefrüchte, Gedanken, Notizen und Beobachtungen in fortlaufender Folge auf. Ihr Organisationsprinzip ist die mechanische Abfolge, wobei im Exzerptenbuch jeweils einige Fingerbreit die einzelnen Eintragungen von einander trennten. Die sachliche Erschließung erfolgte über indices rerum, verborum et autorum, die den libri excerptorum vorangebunden oder in separaten Heften geführt wurden.23 Was die Grundsätze des Exzerpierens, der Eintragung in voluminöse Kodizes und der Aufbereitung durch Indizes angeht, ist sich die frühneuzeitliche Literatur zur Arbeitstechnik merkwürdig einig. Um so auffälliger ist es, daß sich nichts dergleichen im Jungiusnachlaß findet. Erschließungshilfsmittel und Exzerptensammlungen in Buchform fehlen. Lediglich aus der frühen Gießener Zeit findet sich eine geheftete Kladde von etwa 100 Seiten, in 20

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Bartholomäus Keckermann, Gymnasium logicum [1600], in: Opera omnia, Bd. I, Genf: Aubertus 1614, S. 488-490; vgl. Drexel, Aurifodina, S. 259; Udenius, Excerpendi ratio nova, S. 77, 159. Bartholomäus Keckermann, De locis communibus ... epistola ad Gualterum ab Holden [1603], in: Opera, Bd. I, S. 494-500, hier S. 495. Placcius, De arte excerpendi, Widmungsvorrede u. S. 167-168. Drexel, Aurifodina, S. 88-142.

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der unter den Rubra Graeca, Epistolae, Philosoph!, Antiquitates, Historica, Geographica, Mathematica, Physica, Poetae latini, Ethici, Medici und Geographi Literaturverweise, Lesefrüchte und Forschungsideen versammelt sind. Später scheint Jungius die Form des über excerptorum völlig aufgegeben zu haben. Denn wie immer ein linear fortlaufendes oder hierarchisch-dispositives Aufschreibesystem aussehen mag, stets ordnet es Sachverhalte einer vorgegebenen Topik unter. Die kritisch-empirische Fundierung einer neuen Wissenschaft erforderte ein neues Notationsverfahren, wie es nur der Zettelkasten bietet: ein offenes, nicht-hierarchisches, beliebig unterteilbares, kumulativ wachsendes und eigene Sachgruppierungen erzeugendes compendium mundi - dazu bestimmt, die ganze Breite des empirischen Kenntnisstandes aufzunehmen, ohne dabei schon bestimmte Auswahl- und Ordnungskriterien anzulegen. Hier liegt das Exzeptionelle und Innovative der Exzerpiertechnik von Jungius. Nicht der Disposition und der Zuweisung zu vorgegebenen loci dienten seine Zettelkästen, sondern sie waren eindeutig als Instrumente der Forschung konzipiert. Daher waren sie auch nicht als Interimslösung gedacht wie Gesners Zettelbuch und Harsdörffers Sortierkasten, sondern sie stellten das eigentliche und permanente Handwerkszeug des Gelehrten dar, wie schon aus der Standardisierung der Formate deutlich wird. Damit tritt uns die moderne Form des Zettelkastens erstmals entgegen. Den Nürnberger Polyhistor Christoph Gottlieb von Murr mag dies noch im 18. Jahrhundert bewegen haben, Jungius als den eigentlichen Erfinder des Exzerpierens auf besondere Blätter anzusehen und eine direkte Rezeptionskette von Jungius über Fogelius bis zu Leibniz zu postulieren.24 Entscheidend ist, daß der Jungiussche Zettelkasten nicht bloß eine mechanische, sondern tatsächlich eine methodologische Neuerung darstellte, die der Wissenschaftslehre und Forschungspraxis des Hamburger Gelehrten aufs genaueste entsprach. Ein zentraler Grundsatz seiner Methodenlehre war nämlich, in den Erfahrungswissenschaften auf die Verwendung der Praedikamente und Kategorien, d. h. auf Metaphysik und Logik, zu verzichten. Wissenschaftliche Naturbeobachtung habe vielmehr vom konkreten Einzelding auszugehen und dieses zunächst ganzheitlich und ohne alle theoretischen oder kategorialen Vorannahmen allein mit Hilfe der Sinnesorgane zu erfassen. Voraussetzung aller wahren Erkenntnis ist für Jungius - durchaus in der Tradition deutscher Schulmetaphysik - die empirische, zunächst noch ganz undifferenzierte cognitio confusa actualis. Dieser entspricht der unstrukturierte Ausgangszustand des Zettelkastens. Die Aufgabe der Wissenschaft bestand nun darin, unbestimmte Primärerfahrung in zunehmend 24

Von Murr, Von Leibnitzens Exzerpirschrank, in: Journal zur Kunstgeschichte und allgemeinen Litteratur 7, Nürnberg 1779, S. 210-212.

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schärferer Beobachtung und präziserer Beschreibung zu differenzieren und auf diese Weise in diskrete, wissenschaftliche Erfahrung, distincta experientia, zu überführen. Eine Forschungsmethode, die Daten weitgehend ,theoriefrei' sammelt, um sie letztlich in einfachste, nicht weiter zu untergliedernde Basisdaten zerlegen und begrifflich erfassen zu können, erforderte den Zettelkasten: die Summe der aus Beobachtung, Experiment aber auch Leseerfahrung gewonnenen und in Wissensfragmente zerlegten Elemente der Wirklichkeit. Da der Systemgedanke einer zugrundeliegenden Ordnung fehlt, bildet der ordo schedarum bei Jungius nicht schon den ordo doctrinae als ordo rerum der Welt ab, sondern ist zunächst bloßes Baumaterial, sylva im Sprachgebrauch der Zeit, für ein neues, empirisch gegründetes Weltbild, das sich aus diesen Steinen so fügen lassen sollte, wie der Baumeister die Baukunst entwickelt, indem er mit Kalk, Sand und Ziegeln beginnt.25 Der Vergleich mit Francis Bacon, dessen Werk Jungius kannte und schätzte, drängt sich hier auf. Denn auch Bacon hatte die historia naturalis nicht „propter rerum ipsarum cognitionem" betrieben, sondern „tanquam materia prima philosophise, atque verae inductionis supellex sive sylva".26 Und der Herausgeber von Bacons Sylva sylvarum leitete diese riesige Sammlung unverbundener Einzeltatsachen mit der Bemerkung ein, such a Natural History ... may be fundamental to the erecting and building of a true philosophy;... for the extracting of axioms. ... having in this present work collected the materials for the building, and in his Novum Organum ... set down the instruments and directions, ... I have heard his lordship speak complainingly, that his lordship (who thinketh he deserveth to be an architect in this building) should be forced to be a workman and a labourer, and to dig the clay and burn the brick.27 Der Empirismus hatte Jungius zu einer Methode des Exzerpierens und Materialsammelns geführt, die der Absicht der loci communes diametral entgegengesetzt war. Verstanden sich diese als apparatus doctrinae?* so waren sie bei Jungius Instrumente der Forschung, aus denen sich erst bei fortgesetzter Observation und Distinktion die Anfangsgründe eines künftigen Systems ergeben sollten. Hatte man sonst die empirischen, an Zeit und Geschehnis gebundenen Fakten der loci historici als bloße exempla benutzt (von denen es, der von Jean Bodin geprägten Gleichsetzung von loci historici und exem25 26

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Jungius, Logica (wie Anm. 7), S. 244. Francis Bacon, Parasceve ad historiam naturalem et experimentellem [1620], Aphor. 2, in: The Works, hrsg. v. James Spedding, Robert Leslie Ellis u. Douglas Denon Heath, Bd. l, London 1858, S. 395. William Rawley, To the reader, in: Sylva sylvarum or a natural history [1627], ebda., Bd. 2, London 1859, S. 335-336. Keckermann, De locis (wie Anm. 21), S. 495.

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p/a entsprechend,29 noch bei Keckermann hieß, „exempla autem nihil sunt aliud, quam generalis doctrinae & regularum universalium specialia symbola"),30 so sollte, was Jungius auf seine schedae notierte, die Bausteine der Wirklichkeit liefern. Das beste Beispiel für die zergliedernde, sich dem System verweigernde und doch stets in theoretischer Absicht betriebene Forschungsweise von Jungius bieten seine botanischen Aufzeichnungen, die vollständig und in authentischer Ordnung erhalten sind. Gerade die Botanik konnte im 16. und 17. Jahrhundert einen Wissenszuwachs verbuchen, der ohne Beispiel war. Hatte Otto Brunfels in seinen Herbarum vivae eicones (Straßburg 15301536) nur 258 Pflanzenarten beschrieben, so zählte schon Leonhart Fuchs in den De historia stirpium commentarü (Basel 1547) über 500 Arten auf, finden sich in Matthias L'Obels Plantarum seu stirpium historia (Antwerpen 1576) bereits 2000 Arten und versammelte Caspar Bauhin in der Pinax theatri botanici (Basel 1623) schließlich insgesamt 6000. Eine Generation nach Jungius nennt John Rays Historia generalis plantarum (London 1686-1704) gar 18000 verschiedene Arten in alphabetischer Folge. Jungius hat diesen dramatischen Wissenszuwachs aufmerksam verfolgt. Seine private Büchersammlung enthielt 27 botanische Werke, und weitere werden ihm in anderen Bibliotheken zugänglich gewesen sein. Seine botanischen Aufzeichnungen, von denen postum nur Bruchstücke im Druck erschienen sind, umfassen 21 Packen von jeweils zwischen 38 und 644 Seiten: zusammen 5588 einzelne Blätter. Die einzelnen fasces scheinen ursprünglich unter folgenden Sachgruppen auf den Gesamtbestand Physica verteilt gewesen zu sein: De seminis et florum differentiis. De differentiis et partibus plantarum. Generalia botanica. Phytoscopica. Similaria e plantis et animalibus. Isagogae phytoscopicae addenda. Horti. Phytoscopia specialis. De plantarum speciebus, generatione et propagatione, degeneratione et immutatione. Botanica specialia. Lectiones phytoscopicae. Disputationes phytoscopicae. Geoponica et ampelurgica. Hortus. Botanica specialia Patavina. Botanica generalis.31 Ein Ordnungsprinzip ist aus den Titeln des 1657 von Fogelius erstellten Inventars nicht ersichtlich, und das gleiche gilt auch für die Abfolge der manipuli innerhalb der einzelnen Packen, nimmt man die 244 Blätter der alphabe29

3(1 31

I[oannes] Bodinus, Methodvs ad facilem historiarum cognitionem, Amsterdam: Ravestein 1650 (Neudr. Aalen 1967), S. 21-34: De locis historiarum recte instituendis; vgl. Drexel, Aurifodina, S. 85-87. Keckermann, De locis (wie Anm. 21), S. 496. Meinel, Nachlaß Jungius (wie Anm. 8), S. XXI-XXV; hinzu kamen zwei Faszikel in 4° (Isagoge phytoscopica. Tabulae botanicae e Caesalpino) sowie unter anderen Sachgruppen (Materia medica. Galeni doxoscopia) gesammelte Notizen.

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tisch nach Pflanzennamen abgelegten Observations botanicae speciales32 einmal aus. Als Beispiel mag hier der postum mit Botanica II: Plantarum generatio bezeichnete Bestand gelten, dessen 384 einzelne Blätter Jungius unter folgende tituli abgelegt hatte: Germinatio. De tempore germinationis. Germinatio, Germinationis modus, Generalia botanica. Generalia plantarum. Plantarum propagatio. Germinatio, Bina prima folia, Observanda pro binis primis foliis, An omnes plantae habeant semen per quod speciem propagare prosint? Ex semine germinatio. Fertilitas. Observationes generationis de arboribus. An plantae sine semine. Generatio plantarum. Propagatio, Cicuratio, Ligustrum, Pinea, Magnitude plantarum. Cicuratio, Plantae sponte natae. Generatio per radicem, Generatio per ramos. Generatio, Insitio, Insitiones arborum, Inoculatio, Plantae in plantis, Terebra, Satio, Vitis.33 Die Probleme der Sachordnung, vor die das empirische Material den Forscher stellte, sind evident; denn ein »natürliches' Klassifikations- und Benennungssystem der Pflanzen lag ja nicht vor. Deshalb ging es zunächst darum, in Auseinandersetzung mit dem Lehrsystem eines Andrea Caesalpino einerseits, andererseits aber vermittels empirisch gewonnener differentiae specificae und partes plantarum, d. h. sowohl in kritischer als auch in analytischer Hinsicht, die allen Pflanzen gemeinsamen konstitutiven Bestandteile zu ermitteln, aus denen sich dann, gewissermaßen im Baukastenprinzip, ein natürliches System der Botanik errichten lassen sollte. Der atomistische Ansatz hat sich dabei aller voreiligen Kategorisierung so radikal verweigert, daß Jungius geneigt war, sogar den botanischen Artbegriff für ein artifizielles Hilfsmittel anzusehen, dem in der Natur ein Kontinuum aller möglichen Kombinationen entspricht.34 Der Konflikt zwischen empirischem Detail und ordnendem System ist hier ganz zugunsten des Einzelnen entschieden, ohne daß Jungius freilich eine ars inveniendi besaß, mit deren Hilfe er vom ordo resolutivus wieder zum synthetischen Aufbau höherer Komplexität hätte gelangen können. Halten wir fest, daß das Jungiussche Verzettelungssystem analytisch-differenzierend, unstrukturiert und nicht-hierarchisch angelegt war. Es diente in erster Linie dazu, Unterschiede aufzuspüren und Widersprüche festzuhalten, mochten diese nun in den Lehrmeinungen oder den unterscheidbaren Teilen des empirischen Gegenstandes liegen. Am Ende dieses Verfahrens standen in der Regel Definitionen, deren logische Schärfe und lapidare Kürze ihres32 33 34

Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg [im folgenden zitiert: SUB Hamburg], Nachlaß Jungius, Sign. Wo. 1; vgl. Meinel, Nachlaß Jungius (wie Anm. 8), S. 93. Ebda., Sign. Wo. 2; S. 94. Julius Schuster, Jungius' Botanik als Verdienst und Schicksal, in: Meyer, Beiträge (wie Anm. 5), S. 27-50.

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gleichen suchen und die Jungius, von ihrer sacherschließenden Kraft durchdrungen, als „futuri alicujus systematis Physici initia"35 betrachtete. Doch ist der Jungiussche Ansatz das genaue Gegenteil des Reduktionismus moderner Naturwissenschaft. Sein Ergebnis in empirischer Hinsicht kann allenfalls die Gesamtheit natürlicher Sachverhalte sein: Summe statt System, Polymathie statt Enzyklopädie - und auch noch als solche doch bloß wieder Vorstufe zu einer Universalwissenschaft von der Natur. Denn als Mittelglied in der Abfolge der eigentlichen Wissenschaften, zwischen Mathematik und Metaphysik, fand auch die physica ihre letzte Bestimmung erst in einer scientia totalis als umfassendem, hierarchisch gegliedertem System bewiesener Sätze. Es ist kaum vorstellbar, wie der Jungiussche Zettelkasten als heuristisches oder synthetisierendes Instrument hätte funktionieren sollen. Jungius' Empirismus ging davon aus, daß sich aus zergliedernder Beobachtung allein die Axiome der Wissenschaft gewissermaßen von selbst ergeben müßten. Eine Methodenlehre der Induktion, wie sie Francis Bacon entwickelt hat, besaß Jungius nicht. So hören wir ihn klagen, wie langsam die Empirie vorankomme, wie viel noch zu tun bleibe und wie vorläufig die erzielten Ergebnisse seien. Unermüdlich stellte er Beobachtungen an, exzerpierte, merkte an und trug die Notizen zusammen. Seine Zettelkästen quollen über, und noch war kein Ende in Sicht. An die 150000 Blatt dürfte die Sammlung schließlich umfaßt haben. Doch so sehr man Jungius auch drängte, Publikationsvorhaben wurden immer weiter hinausgeschoben. Das große Programm einer allgemeinen Wissenschaftsreform blieb in der doxoskopischen Propädeutik stecken. Noch Leibniz konnte sich den Stoßseufzer nicht verkneifen, „Utinam vir summus magis elaborasset in stabiliendis propriis, quam discutiendis alienis!"36 Nach Jungius' Tod waren seine Schüler die eigentlichen Opfer seines Scheiterns. Denn am Ansehen des Lehrers hing auch das ihre. So taten sie, was die gelehrte Welt von ihnen erwartete: die in dem immensen Nachlaß vermeintlich verborgenen Schätze zu heben und zum Druck zu befördern. Der erste dieser postumen Bearbeiter war Martin Fogelius. Mit der Denkund Arbeitsweise seines Lehrers bestens vertraut, hat er nicht nur das erste Inventar des handschriftlichen Nachlasses erstellt, sondern auch eine erste Bestandsübersicht publiziert. Offenbar waren jedoch nicht mehr als sechs halbwegs abgeschlossene Texte darunter. Der umfangreichste, eine Physicavorlesung, erschien schließlich unter dem Titel Doxoscopiae physicae mino35

36

Joachim Jungius, Doxoscopiae physicae minores sive isagoge physica doxoscopica, hrsg. v. Mfartin] F[ogelius], Hamburg: Naumann 1662, Annot. Spec. 1.1. sect. 18; vgl. Jungius, Praelectiones (wie Anm. 3), S. 14-15. Leibniz an Placcius (21. August 1695), in: Leibniz, Opera, Bd. 6, 1768, S. 59.

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res (Hamburg 1661) im Druck.37 Die Gewissenhaftigkeit des Herausgebers ging dabei so weit, daß er sogar der Forderung seines Lehrers folgte, Bücher nicht fortlaufend zu paginieren, sondern absatz- und satzweise zu zählen.38 Mit welchen Vorbehalten im Kreise um Jungius alle bloß formalen Ordnungssysteme betrachtet wurden, erhellt auch daraus, daß Fogelius in die Historia litteraria als derjenige eingegangen ist, der als erster eine Bibliothek ohne Rücksicht auf die Formate ausschließlich nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet habe - ein Aufstellungsprinzip, das Petrus Lambecius auch bei der Neuordnung der Wiener Hofbibliothek durchsetzte, mit welchem er aber offenbar auf so wenig Gegenliebe stieß, daß sein Nachfolger die Neuerung wieder rückgängig machte.39 Nach Fogelius' Tod konnten 16 Jahre lang keine weiteren Werke zum Druck gebracht werden, da beim chaotischen Zustand der Sammlung und dem Fehlen aller Findmittel eine erfolgreiche Benutzung unmöglich war. Erst 1675 begann man unter der Leitung von Michael Kirstenius, die bis dahin offenbar nur lose gebündelten fasces einzeln in besondere Umschläge oder ausgediente Buchdecken zu legen und ihnen neue Generaltitel zu geben. Doch noch immer war an eine thematische Erschließung nicht zu denken. So ging man unter der Aufsicht von Johannes Vagetius 1678 daran, Bandsignaturen zu bilden und Signatur samt Folionummer auf die einzelnen Blätter zu übertragen. Damit konnten diese nach Bedarf entnommen, neu zusammengestellt und anschließend doch wieder an ihren ursprünglichen Platz zurückgelegt werden. Ferner begann Vagetius damit, ein Register anzulegen, in dem die Titel der einzelnen manipuli verzeichnet waren, damit nicht jedesmal der gesamte Bestand neu durchsucht werden mußte. Doch ein solches Register kam offenbar nie zustande, und auch die Hoffnung, aus dem umfangreichen Material neue Werke zusammenstellen zu können, erfüllte sich nicht. Nur zwei elementare Lehrtexte, von denen ausgearbeitete Schülernachschriften vorlagen, gingen 1678 in Druck.40 Schließlich fiel den Nachlaßverwaltern nichts besseres ein, als komplette fasces in der vorgefundenen Ordnung abzudrucken. So erschien 1685 eine Sammlung geographischer Notizen unter dem Titel Germania superior, 1689 die von Christian Buncke systematisierten Mineralia und 1691 schließlich die von Johann Garmers besorgte Historia vermium - nicht viel mehr als diplomatisch getreue Druckversionen der von Jungius hinterlassenen Zettelkästen, wobei 37 38 39 40

Jungius, Doxoscopiae (wie Anm. 35); vgl. Jungius, Praelectiones (wie Anm. 3), S. 24-29. Jungius, Doxoscopiae, Annotatio generalis v. Morhof, Polyhistor, Bd. l, S. 36 Anm.; Friedrich Lorenz Hoffmann, Martin Fogel, in: Serapeum 16, 1855, S. 97-110. Joachim Jungius, Harmonica, o.O. [1679]; ders., Isagoge phytoscopica, Hamburg: Pfeiffer [1678].

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das atomisierende Prinzip bei den Mineralia so weit getrieben ist, daß jeder Satz als Einheit galt und eine eigene Zählung erhielt. Für den Inhalt der Bände mußte freilich schon Vagetius um Nachsicht bitten, daß sie nicht eigentlich 'Werke', „sed variorum operum materiam valde partialem" enthielten.41

Methodus excerpendi Das Problem der Jungiusschen Zettelkästen bestand also genau darin, daß sie empirische Details anhäuften, sich aber - um der Empirie willen - aller Systematik verweigerten und damit so komplex und verwirrend wurden wie die empirische Wirklichkeit selbst. Schon im Empirischen mußte das Programm daher an seinem unbedingten Empirismus scheitern. Mit der Verzettelung der Gesamtheit menschlicher Erfahrung war eine neue Universalwissenschaft nicht zu begründen. Es ist deshalb gewiß kein Zufall, daß gerade im Kreis der Jungiusschüler, die mit der Erschließung des Nachlasses betraut waren und das Dilemma der Zettelkästen kannten, eine intensive Beschäftigung mit Theorie und Praxis des Exzerpierens einsetzte. Die für lange Zeit maßgebliche Methodenlehre, Vincentius Placcius' De arte excerpendi von 1689, entstammt diesem Umfeld, 42 und noch im Liber von Morhofs Polyhistor, der sich ausführlich der Technik des Exzerpierens widmet, lassen sich Einflüsse des Kreises um Jungius fassen. Wir dürfen also vermuten, daß es Jungiussche Aporien waren, die schon zu dessen Lebzeiten eine Diskussion um die Verbesserung seiner Verzettelungsmethoden ausgelöst hatten. So berichtete Placcius, er sei 1656, d.h. in Jungius' letztem Lebensjahr, an das Hamburger Gymnasium gekommen, und augenblicklich sei sein bis dahin unterdrückter „excerpendi nativus instinctus" explosionsartig hervorgebrochen.43 Erste Erfahrungen habe er schon im ersten Jahr beim Ordnen der Materialien zur Lambecius' universalhistorischen Vorlesungen sammeln können, danach Drexels Aurifodina, das erste und klassische Lehrbuch der Exzerpiertechnik, studiert und beim Jungiusschüler Michael Kirstenius, der damals professor matheseos war, zwei Wochenstunden Unterricht über „de optima excerpendi ratione prascepta peculiaria" erhalten.44 Anschließend sei er beauftragt worden, ein Register der in der Stadtbibliothek vorhandenen Personalschriften zu erstel41 42 43 44

Vagetius an Leibniz (7. Dezember 1686), in: Leibniz, Opera, Bd. 6, 1768, S. 33. Morhof, Polyhistor, Bd. l, S. 559-714. Placcius, De arte excerpendi, S. 191. Ebda., S. 192.

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len, habe dann bersichtstafeln zur Jungiusschen Logik verfertigt und schlie lich sechs Jahre auf die Anlage einer literarischen Zitatensammlung verwandt, quae ... posset in Encyclopaediam absolutam evadere, quae cujusvis materiae, phrases latinas, ad usum eleganter atque copiose, cunta etiam rarissima exprimendi promptissimum, exhiberet.45 Das Exzerpieren, Verzetteln und Ordnen scheint im geistigen Umfeld von Jungius und am Hamburger Gymnasium einen so hohen Stellenwert eingenommen zu haben, da es gewi kein blo es Kuriosum ist, da Placcius seine Autobiographie in Form einer Historia excerptorum propriorum beschrieben hat.46 Eindrucksvoll entsteht hier vor uns der historische Erfahrungsraum fr hneuzeitlicher Wissenschaft als eine Welt literarischer Querverweise, als eine Welt aus Texten, aus Texten ber Texte, aus Exzerpten aus Texten und aus Texten ber Exzerpte. Sich diese Welt empirisch aneignen hie , sie exzerpieren. Genau dies ist die Erfahrung des Kreises um Jungius. Eine Schl sselfigur scheint Kirstenius gewesen zu sein. Ein Handschriftenkonvolut aus seinem Besitz enth lt drei Texte zur Exzerpiertechnik, von denen der erste De excerptis colligendis47 vielleicht eben jene „de optima excerpendi ratione praecepta peculiaria" enth lt, die er dem jungen Placcius diktiert hatte. Die darin f r die physisch-philosophischen Wissenschaften vorgenommene Unterscheidung in empirische, doxoskopische und exegetische Exzerpte entspricht terminologisch und sachlich exakt der Verfahrensweise von Jungius: In Philosophicis et illis reliquis gravioribus disciplinis occurrunt: 1. τα ιστορικά, quae in observationibus et experientijs posita sunt, 2. τα των δόξων, quae ad opiniones et placita variorum autorum δοξοσκοπίας aliqui appellant. ... 3. τα έξηγήτικα, quae ad exponendos autores in metaphrasibus, in scholiis, in commentary s proferuntur.48

Von gleicher Hand enth lt das Konvolut ferner einen De excerpendi methodo betitelten Text des Helmstedter Professors Christoph Schrader49 in einer auf 1660 datierten Fassung, dem die Nachschrift eines Justus Christoph Udenius zugrundelag, dessen um 1663 entstandene, zun chst handschriftlich verbrei45 46 47 48 49

Ebda., S. 197. Vincentius Placcius, Epistola qua historia excerptorum propriorum partite recensentur, per annos plusquam xxx continuatorum, in: Placcius, De arte excerpendi, S. 184-228. SUB Hamburg, Nachla Jungius, Sign. Wo. 28, pag. 1007-1020. Der Band kam erst im 19. Jahrhundert irrt mlich zum Jungiusnachla . Ebda., pag. 1011. Ebda., pag. 1021-1036. Der Sohn Schraders, hzgl. Rat in Gelle, war mit Placcius befreundet; vgl. Placcius, De arte excerpendi, S. 10.

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tete Excerpendi ratio nova (Nordhausen 1681 u.ö.) sich weitgehend an Schrader anlehnte. Der merkwürdigste Text jener Sammlung aber ist die Schrift eines ungenannten Autors mit dem umständlichen Titel Area studiorum seu repositorium, quo lecta, audita, meditata omnia expeditius disponendi promptiusque utendi modus proponitur.50 Kurz nach 1637 entstanden, wurde sie 1675 in einem von Vinzent Garmers51 verwahrten Teilnachlaß des Johann Adolph Tassius, des engsten Freundes und Kollegen von Jungius, entdeckt. Ihr Autor, der sich selbst als Freund Samuel Hartlibs und Anhänger der Comeniusschen Pansophie ausgab, war nicht zu ermitteln. Manches deutet auf einen norddeutschen Theologen hin. Es geht in der Schrift um die Darstellung eines offenbar neuartigen Karteisystems, das sowohl mit den Nachteilen der unhandlichen Libri excerptorum als auch mit dem Chaos loser Exzerptenzettel Schluß machen sollte: Confusa interim omnia, vastoque in gurgite natantia, tanquam in Chao illo Ovidiano, diversa dispersaque rerum semina vidi, mentemque re vera aliquam diviniorem, quae res singulas in suas classes ordinesque disponere possit, exspectantia.52 Zu diesem Zweck hatte der Autor sich ein scrinium litleratum, eine Art Karteischrank, aus Holz bauen lassen. An die 3000 Registerkarten aus Weißblech markierten die tituli oder loci, unter denen auf Oktav geschnittene und nach bestimmten Regeln beschriftete Notizblätter abgelegt wurden, und zwar so, daß sie mit einer metallenen Halteklammer oder mit einer an der Registerkarte angelöteten Nadel befestigt wurden, um sie jederzeit entnehmen, umordnen oder nach Bedarf auch mit einer provisorischen Heftung fixieren zu können (Abb. 2). Die Anordnung der loci konnte alphabetisch oder nach Sachgebieten erfolgen, stets jedoch so, daß sich bei geöffneten Türen, in die innenseitig ebenfalls Systemstellen integriert waren, alles mit einem Blick überschauen ließ. Placcius, der die Erfindung für so bemerkenswert hielt, daß er das Hamburger Manuskript vollständig publizierte,53 hat sie seinerseits noch in einigen De50 51

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53

SUB Hamburg, Nachlaß Jungius, Sign. Wo. 28, pag, 1039-1066. Vinzent Ganners, Schüler am Johanneum und Akademischen Gymnasium zu Hamburg, Hamburger Syndikus, Sächsisch-Lauenburgischer Rat und Gesandter; Onkel von Placcius und Sohn des Hamburger Syndikus Johann Garmers, der mit Tassius und Jungius befreundet war und dem beide den Ruf nach Hamburg verdankten. SUB Hamburg, Nachlaß Jungius, Sign. Wo. 28, pag. 1046-1047; Placcius, De arte excerpendi, S. 131; vgl. Ovid, Met. l, 7-9: „quem dixere Chaos: rudis indigestaque moles, I nee quicquam nisi pondus iners congestaque eodem l non bene iunctarum discordia semina rerum". Placcius, De arte excerpendi, S. 124-149.

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Abb. 2: Exzerptenschrank nach der Zeichnung des anonymen Hamburger Manuskripts, aus: Vincentius Placcius, De arte excerpendl. Vom Gelahrten Buchhalten, Stockholm/ Hamburg: Liebezeit 1689, S. 138 [ÜB Erlangen].

tails verbessert, vor allem die loci auf bewegliche Holzstäbe montiert und die Haltevorrichtung für die Notizblätter verändert. Ferner hat er als Basis eine Doppelreihe von Schubladen anbringen lassen, in die man größerformatige Handschriften und Drucke einlegen konnte. In dieser Form hat Placcius die Area benutzt und auch seinen Studenten vorgeführt.54 Leibniz soll später einen nach diesen Angaben gefertigten Exzerpierschrank erworben haben.55 Der Aufmerksamkeit nach zu schließen, die Placcius und noch Morhof56 der Sache widmeten, war ein Ordnungssystem nach Art eines Karteischrankes - so trivial uns dergleichen heute auch vorkommen mag - damals in der Tat neu und aufsehenerregend. Man wird deshalb nicht fehlgehen, wenn man den Ursprung von Karteisystemen der geschilderten Art in eine Zeit datiert, die angesichts der rasch wachsenden empirischen Fakten und der Krise der überkommenen Lehrsysteme nach neuen Ordnungsformen des Wissens verlangte.57 54 55 56 57

Placcius, De arte excerpendi, S. 221-222; Abb. bei Carl Graf von Klinckowstroem, Die Kartei, in: Zeitschrift für Bücherfreunde 1934/1, S. 14-16, auf S. 15. Murr, Leibnitzens Exzerpirschrank (wie Anm. 24), S. 210. Morhof, Polyhistor, Bd. l, S. 562, 713. Ähnliches ließe sich am Aufkommen von Zettelkatalogen in Bibliotheken beobachten. Diese scheinen anfangs ausschließlich als Interimsverzeichnisse zur Titelordnung und zur Vorbereitung für die Anlage von Bandkatalogen benutzt worden zu sein. Als End-

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Kartei und Gedächtnis Im Historischen sollte man sich hüten, Dinge für selbstverständlich zu nehmen, denn vieles führt hier auf unverhoffte Ahnenreihen. Wenn wir den Typus des von Placcius publizierten repositorium nämlich genauer betrachten, dann ist dieser nichts anderes als das Gedächtnistheater der alten Mnemonik. Die ars memoriae bestand ja darin, zu erinnernde Gegenstände in Gestalt assoziativ oder magisch erzeugter Bilder (ideae) in gedachten Gebäuden an besonderen Orten (/öd) abzulegen, um sie von dort bei Bedarf wieder aufzunehmen. Beliebt waren fiktive Theater. Johannes Willissus etwa beschreibt in seiner Mnemonica von 1618 unter der Überschrift De repositorns die klassische Form eines solchen Gedächtnistheaters in Gestalt einer 38 Fuß breiten, 15 Fuß tiefen und 18 Fuß hohen überdachten Bühne: „Repositorium est aedificium fictum e quadrato lapide ad formam theatri scenici affabre constructum."58 Der Bühnenraum selbst wird von einer Säule in ein linkes und ein rechtes Repositorium geschieden. Beide sind ihrerseits in gedachte waagerechte Fächer, die loci, unterteilt, in die die Gedächtnisbilder in fortlaufender Folge abgelegt werden: „Locus est spacium in repositorio designatum ad ideas recipiendas aptum."59 Die typologische Übereinstimmung der von Willissus dem Text beigegebenen Abbildung (Abb. 3) mit der area studiorum seu repositorum der Hamburger Handschrift könnte kaum genauer sein. In der Tat begegnet uns die früheste Erwähnung einer topologisch-systematischen Notizensammlung im Kontext der hermetischen Gedächtniskunst, und zwar in dem berühmten Gedächtnistheater des Giulio Camillo aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.60 Unsere wichtigste Quelle, ein Brief des Wigle van Eytta an Erasmus, wurde zwar erst 1743 publiziert, doch waren Teile daraus schon 1562 erschienen.61 Darin ist die Rede von einem begehba-

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katalog hat hat den Zettelkatalog zuerst Österreich 1778 für Universitäts- und Lyzealbibliotheken empfohlen, und der Josephinische Katalog der Wiener Hofbibliothek von 1780 gilt als der älteste Zettelkatalog der Bibliotheksgeschichte, obgleich auch er nur als Provisorium zur Erstellung des Bandkataloges in Folio gedacht war. Allmählich durchgesetzt haben sich Zettelkataloge dann erst im 19. Jahrhundert. Vgl. Ladislaus Buzas, Deutsche Bibliotheksgeschichte der Neuzeit, 1500-1800, Wiesbaden 1976 (Elemente des Buch- und Bibliothekswesens Bd. 2), S. 149; Josef Stummvoll, Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 1968 (Museion, N. F. II.3.1), S. 293; Dorothy May Norris, A history of cataloguing and cataloguing methods, 1100-1850, London 1939 (Neudr. Detroit 1969); Zedelmaier, Bibliotheca universalis. Joannes Willissus, Mnemonica siue reminiscendi ars, London: Lownes 1618, S. 57-58. Ebda., S. 60. Yates, Gedächtnis und Erinnern, S. 124 u. 134. Viglius Zuichemus an Erasmus (28. März 1532), in: Opus epistolarum, hrsg. v. P. S. Allen, Bd. 9, Oxford 1938, S. 475-480, hier S. 479-480.

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»lipping

Ss*

5.· Gedächtnistheater, aus: Joannes Willissus, Mnemonics siue reminiscendi ars, London: Lownes 1618, eingebundene Tafel [BStB München].

ren Theatergebäude voll kleiner Kästchen mit jeder Menge Papieren darin, die ein kompliziertes System magisch-mythologischer Bilder und Zeichen ordnete. Doch über Inhalt und Funktion dieser Papiere ist nicht das mindeste bekannt. Recht ähnlich haben wir uns wohl auch jene pantotheca vorzustellen, von der es in der Rahmenerzählung von Jean Bodins Colloquium heptaplomeres heißt, sie enthalte „mundi universitatem ejusque supellectilem & omne instrumentum".62 Paulus Coronaeus, der fiktive venezianische Gastgeber, habe sich eine 6 x 6 Fuß im Quadrat messende Vorrichtung aus Olivenholz herstellen lassen, die in 36 einzelne Ablagefächer (apothecae) von je einem Quadratfuß unterteilt war, deren Zahl sich von den jeweils sechs [sie] vollkommenen geometrischen Körpern, einfachen Farben, einfachen Geschmäcken, harmonischen Akkorden, einfachen Metallen und Sinnen herleitete. Sie waren mit den Symbolen der Sternbilder, Planeten, Kometen, Elemente, Steine, Metalle, Fossilien, Pflanzen und Tiere bezeichnet und jeweils zur Aufnahme von jeweils 36, insgesamt also 1296 chartae bestimmt, auf denen die einzelnen Vertreter der jeweiligen Gattung „pictura vel scriptura vel genere ... denotabantur", und zwar dergestalt, daß ihr systematischer Zusammenhang deutlich wurde: ,Bergkristall' zwischen ,Wasser' und ,Diamant', ,Pyrit' zwischen ,Steine' und ,Metalle', ,Koralle' zwischen ,Steine' und ,Pflanzen'. Das ganze wurde bei geeigneter Beleuchtung schräg aufgestellt, so daß es mit einem 62

Gottschalk Eduard Guhrauer, Das Heptaplomeres des Jean Bodin, Berlin 1841, S. 45. Die Autorschaft Bodins wurde neuerdings bestritten.

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Blick zu überschauen war, „ut temporis diuturnitate singula sa?pius legende fideli memoriae commendarentur". Trotz der erwähnten „scriptura" scheint es sich dabei jedoch um ein Gedächtnissystem aus Bildern und Zeichen gehandelt zu haben, „qua ille universam rerum naturam omnemque ejus supellectilem & instrumentum mirabilia solertia collegerat, ac omnia, qua? legerat & audiverat, velut in promptuarium aliquod contulerat". Über die Verwendung ist nicht mehr zu erfahren, als daß sein Besitzer - im übrigen ein Feind des Exzerpierens - sich auf diese Weise die species der einzelnen loculi so vollständig ins Gedächtnis eingeprägt habe, daß er alles, was er gehört und gelesen hatte, mit Hilfe dieser pantotheca vorführen („ostentabat") konnte. Auch wenn Bodins theologisch bedenkliches Colloquium nur handschriftlich zirkulierte, könnte es, wie das ausführliche Referat bei Morhof63 beweist, auch im Kreise um Jungius bekannt gewesen sein, der immerhin ein Exemplar von Bodins Universae naturae theatrum (Frankfurt 1597) besaß. Die von Camillo und Bodin erdachten Vorrichtungen waren also offenbar Mischformen aus einem durch magische Bilder geordneten Gedächtnistheater und einer systematischen Ablage für Notizen. Die logische Folgerung, die in ihnen gespeicherte Information in lullistischer Tradition kombinatorisch zur Erzeugung beliebiger und neuer Aussagen nutzen zu können, wie dies dann Athanasius Kircher in seinen mathematischen und musikalischen Kästchen64 versucht hat, scheint hier jedoch noch nicht angelegt. Doch mit diesem Exkurs zu den magisch-hermetischen Wurzeln der ars memoriae sind wir aus der Welt des Schulmannes und Logikers Jungius unversehens in eine ganz andere Welt hineingeraten. Denn die Gedächtniskunst basierte auf Zeichen und Bildern, auf Analogien und Sinnverweisungen. Die Tradition der Schulen und Universitäten, der Jungius angehört, war aber eine Tradition der Worte und Texte mit striktem Bildnisverbot. Übergänge kamen praktisch nicht vor. Wenn die Handbücher der ars excerpendi das Exzerpieren ausnahmsweise einmal als subsidium der memoria artificialis gelten ließen,65 so geschah dies doch stets mit den Hinweis, daß ein Aufschreibesystem das genaue Gegenteil der eigentlichen Mnemonik darstelle, 63 64

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Morhof, Polyhistor, Bd. l, S. 713-714. Bemerkenswert ist, daß Morhof eine Verbindung zu dem von Placcius beschriebenen Zettelkasten herstellt. Athanasius Kircher, Musurgia universalis, Rom 1650, S. 178; vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 176-186. Es haben sich eine Area zur musikalischen Kombinatorik in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Cod. Guelf. 90. Aug. 8° und eine zur mathematischen Kombinatorik im Museo di Storia della Scienza in Florenz erhalten; vgl. Mara Miniati, Les cistae mathematicae et l'organisation des connaissances au XVII e siecle, in: Etudes sur l'histoire des instruments scientifiques. Actes du VIIe Symposium de la Commission instruments Scientifiques', hrsg. v. Christine Blondel u.a., London 1989, S. 43-51. Placcius, De arte excerpendi, S. 16; vgl. aber Morhof, Polyhistor, Bd. l, S. 366-385.

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Christoph Meinet

„cum ea quidem memoriter retinere sine scripto: haec elapsa memoria iterum commode sistere nos edoceat";66 oder sie gössen ihren Spott über diejenigen aus, „qui nescio quot domunculas a?dificant, & in domunculis cellulas, rerumque imagines multiplicant in infinitum. Eruditum sane principium ad inducendam phrenesin. Ad hanc porrö memoriam, quanta opus est memoriä?"67 In Werken der Mnemotechnik andererseits sind die Aufschreibesysteme in der Regel nicht einmal erwähnt.68 Daß Jungius die umfangreiche mnemonische Literatur auch nur zur Kenntnis genommen hätte, ist nicht belegbar. Schon in der Ratkeschen Didaktik, der er sich anfangs verschrieben hatte, war dergleichen kein Thema: Die localis memoria ist gantz vnd gar verboten. Localis memoria ist ... ein solch gedrungen/ gezwungen vnd gequelet Werck/ daß mancher darüber zum Narren wird/ vnd ist auch nie keiner funden/ der durch solche gemarterte Gedächtnüß jemals etwas vor ändern rühmlichs oder fürtrefflichs hette außgerichtet.69 Die einzige Stelle der Logica Hamburgensis, an der die memoria überhaupt vorkommt, spricht eher abschätzig von einem Aufbewahrungsort für „species sensiles et phantasmata", und auch die wenigen Hinweise auf lullische Topik und ars memorativa bei Jungius sind eindeutig abwertend.70 In gleicher Weise hat er aber auch die nicht-hermetischen Systeme der ramistischen Topik und dispositiven instrumenta memoriae abgelehnt.71 Erstaunlicherweise scheint er die Werke Johann Heinrich Alstedts weder besessen noch gekannt zu haben. Der Grund dafür kann nicht allein die anti-ramistische Haltung der Hamburger Schulbehörde gewesen sein. Topische Systeme, nach welchen Prinzipien auch immer sie strukturiert sein mochten, waren für Jungius artifizielle Systeme, die der Welt hierarchische Klassifikationsraster überstülpten. Natürliche, d.h. aus der physischen Wirklichkeit empirisch gewonnene Systeme, die der Kritik standgehalten hätten, lagen aber noch nicht vor. So wurde die physica zum Prüfstein einer neuen Topik und Enzyklopädie des Wissens. Wäre es gelungen, die konkreten Gegenstände der stofflichen Natur 66

Placcius, De arte excerpendi, S. 4; vgl. auch Morhof, Polyhistor, Bd. l, S. 376. Drexel, Aurifodina, S. 258. Die domunculae sind natürlich die Gedächtnistheater. 68 Wenn Willissus in seiner Ars reminiscendi, S. l, neben der Mnemonica agrapha der Vollständigkeit halber auch die Mnemonica engrapha („reminiscendi ratio, quae nuda manuscriptione innitutur") erwähnt und sie sogar als „certior & expeditior" bezeichnet, so fällt bereits dieser kurze Hinweis ganz aus dem Rahmen. 69 Methodus Institutionis nova quadruplex. 1. M. Johannis Rhenij, 2. Nicodemi Frischlini, 3. Ratichij & Ratichianorum ter gemina, 4. Jesuitarum, hrsg. v. Johannes Rhenius, Leipzig: Schürer, Götz u. Lanckisch 1626, S. 185-186. 70 Jungius, Logica (wie Anm. 7), S. 31; ders., Additamenta (wie Anm. 6), S. 118; SUB Hamburg, Nachlaß Jungius, Sign. Pe. 52a, Bl. 17-22. 71 Johann Heinrich Alsted, Systema mnemonicum duplex, Frankfurt/M.: Paltheniana 1610. 67

Aporien der Empirie bei Joachim Jungius

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empirisch in letzte, nicht weiter auflösbare Elemente zu zerlegen, dann hätte sich aus diesen, gewissermaßen im Baukastenprinzip, ein neues Weltbild entwerfen lassen, doch nicht nach künstlicher Ordnung, sondern in strenger Analogie zum tatsächlichen Bauplan der Natur. Dies ist der eigentliche Grund, weshalb sich Jungius der trügerischen Hoffnung verweigern mußte, über eine topica universally zur Enzyklopädie der Wissenschaften gelangen zu können. Aus einer Welt artifiziell-hierarchischer Wissenssysteme, die er für falsch hielt, hat sich Jungius mit Hilfe der empirischen und kritisch zergliedernden Methode zu befreien gesucht. Auch wenn diese zunächst bloß als epistemologische und didaktische Vorstufe zur eigentlichen Wissenschaft gedacht war, so führte doch von den Exzerpten des Zettelkastens am Ende kein Weg zur systematischen Darstellung der Wirklichkeit, ja ohne auch nur die einfachsten Findhilfsmittel war das Material sogar heuristisch kaum zu benutzen. Die Differenzierung und Atomisierung des Wissens hatte Jungius damit in genau diejenige Aporie geführt, von der Leibniz im Consilium de encyclopaedia nova conscribenda sagen sollte, bloß angehäuftes Wissen gleiche dem Vorratslager eines Kaufmanns, der keine Bücher führt oder der Bibliothek ohne Katalog und lasse sich nicht verwenden, „cum nimia rerum librorumque multitudo omnem delectus spem adimet, et solida ac profutura mole inanium obruentur."72 Indem Jungius die Einzelheiten der Welt verzettelte, hat er sich selbst in ihren Einzelheiten verzettelt. Da genau dies aber im Umkreis des Hamburger Gelehrten zu einer systematischen Erörterung von Exzerpiertechnik und Methodologie enzyklopädisch-literarischer Arbeit geführt hat, markiert Jungius - als Vertreter der Krise wie als Initator des Neuen - einen Wendepunkt in der Geschichte sachbezogener Enzyklopädien und Wissenssysteme.

72

Leibniz, Consilium, S. 30-31.

SEBASTIAN NEUMEISTER

Unordnung als Methode: Pierre Bayles Platz in der Geschichte der Enzyklopädie

Michel Foucault sieht das Wissen der klassischen Epoche, also nach seiner Terminologie das des 17. und 18. Jahrhunderts, durch die drei Begriffe Mathesis, Taxonomie und Genese charakterisiert. Die Mathesis ordnet die einfachen Größen der empirischen Repräsentation, die Taxonomie errichtet darüber ein Zeichensystem zur Erfassung komplexer Größe und die Genese analysiert das Entstehen und die Abfolge solcher Ordnungen. Zwischen der Mathesis und ihrer Ordnung in der Taxonomie einerseits und der Genese andererseits breitet sich die klassische Episteme aus wie ein Tableau: Die Wissenschaften tragen das ferne Projekt einer erschöpfenden Ordnung stets mit sich. Sie zielen immer auf die Entdeckung einfacher Elemente und ihrer fortschreitenden Komposition ab, und inmitten derer sind sie ein Tableau, sind sie die Ausbreitung von Erkenntnissen in einem sich selbst zeitgleichen System. Das Zentrum des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert ist das Tableau.1

Der Begriff des Tableau gibt eine genuin enzyklopädische Vorstellung wieder. Er scheint die Möglichkeit zu eröffnen, an ihm die Geschichte der Entstehung der modernen Enzyklopädik im 18. Jahrhundert festzumachen. Auf sie wäre dann auch Foucaults historische Hypothese von einem epistemologischen Bruch anzuwenden, der die Wissenschaftssprache des 16. von der des 17. und 18. Jahrhunderts trennt. Foucault hat bekanntlich diesen Bruch mit dem Übergang vom Kommentar zur Kritik beschrieben.2 Der Kommentar ist notwendig, solange die Welt eine stumme Sprache ist, die es zu entziffern gilt, zu deuten auf einen verborgenen Inhalt hin, den Gott in die Schöpfung hineingelegt hat. Die Kritik dagegen entsteht in dem Augenblick, da die Sprache nicht mehr in den Dingen selbst liegt, sondern nur mehr ihrer Repräsentation dient. Nicht mehr um die Lösung, die Deutung von Rätseln geht es nun, sondern um Fragen des Funktionierens eines analytischen Beschreibungssystems, seiner Wörter, Syntagmen und Figuren. Die Frage nach der Wahrheit tritt zurück hinter die 1 2

Foucault, Ordnung der Dinge. S. 111. Ebda., S. 114-118.

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nach der Sprache und ihrer Funktion in der Relation von Bezeichnendem und Bezeichnetem, von signifiant und signifie. All dies ist bekannt und geeignet, den Übergang zur wissenschaftlichen Weltbeschreibung im heutigen Sinne seit dem frühen 17. Jahrhundert zu charakterisieren. Er vollzieht sich insbesondere als Auflösung der antiken und mittelalterlichen Signaturenlehre, der Mythologie und Astrologie, der Typologie und Emblematik hin zur modernen, empirisch gelenkten Beschreibung der Welt. Schwieriger erscheint es, Leibniz in diese Darstellung einzubringen. Leibniz steht mit seiner ars characteristica am Ende eines Weges, der von Ramon Llull über die Mnemotechniker, die Pansophisten und Esoteriker des 16. Jahrhunderts bis zu Athanasius Kircher und ihm selbst führt. Alle diese Denker beschreiben die Welt in ihrer Gesamtheit, also enzyklopädisch. Sie tun dies unter einer dafür sehr bequemen Voraussetzung: der harmonischen Einheit und Geschlossenheit der Welt. Leibniz ist hier skeptischer, er fordert dazu auf, empirisch vorzugehen und das kontingent vorhandene Wissen zu sammeln, es zu beschreiben und zu definieren und diese Arbeit zu organisieren, etwa in einer Akademie wie der, die dann 1700 in Berlin gegründet wurde. Die wissenschaftliche Sammeltätigkeit steht allerdings auch bei Leibniz, darauf weist er wiederholt hin, immer noch im Zeichen der Suche nach ersten Begriffen (primae veritates), auf die der Kosmos kombinatorisch zurückgeführt werden soll und durch deren Definition er berechenbar wird: Wir brauchen also zweierlei, um aus dieser Verwirrung herauszukommen. Ein mit zahlreichen und genauen Verzeichnissen eingerichtetes Inventarium und ein Buch der Theorien (Liber subductarum rationum). Das erstere Werk, nämlich das Inventarium, müßte alles Wissen von Natur und Technik und was von Beobachtetem und Berichtetem wert ist, behalten zu werden, enthalten oder anzeigen. Das Buch der Theorien aber müßte alle Beweise (absolute oder, wenn nicht anders möglich, mit Hypothesen verbunden) der Wahrheit, der Wahrscheinlichkeit und der sichersten Vermutung, wie sie sich aus dem sinnlich Erkannten ergeben, enthalten.3

Leibniz ist, wie etwa Wilhelm Schmidt-Biggemann gezeigt hat,4 mit diesem dem Anschein nach so modernen Programm gescheitert - einzig die moderne Mathematik kann sich noch ohne Einschränkung auf ihn als Ahnherrn berufen. Was ihm ebenso wie den Suchern nach einer clavis universalis im 16. Jahrhundert den Erfolg verwehrt, ist das Postulat eines Zentralgestirns, das den Kosmos des Wissens regiert und sei es kombinatorisch erschlossen,

3 4

Gottfried Wilhelm Leibniz, Schöpferische Vernunft. Schriften aus den Jahren 16681686, 2. Aufl., Köln/Münster 1955, S. 178. Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis.

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sei es esoterisch offenbart werden kann.5 Ein solches Zentralgestirn als archimedischer Punkt, von dem aus sich das Wissen wie von selbst ordnet und überschaubar wird, kann es aber nicht geben. D'Alembert hat dies 1751 in der Einleitung zur Encyclopedic mit bemerkenswerter Klarheit erkannt: Ähnlich wie auf den allgemeinen Karten unserer Weltkugel die Gegenstände entsprechend zusammengerückt erscheinen und je nach dem Gesichtswinkel, den das Auge infolge der Kartenzeichnung des Geographen einnimmt, ein verändertes Bild zeigen, so wird die Gestalt der Enzyklopädie von dem Standpunkt abhängen, den man bei der Betrachtung des gesamten Bildungswesens zu vertreten gedenkt. Man könnte sich demnach ebensoviele wissenschaftliche Systeme denken wie Weltkarten verschiedenen Blickwinkels; und jedes dieser Systeme kann sogar gegenüber den anderen einen bestimmten Vorteil haben.6 Das „Systeme des connaissances humaines" mit seiner Einteilung in die Bereiche der Erinnerung, der Vernunft und der Vorstellungskraft (memoire, raison und imagination), das Diderot und d'Alembert in Beherzigung dieser Einsicht der Encyclopedic voranstellen, vermag uns allerdings ebensowenig zu überzeugen wie die ihm vorausgehenden, ebenfalls an den intellektuellen Fähigkeiten des menschlichen Geistes orientierten Systeme eines Francis Bacon oder eines Johann Heinrich Alsted.7 Hier kann übrigens mit Gewinn die Funktionskritik ansetzen, von der Foucault für die Epoche nach dem epistemologischen Bruch ausgeht. Immerhin: d'Alembert und Diderot können diesem Geschäft in Ruhe zusehen: die erklärte Relativität des Standpunktes und der sich daraus ergebenden Perspektive läßt ihnen jedes Recht, auf ihrer Entscheidung zu beharren. Die Frage ist allerdings, was bleibt, wenn weder die alte interpretative noch die neue analytische, die auf Welt bezogene ebensowenig wie die auf das repräsentative Zeichensystem bezogene Beschreibung geeignet ist, den Kosmos des Wissens eindeutig zu erfassen. Es ist ein wenig wie mit den Sprichwörtern, mit denen Don Quijote und Sancho Panza am Beginn des 17. Jahrhunderts den Zugang zur Welt suchen, so wie sie ist: der eine, Sancho, verfügt über sie in großer Zahl, ohne sie zeichentheoretisch erklären zu kön5 6

7

Vgl. Paolo Rossi, Clavis Universalis. Arti della memoria e logica combinatoria da Lullo a Leibniz, Bologna 1983. „Mais, comme dans les cartes generates du globe que nous habitons, les objets sont plus ou moins rapproches, et presentent un coup d'oeil different selon le point de vue oü Poeil est place par le geographe qui construit la carte, de meme la forme de I'arbre encyclopedique dependra du point de vue oü se mettra pour envisager Punivers littoraire. On peut done imaginer autant de systemes differens de la connaissance humaine que de mappemondes de differentes projections; et chacun de ces systemes pourra meme avoir, a ('exclusion des autres, quelque avantage particulier." d'Alembert, Discours preliminaire, 1967, Bd. l, S. 45. Vgl. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, und Vasoli, L'enciclopedismo.

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nen, der andere, Don Quijote, kann sich, zumal Sancho sie in Serie verwendet, zwar sehr gescheit über ihre Angemessenheit in der gegebenen Situation auslassen, scheitert aber in der eigenen Verwendung von Sprichwörtern. Was bleibt, sind die Fakten. Sie werden - und das gilt übrigens auch für die Sprichwörter - seit der Epoche des Humanismus in Büchern inventarisiert oder sogar, sofern es um konkrete Objekte geht, in Wunderkammern und Naturalienkabinetten gesammelt. Die Fakten, das sind zunächst die in den Schriften und in der Schrift, der Heiligen nämlich, niedergelegten Namen, Ereignisse und Erkenntnisse, dann aber in zunehmendem Maße auch die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften. Beide Bereiche stehen, das läßt sich an den einschlägigen Wissenschaftsorganen von den Philosophical Transactions und dem Journal des sgavans bis zu den Acta eruditorum und Pierre Bayles Nouvelles de la republique des lettres ablesen, zunächst unterschiedslos nebeneinander und durcheinander. Die Ausdifferenzierung in technisch-wissenschaftliche Nachschlagewerke einerseits und sprachlich-historische Spezialliteratur und entsprechende Nachschlagewerke andererseits erfolgt erst allmählich und nicht abschließend. Die Encyclopedic von 1750 z. B. führt beide Bereiche wieder zusammen, und die modernen Enzyklopädien folgen ihr darin, beide unter Berufung allein auf das Alphabet als ein semantisch und repräsentativ nicht motiviertes Ordnungsprinzip. Hier nun ist der Ort, von Pierre Bayle zu sprechen. Bayle ist - und hier soll allein von seiner Bedeutung für die Geschichte der Enzyklopädie in der frühen Neuzeit die Rede sein - in mehrfacher Hinsicht eine Übergangsfigur: - 1672, also im Alter von 25 Jahren, füllt er ein Heft mit Resümees aus Plutarchs Biographien berühmter Männer; - 1674 beginnt er ein Heft mit genealogischen Notizen, z. B. über die Familie des Herodes, über die Familie der Bourbonen oder über das Haus von Foix, also eine Dynastie aus seiner engeren Heimat;8 - während seiner Tätigkeit als Dozent an der reformierten und 1681 aufgehobenen Akademie von Sedan verfaßte er ein Systeme abrege de philosophic en quatre parties: La Logique, la Morale, la Physique et la Metaphysique, a usage des Etudiants? - zwischen 1684 und 1687 redigiert er eines der bedeutendsten Referatenorgane seiner Zeit, die schon erwähnten Nouvelles de la republique des lettres·™

8 9 10

Vgl. Nedergaard-Hansen, La genese. Pierre Bayle, CEuvres diverses, La Haye: Husson u.a. 1727 (Neudr. hrsg. v. Elisabeth Labrousse, Hildesheim/New York 1970), Bd. IV, S. 201-520. Ebda., Bd. I.

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- 1692 veröffentlicht Bayle in Rotterdam, wo er seit 1681 lehrt und publiziert, Projet et fragmens d'un dictionaire critique,11 die Vorstufe des bekannten Diction(n)aire historique et critique, das dann 1696 in erster Auflage erscheint;12 - 1695 schreibt er ein Vorwort zu Antoine Furetieres Dictionaire universell Pierre Bayle bietet also, wie man sieht, ein breites Panorama enzyklopädischer Tätigkeit: - mit seinem Systeme abrege de philosophic greift er in pädagogischer Absicht noch einmal eine traditionelle Einteilung auf, bezogen allerdings auf eine Disziplin, die Philosophie, die sich ohnehin nur definitorisch-spekuiativ ordnen läßt; - mit seinen biographisch-genealogischen Ansätzen betätigt sich Bayle als Archivar im Stile humanistischer Gelehrsamkeit und Historiographie; - mit dem Vorwort zu Furetieres Dictionaire universel, dessen Vorstufe er schon 1685 in den Nouvelles de la republique des teures gegen die Angriffe der Academic francaise verteidigt hatte, engagiert sich Bayle für die lexikographische Arbeit, die seit dem 16. Jahrhundert in Europa und besonders in Frankreich geleistet wird; - mit der Herausgabe der Nouvelles de la republique des lettres, die über Neuerscheinungen aus Theologie, Philosophie, Geschichte, schönen Künsten, Medizin und Naturwissenschaften berichten, wirkt Bayle für einige Jahre an vorderster Front bei der Rezeption und Aufarbeitung des wissenschaftlichen Fortschritts und der Umwälzungen mit, die vor allem die Naturwissenschaften, aber auch die Textkritik und die Historiographie im zeitgenössischen Wissen auslösen. Bayle übernimmt sich dabei, das sei am Rande erwähnt, physisch, wird krank und gibt die Redaktion der Nouvelles de la republique des lettres nach nur knapp drei Jahren ab. Bleibt die Frage, wie das Dictionnaire historique et critique und seine Vorstufe, das Projet von 1692, in ihrer Bedeutung für die Geschichte der Enzyklopädien zu bewerten sind. Besonders interessieren muß uns dabei das Wörtchen „critique", das im Titel neben dem Wort „historique" steht. Soviel läßt sich sofort feststellen: Bei Bayle hat die Kritik noch durchaus nicht jenen aufklärerischen Klang, den sie im Laufe des 18. Jahrhunderts vor allem in Frankreich annehmen wird. Auch das Vorhaben, das schließlich zur Niederschrift des Dictionnaire historique et critique führt, ist der Methode nach 11 12 13

Bayle, Projet. Die erste Auflage umfaßt zwei Bände, die zweite und alle weiteren umfassen, abgesehen von der neugesetzten 11. Auflage von 1820, vier Bände. Bayle, (Euvres diverses (wie Anm. 9), Bd. IV, S. 188-193.

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zunächst ein ganz bescheidenes, wenngleich es andererseits, quantitativ gesehen, eher als Wahnwitz angesehen werden muß: Ich habe mir in den Kopf gesetzt [so schreibt Bayle im Vorwort des Projet von 1692], die größte mir mögliche Sammlung von Fehlern zusammenzustellen, die sich in den Nachschlagewerken finden und mich nicht auf diesen Bereich zu beschränken, so umfangreich er auch sein mag, sondern Streifzüge zu allen möglichen Autoren zu unternehmen, wenn sich dazu Gelegenheit bietet.14 Bayle ist sich bewußt, daß dies ein fast unmögliches Unterfangen ist: Er will die Nachschlagewerke korrigieren; seine ärgsten Feinde hätten ihm nichts Schlimmeres auftragen können. Es ist schlimmer als Ungeheuer zu bekämpfen ..., es gleicht dem Köpfen der Hydra, zumindest aber der Absicht, die Ställe des Augias auszumisten.15 So läßt er den Adressaten des Vorworts, den Professor Du Rondel aus Maastricht sagen, und er fügt noch hinzu: Ich bedauere ihn, warum überließ er diese Tätigkeit nicht jenen robusten Gelehrten, die sechzehn Stunden am Tag ohne Rücksicht auf ihre Gesundheit forschen können, unermüdlich im Zitieren und in allen anderen Abschreibetätigkeiten, weit mehr geeignet, dem Publikum Fakten zu liefern als Urteile?16 Fakten („choses de fait") gegen Urteile („choses de droit"): hier stoßen die reine Sammeltätigkeit und die Sichtung des Gesammelten als wissenschaftliches Tun aufeinander. Wohin wird Pierre Bayle sich wenden? Er entscheidet sich dem ersten Anschein nach erstaunlich eindeutig für die Sammlung der Irrtümer, die „erreurs de fait": dies komme allen Menschen zugute. Die „erreurs de droit" hingegen, also vor allem die „faussetez philosophiques ou theologiques" würden, wollte man sie sammeln, nur parteiischer Polemik Vorschub leisten und eine Fehlersammlung lächerlich machen: Es gibt nichts, das lächerlicher wäre, als ein Nachschlagewerk, in dem man sich als Kontroverstheologe aufführt. Dies aber ist einer der größten Fehler

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„Je me suis mis en tete de compiler le plus gros recueil qu'il me sera possible des fautes qui se rencontrent dans les Dictionaires, & de ne me pas renfermer dans ces espaces, quelque vastes qu'ils soient, mais de faire aussi des courses sur toutes sortes d'Auteurs, quand l'occasion s'en presentera." Bayle, Projet, Einleitung. „H veut corriger les Dictionaires; c'est tout ce que luy auroient pu prescrire ses plus malicieux ennemis ..., c'est pis qu'aller combatre les monstres; c'est vouloir extirper les tetes de PHydre; c'est du moins vouloir nettoyer les etables d'Augias." Ebda. „Je le plains; que ne laissoit-il cette occupation ä ces robustes savans, qui peuvent etudier seize heures par jour sans prejudice de leur sante, infatigables en citations, & en toutes autres fonctions de Copiste, bien plus propres ä faire savoir au public les choses de fait, que celles de droit." Ebda.

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desjenigen von Monsieur Moreri. Man findet dort hundert Stellen, die einer leibhaftigen Kreuzzugspredigt zu entstammen scheinen.17 Monsieur Moreri ist der Verfasser des Grand dictlonnaire historique ou le melange curieux de l'histoire sainte et profane, das zwischen 1674 und 1759 vierundzwanzig Mal aufgelegt wurde und zu den einflußreichsten Nachschlagewerken der Zeit gehört. Es enthält nach Aussage des vollständigen Titels nicht nur die Lebensbeschreibung aller nur denkbaren historischen Personen, „renommes ou par leur erudition ou par leurs ouvrages ou par quelque action eclatante", sondern auch die wichtigsten ihrer Werke und Lehrmeinungen sowie geographische und historische Informationen jeder Art, „le tout enrichi de remarques et dissertations curieuses". Der Moreri, der noch heute in jeder größeren Bibliothek steht, ist zweifellos eine der großen Enzyklopädien im Bereich der zeitgenössischen Geographie und Geschichte. Das Werk ist deshalb auch für Bayle trotz seiner eindeutig katholisch geprägten Tendenz unverzichtbar. Ihm vor allem gilt, darin denkt Bayle ganz pragmatisch, die Sammlung der Fehler, die er vorlegen will, und ohne den Moreri ist das seit der zweiten Auflage von 1701 vierbändige Dictionnaire in seiner inneren Struktur nicht verständlich. Es wäre für die Geschichte der Enzyklopädie sicherlich aufschlußreich und vielleicht auch nicht ohne Folgen gewesen, wenn Pierre Bayle von der Kritik erfahren hätte, die kein Geringerer als Leibniz am Projet von 1692 geübt hat. Leibniz kritisiert in einem Manuskript, das sich in seinem Nachlaß gefunden hat, insbesondere die Ausführlichkeit der Fehlerdiskussion, die zu weite Thematik und - damit war zu rechnen - die mangelnde Ordnung, Fehler, die alle schon Bayles Entwurf auszeichnen, aber auch das daraus hervorgehende Dictionnaire.18 Denn Bayle hält, obwohl er Einwände dieser Art nach der Publikation des Projet auch von anderer Seite zu hören bekommt, trotz einiger einschränkender Bemerkungen im Vorwort zu seinem Hauptwerk am eigenen Konzept weitgehend fest. Zwar schränkt er die Thematik auf den historischen Bereich im weitesten Sinne einschließlich der griechischen Mythologie und der alttestamentlichen Archäologie ein und erfüllt so, ohne es zu wissen, einen Wunsch von Leibniz. Im übrigen aber macht er die Ausführlichkeit und die nach außen allein durch das Alphabet kaschierte Unordnung geradezu zu einem Prinzip seines Dictionnaire. Wenn daher das Dictionnaire in der Folgezeit zwischen London und Leipzig, zwischen Potsdam und Petersburg zu einem europäischen Bestseller ersten Ran17

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„II n'y a rien de plus ridicule qu'un Dictionaire oü fait le Controversiste. C'est un des plus grands defauts de celuy de Mr. Moreri; on y trouve cent endroits qui semblent etre detachez d'un vray Sermon de Croisade." Bayle, Projet, Abschnitt VIII. Vgl. Neumeister, Pierre Bayle, S. 65f.

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ges wird und bis 1820 elf Auflagen erlebt, so sicher nicht, weil es im ursprünglichen Sinne einer korrigierenden Ergänzung des Moreri benutzt wurde und wohl auch nicht primär als historisch-theologisches Nachschlagewerk. Etwas anderes kommt hinzu: man muß, gerade weil es so unübersichtlich ist, in ihm blättern und suchen. Oder aber, positiv ausgedrückt, man kann in ihm blättern und suchen, hier verweilen und dort auslassen, je nach Geschmack und Laune - das Dictionnaire wird zum Lesebuch! Das Dictionnaire ist in seiner Unübersichtlichkeit und Materialfülle zwar einerseits sehr gut lesbar, andererseits aber natürlich, dies gilt es festzuhalten, an den Maßstäben seriöser Lexikographie gemessen, nur schwer benutzbar. Davon bekommt jeder eine Ahnung, der zu diesem Dictionnaire greift und gezielt Auskunft sucht. Nicht nur die Tatsache, daß die 2038 Artikel des Dictionnaire nur zum allerkleinsten Teil aus dem informativen Artikelkorpus bestehen, zum weitaus größten Teil dagegen aus Anmerkungen, die die ganze restliche Seite füllen, behindert die Benutzung. Ärgerlich ist auch, daß die Auswahl der Artikel, sieht man von der Koppelung an das Grand dictionnaire historique von Moreri ab, keinem erkennbaren Prinzip folgt.19 So vermißt man inmitten zahlloser, heute längst zu Recht vergessener Namen andere große, die in einem solchen Nachschlagewerk eigentlich zu erwarten wären. Stattdessen finden sich riesige, mehrere Folioseiten umfassende Artikel zu Adam und Eva, zu Herkules und Odysseus, zur Päpstin Johanna und zu Katharina Bromberg, der Geliebten Karls V. Oder aber Kurzeinträge wie diejenigen zu dem Freiburger Theologie-Professor Hacker, der nach Bayles eigenem Bekenntnis nur als Vorwand dient, um einer anderen, lediglich unter dem Pseudonym Daniel Neidinger greifbaren Person zu einem Platz im Archiv zu verhelfen: „Je n'en parle que pour avoir lieu de deterrer un Ecrivain Pseudonyme, qui n'a point encore paru, que je sache, dans les Catalogues de cette espece d'Auteurs." Bayles Geheimnis bleibt es hier, warum er nicht einen Artikel Neidinger, Daniel angelegt hat. Immerhin rechtfertigt er selbst die Existenz des Artikels Hacker in der Sache nachträglich dadurch, daß er Schriften zitiert, die in einem Disput über die Vorsehung zwischen Hacker und jenem Pseudo-Neidinger gewechselt wurden - mit dem Ergebnis, daß in der einzigen, wie immer voluminösen Fußnote mehr von Hacker als von diesem die Rede ist. Dennoch widerspricht der Artikel Hacker in seinem Hauptteil, aber auch durch den Rückzug in die Fußnote der an sich doch so leicht zu respektierenden Logik eines Nachschlagewerkes, von dem man sich die Beantwortung einer Wissensfrage erhoffen darf.

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Zur thematischen Aufteilung der Artikel des Dictionnaire vgl. Sole, Religion et vision historiographique, Anmerkung 1.

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Ein zweiter Fall ist noch auffälliger. Es geht um den Artikel „Montaigne", der im Dictionnaire fehlt. Das ist nicht nur deshalb gravierend, weil Bayle mehrfach in den Fußnoten zu anderen Artikeln auf einen Eintrag Montaigne verweist, der also nicht existiert - Montaigne ist auch einer seiner Lieblingsautoren. Sollte Bayle hier nach dem im Artikel „Odysseus" zitierten Sallustwort gehandelt haben, „qu'il vaut mieux se taire sur les grandes choses que d'en parier ä demi"? Der Name Montaigne verweist uns, gerade weil Bayle ihn an zahlreichen Stellen zitiert, erneut an das 16. Jahrhundert zurück, an jene Epoche also, die Foucault vorklassisch zu nennen beliebte. Bayle ist, wie schon sichtbar wurde, durch vielfältige Affinitäten und Erbschaften mit dieser Epoche verbunden, ja man könnte fast sagen, daß er seiner Bildung nach eher dorthin gehört als in die Zeit der beginnenden Aufklärung. Die unerschütterliche Ruhe, mit der Bayle in den Fußnoten seiner Artikel alle nur denkbaren Details über eine mythische, biblische oder reale Person ausbreitet, ebenso wie die Unbestechlichkeit, mit der er die dazugehörigen Texte, ihre Edition und Interpretation referiert und analysiert, lassen ihn als Idealtyp jener humanistischen Gelehrsamkeit seit Petrarca erscheinen, von deren Arbeit die historischen und philologischen Disziplinen bis heute zehren, über die aber auch schon Montaigne in seinen Essais und Cervantes in seinem Don Quijote spotten. Pierre Bayle ist wie die Positivisten des 19. Jahrhunderts unfähig zu vergessen, er beherrscht die ars oblivionis, jene Kunst des bewußten Vergessens, der Umberto Eco einen Essay gewidmet hat, ebensowenig wie er die Gabe natürlichen Vergessens zu besitzen scheint, mit der wir uns ständig vor der Überfülle der Informationsangebote retten und psychisch überleben. Und wenn Bayle im Vorwort zum Dictionnaire von 1696 nicht mehr wie im Projet von 1692 so sehr auf der Nützlichkeit seiner Fehlersammlung besteht, sondern ganz im Gegenteil davon spricht, daß sie ohne Bedeutung für das Wohl des Staates und des Einzelnen sei, so ist das nicht nur affektierte Bescheidenheit. Was hier sichtbar wird, ist das ruhige Selbstbewußtsein eines Gelehrten, der die Rechtfertigung seines Tuns nicht in Verwendbarkeit und Aktualität, sondern in der Sache selbst, hier also im Streben nach historischer Genauigkeit und Gerechtigkeit sieht. Unterscheidet schon dies Pierre Bayle von den theologischen Hitzköpfen seiner Zeit, so erst recht die verschärfte Gangart seiner historisch-kritischen Methode. Pierre Bayle verfügt über eine Freiheit des Urteils, die sich auf keinerlei Vorurteile einläßt, sich keiner opportunistischen Taktik unterstellt, sondern geradezu selbstmörderisch um Objektivität bemüht ist. Nichts zeigt dies deutlicher als die Tatsache, daß der protestantische Theologe Bayle nicht nur evangelische und katholische Lehrmeinungen, sondern auch heidnische

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und christliche Mythologeme, so etwa den Marienkult und den antiken Junokult, referiert und vergleichend nebeneinander stellt. Ja, im Artikel „Junon" redet er ausdrücklich einer Konkurrenz mehrerer Religionen das Wort, da diese jede einzelne von ihnen auf ihre Relativität verweise („eile contient en respect les uns ä l'egard des autres"), und in den Pensees diverses sur la comete (1681-1704) macht er sich sogar Gedanken über die Funktionsfähigkeit eines atheistischen Staates. Ein noch größeres Opfer auf dem Altar der Wahrheit, fast schon ein sacrificium intellectuale, bringt Bayle damit, daß er die Benutzbarkeit und die Ordnung seines Dictionnaire zugunsten der erwähnten Vollständigkeit der Argumentation hintanstellt. Indem sich das Verhältnis von Artikel und Fußnoten extrem weit zugunsten der letzteren verschiebt, geschieht aber noch mehr: der Kommentar tritt in den Vordergrund, und das Nachschlagewerk wird, modern gesprochen, zu einem Forschungsbericht bzw. zu einer wissenschaftsgeschichtlichen Dokumentation. Damit erfüllt das Dictionnaire allerdings, wie Bayle selbst betont, eine durchaus notwendige Funktion, da es am Ende des 17. Jahrhunderts noch keine öffentlichen Bibliotheken gibt und private Bibliotheken meist unzugänglich und die Ausnahme sind. Das Dictionnaire ersetzt also eine Bibliothek, und es tut dies, stellt man die Seltenheit der häufig von Bayle in extenso zitierten Werke in Rechnung, noch immer und immer mehr. Zugleich aber kann sich im Wust der Zitate jene historischkritische Methode ansiedeln, für die Pierre Bayle mit seinen Werken steht, also die ständige Präsenz aller beteiligten Kontrahenten und ihre Konfrontation zum Zwecke kontrollierter Wahrheitsfindung. Anders als Montaigne, sein Lieblingsautor, bleibt nämlich Pierre Bayle nicht bei einer subjektiv motivierten Mauerschau stehen, sondern sammelt, hat er sich einmal für ein Thema, eine Person, eine Lehrmeinung entschieden, das Material ohne Furcht vor den oft ungewöhnlichen und unbequemen Ergebnissen der eigenen enzyklopädischen Tätigkeit. Die große Rolle, die das Dictionnaire im Prozeß der Aufklärung des 18. Jahrhunderts spielen wird, hat hier ihren Ursprung. Montaigne, an dessen Stil und Verfahrensweise uns Pierre Bayle immer wieder erinnert, ist stolz auf die Subjektivität seines Verfahrens, ja er schließt schon in der Anrede an den Leser jeden Öffentlichkeitscharakter seiner Essais aus. Daß dies so nicht stimmt und auch der Herr von Schloß Montaigne im Perigord bei seiner Selbsterforschung durchaus systematisch verfährt, zeigt allein schon die Bedeutung, die seine Versuche in der Philosophiegeschichte erlangt haben.20 Bei Bayle liegen die Verhältnisse in gewisser Weise

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Vgl. dazu Sebastian Neumeister, Montaigne. Von der Adelsrolle zur schriftstellerischen

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umgekehrt. Er praktiziert in der Beurteilung seiner Gegenstände eine Objektivität und Strenge, die ihn zum Vorbild der nachfolgenden Aufklärer hat werden lassen. Während er aber in seiner berühmten Abhandlung über den Kometen von 1681 und in seinen großen theologischen Schriften klar Position bezieht und trotz aller Abschweifungen und Zusätze beim Thema bleibt, läßt die Auswahl der Artikel im Dictionnaire und auch deren innere Struktur Zweifel an solcher Konsequenz aufkommen. Zu seltsame Gestalten treten hier auf, zu viele Abseitigkeiten werden berichtet, zu gern erzählt Pierre Bayle Histörchen, die unterhaltend bis anstößig sind und geeignet, eher dem Leser als dem Benutzer des Dictionnaire Vergnügen zu bereiten. Die eiserne Objektivität der textkritischen und inhaltlichen Diskussionen erweist sich so des öfteren eher als ein Vorwand, um wie im Artikel „Hacker, Jacques" Dinge unterzubringen, die anders nicht Platz fänden. Bayle erzählt gern und sucht dafür Anlässe. Der Text verselbständigt sich, er gewinnt eine lustbetonte Autonomie - kein Wunder also, daß das Dictionnaire zu einem Bestseller in den Salons des 18. Jahrhunderts geworden ist.21 Es erscheint einigermaßen schwer, das Dictionnaire in der Komplexität seines Stils, in der Vielfalt seiner Funktionen ganz zu erfassen. Nimmt man den enzyklopädischen Ansatz, also die Fehlersammlung einerseits und seine narrative Ausbeutung in den wuchernden Fußnoten andererseits, die humanistische Materialsättigung und die aufklärerische Wirkung, den kontroverstheologischen Ausgangspunkt und die Schärfe der kritischen Methode zusammen, so rundet sich das Ganze gleichwohl zum Bild eines Jahrhundertwerks. Elisabeth Labrousse, die beste Kennerin des Werks von Pierre Bayle, hat diesen einen „erudit cartesien" genannt, einen cartesianischen Humanisten.22 Und wirklich, Pierre Bayle schlägt die Brücke vom 16. ins 18. Jahrhundert, ohne sich im Labyrinth seines immensen Wissens zu verirren. Er verfällt weder den Lockungen des humanistischen Buchwissens ganz noch reizt ihn die tabula rasa der Aufklärer im Gefolge Descartes'. Was ihn uns zum Vorbild werden läßt und was seine Modernität ausmacht (oder sollen wir sagen: Postmodernität?), ist die weder von Textgläubigkeit noch von Textferne, weder von Detailfülle noch von analytischer Abstraktion gefährdete Fähigkeit, die Welt in ihrer Komplexität so zu sehen, wie sie ist. Pierre Bayle steht mit seiner historisch-kritischen Methode jenseits der von Foucault postulierten Dichotomic von Kommentar und Kritik, jenseits auch einer angeblich auf-

21 22

Autonomie, in: Autorentypen, hrsg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 6), S. 164-176. Vgl. Retat, Le Dictionnaire de Bayle. Vgl. Labrousse, Le paradoxe.

Unordnung als Methode: Pierre Bayle

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steigenden Linie vom Humanismus über die Epoche der frühen Neuzeit hin zur Aufklärung. Er verbindet methodisch souverän den alten Glauben an die Offenbarung Gottes in seiner Schöpfung mit dem neuen Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen zu ihrer vollständigen Beschreibung. Das scheint ein vielversprechender enzyklopädischer Ansatz zu sein. Ein Versprechen allerdings, das nur Pierre Bayle selbst einzulösen vermochte. Das Dictionnaire historique et critique ist ein enzyklopädisches Unikum.

CLAUDIA ALBERT

Imitation de la nature? Probleme der Darstellung in der Encyclopedic

Scheinbar mehr Pragmatiker als Philosoph, widmet sich d'Alembert im Discours Preliminaire de l'Encydopedie einer Aufgabe, über deren Unlösbarkeit er sich von vornherein im klaren ist, deren Aporien aber den Philosophen als Spezialisten für ihre Lösung geradezu herbeirufen. Mit den Assoziationen des Logischen, Vernünftigen und Geordneten bildet die Metapher des „enchainement des connaissances humaines" (1,1 et passim)1 ein Kernmotiv des gesamten Textes, das durch dessen Details gleichwohl immer wieder dementiert wird. Nicht nur, daß das Projekt einer Gesamtsicht auf die Welt durch den Standpunkt des Betrachters geprägt ist (1,15) - die „topica universalis" hat hier offenbar ihre Überzeugungskraft eingebüßt - es gibt sich auch insofern als vorläufiges zu erkennen, als das System der Erkenntnis sich offenbar erheblich vom dargestellten Endprodukt unterscheidet: „Le Systeme general des Sciences & des Arts est une espece de labyrinthe, de chemin tortueux, ou l'esprit s'engage sans trop connaitre la route qu'il doit tenir" (1,14). Der Weg zur Wahrheit erweist sich als „suite d Operations dont la generation meme des ses idees rend la discontinuity necessaire" (1,14). Doch allen Anfechtungen standhaltend und weit davon entfernt, sich vom Systemgedanken zu verabschieden, dekretiert d'Alembert: „... ce desordre, tout philosophique qu'il est de la part de Tarne, defigureroit, ou plutöt aneantireroit entierement un Arbre Philosophique dans lequel on voudroit le represented' (I, 14). Zwischen dem notwendig sprunghaften Erkenntnisprozeß und seiner konsistenten Darstellung scheint es keine Brücke mehr zu geben. In einem Akt des philosophischen Dezisionismus kehrt d'Alembert daher das Verhältnis von vorgängiger Erkenntnis und ihr folgender Darstellung um und erklärt schlicht den Baum zum Ziel des enzyklopädischen Unternehmens. In ihm inkarniert sich die Ordnung, die empirisch nicht mehr einzuholen ist.

1

Alle Zitate aus der Encyclopedic mit Band-, Seiten- und ggf. Kolumnenzahl nach dem Nachdruck der Erstausgabe. - Für die philosophiegeschichtlichen Hintergründe vgl. Lovejoy, The Great Chain of Being, S. 268ff.

Probleme der Darstellung in der Encyclopedie

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Der Baum der Erkenntnis und seine Interpreten Im Bestreben, das System doch noch gegen die pathetisch beschworene Empirie - und den mit ihr in eins gesetzten Erkenntnisprozeß - zu verteidigen, hat d'Alembert teil an jenem Umbruch, den Derrida an Condillac diagnostizierte: rettet dieser sich vor der universalen Verfügbarkeit der Zeichen in Akte metaphorischer Sinngebung, so greift d'Alembert auf das mittelalterliche Bild vom Baum der Erkenntnis zurück. Als Emblem logisch aufgebauter, naturförmiger und nachvollziehbarer Kontinuität des Wissens vermag der Baum noch für einige Zeit den Zusammenbruch des Systems aufzuhalten, oder - mit Derrida: das Frivole, das im Austausch Erkenntnis fingierender Formeln steckt, durch das Insistieren auf der Methode zu kaschieren:„La methode pour reduire le frivole, c'est la methode. II suffit d'etre methodique pour n'etre point frivole."2 Selbst wenn man Derridas Auffassung von der Leere des sprachlichen Zeichens nicht bis in ihre letzten erkenntniskritischen Verzweigungen folgen will, kann man seine Charakterisierung philosophischer Schreibweisen im 18. Jahrhundert auch als Szenario der Diskussion um den „Arbre Philosophique" im Discours Preliminaire lesen. Si l'ecriture philosophique est frivole, c'est parce que le philosophe ne peut pas remplir ses enonces; il ne sait rien, il n'a rien ä dire et il3 complique, subtilise, raffine les effets de style pour masquer son ignorance. Immer wieder umkreist der Discours das Ausmaß an Entlehnungen und Weiterentwicklungen der Systematiken von Bacon (1638) und Chambers (1728); er spielt das Problem der angemessenen Ordnung und Organisation des Wissens hoch, um die Philosophen als Spezialisten für seine Lösung zu profilieren.4 In der Falle der Arbitrarität jeglicher Klassifikation gefangen, bereiten sie die Abdankung des Enzyklopädisten vor dem Prinzip größtmöglicher Nützlichkeit vor. Im Meer der Objekte haben die Kategorien die Funktion von rettenden Felsen: einer wissenschaftssystematischen Letztbegründung entziehen sie sich - und sie ist auch tatsächlich sehr viel weniger das Ziel des Discours Preliminaire, als er vorgibt. In den Metaphern des Kampfes und der Enthüllung, der Befreiung vom Joch der Scholastik und der Entfaltung wahrer Wissenschaft bekräftigt er das Definitions- und Deutungsmonopol der Philosophen für die Bestimmung gesellschaftlichen Fortschritts. So mündet die Ver-

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4

Jacques Derrida, L'archeologie du frivole, Paris 1990, S. 136. Ebda. Zur Funktion des Baumes als Metapher des kontinuierlichen Wissens vgl. SchmidtBiggemann, Topica Universalis, S. 31ff.

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teidigung der Philosophie in den Kult des Philosophen als Inkarnation des Zeitgeists.5 Geleitet von dem Ziel, die Ordnung des Wissens in einer Theorie der Erkenntnis zu fundieren, verschiebt der Discours Preliminaire die Ebenen seiner Beweisführung allmählich von der Epistemologie zur Morphologie ein Vorgang, der die Absicht, die Position der Philosophie auf Kosten der Theologie aufzuwerten, nur unzureichend verhüllt.6 Das System von Chambers mit seiner Gleichstellung von Physik, Metaphysik, Mathematik und Theologie als Formen der Erkenntnis verfällt dabei dem Verdikt der Vermischung von Theologie und Empirie, die Philosophie hat dort keinen eigenen Platz (I, 15ff.). Der Rückgang zu Bacons mehr als hundert Jahre zuvor entstandenem System dagegen verdankt sich vor allem dessen Leerstellen. Zielen sie auf die Endlichkeit menschlichen Wissens, so können sie von Diderot und d'Alembert als Ansatzpunkte für die Legitimation der Philosophie umgedeutet werden. Wo Bacon „intelligence humaine" und „intelligence divine" trennte, da unterwirft der Discours Preliminaire Gott der Vernunft, über die wiederum die Philosophen gebieten (I, 46). So verliert die Metaphysik im Systeme figure jeglichen religiösen Charakter und wird zur Enthüllungswissenschaft. Zumindest die Hälfte ihrer Aufgaben besteht in der Untersuchung der Mißbräuche, des Aberglaubens und der Schwarzen Magie.7

Alphabet, Weltkarte, Theater Ist der Baum der Erkenntnis derart beschnitten, zugerichtet und erweitert, daß er eine neue Ordnung des Wissens fingiert, deren Hüter die Philosophen sind, so setzt sich das enzyklopädische Projekt einer weiteren Verunsicherung aus, indem es der so aufwendig begründeten Logik überhaupt nicht folgt. Wohlweislich hatte d'Alembert den Philosophen bereits außerhalb oder oberhalb - des Labyrinths plaziert, „dans un point de vue fort eleve d'oü il puisse appercevoir ä la fois les Sciences & les Arts principaux" (I, 15), und ihn so über die Diskontinuität der Erscheinungen erhoben. Als Dictionnaire Raisonne nämlich muß die Encyclopedic den ohnehin bereits erschütterten philosophischen Standort wieder verlassen, um sich einem Labyrinth auszuliefern, das den fingierten Weg der systematischen Erkenntnis an 5

6 7

Vgl. Robert Darnton, Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution. Aus dem Amerikanischen von Jörg Frobitius, München 1989 (zuerst New York 1984), der geradezu von „erkenntnistheoretischer Angst" (S. 223) spricht. Vgl. Darnton, Katzenmassaker, S. 225ff., dem ich auch im weiteren folge. Zur - hier nicht zu vertiefenden - Frage der Gottesvorstellungen, vgl. ebda. S. 228ff.

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Verwirrung noch weit überbietet: der Mechanik des Alphabets. Platzhalter der systematischen Ordnung, soll nun das Zuordnungs- und Verweissystem den im Alphabet zerstörten Zusammenhang der Erkenntnisse wiederherstellen, und Diderot versäumt im Artikel „Encyclopedie" (V, 635-649) keine Gelegenheit, geradezu eine Philosophie des „renvoi" als „partie de l'ordre encyclopedique la plus importante" (V. 643, l fere col.) zu präsentieren. Seine Unterscheidung der Verweisarten bietet ein Muster für die Selbstreferentialität systematischer Ordnungskategorien: Verweise führen entweder zum Ort des Eintrags im Systeme figure oder zu anderen Einträgen (die gelegentlich nicht existieren). Eine dritte Verknüpfung der Artikel untereinander soll durch Nachvollzug im Text kursiv gedruckter Begriffe gesichert werden; deren Anzahl kann gleich Null, manchmal aber auch unüberschaubar sein. Bis in jüngste Zeit hinein als Indiz lexikographischer Souveränität wie taktischer Findigkeit hoch gelobt, zeugt „le pretendu Systeme des renvois"8 eher vom endgültigen Zusammenbruch des Systemgedankens als von einer selbstbewußten Technik der Verwirrung, wie sie allzu oft auf dem Konto des Spiels mit der Zensur verbucht wurde - dies auch trotz Diderots eigener Kritik an den ominösen satirischen und epigrammatischen Verweisen, die die Nachwelt nur albern finden könne (V, 643, 3 col.)! Nach wie vor bleibt die hinterhältige Verknüpfung von „Cordelier" und „Capuchon", „Anthropophagie" und „Eucharistie" ein Gemeinplatz der Diderot-Forschung.9 In seinem Inventar der Verweistechniken konnte Hans-Wolfgang Schneiders dagegen eine Fülle von verwirrenden, unsinnigen oder gar auf nicht existente Artikel zielenden Verweisungen dingfest machen. Zudem stellte er bei der Verteilung von Verweisen auf die einzelnen Artikel ein hohes Maß an Beliebigkeit fest. Die Spanne reicht hier von 0 bis 154, und nicht zufällig ist es der Artikel „Homme", der sich mit der höchsten Verweisdichte schmücken darf. Gelegentlich scheint die unendliche Kette der Wesen, die die Logik des enzyklopädischen Systems garantieren soll, nur mehr im Kreislauf der Verweise repräsentiert; der potentielle Zugewinn an Sachinformation fällt der in sich selbst kreisenden Mechanik der „renvois" zum Opfer.10 8

9

10

Vgl. die entsprechenden Belege bei Schneiders, Le pretendu Systeme, S. 258, Anm. 1; zum Übergang von der Topik zum Alphabet auch Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, S. 291f. Die Interpretation dieser Verweisart als Muster für Diderots Taktik des Unterlaufens der Zensur findet sich auch noch in: Denis Diderot, Philosophische und Politische Texte aus der Encyclopedie sowie Prospekt und Ankündigung der letzten Bände. Mit einem Vorwort von Ralph-Rainer Wuthenow, München 1969, S. 134, Anm. 18. Vgl. auch Schneiders, Le pretendu Systeme, S. 259, Anm. 21. Vgl. die Belege für das Begriffsfeld der Rhetorik bei Kuentz, Autour de l'Article Rhetorique, für dasjenige des sprachlichen Zeichens bei Duchet, L'economie du signe. Vgl. auch Derrida, L'archeologie du frivole (wie Anm. 2), S. 144.

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Diderot hat diese Mängel im Fortgang des Artikels „Encyclopedic" selbst benannt und mit Gründen der Arbeitsökonomie entschuldigt; viele seiner Verteidiger sind ihm darin gefolgt. Das Ideal, die „chaine complete de l'ordre encyclopedique continu" (V, 644, 26me col.), blieb davon unberührt. Jenseits aller Probleme von Arbeitstechnik und Zensur, auf deren vielfältige Verflechtungen Darnton aufmerksam gemacht hat,11 bietet die verwirrende Textinszenierung der Encyclopedic dagegen Anlaß zu der sehr viel grundsätzlicheren Frage nach der sprachlichen und bildlichen Repräsentierbarkeit der Welt. Hinter der majestätischen Barockfassade des Systemgedankens verberge sich, so Jean Starobinski, „l'activite toute moderne de Pappropriation discontinue, oublieuse des anciennes exigences de l'unite organique."12 Den verräterischen Wechsel der Metaphorik vom „Arbre genealogique" (l, 14) zur „mappemonde" (l, 15) innerhalb des Discours Preliminaire liest er als Indiz der Exteriorisierung und Simultanität des Wissens. Statt der unendlichen Kette also die vielfältige Gleichzeitigkeit der Phänomene; die Überwindung der Grenzen zwischen den einzelnen kartographisch erfaßbaren Wissensgebieten wird durch die Qualität der Verbindungswege gesichert.13 Der Kaufmann als Prototyp der vernünftigen Verteilung der Güter in der Welt steht Pate für den Enzyklopädisten, der durch kluge Verbindungen den schnellen Zugang zum vorhandenen Wissen sichern soll. In Unsicherheit und Zufallsgebundenheit des Verweissystems aber zeigt sich, wie sehr das Wissen selbst ins Wanken gerät, wenn allzu viele Wege zu ihm führen, wie seine Festigkeit sich auflöst, wenn es sich nicht mehr als Substanz, sondern als Struktur präsentiert. Wird die Empirie im System eingefangen, so schlägt dieses als Ordnungsschema auf jene zurück. Im Akt des Benennens und Klassifizierens dementiert das Projekt der Nachahmung der Natur seinen eigenen Impuls. Diderots Bewunderung für das Griechische und Lateinische (V, 639, lfere col.) wie für die Mathematik verdankt sich nicht zuletzt deren stabiler, logischer, reiner Präsenz, die von der Ungreifbarkeit der Empirie nicht mehr tangiert werden kann.14 Mit wachsendem historischen Abstand vom Innovationsgehalt der Encyclopedic drängt sich so ihre Lektüre als Text immer mehr auf, und auch Starobinski verfällt der Faszinationskraft des Stilisten Diderot, wenn er die unzureichende Ausführung des enzyklopädischen Projekts stillschweigend übergeht und - mit seinem Autor - das metaphorische Terrain ein weiteres Mal wechselt: 11 12 13 14

Darnton, The business of Enlightenment bzw. L'aventure de Encyclopedic. Starobinski, Remarques, S. 284. Ebda., S. 288 und 286, vgl. auch Darnton, Katzenmassaker(wie Anm. 5), S. 222f. Lewinter, La Quadrature du cercle, S. 230f.

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L'encyclopedie-paysage est done un vaste spectacle, un livre-theätre. Le mot scene, qui apparait ici, etablit un soudain rapport avec la composition picturale et l'esthetique du theatre: nous sommes au point oü toutes les entreprises de Diderot revelent leur unite profonde.15 Vom Baum der Erkenntnis über die Weltkarte zum Theater - der Weg ist verführerisch; einige Literaturwissenschaftler sind ihn mit Hilfe von Bachtin und Genette auch gegangen.16 Sie schreiben allerdings Diderots souveräner ästhetischer Entscheidung zu, was in der Encyclopedic erkenntnistheoretische Zwangslage ist: die Repräsentation topisch nicht mehr darstellbarer komplexer Zusammenhänge. Ihr Zentrum haben Theater- und Textinszenierung im Bewußtsein der Arbitrarität, des Illusionismus; doch wo dieser sich auf der Bühne als Freiraum von Personen- und Handlungskonstellationen geriert, ja ihre raison d'etre bildet, da versetzt das Künstliche der Welterkenntnis dem Enzyklopädisten den Todesstoß. Die Gleichsetzung von „Arts liberaux" und „Arts & Metiers", von Kunst und Handwerk, kann als ein weiterer Fluchtmechanismus gelten, der über die Undarstellbarkeit der Empirie noch eine Zeitlang hinwegzutäuschen vermag. Wie der Handwerker konstruiert auch der Enzyklopädist nicht Wahrheit, sondern eine auf praktischer Erfahrung und theoretischer Reflexion basierende, möglichst gut funktionierende Maschine. Und so widmet sich auch der Artikel „Art" von 1751 (I, 713-719) sehr viel weniger den Schönen Künsten, die sich selbst lange genug besungen hätten, als den mechanischen. In der Assimilation von Malerei und Webmaschine, von Skulptur und Spiegelglas erweist sich auch Kunst als Technik, als Medium der Konstruktion. Dieser Herausforderung antwortet in der Ästhetik das „drame bourgeois", das die Empirie bürgerlicher Verhaltensweisen mit den stilisierten Formen der klassischen Tragödie koppelt. So stellt es die Illusion einer wahreren, echteren, „natürlicheren" Natur her - ein Projekt, das der Dramenautor mit dem Kunsthandwerker wie dem Enzyklopädisten teilt. Weber und Philosophen sind auf der Suche nach jener notwendig sprachförmigen „substance d'epaisseur egale, souple, comme fluide, et decoree pour 15 16

Starobinski, Remarques, S. 288 mit Bezug auf entsprechende Passagen im Artikel „Encyclopedie" (V, 648, 2feme col.). Vgl. Sherman, Changing Spaces, bes. S. 221f.; Madeleine F. Morris, Le huitieme Volume de V Encyclopedic et le Neveu de Rameau, in: Recherches sur Diderot et sur PEncyclopedie 5, octobre 1988, S. 33-44; Elizabeth Potulicki, *Eclaire, clairvoyant, Adj. (Gramm.), Un article de l'Encyclopedie, ou La Presence dialogique de Diderot, in: Diderot Studies 24, 1991, S. 121-136; Jean-Pierre Seguin, Diderot, le discours et les choses. Essai de description du style d'un philosophe en 1750, Paris 1978 (Diss. Paris 1974); Wolf-Dieter Bach, Die Zirkel des Schönen oder Die Ausbreitung der Gegenstände nach ihrem Zusammenhang. Zur enzyklopädischen Ästhetik Diderots, in: Merkur 38, 1984, S. 628639.

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l'agrement des yeux, substance, ou le fil elementaire s'anime, en quelque sorte, par les enchamements auxquels il est soumis."17

Text, Bild, Gewebe Als avanciertestes Gewerbe des 18. Jahrhunderts bildet die Weberei, so Starobinski, das Emblem und Analogon der Verknüpfung der Wesen in der Natur wie der Texte in der Encyclopedic. Es verkettet Bild und Begriff, Bewegung und Beschreibung, Ursprung und Gegenwart - oder es beansprucht zumindest, dies zu tun. Als einer der besten Kenner der Encyclopedic hat Jacques Proust den Artikel „Bas" (II, 98-113) auf seinen Sachgehalt wie auf seine Darstellungsweise hin untersucht. Sein Befund zeugt von den notwendigen Defiziten sprachlicher wie bildlicher Darstellung: 1. Diderots Beschreibung des Webstuhls will eine komplette Darstellung von dessen Mechanismus geben. Sie „vergißt" aber sowohl das Grundprinzip des Strickens mit zwei Nadeln als Ursprungsidee der Maschine wie auch deren Endergebnis, das fertige Gewebe. Als technische Anleitung ist sie unbrauchbar, schon zu ihrer Entstehungszeit überholt. Der Artikel bietet also weder Entstehungsgeschichte noch Funktionsweise der Maschine, sondern im besten Falle eine überaus verkürzte Beschreibung.18 2. Diese bleibt statisch. Die Bewegung der in die Tausende gehenden Einzelteile und vor allem deren Gleichzeitigkeit ist nicht erfaßt. Ihre Aufzählung ist unvollständig. 3. Die Gestaltung der Planches zeugt darüber hinaus von der Unmöglichkeit, die ohnehin bereits defiziente technische Beschreibung optisch wiederzugeben. Gleichwohl hatte schon das beeindruckende Verhältnis von 17 Text- und 11 Tafelbänden einen besonders hohen Gebrauchswert versprochen. Die Aufgliederung der Tafeln in szenische Darstellungen, die sogenannten Vignetten, und die detailgenaue Zeichnung von Maschinen und Geräten fingiert eine Authentizität, die näherem Hinsehen nicht standhält. „Un coup d'oeil sur l'objet ou sur sä representation en dit plus qu'une page de discours" (1,40) noch das Pathos der direkten, unverstellten Wahrnehmung zeugt mehr vom Selbstbewußtsein des Philosophen als vom Interesse am realen Arbeitspro17 18

Starobinski, Remarques, S. 290. Proust, L'Article *BAS; vgl. auch Hupka, Wort und Bild, S. 105. Proust weist darüberhinaus darauf hin, daß die technischen Beschreibungen immer unpräziser wurden, je mehr Diderot die Last des Unternehmens allein zufiel. Vgl. Proust, Le Recueil de planches.

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zeß. Vor allem die Vignetten inszenieren die „legende doree de l'artisanat". Nicht der konkrete, bald zum Anhängsel der Maschine reduzierte Handwerker, sondern der Philosoph, „habille proprement en monsieur ... joue d'une sorte d'orgue technique dont tous les rouages sont ä decouvert. [II] produit une gaze extremement fine, comme s'il jouait de la musique."19 „Metier" erscheint als „Art" reinszeniert, kaum eine Zeichnung verzichtet auf die Darstellung der Hand, die das Objekt beherrschen, bearbeiten oder in Bewegung versetzen soll. Dem Problem der Darstellung von Gleichzeitigkeit entgehen die Vignetten dadurch, daß sie mehrere Figuren nebeneinander präsentieren, die das Werkstück in verschiedenen Bearbeitungsstufen zeigen. Meist von links nach rechts führend, erzeugt der obligatorische Lichtstrahl beim Betrachter dort einen Eindruck von Simultanität, wo in Wirklichkeit ein Arbeiter die einzelnen Tätigkeiten nebeneinander erledigt. Im Interesse der Lenkung des Betrachters fällt es dann auch kaum mehr ins Gewicht, daß sich gelegentlich auf der linken Bildseite gar kein Fenster befindet, daß die Figuren einander nie verdecken und schließlich der Raum - unabhängig vom ausgeübten Handwerk - immer der gleiche bleibt.20 Kann man diese Idealisierungen dem Wunsch nach Herstellung einer Laborsituation zuschreiben,21 so bestätigt die Betrachtung der inneren Logik der Planches das bereits beim Verweissystem beobachtete Defizit an Realitätsgehalt. Die Arbitrarität der alphabetischen Anordnung, die schon in den Textbänden den Verweis als Instrument der Vermittlung erzwingt, ist hier aufgegeben zugunsten einer Sachorientierung, die „Agriculture et economic rustique" mit 83 Tafeln mit „Aiguillier" (2) und „Aiguillier-Bonnetier" (1) verbindet. Mag die Aufeinanderfolge von Säen und Ernten noch eine „natürliche" Anordnung der Bilder zulassen, so bleibt die Behandlung einzelner Bereiche oder Produkte völlig beliebig. Die zwischen 10 und 20 Jahren betragende Differenz der Erscheinungsdaten von Text- und Tafelbänden (Text: 17 Bde. 1751-1765, Supplement 4 Bde. 1776/77; Planches: 11 Bde, 1762-1772, Supplement l Bd. 1777) bürdet nun der Verknüpfung beider Teile eine um so größere Beweislast für das Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers auf - um so mehr, als das Manko der Koordination zwischen 19

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Roland Barthes, Image, raison, deraison, in: L'Univers de l'Encyclopedie (1964), zit. nach Diderot. Textes et Debats, hrsg. v. Jean-Claude Bonnet, Paris 1984, S. 51-58, hier S. 53 und 54; zur Funktion der planches ebda., S. 36-39. Vgl. Hupka, Wort und Bild, S. 103f. sowie Alain-Marie Bassy, Du texte ä Illustration: Pour une semiologie des etapes, in: Semiotica 11,1974, S. 297-334. Der dort angegebene Titel Bassy (1980) ist nicht identifizierbar. Vgl. Hupka, Wort und Bild, S. 104, Anm. 149, der hier wie auch sonst pragmatische Aspekte bevorzugt behandelt, um die textkritische Position von Barthes und Bassy nicht teilen zu müssen.

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beiden Teilen auch von unzufriedenen Subskribenten hervorgehoben wurde! Wie zu erwarten, reproduzieren sich die bereits im Textteil diagnostizierten Probleme der Verknüpfung zwischen den einzelnen Einträgen hier auf höherer Ebene. Die im Text zwecks genauerer bildlicher Darstellung fachspezifischer Details genannten Buchstaben und Ziffern verweisen zunächst auf die Legende der entsprechenden Tafel, deren Ort im Bildteil nicht immer leicht zu finden ist. Erst das Aufsuchen der richtigen Tafel ermöglicht dann den Rekurs auf die Erklärung des gesuchten Details, die dem Bild in einer „Explication" vorangestellt ist. Sie kann auch den Umfang eines eigenen Artikels annehmen. Trotz entsprechender Ankündigung im Prospectus aber (I, 40) führt der Weg von der Detailfülle der Abbildungen nicht unbedingt zum entsprechenden Hauptartikel zurück, während umgekehrt das Aufsuchen der benutzten Fachtermini weitere Informationen erschließt, die sich wiederum nicht im Bildteil rekonstruieren lassen.22 Die Inszenierung des Philosophen als Handwerker verleiht den Planches so den Charakter von Ikonen für jene geistige wie handwerklich-technische Eroberung der Welt, die das enzyklopädische Projekt insgesamt kennzeichnet. Ob sie je eine andere Funktion hatten, darf als zweifelhaft gelten: widerspricht die Privilegierung von Modellsituationen mit hohem ästhetischem Anspruch in den Vignetten dem Bedürfnis des Handwerkers nach aktueller Information, so ist sie für den intellektuellen Leser ohnehin überflüssig und vermag ihn höchstens in dem beruhigenden Gefühl zu bestätigen, daß Maschinen nach den logischen Prinzipien von Voraussetzung und Folge funktionieren, die ihre Beschreibung prägen. Diderot leitet das Funktionieren des Webstuhls als „corollaire" aus der Aufzählung seiner Einzelteile ab (II, 101, 1 6 col.). Und so entspricht vielleicht das Rezeptionsschicksal der Planches als Bilderbuch einer Intellektuellenschicht im 18. und als graphisches Kuriositätenkabinett im 19. und 20. Jahrhundert noch am ehesten ihrem geheimen Impuls.23

22 23

Ebda., S. 99ff. mit dem Schema der Verweiswege. Vgl. Proust, Le Recueil de planches, mit Verweis auf Barthes (wie Anm. 19). Die technische Inaktualität der Planches wird auch durch das Faktum der Raubkopien von anderen, älteren Tafelwerken belegt. Vgl. dazu die Hinweise bei Hupka, Wort und Bild, S. 96 und 105f. sowie die vierbändige these von: Madeleine Pinault, Aux sources de l'Encyclopedie: la description des Arts et Metiers, Paris 1984 (These de PEcole Pratique des Hautes Etudes, IXe section).

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Der Mensch und seine Abweichungen Die selbstgewisse Verfügung des Philosophen über die Dinge hat sich als Jonglieren mit zahlreichen Varianten der Text- und Bildinszenierung erwiesen, die sich gegenüber der zu beschreibenden Realität zunehmend indifferent verhalten. Liefert sich Diderots antidogmatischer und empiristischer Affekt der Vielfalt der Erscheinungen aus, so scheitert er an ihrer systematischen Erfassung. Zwischen dem Pathos der Enthüllung mit seinen inquisitorischen Formeln des Befragens, Quälens und Auf-den-Begriff-Bringens der Natur und dem erschrockenen Eingeständnis ihrer tatsächlichen Fülle balancierend, gerät der Enzyklopädist schließlich an die Grenze derjenigen Kategorie, die die innere Einheit seines Projekts noch zu sichern vermochte: des Menschen. Gerade die antischolastische Absicht, die Hypothesen immer weiter zu treiben, lenkt den Blick auf die Extreme, die „ecarts" der Natur und schreibt den Blinden und Taubstummen das Privileg der Provokation des Cartesianismus zu.24 Dementiert die unendliche Abfolge der Übergänge zwischen Normalität und Abweichung den Primat der optischen Wahrnehmung dessen, was „ist", so läßt ihre Ersetzung durch physiologisch bestimmte Rezeptionsweisen, etwa den Tastsinn, das Konzept des Menschen als Vernunftwesen vollends ins Wanken geraten. „Ut axiomatum corrigatur iniquitas" Diderots sensualistischer Impuls kann schließlich statt Axiomen und Substanzen nur noch Potentialitäten wahrnehmen: der blinde Mathematiker Saunderson wird zum Zeugen für die Relativität von Metaphysik, Moral, Ästhetik und Logik, und vielleicht ist auch der Mensch insgesamt nur eine Übergangsform zwischen dem Tier und einer zukünftigen unbekannten Spezies.25 Im Systeme figure kommt dem Webstuhl als Wunderwerk der Technik wie als Emblem aufklärerischer Sinn- und Textproduktion der gleiche kategoriale Rang zu wie den Abweichungen der Naturgeschichte, den Monstren oder dem „Komme Machine".26 An diesem Ordnungsproblem läßt sich der 24 25

26

Vgl. Dubois, Representations, S. 61, dem ich auch im weiteren folge. Denis Diderot, Lettre sur les Aveugles ä l'usage de ceux qui voient, in: ders., GEuvres completes, t. 4 (Idees II). Edition critique et annotee ... par Yvon Beiaval et al., Paris 1978, S. 17-107; ders., Lettre sur les Sourds et Muets ä l'usage de ceux qui entendent et parlent, in: ebda., S. 134-233; vgl. auch: Georges Canguilhem, Die epistemologische Funktion des „Einzigartigen" in der Wissenschaft vom Leben, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Wolf Lepenies, Frankfurt/ M. 1979, S. 59-74. Denis Diderot, Refutation suivie de l'Ouvrage d' Helvetius intitule „L'Homme", in: ders., (Euvres Completes. Editees par J. Assezat, t. 2, Paris 1875, S. 263-456, hier S. 365f.; vgl. auch Ursula Winter, Wissenschaftsmethodologie und Moral, in: Denis Diderot oder die Ambivalenz der Aufklärung, hrsg. v. Dietrich Harth und Martin Raether, Würzburg 1987, S. 157-184, hier S. 163f.

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Preis ablesen, der für die Dynamisierung der Denkweisen zu zahlen war: läßt sie bereits auf der synchronen Ebene keine eigene Kontur des Menschen mehr erkennen, so zieht sie ä la longue auch die Philosophie als Darstellungsform in Mitleidenschaft. Möglich ist nur noch die Momentaufnahme einer unendlich progredierenden Entwicklung mit unbekanntem Ziel. Mais si l'etat des etres est dans une vicissitude perpetuelle; si la nature est encore ä l'ouvrage malgre la chame qui lie les phenomenes, il n'y a point de philosophic. Toute notre science naturelle devient aussi transitoire que les mots. In den Pensees sur l'Interp relation de la Nature21 expliziert Diderot den zukünftigen (Natur-)Philosophen, was in der Encyclopedic unter der Fülle der pragmatischen Aufgaben und tagespolitischen Kontroversen verschwindet und sich nur einer Analyse der Darstellungsformen erschließt: die unendliche Fülle der gegenwärtigen Phänomene und ihre Ungewisse Entwicklung in der Zukunft machen den Akt sprachlicher Bezeichnung zum Kreuzungspunkt von Synchronie und Diachronie - mit dem Risiko, die ständigen Veränderungen, denen beide unterliegen, noch zu verdoppeln. Philosophie ist endgültig nicht mehr Ort der Wahrheit, sondern der Konstruktion von Formen und Techniken ihrer Präsentation. So teilt sie das Schicksal von Sprache und Ökonomie, die im Problem der Darstellung unendlich differenzierter Zeit- und Mengenrelationen ihre systemsprengende Provokation finden.28 Ursprung und Geschichte, Bewegung und Bedeutung, Mensch und Natur - es sind die wissenschaftstheoretischen Konstellationen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die das lexikographische Großunternehmen als Produkt einer Schwellensituation auszeichnen. Ihr verlorenes und sich auf andere Weise neu konstituierendes Zentrum ist die Repräsentierbarkeit des Menschen. Im Bestreben nach Klassifikation, Ordnung und Benennung noch dem klassischen Zeitalter verpflichtet, bringt die Encyclopedic jene Leere zum Vorschein, die im 19. Jahrhundert Geschichtsphilosophie und Sprachwissenschaft, politische Ökonomie und Biologie füllen werden.29 Gerade Diderots radikaler Empirismus und Sensualismus provoziert das Problem der sprachlichen Darstellung, das er als Literat im unendlichen Spiel der Formen und Normen überbieten konnte. Als Enzyklopädist, dem schließlich die Last

27 28 29

Denis Diderot, Pensees sur l'Interpretation de la Nature, in: ders., CEuvres completes (wie Anm. 25), t. 9 (Idees III), Paris 1981, S. 25-98, bes. Pensees LVII und LVIII. Vgl. Francine Markovits, L'ordre des echanges. Philosophie de economic et economic du discours au XVIIP siede en France, Paris 1986, bes. S. 309-314. Diese Differenz entgeht Burkhart Steinwachs, der noch emphatisch auf der „Offenheit der Encyclopedic für Fortschritte des Wissens" beharrt, ohne die systemsprengenden Vorstöße Diderots zu bemerken (Steinwachs, Epistemologie und Kunsthistorie, S. 83).

Probleme der Darstellung in der Encyclopedic

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des gesamten Unternehmens allein zufiel, blieb er auf Annäherungen an die Empirie von Geschichte und Natur, Arbeit und Sprache verwiesen. Michel Foucault hat ans Ende der Renaissance die Übergangsfigur des Don Quijote gestellt, der nach Maßgabe der Ähnlichkeiten im Buch der Welt liest und dabei der Überfülle der Bedeutungen zum Opfer fällt.30 Es sei erlaubt, ans Ende der Epoche der Enzyklopädien eine andere, ebenfalls von Foucault interpretierte und Diderot von 1761 bis 1774 begleitende literarische Figur zu stellen: Rameaus Neffen. Er, der ohne eigenen Namen bleibt, überbietet den Mangel an Ähnlichkeit zwischen dem Buch der Natur und der sprachlichen Repräsentation durch obsessive Benennung.31 Im Willen zur absoluten Authentizität, im Fehlen jeglicher Vermittlung begründet er die Reihe jener „Projektemacher mit zersprengtem Gehirn",32 die Foucault als Träger der Unvernunft ausmacht. Vielleicht sind sie aber auch Abbilder des Enzyklopädisten, der - von der Fülle der Erscheinungen fasziniert - in der vergeblichen Jagd nach systematischer Anordnung des Wissens der Leere der Bezeichnungen zu entgehen versucht. Nicht zufällig wird Rameaus Neffe Schauspieler oder Opfer der Psychologie, der Enzyklopädist dagegen komischer Kauz und Objekt der Ironie.33

30 31

32

33

Foucault, Ordnung der Dinge, S. 78ff. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1969 (Paris 1961), S. 349ff. sowie die Bemerkungen zum Homosemantismus, in: Foucault, Ordnung der Dinge, S. 82. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 359, sowie Bernhard Lypp, Die Lektüren von Le Neveu de Rameau durch Hegel und Foucault, in: Diderot und die Aufklärung, hrsg. v. Herbert Dieckmann, München 1980, S. 137-159, bes. S. 148ff. Vgl. den Beitrag von Werner Welzig in diesem Band.

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METIER

λ Faire dos JlAS

Abb. 1: d'Alembert/Diderot, Encyclopedic, t. XXlll, Planches H 2 (Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1967)

Probleme der Darstellung in der Encyclopedic

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TRAVAIL· Du BA& AU METIER avcc- differents ouüls a l'uiage du iaifeur du Metier a Bas et du iaifeur do Ba« au Melier Abb. 2: d'Alembert/Diderot, Encyclopedic, t. XXIII,

Planches II

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Claudia Albert

RAINER S. ELKAR

Altes Handwerk und ökonomische Enzyklopädie: Zum Spannungsverhältnis zwischen handwerklicher Arbeit und „nützlicher" Aufklärung Dem Gedenken an Heinz Ischreyt gewidmet,

1. „Handwerk" und „Kunst" - „arts et metiers" Hand-Werck, ist eigentlich eine Wissenschafft, so man mit Fleisse erlernet hat, aus einer gewissen Materie allerley im menschlichen Leben nöthige und nützliche Dinge durch die Hand zu verfertigen.1 Man wird diese Definition Johann Heinrich Zedlers aus dem Jahre 1735 auch heute noch als zutreffend, ja als klassisch bezeichnen können. Die berühmten französischen Enzyklopädisten2 taten sich 1751 und dann 1765 sehr viel schwerer damit, das Handwerk auf den Begriff zu bringen. Der Untertitel Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers deutet bereits an, daß das französische Gewerbe gleichsam unter zwei Rubriken zu fassen sei: der Kunst und der Materialverarbeitung. Eine solche Zweiteilung war auch im deutschen Sprachbereich keineswegs unbekannt, gab es doch den Unterschied zwischen den „Handwerken" und den „Künsten", doch hatte das eher etwas mit der Ausbildung und den Gewerbesatzungen zu tun. Der Zugang zum Handwerk war entweder durch eigene - zünftige - Ordnungen oder durch fremde - landesherrliche - Ordnungen reglementiert. Die Künste, die andernorts durchaus zünftige Handwerke sein konnten, waren hingegen frei, d. h. nicht zunftgebunden,3 was keinesfalls immer als ein Vorzug gewertet wurde: die bürgerliche Prestigeskala sprach eher für den Handwerker denn für den Künstler. Im französischen Denken des 18. Jahrhunderts entsprachen der Trennung allerdings durchaus Wertungen, wobei sich das nicht völlig vergleichbare Verhältnis umkehrte: Artisan, s. m. nom par lequel on designe les ouvriers qui professent ceux d'entre les arts mechaniques qui supposent le moins d'intelligence. On dit 1

Zedler, Universal Lexicon, Bd. 12, 1735, S. 450. d'Alembert/Diderot, Encyclopedic, Bd. l, 1751, S. 713-719 („Art") u. 745 („Artisan", nachfolgend zitiert); Bd. 12, 1765, S. 463ff. („Metier"). 3 Ohne das Wort „Kunst" zu benutzen, erläutert Krünitz, Oeconomische Encyclopädie, 21. Tl, Berlin 1780, S. 469: „Von ändern Nahrungsgeschäfften, besonders wenn sie unzünftig sind, wird dieses Wort [Hand-Werk] nicht gebraucht, wenn sie gleich allein aus Handarbeiten bestehen, und eine gewisse erworbene Fertigkeit voraus setzen." 2

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d'un bon Cordonnier, que c'est un bon artisan, & d'un habile Horloger, que c'est un grand artiste. Die Übersetzung wird bereits zur Interpretation, denn sie unterlegt dem Begriff „artisan" die Bedeutung von Handwerker, wobei beides, „arts" bzw. „artisanat" und „metiers", die Bedeutung von Handwerk besitzen, ohne daß letzteres eine personale Entsprechung findet: Handwerker ist ein Begriff, womit man solche Arbeiter bezeichnet, die jene Bereiche unter den mechanischen Künsten ausüben, welche das wenigste an Geisteskraft benötigen. Man spricht daher von einem guten Schuhmacher, daß er ein guter Handwerker sei, und von einem fähigen Uhrmacher, daß er ein großer Künstler sei. Der Unterschied ist durchaus bezeichnend, drückt er doch die Neigung aus, die sich in der technologischen Literatur des 18. Jahrhunderts verschiedentlich widerspiegelt, nämlich all jene gewerblichen Bereiche höher zu schätzen, die einen fortgeschrittenen technischen und in dieser Sicht mithin auch einen höheren intellektuellen Aufwand erfordern. Das blieb lange so, jedenfalls läßt sich 1868 die nämliche Hierarchie in einem französischen Dictionnaire general beobachten wie vier Generationen zuvor; allerdings wurde der Künstler nunmehr endgültig als ein Mensch angesehen, dessen Werk den Kriterien von Genie und Ästhetik unterlag.4 Auch in Deutschland hatte der „Kunst"-Begriff in bezug auf das Handwerk seine Bedeutung gewandelt: der „Handwerker-Künstler" hatte seine Existenz verloren - eine Folge der Entwicklung des Marktes und der Gewerbegesetzgebung, die das „alte", d.h. das zünftige Handwerk mit seinen Statusprivilegien grundlegend veränderten. Solch semantische Unterscheidungen rührten die betroffenen Handwerker sicherlich sehr wenig, die interkulturellen Unterschiede indessen sind für unser Thema keinesfalls bedeutungslos, waren doch für nicht wenige der Enzyklopädisten in Deutschland die französischen Wissenschaftler, die sich mit den technischen Wissenschaften, der Gewerbepolitik und dem Manufakturwesen befaßten, ein großes Vorbild. Zwei der wichtigsten Werke beruhten gar auf Übersetzungen aus dem Französischen.

4

Bachelet/Dezobry, Dictionnaire general, Bd. l, S. 233: „Entre Partisan et l'artiste il y a cette difference, que le premier ne va pas au delä de l'execution plus ou moins parfaite des precedes d'un Art, tandis que le second y ajoute sä propre inspiration, et donne ä son oeuvre l'expression et la vie. Le praticien appele ä degrossir un bloc de marbre pour y preparer une statue n'est qu'un artisan plus ou moins habile; le sculpteur qui donne le modele, qui prend l'oeuvre degrossie pour la terminer et l'animer de son genie, est un artiste."

Altes Handwerk und ökonomische Enzyklopädie

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2. Enzyklopädie und Kameralistik Wenn um die Mitte des 18. Jahrhunderts der französische Einfluß auf die deutsche technologische Literatur auch deutlich zu bemerken ist, so kann doch nicht übersehen werden, daß längst vor Diderots und d'Alemberts Encyclopedie in Deutschland Nachschlagewerke auf den Markt gekommen waren, die sich ausdrücklich auch dem Handwerk und Gewerbe zuwandten.5 Das in den Zitaten noch lange nachwirkende Vorbild kam aus Italien: die Piazza universale von Garzoni, welche 1626 in einer zweiten Ausgabe in Frankfurt am Main erschien. Diese Piazza war ein „Schauplatz, oder Marckt und Zusammenkunfft aller Professionen, Künsten, Geschäften, Händeln und Handwerken". 1712 folgte das Natur-, Kunst-, Berg-, Gewerck- und Handlungs-Lexicon. Die zweite Auflage dieses Werks wurde „mit allem Fleiß verbessert und mit 2466 Articuln vermehret" von Johann Hübner, der fortan bis zur 7. Auflage - der von Zincke, auf den noch zu kommen sein wird - dem Werk seinen Namen gab. Unter den frühen Werken sind ferner zu nennen: Nehrings Historisch-Politisch-Juristisches Lexicon ( l 1684 u.ö.), das ebenfalls die „Professionen und Künste" einschloß, dann Jablonskis Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschaften (1721) und Beiers Allgemeines Handlungs-, Kunst-, Berg- und Handwercks-Lexicon (1722). Beier ist der erste seit der deutschen Ausgabe des Garzoni, der ausdrücklich wieder den Begriff des Handwerks im Titel aufnimmt und nicht die modischeren Varianten der „Professionen und Künste" verwendet. Je nachdem, wie sehr man geneigt ist, die Thematik des Handwerks in den einzelnen Nachschlagewerken zu entdecken, und welche Kriterien man hierfür anlegt, kommt man doch auf etwa ein Dutzend Werke, die im 18. Jahrhundert erschienen. Im 19. Jahrhundert nimmt diese Zahl etwas ab. An ihre Stelle treten die technologischen und naturwissenschaftlichen Nachschlagewerke, zum Teil auch die Konversationslexika. Die prominenten Verfasser und Herausgeber der hier behandelten Enzyklopädien - Zincke, Halle, Justi, Schreber und auch Krünitz - waren auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Das hatte zwei Gründe: Zum einen formten sie die junge Disziplin der „Cameralistik", zum ändern waren auch ihre Werke inhaltlich wie personell miteinander verknüpft. Georg Heinrich Zincke (1692-1769),6 ein studierter Theologe und Jurist, war der älteste unter ihnen. Nach einem bewegten Berufsleben trat er, nach5

Vgl. Magdalene Humpert, Bibliographie der KameralWissenschaften, Köln 1937, S. 382-392. 6 Johann Georg Meusel, Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. XV, Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1816, Hildesheim 1968, S. 418-424. Meusel schreibt „Zinke". - Vgl. auch ADB 45, Leipzig 1900, Neudr. Berlin 1971,

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dem er auch drei Jahre im Gefängnis hatte zubringen müssen, mit 48 Jahren in eine Hochschullaufbahn ein, die ihn 1740 zunächst nach Leipzig, dann 1745 ans Carolinum nach Braunschweig führte. In Leipzig begründete eigentlich er erst das Fach Kameralistik. Er verstand es als eine „gelehrte und praktische Wissenschaft", wobei ihm auch die Entwicklung und Förderung praktisch-technischer Kenntnisse am Herzen lag. Sein Adressatenkreis war das starke Handels-, Manufaktur- und Finanzbürgertum.7 Die wenigen Leipziger Jahre waren besonders fruchtbar. In diesem Zeitraum erschienen 1742 das Allgemeine Oeconomische Lexicon, 1745 der erste (und einzige) Teil des Teutschen Real-, Manufactur- und Handwercks-Lexicons sowie eine Einleitung zu den Cameralwissenschaften. 1752, dann schon in Braunschweig, betreute Zincke eine neue Auflage des „Hübner", womit er die Brücke zu den Anfängen der Handwerks-Enzyklopädien schlug. Der bekannteste in dem Kreis der genannten Kameralisten war Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717-177l).8 Neben den Rechtswissenschaften hatte er auch Kameralistik studiert und wurde 1751 Professor der Kameralwissenschaft am neu gegründeten Theresianum9 in Wien; vielleicht waren diese Jahre bis 1754 seine glücklichsten, galt er doch neben Sonnenfels als der bedeutendste Vertreter der „Wiener Schule". Nach Zwischenstationen in Göttingen und Kopenhagen trat er schließlich in die Dienste Friedrichs II. von Preußen, ein Dienst, der ihm schlecht gelohnt wurde: starb er doch unter falscher Anschuldigung zu Küstrin in Festungshaft. Justi war ein Universalgenie, sein Schauplatz der Künste und Handwerke, dessen erste vier Bände er zwischen 1762 und 1765 betreute, ist vor allem als ein Werk der europäischen Kulturvermittlung10 zu würdigen. Der Kenntnisstand französischer Technolo-

S. 313-315 (der Beitrag stammt von P. Zimmermann); H. Seifert, Georg Heinrich Zincke, in: Bedeutende Gelehrte in Leipzig, Bd. l, Leipzig 1965, S. 30. 7 Werner Fläschendräger, Die Universitätsentwicklung im Zeitalter der Aufklärung. 1680-1789, in: Alma Mater Lipsiensis. Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, hrsg. v. Lothar Rathmann, Leipzig 1984, S. 76-15, hier S. 108; Rainer S. Elkar, Leipzig, Sachsen und die Journale. Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte von Aufklärung und Wissenschaft, in: Wissenschafts- und Universitätsgeschichte in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. v. Karl Czok, Berlin 1987 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Kl. Bd. 71, H. 3), S. 69-83. 8 ADB 14, Leipzig 1881, S. 747-753; Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 10, Leipzig 1908, S. 395 (mit falschem Geburtsdatum); Fritz Blaich, Die Epoche des Merkantilismus, Wiesbaden 1973, S. 71-74; NDB 10, Berlin 1974, S. 707-709. 9 Theresianische Militärakademie, gegr. am 14.12.1752 von Maria Theresia, erste Oberdirektion: Feldmarschall Leopold Reichsgraf von Daun. Vgl. Karlheinz Goldmann, Verzeichnis der Hochschulen, Neustadt/Aisch 1967, S. 376. 10 Schauplatz der Künste und Handwerke oder vollständige Beschreibung derselben, verfertiget von denen Herren der Akademie zu Paris, Erster Band. In das Teutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Johann Heinrich Gottlob von Justi, Berlin

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gie, wie er sich in den Descriptions des Arts & Metiers^ niederschlug, wurde zunächst im Zeitabstand von nur einem Jahr in den deutschen Sprachraum übertragen. Noch ein halbes Jahrhundert später nutzte Blumhof Justis Werk bei seinem Versuch einer Encyklopädie der Eisenhüttenkunde und der davon abhängenden Künste und Handwerke mit kritischem Abstand, aber doch voller Respekt.12 Justis Schauplatz war aber noch in ganz anderer Hinsicht ein Drehpunkt der technischen Enzyklopädiegeschichte. Er vereinte neben und nach Justi gleich drei der bedeutenderen technischen Enzyklopädisten in der Redaktion, Halle, Schreber und Krünitz. Als Johann Samuel Halle 1788 mit dem 16. Band die Redaktion übernahm, findet sich im Vorwort die Bemerkung, daß Justis Schauplatz „bisher das traurige Schicksal eines verwaiseten und verlassenen Werkes gehabt" habe.13 Bei den ersten vier Bänden, habe noch der Herr Doktor Krünitz mitgewirkt. Nach Justis Tod wechselten Verlag und Redaktion. Schreber gab dann die Bände 5 bis 13 zwischen 1766 und 1775 heraus, ihm folgte nicht Krünitz, was die ursprüngliche Absicht des Verlegers Kanter war, sondern nach einem Intermezzo von zwei Bänden Krünitzens Schwiegervater Halle, der 1761 bis 1779 ein eigene sechsbändige Enzyklopädie unter dem Titel Werkstäte der heutigen Künste veröffentlicht hatte. Als Daniel Gottfried Schreber14 die Redaktion von Justis Schauplatz übernahm, war er seit zwei Jahren der erste Professor auf dem 1764 in Leipzig neueingerichteten Lehrstuhl für „Oeconomie und Cameralwissenschaften".15 Damit setzte er nun wieder Traditionen fort, die einst Zincke in Leip-

11 12

13 14 15

1762, Leipzig/Königsberg 21775ff., 20 Bde., 1762-95, verschiedene Herausgeber (s.u.). Ich beziehe mich hier methodisch auf Heinz Ischreyt, Kontakte. Bemerkungen über die Voraussetzungen von Kulturbeziehungen und deren systematische Darstellung, in: Istvän Fried u.a. (Hrsg.) u. Heinz Ischreyt (Red.), Zeitschriften und Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts in Mittel- und Osteuropa, Berlin 1986, S. 9-44. Academie royale des sciences (Hrsg.), Description des arts et des metiers, faite et approuvee par M. M. de l'academie [...], 29 Bde, Paris 1761-89. Johann Georg Ludolph Blumhof, Versuch einer Enzyklopädie der Eisenhüttenkunde und der davon abhängenden Künste und Handwerke [...], 4 Bde., Gießen: Georg Friedrich Heyer 1816-21, Bd. l, S. IX über „L'art des Forges et Fourneaux de Fer, par le Marquis de Courtivron et par Mr. Bouchu", übers, im Schauplatz, Bd. II und Bd. III: „Dieses Werk war lange Zeit das vollständigste in seiner Art, und verdient noch immer von gebildeten Eisenhüttenmännern gelesen zu werden. Besonders interessant ist der Abschnitt von der Förmerey; dagegen ist das Mineralogische und Chemische für jetzige Zeiten nicht mehr brauchbar." Justi, Schauplatz, Bd. 16, übers, u. vermehrt von J. S. Halle, Berlin 1788, Vorwort. Fläschendräger, Universitätsentwicklung (wie Anm. 7), S. 108-109. Die ersten Lehrstühle wurden in Preußen, und zwar in Halle und Frankfurt an der Oder 1727 errichtet. In diesem Zusammenhang zur preußischen Aufklärung: Ingrid Mittenzwei u. Erika Herzfeld, Brandenburg-Preußen 1648 bis 1789, Berlin 1987, S. 268-274.

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zig 1740 begründet hatte. Er stand ihm auch an Freimut nicht nach, als er in seiner Antrittsrede16 vor mehreren Ministern und Beamten deutlich Sachsens derzeitige ökonomische Situation kritisierte, eine Lage, die nach dem Siebenjährigen Krieg einer grundsätzlichen Staatsreform bedurfte.17 Die Förderung der Landwirtschaft auf wissenschaftlicher Grundlage und des Manufakturwesens waren ihm besonders wichtig. Mit Johann Samuel Halle (geb. 11.12.1727),18 der als Professor der Staatshistorie und Technologie am „Adelichen Cadetten-Corps" in Berlin lehrte,19 verband Johann Georg Krünitz (1728-1796)20 ein ausgeprägt naturwissenschaftliches und technisches Interesse. Krünitz war Arzt und hatte 1749 an der Universität Frankfurt an der Oder „de matrimonio, multorum morborum remedio", also in Frauenheilkunde, promoviert. Sicherlich dachten beide in kameralistischer Richtung, ohne jedoch wie die anderen bisher genannten umfangreichere kameralistische Studien zu veröffentlichen. Mit 45 Jahren legte Krünitz 1773 den ersten Band seiner Oeconomischen Encyclopädie vor; er arbeitete daran bis zum 73. Band, als ihn just über dem Artikel „Leiche" 1796 der Tod ereilte.21 Krünitz war vor allem Übersetzer, seine übrigen Schriften haben kaum Bedeutung erlangt, und so begann auch seine Enzyklopädie ähnlich wie Justis Schauplatz als ein Übersetzungsunternehmen, wobei die in Yverdon in der Schweiz erscheinende Encyclopedic oeconomique ou Systeme general de l'Oeconomie rustique, domestique & politique die Vorlage bildet. Im Laufe der Jahre wurde indessen Krünitzens Oeconomische 16

Die Vorlesung trug den Titel Von den Schäden, welche als Folgen der vernachlässigten ökonomischen Wissenschaften anzusehen sind. 17 H. Schlechte, Die Staatsreform in Kursachsen 1762-1763. Quellen zum kursächsischen Retablissement nach dem Siebenjährigen Kriege, Berlin 1958 (Schriftenreihe des Sächsischen Landeshauptarchivs Dresden Nr. 5); Karl Czok, Geschichte Sachsens, Weimar 1989, S. 287-296. 18 Georg Christoph Hamberger u. Johann Georg Meusel, Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller, Bd. III, Nachdr. d. 5. Aufl. Lemgo 1797, Hildesheim 1965, S. 63-66. - Abbildung im 55. Teil von Krünitz, Oeconomische Encyclopädie. 19 1705 von Friedrich I. gegründet. Goldmann, Verzeichnis (wie Anm. 9), S. 42-43. 20 Hamberger/Meusel, Das Gelehrte Teutschland (wie Anm. 18), Bd. IV, S. 283-287; ADB 17, Leipzig 1883, S. 253; NDB 13, Berlin 1982. 21 Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus- und StaatsWirthschaft in alphabetischer Ordnung; Aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen und Zusätzen vermehrt, auch nöthigen Kupfern versehen, Berlin 1773ff. Vgl. F. J. Floerken, Vorbericht zu Krünitz, Oeconomische Encyclopädie, 73. Tl., 1798: „Die von dem seligen Herrn Doctor Krünitz bisher mit bewunderswürdiger Rastlosigkeit allein verfaßte ökonomisch-technologische Encyklopädie ist unter dessen Händen bis zu zwey und siebzig Bänden angewachsen. Schon arbeitete er an gegenwärtzigem drey und siebenzigsten Bande, und er vollführte einige Bogen davon bis zum Artikel Leiche." Dieses Gelehrtenschicksal rührte noch Wigand's Conversations-Lexicon. Für alle Stände, Bd. 7, Leipzig 1848, S. 727.

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Encyclopädie zu einem selbständigen Publikationsvorhaben, das den lexikalischen Rahmen fast sprengte. Als der Berliner Drucker Ernst Litfaß22 - übrigens der Erfinder der nach ihm benannten Reklamesäule - 1854 mit dem 221. Teil den Schluß des Werkes besiegelte, da hatte der technologische Wandel längst den Informationsstand der Anfänge dieser Enzyklopädie überholt: 81 Jahre lang waren Bände erschienen, im letzten nun auch der Artikel „Zunft", als die Zünfte ihrem Auflösungsprozeß entgegensahen. Wie eng die Verbindungen zwischen den einzelnen Autoren waren, läßt sich nicht nur personen- und wissenschaftsgeschichtlich, sondern auch an den Artikeln selbst belegen. Gelegentlich begegnen Verweise auf die Leistungen der Kollegen, so bei den Stichworten „Hautelisse" und „Basselisse" von Justis Schauplatz auf „Haltens Werkstäte".23 Doch sind dies ehrenwerte Hinweise, die auch Hönns Betrugs-Lexikon24 unter der Rubrik „Gelehrte betrügen" nicht beanstandet hätte. Es lohnte indessen auch der Mühe, einmal gründlicher zu belegen, welche „Abstammungsgeschichte" einzelne Beiträge besitzen: So ist zum Beispiel der Artikel über den Ausruf „Aah!", womit Krünitz beginnt, nahezu textidentisch mit dem entsprechenden Beitrag von Zincke, um nur ein sofort ins Auge fallendes Beispiel zu nennen.

3. Wahrnehmungen und Vorurteile Es gab eine Reihe von Enzyklopädien, die sich - implicite - mit Gewerbe, Handwerk, Manufakturen und „Fabriquen" befaßten, und es gab Enzyklopädien, die sich - expressis verbis - dem Handwerksstande zuwandten, was durchaus nicht dasselbe war. Schreber nannte drei Personengruppen, die aus Justis Schauplatz ihren Nutzen zögen: 1. die Handwerker, 2. die Manufakturisten, vielmehr solche, die es werden wollten, 3. Menschen, denen „die Beschreibung der Künste nicht gleichgültig" sei und die ein Interesse am „Wachsthum des menschlichen Verstandes" besäßen. Schließlich fügte er ein weiteres Motiv an: 4. Es ginge darum, „alle Handgriffe bis auf die kleinsten zu bemerken ..., damit man einen Grund habe, auf den man bauen könne, um die Künste wieder zu finden, wenn sie sollten untergegangen seyn."25 22 23 24 25

Ernst Litfaß 1816-1874. Die erste „Litfaßsäule" stand in Berlin am 1.7.1855. Der andere Miterfinder war der berühmte Zirkusdirektor Renz. Justi, Schauplatz, Bd. 7, 1768, S. 1-5. Hönn, Betrugs-Lexicon, Neudr. 1977. Justi, Schauplatz, Bd. 7, 1768, S. 1-5.

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Einem solchen technikhistorischen Bemühen lag das Interesse zugrunde, die Produktionsabläufe in ihren Grundsätzen zu erfassen. In bezug auf die Handwerker sprach Schreber gar davon, daß diesen „dadurch die besten Regeln angegeben werden, denen sie in der Ausübung folgen müssen". Die Diktion deutet auf einen Konflikt zwischen der gelehrten Normierung und der Praxis des Handwerks, dem sich freilich Schreber selbst nicht aussetzte. Was da vonstatten ging, wenn ein Gelehrter die Werkstatt betrat, das wissen wir von Johann Samuel Halle, aber auch von einigen anderen Autoren, von denen noch die Rede sein wird. Halle, dessen Spuren als Wissenschaftler ungleich schwerer zu verfolgen sind als die seiner auch heute noch bekannteren Kollegen Justi und Krünitz, machte es sich zum Anliegen, „theoria cum praxi" zu betreiben. Es mißfiel ihm, daß es den „Gelerten" widerstrebte, „die schmuzzigen Werkstäten der Künstler" zu betreten. Von ,,Garzoni[s] Schauplazze der Künste" und „Weigels Abbildungen"26 hatte er eine hohe Meinung, doch konnte er ihnen den Vorwurf nicht ersparen: „Diese beide beschäftigen sich indessen nur mit alten zusammengetragenen Geschichten, die das Wesen einer jeden Kunst unberürt lassen." Ich muste also seit einigen Jaren die Werkstäten selbst besuchen, und auf vielfache Weise den Verdrus überwinden, welchen mir der Eigennuzzen und die Ungefälligkeit der Arkanisten entgegen stelle. Die kleinste waren tägliche Wege, Kosten und ein ziemlicher Vorrat von Geduld; mehr hatten schon die Fragen, und verdruslichen Verhöre, und noch mehr die Sorgfalt zu bedeuten, die man anwenden mus, um die mangelhaft wargenommenen Handgriffe, die Beschaffenheit der Werkzeuge und Maschinen im Gedächtnisse zu behalten, und in der Schreibetafel niederzuschreiben, die Vermischungsformeln (Recepte) teils zu Hause, wenn es sich thun lies, nachzumachen, teils zu verändern; und oft bin ich, um hinter die Warheit zu kommen, welche einige nach ihrem altvaterischen Zunftwizze geschikt zu verstekken suchten, in der Verlegenheit gewesen, viele Werkstäte [sie] von einerlei Art, zu verschiednen Zeiten, und mit umgekerten und schielenden Fragen anzugreifen.27

Die Distanz zwischen Bildungsbürger und Handwerker ist in diesen Sätzen unverkennbar. Der Gelehrte fühlte sich ganz offensichtlich nicht wohl am Ort seiner Empirie. Eine „schmuzzige" Werkstätte, die nahm man wohl im Vorübergehen, bei raschen Besuchen zur Erteilung eines Auftrages wahr, doch hielt man sich dort in aller Regel nicht zu Studienzwecken auf. Überhaupt zeigt das Wort „schmuzzig" die Trennung der Welten und der Wahr26

27

Christoph Weigel, Abbildung und Beschreibung der gemein-nützlichen Haupt-Stände, Regensburg 1698, Faksimile-Neudr. mit e. Einführung v. Michael Bauer und e. Anhang von 72 zusätzl. Kupfern, Nördlingen 1987. Halle, Werkstäte, Bd. l, Vorrede, S. If., passim.

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nehmungen an. Als „schmuzzig" hätte ein Handwerker einen Arbeitsplatz nur dann bezeichnet, wenn es sich um einen verwahrlosten Berufskollegen gehandelt hätte, den hätte man auch vor die Zunft zitieren können, doch: Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne ... Dabei war Halle ein durchaus dem Fortschritt verpflichteter Aufklärer und als solcher dem „Arcanum" abhold, dem handwerklichen „Geheimnis". Gerade hier zeigen sich Standes- und Mentalitätsunterschiede: Von einem maurerischen „Arcanum" hätte Halle so sicherlich nicht gesprochen, doch die vermeintliche oder tatsächliche Geheimnistuerei, die verschiedentlich dem alten Handwerk mit seinem „altvaterischen Zunftwizze" von den Gelehrten vorgehalten wurde, dieses „Arcanum" hinderte eher den technische Fortschritt. Die Gründe für das „kezzerische Mistrauen" zwischen den beiden Ständen erkannte Halle ganz im Stile der spätaufklärerischen „Ratgeber"-Literatur, die sich seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts immer stärker der Lage des Handwerks zuwandte,28 in der „schlechten Erziehung, die einige Handwerksleute bei ihren Meistern nach der Mode der Zunftmäßigkeit genossen". Erziehung, das war in den Augen Halles wohl eher die Angelegenheit einer öffentlichen Schulbildung, nicht nur was die Grundlegung der Bildung in den Elementarschulen anbelangte, sondern auch im Bereich jener Erfordernisse des Wissens, das die „Professionisten", „Manufacturisten". „Handlungstreibenden" und eben die „Handwerker" anging. Der noch nicht im vollen Maße bereitete, jedoch bereits vorgezeichnete Weg führte einesteils zum Realschulwesen, andernteils zum Berufsschulwesen. Halle äußerte scharfe Kritik, er war sich seiner vermeintlich höheren Einsicht gewiß, doch läßt sich seine Haltung keinesfalls als bildungsbürgerliche Überheblichkeit umschreiben, beanstandete er doch auch, „daß man den 28

Einige Beispiele: Gabriel Friedrich Reisewitz, Die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Verstandes und zur gemeinnützigen Geschäftigkeit, Kopenhagen 1773; Justus Möser, Patriotische Phantasien. IV. Reicher Leute Kinder sollten ein Handwerk lernen, 1767, in: ders., Sämmtliche Werke, 1. Theil, Berlin 1842, S. 145-149; ders., Patriotische Phantasien. XXXII. Also sollte jeder Gelehrte ein Handwerk lernen, 1776, in: ebda., 3. Theil, S. 128-132; anonym, Handbuch für alle Handwerksmeister, Gesellen und Lehrbursche [sie] zur Beförderung der häuslichen Ordnung, aufgesetzt von einem Buchbindermeister, Potsdam 1784; anonym [d.i. Johann Caspar Bundschuh], Ueber die zu verbessernde Erziehung unserer Künstler und Handwerker, besonders in Rucksicht auf die in den Gesetzen ihnen vorgeschriebenen Wanderungen in die Fremde, Nürnberg 1788; Th. Platzary, Wilhelm und Gottfried. Etwas für Meister, Gesellen, und Lehrjungen, Frankfurt/Leipzig 1788; Karl Friedrich Mohl u. Johann Andreas Ortloff, Zwo Preisschriften über die Frage: Wie können die Vortheile, welche durch das Wandern der Handwerksgesellen möglich sind, befördert, und die dabey vorkommenden Nachtheile verhütet werden? Welche von der Königl. Societal der Wissenschaften in Göttingen gekrönt wurden, Erlangen 1798.

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Künstler nur als verräucherte Maschinen des Landes ansieht" - ein eigentümlicher Hinweis, der mehr in sich birgt als nur die Beobachtung tatsächlich bestehender Standesunterschiede. Es geht ihm augenscheinlich auch um die Würde dieser Menschen, die in Konventionen befangen und mangels geeigneter Bildung sich nicht entfalten konnten. In diesem Urteil zeigt sich der Aufklärer, der gleich noch hinzufügt: Ich bin glüklich, wenn ich den Professionisten hier ihre Werkstäte deutlich und richtig beschrieben; und dem Gelerten den jezzigen Zustand unsrer Künste, zur Ueberlegung und zum Erfinden vorlege; damit die Waaren zur Aufname des Landes über ihre Mittelmäßigkeit erhoben, und mit reellen Versuchen bereichert werden mögen. Und dieses ist das einzige Mittel, den Brodneid niederzuschlagen, und zwischen Gelerten und Künstlern, da alle Künste durch ein gemeinschaftliches Band unter einander, und so auch die Teile der Gelersamkeit verbunden werden, das natürlich Vertrauen wieder herzustellen. Das Land ist blühend, und es hat von seiner Gelersamkeit erst waren Nuzzen zu hoffen, wenn beide Hände an die natürlichen Stoffe der Körper legen; und jeder Künstler wendet allen Fleis an, wenn er sieht, daß man ihm mit sichern Ratschlagen an die Hand geht.

Woher sollten aber diese „Ratschläge" kommen? Sollten die neuen kameralistischen und technischen Wissenschaften die Quelle sein? War es nicht ein Widerspruch, daß Halle mit seiner Schiefertafel alle Handgriffe und Rezepte zu notieren suchte, daß er also seine Empirie in der Praxis der Handwerker gründete, und daß er gleichzeitig deren Kenntnisse mehren wollte? Trug er also selbst das Wissen von einer Werkstatt in die nächste? Unmißverständlich sahen sich jene praxisbezogenen Aufklärer selbst in der Rolle der ,Wissensmultiplikatoren'. Johann Samuel Halles Konzept der Wissensvermittlung war in mancherlei Hinsicht noch unsicher. Er schwankte zwischen einer Enzyklopädie, die vor einem gelehrten Publikum bestehen sollte, und einer, die sich auch einem Kreis erschließen sollte, der gewiß nicht illiterat war, aber doch nicht gewohnt war - und zum Teil auch finanziell nicht in der Lage -, Handbücher für die eigene praktische Arbeit heranzuziehen. Die Weitergabe handwerklicher Fähigkeiten und Fertigkeiten geschah üblicherweise im Wege der praktischen Vermittlung: Anleitung und Einübung während der Lehre, Aneignung innovativen Wissens während der Wanderschaft, schließlich Nachbau oder variierte Nachahmung von Produkten sowie unmittelbare Werkspionage zuweilen noch in der Meisterschaft. Handbuchlektüre gehörte wohl kaum zur handwerklichen Lehr- und Lernpraxis, auch wenn es durchaus einen gewissen Bestand an Anleitungsliteratur für Handwerker gab.29 Die Konjunktur- und Anpassungskrisen des Handwerks, 29

Referiert bei: Bernward Deneke, Anleitungsliteratur für Handwerker, in: Literatur und

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die in vielen Branchen im 17. und 18. Jahrhundert hervorbrachen, führten zu innerhandwerklichen Abwehrstrategien, die der Sicherung des Nahrungsstandes dienen sollten, nicht aber zu einer breiten Bildungsöffnung, jedenfalls nicht bei den vielen kleinen Versorgungs- und Dienstleistungshandwerkern. Es gibt noch ein weiteres Werk, das sich den Handwerkern zuwandte: Peter Nathanael Sprengeis Handwerke und Künste in Tabellen.30 Der erste Band erschien 1767, also fünf Jahre nach Halles Werkstäte, und wurde trotz seines größeren Umfangs zwei Jahre früher abgeschlossen. Sprengel war wie sein Amtskollege Otto Ludwig Hartwig, der das Werk von der dritten Sammlung an fortsetzte, zunächst Realschullehrer in Berlin.31 Sprengel ging es weniger um die hohen Ziele der Aufklärung, er stand den praktischen Dingen des Handwerks offenkundig näher. Schwierigkeiten im Umgang mit den Handwerkern, so bemerkt er, rührten nicht immer von der finstern Stirn der Künstler selbst her. Dis glauben, würde offenbar heissen, der Sache zu viel thun. Oft bringt es die Jahreszeit mit sich, daß man den Handwerker nicht arbeiten sieht: oder daß er nur für eine gewisse Art von Waaren gemacht zu seyn scheinet.32 Dies war eine sehr klare Sicht der Dinge: Das Handwerk war in einigen Produktionsbereichen nicht nur abhängig von Natur und Wetter, manche Handwerker arbeiteten nur zu bestimmten Jahreszeiten, nämlich dann, wenn sie zum Beispiel nicht in der Landwirtschaft oder bei einem anderen Arbeitgeber beschäftigt waren. Selbstverständlich ging es auch Sprengel um eine klare Empirie vor Ort, doch war er bedachtsam genug, gleichsam die Psyche seiner Gesprächspartner zu berücksichtigen: Man muß zufrieden seyn, wenn uns das Glück nur immer einige Handwerker zuführet, die fein genug sind, unsere Nachforschungen nicht für verdächtig zu halten; uns als Freunde ihrer Kinder zu lieben, und uns bey unserm Eifer durch tröstende Blicke und willige Belehrung Muth einzuflössen.33

30 31

32 33

Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, hrsg. v. Wolfgang Bruckner, Peter Blickle u. Dieter Breuer, Wiesbaden 1985, S. 817-835. Peter Nathanael Sprengel, Handwerke und Künste in Tabellen, 17 Bde, Berlin 176777, Neuaufl. bearb. v. Otto Ludwig Hartwig, Berlin 1778-95. Hamberger/Meusel, Das Gelehrte Teutschland (wie Anm. 18), Bd. VII, S. 589-590; Bd. XX, S. 563: geb. 7.4.1737, Altbrandenburg, gest. 1.4.1814. 1762 Kollege an der Königlichen Realschule Berlin, seit 1768 Pastor zu Großmangelsdorf im Magdeburgischen. Die 3.-15. Sammlung betreute schon Otto Ludwig Hartwig, geb. 4.12.1740 Neuangermünde (Uckermark). Seit 1781 Rektor und Professor am Gymnasium Elbing in Westpreußen, zuvor Lehrer an der Realschule Berlin, dann Prediger zu Buchholz (Mittelmark). Zu Hartwig: Hamberger/Meusel, ebda., Bd. III, S. 101-102. Sprengel, Handwerke, Erste Ausgabe, Berlin 1767, Vorrede, S. [7]. Ebda., S. [7-8].

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Um sein Ziel zu erreichen, den „jungen Leuten aus dem Bürgerstande ein Handbuch zu liefern, welches geschickt ist, sie auf ihre zukünftige Lebensart vorzubereiten", geht er von einer „erzwungenen Ordnung" - von einer alphabetischen Reihung der Berufe oder einer klaren Gliederung nach Branchen - ab. Er richtete sich danach, so rasch als er nur die Erfassung eines bestimmten Berufes abschließen konnte, diese auch zu publizieren, damit es den besagten „jungen Leuten" leichter gemacht würde, „eine solche mechanische Handthierung zu erwählen, die geschickt ist, ihnen künftig als Männern von Religion und Tugend, Ehre, und als guten Bürgern Vergnügen und zeitliche Vortheile zu verschaffen."34 Ob man das Ergebnis eines solchen Unterfangens noch als enzyklopädisch wird bezeichnen können, ist eine Definitionsfrage.

4. Nützliche Nachrichten mit zahlreichen Kupfern Was war nun Nützliches in jenen Enzyklopädien enthalten, vor allem: welches Wissen trat in den Vordergrund, welches Wissen wurde eher kursorisch behandelt? Natürlich setzte jedes Werk seine eigenen Akzente, jedoch sind allgemeinere Tendenzen durchaus beobachtbar. Kaum einer der Enzyklopädisten umriß so ausführlich und weitschweifend den Gegenstand seiner Beobachtungen wie Georg Heinrich Zincke auf dem Titelblatt seines Real-, Manufactur- und Handwercks-Lexicons. Es ging ihm zunächst um die Behandlung der Materie. Dabei berichtete er über die Rohstoffe, die Produkte und die Produktion einschließlich des unterschiedlichen Designs - wie wir heute sagen würden - und schloß Auskünfte über die Bedingungen und Gegebenheiten des Marktes wie Preis, Verkauf und Vertrieb an. Dies war der erste große Themenbereich, der zweite behandelte sozusagen die Betriebsorganisationen des Handwerks: die Art der Produktionsstätten, darunter die Manufakturen, die zünftigen und unzünftigen Handwerke mit ihren Rechten, Konventionen, Ritualen und Ausbildungswegen, die Arbeitskräfte in all ihren handwerklichen Ausbildungs- und Statusgruppen einschließlich weiblicher Arbeitskräfte, nicht zu vergessen die Rechtsordnungen, in denen sich die Arbeit vollzog. Was Zincke so auf dem Titelblatt seines Lexicons ankündigte, war ein Maximalprogramm, das er auf Dauer nicht durchzuhalten vermochte - nur der erste Teil erschien, es war aber auch im Detail von einem einzelnen nicht zu leisten, kaum einer seiner Beiträge realisierte wirklich alle seine werbewirksamen Ankündigungen. 34

Ebda., Vorrede.

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Vergleicht man bei den übrigen Autoren einzelne Lemmata, so ergibt sich das folgende Bild: Sowohl Zedler als auch Krünitz widmen der Thematik „Handwerk und Zunft" zum Teil umfängliche Abhandlungen. Die Erscheinungsjahre spielen hier eine wichtige Rolle. Zedlers Beitrag über das „Hand-Werck" erschien 1735 und umfaßt lediglich 8 Spalten. Eine wirklich umfassende Beschreibung findet man bei ihm dann 1750 in den 162 Spalten über „Zunfft". Krünitzens Abhandlung über das „Hand-Werk" ist die späteste und stammt - mit 111 Seiten - aus dem Jahr 1780. Alle übrigen Autoren lieferten eher knappe Abhandlungen. Die Beiträge von Zedler und auch noch von Krünitz standen unter dem Eindruck des „Kayserlichen Patents von Abstellung derer bey den Handwerkern eingeschlichenen Mißbräuche", dem als „Reichszunft-" oder „Reichshandwerkerordnung" bekannten Reichsschluß des Jahres 173l.35 Die starken Eingriffe, die insbesondere auf Betreiben BrandenburgPreußens in die alte Zunft-Autonomie vorgenommen wurden, entsprachen durchaus dem kameralistischen Denken der Enzyklopädisten, die wenig Sympathie für das alte Herkommen, die Rituale und die sperarierte, nicht staatlich-öffentliche Ausbildung des Zunfthandwerks hegten. „Es ist wahr", schreibt Krünitz, „wenn man von Zünften und Innungen noch gar nichts wüßte" und wollte sie heute wie einst neu einrichten, „so würde man einen unverantwortlichen Fehler wider alle vernünftigen Grundsätze, ja in der That eine eben so große Thorheit begehen, als unsere Vorfahren begangen haben."36 Man mag darin mangelndes Verständnis für historische Entwicklungen entdecken. Gewiß Zedler war vier Jahre nach Publikation des Reichsschlusses noch sehr viel zurückhaltender, doch druckte auch er die brandenburgische Vorlage für den Reichsschluß von 1731 ungekürzt ab. Er hielt sie offenkundig für mustergültig. 1780 aber hatte sich längst die communis opinio der Kameralisten und Juristen gegen das Zunftwesen gebildet. Noch im letzten Band des Krünitz wird die Staatsaufsicht über die Zünfte „als ein vorzügliches Mittel" der Gewerbepolitik gepriesen.37 Es traf in vielerlei Hinsicht durchaus zu, was Krünitz bemerkte: „Den letzten Stoß empfingen die Handwerke von den Fabriken und Manufacturen." Bei Krünitz hatte sich - ganz in der Linie seiner kameralistischen Vor35

36 37

Hans Proesler, Das gesamtdeutsche Handwerk im Spiegel der Reichsgesetzgebung von 1530 bis 1806, Berlin 1954; Karl Otto Scherner, Legitimation und Instrumentarium territorialer Gewerbepolitik in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 3,1981, S. 121-136; Uwe Puschner, Reichshandwerkordnung und Reichsstädte. Der Vollzug des Reichsschlusses von 1731 in den fränkischen Reichsstädten, in: Reichsstädte in Franken, hrsg. v. Rainer A. Müller, Bd. 2, München 1987, S. 33-45. Krünitz, Oeconomische Encyclopädie, 21. Tl., 1780, S. 472. Ebda., 242. Tl., 1858, S. 412.

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ganger - eine Vorstellung gebildet, in welche Richtung sich der Fortschritt bewege: in eben die Richtung der Manufakturen und Fabriken, wo der technische Sachverstand sich häufte, auf eine Betriebsform zu, die in Frankreich so große Erfolge hatte verzeichnen können und die man - unter dem segensreichen Einfluß französischer Emigranten - zunehmend auch in „Teutschland" beobachten konnte. Kommt man nochmals auf die Lemmatisierung handwerklicher Themen zurück, so lassen sich in der Tat zwei Kategorien in dem enzyklopädischen Bemühen erkennen: Da ist zum einen die Gruppe der Didaktiker vom Schlage eines Sprengel, aber auch des anonymen Verfassers einer Kurze [n] Beschreibung der Künste und Handwerke,38 die ohne Abstufung und Präferenzen ein Handwerk neben das andere reihen, um eine möglichst vollständige Übersicht über die „bürgerlichen Berufe" zu entwickeln und die Kenntnis über die einzelnen Handwerke zu mehren. Der dahinter stehende Anspruch gilt hier letztlich den Bereichen der beruflichen Bildung und der unmittelbaren Nutzanwendung, möglicherweise als eine Art Leitfaden. Auch wenn man dieses Unterfangen insgesamt - etwa in der Form der Sprengeischen Abhandlungen - als wenig geglückt, weil wenig zweckmäßig bezeichnen wird, ist es doch als ein keinesfalls unbedeutender Schritt in die Richtung der Literarisierung beruflicher Bildung zu werten. Betrachtet man hingegen - trotz ihres sehr unterschiedlichen Aufbaus die Werke von Justi und Krünitz, so treten andere Konturen hervor. Es geht hier immer um den aufklärerischen Fortschritt, der hier auch Teil eines Kulturvermittlungsprozesses zwischen Frankreich und Deutschland ist. Insofern stand im Hintergrund stets die Leistung der französischen Enzyklopädisten und ihre Sichtweise. Bei Justis Unternehmung spielten nicht zuletzt die Abbildungen eine wichtige Rolle, die oft dem Recueil de planches entstammen. Es ist durchaus bemerkenswert, wie unterschiedlich Krünitz einzelne Handwerke abhandelte. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, als ob die traditionellen Gewerke etwas außerhalb seines Interesses stünden, selbst wenn sie - wie die Drechselei - zuweilen als besondere Modehandwerke etwa bei Hofe39 betrieben wurden. Im Krünitz umfaßt der Artikel über das 38 39

Anonym, Kurze Beschreibung der Künste und Handwerke. Ein Anhang zum allgemeinen Lesebuch für den Bürger und Landmann, Erlangen 1791. Klaus Maurice, Der drechselnde Souverän. Materialien zu einer fürstlichen Maschinenkunst, Zürich 1985; ders., Handwerkliche und technologische Momente in der Fürstenerziehung, in: Die Mechanik in den Künsten, hrsg. v. Hanno Möbius u. Jörg Jochen Berns, Marburg 1990, S. 45-55. Birgit Kümmerl, Der drechselnde Fürst, in: Arolsen. Indessen will es glänzen. Eine barocke Residenz, hrsg. v. Richard Hüttel u. Birgit Kümmerl, Korbach 1992, S. 355-362.

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Drechseln und die Drehbank etwa 10 Seiten,40 jener über „Gold", darunter das „Goldmachen", die „Goldarbeiter" und die „Goldschläger" 125 Seiten, schließlich jener über den „Hut" 160 Seiten. Die Hutmacherei41 war neben der Strumpfwirkerei42 ein Handwerk, das insbesondere im manufakturiellen Betrieb die höchste Aufmerksamkeit der Kameralisten anzog. Dementsprechend sorgsam entwickelte Krünitz seine Beschreibung der Materialien und Verfertigungstechniken. Doch auch ein traditionelles, in seiner Geschichte bis in die Antike zurückreichendes Handwerk wie die Färberei fand bei Krünitz eine glänzende Darstellung, die erkennbar umfangreiche fachliche Recherchen des Autors voraussetzte; allerdings gehörte gerade die Färberei zu den hochmodernen Entwicklungsbranchen des 18. und 19. Jahrhunderts. Halle, Justi und seine Nachfolger, nicht zuletzt Krünitz, sie alle waren ganz offenkundig von dem Wunsch beseelt, daß man aufgrund ihrer Darstellungen und Vorlagen all jene Techniken und Herstellungsweisen, ja vielleicht die gesamte moderne französische Produktionsweise nachahmen könne, die sie für so segensreich hielten. Keines der deutschen Werke war aber in der Gestaltung seines Abbildungsteiles ähnlich aufwenig gestaltet wie der Recueil de planches, den man denn auch immer wieder zur Rate zog und der auf die deutsche Handwerkerdarstellung etwa in den Stichen Chodowieckis (1726-1801) nicht ohne Einfluß blieb. Ein solch augenfälliger Standard der Mechanisierung im Handwerk und im Manufakturwesen beeindruckte in Deutschland noch lange. Ob aber die planches tatsächlich eine wirklichkeitsangemessene technische und technologische Schau vermittelten, ob sie die Produktionsstätten und die menschliche Arbeitswelt auch bis ins aktuelle Detail abbildeten, eben dies ist vor nicht allzu langer Zeit bestritten worden43 - mit guten Argumenten, denn ein Teil der Stiche geht auf zuweilen sogar erheblich ältere Vorlagen zurück, darunter Chambers Cyclopaedia, und 40 41

42

43

Krünitz, Oeconomische Encyclopädie, 9. Tl., 1776, S. 492-505. Paul Jacob Marperger, Beschreibung des Hutmacher-Handwerks, Altenburg 1719; Adolf Gottschewski, Die Hutmacherei in Leipzig, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik Bd. 67. Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland Bd. 6: Königreich Sachsen, 3. Teil, Leipzig 1897, S. 287-331; O. Timidor, Der Hut und seine Geschichte, Wien/Leipzig o.J. W. Trensch, Die Chemnitzer Strumpfwirkerinnung, Berlin 1927; P. Wiethoff, Eine Kulturgeschichte des Strumpfes, Detmold 1949; I. Turnau, The Knitting Crafts in Europe from the Thirteenth to the Eighteenth Century, in: The Bulletin of the Needle and Bobbin Club 65, 1982, S. 20-42. Proust, Le Recueil de planches, äußert: „... nous savons aujourd'hui qu'une partie seulement de cette premiere serie de dessins avait ete faite d'apres nature. La plupart etaient tires soil de Chambers, soit d'ouvrages techniques empruntes ä la Bibliotheque du roi, comme la description du Metier ä bas, soit des portefeuilles ou Reaumur conservait les documents preparatories ä une grande description des arts et metiers entreprise par Academic des sciences ä la fin du XVIP siecle."

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die meisten Szenen wirken in der Tat erstaunlich gestellt. Handelte es sich mithin um eine Art Legenda aurea des Handwerks, worin die Menschen die Maschinen beherrschen, wie Roland Barthes44· die Tafeln zu deuten suchte? Oder handelte es sich um eine völlig unwirkliche Phantasmagoric fern jener Schindereien und Widerwärtigkeiten am Arbeitsplatz, wo - um Robert Darnton zu zitieren - die Menschen „ein unbeflecktes, mechanisches Utopia"45 bewohnen? In der Tat begrenzte die Encyclopedic „handwerkliche Arbeit auf ihre technologische Basis", zeichnete sie in ein Bild um, „wie sie gemäß rationellerer Technik sein sollte", und beseitigte so eindeutig „einen grundlegenden Aspekt"46 des Handwerks, nämlich seine spezifische Gruppenkultur, die nicht zuletzt durch die Mühseligkeit des Alltags und die eigentümlichen sozialen Umgangsformen seiner Menschen geprägt war:47 Nicht die zerstochenen Finger der Textilarbeiterinnen sind zu sehen, sondern die feine nadelführende Hand mit elegant gewundenem Faden, nicht der geschwungene Hammer, sondern Hämmer aller Arten, Werkzeuge, Maschinen en gros und en detail. Die aufgeklärten Beobachter wandten ihr Interesse eben nicht den Niederungen der Arbeit, dem Schmutz, dem Gestank, dem Lärm, den gequälten Lehrbuben, den geplagten weiblichen Hilfskräften zu, sondern dem, was mit den geschicktesten Handgriffen, den besten Werkzeugen, den vorzüglichsten Maschinenkonstruktionen alles noch an Nützlichem zu erreichen sei. Hegten die Didaktiker unter den Enzyklopädisten den Gedanken einer behutsamen Weiterbildung für alle, so verwarfen die entschiedenen Kameralisten diesen Gedanken nicht, doch schritten sie noch weiter: Gewiß war Krünitzens Vorschlag ein wenig ironisch gemeint, doch gründete die Ironie auf Überzeugung, wenn er als Mittel gegen die Misere des Handwerks empfahl: Diesem Uebel kann nicht anders vorgebeuget werden, als wenn reiche Leute Handwerker werden. Da der Gold- und Silber-Fabrikant, der Hut- und Strumpf-Manufacturier an vielen Orten in Pallästen wohnt, und alle die Vorzüge genießt, welche Erfahrung, Klugheit, Aufführung und Reichthum gewähren kann: warum sollte ein Meister Hutmacher und ein Meister Strumpfwirker, wenn er es so hoch als jene bringt, nicht eben das Ansehen erlangen können. Die Meisterschaft ist gewiß keine Unehre.48 44 45 46 47

48

L'Univers de l'Encyclopedie, S. 11. Darnton, Glänzende Geschäfte, S. 186. Ebda., S. 329. Rainer S. Elkar, Handwerk als Lebensform - über das Verhältnis von handwerklicher Existenzsicherung und ritualisiertem Lebenslauf, in: Handwerk zwischen Idealbild und Wirklichkeit. Kultur- und sozialgeschichtliche Beiträge, hrsg. v. Paul Hugger, Bern 1991, S. 97-112. Krünitz, Oeconomische Encyclopedic, 21. Tl., 1780, S. 573.

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Das bedeutete schon ein Stück modernes Wirtschaftsdenken: Kapital und Ausbildung waren die Grundelemente, auf die es ankam. Es war nicht so, daß das alte Handwerk dies nicht gewußt hätte, doch suchte es andere Wege in der Entfaltung des Marktes, suchte es vor allem noch soziale Sicherheit in einer unsicheren Lage zu behaupten, jedoch: die alten Konzepte wirkten nicht mehr, und neue waren noch nicht entdeckt, bei den enzyklopädischen Kameralisten ebenso wenig wie beim Zunfthandwerk.

WOLFGANG ALBRECHT

Aufklärerische Selbstreflexion in deutschen Enzyklopädien und Lexika zur Zeit der Spätaufklärung

Anhand ausgewählter Quellen1 soll Wechselbeziehungen zwischen Aufklärungs-/Bildungsverständnis und Enzyklopädie-/Lexikongedanken in Deutschland etwa von 1770 bis 1830, also während des Zeitraums der sogenannten Spätaufklärung, nachgespürt werden. Zunächst gilt es, den Einfluß zu vergegenwärtigen, den Aufklärungsintentionen und insonderheit neue Grundtendenzen der Spätaufklärung (sozialreformerischer Praxisbezug, Volksaufklärertum, Politisierung) mehr oder weniger direkt auf jene Werke ausübten (I). Danach werden exemplarische Artikel, die aufklärerische Zentralideen beschreiben, etwas genauer untersucht (II). Diese Analyse mündet darin, resümierend und bilanzierend das jeweilige Stichwort „Aufklärung" zu betrachten (III). Zur nötigen Differenzierung gut anwendbar ist dabei eine Typologie „tragender Grundideen der deutschen Aufklärung", die aus philosophiegeschichtlicher Sicht unterscheidet: 1. Programmideen (Aufklärung, Selbstdenken oder Mündigkeit, Perfektibilität), 2. Kampfideen (gegen Vorurteile und Aberglauben, Schwärmerei), 3. Basisideen (Vernunft, Bestimmung des Menschen), 4. abgeleitete Ideen (Kritik, Öffentlichkeit und Pressefreiheit, Unparteilichkeit und Toleranz).2 Allerdings muß diese Typologie im Hinblick auf die Spätaufklärung noch um einiges erweitert werden, und zwar: Glückseligkeit und Humanität als wesentlich neugefaßte und forcierte Programmideen, Engagement gegen „Obskurantismus" (Gegenaufklärung) und für „Verbesserungen" (Reformen) aller Art im Bereich des gesellschaftlichen, alltäglichen Lebens als neue Kampfideen.

1 2

Die Auswahl erfolgte unter typologischem und regionalem Aspekt und berücksichtigt nur allgemeininformierende enzyklopädisch-lexikalische Werke. Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht, hrsg. v. Karlfried Gründer u. Nathan Rotenstreich, Heidelberg 1990, S. 67-100.

Aufklärerische Selbstreflexion in deutschen Enzyklopädien

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I. Im Gefolge der Encyclopedic (1751-65), so lautet die hier zu verifizierende Leitthese, verpflichteten sich wesentliche enzyklopädische bzw. lexigraphische Unternehmungen gänzlich oder zumindest partiell der Reformbewegung, zu der sich die deutsche Aufklärung während ihrer Spätphase entwikkelte. An vorderster Stelle muß dabei der Deutschen Encyclopädie gedacht werden, die eine Gießener Gelehrtengruppe Mitte der siebziger Jahre, genau im Übergang zur Spätaufklärung, konzipierte. Sofern dieses unvollendete Werk überhaupt näheres Forscheraugenmerk fand,3 hat man nur vage einen kräftigen Aufklärungsgestus hervorgehoben. Wie aber ist dieses tatsächlich unverkennbare Charakteristikum genauer beschaffen? Die Autoren der Deutschen Encyclopädie verbanden nach bewährten Mustern Sachinformation mit historisch-kritischer Darstellung. Wenn sie anfangs Zurückhaltung in der Kritik gesellschaftspolitischer Belange übten und durchweg dem Religiösen großen Raum gaben, so entsprach das einem Wesenszug der deutschen Aufklärungsbewegung: Sie wurde bekanntlich nach 1770 zwar politisch und religionskritisch konsequenter, indes selten zum völligen Widersacher der bestehenden Gesellschaftsformation und noch weniger des Christentums. Größere Aufmerksamkeit als dem Historischen des jeweiligen Problems widmeten die Encydopädie-MitaibeitQT meistens seinem aktuellen Moment. Daraus resultierten oft sehr einläßliche Schilderungen des gegebenen Erkenntnis- und Diskussionsstandes. Aus ihnen wiederum wurden unmittelbar praxisbezogene Veränderungs- oder Verbesserungsvorschläge abgeleitet. Das Praktische gewann - wie bei der Mehrzahl deutscher Spätaufklärer - gegenüber dem Theoretischen eindeutig Priorität. „So finden sich z.B. recht ausführliche Artikel zu den Begriffen Buchhandel, Elektrizität, Handel und Industrie, die zumeist informationsreicher sind als die entsprechenden Beiträge bei Diderot."4 Freilich waren das traditionsreiche Gebiete des öffentlichen Lebens, während zum Beispiel eine relativ junge Wissenschaft wie die Technologie nur geringe Berücksichtigung fand.5 Nützlich gerade auch für „die Geschäfte des gemeinen Lebens"6 sollte das Real-Wörterbuch sein, und der einzelne Artikel gründlich und zugleich 3

4 5

6

„Bisher ist kein Buch bzw. Artikel bekannt, der sich eingehender mit der Deutschen Encyclopädie befaßt hat." Decker, Die Deutsche Encyclopädie, S. 147. Decker kündigt eine Dissertation über das Werk an. Voss, Verbreitung, Rezeption und Nachwirkung, S. 189. Auf dieses Defizit verweist an sich völlig zu Recht Fontius, Deutsche Enzyklopädisten, S. 193. Indes tut Fontius die Deutsche Encyclopädie allzu kurzschlüssig als unrühmlich ab und konzentriert sich selbst vorrangig auf technologische enzyklopädische Unternehmungen. Deutsche Encyclopädie, Bd. 8, Art. Encyclopädie, S. 383.

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Wolfgang Albrecht

deutlich formuliert. Gründlichkeit und Deutlichkeit waren seit je Prinzipien aufklärenden Schreibens; Utilitarismus trat gegen Jahrhundertende generell in der deutschen Aufklärungsbewegung verstärkt hervor. Verallgemeinernd läßt sich folgern: Konsequenter als die französischen Enzyklopädisten gingen die Gießener samt ihren Mitarbeitern von der Alltagspraxis aus und leiteten den Leser immer wieder auf sie zurück. Dem korrespondiert, daß man, der permanenten Spezialisierung der Wissenschaften Rechnung tragend, keinen neuen Versuch einer Systematisierung unternahm, kein „System aller menschlichen Kenntnisse, sondern ein bloßes Aggregat"7 erstrebte. Den Ansatzpunkt für den Benutzer gibt die einzelne interessierende Sache oder Begrifflichkeit, auf die er „bey dem Lesen eines ändern Buchs, allenfalls auch im mündlichen Gespräch"8 stößt. Die Deutsche Encyclopädie wurde für Gelehrte und vorgebildete Informationensuchende verfaßt. Für solche Leute, welche an einer nützlichen Lecture Geschmack haben, und die Zeit auf eine angenehme Weise zubringen ... wollen, war es nöthig manche Materien ausführlicher vorzustellen, als vielleicht ein anderer, der das Buch zum bloßen Nachschlagen gebrauchen will, wünschen mag. Diese Bekundung, der eine Attacke auf das „Lesen elender Romane, wässerichter Gedichte, oder anderer flüchtiger Schriftchen"9 unmittelbar vorausgeht, ist zwiefach aufschlußreich. Zum einen als unmißverständliche Argumentation zugunsten der zeitgenössischen Kritik an der „Lesesucht" oder „Lesewut".10 Zum anderen als Erwartung bzw. Forderung eingehenderer Beschäftigung mit dem vorgelegten Nachschlagewerk. Über Kenntnisvermittlung und Belehrung hinaus erstrebte man, bei den Wissenschaftlern weitere Forschungen und bei den sonstigen Interessenten ein regelrechtes Studium des Werks anzuregen. Sie alle sollten befähigt werden, berufliche Tätigkeiten und überhaupt Anforderungen des Lebens besser zu bewältigen; ferner ihr Urteilsvermögen so zu schärfen, daß sie berechtigte Kritik umsichtig und fundiert hervorbringen könnten, nicht „blos mit dictatorischen Machtsprüchen um sich werfen"11 brauchten. Allemal ging es sowohl um die praktische als auch um die selbständige Anwendung der vermittelten Informationen. Die Fähigkeit des klaren Selbstdenkens galt schon hier, vor Kant, als unveräußerliches aufklärerisches Prinzip. Aus dessen Vernachlässi7

Ebda., S. 374. »Ebda., S. 381. 9 Ebda., S. 382. 10 Vgl. u.a. Edgar Bracht, Der Leser im Roman des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M/Bern 1988, Kap. IV: Die Lesesuchtdebatte; Erich Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987. 11 Deutsche Encyclopädie, Bd. 6, Art. Critik, S. 505.

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gung, aus dem „Mangel des eignen Nachdenkens",12 wurde zum Beispiel plausibel zu machen versucht, weshalb Aberglauben und Vorurteile trotz aufklärerischen Bemühens sich zählebig forterben. Die konstitutive Intention lebenspraktischer Nutzbarkeit verbindet die Deutsche Encyclopädie mit einem ganz anderen, viel kleineren Werk, das speziell unter volksaufklärerischen Aspekten verfaßt wurde. „Sollen die ruhmwürdigen Bemühungen der Gelehrten, welche unter allen Volksklassen Aufklärung zu verbreiten und zu befördern suchen, ihre volle Wirkung hervorbringen; so ist es nöthig, daß der Unstudierte und der gemeine Mann ein Buch an der Hand habe, in welchem er Kunstworte und solche Ausdrücke, die aus ändern Sprachen entlehnt sind, erklärt findet."13 So lautet das Anliegen des Nürnberger Pfarrers Johann Ferdinand Roth (1748-1814), dessen Gemeinnütziges Lexikon zwischen 1788 und 1807 drei Auflagen erreichte. Es bietet sehr kurze Begriffserläuterungen, die sich allermeist jeder Wertungen und Kommentare enthalten. Indes gibt es signifikante Ausnahmen, wie beispielsweise: „Universal-Monarchie, wollten ehemals (?) einige Potentaten errichten, indem sie suchten, eine Alleinherrschaft über einen großen Theil der Erde zu erlangen."14 Das Fragezeichen ist charakteristisch dafür, wie Roth mit einfachsten Mitteln sein Konzept kritisch politisierter Volksaufklärung umgesetzt hat, das er in der Vorrede unmißverständlich explizierte. Dort wird ausgegangen vom Nutzen des Lesens, insbesondere periodischer Schriften. Er bestünde darin, daß „aus den Köpfen der Menschen verjährte Vorurtheile schwinden, der allgewaltige Aberglaube immer mehr von seiner Herrschaft verliert, und der Mensch auf seine Würde, auf seine natürliche Freyheit, auf seine unzuveräussernden Rechte immer aufmerksamer" gemacht werde - weshalb nur „Despoten und die zahllosen Schaaren ihrer Helfershelfer" die Aufklärung diskredierten.15 Roth erweist sich als einer derjenigen Spätaufklärer, die zwar der Französischen Revolution keineswegs vorbehaltlos gegenüberstanden, doch durch sie im volksaufklärerischen Bestreben bestärkt und womöglich gar zu einem politisch geschärfteren Standpunkt geführt wurden.16 Denn mittelbar ist sie als ein herausragendes Ereig12 13

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Ebda., Bd. l, Art. Aberglaube, S. 33. Johann Ferdinand Roth, Gemeinnütziges Lexikon für Leser aller Klassen, besonders für Unstudierte; oder kurze und deutliche Erklärung der, in mündlichen Unterhaltungen und in schriftlichen Aufsätzen gebräuchlichsten Redensarten, Ausdrücke und Kunstworte, in alphabetischer Ordnung. Mit einem Verzeichniße der Worte, welche anders ausgesprochen als geschrieben werden, und mit einer Erklärung der gewöhnlichsten Abbreviaturen, Nürnberg '1788, 3. verm. u. verb. Aufl., 2 Bde., Halle: Rengersche Buchhandlung 1807, Bd. l, Vorrede, S. III. Ebda., Bd. 2, S. 529. Ebda., Bd. l, Vorrede, S. IV und V. Zu dieser Politisierung der deutschen Volksaufklärung vgl. u.a. Holger Böning, Der „gemeine Mann" und die Französische Revolution, in: Börsenblatt für den Deutschen

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nis kenntlich gemacht, das wesentliche Veränderungen der vorliegenden dritten Auflage bedingte: „Viele neue Artikel schuf die unglückliche französische Revolution; man wird dergleichen viele hier finden."17 Es finden sich u. a.: Bastille, Convent, Egalite, Enrages, Fraternite, Jacobiner, lanterner. Die Jakobiner werden wertungsfrei als allbekannte führende Gruppierung vorgestellt und die Enrages als „diejenigen Franzosen, welche währender [sie!] Revolution die gute Sache der Menschenrechte auf eine überspannte Weise verfochten".18 Konterrevolutionäre pejorative Konnotationen dieser Namen begegnen nicht. Indes zeigt sich die typische Grenze, die das politisierte deutsche Volksaufklärertum von den Demokraten der neunziger Jahre schied: das Verhältnis zur Rolle der unteren Volksschichten. Souveränität wird von der Königsebene her erläutert, die revolutionszeitliche Begriffserweiterung „Volkssouveränität" übergangen. Entsprechend auch ist der Revolutionsauftakt im Artikel „Bastille" erwähnt. Dieses „unter König Karl V." erbaute Schloß sei „im J. 1789 unter König Ludwig XVI. niedergerissen worden".19 Volksaufklärer wie Roth reklamierten zwar die Menschenrechte für den „gemeinen Mann", stellten ihre Einhaltung jedoch, wie sich abermals bestätigt, der Vernunft oder Gutwilligkeit aufgeklärter bzw. aufzuklärender Herrscher anheim. Wandte Roths Gemeinnütziges Lexikon sich ausdrücklich an die Unstudierten aus den unteren Schichten, so war das 1796 begonnene Conversationslexikon des Leipziger Privatgelehrten Renatus Gotthelf Löbel (17671799), aus dem „der Brockhaus" hervorging, für die Gebildeten des bürgerlichen Mittelstandes und der oberen Schichten gedacht. Und Löbel zog aus den revolutionären Ereignissen andere Schlüsse, fügte sich ein in eine ostentative Umlenkung von den Politices auf „ein allgemeineres Streben nach Geistesbildung", dem „Hübners Zeitungs- und Conversations=Lexikon" mit seiner „politischen" Ausrichtung nicht mehr genüge.20 Diese Bildung orientierte sich an den Hauptbereichen von Wissenschaft und Kultur. Neben der Aktualität waren die leitenden Grundsätze für Auswahl und Formulierung der Artikel: „alle gemeinnützigen Zweige des menschlichen Wissens" zu berücksichtigen, aber „bloß das Gemeininteressante heraus zu heben".21 Den Maßstab für Gemeinnutz und -interesse lieferte, im markanten Unterschied zur Deutschen Encyclopädie und zu Roths Gemeinnützigem Lexikon, nicht

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Buchhandel, Frankfurt a. M. 1989, Nr. 51, Beilage: Buchhandelsgeschichte 2, 1989, S. B 41-B64. Roth, Gemeinnütziges Lexikon, Bd. l, S. VII. Ebda., Art. Enrages, S. 267. Ebda., Art. Bastille, S. 58. Löbel, Conversationslexicon, Bd. l, Auszug aus der Vorrede zur ersten Auflage, S. V. Ebda., S. VI.

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die aufklärerisch-optimistische Idee permanenten gesamtgesellschaftlichen Fortschritts, sondern eine spezielle bürgerliche Geselligkeit in Gestalt mündlicher Kommunikation.22 Löbels (und Brockhaus') Conversationslexikon sollte „diejenigen Kenntnisse enthalten, welche ein jeder als gebildeter Mensch wissen muß, wenn er an einer guten Conversation Theil nehmen oder ein Buch lesen will".23 Die Relation von Lektüre und Gespräch kehrte sich, im Vergleich zur Deutschen Encyclopädie, beinahe um. Vollendet wurde die Umkehrung durch Brockhaus' Redaktionsstab, der in der neubearbeiten zweiten Auflage24 betont hat, „daß das Conversations=Lexikon doch immer weniger ein Buch zum Lesen, als zum Aufschlagen und zum Blättern", das heißt zur möglichst raschen Information „für das Bedürfniß gebildeter Conversation" sei.25 „Conversation": sie umschrieb die Leitidee des Unternehmens und lieferte das - gegenüber der Hübnerschen Tradition innovatorisch konnotierte - titelgebende Stichwort, dem ein neugefaßter, ausführlicher Artikel gewidmet ist.26 Dort wird „Conversation" vornehmlich in der aktuellsten Bedeutung des Begriffs, als „gesellige Unterhaltung feinerer Cirkel",27 erläutert. Bei der gemeinten Geselligkeit, die kein gesondertes Lemma abgibt, handelt es sich unverkennbar um eine Modifikation des tradierten bürgerlich-aufklärerischen Geselligkeitsideals. In dessen Zentrum rückt - verstärkt nunmehr noch unter dem Eindruck des Neuhumanismus - eine grundlegende „Bildung", die den Menschen befähigt, gleichermaßen seine öffent22

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Diese Geselligkeitsform hatte sich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts herausgebildet und dürfte durch die mannigfachen spätaufklärerischen Sozietäten nicht unwesentlich stimuliert worden sein; vgl. Richard van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt a. M. 1986. Löbel, Conversationslexicon, Bd. l, Auszug aus der Vorrede, S. VII. Über die verwickelte Entstehungs- und Auflagengeschichte des frühen Brockhaus-Lexikons vgl. Collison, Encyclopaedias, Chap. VI. - Vgl. auch die, mehr populär gefaßte, Verlagsgeschichte von Hübscher, Brockhaus, S. 70-79 und 131-139. - Eine rasche Orientierung ermöglicht die Übersicht der Auflagen und Erscheinungsjahre in: Jubiläum des Wissens, S. 76-79. Conversations=Lexicon oder Hand=Wörterbuch für die gebildeten Stände über die in der gesellschaftlichen Unterhaltung und bei der Lecture vorkommenden Gegenstände, Namen und Begriffe, in Beziehung auf Völker- und Menschengeschichte, Politik und Diplomatik, Mythologie und Archäologie, Erd=, Natur=, Gewerb= und Handlungs= Kunde, die schönen Künste und Wissenschaften: mit Einschluß der in die Umgangssprache übergegangenen ausländischen Wörter und mit besonderer Rücksicht auf die älteren und neuesten merkwürdigen Zeitereignisse. 2., ganz umgearb. Aufl. [von Löbel, Conversationslexicon], 10 Bde., Leipzig: Kunst= und Industrie=Comptoir von Amsterdam, [ab Bd. 4] Leipzig/Altenburg: Brockhaus 1812-19, Bd. l, Vorrede zu der zweiten Auflage, S. XV. Conversations-Lexicon 1812, Bd. 2, Anhang zum ersten und zweiten Bande, S. CVI bis CXI. Ebda., S. CVIf.

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lich-berufliche Tätigkeit zu erfüllen und an der Kommunikation seiner eher privaten Umwelt teilzuhaben. Es ist dies durchaus auch im sozialen Sinn die „feinere", gehobenere Welt - zumal sich „die jetzige Redaktion ... ihr Publikum von Bildung und Wißbegierde um einige Stufen höher gedacht [hat] als ihre Vorgänger".28 Allerdings wird das Wesen „feinerer Cirkel" ausdrücklich ethisch definiert: „Die Feinheit bezieht sich auf das sittliche Gefühl, die Bildung bezieht sich auf den Geist."·29 Die Einheit beider soll die absichtsund situationsbestimmte Vielfalt der Gespräche garantieren. Das Spektrum reicht von der vergnüglichen Plauderei bis zur Problemdiskussion, erlaubt also sehr unterschiedliches Niveau, wobei freilich explizit das Triviale verpönt ist. Und es werden Vorbedingnisse sowie Konventionen jener Gesprächsrunden kenntlich gemacht. Das Gesellige schließt notwendig bloße Selbstdarstellung aus, erfordert statt dessen Selbstdisziplinierung, wie sie der sogenannte „gute Ton" in sich berge. „Der gute Ton vermeidet alles, was gegen die Achtung anstoßen könnte, die ein gesitteter Mensch dem ändern" schulde; wobei abgezielt ist auf eine Kultivierung, ja Ästhetisierung der Konversation durch diesen Ton, denn er gebe „dem Wohlthuenden in unserm geselligen Betragen die Form der Schönheit".30 Dieses Wohltuende verblieb im Ideellen und wirkte über die Zirkel allenfalls mittelbar hinaus; ähnlich wie bei den spätaufklärerischen Sozietäten, die sich nicht direkt sozialpraktisch engagierten (Lesegesellschaften, Debattierklubs usw.). Allemal erfolgte der interne Meinungsaustausch im Kontext des umgreifenden Staatssystems und beanspruchte das Recht auf Denk- und Druckfreiheit. Artikel zu diesen beiden Grundformen öffentlicher wie privater Verlautbarungen wurden in der zweiten Auflage des Conversations-Lexicons nachgetragen; und während der Restaurationszeit setzte man sich, mit genuin aufklärerischer Argumentation, nachdrücklich für eine maßvoll regulierte Preßfreiheit ein.31 An sich nicht grundsätzlich anders als Aufklärung um 1800 war die im Conversations-Lexicon propagierte neuhumanistische Bildung, mehr nach Niethammers denn Humboldts Konzept, gesellschaftsbezogen und praxisorientiert. Zwar wurde die exemplarische Aufklärungspädagogik, der Philanthropismus, weltfremder Idealität geziehen,32 indes kam man nicht umhin einzuräumen: 28 29 30 31

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Conversations-Lexicon 1812, Bd. l, Vorrede zu der zweiten Auflage, S. XIV. Conversations-Lexicon 1812, Bd. 2, Anhang, Art. Conversation, S. CVII. Ebda. Vgl. ebda., S. CXXIII und CXXXf. sowie Conversations-Lexicon NF 1822, Bd. 2/1, S. 541ff., wo es heißt (S. 542): „Wenn man das Zutrauen des Volks für etwas Wünschenswertes hält, so wird man sich auch nicht verhehlen können, daß Zutrauen stets nur durch rechtliche Offenheit gewonnen werden kann." Vgl. Conversations-Lexicon 1812, Bd. 6, Art. Menschenbildung, S. 269.

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Bei alledem verdankt es der Humanismus den Angriffen der Philanthropen, daß er seine Verirrungen erkannt, sich aus seiner früheren Einseitigkeit herausgearbeitet und das Princip der allgemeinen Menschenbildung angenommen hat.33 Dieses Prinzip habe derart Priorität, daß keines der „Gebiete des wirklichen Lebens und der menschlichen Thätigkeit etwas dabei verlieren müsse, denn für jeden Stand und Beruf wird der der tauglichste seyn, der dem Ideale der Menschheit am nächsten steht".34 Nach Maßgabe eines solchen Humanitätsideals wurde eine Synthese von ständeübergreifender humanistischer Erziehung und möglichst vielseitiger Bildung favorisiert. Dem lag ein unaufhaltsamer Paradigmenwechsel von „Aufklärung" zu „Bildung" zugrunde, der einige Jahre später im Rheinischen ConversationsLexicon auf den Leitsatz gebracht wurde: „Die vollkommenste Bildung begreift auch die Aufklärung mit in sich; und diese verhält sich zu jener, wie der Theil zum Ganzen."35 Ähnlich wie im Conversations-Lexicon erscheint als Komplement der umfassenden, humanisierenden Bildung eine gleiche Umgangsform, vorzüglich bei der geselligen Kommunikation. Prinzipien und Erfordernisse der „Conversation" sind in dem entsprechenden Artikel genau wie dort, partiell mit beinahe wörtlichen Übereinstimmungen, ausgeführt. Deutlicher reflektiert werden indes bestimmte Probleme des Doppelideals, die sich hinter dem „anständigen, feinen und gefälligen Betragen" verbergen. Man hat ... den Begriff der Humanität in der neuern Zeit zu beschränkt genommen, wenn man die angegebenen Vorzüge einer geselligen Bildung, für sich und ohne Beziehung auf die ihnen übergeordneten Zwecke, für Humanität gehalten hat ... Höher ist z. B. doch die Pflicht, die Wahrheit ohne Ansehung der Person zu bekennen, als die Pflicht, sich der Person gefällig zu erweisen, wobei die Wahrheit oftmals unterdrückt und der Schein der Menschenliebe erzwungen wird.36 Das Unternehmen von Brockhaus war für das Rheinische Conversations-Lexicon unverkennbar modellgebend. Es lassen sich dieselben Grundsätze bei Wahl und Gestaltung der Artikel ausmachen. Nutzbarkeit geht vor Vollständigkeit, historische und gegenwartsbezogene Informationen vereinigen sich unter dem Aspekt sachlich-kritischer Darstellung; ungebrochen leben - trotz jenes Paradigmenwechsels - die aufklärerischen Prinzipien der Unparteilichkeit und der Toleranz fort. Die Autoren wenden sich an Leser aus den christlichen Konfessionen sowie aus allen deutschen Partikularstaaten. 33 34 35 36

Conversations-Lexicon 1812, Bd. 4, Art. Human/Humanität, S. 595. Conversations-Lexicon 1812, Bd. 6, Art. Menschenbildung, S. 268. Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. l, Art. Aufklären. Bilden, S. 657. Ebda., Bd. 6, Art. Human, Humanität, S. 458.

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Das gilt fast alles auch für die Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, nur mit einem wesentlichen Unterschied. Sie wollte noch einmal „alle Fächer des menschlichen Wissens und Könnens vollständig umfassen".37 An diesem Anspruch freilich scheiterte sie wie schon die Deutsche Encyclopädie; auch das neue Werk blieb unvollendet. Es schenkte, zufolge der Einleitung des halleschen Professors Johann Samuel Ersch (1766-1828), den wissenswerthern, die allgemeine Bildung bezweckenden, und den praktischen in das Leben eingreifenden Wissenschaften und Künsten verhältnißmäßig mehr Ausführlichkeit... als den blos speculativen Wissenschaften und solchen, die weniger zahlreichen Classen wichtig sind.38 Obwohl also durchaus größere Leserkreise erreicht werden sollten, war wissenschaftliche Exaktheit das oberste Gebot. Dies um so mehr, da die Allgemeine Encyclopädie nicht zuletzt als Hilfe für das enzyklopädische Studium gedacht war, über das Erschs Universitätskollege Johann Gottfried Gruber (1774-1851) in einer gesonderten Einleitung handelte.39 Das aber bedeutet: Zu einem Zeitpunkt, als beispielsweise in der Encyclopedie progressive (1826) die Möglichkeit einer enzyklopädischen Klassifikation des menschheitlichen Wissens grundsätzlich bezweifelt wurde,40 unternahm Gruber nochmals einen solchen Klassifikationsversuch und plädierte für eine systematische enzyklopädische Erkenntnisgewinnung. Im einzelnen für Erkentniß der Natur, Erkentniß des Menschen, Erkentniß der Verhältnisse beider zu einander, Erkentniß der Bestimmung und des Endzwecks des Menschenlebens, Erkentniß der zweckmäßigsten individuellen und gesellschaftlichen Einrichtung des Menschenlebens, Erkentniß der Ursache der Natur und des Menschen.41 Durch die vielen neuen Resultate in all diesen Bereichen wurde zwar der weite Rahmen der Allgemeinen Encyclopädie abgesteckt, nicht aber die innere, an die alphabetische Stichwortfolge gebundene Struktur. Ähnlich wie bei den französischen Enzyklopädisten Mitte des 18. Jahrhunderts stehen bei ihren letzten direkten Nachfolgern die programmatisch vorangestellte enzyklopädische Systematik und die alphabetische Ordnung unverbunden, ja zwangsläufig unvereinbar nebeneinander.

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40 41

Ersch/Gruber, Allgemeine Encyclopädie, Th. l, Vorbericht, S. VIII. Ebda., S. IX. J.[ohann] G.fottfried] Gruber, Ueber encyclopädisches Studium ein Bedürfniß unserer Zeit nebst dem Versuch einer systematischen Encyclopädie der Wissenschaften aus jenem Gesichtspunkt, in: Ersch/Gruber, Allgemeine Encyclopädie, Th. 2, S. I-LII. Vgl. Dierse, Enzyklopädie, S. 70. Ersch/Gruber, Allgemeine Encyclopädie, Th. 2, S. XII.

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Ersch und Gruber brachten das aufklärerische Prinzip der französischen und besonders der Gießener Enzyklopädisten, vom Praktischen auszugehen und darauf zurückzulenken, bis zu äußersten Grenzen. Das nun vollends für Studienzwecke konzipierte Werk sollte nicht lediglich im allgemeinen geeignet sein, „die weitere Forschung aufzufordern", sondern gedacht wurde konkret an diejenigen Benutzer, „welche die darin bearbeiteten Gegenstände in eignen Schriften weiter ausführen wollen".42 Und ebendeshalb gewann so mancher Artikel den Charakter einer zitatengestützten Abhandlung, die viel mehr leistete, als Bedürfnisse der zeitgenössischen „geselligen Conversation" zu befriedigen. Ein Zwischenresümee ziehend, kann festgehalten werden: Bei allen Unterschieden und Besonderheiten haben die betrachteten Enzyklopädien und Lexika wesentliche einigende Merkmale. Dazu gehört als ein konstitutives Moment die spätaufklärerische Doppelabsicht, durch Wissensvermittlung individuelle Bildung zu heben und zugleich auf alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens von den Wissenschaften bis zu den Künsten zurückzuwirken, um es zu verbessern, zu vervollkommnen und gegebenenfalls zu verschönern.

II. Relative Einmütigkeit läßt sich im besonderen hinsichtlich des Argumentationskomplexes feststellen, jedes Individuum habe bestmöglich die „Bestimmung des Menschen" zu erfüllen und den „Aberglauben" als ein Haupthindernis aufgeklärter Lebensverhältnisse zu überwinden, während ihn zu bekämpfen genauso wie förderliche „Kritik" den aufgeklärteren oder gebildeteren Menschen vorbehalten sei. Welche Ansichten dazu im einzelnen vertreten wurden, sei nun mittels Kurzanalysen der entsprechenden Artikel hervorgekehrt. Spätestens seit Johann Joachim Spaldings Schrift Die Bestimmung des Menschen (1748,13. Aufl. 1794) war dies ein immer wieder eigens aufgeworfenes Diskussionsthema - und blieb es auch, während der Aufklärungsdebatte, bis weit über die Jahrhundertwende hinaus. Daß man das altherstammende Problem über Sinn und Zweck irdischen Daseins neu zu erfassen versuchte, ergab sich aus der aufklärerischen Freisetzung menschlicher Individualität und der ihr korrespondierenden Idee unendlicher Perfektibilität, wodurch die Rolle des Menschen innerhalb eines traditionell angenommenen göttlichen Heilsplans oder vorherbestimmten progredierenden mensch42

Ebda., Th. l, S. XIV.

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heitlichen Werdegangs entschieden aufgewertet wurde. In der Deutschen Encydopädie ist der zeitgenössische Diskussionsstand prägnant resümiert: Die Bestimmung des Menschen ist also überhaupt diese, daß er nach dem Maase seiner Kräfte und Talente für die Vollkommenheit der Welt und also auch die seinige thätig seye, und eben dadurch Gott verherrlichen und zu einer wahren ewigen Glückseligkeit gelangen solle.43 Zum Ausdruck kommt, was zur selben Zeit Lessing in der Erziehung des Menschengeschlechts am scharfsinnigsten formuliert hat, daß es des vernunftgemäßen Zusammenwirkens von Selbstdenken und Selbsttätigkeit bedarf, um jene göttliche Vorsehung zu erfüllen. Wennschon der Verfasser des Encyclopädie-Artikels nach verbreitetem Brauch zwischen irdischem und ewigem Glück unterscheidet, liegt der Akzent doch eindeutig auf dem Diesseits. Gänzlich säkularisiert ist die kurze Definition bei Brockhaus, die auf „die gesammte Thätigkeit des Menschen, als eines vernünftigen Wesens" zielt und Spalding zur Lektüre empfiehlt; ansonsten jedoch eine philosophische Sicht repräsentiert, die sich mit der Erwähnung der „nach den einseitigen Grundsätzen der Wissenschaftslehre" verfaßten Schrift Fichtes (Die Bestimmung des Menschen, 1800) abzeichnet.44 Eine stärker religiös gebundene Auskunft bietet wieder das Rheinische Conversations-Lexicon. Es nennt als oberstes Ziel „Bildung und Entwickelung der Vernunft", weil diese die Willensfreiheit bedinge und alle nötigen „Kräfte zu bilden, auszuwirken und zu veredeln" ermögliche.45 Und es enthält einen bemerkenswerten Reflex auf eine Gewißheit, die sich bei den engagiertesten Richtungen deutscher Spätaufklärung, nach anfänglicher Irritation ob des Revolutionsverlaufs, letztlich wieder gefestigt hatte,46 so daß sie über die Restaurationszeit hinweg lebendig blieb: Eine vollkommene Menschheit ist zwar ein Ideal, was nie der einzelne Mensch durch sich verwirklichen wird; doch die Ueberzeugung, nie jene lichte Höhe erklimmen zu können, entbindet ihn nicht der Pflicht, sein ganzes Leben hindurch unabläßig dahin zu streben.47 Die in den Artikeln durchweg begegnende Konzentration auf eine elementare, allgemeine Bestimmung aller Menschen bedingt eine verkürzte Wieder43 44 45 46

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Deutsche Encyclopädie, Bd. 3, Art. Bestimmung, oder Destination des Menschen. S. 477. Conversations-Lexicon 1812, Bd. 2, Anhang, Art. Bestimmung des Menschen, S. XLVI und XLVII. Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. 7, Art. Menschenbestimmung, S. 611. Vgl. Wolfgang Albrecht, Aufklärung, Reform, Revolution oder „Bewirkt Aufklärung Revolutionen?". Über ein Zentralproblem der Aufklärungsdebatte in Deutschland, in: Lessing Yearbook XXII, 1990, S. 1-75. Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. 7, Art. Menschenbestimmung, S. 611.

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gäbe der Problematik. Während der Spätaufklärung erfolgte Differenzierungen hinsichtlich wichtiger berufsbezogener menschlicher Bestimmungen (der Gelehrten, der Prediger z. B.) bleiben völlig ungenannt. Schwerer noch wiegt, daß eine folgenreiche geschlechtsspezifische Unterscheidung übergangen wird: die zunächst von den Philanthropisten und lange über den Neuhumanismus hinaus immer wieder in die formelhafte Dreiheit „Ehegefährtin, Hausfrau, Mutter" gebrachte „Bestimmung des Weibes", durch die die Frauen auf - vorgeblich naturgegebene - besondere Pflichten festgelegt und eingeschränkt wurden.48 Um die (generelle) Bestimmung des Menschen erfüllen zu können, bedarf es, wie sich aus allen herangezogenen Nachschlagewerken ergibt, indes nicht nur schlechthin der Vernunft, sondern namentlich auch einer vom Aberglauben unbeeinflußten Weltsicht. Vernunft und Aberglaube galten als antagonistische Gegensätze, und deswegen war seine konsequente Bekämpfung von Anfang an integraler Bestandteil aller - sonst noch so unterschiedlichen aufklärerischen Konzepte.49 Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden und läßt sich anhand der lexikalischen Quellen bestätigen, daß der Kampf gegen den Aberglauben zu denjenigen Frontstellungen der Aufklärer und Spätaufklärer gehörte, durch die ihre Bewegung eines der wesentlichen einigenden Momente bekam.50 Aus Abirrungen von der Vernunft hat man in der Deutschen Encyclopädie verschiedene Arten des Aberglaubens hergeleitet und verallgemeinernd gefaßt als ungenügendes Wissen und Denken. Die Suche nach dessen Ursachen führt dazu, daß die traditionelle Gültigkeit der frühaufklärerischen Klimatheorie eingeschränkt wird: „Es findet sich aber hier ein großer Unterschied nach den Ländern, welcher nicht von dem Klima, sondern von dem mehr oder weniger genossenen Unterricht herrührt."51 Mithin komme es entscheidend auf Belehrung (über Natur, Religion) und Denkanstöße an, wofür neue Erkenntnisse der Naturwissenschaften bessere Grundlagen denn je geschaffen hätten. Die Bezugnahme zu diesen Wissenschaften greift folgerichtig zusammen mit einem direkten Anschluß an die zeitgenössische ökonomischsittliche Volksaufklärung. Ihre erprobten Methoden, Prinzipien und Medien werden für die spezielle volksaufklärerische Aufgabe, den Aberglauben möglichst endgültig - zu überwinden, empfohlen, wenn es heißt:

48 49 50 51

Vgl. letzthin Johanna Hopfner, Mädchenerziehung und weibliche Bildung um 1800. Im Spiegel der populär-pädagogischen Schriften der Zeit, Bad Heilbrunn/Obb. 1990. Dazu informativ Hermann Bausinger, Aufklärung und Aberglaube, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37, 1963, S. 345-362. Vgl. Hinske, Die tragenden Grundideen (wie Anm. 2), S. 80. Deutsche Encyclopädie, Bd. l, Art. Aberglaube, S. 33.

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Aber wer soll diesen Unterricht über sich nehmen? Alle Leute, die hierzu Geschick haben, im Umgang, oder in faßlichen Schriften, die den Begriffen des gemeinen Mannes gemäß sind, ... wobey ausser der Verständlichkeit des Vertrags ... auch darauf Rücksicht zu nehmen wäre, daß sie den Leuten wohlfeil genug in die Hände geliefert werden. Vor allen ändern Schriftstellern haben die Calendermacher die meiste Gelegenheit dazu. ... Insonderheit ist es die Pflicht aller derjenigen, welche ohnehin den Unterricht des grossen Haufens zu besorgen haben, der Schullehrer und Prediger.52 In diesem Zusammenhang wird die bereits aus der Antike überkommene Frage nach dem größeren Schaden des Aberglaubens oder des Unglaubens abgewiesen und umformuliert zu der nach einem möglichen größeren Nutzen. Der Verfasser des Artikels meint: Ja! man könnte wohl gar behaupten, daß der Aberglaube in einem Staate nützlicher sey, als der Unglaube; denn die Obrigkeit hat durch den Aberglauben doch noch ein Mittel in den Händen, die Leute im Zaum zu erhalten.53 Die Argumentation zielt in die Richtung des brisanten Problems Volksbetrug, das für 1780 das Thema der Preisfrage der Berliner Akademie abgab54 und in der Aufklärungsdebatte eine große Rolle spielte. Doch ähnlich wie die Preisfrage mehrheitlich verneinend beantwortet, ein dauernder Nutzen falscher Vorstellungen energisch bestritten wurde, so gründete der Encyclopädie-Artikel auf der Überzeugung, Aberglaube sei nicht zu rechtfertigen, sondern zu vertilgen. Darin, daß er beträchtliche Nachteile für die Menschheitsentwicklung hervorbringe, stimmten auch die anderen Lexika überein. Allerdings ergibt sich eine bemerkenswerte Nuance dabei, seine aktuelle Wirkungsmächtigkeit einzuschätzen. Zum einen scheint es, als teile man die dominante Selbstbilanz der Spätaufklärer, ihn insgesamt recht erfolgreich widerlegt zu haben, da von den „traurigen Wirkungen" die Rede ist, „welche er auf menschliche Tugend und Wohlfahrt gehabt hat".55 Zum anderen wird betont: „Unermeßlich ist sein Reich bei den verschiedenen Völkerschaften".56 Noch deutlicher spricht sich das Bewußtsein fortbestehender Gefahr aus, wo es sich mit psychologi52 53 54

55 56

Ebda., S. 34. Ebda., S. 35. Vgl. Werner Krauss, Eine politische Preisfrage im Jahre 1780, in ders., Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963, S. 63-71. Vgl. auch: Est-il utile de tromper le peuple? Ist der Volksbetrug von Nutzen? Concours de la classe de philosophic speculative de Academic des sciences et des belles-lettres de Berlin pour l'anne 1780. Eingel, u. hrsg. v. Werner Krauss, Berlin 1966. Conversations-Lexicon 1812, Bd. 2, Anhang, Art. Aberglaube, S. V, Hervorhebung WA. Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. l, Art. Aberglaube (wie Anm. 49), S. 17, Hervorhebung - W. A.

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sehen Einsichten verbindet, durch die die Bewertung des Aberglaubens etwas differenzierter wurde:57 Weil... kein Mensch ganz frei von Schwächen ist, so wird auch vielleicht kein Aufgeklärter ganz frei vom Aberglauben seyn, den er etwa im Stillen trägt, ohne es selbst recht zu wissen, und mit seinen dunkeln Gefühlen und Ahnungen verbindet.58 Für unmittelbar gefährlicher als die der Seele gilt indes ein spezieller, medizinischer Aberglaube. Gegen ihn helfe am ehesten Belehrung und Überzeugung durch Schule, Kirche und Volksschriften. Empfohlen werden mithin die traditionellen volksaufklärerischen Verfahren, die die Leitmaxime voraussetzen, abergläubische Vorstellungen zu bekämpfen, sei eine dringliche Verpflichtung aller Aufklärer und nicht minder der bereits Aufgeklärten. Naturgemäß erfordert sie eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Ihr unterzogen zahlreiche Spätaufklärer zunehmend alle Bereiche menschlichen Denkens und Handelns. Dadurch gewann der Kritikbegriff eine Weite und Relevanz, die die äußerste Konsequenz des geläufigen aufklärerischen Begriffsverständnisses bedeutete. Es fand Eingang in den entsprechenden Artikel der Deutschen Encyclopädie. Sein Autor bestimmte „Critik" als eine wissenschaftlich gegründete, auf „Regeln" oder Theorien gestützte „Beurtheilung dessen ..., was Menschen thun, oder vermittelst ihres Verstandes hervorbringen".59 Genauer unterschieden werden folgende Hauptarten: Wissenschafts- und Kunstkritik, sodann fachspezifische, das heißt historische, philosophische und philologische Kritik. Letztere, unter der die Exegese mit steht, bildet den Schwerpunkt der Darlegung. Und dabei lassen sich auch Ansätze zu einer metakritischen Reflexion ausmachen. Gewarnt wird nachdrücklich davor, den Kritikbegriff weiterhin inflationär zu gebrauchen und das verantwortungsvolle Amt des Kritikers in jugendlichem Überschwang, also ohne zulängliche Basis, auszuüben. Ähnlich konzentrieren sich die Artikel in den beiden Konversationslexika auf jene Bereiche der Kritik - als die, welche „die höchsten Gegenstände menschlicher Thätigkeit, Wissenschaft und Kunst im weitern Sinne",60 umgreifen. Doch wird auch die Begriffsdefinition entsprechend eingeengt. Zugleich erfolgt, in fast wörtlicher Übereinstimmung, ein Hinweis auf Kant: „Endlich gaben Kant und seine Schüler dem Namen Kritik noch eine ungewöhnliche Bedeutung dadurch, daß sie ihn auf die Prüfung des Erkenntnißvermögens, oder die Untersuchung dessen, was dem Menschen zu erkennen 57 58 59 60

Vgl. Bausinger, Aufklärung und Aberglaube (wie Anm. 49), S. 352, 361. Ersch/Gruber, Allgemeine Encyclopädie, Th. l, Art. Aberglaube, S. 90. Deutsche Encyclopädie, Th. 6, Art. Critic, S. 501. Conversations-Lexicon 1812, Bd. 5, Art. Kritik, S. 459.

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nützlich sey, bezogen."61 Unbeachtet ist jedesmal die spezifische politische Dimension des spätaufklärerischen Prinzips Kritik. Es berührt sich mit dem sogenannten Kritizismus Kants an zentralen Punkten (Kritisierbarkeit aller menschlichen Belange, Maßstab der Praxis); es trat sogar noch vor ihm, seit den siebziger Jahren, in dem Maße schärfer hervor, in dem Spätaufklärer ihr „Untersuchen" oder „Prüfen" auf Staat und Regierung sowie Ständebeziehungen und Sozialverhältnisse ausdehnten.62 Ihre diesbezügliche Publizistik bezeichnet eine Grundtendenz und Eigentümlichkeit der deutschen Spätaufklärung.63 Und dieses Wesensmerkmal stellten nicht allein Repräsentanten, sondern auch Gegner und Kritiker der spätaufklärerischen Reformbewegung heraus, wenngleich selbstredend unterschiedlich wertend.64 Fazit: Die weithin aufklärerisch intentionierte Behandlung des Begriffs (und Prinzips) Kritik erfaßt nur bedingt die charakteristischen Entwicklungen um 1800 - übrigens auch nicht die Innovationen klassisch-frühromantischer Kunst- und Literaturkritik. Ein solcher Befund muß die Aufmerksamkeit dafür schärfen, inwieweit vielleicht auch die Artikel zum Stichwort „Aufklärung" gravierendere Lücken enthalten.

III. Noch jüngst bezeugte sich Verwunderung darüber, daß in der Deutschen Encyclopädie „ein für 1778 eigentlich zu erwartender Artikel über die Aufklärung fehlt".65 Er ist jedoch mitnichten zu erwarten, wie kurz vergegenwärtigt 61

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Ebda. Vgl. mit Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. 7, Art. Kritik, S. 111: „... endlich gab Kant dem Namen Kritik eine ganz neue Bedeutung, indem er ihn auf die Prüfung des Erkenntnißvermögens, oder die Untersuchung dessen, was dem Menschen zu erkennen möglich sei, bezog." Für Hinske, Die tragenden Grundideen (wie Anm. 2), S. 75, ist „Kritik" zunächst sehr richtig „eine abgeleitete Idee", sodann jedoch ebenfalls nur eine, „die erst durch Kant ihr eigenständiges Gewicht erlangt". Vielleicht kann man einen evidenten übergreifenden Zusammenhang angemessener fassen, indem man ergründet, inwiefern Kant auch für die bereits praktizierte gesellschaftspolitische Kritik ein philosophisches Fundament schuf. Von romanistischer Seite ist konstatiert worden: „Seit den siebziger Jahren war mit der Entwicklung eines politischen Journalismus ein Instrument geschaffen worden, für das es in Frankreich vor der Revolution keine Parallele gibt." Martin Fontius, Französische Revolution und deutsche Aufklärung, in: Erbepflege in Kamenz, hrsg. v. Dieter Fratzke u. Wolfgang Albrecht, H. 8, 1991, S. 5-18, zit. S. 8. Exemplarisch Rebmann und August Wilhelm Schlegel; vgl. Wolfgang Albrecht, Vom reformerischen zum revolutionär-demokratischen und liberalen Aufklärertum. Entwicklungen politisierter literarischer Spätaufklärung am Beispiel Georg Friedrich Rebmanns, in: Impulse 13, 1990, S. 147-200, insbes. S. 182ff. Decker, Die Deutsche Encyclopädie, S. 151.

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sei. „Aufklärung" wurde gerade erst während der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts, beim Übergang zur sozialpraktischen Spätphase der Bewegung, zum häufiger und reflektiert gebrauchten Begriff.66 Und er löste rasch die wahrscheinlich weitgespannteste und anhaltendste Debatte67 um 1800 aus, die weder als bloßer, defensiver Begriffsstreit begann, noch zur Revolutionszeit in einem solchen versank.68 Kurzschlüssig genug freilich war zunächst die thematisierende Fragestellung („Was ist Aufklärung?") des Berliner Predigers Johann Friedrich Zöllner, insofern er glaubte, die Sache sei rasch grundsätzlich zu umreißen, bevor sie praktiziert werde, „ehe man aufzuklären anfinge".69 Umgehend stellte sich vielmehr heraus, daß fast jeder Diskursteilnehmer seitens der Spätaufklärer eigene Ansichten hatte und daß die gegenaufklärerischen Wortmeldungen durchweg destruktiv waren, gipfelnd in inkriminierenden Verschwörungslegenden.70 Immerhin entstand bis zur Jahrhundertwende und erhielt sich dann etwa folgender Konsens unter den (scharfsichtigeren) Befürwortern behutsam reformerischen Aufklärungsbestrebens, das weithin dominierte und somit den Hintergrund für die hier interessierenden Lexikon-Artikel ergab: Aufklärung hat zur stetigen individuellen und gesellschaftlichen Vervollkommnung beizutragen, indem sie dem Individuum prinzipiell die gesamte menschliche Vorstellungswelt nach exakten Begriffen erhellt, sich de facto und vornehmlich bei den Unterschichten aber auf Standes- und berufsbezogene Belange konzentriert; so in jedem Falle versuchen muß, umsichtig und die gegebenen Verhältnisse oder Umstände berücksichtigend, zu selbständigem, vor allem gemeinnützigem und vorurteilslosem Denken und Handeln bei der Erfüllung der staatsbürgerlichen und der allgemeinen sowie besonderen Pflichten, die aus der „Bestimmung des Menschen" resultieren, zu befähigen; derartige „wahre Aufklä66

67

68 69 70

Vgl. u. a. Peter Pütz, Die deutsche Aufklärung. 4., überarb. u. erw. Aufl., Darmstadt 1991 (zuerst 1978), Kap I: Aufklärung wird Begriff. - Die beste begriffsgeschichtliche Studie ist noch immer die von Horst Stuke, Aufklärung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner, Bd. l, Stuttgart 1972, S. 243-342. Sie ist allenfalls erst partiell aufgearbeitet. Den bislang umfassendsten, philosophiegeschichtlich akzentuierten Überblick bietet Werner Schneiders, Die wahre Aufklärung. Zum Selbst Verständnis der deutschen Aufklärung, Freiburg/München 1974. Über die Anfangsphase vor Ausbruch der Französischen Revolution informiert Hans-Dietrich Dahnke, Was ist Aufklärung? in: Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, hrsg. v. H.-D. Dahnke u. Bernd Leistner, Bd. l, Berlin/Weimar 1989, S. 39-134. Vgl. Albrecht, Aufklärung, Reform, Revolution (wie Anm. 46), bes. S. l f. und 55ff. Berlinische Monatsschrift, Bd. 2, 1783, S. 516, Fußn. Zu Zöllners Problemstellung vgl. Dahnke, Was ist Aufklärung? (wie Anm. 67), S. 63. Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776-1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Bern/Frankfurt a. M. 1976 (21978).

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rung", die mit der Vermittlung humanisierender Religionslehren ineinsgreift, zu einem gesamtgesellschaftlichen Reformprozeß werden zu lassen, der unumkehrbar ist und das kontinuierliche Wirken von Generationen erfordert. Als Löbel sein Conversationslexikon begann, kulminierte die politisch verschärfte Kontroverse um Aufklärung. Vielleicht deshalb hat er (1796) nur einen lapidaren Eintrag geboten, der Schlagworte aus der Diskussion reiht: Aufklärung, Freiheit von Vorurtheilen, Berichtigung der Begriffe, hellere Einsicht."71 Fünfzehn Jahre später, als die Debatte namentlich in Norddeutschland von den zeitpolitischen Ereignissen und antinapoleonischen Stimmungen überlagert war, ließ die neue Redaktion einen ausführlicheren Artikel hinzufügen. Er stammt von Wilhelm Traugott Krug (1770-1842, Leipziger Philosophieprofessor und Verfasser systematischer Enzyklopädien der Wissenschaften und Künste). Krug scheidet, wie zahlreiche Diskursteilnehmer es ausführlicher getan hatten, nach aufklärerischer Aktion („Verdeutlichung der Vorstellungen") und aufgeklärtem Zustand („im Besitze deutlicher Vorstellungen") und resümiert: Vollständig ausgedrückt würde also die Aufklärung oder Aufgeklärtheit darin bestehen, daß man über die wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit nach deutlichen und richtigen Vorstellungen denkt und urtheilt.72 Dies war nun vielmehr philosophisch komprimiert, keineswegs „vollständig ausgedrückt". Krug schloß sich einer vereinseitigenden (übrigens bis heute nachwirkenden) Tradition an, Aufklärung strikt „in geistiger Bedeutung"73 zu nehmen und ihre beträchtliche sozialpraktische Sinnkomponente zu übergehen. Denn sonst hätte er etwa fortfahren müssen, daß es darauf ankomme, solch Denken und Urteilen in entsprechende Handlungen umzusetzen. Von seiner Warte erschien ihm ein anderes Problem bzw. Resultat der Debatte hervorhebenswert: daß alle Aufklärung relativ ist, da sie ständisch abgestuft erfolgt und der zu erreichende Grad an Deutlichkeit und Richtigkeit der Vorstellungen notwendig verschieden ausfällt. Daher unterscheidet man die wahre oder echte Aufklärung von der falschen oder unechten, d.h. den Verhältnissen und Umständen, unter welchen sich ein Mensch befindet, unangemessenen, und daher ihm selbst oder Ändern nachtheiligen Aufklärung.74

Diese seit Mitte der achtziger Jahre übliche fundamentale Differenzierung verband sich häufig - so auch hier - mit einer Argumentation, die die mei71 72 73 74

Löbel, Conversationslexicon, Bd. l, S. 150. Conversations-Lexicon 1812, Bd. 2, Anhang, S. XXXII f. Ebda., S. XXXII. Ebda., S. XXXIII.

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sten Spätaufklärer ihren Widersachern schon vor und dann nachdrücklicher während der Revolutionszeit entgegenhielten (völlig berechtigt angesichts des behutsamen Reformismus): „Denn an und für sich kann die Aufklärung nicht schädlich oder gefährlich seyn; sie kann es nur dadurch werden, daß man beim Streben, Andere aufzuklären, keine Rücksicht auf ihre Lage nimmt und ihnen daher mehr Licht gibt, als sie vertragen können."75 Letzteres sei „Aufklärerei" und - wie Krug erkennen läßt - um so verfehlter, als sie den Aufklärungsgegnern oder „Obscuranten" Vorschub liefert. „Obscuranten, Obscurantismus" ist in den Supplementen ein eigener Artikel gewidmet, wiederum von Krug verfaßt. Über das Aufkommen der Begriffe wird keine Auskunft gegeben, bloß ganz kurz über ihre Etymologie. Sie waren in ihrer spezifischen Bedeutung von den konsequent reformerischund revolutionär-demokratischen Spätaufklärern als Antischmähungen zu den Inkriminierungen (Anklagen des Hochverrats) ihrer Widersacher aufgebracht, doch zugleich durch sachlich-kritische Analysen des Gegenaufklärertums detaillierter konnotiert worden.76 Einige Ergebnisse dieser Analysen hat Krug berücksichtigt und übersichtlich zusammengefaßt: prinzipielle Gegnerschaft zum deutlichen (und kritischen) Denken; egoistisches Herrschaftsstreben; einst religiöse, gegenwärtig politische Vorbehalte gegen Aufklärung und insbesondere Volksaufklärung. Nochmals betont Krug das positive Grundmoment aufklärerischen Engagements, expliziert nunmehr jedoch potentielle Gefahren oder Verirrungen, die mit einigen Hauptpunkten der Aufklärungskritik von Romantik und Idealismus übereinstimmen: Das Bestreben des Aufklärers ist an sich löblich; denn da, wo klare und deutliche Begriffe möglich sind, soll auch der Mensch darnach streben. Es kann aber doch in eine einseitige Verstandeskultur ausarten, bei welcher die höheren Interessen des menschlichen Geistes gefährdet werden und insonderheit die ästhetischen, moralischen und religiösen Gefühle des Menschen an Innigkeit, Lebendigkeit und Kraft verlieren.77 Andernteils setzt Krug sich von den Aufklärungskritikern mit genuin aufklärerischem Optimismus ab: „Da aber das Licht ein natürliches Bedürfniß der Menschen (körperlich und geistig) ist, so ist der Obscurantismus ein widernatürliches und eben darum vergebliches Bestreben."78

75 76

Ebda. Dies ist am Beispiel Rebmanns und einiger Gleichdenkender gezeigt bei Albrecht, Vom ... Aufklärertum (wie Anm. 64). 77 Supplemente zum Conversations=Lexicon für die Besitzer der ersten, zweiten, dritten und vierten Auflage. Enthaltend die wichtigsten neuen Artikel und Verbesserungen der fünften Auflage. In vier Abtheilungen, Leipzig: Brockhaus 1819/20, Abth. 3, S. 230. 78 Ebda., S. 230f.

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Der Leitgedanke ständisch abgestufter Aufklärung bildet den Ansatz des anonymen Artikels „Volksaufklärung oder Volksbildung" in der Neuen Folge des Conversations-Lexicons. Der aus pädagogischer Sicht argumentierende Anonymus reflektiert einerseits die paradigmatische zeitgenössische Hinwendung zu allseitiger Volksbildung, die über bloße berufliche Ausbildung hinausgehen soll. Andererseits knüpft er an ältere aufklärerische Traditionen an, indem er die Gattung Volksbücher als „abgeschmackte Possen"79 abtut, statt dessen Volkskalender (darunter Hebels Rheinländischen Hausfreund) empfiehlt und Volkslieder, über deren Sammlung seit dem 16. Jahrhundert recht ausführlich informiert wird. Einen knappen Rückblick auf die Aufklärungsdebatte bietet eine Neuauflage des Brockhaus um die Jahrhundertmitte, emphatisch anhebend: Aufklärung ist ein Begriff, dessen Bedeutung und Wahrheit so groß und so einleuchtend ist, daß man kaum begreift, wie er habe in Übeln Ruf kommen können. Dennoch ist dieses seit der Mitte des 18. Jahrhundert vielfach geschehen.80 Die Ursachen dafür bleiben unbenannt, es werden lediglich Negativwirkungen durch den Illuminatismus angedeutet (die genau genommen aus dessen gegenaufklärerischer Mißdeutung und Diskreditierung herrührten). Behauptungen ersetzen einläßlichere Argumentationen, die dem ostentativen Engagement für weitere Aufklärung besser entsprochen hätten. Vehement werden die herkömmlichen Differenzierungen von wahrer und falscher, nützlicher und gefährlicher Aufklärung verworfen, da beide Negationen ihr wesensfremd seien. Lediglich abgegrenzt zur Bildung ist der kurzweg positivierte Begriff dahingehend etwas näher bestimmt, daß Aufklärung ganz besonders auf die Gesammtheit, auf das Volk bezogen, und weder in bloßer Begriffsaufhellung, noch in Unterweisung, sondern in Klarheit, Sicherheit und Anwendbarkeit solcher Gedanken gefunden wird, welche sich auf allgemein menschliche Interessen beziehen, daher man sie ganz vorzüglich in Sachen der Religion und des bürgerlichen Lebens verlangt und findet.81 Das stimmt an sich, bringt aber, angesichts des inzwischen vollendeten Paradigmenwechsels vom Aufklärungs- zum Bildungsbestreben, keine zulängliche Konkretisierung. Genauer hatte da schon, zwei Jahrzehnte zuvor, ein Anonymus in einer vierteiligen Artikelfolge des Rheinischen Conversations-Lexicons differenziert, der (im Teilartikel „Aufklären. Bilden") konstatierte, daß ein gebildeter

79 80 81

Conversations-Lexicon NF 1822, Bd. 2/2, S. 496. Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. l, 91843, S. 622. Ebda.

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Verstand nicht unbedingt ein aufgeklärter sein müsse. „Wenn so der Gebildete von dem Aufgeklärten unterschieden wird, so ist der Erstere derjenige, dessen untere Erkenntnißvermögen, so wie der Letztere, dessen obere Erkenntnißvermögen im höhern Grade vervollkommnet sind."82 Mit diesem frühaufklärerischen erkenntnistheoretischen Dualismus erhält zwar traditionell die Vernunft Priorität, indes wird gleich im folgenden Teilartikel („Aufklärung. Erleuchtung") der Gefühlaspekt berücksichtigt. Der - während der Aufklärungsdebatte nur mehr selten gebrauchte - theologische Begriff „Erleuchtung" meint eine göttliche Inspiration bedingende „Vollkommenheit der Erkenntniß von der Seite ihrer Lebhaftigkeit, Anschaulichkeit und Einwirkung auf den Willen"; „Aufklärung hingegen" solch Perfektion „von der Seite ihrer bloßen Deutlichkeit in dem Verstande".83 Auch hier also gibt man zu verstehen, daß Ratio und Emotio eine untrennbare Einheit bilden. Vereinseitigter Rationalismus gilt für unzulänglich, desgleichen weltfremde Gelehrtheit fernab aufgeklärter Gemeinsinnigkeit (Teilartikel „Aufklärung. Gelehrsamkeit. Wissenschaft"). Derart läßt der anonyme Verfasser sukzessive aus Vergleichen weithin akzeptierte ideelle und lebenspraktische Kriterien von Aufklärung hervortreten. Sodann legt er „die objective Bedeutung des Worts" dar: „die Befreiung von Vorurtheilen",84 insonderheit vom Aberglauben. Sie werden - ähnlich wie in der Deutschen Encyclopädie - definiert als unselbständiges und unzulängliches Denken, bei dem die Vernunft ausgeschaltet ist. Für nicht minder fragwürdig wird das Gegenextrem angesehen, mit der aufgeklärten Vernunft die Erkenntnis des Übersinnlichen erstreben zu wollen. Unausgesprochen oder unbewußt hat sich der Anonymus bei dieser diffizilen Problematik einer Position genähert, die maßgeblich durch Lessing geprägt wurde, und hier in das Credo mündet: „Dies Negative in der Denkungsart zu erhalten, und öffentlich zu äußern, nämlich nicht über die Gränzen des Wissens hinausgehen zu wollen, und sich nicht vorurtheilen zu lassen, macht die eigentliche Aufklärung aus, und ist sehr schwer."85 Denn es erfordere, eine Gott wohlgefällige sittliche Gesinnung zu erlangen und in praktischer Umsetzung zu bewahren. Und das versucht Lessings weiser Nathan.

82 83 84 85

Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. l, S. 657. Ebda. Ebda. Ebda., S. 658. - Über die angedeutete Lessingsche Position vgl. Ingrid StrohschneiderKohrs, Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing, Tübingen 1991 (Hermaea NF 65). Das Fazit des tiefschürfenden Buches lautet (S. 245f.): „Wohl aber begegnen vor allem in den spätesten Schriften ... Sprachbilder, in denen der Gedanke einer notwendig gegebenen und bewußt einzuhaltenden Grenze menschlichen Erkennens ... zutagetritt. ... Es ist von nicht geringem Belang, daß keines dieser Bilder ... von einer Preisgabe

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Die Problemvertiefung im Rheinischen Conversations-Lexicon hat ihr Pendant in Explikationen der Allgemeinen Encyclopädie, die von dem oberlausitzischen Theologen und Pädagogen Gottfried Erdmann Petri (17831850) stammen. Er berücksichtigt, durchaus eigene Akzente setzend, zentrale Punkte der Aufklärungsdebatte und gibt den Diskussionsstand umfassender wieder als die anderen Autoren. Zunächst nimmt auch er Aufklärung als einen relativen Begriff und hebt eine allgemeine Aufklärung von einer Standes- und berufsbezogen gestaffelten ab, woraufhin aber sinnfälliger denn sonst die wesentlichsten Bereiche aufklärerischer Wirksamkeit hervortreten: Pädagogik, Theologie, Moral, Politik, Medizin. Prägnanter auch vergegenwärtigt er somit die im derzeitigen Stadium der Aufklärungsbewegung gegebene konstitutive Einheit von ideellen und lebenspraktischen Anliegen: „Religion, Moral, Verfassung, Welt- und Naturkunde sind die Gegenstände der allgemeinen Aufklärung, die Wissenschaften ihre Quellen und Pflegerinnen, Menschenveredlung und Wohlfahrt ihr Zweck, lebendiger Unterricht in Schulen und Kirchen, Bücher, Statseinrichtungen [sie!], Gesetze und obrigkeitliche Verwaltungen ihre Verbreitungsmittel, deren Zweckmäßigkeit das Fortschreiten dieser Aufklärung bedingt."86 Und das bedeutet, die Mittel ihrerseits im aufklärerischen Sinne zu gebrauchen und zu vervollkommnen. Noch eine andere bemerkenswerte Einsicht vermittelt Petri in dem Zusammenhang, an ein von Lessing und Kant fundiertes Traditionsgefüge anschließend. Selbständiges Denken und Handeln (das Petri wiederum umsichtig definiert: frei von Vorurteilen, Aberglauben, Schwärmerei, Egoismus, blindem Autoritätsglauben) erscheint als Vorbedingung und nicht wie gemeinhin schon als Ausdruck aufgeklärten Fortschritts. Um Aufklärung zu verbreiten, bedürfe es zudem „einer Weisheit, welche Art und Maß der mitzutheilenden Kentnisse und Erläuterungen nach den verschiedenen Bedürfnissen und Verhältnissen der Menschen berechnet"; andernfalls komme es zu derjenigen Verwirrung der Begriffe, Interessen und Bestrebungen, die mit Recht falsche Aufklärung genannt, und als widersinnig, gefährlich und schädlich sowol für die, denen man sie aufdringt, als für die bürgerliche Gesellschaft überhaupt verworfen wird.87 Als nicht minder nachteilig für das Gemeinwesen stellt Petri kritisch-offensiv gegenaufklärerische Wirksamkeit bloß (was zur beginnenden Restaurationsperiode genausowenig selbstverständlich war wie einst angesichts der Furcht vor Jakobinern): „Gefahren und Nachtheile hat die wahre Aufklärung noch

86 87

der Vernunft spricht - oder ... etwas wie eine denkbare Grenzüberschreitung andeutet oder postuliert." Ersch/Gruber, Allgemeine Encyclopädie, Th. 6 (Aufl. 1821), S. 307. Ebda.

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nirgend, wol aber Mangel und Hemmung derselben alle die Übelstände verschuldet, die in den Widersprüchen der gegenwärtigen Zeit hervortreten."88 Und abschließend betreibt Petri selbst exemplarisch gesellschaftspolitische Aufklärung, indem er hierarchische bzw. oligarchische Selbstsucht in Kirche und Staat kritisiert und zu überwinden anregt. Überblickt man die Artikel zum Stichwort „Aufklärung", so ist zu bilanzieren: Sie haben zwar unterschiedlich gewichtige, doch durchaus eigenständige Verallgemeinerungen aus der - noch anhaltenden - Aufklärungsdebatte gewonnen und zugleich neue, öfter kritische und ganz selten apologetische Beiträge zu ihr geliefert. Diese sind überwiegend konzentriert auf das geistig-kulturelle Phänomen Aufklärung; nur gelegentlich weitet sich der Blick für die sozialpraktischen Aktivitäten der spätaufklärerischen Bewegung, deren reformerische Grundorientierung niemand expliziert. Und ebenso wie beim Stichwort „Bestimmung des Menschen" wird eine allenthalben gebräuchliche geschlechtsspezifische Trennung und Abstufung übergangen, die gleich der standesbezogenen zu den weniger umstrittenen Gegenständen des Aufklärungsdiskurses gehörte.89 Speziell durch die Artikel zur Aufklärung und zu aufklärerischen Ideen und Prinzipien haben einige Autoren versucht, das Bewußtsein der Leser dafür zu schärfen, daß Aufklärung ein unabgeschlossener, notwendig fortzusetzender Prozeß sei, für den weitere Mitstreiter gewonnen werden sollen. Den Enzyklopädien und Lexika liegt weithin übereinstimmend die Intention zugrunde, nicht lediglich zu belehren oder zu informieren, sondern zur lebenspraktischen Anwendung des Vermittelten anzuregen - gemäß dem verbreiteten Konsens, daß weder Aufklärung noch Bildung sich darin erschöpft, Wissen und Kenntnisse beizubringen. Im großen und ganzen läßt sich jeweils zunächst folgende Einheit ausmachen: Enzyklopädien - Vollständigkeitsbestreben - Aufklärung; Konversationslexika - Auswahl des Wesentlichen - Bildung. Die Entwicklung nach 1820 scheint jedoch zu einer Konvergenz tendiert zu haben, für die der Titel signifikant ist, den das Nachschlagewerk des Brockhaus-Verlages von der 6. bis zur 13. Auflage (1824-87), geringfügig variiert, führte: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. (Conversations-Lexicon). Diese Tendenz bestätigen auch die Unternehmungen von Meyer und Pierer.90 So gesehen relativiert bzw. konkretisiert sich für das frühe 19. Jahrhun88

Ebda. Am Beispiel Wielands umrissen bei Wolfgang Albrecht, Wielands Vorstellungen von Aufklärung und seine Beiträge zur Aufklärungsdebatte am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Impulse, Folge 11, 1988, S. 25-60, vgl. S. 39ff. 90 Meyers Conversations-Lexicon. Eine Encyclopädie des allgemeinen Wissens, 46 Bde. u. 6 Supplementbde., Hildburghausen: Bibliographisches Institut 1840-55; Heinrich Au89

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Wolfgang Albrecht

dert die geläufige Auffassung, das Konversations-Lexikon sei „eine Sonderform der Enzyklopädie".91 Ohnehin bestand im Brockhausschen Lexikon, wie sich gezeigt hat, von Anfang an kein strikter Gegensatz zwischen neuhumam'stischem Bildungs- und tradiertem Aufklärungsgedanken. Die dort und auch im Rheinischen Conversations-Lexicon wirksame Bildungstheorie ist weniger aufklärungskritisch als die Niethammersche und erst recht als die Humboldtsche, mit welch letzterer man unverkennbar hinsichtlich einer erstrebten „Einheit von Versöhnung und Transzendenz des Bestehenden"92 übereinstimmt. Ausgesprochen gegenaufklärerische Positionen nach Art der Standardbehauptung, Aufklärung sei religions- und sittenverderbend sowie staatsuntergrabend, haben auf die Konzeption der betrachteten Nachschlagewerke keine ersichtlichen Einflüsse ausgeübt. Allenfalls könnte eine indirekte partielle Beeinflussung erfolgt sein, insofern im Zuge der wachsenden Rechristianisierung nach der Jahrhundertwende dem Religiösen wieder verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet wurde (am ausgeprägtesten im Rheinischen Conversations-Lexicon). Doch ist hierbei nochmals zweierlei zu betonen. Bereits die Anlage der Deutschen Encyclopädie unterscheidet sich von der der französischen wesentlich mit dadurch, daß sie nicht allein aufklärerisch religiöse Aspekte einbezieht, sondern auch entsprechende Rücksichten übt; und die deutsche Aufklärungsbewegung war zu keiner Zeit und auch nicht bei der Minorität der sogenannten jakobinischen Spätaufklärer religionsfeindlich oder gar atheistisch gesinnt.93 Die herangezogenen Enzyklopädien und Lexika repräsentieren unterschiedliche Typen deutschsprachiger Nachschlagewerke des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in denen durchweg nicht unbeträchtlich aufklärerische Wirksamkeit und Selbstreflexion angestrebt wird. Und so bilden sie einen - bislang vernachlässigten - eigenständigen Bereich der literarischwissenschaftlichen Spätaufklärung in Deutschland.

91 92

93

gust Pierer, Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, 26 Bde. u. 6 Supplementbde., Altenburg: Pierer 1824-36 u. 1840-47. Meyer, Das Konversations-Lexikon. Alfred Schäfer, Aufklärung und Verdinglichung. Reflexionen zum historisch-systematischen Problemgehalt der Bildungstheorie, Frankfurt a. M. 1988, Kap. 1.2: Die neuhumanistische Alternative: Eine Perspektive auf die Einheit von Versöhnung und Transzendenz des Bestehenden. Vgl. Wolfgang Albrecht, Revolutionierung der Aufklärung und Aufklärung über Revolution. Aufklärerische Ideen und Prinzipien in der deutschen revolutionär-demokratischen Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 14, 1990, S. 249-289, inbes. S. 268ff., 282ff. und 288.

HANS-HENRIK KRUMMACHER

Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel

I. Am 12. August 1741 schreibt Friedrich von Hagedorn, beschäftigt offenkundig mit der Vorbereitung seiner Sammlung Neuer Oden und Lieder (1742ff.), an seinen Freund Matthäus Arnold Wilckens: „Ich untersuche itzo, welchen Unterschied die Lehrer der Dichtkunst zwischen den Oden der Neuern und den eigentlichen Liedern, Chansons bestimmen. Ich begreiffe, daß in dem ursprünglichen Begriffe eine jede Ode ein Lied sey, daß aber in den nachherigen Zeiten die Lieder, die blosserdings des Singens und der Frölichkeit halber, abgefasset worden, als Balladen, Mey-Lieder ... u. die Villanelle p sich des erhabnem Nahmens der Oden verlustig gemacht haben. Ich würde auch eher anacreontische Lieder setzen, als pindarische, wenn ich ja einer von diesen beyden Arten Oden die Benennung eines Liedes beyzulegen hätte. Aber die eigentliche notam characteristicam der Oden und der Lieder getraue ich mir nicht anzugeben, und dazu bedarf ich die autoritaet anderer. Sende mir den Discours sur l'ode des de la Motte und den Richelet sur Malherbe. Hättestu das Dictionnaire de Trevoux oder das della Crusca, so wäre es mir sehr lieb, aus beyden die definition zu haben ... weil mir daran gelegen ist, diesen Unterschied zu wissen .. ,".1 Einige Jahrzehnte zuvor stand in der Schrift Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und DichtKunst von Magnus Daniel Omeis am Beginn des Kapitels Von den Satyren oder Straf-Gedichten - nach einem Hinweis auf den Ursprung dieser Gedichte, der sich an Sigmund von Birkens Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst (1679) anschloß - die Bemerkung: „De Satyris (sive Faunis) kan man lesen Lexicon Hofmanni P. I & II ad voc. Satyri, und die allda citirte Scriptores;

1

Original: StuUB Hamburg (Sup. ep. 113,74). Eine Kopie samt Transkription verdanke ich der Freundlichkeit von Prof. Dr. Horst Gronemeyer, Direktor der Bibliothek, der eine Ausgabe der Briefe Hagedorns vorbereitet, den ersten Hinweis auf diesen Brief einem Zitat bei: Uwe K. Ketelsen, Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung, Stuttgart 1974, S. 173.

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Hans-Henrik Krummacher

auch Rappoltum in Comment, ad Horat. p. 1287 .. .".2 Und noch vor Omeis hatte sich Albrecht Christian Rotth im Kapitel Von den Satyren auf dieselben Gewährsleute berufen.3 Auch wenn die angeführten Stellen zwangsläufig nur Zufallsfunde sind, scheinen sie doch von symptomatischer Bedeutung zu sein. Kein heutiger Kritiker, kein Literarhistoriker wird von einer neueren Auflage des Brockhaus Belehrung über eine literarische Gattung erwarten, und man wird andere darauf wohl höchstens zu flüchtiger erster Information verweisen. Doch der Rokokodichter, der neben einem der wichtigsten Beiträge zur französischen Odentheorie im 18. Jahrhundert4 und einer Schrift über Malherbe,5 Hauptmuster der französischen Ode noch im 18. Jahrhundert, auch zwei Nachschlagewerke6 zu Rate ziehen will für Überlegungen, die dann ihren Niederschlag gefunden haben in der Vorrede seiner Gedichtsammlung7 und diese Vorrede zu einem charakteristischen Dokument der Lyrikdiskussion 2

Magnus Daniel Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst, Nürnberg: Michahelles/Adolph 1704 [ÜB Münster], S. 223. 3 Albrecht Christian Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Bd. 3, Leipzig: Lanckisch 1688 [StuUB Göttingen], S. 61: „... schreibt von der Etymologie des Wortes [Satura] Hofmannus in Lexic. universal! part. 2 ... Es sind aber die Satyri/ wie gedachter Rappolt in seinem Commentario p.m.1287 anzeucht/ nicht einerley ..." (gewisse Differenzen zeigen, daß Omeis bei seinen Nachweisen von Rotth angeregt worden sein mag, dessen Gewährsleute aber auch selbständig benutzt haben muß). 4 Antoine Houdar de la Motte, Discours sur la poesie en general, et sur l'ode en particulier (1707). 5 Für sie ließ sich allerdings bisher kein bibliographischer Nachweis finden. Vielleicht bezieht sich Hagedorn in irrtümlicher Verkürzung auf den Schluß des Artikels „Ode" bei Pierre Richelet, Dictionnaire Fransois, Genf: Widerhold 1679/80 (Neudr. Genf 1970), Bd. 2, S. 83: „Voiez Nicolas Richelet, Commentaires sur Ronsard, & les ödes de Malherbe". Der hier angeführte Kommentar (Pierre de Ronsard, Les (Euvres, Bd. 2, Les Odes, commentees par N. Richelet, u.a. Paris: Tibout/Baraigne 1630 [HAB Wolfenbüttel]) zu Ronsard, dem eigentlichen Begründer der französischen Ode, erwähnt in der Vorrede die Vielfalt der für die Ode bezeichnenden Gegenstände (S. 3) und erörtert in den Erläuterungen zum Widmungsgedicht an Heinrich II. Unterschiede zwischen antiker Ode und neuzeitlicher chanson (S. 15), wie sie ähnlich dann in französischen Nachschlagewerken des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts gekennzeichnet werden (vgl. unten u. a. Anm. 60, 65 und 66). 6 Dictionnaire de Trevoux, Paris: Delaune u. a. 1743 [ÜB Mainz]; Text der ersten Auflage 1704 mit der hier benutzten weitgehend identisch, an einzelnen Stellen allerdings knapper, zudem ohne Artikel über Autoren wie Anakreon, Catull, Horaz, Pindar (zu dem, was für Hagedorns Zwecke im Dictionnaire de Trevoux zu finden war, vgl. u.a. unten Anm. 47, 60 und 66). - Vocabolario degli Academici della Crusca, Venedig: Alberti H612 (Neudr. Florenz 1976), mit sehr knappen Erläuterungen einschlägiger Begriffe (ode/ nur im Index lateinischer bzw. griechischer Wörter unter Verweisung auf das Stichwort „Canzone"); auch in der 4. Auflage z.B. (Florenz: Manni 1729-1738 [StB Berlin]), an welche Hagedorn gedacht haben könnte, bleiben die Erläuterungen, bei etwas vermehrtem Stichwortbestand (darunter auch „Oda"), ähnlich karg. 7 Leicht zugänglich im Nachdruck (Bern 1968) der posthumen Gesamtausgabe: Friedrich von Hagedorn, Sämmtliche Poetische Werke, Hamburg: Bohn 1757, Tl. 3, S. III-XXII:

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um die Mitte des 18. Jahrhunderts machen, - der Präses des Pegnesischen Blumenordens und der Hallesche Konrektor, die zur Ergänzung ihrer Bemerkungen über Ursprung und Namen einer Gattung außer auf einen Horaz-Kommentar8 des späteren 17. Jahrhunderts auch auf ein Lexicon verweisen, das seit 1677 in mehreren Auflagen verbreitet gewesen ist,9 - sie deuten darauf hin, daß zumindest bis weit ins 18. Jahrhundert hinein Enzyklopädien und verwandte Werke für die Literatur, für die an ihr Interessierten und tätig Teilnehmenden als Vermittler von Kenntnissen und Regeln von Belang sein konnten und neben den speziellen Werken zur Poetik eine die literarischen Vorstellungen und Erwartungen mitprägende Bedeutung und Wirkung gehabt haben. Verwunderlich erscheinen kann das kaum angesichts des umfassenden wissenschaftstheoretischen Anspruchs vieler Werke frühneuzeitlicher Enzyklopädik, der auch dort noch wirksam ist, wo die Darstellung des anwachsenden Wissens zwar nicht mehr systematisch geordnet, sondern zunehmend dem Alphabet anvertraut wird, aber doch noch in bewußter Beziehung auf ein zugrunde gelegtes Wissenschaftssystem steht und vielfach entsprechend umfangreiche Artikel hervorbringt.10 So dürfte es sich lohnen, um der Geschichte literarischer Theorie und ihrer Rezeption wie um der Eigenart und der Funktionsgeschichte frühneuzeitlicher Enzyklopädik willen dem Verhältnis von Poetik und Enzyklopädie nachzugehen11 und zu fragen, was EnzykloVorbericht (ergänzt durch die am Ende auf S. 133-190 angefügten Abhandlungen von den Liedern der alten Griechen von de la Nauze in der Übersetzung von J. A. Ebert). In der Sammlung Neuer Oden und Lieder ist Hagedorns Vorbericht in Tl. l enthalten (Hamburg: Bohn 31752 [StB Berlin], Bl. a2r-b4v). 8 Friedrich Rappolt, Commentarius in Q. Horatii Flacci Satyras & Epistolas omnes, Artem item Poeticam, quinqve Carmina peculiaria, & libros duos priores Carminum, Leipzig: Grosse 1675 [HAB Wolfenbüttel]. 9 Johann Jacob Hofmann, Lexicon universale, Basel: Widerhold 1677; Continuatio, Basel: Widerhold 1683 [StB Berlin]. Zusammenfassung dieser insgesamt vier Bände in einem Gesamtalphabet in der Ausgabe Leiden: Hackius u.a. 1698 [Bischöfl. Priesterseminar Mainz] (hier im allgemeinen nach dieser Ausgabe zitiert). - Hinweise auf spätere Ausgaben unten in Anm. 33. 10 So in Zedlers Universal Lexicon, in der Encyclopedic d'Alemberts und Diderots, aber auch noch in den frühen Auflagen des Brockhaus und in anderen Conversations-Lexica der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1 ' Es gibt einzelne, aber - wenn ich recht sehe - nicht sehr zahlreiche Arbeiten, welche Enzyklopädien als Quelle für Fragen der Rezeption von Literatur und der Poetik beachten, so Margaret Oilman, The Idea of Poetry in France. From Houdar de la Motte to Baudelaire, Cambridge, Mass. 1958; Hans Peter Herrmann, Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740, Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich 1970; Notable, Encyclopedias; Erwin Rotermund, Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, München 1963; Hans Sanders, Das Subjekt der Moderne. Mentalitätswandel und literarische Evolution zwischen Klassik und Aufklärung, Tübingen 1987.

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pädien der frühen Neuzeit von der jeweiligen zeitgenössischen Poetik überliefern, in welchem zeitlichen Verhältnis zu deren Entwicklung sie dabei stehen, was sie an maßgeblichen Quellen, was sie an Abhängigkeiten untereinander, was an Konstanten und an Wandlungen literarischer Theorie erkennen lassen. Welchen Anteil mögen sie an der Verbreitung literarischer Normen gehabt haben, und wieweit spiegeln sie deren Veränderungen? Wieweit können sie die Geläufigkeit bestimmter literarischer Vorstellungen bezeugen, die späteren Zeiten fremd geworden sind? Wieweit können sie wahrnehmen lassen, welche Bestimmungen, sofern sie selbst in knapp zugeschnittenen enzyklopädischen Werken nicht fehlen, für das Literaturverständnis früherer Epochen von besonderem Gewicht, von fundamentaler Selbstverständlichkeit gewesen sind, und damit auf ihre Weise das Bemühen unterstützen, die Poetik der frühen Neuzeit als Beschreibung der jeweiligen literarischen Realität und der sie bestimmenden Erwartungen ernst zu nehmen und fruchtbar zu machen? Wieweit also können Enzyklopädien - ob sie nun geradezu Positionen der je zeitgenössischen Poetik produktiv diskutieren und eigenständig zu begründen suchen oder mehr das als selbstverständlich Tradierte zusammenfassen und belegen - neben den speziellen Werken der Poetik seit dem Humanismus und in deren Ergänzung Wegweiser zur Beobachtung und Analyse historisch unterschiedlicher Erwartungen von der Literatur und ihrer geschichtlichen Wandlungen sein und damit auch ihrerseits der Nutzung poetischer Normen anderer Epochen für einen angemessen verstehenden Umgang mit deren Texten dienen? Als ein Beispiel für die Erörterung solcher Fragen, die hier keineswegs abschließend werden beantwortet werden können, bietet sich die Lyriktheorie, die lange Zeit vor allem Odentheorie ist, deshalb an, weil sie vom Humanismus bis ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert hinein eine höchst eigenartige und für Wandlungen der Literatur sehr charakteristische Entfaltung und Veränderung erfährt. Hagedorn mit seinem Wunsch, die unterscheidende „notam characteristicam der Oden und der Lieder" zu bestimmen, steht als ein früher Zeuge am Beginn eines besonders markanten Abschnitts dieser Geschichte. Sie ist hier zunächst kurz zu rekapitulieren,12 damit vor diesem 12

Im einzelnen handeln davon drei umfangreiche Abhandlungen, die ich demnächst zu publizieren gedenke und deren Ergebnisse ich hier voraussetze, ohne dafür diese Aufsätze mit ihren zahlreichen Quellen und ihren Literaturnachweisen jedesmal als Beleg eigens anzuführen: Principes Lyricorum. Pindar- und Horazkommentare seit dem Humanismus als Quelle der neuzeitlichen Lyriktheorie (Druck vorgesehen in: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Geistes- und sozialwissenschaftl. Klasse); Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert (Druck vorgesehen in: Deutsche Vierteljahrsschr. f. Literaturwiss. u. Geistesgesch.); Pindar Horaz - Ossian. Zur Entwicklung der Lyrikauffassung Herders (Druck vorgesehen in: Antike u. Abendland).

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Hintergrund von ihrem Niederschlag in der enzyklopädischen Literatur des näheren die Rede sein kann. Die humanistische, aus vielerlei antiken Quellen gespeiste Poetik und in ihrem Gefolge auch die barocke Poetik erörtern unter der Bezeichnung Lyrica oder auch Melica, die dann zunehmend Oden genannt werden, strophische, gesungene oder doch als sangbar gedachte Gedichte. Pindar und Horaz gelten in gleichem Maße als Hauptmuster solcher Gedichte und üben als solche nachhaltigen, durch ihre Unterschiedlichkeit freilich komplizierten Einfluß auf die Einzelheiten der Theorie aus. Nachantike Formen wie Sonett oder Madrigal werden erst spät in die Theorie der Lyrica einbezogen, antike Gedichtarten wie Epigramm und Elegie, die durch ihre andersartige, nichtstrophische metrische Gestalt charakterisiert sind, bleiben vom Begriff der Lyrica naturgemäß sehr lange und sehr entschieden ausgeschlossen. Die Wörter lyrica/carmen lyricum und lyricus/poeta lyricus bezeichnen Oden allenfalls unter Einschluß von Hymnen und Dithyramben - und deren Verfasser und sind damit in ihrer Bedeutung weit entfernt von jenem umfassenden Lyrikbegriff, wie er sich erst spät und nur in engstem Zusammenhang mit Veränderungen der Dichtung selbst und mit der Wandlung des Gattungssystems zu der um 1800 erst sich endgültig ausformenden und wirkungsmächtig werdenden Trias von Epik, Dramatik und Lyrik herausbildet. Hauptmerkmale der in der humanistischen Poetik an den antiken Mustern entwickelten Odentheorie sind neben der strophischen Gliederung und der Sangbarkeit, die auch in der Herleitung des Namens Lyrica von der Lyra und in den Erläuterungen des Namens Ode immer wieder betont wird, vor allem die Mannigfaltigkeit der Gegenstände (nach v. 83-85 der ars poetica des Horaz, wobei das hier am Anfang stehende Lob der Götter und Heroen oft besonderes Gewicht erhält), metrische Vielgestaltigkeit, Kürze, hoher, von maiestas oder suavitas gekennzeichneter Stil, libertas animi und durch erlaubte Abschweifungen geprägte Bauform, ja Freiheit von Regeln und Gesetzen und damit eine betonte Nähe zum oder furor poeticus - Merkmale, die die Ode zur Darstellung von Affekten besonders geeignet sein lassen. Die deutschsprachige Barockpoetik übernimmt die Odentheorie des Humanismus, indem sie, um imitatio der antiken Muster in der eigenen Sprache bemüht, mit der antiken Ode das deutschsprachige Lied aufgrund seiner strophischen Form und seiner Sangbarkeit identifiziert. Ais ein neues, durch die gereimte Versform nahegelegtes Merkmal fügt sie der Theorie mit Rücksicht auf die Verständlichkeit gesungener Lieder die Forderung nach Vermeidung des Vers- und insbesondere des Strophenenjambements hinzu. Die lange Zeit ziemlich unverändert tradierte Odentheorie erfährt im Lauf des 18. Jahrhunderts in wachsendem Maße tiefgreifende Veränderun-

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gen. Zu den daran beteiligten, sie hervorrufenden oder beeinflussenden Momenten gehören unter anderem die Diskussion des Nachahmungsbegriffs, die mit den nicht Handlungen, sondern nur Empfindungen darstellenden lyrischen Gedichten ihre - schließlich doch produktiven - Schwierigkeiten hat, - die aufklärerische Bestimmung der unterschiedlichen Seelenvermögen und ihre Einwirkungen auf das Dichtungsverständnis, - der wachsende Einfluß der PS. Longin-Rezeption, durch welche die Vorstellung vom dichterischen stärker als zuvor zur Geltung kommt, - die zunehmende Reflexion der Unterschiede zwischen Antike und Neuzeit und der Mustergültigkeit der Antike, - die allmählich entwickelte Fähigkeit zur Nachbildung der antiken Versfüße und Strophenformen. All das bewirkt einerseits eine außerordentliche Belebung der Diskussion der Ode, die als eine Dichtungsart gesteigerter Empfindungsaussprache für einige Zeit in den Mittelpunkt poetologischer Erörterungen rückt, auf der anderen Seite dann aber auch eine wachsende Differenzierung von Ode (samt Hymne und Dithyrambus) und Lied, die an bestimmte, bis dahin latent gebliebene Differenzen in der Theorie und zwischen deren Mustern Pindar und Horaz anknüpft. Die Ode wird entschiedener noch als bisher zu einer lyrischen Dichtart erhabenen Charakters und immer enger gebunden an den Gebrauch der antiken Strophenformen, das Lied, immer mehr als schlichte, in eigentlichem Sinne sangbare, schon durch seine Sprache musikalische Form verstanden, entwikkelt sich geradezu zum Gegenpol der Ode. In dem Maße, in welchem sich diese Sonderung vollzieht, wird lyrische Dichtung von der Erwartung einer Empfindungsaussprache bestimmt, die immer stärker unmittelbar, individuell, erlebnishaft sein soll und nur dadurch als wahr gilt. Der sich so verändernde und damit in die Entwicklung der Gattungstrias einfügende Lyrikbegriff öffnet sich nun auch für Formen wie die Elegie, gewinnt damit eine zuvor undenkbare Ausdehnung und läßt dabei an der Stelle der Ode, von der einst die zunächst als Odentheorie entwickelte neuzeitliche Lyriktheorie ausgegangen war, das jetzt von ihr unterschiedene Lied zum eigentlichen Inbegriff von Lyrik werden - ein Vorgang, der nicht ohne tiefgreifende Veränderungen der Lyrik selbst im 18. Jahrhundert möglich gewesen ist, welche sich ihrerseits in den Veränderungen ihrer Theorie aufschlußreich spiegeln.

II. „lyrici ... pugiles certaminibus uictores laudibus exornät, aut bacchü, aut quod uis tale illorum numen celebrant ... Lyricorum praecipuum est uario uti carminum genere ipsaque ad lyram canere ..." ist am Beginn des 16. Jahr-

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hunderts im posthumen De expetendis, etfugiendis rebus opus13 des Georgius Valla zu lesen. Abgehandelt werden die carmina lyricorum als Teil der communis species im Rahmen einer knappen Darstellung der „poeticae artis species tres": „actiua siue imitatiua ... enarratiua siue enuntiatiua ... comunis, uel mixta" (Bl. EE8r). Diese wenigen, an einer Stelle auf v. 84f. der Horazischen ars poetica anspielenden Feststellungen zu den Gegenständen und zum Zweck der Lyrica, zu ihrer Herleitung vom Gesang ad lyram und zur Verwendung vielfältiger metrischer Formen, die strophisch gegliedert zu denken sind, mitsamt der Zuweisung zur communis species innerhalb der vor allem vom spätantiken Grammatiker Diomedes14 sich herleitenden Zuordnung aller möglichen, unterschiedlichen Gedichtarten zu den von Valla angeführten drei species, deren Unterscheidung an der Redeform orientiert ist - das ist ein Grundbestand, wie er sich in vergleichbarer Weise auch schon in den enzyklopädischen Werken des Mittelalters findet, wo diese im Rahmen der Grammatik als eines Teils des Triviums von der Poesie handeln, ihrerseits dabei in der Tradition der spätantiken Grammatik15 stehend. „Lyrici poetae dicuntur, ä potu lyrin,16 idest ä varietate carminü, vnde & lyra dicitur ..." formuliert z.B. Vinzenz von Beauvais in seinem Speculum doctrinale.11 Das liest man früher schon bei Hrabanus Maurus,18 und lange vor Vinzenz und Hrabanus findet sich bereits bei Isidor19 dieselbe Formulierung, die auf eine sinngemäß entsprechende Stelle bei dem Grammatiker Marius Victorinus zurückweist.20 Mit der auch bei Isidor stehenden längeren Passage über die poetae, in welcher der Satz über die lyrici, die varietas carminum und die lyra

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Georgius Valla, De expetendis, et fugiendis rebus opus, Venedig: Manutius 1501 [Stadtb. Mainz], Bd. II, Lib. XXXVIII, De Poetica Volumen unicum, Bl. EE8V. Diomedes, Artis Grammaticae lib. Ill: De poematibus (Grammatici latini, ed. Henricus Keil, Bd. l, Leipzig 1857, S. 482f.). Hugo von St. Victor begnügt sich in seinen Eruditionis didascalicae libri septem (Lib. II, cap. XXX, De grammaticae divisione) sogar mit der knappen Erwähnung nur einzelner Gegenstände der Grammatik und verweist zur näheren Ausführung auf die Grammatiker Donatus, Diomedes und Priscian (Migne, PL, Bd. 176, Sp. 763). Recte: apo tou lyrein (vgl. die in Anm. 18 angeführte Stelle bei Hrabanus Maurus). Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex, Bd. II, Sp. 288 (Lib. Ill, cap. CX, De poetis). Hrabanus Maurus, De universe, Lib. XV, cap. II, De poetis (Migne, PL, Bd. 111, Sp. 419): „Lyrici poetae apo tou lyrein, id est, a varietate carminum: unde et lyra dicta". Isidor von Sevilla, Etymologiarum über VIII, cap. VII, De poetis (Migne, PL, Bd. 82, Sp. 308). Marius Victorinus, Artis Grammaticae lib. I: De Metris (Grammatici latini, ed. Keil, Bd. 6, Leipzig 1874, S. 50): „melicum autem sive lyricum, quod ad modulationem lyrae citharaeve componitur ... carmen autem lyricum, quamvis metro subsistat, potest tarnen videri extra legem metri esse, quia libero scribentis arbitrio per rhythmos exigitur". Zur antiken Tradition der etymologischen Erklärung der lyrica vgl. im übrigen Hans Färber, Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München 1936, S. 13.

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begegnet, verknüpft Hrabanus in seinem Kapitel De poetis eine Wiedergabe der Diomedischen Einteilung der „poematis genera" in der um biblische Muster erweiterten Fassung, die vorher bei Beda belegt ist,21 während er in seiner Excerptio de arte grammatica Prisciani die ursprüngliche Fassung von Diomedes selbst übernimmt,22 die die lyrica eigens erwähnt und dem genus commune zuordnet. Ähnlich wie in den mittelalterlichen Enzyklopädien oder dann bei Valla und wie auch dort gelegentlich ergänzt durch Nennung von Horaz, später auch Pindar als Muster23 - sehen die Hinweise zu den lyrica auch noch im späten 16. und im frühen 17. Jahrhundert aus. In dem über mehr als hundert Jahre hin in zahlreichen Auflagen verbreiteten Thesaurus Eruditionis Scholasticae, sive Ratio Docendi ac Discendi (1571) des Basilius Faber beispielsweise lauten die Erläuterungen einschlägiger Lemmata: „Carmen, oratio ligata, numeris suis & mensura certa constans ... Gesang" - „Hymnus ... cantio laudans, Lobgesang" (mit einem Pindar-Zitat) - „Lyricus, vt Poeta lyricus, qui carmina sua ad lyram recitabat. Inter eos Poetas excellere se iactat, Horat. Ode. I ... [zit. Od. I, l, v. 35f.] Lyrici apud Grsecos nouem fuere, inter quos excelluit Pindarus" - „Melicum vt Poe'ma melicum, hoc est Musicum ..." - „Oda, ae, vel Ode, es , cantio, carmen".24 Ob die enzyklopädischen Werke dabei auf den altüberlieferten Grundbestand des21

Beda Venerabilis, De arte metrica, Abschnitt: Quod tria sint genera poematos (Grammatici latini, ed. Keil, Bd. 7, Leipzig 1880, S. 259f.). 22 Im Abschnitt De vi ac varia potestate metrorum: „Coeni vel communis poematos species sunt duae. Quarum prior heroica, ut est Iliadis et Aeneidos; altera est eliaca [vgl. hierzu die Lesarten bei Keil zu der unten genannten Stelle bei Diomedes], quae et lyrica dicitur, ut est Archilochus et Horatius" (Migne, PL, Bd. 111, Sp. 670). Vgl. Diomedes (Grammatici latini, ed. Keil, Bd. l, S. 483): „ vel communis poematos species prima est heroica, ut est Iliados et Aeneidos; secunda est lyrica, ut est Archilochi et Horatii" (eine entsprechende Stelle steht - soweit ich sehe - bei Priscian, auf den sich Hrabans Titel bezieht, offenkundig nicht). 23 Vgl. das auf Diomedes beruhende Zitat aus Hrabanus Maurus in Anm. 22; Vinzenz von Beauvais, Speculum quadruplex, Bd. IV, Speculum historiale, S. 195 über den Rang des Horaz „inter satyricos, & lyricos poetas latinos" (S. 99f. biographische Nachrichten über Pindar noch ohne solche Wertung); Valla, De expetendis, et fugiendis rebus opus (wie Anm. 13), Bd. II, Bl. FFlr: „Fuerüt sane apud graecos lyrici decem ... At liricorum omm facile pnceps PTdarus". - Vgl. auch die Artikel über Pindar bzw. Pindar und Horaz in den Werken von Hermann Torrentinus, Elucidarius Poeticus ^1498), Ausgabe München: Leysser 1630 [Stadtb. Mainz], S. 291 und Estienne, Dictionarium ( 553), Ausgabe Paris: Macaeus 1578 [HAB Wolfenbüttel], Bl. Bb8r, Pp3v, die keine Sachartikel zur Lyrik enthalten, sowie die entsprechenden Stellen in den in Anm. 24 genannten weiteren Werken. 24 Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, Leipzig: E. Vögelin 1587 [ÜB Mainz], S. 141f., 394, 471, 492, 561. Die knappen Erläuterungen Fabers bleiben auch in den späteren Ausgaben weitgehend unverändert, hie und da durch einzelne Zusätze erweitert, so in den Auflagen der auf August Buchner zurückgehenden Bearbeitung, wo es s.v. carmen ergänzend heißt: „... Caeterüm aliquando latius, quandoque strictius su-

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halb sich beschränken, weil sie die Entfaltung der sich längst erweiternden und stärker differenzierenden Theorie in den speziellen Werken zur Poetik noch nicht als verbindlich rezipiert haben, oder vielleicht doch eher darum, weil sie oft mehr auf die Vermittlung des Systems des Wissens oder auch nur des nötigsten Extrakts als auf seine Einzelheiten gerichtet sind,25 wird offen bleiben müssen. Die Konstanz aber der auf die Sangbarkeit und metrische Vielfalt, daneben auch auf bestimmte Gegenstände gegründeten und auf Horaz und dann auch Pindar als Muster sich berufenden Bestimmungen26 der Lyrica über Jahrhunderte hin macht deutlich, wie sehr dieser Kernbestand, verankert im System der Artes und seiner Tradierung durch die spätantiken lateinischen Grammatiken, das Fundament aller weiteren Vorstellungen ist,27 wie sehr auch allerdings dieser Kernbestand vom Humanismus, von den hu-

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mitur, & vel Epicum; vel Lyricum carmen significat ... Horatius quoque libros suos, non odarum; sed carminum nomine inscripsit ... Carmina: videlicet Lyrica" (Leipzig/ Frankfurt: Fritzsch 1680 [ÜB Mainz], Bd. l, Sp. 451). - Vgl. auch u.a. Raphael Volaterranus, Commentariorum Vrbanorum libri, Rom: Besicken 1506 [Stadtb. Mainz], Bl. CCCCLXVPf.; Ringelbergh, Lucubrationes ( 529), Basel: Westhemerus 1541 [Stadtb. Mainz], S. 162; Gesner, Bibliotheca Vniversalis, Zürich: Froschauer 1545 [HAB Wolfenbüttel], Bl. 563r, 575V; Zwinger, Theatrum vitae humanae, Basel: Oporinus/Frobenius 1565 [Stadtb. Mainz], S. 63, 64, 78; Lang, Florilegium (4598), Straßburg: Lazarus Zetzners Erben 1645 [ÜB Mainz], Sp. 2372; Goclenius, Lexicon Philosophicum, Neudr. 1964, S. 182 und Garzoni, Piazza universale (1585, dt. 619), Frankfurt/M.: Jennisius 1626 (Sammlung Faber du Faur, Film Nr. 372), S. 728. Dafür könnte sprechen, daß vergleichbare Werke auch noch im späteren 17. und im frühen 18. Jahrhundert sich auf jenen Kernbestand beschränken: vgl. u.a. Pexenfelder, Apparatus Eruditionis ( 670), Sulzbach: Endter 31687 (Sammlung Jantz, Film Nr. 403), S. 287f.; Nehring, Historisch-Politisch-Juristisches Lexicon ('1684), Gotha: Mevius 81725 [StB Berlin], S. 569, 814; Wagenseil, Pera librorum juvenilium, Altdorf: Hofmann/Meyer 1695 (Sammlung Faber du Faur, Film Nr. 488), S. 718; Hederich, Reales Schul-Lexicon, Leipzig: Gleditsch 1717 [Stadtb. Mainz], Sp. 1530, 1787, 1878, 2033 (im Detail begrenzt trotz Berufung der Vorrede u.a. auf Scaliger und Vossius als Quellen der Poetik); Fahsius, Atrium Eruditionis, Goslar: König 1718/19 [HAB Wolfenbüttel], S. 651ff. Weniger konstant ist nur die alte Zuordnung der lyrica zur communis species der Poemata, weil die Diomedische Dreigliederung nach der Redeform, die mit der um 1800 ausgebildeten, einen umfassenden Lyrikbegriff einschließenden Gattungstrias keineswegs identisch ist, insgesamt in der Poetik der Frühen Neuzeit nicht gleichmäßig tradiert wird, auch wenn sie an der Vorgeschichte und Ausbildung der Gattungstrias - auf eine allerdings komplizierte und bisher nicht ausreichend aufgehellte Weise - Anteil hat. Das macht auch begreiflich, daß das Verständnis des Wortes „lyricus/lyrisch" so lange vor allem geprägt bleibt durch die Vorstellung von Sangbarkeit und strophischer Gliederung und daß dieses Wort damit einen engeren, aber auch präziseren (und von anderen Gedichtarten prägnant abgrenzenden) Sinn hat, als spätere Zeiten ihm gegeben haben, und es wird auch durch diese Bekräftigung der frühneuzeitlichen Bedeutung des Wortes verständlich, daß Ode und Lied bis weit ins 18. Jahrhundert nicht nur der Sache nach als Hauptform des lyrischen Gedichts identifiziert, sondern auch sprachlich völlig gleichgesetzt werden, wie es Nachschlagewerke des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zeigen, die auf die Erläuterung lateinischer und deutscher Terminologie zugleich bedacht sind (vgl. die Belege in Anm. 64).

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manistischen Pindar- und Horazkommentaren zunächst, mit ihnen zusammen sodann seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von der humanistischen Poetik zu einer ausgearbeiteten und lange wirksamen Lyriktheorie erweitert worden ist. Das wird innerhalb der Enzyklopädik im frühen 17. Jahrhundert besonders gut greifbar bei Johann Heinrich Alsted, der auch bei Behandlung der Poetik seinen Rang als umsichtig-systematischer Universalgelehrter erweist. Im Liber decimus, exhibens poeticam seiner Encyclopaedia von 1630 führt Alsted in der Sectio I, cap. XII. De poemate über das Carmen lyricum (so die Bezeichnung in den Marginalien) unter der Überschrift VII. De carmine melico sunt hi canones aus: 1. Hoc poema gaudet vocum sonorumque concentu. Dicitur lyricum; quia olim ad lyrae cantum applicabatur, vel etiam ad chelyn. Alias appellatur öde, melos, & idyllion, quod est diminutivum ab , quöd haec poemata essent quasi rerum species quaedam. 2. Ex monocolis gaudet maxime iambico, trochaico, & choriambico: ex polycolis omnia admittit, praeter elegiacum. 3. Lyricum carmen requirit verba selecta, & iucundam numerorum varietatem, & cum animi libertate frequentiam sententiarü, & elegantem brevitatem. 4. Ejus materia est multiplex: videl. amores, laudes, jurgia, insectationes, hilaritates, convivia, objurgationes, vota, desideria, exhortationes, querelas, res gesta;, invitationes, dehortationes, & similia multa. 5. Summa ipsius genera sunt quatuor. Primö est ode didascalica: quo pertinent descriptiones rerum; adhortationes, dehortationes, & res similes. Deinde est epinicion, öde quae victori canitur. Tertiö est hymnus, qui Deo dicitur. Quarto est paean, quo ethnici gratulabantur diis pro victoria in praliis.28 Dem belesenen Gelehrten ist es hier gelungen, in knapper Fassung der Einzelheiten und straff geordneter Form der Darlegung die im Lauf des 16. Jahrhunderts entwickelte Theorie der Lyrica oder Odae zusammenfassend - und nicht ohne Andeutung gelehrten erklärenden Details - wiederzugeben. Kaum eine der wesentlichen Bestimmungen, die nicht ausdrücklich genannt, keine eigentlich, die nicht wenigstens indirekt berührt würde.29 Dabei lassen viele der Formulierungen die Hauptquelle für den Abschnitt über die carmina lyrica erkennen: es ist Julius Caesar Scaligers groß angelegtes Werk Poetices libri septem, auf das offenkundig die Mehrzahl der von Alsted angeführten Bestimmungen unmittelbar zurückgeht.30 28 29

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Alsted, Encyclopaedia, Bd. l, S. 525. Letzteres gilt für die Digressionen und die auch anderswo ohnehin erst nach und nach ausdrücklicher als Merkmal der poesis lyrica genannte besondere Beziehung der Ode zum furor poeticus, auf welche die Hinweise auf den Stil, die numerorum varietas und die animi libertas mittelbar doch mit hindeuten. Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem, Lyon: Vincentius 1561, Faksimile-Neudruck, hrsg. v. August Bück, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964; vgl. insbesondere S. 47-49 (Lib. I, cap. XLIIII, Lyrica) und S. 169 (Lib. Ill, cap. CXXIIII, Lyrica). Scaliger, der in

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Alsted steht damit, wie ein Blick in andere enzyklopädische Werke des 17. Jahrhunderts zeigt, keineswegs allein. Antonio Zara war ihm in seiner Anatomia Ingeniorum et Scientiarum3* vorausgegangen, wenn auch mit knapperen Ausführungen, deren Aufzählung von Gegenständen des carmen lyricum dem Katalog bei Scaliger folgt. Aus dem ersten Kapitel Scaligers über die Lyrica (Lib. I, S. 47f.) zitiert Laurentius Beyerlinck in seinem Magnum Theatrum vitae humanae32 - beginnend mit der auch anderswo oft angeführten Feststellung „Proxima Heroicae maiestati Lyrica nobilitas" - mit einigen Umstellungen und Auslassungen lange Passagen, an deren Ende Scaliger als Quelle eigens genannt wird. Im Lexicon universale33 von Johann Jacob Hofmann wird in den Artikeln „Lyra" sowie „Melos" und in einem eigenen Artikel „Ode" dieselbe Formulierung Scaligers als Hauptbestimmung neben Momenten wie der im Namen dieser Gedichte angezeigten Sangbarkeit, der Vielfalt der Gegenstände und der Gliederung der pindarischen Ode angeführt. Überall nehmen im 17. Jahrhundert die enzyklopädischen Werke seit Zara und Alsted entscheidende neuere Momente der Lyriktheorie auf, die zu einem Teil von der erst im Lauf des 16. Jahrhunderts sich entwickelnden Pindar-Rezeption geprägt sind: die Betonung des hohen Stils vor allem, die deutlichere Benennung der mannigfachen Gegenstände und deren Gliederung in Anlehnung an Horaz, die Kürze oder eine genauere Bestimmung der

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Alsteds Enzyklopädie z. B. auch für den Abschnitt De poemate dramatico eine der Quellen ist, wird in Alsteds zehn Jahre früher erschienener erster Enzyklopädie (Alsted, Cursus Philosophic! Encyclopaedia, Herborn: Corvinus 1620 [HAB Wolfenbüttel], Bd. 3: Septem artes liberales) im entsprechenden Abschnitt (Lib. XXVI, Poetica, p. I, cap. VIII, De inventione poematicä, IV. Carmen lyricum), der eine weniger vollständige Vorform des Textes von 1630 ist, an einer Stelle (Sp. 725) ausdrücklich als Gewährsmann angeführt. Zara, Anatomia Ingeniorum, Venedig: Typographia Ambrosii Dei & Fratrum 1615 [HAB Wolfenbüttel], S. 195. Auch hier steht der Abschnitt über die Tragödie ebenfalls in Beziehung zu Scaliger. Beyerlinck, Magnum Theatrum, Köln: Hieratus 1631 [Stadtb. Mainz], Bd. 6, S. 473f., innerhalb des Abschnitts Melopoei in Genere. Lyrici, Melici im Kapitel Poeta (S. 462500). Im ersten Teil des Kapitels empfiehlt Beyerlinck unter den „Poeticae Magistri, Praeceptores, Doctores" Scaliger eindringlich mit den Worten: „Jul. Caesar Scaliger Poetica arte libris septe elegantissime & eruditissime complexus, praecepta optimorum scriptorum exemplis sie illustrauit, vt nihil in hoc genere perfectius vel a veteribus vel ä recentioribus elaboratum videatur. Cuius scripta ab omnibus Poeticae studiosis diligenter legenda censeo, nostro praesertim seculo" (S. 465). - In Zwingers Theatrum vitae humanae, das eine vielfach wörtlich benutzte Quelle Beyerlincks ist, fehlen die Berufungen auf Scaliger noch. Hofmann, Lexicon universale ("1677-83), 1698, Bd. 2, S. 898; Bd. 3, S. 123 und S. 416; die einschlägigen Artikel des Lexicon universale auch noch in den anonymen späteren Bearbeitungen: [Johann Jacob Hofmann], Lexicon universale, Köln: Moretus 1720 [Stadtb. Mainz] und Leiden: Moretus 1726 [Stadtb. Mainz]. - Im Artikel über Scaliger (Bd. 4, S. 85) heißt es von diesem: „... Scripsit Poeticam, opus admirandum" (so auch schon 1677, Bd. 2, S. 318).

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metrischen Vielfalt. Die noch immer vorwiegend lateinisch geschriebenen Werke, welche die Inhalte der gelehrten Bildung der Zeit zusammenfassen, führen damit zugleich vor Augen, welche Vorstellungen von den Lyrica und Oden auch für die sich in diesem Zeitraum entwickelnde deutschsprachige Barockpoetik und für die Verfasser deutscher Gedichte verpflichtend sein mußten. Wenn das in so auffälliger Weise im Zeichen Scaligers geschieht,34 wenn dabei bestimmte Formulierungen Scaligers bemerkenswert lange präsent bleiben, dann bekräftigen die Enzyklopädien die ungewöhnliche Wirkung, die unter allen humanistischen Poetiken diejenige Scaligers35 - und später neben ihr auch die ähnlich gelehrte und ergiebige des Gerhard Johan34

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Die Wendung Scaligers von der „Proxima Heroicae maiestati Lyrica nobilitas" führt Daniel Georg Morhof, der sie auch im Oden-Kapitel in seinem Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (hrsg. v. Henning Boetius, Bad Homburg v.d.H. u.a. 1969, S. 339) zitiert, in seinem Polyhistor (Bd. l, S. 1067) bei Behandlung der antiken und neueren lateinischen Odendichter an. - Weitere Beispiele für die Berufung auf Scaliger bei der Behandlung von Spielarten der lyrica u.a. Hofmann, Lexicon universale, 1698, Bd. 2, S. 86f. s.v. Dithyrambus; Bd. 2, S. 559f. s.v. Hymnus; Lloyd, Dictionarium historicum, geographicum, poeticum ('1670, Bearbeitung des 1553 zuerst erschienenen Dictionarium von Estienne, vgl. Anm. 23), Genf: de Tournes 1693 [Bischöfl. Priesterseminar Mainz], S. 412 s.v. Dithyrambus, mit gleichzeitiger Anführung einer einschlägigen Abhandlung in der bis ins 18. Jahrhundert maßgeblichen und einflußreichen Pindar-Ausgabe von Erasmus Schmid (1616); Moreri, Grand Dictionaire ( 674), Amsterdam/Den Haag: Aux Depens de la Compagnie 1702 [ÜB Mainz], Bd. II, S. 362 s.v. Dithyrambe; Buddeus, Allgemeines Historisches Lexicon (11709), Leipzig: Fritsch 21722 [Stadtb. Mainz], Bd. 2, S. 57 s.v. Dithyrambus. Hinweise auf Scaliger in Artikeln zu einzelnen Gedichtarten reichen im übrigen noch tief ins 18. Jahrhundert hinein, so u.a. bei Zedler, Universal Lexicon, Bd. 25, 1740 [ÜB Mainz], Sp. 447 s.v. Ode; Supplement ä l'Encyclopedie, Bd. 4, Amsterdam: Rey 1777 [ÜB Mainz], S. 92 s.v. Ode; Dictionnaire de Trevoux, Bd. 2, Sp. 1615 s.v. Elegie. Demgemäß wird in den Enzyklopädien bis weit ins 18. Jahrhundert hinein (vgl. auch die in Anm. 33 genannten späteren Bearbeitungen von Hofmanns Lexicon universale) Scaliger auch in den Artikeln zu Stichworten wie Poesie, Poetik und dergleichen immer wieder als einer der Hauptgewährsleute genannt: vgl. u. a. Richelet, Dictionnaire Fran9015, Bd. 2, S. 180 s.v. Poesie, S. 181 s.v. Poetique; ebenso noch: Pierre Richelet, Nouveau Dictionaire Fra^ois, Genf: de Tournes u.a. 1710 [Stadtb. Mainz], Bd. 2, S. 183; Furetiere, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 3, Bl. Q3r s.v. Poetique; Jablonski, Allgemeines Lexicon, Leipzig: Fritsch 1721 [HAB Wolfenbüttel], S. 559 s.v. Poesie (z.T. nach Hofmann, Lexicon universale, Bd. 3, S. 807f.); ebenso noch in der von Johann Joachim Schwabe bearbeiteten Ausgabe Königsberg/Leipzig: Zeissen/Hartung 1767 (Sammlung Jantz, Film Nr. 285), S. 1076 s.v. Poesie (der Artikel hier erweitert, z.T. in Übereinstimmung mit demjenigen in Gottsched, Handlexicon, Neudr. 1970, Sp. 1315; hier ist in der Vorrede, Bl. *5r, Jablonski seinerseits als einer der Vorläufer genannt); Walch, Philosophisches Lexicon, Neudr. 1968, Bd. 2, Sp. 456, 458 s.v. Poesie (bis auf wenige, als solche gekennzeichnete Zusätze identisch mit dem Text der ersten beiden Auflagen von 1726 [StB Berlin] und 1733 [StB Berlin]); Zedler, Universal Lexicon, Bd. 28, 1741 [ÜB Mainz], Sp. 978, 980 s.v. Poesie (in erheblichem Umfang nach Walch). Hederichs Reales Schul-Lexicon führt in der Vorrede (B1.)(2V) Scaliger unter seinen Quellen für das Gebiet der Poetik an. Auch noch in den vielfach mit gründlicher Gelehrsamkeit gearbeiteten Konversationslexika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Scaliger - nunmehr

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nes Vossius36 - gehabt, die prägende Kraft, die gerade durch sie die humanistische Dichtungslehre gewonnen hat, an deren Tradierung gelehrte Enzyklopädien bis ins 18. Jahrhundert hinein beträchtlichen Anteil haben. Unter ihnen ist das Lexicon universale Hofmanns dadurch besonders aufschlußreich, daß es Scaligers Formel von der „proxima heroicae maiestati lyrica nobilitas" gleich an mehreren Stellen anführt. Es bezeugt damit nicht nur eindrücklich das Gewicht gerade dieser Vorstellung vom erhabenen Charakter der Lyrica und die besondere Rolle gerade Scaligers für deren Verbreitung, sondern ist auch Indiz einer terminologischen und sachlichen Veränderung, die sich im Zuge einer Wandlung der Enzyklopädie wie der Entwicklung der Lyriktheorie nach und nach vollzieht. Wer bis dahin im Rahmen systematisch angelegter enzyklopädischer Werke - und so sind sie, von den alphabetischen Lexika historischer, biblischer, mythologischer, geographischer Namen abgesehen,37 bis zum späteren 17. Jahrhundert fast alle gestaltet - die betreffenden Gedichte behandelte, tat dies - in Übereinstimmung mit der humanistischen Poetik38 - gemäß der vom Instrument Lyra schon zunehmend aus historischer Perspektive - neben anderen Autoren des 16. bis frühen 19. Jahrhunderts im Artikel „Poetik" erwähnt: vgl. u.a. Conversations-Lexicon, Bd. 5, 1819 [ÜB Mainz], S. 664; Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. 7, 61824 [ÜB Mainz], S. 649; ebda., Bd. 8, 71830 [ÜB Mainz], S. 632; ebda., Bd. 8, 81835 [ÜB Mainz], S. 641; Rheinisches Conversations-Lexicon, Köln: Bruere, Bd. 9, 41843 [ÜB Mainz], S. 941. Mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bricht diese späte, letzte Phase einer langen gelehrten Tradition und damit der Wirkungsgeschichte Scaligers ab. 36 Auf Gerhard Johannes Vossius, Poeticarum Institutionum Libri tres (Amsterdam: Elzevier 1647 [ÜB Köln]) beruft sich u.a. noch d'Alemberts und Diderots Encyclopedic in den Artikeln über Dithyrambus und Elegie (Bd. 4, 1754 [ÜB Mainz], S. 1066, hier zugleich Erwähnung der oben in Anm. 34 genannten Pindar-Ausgabe von E. Schmid; Bd. 5, 1755 [ÜB Mainz], S. 484), ebenso der Artikel „Lyricum Carmen" im illegitimen Bd. 18 von Zedlers Universal Lexicon (Hof: Schultze 1738 [Stadtb. Mainz], Sp. 2569). In den Artikeln über Poesie und Poetik figuriert neben Scaliger fast stets auch Vossius als einer der maßgeblichen Autoren (vgl. dazu alle zu Scaliger zusammengestellten Belege in Anm. 35 mit Ausnahme von Walch und Zedler; s. auch die Berufung auf die Schrift De artis poeticae natura ac constitutione, 1647, des Vossius bei Hofmann, Lexicon universale, Bd. 3, S. 807f. s.v. Poesis), bis auch für ihn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Tradition abbricht. 37 Vgl. z.B. die weitgehend auf Personalartikel beschränkten und deshalb alphabetisch angelegten Werke von Torrentinus (vgl. oben Anm. 23); Gesner, Bibliotheca Vniversalis; Estienne, Dictionarium; Lloyd, Dictionarium oder Moreri, Grand Dictionaire. Alphabetisch angelegt sind begreiflicherweise auch Werke wie das Vocabolario ... della Crusca (1612; vgl. oben Anm. 6), das vorwiegend sprachliche Auskunft geben will, oder Goclenius, Lexicon Philosophicum, das einen speziellen Bestand fachlicher Termini zusammenstellt. 38 In der lateinischen Poetik bleiben bis hin zu Vossius (1647) und Masen (1654ff.) lyrica und daneben auch melica die maßgeblichen Bezeichnungen. Vereinzelt stehen mit der Kapitelüberschrift „De Ode" Konrad Bachmann und Christoph Helwig da (Poetica, Gießen: Hampelius 31623 [HAB Wolfenbüttel], S. 324), deren Werk Alsted, Encyclopaedia, Bd. l, S. 109, neben einigen anderen Anleitungen zur Poesie nennt.

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abgeleiteten Sangbarkeit als altüberliefertem Hauptmerkmal dieser Gedichte im allgemeinen unter dem Namen der lyrica, der lyrica poesis, des carmen lyricum und gelegentlich auch unter dem entsprechenden eines carmen melicum, wobei dann auch der erst im Humanismus dafür üblich werdende Begriff Ode, als Synonym oder auch als Unterart, ergänzend genannt und erläutert wird. So geschieht es beispielweise bei Alsted in Entsprechung zu Scaliger.39 Hofmann hingegen, der als einer der ersten in einem mehrbändigen Werk einen ausgedehnten Wissensstoff in zahllose, alphabetisch geordnete Einzelartikel zerlegt darbieten will,40 sieht sich beim Stand der Theorie veranlaßt, jedem der einschlägigen Begriffe - und dazu weiteren Arten der Lyrica wie Hymnus, Dithyrambus und dergleichen, die wie auch bestimmte Arten der Kasualdichtung z.T. eine eigene, weiter zurückreichende Tradition der Behandlung im enzyklopädischen Schrifttum haben, hier aber nicht eigens im einzelnen verfolgt werden können - eigene Artikel zu geben41 und darin Scaligers Wendung von der „proxima heroicae maiestati nobilitas" als ein nun offenkundig besonders zentrales Merkmal dieser Gedichte jeweils erneut anzuführen. Die Zuordnung des Begriffs „öde" zu den beiden anderen Begriffen, „lyrica poesis" und „melos", bleibt zwar wie 39

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Scaliger, Poetices libri septem, Lib. I, cap. 44, S. 47: „... ita haec Ode, & ,& ... Odas quoque ä canendo titulum suorum librorum fecit Horatius. Grammatici Pindaricas inscripsere cantiones, . alii vero maluerunt . vnde diminutiuum Idyllion ...". Zu Alsted s. die oben im Text zitierte Stelle. Vgl. u.a. auch Beyerlinck, Magnum Theatrum, Bd. 6, S. 473, wo innerhalb des umfangreichen Scaliger-Zitats auch die oben angeführten Sätze enthalten sind; Zara, Anatomia Ingeniorum, S. 195, wo auf den auf Scaliger beruhenden Katalog der Gegenstände der lyrica der Satz folgt: „Odas etiam ä cantu nomen traxere" und dann auch Hymni, Dithyrambi usw. genannt werden; Pexenfelder, Apparatus Eruditionis, 31687, S. 288, wo es im Kap. 53 Poetica seu Schola Humanitatis heißt: „Ab instrumentis indigitantur: Lyricum ä lyra, quae Hymnis & Odis ... adhiberi consuevit". Beyerlinck beispielsweise, Hofmann um einige Jahrzehnte vorausgehend, ordnet in seinem vielbändigen Magnum Theatrum den Stoff zwar alphabetisch, doch in umfangreichen, als Teile eines umfassenden Systems gedachten Artikeln. So wird etwa unter dem Stichwort „Poeta" auf fast vierzig Seiten die gesamte Behandlung der Poetik zusammengefaßt. Ein frühes, aber zu seiner Zeit wohl vereinzeltes Beispiel kleinteiliger alphabetischer Ordnung eines weit ausgreifenden Wissensbestandes ist - rund ein Jahrhundert vor Hofmann - Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, 1587 (Vorrede datiert 1571), der sich, bewährt offenkundig als ein nützliches Hilfsmittel für Lehrer und Schüler, u. a. in der Bearbeitung durch August Buchner bis mindestens ins späte 17. Jahrhundert im Gebrauch erhalten hat (vgl. die Ausgaben 1680 und Leipzig: Gleditsch 1692 [ÜB Mainz]). Das einbändige Werk enthält von Beginn an u. a. zahlreiche Artikel zu den für das carmen lyricum einschlägigen Begriffen und Musterautoren. An Einläßlichkeit und gelehrter Ergiebigkeit aber kann es sich mit Hofmanns Lexicon universale nicht messen. Die Artikel „Lyra" (als Musikinstrument; mit den Ausführungen zur lyrica poesis), „Melos" und „Ode" finden sich erstmals in der 1683 erschienenen Continuatio (Bd. l, S. 1062; Bd. 2, S. 56 und 277) zur Erstausgabe von 1677, in der auch manche anderen Stichworte aus dem Bereich der Poetik noch fehlen.

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berhaupt das Verh ltnis aller drei zueinander unscharf und schwankend,42 und mit den nicht durchaus systematisch auf sie verteilten Einzelheiten stellen diese Artikel erst zusammen eine Summe der von Hofmanns Lexikon vermittelten zeitgen ssischen Vorstellungen von der lyrica poesis dar. Aber indem das Werk dem Begriff „ de" einen eigenen Artikel zuteilt43 und darin unter anderem das Wort als „titulus librorum Horatii" bezeichnet und dann vor allem das triadische Schema der pindarischen Ode - in Ankn pfung an eine ltere Tradition seiner metrischen Erkl rung und genetischen Herleitung - erl utert, gibt es das wachsende Eigengewicht des Terminus und seine besondere Offenheit f r eine Poesie hohen Stils zu erkennen. Das mehr oder weniger gleichberechtigte Nebeneinander der Begriffe „lyricum/carmen lyricum" und „ de" im Stichwortbestand der Enzyklop dien l t sich noch f r l ngere Zeit nach Hofmann in manchen Werken beobachten, in welchen die Ode zwar als eigenes Stichwort auftaucht, aber doch nur als Synonym oder Unterart des carmen lyricum behandelt44 und nicht st rker hervorgehoben wird, w hrend wesentliche Bestimmungen wie etwa die Mischung von Versarten oder Hinweise zum Stil nur beim anderen Stichwort45 oder bei beiden zugleich geboten werden.46 Daneben aber mehren sich seit 42

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Vgl. Bd. 2, S. 898 s.v. Lyra: „Hinc Lyrica poesis, cui proxima Heroicae Majestati nobilitas: Ode, & μέλος & μολπή dicta. Neque enim ea sine cantu atque Lyra pronuntiabant, unde & Lyricorum appellatio orta, quorum genera multa"; Bd. 3, S. 123 s.v. Melos: „Cum autem lyricorum genera multa sint, Melos sive Ode κατ' εξοχήν dicitur, quibus curas amatorias decantant... Alia genera in laudibus Heroum, locorum laudationibus ... Vide plura hanc in rem apud Scaligerum ... ubi nobilissima Carmina Hymnos & Paeanes esse dicens, secund loco collocat Mela & Odas & Scolia, qua? in virorum fortium laudibus versabuntur; tertio loco Epica ponit, &c."; S. 416 s.v. Ode: „Ode: Graece Ωδή, titulus librorum Horatii, cui canendo nomen. Scaliger Poetices 1. I. c. 44. Proxima heroicae majestati Lyrica nobilitas ...". Dies ist - neben dem knappen Artikel bei Richelet (1679/80) - eines der fr hesten Beispiele eines gesonderten Artikels zum Stichwort „Ode", das dann nach und nach f r l ngere Zeit zur Hauptstelle der Lyriktheorie im Zuge ihrer weiteren Entwicklung wird. Den Artikeln bei Hofmann und Richelet geht - von der ganz knappen Worterl uterung bei Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, 1587 (s. oben im Text bei Anm. 24), abgesehen - zumindest der Artikel bei Micraelius, Lexicon Philosophicum (Neudr. 1966, S. 919) voraus, der seinerseits eine Kurzfassung von Alsteds canon l und 5 bietet. Vgl. Hederich, Reales Schul-Lexicon, Sp. 1787: „Lyricum Carmen, ist ein Gedicht, wie es vor Zeiten in die Leyer mit abgesungen wurde, meist aus vermischten kurtzen Versen best nde, und sonst auch Carmen melicum, item mit einem Worte, ob wohl mit einigem Unterscheide, Oda, Melos und Είδος genannt wird"; Sp. 2033: „Oda ist in der Poesie ein Gedicht, so aus Lyrischen Versen bestehet, und ehemahls in ein Instrument, als Leyer ... u.d.g. pflegete gesungen zu werden. Wie es denn auch den Nahmen von άείδω, cano, hat, als von welchem erstlich Άοιδή, und aus diesem per contractionem φδή, gemacht wird, welches Lateinisch mithin eigentlich ein Carmen, Teutsch aber ein Lied heisset". Vgl. das erste Zitat aus Hederich in Anm. 44. So z.B. bei Chambers, Cyclopaedia (!1728), London: Mitwinter u.a. 1741ff. [HAB Wolfenb ttel], der in manchen anderen Formulierungen Vorg ngern wie Furetiere oder

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dem späteren 17. Jahrhundert diejenigen enzyklopädischen Werke, die unter dem Stichwort „lyricum/lyrisch/lyrique" zwar weiterhin den althergebrachen, etymologisch fundierten Hinweis auf die Sangbarkeit solcher Dichtung geben, auch zum Teil noch an dieser Stelle das ebenfalls althergebrachte Merkmal der metrischen Vielfalt nennen, vielfach aber selbst dieses, vor allem aber wesentliche andere Bestimmungen nur beim Stichwort „Ode", auf das von jenem anderen her als auf die Haupterscheinungsform des carmen lyricum zum Teil nun ausdrücklich verwiesen wird, abhandeln und dabei jetzt stets vor anderem die bevorzugte Verwendung der Ode für panegyrische Dichtung oder insbesondere ihre enge Beziehung zum hohen Stil hervorkehren. Das gilt schon für die knapperen Erläuterungen bei Pierre Richelet (1679/80), der für „les anciens" zwar die Vielfalt der Gegenstände nach der ars poetica des Horaz anführt, aber zugleich feststellt: „parmis nous, l'ode embrasse rarement le vin & l'amour. Elle n'est le plus-souvent qu'un panegirique" (Bd. 2, S. 83), wie Jahrzehnte später für die großen Enzyklopädien von Zedler und d'Alembert/Diderot.47 Zedlers Universal Lexicon beschränkt sich unter dem Stichwort „Lyricum carmen" (Bd. 18, 1738, Sp. 1547) auf die knappe Erklärung, die zwei Jahr-

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dem Dictionnaire de Trevoux verpflichtet ist: Bd. 2, Bl. 5Eee2v s.v. Lyric: „The characteristic of lyric poetry, which distinguishes it from all others, is sweetness ... in the lyric, the poet applies himself wholly to sooth the minds of men, by the sweetness and variety of the verse, and the delicacy of the words, and thoughts; the agreeableness of the numbers, and the description of things most pleasing in their own nature"; Bl. 7L1V s.v. Ode: „The distinguishing character of the ode is sweetness: The poet is to sooth the minds of this readers by the variety of the verse, and the delicacy of the words, the beauty of numbers, and the description of things most deligthful in themselves". Vgl. auch u.a. Furetiere, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 2, Bl. Eee3r (Lyrique), Bl. Hhhh3v (Ode); Le Dictionnaire de 1'Academie Fran9oise, Paris: Coignard 1694 [HAB Wolfenbüttel], Bd. l, S. 672 (Lyrique); Bd. 2 S. 139 (Ode): „Sorte de poeme lyrique divise par strophes ou stances de mesme mesure, & dont ordinairement le stile doit estre noble & esleve"; Dictionnaire de Trevoux, Bd. 4, Sp. 434 (Lyrique), Sp. 1337f. (Ode): „... L'Ode demande beaucoup de noblesse & de grandeur"; Jablonski, Allgemeines Lexicon, 1721 (ohne ein Stichwort „lyricum" oder dergleichen), S. 510 (Ode): „... Sie werden gemeiniglich zu lobgesängen gebraucht, und wollen mit hohen Worten und scharffsinnigen gedancken ausgearbeitet seyn" (mit anschließender Verweisung auf Furetiere); in der Auflage von 1767 ist der Artikel (S. 979) ausführlicher (z.T. - jedoch nicht beim folgenden Zitat - in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Gottscheds Handlexicon (vgl. Anm. 35); so auch bei dem nun bei Jablonski vorhandenen Artikel „Lyrisches Gedicht") und entspricht der inzwischen geschehenen weiteren Entfaltung der Odentheorie mit Sätzen wie: „Es gehöret aber zu deren Verfertigung eine eigene Begeisterung, die den von seiner Materie ganz eingenommenen Dichter dahin reißt, ihn auf eine unerwartete und zuweilen ganz fremde und besondere Art anfangen läßt, und auf Gedancken führet, deren Entstehung und Verbindung man nicht gleich auf den ersten Anblick einsieht, ihm auch solche Ausdrückungen und Redensarten eingiebt, welche Feuer, Kühnheit, ja Verwegenheit entdecken".

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zehnte zuvor Hederichs Reales Schul-Lexicon enthalten hatte,48 während es zwei Jahre später in Bd. 25 (Sp. 446-454) einen umfangreichen Artikel „Ode" bietet, der zunächst an die ursprüngliche, von den „hohen Worten und scharfsinnigen gedancken" in der Ode geprägte Definition bei Jablonski49 anknüpft, dann - unter Berufung auf Scaliger, J. A. Fabricius, Dacier, Rapin und andere - einen historischen Überblick über die Odendichtung der verschiedenen Völker von den Psalmen bis ins frühe 18. Jahrhundert gibt und schließlich aus der 2. Ausgabe von Gottscheds Critischer Dichtkunst (1737) mit dem ausdrücklichen Bemerken, dieser habe „noch zur Zeit die beste Nachricht von der Beschaffenheit der Oden der Welt mitgetheilet ... und also besonders in der Theorie seine Meriten" (Sp. 449) - einen großen Teil des Kapitels Von Oden, oder Liedern wiedergibt (Sp. 449-454), endend mit Sätzen Gottscheds, die noch einmal den eigentümlichen Charakter der Ode als einer Dichtung hohen Stils betonen.50 Der Artikel „Lyrique" im 9. Band (1765) von d'Alemberts und Diderots Encyclopedic, der in einzelnen Formulierungen an Furetiere bzw. Chambers anknüpft, ist etwas umfangreicher als der bei Zedler und betont als Merkmal vor allem: „dans le lyrique, le poete doit principalement s'appliquer ä etonner l'esprit par le sublime des choses ou par celui des sentimens, ou ä le flatter par la douceur & la variete des images, par l'harmonie des vers, par des descriptions & d'autres figures fleuries, ou vives & vehementes ..." (S. 780). Ungleich eingehender aber handelt von seinem Gegenstand auch in der Encyclopedic der Artikel „Ode" (Bd. 11, 1765, S. 344-347), der zuerst im Anschluß an das Dictionnaire de Trevoux die Bedeutung des Begriffs in der Antike und in der französischen Dichtung der Neuzeit erläutert51 und dann - unter Berufung auf Boileau und Batteux 48 49 50

51

Vgl. das Zitat in Anm. 44. Zum Teil zitiert oben in Anm. 47. Zedler, Universal Lexicon, Bd. 25, Sp. 454: „Aus allen den angeführten Oden aber wird man wahrnehmen, daß darinnen durchgehende eine grössere Lebhafftigkeit und Munterkeit als in ändern Gedichten herrschet. Dieses unterscheidet denn die Ode von der gemeinen Schreibart. Sie machet nicht viel Umschweiffe mit Verbindungs-Wörtern oder ändern weitläufftigen Formuln. Sie fängt jede Strophe so zu reden mit einem Sprunge an. Sie wagt neue Ausdrückungen und Redensarten; sie versetzt in ihrer Hitze zuweilen die Ordnung der Wörter: Kurtz, alles schmeckt nach einer Begeisterung der Musen". Zur ganzen von Zedler zitierten Passage vgl. Gottsched, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Joachim u. Brigitte Birke, Bd. VI/2, Versuch einer Critischen Dichtkunst: Anderer, besonderer Theil, Berlin/New York 1973, S. 4-19 (Text der 3. Ausgabe von 1742) und die Lesarten der 2. Ausgabe in Bd. VI/3, 1973, S. 79-82. Wieweit das umfangreiche Gottsched-Exzerpt zur Ode ein Indiz für die wohl noch immer ungeklärte Frage einer unmittelbaren Beteiligung Gottscheds an Zedlers Lexikon ist (vgl. Kossmann, Deutsche Universallexika, Sp. 1570; Quedenbaum, Zedler, S. 59f.), muß dahingestellt bleiben. d'Alembert/Diderot, Encyclopedic, Bd. 11, S. 344: „Dans la poesie greque & latine, l'ode est une piece de vers qui se chantoit, & dont la lyre accompagnoit la voix. Le mot ode signifie chant, chanson, hymne, cantique. Dans la poesie frangoise, l'ode est un

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und im Anschluß an sie - ausführlich vor allem „l'enthousiasme, le sublime lyrique, la hardiesse des debuts, les ecarts, les digressions, enfin le desordre poetique" als Merkmale der Ode einzeln erörtert und diese Darlegung wesentlicher Teile der zeitgenössischen Odentheorie mit historischen und kritischen Hinweisen ergänzt. Das Nebeneinander der Begriffe „lyricus/lyrique/lyrisch" und „Ode" wie die Verschiebungen im Verhältnis zwischen ihnen, das wachsende Eigengewicht des Begriffs „Ode" in den Enzyklopädien und seine zunehmend ins Detail gehende Behandlung belegen gleichermaßen, mit welcher Selbstverständlichkeit bis tief ins 18. Jahrhundert hinein der Begriff „lyrisch" Bezeichnung allein für sangbare strophische Dichtung bleibt, wie man sie in der Ode verkörpert sieht. Wenn dabei aber die Ode nun nicht mehr bloß beiläufig angeführtes Synonym ist, sondern - durch an Umfang wachsende Artikel hervorgehoben - so sehr zum Inbegriff lyrischer Dichtung wird, daß viele Einzelbestimmungen von deren Theorie nur unter dem Stichwort „Ode" behandelt werden, vielfach vom Artikel „lyricus/lyrique/lyrisch" ausdrücklich auf jenen verwiesen wird und dieser für einige Zeit eher von untergeordneter Bedeutung ist, bevor der Begriff seit dem späteren 18. Jahrhundert dann in einem sich wandelnden Gattungssystem eine erweiterte und damit veränderte Bedeutung erhält (die er nicht zuletzt erst durch die vorausgegangene Verselbständigung des Begriffs „Ode" erhalten kann), so hängt dies freilich auch aufs engste damit zusammen, daß der Begriff der Ode seinerseits jetzt wie aus der Poetikliteratur und dann auch aus entsprechenden Spezialschriften näher zu belegen wäre - weiter entfaltet und genauer bestimmt wird und sein vermehrtes eigenständiges Gepräge insbesondere durch die bevorzugte oder auch fast ausschließliche Bestimmung als Dichtung hohen Stils gewinnt. Vorbereitet war dies - wie die immer wieder begegnende Berufung auf Scaliger in den Enzyklopädien vor Augen führt - durch die humanistische und barocke Poetik und durch die von ihr zunehmend aufgenommenen Ergebnisse der im frühen 16. Jahrhundert einsetzenden Pindar-Rezeption. Verstärkt wird die auf diesem Fundament sich vollziehende weitere Entfaltung des Begriffs der Ode als hoher Dichtung seit dem späten 17. Jahrhundert durch Impulse, die vor allem von der allmählich einsetzenden Ps.LonginRezeption und der damit verbundenen Erweiterung der Vorstellungen vom Erhabenen und vom dichterischen Enthusiasmus ausgehen. Kennzeichnendes Indiz dieses Vorgangs ist es, daß man - in Artikeln zur Ode, aber auch zu damit verwandten Stich Wörtern - nun immer wieder den Vers „Chez eile poeme lyrique, compose d'un nombre egal de rimes plates ou croisees, & qui se distingue par strophes qui doivent etre egales entr'elles ..."

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un beau desordre est un effet de l'art" auch in den Enzyklopädien zitiert findet,52 in welchem die Behandlung der Ode im Art poetique (1674) Boileaus, des französischen Ps.Longin-Übersetzers, gipfelt.53 Boileau, der in den Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts in wachsendem Grade neben Scaliger und immer mehr an seiner Stelle als maßgebliche Autorität in Fragen der Poetik hervortritt,54 hat mit jenem Vers - das ist einer verbreiteten Meinung entgegenzuhalten - nicht etwas ganz Neues formuliert. Die seit den ersten humanistischen Kommentaren beobachteten Digressionen Pindars sind bereits im 16. und 17. Jahrhundert ein zentrales Moment der Pindar-Rezeption und der von ihr beeinflußten Poetik und führen z.B. schon bei Vossius zu entsprechenden Wendungen. Aber Boileau hat mit seinem Vers die Vorstellungen von der erhabenen, durch den poetischen Enthusiasmus getragenen und darum in ihrem Bau eigenwilligen Ode für das 18. Jahrhundert besonders wirkungsvoll formuliert. Mit der bis in die Konversationslexika des frühen 19. Jahrhunderts anhaltenden direkten oder indirekten Berufung gerade auf ihn bestätigt das enzyklopädische Schrifttum aufs eindringlichste die Rolle, die Boileau insbesondere mit dem Vers vom beau desordre der Ode für die weitere Ausprägung von deren Theorie im 18. Jahrhundert gespielt hat. Ergänzt wird das Bild, das die Enzyklopädien von der Entwicklung dieser Theorie bieten, dadurch, daß d'Alemberts und Diderots Encyclopedic und deren Supplement für die einschlägigen Artikel neben und über Boileau hin52

53 54

Vgl. u.a. Dictionnaire de Trevoux, Bd. 4, Sp. 1338 s.v. Ode (zit. zusammen mit den Versen 58-60, 62, 68, 71); Bd. 5, Sp. 231 s.v. Pindare (dieser Artikel noch nicht in der Erstausgabe von 1704); ferner ohne wörtliches Zitat Bd. 4, Sp. 434 s.v. Lyrique, im Blick auf Pindar; Chambers, Cyclopaedia, Bd. 2, Bl. 8Y2r s.v. Pindaric (in englischer Prosaversion); d'Alembert/Diderot, Encyclopedic, Bd. 4, S. 1067 s.v. Dithyrambique; Bd. 11, S. 344 s.v. Ode (im Anschluß an das Dictionnaire de Trevoux, mit der dem Zitat folgenden Feststellung: „C'est M. Boileau qui parle, & qui dans ses beaux vers si dignes de la sublime matiere qu'il traite, donne sur cette espece de podsie des preceptes excellens ..."); Bd. 12, S. 639 s.v. Pindarique; Supplement ä l'Encyclopedie, Bd. 4, S. 88, 90 s.v. Ode (im Rahmen eines aus Marmontel übernommenen Teils des Artikels, vgl. dazu unten bei Anm. 56). Ohne ausdrückliche Erwähnung Boileaus oder seines Verses begegnet die entsprechende Vorstellung vom Bau der Ode u.a. bei Jablonski (vgl. das Zitat aus der Auflage von 1767 in Anm. 47) oder bei Zedler (vgl. das Zitat in Anm. 50, das auf Gottsched zurückgeht, der seinerseits kurz nach der von Zedler benutzten Stelle seiner Critischen Dichtkunst ebenfalls jenen Vers Boileaus zitiert). Das auf Boileaus Vers verweisende deutsche Stichwort „lyrische Unordnung", das auch z.B. die Aesthetik F. Th. Vischers (Bd. 3/II, Stuttgart 1857, S. 1335) noch kennt, wird - mit einiger Reserve - u.a. noch erwähnt in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie, Bd. 8, 81835, S. 31; Rheinisches Conversations-Lexicon, Bd. 9, 41843, S. 318. 11,72 (vgl. Nicolas Boileau, L'Art Poetique, hrsg. v. August Bück, München 1970, S. 67). Vgl. dazu u.a. auch Furetiere, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 3, Bl. Q3r s.v. Poetique; Walch, Philosophisches Lexicon, Bd. 2, Sp. 458 s.v. Poesie; Chambers, Cyclopaedia, Bd. l, Bl. 3Iilr s.v. Elegy; Zedler, Universal Lexicon, Bd. 28, Sp. 980 s.v. Poesie

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aus zwei andere Werke, die für die weitere Entwicklung der Poetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders einflußreich gewesen sind, ausgiebig heranziehen. Der Artikel „Ode" der Encydopedie (Bd. 11, 1765) enthält umfangreiche Auszüge aus dem Cours de Belles-Lettres, ou Principes de la Litterature von Charles Batteux,55 worin - eingehender als in seiner Schrift Les Beaux Arts reduits a un meme Principe (1746) - unter intensiver Benutzung der Begriffe des „enthousiasme" und des „sublime" die bis dahin herausgebildeten Bestimmungen der Ode erörtert werden, um auch im einzelnen für die „Poesie lirique" als „celle qui exprime le sentiment" (S. 8) nachzuweisen, daß sie „est soumise au principe de l'imitation" (S. 1). Auch die Artikel „Poesie lyrique" (Bd. 12, 1765, S. 839) und „Poete lyrique" (S. 845ff.) der Encydopedie bestehen zum größten Teil in Auszügen aus demselben Teil des Werks von Batteux, der zwar mit seiner Fassung des Begriffs der Naturnachahmung sehr rasch vehementen Widerspruch gefunden hat, um die Mitte des 18. Jahrhunderts aber von erheblichem produktiven Einfluß auf die Entwicklung des D ichtungs Verständnisses insgesamt und auf die Diskussion der Oden- und Lyriktheorie insbesondere gewesen ist. Das Supplement a l'Encydopedie (Bd. 4, 1777) ergänzt (S. 94-100) den Artikel „Ode" des Hauptwerks - nach einer fast vollständigen Wiedergabe (S. 88-94) des einschlägigen Kapitels der 1763 erschienenen Poetik Marmontels,56 worin das Bild der Ode ebenfalls stark vom Enthusiasmus bestimmt ist - durch den Artikel über die Ode in J. G. Sulzers erst kurz zuvor (1771-1774) erschienener Allgemeiner Theorie der schönen Künste,51 der bezeugt, wie die im 18. Jahrhundert immer entschiedener vom Enthusiasmus und vom Erhabenen bestimmte Ode für einige Zeit nicht nur Inbegriff lyrischer Dichtung ist, sondern einer immer stärker als Ausdruck wahrer Empfindung verstandenen Dichtung überhaupt, und am Ende bis zur deutschen Odendichtung der Zeit, zu Pyra, Lange, Uz, Ramler und Klopstock führt.58 In dem Maße, in welchem die Enzyklopädien nach und nach den erhabenen Charakter der Ode immer stärker hervorheben, lassen sie zugleich er-

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(in erheblichen Teilen identisch mit dem entsprechenden Artikel bei Walch); d'Alembert/Diderot, Encydopedie, Bd. 5, S. 484 s.v. Elegie; Bd. 12, S. 848 s.v. Poetique. Charles Batteux, Cours de Belles-Lettres, ou Principes de la Litterature (11747-1748), Nouvelle Edition, Bd. 3, Frankfurt: Bassompierre/Berghen 1755 [StB Berlin], S. 1-83: Troisieme Section. Sur la Poesie lirique. Vgl. Jean Fransois Marmontel, Poetique Fran9oise, Bd. 2, Paris: Lesclapart 1763 [HAB Wolfenbüttel], S. 408-453, Chapitre XVI: De l'Ode. Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 3, S. 538-550 im Nachdruck (Hildesheim/New York 1967) der Ausgabe Leipzig 1792, die dem Erstdruck getreu entspricht. Vgl. ferner im Supplement den ebenfalls auf Sulzer beruhenden Artikel „Poeme" (Bd. 4, 1777, S. 422-426), worin z.T. Aspekte der Lyriktheorie behandelt werden. - Auch in

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kennen, daß diese Entfaltung der Odentheorie den Ansatzpunkt für einen Prozeß der Differenzierung in der Lyriktheorie insgesamt bietet, welcher für deren weitere Geschichte im 18. und frühen 19. Jahrhundert ausschlaggebend geworden ist. Das bezeugt sich in zunehmend verbreiteten Bemerkungen über gewisse Unterschiede in der Bedeutung der Begriffe „lyrisch/lyrique/ lyricus" und „Ode" in Antike und Neuzeit und vor allem im Aufkommen des neuen Stichworts „Lied/chanson/song". Beide Momente sind übrigens offenkundig auch verknüpft mit der wachsenden Selbständigkeit einer aus der Übertragung humanistischer Impulse hervorgegangenen Dichtung in den einzelnen Nationalsprachen und mit der sich mehrenden Zahl enzyklopädischer Werke in den Nationalsprachen anstelle der lateinisch verfaßten - ein Vorgang, auf welchen hier nur beiläufig hingewiesen werden kann, ohne daß seine Geschichte und seine Konsequenzen an dieser Stelle im einzelnen verfolgt werden könnten. Anfänglich wird in den frühneuzeitlichen Enzyklopädien, die ebenso wie die speziellen Werke zur Poetik zunächst nur die antiken Muster vor Augen haben, die geläufige etymologische Herleitung des Wortes „lyricus" von der Lyra und die damit verbundene Vorstellung vom Singen der als „lyrica/lyrica carmina" bezeichneten Gedichte ohne irgendeine Erwägung historischer Differenzen geboten. Allenfalls begegnet dabei einmal wie bei Alsted ein leicht einschränkendes „olim".59 Seit dem späten 17. Jahrhundert aber fallen dabei in wachsender Zahl abgrenzende Bemerkungen auf, sei es, daß der antiken Ode als der vielfältige Gegenstände umfassenden die neuzeitliche, insbesondere nationalsprachliche als die vorwiegend oder ausschließlich erhabene entgegengesetzt, sei es, daß jene als Bezeichnung für alle Arten von Gesängen von der neuzeitlichen als einer nicht mehr wirklich gesungenen unterschieden wird.60 Das Supplement zur Encyclopedic d'Alemberts und Dide-

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der Deutschen Encyclopädie (1778ff. [Stadtb. Mainz]), von der nur die Bde. 1-23 (AK) erschienen sind und in der daher Artikel wie „lyrisch" oder „Ode" leider fehlen, lassen die vorhandenen Artikel zu Aspekten der Poetik eine enge Anlehnung an Sulzer erkennen. Vgl. dazu den Anfang des weiter oben gebotenen längeren Zitats aus Alsted, Encyclopaedia, Bd. l, S. 525. Vgl. u.a. Richelet, Dictionnaire Francis, Bd. 2, S. 83 s.v. Ode (zitiert oben im Text kurz vor Anm. 47); Furetiere, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. 2, Bl. Hhhh3v: „Chez les Anciens l'Ode ne signifioit autre chose que chant. Ils les faisoient ä l'honneur de leurs Dieux, comme les Ödes de Pindare; quelquefois sur d'autres sujets, comme celles d'Anacreon. Horace a excelle ä faire des Ödes sur diverses matieres. Les Ödes Francoises sont faites pour loüer les Heros, & non pas pour mettre en chant ..."; Dictionnaire de Trevoux, Bd. 4, Sp. 1337: „Dans la Poesie Grecque & Latine, l'Ode est une piece de vers propre ä etre chantee, & faite pour cela ... Dans la Poesie Francoise l'Ode est un Poeme lyrique, mele de grands & de petits vers, composes d'un nombre egal de rimes plates, ou croisees, & qui se distingue par stances, ou strophes ... L'Ode demande beau-

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rots, die ähnlich formuliert hatte wie die Vorgänger,61 verschärft derartige Hinweise an verschiedenen Stellen: Le poeme lyrique chez les Grecs, etoit non-seulement chante, mais compose aux accords de la lyre: c'est lä d'abord ce qui le distingue de tout ce qu'on appelle poesie lyrique chez les Latins & parmi nous ... A cet egard le poeme lyrique, ou l'ode, chez les Latins & chez les nations modernes, n'a ete qu'une frivole imitation du poeme lyrique des Grecs: on a dit, je chante, & on n'a point chante; on a parle des accords de sä lyre, & on n'avoit point de lyre. Aucun poete, depuis Horace inclusivement, ne paroit avoir modele ses odes sur un chant.62 Noch weiter zugespitzt findet man die Unterscheidung von antiker und neuzeitlicher Ode schließlich in enzyklopädischen Nachschlagewerken des frühen 19. Jahrhunderts: Ode ... hieß bei den Griechen jeder Gesang, d. h. jedes lyrische Gedicht, Lied, welches sich zum Singen eignete ... Die Alten unterscheiden sich in ihren Oden von den gleichnamigen Gedichten der Neuern zunächst dadurch, daß sie den Ausdruck Ode im weiteren Sinne gebrauchten ... Die Neuern haben das Wort Ode erst mit der Nachahmung der Alten aufgenommen. Daher versteht man häufig unter Ode jedes Gedicht, ja überhaupt jedes noch so poesielose Machwerk, in dem eines der bekannten Versmaße der Alten nachgeahmt ist. Da aber ein so fremdes Gewand nur mit Mühe angenommen wird, so wirkt dieses auf die Poesie selbst zurück, und nur da, wo der Gedanke mächtig, kühn, vermag er die schwere Form zu bewältigen, daß in dieser Bewältigung sogar Schönheit heraustreten kann, wie in den Oden von Klopstock. Die

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coup de noblesse & de grandeur ... Chez les Anciens l'Ode ne signifioit autre chose que chant ..." (der erste der zitierten Sätze noch nicht in der Erstausgabe von 1704); Jablonski, Allgemeines Lexicon, 1767, S. 819 s.v. Lyrisches Gedicht; S. 979 s.v. Ode (so noch nicht in der Erstausgabe von 1721); Chambers, Cyclopaedia, Bd. 2, Bl. 7L1V s.v. Ode (ähnlich wie im Dictionnaire de Trevoux); Zedler, Universal Lexicon, Bd. 18, Sp. 1547 s.v. Lyricum carmen (ähnlich wie Jablonski, unmittelbar abhängig offenkundig von der in Anm. 44 zitierten Stelle bei Hederich); Bd. 25, Sp. 446 s.v. Ode: „... war bey den Griechen und Römern der allgemeine Name aller Lieder, und begreifft vielerley Gattungen unter sich ... In heutiger Poesie ists ein Gedicht, welches mit etlichen Absätzen, die alle ein gleiches Zeilen- und Reimenmaaß haben, durchgeführet wird: Ein Lied"; Gottsched, Handlexicon, Sp. 1040 s.v. Lyrisches Gedicht; Sp. 1190 s.v. Ode (an beiden Stellen ähnlich wie Jablonski). d'Alembert/Diderot, Encyclopedic, Bd. 9, S. 780 s.v. Lyrique; Bd. 11, S. 344 s.v. Ode (z.T. zitiert oben in Anm. 51); diese Stellen übereinstimmend teils mit Furetiere, teils mit dem Dictionnaire de Trevoux bzw. Chambers. Supplement ä l'Encyclopedie, Bd. 3, S. 820 s.v. Lyrique; z.T. ähnlich Bd. 4, S. 433 s.v. Poesie. Vgl. auch Bd. 4, S. 88 s.v. Ode: „L'ode fran^oise n'est plus qu'un poeme de fantaisie, sans autre intention que de trailer en vers plus eleves, plus animes, plus vifs en couleur, plus vehemens & plus rapides, un sujet qu'on choisit soi-meme, ou qui quelquefois est donne. On sent combien doit etre rare un veritable enthousiasme dans la situation tranquille d'un poete qui, de propos delibere, se dit ä lui meme, faisons une ode, imitons le delire, & ayons 1'air d'un homme inspire ..."

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Ode hat daher mit Recht bei den Neuern überhaupt die Bedeutung hochfliegender lyrischer Poesie angenommen .. ,63

Wenn sich hier wie schon im Supplement ein verschärftes Bewußtsein dafür, daß die Ode erst im Lauf der Neuzeit immer mehr und immer ausschließlicher einen erhabenen Charakter angenommen hat, mit Zügen kritischer Distanz gegenüber dieser Ausformung einer von den antiken Mustern hergeleiteten Dichtart paart, so korrespondiert dies jenem anderen Vorgang der Veränderung in der Lyriktheorie des 18. Jahrhunderts, der sich im Stichwortbestand der Enzyklopädien und ihren entsprechenden Ausführungen markant niederschlägt, und seinem Ergebnis: der allmählichen Herausbildung einer Unterscheidung des Liedes als eigener Art von der Ode in einem nun enger gefaßten Sinn und einer daran anschließenden Verschiebung in der Bewertung beider Dichtarten. Für manche enzyklopädischen Werke des späteren 17. und noch des frühen 18. Jahrhunderts ist das Wort „Lied" bloß die Übersetzung des Wortes „Ode", und es wird darum nur bei diesem Stichwort erwähnt: „Ode ist in der Poesie ein Gedicht,... welches Lateinisch ... eigentlich ein Carmen, Teutsch aber ein Lied heisset".64 Solche Belege können von der sprachlichen Seite bekräftigen und damit zusätzlich verständlich machen, daß eine an der Erklärung der antiken Muster und ihrer Übertragung in eine nationalsprachliche Dichtung orientierte Poetik in heimischen Liedformen zunächst sehr unbefangen die Entsprechung zur antiken Ode sieht und, die Wörter nur als Synonyme betrachtend, noch bis hin etwa zu Gottscheds Critischer Dichtkunst beide zusammen unter der Überschrift Von Oden, oder Liedern behandeln kann, obgleich bestimmte Differenzierungen bereits im Gange sind. Daß diese sich freilich schon länger anbahnen, ist auf dem Felde der Enzyklopädie an denjenigen Werken abzulesen, die seit dem späten 17. Jahrhundert „Lied/chanson/song" neben der nicht lange zuvor zum gesonderten Stichwort gewordenen Ode - und neben ihr meist in engerem Sinne zugeordneten Begriffen wie Dithyrambus und Hymne - zum selbständigen Stich-

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Neuestes Conversationslexikon für alle Stände, Leipzig: Leich/Wiegand, Bd. 5, 31836 [ÜB Mainz], S. 483. Ähnlich die frühen ßroc/c/iaws-Ausgaben oder auch Ersch/Gruber, Allgemeine Encyclopädie, Section III, Bd. l, 1830 [ÜB Mainz], S. 310-335 s.v. Ode, mit eingehenden kritischen Erwägungen zur Anwendbarkeit des neuzeitlichen Begriffs der Ode auf antike Dichtungen. Hederich, Reales Schul-Lexicon, Sp. 2033. Vgl. auch Nehring, Historisch-Politisch-Juristisches Lexicon, 81725, S. 814: „Oda, Ode, Ödes, & Ital. Ode, ein Lied"; entsprechend schon in der frühen Ausgabe Nehring, Manuale Juridico-Politicum, Frankfurt/Leipzig: Boetius 1690 [HAB Wolfenbüttel], S. 625 und noch Frankfurt/Leipzig: Brönner H1772 [Stadtb. Mainz], S. 368; Wagenseil, Pera librorum juvenilium, S. 718; Spanutius, Lexicon, Leipzig: Förster 1720 [HAB Wolfenbüttel], S. 341.

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wort machen. Man begegnet ihm früh bei Furetiere,65 dann im Dictionnaire de Trevoux, bei Jablonski oder Chambers.66 Das sind zunächst nur knappe Hinweise, und sie nehmen durchaus noch nicht durchwegs eine konsequente Abgrenzung vor.67 Zedlers Universal Lexicon hat sogar zwar auch ein eigenes Stichwort „Lied" (Bd. 17, Sp. 1010), schreibt dazu aber nur: „siehe Music und Poesie" und verwendet das Wort im Artikel „Ode" noch als bloßes Synonym für diese,68 und Gottscheds Handlexicon widmet dem Stichwort „Lied" zwar einige Zeilen (Sp. 1019), verweist aber von dort auf den umfangreicheren Artikel „Ode" (Sp. 1190f.), jedoch nicht umgekehrt. Gleichwohl lassen die Belege, indem sie Merkmale wie „aise", „simple", „naturel" betonen, zur Mehrzahl erkennen, wie sich nach und nach, in Anknüpfung an die noch gültige rhetorische Stillehre und die Verschiedenartigkeit der bei Horaz genannten Gegenstände und mit Blick vor allem auf Anakreon als ein neben Pindar und Horaz wirksames Muster, eine Auffasung vom Lied als eigenständiger Art einfacheren Stils neben der zunehmend als erhaben verstandenen Ode entwickelt. Welche Konsequenzen sich schließlich daraus noch ergeben können, deutet sich im Artikel „Chanson" in d'Alemberts und Diderots Encyclopedic an, der zu Beginn die Formulierungen der Vorgänger vom einfachen Charakter des sangbaren Liedes anklingen läßt, dann aber dazu neigt, den Begriff „chanson" - statt des zuvor dominierenden Begriffs „Ode" zur umfassenden Bezeichnung aller „poesie lyrique" zu machen.69 65

Furetiere, Dictionaire Universel, Neudr. 1970, Bd. l, Bl. : „Chanson ... Petit piece de vers qu'on met en air pour chanter, & qui se chante par le peuple". 66 Dictionnaire de Trevoux, Bd. 1, Sp. 1948: „Chanson ... Petite piece de vers aises, simples & naturels, qu'on met en air pour les chanter ... La chanson ressemble assez au Madrigal: eile a ordinairement pour objet 1'amour, ou le vin ... ses vers doivent etre aises, coulans, naturels, & avoir une certaine harmonic ... qui marie agreablement la Poesie avec la Musique ..." (der kürzere Artikel in der Erstausgabe von 1704 enthält von den zitierten Sätzen nur den ersten); Jablonski, Allgemeines Lexicon, 1721, S. 402: „Lied, Canticum, Hymnus, öde: Cantique, Ode, Chanson. Ein geticht, in welchem ein lob, oder rühm, oder Unterweisung mit sinnreichen und zierlichen redarten enthalten. Es wird mehrentheils mit kurtzen gemessenen reimzeilen abgefasset... welches so dann nach einer dazu gesetzten Weise gesungen werden kan ..."; Chambers, Cyclopaedia, Bd. 2, Bl. HBbl r : „Song, in poetry, a little composition, consisting of simple, easy, natural verses, set to a tune, in order to be sung ... The song bears a deal of resemblance to the madrigal; and more to the ode, which is nothing but a song according to the ancient rules ... Its object is usually either wine or love ... the verses are to be easy, natural, flowing, and to contain a certain harmony ... which unites poetry and music agreeably together". 67 Vgl. dazu die Differenzen in den an sich weithin übereinstimmenden Zitaten aus dem Dictionnaire de Trevoux und Chambers in Anm. 66 und die Synonymenreihe im Zitat aus Jablonski in derselben Anmerkung. 68 S. das Zitat in Anm. 60. 69 d'Alembert/Diderot, Encyclopedic, Bd. 3, 1753, S. 139; vgl. auch Supplement ä FEncyclopedie, Bd. 2, 1776, S. 319f.

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Eine fortgeschrittene Phase sich vollziehender Umwertungen dokumentieren Enzyklopädien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Noch die 6. und 7. Auflage der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie des Verlages Brockhaus stellen zwar im Artikel „Lied" nach einer Kennzeichnung zunächst der metrischen Form fest: „Innerlich dürfte der Charakter des Liedes insofern verschieden sein, als das Lied einen engern Kreis hat, in welchem es sich bewegt, und den es nicht überschreiten darf. Dieser Kreis ... bleibt nur bei dem Einen stehen, bei dem Ergüsse des Gefühls. Die Ode hingegen schweift in das Erhabene aus, und berührt in ihrem Fluge das Geistige und das Irdische, das Hohe und das Tiefe", klagen aber einleitend: „Die Benennung Lied ist bisher so unbestimmt gebraucht worden, daß es schwer wird, den eigentlichen Charakter desselben genügend zu bezeichnen, und es von den ihm verwandten Gedichten, der Ode und dem Hymnus, zu unterscheiden".70 Schon die 8. Auflage hingegen71 führt mit gewachsener Sicherheit aus: Lied, eine lyrische Dichtart, ist der einfache dichterische Ausdruck eines in sich abgeschlossenen sanften Gefühls ... Wenn das Wesen der Lyrik überhaupt musikalisch ist, so tritt dies vorzugsweise bei dem Liede hervor, das, als einfachster und unmittelbarster Ausdruck des Gefühls, sich, seiner Natur nach, in musikalischen Rhythmen und Abschnitten bewegt und seine Melodie mit sich auf die Welt bringt... Aus dem Gesagten ergibt sich, daß jede Entfernung von dem Naturgemäßen die Wesenheit des Liedes zerstört; keine Gattung fodert mehr den Charakter der Volkstümlichkeit, und keine ist durch den eingebildeten Vorzug classischer Muster mehr beeinträchtigt worden als diese ... Der heutige Sprachgebrauch unterscheidet das Lied von der Ode, und in der That bewegt sich das erstere, als der Ausdruck einer gemäßigtem Empfindung, in einem engern Kreise, der jene Mannichfaltigkeit der Darstellung ausschließt, mit der die Ode in ihrem Fluge das Irdische wie das Geistige, das Tiefste wie das Höchste berührt. Das letzte Ergebnis eines Umwertungsprozesses, für dessen Einzelheiten Werke wie die Ästhetik Hegels oder Vischers ergiebige Quellen sind, und die Selbstverständlichkeit seines Ergebnisses, mit dem das Lied, verstanden als natürlichste und unmittelbarste Form, an der Stelle der Ode zum Inbegriff von lyrischer Dichtung geworden ist, spricht am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem einschlägigen Artikel in Meyers Konversations-Lexikon: Lied, die Hauptart der lyrischen Dichtungsgattung. Es ist im allgemeinen als diejenige Art der Dichtung zu charakterisieren, bei welcher in unmittelbarster und darum einfachster Weise das eine Persönlichkeit erfüllende Gefühl, die Stimmung ... zum sprachlichen Ausdruck gelangt, daher keine Art der Poesie

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Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. 5, 61824, S. 741f.; sehr ähnlich Bd. 6, 71830. S. 590f. Ebda., Bd. 5, «1834, S. 642f.

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ein so inniges Verhältnis zur Musik hat als das L. ... Das eigentliche L. ist jederzeit einfach, ungekünstelt in Sprache und Form, seinem Inhalt nach von dem abstrakt Gedanklichen, Reflexionsmäßigen möglichst weit entfernt... bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrh. gelang es nur wenigen Kunstdichtern, den echten Liederton zu treffen ... Die vollendetsten Schöpfungen im Bereich des Kunstliedes sind Goethes Lieder, die an Innigkeit, melodischer Klangfülle, herzbewegender Einfachheit und formeller Vollendung nicht nur in der deutschen, sondern in der Litteratur aller Völker ihresgleichen suchen.72 Wie tiefgreifend die im 18. Jahrhundert in Gang gekommene und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts abgeschlossene Veränderung der Lyriktheorie ist - die in umfassende Wandlungen des Dichtungsbegriffs eingebettet ist und sich übrigens am erweiterten, zuletzt auch die Elegie einschließenden Lyrikbegriff und der zunehmenden Selbstverständlichkeit seiner Einfügung in die von der idealistischen Ästhetik nachhaltig sanktionierte, an die Stelle eines älteren, vielfältigeren und lockeren Systems von Dichtungsarten getretene Gattungstrias innerhalb der Enzyklopädien verfolgen ließe73 -, das machen die Enzyklopädien auf drastische Weise schließlich auch sichtbar an Verfall und Ablösung der antiken Muster lyrischer Dichtung. Über Jahrhunderte hin gelten Pindar und Horaz unangefochten als principes lyricorum, als die maßgeblichen Muster lyrischer Dichtung. So sagen es schon die Titel der Ausgaben ihrer Gedichte, so sehen es die Werke der Poetik, so prägen es auch die Enzyklopädien ein.74 Neben Pindar und Horaz kommt selbst Anakreon, wie Pindar einer der neun kanonischen griechischen Lyriker, als Muster in der Theorie kaum auf,75 auch wenn seine jahrhundertelange produktive Wirkung so wie dann auch sein Anteil an einer allmählichen Unter72

Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 11,51896 [Privatbesitz], S. 336. Der Beleg ist nicht als Hinweis auf eine absolute Datierung gemeint; ähnliche Formulierungen mögen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon vorher in Auflagen des Meyer oder des Brockhaus finden, die mir nicht zur Verfügung stehen. Im ersten, von Karl Rosenkranz stammenden Teil des Artikels „Ode" in Ersch/Grubers Allgemeiner Encyclopädie der Wissenschaften und Künste (111,1, S. 319) heißt es übrigens schon 1830, das Lied sei „als der innigste Ausdruck des dichterischen Gemüthes im reinsten Sinne lyrisch, fühlend, subjectiv". 73 Zu vergleichen wären dazu Artikel zu Stichworten wie „Elegie" und „Poem", „Poesie", „Poet", „Poetik", nach und nach auch „Dichter", „Dichtkunst", „Dichtungsarten". 74 Vgl. u. a. die in Anm. 23 und 24 angeführten Stellen. Die Belege dafür sind bis ins späte 18. Jahrhundert in den entsprechenden Personalartikeln und den Artikeln zu Stichworten wie „Ode", „lyricum carmen" und so fort so zahlreich und selbstverständlich, daß sich weitere Einzelnachweise erübrigen. 75 Bezeichnend noch im Artikel „Anacroontique", der auch Anakreon selbst behandelt, in d'Alemberts und Diderots Encyclopedic der Satz: „Le tendre, le nai'f, le gracieux, sont les caracteres du genre anacreontique qui n'a merite le nom de lyrique dans l'antiquite, que parce qu'on le chantoit en s'accompagnant de la lyre: car il differe entierement & par le choix des sujets & par les nuances du style, de la hauteur & de la majeste de Pindare" (Bd. l, 1751, S. 396).

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Scheidung lyrischer Arten nicht zu verkennen ist. Catull aber, dessen Werk nur wenige Oden enthält, kommt darum für die frühe Neuzeit als lyrischer Dichter lange nicht in Betracht.76 Er ist auch für die Enzyklopädien nur unter den Epigrammatikern „in hoc genere princeps"77 und neben Tibull und Properz einer der „Princes de l'Elegie".78 Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert jedoch bieten die Enzyklopädien Indizien für sich anbahnende Umwertungen. In der Deutschen Encyklopädie kann Catull beiläufig einmal als Vertreter „der lyrischen Dichtkunst... bey den Römern"79 neben Horaz figurieren. In Enzyklopädien des frühen 19. Jahrhunderts wird da und dort mehr oder weniger verhaltene Kritik an den alten Mustern laut. Von Pindar kann es, bei fortwährendem Ansehen, doch heißen: „Nicht alles indeß, was wir noch von diesem großen Dichter haben, ist gleich vortrefflich und anziehend. Manche machen ihm den Vorwurf, daß seine Metaphern bisweilen zu gesucht, zu frostig seien, und finden den Gang seiner Gedanken zuweilen allzu regellos und ausschweifend ... Genug, daß nach dem Urtheile der größten Männer die pindarischen Gesänge zu dem Schönsten und Herrlichsten gehören, was uns aus dem Alterthume übrig geblieben ist".80 Von Horaz meint dasselbe Werk zwar: „Will man den Horaz als Lyriker würdigen, so vergesse man nicht, daß er unter den Römern der erste war, welcher die römische Sprache für die lyrische Poesie ausbildete", stellt jedoch auch fest: „Zugegeben aber, daß man Horaz, dem Lyriker, Originalität nicht zugestehen könne, so wird sie doch Niemand Horaz, dem Satyriker, absprechen", und es moniert an anderer Stelle: „Schon Horaz verfällt oft in den Reflexionston, und seine Bilder sind nicht selten nur kalte Erzeugnisse einer gereizten Phantasie".81 Mit Urteilen von noch weitergehender Entschiedenheit aber bekräftigt wiederum im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Meyers Konversations-Lexikon die Umwertung der Muster, die sich im Zusammenhang der Veränderungen des Lyrikverständnisses vollzogen hat. Pindar zwar gilt dank seinem althergebrachten hohen Ruhm doch weiter als „der größte lyrische Dichter der Griechen", dem allerdings nachdrücklich ein wohl „kunstvoller, freilich oft durch Nebengedanken und Einflechtung passender Mythen verdunkelter Plan" 76

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Allenfalls werden bei den Angaben über ihn die libri tres seiner poemata genannt, „quorum primus lyrica ... continet" (Faber, Thesaurus Eruditionis Scholasticae, 1587, S. 148). Ähnlich z.B. bei Gesner, Bibliotheca Vniversalis, Bl. 159V; ganz vereinzelt steht, soweit ich sehe, seine Bemerkung: „A Fabio Quintiliano & Diomede inter lambicos reponitur, ab alijs inter Lyricos" (Bl. 160r). Beyerlinck, Magnum Theatrum, Bd. 6, S. 473. Dictionnaire de Trevoux, Bd. 2, Sp. 1615 s.v. Elegie. Deutsche Encyklopädie, Bd. 7, 1783 [Stadtb. Mainz], S. 206 s.v. Dichter. Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. 7, 61824, S. 571. Ebda., Bd. 4, 61824, S. 839 s.v. Horaz; Bd. 7, 61824, S. 28 s.v. Ode.

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nachgesagt wird.82 Insbesondere gegen die Oden des Horaz aber richten sich schwerwiegende Vorbehalte: „Allerdings reicht seine poetische Begabung keineswegs an seine großen Vorbilder heran; Gefühl und Phantasie werden bei ihm durchaus vom Verstand überwogen, und die Vorzüge seiner lyrischen Dichtungen ... bestehen nicht in der Wärme der Empfindung, noch in der Tiefe der Gedanken, sondern in der Klarheit der Anlage, der Feinheit u, Gewandtheit des Ausdrucks, der Bestimmtheit, Reinheit und Schönheit der Sprache und der Strenge des Versbaues".83 An seiner Stelle ist nun ein anderer, welcher der Allgemeinen deutschen Real-Encydopädie noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst als „einer der besten römischen Dichter" oder „ein berühmter römischer Dichter" galt,84 endgültig zum eigentlichen Muster lyrischer Dichtung der Antike aufgestiegen: Catull - „der größte röm. Lyriker".85

III. Was enzyklopädische Werke in ihren Darlegungen zur Lyrik und ihrer Theorie, die hier durch einige Jahrhunderte hindurch im Überblick nachgezeichnet worden sind, zu bieten vermögen, ist gewiß keine vollständige Lehre von der Lyrik und ebenso keine erschöpfende Geschichte dieser Theorie. Vieles, was zur jeweiligen Theorie der Lyrik gehört, findet sich in den zahlreichen speziellen Werken der Poetik eingehender, genauer, vielschichtiger, wohl auch widersprüchlicher dargelegt, viele kleine Schritte allmählicher Umdeutung und Veränderung, in welchen sich solche Geschichte vollzieht, sind nur in jenen Werken wahrnehmbar. Manches Einzelne, was zum Kernbestand der entsprechenden Abschnitte in Werken der Poetik zählt - die Kürze lyrischer Gedichte etwa oder die Forderung nach Vermeidung des Enjambements, lange Zeit unabdingbares Merkmal lyrischer Gedichte für die deutschsprachige Poetik -, spielt in den Enzyklopädien nur eine begrenzte Rolle, sei es, weil sie, die länger als die Poetik an der lateinischen Sprache festhalten, damit auch lange auf die antiken Muster mehr als auf die Entwicklung der nationalsprachlichen Dichtung gerichtet sind und deshalb beispielsweise auch später als die Poetik die zunächst so fraglose Identifizierung heimischer Liedformen mit der antiken Ode in ihrer Terminologie sichtbar 82 83 84 85

Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 13,51896, S. 938f. - Zur Berufung auf dieses Werk vgl. die Bemerkung in Anm. 72. Ebda., Bd. 8, 51895, S. 1014f. Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, Bd. 2, 61824, S. 409; Bd. 2, 71830, S. 517; Bd. 2. »1833, S. 499. Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 3, 51894, S. 927.

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werden lassen, sei es, weil sie gemäß ihrer Funktion eher Zusammenfassung gelehrten Wissens als praktische Anweisung sein wollen, sei es natürlich auch, weil überhaupt die Einläßlichkeit der Sachdarlegung in Enzyklopädien zwangsläufig in hohem Grade abhängig ist vom jeweiligen Typus, vom je besonderen Zuschnitt und Zweck. Die Enzyklopädien formulieren - auch wenn manche gelehrt-ausführliche, wie die eingangs zitierten Zeugnisse zeigen, geeignet ist, den Zeitgenossen mehr als nur oberflächliche Information zu vermitteln - gewiß auch nicht immer den allerneuesten Stand der Meinungen und Diskussionen, weil sich ihnen Bestandsaufnahme und nicht Fortentwicklung von Wissen und Ansichten als Aufgabe stellt. Mit Verzögerungen in der Rezeption aktueller Vorstellungen ist dabei - so sehr in bestimmten Fällen die Benutzung neuester Schriften zum Gegenstand offenkundig ist - auch deshalb vielfach zu rechnen, weil die Größe der Aufgabe, vielfältiges Wissen in teilweise vielbändigen Werken zusammenzufassen, einen anderen Zeitablauf bedingen muß als die Abfassung einer einzelnen Poetik und zudem begreiflicherweise die vielfach zu beobachtende Anlehnung an Vorgänger oder das Ausschreiben von anerkannten Quellen besonders nahelegt.86 Gleichwohl stellen die einschlägigen Passagen in enzyklopädischen Werken nicht lediglich einen beschränkten Auszug dessen dar, was in der jeweiligen zeitgenössischen Poetik besser zu lesen wäre. Die Aufgabe, Zusammenfassung und Überblick zu geben, und der Zwang zur Auswahl des Details und zu mehr oder weniger knapper Definition und Beschreibung können vielmehr ebenso wie die Verschiebungen im Stichwortbestand, im Umfang der Artikel und in ihrem sachlichen Verhältnis zueinander manches schärfer als im ausführlichen Kontext der Poetik hervortreten lassen, können über Jahrhunderte tradierte Konstanten besonders auffällig machen, die lange Geltung bestimmter Autoritäten besonders eindringlich vor Augen führen, können aber auch die gleichwohl sich vollziehenden Veränderungen, ihre Hauptphasen, ihr Ausmaß und ihre Ergebnisse besonders nachdrücklich markieren. Sangbarkeit, strophische Gliederung, auch Vielfalt der Versformen etwa erweisen sich, weil sie eigentlich überall genannt und an die Spitze der Darlegungen gestellt werden, gerade im Spiegel der Enzyklopädien als ein jahrhundertelang gültiges Hauptbestimmungsmerkmal lyrischer Dichtung, das den gegenüber einem jüngeren, bis heute wirksamen Verständnis des „Lyrischen" sehr andersartigen, auf strophische Gedichte begrenzten, damit aber auch sehr konkreten Sinn des Wortes „lyricus/lyrisch" ebenso 86

Dafür geben viele der Anmerkungen zu diesem Beitrag eine hinreichende Zahl von Belegen, ohne doch die Abhängigkeiten zwischen den hier ausgewerteten Enzyklopädien und deren sonstige Quellen erschöpfend aufdecken zu können.

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Hans-Henrik Krummacher

begreiflich macht wie die eng damit zusammenhängende, lang anhaltende Gleichsetzung antiker Oden und nationalsprachlicher Liedformen. Auch die allmähliche Modifikation und schließliche Auflösung dieser Gleichsetzung wie das wachsende Bewußtsein von Unterschieden zwischen antiker und sich weiterentwickelnder neuzeitlicher lyrischer Dichtung und die zunehmende Ausprägung eines erhabenen Charakters der Ode, auf die vielfach durch die so oft wiederholte Formel Boileaus vom beau desordre hingedeutet wird und die eng mit dem in der Poetik wirksam werdenden Begriff des Enthusiasmus verknüpft ist, lassen sich als Indiz und Triebkraft einer sich vollziehenden Differenzierung lyrischer Arten an der Abfolge der Enzyklopädien anschaulich ablesen. Sie bekräftigt aber auch in einprägsamer Weise die jahrhundertelange Geltung und nachhaltige Wirkung von Pindar und Horaz als Mustern lyrischer Dichtung wie deren spätere Abwertung und dann ihre Ablösung durch den früher neben ihnen nie genannten, ja für eine ältere Auffassung von lyrischer Dichtung neben ihnen gar nicht denkbaren Catull. Die spätantiken Grammatiker und die neuzeitlichen Theoretiker Scaliger, auch Vossius, dann Boileau, Batteux und schließlich Sulzer, deren Gewicht auch in der Poetikliteratur nicht zu verkennen ist, erweisen sich in den Enzyklopädien mit besonderer Deutlichkeit als Hauptquellen und Hauptautoritäten einer Lyriktheorie, deren Phasen sich auch an der Abfolge dieser offenkundig ungemein wirksamen Gewährsleute, ihrer Ablösung oder Ergänzung nachzeichnen lassen. Weil ihre Absicht und Aufgabe sein muß, dasjenige zu bieten, was zu ihrer Zeit als wesentlich und gültig angesehen wird, können die Enzyklopädien als Quellen gelten, die die systematischen Werke der Poetik zu ergänzen vermögen. Was Enzyklopädien aufnehmen und was in ihnen allenthalben zu finden ist, wird man, gerade weil sie auswählen müssen, als Spiegelung verbreiteter Anschauungen ihrer Zeit verstehen dürfen, als Zeugnisse literarischer Vorstellungen und Erwartungen, die nicht allein beliebige Meinung einzelner Theoretiker, sondern Allgemeingut sind und in ihrer Geltung durch die Aufnahme in Enzyklopädien befestigt und auch durch sie nachhaltig verbreitet werden. In solchem Sinne können die Enzyklopädien der frühen Neuzeit die methodische Bedeutung der Poetikliteratur als eines Schlüssels zum andersartigen Literaturverständnis früherer Epochen, zu Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur in vergangenen Jahrhunderten und zu den Wandlungen der Literatur im Lauf ihrer Geschichte bestätigen und in deren Ergänzung auch selbst als solcher Schlüssel dienen. Auch im Felde literarischer Theorie tut darum ein auf Verstehen des Vergangenen in seiner fremden Eigenart gerichtetes historisches Interesse gut daran, sich der frühneuzeitlichen Enzyklopädien als einer ergiebigen und perspektivenreichen Quelle anzunehmen und dabei auf solche Beschäftigung mit einer Vielzahl

Poetik und Enzyklop die

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von gelehrten B chern als Motto umzum nzen, was Morhof einst zur Rechtfertigung einer wahren Polymathia und ihrer enzyklop dischen Darstellung gesagt hat: „Est scilicet quaedam scientiarum cognatio & conciliatio, unde & έγκυκλοπαιδείαν vocant Graeci, ut in una perfectus dici nequeat, qui ceteras non attigerit".87

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Morhof, Polyhistor, Bd. l, S. 2 (Lib. I, cap. l, § 3).

WERNER WELZIG

„Enzyklopädie" im Wörterbuch Es gibt ein Buch, das heißt Die Enzyklopädie der Engel. Fünfzig Jahre lang hat es niemand geöffnet. Das weiß ich genau, denn als ich es aufschlug, knackte es in den Deckeln, und die Seiten fielen auseinander. Charles Simic

Nach den vielen großen und dicken Büchern, von denen im Laufe dieses Symposions die Rede war, sei zuletzt die Aufmerksamkeit für einen schmalen und kurzen Text erbeten; nach den Büchern aus der Ferne ein Text aus der Nähe, ein Text über das Thema unserer Tagung. Es ist das der Artikel „Enzyklopädie" in der 1992 bei Niemeyer erschienenen „9., vollständig neu bearbeiteten Auflage" des Deutschen Wörterbuches von Hermann Paul. Ein Wörterbuch, so Stefan Sonderegger, „welches vom Wortschatz der Gegenwart ausgeht, ihn [...] geschichtlich bewusst macht [...], ohne sich je im Historischen [...] zu verlieren", ein „historisches Bedeutungs- und Belegwörterbuch", ein „Wurf", „voll und ganz gelungen". Soweit der Rezensent.1 Ein Werk, mit Hermann Pauls, seines Begründers eigenen, vom Verlag 1992 wieder zitierten Worten, das sich „an alle Gebildeten" wendet, „die ein Verlangen empfinden, ernsthaft über ihre Muttersprache nachzudenken".2 Ernsthaft nachzudenken oder jedenfalls nachzudenken ist trotz der Kürze des folgenden Beitrages auch unser Vorsatz. In seiner rund hundertjährigen Geschichte nimmt der Paul das Lemma „Enzyklopädie" 1992 das erste Mal auf. Was hier vorliegt, ist ein neu konzipierter Artikel. Welcher Art ist sein Konzept? Welches sind die Auskünfte, die unsere Zeitgenossen zu „Enzyklopädie" zur Verfügung stellen, unbehelligt von alten Entwürfen? Beim ersten flüchtigen Hinschauen oder Zuhören wird alles geboten, was „Gebildete" von einem Wörterbuch erwarten: Angaben zur Wortgeschichte, eine Definition, Sachauskünfte, synonymische Angaben, ein Verweis auf die Ausführungen zu einem Nachbarbegriff, ein Hinweis auf die Verwendung des Wortes in übertragener Bedeutung und ein literarischer Beleg.

1

2

Stefan Sonderegger, Wortsinn und Bedeutungswandel. Zur Neubearbeitung von Hermann Pauls Deutschem Wörterbuch. In: Neue Zürcher Zeitung vom 28. April 1992, Fernausgabe Nr. 97, S. 15. Vgl. den Verlagsprospekt Der neue , .

„Enzyklopädie" im Wörterbuch

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Enzyklopädie im 18.Jh. entlehnt