Schriftlose Vergangenheiten: Geschichtsschreibung an ihrer Grenze von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart 9783110552201, 9783110550030

The “unwritten past” is composed of past cultures, peoples, figures, events, and situations that have left no accessible

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German Pages 382 Year 2018

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitende Gedanken: Was für die Geschichte übrig bleibt
Historiografische Perspektiven
Schrift und Geschichte in der Erfahrung der Missionare im 16. Jahrhundert
Lebendige Denkmäler
Flüchtlinge, Vertriebene und unerwünschte Minderheiten
Island histories
Wissenschaftshistorische Perspektiven
Schriftlose Kulturen in der deutschen Weltgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts
Antike Münzen und Steinwerkzeuge als Quellen für ungeschriebene Geschichte im Werk des Antiquars und Archäologen John Evans (1823– 1908)
„Deutsche“ Dinge
Anthropologie als „spekulative Geschichte“
Praktische Perspektiven
Geschichtslose „Barbaren“
Ta Masa und die Magier
Bilder – alternative historische Narrationen?
Hört zu!
Archivieren der Gegenwart
Objekte von Migranten von der Müllhalde ins Ausstellungsregal
Personenregister
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Schriftlose Vergangenheiten: Geschichtsschreibung an ihrer Grenze von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart
 9783110552201, 9783110550030

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Schriftlose Vergangenheiten

Schriftlose Vergangenheiten

Geschichtsschreibung an ihrer Grenze – von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart Herausgegeben von Lisa Regazzoni

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, des Deutschen Historischen Instituts Paris und des ProPostDoc-Programms des Forschungszentrums Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt.

ISBN 978-3-11-055003-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-055220-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055024-5 Library of Congress Control Number: 2018958078 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Albert Hahn, Aquarell eines Felsbildes von der Insel Tabulinetin (Westpapua), 1937–1938. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Frobenius-Instituts für kulturanthropologische Forschung an der Goethe-Universität Frankfurt © Frobenius Institut. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Der vorliegende Sammelband ist ein Steckling, der sich aus meinen Forschungsfragen der letzten Jahre heraus entwickelt hat. Die lange Beobachtung dessen, wie europäische und vorwiegend französische Gelehrte im 18. und 19. Jahrhundert alle erdenklichen nicht-schriftlichen „Zeugnisse“ zum Sprechen brachten, um Auskunft über die ferne, als einheimisch geltende Vergangenheit einzuholen, hat mein Augenmerk auf die Schriftlosigkeit als epistemische Herausforderung für die Erforschung der Vergangenheit gelenkt. Dass uns die vorgefundenen schriftlichen Aufzeichnungen, gemessen an den Erkenntnissen, die wir über die Vergangenheit erwerben wollen, stets mangelhaft vorkommen, mag eine Binsenwahrheit sein. Wie sehr sich jedoch Geschichtsschreiber/-innen mit dem Vakuum an schriftlicher Überlieferung auseinandergesetzt, welche „Dinge“ sie als Ergänzung oder Ersatz für Schriftliches in den Status von historischen Zeugnissen erhoben und wie sich dabei ihre Praktiken und das Selbstverständnis der Geschichtsschreibung im Laufe der Zeit verändert haben − all diese Fragen sind Teile einer sich neu herauskristallisierenden Forschungsfrage, die sich sowohl in Bezug auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart anwenden und wie folgt formulieren lässt: Was geschieht, wenn die Geschichtsschreibung an ihre epistemischen und methodischen Grenzen stößt und versucht, diese zu überschreiten? Diese Forschungsfrage konnte ich zunächst mit Kolleg/-innen und Freund/innen des Deutschen Historischen Instituts Paris (DHIP) in der Zeit meines Aufenthalts als Resident Fellow (2014– 2015) diskutieren. Insbesondere Rainer Babel, Pascal Firges, Vanina Kopp, Johan Lange und Regine Maritz gilt für die konstruktiven Gespräche mein aufrichtiger Dank, ebenso dem Direktor des DHIP, Thomas Maissen, der mir die Möglichkeit gab, zu diesem Thema eine internationale Tagung in den Räumen des DHIP zu organisieren. Unter dem Titel Schriftlose Vergangenheiten/Passés sans traces écrites fand diese vom 16. bis 18. März 2016 in Paris statt und wurde durch die großzügige Unterstützung des DHIP sowie der Gerda Henkel Stiftung ermöglicht. Neben den Teilnehmer/-innen sei an dieser Stelle insbesondere den Diskutant/-innen Charlotte Bigg, Florence Descamps, Jacques Revel, Bettina Severin-Barboutie und ferner Moritz Epple gedankt. Zahlreiche Impulse und rege Diskussionen, die sich in diesem Kontext ergaben, sind in den vorliegenden Sammelband eingeflossen. Dieser setzt sich aus einer Auswahl von Tagungsvorträgen und weiteren Beiträgen zusammen, die dazu eingeladene Autor/-innen zum Thema verfasst haben. Damit ist keineswegs beabsichtigt worden, die Ausgangsfrage zu erschöpfen. Vielmehr geht es darum, https://doi.org/10.1515/9783110552201-001

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Vorwort

ihre Vielschichtigkeit zu sondieren und ihre Tragfähigkeit auf die Probe zu stellen. Die Materialisierung der Ergebnisse ist dem DHIP, dem ProPostDoc-Programm des Forschungszentrums Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Gerda Henkel Stiftung ausdrücklich zu verdanken, welche gemeinsam die Druckkosten übernommen haben. Zum Gelingen dieser Publikation haben ferner die Mitarbeiter/-innen des Verlags de Gruyter mit ihrer konstruktiven und zuverlässigen Zusammenarbeit, in primis Bettina Neuhoff, die Lektorinnen Cordula Hubert und Andrea Schaller mit ihrem hervorragenden Lektorat sowie Janine Trippel, die mir bei der mühevollen redaktionellen Arbeit große Hilfestellung geboten hat, beigetragen. Auch ihnen gilt deshalb mein besonderer Dank. Zum Schluss möchte ich mich bei den Autor/-innen dieses Sammelbands bedanken, die sich auf das Gedankenexperiment eingelassen haben, und last but not least bei der Übersetzerin und den Übersetzern Cordula Hubert, Walter Kögler, Niels F. May und Volker Zimmermann für ihre sprachlichen Leistungen, die damit (hoffentlich) zur Zirkulation dieser immateriellen Güter im Babelturm namens Europa beitragen werden. Frankfurt am Main, August 2018

Inhalt Lisa Regazzoni Einleitende Gedanken: Was für die Geschichte übrig bleibt

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Historiografische Perspektiven Antonella Romano Schrift und Geschichte in der Erfahrung der Missionare im 16. Jahrhundert 3 Lisa Regazzoni Lebendige Denkmäler Die Monumentalisierung der Landbevölkerung als Relikt autochthoner Vergangenheit im Frankreich des 18. und frühen 19. Jahrhunderts 29 Nicole Immig Flüchtlinge, Vertriebene und unerwünschte Minderheiten Zum Wiederauffinden schriftloser Vergangenheiten in Südosteuropa Bettina Severin-Barboutie Island histories Geschichten über die voreuropäische Vergangenheit der Insel La 85 Réunion

Wissenschaftshistorische Perspektiven Stefan Jordan Schriftlose Kulturen in der deutschen Weltgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts 109 Nathan Schlanger Antike Münzen und Steinwerkzeuge als Quellen für ungeschriebene Geschichte im Werk des Antiquars und Archäologen John Evans (1823 – 129 1908)

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VIII

Inhalt

Gudrun M. König und Elisabeth Timm „Deutsche“ Dinge Der Germanist Otto Lauffer zwischen Altertums- und Volkskunde Hans Peter Hahn Anthropologie als „spekulative Geschichte“ Versuche der Annäherung und ihre Grenzen

157

193

Praktische Perspektiven Patrick J. Geary Geschichtslose „Barbaren“ aDNA-Forschung und die Entdeckung frühmittelalterlicher Migranten 223 Nikolas Gestrich Ta Masa und die Magier Politische Geschichte in Mali jenseits der Schriftquellen Jens Jäger Bilder – alternative historische Narrationen?

247

267

Muriel Favre Hört zu! Erkenntnispotenzial von Tonquellen für die Geschichte des 289 20. Jahrhunderts Alessandro Triulzi Archivieren der Gegenwart Die Selbsterzählungen von Migranten als Quelle der Geschichtsschreibung 307 Interview mit Giacomo Sferlazzo Objekte von Migranten von der Müllhalde ins Ausstellungsregal Der Raum PortoM auf Lampedusa als politische Erinnerungspraxis Personenregister

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Lisa Regazzoni

Einleitende Gedanken: Was für die Geschichte übrig bleibt Colonisateurs du monde, nous voulons que tout nous parle: les bêtes, les morts, les statues.¹

1 Was wir über die Vergangenheit wissen woll(t)en „Was war es, was wir wissen wollten? […] Was war es, was wir erhoffen durften?“² Diese Fragen stellte sich der Philosoph Hans Blumenberg 1981, exakt zwei Jahrhunderte nach dem Erscheinen von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft (1781). Mit diesen Fragen verdeutlichte er die Verschiebung des erkenntnistheoretischen Interesses, die sich in der Zeitspanne zwischen dem Ende des 18. und dem des 20. Jahrhunderts vollzogen hatte. Die klassische Kant’sche Frage danach, was wir wissen können, habe sich in die Frage danach verwandelt, was wir wissen wollen und wollten. Dieser letzteren Fragestellung gelte das Interesse der Erkenntnistheorie im ausgehenden 20. Jahrhundert. Die Quellen, mit deren Hilfe Blumenberg diese Fragen zu beantworten suchte, waren die historischen Varianten von „absoluten Metaphern“ und Mythologemen. In ihrem tausendjährigen Überleben und gleichzeitig ihrer ständigen Anpassung an die jeweils gegenwärtigen Fragen und Herausforderungen gäben Mythen und Metaphern Auskunft über die (unbewussten) kollektiven Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen der Zeitgenossen. An dieser Stelle gilt das Interesse nicht so sehr Blumenbergs philosophischanthropologischem Entwurf, sondern vielmehr seiner erkenntnistheoretischen Frage, die sich in Bezug auf die Geschichtswissenschaft und -schreibung als ergiebig erweist, um neue Perspektiven für die Geschichte der Geschichtswissenschaft zu erschließen. Fragt man im historiografischen Kontext: „Was war es, was wir wissen wollten?“, rücken zunächst die Wünsche, Erwartungen und Orientierungsbedürfnisse der jeweiligen Gegenwart, die mit der zu rekonstruierenden Vergangenheit verbunden waren und sind, in den Mittelpunkt. Auch diese Erwartungen zählen zu den geschichtlichen Fakten, die der historischen Untersu-

 Chris Marker: Les statues meurent aussi. In: Ders.: Commentaires. Bd. 1. Paris 1961, S. 7– 23, hier S. 13.  Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (1981). 5. Aufl. Frankfurt a.M. 2000, S. 9. https://doi.org/10.1515/9783110552201-002

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Lisa Regazzoni

chung würdig sind. Ihre Erkundung gibt Aufschluss darüber, welche vergangenen Sachverhalte und Sinnzusammenhänge für die jeweilige Gegenwart von Bedeutung waren bzw. sind, welche Vorstellung von der Geschichtsschreibung, von ihrem Erkenntnispotenzial und von ihrer eigenen Orientierungsrolle Historiker/innen jeweils besaßen und besitzen, ferner darüber, welche Hoffnungen und Erwartungen sie an diese Vergangenheit hegten und immer noch hegen. Die Frage danach, was wir wissen woll(t)en, wird dann besonders spannend, wenn das Wissen-Wollen über die Vergangenheit die erkenntnistheoretischen und methodischen Grenzen des Wissen-Könnens überschreitet. Denn im Vergleich zu dem historischen Material, das als absichtliche Hinterlassenschaft oder zumindest als unbewusstes Relikt zu uns gelangt ist, weist der Wille zum Wissen − oder in Johann Gustav Droysens Worten: die „historische Frage“³ − Überschusscharakter auf. Das überlieferte Material bestimmt mit seiner Dürftigkeit und Unvollständigkeit die Grenzen sowie die Bedingungen der historischen Erkenntnis. Dies wiederum ist der Fall, weil die Geschichte ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit einerseits aufgrund der Fundierung ihrer Aussagen mit empirischen Belegen und andererseits aufgrund ihrer intersubjektiven Überprüfbarkeit erheben kann. Quellen (und Überreste) haben dabei ein Vetorecht, nicht, weil sie vorgeben, was zu sagen sei, sondern, weil sie Historiker/-innen verbieten, beliebige sowie unwahre Aussagen auszusprechen.⁴ Die Empfehlung an sie lautet daher: „Stelle deine vom Orientierungsbedarf der Gegenwart angetriebenen historischen Fragen so, dass sie auch forschend beantwortet werden können.“⁵ Dennoch – und das ist ein zentraler Aspekt des vorliegenden Sammelbandes – lässt sich im Verlauf der Geschichte der Geschichtsschreibung immer wieder feststellen, dass, abhängig davon, was man wissen wollte, stets neue Arten von in der Gegenwart bestehenden Spuren der Vergangenheit als historisches Material verwertet wurden. In der Tat hängt die Entscheidung darüber, welche gegenwärtigen „Dinge“⁶ als Träger vergangener Informationen für die Forschung nutzbar gemacht werden können, mit vielen Faktoren zusammen. Gegenwärtig bestehende Dinge, die ein bestimmtes Alter aufweisen, sind nicht an sich und

 Johann Gustav Droysen: Historik. Hrsg. von Peter Leyh. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, passim.  Reinhart Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt. In: Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. Hrsg. von Reinhart Koselleck [u. a.]. München 1977, S. 17– 46, hier S. 45.  Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln [u. a.] 2013, S. 176.  Der Begriff „Ding“ wird hier als der neutralste verwendet, um das zu bezeichnen, „was in einer bestimmten Form, Erscheinung, auf bestimmte Art u.Weise existiert u. als solches Gegenstand der Wahrnehmung, Erkenntnis ist“. Diese Definition ist dem Lemma „Ding“ in: Duden – Deutsches Universalwörterbuch. 7. Aufl. Mannheim 2011, entnommen.

Einleitende Gedanken: Was für die Geschichte übrig bleibt

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objektiv historische Zeugnisse oder Quellen, sie müssen erst aufgrund unserer Auffassung, unserer neu auftauchenden Fragestellungen oder unserer sich verändernden Sensibilität und teilweise infolge von technologischer Innovation als solche wahrgenommen werden: „Spuren entstehen im Auge des Beobachters“.⁷ Gewiss gibt es Dinge – etwa die historiografischen Werke, die historischen Berichte oder auch die Denkmäler –, die unmittelbaren Quellencharakter besitzen, weil ihre Urheber sie bewusst aus dem Anliegen heraus schufen, einer bestimmten Persönlichkeit, eines Sachverhalts oder eines Ereignisses zu gedenken und ihre Erinnerung den künftigen Generationen anzuvertrauen. Jedoch können neben diesen Überlieferungen, die sich der Geschichtsschreibung als unmittelbare, absichtlich erzeugte Quellen anbieten, alle Arten von Überresten materieller und immaterieller Natur als Zeugnisse befragt werden. Besonders anschauliche Beispiele dafür liefern Steinobjekte, die bis in die Frühe Neuzeit als Versteinerungen der vom Donnergott in die Erde geschickten Blitze angesehen wurden und erst ab dem 17. Jahrhundert⁸ von den meisten europäischen Gelehrten als anthropogene Werkzeuge – Faustkeile oder Steinbeile – zunächst vorrömischer und später prähistorischer Zeiten⁹ gedeutet wurden. Erst das Interesse an der lokalen autochthonen vorrömischen Vergangenheit prädisponierte das sonst klassisch geschulte Auge der Gelehrten dafür, diese Gegenstände in den Blick zu nehmen und zu historischen Zeugnissen aufzuwerten. Erwähnt sei ferner, um ein aktuelleres Beispiel anzuführen, das in diesem Sammelband Patrick J. Geary bespricht, die DNA aus menschlichen Knochenresten als Träger genetischer Informationen, mit denen Historiker/-innen aktuell versuchen, ältere Deutungen zur mittelalterlichen Migrationsgeschichte zu entkräften und neue Forschungsfragen zu beantworten. Die Einbeziehung steinerner Dinge in die Sphäre der menschlichen Produktion einer fernen Vergangenheit sowie die Auswertung organischer menschlicher Überreste als materielle Spuren von Wanderungsphänomenen setzt stets eine geistige Operation voraus: zunächst das Herauslösen dieser Dinge aus ihrem vorgefundenen Nutzungs- bzw. Bedeutungskontext und darauffolgend ihre

 Andreas Buller: Theorie und Geschichte des Spurenbegriffs. Entschlüsselung eines rätselhaften Phänomens. Marburg 2016, S. 72.  Zunächst Michele Mercati (1541– 1593) in seiner Metallotheca, die jedoch erst 1717 veröffentlicht wurde: Michaelis Mercati Samminiatensis Metallotheca Opus Posthumum […]. Rom 1717. S. zu dieser Umdeutung: Pierre Saintyves: Pierres magiques, bétyles, haches-amulettes et pierres de foudre. Traditions savantes et traditions populaires. Paris 1936, bes. S. 11– 74.  Mit den ansprechenden Worten von Marc Bloch gesagt: „Vor Boucher de Perthes konnte man ebenso wie heute eine Menge von Feuersteinen im Schwemmland der Somme finden. Aber es fehlte der Befrager und so gab es keine Urgeschichte“. Ders.: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers. Hrsg. von Friedrich J. Lucas. Stuttgart 1974, S. 75 (frz.: 1949).

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Lisa Regazzoni

Einbettung in eine neue Sinn- und Quellenkonstellation, deren inneres Zusammenspiel diesen Dingen eine neue Bedeutung verleiht, eben eine historische. Entscheidend für die Einstufung der steinernen Dinge als Zeugnisse prähistorischer Kulturstadien waren ihre Entdeckung im Rahmen von Grabungskontexten sowie ihr Vergleich mit steinernen Artefakten, die in der „Neuen Welt“ in der Frühen Neuzeit als Werkzeug eingesetzt wurden, wovon europäische Reisende in jener Zeit berichtet hatten.¹⁰ Auf der anderen Seite wird die DNA nicht erst durch die technische Möglichkeit ihrer Entschlüsselung zum historischen Material, sondern durch die bewusste Entscheidung der Historiker/-innen, sie zum historischen Belegmaterial zu erheben und entsprechend zu befragen. Das gilt im Übrigen auch für die überlieferten Schriftstücke, die nicht absichtlich mit einem spezifischen historischen Sinngehalt versehen wurden, etwa Rechnungsbücher, Katechismen,Verwaltungsakten, statistische Aufzeichnungen, Zollrollen oder Volkslieder, um nur einige Beispiele zu nennen, die zunächst ihrem „ursprünglichen“ Sinnzusammenhang entrissen werden müssen, um dann für ihnen nicht immanente historische Fragen zur Verfügung zu stehen. Und schließlich vermag es auch eine Quelle, die bewusst hergestellt wurde, um die Um- und Nachwelt zu unterrichten und die als Tradition überliefert wurde, über andere, anfangs nicht vorhersehbare Fragen Auskunft zu geben und in anderen Zusammenhängen eine neue Bedeutung hervorzubringen. Jörn Rüsen hat diesen Vorgang der Zuschreibung von historischer Bedeutung auf den Punkt gebracht: „Was Quelle ist, hängt nämlich schlicht und einfach davon ab, was ich wissen will.“¹¹ Dass potenziell jedes Material ab einem gewissen Alter als Zeuge der Vergangenheit vernommen werden kann, ist – zumindest auf der theoretischen Ebene – der Grundsatz unseres modernen Quellenverständnisses. Diesen hat für die deutsche Geschichtswissenschaft zunächst Johann Martin Chladenius in seinem Werk Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752)¹² formuliert und Johann Gustav Droysen in seinen Vorlesungen zur Heuristik (1857– 1882) systematisiert. Zeugnisse sind für Droysen „Schriftsteller, Akten, Monumente, Gesetze, Zustände, Überbleibsel aller Art, von denen wir freilich wissen, daß ihr Ursprung in andere

 Dies bezeugen z. B. die Beiträge von Antoine de Jussieu zu verschiedenen Gesteinen und Steinbeilen: De l’origine et des usages de la Pierre de Foudre. In: Mémoires de l’Académie Royale des Sciences, année M. DCCXXIII. Paris 1753, S. 6 – 9, sowie den Bericht zu seinem Memoire in: Sur les Pierres de Foudre, les Yeux de Serpent, & les Crapaudines. In: Histoire de l’Académie Royale des Sciences, année M. DCCXXIII. Paris 1753, S. 15 – 17.  Rüsen, Historik, S. 176.  Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752). Einleitung von Christoph Friedrich u. Vorwort von Reinhart Koselleck. Wien [u. a.] 1985.

Einleitende Gedanken: Was für die Geschichte übrig bleibt

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und andere Zeiten hinaufreicht; aber sie liegen uns so gegenwärtig vor, daß wir sie erfassen können, und nur weil sie so noch in der Gegenwart stehen, können wir sie erfassen und u. a. als Material historischer Forschung benutzen“.¹³ Eine solche Quellendefinition wird im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Lehrbüchern zu historischen Methoden, zumindest im deutschsprachigen Wissenschaftsraum, immer wieder bestätigt. Auch der Optimismus dahingehend, dass seit der Renaissance die systematische Sammlung von historischen Materialien mit zunehmendem Eifer betrieben worden sei und sich die Arten der als Quellen geltenden Überreste stetig vermehrten, gehört zu diesem präsentistischen Quellenverständnis.¹⁴ Daraus ergibt sich, dass selbst die Bestimmung dessen, was als „historisches Material“ zu betrachten ist, ebenso wie die changierenden Erwartungen und Orientierungsbedürfnisse zu den geschichtlichen Fakten zählt. Auch diesen Fakten gilt das Interesse des vorliegenden Sammelbands. In dessen Vordergrund stehen nicht primär die Narrative, Diskurse, Rechtfertigungs- bzw. Legitimierungsargumente, sondern eher die Anerkennung, Selektion und Aufbereitung des historischen Materials, das über das jeweilige Wissen-Wollen und über bestimmte historische Fragen Aufschluss gibt. Angestrebt wird damit zunächst, die Geschichte der Geschichtswissenschaft und -schreibung gegen den Strich zu bürsten und sie aus einer ungewöhnlichen Perspektive neu zu beleuchten: Es geht um die Zusammenstellung von Quellenkorpora. Um den Blick auf den konstruktiven Charakter des historischen Materials zu schärfen, wird in dem Sammelband folglich das Augenmerk auf jene Vergangenheiten gelenkt, die sich an der Grenze der geschichtlichen Rekonstruierbarkeit befinden und hier unter dem Ausdruck „schriftlose Vergangenheiten“ subsumiert werden. Darunter werden vergangene Kulturen, Völker und Akteure, aber auch Ereignisse und Zustände verstanden, die keine oder nur unzulängliche schriftliche bzw. literarische Zeugnisse hinterlassen haben bzw. von denen dies tradiert ist. Für diese Überlieferungssituation mag es unterschiedliche Gründe geben: dass die Schrift als Tradierungsmittel noch nicht entwickelt war, absichtlich nicht verwendet wurde oder andere Tradierungspraktiken bestanden, dass das schriftlich fixierte Gedächtnis gezielt zerstört wurde oder fatalerweise abhandenkam, dass über bestimmte Vergangenheiten keine Selbstzeugnisse, sondern nur indirekte, fremde, als tendenziös eingestufte Schriftquellen aufbewahrt worden sind, nämlich die Zeugnisse der Sieger, der Kolonisatoren, der Macht-

 Droysen, Historik, S. 9.  Hierzu stellvertretend Ernst Bernheim: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Bd. 1. 5. u. 6. neubearb. u. verb. Aufl. New York 1960, S. 259.

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Lisa Regazzoni

haber, der Richter etc., oder auch, dass das historisch Rückblickende stetig neue Felder und Aspekte ins Visier nimmt, für die keine schriftliche Dokumentation vorliegt. Da sich die Geschichtswissenschaft, trotz ihres weiten Quellenverständnisses, primär als eine auf Schriftlichkeit gründende Wissenschaft versteht, stellen diese schriftlosen Vergangenheiten ein Vakuum, eine Grenze oder ein Hindernis auf dem Weg zur historischen Erkenntnis dar, kurzum: ein Problem und eine methodische Herausforderung zugleich. Wie historisch arbeitende Gelehrte und Wissenschaftler/-innen – von der Frühen Neuzeit bis in unsere Gegenwart – sich mit diesem Vakuum auseinandersetzten bzw. auseinandersetzen, welche Überreste sie als Alternativen zu den Schriftquellen herausfanden und herausfinden und welches Selbstverständnis sowie welche Funktion der Geschichte als Wissen(schaft) sie damit behaupteten oder noch heute vermitteln – dies sind die Fragestellungen, die im Mittelpunkt des Sammelbands stehen. Bevor auf diese Fragestellung näher eingegangen wird, sollen zunächst, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige Überlegungen angestellt werden, um den engen Zusammenhang zwischen Schrift und Geschichtswissenschaft, wie er sich in der Neuzeit herausgebildet hat, erneut zu hinterfragen.

2 Die Geschichtswissenschaft im Spiegel der Schriftlichkeit Es steht außer Frage, dass die europäische Geschichtsschreibung seit der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart weit vor allen anderen Zeugnisarten schriftliche Aufzeichnungen bevorzugt. Diese galten und gelten immer noch als die zugänglichsten, an Sinnhaftigkeit reichsten Materialien zur Beantwortung historischer Fragen. Hingegen geht die stärkere Fixierung auf die schriftlichen Aufzeichnungen als exklusive, wissenschaftlich gültige Quellen mit einer bestimmten Phase in der Geschichte der Geschichtsschreibung bzw. -wissenschaft einher, die weniger mit ihrer Verwissenschaftlichung ab dem 17. Jahrhundert als vielmehr mit ihrer Institutionalisierung und Etablierung als Leitdisziplin an den europäischen Universitäten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und überwiegend aber seit dem 19. Jahrhundert zusammenhängt.¹⁵ In diesem Zeitraum geriet die Schrift

 Hier werden die zwei Phasen zeitlich auseinandergehalten, da die Festlegung der Regeln, wie Geschichte anhand überprüfbarer Urkunden und weiterer empirischer Belege zu verfassen sei, ihrer Etablierung als Disziplin im universitären Kontext deutlich vorausgeht. Zu wichtigen Etappen dieser Entwicklung hat die Forschung jeweils die Kirchen- und Papstgeschichtsschrei-

Einleitende Gedanken: Was für die Geschichte übrig bleibt

XV

sowohl zum zeitlichen Trennungskriterium zwischen Prähistorie und Geschichte als auch zur räumlichen Zäsur zwischen der Vergangenheit der „Völker ohne Geschichte“ und derjenigen Europas und schließlich zur heuristischen Abgrenzung zwischen der Forschung, die im Universitätskontext betrieben, und der als laienhaft angesehenen Geschichte, die in den bürgerlichen Geschichtsvereinen und -museen gepflegt wurde (s. hierzu den Beitrag von Stefan Jordan in diesem Band). Die Forschung hat sich lange mit dieser Beschränkung der Geschichtswissenschaft auf das Kriterium Schriftlichkeit und die daraus folgende Exklusion weiterer Felder der Vergangenheit beschäftigt – jüngst aus postkolonialer, globalgeschichtlicher Perspektive.¹⁶ Die dafür genannten Gründe sind zahlreich: Zunächst, so ein Erklärungsversuch, hing dies mit der Etablierung der Geschichtswissenschaft als akademischer Disziplin zusammen. Dies geschah in Abgrenzung von der Geschichtsproduktion in den als dilettantisch angesehenen lokalen Geschichtsvereinen und kulturhistorischen Museen – etwa dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg¹⁷ –, die gegenüber dinglichen Quellen und mündlichen Überlieferungen weitaus offener waren als Berufshistoriker.¹⁸ Außerdem wurde die Ausklammerung schriftloser Kulturen aus der Geschichtswissenschaft mit dem Auftauchen anderer, miteinander konkurrierender wissen-

bung eines Caesar Baronius (1538 – 1607) erklärt, die „Académie“ der französischen Benediktiner – vertreten vor allem von Jean Mabillon (1632– 1707) und Bernard de Montfaucon (1655 – 1741) – oder, noch bevor Johann Christoph Gatterer (1727– 1799) 1764 die Historische Akademie in Göttingen gründete, Johann Martin Chladenius (1710 – 1759).  Henri Moniot: L’histoire des peuples sans histoire. In: Faire de l’histoire. Nouveaux problèmes, nouvelles approches, nouveaux objets. Hrsg. von Jacques Le Goff u. Pierre Nora. Paris 1974, S. 149 – 171; Eric R.Wolf: Europe and the People without History. Berkeley (Kalifornien) [u. a.] 1982; Christoph Marx: „Völker ohne Schrift und Geschichte“. Zur historischen Erfassung des vorkolonialen Schwarzafrika in der deutschen Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1988; Jürgen Osterhammel: „Peoples without History“ in British and German Historical Thought. In: British and German Historiography 1750 – 1950. Hrsg. von Benedikt Stuchtey u. Peter Wende. Oxford 2000, S. 265 – 287; Andrew Zimmerman: Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany. Chicago [u. a.] 2001, bes. S. 38 – 61; Andreas Eckert: Historiography on a „Continent without History“. Anglophone West Africa, 1880s–1940s. In: Across Cultural Borders. Historiography in Global Perspective. Hrsg. von Eckhardt Fuchs u. Benedikt Stuchtey. Lanham (Maryland) [u. a.] 2002, S. 99 – 118.  Grundlegend hierzu Bernward Deneke u. Rainer Kahsnitz: Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852– 1977. Beiträge zu seiner Geschichte. München/Berlin 1978; weiterhin erhellend für die vorliegende Fragestellung: Walter Hochreiter: Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte deutscher Museen 1800 – 1914. Darmstadt 1994, S. 58 – 86.  Jüngst hierzu Peter N. Miller: History and its Objects. Antiquarianism and Material Culture since 1500. Ithaca (New York) 2017, bes. S. 123 – 139.

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Lisa Regazzoni

schaftlicher Paradigmen gerechtfertigt, die aus der „Rippe der Geschichte“ hervorgegangen waren und sich seit dem 19. Jahrhundert zu selbstständigen Disziplinen entwickelten, in primis die Archäologie, die Anthropologie, die Ethnologie und die Volkskunde (s. dazu die Beiträge von Hans Peter Hahn, Gudrun M. König/ Elisabeth Timm und Nathan Schlanger). Eine weitere Ursache könnten die mangelnden Sprachkompetenzen gewesen sein, denn im 19. Jahrhundert waren die älteren Sprachsysteme nur unzureichend entschlüsselt und über Kenntnisse in den nicht-klassischen Sprachen – etwa den slawischen oder arabischen – verfügten Historiker in der Regel nicht, wie Stefan Jordan in dem vorliegenden Beitrag u. a. feststellt. Schließlich seien noch die Positionen von Historiker/innen wie Andrew Zimmerman genannt, die jüngst den Chauvinismus und Imperialismus der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert als weitere Gründe für diese Exklusion angeführt haben.¹⁹ Zu diesen Analysen, die sich stark auf das 19. Jahrhundert konzentrieren, möchte ich im Folgenden einige Überlegungen beisteuern, die die Gründe dieser Fixierung auf Schriftlichkeit weiter zurückverfolgen, nämlich bis ins 17. und 18. Jahrhundert.²⁰

2.1 Was das Alte Testament der Geschichte vererbte: ein Vakuum, das Geschichtsschreiber nicht füllen konnten oder wollten Eine wichtige Rolle in der Frage nach dem Ausschluss schriftloser Vergangenheiten aus der geschichtlichen Betrachtung spielte die Leerstelle in der menschlichen Ursprungsgeschichte, die durch die zunehmende Infragestellung des vorsintflutlichen Narrativs im Buch Moses entstand und das Thema für „Umbesetzungen“ freigab. Einerseits führte die frühneuzeitliche „Entdeckung“ neuer Erdteile und bisher unbekannter Bevölkerungen zu Fragen nach deren Herkunft und der Einheit des Menschengeschlechts, die das Alte Testament – trotz Hilfestellung des Pseudo-Berossus²¹ – nicht überzeugend zu beantworten wusste. Andererseits stellten nicht-europäische Systeme der Zeitrechnung, etwa die in Zimmerman, Anthropology, bes. S. 38 – 61.  Die folgenden Überlegungen gehen aus meiner Beschäftigung mit der Konstruktion der „keltischen“ Vergangenheit im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts im Kontext meines Habilitationsvorhabens hervor.  S. das immer noch grundlegende Werk von Giuliano Gliozzi: Adamo e il nuovo mondo. La nascita dell’antropologia come ideologia coloniale: dalle genealogie bibliche alle teorie razziali (1500 – 1700). Mailand 1977, hierzu S. 16 u. 28 f.

Einleitende Gedanken: Was für die Geschichte übrig bleibt

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dische und vor allem die chinesische, die die Erschaffung der Welt um einige Millennien früher ansetzten, die aus dem Alten Testament gefolgerte Chronologie der Welt infrage – selbst die in der Septuaginta-Fassung.²² Einen weiteren, grundlegenden Faktor bei der Entstehung dieser „Leerstelle“ stellt der historische Pyrrhonismus dar, den Descartes mit seiner Hinterfragung der Gewissheit historischer Erkenntnis und Tradition ausgelöst hatte und der sich in verschiedenen Varianten bis ins 18. Jahrhundert immer wieder erneuerte.²³ Der durch die Skeptiker erzeugte Druck, empirische Belege für die historische Überlieferung zu erbringen, hatte für die Erforschung und die Erzählung der Menschheitsgeschichte erhebliche Konsequenzen. Auf der einen Seite gaben historisch arbeitende Gelehrte die Erkundung des heiklen Terrains der Ursprungsgeschichte schlichtweg auf. Paradigmatisch dafür ist die Neuorientierung, die die Benediktiner von Saint-Germain-des-Prés hinsichtlich der historischen Forschung in Frankreich vollzogen: Sie, die einige Historiker/-innen mit guten Argumenten zu den Gründern der modernen Geschichtswissenschaft zählen,²⁴ wandten sich seit Ende des 17. Jahrhunderts von den Diskussionen über die ursprüngliche Weltgeschichte ab und widmeten sich zunehmend der eigenen Ordensgeschichte, die sie zeitgleich mit der merowingischen Herrschaft in Frankreich ansetzen ließen, sowie der weltlichen Geschichte der französischen Provinzen.²⁵

 Hierzu das erhellende Kapitel I tempi della storia umana in Paolo Rossi: I segni del tempo. Storia della Terra e storia delle nazioni da Hooke a Vico (1979). Mailand 2003, S. 150 – 225.  Carlo Borghero: La certezza e la storia. Cartesianesimo, pirronismo e conoscenza storica. Mailand 1983; Markus Völkel: „Pyrrhonismus historicus“ und „fides historica“. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis. Frankfurt a.M. [u. a.] 1987; Richard H. Popkin: The History of Scepticism. From Savonarola to Bayle. Verb. u. erw. Aufl. New York 2003; Carlos Spoerhase (Hrsg.): Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550 – 1850. Berlin/New York 2009; Anton M. Matytsin: The Specter of Skepticism in the Age of Enlightenment. Baltimore 2016. Zum Skeptizismus gegenüber der römischen Historiografie im 18. Jahrhundert s. das unübertroffene Werk von Mouza Raskolnikoff: Histoire romaine et critique historique dans l’Europe des lumières. La naissance de l’hypercritique dans l’historiographie de la Rome antique. Straßburg 1992.  S.vor allem die Studien von Blandine Barret-Kriegel: Les historiens et la monarchie. Bd. 1: Jean Mabillon. Paris 1988; Jean Mabillon: Brèves réflexions sur quelques règles de l’histoire. Mit Vorwort u. Anmerkungen von Blandine Barret-Kriegel. Paris 1990, S. 1– 35, sowie die prägnante Zusammenfassung von Manfred Weitlauff: Die Mauriner und ihr historisch kritisches Werk. In: Historische Kritik in der Theologie: Beiträge zu ihrer Geschichte. Hrsg. von Georg Schwaiger. Göttingen 1980, S. 153 – 209.  Maurice Lecomte: Les Bénédictins et l’Histoire des provinces aux XVIIe et XVIIIe siècles. Ligugé (Vienne) 1928.

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Auf der anderen Seite vermehrten sich die Versuche, die Beweisführung zum menschlichen Ursprung mithilfe neuartiger, nicht-schriftlicher Zeugnisse auf eine neue Basis zu stellen. Materielle und immaterielle Überreste der Vergangenheit wurden zunehmend als Belege eingesetzt, wenn die schriftliche Tradition infrage gestellt wurde oder es keine schriftliche Überlieferung gab (s. hierzu den Beitrag von Lisa Regazzoni). In Ermangelung von schriftlichen Dokumenten schienen die vielfältigen und polysemen Überreste – etwa Tierfossilien und versteinerte Muscheln, Denkmäler, Münzen, Gemmen und Siegel, Toponyme, Patronyme, Dialekte, Sprichwörter, Fabeln und Lobgesänge, Bräuche, Sitten, Trachten und sogar der Volksaberglaube – etwas Fundamentales zu versprechen: ein wahrhaftiges, authentisches, ursprüngliches und unmittelbares Zeugnis der Vergangenheit zu sein. Als Referenz- und Belegmaterial erfüllten diese Überreste die Funktion, (natur‐)historische Aussagen empirisch zu untermauern. Diese Spuren früherer Zeiten spielten eine unentbehrliche Rolle, wenn es um als schriftlos geltende Vergangenheiten oder aber um kulturelle und religiöse Aspekte ging, die in den Schriftstücken nicht erwähnt wurden. Dies lässt sich z. B. in der Frühen Neuzeit bei der historischen Erforschung von Völkern beobachten, die entweder in einiger geografischer Entfernung von den europäischen Ländern angesiedelt waren oder in fernen – biblischen oder vorrömischen – Vergangenheiten der europäischen Geschichte gelebt hatten. Auf der einen Seite führte die Begegnung der Europäer mit den autochthonen, bis dahin unbekannt gebliebenen Kulturen zu einem Übersetzungsproblem zwischen unterschiedlichen Kulturcodes, Modi der Aufzeichnung bzw. Tradierung der Vergangenheit und Vorstellungen von Zeit und Geschichte, die miteinander nicht kompatibel waren (s. hierzu den Beitrag von Antonella Romano). Gleichzeitig regten in Europa Identitätsbedürfnisse diverse historisch arbeitende Gelehrte dazu an, autochthone, nicht- bzw. vorrömische Kulturen vor allem im nordeuropäischen Raum zu untersuchen. Darauffolgend wurden ab dem 17. Jahrhundert als einheimisch gedeutete „ethnografische“, „archäologische“ und „linguistische“ Spezimina miteinander verflochten, um das Schweigen der Geschichte zu brechen (und zwar in einem Zusammenspiel, das, wie die Beiträge von Nicole Immig und Bettina Severin-Barboutie zeigen, noch im 19. respektive im 20. Jahrhundert von nicht professionellen Historiker/-innen praktiziert wurde und wird). Beispielsweise wurden Megalithbauten als Zeugnisse druidischer Kultpraktiken oder aber als Gräber nicht- bzw. vorrömischer Völker, etwa der Kelten, Bretonen oder Germanen, gedeutet.²⁶ Götternamen der Irokesen wurden anhand  Für die französische Diskussion über die Megalithen im europäischen Kontext verweise ich auf Lisa Regazzoni: Als die „groben Steine“ Keltisch sprachen. Die Megalithen als Quellen altgallischer Geschichte im Frankreich des 18. Jahrhunderts. In: Francia 42 (2015), S. 111– 134; dies.: Stoff für die Geschichte. Die Megalithen als Geschichtsdinge im Frankreich der 1720er Jahre. In:

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von morphologischen Vergleichen mit altsprachlichen Spezimina zu Belegen für die Abstammung der nordamerikanischen Völker aus Thrakien.²⁷ Volkstümliche Redewendungen in bretonischer Sprache wie „Gebe etwas zur Mistel, das Neujahr ist da“ galten als Überbleibsel der druidischen Verehrung dieser Pflanze vor Ort (s. dazu den Beitrag von Lisa Regazzoni). Muschel- und Fischfossilien, die im alpinen Raum aufgefunden wurden, deuteten Gelehrte im 17. und 18. Jahrhundert zunehmend als Dokumente der historischen Entwicklung der Natur und als Zeugnisse der größeren Ausdehnung der Meere zu uralten Zeiten.²⁸ Darüber hinaus diente der Vergleich zwischen den Gebrauchsgegenständen, Fabeln, Sitten und Trachten der räumlich fernen „Wilden“ mit denjenigen der zeitlich fernen „alten Europäer“ dazu, Auskunft über die weit zurückliegende Vergangenheit der europäischen Welt zu geben. Dieser Vergleich beruhte auf der Annahme, dass die „Wilden“ das vorschriftliche, ursprüngliche Stadium der europäischen Kultur widerspiegelten. Die Vorstellung, dass die „europäischen“ Kulturstadien sich letztlich nicht nur nacheinander in eine diachrone Fortschrittslinie einordnen, sondern auch in der synchronen Raumdimension wiederfinden lassen, brachte der Ökonom Anne Robert Jacques Turgot 1750 wirkungsvoll zum Ausdruck: Die unterschiedlichen Kulturniveaus, die gleichzeitig auf der Erdoberfläche bestünden, bezeichnete er als die Monumente sämtlicher Schritte der menschlichen Geistesgeschichte, von denen sie ihm zufolge Zeugnis ablegten.²⁹ Diese Praktiken des Vergleichs festigten schließlich die Überzeugung, die „Wilden“ befänden sich noch in der anfänglichen Entwicklungsphase der Steinzeit – eine Vorstellung, die ihnen den Zugang zur Weltgeschichte noch im 19. Jahrhundert verbaute. Im Zusammenhang mit der Fixierung auf die Schriftlichkeit spielt ein weiterer Aspekt eine wesentliche Rolle: Die Praktiken der Beobachtung und Beweisführung, die die Erforschung menschlicher Geschichte gewissermaßen mit derjenigen der Naturgeschichte teilte, konnten selten Narrative produzieren. Der Er-

Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Hrsg. von Annette Caroline Cremer u. Martin Mulsow. Köln [u. a.] 2017, S. 225 – 244.  Joseph François Lafitau: Mœurs des sauvages ameriquains, comparées aux mœurs des premiers temps. Bd. 1. Paris 1724, S. 126 – 135.  Zur Umdeutung der Fossilien in der Neuzeit und ihrer Aufwertung als Dokumente einer „historisierten“ Naturgeschichte s. Rossi, I segni del tempo; jüngst hierzu Alessandro Ottaviani: Stanze sul tempo. Sei variazioni tra rovine, fossili e vulcani. Rom 2017.  Anne-Robert-Jacques Turgot: Second discours. Sur les progrès successifs de l’esprit humain (1750). In: Œuvres. Mit Anmerkungen von Dupont de Nemours. Bd. 4. Paris 1844, S. 597– 611, hier S. 599.

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kenntnisgewinn, den einige Gelehrte aus der Untersuchung von nicht-schriftlichen Zeugnissen erzielten, kam anderen im Vergleich zu der an Auskünften reichen literarischen Überlieferung als belanglos und mangelhaft vor. Anhand von materiellen und immateriellen Dingen (in der heutigen Sprache: von archäologischen, ethnografischen und linguistischen Zeugnissen) ließen sich eher Abhandlungen über kulturelle sowie kultische Ausprägungen und Zustände schreiben sowie technische und stilistische Entwicklungen und anhand dieser im besten Fall Wanderungen von Völkern nachvollziehen, kaum aber Kausalketten, Ereignisfolgen, menschliche Beweggründe oder gar Politikgeschichte rekonstruieren. Häufig gelang es durch diese Funde lediglich, historiografische Auffassungen zu berichtigen, zu ergänzen oder infrage zu stellen. Die Praktiken der Zusammenstellung und des morphologischen Vergleichs empirischer Überreste, die als „antiquarisch“ bezeichnet wurden,³⁰ schienen ab dem 18. Jahrhundert die „historische Frage“ nach der schriftlosen, ursprünglichen Vergangenheit nicht befriedigend beantworten zu können. Die empirische Herangehensweise fiel dem Wahrheitsanspruch – wie auch dem beißenden Spott – der Geschichtsphilosophie anheim. Zuerst waren es „Geschichtsphilosophen“, etwa Voltaire,³¹ Johann Joachim Winckelmann³² und später Friedrich Nietzsche,³³ aber auch Historiker wie beispielsweise August Ludwig Schlözer³⁴ oder der Universalgelehrte John Evans (s. hierzu den Beitrag von Schlanger), die immer wieder die antiquarische Arbeitsweise tadelten. Aus ihrer Sicht konnte dieses empirische Vorgehen nur Gelehrtheit vermehren, kleinteilige und irrelevante Details über die Vergangenheit ans Licht bringen und lediglich zur Akkumulation pedantisch zusammengetragener Informationen führen, die eine „trockene“ Neugierde befriedigen, aber kein wahrhaftiges Wissen über die kausalen Zusammenhänge historischer Geschehnisse generieren. Voltaires Geschichtsphilosophie ordnete

 Es ist freilich schwierig, diese Praktiken fest mit der Figur des „Antiquars“ zu verbinden, weil dies die Existenz einer klar definierbaren Kategorie von Gelehrten suggeriert, die von derjenigen der Historiker getrennt ist. In der Tat konnte ein und derselbe Gelehrte gleichzeitig als „Antiquar“ oder aber als „Historiker“ bezeichnet werden, je nach Charakter und Forschungsmethode seiner Abhandlung.  S. hierzu das Kapitel La singe antiquaire in: Jean Seznec: Essais sur Diderot et l’antiquité. Oxford 1957, S. 79 – 96.  Johann Joachim Winckelmann: Vorrede. In: Ders.: Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden 1764, S. IX–XXVI, bes. S. XVII.  Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück:Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Leipzig 1874.  S. August Ludwig Schlözer: Theorie der Statistik. Göttingen 1804, S. 32 f. S. mit Bezug auf die „nordischen Antiquare“ Helmut Zedelmaier: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert. Hamburg 2003, S. 178.

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folglich die antiquarische, objektbezogene Herangehensweise der aufgeklärten Vernunft unter. Diese hatte es sich zur Aufgabe gestellt, allen glaubwürdigen Autoren und Zeugnissen zum Trotz, sämtliche Fakten einer Prüfung auf rationale Plausibilität zu unterziehen. Die Abwertung des Antiquarianismus ging zumindest im aufklärerischen Frankreich mit der Unterordnung der welthistorischen Erkenntnis unter die vernunftbegründete Beurteilung einher. Die unbesetzt gebliebenen schriftlosen Vergangenheiten wurden im Rahmen geschichtsphilosophischer Betrachtungen zu Projektionsflächen für Idealbilder, etwa der vorchristliche chinesische Theismus (Voltaire) oder der ursprüngliche, „wilde“ Zustand der Menschen (Rousseau), die als Ideale eine Orientierungsfunktion in der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts auszuüben hatten. Diese Ursprungsnarrative, von denen sich die Geschichtsforschung entweder langsam abwandte oder die durch antiquarische Methoden nicht hervorgebracht werden konnten, wurden zum Proprium der Geschichtsphilosophie. „Mit einer anthropologisch fundierten ‚Geschichte der Menschheit‘“, so Helmut Zedelmaier, „eroberte die Philosophie die von der kritischen Historie preisgegebene Totalität der Geschichte.“³⁵ Im Zuge dieser „Eroberung“ setzte die Philosophie die Ansprüche und Erwartungen fest, die jede Rekonstruktion der Vergangenheit – auch der zeitlich und räumlich fernen Vergangenheit – zu erfüllen hatte: Eine Herausarbeitung der transzendenten, rationalen Kausalität des historischen Fortschritts bzw. Weltgeschehens, die sich nicht damit zufriedengeben konnte, Begebenheiten und Zustände neben- oder nacheinander anzuordnen. Damit etablierte die Philosophie einen Auftrag, mit dem sich an der Schwelle zum 19. Jahrhundert jede Wissenschaft konfrontiert sah, die zur Leitdisziplin der Gesellschaft avancieren wollte. Daher lassen sich die Selbstdarstellung der deutschen Geschichtswissenschaft und die Rechtfertigung ihres Forschungsauftrags in der Gründungszeit besser begreifen, wenn man den Kampf um die Deutungshoheit der Vergangenheit berücksichtigt, den die Geschichtswissenschaft mit der (Geschichts‐)Philosophie in der zweiten Hälfte des 18. und verstärkt im 19. Jahrhundert zu führen hatte.

 Zedelmaier, Der Anfang, S. 10.

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2.2 Schriftlichkeit als unabdingbare Voraussetzung, um die „Aufgabe des Geschichtsschreibers“ zu erfüllen Egal, ob man die Rationalität menschlicher Entwicklung und ihrer Perfektibilität (Voltaire, Condorcet), die Idee eines Aufklärungsprozesses (Schlözer, Kant), den absoluten Geist (Hegel), das höchste sittliche Gute (Wilhelm von Humboldt) oder doch die sittlichen Mächte (Ranke, Droysen) betrachtet: Für keine dieser zukunftweisenden Ideen waren prähistorische oder auch gegenwärtige „wilde“ Kulturen von Belang. Greift man die Ausgangsfrage erneut auf, was die bedeutendsten Geschichtsschreiber im ausgehenden 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorwiegend wissen wollten und weshalb, ergibt sich eine recht eindeutige Antwort: Für diese Gelehrten bestand die wahre Aufgabe der Geschichtsschreibung darin, das Wirken „geistiger Mächte“ im historischen Geschehen herauszustellen. Wilhelm von Humboldt zufolge sind die Begebenheiten der Vergangenheit so darzustellen, dass das Streben einer Idee, und zwar des höchsten sittlichen Gutes, „Dasein in der Wirklichkeit“ gewinnt.³⁶ Für Leopold von Ranke erschöpft sich die historische Realität ebenso wenig im historischen Geschehen und in der Summe von einzelnen Völkergeschichten. Eine wahre Weltgeschichte war für ihn eine Geschichte, die den geistigen Zusammenhang jeder Einzelheit mit der Gesamtentwicklung erkennt. Was unter geistigem Zusammenhang zu verstehen ist, brachte er deutlich zum Ausdruck: „Die Nationen können in keinem anderen Zusammenhang in Betracht kommen, als inwiefern sie, die eine auf die andere wirkend, nacheinander erscheinen und miteinander eine lebendige Gesamtheit ausmachen“.³⁷ Nur die Vergangenheit, die aus seiner Sicht mit diesen geistigen Mächten in Berührung gekommen war oder noch kommen sollte, erlangte für ihn welthistorische Relevanz. Da nichteuropäische Völker – unter ihnen auch das chinesische und das indische Volk – seine Ansicht nach auf diesem Schauplatz keine Rolle spielten, betrachtete Ranke sie als „natürliche“, noch in ihrem Ursprungszustand verharrende Völker, die keine historische Entwicklung durchlaufen hätten. Davon unterscheidet sich aus heutiger Sicht Droysens Verständnis der Geschichte und ihres Gegenstands nur unwesentlich. Auch für ihn bestand die Aufgabe der Geschichte darin, den geistigen Zusammenhang der sittlichen Welt, nämlich „nach ihrem Werden und Wachsen“, zu begreifen. „Die  Wilhelm von Humboldt: Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers (vorgelesen am 12. April 1821). Leipzig 1946, S. 22.  Leopold von Ranke: Vorrede zur Weltgeschichte. In: Ders.: Weltgeschichte. Bd. 1: Von den ältesten historischen Völkergruppen bis zur Emanzipation der germanischen Völker. München 2000, S. 5 f., hier S. 6.

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historische Betrachtung“ – so schreibt Droysen – „fasst die Erscheinungen der sittlichen Welt nach ihrem Gewordensein auf, sie gibt ihnen, die ja nur in dem Hier und Jetzt sind, die Rückschau, in der sie sich selber verstehen lernen; sie zeigt ihnen ihre historische Wahrheit, d. h. die Wahrheit, die in ihrem Gewordensein erkennbar ist und die in ihrem Werden sich hat verwirklichen wollen“.³⁸ Während Ranke den Höhepunkt der historischen Entwicklung im europäischen System der Großmächte erkannte, sprach Droysen diesen Status dem preußischen Staat zu, der, so der Gelehrte, mehr als irgendein anderer Staat auf einem Prinzip der Entwicklung als auf einem statischen Grundsatz beruhe.³⁹ In Preußen setzte Droysen daher all seine Hoffnungen auf die Realisierung der deutschen Einheit. Trotz dieser Unterschiede glaubten beide Historiker als Protestanten – und in bewusster oder unbewusster Anlehnung an Hegel⁴⁰ – an eine göttliche Weltordnung, in deren unablässiger historischer Entwicklung Europa bzw. Preußen zum Höhepunkt bestimmt sei. Daraus ergibt sich auch die Fixierung auf die schriftlichen Quellen, aus denen sich den Historikern zufolge diese geistige Entwicklung nachvollziehen lässt. Nach Leopold von Rankes Auffassung beginnt Geschichte erst dort, wo Dokumente verständlich sind und glaubwürdige schriftliche Aufzeichnungen vorliegen.⁴¹ Die Vorgeschichte sei aus der „Historie“ auszuschließen, weil sie ihrem eigentlichen Prinzip, nämlich der urkundlichen Erforschung, widerspreche. Mit dem Mangel an Schriftquellen begründete Ranke auch den Ausschluss nichteuropäischer Gesellschaften aus der Weltgeschichte. Ihre Erforschung betrachtete er als irrelevant für die Geschichtsschreibung und als Aufgabe der Naturwissenschaften, der Naturgeschichte oder aber der Religionswissenschaft. Etwas komplexer fällt in jenen Jahren die Position Droysens aus, weil er – wohlgemerkt gegen Ranke gerichtet – eine breitere Auffassung dazu vertrat, welches Material für die Arbeit des Historikers adäquat sei, nämlich alles, was von der Vergangenheit als Ergebnis oder Überbleibsel gegenwärtig noch aufzufinden sei. Trotzdem grenzt auch Droysen de facto die Vergangenheit nichteuropäischer Zivilisationen ebenso wie die Urgeschichte aus der Geschichtswissenschaft aus.

 Droysen, Historik, S. 61.  Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. Wien [u. a.] 1997, S. 141.  Keiner der liberalen Historiker betrachtet sich selbst als Hegelianer. Nichtsdestotrotz: „mehr oder weniger bewusst übernahmen sie jedoch seine Vorstellung vom sittlichen Charakter des Staates und der sinnvollen Entwicklung der Geschichte.“ Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 126.  Ranke, Vorrede, S. 5.

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Aus diesen stichprobenartig angestellten Ausführungen ergibt sich die These, dass die Abwendung der Geschichtswissenschaft einerseits von den zeitlich und räumlich entfernten schriftlosen Vergangenheiten und andererseits von der antiquarischen Arbeit mit mündlichen und sachlichen Quellen auch mit der Veränderung der Erwartungen zusammenhing, die an die historische Darstellung geknüpft wurden. Überspitzt formuliert: Die Geschichtswissenschaft hat im Prozess ihrer Identitätsfindung und Legitimierung als wissenschaftliche und akademische Leitdisziplin gegenüber der Philosophie auf ganze historische Felder und Quellengattungen verzichten wollen und müssen.

2.3 Grenzorte des Nichtschriftlichen Konsequenterweise mündeten die verschiedenen Praktiken der Untersuchung von nichtschriftlichen Überresten im 19. Jahrhundert in die Entstehung neuer Disziplinen, etwa der Archäologie, der Ethnologie, der Anthropologie und der Volkskunde. Diese übernahmen in ihrer Anfangsphase von der Geschichte nicht nur die Methoden, sondern auch die aufgegebenen Forschungsgebiete sowie den Anspruch, historische Erkenntnisse zu gewinnen und historische Erzählungen hervorzubringen (hierzu die Beiträge von Hahn, König/Timm und Schlanger). Ob eine vollständige Emanzipation dieser Disziplinen von der Geschichte möglich war bzw. gelungen ist, bleibt offen, zumal die kulturelle Identität eines „Volkes“ immer noch auf historischen Erzählungen beruht. Umgekehrt blieb das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu diesen Disziplinen zwiespältig. Sie schloss sie einerseits in ihre methodischen Lehrbücher als Teil der Geschichte ein,⁴² indem sie die Nachbardisziplinen zu Hilfswissenschaften erklärte und vorgab, ihre Ergebnisse in die historische Darstellung einzubeziehen. Andererseits profitierte die Geschichte zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum von den Ergebnissen anderer Fächer.⁴³ Darüber hinaus hatte die Geschichtswissenschaft das Problem der nichtschriftlichen Vergangenheiten mit der Abtretung bestimmter Forschungsgebiete nur vorübergehend aus ihrer disziplinären Welt geschafft. Das Unbehagen gegenüber dieser Einschränkung auf die ausschließliche Heranziehung von

 Hierzu z. B. Bernheim, Lehrbuch, Bd. 1, S. 85 – 157, s. insbes. das Verhältnis zwischen Geschichte und Ethnologie (S. 99 f.).  Paradigmatisch dafür ist die Anerkennung, die Droysen dem Altertumsforscher und Archivar Georg Christian Friedrich Lisch (1801– 1883) und seinen Untersuchungen prähistorischer Funde zollte, ohne dass er diese Artefakte oder Geschichtsfelder jemals in seine Arbeit einbezog. S. Droysen, Historik, S. 71 f.

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schriftlichen Dokumenten sowie auf die Erforschung der Politik- und Ereignisgeschichte, vor allem in ihrer Ausprägung in der Ranke’schen Schule, kam bei den Historikern seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend zum Ausdruck. Beispiele hierfür sind: Numa Denis Fustel de Coulanges’ Appell, in Ermangelung von Schriftquellen alle menschlichen Spuren zu befragen;⁴⁴ Camille Jullians Verwertung der archäologischen Überreste und der einfachen Artefakte;⁴⁵ Karl Lamprechts Untersuchungen von Bildmaterial, etwa der ornamentierten Initiale, um eine Geschichte der deutschen Geschmacksentwicklung zu verfassen,⁴⁶ ferner seine gesamten kulturgeschichtlichen Ansätze; die Annales-Schule mit ihrer Abwendung von der Ereignisgeschichte und ihrem stark differenzierten Quellenverständnis, das auch archäologische, kunsthistorische und Schriftstücke zur Erfassung quantitativer Statistiken umfasste;⁴⁷ die griechischen und türkischen Mitglieder von Flüchtlingsvereinen, die auf der Basis von volkstümlichem Material die jeweilige Geschichte der „ethnischen“ Gruppen vor dem Bevölkerungsaustausch von 1923 rekonstruieren wollten (hierzu Immig); der „Gründervater“ der modernen Oral History, Allan Nevins, der mithilfe von mündlichen Berichten, von nicht schriftlich verfassten Erinnerungen, die politischen und kulturellen Aspekte der jüngsten amerikanischen Geschichte vor der Vergessenheit retten wollte; alle darauf folgenden Benutzer dieser Methode, die damit eine Vielstimmigkeit und Demokratisierung der Geschichte im weiten Sinne anstrebten – etwa Lutz Niethammer und seine Befragung der Arbeiter im Ruhrgebiet, um der Masse der Unterschicht eine Stimme zu verleihen und damit eine demokratische

 Dazu äußerte er sich wie folgt: „La où l’homme a passé, là où il a laissé quelque faible empreinte de sa vie et de son intelligence, là est l’histoire“. Zit. Numa Denis Fustel de Coulanges: Une leçon d’ouverture et quelques fragments inédits de Fustel de Coulanges. In: Revue de synthèse historique 2 (1901), S. 241– 263, hier S. 245.  Camille Jullian: La Vie et l’Étude des Monuments Français. Leçon d’inauguration de la Chaire d’Histoire et d’Antiquités nationales prononcée au Collège de France le 7 décembre 1905. Paris 1906, S. 10 f.; ders.: Histoire de la Gaule. Bd. 1: Les invasions gauloises et la colonisation grecque. Paris 1920, bes. S. 153– 172; ders.: Au seuil de notre histoire. Leçons faites au Collège de France. Bd. 1: 1905 – 1914. Poitiers 1930, S. 57 f.  Karl Lamprecht: Initial-Ornamentik des VIII. bis XIII. Jahrhunderts. Leipzig 1882.  Vgl. hierzu die eindrucksvollen Worte Lucien Febvres aus seinem Aufsatz über Marc Blochs posthum erschienenes Werk Apologie de l’histoire ou Métier d’historien: „L’histoire se fait avec des documents écrits, sans doute. Quand il y en a. Mais elle peut se faire, elle doit se faire, sans documents écrits s’il n’en existe point […] Donc, avec des mots. Des signes. Des paysages et des tuiles. Des formes de champ et de mauvaises herbes. Des éclipses de lune et des colliers d’attelage. Des expertises de pierres par des géologues et des analyses d’épées en métal par des chimistes. D’un mot, avec tout ce qui, étant à l’homme, dépend de l’homme, sert à l’homme, exprime l’homme, signifie la présence, l’activité, les goûts et les façons d’être de l’homme.“ Ders.: Vers une autre histoire (1949). In: Ders.: Combats pour l’histoire. 2. Aufl. Paris 1965, S. 419 – 438, hier S. 428.

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Geschichte zu entwickeln; all die Historiker/-innen, die weiterhin auf der Baustelle der afrikanischen Geschichte mithilfe von mündlichen und gegenständlichen Zeugnissen arbeiten (hierzu den Beitrag von Nikolas Gestrich); oder aber die Anklage gegen die schriftlichen Dokumente, die zum Ausdruck der Macht werden, die gegen die „anderen“ ausgeübt wird, wie dies Michel de Certeau oder Michel Foucault exemplarisch ausloteten.⁴⁸ Diese sehr knappe Auswahl an Beispielen steht hier stellvertretend für die breit angelegte und stetige Infragestellung einer inhaltlich und methodologisch zu eng gefassten Geschichtswissenschaft. Die genannten Ansätze bestätigen darüber hinaus, dass hinter jeder Zusammenstellung und Aufbereitung von historischen Zeugnissen nicht nur eine historische Frage steht, sondern auch eine Vorstellung dessen, was Geschichte sei und welche Aufgabe sie zu erfüllen habe.

3 Das Bekenntnis zu den schriftlosen Vergangenheiten und den nicht-schriftlichen Spuren Der Rückgriff auf hybride Korpora wird in der gegenwärtigen Forschung unumgänglich, wenn die Erfordernisse der postkolonialen Geschichtsschreibung ernst genommen werden (hierzu den Beitrag von Alessandro Triulzi). Dabei geht es nicht darum, „die Geltungsansprüche fachwissenschaftlicher Erkenntnisleistungen allzu schnell als ideologisch, als obsolet gewordenes westliches Herrschaftsdenken“⁴⁹ abzutun, sondern darum, zur kritischen Auseinandersetzung mit der modernen Geschichtsschreibung als europäischer Wissensform beizutragen.⁵⁰ Dazu gehört das Bewusstsein, dass die Geschichtsschreibung, wie sie sich ab der Frühen Neuzeit herausgebildet hat, „Europa“ zum souveränen Subjekt aller Geschichten erhoben, die Kategorien des historischen Denkens geprägt und  Hierzu Michel de Certeau zu den „Wissenschaften vom ‚Anderen‘“ in: Ders.: GlaubensSchwachheit. Hrsg. von Luce Giard. Stuttgart 2009 (frz.: 1987), bes. S. 170 f.; sowie die Summa seiner Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung in ders.: Das Schreiben der Geschichte. Frankfurt a.M./New York 1991 (frz.: 1975); zu Michel Foucault s. insbesondere: La vie des hommes infâmes. In: Ders.: Dits et écrits II, 1976 – 1988. Paris 2001, S. 237– 253.  Rüsen, Historik, S. 19.  S. zu dieser Problemstellung die inzwischen zu Klassikern der Post-colonial Studies gewordenen Beträge von Dipesh Chakrabarty: A Small History of Subaltern Studies. In: Habitations of Modernity. Essays in the Wake of Subaltern Studies. Hrsg. von Dipesh Chakrabarty. Chicago 2002, S. 3 – 19; ders.: Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton (New Jersey) 2000.

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die explanantes der geschichtlichen Entwicklung für die gesamte Weltgeschichte festgelegt hat, was Historiker/innen aus den einst europäischen Kolonien bis heute Probleme bereitet.⁵¹ In ihrem Anspruch, Selbsterkenntnis zu üben, wie Heraklit es mit dem Spruch „erkenne dich selbst“⁵² forderte und worauf sich Droysen unermüdlich berief, hat die historische Erkenntnis unter dem Begriff „Menschheit“ vorwiegend die Europäer/innen erkundet. Dass die europäische Geschichtsschreibung in hohem Maße selbstreferenziell ist, weil sie weitgehend auf selbst produzierten Schriftquellen beruht,⁵³ brachte Michel de Certeau in den 1970er-Jahren mit großer Schärfe in seiner Analyse zum Ausdruck, die keineswegs an Aktualität verloren hat (s. dazu auch den Beitrag von Romano). Ebenso zeitgemäß wirkt seine Aufforderung: „Man muss schon neue Verfahren erfinden, die in einer Geschichtswissenschaft anderen Typs auch Erfahrungen ohne Schrift samt der ihnen eigenen Optik ihren Platz finden lassen.“⁵⁴ All diese Reflexionen haben die Frage, was wir als Historiker/innen über die Vergangenheit wissen wollen, stark verändert. Entsprechend fällt der sich daraus entwickelnde „demokratisierte“ oder zumindest „pluralisierte“ Geschichtsblick vermehrt auf medial ausdifferenzierte Überreste, die andere Praktiken und Methoden der Quellenarbeit verlangen und vor allem multidisziplinäre Fachkompetenzen oder aber Kooperationen erfordern. Das wirkt sich wiederum stark auf das Selbstverständnis der Disziplin „Geschichtswissenschaft“ aus. Um diese Bereiche im Sinne der geltenden wissenschaftlichen Ansprüche, aber in Ermangelung von Schriftquellen zu untersuchen, müssen die Historiker/-innen „jede Spur als ein Dokument“⁵⁵ betrachten. Mauer- und Stadtüberreste, Hügelgräber, Ruinen  S. den Überblick in Eckhardt Fuchs: Introduction. Provincializing Europe. Historiography as a Transcultural Concept. In: Fuchs/Stuchtey, Across Cultural Borders, S. 1– 28. Vgl. ferner Jack Goody, der nicht nur beklagt, dass Europa dem Rest der Welt seine historischen Begriffe und Periodisierung auferlegt habe, sondern auch, dass Europa bestimmte Lebensformen (etwa die Demokratie, die Freiheit, die Familie) unrechtsmäßig als eigene exklusive Erfindung beansprucht. S. ders.: The Theft of History. Cambridge 2006.  Droysen, Historik, S. 28.  Michel de Certeau: L’opération historique. In: Le Goff/Nora (Hrsg.), Faire de l’histoire, S. 17– 66, bes. S. 39 f.  Certeau, GlaubensSchwachheit, S. 171.  In Bezug auf die Erforschung der vorkolonialen subsaharischen Geschichte schreibt FrançoisXavier Fauvelle: „La rareté de nos sources crée une obligation, qui est sans aucun doute l’une des caractéristiques les plus fortes du métier d’historien de l’Afrique: celle de considérer chaque trace à l’égal d’un document“: Ders.: Le rhinocéros d’or. Histoire du Moyen Âge africain. Paris 2013, S. 18. Einen guten Überblick über Quellen und Methoden zur Erforschung des „vorkolonialen“ Afrikas bietet Adam Jones: Afrika bis 1850. Frankfurt a.M. 2016, S. 32– 39. S. des Weiteren die ihm gewidmete Festschrift: Geert Castryck [u. a.]: Sources and Methods for African History and Culture. Essays in Honour of Adam Jones. Leipzig 2016.

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eines Salzbergwerks, ein Fund von Goldmünzen, eine Landkarte, landschaftliche Veränderungen sowie einige spärliche arabische Quellen, die indirekt über Handelswege und -orte berichten, all das sind die historischen Materialien, mit denen beispielsweise der Historiker und Archäologe François-Xavier Fauvelle versucht, einige wenige Mosaiksteine der Geschichte Afrikas südlich der Sahara vom 8. bis 15. Jahrhundert zu rekonstruieren.⁵⁶ Selbst die mündliche Überlieferung, die heutzutage Afrikahistoriker/-innen sehr bedingt einsetzen, kann in einer multidisziplinären Rekonstruktion historischer vorkolonialer Kontexte erneut an Zeugniswert gewinnen⁵⁷ (s. den Beitrag von Gestrich). Damit kommen diese Historiker/-innen der Aufforderung de Certeaus nach, dem Gesichtspunkt der „anderen“ gerecht zu werden. Infolge dieser Arbeiten kommen schließlich Wandlungen und Begebenheiten in der afrikanischen Vergangenheit ans Licht, die Historiker/-innen ihr bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts im Namen der postulierten Beständigkeit und Immobilität „primitiver“ Gesellschaften abgesprochen hatten.⁵⁸ Die daraus resultierenden Ergebnisse stellen eine Herausforderung auch hinsichtlich der Darstellungsform dar, die das Kriterium des immanenten Zusammenhangs nicht befriedigen kann – ein weiteres schwer zu lösendes Grundproblem der Geschichtsmethodik und -theorie. Lücken und Widersprüche werden konsequent offengelegt. Es entstehen keine einheitlichen (Master‐)Erzählungen, sondern fragmentarische Rekonstruktionsansätze, deren narrative Logik sich an den aufgefundenen Spuren entlang herausbildet. Die Frage, wie mit nicht schriftlich überlieferten Vergangenheiten umzugehen sei, scheint auch in Bezug auf die Vergangenheit von schriftbasierten Gesellschaften aktueller denn je geworden zu sein. Diesen Eindruck bestätigen die Ansätze, die sich in den letzten Jahrzehnten akademisch etabliert haben, wie die Oral History, die all die historischen „subalternen“ Subjekte zur Sprache kommen lässt, die bis dahin von der auf schriftlichen Belegen basierenden Geschichte vernachlässigt oder nur einseitig erfasst wurden; ebenso die jüngst entstandene Genetic History (hier durch den Beitrag von Geary vertreten), deren programmatische Herausforderung darin besteht, unzulänglich schriftlich dokumentierte Phänomene der Wanderung von Menschengruppen, die eine starke Auswirkung auf die damalige politische Ordnung und kulturelle Identität hatten, anhand genetischer Spuren zu rekonstruieren. Auch die rasante Aufeinanderfolge von

 Fauvelle, Le rhinocéros d’or.  Das Problem wird vor allem von den Wissenschaftler/-innen thematisiert, die sich, und zwar vor Ort, mit der vorkolonialen Geschichte Afrikas beschäftigen. Hierzu Théodore Nicoué Gayibor: Sources orales & histoire africaine. Approches méthodologiques. Paris 2011, bes. S. 195 – 203.  Hierzu sowie zur schwierigen Verortung der Geschichte Afrikas im akademischen Wissenssystem Jones, Afrika, S. 17 f.

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historiografischen Neuansätzen, etwa des material, visual oder acoustic turn (hierzu die Beiträge von Jens Jäger und Muriel Favre),⁵⁹ drückt unter anderem das Bedürfnis aus, auf neuartige hybride Quellenkorpora zurückzugreifen, um Fragen der Mentalitäts-, Ideen- oder Wissensgeschichte, der Alltagsgeschichte, der Technik- und Wissenschaftsgeschichte, der Wahrnehmungs- und Emotionsgeschichte, des vergangenen impliziten Wissens, der Gender- oder Migrationsgeschichte (hierzu der Beitrag von Triulzi) etc. zu behandeln. Teilweise ist die politische Brisanz bestimmter historischer Fragen derart hoch, dass der Einsatz neuartiger Spuren und mühseliger Forschungsmethoden unerlässlich wird, um Mastererzählungen zu dekonstruieren, die konfliktgeladene, ethnisch-identitäre Ansprüche untermauern – etwa der DNA-Untersuchung in der mittelalterlichen Migrationsgeschichte (Geary) oder der Einbeziehung von Flora und Fauna aus vorkolonialer Zeit in der Erforschung der Geschichte der französischen Insel La Réunion (Severin-Barboutie). Die Vervielfachung der Subdisziplinen und Quellenmethoden ist ein wichtiger Indikator dafür, dass die Geschichtswissenschaft als Disziplin weitgehend auf einer Heuristik beruht, die sich de facto immer weniger exklusiv über die Schrift und ihre Zeugnisse definieren lässt, vor allem, indem sie sich zu einem globalen, differenzierten, polysemen Blick auf die Vergangenheit bekennt. Der wichtigste Gewinn aus all diesen Ansätzen besteht darin, dass sich diese nicht darauf beschränken, Lücken im historischen Wissen zu schließen bzw. dem erreichten Wissensstand zusätzliche Informationen hinzuzufügen. Vielmehr erschließen sie zugleich neue Forschungsfelder und generieren neue Fragen; sie veranlassen multidisziplinäre Herangehensweisen, die zum stetigen Neu-Arrangement der Disziplinen im Wissenschaftssystem beitragen; sie eröffnen bis jetzt vernachlässigten, ausgegrenzten Individuen und Menschengruppen, Sachverhalten und Sichtweisen Eingang in die Geschichte; sie brechen mit vereinheitlichenden mythisierenden Meistererzählungen und lassen die Multivokalität historischer Realitäten zu.

 Hier werden nur die turns erwähnt, die im vorliegenden Band behandelt werden, stellvertretend für die zahlreichen weiteren Ansätze, die zur Zeit bestehen. Zur Orientierung im Wald der turns s. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006.

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4 Plädoyer für eine Geschichtswissenschaft bis zu den Grenzen und darüber hinaus Zur Untersuchung des Umgangs mit schriftlosen Vergangenheiten ist ein knapper Fragenkatalog verfasst worden, der den Autor/-innen dieses Sammelbands zur Orientierung vorlag und sich in vier Fragenkomplexe gliedert. Der erste betrifft die Verfasser einer bestimmten Geschichte und ihre Standortbestimmung, ihren Bezug zu der erforschten Vergangenheit, ob er überhaupt bestehe oder ob er nur imaginiert worden sei, die Gründe, Identitäts- und Orientierungsbedürfnisse, die religiösen oder politischen Ansprüche, die sie bewegen, sowie die Kriterien, anhand derer sie Autorität in dem Forschungsgebiet beanspruchen (bspw. als Zeuge, Nachfahre, Eingeborener oder aufgrund besonderer wissenschaftlicher Expertise). Der zweite Komplex betrifft Fragen nach der Epistemologie der historischen Quellen: wie Historiker/-innen den Mangel an Schriftzeugnissen erklären, ob es sich um eine Vergangenheit handele, in der man keine Schrift gekannt bzw. verwendet habe, oder ob die Schriftzeugnisse (un‐)absichtlich getilgt worden seien und weshalb, welche künstlichen, organischen oder immateriellen Überreste im Laufe der Zeit zum Status historischer Quellen erhoben worden seien, um neues Belegmaterial bereitzustellen, welche Denkmuster und hermeneutischen Mittel die Auswertung dieser Quellen unterstützen bzw. verhindern, anhand welcher disziplinären (neuen) Methoden die herangezogenen „Überreste“ zum Sprechen gebracht worden seien und welche Erwartungen auf Antworten sie erweckt hätten. Ein drittes Fragenbündel fokussiert sich auf die historische Erzählung und die Darstellungsform, nämlich, wie die zu untersuchende Vergangenheit räumlich und zeitlich eingegrenzt worden sei, welches Vorwissen über das Forschungsfeld und welche neuen historischen Erkenntnisse aus nicht-schriftlichen Quellen gewonnen worden seien, inwiefern sie herkömmliche Narrative berichtigten, ergänzten oder sogar widerlegten, welche Aussagen damit ausgeschlossen würden und welche Darstellungsform sich für die Präsentation der erzielten Erkenntnisse eigne. Das vierte Fragenbündel dreht sich um die Definition und Standortbestimmung der Geschichte im Spannungsfeld des Wissenssystems: Welches Verständnis von Geschichte als Wissensfeld bzw. Disziplin implizit oder explizit vermittelt werde, gegen welches etablierte Muster der Geschichtswissenschaft und gegen welche Methoden sich dieses ggf. durchsetzen müsse, ob all dies das Überdenken von Geschichte und damit Irritationen und Auseinandersetzungen in der Zunft ausgelöst habe, wie sich die Geschichte bzw. die historische Forschung von anderen Disziplinen abgrenze und in welchem Verhältnis sie zu den Hilfswissenschaften stehe, ob sie mit diesen interdisziplinär zusammenarbeite oder lediglich deren Ergebnisse benutze.

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Zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen sind Historiker/-innen und historisch arbeitende Wissenschaftler/-innen aus benachbarten Disziplinen eingeladen worden, die aus drei verschiedenen Perspektiven zum vorliegenden Sammelband beigetragen haben: aus einer historiografischen Perspektive, wobei sie sich mit Fallbeispielen von vergangenen und gegenwärtigen Weisen des Herangehens an schriftlose Vergangenheiten auseinandergesetzt haben (Romano, Regazzoni, Immig, Severin-Barboutie); aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive, die das zentrale Moment der Ausdifferenzierung der Disziplinen bzw. ihrer Entstehung aus der Rippe der Geschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Blick nimmt (Jordan, Schlanger, König/Timm, Hahn), und aus einer praktischen Perspektive von historisch arbeitenden Wissenschaftlern/-innen – und, im Fall von Giacomo Sferlazzo, eines Künstlers –, die selbst mit hybriden Zeugnissen und mithilfe von interdisziplinären Ansätzen operieren (Geary, Gestrich, Jäger, Favre, Triulzi, Sferlazzo) und von ihrer Herangehensweise an bestimmte schriftlose Vergangenheiten berichten. Diese drei Perspektiven bestimmen auch den dreiteiligen Aufbau des Sammelbandes. Alle diese Beiträge vermögen zu den gestellten Fragenkomplexen exemplarisch Wichtiges beizusteuern und werfen wiederum neue Fragen auf, die die Identität des Arbeitsgebiets Geschichtswissenschaft in historischer und gegenwärtiger Perspektive zur Debatte stellen: Wie weit kann sich ihr Forschungsterrain ausdehnen, damit sie mit ihrem methodischen Instrumentarium noch Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann? In welchem Bereich muss sie ihre Methodik aufgeben und sich Ansätze anderer Disziplinen aneignen, um ihr WissenWollen zu befriedigen? Dienen die erzielten Auskünfte noch dazu, die historische Erkenntnis zu erweitern, oder sind sie dafür unbrauchbar bzw. irrelevant? Welche Kontinuitäten und Brüche lassen sich bei den Herangehensweisen an nichtschriftliche Zeugnisse aufzeichnen? Wie viele Kompromisse kann und will die Geschichtswissenschaft in der interdisziplinären Arbeitsweise eingehen, damit ihr Selbstverständnis als Disziplin bestehen bleibt? Oder anders formuliert: Wie viel „Fremdes“ – an Methoden, Zeugnisarten, Konzepten – kann sie sich einverleiben und sich dabei immer noch als Geschichtswissenschaft definieren? An ihrer Grenze verdichten sich also die Fragen. Dieser Sammelband versteht sich als Plädoyer für Grenzüberschreitungen und -erweiterungen, damit die Geschichtswissenschaft in Anbetracht des Pluralismus an Fragen, die die Gegenwart an die Vergangenheit richtet, ein entscheidendes Wort mitreden kann. Abschließend seien hier noch kurz Droysens Worte in Erinnerung gerufen, die wie ein künftigen Historikern/-innen hinterlassenes Vermächtnis klingt: „Und es ist noch unermesslich viel da, das nur noch nicht gesehen ist, nur darauf wartet, beachtet, richtig gefragt, als noch gegenwärtiger Zeuge von Vergangenem ver-

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nommen zu werden.“⁶⁰ Es sind Worte, die einerseits als Aussage, es gebe noch viel zu tun, und damit als Aufforderung zur Arbeit gedeutet werden können, und andererseits als Aufmunterung: Für Historiker und Historikerinnen bleibt noch viel Material übrig.

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 Droysen, Historik, S. 68.

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Historiografische Perspektiven

Antonella Romano

Schrift und Geschichte in der Erfahrung der Missionare im 16. Jahrhundert

Diesem Aufsatz liegt folgende Arbeitshypothese zugrunde: Es ist sinnvoll, missionarische Quellen aus dem 16. Jahrhundert nach dem Verhältnis zur Vergangenheit der beschriebenen Gesellschaften zu befragen, auch wenn sich diese Textgattung nicht unmittelbar für diese Fragestellung aufdrängt. Häufig wurden sie als frühe ethnografische Zeugnisse der überseeischen Gesellschaften untersucht, aber ihr Wert als Geschichtsquellen ist weniger gut bekannt. Dabei mussten sich ihre Autoren durch konkrete und doktrinäre Fragen der Bekehrung schnell Wissen über diese Gesellschaften aneignen. Es galt, die soziale, politische und kulturelle Organisationsform zu berücksichtigen sowie ihr Verhältnis zu ihren Vorfahren, ihrer Vergangenheit und denen dafür notwendigen Aufzeichnungssystemen.¹ Die Missionare fanden sich durch die gleichzeitige Konfrontation mit Ost- und Westindien in unterschiedlichen „Zivilisationssituationen“ wieder: Sie landeten an den Küsten Chinas und Amerikas und waren sowohl individuell mit radikal anderen sozialen Organisationsformen als auch kollektiv mit einem Spektrum von Differenzen konfrontiert, das sich über die gesamte bekannte Welt erstreckte. Die Epizentren dieser Erstellung und Vertiefung eines solchen Spektrums waren die Stadt-Welten des Katholizismus, für die Rom ein gutes Beispiel darstellt: Ein Lagerhaus des Wissens über die Welt durch ihren Status als politische und institutionelle Hauptstadt der – seit dem 16. Jahrhundert – katholischen Christenheit. Rom war selbst ein spektakulärer Schauplatz von Ruinen und Wiederaufbauten einer mehrere tausend Jahre andauernden einzigartigen Geschichte, die die Antike mit der modernen Welt verband. Aus historiografischer Sicht kann die Frage nach den Beziehungen der Gesellschaften zu ihrer Vergangenheit und nach dem ungleichen Bezug auf die Spuren ihrer Vergangenheit aus mehreren Blickwinkeln betrachtet werden. Das Ganze geschieht im Rahmen einer Genealogie, die lange Zeit unter dem Zeichen der Problematik der Alterität stand. Verschiedene historiografische Traditionen

 Über den Imperativ des Wissens, den die Missionierung verursachte: Perla Chinchilla u. Antonella Romano (Hrsg.): Escrituras de la modernidad. Los jesuitas entre cultura retórica y cultura científica. Mexiko 2008; Charlotte de Castelnau-L’Estoile [u. a.] (Hrsg.): Missions d’évangélisation et circulation des savoirs. XVIe–XVIIIe siècle. Madrid 2011 (Collection de la Casa de Velázquez 120); Antonella Romano: Les savoirs de la mission. In: Histoire des sciences et des savoirs. Hrsg. von Stéphane Van Damme. Bd. 1. Paris 2015, S. 347– 366. https://doi.org/10.1515/9783110552201-003

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haben je nach den Chronologien und den unterschiedlichen intellektuellen und politischen Logiken, die mehr oder weniger von den Sozialwissenschaften beeinflusst waren oder in einem engen Verhältnis zur Anthropologie standen, die die Gesellschaften und Welten des Ancien Régime unter dem Blickwinkel der Differenz und der Dominanz betrachtet. In Frankreich entstand mit Traurige Tropen (1955, deutsch 1960),² Das Schreiben der Geschichte (1975, deutsch 1991)³ oder Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen (1982, deutsch 1985)⁴ ein Reflexionsraum über die Modalitäten des Umgangs der Geschichtswissenschaft mit der Geschichte der „geschichtslosen Völker“. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als die Vollendung des Prozesses der Dekolonialisierung auf kraftvolle und verstörende Art zeigte, dass diese Akteure selbst Geschichte schrieben, und zwar nach einem Muster, das dem westlichen zu gleichen schien: vom „Dritten Stand“ der französischen Revolution zur „Dritten Welt“ der postkolonialen Gegenwart.⁵ Die Thematik der Geschichtslosigkeit traf diesen Autoren zufolge auf zwei Situationen zu: Einerseits Situationen, in denen es keine geschriebenen Spuren von Vergangenheiten gab und die somit die faszinierende Frage aufwarfen, was unter Schrift verstanden werden sollte, vor allem in Bezug auf die mesoamerikanischen Kulturen, die Piktogramme benutzten; andererseits Situationen, in denen es keine materiellen Spuren einer Einschreibung in die Zeit gab, sei es in Form von Bauwerken, städtischen Organismen oder Archivsystemen. Im Zentrum dieser historiografischen Überlegungen stand zunächst das Paradigma des „Wilden“. Das Primat der Schrift als Marker für legitime Speicherung von Vergangenheit wurde nicht hinterfragt. Die Epistemologie der Geschichte musste erst durch neue Debatten infrage gestellt werden, damit andere Formen des Ausdrucks der Verbindung der Vergangenheit und ihrer Spuren sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in den Sozialwissenschaften entstehen konnten. Provincializing Europe (2000)⁶ oder The Theft of History (2006)⁷ sind Ausdruck dieser Bewegung: Die Kritik hat sich in der Zwischenzeit von der Untersuchung des Anderen hin zur Untersuchung des  Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Frankfurt a.M. 1978 (Frz.: 1955).  Michel de Certeau: Das Schreiben der Geschichte. Frankfurt a.M. 1991 (Frz.: 1975).  Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt a.M. 1985 (Frz.: 1982).  Der Ausdruck „Dritte Welt“ wurde 1952 durch den Demografen Alfred Sauvy geprägt. Erstmals verwendet er diesen in einem Artikel, der in der französischen Wochenzeitschrift L’Observateur erschien. Eine breite Bekanntheit erlangte er durch: Georges Balandier (Hrsg.): Le Tiers Monde. Sous-développement et développement. Préface d’Alfred Sauvy. Paris 1956.  Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M. 2010 (Theorie und Gesellschaft 72) (Engl.: 2000).  Jack Goody: The Theft of History. Cambridge 2006.

Schrift und Geschichte in der Erfahrung der Missionare im 16. Jahrhundert

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Eurozentrismus in der Geschichtsphilosophie oder allgemeiner auf die eurozentrischen und imperialistischen Wurzeln der Anthropologie verschoben. Diese Verschiebung hat eine Fülle von Arbeiten hervorgebracht, die verschiedene Teile Europas in den Blick nehmen.⁸ Es scheint, dass die Überlegungen über Amerikas Vergangenheit ohne Spuren sich aus diesen zwei Quellen speisen, wie es auch J. Canizares-Esguerra in seiner Neuformulierung der großen Debatte über die Geschichtsschreibung der „Entdeckung“ der „Neuen Welt“ – in Anschluss an E. O’Gorman, A. Gerbi, A. Pagden oder J. Rabassa, um nur die Bekanntesten zu nennen – vorschlägt.⁹ Die eurozentrische Konzeption der Geschichte und ihre Definition mit dem engen/untrennbaren Bezug zur Schrift als Wächterin der Vergangenheit wird infrage gestellt, und zwar indem sie ihr epistemologisches Unvermögen zu erkennen gibt, Alterität zur Kenntnis zu nehmen, wie sie sich über die Produktion von anderen, nicht-schriftlichen Spuren ausdrückt. Zumindest ist dies die Richtung, die ich in der folgenden, vielleicht etwas zu schematischen Überlegung einschlagen will.

 Über die Aufklärung als Schlüsselmoment für die europäische Anthropologie existiert viel Literatur, auch wenn das hier behandelte Problem nie systematisch untersucht wurde. Vgl. bspw. die Bemerkungen bei Marshall Sahlins über den „historyless character of indigenous cultures“, in: What is Anthropological Enlightenment? In: Annual Review of Anthropology 28 (1999), S. i–xxiii. Allgemein dazu: Larry Wolff u. Marco Cipolloni (Hrsg.): The Anthropology of the Enlightenment. Stanford 2007; über die Entwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert: Andrew Zimmerman: Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany. Chicago 2001, ferner Han F. Vermeulen: Before Boas. The Genesis of Ethnography in the German Enlightenment. Lincoln [u. a.] 2015.  Jorge Cañizares-Esguerra: How to Write the History of the New World. Histories, Epistemologies, and Identities in the Eighteenth-Century Atlantic World. Stanford 2001; Edmund O’Gorman: La Invención de América. Investigación acerca de la estructura histórica del nuevo mundo y del sentido de su devenir. Mexiko 1958; Antonella Gerbi: La disputa del Nuovo Mondo. Storia di una polemica: 1750 – 1900 (1955). Mailand 1983; Sergio Landucci: I filosofi e i selvaggi 1580 – 1780. Bari 1972; Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo. La nascita dell’antropologia come ideologia coloniale. Dalle genealogie bibliche alle teorie razziali (1500 – 1700). Florenz 1977; Anthony Pagden: The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology (1982). Cambridge 1986; ders.: European Encounters with the New World. From Renaissance to Romanticism. New Haven/London 1993; José Rabasa: Inventing America. Spanish Historiography and the Formation of Eurocentrism. Norman 1994 (Span.: 1993). Auch wenn jeder dieser Autoren eine unterschiedliche Analyse vorlegt, abhängig von den jeweiligen Untersuchungszielen, so haben sie alle dazu beigetragen, aus der Frage nach dem anderen Amerika, einem ohne Stimme, einen wichtigen Schlüssel für die Debatten des Schreibens der Geschichte zu machen.

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1 Schrift und Geschichte, Geschichte ohne Schrift, schriftlose Geschichte Jenseits dieser grobschlächtigen Genealogien, die selbst eingehend analysiert und kritisiert werden müssten, kann man sich auf das 16. Jahrhundert als historischen und historiografischen Moment einigen, der zum Ausgangspunkt für die Analyse zur Entwicklung des Nachdenkens und Forschens über das „Andere“ wurde, so wie es in der damaligen europäischen Geschichte anzutreffen war. Bis dahin war dieses „Andere“ absolut unbekannt und wiederum in eine Vergangenheit eingeschrieben, die dem historischen Wissen ihrer „Entdecker“ ebenso entging. In diesem Moment produzierte die Konfrontation mit einem ganzen Kontinent „schriftloser“ Völker sowohl einen geschärften Sinn für die Konfrontation mit einer Kategorie der Barbarei, die mit derjenigen der „Wilden“ gleichgesetzt wurde,¹⁰ als auch eine gigantische Menge von Aufzeichnungen über die Lebensweisen, die meist nach ihrer Entdeckung zerstört wurden.¹¹ Die zeitgenössischen Texte spiegeln diesen Reichtum an Schriftpraktiken und -definitionen: Sie kommentierten die Vielfalt der Formen und Medien, die Verschiedenheit der grafischen Systeme und die Abwesenheit eines Bezuges zum Geschriebenen, wie im Fall der Tupinambas. Seien es die großen Berichte der „Entdeckungsreisen“, Briefwechsel oder eher reflexive Texte, wie sie von einigen der großen Humanisten herausgegeben wurden – sie stellen ein Ensemble von verschiedenen Bezügen zu dieser Vielfalt dar. Um sich nur auf ein Beispiel aus Frankeich in der Mitte des 16. Jahrhunderts zu beschränken: In seiner Bestandsaufnahme der Vielfalt der Dinge des Universums¹² – eine Aufgabe ohne

 Frank Lestringant: Le cannibale. Grandeur et décadence. Paris 1994; François Hartog: Anciens, modernes, sauvages. Paris 2005.  Eine Untersuchung über die Frage der „Entdeckung“ in der long durée steht aus. Ein erster Einstieg könnte sein: Marcel Bataillon: L’idée de découverte de l’Amérique chez les Espagnols du XVIe siècle (d’après un livre récent). In: Bulletin hispanique 55 (1953), S. 23 – 55.Vgl. auch: Romain Descendre: La „Découverte“. Histoire d’une invention sémantique (premiers éléments). In: Langages, politique, histoire. Avec Jean-Claude Zancarini. Hrsg. von Romain Descendre u. JeanLouis Fournel. Lyon 2015, S. 399 – 412.  Loys Le Roy: De la vicissitude ou Variete des choses en l’univers, et concurrence des armes et des lettres par les premieres et plus illustres nations du monde […]. Paris 1575, Fol. 20v.; Michel de Montaigne: Essais. 9. korr. Aufl. Berlin 2016, S. 109 – 114, 1. Buch, § 31: Über die Menschenfresser. Als Echo auf den Besuch der Indier Brasiliens in Rouen: Anonym: Cest la Deduction du sumptueux ordre, plaisantz spectacles et magnifiques theatres dresses, et exhibes par les citoiens de Rouen ville metropolitaine du pays de Normandie, a la sacree maiesté du treschristian [sic] Roy de France, Henry Secō[n]d leur souuerain seigneur, et à tresillustre [sic] dame, ma dame Katharine de

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Endpunkt – kommentiert der Jurist Loys Le Roy die Abwesenheit von Schrift bei einigen Völkern nicht, er beschreibt sie. Die einfachen Menschen der Neuen Welt kennen den Gebrauch von Buchstaben nicht und sind verwundert, wenn sie sehen, wie sich die Christen durch den Gebrauch von solchen verstehen, unterhalten und wie die beschriebenen Blätter durch ihren Willen sprechen und Geheimnisse berichten. […] Die Nomaden der Großen Tatarei und die wildesten Völker der Neuen Welt benutzen keine Buchstaben. Doch ihnen sind einige Worte über ihre Urzeiten gemein, die weder niedergeschrieben noch durch Inschriften überliefert sind und die sie mündlich von einem zum anderen weitergeben. So wie die Juden lange Zeit die Erinnerung an die Urzeit erhalten haben, die Moses schließlich niederschrieb und die von den Nachfolgern von Adam und Noah bis in ihre Zeit fortgesetzt wurde. Und [auch] die Verse von Homer, bevor sie in der uns bekannten Form von Aristarchos [von Samothrake] gesammelt wurden, wurden auswendig gelernt und nur gesungen.¹³

Diese von ihm unkommentierte Alterität ist ihm nicht komplett fremd: Wie jeder Gelehrte seiner Zeit kann Le Roy diese Praxis der Oralität der „wildesten Völker der Neuen Welt“ weniger zu einem Mangel oder zu einer Abwesenheit in Bezug setzen als zu einer Situation, die aus seinem eigenen Referenzzusammenhang zwar verschwunden ist, die dort aber einmal existierte. Gleichermaßen fügt er seiner Reflexion über das Andere eine zeitliche Dimension hinzu, die Angehörige seiner Generation in unterschiedlichem Maße und angesichts unterschiedlicher Arten von Fragen erfuhren.¹⁴ Das wird im Zitat oben durch den Vergleich mit den Hebräern und den ersten Griechen deutlich. Es entsteht der Eindruck, dass für ihn

Medicis, la royne son espouze, lors de leur triumphant ioyeulx & nouuel aduenement en icelle ville, qui fut es iours de mercredy & ieudy premier & secō[n]d iours d’octobre, mil cinq cens cinquante, et pour plus expresse intelligence de ce tant excellent triumphe, les figures & pourtraictz des principaulx a[d]ornementz d’iceluy y sont apposez chascun en son lieu comme l’on pourra veoir par le discours de l’histoire. Auec priuilege du Roy. Rouen 1551.  „Les simples gens du monde nouveau ignorans l’usage des lettres s’esmerveilloient fort, voians comment les Chrétiens par le moyen d’iclles s’entr’entendoient, & cuydoient que les feuilles escrittes parlassent par leur commandement, & r’apportassent les secrets. […] Les nomades de la Grande Tartarie et les plus Saulvages des terres neusves n’usent poinct des lettres. Mais ont entr’eulx quelque propos de leurs antiquitez non escrits ny representez par notes, qu’ils baillent de bouche successivement les uns aux aultres. Ainsi que les Juifs garderent longuement la mémoire des antiquitez, que Moïse redigea depuis par escrit, continuee par les successeurs d’Adam & de Noé jusques a son temps. Et les vers d’Homere avant que fussent recueillis en la forme que voions par Aristarque, estaient aprins par cueur & chantez seulement […]“ Le Roy, De la vicissitude, Fol. 19v.–20v.  Zur Frage der Zeit in der Renaissance vgl. die bemerkenswerte Doktorarbeit von Leonardo A. Carrió Cataldi: Temps, science et empire. Analyse des conceptions de temps dans le monde scientifique des monarchies ibériques au XVIe siècle. Dissertation CRH-Paris/SUM. Florenz 2015 (in Druckvorbereitung).

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in der Äußerung der Vielfalt der Welt, die sich ihm bis in seine Schreibstube darbietet, die Gewalt des „erobernden Schreibens“ (écriture conquérante), um die schöne Formulierung von Michel de Certeau aufzugreifen, nicht als Kontaktmittel aufdrängt.¹⁵ Bei Le Roy wird durch die Situation der Schriftlosigkeit noch keine Vorentscheidung getroffen, vor allem keine Abwesenheit von Vergangenheit, denn deren Spur wurde ja im Gedächtnis bewahrt, wie es das Zitat ebenfalls zeigt. Dieser Text scheint ein Echo auf frühere Zeugnisse zu sein, bei denen jedoch nicht sicher ist, dass Le Roy sie alle zur Kenntnis genommen haben konnte. Sie erwähnten bereits vor seiner Zeit, dass auch bei den schriftlosen Gesellschaften, denen sie begegneten, die Existenz einer Spur der Vergangenheit zu konstatieren war. Miguel de Estete (ca. 1495 – 1572), der zu den Männern gehörte, die Francisco Pizarro (1475 – 1541) bei der Eroberung Perus begleiteten, notierte – und dieser Kommentar blieb den Historikern lange Zeit unbekannt –, dass die Ältesten in der Cuzco-Region die Namen aller ihrer früheren Fürsten auswendig kannten: „Obwohl sie keine Schrift haben, können sie sich durch bestimmte Schnüre und Knoten die vergangenen Begebenheiten ins Gedächtnis rufen; auch wenn sie das Wichtigste, an das zu erinnern ist, durch die Lieder bewahren“.¹⁶ Im Jahr 1553 lieferte die Crónica del Perú von Cieza de Léon (1520 – 1554) den europäischen Lesern eine präzise und detaillierte Beschreibung der „Quelle“ der Quipus, einem System mehrfarbiger Fäden mit Knoten, das es seinen Benutzern erlaubte, eine Spur ihrer Geschichte, ihrer Gesetze, ihrer Riten und ihrer Konten zu erhalten.¹⁷

 Certeau, Das Schreiben der Geschichte, S. 7. Dieses Thema wird immer wieder von Frank Lestringant in seinen Werken und Texteditionen über Brasilien aufgegriffen.  Miguel de Estete: N(oticia) del Perú. In: Poesía popular, alcances y apéndices. Índices. Puebla/ Mexiko 1960, S. 343 – 407: „Es de saber que esta tierra, a la cuenta de los más ancianos, no había noventa años que era sujeta a príncipe; y daban por memoria y nombraban todos los príncipes que había habido; y aunque no tienen escrituras, por ciertas cuerdas y nudos recuerdan a la memoria las cosas pasadas aunque lo más principal de acordarse es por los cantares que tienen, como acá tenemos, de cosas y batallas pasadas antiguamente, que si faltase la escritura, por aquellos cantares tendríamos memorias de los pasados que hicieron hazañas señaladas.“ (S. 380). [„Es ist zu wissen, dass diese Region nach der Erzählung der Ältesten seit knapp 90 Jahren dem Fürst unterworfen gewesen sei. Die Ältesten kannten alle Fürsten, die sie gehabt hatten, auswendig und benannten sie. Obwohl sie keine Schriften haben, können sie sich durch bestimmte Schnüre und Knoten die vergangenen Begebenheiten ins Gedächtnis rufen; auch wenn sie das Wichtigste, an das zu erinnern ist, durch die Lieder bewahren, genauso wie wir es hier mit den Begebenheiten und Kriegen aus der alten Zeit machen, sodass wir, wenn wir keine Schrift kennten, durch diese Lieder die Erinnerung an die Ahnen, die hervorragenden Heldentaten durchführten, hätten.“ Deutsche Übersetzung von Lisa Regazzoni.]  Über die Frage des „Verstehens“ und die Interpretation der Quipu vgl. aus der reichen Forschung: Marcia Ascher u. Robert Ascher: Mathematics of the Incas. Code of the Quipu. Ann Arbor 1981; Regina Harrison: „True“ Confessions. Quechua and Spanish Cultural Encounters in the

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Die Beschreibung findet im Rahmen einer Eroberungserzählung statt und dient nicht dazu, ein philosophisches System zu konstruieren oder eine Hierarchie zu produzieren: Auch hier überrascht der Bezug zur Antike und ihrem Gebrauch von Dichtern und Sängern zur Bewahrung der Erinnerung an große Taten nicht besonders. Als der Erzähler Zweifel an der Zuverlässigkeit der Buchhaltungstechniken per Quipu hegt, wendet er sich an die Einwohner, um sich das System erklären zu lassen und um dessen Zuverlässigkeit zu bestätigen.¹⁸ In seinem Buch kann Le Roy hingegen nur dem Vertrauen schenken, was er selbst liest (ohne es zu zitieren): Aus seiner Schreibstube heraus betreibt er seine Bestandsaufnahme von konzeptuellen wie materiellen Schriftmodi. Wenn sich die Vergangenheit in der Schrift konservieren lässt und damit in der Materialität, kann sie auch ohne diese Art von Spur existieren. Das ist zumindest, was er unterstellt, ohne den Punkt weiter auszuführen.¹⁹

2 Zur Zentralität der Schrift in der Erfahrung der Missionare Zwischen Le Roy und uns liegen mehr als vier Jahrhunderte, die von Kolonialisierungen, imperialen Konstruktionen und Befreiungskämpfen geprägt waren und die die Kategorie der „Moderne“ erst konstruierten und dann wieder zersetzten. Diese vier Jahrhunderte haben sich zwischen uns und diese offene Art und Weise gestellt, den Bezug zur Vergangenheit und ihre mögliche Materialität zu betrachten. Es reicht, Michel de Certeaus Feststellung von Anfang der 1970er

Viceroyalty of Peru. College Park 1992 (University of Maryland Latin American Studies Center Series 5), online unter: http://www.lasc.umd.edu/documents/working_papers/lasc_series/ 05_harrison.pdf (25.7. 2018); Joyce Marcus: Mesoamerican Writing Systems. Propaganda, Myth, and History in Four Ancient Civilizations. Princeton 1992; Walter Mignolo: The Darker Side of the Renaissance. Literacy, Territoriality, and Colonization. Ann Arbor 1995, S. 69 – 169 (Kap. 2: The Materiality of Reading and Writing Cultures: The Chain of Sounds, Graphic Signs, and Sign Carriers, u. Kap. 3: Record Keeping without Letters and Writing Histories of People without History); Carlos Radicati di Primeglio: Estudios sobre los quipus. Zusammengestellt und eingeleitet von Gary Urton. Lima 2006.  Pedro Cieza de León: Segunda parte de la Crónica del Perú que trata del señorio de los Incas Yupanquis y de sus grandes hechos y gobernación (1553). Madrid 1880, S. 39 – 44 (Kap. 12).  Die Literatur über die Chroniken der Eroberung, die sowohl die Zerstörung der Gegenwart als auch der Vergangenheit der autochthonen Kulturen für Peru und für das Vizekönigreich Neuspanien untersucht hat (wobei in der Historiografie allgemein der Vergleich zu kurz kommt), ist ausufernd und kann hier nicht wiedergegeben werden. Gleiches gilt für die Analyse der autochthonen Quellen, sowohl über die Eroberung als auch über die Geschichte.

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Jahre in Erinnerung zu rufen: „In einer ganz anderen Perspektive bemerkt man, dass unsere Geschichtsschreibung allzu sehr auf den schriftlichen Dokumenten basiert; damit beschränkt sie sich a priori [Hervorhebung durch den Autor] auf die Produktionen derer, die zugleich die Urheber und Objekte dieser Dokumente sind – eine glückliche Kategorie von Menschen, die zählen und die wissen.“²⁰ Das ist eine Überlegung, die sich in die heutige Kritik an der eurozentrischen Geschichtsschreibung einreiht. Es ist jedoch auch eine Überlegung, die trotzdem noch nicht ganz den Sinn für soziale Beziehungen bei der Bewertung der Beziehungen zwischen den Kulturen verloren hat: Man muss schon reich sein – zumindest kulturell –, um schriftliche Spuren zu hinterlassen, vom Heiratsantrag oder vom Testament bis hin zu einer Korrespondenz oder zu literarischen Werken. Von diesen Dingen geht unsere Geschichte nun aber einmal aus, und anhand ihrer befindet sie über den Rest. Ungeachtet aller möglichen Korrektive billigt sie die Optik derer, die schreiben, und macht daraus das Postulat ihrer Verfahrensweisen. Eine Methodologie verstärkt also das Privileg, auf das sie sich stützt. Sie bleibt an das soziokulturelle Milieu ihrer modernen Ursprünge gebunden. Man muss schon neue Verfahren erfinden, die in einer Geschichtswissenschaft anderen Typs auch Erfahrungen ohne Schrift samt der ihnen eigenen Optik ihren Platz finden lassen.²¹

Diese willkommene Einladung zum Nachdenken über das soziokulturelle Milieu der frühneuzeitlichen Ursprünge unserer Beziehung zum Anderen, die so oft von den kulturalistischen Ansätzen vergessen werden, legt es nahe, diese europäischen Quellen aus einer solchen Perspektive neu zu betrachten. Die Perspektive der Missionare, die so zahlreich waren und auf quantitativer Ebene sicher der Hauptantrieb der spanischen Kolonialmaschinerie waren, kann einige spezifische Elemente zur Analyse beitragen.²² Für die europäische Haltung gegenüber den „Anderen“ im Allgemeinen und den Barbaren und „Wilden“ Südamerikas im Besonderen war Le Roys Argumentation nämlich nicht repräsentativ. Mit vierzig Jahren Abstand sollte es einem anderen Humanisten zufallen, im Anschluss an die Autoren der Antike eine Analyse auf einer Klassifizierung der barbarischen

 Michel de Certeau: GlaubensSchwachheit. Hrsg. von Luce Giard. Stuttgart 2009, S. 155 – 187, hier S. 171. Originalausgabe: La rupture instauratrice ou le christianisme dans la culture contemporaine. In: Esprit (Juni 1971), S. 1177– 1214.Wieder abgedruckt in: ders.: La faiblesse de croire. Paris 1987, S. 183 – 226, hier S. 205.  Certeau, GlaubensSchwachheit, S. 171.  Auch hier kann keine Auskunft über die ausufernde Literatur gegeben werden, die sich mit dem Aufbau des spanischen Kolonialreichs und den Wechselwirkungen des Kolonialunternehmens mit der Herstellung von Wissen beschäftigt.Vgl. dazu u. a. aus den rezenten Arbeiten: María Portuondo: Secret Science. Spanish Cosmography and the New World. Chicago 2009.

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Völker aufzubauen, die das Kriterium der Schrift ins Zentrum stellte. Auch er war Spanier, reiste viel und reflektierte über die Vielfalt der menschlichen Völker. Durch seinen Beitrag bereicherte er den Begriff „Schrift“ im Sinne einer später normativ gewordenen Definition, die diese auf die alphabetische Form beschränkte. José de Acosta (1540 – 1600) war Missionar, Theologe, Politiker und Erfinder eines neuen epistemischen Genres.²³ Ausgehend von seinen Überlegungen über die Barbarenvölker verfasste er eine Abhandlung über die Alterität, die es einigen seiner Kommentatoren erlaubte, aus ihm eine der Gründungsfiguren der modernen Ethnologie zu machen. Die Bedeutung dieser Abhandlung kann am Echo gemessen werden, das die Veröffentlichung durch die gesamte Frühe Neuzeit hinweg hervorrief, und an der Sekundärliteratur, die sie auch heute

 José de Acosta: Historia natural y moral de las Indias, en que se tratan de las cosas notables del cielo, y elementos metales, plantas y animales dellas: y los ritos, y ceremonias, leyes y gobierno, y guerras de los Indios (1590). Mexiko 1962 (Erstausgabe 1940), S. 13: „Proemio al lector“: „Del Nuevo Mundo e Islas Occidentales han escrito muchos autores de diversos libros y relaciones en que dan noticias de las cosas nuevas y extrañas que en aquellas partes se han descubierto, y de los hechos y sucesos de los españoles que la han conquistado y poblado. Mas hasta ahora no he visto autor que trate de declarar las causas y razón de tales novedades y extrañezas de naturaleza, ni que haga discurso e inquisición en esta parte, ni tampoco he topado libro cuyo argumento sea los hechos e historia de los mismos indios antiguos y naturales habitadores del Nuevo Orbe. […] Así que aunque el Mundo Nuevo ya no es nuevo sino viejo, según hay mucho dicho y escrito de él, todavía me parece que en alguna manera se podrá tener esta historia por nueva, por ser juntamente historia y en parte filosofía, y por ser no sólo de las obras de naturaleza sino también de las del libre albedrío, que son los hechos y costumbres de hombres. Por donde me pareció darle este nombre de Historia natural y moral de las Indias [Hervorhebung durch den Autor], abrazando con exte intento ambas cosas.“ [„Viele Autoren haben verschiedene Bücher und Berichte über die Neue Welt und Westindien geschrieben, in denen sie über die neuen und sonderbaren Dingen berichtet haben, die in diesen Gegenden entdeckt worden sind sowie über die Taten und Erfolge der Spanier, die sie erobert und bevölkert haben. Aber bisher habe ich noch keinen Autor gelesen, der die Ursachen für diese Neuheiten und Merkwürdigkeiten der Natur erklärt oder über diesen Dinge spricht und nachforscht. Ebenso wenig habe ich ein Buch gefunden, dessen Inhalt die Taten und die Geschichte der alten Indier, der natürlichen Einwohner der Neuen Welt, wäre. […] Obschon die Neue Welt nicht mehr neu, sondern alt ist, da vieles darüber gesagt und geschrieben worden ist, scheint es mir doch, dass man diese Geschichte in gewissem Sinne als neu betrachten könnte, weil die Geschichte hier mit der Philosophie verbunden ist, und weil sie nicht nur von den Werken der Natur, sondern auch denjenigen der Willensfreiheit berichtet, welche die Taten und Gebräuche der Menschen sind. Deshalb beschloss ich, dieses Werk Natur- und Sittengeschichte der Indier [Hervorhebung durch den Autor] zu nennen, um so beide Dinge zu vereinen“ Deutsche Übersetzung von Lisa Regazzoni. „Die Vorrede für den Leser“ befindet sich nicht in der deutschen Ausgabe.] Zum Begriff des „epistemischen Genre“ vgl. Gianna Pomata: The Medical Case Narrative. Distant Reading of an Epistemic Genre. In: Literature and Medicine 32 (2014), S. 1– 23.

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noch inspiriert.²⁴ Als er sich daran macht, zu einer Zeit über Amerika zu berichten, als nur die wenigsten seiner Zeitgenossen dies taten und sich stattdessen nur auf den bereits eroberten Teil konzentrierten, weist er der Schrift eine zentrale Rolle bei der Suche nach Anzeichen von Vernunft zu. Ohne hier die Untersuchung der Historia natural y moral und De natura novi orbis libri duo, et De promulgatione Evangelii apud barbaros, sive, De procuranda Indorum salute ²⁵ wieder aufzunehmen, sollte doch daran erinnert werden, auf welche Weise er die Vielfalt „Indien“ verschmelzen lässt: Westindien, das er selbst kennt, und Ostindien, das er aus Beschreibungen oder Lektüre kennt, sowie auch die Indier, alle Barbaren, alle verschieden. Auch den Barbaren Amerikas gibt er den Namen Indier, genau wie im geografischen Vokabular dieser Zeit der Begriff „Indien“ weiterhin sowohl auf den amerikanischen als auch den asiatischen Kontinent angewandt wurde. Durch diesen zweideutigen Begriff zeigt sich der Parallelismus, den Acosta zwischen Alexander dem Großen und den Spaniern konstruiert, wobei „Indien“ in beiden

 Aus der reichen Literatur: Berta Ares [u. a.]: Humanismo y vision del otro en la España moderna. Cuatros estudios. Madrid 1992, insbesondere den Beitrag: Fermin del Pino: A propósito del P. Acosta, paradigma del humanismo antropológico jesuita, S. 377– 425. Hier ist weder der Ort, um alle Arbeiten del Pinos zu nennen, die er Acosta gewidmet hat, noch um seine genealogische Perspektive in der Lesart der missionarischen Quellen über die Neue Welt zu diskutieren. Er schließt damit an eine historiografische Tradition an, die aus diesem Quellenbestand einen der wichtigsten, wenn nicht sogar den ersten überhaupt, der europäischen Ethnologie macht. Eine solche Herangehensweise hat das große Verdienst, die Wichtigkeit dieses Quellentypus offenzulegen, die diesem in der Wissensproduktion des Ancien Régime zukam. Der Quellentypus selbst wurzelte tief in der Kultur des Humanismus. Diese Herangehensweise impliziert aber gleichzeitig eine Trennung zwischen diesen Quellen und den zeitgenössischen Quellen, die auch über die „Entdeckung des Anderen“ Auskunft geben, als ob die Praktiken des Schreibens nicht immer die Palimpseste einer permanenten Rekomposition sind, die von den Gewährsleuten und den jeweiligen Topoi bestimmt werden, die von einem Repertoire ins andere wandern. Vgl. zu diesem Punkt die Arbeiten von S. MacCormack und nun A. Laird, die zu einer faszinierenden Diskussion über das Schreiben der Geschichte der Indier Amerikas beitragen. Vgl.: Sabine MacCormack: On the Wings of Time. Rome, the Incas, Spain, and Peru. Princeton 2007; vgl. aus der umfangreichen Publikationsliste von Andrew Laird: Aztec and Roman Gods in Sixteenth-Century Mexico. Strategic Uses of the Classical Learning in Sahagún’s Historia General. In: Art and Empire from Merida to Mexico. Hrsg. von John Pohl u. Claire L. Lyons. Los Angeles 2016, S. 147– 167 und ders.: Nahua Humanism and Political Identity in Sixteenth-Century Mexico. In: Renæssanceforum 1 (2016), S. 127– 172.  José de Acosta: De natura novi orbis libri duo, et De promulgatione Evangelii apud barbaros, sive, De procuranda Indorum salute. Salamanca 1589. Zu den Publikationsbedingungen von De procuranda vgl. José de Acosta: De procuranda Indorum salute. Hrsg. von Luciano Pereña [u. a.]. 2 Bde. Madrid 1984– 1987. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert.

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Fällen die Grenzen der bekannten Welt bezeichnet.²⁶ Dann nuanciert er: „Doch wenn man auch alle in unseren Tagen von den Spaniern und Portugiesen bei ihren Schifffahrten über den weiten Ozean entdeckten Barbaren Indier nennt (nicht nur die, denen das Licht des Evangeliums fremd ist, sondern auch die, die jegliche menschlichen Institutionen verabscheuen), dann sind sie trotzdem nicht alle vom gleichen Schlag“.²⁷ Daraus folgt auch der nächste Schritt seiner Argumentation, eine Erinnerung daran, was die Barbaren ausmacht: Der Definition von trefflichen Autoren zufolge sind Barbaren jene, denen der rechte Weg der Vernunft und normale Tätigkeiten der Menschen zuwider sind. So haben die berühmtesten Autoren die Angewohnheit, die Unfähigkeit der Barbaren zu unterstreichen, sowie auch ihre Wildheit, die auch auf ihre Technik und ihre Werke zutrifft, um zu zeigen, wie weit sie von der normalen Tätigkeit der Menschen entfernt sind, sowie die Schwäche ihres Wissens und ihrer rationalen Aktivität.²⁸

Ausgehend von einer solchen Definition, die er in ihrer Gänze wieder aufnimmt, teilt er die Barbaren in drei „Klassen“ und geht näher auf die Frage der Schrift ein: Die erste Klasse entspricht denen, die nicht so weit von der rechten Vernunft und den Manieren des menschlichen Geschlechts entfernt sind. Sie haben meist stabile Regierungsformen, öffentliche Gesetze, befestigte Städte, Richter von hohem Status, einen prosperierenden und gut organisierten Handel und, was das Wichtigste ist, einen ausgeprägten Gebrauch von Buchstaben.²⁹

 Er gibt deshalb an, dass die Indier Amerikas auch mit den folgenden Termini bezeichnet werden: insulani („Insulaner“) oder antiliani („aus den Antillen“). Der eine Begriff verweist generisch auf die Inseln, der andere auf die Antillen. Vgl. Acosta, De procuranda Indorum salute, Bd. 1, S. 60.  Acosta, De procuranda, Bd. 1, S. 58 – 60: „Etsi enim vocantur barbari omnes, quos nostra aetate hispani et lusitani suis classibus longissimo Oceano traiecto invenerunt (non solum ab evangelica luce alieni, sed ab humanis quoque institutis abhorrentes), tamen non omnes eiusdem ordinis sunt.“  Acosta, De procuranda, Bd. 1, S. 60: „Barbaros autem probati auctores eos esse definiunt, qui a recta ratione et hominum communi consuetudine abhorrent. Unde barbarica stoliditas, barbarica feritas, barbaricae quoque opes et opera apud nobiliores scriptores celebrari solent, quae et ab usu hominum caeterorum valde recedunt et sapientiae certaeque rationis vix quicquam habent“.  Acosta, De procuranda, Bd. 1, S. 60 f.: „Prima classis eorum est, qui a recta ratione et consuetudine generis humani non ita multum recedunt. Hi sunt potissimum quibus et respublica constans et leges publicae et civitates munitae et magistratus insignis et certa atque opulenta commercia sunt, et quod omnium caput est, litterarum celebri usus.“

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In dieser ersten Kategorie von Barbaren lassen sich leicht die „verwandten“ Völker wiedererkennen. Die Nähe basiert auf politischen Kriterien, im klassischen griechischen Sinn des Begriffs: Regierung, Gesetze, befestigte Städte, Richter. Dazu kommt wirtschaftlicher Wohlstand. Doch der wichtigste Faktor ist der Gebrauch von Buchstaben, hier wird die wahre Nähe gesucht: Den zivilisierten Völkern mangelt es nie an Buchstaben und literarischen Werken.³⁰ Kultur und Buchstaben sind untrennbar mit der Möglichkeit einer Regierung verbunden: Hieraus wird das wichtigste Kriterium für einen höheren Rang unter den Barbaren, im altgriechischen Sinne. Deshalb setzt er Ostindien, das er selbst nie bereist hat, an die erste Stelle seiner Liste. Die politischen Ereignisse seiner Zeit bewegen ihn dazu, diese Region genau zu untersuchen. In seinen Überlegungen über das Wohl der Bewohner Indiens führt Acosta China ein, das er mit den folgenden Attributen zusammenfasst: Schrift – ähnlich der der Syrer –, Überfluss von Büchern, prächtige Schulen, Autorität seiner Gesetze und seiner Richter, Schönheit seiner öffentlichen Bauwerke.³¹ Japan erscheint an zweiter Stelle, dann folgen andere Regionen Ostindiens. Diese Völker sind, dem Missionar Perus zufolge, vergleichbar mit den Völkern der Antike, denn wie die Griechen und Römer, die den Aposteln folgten, sind sie dank ihrer Vernunft und Weisheit bereit, das Wort Gottes zu empfangen. China bietet der katholischen Kirche also die Möglichkeit, ein neues Imperium zu bekehren: Auf das Römische Reich folgt das Reich der Mitte. Und die Faszination, die seine Religionsbrüder, die dabei sind, dort Fuß zu fassen, für den fernen Osten empfinden, genügt, um die chinesischen Schriftzeichen in Schrift zu verwandeln. Es gibt in dieser „Lektüre“ der Schriftzeichen eine Reihe von verknüpften Operationen, die eine genauere Betrachtung verdienen würden, und zwar gemessen an einer gründlichen Lektüre der verschiedenen Quellen, wobei zwischen gedruckten und handschriftlichen Quellen unterschieden werden muss. Ebenso muss unterschieden werden, welche Autoren Mandarin schreiben können und welche nur lokale Dialekte sprechen. Eine dieser Operationen stellt in einer komparatistischen Geste schnell eine Parallele zwischen den Hieroglyphen und den chinesischen Schriftzeichen her. Diese Parallele geht auf die Erinnerung an den alten Orient zurück und etabliert sich progressiv als Topos in der Geschichte Chinas. Ein weiterer Grund hängt mit der Entdeckung der Urbanität einer so weit entfernten Kultur zusammen, deren Städte die gleichen politischen, architektonischen und kulturellen Charakteristika wie in Europa besitzen. Ein weiterer Grund hat mit der Präsenz der Drucktechnik im Alltag der

 Acosta, De procuranda, Bd. 1, S. 62: „Nusquam enim litterarum et librorum monumenta extant, quin eae gentes humaniores et maxime politicae sint.“  Acosta, De procuranda, Bd. 1, S. 62 f.

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Bewohner zu tun sowie mit der Entdeckung des Examen-Systems.³² Man könnte die Hypothese aufstellen, dass Acosta von derselben Faszination ergriffen wurde, obwohl er lediglich die Bergkette der Anden bereist hatte und von China durch die asiatische Präsenz in Lima erfuhr.³³ Die zweite Kategorie von Barbaren bezieht sich auf Völker, die, obwohl sie weder Schrift, Gesetze, Philosophie oder Rechtskunde besitzen, doch Richter, eine Regierung und bestimmte Institutionen vorweisen können, wie eine Armee, Anführer, Ordnung und eine gewisse Pracht in der Praxis ihrer Religion. Hieraus ergibt sich, dass sie von einer gewissen menschlichen Vernunft geleitet werden.³⁴ Zu diesen Völkern zählt Acosta die Mexikaner und die Peruaner, deren Imperien, Gesetze und Institutionen bewundernswert sind, zumal sie in der Lage waren, die Schriftlosigkeit (literarum inopiam ³⁵) durch einen extremen Erfindungsreichtum zu überwinden. Die Quipus sind hierfür ein Paradebeispiel. Acostas Beschreibung schließt mit einem Urteil über die Bedeutung dieser Artefakte, deren Präzision der Mathematik mit ihren Zahlen und Buchstaben in nichts nachstehe.³⁶ Die dritte Kategorie von Barbaren bezeichnet die „Wilden“. Sie gleichen den Tieren und besitzen keine menschlichen Eigenschaften: Sie kennen weder König oder Gesetz noch Regeln oder Richter, besitzen keine feste Regierung und sind Nomaden. Diese Gruppe wird durch die Bewohner der Karibik und die Einwohner Brasiliens, Floridas und Paraguays vertreten, laut Acosta nackte Anthropophagen, die keine Scham kennen.³⁷ In Ostindien sind es die Einwohner der gerade erst entdeckten Molukken, die diese dritte Kategorie verkörpern. Diese vielleicht nur halben Menschen müssen erzogen werden, um Menschen zu werden, und wenn nötig, darf hierbei auch Gewalt als Mittel zum Einsatz kommen. So klassifiziert Acosta die Barbarenvölker. Wenn das von ihm so skizzierte Panorama auch versucht, an die Antike anzuknüpfen, geht es ihm doch genauso sehr darum, die neuen, von seinen Religionsbrüdern in alle vier Ecken der Welt eingeschlagenen Pfade zu beschreiten. Konkret heißt das – und insofern hat er Recht, wenn er behauptet, mit seiner Geschichte der Natur und der Moral etwas  Zum Orient der Antike vgl. Arnaldo Momigliano: Alien Wisdom. The Limits of Hellenization. Cambridge [u. a.] 1976. Zur Konzeption der Stadt in der Renaissance vgl.: Giovanni Botero: Des causes de la grandeur des villes. Hrsg. von Romain Descendre. Paris 2013. Zur Darstellung der chinesischen Kultur in den Texten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vgl.: Antonella Romano: Impressions de Chine. L’Europe et l’englobement du monde (XVIe–XVIIe siècle). Paris 2016.  Fernando Iwasaki Cauti: Extremo Oriente y el Perú en el siglo XVI. Lima 2005.  Acosta, De procuranda, Bd. 1, S. 62.  Acosta, De procuranda, Bd. 1, S. 62.  Acosta, De procuranda, Bd. 1, S. 64: „Nescio equidem an certiores arythmeticos, cum quidvis est numerandum aut partiendum, litterae nostrae faciant, quam hos signa illa sua.“  Acosta, De procuranda, Bd. 1, S. 66.

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Neues zu schaffen –, dass er das in der Gesellschaft Jesu zirkulierende Wissen über die Barbaren artikuliert und dazu seine eigenen Erfahrungen aus Peru, die Arbeit mit seinen Quellen aus Neuspanien und die Berichte der Missionen in Japan und China einbringt. In dieser langen Analyse der Barbarenvölker vermischt Acosta Ost- und Westindien auf einzigartige Weise, und beide mit seiner eigenen, christlich und humanistisch geprägten Kultur. Er unterscheidet sie und macht die Schrift zum Hauptkriterium, denn diese ist auch das Kriterium seiner eigenen Distinktion.³⁸ Er konstruiert eine Hierarchie der Barbarenvölker, die sich nach dem Bezug zwischen Vernunftbegabtheit und Bekehrungspotenzial richtet, wobei er die schriftliche Vernunft als ausschlaggebend ansieht. Indem er die Schrift und das, was aus ihr folgt – Philosophie, Gesetzgebung, Geschichte und Mathematik – als Distinktionskriterium der verschiedenen Barbarenvölkern verwendet, stellt er sich nicht nur in eine Reihe mit den Autoren der Antike (man denke an die von ihm gezogene Parallele zwischen antiken „Syrern“ und Chinesen), sondern suggeriert auch eine Wissenshierarchie, die eine solche Unterscheidung autorisiert: Die Schrift als einziges und ausschließliches Merkmal von Kultur und potenzieller Erleuchtung hat ihren Ursprung im Wort Gottes. Und die Wissenschaft, die sich mit dem Wort Gottes befasst – also die Theologie – steht an erster Stelle der Wissenschaften, wie die Organisation der Jesuitenkollegien in Europa zeigt; soziologisch wird dies durch das soziokulturelle Milieu bestätigt, dem Acosta angehört. Hier könnte also die Analyse enden und zu dem Schluss kommen, dass die schriftlosen Barbarenvölker keine Geschichte haben, weil sie weder Spuren noch Erinnerung an ihre Vergangenheit besitzen. Doch das hieße, einen entscheidenden Aspekt der missionarischen Erfahrung außer Acht zu lassen, zumindest so, wie er von einigen Jesuiten formuliert wurde. Denn Wissen kann einerseits durch Bücher vermittelt werden, andererseits aber auch durch Beobachtung der Anderen entstehen, einer Beobachtung, aus der man wie aus Büchern lernen kann. Acosta, der den Altiplano beschritten hat, weiß das und kann nicht ignorieren, dass die Gründungsfigur der Missionare in seinem eigenen Orden, Franz Xaver, 1549 Folgendes formulierte: Nichts ist ergiebiger für das Seelenheil der Bewohner dieser Stadt [Ormuz], als ihre Leben bis ins kleinste Detail zu kennen. Das ist das wichtigste Studium, das Sie durchführen müssen, denn es ist eine große Hilfe für die Entwicklung der Seelen. Das bedeutet es, in Büchern lesen zu können, die Dinge lehren, die Sie nicht in den toten geschriebenen Büchern finden

 Hier wird der Terminus Bourdieus gebraucht, der aber mit dem oben zitierten Text von Michel de Certeau in Beziehung gesetzt werden muss. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1982 (Frz.: 1979).

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werden. Nichts wird Ihnen so sehr helfen, in den Seelen Früchte wachsen zu lassen, wie zu lernen, diese Dinge gut zu kennen […]. Sie, das sind die lebenden Bücher, die Sie studieren müssen, sowohl um predigen zu können als auch um getröstet werden zu können. Ich sage Ihnen nicht, dass Sie nicht auch manchmal geschriebene Bücher lesen sollten, aber dann, um dort Zitate von Autoritäten zu finden, Heilmittel gegen die Laster und Sünden, die sie in den lebenden Büchern lesen.³⁹

In dieser fast brutalen Gegenüberstellung von toten und lebenden Büchern identifiziert Franz Xaver, was das wiedererstarkende Christentum in seinem Bezug auf andere Kulturen über die ganze lange Geschichte der Gesellschaft Jesu hinweg, und vielleicht auch noch darüber hinaus, definieren sollte: eine Trennlinie zwischen den menschlichen und buchbasierten Fundamenten einer lokalen/okzidentalen Kultur einerseits und der Versuchung der Welt als offenes Buch andererseits. Die Missionare werden mit ihr in den verschiedenen Teilen der Welt konfrontiert, jedoch nur in diesen kleineren Maßstäben, die nicht ausreichen, sie in eine Opposition auf universeller Ebene zu verwandeln. Auf seine eigene Art greift auch José de Anchieta (1534– 1597) angesichts einer Erfahrung der radikalen Isolation auf die Schrift zurück. Im Jahr 1564 sieht er sich in Brasilien „wilden“ Indiern gegenüber, die in Acostas dritte Kategorie fallen würden. In der Not überkommt ihn die göttliche Eingebung zusammen mit dem Drang zu schreiben. Es geht um das Leben der Maria, eine Jungfräulichkeit, die sich über eine andere legt: Er schreibt mit dem Finger die Wörter eines Gedichts in den Sand, das nach und nach wieder verschwindet. So zumindest behauptet es die Erzählung zur Entstehung des Werks De Beata Virgine, ein auf Latein verfasstes, sechstausend Verse umfassendes Gedicht über die Glorie der Jungfrau Maria. Anchieta schrieb es, während Nóbrega in Iperoig mit den großen Häuptlingen der Tupiniquins Friedensverhandlungen führte und er selbst Geisel eines lokalen Stammes war. Anchietas Hagiografie prägte das Bild des schreibenden Jesuiten, der die Verse mit seinem Stock in den Sand des Strandes von Iperoig schreibt, damit er sie bei

 Franz Xaver: Instructio pro P. Barzaeo, armuziam profecturo. Goa, Anfang April 1549. In: Epistolae S. Francisi Xaverii, aliaque eius scripta. Bd. 2: 1549 – 1552. Rom 1954, S. 80 – 101, hier S. 97 f.: „em nenhuma cousa aproveitareis tanto nas almas aos homens dessa cidade, como sabendo-lhes suas vidas muito meudamente, e este hé o principal estudo que ajuda aproveitar às almas. Isto hé ler por livros que emsinão cousas que em livros mortos escritos não achareis, nem vos ajudará tanto pera frutificar nas almas, quanto vos ajudão saber bem estas cousas par homens vivos que andão no mesmo trato, pois sempre me achei bem com esta regra […]. E se quereis fazer muito fruito, assi a vós como aos próximos, e viver consolado, converssai aos pecadores, fazendo que se descubrão a vós. Estes são os vivos livros por que aveis de estudar, assi pera pregar como pera vossa consolação. Não digo que alguma vez não leaes por livros escritos, mas seja buscando autoridades pera autorizar pola Escritura os remedios contra os vicios e peccados que ledes por livros vivos“.

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seiner Rückkehr noch einmal aus dem Gedächtnis niederschreiben kann. „Aus dieser Anrufung der Jungfrau Maria erwächst die Rolle des Mediators zwischen Kolonie und Indiern, übernommen von dem unkorrumpierbaren Jesuiten, der komplett der Tugend und dem Frieden ergeben ist.“⁴⁰ Es ist auch eine Geste des gleichzeitigen Einschreibens und Auslöschens, sogar um den Preis der Illusion, eine Geste der Überwindung der Distanz zwischen Gelehrtem und Barbaren.⁴¹ Dieser Rekurs auf die Schrift findet sich in allen Berichten der Missionare. Jeder Missionar stand seinen eigenen Barbaren gegenüber und zog sich auf die Schrift zurück, gespeichert im Buchstaben als integralen Bestandteil dessen, was einem selbst und anderen Trost spendet.⁴² Die Frage der Schrift spielt also eine zentrale Rolle in der missionarischen Erfahrung, sowohl als letzte Verbindung zu einer Welt, die für immer zurückgelassen wurde, als auch als Element der Anerkennung der Vergleichbarkeit, jenseits der Grenze der Barbarei. Wie wäre sonst die sofortige Faszination für China zu verstehen, die bei Acosta als Amerikaspezialisten etwas weniger im Vordergrund steht? Chinas Größe, Komplexität und potenzielle Nähe schlägt sich schließlich in den Schriften der Missionare nieder, die diesen Ort bisher nur am Rande ihrer Weltkarten verorten konnten. Auch wenn nicht gesichert ist, ob Acosta Ricci direkt gelesen hat – seine Korrespondenz wurde erst im 20. Jahrhundert veröffentlicht, seine ausführlichen Notizen 1615 von Trigault gedruckt –, konnte er doch wenigstens die zahlreichen Beschreibungen Chinas in Form der in günstigen Ausgaben veröffentlichten „Jahresberichte“ zur Kenntnis genommen haben.⁴³ Doch schon vorher

 Jean-Claude Laborie: José de Anchieta (1534– 1597). Un écrivain missionnaire. In: Atlantide 7 (2017). Themenheft: Écrivains voyageurs et hommes d’église. Le paradigme brésilien (XVIe–XXe siècles). Hrsg. von Julien Gœury u. Régis Tettamanzi, S. 6 – 16; Felipe Eduardo Moreau: Os índios nas cartas de Nóbrega e Anchieta. São Paulo 2003.  Vgl. Roger Chartier: Inscrire et effacer. Culture écrite et littérature (XIe–XVIIIe siècle). Paris 2005, und seine Aufforderung, sich frei mit dem Verhältnis von Text und seiner Materialität zu beschäftigen. Dabei soll in einer doppelten Bewegung „die Art und Weise [analysiert werden,] in der die Autoren die unterschiedlichen Materialitäten der Schriftstücke wahrnahmen und in Objekte oder literarische Motive verwandelten“.  Zum Thema des Trosts: Charlotte de Castelnau-L’Estoile: Entre curiosité et édification. Le savoir des missionnaires jésuites au Brésil. In: Sciences et religions. De Copernic à Galilée (1540 – 1610). Hrsg. von École française de Rome. Rom 1999 (Collection de l’E´cole française de Rome 260), S. 131– 157.  Nicolas Trigault: Histoire de l’expédition chrestienne au royaume de la Chine. Entreprinse par les Peres de la compagnie de Iesus. Comprinse en cinq livres. Esquels est traicté fort exactement et fidelement des mœurs, Loix et coutumes du pays, et des commencemens tres-difficiles de l’Eglise naissante en ce Royaume. Tirée des commentaires du P. Matthieu Riccius par le P. Nicolas Trigault de la mesme compagnie. Et nouvellement traduicte en françois parlé S.D.F. de Riquebourg-Trigault. Avec privilege du Roy. Lyon 1616 (Erstausgabe Latein 1615); Matteo Ricci: Lettere (1580 – 1609). Hrsg.

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konnte er seinen Ordensbrüdern zuhören, die, wenn sie aus Asien über die Manila-Route zurückkamen, seinen Weg kreuzten, oder in der 1585 veröffentlichten Kompilation des Augustinermönchs Gonzales von Mendoza lesen. Hier hätte er eine ziemlich präzise Beschreibung der Schriftzeichen und ihrer Funktionsweise lesen können: Dabei haben sie kein Buchstabenalphabet wie wir; sondern sie schreiben jede Sache mit einer Figur, die man mit der Zeit und viel Schwierigkeit lernt, da jedes Wort ein eigenes Zeichen hat […]. Ihre Sprache verbreitet sich besser geschrieben als gesprochen, wie das Hebräische, wobei sich die Buchstaben durch Punkte unterscheiden, die nicht so einfach zu verwenden sind, wenn man spricht: Sie schreiben anders als wir, und fangen umgekehrt an, das heißt von rechts nach links. Sie haben den gleichen Stil in ihren Druckerzeugnissen, auf die wir später noch eingehen werden, die man heute in Rom in der Bibliothek des Vatikans sehen kann, und in der Bibliothek seiner Majestät des Königs Philipp, die im Kloster von Saint Laurent eingerichtet wurde.⁴⁴

Diese Fakten werden von Ricci bestätigt, der im Gegensatz zu Gonzales de Mendoza nicht nur Sprachrohr ist, sondern Zeuge – einer, der berichtet, was er gesehen und getan hat: Was die Schriftzeichen angeht, glaubt man es nicht, wenn man es nicht selbst gesehen oder versucht hat, wie ich es getan habe. [Die chinesische Schrift] hat so viele Schriftzeichen wie Wörter oder Dinge, mehr als siebzigtausend, und alle unterschiedlich und verworren […] ihre Schrift ist eher eine Malerei, und sie schreiben daher auch mit einem Pinsel, wie unsere Maler. Ihre Nützlichkeit besteht darin, dass all die Nationen, die diese Schriftzeichen besitzen, sich durch Briefe und Bücher verstehen, obwohl sie sehr verschiedene Sprachen verwenden, was bei unserer Schrift nicht der Fall ist.⁴⁵

Zur Anerkennung der chinesischen Schriftzeichen als Schrift kam die Erkenntnis über die Vergangenheit der Dynastien und ihrer Archive: Als Barbaren der ersten Kategorie verfügten die Chinesen, deren verschiedene Volksgruppen und Sprachen (darunter das Mandarin der offiziellen Texte) die Jesuiten erst nach und nach identifizierten und lernten, über einen Staat, eine Verwaltung, ein Justizsystem,

von Pietro Corradini. Bearb. von Francesco D’Arelli. Macerata 2001. Die „Jahresberichte“ in Form von Briefen wurden als Textgattung durch die Zentralverwaltung des Jesuiten-Ordens geschaffen. Sie dienten ursprünglich der internen Information, um den Generalsuperior über die Verhältnisse in den einzelnen Niederlassungen rund um den Globus zu unterrichten. Die Berichte, die aus den entfernten Erdteilen stammten, zirkulierten rasch in Druckfassungen, die zum einen dazu dienten, die Mitglieder des Ordens zu informieren und zu trösten, und zum anderen den Fortschritt der Bekehrungsbemühungen in den entfernten Erdteilen öffentlich machten.  Zit. Romano, Impressions de Chine, S. 78, Anm. 86.  Zit. Romano, Impressions de Chine, S. 122 f., Anm. 29.

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Gesetze, eine Intellektuellenkaste und Archive, die mehrere Jahrtausende zurückreichten.⁴⁶ In China passt das Buch des Lebens, das Franz Xaver den Jesuiten in Ormuz zur Lektüre empfahl, perfekt mit der Kultur des Buches, der Schrift, des materiellen Archivs und der Vergangenheit zusammen: Denn genau hier, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, sollte die biblische Chronologie ihren großen Kontrahenten durch die Sinicæ historiæ decas prima des jesuitischen Missionars Martino Martini (1614– 1661) finden, und zwar auf der Basis von Spuren einer chinesischen Vergangenheit, die vor der biblischen Vergangenheit verortet war.⁴⁷ In Lima in den Anden sowie in Mexiko in Neuspanien wird die unauflösbare Spannung zwischen Buch des Lebens und Buch der (Heiligen) Schrift von Acostas Werken fortgesetzt: Die wachsende Anzahl von Büchern über den amerikanischen Kontinent, die er schon am Ende des 16. Jahrhunderts registriert, und das paradoxale Begräbnis der neuen Barbaren unter Schichten von europäischen Worten kann in seinen Augen nicht die Abwesenheit von anderen Büchern kaschieren. Diese abwesenden Bücher hätten die „Taten und die Geschichten der alten Indier, der natürlichen Einwohner der Neuen Welt“ zum Inhalt.⁴⁸ Sie würden von den Sprachen berichten, die zwar unverständlich sind, sich jedoch im Prozess der Entschlüsselung befinden – die Sprachen der Besiegten. Wenn in dem Begriff selbst der Historia natural y moral, die er zu entwerfen versucht, das Gewicht der Vergangenheit nicht sofort seinen Platz hat,⁴⁹ heißt das nicht, dass er den Bewohnern dieser neuen Welt keine Vergangenheit zugestehen will – eine Vergangenheit, die neu ist für diejenigen, die sie entdecken, aber nicht

 In den ersten Büchern, die China gewidmet sind, werden alle diese Elemente systematisch präsentiert. Mit andauernder Präsenz der Europäer, die es erlaubten, die Informationsnetzwerke auszubauen, werden die Darstellungen erweitert. Außerdem wird dieses System angeführt, um die Bedeutung der Gelehrten in diesem immens großen Reich zu unterstreichen. Dies wird ein Leitmotiv in der Bewunderung für China und sicher auch ein konkretes Element, das zur Kommensurabilität dieses Reiches mit Europa beitrug.  Romano, Impressions de Chine, S. 245 – 263.  S. das oben (Anm. 23) angeführte Zitat: „ni tampoco he topado libro cuyo argumento sea los hechos e historia de los mismos indios antiguos y naturales habitadores del Nuevo Orbe.“  Dies hielt ihn nicht davon ab, bereits ab dem Vorwort anzukündigen, worüber er schreiben wolle, und dass die Abwesenheit der Schrift für die Indier kein Problem darstellte: „Cómo se hayan sabido los sucesos y hechos antiguos de Indios, no teniendo ellos escritura como nosotros, en la misma Historia se dirá, pues no es pequeña parte de sus habilidades haber podido y sabido conservar sus antiguallas, sin usar ni tener letras algunas“. Acosta, Historia natural, S. 14. [„Wie sie von den alten Erfolgen und Taten der Indier wissen, obwohl sie keine Schrift wie wir kennen, wird eben in dieser Geschichte erzählt; denn es ist kein geringer Anteil ihrer Fähigkeiten, dass sie es vermocht und gekonnt haben, ihre alte Geschichte zu bewahren, und dies ohne Buchstaben zu haben oder zu benutzen“ Deutsche Übersetzung von Lisa Regazzoni].

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neugeboren.⁵⁰ Und liegt es sicher nicht daran, dass er keine andere Möglichkeit sieht, als sich durch Schrift auf die Vergangenheit zu beziehen und eine Spur von ihr zu erhalten. Er ist sich über die Schuld der Europäer für die fortschreitende Zerstörung dieser Bücher bewusst und macht ohne Umschweife auf sie aufmerksam: In der Landschaft Iucatan, darinn daß Bisthums Honduras ligt / da hat man Bücher von Blettern / welche auff ihre Weiß eingebunden unnd zusammen gefalten sindt / hierinn schrieben die Indier ihre Abtheilung der Zeit / die Erkanntnuß der Planeten / Thier und anderer Natürlicher Ding / samt ihren Antiquitäten / welches ein grosser Fleiß ist. Ein verstendiger Prediger hielt all dasselb für Zauberey und Schwarze Kunst / und urgierte / man solt alles verbrennen / welches dann geschahe: Solche Bücher aber beklagten nachmals nicht allein die Indier sonder auch fleissige Spanier / alß die deß Lands Geheimnuß zuwissen begerten.⁵¹

Acosta gesteht unwiederbringliche Verluste ein und identifiziert die Motivation für diese Akte der Zerstörung: Unverständliche, ungewohnte Quellen wurden als Register des Aberglaubens angesehen, als eine Quelle von Idolatrie, die er selbst in den Anden heftig bekämpft hat. Der nächste Satz geht noch darüber hinaus, wenn er feststellt, dass so ein großer Teil der Erinnerung an alte und unbekannte Dinge verloren ging, von denen die Spanier enorm hätten profitieren können. Acosta verurteilt einen „sinnlosen Eifer“, aufgrund dessen man nichts über die Bräuche der Indier wusste bzw. wissen wollte und sie allesamt als Zauberei abstempelte sowie das Volk zu einem Haufen Trunkenbolde deklarierte, der weder erkenntnis- noch vernunftfähig war.⁵² In Kapitel vier des sechsten Buchs der

 Hier werden nicht die Implikationen diese Vorgehens diskutiert, die Amerika eher in der Terminologie einer „Erfindung“ Europas (statt einer „Entdeckung“) analysieren, um die bahnbrechende Analyse von E. O’Gormann aufzunehmen. Vgl. O’Gorman, La Invención, S. 21– 67.  Acosta, Historia natural, S. 322: „En la provincia de Yucatán, donde es el Obispado que llaman de Honduras, había unos libros de hojas a su modo, encuadernados o plegados, en que tenían los indios sabios la distribución de sus tiempos, y conocimiento de planetas y animales, y otras cosas naturales, y sus antiguallas, cosa de gran curiosidad y diligencia. Pareciole a un doctrinero que todo aquello debía de ser hechizos y arte mágica, y porfió que se habían de quemar, y quemáronse aquellos libros, lo cual sintieron después no solo los indios sino españoles curiosos, que deseaban saber secretos de aquella tierra“. Deutsche Übersetzung aus: o. V.: America, Oder wie mans zu Teutsch nennet Die Neuwe Welt/oder West India. Ursel 1606, S. 204. Vgl. Dennis Tedlock: Torture in the Archives. Mayans Meet Europeans. In: American Anthropologist 95/1 (1993), S. 139 – 152.  Acosta, Historia natural, S. 322 f.: „esto sucede de un celo necio, que sin saber ni aun querer saber las cosas de los Indios, a carga serrada dicen que todas son hechicerías, y que éstos son todos unos borrachos, que qué pueden saber ni entender“. [„Alles aber herkompt auß einem unwissenden Eyfer / in dem sie die Sach nicht verstehen / unnd alles für ein Aberglaubische

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Historia natural wird, ohne die Dreiteilung des De procuranda zu diskutieren, den Völkern und ihren Schriften ein Platz zugewiesen. Daraus folgte für den Autor, drei Weisen zu unterscheiden, wie Menschen die Erinnerung an Geschichte und Altertum erhalten können: Durch Buchstaben und Schrift wie im Fall der Griechen, der Römer und der Juden, durch Malerei, wie sie in allen Teilen der Welt praktiziert wurde, und durch Zahlen und Zeichen wie bei den Indiern Perus und Neuspaniens sowie bei den Chinesen und Japanern.⁵³ Das siebte Kapitel desselben Buches ist größtenteils der Kultur gewidmet und bricht eine Lanze für die volle Vernunftbegabtheit der Indier, sicher als Echo auf den Streit von Valladolid und in einer Linie mit den Positionen von Las Casas.⁵⁴ Den Indiern, jedoch nicht den „Wilden“, wird Vernunftbegabtheit zugestanden, in dem Sinne, dass die Vernunft das Heil und das Verständnis von Gottes Wort ermöglicht. Es ist, als ob es darum ginge, einen finalen, definitiven Punkt hinter diese Geschichte zu setzen. Zusätzlich kann man sicher auch hier das Echo des politischen Kurswechsels der spanischen Monarchie gegenüber ihren amerikanischen Kolonien vernehmen.⁵⁵ Dieser hat sich konkret im Appell an die Jesuiten in Neuspanien niedergeschlagen, die Konvertierungsarbeit von den Bettelorden zu übernehmen, nachdem diese ein halbes Jahrhundert lang mit diesem Unternehmen gescheitert waren.⁵⁶ Das ist hinreichend bekannt, aber im Kontext dieser Analyse besonders interessant: Acosta kann einige Seiten seiner Abhandlung der Geschichte des alten Mexikos widmen – einer ihm unbekannten Region –, weil er sich auf die Sammelarbeit der membra disjecta der zerstörten indigenen Erinnerung stützen kann. Diese wurde auf Bitte der spanischen Autoritäten von Juan de Tovar (1543 – 1623) angefertigt, einem der ersten Religionsbrüder in diesem Teil Zauberey / die Leuth aber für Trunckenbolt achten / unnd fragen / was solche wissen unnd verstehen solten“ Deutsche Übersetzung aus o. V., America, S. 204.]  Acosta, Historia natural, S. 318.  Der Text des Dominikaners: Bartolomé de Las Casas: Brevísima relación de la destrucción de las Indias, Sévilla 1552. Bearb. von José Miguel Martínez Torrejón, Madrid 2013 (Biblioteca clásica de la Real Academia Española 28), ist an Philipp II. adressiert und gibt Zeugnis von den Grausamkeiten, die gegen die Indier in allen Provinzen durch die Spanier begangen wurden.  Stafford Poole: Juan de Ovando. Governing the Spanish Empire in the Reign of Philip II. Norman 2004; Robert Ricard: La „conquête spirituelle“ du Mexique. Essai sur les méthodes missionnaires des Ordres mendiants en Nouvelle Espagne de 1523 à 1572. Paris 1933.  Leon Lopetegui u. Félix Zubillaga: Historia de la Iglesia en la América española, desde el descubrimiento hasta comienzos del siglo XIX. Bd. 1: México. América Central. Antillas. Madrid 1965, vor allem S. 511– 563; Antonella Romano: Classiques du Nouveau Monde. Mexico, les jésuites et les humanités à la fin du XVIe siècle. In: Castelnau-L’Estoile, Missions d’évangélisation, S. 59 – 85; dies.: Los libros en México en las ultimas décadas del siglo XVI. Enseñanza e imprenta en los colegios jesuitas del Nuevo Mundo. In: Chinchilla/Romano, Escrituras de la modernidad, S. 241– 271.

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des Kolonialreichs.⁵⁷ Viele Arbeiten versäumen, bei dieser jesuitischen Quelle für Acosta anzugeben, dass er Sohn der Generation der Konquistadoren ist, in Neuspanien geboren wurde und dass er ohne Zweifel einer der ersten „Mestizen“ ist, der sich dem Jesuitenorden in diesem Teil der Welt angeschlossen hat. Das Dokument, das er produzierte und das als Grundlage für das Verfassen der Historia natural y moral dient, ist ein Resultat der Zusammenarbeit eines „Mestizen“ und der Indier, die gemeinsam nach einer verlorenen Zeit und den Spuren eines Volkes „ohne Schrift“ suchen. Dabei produzieren sie ein Manuskript, in dem das europäische Alphabet, Zeichnungen und Piktogramme nebeneinander angeordnet werden. Genau diese Dokumentation, ermöglicht es zusammen mit den seltenen erhaltenen mesoamerikanischen Kodizes von vor der Eroberung,⁵⁸ dass wir heute eine Bestandsaufnahme aller Formen der Geschichtsschreibung anfertigen können.⁵⁹ Aus dem Französischen von Volker Zimmermann und Niels F. May

Literatur Acosta, José de: De natura novi orbis libri duo, et De promulgatione Evangelii apud barbaros, sive, De procuranda Indorum salute. Salamanca 1589. Ders.: Historia natural y moral de las Indias, en que se tratan de las cosas notables del cielo, y elementos metales, plantas y animales dellas: y los ritos, y ceremonias, leyes y gobierno, y guerras de los Indios (1590). Mexiko 1962 (Erstausgabe 1940), deutsche Übersetzung: America, Oder wie mans zu Teutsch nennet Die Neuwe Welt/oder West India. Ursel 1606. Ders.: De procuranda Indorum salute. Hrsg. von Luciano Pereña [u. a.]. 2 Bde. Madrid 1984 – 1987. Anonym: Cest la Deduction du sumptueux ordre, plaisantz spectacles et magnifiques theatres dresses, et exhibes par les citoiens de Rouen ville metropolitaine du pays de Normandie,

 Juan de Tovar: Historia y creencias de los indios de México. Edición, prólogo, notas y comentarios de José J. Fuente del Pilar. Transcripción del Manuscrito Tovar al castellano moderno de Susana Urraca Uribe. Madrid 2001. Das Original befindet sich in der John Carter Brown Library und ist online verfügbar: https://www.wdl.org/en/item/6759/view/1/1/ (26.7. 2018). Zu den Umständen bei der Abfassung des Dokuments vgl. den Anhang bei O’Gorman, La invención, S. xciii– xcvi und aus der reichen Forschung: John H. Parry: Juan de Tovar and the History of the Indians. In: Proceedings of the American Philosophical Society 121 (1977), S. 316 – 319.  Miguel León-Portilla: Visión de los vencidos. Relaciones indígenas de la Conquista. Mexiko 1959; James Lockhart (Hrsg.): We People Here. Nahuatl Accounts of the Conquest of Mexico. Berkeley 1993.  Elizabeth Hill Boone: Mesoamerican History. The Painted Historical Genres. In: The Oxford History of Historical Writing. Bd. 3: 1400 – 1800. Hrsg. von José Rabasa [u. a.]. Oxford 2012, S. 575– 599.

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a la sacree maiesté du treschristian [sic] Roy de France, Henry Secō[n]d leur souuerain seigneur, et à tresillustre [sic] dame, ma dame Katharine de Medicis, la royne son espouze, lors de leur triumphant ioyeulx & nouuel aduenement en icelle ville, qui fut es iours de mercredy & ieudy premier & secō[n]d iours d’octobre, mil cinq cens cinquante, et pour plus expresse intelligence de ce tant excellent triumphe, les figures & pourtraictz des principaulx a[d]ornementz d’iceluy y sont apposez chascun en son lieu comme l’on pourra veoir par le discours de l’histoire. Auec priuilege du Roy. Rouen 1551. Ares, Berta, Jesus Bustamante, Francisco Castilla u. Fermin del Pino: Humanismo y vision del otro en la España moderna. Cuatros estudios. Madrid 1992. Ascher, Marcia u. Robert Ascher: Mathematics of the Incas. Code of the Quipu. Ann Arbor 1981. Balandier, Georges (Hrsg.): Le Tiers Monde. Sous-développement et développement. Préface d’Alfred Sauvy. Paris 1956. Bataillon, Marcel: L’idée de découverte de l’Amérique chez les Espagnols du XVIe siècle (d’après un livre récent). In: Bulletin hispanique 55 (1953), S. 23 – 55. Botero, Giovanni: Des causes de la grandeur des villes. Hrsg. von Romain Descendre. Paris 2013. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1982 (Frz.: 1979). Cañizares-Esguerra, Jorge: How to Write the History of the New World. Histories, Epistemologies, and Identities in the Eighteenth-Century Atlantic World. Stanford 2001. Carrió Cataldi, Leonardo A.: Temps, science et empire. Analyse des conceptions de temps dans le monde scientifique des monarchies ibériques au XVIe siècle. Dissertation CRH-Paris/SUM. Florenz 2015 (in Druckvorbereitung). Castelnau-L’Estoile, Charlotte de: Entre curiosité et édification. Le savoir des missionnaires jésuites au Brésil. In: Sciences et religions. De Copernic à Galilée (1540 – 1610). Hrsg. von École française de Rome. Rom 1999 (Collection de l’E´cole française de Rome 260), S. 131 – 157. Dies., Marie-Lucie Copete, Aliocha Maldavsky u. Ines G. Županov (Hrsg.): Missions d’évangélisation et circulation des savoirs. XVIe–XVIIIe siècle. Madrid 2011 (Collection de la Casa de Velázquez 120). Certeau, Michel de: Das Schreiben der Geschichte. Frankfurt a.M. 1991 (Frz.: 1975). Ders.: La rupture instauratrice ou le christianisme dans la culture contemporaine. In: Esprit (Juni 1971), S. 1177 – 1214. Wieder abgedruckt in: Ders.: La faiblesse de croire. Paris 1987. S. 208 – 226, deutsche Übersetzung: GlaubensSchwachheit. Hrsg. von Luce Giard. Stuttgart 2009, S. 155 – 187. Chakrabarty, Dipesh: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M. 2010 (Theorie und Gesellschaft 72) (Engl.: 2000). Chartier, Roger: Inscrire et effacer. Culture écrite et littérature (XIe–XVIIIe siècle). Paris 2005. Chinchilla, Perla u. Antonella Romano (Hrsg.): Escrituras de la modernidad. Los jesuitas entre cultura retórica y cultura científica. Mexiko 2008. Cieza de León, Pedro: Segunda parte de la Crónica del Perú que trata del señorio de los Incas Yupanquis y de sus grandes hechos y gobernación (1553). Madrid 1880. Descendre, Romain: La „Découverte“. Histoire d’une invention sémantique (premiers éléments). In: Langages, politique, histoire. Avec Jean-Claude Zancarini. Hrsg. von Romain Descendre u. Jean-Louis Fournel. Lyon 2015, S. 399 – 412.

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Lebendige Denkmäler Die Monumentalisierung der Landbevölkerung als Relikt autochthoner Vergangenheit im Frankreich des 18. und frühen 19. Jahrhunderts Zwischen Ende des 17. und Anfang des 19. Jahrhunderts erlangte die Erforschung der Vergangenheit in Frankreich eine bis dahin unbekannte umfassende Dimension. Diese Aussage betrifft weder die Vielfalt der erforschten Themen noch den Umfang des Erkenntnisgewinns. Sie bezieht sich vielmehr auf die Verschiedenartigkeit materieller Artefakte und immaterieller Ausprägungen von Kultur, die in der Gegenwart bestanden und doch als Relikte vergangener Zeiten gedeutet wurden. Menschen und Orte, Dinge und Wörter, all dies konnte im 18. Jahrhundert Spuren der Vergangenheit tragen, vorausgesetzt, dass die Gelehrten auf der Basis von bestimmten Anzeichen das Relikthafte an diesen „Dingen“ zu identifizieren wussten. Gewiss stellt die Deutung von Kulturphänomenen als Ausdruck älterer historischer Zustände kein Novum des 18. Jahrhunderts dar. Es genügt, an die historische Sprachforschung zu denken, wie sie besonders im 17. Jahrhundert gepflegt wurde, und an den damit verbundenen Versuch, mithilfe sprachlicher Spezimina die Welt- bzw. Migrationsgeschichte der Menschheit nach der Sintflut zu rekonstruieren;¹ oder aber an die antiquarische Auseinandersetzung mit archäologischen Überresten und Denkmälern, die bereits im Humanismus ansetzte und sich als Hilfestellung der textbasierten historischen Erkenntnis – ihrer Berichtigung und Erweiterung – verstand.² Neu war jedoch die Vielfalt archäologischer Überbleibsel, die in den Horizont des Historischen geholt wurden, wie z. B. die Steinwerkzeuge und -bauten, die die heutige Forschung grob dem Paläolithikum bis Neolithikum zuschreibt und die in Frankreich seit dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert als Erzeugnisse menschlicher Tätigkeit angesehen wur-

 Hierzu Daniel Droixhe: La linguistique et l’appel de l’histoire (1600 – 1800). Rationalisme et révolutions positivistes. Genf/Paris 1978; Ders.: L’Étymon des dieux. Mythologie gauloise, archéologie et linguistique à l’âge classique. Genf 2002.  Stellvertretend für diesen breiten Forschungskomplex, dessen Grundfragen Arnaldo Momigliano 1950 in seinem bahnbrechenden Aufsatz Ancient History and the Antiquarian festlegte: Mark Phillips: Reconsiderations on History and Antiquarianism. Momigliano and the Historiography of Eighteenth-Century Britain. In: Journal of the History of Ideas 57 (1996), S. 297– 316; Peter N. Miller u. Peter Burke (Hrsg.): Momigliano and Antiquarianism. Foundations of the Modern Cultural Sciences. Toronto 2015. https://doi.org/10.1515/9783110552201-004

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den.³ Ebenso neu war die Betrachtung von Sitten, Bräuchen und Traditionen als Zeugnisse der Vergangenheit, die neben Sprachen und Denkmälern einen historischen Beweiswert besaßen. Schließlich gerieten Menschen und Dinge als Träger von für die Geschichte wertvollen Auskünften zunehmend in den Blick von (überwiegend Lokal‐)Gelehrten, die an historischen Abhandlungen arbeiteten. Die empirisch erfahrbaren, als unmittelbar empfundenen Spuren der Vergangenheit erhielten im Hinblick auf den Erkenntniswert neben der schriftlich tradierten Überlieferung zunehmende Anerkennung. Die Aufwertung all dieser Dinge als Zeugnisse der Vergangenheit fügte sich in einen langwierigen Prozess ein, den in Frankreich René Descartes (1596 – 1650) mit der Infragestellung jeglicher Gewissheit in der Erforschung der Vergangenheit in Bewegung gesetzt hatte. Der wiederkehrende Skeptizismus gegenüber der historischen Erkenntnis, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und erneut in den 1720er-Jahren virulent ausbrach, setzte die historische Forschung unter massiven Legitimationsdruck. Eine eingehende Erörterung dieses Skeptizismus – des sogenannten historischen Pyrrhonismus – ist hier nicht möglich.⁴ Hier sind eher die Folgen von Belang, die der Beweisdruck auf die Geschichtsschreibung auslöste. Historisch arbeitende Gelehrte griffen neben dem Kanon der literarischen Historiografie weitere Arten von Belegen auf, etwa Akten und Dokumente (in der heutigen Fachsprache die Primärquellen), Denkmäler, Sprachen und Traditionen. Diese tauchten nun immer öfter als Referenz- und Belegmaterial auf, und dies aufgrund der impliziten epistemischen Annahme, dass empirisch arbeitende Wissenschaften sicherere Ergebnisse lieferten. Materielle und immaterielle Spuren der Vergangenheit, die sich in der Gegenwart räumlich zerstreut befanden, schienen höhere Evidenz und Authentizität zu versprechen. Sie galten

 Die erste französische Publikation, die sie unter die Denkmäler subsumiert, ist das monumentale Werk von Bernard de Montfaucon: Supplément au Livre de l’Antiquité expliquée et représentée en figures. 5 Bde. Paris 1724, hier Bd. 5, S. 140 – 150. S. dazu Lisa Regazzoni: Als die „groben Steine“ Keltisch sprachen. Die Megalithen als Quellen altgallischer Geschichte im Frankreich des 18. Jahrhunderts. In: Francia 42 (2015), S. 111– 134.  Für den Pyrrhonismus in Frankreich bleiben nach wie vor die folgenden Studien relevant: Carlo Borghero: La certezza e la storia. Cartesianesimo, pirronismo e conoscenza storica. Mailand 1983, und Richard H. Popkin: The History of Scepticism. From Savonarola to Bayle. Verb. u. erw. Aufl. New York 2003. S. des Weiteren Carlos Spoerhase (Hrsg.): Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550 – 1850. Berlin/New York 2009; Anton M. Matytsin: The Specter of Skepticism in the Age of Enlightenment. Baltimore 2016. Zum Skeptizismus gegenüber der römischen Historiografie in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts s. das unübertroffene Werk von Mouza Raskolnikoff: Histoire romaine et critique historique dans l’Europe des lumières. La naissance de l’hypercritique dans l’historiographie de la Rome antique. Straßburg 1992.

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als authentischer und wahrer im Vergleich zur literarischen Tradition, die immer wieder unter den Verdacht der Parteilichkeit geriet. Der umrissene Prozess, bei dem immer mehr gegenwärtigen Dingen historische Bedeutung verliehen wurde, erreichte seinen Höhepunkt in den Arbeiten der Académie celtique (1804– 1812). Diese Pariser Institution stellte den ersten kollektiven systematischen Versuch dar, die Gesamtheit der Überreste keltischer, gallischer und fränkischer Vergangenheit auf nationaler und zum Teil sogar internationaler Ebene zu sammeln und auszuwerten. „Les personnes et les lieux, les choses et les mots“,⁵ all dies beabsichtigten die Mitglieder der Académie celtique zu befragen, um Auskunft über die Kultur und Zustände der französischen Ahnen zu gewinnen. Diese Träger nichtschriftlicher, materieller und immaterieller Zeugnisse wurden insofern unentbehrlich, weil die Mitglieder der Académie celtique an einer Vergangenheit interessiert waren, zu der es kaum einheimische Schriftzeugnisse gab. Sie glaubten diesem Mangel abhelfen zu können, indem sie vorzugsweise bei den Bauern und Landleuten nach den Spuren der französischen Vergangenheit suchten und die ländlichen Dialekte, idiomatischen Ausdrücke, Toponyme und Patronyme, Bräuche, Sitten und Trachten, traditionellen Feiern sowie den Aberglauben als Relikte alter Zeiten deuteten. Aufgrund dieser epistemischen Praxis hat die Forschung die Académie celtique beinahe einstimmig zum Ursprung der französischen Ethnografie bzw. Folklore erklärt.⁶ Ohne diese These, die lediglich vom Standpunkt des 19. und 20. Jahrhunderts aus aufgestellt werden kann, komplett zurückzuweisen, bezweckt der folgende Beitrag, die Académie celtique einerseits in ihrem politischen Entstehungskontext zu verorten und andererseits die epistemischen Wurzeln ihrer Mutmaßungen und Praktiken bis ins 18. Jahrhundert – wo möglich, in früheren Zeiten – zurückzuverfolgen.Vom 18. Jahrhundert aus betrachtet, entpuppt sich die Académie celtique gleichzeitig als Klimax und als Sackgasse eines präsentistischen Ansatzes, der einer Rekonstruktion der Vergangenheit dienen sollte, die im 18. Jahrhundert noch unter das breite Wissensfeld Geschichte fiel.⁷

 Nicole Belmont: Aux sources de l’ethnologie française. Paris 1995, S. 11.  Belmont, Aux sources, S. 12; Mona Ozouf: L’invention de l’ethnographie française. Le questionnaire de l’Académie celtique. In: Annales. Économies, Sociétés, Civilisation 2 (1981), S. 210 – 230.  Eine Vorstellung davon, was zum Feld der Geschichte im 18. Jahrhundert gehörte, liefert das Lehrbuch für Geschichte des Abts Nicolas Lenglet du Fresnoy: Methode pour étudier l’histoire, das zwischen 1713 und 1772 verschiedene verbesserte Ausgaben erlebte. Als Wissenschaften, auf denen das Erlernen der Geschichte beruhe, nannte er die Chronologie, die Geografie, die Sitten und Bräuche.

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1 Die Académie celtique auf der Suche nach der keltischen einheimischen Vergangenheit: ein Politikum Die ersten Schritte zur Gründung der Académie celtique soll ein sehr heterogenes Netzwerk in Paris während des Direktoriums unternommen haben. Vermutlich begannen der Botaniker Éloi Johanneau (1770 – 1851), der Strafrichter und spätere Diplomat Michel-Ange-Bernard Mangourit (1752– 1829) sowie der Administrator des Departements Seine und spätere Präfekt des Departements Oise Jacques Cambry (1749 – 1807) bereits ab Juni 1804 mit ersten Versammlungen, bevor sie am 22. Februar 1805 eine zunächst private Gesellschaft gründeten. Unter den Protagonisten der ersten Stunde befanden sich auch der Publizist und Schriftsteller Joseph Lavallée (1747– 1816), der Konservator des Musée des monuments français Alexandre Lenoir (1761– 1839), der Ingenieur-Geograf und Antiquar Jacques-Antoine Dulaure (1755 – 1835), der Historiker und Schriftsteller Carlo Denina (1731– 1813) sowie der Geograf und Kartograf Edme Mentelle (1730 – 1815). Vieles hatten diese Menschen gemeinsam: Mit Ausnahme von Lenoir und Mentelle waren die Akademiegründer keine gebürtigen Pariser, einige von ihnen – Mangourit und Cambry – sowie zahlreiche der späteren Mitglieder stammten aus der Bretagne. Fast alle waren Girondisten gewesen, einige von ihnen schlugen eine politische Laufbahn ein, die ihren Höhepunkt unter dem Direktorium und im Kaiserreich erreichte.⁸ Darüber hinaus gehörten die meisten Mitglieder Freimaurerlogen an⁹ und einige von ihnen der gelehrten Gesellschaft Société philotechnique,¹⁰ die Mangourit 1795 gegründet hatte. Zusätzliche Verbindungen¹¹ lassen ein feinma-

 Paradigmatisch dafür der Lebenslauf von Cambry: Daniel Bernard: Le bi-centenaire de la naissance de Cambry. Comment s’effectua son voyage dans le Finistère en 1794– 1795. In: Nouvelle revue de Bretagne 3 (1949), S. 447– 453.  Überwiegend gehörten sie zu der Loge Osiris, der der Neuf soeurs oder der etwas kleineren der Commandeurs du Mont-Thabor. Hierzu: Jean-Yves Guiomar: La Révolution Française et les origines celtiques de la France. In: Annales historiques de la Révolution française 287 (1992), S. 63 – 85, bes. S. 76.  Darunter Lavallée, der nicht nur Mitglied der Société philotechnique war, sondern zahlreiche Artikel – vor allem über die Kunst und die Museen – für deren Zeitschrift verfasste: L’Ami des arts. Journal de la Société philotechnique.  Lavallé und Mangourit verfassten beispielsweise lobende Artikel über das Musée des monuments français von Lenoir: Joseph Lavallée: Semaines Critiques, ou gestes de l’An cinq. Bd. 2. Paris 1797, S. 145 – 187; Éloi Johanneau: Coup-d’oeil sur l’état actuel et futur du Musée des monumens français, consacré à l’histoire et l’art en France. o. O. o. J., S. 1– 7.

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schiges und mehrdimensionales Netzwerk von Bekannten und teilweise Freunden ans Licht kommen,¹² das den Kern der Académie celtique bildete. Verblüffend an dieser Zusammensetzung ist es, dass sich kaum ein Mitglied der Académie celtique in den Jahren vor dem Direktorium mit dem Thema Kelten auseinandergesetzt hatte. Wie Jean-Yves Guiomar richtig beobachtet hat,¹³ entwickelten die genannten Personen ihr Interesse am Keltentum erst nach der Schreckensherrschaft. Das gilt sowohl für den ersten Präsidenten Cambry, der sich zum historischen Wert der Megalithbauten in der Bretagne zum ersten Mal in seinem Werk Voyage dans le Finistère (1799) äußerte,¹⁴ als auch für den zweiten Präsidenten, den klassisch ausgebildeten Maler Alexandre Lenoir, der die Ursprünge der Kultur vielmehr auf die ägyptische zurückführte und sich erst im Jahr 1799, in der fünften Ausgabe des Museumskatalogs, auf das keltische Ursprungsnarrativ einließ.¹⁵ Dasselbe gilt für das berühmtere Mitglied der Académie celtique, Constantin-François Volney (1757– 1820), der die Wiege der Religion und der Kultur in Ägypten und nicht in Gallien sah und erst in seinen Leçon d’histoire von 1795 der keltischen Sprache seine Aufmerksamkeit widmete.¹⁶ Auch in der publizistischen Tätigkeit eines Lavallée oder Mangourit vor der Jahrhundertwende sucht man vergeblich nach dem späteren Eifer für die keltische Vergangenheit. Der Ingenieur und Antiquar Dulaure, der sich bereits 1789 in seiner Description des principaux lieux de France mit dem Keltentum beschäftigte,¹⁷ erwies sich in diesen frühen Schriften nicht als glühender Sympathisant der alten Gallier. Selbst der Botaniker Johanneau, der als Initiator der Akademie gilt, soll sich der Erforschung dieser Vergangenheit erst ab 1796 gewidmet haben, als er von seinem Freund, dem berühmten Berufssoldaten und Keltomanen Théophile-Malo de La Tour d’Auvergne (1743 – 1800), die bretonische Sprache erlernte.¹⁸

 Über die Freundschaft zwischen Mangourit, Lenoir, Dulaure und Cambry s. Charles-François Vergnaud-Romagnési: Notice sur la vie et les ouvrages de M. Éloi Johanneau. Orléans 1852, S. 4.  Guiomar, La Révolution Française, bes. S. 67– 73.  Im Auftrag des Departements unternahm Cambry zwischen Oktober 1794 und Februar 1795 eine Reise durch die Finistère, um eine Bestandsaufnahme der durch den Vandalismus errichteten Schäden durchzuführen. Seine Beobachtungen veröffentlichte er in: Voyage dans le Finistère, ou État de ce département en 1794 et 1795. 3 Bde. Paris 1799, hier Bd. 3, S. 51– 56.  Alexandre Lenoir: Description historique et chronologique des monumens de sculpture, réunis au Musée des monumens français. 5. Aufl. Paris 1799, S. 62– 70.  Constantin-François de Chasseboeuf Volney: Leçons d’histoire prononcées à l’École normale, en l’an III de la République française. Paris 1799.  Jacques-Antoine Dulaure: Description des principaux lieux de France. 6 Bde. Paris 1789, passim.  S. den biografischen Eintrag „Johanneau, Éloi“ in: Biographie universelle et portative des contemporaines ou Dictionnaire historique des hommes vivants et des hommes morts. Hrsg. von

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Wie die Bekehrung dieser Menschen zur keltischen Ideologie erfolgte und aus welchen Gründen, konnte mangels schriftlicher Zeugnisse – alle waren ja in Paris ansässig und standen in direkter Beziehung zueinander – nicht rekonstruiert werden. Sicher ist, dass das keltische Ursprungsnarrativ ein gutes Legitimierungsargument für die Eroberungspolitik Napoleons zu bieten hatte. Das bezeugt u. a. die Widmungsepistel an die Kaiserin Josephine, die Lenoir 1807 für den ersten Band der Mémoires de l’Académie celtique verfasste. Hier erklärt er, es habe der Wunsch bestanden, die Belege der ruhmreichen Handlungen der keltischen, gallischen und fränkischen Ahnen zu sammeln, und dieser Wunsch habe zur Gründung der Académie celtique geführt.¹⁹ Sein Nachruhm sei das Vermächtnis, das dieses sehr würdige Volk der Kaiserin und dem Kaiser hinterlassen habe.²⁰ Das in diesem Satz vertretene Narrativ, Kelten, Gallier und Franken seien das gleiche Volk, geht auf einen älteren und immer neu wiederkehrenden Topos zurück,²¹ den selbst Cambry in seiner Eröffnungsrede der Académie celtique vom 30. März 1805 wieder aufgegriffen hatte.²² Dementsprechend seien die alten Gallier ursprünglich in Frankreich angesiedelt gewesen und hätten im Zuge von Wanderungen in Richtung Osten Europa und einen Teil Asiens erobert. So seien die späteren Franken keine Eroberer Galliens gewesen, sondern vielmehr die Nachkommen der Kelten, die in ihre alte Heimat zurückgekehrt seien. Die Behauptung des Zivilisationsprimats Frankreichs als Wiege der Kultur stellte ein politisches Anliegen dar, das Cambry zur weiteren expliziten Aufgabe dieser Akademie machte. Dass etwa England – oder auch Deutschland – die ursprüngliche Heimat der Kelten gewesen sein könnten, stritt er vehement ab. Seiner Ansicht nach hatten sich die Engländer die Bezeichnung „Kelten“ für die alten Eroberer Europas und Asiens unrechtmäßig angeeignet. Nicht nur die ursprüngliche Sprache der Menschheit, das Keltische, habe sich von Gallien aus

Alphonse Rabbe u. Claude Vieilh de Boisjoslin. Bd. 2. Paris 1836, S. 2168 – 2171; Vergnaud-Romagnési, Notice.  Zu jener Zeit fungierte Lenoir als Josephines Kunstberater für die Residenz Malmaison.  Alexandre Lenoir: Épitre dédicatoire à Sa Majesté. In: Mémoires de l’Académie celtique, ou Recherches sur les antiquités celtiques, gauloises et françaises. Hrsg. von der Acade´mie Celtique. 6 Bde. Paris 1807– 1812, hier Bd. 1, o. S.  Hierzu Jean Bodin: La méthode de l’histoire. Hrsg. von Pierre Mesnard. Paris 1941 (lat.: 1572); Gilles Lacarry: Historia coloniarum a Gallis in exteras nationes missarum, tum extrarum nationum coloniae in Gallias deductae. Claromonti 1677. S. dazu: Jean-Louis Brunaux: Les Celtes. Histoire d’un mythe. Paris 2014, S. 187– 190.  „Son but est premièrement d’examiner, de reproduire l’histoire et les monumens des Celtes, des Gaulois, des Francs, qui ne forment, sous différens noms, qu’un même peuple“: Discours prononcé par M. Cambry à la première séance. In: Acade´mie Celtique, Mémoires, Bd. 1, S. 21– 27, hier S. 22.

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über die Welt ausgebreitet. In diesem Land hätten die Gallier schon lange vor den Griechen und den Römern die Landwirtschaft ausgeübt, und auch das Reiten sei zunächst dort entwickelt worden.²³ Cambrys Eröffnungsrede und Lenoirs Widmungsepistel offenbaren das politische Anliegen der Académie celtique: Es ging darum, Napoleons Eroberungspolitik als historische Bestimmung zu deuten, deren Unabwendbarkeit nicht durch dynastische, sondern durch ethnische Abstammung zu begründen war. Die „titres de la gloire“ der Kelten zu sammeln und damit diese national-ethnische Bestimmung historisch zu belegen, machte sich die Académie celtique zur Aufgabe. Damit beabsichtigte sie, jener neuen Beratungsfunktion nachzugehen, mit der die gelehrten Gesellschaften ab dem Konsulat beauftragt waren.²⁴ Inwiefern Napoleons Politik, die die Gründung neuer Akademien begünstigte, den entscheidenden Impuls zur Erschaffung der Académie celtique gab, bleibt offen. Sicher ist aber, dass das Pariser Netzwerk mit dieser neuen Gründung eine Leerstelle in der akademischen Landschaft Frankreichs zu besetzen wusste.²⁵ Aus politischer Perspektive stellte die Académie celtique zweifelsohne ein Produkt postrevolutionärer napoleonischer Zeit dar. In epistemischer Hinsicht hingegen weist ihre Arbeitsweise eine gewisse Kontinuität mit denjenigen aus den vorherigen Jahrhunderten auf. Stärker, als man auf den ersten Blick vermuten könnte, wurzeln ihre Forschungsannahmen und -methoden in Praktiken der historischen Forschung, die sich im 18. Jahrhundert deutlich herausbildeten. In den folgenden Abschnitten soll es darum gehen, dieser epistemischen Verwurzelung auf den Grund zu gehen.

 Jacques Cambry: Notice sur l’agriculture des Celtes et des Gaulois. Paris 1806.  S. zur Änderung der Rolle dieser Gesellschaften Jean-Luc Chappey: Les sociétés savantes à l’époque consulaire. In: Annales historiques de la Révolution française 309 (1997), S. 451– 472.  Inwiefern jedoch das keltische Ursprungsparadigma mit Napoleons historischer Selbstdarstellung vereinbar war und ob er sowie seine Entourage diese Initiative aus Überzeugung unterstützt haben, ist zu bezweifeln. Einem Brief von Napoleons Innenminister Jean-Baptiste de Nompère de Champagny vom 16. Januar 1804 an Cambry ist zu entnehmen, dass dieser nach institutioneller Anerkennung suchte und ihm der Minister jene freundlich verweigerte. Es sei nicht üblich – schrieb der Innenminister –, dieser Art von frei entstehenden Gesellschaften schriftliche Anerkennung (titres écrits) zu gewähren, die dann für diese gelehrte Gesellschaft zu Privilegien würden. S. den Brief von Champagny an Cambry in: Procès-verbaux de l’Académie celtique, Archives nationales. Paris, 36 AS 3, Fol. 3.

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2 Die Académie celtique und die statistische Erfassung der Spuren der Vergangenheit: ein Historikum Erst spät entdeckten die meisten Mitglieder der Académie celtique ihr Interesse an der keltischen Vergangenheit, und zur gleichen Zeit fingen sie an, sich gelehrten Abhandlungen über geschichtliche Themen zu widmen. Mit wenigen Ausnahmen, auf die später noch eingegangen wird, sind diese Menschen, was das Erforschen des Altertums angeht, als Parvenüs zu betrachten. Unter den dafür wichtigsten Beispielen seien hier Cambry, Johanneau und Lenoir kurz erwähnt. Cambry, der zunächst als Lehrer für Literatur in Quimper und später als Verwalter an verschiedenen politisch-administrativen Stellen tätig gewesen war, veröffentlichte sein erstes gelehrtes Werk, die Monuments celtiques ou Recherches sur le culte des pierres im Jahr 1805, als er 56 Jahre alt war. Dieses Werk bezeugt Cambrys intensive Auseinandersetzung mit den wichtigsten Antiquaren des 16. bis 18. Jahrhunderts, etwa Olaus Magnus, William Camden, Bernard de Montfaucon, Johann Georg Keyssler, dem Comte de Caylus und Horace Walpole, sowie die systematische Lektüre und Rezeption der Bände, die die Society of Antiquaries of London seit 1770 veröffentlichte, nämlich die Archaeologia: Or Miscellaneous Tracts, relating to Antiquity. Dies erklärt im Übrigen, weshalb Cambry in seiner Eröffnungsrede an der Académie celtique mit den Engländern wegen deren Inanspruchnahme des keltischen Ursprungs haderte. Denn das französische Pendant zu der Society of Antiquaries, nämlich die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres (ab 1795 in das Institut national des sciences et des arts eingegliedert) hatte sich in dem gleichem Zeitraum kaum mit den keltischen Altertümern beschäftigt.²⁶ Der Botaniker Johanneau bietet ein weiteres Beispiel für die späte Hinwendung zu gelehrten Forschungen, da er höchstwahrscheinlich erst 1796 von seinem Freund La Tour-d’Avergne in das Studium der bretonischen und keltischen Sprache eingeweiht wurde. Ebenso hatte Lenoir zunächst eine Laufbahn als Künstler eingeschlagen, bevor ihm die Ereignisse der Revolution und eine glückliche Konstellation zu einer Anstellung als Aufseher und später Konservator des Musée des monuments français verhalf. Begleitet von Gelehrten der ersten

 Hierzu: Catherine Volpilhac: Les Gaulois à l’Académie des Inscriptions et des Belles-Lettres de 1701 à 1793. In: Nos ancêtres les Gaulois. Hrsg. von Paul Viallaneix u. Jean Ehrard. ClermontFerrand 1980, S. 77– 83.

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Denkmalkommission, darunter der Abt Gaspard Michel Le Blond (1738 – 1809),²⁷ näherte sich Lenoir der antiquarischen Wissensproduktion des 17. und 18. Jahrhunderts erst in den 1790er-Jahren an. Aus den Schriften der Benediktiner Jean Mabillon, Bernard de Montfaucon und Michel Félibien sowie dem Abt Jean Lebeuf, um lediglich ein paar berühmte Historiker und Antiquare zu nennen, schöpfte Lenoir all die Auskünfte, die er für das Verfassen der Katalogeinträge zu den in seinem Museum bewahrten Denkmälern benötigte.²⁸ Dies vorausgesetzt, geht es im Folgenden darum, Kontinuitäten und Brüche zwischen den Keltomanen und den Gelehrten und Historikern, die die französische Vergangenheit in den vorherigen Jahrhunderten erforscht hatten, aufzuspüren. Die erste Feststellung der Mitglieder der Académie celtique war es, dass kaum Zeugnisse der keltischen Vergangenheit in die Gegenwart gelangt seien. Bei der Erklärung, weshalb das so sei, griffen sie auf altbekannte Argumente zurück, die bereits Topos-Charakter aufwiesen. Das Fehlen an autochthonen Schriftquellen wurde in Anlehnung an Cäsar damit erklärt, dass die Wissensträger der gallischen Gesellschaft, nämlich die Priester oder Druiden, ihre Lehre und ihr Wissen absichtlich nicht schriftlich fixiert hätten.²⁹ Die knappen allochthonen, „fremden“ Quellen – nämlich die griechischen wie römischen – hätten die gallische Kultur aus Eifersucht und Neid entstellt.³⁰ Des Weiteren betonten die Mitglieder der Académie celtique die Verantwortung der Römer für die Tilgung der keltischen Kultur, Sprache und Denkmäler. Sie reaktivierten somit einen grundlegenden Topos, mit dem das Fehlen von Spuren gallischer Kultur in den vorherigen Jahrhunderten begründet worden war.³¹ Zudem hätten die Römer, so die Gelehrten, das gallische Pantheon durch das eigene ersetzt und die Bildhauerei der Besiegten zerstört. Die Dürftigkeit nichtschriftlicher Zeugnisse wie Münzen, Bauten, Skulpturen sei das Ergebnis zahlreicher Zerstörungsakte im Laufe der Zeit sowie ihres Verbotes oder aber ihrer aufoktroyierten Verwandlung durch die Römer und

 Zur Rolle des Abbé in der Politik der Bewahrung s. Ségolène Chambon: Le rôle de l’abbé Leblond dans les commissions des savants. In: L’abbé Leblond (1738 – 1809). Second fondateur de la Bibliothèque Mazarine. Hrsg. von Patrick Latour. Paris 2009, S. 65−72; Emmanuel Schwartz: Leblond et son double. Portrait d’Alexandre Lenoir. In: Latour, L’abbé Leblond, S. 73 – 80.  Hierzu Lisa Regazzoni: Enteignung oder Wiederaneignung der Vergangenheit? Die museale Arbeit an der Nationalgeschichte Frankreichs nach der Revolution. In: Zeitschrift für Historische Forschung 3 (2012), S. 413 – 452.  Gaius Iulius Caesar: Bellum gallicum – Der gallische Krieg, lateinisch-deutsche Ausgabe. Hrsg. von Georg Dorminger. 6. Aufl. München 1980, Buch VI, 14.3.  S. z. B. Jacques Martin: La Religion des Gaulois. 2 Bde. Paris 1727, hier Bd. 1, S. 66 f.; JeanJoseph Cajot: Les Antiquités de Metz ou recherches sur l’origine des Médiomatriciens. Metz 1760, S. 30 f.  S. z. B. Martin, La Religion, Bd. 1, S. 30 f.

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die römisch-katholische Kirche zu verdanken.³² Die wenigen für altgallisch gehaltenen Artefakte, etwa die Megalithbauten und die überlieferten keltischen Münzen, seien von Archäologie, Numismatik und Geschichtsschreibung kaum berücksichtigt worden, weil sich diese Disziplinen fast ausschließlich für die griechischen und römischen Altertümer interessiert hätten. Hinzu komme noch, dass die ursprüngliche Religion der Gallier so rein und abstrakt gewesen sei, dass diese vor dem Kontakt mit den Römern keine anthropomorphen Götterdarstellungen gemeißelt und keine Tempel errichtet hätten: Sie hätten hingegen Naturelemente wie Wasser, Seen, Eichen und Steine verehrt und damit kaum autochthone materielle Spuren ihrer Kultpraktiken hinterlassen.³³ Um dem Vakuum an einheimischen Schriftquellen abzuhelfen, strebten die Gründer der Académie celtique von Anbeginn danach, alle Spuren der gallischen Vergangenheit auf dem französischen Boden ausfindig zu machen, sie zu sammeln und zu deuten. Wie aber konnten sie diese Surrogate der Schriftzeugnisse finden, wenn sie als fragmentarisch, verändert und entfremdet – weil den ursprünglichen Kontext entrissen – oder sogar als verschollen galten? Um den „corps d’histoire celtique complet“³⁴ zusammenzutragen, forderte Johanneau 1804, „d’interroger même la France entière sur l’état ancien des Gaules“.³⁵ Der Plan, das gesamte gegenwärtige Frankreich über das alte Gallien zu befragen und damit eine Art historische Statistik der keltischen und gallischen Überreste zu erstellen, mündete in die Einberufung einer Kommission, die den Entwurf eines Fragebogens entwickeln sollte. Diesen hätten letztendlich die Menschen „les plus éclairés“ sämtlicher Departements bekommen, um sich von den Fragen bei ihrer Feldforschung leiten zu lassen. Diese Herangehensweise schloss jedoch nicht aus, dass Mitglieder der Académie celtique selbst Forschungsreisen in die Provinzen unternahmen, wie Johanneau es tat.³⁶ Die Urheberschaft des Fragebogens, der im ersten Band der Mémoires de l’Académie celtique veröffentlicht wurde,³⁷ steht Dulaure und Mangourit zu, obschon eine Beteiligung Cambrys, Johanneaus und Mentelles nicht auszuschließen

 Philibert-Bernard Moreau de Mautour: Observations sur des monuments d’antiquité trouvez dans l’église cathédrale de Paris. Paris 1711, S. 6 f.  Martin, La Religion, Bd. 1, S. 128.  Joseph Lavallée: Discours préliminaire. In: Acade´mie celtique, Mémoires, Bd. 1, S. 1– 20, bes. S. 8.  Éloi Johanneau: Discours d’ouverture. In: Acade´mie celtique, Mémoires, Bd. 1, S. 28 – 64, hier S. 29.  Belmont, Aux sources, S. 11.  o. V.: Série de questions. In: Acade´mie celtique, Mémoires, Bd. 1, S. 72– 86.

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ist.³⁸ Dieser Fragebogen wurde als ein epistemisches Ermittlungsinstrument konzipiert, um die Lückenhaftigkeit der Geschichte und den Mangel an „monuments écrits“ wettzumachen. Anhand dessen sollten die Menschen und die Orte, die Dinge und die Wörter befragt werden, um „les traditions sur chaque lieu, sur chaque monument, sur chaque usage“ herauszufinden.³⁹ Das Postulat, auf dem dieser Fragebogen beruhte, war, dass die Spuren der Kelten, ihrer Sprache, Religion und Geschichte nicht restlos verschwunden seien; sie würden in Form von Überresten, Fragmenten und Relikten, die lange vergessen oder übersehen worden seien, noch bestehen. In versteckter, veränderter oder entarteter Form hätten sie in den modernen Sprachen, in der Geschichte aller Völker von Italien bis Sibirien und in den religiösen Volkspraktiken überlebt. Die Kunst, die den Adressaten des Fragebogens abverlangt wurde, bestand daher darin, Relikte der gallischen Vergangenheit als solche zu erkennen. Dazu musste der Fragebogen verhelfen, indem er den Blick auf besondere Umstände, auffällige Bräuche und Sitten etc. lenkte. Der Bogen⁴⁰ besteht aus 51 Fragen, die in vier Kategorien eingeordnet sind: (1) Bräuche, Feiern, Zeremonien, Märchen, Volkslieder, Volksglauben, Amulette, Redewendungen und „pratiques superstitieuses“, die mit den Jahreszeiten zusammenhängen, wie beispielsweise die Feste „des garçons“, „des fous“, „des rois“, „des brandons“, „du pressoir“ und des „Bacchus“, aber auch christliche Festivitäten wie das Hochfest der Geburt Johannes des Täufers, die Redewendung „le guy l’an neuf“ (etwa „Gebe etwas zur Mistel, das Neujahr ist da“), die Kinder zu Neujahr singen, um ihre Neujahrsgeschenke zu bekommen; (2) Bräuche usw., die sich auf die Lebensphasen – Geburt, Verlobung, Hochzeit, Krankheit, Tod etc. – beziehen, wie z. B. abergläubische Zauberformeln und Rituale; (3) alte Denkmäler, Kultorte und Gräber – etwa die „pierres brutes“ (die Megalithbauten), die in Haufen, in Kreisen oder doch einzeln wie Obelisken aufgestellt sind, sowie ihre Position, Form, ihre Beschaffenheit, ihre Namen und die (märchenhafte) Urheberschaft, die ihnen zugeschrieben wird (Cäsar, die Feen oder auch der Teufel), ferner, ob diese Steine mit Öl besprengt werden. Zum Schluss (4) weitere Manifestationen des Aberglaubens und entsprechender Praktiken, etwa Spiele, Sprichwörter, Tänze, Trachten, Waffen und Kampfarten, Brot- und Gebäckformen, die Verehrung von Naturelementen – etwa der Bäume, Brunnen, Seen, Flüsse und Höhlen –, Märchen über die Feen und die ihnen geweihten Denkmäler sowie Erzählungen über Drachen, Geistererscheinungen, Werwölfe etc. Es handelt sich

 o. V., Série de questions, S. 74, Anm. 1; Belmont, Aux sources, S. 25.  Éloi Johanneau: Prospectus. In: Acade´mie celtique, Mémoires, Bd. 2, S. 1– 5, hier S. 3.  o. V., Série de questions.

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lediglich um einige der zahlreichen im Fragebogen aufgezählten Praktiken. Sie sind aber an dieser Stelle der Erwähnung wert, weil sie in anderen Zusammenhängen immer wieder auftauchen, die im Folgenden auszuloten sind. Mit der Ausführlichkeit seiner Fragen und aufgrund der vielen angegebenen Beispiele weist dieser Fragebogen fast tautologischen Charakter auf: Die Fragesteller waren mit seiner Hilfe imstande, keltische Spuren zu erkennen, weil diese bereits angegeben wurden. Dulaure und Johanneau wussten nämlich a priori, wonach sie und ihre Mitarbeiter zu suchen hatten und an welchen Orten sie diese Spuren erfolgreich finden würden. Der Fragebogen entsprach daher streng genommen einem statistischen Hilfsmittel, von dem in jenen Jahren intensiver Gebrauch gemacht wurde, um eine umfassende Bestandsaufnahme Frankreichs durchzuführen.⁴¹ Es wurde weniger die Entdeckung neuer Relikte der keltischen Kultur erwartet, sondern vielmehr ihre Kartografierung und gegebenenfalls die Beschreibung ihrer regionalen Varianten angestrebt. Die Académie celtique bezweckte „de recueillir, d’écrire, comparer et expliquer toutes les antiquités, tous les monumens, tous les usages, toutes les traditions; en un mot, de faire la statistique antique des Gaules, et d’expliquer les temps anciens par les temps modernes.“⁴² Die Historikerin Mona Ozouf wunderte sich in ihrem wichtigen Aufsatz über die Académie celtique darüber, dass in dem Fragebogen weder das Attribut „gaulois“ noch irgendein Ausdruck des Keltenwahns zu finden sei.⁴³ Jedoch ist das Gegenteil der Fall: In allen Fragen stecken Indizien und Hinweise auf einen „discours celtisant“. Beispielsweise wurde die auf die Mistel bezogene Redewendung „le guy l’an neuf“, die Kinder zu Neujahr vor allem in der Bretagne sangen, im gesamten

 Der Fragebogen der Académie celtique wird von der Forschung oft in die Tradition der Departementstatistiken zu napoleonischer Zeit eingebettet, wobei vorausgesetzt wird, dass diese Einordnung ausreicht, um die Natur des Unterfangens von Dulaure und Johanneau historisch zu verorten. Gewiss entstanden beispielsweise die ersten Werke von Cambry im Kontext der administrativen Statistiken, die die Innenministerien von Lucien Bonaparte respektive Jean-Antoine Chaptal in den Departements hatten durchführen lassen. Aber bereits Cambrys 1803 erschienene Erkundung der Oise stand gleichermaßen in der Tradition der antiquarischen Forschungsreisen und Fragebögen, auf die im nächsten Abschnitt näher einzugehen ist: Jacques Cambry: Description du département de l’Oise. 3 Bde. Paris 1803. Zu den Statistiken zu napoleonischer Zeit s. Marie-Noëlle Bourguet: Déchiffrer la France. La statistique départementale à l’époque napoléonienne. Paris 1989; Isabelle Guégan: Inventaire des enquêtes administratives et statistiques 1789 – 1795. Paris 1991. Eines der Anliegen dieses Beitrags ist es, zu zeigen, dass sowohl das Muster für den Bogen als auch die Fragen der Académie celtique den Rahmen dieser Statistiken sprengen und auf andere ältere Traditionen zurückzuführen sind.  Johanneau: Discours d’ouverture, S. 64.  Ozouf, L’invention, S. 221.

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18. Jahrhundert von Gelehrten als Beweis dafür gewertet, dass in dieser Gegend früher die Druiden ihren Kult ausgeübt hätten. Dies wiederum deswegen, weil laut Plinius dem Älteren die Druiden die Eichenmistel als heilige Pflanze und Allheilmittel betrachtet hätten.⁴⁴ Weitere Beispiele bieten die Anhäufungen von „pierres brutes“, nämlich die Megalithbauten, die die Antiquare Frankreichs seit knapp hundert Jahren u. a. als keltische Gräber oder Opferaltäre deuteten,⁴⁵ die Volkstradition dagegen eher als Orte der Feen oder des Teufels. Die Verehrung der Bäume, der Brunnen, Seen und Höhlen wurde bereits im 18. Jahrhundert als Beweis der Überlegenheit der gallischen Religion angesehen, die, so die Gelehrten, im Unterschied zur griechisch-römischen Glaubenswelt keinen Götzen anbetenden Kult und keine anthropomorphen Götterdarstellungen kannte.⁴⁶ Die Keltomanie ging so weit, dass sämtliche volkstümlichen Ausprägungen zu Relikten keltischer, gallischer oder – was im Grunde für dasselbe gehalten wurde – fränkischer Vergangenheit erklärt wurden. Auf diese sich auf die volkstümlichen Praktiken beziehende Relikttheorie soll im nächsten Abschnitt genauer eingegangen werden. Hier gilt es zunächst festzuhalten, dass der Fragebogen der Académie celtique kaum Originalität aufwies, was seine Fragen anbelangt. Die Neuigkeit bestand vielmehr in der An- und Zuordnung der Fragen sowie in der vollständigen Auslassung von „abwertenden“ Eigenschaftswörtern, etwa „absurd“, „bizarre“, „paysan“, „païen“, um diese Relikte zu qualifizieren. Diese Adjektive tauchen dann jedoch in den Antworten auf den Fragebogen in Bezug auf Bräuche und Sitten auf, denn letztendlich wurde alles, was als sonderbar, ungewöhnlich, volkstümlich, unzeitgemäß oder normabweichend erschien, als „alt“ und „einheimisch“ gedeutet. Aber die Mitglieder der Académie celtique wussten nicht nur, wonach sie suchten. Sie wussten überdies, wo sie vor allem fündig werden konnten, nämlich in den abgelegenen Provinzen, in den landschaftlichen, nicht-urbanen Räumen abseits der Städte. Hier war die Kultur ihrer Auffassung nach langsamer vorangeschritten und die Traditionen und alten Sitten hatten sich unverändert am längsten erhalten. „Apprenons donc […] à consulter le peuple“, erklärte Johan-

 S. z. B. Augustin Calmet: Dissertation sur les divinités payennes adorées autrefois dans la Lorraine et dans d’autres pays voisins. In: Publication des œuvres indédites de Dom A. Calmet, première série. Hrsg. von François Dinago. Saint-Dié 1876, S. 48 f.; Christophe-Paul de Robien: Description historique, topographique et naturelle de l’ancienne Armorique (1756). Hrsg. von Jean-Yves Veillard. Mayenne 1974, S. 50; Pierre Chiniac de La Bastide: Additions & Corrections. In: Ders.: Discours sur la nature et les dogmes de la religion gauloise. Paris 1769, o. S.; DominiqueAntoine Tellès d’Acosta: Instruction sur les bois de marine. Paris 1782, S. 43.  S. dazu Regazzoni, Als die „groben Steine“ Keltisch sprachen.  S. oben Anm. 31; Histoire universelle depuis le commencement du monde jusqu’a present, traduite de l’Anglois d’une societe de gens de lettres. Bd. 13. Amsterdam/Leipzig 1752, S. 248.

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neau, „dont toute la science n’est que traditionnelle, dont les expressions même ne sont que des formules consacrées, puisqu’il est prouvé et démontré par le fait et la raison qu’il est et doit être le dépositaire fidèle des traditions antiques, et de toutes connoissances des temps passés“.⁴⁷ Der christlichen Religion sei es nicht gelungen, das Druidentum gänzlich auszulöschen, denn obschon die Menschen und die Denkmäler vergingen, bestehe das Menschengeschlecht weiter fort und überliefere von Generation zu Generation die Erinnerungen sowie die in der Vergangenheit erlangten Erkenntnisse. Aus Sicht der Mitglieder der Académie celtique hätten solche immateriellen Spuren im Volksgedächtnis und in der Volkstradition weiter Bestand: Sie seien noch „parmi nous, dans le peuple des campagnes“.⁴⁸ Es handelte sich dabei um eine besondere Menschengruppe, von der man annahm, dass sie durch die Ausführung alltäglicher oder feierlicher Handlungen unbewusst etwas tradierte, das als „alt“ wahrgenommen wurde: paysans, Landleute und Bauern erhielten, so die Gelehrten, beim alltäglichen Sprechen, sich Ankleiden, Feiern und Handeln die Vergangenheit am Leben. Sie seien die lebendigen, nicht-intentionalen Denkmäler, in denen die Identität des französischen Volks zu einem früheren Kulturstadium zum Ausdruck gebracht werde. Diese Idee hatte bereits Volney, der sogenannte moderne Herodot, in den oben erwähnten Leçons d’histoire kristallklar formuliert: [les voyages] serviraient à recueillir et à constater une foule de faits épars, qui sont des monumens vivans de l’antiquité [Hervorhebung der Verfasserin]: et ces monumens sont beaucoup plus nombreux qu’on ne le pense ; car, outre les débris, les ruines, les inscriptions, les médailles, et souvent même les manuscrits que l’on découvre, l’on trouve encore les usages, les mœurs, les rites, les religions, et surtout les langues, dont la construction elle seule est une histoire complète de chaque peuple. ⁴⁹

Alle diese gestischen, performativen, sprachlichen Relikte erklärten Volney und die Keltomanen zu „lebendigen Denkmälern des Altertums“. Ihr materieller, ungewollter Träger war die Landbevölkerung, die in der Sicht der Forscher durch ihr alltägliches Handeln unbewusst Historisches übermittelte. Jedoch war die Annahme, ländliche Bräuche und Sitten seien Relikte alter Zeiten, kein Novum der Académie celtique, wie es im nächsten Abschnitt zu zeigen gilt.

 Johanneau, Discours d’ouverture, S. 55 ff.  Johanneau, Discours d’ouverture, S. 49.  Volney, Leçons d’histoire, S. 182 f. (die beiden letzten Hervorhebungen im Original).

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3 Die Volkskultur als Relikt heidnischer Vergangenheit: ein Theologikum Autorinnen und Autoren, die sich bisher mit der Académie celtique beschäftigt haben, haben diese Institution – wie oben erwähnt – als den Ursprung der Ethnografie bzw. Volkskunde in Frankreich gedeutet. Es ist daher kein Wunder, dass die Vertreter dieser These die Praxis des Beobachtens auf dem französischen Land auf die Beobachtung der autochthonen Völker in der Neuen Welt durch die Europäer zurückgeführt haben. Analog zu den Reisenden in die ferne Welt, die dort „wilden“ Menschen begegneten, begaben sich, so die gängige Forschungsmeinung, die französischen Gelehrten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts auf eine Zeitreise aufs Land, wo sie einer anderen Art von „Wilden“ begegneten, nämlich ihren Ahnen. Die Schaffung eines zeitlichen Abstands zwischen gelehrten Beobachtern und betrachteten Landsleuten und die Zuordnung Letzterer zu einem älteren Kulturstadium Frankreichs ist schließlich als ethnografische Geste gedeutet worden.⁵⁰ Die Fokussierung auf die Wechselwirkung dieser Praktiken des Beobachtens und Vergleichens läuft jedoch Gefahr, eine andere, eigentlich wichtigere und offenkundigere Matrix in der Betrachtung des Bauers als Spurenträger zu übersehen. Gemeint ist die Praxis der priesterlichen Beobachtungen, die gleich mit der Christianisierung Galliens ansetzte. Bereits im 4. Jahrhundert im Zuge des christlichen Kampfs gegen den Aberglauben verfestigte sich die Annahme, dass die superstitiones Relikte heidnischer Bräuche und götzendienerischer Kulte seien.⁵¹ Noch wichtiger in diesem Zusammenhang ist die verhängnisvolle Assoziation von Landleuten und Heiden infolge eines etymologischen Missverständnisses, welches sich im Mittelalter verfestigte. Dieses beruhte auf der Gleichsetzung des Nomens paganus, das den Heiden bezeichnete, mit dem realen Dorfbewohner bzw. Bauern und hatte zur Folge, dass die bäuerliche Kultur als „Residualbereich religiöser Anschauungen und Gewohnheiten“ der Heiden angesehen werden

 Unter anderen Alain Schnapp: Aux sources de l’antiquarianisme, l’Europe ancienne et l’Amerique du Nord. In: Les nouvelles de l’archéologie 127 (2012), S. 45 – 49; Ders.: Ancient Europe and Native Americans. A Comparative Reflection on the Roots of Antiquarianism. In: Collecting Across Cultures. Hrsg. von Daniela Bleichmar u. Peter C. Mancall. Philadelphia 2011, S. 58 – 79; Belmont, Aux sources, S. 12 f.  Zur Entstehung dieser Relikttheorie s. Dieter Harmening: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters. Berlin 1979, bes. S. 43 – 46.

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konnte.⁵² Ursprünglich jedoch bezeichnete der Terminus paganus den Heiden, weil er außerhalb der civitas dei und nicht der civitas hominis lebte, wobei sich später diese zweite Bedeutung durchsetzte. Im Laufe dieses Deutungswandels wurden die Heiden, die als unwissend hinsichtlich des wahren Gottes beurteilt wurden, endgültig mit den als roh, unwissend und primitiv angesehenen Landleuten assoziiert. Von diesen zwei Annahmen – der Aberglaube sei ein Rest heidnischer Kulte, und dieser Rest bestünde bei den Bauern und Landleuten weiterhin fort – ging die pastorale Tätigkeit des 17. und 18. Jahrhunderts immer noch aus. Ab Anfang des 17. Jahrhunderts, im Zuge der gegenreformatorischen Bemühungen, den Katholizismus vor allem der unteren Volksschichten von devianten Praktiken zu reinigen, nahm diese Beobachtungspraxis erneut zu. In diesem Kontext entstand die Zusammenstellung von alten und gegenwärtigen als abergläubisch und götzendienerisch eingeordneten Praktiken, die der Abt Jean-Baptiste Thiers (1636 – 1703) aus Chartres im Jahre 1679 verfasste, um den aus seiner Sicht wahren, legitimen Glauben vom Aberglauben zu unterscheiden. Sein Traité des superstitions, der bis 1777 vier korrigierte und ergänzte Neuausgaben erlebte, zeugt noch vom pastoralen Anliegen, den Volksglauben als besonderen Brauch von der kanonischen, universell geltenden und daher wahren Tradition zu unterscheiden.⁵³ Dieses apostolische moralistische Ziel teilte beispielsweise die wenige Jahre später veröffentlichte Zusammenstellung von François Marchetti, Priester in Marseille und Mitbruder der gegenreformatorischen Compagnie du Saint-Sacrement. In seinem Werk Explication des usages et coutumes des Marseillais (1683) versuchte er darüber hinaus, bestimmte Formen des Aberglaubens auf eine Art einheimischer ursprünglicher Religion zurückzuführen, die im Grunde mit der christlichen Auffassung die Reinheit der Absichten geteilt habe. Dennoch ging er nicht so weit, das gegenreformatorische Urteil über diese Praktiken auszublenden.⁵⁴ Eine weitere fundamentale Zusammenstellung von Volkspraktiken lieferte indirekt auch das Glossarium mediæ et infimæ latinitatis (1678) von Charles du Fresne, sieur du Cange (1610 – 1688).⁵⁵ Diese Sammlung von Er-

 Harmening, Superstitio, S. 285 – 287.  Jacques Revel: Les intellectuels et la culture „populaire“ en France. In: „Alla Signorina“. Mélanges offerts à Noëlle de la Blanchardière. Hrsg. von Claude Nicolet. Rom 1995, S. 341– 358.  Hierzu die Analyse von Michel Vovelle, der Marchettis Werk an der Schwelle zwischen einer inquisitorischen und einer ethnografischen Betrachtungsweise der Volkskultur verortet: Ders.: De la cave au grenier. Un intinéraire en Provence au XVIIIe siècle. De l’histoire sociale à l’histoire des mentalités. Québec 1980, S. 437– 457.  Zur Entstehung des Glossariums. Hercule Géraud: Historique du Glossaire de la basse latinité de du Cange. In: Bibliothèque de l’École des chartes 1 (1840), S. 498 – 510. Die verschiedenen

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läuterungen mittellateinischer Wörter beinhaltete teilweise lange Ausführungen zu volkstümlichen Redewendungen und Bräuchen. Insbesondere die bedeutend erweiterte zweite Ausgabe des Glossarium, die die Benediktiner der Kongregation des heiligen Maurus zwischen 1733 und 1736 veröffentlichten, gab eine solche Vielfalt von abergläubischen Formeln, Redewendungen und Bräuchen wieder – zum Teil in französischer Sprache –, dass sie zum expliziten Referenzwerk in Sache Volkspraktiken über das 18. Jahrhundert hinaus (auch für die Mitglieder der Académie celtique) werden sollte. Hinsichtlich dieser Zusammenstellungen ist es wichtig zu präzisieren, dass sie nicht infolge von Feldforschungen im ländlichen Raum entstanden waren. All die Praktiken, die dort aufgezählt und beschrieben werden, waren längst bekannt. Sie fanden wiederholte Erwähnung in den Konzils- und Synodalstatuten,⁵⁶ in Predigttexten, in der pastoralen Literatur, Bußbüchern etc., mit denen die Kirche über ein Jahrtausend lang diese Praktiken verurteilt hatte. Aber auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, so waren es die geistlichen und nicht die weltlichen Gelehrten, die die ersten Schritte zur Historisierung solcher Praktiken machten. Sie deuteten als Erste diese immateriellen Bräuche und Sitten als Überreste vergangener Zeiten und verwendeten sie unter Berücksichtigung der sich herausbildenden Geschichtskritik als Zeugnisse der Geschichte. Das bekannteste Beispiel dafür stellt das Werk Histoire critique des pratiques superstitieuses (1702) des Oratorianers Pierre Lebrun (1661– 1729) dar, in dem dieser abergläubische Bräuche unter die Lupe der historischen Kritik nahm und die Gründe für ihre Entstehung rational zu erklären suchte. Überdies fanden die Volkspraktiken Eingang in die französischen Stadt- und Provinzgeschichten, die vor allem die Benediktiner nach den Kriterien der histoire critique ⁵⁷ verfassten. Das Interesse an diesen religiösen Volkspraktiken als his-

Auflagen, von der École nationale des chartes digitalisiert, sind nun online abrufbar. http://ducan ge.enc.sorbonne.fr/doc/sources (12.07. 2018).  S. die Liste der wichtigsten Verurteilungen durch die Kirche vom 14. bis zum 18. Jahrhundert in: François Lebrun: Croyances et cultures dans la France d’Ancien Régime. Paris 2001, S. 146 – 148. Einen guten Überblick über die Provinzkonzilien und Diözesansynoden in Frankreich bieten Marc Aoun u. Jeanne-Marie Tuffery-Andrieu (Hrsg.): Conciles provinciaux et Synodes diocésains du Concile de Trente à la Révolution Française. Défits ecclésiaux et enjeux politiques? Straßburg 2010.  Dazu Jean Mabillon: Mémoires pour justifier le procédé que j’ay tenu dans l’édition des vies de nos saints. In: Dom Mabillon et sa méthode historique, mémoire justificatif sur son édition des Acta sanctorum O.S.B. Hrsg. von Paul Denis. Paris 1910, S. 8 – 64; Ders.: Brèves réflexions sur quelques règles de l’histoire, mit Vorwort u. Anm. von Blandine Barret-Kriegel. Paris 1990; Blandine Barret-Kriegel: Les historiens et la monarchie. Bd. 1: Jean Mabillon. Paris 1988. Zum Interesse der Benediktiner an den Volkspraktiken, wovon ihr Schriftverkehr zeugt, s. Pierre

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torischem Material bezeugen zunächst die Fragebögen, die die Benediktiner in Form von öffentlichen Bekanntmachungen an die Gelehrten und Laien in den Provinzen richteten, um Auskünfte und Quellen für ihre Historiografien zu sammeln. Den Anfang machte der Avis au public, den die Benediktiner Jean-Maur Audren de Kerdrel (1651– 1725) und Paul-Antoine Le Gallois (1640 – 1695) gegen Ende des 17. Jahrhunderts an alle „Personnes éclairées et savantes“ der Bretagne⁵⁸ richteten, um Material über die Vergangenheit dieser Provinz zu sammeln. Darunter verstanden die zwei Mönche auch Beschreibungen von Bräuchen und Sitten der Bretonen, die über die Geschichte ihrer Religion, ihre Veränderung im Laufe der Zeit sowie ihren Aberglauben vor der Christianisierung Auskunft geben konnten.⁵⁹ Unter den Antworten auf diesen Aufruf sei hier beispielhaft der Brief des Doyens von Guemené erwähnt, der von der Verehrung der Venus auf einem Berg der Pfarrei Bieuzi, ihrer Verfolgung durch die Missionare und von den materiellen Überresten dieses Kults berichtet, die sich noch auf dem Berg befanden.⁶⁰ Die Aufwertung der Volkspraktiken wird noch deutlicher in dem Mémoire relatif au projet d’une histoire de la province de Normandie, den der Benediktiner Dom Jacques-Louis Le Noir (1720 – 1792) im Jahre 1760 veröffentlichte. Unter den Aspekten, die er in seiner Geschichte zu behandeln beabsichtigte, befinden sich auch die Ausprägungen alter Religionsvorstellungen. Im Konzept zu seinem Werk fragte er die Leser Folgendes: „N’y a-t-il rien d’extraordinaire, de singulier, de bizarre, dans les cérémonies & coutumes qui ont eû lieu anciennement dans ces Eglises? N’en reste-t-il plus aucuns vestiges?“⁶¹ Diese Fragen gingen mit denjenigen zur Geschichte der Kirchen und Klöster und den dort aufbewahrten interessanten Denkmälern sowie zu den klassischen Altertümern einher. Ein weiteres Beispiel für diese Praxis des Befragens bietet der Aufruf an die Leser des Abts Jean Lebeuf (1687– 1760),⁶² der sich nach 1735, als er Auxerre in Richtung Paris verließ,

Gasnault: La correspondance des Mauristes aux XVIIe et XVIIIe siècles. In: Sous la règle de saint Benoît. Structures monastiques et société en France du Moyen âge à l’époque moderne. Genf/ Paris 1982, S. 293 – 304.  o. V.: Avis au public pour une nouvelle Histoire de Bretagne (Sans date, avant le 5 décembre 1689), in: Correspondance historique des Bénédictins bretons et autres documents inédits. Hrsg. von Arthur Le Moyne de La Borderie. Paris 1880, S. 20 – 25, hier S. 24.  o. V., Avis au public, S. 20 – 25.  Brief des Doyens von Guemené an Dom Audren vom 16. Oktober 1690. In: La Borderie, Correspondance, S. 38 f.  Jacques-Louis Le Noir: Mémoire relatif au projet d’une histoire de la province de Normandie. Rouen 1760, S. 6.  Roger Lecotté: L’Abbé Jean Lebeuf, folkloriste. In: L’abbé Lebeuf. Le jansénisme. XXXIe congrès de l’Association bourguignonne des sociétés savantes, Auxerre, 20 – 22 mai 1960. Auxerre 1962, S. 47– 65; Xavier Bisaro: L’abbé Lebeuf, prêtre de l’histoire. Turnout 2010.

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an eine Geschichte dieser Diözese machte. Neben den Fragen zur Geografie und zu historischen Ereignissen, berühmten Figuren und Denkmälern in den jeweiligen Landpfarreien stellte er Fragen nach der Etymologie von Toponymen und nach lokalen Devotionsformen gegenüber bestimmten Heiligen oder Reliquienverehrungen.⁶³ Selbst die Praxis des Befragens vor Ort hatte Lebeuf jahrelang ausgeübt, als er die Umgebung von Auxerre im Burgund kreuz und quer erkundete; das am liebsten zu Fuß, um durch Autopsie tradierte geografische Beschreibungen genauer zu überprüfen, das eine oder andere Denkmal exakt zu vermessen und die Landleute zu den betreffenden Traditionen zu befragen.⁶⁴ Ähnlich berichtet Louis Maggiolo in seiner Biografie über den berühmten Theologen und Historiker aus Lothringen, den Benediktiner Dom Augustin Calmet (1672– 1757): Er habe immer wieder an der Tür ländlicher Hütten geklopft, „pour s’instruire des vieilles coutumes de la contrée! Que de fois il apprit de la bouche de l’obscur artisan le sens de ces anciennes expressions que le peuple a conservées, et que le moyen âge employait dans son énergique langage“.⁶⁵ Dom Calmet und der Abt Lebeuf verdienen hier besondere Aufmerksamkeit, weil sie sich auf jenem schmalen Grat bewegten, der zwischen theologischer Verurteilung und historischer Zurückhaltung des Urteils gegenüber den (religiösen) Volkspraktiken verläuft. In den zahlreichen Abhandlungen zu den Volkspraktiken im Burgund, die Lebeuf im Mercure de France überwiegend in den 1720er- und 1730er-Jahren publizierte, bezeichnete er sie einerseits als „pratiques grossieres & gothiques“⁶⁶ und verwies immer wieder auf die Provinzkonzilien, in denen sie verurteilt wurden.⁶⁷ Andererseits historisierte er jedoch diese Praktiken, indem er über die Etymologie ihrer Bezeichnung, Lokalisierung, Datierung und Veränderung im Laufe der Jahrhunderte Auskunft gab. Am Beispiel des burgundischen Volksglaubens, dass die Welt zu Ende gehe, wenn das Fronleichnamsfest auf das Hochfest der Geburt Johannes des Täufers am 24. Juni fällt, sprach Lebeuf

 Jean Lebeuf: Projet. In: Mercure de France. Décembre 1 (1739), S. 3106 – 3110.  Ambroise Challe u. Maximilien Quantin: Notice biographique sur Jean Lebeuf. In: Jean Lebeuf: Mémoires concernant l’histoire civile et ecclésiastique d’Auxerre et de son ancien diocèse. 4 Bde. Marseille 1978, hier Bd. 1, S. XIII–XLI, hier S. XXIIf.  Louis Maggiolo: Éloge historique de D. A. Calmet, Abbé de Senones. Nancy 1839, S. 54.  Jean Lebeuf: Remarques sur les anciennes Réjouissances Ecclesiastiques durant les Fêtes de Noël. In: Mercure de France. Février (1726), S. 218 – 232, hier S. 230 f.  Lebeuf, Remarques; Jean Lebeuf: Lettre écrite à M. […] sur l’explication d’un terme de la basse Latinité. In: Mercure de France. Juillet (1725), S. 1595 – 1604, hier S. 1601. Zu dem Halleluja als Personifizierung: Jean Lebeuf: Lettre écrite de Bourgogne à M. de L. R. sur quelques particularitez singulieres de deux Manuscrits. In: Mercure de France. Decèmbre (1726), S. 2656 – 2673.

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beispielsweise nicht mehr von „superstitions“, sondern von „traditions populaires“ und „idées populaires“.⁶⁸ Diese Trennung zwischen theologischer Verwerfung und historischer Aufwertung von Volkspraktiken wurde noch deutlicher in den späteren Abhandlungen von Dom Calmet aus den 1750er-Jahren. Dieser Bibelexeget und Theologe, der 1746 noch ein sehr erfolgreiches Werk über den Aberglauben im Zusammenhang mit Geistererscheinungen veröffentlichte,⁶⁹ verfasste gleichzeitig zahlreiche Abhandlungen über die lothringischen pratiques und coutumes, die er nicht mehr mit den tadelnden Attributen „abergläubig“, „verwerflich“ o. Ä. qualifizierte. Das galt auch für die Redewendung „au guy l’an neuf“, die Landleute aus der Bretagne, Picardie, Burgund und in einer besonderen Variante auch die aus Lothringen noch immer benutzten und die ein Relikt der alten Druidenreligion sei oder für den Brauch, zu Beginn der Fastenzeit ein hörnchenförmiges Gebäck zuzubereiten, das er auf den alten heidnischen Mondkult zurückführte.⁷⁰ Ebenso behandelte er den Ursprung des Kartenspiels, der Zeremonie des Bohnenkönigs (fête des rois) oder der Neujahrgeschenke (étrennes).⁷¹ Ein weiterer wesentlicher Aspekt dieses Historisierungsprozesses, von dem die Arbeiten Calmets und Lebeufs zeugen, ist die Gleichsetzung dieser immateriellen performativen Zeugnisse mit anderen Arten von Überresten der Vergangenheit, etwa mit den archäologischen Funden, den Denkmälern und den sprachlichen Spezimina (Orts-, Götter- oder sogar Familiennamen). All diesen Überresten, die heutzutage als die disziplinspezifischen Referenzen von Volkskunde, Archäologie respektive Linguistik gelten, wurde ein historischer Erkenntniswert zugeschrieben. Sie galten im weiten Sinne als Quellen, die im gegenseitigen Zusammenspiel zur Beleuchtung vergangener Tatbestände beizutragen vermochten. Wie sich diese Zeugnisse gegenseitig erhellen konnten, lässt sich am deutlichsten in einer Abhandlung von Lebeuf zu einer Statuette, die in der Nähe von Auxerre gefunden wurde, veranschaulichen. Ihr Attribut, ein Stock, bereitete den Antiquaren einige Deutungsschwierigkeiten: Diese löste der Abt Lebeuf,⁷² indem

 Jean Lebeuf: Lettre du S. de l’Eglise d’Auxerre à M… Chanoine de l’Eglise de C. touchant les traditions populaires. In: Mercure de France. Mars (1734), S. 485 – 493, hier S. 483 u. 489.  Augustin Calmet: Dissertations sur les apparitions des anges, des démons et des esprits, et sur les revenants et vampires de Hongrie, de Bohême, de Moravie et de Silésie. Paris 1746.  Calmet, Dissertation sur les divinités, S. 48 – 50.  Calmet, Dissertation sur les divinités, S. 48 f.  Jean Lebeuf: Recueil de divers écrits pour servir d’éclaircissemens à l’histoire de France. 2 Bde. Paris 1738, hier Bd. 1, S. 285.

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er auf den „usage immémorial“ (uralten Gebrauch) der Einwohner von Auxerre hinwies, nur mit einem Stock bewaffnet auf die gemeinsame Jagd zu gehen. Darüber hatte er bereits in einer Abhandlung einige Jahre davor berichtet, als er als „simple Historien“ über den Ursprung dieses Brauchs und sein Verhältnis zu der Verehrung des hl. Hubertus berichtet hatte.⁷³ Überdies setzte Lebeuf diesen Fund mit dem alten Toponym Mont-Ardoin, mit dem die Landleute die umgebenden Berge nannten, in Verbindung. Aus der Zusammenstellung eines archäologischen Fundes mit einem sprachlichen und einem volkskundlichen Zeugnis leitete Lebeuf die Bedeutung der Statuette her: Es handele sich um eine gallische Schutzgöttin der Jagd, eine lokale Variante der Diana.⁷⁴ Diese epistemische Praxis, unterschiedliche Überreste in hermeneutischem Zusammenspiel gegenseitig zu erhellen, um historische Fragen zu beantworten, war freilich nicht allein geistlichen Historikern und Antiquaren vorbehalten. Der spezifische Beitrag der Geistlichen bestand vielmehr in der historisch-kritischen Betrachtung religiöser Volkspraktiken und ihrer systematischen Einbeziehung als Spuren oder aber Zeugnisse in Geschichtswerke. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – genauer in den 1770er-Jahren –, lässt sich jedoch beobachten, dass die Aufmerksamkeit für Volkspraktiken auch bei den weltlichen Gelehrten bedeutend zunahm.⁷⁵ Eine eingehende Erörterung dieser These ist an dieser Stelle nicht möglich, doch sei zumindest auf einen jener Gelehrten hingewiesen, die eine entscheidende Rolle bei der Verfassung des Fragebogens der Académie celtique spielten: Jacques-Antoine Dulaure. Das Selbstbild, das dieser Ingenieur und Gelehrte in seinen Publikationen aus den 1780er-Jahren von sich zeichnete, war dasjenige eines überzeugten Aufklärers und Fortschrittsverfechters, der sich energisch für den Sieg der Vernunft über die alten préjugés (Vorurteile, aber auch Aberglaube) einsetzt. Mit dieser Absicht verfasste er auch seine Werke zur Geschichte, Geografie, den Denkmälern und Bräuchen von Paris sowie Frankreichs: um all diejenigen über die Geschichte des Landes zu unterrichten, für die die „wissenschaftlichen“ Werke zu mühselig und sperrig seien.⁷⁶ Das erklärte Ziel war die Bekämpfung des Aberglaubens und Fa-

 Jean Lebeuf: Lettre à M. de la R. sur les Chasses d’Auxerre, & en particulier sur celle de Saint Hubert. In: Mercure de France. Janvier (1725), S. 67– 92, hier S. 77.  Lebeuf, Recueil.  S. dazu Vovelle, De la cave, S. 407– 435. Vovelle insistiert weiterhin auf den ethnografischen Charakter der Aufmerksamkeit, die diese Gelehrten und Amateure der Landbevölkerung widmeten – eine These, die mit diesem Beitrag infrage gestellt wird.  Jacques Antoine Dulaure: Singularités historiques ou Tableau critique des mœurs, des usages et des évènemens de différens siècles, contenant ce que l’histoire de la capitale et des autres lieux de l’Isle de France offre de plus piquant et de plus singulier. Paris 1788, S. IV.

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natismus, der für absurd gehaltenen Meinungen der vergangenen „barbarischen“ Jahrhunderte. All dies habe die Franzosen mehr als die Vernunft in ihrem Handeln geleitet. Die „vieux préjugés“ würden zum Teil in der Gegenwart noch weiter fortbestehen und somit einiges über die Barbarei des alten Frankreichs verraten.⁷⁷ In seinen Werken gab Dulaure zahlreiche abergläubische Praktiken sowie ihre lokalen Varianten wieder, die er sowohl in die heidnische als auch in die christliche Tradition einordnete. Darunter befinden sich die üblichen „verdächtigen“ Praktiken, die seit Jahrhunderten Ziel pastoraler Verurteilung waren: etwa die fête des Fous,⁷⁸ der fête-Rois, die fête-Dieu ⁷⁹ und das Weinerntefest von Bacchus,⁸⁰ der Drachen-Aberglaube⁸¹ etc. Diese Phänomene kennt Dulaure nicht nur aus eigener Beobachtung, sondern auch – und möglicherweise überwiegend – aus der pastoralen Literatur und aus dem Glossarium von Du Cange, den er explizit erwähnt. Obwohl Dulaures Beschreibungen überwiegend neutral gehalten sind, taucht die Grundverurteilung der geschilderten Bräuche, die er im Vorwort anklingen lässt, an mehreren Stellen auf: Er charakterisiert sie als infâmes, absurdes, ridicules oder eben barbares. Dulaures Einstellung gegenüber den religiösen Volkspraktiken weist schließlich jene Zweideutigkeit auf, die die kirchliche Literatur kennzeichnet: Die Geschichte solcher Bräuche gebe zwar über vergangene (Volks‐)Mentalitäten Auskunft, ihre Ausübung in einer aufgeklärten Zeit sei jedoch als Rest der Barbarei zu deuten und daher nicht zu dulden.Welche verhängnisvollen Folgen diese aufklärerische Einstellung nach sich zog, sollte in den 1790er-Jahren deutlich werden.

4 Die Französische Revolution und der Bildersturm lebendiger Denkmäler: ein Ideologikum Die Ausprägungen der Volkskultur wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts erneut zur Zielscheibe eines institutionellen Akteurs. Protagonist des Bestrebens, sie auszumerzen, war diesmal nicht die katholische Kirche, sondern die Französische Republik. Im Sinne ihrer aufklärerischen Mission, die französische Be    

Dulaure, Description, Bd. 1, S. XXXVII. Dulaure, Singularités historiques, S. 146 – 149; Dulaure, Description, Bd. 2, S. 85. Dulaure, Description, Bd. 1, S. 56 u. 89. Dulaure, Description, Bd. 6, S. 21. Dulaure, Description, Bd. 1, S. 16 f.

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völkerung zu erneuern (régénérer),⁸² verstand sie es als ihre Aufgabe, die Franzosen und Französinnen von der superstition zu befreien, wobei unter diesem Begriff nun nicht nur der wohlbekannte Aberglaube, sondern auch der katholische Obskurantismus verstanden wurde. Aber wenn für die Aufklärer in der superstition die Ursache der Unterwürfigkeit und folglich der Unterwerfung des Volkes lag, gingen die Republikaner noch einen Schritt weiter und bezichtigten die Manifestationen der Volkskultur, für die Aufrechterhaltung des politischen Partikularismus zu sorgen. Damit wiederholte sich die Geschichte der Bekämpfung der Volkskultur, nun aber in säkularisierter Form. Die politischen Maßnahmen gegen die volkstümlichen Bräuche, die als Formen des Fanatismus, der Vorurteile und des Aberglaubens angesehen wurden, lassen sich am besten am Beispiel der Auseinandersetzung mit den Patois (Dialekte, aber auch Mundarten und Sprechweisen der französischen Landbevölkerung) in den Provinzen analysieren, die de Certeau, Julia und Revel in den 1970erJahren ausführlich beschrieben haben.⁸³ Dabei ging es um viel mehr als nur um die Dialekte. Auch Bräuche, Sitten und abergläubische Praktiken wurden als gegen-aufklärerisch angeprangert. Das politische Projekt der Erneuerung der Bevölkerung setzte es sich zum Ziel, nicht nur das Französische als gemeinsame Sprache aller citoyens durchzusetzen, sondern auch, alle Formen der Feudalität und damit jegliche Spur des Ancien Régime auszumerzen. Das Rundschreiben, das ein Mitglied im Nationalkonvent, der Abt Henri Grégoire 1790 verfasste, um mithilfe von 43 Fragen eine Bestandsaufname der Dialekte und Sitten der Landbevölkerung zu erfassen, stellte die erste Maßnahme in dieser Richtung dar. Obwohl sein Ziel in den Fragen 29 und 30 klar formuliert ist, nämlich das Ausmerzen der Patois, verrät das Schreiben eine antiquarische Haltung gegenüber diesen kulturellen Eigenheiten: Im ersten Teil fragt Grégoire nach dem Ursprung, Alter und den Ideen, die diese Mundarten zum Ausdruck bringen, aber auch nach den Publikationen, die in den Patois verfasst worden sind. Darin sehen de Certeau, Julia und Revel den widersprüchlichen Aufbewahrungswillen Grégoires, der das Patois zum toten Objekt einer bewahrenden Neugier macht.⁸⁴ In Hinsicht auf die wenige Jahre später ausbrechende Keltomanie erweist sich eine Antwort auf Gregoires Fragebogen aus der Bretagne, die vermutlich der  Mona Ozouf: Régénération. In: Dictionnaire critique de la Révolution française. Hrsg. von François Furet u. Mona Ouzouf. Paris 1988, S. 373 – 390.  Michel de Certeau, Dominique Julia u. Jacques Revel: Une politique de la langue. La Révolution française et les patois. L’enquête de Grégoire. Paris 2002.  Certeau, Une politique, S. 18.

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bretonische Abgeordnete Marie Joseph Lequinio (1755 – 1814) verfasste, von besonderem Interesse. Auf die Studien des Anwalts des bretonischen Parlaments Jacques Le Brigant (1720 – 1804) Bezug nehmend⁸⁵ erklärte Lequinio, dass das Bretonische sehr alt und auf das Keltische zurückzuführen sei, d. h. auf die Mutter aller Sprachen.⁸⁶ Auf Grégoires Frage, worin das politische und religiöse Interesse liege, das Patois auszulöschen, lieferte dennoch Lequinio eine entschiedene Antwort: „L’importance politique et religieuse de détruire entièrement ce patois serait d’apprendre aux peuples à quitter la superstition, à connaître la religion dans la vérité, à leur donner une existence politique qu’ils ne sentent pas et dont ils n’ont point l’idée“.⁸⁷ Die Bretonen dieser drei neuen Departements seien nämlich von allen Arten von superstitions durchtränkt und glaubten noch an Geistererscheinungen und Werwölfe. Seine Quelle war höchstwahrscheinlich der Reisebericht über das Morbihan des künftigen Mitglieds der Académie celtique Joseph Lavallée, der sich 1793 ebenso abwertend über abergläubischen Bräuche in diesem Landstrich äußerte: In jedem Dorf gebe es zur Abendstunde Geistererscheinungen und Werwölfe, denn die Vorstellungskraft dieses Volkes wuchere üppig.⁸⁸ Eine entscheidende Verschärfung der politischen Maßnahmen erfolgte ab 1793, als die Verwendung der Patois und der Fremdsprachen zum Ausdruck antirepublikanischen Widerstands und der Gegenrevolution erklärt wurden – wie de Certeau, Julia und Revel zu Recht bemerkt haben. Der „fédéralisme“ und die „superstition“ – erklärte der Abgeordnete Bertrand Barère im Januar 1794 in einem Bericht an den Nationalkonvent – „parlent bas breton; l’émigration et la haine de la République parlent allemand; la contre-révolution parle l’italien et le fanatisme parle le basque“.⁸⁹ Auf diese erneuerte Kriegserklärung an die Patois folgte im Mai 1794 Grégoires Bericht Sur la nécessité et les moyens d’anéantir les patois et d’universaliser l’usage de la langue française. ⁹⁰ Hier taucht erneut das

 Jacques Le Brigant: Élémens de la langue des Celtes Gomérites ou Bretons, introduction à cette langue et par elle à celles de tous les peuples connus. Straßburg 1779; Ders.: Observations fondamentales sur les langues anciennes et modernes; ou Prospectus de l’ouvrage intitulé: La Langue primitive conservée. Paris 1787.  S. das Dokument: o.V.: Finistère, Morbihan, Côtes-du-Nord. Lettre de Lequinio (?). In: Lettres à Grégoire sur les patois de France 1790 – 1794. Hrsg. von Augustin Gazier. Genf 1969, S. 286 – 289, hier S. 286.  o. V., Finistère, Morbihan, Côtes-du-Nord, S. 288.  Joseph Lavallée: Voyage dans les départemens de la France. 14 Bde. Paris 1792– 1803, hier Bd. 5, 1793, S. 31 u. 39.  Zit. Certeau, Une politique, S. 12 f.  Henri Grégoire: Sur la nécessité et les moyens d’anéantir les patois et d’universaliser l’usage de la langue française. In: Gazier, Lettres à Grégoire, S. 290 – 314, hier S. 300.

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Argument der Nützlichkeit auf, bezogen darauf, inwiefern die Kenntnis der Dialekte und Mundarten die historische Erkenntnis und insbesondere die Geschichte des Ursprungs der Nationen befördere. Grégoire erwähnte dabei den Kanon der Gelehrten, die sich mit der „histoire étymologique des langues“ beschäftigt hatten, nämlich Samuel Bochart (1599 – 1667), Simon Pelloutier (1694– 1757), Antoine Court de Gébelin (1725 – 1784) sowie den bereits erwähnten Le Brigant, den Lequinio als „homme d’une science profonde dans l’étude des langues“⁹¹ bezeichnet hatte, obwohl er bereits damals von verschiedenen Gelehrten für seine fantasievollen Etymologien abgelehnt wurde. Darüber hinaus verwies Grégoire auf die Anordnung der Commission temporaire des arts, alle gedruckten und ungedruckten Werke, die in Patois oder besonderen Mundarten verfasst worden seien, zu sammeln und zu bewahren. Diese seien aufgrund historischer, etymologischer Untersuchungen und des Vergleichs zwischen den antiken und modernen Sprachen von Nutzen.⁹² Die Sprachpolitik dieser Jahre ging Hand in Hand mit der ikonoklastischen Denkmalpolitik, die ihren Höhepunkt in den Monaten zwischen August 1792 und Juli 1793, zwischen dem Ende der Monarchie und der Ausrufung der Republik, erreichte. In diesem Zeitraum fielen auf Anordnung der Commission temporaire des arts alle Denkmäler, die sie für einen Ausdruck des Aberglaubens oder der Tyrannei hielt, der Zerstörung anheim. Am 14. August 1792 verabschiedete der Nationalkonvent den Beschluss einer Beseitigung feudaler Symbole und Zeichen der Monarchie, etwa Wappen, Lilien und etliche Adels- und Königssymbole aus Skulpturen, Gemälden, Gebäuden und sogar Büchern, da diese die Augen der Republikaner verletzen könnten.⁹³ Diese Beseitigung war unabdingbare Voraussetzung dafür, diese Objekte nicht der Zerstörung preiszugeben. Viele Darstellungen der königlichen Familie, von Geistlichen und Adligen, bei denen der materielle Träger (der Signifikant) nicht von seiner Bedeutung (dem Signifikat) zu trennen gewesen war, erlitten dieses Schicksal. Die Argumente des Abgeordneten Armand-Guy Kersaint, die noch 1790 die französischen Denkmäler als untadelige Zeugen der Geschichte verteidigten, galten nicht mehr. Noch weniger galt das sophistische Argument eines Jean-Sifrein Maury (Abbé Maury) gegen den Abriss des Standbildes Ludwigs XIV. auf der Place des Victoires, dass nicht die

 o. V., Finistère, Morbihan, Côtes-du-Nord, S. 286.  Grégoire, Sur la nécéssité, S. 301. Er bezog sich auf die Anordnung der Kommission, die in der Sitzung vom 23. Februar 1794 verabschiedet wurde. S.: Procès-verbaux de la Commission temporaire des arts. Hrsg. von Louis Tuetey. 2 Bde. Paris 1912, hier Bd. 1, S. 81. Es sei nebenbei angemerkt, dass die Werke, die in den Patois verfasst waren, fast ausschließlich religiöser Natur waren, etwa kirchliche Lieder- und Gebetbücher, Katechismen, Predigtsammlungen etc.  Archives parlementaires de 1787 à 1860. Première série. Bd. 48. Paris 1875 – 1889, S. 115 f.

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schmeichelnde Darstellung des Monarchen es verdiente, bewahrt zu werden, sondern das Denkmal als Mahnmal eines anbiedernden Verhaltens.⁹⁴ In der Folge konnten Bauern und Landleute als Träger historischer Bedeutung der politischen Beurteilung unterzogen werden. Analog zu den Denkmälern, die unter der Bedingung weiter bestehen durften, dass sie kein Zeichen der Feudalität und ab 1792 auch keines des Königtums aufwiesen, durfte auch die Landbevölkerung der republikanischen Sprachpolitik zufolge ihr Leben unbehelligt weiterführen, vorausgesetzt, dass sie kein Patois mehr spreche und abergläubische Bräuche ablege. Als lebendiges Denkmal der Vergangenheit hätte die Landbevölkerung nach Grégoires Wunsch in ihrer Identität verstümmelt und von ihrer Sprache getrennt werden sollen. So, wie die steinernen Denkmäler „bereinigt“ wurden, hätten Bauern und Landleute sich ihrer reaktionären politischen Botschaft (ihres Signifikats) bewusst werden und dieses ablehnen sollen. Jedoch traten Grégoires geplante Maßnahmen, die im Juli 1794 in ein Dekret über die Untersagung der Patois in der gesamten Nation mündeten,⁹⁵ nie in Kraft. Eine der Folgen des Regimewechsels am 8. Thermidor und der Absetzung Robespierres war die Aufhebung des Dekrets.

5 Epilog: Höhepunkt und Ausklang einer Quellenepisteme Der bretonische Offizier La Tour d’Auvergne galt als geistiger Gründer der Académie celtique,⁹⁶ seine Studien über die gallischen Ursprünge bildeten das Referenzwerk schlechthin für den keltischen Diskurs ihrer Mitglieder. In Nouvelles recherches sur la langue, l’origine et les antiquités des Bretons (1792) griff La Tour d’Auvergne die These zweier Landsmänner auf – die des Benediktiners Paul-Yves Pezron (1639 – 1706)⁹⁷ und des Freundes Le Brigant⁹⁸ – und betrachtete die bretonische Sprache als Überrest des Keltischen – als „monument précieux de notre

 Vgl. die Sitzung der Nationalversammlung vom 19. Juni 1790: Archives parlementaires, Bd. 16, S. 375.  S. Gazier, Lettres à Grégoire, S. 314.  Michel-Ange-Bernard Mangourit: Discours. In: Acade´mie celtique, Mémoires, Bd. 1, S. 65 – 71, hier S. 68.  Paul-Yves Pezron: Antiquité de la nation et de la langue des Celtes, autrement appelez Gaulois. Paris 1703.  S. Anm. 85.

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origine“.⁹⁹ Um die keltische Abstammung der Bretonen stichhaltig zu belegen, bezog er in seine Arbeit neben der Sprache zusätzliche Überreste ein, die wir heute als archäologisch oder ethnografisch bzw. volkskundlich bezeichnen würden: moralische Züge wie die Einfachheit der Sitten und Aufrichtigkeit der Bretonen, ihre Lieder und Lobgesänge, aber auch das Tragen von langen Haaren, den Schnurrbart, den Schnitt der Kleidung und weitere anthropologische Merkmale wie die Breite des Schädels. Diese kurze Auflistung zeigt, dass La Tour d’Auvergne neben den üblichen wohlbekannten Topoi auf zwei weitere Diskursstränge zurückgriff: erstens auf die Aufwertung der Volkslieder und -sagen als historische Belege von Ursprungserzählungen, die einen wichtigen Impuls durch die (Wieder‐)Entdeckung der Götter- und Heldensagen Edda¹⁰⁰ und die Gesänge Ossians¹⁰¹ bekam; zweitens – wenn auch nur vage – auf die kraniometrischen und phrenologischen Diskurse, die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts langsam verbreiteten.¹⁰² Um all diese „preuves en faveur de mon système“¹⁰³ zu sammeln, hatte La Tour d’Auvergne nicht nur den literarischen Kanon gelesen (Tacitus, Cäsar, Strabon), sondern, wie Mangourit später anmerkte, auch „les plus simples habitans du Finistère“ befragt.¹⁰⁴ Für die Keltomanen spielte La Tour d’Auvergne in weiterer Hinsicht eine entscheidende Rolle. Zwischen 1792 und 1796 vollendete er jenen semantischen Schritt, mit dem die Überreste einer regionalen Geschichte – die Geschichte der Bretonen – zu Denkmälern einer Nation – der französischen – erhoben wurden. Das Werk von 1792 – Nouvelles recherches sur la langue, l’origine et les antiquités des Bretons – ließ er vernichten, um 1796 eine beträchtlich erweiterte und verbesserte Auflage in den Druck zu geben, die er zum Teil während seiner englischen Gefangenschaft in England vom 5. Februar 1795 bis 7. Januar 1796¹⁰⁵ verfasst

 Théophile-Malo de La Tour d’Auvergne: Nouvelles recherches sur la langue, l’origine et les antiquités des Bretons, pour servir à l’histoire de ce peuple. Bayonne 1792, S. 95.  Entscheidend dafür war die Publikation von Paul-Henri Mallet: Monuments de la mythologie et de la poésie des Celtes, et particulièrement des anciens Scandinaves, pour servir de supplément et de preuves à l’Introduction à l’histoire du Dannemarc. Kopenhagen 1756.  James Macpherson: Fragments of Ancient Poetry, Collected in the Highlands of Scotland, and Translated from the Galic or Erse Language. Edinburgh 1760. La Tour d’Auvergne erwähnte in seinem Werk Macphersons Poems of Ossian und behauptete, dass die keltische Sprache lediglich in der bretonischen und gälischen erhalten geblieben sei: La Tour d’Auvergne, Nouvelles recherches, S. 59.  La Tour d’Auvergne, Nouvelles recherches, S. 26.  La Tour d’Auvergne, Nouvelles recherches, S. 49.  Mangourit, Discours, S. 66.  Anfang 1795 schiffte sich La Tour d’Auvergne in Bordeaux ein und wurde von englischen Korsaren entfü hrt. Er verbrachte fast ein Jahr in Gefangenschaft in Cornwall, wo er die walisische

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hatte: Origines gauloises […] ou Recherches sur la langue, l’origine et les antiquités des Celto-Bretons de l’Armorique pour servir à l’Histoire ancienne et moderne de ce Peuple, et à celle de Français. ¹⁰⁶ Bemerkenswert ist hier die Änderung im Titel; die Rede ist nun nicht mehr von den Ursprüngen der Bretonen wie noch 1792, sondern der Franzosen. In jenen Jahren, in denen alle Formen des Lokalpatriotismus und Partikularismus des Föderalismus bezichtigt und als der Nation feindlich gesinnt erklärt wurden,¹⁰⁷ hätte dieser „ouvrage sur la langue bretonne qu’on veut anéantir“¹⁰⁸ La Tour d’Auvergne und seine Freunde in Gefahr bringen können. Die explizite Ausweitung der keltischen Ursprünge auf alle Franzosen und Französinnen stellte daher eine bewusste Strategie dar, sich vom Partikularismusverdacht zu befreien und das Narrativ gegen die äußeren Feinde – in primis die Engländer – im Dienste der Nation zu stellen. Die Bretagne und ihre Einwohner wurden dabei zu den privilegierten Speicherorten nicht lediglich regionaler, sondern nationaler Vergangenheit. La Tour d’Auvergnes Leistungen und seine Fülle an Topoi und Argumenten machten sich die späteren Gründer der Académie celtique ab den 1790er-Jahren zu eigen. Überdies mündete in ihre Arbeit eine weitere wichtige Tradition, nämlich die der gelehrten Erkundung Frankreichs durch Forscher wie Dulaure oder Cambry, die bis zu ihrer Konversion zur „keltischen Sache“ mit aufklärerischer Geste den Aberglauben sowie die Leichtgläubigkeit der Landbevölkerung verurteilt hatten. Exemplarisch für diese Umwertung der Traditionen und ihre neue – neutrale und historisierende – Betrachtung als Reste der Vergangenheit stehen die Abhandlungen des Koautors des Fragebogens, Dulaure, ab 1804. Sein Bericht über das Dorf La Tombe, das etwa 80 Kilometer südöstlich von Paris liegt, zeugt sowohl von der Neutralität des Urteils über die Bräuche, Feiern und Trachten, die ohne jeglichen Bezug auf den (Aber‐)Glauben beschrieben werden, als auch von der Begeisterung für die Spuren der keltischen Vergangenheit: Archäologische Funde, Bräuche, Volkslieder, Toponyme, sie alle lieferten „des renseignemens sur l’antiquité de ce lieu“. Dass kein, auch kein scheinbar geringfügiges, Detail zu

Sprache lernte. S. dazu Louis Gabriel Michaud: Biographie Universelle ancienne et moderne, nouvelle édition. Bd. 42. Paris 1843, S. 30 – 32.  Théophile-Malo Corret de La Tour d’Auvergne: Origines gauloises, celles des plus anciens peuples de l’Europe, puisées dans leur vraie source, ou Recherches sur la langue, l’origine et les antiquités des Celto-Bretons de l’Armorique, pour servir à l’histoire […] de ce peuple et à celle des Français. Paris 1796.  Der Name des Freundes und Meisters Jacques Le Brigant etwa, der inzwischen als Girondist und Föderalist verfolgt wurde, taucht in der neuen Ausgabe nicht mehr auf.  Claude Le Coz: Quelques détails sur La Tour d’Auvergne-Corret. Premier grenadier de France. o. O. 1815, S. 15.

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vernachlässigen sei, weil es zum Aufschluss über die Geschichte beitragen könne, betonte Dulaure in dem Desideratum, mit dem er seinen Bericht abschloss: Je termine en formant un vœu […] c’est que chacun de nous, dans ses voyages, ses promenades, puisse s’occuper à recueillir tous les restes de monumens et d’usages échappés aux ravages du tems; que ce qui paraît minutieux, ne fût point dédaigné. Il est des notions qui, isolées, paraissent indifférentes et de nulle importance, mais qui rapprochées avec d’autres semblables, en étendant leurs rapports, répandent une lumière inattendue, amènent l’explication désirée, et suppléent aux nombreux défauts de l’histoire.¹⁰⁹

Damit brachte Dulaure seine hohen Erwartungen an die Reste der (keltischen) Vergangenheit zum Ausdruck, die er mit den Mitgliedern der Académie celtique teilte: die Erwartung, dass diese Reste im wechselseitigen Zusammenspiel der Dürftigkeit der keltischen Geschichte abhelfen könnten. Dieses vorausgesetzte Zusammenspiel beruhte jedoch auf einer Methode, an der die Académie celtique letztlich scheitern musste: All die gesammelten Spuren wurden als gleichwertige und frei kombinierbare Quellen gedeutet, die von einer gleichförmigen, chronologisch unbestimmten Vergangenheit zeugten, die dadurch entzeitlicht wurde. Informationen über Bräuche oder Zustände im Mittelalter oder sogar in der Neuzeit wurden beispielweise als Überbleibsel des „tems immémorial“¹¹⁰ gedeutet und daher zur Erhellung gallischer Denkmäler zu Hilfe genommen, ohne dass die Suche nach Vergleichbarem über die Jahrhunderte hinweg als epistemisches Problem angesehen wurde.¹¹¹ Wie von Johanneau pointiert formuliert, ging es den Gelehrten darum: „expliquer les temps anciens par les temps modernes.“¹¹² Genau dieser Mangel an quellenfundierter Evidenz, die verwegenen Annahmen und absurden Etymologien sowie der Wahn, alles, was nicht klar zu deuten war, der keltischen Kultur zuzuschreiben, all dies habe dazu geführt, dass die Académie celtique bereits 1812 ihre Tätigkeit und Publikationen einstellen musste.¹¹³ Dies behaupteten zumindest die Mitglieder der neu gegründeten So Jacques Antoine Dulaure: Archeographie du lieu de la Tombe, et des ses environs. In: Acade´mie celtique, Mémoires. Bd. 2., S. 446 – 457, hier S. 457.  Éloi Johanneau: Rapport lu à l’Académie Celtique. In: Acade´mie celtique, Mémoires. Bd. 1., S. 144– 198, hier S. 154.  Exemplarisch dafür ist Johanneaus Abhandlung über den Pfeiler der Nautæ Parisiaci, der 1711 im Zuge von Renovierungsarbeiten in der Kirche von Notre-Dame in Paris entdeckt wurde. Um dieses Denkmal zu deuten, das er für keltisch hielt, zog er mittelalterliche Quellen heran: Johanneau, Rapport, S. 153 f.  Johanneau, Discours d’ouverture, S. 43.  o.V.: Installation de la Société Royale des antiquaires de France. Séance extraordinaire du 18 octobre 1814. o. O. o.J., S. 2.

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ciété Royale des antiquaires de France, die wie ein Phönix aus der Asche der Académie celtique aufstieg. In der ersten Sitzung am 18. Oktober 1814 ging ihr Sekretär, der Orientalist Jean Saint-Martin (1791– 1832), so weit, dass er den gesamten Ansatz der Keltomanen angriff: Ce n’est point en supposant à un peuple des sciences qu’il n’eut jamais, en cherchant des combinaisons astronomiques, dans l’arrangement de quelques rocs informes; en recueillant de ridicules contes de paysans, en faisant subir à des mots les plus bizarres altérations, qu’on peut espérer de rétablir l’histoire d’une nation dont tous les monumens historiques sont anéantis, si tant est qu’elle an ait jamais eu.¹¹⁴

Die Megalithen, deren Aufstellung Cambry auf die Himmelkonstellationen zurückgeführt hatte, die mündliche Volkstradition sowie die etymologischen Untersuchungen der keltischen Sprache, also die Kernquellen der Keltomanen, wurden damit angefochten. Die Kelten seien nichts anderes als „ramas de barbares“ gewesen, deren Religion aus dem grausamsten Aberglauben bestanden habe. Darüber hinaus hätten die Kelten keine „monumens historiques“ hinterlassen, worunter Saint-Martin Schriftquellen verstand; dies galt für den Orientalisten als zusätzlicher Beweis für die Barbarei dieses Volkes. Die heftige Kritik an der Episteme der Académie celtique sollte dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier sehr viel auf dem Spiel stand. Sie spiegelt die wissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der keltischen Ursprünge Frankreichs und Europas einerseits und denjenigen, die die Wiege der Kultur auf das alte Ägypten und Nahost zurückführten, andererseits wider, deren einer Wortführer Saint-Martin war. Hierzu ist anzumerken, dass nicht alle Mitglieder der Société royale des antiquaires hinter dieser Anprangerung standen: Ihr Präsident Médéric-Louis-Elie Moreau de Saint-Méry (1750 – 1819), der noch zur früheren Generation gehörte, offenbarte eine gewisse Sympathie für jene Patrioten der Académie celtique, die versucht hätten, „les matériaux de l’Histoire de l’antique France“ zu sammeln.¹¹⁵ Darüber hinaus war die „Säuberung“ der neuen Institution von Keltomanen nicht vollständig, wie die Aufnahme von Johanneau als Mitglied belegt. Ein weiterer wichtiger Grund für die Auflösung der Académie celtique lag sicherlich an ihrer Verquickung mit dem Kaiserreich, vor allem über die Kaiserin Joséphine, die von Anbeginn an die Schirmherrschaft über die private Gelehrtengesellschaft übernommen hatte. Das verdeutlicht Saint-Martin im Schlusswort seiner Rede, in dem er die Franzosen und Französinnen zu Napoleons Sturz be-

 o. V., Installation, S. 4 f.  o. V., Installation, S. 8.

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glückwünscht: Die Gefahr, in die alte Barbarei zurückzufallen, sei damit gebannt und die die Kultur beschützende Monarchie sei restauriert worden.¹¹⁶ Das keltische Ursprungsnarrativ, das nie ein monarchistisches war und hätte sein können,¹¹⁷ wurde somit aus beiden Institutionen, die sich damals mit dem Altertum beschäftigten – der Société royale des antiquaires und der wiederhergestellte Académie des Inscriptions et Belles-Lettres – zumindest als Leitnarrativ verbannt. Aus dem wissenschaftlichen Misskredit folgte, dass die Beiträge über die Volkstraditionen, Bräuche, Sitten und Dialekte in den darauffolgenden Mémoires keinen Platz mehr fanden. Bei den wenigen Aufsätzen, die bis 1830 zum Thema publiziert wurden, handelte es sich um Manuskripte, die die Académie celtique in den Jahren zuvor erhalten hatte.¹¹⁸ Dämmerte also mit der Restauration und bis zur Julimonarchie die keltische Ideologie zusehends dahin, verschwand mit ihr auch der oben umrissene Ansatz, der die Überreste und die lebendigen Denkmäler zum Sprechen veranlassten.

6 Schlussbemerkung Die Société royale des antiquaires brachte die lebendigen Denkmäler erneut zum Schweigen, indem sie ihnen die Stichhaltigkeit absprach, was „historische“ Auskünfte anbelangte. Die Landbevölkerung als Speicher mündlicher Traditionen gewann ihre Autorität erst im Rahmen einer neuen Disziplin zurück, die folklore hieß, sich im Laufe des 19. Jahrhunderts langsam herausbildete und ihren ersten Höhepunkt in den 1930er/1940er-Jahren erreichte. Arnold Van Gennep, der als Begründer der Volkskunde als wissenschaftliche Disziplin im französischen akademischen System gilt, hat diese Entstehungsgeschichte rekonstruiert.¹¹⁹ Dabei betrachtete er die Mitglieder der Académie celtique als Väter dieser Wissenschaft. Im teleologischen Narrativ über die Gründung der Volkskunde als wissenschaftliche Disziplin geriet er dennoch – ohne es zu beabsichtigen – mit  o. V., Installation, S. 5.  Zu den historiografischen – römischen oder fränkischen – Paradigmen der Monarchie im 17. und 18. Jahrhundert s. Diego Venturino: Les déboires d’une historiographie toute monarchique. Le romanisme aux XVIIe et XVIIIe siècles. In: Historiographie de la France et mémoire du royaume au XVIIe siècle. Actes des Journées d’étude des 4 et 11 février, 4 et 11 mars 2002, Collège de France. Hrsg. von Marc Fumaroli u. Chantal Grell. Paris 2006, S. 89 – 167.  Société royale des Antiquaires de France: Préface. In: Mémoires et Dissertations sur les antiquités nationales et étrangères. 10 Bde. Paris 1817– 1834, hier Bd. 1, Anm. 1, S. ii–iij; Belmont, Aux sources, S. 16.  Arnold Van Gennep: Manuel de folklore français contemporain. Bd. 1.1: Introduction générale et Du berceau à la tombe. Paris 1943, S. 1– 42.

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seinen Argumenten in Widerspruch. Indem er beklagte, dass die unscharfe Trennung zwischen Geschichte und Folklore eine der Schwächen der Académie celtique gewesen sei, erkannte er ungewollt an, dass diese Institution auf historische Rekonstruktion bedacht gewesen war. Ähnliches lässt sich an seiner Kritik beobachten, der zufolge die Mitglieder der Académie celtique Bräuche und Traditionen nach ihren Formen und morphologischen Details lediglich verglichen und beschrieben, statt deren geistige Prozesse, Funktionen und Akteure zu analysieren:¹²⁰ Dabei verschwieg er, dass auf dieser morphologischen Vergleichsmethode die Untersuchung der gesamten Altertümer, der materiellen Überreste, aber auch der sprachlichen Spezimina, beruhte, und dass die Mitglieder der Académie celtique niemals die mündliche Überlieferung als exklusive Quelle für die Rekonstruktion der keltischen Vergangenheit verwendeten. Lediglich im hermeneutischen Zusammenspiel der mündlichen Quellen mit den anderen Überresten glaubten sie zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Van Genneps weitere Annahme, dass die Geistlichen und – zu seinem großen Erstaunen – sogar die Revolutionäre die untersuchten Traditionen als Ausprägungen eines auszurottenden Aberglaubens ansahen, wird in der Forschung bis heute und mit wenigen Ausnahmen geteilt. Mit den in diesem Beitrag angestellten Überlegungen soll der Versuch unternommen werden, beide Annahmen Van Genneps zu widerlegen und eine neue Deutung zur Verortung der Forschungen der Académie celtique zu präsentieren: Die lebendigen Denkmäler, Bauern und Landleute, galten den Mitgliedern dieser Institution noch als Proprium der Geschichte zur Erforschung der Vergangenheit; ihre Historisierung wurde zunächst von den Geistlichen eingeleitet, die sich vor allem den weltlichen Lokal- und Provinzgeschichten widmeten. Der Rückgriff auf die Traditionen der Landbevölkerung war für sie sowie für alle Geschichtsschreiber, die sich im 18. und frühen 19. Jahrhundert mit den fernen, schriftlosen Vergangenheiten der einzelnen Nationen beschäftigten, unabdingbar. Von diesen unbewussten Trägern historischer Erinnerungen erhofften sie sich Aufschluss über die stummen Altertümer. Über die Frage hinaus, inwiefern die Académie celtique und ihre Episteme als Vorläufer der Volkskunde anzusehen sind, stellt sich mit Blick auf das 18. Jahrhundert eine weitere Frage, die für die heutige Geschichtswissenschaft von Belang sein kann: Wie ging die Geschichte im Laufe ihrer Institutionalisierung als akademische Disziplin und der damit verbundenen Schriftfixierung mit diesem Verlust an Quellenarten um?

 Van Gennep, Manuel de folklore français, S. 37.

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Flüchtlinge, Vertriebene und unerwünschte Minderheiten Zum Wiederauffinden schriftloser Vergangenheiten in Südosteuropa „Lassen Sie uns über nichts anderes reden als über Dokumente, und lassen Sie uns alles dokumentieren.“¹ So reagierte der Doyen der türkischen Geschichtswissenschaft und Wächter der türkischen Nationalgeschichte, Yusuf Halaçoğlu, 2005 auf die neuen, alternativen Interpretationen der Umsiedlungs- und Vertreibungsaktionen von Armeniern durch das Osmanische Reich 1915/1916 – es war zugleich eine Forderung und eine Kritik. Kritische Historiker wie Taner Akçam und Halil Berktay hatten die Aktionen als „Genozid“ bezeichnet. Halaçoğlu kritisierte die Wissenschaftler insbesondere dafür, dass sie ihre Erkenntnisse vor allem auf Erfahrungen und Erinnerungen von Überlebenden des Genozids stützten, die seit Ende der 1990er-Jahre in zahlreichen Veröffentlichungen, literarischen Verarbeitungen, aber auch als Verfilmungen in der Türkei Widerhall fanden. Seiner Auffassung nach basierte diese Neubewertung auf Quellen, die weder in staatlichen türkischen Archiven lagerten noch von türkischen Historikern produziert bzw. autorisiert worden waren. Diese seien, so Halaçoğlu, damit nicht als historisch legitimierte Quellen zu betrachten, weshalb sich die Vorgänge von 1915/1916 auf der Grundlage der von Akçam und Berktay angeführten Augenzeugenberichte kaum rekonstruieren ließen.² Die hier nur angerissene Debatte um die speziellen „Rekonstruktionsbedingungen“ eines armenischen Genozids und die damit gekoppelte Frage einer Anerkennung soll hier nicht im Zentrum stehen. Von Bedeutung ist hier vielmehr die mit einer solchen Rekonstruktion der armenischen Vergangenheit assoziierte Frage, wie sich Vergangenheiten von Bevölkerungsgruppen rekonstruieren lassen, die aufgrund von Kriegen und den sie begleitenden Verwüstungen und Zerstörungen und/oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sprachlichen, religiösen, ethnischen oder nationalen Entität aus ihren Geburts- und Heimatorten vertrieben wurden oder flüchteten und deren Vergangenheiten aufgrund eben dieser erzwungenen Migration durch staatliche  Zit. in Ayşe Gül Altınay: In Search of Silenced Grandparents. Ottoman Armenian Survivors and Their Muslim Grandchildren. In: Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa. Hrsg. von Hans-Lukas Kieser u. Elmar Plozza. Zürich 2006, S. 117– 132, hier S. 123; mit Verweis auf Sefa Kaplan: 1915’te – Ne oldu? Istanbul 2005, S. 99.  Kaplan, 1915’te, S. 99. https://doi.org/10.1515/9783110552201-005

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oder semistaatliche Akteure und den daraus resultierenden Folgen sozusagen erst „schriftlos“ wurden oder als solche deklariert wurden. Bei der Auseinandersetzung mit der (Re‐)Konstruktion schriftloser Vergangenheiten geht es also auch vor allem um die Frage, wie und warum im speziellen Fall Vergangenheiten für schriftlos erklärt wurden bzw. welche Motive in der Fortsetzung die Notwendigkeit einer Rekonstruktion bestimmten. Wer sind die Akteure oder Agenten einer solchen Rekonstruktion und auf welcher Grundlage agieren diese Personen? Welche Motive lassen sich im Prozess der Rekonstruktion festmachen? Und schließlich: Welche Art von Quellen wurde in einem solchen Rekonstruktionsprozess produziert oder zu historischen Quellen autorisiert? Warum fallen andere Quellen heraus? Diese Fragen stellen sich sowohl im armenisch-osmanischen ebenso wie im griechisch-türkisch-osmanischen Kontext, der im Fokus dieses Beitrags stehen soll.

1 Flucht, Vertreibung und Bevölkerungsaustausch In Südosteuropa kam es im Rahmen der Nationalstaatsbildungen des 19. und 20. Jahrhunderts zu tiefgreifenden politischen Umwälzungen, die neben der Ziehung neuer Staatsgrenzen zu einer drastischen Umkehrung der bisherigen demografischen Verhältnisse führten. Im Rahmen nationalstaatlicher Politik aller südosteuropäischen Staaten war ein erklärtes politisches Ziel die Umformung ehemals stark ethnisch, religiös und sprachlich gemischter Regionen zu homogen besiedelten „nationalen“ Territorien, durch staatlich sanktionierte Diskriminierung, Vertreibung oder gar durch Ermordung unliebsamer Bevölkerungen.³ Dementsprechend waren seit Beginn des 19. Jahrhunderts das Osmanische Reich und mit ihm insbesondere muslimische Bevölkerungsgruppen sukzessive aus Südosteuropa verdrängt worden.⁴ In Griechenland lebten trotz dieser Entwicklungen noch bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg kleinere türkisch-muslimische Bevölkerungsgruppen, vor allem in Nordgriechenland und auf Kreta, auch wenn zahlreiche Muslime vor allem im Rahmen der Balkankriege 1912/1913 vertrieben wurden oder flüchteten.⁵ Größere griechisch-christliche Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich waren vor allem an der Westküste Kleinasiens, an der

 Holm Sundhaussen: Geschichte Südosteuropas als Migrationsgeschichte. Eine Skizze. In: Südostforschungen 65/66 (2006/2007), S. 422– 460.  Vgl.Wolfgang Höpken: Flucht vor dem Kreuz? Muslimische Emigration aus Südosteuropa nach dem Ende der osmanischen Herrschaft (19./20. Jh.). In: Comparativ 6 (1996), S. 1– 24.  Einen Überblick versucht Justin McCarthy: Death and Exile. The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims 1821– 1922. Princeton 1996.

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Schwarzmeerküste in der Region des Pontos und in Kappadokien ansässig. Die griechische Führung nutzte diese Präsenz griechisch-orthodoxer Bevölkerungen nach der Niederlage des Osmanischen Reichs 1918 als Argument für eine territoriale Einverleibung der Region um Smyrna. Das Osmanische Reich, insbesondere aber auch die europäischen Großmächte sahen bereits während des Ersten Weltkriegs und noch mehr nach 1918 in dieser heterogenen ethnischen und religiösen Gemengelage gefährliche Konfliktpotenziale für die Zukunft. Zu den Zielen aller beteiligten Staaten in den Friedensverhandlungen nach dem großen Krieg gehörte insbesondere die Verhinderung weiterer Kriege durch allgemeingültige Friedensregelungen, zu denen der im Vertrag von Lausanne 1923 beschlossene griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch gehörte.⁶ Der Bevölkerungsaustausch sollte dazu dienen, weitere ethnische und in der Folge zwischenstaatliche Konflikte zu verhindern.⁷ Während 400.000 Muslime Griechenland verlassen mussten, betraf die Umsiedlung aus der Türkei deutlich mehr Personen: 1,2 – 1,5 Millionen, bei einer Gesamtbevölkerung von etwa sechs Millionen.⁸ Das ausschlaggebende Kriterium für eine Umsiedlung stellte die religiöse Zugehörigkeit dar, während sprachliche oder kulturelle Kriterien völlig außer Acht gelassen wurden. Der Großteil der griechischen Kleinasiaten war bereits angesichts der sich abzeichnenden griechischen Niederlage im griechisch-türkischen Krieg 1919 bis 1922 geflüchtet.⁹ Zweck und Folge solcher Umsiedlungsmaßnahmen waren in der Regel die völlige Umwandlung von Vielvölkerstaaten in ethnisch homogene Nationalstaaten. Das erklärte Ziel war, laut dem britischen Außenminister Lord Curzon, „to unmix the populations of the Near East“, also die möglichst vollständige Homogenisierung der dort ansässigen Bevölkerungen, um spätere Massenvertreibungen zu verhindern.¹⁰ In der Folge wurden sowohl in Griechenland als auch in der Türkei zahlreiche Dörfer, Städte und ganze Landstriche durch die Ansiedlung

 Der Text des Vertrags findet sich in: League of Nations Treaty Series: Nr. 16. London 1923, S. 175 – 187.  George Mavrokordatos u. Ayan Aktar: The 1923 Exchange of Populations. An ongoing Debate. Vortragspapier Gennadeios Library, Cotsen Hall vom 15.01. 2013. Athen 2013.  Dimitris Pentzopoulos: The Balkan Exchange of Populations and its Impact on Greece. Paris 1962.  Die griechische Geschichtsschreibung bezeichnet diese Episode griechisch-türkischen Aufeinandertreffens bis heute als „Kleinasiatische Katastrophe“, ein Begriff, der vor allem mit der (Rück‐)Eroberung der Stadt Izmir/Smyrna durch türkische Truppen und der gewaltsamen Vertreibung der griechischen Bewohner der Stadt assoziiert wird.  Zitiert nach Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Göttingen 2012, S. 100.

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und/oder den „Austausch“ „eigener“ Flüchtlinge völlig neu, aber eben homogen, besiedelt.¹¹

2 „Unerwünschte“ Vergangenheiten Derartige Homogenisierungsbestrebungen schlossen in der Folge auch die Homogenisierung bzw. Nationalisierung „unerwünschter“ Vergangenheiten ein, insbesondere dann, wenn es sich um die Vergangenheit geografischer Räume handelte, deren Siedlungsgeschichte weder im sprachlichen noch im religiösen oder kulturellen Sinne dem jeweiligen Nationalcode entsprachen.¹² Zahlreiche ethnische oder religiöse Minderheiten wurden in der jeweiligen nationalen Geschichtsschreibung entweder negativ porträtiert, ausgegrenzt und/oder verschwanden aus den schriftlich fixierten historischen Narrativen.¹³ Dörfer, Städte, Stadtteile und Nachbarschaften verloren auf diese Weise Vergangenheiten, weil deren Bevölkerungen verschwanden, Gebäude und Institutionen ihrer Funktion entkleidet wurden. Materielle Spuren wurden durch urbane Erneuerungs- und Modernisierungsprojekte zerstört, sie zerfielen im Laufe der Zeit oder erhielten neue Funktionen, sodass materielle räumliche Bezüge verloren gingen. In Südosteuropa betraf dies vor allem die osmanisch/muslimische Vergangenheit fast aller Balkanstaaten, die die Periode osmanischer Herrschaft im offiziellen nationalen Narrativ in der Regel negativ zeichneten oder – insbesondere auf regional- und lokalgeschichtlicher Ebene – gar nicht thematisierten, da man sie als kulturell wertlos für die „eigene“ Vergangenheit erachtete. Dies galt aber ebenso für die nicht-osmanischen bzw. nicht-türkischen oder christlichen Vergangenheiten von Bevölkerungen im Osmanischen Reich bzw. der Türkei, die in offiziellen nationalen Narrativen fehlten oder marginalisiert wurden. Schriftliche Zeugnisse „anderer“ Vergangenheiten waren häufig mit ihren Besitzern „emigriert“. In nicht wenigen Fällen fielen Schriftstücke, aber auch materielle Hin Zur offiziellen Historiografie des Bevölkerungsaustausches vgl. Onur Yıldırım: The 1923 Population Exchange, Refugees and National Historiographies. In: East European Quarterly 40 (2006), S. 45 – 70; zur Ansiedlung der Flüchtlinge in Griechenland vgl. Elisabeth Kontogiorgi: Population Exchange in Greek Macedonia. Oxford 2006.  Vgl. L. Carl Brown: Imperial Legacy. The Ottoman Imprint on the Balkans and the Middle East. New York 1996; Bernard Lowry: The Ottoman Legacy in the Balkans. In: Entangled Histories of the Balkans. Shared Pasts, Disputed Legacies. Hrsg. von Roumen Daskalov u. Alexander Vezenkov. Bd. 3. Leiden/Boston 1996, S. 355 – 405.  Vgl. Aslı Iğsız Keyder: Documenting the Past and Publicizing Personal Stories. Sensescapes and the 1923 Greco-Turkish Population Exchange in Contemporary Turkey. In: Journal of Modern Greek Studies 26 (2008), S. 451– 487, hier S. 459.

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terlassenschaften der nachfolgenden Zerstörung sowohl offizieller als auch inoffizieller Stellen oder der Vernachlässigung zum Opfer.¹⁴ Im Zuge einer öffentlichen Nationalisierungspolitik ordneten staatliche Stellen Topografien neu und ersetzten türkische oder slawische Ortsnamen durch griechische bzw. griechische durch türkische Toponyme.¹⁵ Dokumente und Objekte, die eindeutig Bezüge zu „anderen“ Vergangenheiten aufwiesen, wurden von staatlichen Stellen mitunter zurückgehalten, als unbedeutend und wertlos erachtet, was ebenfalls nicht selten zu deren Zerstörung oder Vernachlässigung beitrug. Mancherorts trug fehlendes Wissen um die lokalen Vergangenheiten dazu bei, sie zu verdrängen und vergessen.¹⁶ Im Falle schriftlicher Hinterlassenschaften waren dafür sicherlich auch nicht vorhandene Sprach- und Lesekompetenzen verantwortlich, denn es darf vermutet werden, dass nicht wenige schriftliche griechische bzw. osmanische Zeugnisse mit der Zeit in den hintersten Ecken unzugänglicher öffentlicher oder aber auch privater Archiven verschwanden, da man nicht-griechische bzw. nichtosmanische/türkische Dokumente nicht (mehr) lesen konnte. Aus den hier vorgestellten Kontexten ergeben sich folglich mehrere Untersuchungsebenen „schriftloser Vergangenheiten“, die im Rahmen dieses Sammelbandes von Belang sind. Die Untersuchungsebenen unterscheiden sich dabei sowohl in zeitlicher als auch räumlicher Hinsicht. Auf der ersten Ebene haben wir es im Rahmen von Flucht und Vertreibung als historische Prozesse bzw. von staatlich gelenkter Gewalt gegenüber Bevölkerungen mit der Entstehung und Produktion „schriftloser Vergangenheiten“ und ihren – insbesondere auf der lokalen und regionalen Ebene – historiografischen und räumlichen Leerstellen zu  Yenişehirlioğlu und Kontogiannis führen hier zu Recht an, dass weder in Griechenland noch in der Türkei zu diesem Zeitpunkt institutionelle Strukturen existierten, die eine Instandhaltung oder Instandsetzung von „kulturellem Erbe“ garantieren konnten. Filiz Yenişehirlioğlu u. Nikos Agriantonis: Developing Local Awareness Concerning the Architectural Heritage Left from the Exchange of Populations in Turkey and Greece. Proceedings of Common Cultural Heritage. Istanbul 2005, S. 26.  Vgl. Kerem Öktem: The Nation’s Imprint. Demographic Engineering and the Change of Toponyms in Republican Turkey. In: European Journal of Turkish Studies 7 (2008). http://journals. openedition.org/ejts/2243 (18.4. 2018). Zu Bulgarien vgl. Mehmet Hacisalihoğlu: Doğu Rumeli’de Kayıp Köyler. İslimiye Sancağı’nda 1878’den Günümüze Göçler, İsim Değişiklikleri ve Harabeler. Istanbul 2008.  Arzu Öztürkmen macht am Beispiel der Stadt Tirebolu (türk.)/Tripolis (griech.) in der Schwarzmeer-Region jedoch auch deutlich, dass materielle Hinterlassenschaften dazu dienen können, mündliche Narrative „anderer“ Vergangenheiten in der Erinnerung der heutigen muslimischen Bewohner anzustoßen. Ebenso wird materielle Kultur aber eben erst durch diese Narrative im Raum sichtbar gemacht. Arzu Öztürkmen: Remembering through Material Culture. Local Knowledge of Past Communities in a Turkish Black Sea Town. In: Middle Eastern Studies 39 (2003), S. 179 – 193, hier S. 181.

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tun. Eine zweite Ebene betrifft die Neuschreibung bzw. Überschreibung solcher historiografischer Leerstellen durch „Neusiedler“, die im hier beschriebenen griechisch-türkischen Fall häufig selbst Flüchtlinge und Vertriebene waren. Auf einer dritten Ebene ist schließlich die Rekonstruktion der schriftlos gewordenen Vergangenheiten nach der Vertreibung wie auch die Wiederentdeckung solcher historiografischer Leerstellen bzw. überschriebener Vergangenheiten zu betrachten. Ich möchte mich im Folgenden auf die hier angesprochenen Rekonstruktionsprozesse und die Akteure oder Agenten der Rekonstruktion beschränken. Dabei teilen sich diese in zwei Gruppen, an denen sich auch die folgenden Ausführungen orientieren: zum einen die Flüchtlinge und Vertriebenen bzw. ihre Nachkommen, die nach der Flucht oder der Vertreibung „eigene“ Vergangenheiten zu bewahren, schützen, rekonstruieren oder konstruieren versuchen. Diese stehen im Fokus der Untersuchung. Zum anderen die Bewohner, die an „Orten der Vertreibung“, also im verlassenen geografischen Raum, in einer Region, in einer städtischen oder dörflichen Gemeinschaft solche – möglicherweise nur auf den auf den ersten Blick – schriftlosen Vergangenheiten wiederentdecken und sich an einer Rekonstruktion beteiligen. Diese Prozesse können im Rahmen dieses Beitrags nur angerissen werden. Im griechisch-türkischen Kontext gehören die Betroffenen in vielen Fällen beiden Gruppen an, da Vertriebene nicht selten zugleich Verbliebene bzw. selbst vertriebene Neusiedler waren. Sie sollen im Folgenden aber aus praktischen Gründen getrennt behandelt werden.

3 Griechische Vertriebene, der Verlust und die Rekonstruktion Zum Synonym für den Komplex aus Niederlagen, Verlusten und Schicksalsschlägen, den verlorenen griechisch-türkischen Krieg, die Vertreibung, die Flüchtlings-Katastrophe und letztendlich den territorialen Verlust der Heimat hat sich im öffentlichen griechischsprachigen Diskurs seit den 1960er-Jahren der Begriff der „Verlorenen Heimaten“ (chamenes patrides) etabliert.¹⁷ Zunächst

 Das Narrativ der „Kleinasiatischen Katastrophe“, als die die Vertreibung der kleinasiatischen Griechen bis heute in der griechischen Historiografie bezeichnet wird, ist eine der Zäsuren neugriechischer Geschichte. Es wurde jedoch erst relativ spät in nationalstaatliche Deutungen und Narrative der Geschichte des modernen Griechenlands integriert, während die Geschichte der pontischen und kleinasiatischen Griechen im osmanischen Reich, also vor der Vertreibung, erst vor kurzem in offizielle historische Narrative integriert wurde. Vgl. Antonis Liakos (Hrsg.): To 1922 kai oi prosfyges. Mia nea matia. Athen 2011, S. 12. Zur Historiografie vgl. den Überblick bei Emilia

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stellte die Ankunft von 1,5 Millionen kleinasiatischen orthodoxen Flüchtlingen die griechische Gesellschaft sowohl politisch wie auch in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht vor immense Herausforderungen, die in den Folgejahren nur schwer zu bewältigen waren.¹⁸ Erst Ende der 1920er-Jahre meldeten sich Stimmen seitens der Flüchtlinge zu Wort, die in dem territorialen Verlust auch die Gefahr eines Vergessens der eigenen Geschichte und Kultur sahen und eine Rettung, Bewahrung und Rekonstruktion der „eigenen“ Vergangenheiten forderten. Zwar hatte der Sprachwissenschaftler Georgios Chatzidakis, Professor an der Athener Universität, bereits 1924 in einer Rede vor der Wissenschaftlichen Gesellschaft Athen (Epistimoniki Etairia Athinon) die Sammlung kleinasiatischen volkskundlichen Materials gefordert. Obwohl die Idee zunächst von einem kleinen Kreis etablierter Kollegen begrüßt wurde, verlief die Initiative ins Leere, wohl da sich keine Unterstützer außerhalb der Flüchtlingsverbände finden ließen.¹⁹ Anders war es im Falle der zahlreichen, regional verorteten Flüchtlingsvereine und -verbände, die sich in der Zwischenkriegszeit gegründet hatten und deren Zusammensetzung sich in der Regel nach den geografischen Herkunftsorten der Flüchtlinge richtete. Diese verstanden sich aber zunächst einmal als Interessenverbände der Flüchtlinge, denen es in der Anfangsphase um ganz konkrete Fragen des politischen und wirtschaftlichen Überlebens ging. Erst gegen Ende der 1920er-Jahre begannen diese Organisationen, sich explizit auch der Rekonstruktion der speziellen Flüchtlingsvergangenheit zu widmen. In Griechenland sind hier vor allem zwei Flüchtlingsvereinigungen von Flüchtlingen zu nennen, die eine solche Rekonstruktion zu einer Notwendigkeit erklärten und mit eigenen Publikationen maßgeblich an den Rekonstruktionsprozessen beteiligt waren.²⁰ Die Vereinigung Pontischer Studien (Epitropi Pontiakon Meleton), 1927 auf Initiative des exilierten Erzbischofs von Trapezunt gegründet, verstand sich als eine regionale Vereinigung der aus der Schwarzmeerregion vertriebenen pontischen Griechen. In den Augen der Vereinigung hatten Flucht und Vertreibung aus dem Pontos, die erzwungene Umsiedlung in Griechenland und in den Augen der Vereinigung fest

Salvanou: The First World War and the Refugee Crisis. History and Memory in the Greek Context. In: Historein 16 (2017), S. 120 – 138.  Haris Exertzoglou: Children of Memory. Narratives of the Asia Minor Catastrophe and the Making of Refugee Identity in Interwar Greece. In: Journal of Modern Greek Studies 34 (2016), S. 343 – 366.  Haris Exertzoglou: Prosfygiki mnimi kai dimosia koinonikotita. In: Morfes dimosias Koinonikotitas stin Ellada tou Eikostou Aiona. Hrsg. von Efi Avdela [u. a.]. Rethymno 2015, S. 217– 236, hier S. 221.  Exertzoglou spricht im Rahmen seiner Studie von „institutionalised refugee memories“: ders., Children of Memory, S. 347.

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geschriebene Verlust der Heimat die Gründung einer solchen Gemeinschaft notwendig gemacht. Sie konstatierte kurz nach ihrer Gründung, dass sie es als ausdrückliche Verpflichtung ansehe, „die lebenden Monumente des Pontos zu sammeln und zu bewahren und vor dem Vergessen zu retten.“²¹ Dazu rief der Erzbischof explizit „Gelehrte pontischer Herkunft“ auf, sich im Namen des „Patriotismus“ an einem solchen „nationalen“ Projekt zu beteiligen. In der von der Vereinigung publizierten Reihe Pontisches Archiv (Arxeion Pontou), deren erste Ausgabe 1929 erschien, sollte zunächst „Material volkstümlicher und historischer Provenienz“ zusammengeführt, so gut wie möglich aufgeschrieben und dokumentiert werden. Dieses sollte nicht nur einer genuin pontischen, sondern der gesamtgriechischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Vereinigung agierte als geschlossener, exklusiver Kreis männlicher Gelehrter und Akademiker aus der Pontosregion, die sich zum Teil bereits vor ihrer Flucht in akademischen Vereinigungen, darunter auch dem renommierten Griechischen Philologischen Verein von Konstantinopel (Ellinikos Philologikos Syllogos Konstantinoupoleos), für die wissenschaftliche Sammlung und Untersuchung pontischer Kultur und Sprache engagiert hatten.²² Die Vereinigung Pontischer Studien, der auch zahlreiche Politiker der griechischen Regierungspartei angehörten, finanzierte sich größtenteils durch staatliche Mittel, aber auch durch Spenden von Privatpersonen sowie durch die bloße Anbindung an andere staatliche und semistaatliche Organisationen, Verbände oder Museen.²³ Als „Retter kleinasiatischer griechischer Vergangenheiten“ sah sich auch die Vereinigung der Smyrnioten (Enosis Smyrnaion). Diese erklärte 1938 im ersten Band ihrer Reihe Kleinasiatische Chroniken (Mikrasiatika Xronika), dass die Geschichte der Kleinasiaten 1922 abrupt unterbrochen worden sei. Aus diesem Grund müsse man verhindern, dass mit dem Verschwinden der letzten Träger der kleinasiatischen Kultur diese ebenfalls vollkommen verloren gehe. Ziel sei die Sammlung, Bewahrung und Dokumentation der kleinasiatischen Kultur, damit

 Zitiert bei Exertzoglou, Prosfygiki mnimi, S. 221.Wie Lisa Regazzoni in ihrem Beitrag in diesem Sammelband deutlich macht, ging es hier also auch um die Transformation des Denkmalbegriffs.  Zumindest der Vorstand setzte sich vor allem aus Gelehrten zusammen, darunter Theologen, „Volkskundler“ und Historiker sowie Literatur- und Sprachwissenschaftler wie Nikolaos Lithoxoos, Anthimos Papadopoulos oder Dimosthenis Oikonomidis, der 1887 über die Lautlehre des Pontischen an der Universität Leipzig promovierte. Viele unterrichteten vor ihrer Vertreibung in höheren Lehranstalten, Schulen und Akademien der gesamten Pontosregion, z. B. auch in dem bekannten Institut von Trapezunt (Frontistirio Trapezountas), einer höheren Lehranstalt in einem der wichtigsten urbanen Zentren an der Schwarzmeerküste mit vor dem griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch 1923 hohem griechisch-/pontischsprachigen Bevölkerungsanteil. Vgl. Exertzoglou, Prosfygiki mnimi, S. 221.  Exertzoglou, Prosfygiki mnimi, S. 22 f.

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auf der Basis einer solchen Sammlung „die kleinasiatische Geschichte geschrieben“ werden könne. Im Gegensatz zur Vereinigung der Pontier rief die Vereinigung jedoch alle Kleinasiaten dazu auf, Zeugnis abzulegen. Dies bezog sich auf all diejenigen, die „etwas zur Rettung von Ikonen, Dokumenten und Schriften, die etwas zu Kleinasien sagen“, oder aber „in mündlicher Form etwas Genaueres über die Sitten und Gebräuche, Traditionen, Märchen und Sagen mitteilen könnten, die in irgendeiner Form mit der heutigen Geschichte Kleinasiens zu tun haben“²⁴. Ziel solcher Reihen war zunächst einmal die Bewahrung einer regionalen Vergangenheit durch die Sammlung und Archivierung von materiellen und immateriellen schriftlichen, visuellen und mentalen Hinterlassenschaften, Objekten und Erinnerungen an die „verlorene Heimat“. Dieser Prozess sollte durch die Niederschrift und die Dokumentation von historischen Quellen und Erinnerungen unterstützt werden. Hier schrieben sich aber auch eigene Deutungen der Vergangenheit und somit auch der Zukunft fest. Wie Jeffrey Veidlinger für Narrative zu jüdischen Siedlungen in der Sowjetunion nach der Deportation der jüdischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg – wenn auch in einem völlig anderen Kontext – gezeigt hat, birgt diese einseitige Annäherung jedoch ein hohes Risiko. Denn „[t]he stories [about those Jewish lives] have been told exclusively by those who left“.²⁵ Auch mit der Sammlung von Quellen durch griechische Vertriebene präsentierte man eine ausschließlich griechische Vergangenheit der Pontosregion und Kleinasiens. Beide hier angesprochene Reihen widmen sich ausschließlich der Zeit vor der Vertreibung. Wie Haris Exertzoglou deutlich gemacht hat, lassen sich in den hier veröffentlichten Erzählungen kaum Verweise auf die innerosmanischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen finden, die auch die griechischen Bevölkerungen vor allem im Laufe des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts betrafen. In der Regel wird die gesamte Zeit vor 1922/1923, also vor der Vertreibung bzw. vor dem Austausch, unkritisch beschönigt. Auch sind kaum Bezüge zu anderen ethnischen Bevölkerungsgruppen zu finden. Die multireligiöse, multiethnische und multilinguistische Zusammensetzung der Bevölkerung beider Regionen wurde hierbei ebenso ausgeklammert wie soziale oder wirtschaftliche Beziehungen zu anderen ethnischen Gruppen in der Pontosregion oder in Kleinasien. Nach Peter Greimer sind es genau diese „Lücken, Leerstellen und missing links“, die „das imaginative Potential“ einer Rekonstruktion von Vergangenheit ausmachen und damit gleichzeitig auch das Po-

 Zitiert bei Exertzoglou, Prosfygiki mnimi, S. 225.  Jeffrey Veidlinger: In the Shadow of the „Shtetl“. Small-town Jewish Life in Soviet Ukraine. Bloomington 2013, S. xiii.

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tenzial vermeintlicher oder als solcher deklarierter „schriftloser“ Vergangenheit so interessant machen.²⁶ Andererseits bestand ein staatliches Interesse an der Erforschung solcher Vergangenheiten genauso wenig wie an der Integration dieser Erzählungen in offizielle Narrative griechischer Nationsbildung. Staatlicherseits überließ man damit die Vergangenheit den Vertretern der Flüchtlingsvereinigungen, die sich aus lokalen Historikern, Kirchenmännern, Migranten und Vertretern der gebildeten Eliten und der Mittelschicht rekrutierten und das „Schreiben von Geschichte übernahmen“, weil sich von staatlicher griechischer Seite niemand dafür interessierte.²⁷ Nach Liakos und Salvanou agierten die Vertreter der Flüchtlingsvereinigungen damit in erster Linie als „intermediators of memory“, die in der Folge auch die Deutungshoheit über die „verlorene“ Vergangenheit übernahmen.²⁸ Dabei diente auch das Medium der Fotografie als Mittel, um Vergangenheit zu bewahren und zu dokumentieren und um Evidenz zu erzeugen. So fotografierten die griechischen Bewohner des Dorfes Sinasos (heute Mustafapaşa) in Kappadokien, die die Region im Zuge des vertraglich ausgehandelten griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs 1924 verlassen mussten, vor ihrer Emigration alles, was ihnen erinnernswert erschien. Die erhaltenen Fotografien, die heute im Centre of Asia-Minor Studies lagern, zeigen ausschließlich Bauten und Monumente, die Rückschlüsse auf die griechische Vergangenheit des Dorfes zulassen, während alles Nichtgriechische im Dunkeln bleibt. „It is no coincidence“, konstatiert Evangelia Balta, „that the camera focuses on whatever is Rum [die türkische Bezeichnung für griechisch, Hervorhebung durch die Verfasserin]. This is the memory they choose to preserve“.²⁹ Die Existenz einer noch nicht klar schriftlich fixierten lokalen regionalen Vergangenheit machte über den Weg einer selektiven Erinnerung also die Erhaltung und Bewahrung einer lokalen griechischen Identität, aber ebenso die Konstruktion einer reinen, eben griechischen Identität des gesamten geografischen Raumes möglich.³⁰ Sie ist es aber auch, die einer ausgewogeneren Rekonstruktion, die die verwobene Geschichte einer os-

 Peter Greimer: Nachleben und Rekonstruktion. Paderborn 2012, S. 12 (Hervorhebung im Original).  Antonis Liakos u. Emilia Salvanou: Citizenship, Memory and Governmentality. A Tale of Two Migrant Communities. In: Citizenship and Identities. Hrsg. von Ann Catherine Isaacs. Pisa 2010, S. 155 – 172, hier S. 159.  Liakos/Salvanou, Citizenship, S. 160.  Evangelia Balta: The Exchange of Populations. Historiography and Refugee Memory. Istanbul 2014, S. 5.  Haris Exertzoglou: I istoria tis prsofygikis mnimis. In: Liakos, To 1922 kai oi prosfyges, S. 191– 201, hier S. 193.

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manischen, multiethnischen und multireligiösen Vorkriegsgesellschaft erzählen könnte, im Weg stehen. Denn auch die in den Buchreihen veröffentlichten Dokumente und Beiträge beziehen sich fast ausschließlich auf volkstümliche Traditionen, Riten, Lieder usw. der im Gebiet siedelnden Griechen, während der Beitrag und die Präsenz anderer ethnischer Gruppen nicht oder nur am Rande thematisiert bzw. marginalisiert wurde. Die Konstruktion einer genuin griechischen Vergangenheit der ehemals nur auch griechisch besiedelten Gebiete des Osmanischen Reiches diente zugleich dem Anspruch der Vereine, den Anteil der regionalen pontischen und kleinasiatischen Kultur an der Geschichte des Griechentums zu verdeutlichen und so ihren rechtmäßigen Anspruch auf Teilhabe am griechischen Gemeinwesen zu belegen. Dass Flüchtlingsvereinigungen wie die Pontische Vereinigung mit ihren Publikationen damit gleichermaßen den Beitrag ehemals griechisch besiedelter Regionen zur griechischen Kultur herausstellten, verweist vor allem auch auf die Notwendigkeit, im Griechenland der Zwischenkriegszeit die eigene griechische Identität unter Beweis zu stellen. Denn große Teile der griechischen Gesellschaft standen den Neuankömmlingen eher ablehnend gegenüber und zweifelten aufgrund der regionalen Herkunft die Gräzität der Flüchtlinge aus Kleinasien und dem Pontos an, indem man sie als „Tourkosporoi“ (Türkensamen) und „Giaourtovaftismenoi“ (mit Joghurt getaufte) bezeichnete.³¹ Tatsächlich entsprachen die Flüchtlinge nur wenig dem Ideal eines „Griechen“, da viele Flüchtlinge zwar orthodoxe Christen, aber mehrsprachig oder sogar ausschließlich türkischsprachig waren, andere kulturelle Traditionen und zudem nicht selten eine unklare Vorstellung von einer eigenen oder eben rein-griechischen Identität besaßen. Daher erfüllten sie für viele Griechen nicht alle Kriterien griechischer Nationszugehörigkeit. Durch die Deklarierung der Vergangenheit als „verloren“ und ihre „neue“ Rekonstruktion als „rein griechisch“ pochten sie also – zumindest auf lange Sicht – auf die spätere Inklusion dieser Vergangenheit in nationale Geschichtsnarrative.

4 Flucht und Vertreibung Ähnlich wie staatliche Stellen thematisierten beide Vereinigungen weder die Vertreibung selbst noch das damit verknüpfte Trauma vieler Flüchtlinge. Dementsprechend wurde auch die Dokumentation der Flucht oder der Vertreibung

 Thomas Gallant: Modern Greece. From the War of Independence to the Present. London 2001, S. 209.

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selbst zunächst nicht als Notwendigkeit betrachtet; in der Zwischenkriegszeit veröffentlichten nur wenige Zeitungen sporadisch Berichte über Erfahrungen von Vertreibung die damit verbundene Gewalt und den Verlust. Diese Berichte wurden ausschließlich als private Zeugnisse veröffentlicht und/oder waren in der Regel in eine größere Erzählung eingebettet; üblicherweise bezogen sie sich kaum auf Einzelschicksale.³² Schriftlich dokumentiert wurden diese Erfahrungen nur, wenn staatliche Stellen dies mit Bezug auf die Integration der Neuankömmlinge einforderten und administrative Abläufe eine Dokumentation notwendig machten. In der Regel betraf dies Angaben gegenüber der Kommission zur Ansiedlung der Flüchtlinge oder dem Griechischen oder Internationalen Roten Kreuz über ermordete oder verlorene Familienangehörige und bezog sich nicht auf Fluchtkontexte oder Vertreibungserfahrungen.³³ Dies wirkt umso verstörender, weil Studien deutlich gemacht haben, wie entscheidend insbesondere die Erfahrungen von Gewalt, Vertreibung und Verlust von Familienangehörigen und des Elternhauses während der Flucht die Identität von Flüchtlingen bzw. ausgetauschten Familien auf beiden Seiten prägen. Von diesen Erfahrungen wird bis heute in der Familie erzählt. Zwar wurden Erinnerungen an die Vertreibung innerhalb der Familie oder der jeweiligen Gemeinschaft, Nachbarschaft usw. erzählt. Öffentlich oder gar in akademischen Kreisen gehörten sie jedoch nicht zum Wissens- oder Forschungsbestand. Erst das 1948 gegründete Zentrum für kleinasiatische Studien (Kentro Mikrasiatikon Spoudon) trieb auch die Dokumentation und Sammlung von Erfahrungen zur Flucht und Vertreibung voran. Es ging auf eine Initiative der griechisch-französischen Ethnologin Melpo Logotheti-Merlier zurück, die seit den 1930er-Jahren in Zusammenarbeit mit der Pariser Sorbonne musikalische Quellen griechischer Flüchtlinge sammelte und aufnahm. Aus dieser Sammlung ging das Archiv kleinasiatischer Folkloren hervor, das sich mit seiner Dokumentationsarbeit der Rekonstruktion der „verlorenen“ Geschichte griechischer Siedlungen und Kultur durch die ethnografische Dokumentation und Sammlung zur Folklore und Geschichte Kleinasiens widmete. Zu einer Gründung eines institutionell verankerten Zentrums, dessen Ziel auch die Dokumentation von Erinnerungen kleinasiatischer Flüchtlinge sowie der Erfahrungen von Flucht und Vertreibung galt, kam es jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem griechischen Bürgerkrieg, ebenfalls durch Logotheti-Merlier, die 1948 das Zentrum für kleinasiatische Studien gründete. Bei der institutionellen Verankerung nach dem Krieg und der  Einzige Ausnahme ist das Schicksal des Erzbischof Chrysostomos von Smyrna/Izmir. Vgl. Morfotiko Idryma Ethnikis Trapezis (Hrsg.): To Arxeion tou ethnomartyra Smyrnis Chrysostomou. 1918 – 1922. Bd. 2. Athen 2000.  Exertzoglou, Prosfygiki mnimi, S. 229.

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späteren Unterhaltung des Zentrums waren weder staatliche griechische Institutionen noch Flüchtlingsverbände involviert. Als unabhängige Institution gegründet, wurde das Zentrum bis weit in die 1960er-Jahre durch Frankreich finanziert und fungierte als privates Forschungszentrum. Zwar stand zunächst auch hier ein ethnografisches Interesse im Vordergrund. Über die historische Dokumentation sollte die „verlorene“ Geschichte wieder in das öffentliche Bewusstsein einer durch Welt- und Bürgerkrieg größtenteils traumatisierten griechischen Gesellschaft gebracht werden. Gleichzeitig sollte die Dokumentation auch hier die Festschreibung historischer Kontinuität und nationaler Identität der kleinasiatischen und pontischen Flüchtlinge gewährleisten.³⁴ Das Zentrum versuchte dies nun vor allem durch die Aufzeichnung von Interviews und Erinnerungen in mehreren groß angelegten Oral-history-Projekten voranzutreiben. Griechische Flüchtlinge sollten hier nun selbst Zeugnis ablegen und in Interviews über die Beschaffenheit ihrer Dörfer, ihr gesellschaftliches Leben, ihre Beziehungen zu anderen, ihre religiösen Riten und Traditionen erzählen. Thematisiert wurden seit den 1960ern aber auch die Vertreibung und die Flucht selbst, indem die Interviewten ermuntert wurden, auch über ihren „Exodus“ zu sprechen, wie die Flucht in einer der bekanntesten Veröffentlichungen des Zentrums aus den 1980er-Jahren betitelt wurde.³⁵ Das Zentrum richtete sich damit explizit gegen Vertreter der anerkannten griechischen Nationalgeschichtsschreibung, denn diese seien, wie auch Logotheti-Merlier immer wieder beklagte, kaum an einer Dokumentation der Geschichte und Kultur dieser nun für immer verlorenen Territorien interessiert und lehnten sowohl die Methode wie auch die auf diese Weise produzierten „neuen schriftlichen Quellen“ ausdrücklich ab.³⁶ Damit entwickelte sich das Zentrum zu einer Institution, die auch jenseits offizieller politischer Direktiven agieren konnte. So wurden hier auch solche Historiker und Historikerinnen beschäftigt, die aufgrund ihrer politisch linken

 Gleichzeitig sollte durch das Aufzeigen historischer Kontinuitäten z.B. in der Volkskunst die Vitalität des Griechentums aufgezeigt werden. Balta, The Exchange, S. 27. Vgl. auch Georgios Giannakopoulos: The Reconstruction of a Destroyed Picture. The Oral History Archive of the Centre of Asia Minor Studies. In: Mediterranean Historical Review 8 (1993), S. 201– 217. Insgesamt wurden in den Jahren zwischen den 1930er- und 1970er-Jahren Interviews mit über 5.000 Personen geführt.  Vgl. Kentro Mikrasiatikon Spoudon (Hrsg.): I Exodos. 5 Bde. Athen 1980 – 2016. Zur Kritik s. Penelope Papailias: Genres of Collections. Archival Poetics and Modern Greece. New York 2005, S. 94– 98.  Vgl. Penelope Papailias: Writing Home in the Archive. „Refugee Memory“ and the Ethnography of Documentation. In: Archives, Documentation and Institutions of Social Memory. Essays from the Sawyer Seminar. Hrsg. von Francis Blouin Jr. u. William Rosenberg. Ann Arbor 2005, S. 402– 416.

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Orientierung oder ihres (vermeintlichen) Engagements im Bürgerkrieg an staatlichen Institutionen keine Stellen bekamen. Insgesamt wurden Personen beschäftigt, die nun mit ganz unterschiedlicher Legitimation zu Akteuren der Dokumentation und der Rekonstruktion der Geschichte der „verlorenen Heimaten“ wurden. Wie Penelope Papailias zeigt, waren darunter auch selbst Betroffene, denen als direkten Zeugen oder Nachfahren der Vertriebenen eine besondere Autorität zugesprochen wurde, obwohl sie keine wissenschaftliche Ausbildung besaßen. Diese Personen sprachen aber ebenso mit Flüchtlingen und führten Interviews, auch wenn sie im Forschungszentrum in nicht-wissenschaftlichen Tätigkeiten beschäftigt waren. Dabei produzierten die Mitarbeiter häufig durch ganz eigene Methoden der Interviewführung, eine selektive Zusammenstellung und Dokumentation der erzählten Geschichten, vor allem aber auch durch Eingriffe und Korrekturen in die Sprache der interviewten Flüchtlinge Narrative über Flucht, Vertreibung und die Vergangenheit der verlassenen Heimaten, die sich in der Folge allzu gut in eine große nationale Erzählung über Kleinasien und die Pontos-Region einfügen ließen.³⁷

5 Rekonstruktion an Orten der Vertreibung Ähnlich wie auf der griechischen Seite blendete die offizielle türkische Nationalgeschichtsschreibung nach dem Bevölkerungsaustausch die Vergangenheit christlicher Bevölkerungen weitgehend aus, marginalisierte oder kriminalisierte „andere“ Vergangenheiten.³⁸ Dies betraf nicht nur die Geschichte ehemals „fremd“ besiedelter Regionen, sondern auch die der „eigenen“ muslimischen Flüchtlinge aus dem Balkan. Diese wurden häufig in den verlassenen ehemals griechisch oder auch armenisch besiedelten Gemeinden und Landstrichen angesiedelt. In nationalen türkischen Meistererzählungen fanden diese Narrative, die nur wenig einer eigenen ausschließlich ethnisch homogenen türkischen Identität entsprachen, keinen Platz.³⁹ Forderungen der aus Griechenland abgewanderten Balkanmuslime nach eigenen Interessenvertretungen gestalteten sich insbesondere in der Gründerzeit der türkischen Republik unter Mustafa Kemal Atatürk schwierig. Die sprach- und kulturpolitische Homogenisierungspolitik der Zwischenkriegszeit wie die Kampagne „Vatandaş Türkҫe konuş“ („Bürger, sprecht  S. dazu die Ausführungen von Papailias, Genres, S. 112– 118.  Vgl. Aytek Soner Alpan: But the Memory Remains. History, Memory and the 1923 Greco-Turkish Population Exchange. In: The Historical Review (2012), S. 199 – 232, hier S. 20 f.  Vgl. hierzu die Anmerkungen von Esra Özyürek in der Einleitung zu Esra Özyürek (Hrsg.): The Politics of Public Memory in Turkey. Syracuse [New York] 2007, S. 1– 15.

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Türkisch“), die jede andere Sprache aus der türkischen Öffentlichkeit verbannte, ließen anders-ethnische Interessenvertretungen oder Verbände, die eine eigene, von der national-türkischen abweichende Identität vertraten, kaum zu.⁴⁰ Von Belang war hier auch, dass Geschichten über Trauma und Verlust nicht in die glorreiche Meistererzählung einer über die Griechen und die Alliierten siegreichen türkischen Nation passten. Aber auch der Prozess einer Bildung einer neuen türkischen nationalen Identität verbot jegliche Bezüge auf eine nicht-türkisch bzw. anders-ethnische Vergangenheit wie sie z. B. in späteren literarischen Verarbeitungen deutlich wurde.⁴¹ Erst bedingt durch die politischen Entwicklungen der 1990er-Jahre, die Verbesserung der griechisch-türkischen Beziehungen, aber auch „neue“ türkischstämmige Migranten aus Ex-Jugoslawien, dem Kosovo und Bulgarien in die Türkei haben in diesem Land selbst, insbesondere im Bereich der Populärkultur, zur Beschäftigung mit „anderen“ Vergangenheiten bzw. zu einem Überdenken der überkommenen nationalstaatlichen Narrative geführt.⁴² Insbesondere der Beitrag der griechischen bzw. türkischen Medien ist dabei nicht zu unterschätzen. Die Ausstrahlung von türkischen Serien in Griechenland oder griechisch-türkisch koproduzierten Spielfilmen in der Türkei sowie die zahlreichen literarischen Veröffentlichungen auf beiden Seiten, die die Vertreibung nicht-muslimischer Bevölkerungen in der Türkei, die osmanische Vergangenheit Griechenlands oder das multikonfessionelle Zusammenleben im Osmanischen Reich thematisieren, tragen in erheblichem Maße zu einer Sensibilisierung der türkischen und griechischen Öffentlichkeit für eine gemeinsame Vergangenheit und auch das Leid des Anderen bei. Es sind vor allem private Initiativen wie die des Vereins der durch die Lausanner Verträge Ausgetauschte (Lozan Mübadilleri  Vangelis Kechriotis: From Oblivion to Obsession. The Uses of History in Recent Public Debates in Turkey. In: Historein 11 (2011), S. 100 – 124, hier S. 105, mit Verweis auf Ahmet Yildiz: Ne mutlu türküm diyebilene. Türk ulusal kimliğetno-seküler sınırları (1919 – 1938). Istanbul 2004.  Hercule Millas: The Exchange of Populations in Turkish Literature. In: Crossing the Aegean. An Appraisal of the 1923 Compulsory Population Exchange between Greece and Turkey Hrsg. von Renée Hirschon. New York/London 2003, S. 221– 231, hier S. 228. Balkanmuslime, die im Zuge des Bevölkerungsaustausches oder früher in das Osmanische Reich gekommen waren, wurden in der Folge nicht als Flüchtlinge, sondern als Migranten (muhacir) betitelt. Auch deren Flucht bezeichnet die offizielle Geschichtsschreibung nicht als solche, sondern umschreibt sie mit dem offiziellen Begriff des „Austausch“ (mübadele). Vgl. Papailias, Genres, S. 250.  Vgl. z.B. den Film Bulutlari Beklerken (Auf die Wolken warten), Türkei 2003, der die Geschichte einer Pontosgriechin in der Türkei erzählt, die in den Wirren der Vertreibungen der 1920er-Jahre als Muslimin bei einer türkischen Familie versteckt wird und überlebt und im Alter ihre griechische Identität wiederentdeckt. Der Film Dedemin insanlari (Das Volk meines Großvaters), Türkei 2011, thematisiert hingegen die Suche eines jungen Türken nach der Vergangenheit seines kretisch-muslimischen Großvaters und dessen harmonisches Zusammenlebens mit seinen christlichen Nachbarn auf der Insel vor 1923.

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Vakfı), der sich 1993 gründete, die dazu aufrufen, sich auf die Suche nach den „anderen“ (nicht sichtbaren) Vergangenheiten zu machen. Sie sind es vor allem, die durch öffentlichkeitswirksame Auftritte und die Betonung persönlicher Erinnerung an die Vertreibung bzw. Umsiedlung, an den gemeinsam erlittenen Verlust der „Heimat“, aber auch an das frühere Zusammenleben von Griechen und Türken, Bewusstsein für eine gemeinsame Geschichte schaffen. Sie tragen mit ihren persönlichen Erinnerungen zur wissenschaftlichen Debatte bei und fordern dabei die Wiederentdeckung und auch die Rekonstruktion dieser Vergangenheiten ein. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Entwicklungen in den nächsten Jahren fortsetzen und dazu beitragen, „andere“ Vergangenheiten in nationalstaatliche Narrative zu integrieren. Im Angesicht eines Europas, in dem sich immer mehr Staaten auf vermeintlich eindeutige „nationale“ Vergangenheiten festlegen, obwohl deren Gesellschaften immer bunter werden, wäre dies eindeutig zu begrüßen.

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Island histories

Geschichten über die voreuropäische Vergangenheit der Insel La Réunion Südöstlich von Madagaskar im Indischen Ozean liegt die knapp 2500 Quadratkilometer große Vulkaninsel La Réunion. Gemeinsam mit den Nachbarinseln Rodrigues und Mauritius bildet sie den Archipel der Maskarenen. Im Unterschied zu diesen ist sie aber staatlich nicht unabhängig, sondern gehört zu Frankreich – und das schon seit dem 17. Jahrhundert, sieht man einmal von ihrer kurzen Besatzung durch Großbritannien zwischen 1810 und 1815 ab.¹ La Réunion ist daher gegenwärtig eines der ältesten Territorien, die Frankreich in Übersee besitzt.² In der (meist französischsprachigen) Historiografie ist die Geschichte der Insel bis heute umstritten, ja, in der Geschichtsschreibung auf der Insel ist sie in jüngster Zeit regelrecht zu einem Zankapfel avanciert. Das gilt zumal für die Zeit ihrer Zugehörigkeit zu Frankreich.³ Es gilt ebenfalls für den Beginn ihrer europäischen Vergangenheit sowie für ihre voreuropäischen Vergangenheiten, über

 Zur Geschichte der Insel liegt eine Reihe von Überblicksdarstellungen vor, von denen hier nur drei genannt werden sollen: Sonia Chane-Kune: Aux origines de l’identité réunionnaise. Paris 2013; Daniel Vaxelaire: L’histoire de La Réunion. 2 Bde. Saint-Denis 2012– 2016 sowie Olivier Fontaine: Histoire de La Réunion et des Réunionnais, quelques mises au point. Saint-Denis 2017. Einen kurzen Überblick in deutscher Sprache bietet Walter Schicho: Die französische Kolonisierung der Inseln im Indischen Ozean. Der Mythos vom Glück und der leichten Liebe. In: Der Indische Ozean. Das afro-asiatische Mittelmeer als Kultur- und Wirtschaftsraum. Hrsg. von Dietmar Rothermund u. Susanne Weigelin-Schwiedrzik. Wien 2004, S. 227– 245, hier S. 238 – 240.  Seit ihrer Entdeckung durch die europäische Seefahrt wurde die Insel mehrfach umbenannt. Nach dem vermeintlichen Datum ihrer Entdeckung zunächst Santa Apollonia bzw. nach dem Namen ihres vermeintlichen Entdeckers Ile Mascarin/Mascareigne genannt, wurde sie von französischer Seite in den 1640er-Jahren in Ile Bourbon umgetauft, bevor sie im Gefolge der politischen Umwälzungen in Europa 1793 in Ile de la Réunion, 1806 in Ile Bonaparte, nach dem Rückfall an Frankreich im Jahr 1814 erneut in Ile Bourbon und 1848 abermals in Ile de La Réunion umbenannt wurde. Diese Bezeichnung trägt sie bis heute. Solche Umbenennungen von Inseln durch die europäischen Kolonialmächte waren im Indischen Ozean geläufig. Siehe Schicho, Kolonisierung, S. 233 – 236.  Exemplarisch dafür ist die Rezension, die Gilles Gauvins von Olivier Fontaines bereits erwähnter Histoire de la Reunion et des Réunionnais veröffentlichte: Gilles Gauvin: Quelques mises au point sur… Histoire de La Réunion et des Réunionnais. Un livre d’Olivier Fontaine. www.lebou can.fr/images/GillesGauvin/CritiqueG.GAUVINOlivierFontaineQuelquesmisesaupoint.pdf (16.08. 2018). Siehe ebenfalls die Ausführungen von Jean-François Géraud: Archéologie(s) réunionnaire(s). In: Revue de l’Océan Indien 4 (2008), S. 7– 48, hier S. 15. https://doi.org/10.1515/9783110552201-006

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die im Unterschied zur „französischen“ Zeit kaum Spuren vorliegen⁴ und die daher im Sinne Lisa Regazzonis als schriftlose Vergangenheiten verstanden werden können. Ihre Erforschung wirft dabei ebensolche Fragen und Probleme auf, wie sie sich Geschichtsschreibern bereits im 19. Jahrhundert stellten, als diese damit begannen, die Geschichte der Insel zu erzählen.⁵ „Qui se douterait“, beklagte etwa Louis Maillard in seinen Notes sur l’île de la Réunion (Bourbon) aus dem Jahr 1862, „que l’histoire de l’île de La Réunion, connue seulement depuis les temps modernes, commence par une lacune qui ne sera probablement jamais comblée?“ „Nul ne saura jamais“, schloss er daraus, „ce qui se passait ou qui passait sur la terre de Bourbon, il y a 350 à 400 ans.“⁶ Strittig in Bezug auf die voreuropäische bzw. die Anfänge der europäischen Vergangenheit sind zum einen die Identität des Seefahrers, der die Insel für Europa entdeckte, sowie der Zeitpunkt seiner Entdeckung im 16. Jahrhundert. Die einen sind der Auffassung, der portugiesische Seefahrer Pedro de Mascarenhas (1484– 1555) habe die Insel am 9. Februar 1512 entdeckt.⁷ Andere behaupten dagegen, Mascarenhas habe dem Inselarchipel nur seinen Namen gegeben. La Réunion sei bereits vor ihm von einem anderen Seefahrer entdeckt worden. Alfred North-Coombes beispielsweise meint, die Insel sei 1510 von Diogo Lopes de Se-

 Beispielsweise sind vor allem Karten aus Europa überliefert, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass arabische Seefahrer im Indischen Ozean keine Karten benutzten. Archäologische Funde sind auf der Insel bis heute nur in geringer Zahl gemacht und in die europäische Vergangenheit datiert worden. Aus dieser Überlieferungssituation lassen sich allerdings insofern keine Rückschlüsse auf die voreuropäische Vergangenheit der Insel ziehen, als auf La Réunion erst seit einigen Jahren systematisch nach archäologischen Spuren gesucht wird. S. Service régional de l’archéologie: Bilan scientifique de l’Île de La Réunion. Saint-Denis 2017. www.ac-re union.fr/fileadmin/ANNEXES-ACADEMIQUES/01-SERVICES-ACADEMIQUES/service-daac/patri moine/archeologie/bsr-archeo-2011-2015 -1.pdf (27.08. 2018). S. zur kartografischen Darstellung der Insel: Fabien Brial: La Réunion au fil des cartes. Saint-Denis 2016, sowie die dort exzellent abgedruckten Karten; zu den nautischen Praktiken arabischer Seefahrer: Gerald R. Tibbetts, The Role of Charts in Islamic Navigation in the Indian Ocean. In: The History of Carthography. Bd. 2, Buch 1: Cartography in the Traditional Islamic and South Asian Societies. Hrsg. John Brian Harley u. David Woodward. Chicago 1992, S. 256 – 262. Ich danke Vadim Oswalt für diesen Hinweis; zur Archäologie auf der Insel: Géraud, Archéologie(s), bes. S. 8 u. 15.  Zu den Anfängen der Geschichtsschreibung über die Erstbesiedelung der Insel s. die Ausführungen von Jean-François Géraud: Le premier peuplement de Bourbon vu par les auteurs du XIXe siècle. www.cresoi.fr/A-lire-Jean-Francois-Geraud-sur-le (11.08. 2018).  Louis Maillard: Notes sur l’île de la Réunion (Bourbon). Paris 1862, zitiert nach Géraud, Peuplement.  So Brial, Réunion, S. 12.

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queira (um 1465 – um 1530) entdeckt und Santa Apollonia genannt worden.⁸ Strittig ist zum anderen und vor allem die menschliche Besiedelung der Insel – der Zeitpunkt ihrer Besiedelung im 17. Jahrhundert, noch mehr aber die Frage, ob es in voreuropäischer Zeit eine längerfristige Erstbesiedelung gab, und wenn ja, in welcher Form und wie lange.⁹ Zwar gilt als gesichert, dass die Insel unbewohnt war, als sie im 16. Jahrhundert für Europa entdeckt und im 17. Jahrhundert von der Compagnie des Indes orientales für Frankreich in Besitz genommen und besiedelt wurde.¹⁰ Doch gehen die Meinungen auseinander, ob die Besiedelung im 17. Jahrhundert tatsächlich den Anfang ihrer Menschheitsgeschichte markiert. Immerhin befuhren arabische Seefahrer¹¹ den Indischen Ozean schon seit Jahrhunderten und kannten die Insel deshalb vermutlich lange, bevor Europäer von ihrer Existenz erfuhren.¹²  Alfred North-Coombes: La Découverte des Mascaraignes par les Arabes et les Portugais. PortLouis 1979, S. 75 – 93. Daniel Vaxelaire: L’histoire de La Réunion. Bd. 1: Des origines à 1848. SaintDenis 2012, S. 36, meint, die Insel sei vor 1516, vermutlich zwischen 1505 und 1512, von einem unbekannten Seefahrer entdeckt worden.  Géraud, Archéologie(s), S. 15, spricht von der Problematik „du premier occupant“. Vergleichbare Ungewissheiten bestehen auch in Bezug auf die Menschheitsgeschichte anderer Inseln im Indischen Ozean, allen voran in Hinblick auf die Bevölkerung Madagaskars, deren Sprache und Kultur darauf hinweisen, dass diese nicht aus Afrika, sondern aus Asien stammt. Ausführlich: Hubert Deschamps: Histoire de Madagascar. Paris 1961, S. 13 – 59; ferner Vaxelaire, Histoire, S. 24; s. ferner den Bericht des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Leipzig über jüngste ethnologische Forschungsergebnisse zu Madagaskar: Reis und Mungobohnen als archäologische Quellen. Nutzpflanzen belegen Besiedlung Madagaskars aus Südostasien, 30. Mai 2016. www. mpg.de/10535469/archaeologie-nutzpflanzen-besiedelung-madagaskar (23.08. 2018).  Die Compagnie des Indes orientales hatte im Rahmen der kolonialen Expansionsbestrebungen der französischen Krone sowohl das Monopol über die Schifffahrt im Indischen Ozean als auch die Konzession für die Inbesitznahme von Madagaskar und den benachbarten Inseln erhalten. S. Frédéric Régent: 1664. Colbert et compagnies. In: Histoire mondiale de la France. Hrsg. von Patrick Boucheron. Paris 2017, S. 321– 325, hier S. 322.  Gemeint sind sämtliche islamischen Seefahrer, die den Indischen Ozean befuhren. S. Vaxelaire, Histoire, S. 28.  Auf der Alberto Cantino zugeschriebenen Planisphäre aus dem frühen 16. Jahrhundert sind östlich von Madagaskar drei Inseln mit arabischen Namen eingezeichnet, die den Inselarchipel der Maskarenen darstellen könnten. Ob es sich dabei tatsächlich um die drei Inseln handelt, ist in der Geschichtsschreibung jedoch umstritten. S. dazu die Ausführungen von Brial, Réunion, S. 8, sowie von Tibbetts, Role, S. 260 – 262; ferner die kritischen Überlegungen zur Identität der drei Inseln von Vaxelaire, Histoire, S. 28. Ausführlich zur Präsenz islamischer Seefahrer im Indischen Ozean: Michael Pearson: The Indian Ocean. London/New York 2003, S. 62– 112; Edward A. Alpers: The Indian Ocean in World History. Oxford 2014, S. 40 – 68; zu den jahrhundertealten Austauschbeziehungen im Indischen Ozean vor der Ankunft portugiesischer Seefahrer s. Philippe Beaujard: Les mondes de l’océan Indien. L’océan Indien, au cœur des globalisations de l’Ancien Monde (7e–15e siècles). Paris 2012. Einen guten Überblick zu längerfristigen Entwicklungen im

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Mit Candide et l’Ancien Puits. Libres considérations sur le passé lointain des îles Mascaraignes et de l’Océan Indien sowie der Histoire de la Réunion et des Réunionnais sind in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung La Réunions 2006 bzw. 2017 zwei Bücher erschienen, deren Autoren vollkommen gegensätzliche Thesen in Hinblick auf die voreuropäische Vergangenheit der Insel vertreten.¹³ Während der Autor der ersten Schrift – Roger Théodora – der Meinung ist, La Réunion sei in voreuropäischer Zeit von Bevölkerungsgruppen des Indischen Ozeans besiedelt worden, geht der Verfasser der zweiten – Olivier Fontaine – davon aus, dass die Insel in voreuropäischer Zeit „une île déserte“¹⁴ gewesen sei.¹⁵ Diese gegensätzlichen Auffassungen über die voreuropäische Vergangenheit der Insel sollen im Folgenden in Hinblick auf das Anliegen des vorliegenden Sammelbandes gegenübergestellt werden.¹⁶ Dazu werden zunächst die Biografien beider Geschichtsschreiber sowie die Motive und Intentionen ihres Schreibens verglichen, anschließend die Frage untersucht, wie sie sich mit der schriftlosen voreuropäischen Vergangenheit auseinandersetzen, welche Geschichten sie darüber schreiben und welche Zeugnisse sie darin verwenden, und zuletzt die Relevanz und Brisanz dieser Geschichten in der Gegenwart diskutiert.

Indischen Ozean als Raum bietet Kenneth McPherson: The History of the Indian Ocean Region. A Conceptual Framework. In: The Great Circle 3 (1981), S. 10 – 19.  Roger Théodora: Candide et l’Ancien Puits. Libres considérations sur le passé lointain des îles Mascaraignes et de l’Océan Indien. Sainte-Marie 2006; Fontaine, Histoire.  Fontaine, Histoire, S. 27.  Erwähnenswert sind des Weiteren die zum Mythos geronnenen, Wissenschaft und Fiktion verbindenden Révélations du Grand Océan von Jules Hermann, die Hermanns Gattin 1927 posthum veröffentlichte und die von Nicolas Gérodou unlängst neu herausgegeben wurden. Der auf La Réunion geborene Hermann erzählt darin die Geschichte eines fiktiven Kontinents Lemurien, der sich in Form eines Halbmondes vom Indischen Ozean bis nach Patagonien erstreckte und durch einen Kometeneinschlag unterging. Dieser von Lemuren bewohnte und nach diesen benannte Kontinent war nach Hermann die Wiege der Menschheit, deren Bewohner sich auf den Weg machten, die Welt zu erobern. Da Hermann der Auffassung war, dass die Geschichte nicht alle Fragen beantworten könne und andere Wissenschaften wie die Ethnologie, die Linguistik und die Geologie zu Rate ziehen müsse, stützt er seine Erzählung unter anderem auf eigene Beobachtungen in Sprache und Natur. So hält er die madagassische Sprache für die Ursprache sämtlicher Sprachen und das Bergrelief auf La Réunion für von Menschenhand geformt. S. Jules Hermann: Révélations du Grand Océan. Hrsg. von Nicolas Géroudou. 4 Bde. Saint-Pierre 2017– 2018. Zu dem von Hermann imaginierten Lemurien s. die Ausführungen von Nicolas Gérodou: La Lémurie intérieure de Jules Herman. In: Jules Hermann. Le Préhistorique à l’Île Bourbon. Les Révélations du Grand Océan. Hrsg. von Nicolas Gérodou. Saint-Pierre 2015, S. 6 – 12.  Der Obertitel des Beitrags lehnt sich wenn auch in abgewandelter Form, an folgende Studie an: Marshall Sahlins: Islands of History. Chicago 1987.

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1 Die Geschichtsschreiber 1.1 Biografien Die Biografien der beiden Geschichtsschreiber sind von einer Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden geprägt. Gleich ist beiden Autoren zunächst ihre Tätigkeit als Lehrer im staatlichen Schulwesen. Théodora ist pensionierter Englisch- und Französischlehrer, der nach seinem Studium in Paris in verschiedenen Mittelschulen (collèges) der Insel tätig war, zuletzt als Lehrer regionaler Kulturen. Fontaine unterrichtet bis heute Geschichte in der Sekundarstufe 2 eines beruflichen Gymnasiums auf der Insel.¹⁷ Gemeinsam ist beiden Autoren sodann die geografische Herkunft. Beide stammen von der Insel – Théodora wurde in Saint-Denis, Fontaine in Saint-Paul geboren. Beide gehören deshalb zu denjenigen, die auf der Insel als „créoles“ bezeichnet werden und dort gleichsam die indigene Bevölkerung konstituieren. Das ist insofern von Relevanz, als in der Inselbevölkerung einige der Meinung sind, dass nur Einheimische das Recht hätten, die Geschichte der Insel zu schreiben. Die Konflikte um die Nachfolge des Historikers Sudel Fumas, der an der Université de La Réunion für die Geschichte der Sklaverei, Kontraktarbeit („engagisme“) und Wirtschaft in den Kolonien des südwestlichen Indischen Ozeans im 18. und 19. Jahrhundert zuständig war, führen das sinnfällig vor Augen.¹⁸ Gemeinsam ist beiden Autoren zuletzt, dass sie seit ihrer Geburt auf der Insel leben, Fontaine fortdauernd, Théodora mit einer Unterbrechung in der Zeit seines Studiums. Unterschiedlich ist dagegen das Profil beider Männer als Geschichtsschreiber. Roger Théodora ist ein Historiograf, der sich in seiner freien Zeit seit Jahrzehnten mit der Geschichte der Insel, vor allem ihrer voreuropäischen Vergangenheit,

 S. Roger Théodora. In: Réunionnais du monde: 1001 Célébrités. www.reunionnaisdumonde. com/spip.php?rubrique92 (18.08. 2018).  S. u. a. folgende Medienbeiträge: Arnaud Wajdik: Une enseignante, rejetée à La Réunion parce qu’elle est nantaise. In: Ouest-France, 7. Oktober 2016. www.ouest-france.fr/pays-de-la-loire/nantes44000/universite-le-combat-d-une-enseignante-rejetee-la-reunion-4542758 (20.08. 2018); David Ponchelet: Virginie Chaillou, l’universitaire nantaise dont la nomination à La Réunion fait polémique, dénonce un climat „nauséabond“. In: Radio 1ère, 13. Oktober 2016. https://la1ere.francetv info.fr/virginie-chaillou-universitaire-nantaise-dont-nomination-reunion-fait-polemique-denonceclimat-nauseabond-406125.html (20.08. 2018); Ti Kreol: Lettre ouverte à Virginie Chaillou-Atrous, „La Nantaise“. In: Ti Kréol kont gro profitèr. Blog Réyoné pou in kritik sosyal, èk larogans antikolonyal, 14. Oktober 2016. www.tikreol.re/lettre-ouverte-a-virginie-chaillou-atrous-la-nantaise/ (20.08. 2018).

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beschäftigt,¹⁹ aber nicht über eine geschichtswissenschaftliche Ausbildung verfügt und deshalb auch als „Barfußhistoriker“ bezeichnet werden könnte, wie der Journalist Volker Ulrich in den 1980er-Jahren die in dieser Zeit aufkommenden alternativen Geschichtswerkstätten in Die Zeit nannte.²⁰ Candide et l’Ancien Puits. Libres considérations sur le passé lointain des îles Mascaraignes et de l’Océan Indien ist Théodoras erste historische Schrift und markiert entsprechend sein Debüt als Geschichtsschreiber. Olivier Fontaine studierte im Gegensatz dazu an der Université de La Réunion Geschichte, wurde dort 2014 mit einer Dissertation über die Geschichte der Verteidigung der Insel im Ancien Régime promoviert und ist der Universität bis heute als assoziierter Forscher des Centre de Recherches sur les Sociétés de l’Océan Indien (CRESOI) verbunden. Darüber hinaus unterrichtet und schreibt er seit Jahren Geschichte. Die Titel im Literaturverzeichnis seiner Histoire de la Réunion et des Réunionnais machen das deutlich.²¹ Olivier Fontaine ist daher jemand, den man als einen langjährigen, geschichtswissenschaftlich ausgebildeten Berufshistoriker und Geschichtsschreiber bezeichnen könnte. Unterschiedlich sind auch die Positionen, die beide Autoren in den Debatten bezogen, die seit Langem über die kulturelle Identität der Insel sowie ihren politischen Status, vor allem ihre Zugehörigkeit zu bzw. Unabhängigkeit von Frankreich geführt werden – auf La Réunion selbst wie im tausende Kilometer entfernten Frankreich.²² Von der Annahme ausgehend, dass es auf der Insel eine eigene kreolische Identität gebe, diese aber bedroht sei, setzt sich Théodora seit vielen Jahren aktiv für den Schutz bzw. Erhalt der kreolischen Sprache und Kultur auf der Insel ein. So macht er sich für kreolisch-französischen Unterricht in den Schulen der Insel stark. Ebenso ist er Mitglied im Mouvman po lo respé lidantité kiltirel rényoné. ²³ Darüber hinaus ist er in Vereinigungen aktiv, welche auf die politische Loslösung der Insel von Frankreich hinarbeiten. Während seines Studiums in Paris Anfang der 1960er-Jahre gehörte er zu jenen Studierenden, die sich

 Seinen eigenen Ausführungen zufolge beschäftigt er sich mindestens seit 1980 mit der Vergangenheit der Insel. S. Théodora, Candide, S. 299.  Volker Ulrich: Spuren im Alltag. „Barfußhistoriker“ – woher sie kommen und was sie wollen. In: Die Zeit 45. 2. November 1984.  S.: Fontaine, Histoire, S. 301 f.; ferner die Kurzbiografie Olivier Fontaines: Bio Express d’Olivier Fontaine: www.clicanoo.re/Societe/Article/2012/08/19/Bio-Express-dOlivier-Fontai ne_217475 (11. 08. 2018), sowie die Liste der assozierten Forscher des CRESOI: Centre de Recherches sur les Sociétés de l’Océan Indien: Les chercheurs associés. www.cresoi.fr/Les-cher cheurs-associes (26. 08. 2018).  Zu diesen Debatten s. u. a. die Ausführungen von Gilles Gauvin: Créolisation linguistique et créolisation politique à la Réunion. Enjeux géopolitiques autour d’une revendication identitaire. In: Hérodote 105 (2002), S. 73 – 84.  Gauvin, Créolisation, S. 83.

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von der Association générale des étudiants réunionnais en métropole (AGERM) abspalteten und am 24. Oktober 1960 die Union Générale des Etudiants Créoles de la Réunion (UGECR) gründeten, die sich offen für die Emanzipation von Frankreich aussprach.²⁴ In den 1990er-Jahren schloss er sich dem 1959 gegründeten Parti communiste réunionnais (PCR) an, der sich seit seiner Gründung im Jahr 1959 ebenfalls für die Emanzipation der Insel von Frankreich stark macht.²⁵ Die von der kommunistischen Partei nach der Jahrtausendwende geplante, aber nie eingerichtete Maison des Civilisations et de l’Unité Réunionnais (MCUR) befürwortete Théodora indessen nicht, weil das ihr zugrunde liegende Konzept einer gleichermaßen multiethnischen wie multikulturellen Gesellschaft La Réunions²⁶ seiner Vorstellung von einer gemeinsamen kreolischen Identität eines Teils der Inselbevölkerung widersprach.²⁷ Fontaine gehört demgegenüber zum Kreis derjenigen, die sich für die kulturelle und politische Zugehörigkeit zu Frankreich einsetzen und damit gleichsam als Gegenfraktion von Autonomisten wie Théodora betrachtet werden können. Auch er protestierte gegen die Maison des Civilisations et de l’Unité Réunionnais, allerdings aus ganz anderen Gründen als Théodora. Sein Protest richtete sich gegen die politische Vereinnahmung der Inselgeschichte und die Art und Weise, wie in der geplanten Einrichtung die Geschichte der Insel gelesen, geschrieben und gelehrt werden sollte. Anders war auch die Form seines Protests. Gemeinsam mit dem Historiker Alexis Miranville, der Fontaines Histoire de la Réunion et des Réunionnais mit einem Vorwort einleitet, rief er eine Vereinigung ins Leben, die sich öffentlich gegen die Ausrichtung der geplanten Einrichtung aussprach und

 Gauvin, Créolisation, S. 77; Anjali Prabhu: Hybridity. Limits, Transformations, Prospects. Albany 2007, S. 46 f.  Gauvin, Créolisation, passim.  Zur Maison des Civilisations et de l’Unité Réunionnais s. die Ausführungen von Françoise Vergès, die das Projekt wissenschaftlich begleitete: Françoise Vergès: La Maison des civilisations et de l’unité réunionnaise. Un carrefour d’échanges. In: Hommes et Migrations 1275 (2008): Minorités et migrations en Bulgarie, S. 198 – 201. Vergès zufolge waren mit der Maison des Civilisations et de l’Unité Réunionnais mehrere Ziele verbunden, und zwar „mettre en scène la diversité comme condition de l’unité; restituer la Réunion dans son bassin civilisationnel, le monde indiaocéanique; montrer les conditions de l’émergence de ce monde et des six mondes qui ont ‚fait‘ la Réunion – africain, chinois, malgache et insulaire, musulman, hindou, français; présenter l’intraculturalité réunionnaise et son processus – la créolisation; expliciter et valoriser le modèle réunionnais et ses valeurs de tolérance, de solidarité, de plasticité; mettre en scène la rencontre comme échange et dialogue“ (S. 199).  Beispielhaft dafür ist folgende Veröffentlichung: Roger Théodora: Maison des civilisations, graphie 2001. Outils modernes de déstruction de l’identité réunionnaise. www.potomitan.info/ kabar/kabar2theo.html#1 (18.08. 2018).

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ihm wie Alexis Miranville als den Sprechern der Gruppe seitens des PCR den Vorwurf einbrachte, Revisionisten zu sein.²⁸

1.2 Motive und Schreibintentionen Beide Verfasser machen in ihren Vorworten fehlerhafte Vorstellungen über die Inselvergangenheit zum Ausgangspunkt ihrer Schrift. Beide suggerieren damit sowohl, dass es eine richtige Version von der Vergangenheit gibt – Théodora spricht von „vérité historique“²⁹ –, als auch, dass sie diese kennen. Wie sie das angesichts der Schriftlosigkeit der voreuropäischen Vergangenheit behaupten können, wird weiter unten gezeigt. Bis heute, so Théodora, begännen Dissertationen mit den fehlerhaftesten Annahmen über den Namen des ersten Entdeckers und das Datum seiner Entdeckung. Die Frequentierung der Insel durch Menschen vor der Entdeckung werde sogar vollkommen ausgeklammert.³⁰ Gestützt auf seine mehr als zwei Jahrzehnte langen Erfahrungen als Lehrer diagnostiziert Fontaine demgegenüber auf der Insel einerseits die Präsenz einer „vision partielle et partiale de l’histoire de La Réunion“. Sie bestehe in der Auffassung, dass die Insel seit jeher durch eine autochthone, wahrscheinlich afrikanische Bevölkerung bewohnt sei, die von einer anderen Bevölkerung, wahrscheinlich der französischen, kolonisiert und versklavt worden sei. Andererseits konstatiert er „une certaine vision nombriliste et victimaire“.³¹ Die Gründe, mit denen beide Verfasser die vermeintlich fehlerhaften Vorstellungen über die Inselvergangenheit erklären, sind dabei je unterschiedlich. Théodora macht dafür die wissenschaftliche Geschichtsschreibung Frankreichs seit dem 18. Jahrhundert verantwortlich. Auf Grundlage ebenso oberflächlicher wie ideologischer Analysen habe diese Geschichten als Wahrheiten präsentiert, die umso weniger in Frage gestellt worden seien, je prominenter ihre Autoren

 Alexis Miranville: Préface. In: Fontaine, Histoire, S. 9 f., hier S. 9, reiht diesen Protest noch in einen weiteren Zusammenhang ein, und zwar in die Proteste französischer Historiker gegen die Zunahme von Erinnerungsgesetzen bzw. die Vereinnahmung der Geschichte durch die Politik in Frankreich im Jahr 2005, die in die Gründung der Vereinigung „Liberté pour l’histoire“ mündete. Wie die Internetpräsentation der Vereinigung zeigt, hat sich diese nach ihrer Gründung internationalisiert und existiert bis heute: www.lph-asso.fr (15.08. 2018). Zur politischen Vereinnahmung der Geschichte durch die Politik in Frankreich insgesamt s. folgenden Sammelband: Frankreich Jahrbuch 2010: Frankreichs Geschichte. Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit. Wiesbaden 2011.  Théodora, Candide, S. 19 u. 40.  Théodora, Candide, S. 9.  Fontaine, Histoire, S. 13.

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gewesen seien.³² Sein Blick auf die Geschichtsschreibung ist dabei allerdings insofern selbst „kolonial“ geprägt, als er die postkolonialen Ansätze in der Geschichtsschreibung Frankreichs, die insbesondere seit der Jahrtausendwende zu Um- und Andersdeutungen der französischen Kolonialgeschichte geführt haben, in seine Überlegungen nicht einbezieht.³³ Fontaine hingegen erklärt die „mémoire erronée“³⁴, wie er die unterstellten fehlerhaften Vorstellungen über die Vergangenheit der Insel nennt, damit, dass jungen Leuten wie Erwachsenen die Inselgeschichte nicht bekannt sei. Und dieses Unwissen wiederum führt er auf drei Akteursgruppen zurück: erstens auf den französischen Staat, der mit der Vermittlung des „roman national“³⁵ im Geschichtsunterricht die Regionalgeschichte vernachlässigt habe, zweitens und in Anspielung an die oben erwähnten Identitätsdebatten auf die Lokalpolitik auf der Insel, die, flankiert von einer politischen Geschichtsschreibung, die Geschichte ideologisch-politisch aufgeladen habe, und drittens auf die Geschichtsschreibung, welche La Réunion mit den übrigen Kolonien gleichgesetzt und zudem bewirkt habe, dass die Inselgeschichte allein aus kolonialer Perspektive gelesen werde.³⁶ Dass auch er sich in diesem Zusammenhang in keiner Weise mit postkolonialen Arbeiten in der Geschichtsschreibung auseinandersetzt oder diese zitiert, erstaunt insofern nicht, als er in seiner Schrift zu zeigen versucht, dass La

 Théodora, Candide, S. 9.  Treibende Kräfte waren dabei u. a. Pascal Blanchard und Nicolas Bancel.  Fontaine, Histoire, S. 14.  Die Kritik am „roman national“ ist alles andere als neu. Tatsächlich setzen sich französische Geschichtsschreiber und -schreiberinnen – wissenschaftliche wie außerwissenschaftliche – seit Jahren kritisch mit dem „roman national“ auseinander, indem sie ihn entweder als Erfolgsgeschichte des französischen Nationalstaats seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert dekonstruieren, die Nationalgeschichte Frankreichs „neu“ bzw. anders erzählen oder gar Gegenerzählungen präsentieren. Beispiele für Dekonstruktionen: Suzanne Citron: Le mythe national. L’histoire de France en question. Paris 1989; David Gaussen: L’invention de l’histoire nationale en France (1789 – 1848). Marseille 2015; für historische Neuerzählungen: Histoire mondiale de la France. Hrsg von Patrick Boucheron. Paris 2017; ferner folgende noch nicht vollständig erschienene Reihen: Jean Chapoutot (Hrsg): L’Histoire de la France contemporaine. 12 Bde. Paris 2012 ff.; Histoire dessinée de la France. Paris 2017 ff.; zuletzt für Gegenerzählungen: siehe ferner die Dokumentarfilme, die der öffentlich-rechtliche Fernsehsender France Ô in der Reihe Contre-histoire de la France d’outre-mer seit einiger Zeit ausstrahlt, u. a.: Xavier-Marie Bonnot: La loi du plus fort. Ausgestrahlt auf France Ô am 8. Juni 2018; Xavier-Marie Bonnot u. Dorothée Lachaud: Nos ancêtres les Gaulois. Ausgestrahlt auf France Ô am 8. Juni 2018. In der Geschichtsschreibung Frankreichs wird die nationale Meistererzählung allerdings bis heute verfochten. Beispiel dafür ist folgendes Werk: Jean-Christian Petitfils: Histoire de la France. Le vrai roman national. Paris 2018.  Fontaine, Histoire, S. 14 f.

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Réunion im Unterschied zu anderen Überseegebieten Frankreichs keine Kolonie war. Die unterschiedlichen Gründe für die fehlerhaften Vorstellungen von der Inselvergangenheit beruhen wiederum auf unterschiedlichen Annahmen beider Autoren über die Zuverlässigkeit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und damit verbunden über die Autorität der von dieser produzierten Erkenntnis. Théodora begegnet ihr mit Skepsis bzw. Misstrauen und zieht ihre Autorität entsprechend in Zweifel. Zum einen unterstellt er ihr ideologische Voreingenommenheit, zum anderen hält er sie für unfrei und stellt damit ein wesentliches Merkmal wissenschaftlichen Arbeitens in Frage, sprich die wissenschaftliche Freiheit.³⁷ Die ideologische Voreingenommenheit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung führt er insbesondere auf Denkmuster und Weltbilder zurück, die aus der europäischen Kolonialzeit stammen. Die Unfreiheit begründet er dagegen mit der Autorität, die einzelne Wissenschaftler und damit auch die von ihnen produzierten Erkenntnisse genössen. Fontaine hingegen hält die wissenschaftliche, auf schriftlichen Zeugnissen basierende Geschichtsschreibung für die einzig zuverlässige Instanz, um Erkenntnisse über die Vergangenheit zu produzieren, denn während politische Publikationen für eine Sache argumentierten, beschränke sie sich darauf, Fakten wiederzugeben. „Un ouvrage politique“, so seine Auffassung, „s’attache à argumenter au profit d’une cause, pendant que l’ouvrage scientifique se propose de dire des faits.“³⁸ Wissenschaftliche Geschichtsschreibung ist für ihn demnach Geschichtsschreibung, die anhand der schriftlichen Überlieferung im Ranke’schen Sinne erzählt, wie es gewesen sei. Beide Autoren wollen in ihren Büchern daher auch unterschiedliche Arten von Geschichte schreiben. Théodora erläutert in seinem Vorwort, sein Buch als „non-historien“, „non-géographe“, „non-scientifique“ zu schreiben, um eine Gesellschaft zu provozieren, die er für konformistisch und mumifiziert hält, und grenzt sich damit explizit von anderen Formen der Geschichtsschreibung ab, insbesondere von der universitären Geschichtsschreibung und ihren Zwängen.³⁹ Die Freiheit, die er sich nimmt, deutet er dabei bereits im Untertitel seines Buches an. Fontaine hingegen will eine wissenschaftliche, und das heißt implizit: unpolitische, da zweckfreie Geschichte der Insel schreiben und darin einerseits die globalen Verflechtungen, andererseits die Einzigartigkeit der Insel deutlich machen.⁴⁰

   

Théodora, Candide, S. 9. Fontaine, Histoire, S. 15, Anm. 3. Théodora, Candide, S. 11 f., zit. S. 11. Fontaine, Histoire, S. 15.

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2 Eine Insel – zwei Geschichten⁴¹: Die voreuropäische Vergangenheit in den beiden Büchern So unterschiedlich die Schreibintentionen beider Autoren, so verschieden sind auch die Geschichten, die sie in ihren Büchern von der voreuropäischen Vergangenheit präsentieren. Théodora erzählt in seiner Schrift die Geschichte seiner jahrzehntelangen Suche nach Spuren von der voreuropäischen Vergangenheit La Réunions, genauer: seiner Suche nach Indizien, die seine Annahme bestätigten, dass die Insel in voreuropäischer Zeit durch Bevölkerungsgruppen des Indischen Ozeans besiedelt gewesen bzw. frequentiert worden sei. Im Mittelpunkt der von ihm rekonstruierten Spurensuche steht er dabei selbst. Erkennbar ist das nicht zuletzt daran, dass er seine Geschichte aus der Ich-Perspektive schildert und darin somit gleichermaßen als Erzähler wie als Suchender in Erscheinung tritt.⁴² Théodoras Geschichte besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil verifiziert bzw. falsifiziert der Autor Thesen der Geschichtsschreibung in Hinblick auf die Entdeckung der Insel. Ferner arbeitet er heraus, dass bereits A. G. Garsault die These formulierte, auf der Insel seien schon in voreuropäischer Zeit Menschen gewesen, als er für die Weltausstellung 1900 seine Notice sur La Réunion veröffentlichte.⁴³ Diese These sei aber in der Geschichtsschreibung nicht weiterverfolgt, ja, in der Folge sogar widerlegt worden – zu Unrecht, wie Théodora im weiteren Verlauf seines Buches zeigen wird. Für die Fehlerhaftigkeit der Geschichtsschreibung wie das Schicksal, das Garsaults These ereilte, macht Théodora in erster Linie die Geschichtsschreibung selbst verantwortlich. Zunächst habe diese es vor allem an Kritik und Sorgfalt gegenüber den Zeugnissen wie den Geschichten aus zweiter Hand fehlen lassen. Später sei sie dann kolonial bzw. ideologisch geprägt gewesen und habe die Inselgeschichte absichtlich gefälscht. Théodora macht sich somit nicht nur zum Prüfer der historiografischen Schrifterzeugnisse über die Inselvergangenheit. Er erhebt sich zugleich zum Richter über die Geschichtsschreiber und suggeriert

 Der Titel ist angelehnt an Schicho, Kolonisierung, S. 236.  Seine Spurensuche wie die Erzählung darüber ähneln stark dem Vorgehen Jules Hermanns in seinen Révélations du Grand Océan, auch wenn Hermann darin, wie weiter oben bereits erläutert, letztlich eine vollkommen andere Welt entwirft. S. Anm. 15.  A. G. Garsault: Notice sur La Réunion. Paris 1900; s. ebenfalls Théodora, Candide, S. 43 – 45.

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damit, neben der historischen Wahrheit ebenfalls die Handlungsmotive der historischen Akteure der Geschichtsschreibung zu kennen.⁴⁴ Ausgehend von den herausgearbeiteten Unzulänglichkeiten der Historiografie setzt sich Théodora im zweiten, aus zwei Abschnitten bestehenden Teil seiner Geschichte kritisch mit den europäischen Entdeckungen und ihren historischen Akteuren auseinander, bevor er sich im dritten, ebenfalls zwei Kapitel umfassenden Teil auf den Weg macht, um nach Indizien für die Besiedelung und Frequentierung der Insel in voreuropäischer Zeit zu suchen. Indem er die beiden Abschnitte seiner Indiziensuche mit „Un faisceau d’indices sur le passé préeuropéen des Mascaraignes“ sowie „Les Mascaraignes et l‘histoire préuropeenne de l’Océan Indien“ überschreibt, verdeutlicht er zugleich, dass die Inseln des Maskaren-Archipels für ihn eine gemeinsame voreuropäische Vergangenheit besitzen, die Geschichte La Réunions also mit anderen Worten zugleich die Geschichte seiner Nachbarinseln ist.⁴⁵ In seine Spurensuche bezieht er sowohl archäologische, schriftliche und mündliche Zeugnisse als auch eigene Beobachtungen ein, ohne dabei die Zuverlässigkeit dieser Zeugnisse und noch weniger die der eigenen Beobachtungen und Assoziationen immer in Frage zu stellen. Damit billigt er nicht nur seinen Zeugen und sich selbst jene Autorität zu, die er der Geschichtsschreibung über die Insel und ihren Zeugen verweigert. Er erhebt sich auch zu demjenigen, der darüber entscheidet, wem diese Autorität zusteht und wem nicht. Ausgangspunkt seiner Spurensuche und Kronzeuge seiner These ist ein archäologisches Zeugnis, ein Brunnen: der sogenannte „Ancien Puits“ (ebenfalls „Puits arabe“, „Puis de Takamaka“, „Puits de la Ravine Ango“ und „Puits de Babet“ genannt⁴⁶), auf den bereits Garsault zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Argumentation stützte. 1972 datierte eine archäologische Kommission die Herkunft des Brunnens auf das Jahr 1830.⁴⁷ Théodora geht aber davon aus, dass der

 Théodora, Candide, S. 19 – 86.  Théodora, Candide, S. 87– 278 bzw. S. 279 – 446.  Théodora, Candide, S. 312 f.  Leiter der Kommission war Jean Cazagnes, ein Mitarbeiter im Service des fouilles et antiquités des Pariser Ministère de la Culture. Ihm zur Seite standen die Leiterin des Departementalarchivs der Insel, der Leiter des Museums Léon Dierx sowie ein nicht namentlich bekannter Historiker. Théodora zufolge verfügte niemand der Beteiligten über archäologische Expertise. Cazagnes sollte sich ursprünglich vom 5. bis zum 12. Oktober 1972 auf La Réunion aufhalten, kam aber letztlich erst am 8. Oktober dort an, sodass die Besichtigung wesentlich kursorischer ausfiel als geplant. Ziel seines Aufenthalts auf der Insel war „l’application de la loi du 10 novembre 1965 déclarant exécutoire la loi du 29 septembre 1940 sur les fouilles archéologiques“. Konkret sollte Cazagnes prüfen, ob es notwendig war, auf der Insel einen ähnlichen archäologischen Dienst (Direction de Circonscription archéologique) einzurichten, wie er im Mai desselben Jahres bereits

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Brunnen aus der voreuropäischen Vergangenheit der Insel stammt,⁴⁸ und begibt sich daher auf die Suche nach Indizien, die seine Annahme bestätigen. Zum einen bringt er den „Ancien Puits“ zum Sprechen, indem er ihn selbst wiederholt in Augenschein nimmt und Anwohnende befragt. Zum anderen informiert er sich in französischsprachigen Übersetzungen arabischsprachiger Schriften über Praktiken der Wassergewinnung und Nutzung unterirdischen Wassers in der islamischen Welt sowie der Wasserversorgung arabischer Seefahrer entlang ihrer Routen im Indischen Ozean.⁴⁹ Neben Beweisen für die „arabische“ Herkunft des „Ancien Puits“ findet Théodora weitere Indizien, die für die Anwesenheit von Menschen aus dem Indischen Ozean auf der Insel sprechen: in der mündlich gesprochenen Sprache, in archäologischen Funden auf der Insel und in schriftlichen Beschreibungen, z.B. nautische Praktiken, Winde, Strömungen und Routen im Indischen Ozean sowie arabische Pflanzennamen, Überreste von Schildkröten und menschliche Knochen, die 1973 in Saint-Leu und 1983 in Saint-Pierre gefunden wurden. Wie die Herkunft des Brunnens wurde die Provenienz dieser Knochen in das 19. Jahrhundert datiert.⁵⁰ Wie beim Brunnen hält Théodora aber die Knochen für älter und nimmt an, dass sie aus der voreuropäischen Inselvergangenheit stammen.⁵¹ Alle diese Indizien führen Théodora zu dem Schluss, dass La Réunion in den ersten Jahrhunderten nach der christlichen Zeitrechnung von Arabern bewohnt und zugleich von den Vezos, einer im Süden Madagaskars lebenden, aus dem Westen des Indischen Ozeans stammenden Bevölkerungsgruppe,⁵² auf ihrer Rückfahrt dorthin frequentiert worden sei,⁵³ bevor die arabische Bevölkerung die Insel infolge eines Vulkanausbruchs fluchtartig verlassen habe und diese dar-

auf den Inseln Guadeloupe und Martinique sowie in Guyane etabliert worden war. Cazagnes kam zu dem Schluss, dass die wenigen Überreste eine solche Abteilung auf La Réunion nicht rechtfertigen. Auf seinen Vorschlag wurde auf der Insel jedoch „une antenne archéologique“ eingerichtet. S. Jean Cazagnes, RAPPORT DE MISSION à l’ILE de La Réunion (o. J.), abgedruckt in: Théodora, Candide, S. 473 – 475, zit. S. 475; ferner Théodora, S. 300 f., sowie Géraud, Archéologie(s), S. 7.  Théodora, Candide, S. 299 – 320.  Théodora, Candide, S. 321– 327.  Konkret wird vermutet, dass es sich bei diesen Funden entweder um einen ehemaligen Friedhof oder um ein Massengrab von Menschen handelt, die Mitte des 19. Jahrhunderts an Röteln oder an Cholera verstarben. Worauf sich diese Hypothesen stützen, lässt sich der Literatur allerdings nicht entnehmen. S. Géraud, Archéologie(s), S. 16.  Théodora, Candide, S. 327– 337, 367– 446.  Wie bereits erwähnt, ist die Herkunft der Bevölkerung Madagaskars jedoch bis heute nicht vollkommen geklärt. S. Anm. 9.  Théodora, Candide, S. 411– 446.

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aufhin in Vergessenheit gerate sei, weil sich die Winde im Indischen Ozean durch einen Klimawandel verändert hätten.⁵⁴ Die Geschichte, die Olivier Fontaine von der voreuropäischen Vergangenheit der Insel erzählt, steht in diametralem Gegensatz zu dem, was Théodora in seinem Buch behauptet. Denn wie bereits in der Einleitung erwähnt, ist Fontaine der Meinung, dass die Insel in voreuropäischer Zeit nicht von Menschen bewohnt worden sei. Zwar hätten Seefahrer im Indischen Ozean die Insel wahrscheinlich gekannt, ja, möglicherweise hätten diese dort sogar für einen mehr oder weniger langen Zeitraum wiederholt Station gemacht. Doch ändere das nichts daran, dass die Insel unbesiedelt gewesen sei. Demzufolge sei die Inbesitznahme im Unterschied zu anderen Überseeterritorien Frankreichs nicht mit der Verdrängung einer autochthonen Bevölkerung verbunden gewesen. Tatsächlich habe Frankreich auf der Insel alles aus dem Nichts geschaffen. „Dans l’Île“, so Fontaine, „le référant a toujours été la civilisation française, parce que La Réunion est née, a grandi, s’est épanoui, au sein de la France dont elle est une création.“⁵⁵ Die Menschheitsgeschichte der Insel ist für ihn deshalb in erster Linie eines, und zwar: französische Geschichte. Das erklärt auch den geringen Platz, den er der voreuropäischen Zeit in seinem Buch einräumt. Nicht mehr als zehn von 275 Seiten sind ihr gewidmet. Dass die Insel in voreuropäischer Zeit unbewohnt geblieben sei, begründet Fontaine zum einen damit, dass die Winde und Strömungen im Indischen Ozean vom Osten in den Nordwesten getragen hätten. Zum anderen führt er es darauf zurück, dass die Flora und Fauna auf der Insel bei ihrer Entdeckung durch Seefahrer aus Europa weitgehend intakt gewesen seien. Davon ausgehend, dass sich Menschen dort, wo sie sesshaft werden, die Natur zwangsläufig zunutze machen und modifizierend in diese eingreifen, schließt er aus der Intaktheit der Pflanzenund Tierwelt, dass diese von Menschenhand unberührt gewesen sei.⁵⁶ Abgesehen von Klima und Natur begründet er die Unbewohntheit der Insel mit einem Argument, das offenbar auch gegen archäologische Studien auf der Insel ins Feld geführt wurde,⁵⁷ und zwar, dass der Maskaren-Archipel jenseits der Seerouten im Indischen Ozean gelegen habe und deshalb nur diejenigen Seefahrer mit ihm in Berührung gekommen seien, die diese Routen verlassen hätten. Ferner verweist Fontaine darauf, dass die Migrationen im Indischen Ozean von Ost nach West über den Norden verlaufen seien und den Südwesten kaum betroffen hätten,

 Auf geologische Funde stützt sich Théodora dabei freilich nicht. Die Lava im sogenannten „Dos de Baleine“ in unmittelbarer Nähe des Brunnens stammt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Théodora, Histoire, S. 367– 385, 443 u. 445.  Fontaine, Histoire, S. 29.  Fontaine, Histoire, S. 20 u. 22 f.  Géraud, Archéologie(s), S. 15.

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zumal Madagaskar aufgrund seiner Größe wie ein Magnet gewirkt habe. Darüber hinaus führt er an, dass die Insel derartige Vorzüge besessen habe, dass Menschen sie nicht verlassen hätten, ohne zuvor die Flora und Fauna zu erschöpfen. Damit unterstellt er nicht nur, dass alle Menschen gleiche Ansprüche an ihre Umgebung stellen. Er suggeriert zugleich, dass sie die Welt ähnlich wahrnehmen und zu jeder Zeit gleich behandeln. Auch Fontaine rekurriert in seiner Beweisführung somit auf Klima, Botanik und Zoologie. Anders als Théodora stützt er seine Argumentation jedoch vollständig auf Schriftzeugnisse europäischer Herkunft, die aus der europäischen Vergangenheit der Insel stammen: zum einen auf gedruckte historische Quellen, zum anderen auf wissenschaftliche Studien aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem über Bevölkerungsbewegungen im Indischen Ozean sowie über Siedlungsgeschichten anderer Inseln, ferner über Sitten und Gebräuche der madagassischen Bevölkerung. Die europäischen Schriftzeugnisse erfüllen für ihn dabei zwei unterschiedliche Funktionen. Die historischen Schriftzeugnisse zieht er in erster Linie heran, um Thesen und Argumente zu beglaubigen. Beispielsweise belegt er die Vorzüge sowie die Unberührtheit der Insel mit Beschreibungen der Flora und Fauna der Insel in Briefen und Berichten von Navigatoren und Reisenden aus Europa. Die wissenschaftlichen Studien nutzt Fontaine hingegen für Analogieschlüsse, setzt also La Réunion mit anderen Inseln gleich, obwohl er in seinem Buch eigentlich, wie bereits erwähnt, ihre Einzigartigkeit deutlich machen möchte. Beispielsweise folgert er aus Studien über die menschliche Besiedelung anderer Inseln, dass die Flora und Fauna auf La Réunion verändert worden wären, wäre die Insel in voreuropäischer Zeit bewohnt gewesen. Aus der Studie über Sitten und Gebräuche der Bevölkerung Madagaskars zieht er demgegenüber den Schluss, dass Schildkröten auf La Réunion nicht überlebt hätten, weil sie und ihre Eier von der Inselbevölkerung verzehrt worden wären. Dass sich Fontaine ausschließlich auf Schriftzeugnisse stützt, ist darauf zurückzuführen, dass er diese im Unterschied zu nichtschriftlichen Überlieferungen offensichtlich für triftig und zuverlässig hält. Wie sonst ist zu erklären, dass er die Aussagen seiner europäischen Zeugen ungeprüft als Belege heranzieht, die voreuropäische Herkunft des „Ancien Puits“, das Herzstück der Argumentation Theodoras, jedoch dementiert?⁵⁸ Der Glaube an die Zuverlässigkeit der von ihm  „Outre que le ‚Puits arabe‘ est daté du XIXe siècle“, begründet er, „pourquoi ces individus qui arrivent sur une île déserte et qui ont de ce fait loisir de s’installer dans l’endroit le plus approprié pour y vivre, auraient choisi l’un des endroits les plus inhospitaliers de l’Île que les colons de Bourbon au XVIIIe siècle n’ont peuplé que lorsque le manque de terres dans le reste de l’Île les y a contraints. À La Réunion, les Arabes auraient donc délibérément méprisé la fertilité des terres de

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verwendeten Schriftzeugnisse ist wiederum seinem bereits erläuterten Verständnis der Geschichtsschreibung als schriftbasierter Wissenschaft geschuldet. Für die voreuropäische Vergangenheit hat das zur Folge, dass Fontaine ihre Geschichte zum einen mit den Methoden der europäischen Geschichtswissenschaft schreibt und dabei zum anderen Denkmuster und Perspektiven seiner „europäischen Zeugen“, etwa die Vorstellungen, die sich diese von einer idealen Welt machten und auf die Inseln im Indischen Ozean projizierten,⁵⁹ reproduziert, ja, diese sogar auf die Welt des Indischen Ozeans und die darin lebenden Menschen überträgt und die voreuropäische Vergangenheit auf diese Weise mit europäischen Augen betrachtet und erzählt.

3 Relevanz und Brisanz der beiden Geschichten in der Gegenwart In seiner „Quelques Mises au point sur…“ überschriebenen Besprechung der Histoire de La Réunion et des Réunionnais setzt sich der Historiker Gilles Gauvin kritisch mit der von Fontaine erzählten Inselgeschichte auseinander. Der Schwerpunkt seiner Lektüre des Buches liegt dabei auf der europäischen Geschichte. Mit Fontaines Ausführungen über die voreuropäische Inselvergangenheit setzt sich der Rezensent in seiner mehr als zehn Seiten umfassenden Besprechung dagegen so gut wie gar nicht auseinander. Nur an einer Stelle spricht er die voreuropäische Geschichte an, und das auch nur indirekt am Ende seiner Kritik. „Arguant du fait que La Réunion a été une colonie de peuplement, à partir d’un territoire vierge (ce nous semble être une évidence aujourd’hui partagée par tous les historiens)“, schreibt er in diesem Zusammenhang, „et pour s’opposer à l’est et du nord de l’Île, leur préférant celles de Saint-Philippe? Ils auraient dénigré les atterrages plus faciles de la côte ouest, pour aborder une côte sud rocheuse, bordée par une mer fréquemment agitée où le manque d’eau chronique, à tel point qu’il a justement été nécessaire de construire plusieurs puits, six au total, au XIXe siècle […] afin que la population puisse subsister ? Une région où, de surcroît, le volcanisme, et principalement les coulées de lave, rendent aléatoire et précaire toute entreprise humaine? Pourtant, lors des premières implantations humaines connues à Bourbon, celles de deux groupes de Français qui ont été déposés dans l’Île, en 1647 et 1654, les arrivants, qui avaient le choix du lieu de leur installation, ont préféré s’établir respectivement dans le nord et à Saint-Paul.“ Fontaine, Histoire, S. 21.  Zur Idealisierung des Indischen Ozeans und seiner Inseln in Europa s. die Ausführungen von Guilhem Armand: Regards européens sur le monde indianoocéanique aux XVIIe et XVIIIe siècles. Entre Histoire et fiction. In: Mondes parallèles dans les espaces coloniaux XVIe–XXIe siècles. Regards croisés dans le monde indiano-océanique. Histoire, patrimoine, fiction. Hrsg. von Norbert Dodille [u. a.]. Paris 2013, S. 281– 291; Schicho, Kolonisierung, S. 227– 233.

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l’interprétation de la colonisation de La Réunion par le PCR, Olivier Fontaine en arrive à l’extrême, qui est de nier la réalité coloniale de l’économie et de la société réunionnaise jusqu’à la départementalisation.“⁶⁰ Dass sich der Rezensent nicht näher mit Fontaines Geschichte von der voreuropäischen Vergangenheit der Insel auseinandersetzt, erstaunt nicht nur deshalb, weil sich die akademische Forschung auf der Insel seit einigen Jahren mit der voreuropäischen Vergangenheit befasst und inzwischen die Möglichkeit einer voreuropäischen Besiedelung nicht mehr ausschließt.⁶¹ Es verwundert auch insofern als diese für das Verständnis der Gesamterzählung in mehrfacher Weise von Belang ist. Erstens liefert sie den Schlüssel für das, was der Rezensent in seiner Besprechung als eine Binsenweisheit in der Geschichtsschreibung präsentiert, was in der Histoire de La Réunion et des Réunionnais jedoch Grundlage für die Deutung der europäischen Inselvergangenheit als menschliche und zugleich nichtkoloniale Vergangenheit ist, und zwar die Unbewohntheit der Insel bei ihrer Entdeckung durch Seefahrer aus Europa. Und aus dieser Deutung wiederum ergibt sich implizit die Zugehörigkeit der Insel zu Frankreich in der Gegenwart. Zweitens zieht Fontaine mit seiner Geschichte von der voreuropäischen Vergangenheit der Insel gegen jene ins Feld, die im Kontext der bereits erwähnten Auseinandersetzungen über die Identität und Zugehörigkeit der Insel behaupten, die Insel habe eine voreuropäische indo-ozeanische Menschheitsgeschichte erlebt, allen voran gegen Théodora. Seine Geschichte ist daher keine „histoire depolitiséé“, wie er behauptet, sondern im Gegenteil eine „histoire politisée“, und die Art und Weise, wie er darin die Geschichte der voreuropäischen Vergangenheit erzählt, keine Darbietung von Fakten, sondern (s)eine Lesart dieser Vergangenheit. Nicht anders verhält es sich mit Théodoras Geschichte, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Während Fontaine demonstrieren will, dass die Insel seit jeher von Frankreich geprägt ist und zu Frankreich gehört, bemüht sich Théodora darum, das Gegenteil zu beweisen, indem er nachzuweisen versucht, dass die Insel in voreuropäischer Zeit durch indo-ozeanische Bevölkerungsgruppen besiedelt und frequentiert worden sei. Auch er leitet aus der Erstbesiedelung der Insel somit Besitzansprüche auf diese ab. Auch er verfolgt damit zutiefst politische Absichten. Der Historiker Jean-François Géraud warf Théodora deshalb 2008 vor, Hypothesen aufzustellen, „ne s’appuyant que sur de très fragiles indices

 Gauvin, Mises.  „L’éventualité d’atterrissages antérieurs à la présence française, voire d’installations plus ou moins longues“, meinte etwa Jean-François Géraud im Jahr 2008, „n’est plus aujourd’hui considérée comme absurde.“ Géraud, Archéologie(s), S. 15.

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matériels, surinterprétés dans le contexte d’une lecture idéologique“.⁶² Allerdings gestand er ihm zu, in seinem Buch Fragen zu stellen, deren Untersuchung lohnenswert wäre. Das galt für ihn vor allem im Hinblick auf die Genealogie der Besiedelung. Zwar hielt er die Frage, wer die Insel vor den Franzosen möglicherweise besiedelte und wann, nicht für bedeutungslos. Doch erachtete er es für wichtiger zu erfahren, „avec quels objectifs, selon quelles modalités matérielles, et comment une telle implantation a pu évoluer, laissant quel(le)s traces et/ou héritages, et les dates et conditions de la fin d’une telle expérience, puisque l’on ne saurait mettre en question la vacuité de l‘île au moment de sa (re)découverte par les Européens“. Es sei daher wünschenswert, folgerte er, „d’établir d’abord l’existence de faits éventuels qui échapperaient à une lecture historique traditionellement reconnue“.⁶³ Inzwischen gibt es auf der Insel einen Forschungsschwerpunkt, welcher der Erforschung des Océan Indien Ancien gewidmet ist und zum Ziel hat, „de proposer une analyse historique construite d’abord à partir de l’océan Indien et non à partir des représentations occidentales dominantes“, ohne von „océan Indien médiéval ou océan Indien antique [zu sprechen], car les divisions en périodes antique et médiévale se sont construites dans le cadre de l’histoire occidentale“.⁶⁴ Mit dem Service régional d’archéologie existiert zugleich eine Abteilung, die auf der Insel systematisch nach archäologischen Überresten sucht.⁶⁵ Zwei Anliegen Théodoras sind damit eingelöst: zum einen die archäologische Erkundung der Insel, zum anderen die Überwindung eurozentrischer Deutungsmuster.⁶⁶ Das macht nicht nur die Pertinenz seiner methodisch-konzeptionellen Überlegungen sowohl in Hinblick auf die Erforschung der Inselvergangenheit als auch in Bezug auf die Geschichtsschreibung, ihre Deutungskonzepte und ihren Umgang mit schriftlosen Vergangenheiten insgesamt deutlich. Es führt ebenfalls vor Augen, dass Fontaines Geschichte von der voreuropäischen Inselvergangenheit trotz des wissenschaftlichen Anspruchs, den der Autor in seinem Vorwort erhebt, nicht mehr den Konzepten, Methoden und Quellen entspricht, mit denen diese schriftlose Vergangenheit im Indischen Ozean inzwischen untersucht wird.

 Géraud, Archéologie(s), S. 16.  Géraud, Archéologie(s), S. 19.  S. Centre de Recherches sur les Sociétés de l’Océan Indien, Océan Indien Ancien. www.cresoi. fr/-Ocean-Indien-Ancien-OIA- (24.08. 2018).  S. Service, Bilan.  Théodora, Candide, S. 447 u. 471.

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2 Filme Bonnot, Xavier-Marie: La loi du plus fort. Ausgestrahlt auf France Ô am 8. Juni 2018. Ders. u. Lachaud, Dorothée: Nos ancêtres les Gaulois. Ausgestrahlt auf France Ô am 8. Juni 2018.

3 Fachliteratur Alpers, Edward A.: The Indian Ocean in World History. Oxford 2014.

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Wissenschaftshistorische Perspektiven

Stefan Jordan

Schriftlose Kulturen in der deutschen Weltgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts 1 Einleitung Die Beschäftigung mit schriftlosen oder sogenannten geschichtslosen Kulturen in der Weltgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts setzt eine Grundsatzentscheidung voraus, nämlich die, dass schrift- oder „geschichtslose“ Kulturen Beschäftigungsgegenstand von Geschichtswissenschaft sind. Diese Entscheidung erscheint aus gegenwärtiger Sicht klar: Gegenstand von Geschichtswissenschaft ist zumindest die Geschichte der Menschheit; mitunter wird ihr zudem die Betrachtung der Tier-, Natur- und Erdgeschichte zugerechnet, sofern diese auf den Menschen bezogen wird, wie bei der Untersuchung der Auswirkungen von Klimaschwankungen auf die Ernährungssituation. Dieser Umfangsbereich, der inzwischen als selbstverständlich gilt, ist für frühere Zeiten der Beschäftigung mit Geschichte nicht so selbstverständlich. Bis zur „Entdeckung“ der Prä-Adamiten durch Isaac de La Peyrère (Prae-Adamitae, 1655) bestimmte die Bibel den Anfang der (Heils‐)Geschichte; Marksteine für den Anfang der Geschichtsschreibung als erste Äußerung eines historischen Bewusstseins (und Ende von Geschichtslosigkeit zumindest im abendländischen Raum) bildeten häufig auch Ilias und Odyssee. ¹ Erst danach wurde in einem von Reinhart Koselleck so genannten Prozess der „Verzeitlichung“ der zeitliche Horizont zurückverlagert, also über den bis dahin angenommenen Anfang hinaus.² Hierbei spielte die Entdeckung und Erforschung außereuropäischer, „unzeitgemäßer“ Kulturen ebenso eine wichtige Rolle wie archäologische Funde. Aber auch diese Ausdehnung des Zeitverständnisses, die mit einer Emanzipation gegenüber der Theologie einherging, war nicht gleichbedeutend mit der Ausdehnung des  Helmut Zedelmaier: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert. Hamburg 2003.  Reinhart Koselleck: Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit. In: Archiv für Begriffsgeschichte 2 (1967), S. 81– 99; hierzu: Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. 2. Aufl. Göttingen 2016; Achim Landwehr: Geburt der Gegenwart: Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2014; Theo Jung: Das Neue der Neuzeit ist ihre Zeit. Reinhart Kosellecks Theorie der Verzeitlichung und ihre Kritiker. In: Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 6 (2010/11), S. 172– 184. https://doi.org/10.1515/9783110552201-007

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Geschichtsverständnisses auf nicht-biblische schriftlose Kulturen. Vielmehr grenzte auch die Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommende Geschichtsphilosophie solche Kulturen aus ihrem Geschichtsbegriff aus. Sprache im Verständnis von Schriftsprache war etwa für Giambattista Vico in seinen Principj di scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni (1725) ein begründendes Element für Geschichtlichkeit.³ Die Geschichtsphilosophie begründete den Anfang der Geschichte anders als die Theologie, indem sie sich nicht mehr auf die Schöpfungsgeschichte bezog, sondern die Vernunft des Menschen als zentrales geschichtsbildendes Moment hervorhob. Religionskritik war ein zentrales Element für die Entstehung von Geschichtsphilosophie, eindrucksvoll umgesetzt im Gründungsdokument moderner Geschichtsphilosophie, Voltaires Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756). Aber die Geschichtsphilosophie veränderte die bestehende Datierung des Anfangs der Geschichte nur unwesentlich. Georg Wilhelm Friedrich Hegel verwies in seinem 1830 verfassten zweiten Entwurf für seine Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte auf den etymologischen Ursprung des Worts Geschichte als Komplement aus historia und res gestae und führte aus: „Die eigentliche, objektive Geschichte eines Volks fängt erst da an, wo sie auch eine Historie hat.“⁴ Mit Historie war in diesem Kontext die historia rerum gestarum, die (schriftliche) Geschichtserzählung gemeint, als deren erste und führende Protagonisten er wenige Zeilen zuvor Herodot und Thukydides genannt hatte. Klar erkennbar ist die Abgrenzung der Geschichte gegen eine zeitlich vorausliegende „Vorgeschichte“, die wahlweise auch als „Früh-“ oder „Urgeschichte“ bezeichnet werden kann. Die disziplinären Anfänge dieses Wissenschaftsbereichs, der stärker mit der Archäologie und „Altertumskunde“, zum Teil auch mit der Anthropologie und Ethnologie verbunden ist als mit der Geschichtsforschung, liegen wie die Entstehung der akademischen Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dass die Trennung zwischen Geschichte und Vorgeschichte nicht nur in der Theologie und im Idealismus gründet, hat Roman Rosdolsky aufgezeigt. Der ukrainische Marxist wies in seinen seit 1929 vorlegten Studien nach, dass die

 „Die Volkssprachen müssen die gewichtigsten Zeugen der alten Sitten der Völker sein, die sie zu der Zeit hatten, als sie die Sprachen bildeten. Die Sprache eines antiken Volkes, die sich herrschend erhalten hat bis zu ihrer Vollendung […] muß ein gewichtiger Zeuge sein für die Sitten der ersten Zeiten der Welt.“ Giambattista Vico: Die Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Berlin 1924, S. 81.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel:Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. 1: Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. von Johannes Hoffmeister. 5. Aufl. Hamburg 1955, S. 5 (Hervorhebung im Original).

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Vorstellung von „geschichtslosen Völkern“ auch im Marxismus verbreitet war, wenngleich sie dort nicht an Kategorien wie Vernunft, Staat oder Schrift zurückgebunden wurde, sondern an fehlende Fortschrittlichkeit in der Bereitschaft zum Klassenkampf.⁵ Wie Engels dies für andere Völker getan hatte, bescheinigte Ernst Bloch in den 1930er Jahren einzelnen Bevölkerungsgruppen wie den Bauern „Ungleichzeitigkeit“, nicht wegen mangelnder Schriftkenntnisse, sondern wegen mangelnder Bereitschaft, sich der „Fortschrittsbewegung“ anzuschließen.⁶ Fortschrittlichkeit war in Idealismus, Historismus und Marxismus ein entscheidendes Wertungskriterium, das über den Umgang mit schrift- und „geschichtslosen“ Kulturen entschied. Hierauf wird später noch zurückzukommen sein. Neben den geistigen Wurzeln der modernen deutschen Geschichtsforschung muss ein weiterer Umstand angeführt werden, der die Beschäftigung mit schriftlosen Kulturen im Rahmen der Geschichtswissenschaft als nicht selbstverständlich erscheinen lässt. Denn während sich heutige Historiker auf Erkenntnisse und Methoden stützen können, die in den akademischen Disziplinen Ethnologie, Anthropologie, Archäologie und Volkskunde erarbeitet wurden, stand diese Möglichkeit den Geschichtswissenschaftlern des 19. Jahrhunderts noch nicht zur Verfügung. Die genannten Disziplinen entwickelten sich als akademische Disziplin mit methodisch geregelten Verfahren und im Unterschied zum älteren Antiquarianismus⁷ bestenfalls zeitgleich, eher aber als Folge der Etablierung der Geschichtswissenschaft als akademischer Disziplin. Im Folgenden soll es nun um die Darstellung von schriftlosen beziehungsweise von solchen Kulturen gehen, die in der Abendland-zentrierten Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts üblicherweise außen vor gelassen wurden. Dabei soll besonderes Augenmerk auf die fachliche Etablierungsphase der Geschichtswissenschaft in Deutschland Anfang dieses Jahrhunderts gelegt werden. Es gilt, einige einschlägige Universalgeschichten und begleitende Theorietexte zu betrachten, um einen Eindruck zu bekommen, in welchem Umfang schriftlose Kulturen Eingang in die Darstellungen fanden. Davon ausgehend soll dann über Motive spekuliert werden, warum schriftlose Kulturen aus der Geschichtsschreibung ausgespart blieben beziehungsweise warum sie auf bestimmte Weise integriert wurden. Weitgehend spekulativ bleibt dieser Untersu-

 Laut Rosdolsky zählte Engels in der Neuen Rheinischen Zeitung unter anderem die Tschechen, Südslawen und Ukrainer (Ruthenen) zu den „geschichtslosen“ Völkern. Hierzu Roman Rosdolsky: Zur nationalen Frage. Friedrich Engels und das Problem der „geschichtslosen“ Völker. Berlin 1979.  Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Zürich 1935.  Alain Schnapp: Die Entdeckung der Vergangenheit. Ursprünge und Abenteuer der Archäologie. Stuttgart 2009, S. 197– 238.

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chungsschritt, weil in den Theorietexten und Vorworten zu den Universalgeschichten so gut wie keine expliziten Begründungen für das gewählte Vorgehen enthalten sind. Das Ziel ist es, mögliche Motivationslagen darzulegen, um so zwei verbreiteten Ansichten entgegenzuwirken. Zum einen soll mit historiografiegeschichtlichem Blick der bereits eingangs genannten Selbstverständlichkeit entgegengearbeitet werden, mit der die Einbindung schriftloser Kulturen in den Arbeitsbereich des Historikers als für jede Geschichtswissenschaft verbindliches Element angenommen wird. Sodann soll die im Zeichen vor allem ideologiekritischer Sichtweisen entwickelte Perspektive relativiert werden, nach der die Trennung von „Kultur-“ und „Naturvölkern“ vorwiegend Ausdruck einer chauvinistischen, anti-humanen Weltsicht sei.

2 Schriftlose Kulturen in der deutschen Weltgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts – Wirklichkeit und Anspruch 2.1 Wirklichkeit Um einen ersten Eindruck zu gewinnen, ob schriftlose Kulturen in die Geschichtsdarstellungen des 19. Jahrhunderts Eingang gefunden haben, und wenn ja, welche Kulturen dies waren und in welchem Umfang sie behandelt wurden, sollen im Folgenden einige Universalgeschichten betrachtet werden, die Anfang des Jahrhunderts entstanden sind und bis in spätere Zeit hohe Auflagenzahlen und Nachdrucke erfahren haben. Einer der Verfasser dieser Universalgeschichten war der Pfarrerssohn Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772– 1838). Er war seit 1804 Professor für Natur- und Völkerrecht in Wittenberg, wechselte 1815 auf den Lehrstuhl für Sächsische Geschichte und Statistik in Leipzig und lehrte dort seit 1820 Staatswissenschaften.⁸ Im Jahr 1808 verfasste der Vernunftrechtler seine Kleine Weltgeschichte oder compendiarische Darstellung der Universalgeschichte für höhere Lehranstalten, die bis 1834 sieben Auflagen erfuhr. Der Band enthält eine methodisch-theoretische Einleitung (40 S.), auf die die Darstellung von acht „Zeiträumen“ folgt, von denen die ersten fünf auf je bis zu 40 Seiten Umfang, die folgenden mit bis zu rund

 Manfred Friedrich: Pölitz, Karl Heinrich. In: Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 20. Berlin 2001, S. 562 f.

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100 Seiten Umfang behandelt werden. Der erste Zeitraum reicht Von der Stiftung der ältesten Staaten bis auf Cyrus den Perser und setzt mit einer kurzen spekulativen Darstellung der Entstehung des Menschengeschlechts und des „Mythenzeitalters“ an, bevor erste staatsbildende Kulturen in Asien (China) thematisiert werden. Innerhalb des Kapitels folgen Abhandlungen über weitere asiatische und vorderasiatische Kulturen: unter anderem Indien, Medien, Baktrien, Syrien, Palästina, Kleinasien, Ägypten, Karthago. Alle diese Kulturen waren entweder schriftführend, oder es liegen schriftliche Quellen über sie vor. Der weitere Darstellungsverlauf konzentriert sich auf das hellenistische und griechisch-römische Reich sowie auf das Abendland, bevor im letzten Kapitel, das von der frühen Neuzeit bis an die Gegenwart heranreicht, auch außereuropäische Kulturen behandelt werden: das spanische Amerika, Brasilien, die „nordamerikanischen Freistaaten“, „Domingo“ (Haiti) und die Türkei. Hierbei handelt es sich wiederum um solche Kulturen, die entweder selbst schriftführend waren oder über die Schriftquellen von Reisenden oder der Kolonialisten berichten. Schriftlose Kulturen und neuzeitliche außereuropäische Kulturen, zu denen keine Schriftquellen vorlagen (etwa in Afrika, Mittelasien, Australien) schenkte Pölitz keine Aufmerksamkeit, auch wenn dort Staatlichkeit im europäischen Verständnis eines geschlossenen (nationalen) politischen Raums vorausgesetzt werden konnte. Noch weitere Verbreitung als Pölitz’ Kleine Weltgeschichte fand Karl von Rottecks Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten, für denkende Geschichtsfreunde, deren erster Band im Jahr 1812 erschien. Bis 1827 folgten unter leicht verändertem Titel acht weitere Bände und ein Registerband. Nach Rottecks Tod besorgte Karl Heinrich Hermes die 16. ergänzte Auflage und Folgeauflagen. Im Jahr 1861 erschien die 23. Auflage in elf Bänden unter dem Titel Erste Volksausgabe, 1867 die 25. Auflage als dritte Volksausgabe. Das Werk wurde noch im 20. Jahrhundert mehrfach nachgedruckt.⁹ Karl Wenzeslaus Rodeckher von Rotteck (1775 – 1840) war ein führender Vertreter des südwestdeutschen Liberalismus und wie Pölitz Vernunftrechtler und HistorikerJurist. 1798 wurde er in Freiburg (Br.) Professor für Allgemeine Weltgeschichte, seit 1818 war er zudem zuständig für Naturrecht und Staatswissenschaften. Der erste Band seiner Allgemeinen Geschichte beginnt mit einer Einleitung, in der der Gegenstandsumfang, das Material und die Methodik der Geschichtswissenschaft vorgestellt werden (50 S.). Es folgt eine Besondere Einleitung in die Weltgeschichte, die deren „Begriff“, „Zweck und Nuzen“ sowie „Methode“ behandelt, bevor

 Stefan Jordan: Karl von Rotteck als Historiker und Jurist. In: Karl von Rotteck und Karl Theodor Welcker. Liberale Professoren, Politiker und Publizisten. Hrsg. von Hans-Peter Becht u. Ewald Grothe. Baden-Baden 2018, S. 125 – 140.

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Rotteck zur Behandlung des „Ersten Zeitraums“ übergeht, der „Von Adam bis Cyrus. 1– 3425“ reicht. Anders als bei Pölitz beginnt die historische Darstellung des katholischen Rottecks mit der „Vorsündflutigen Welt“ sowie der „Sündflut und Völkerzerstreuung“, die auf biblischen Quellen gegründet ist. Danach folgt die Geschichte der Hebräer, Ägypter, Mittelasiens, Syriens und Phöniziens sowie Kleinasiens, bevor die griechisch-römische Geschichte einsetzt. Ausblicke auf China und Indien fehlen. Zudem enthält Rottecks Band einen langen komparatistischen Teil, in dem „Bürgerlicher Zustand“, „Religion“ sowie „Kunst und Wissenschaft“ der zuvor behandelten Kulturen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Ähnlich wie bei Pölitz werden in den späteren Bänden aus dem Kreis der außereuropäischen Kulturen lediglich die spanischen Kolonien in Amerika und Nordamerika in die Betrachtung einbezogen, ohne dass dabei auf Quellen verwiesen wird. Das dritte Beispiel bildet das Werk Friedrich Christoph Schlossers (1776 – 1861). Schlosser stammte wie Rotteck aus dem Badischen und zählte zu den Liberalen, war aber Protestant. Seit 1819 hatte er die Professur für Geschichte an der Universität Heidelberg inne.¹⁰ Als Zusammenfassung seiner historischen Arbeit veröffentlichte er im Jahr 1844 den ersten Band seiner Weltgeschichte für das deutsche Volk, dem bis 1857 17 weitere und ein Registerband folgten. Von Oscar Jäger und Theodor Creizenach überarbeitet und fortgesetzt, wurde das Werk nach Schlossers Tod auf 20 Bände erweitert, zuletzt in 25./26. Auflage Anfang des 20. Jahrhunderts nochmals veröffentlicht und 1982 nachgedruckt. Der erste Band der Weltgeschichte trägt den Titel Geschichte der alten Welt und gibt im Anschluss an eine lange, vorwiegend werkgeschichtliche Vorrede einen Überblick über jene Kulturen, die auch Pölitz behandelt hatte, um danach auf die Völker der griechisch-römischen Zeit bis zum Ende des Peloponnesischen Kriegs einzugehen. Anders als Pölitz und Rotteck konzentriert sich Schlosser ganz auf die europäische Geschichte; sein Werk und auch die Bände seiner Fortsetzer thematisieren die Kulturen Amerikas in der Neuzeit nicht. Der Befund, der sich aus der Betrachtung der drei weit verbreiteten Werke ergibt, ist ernüchternd: Schriftlose Kulturen werden darin nur dann behandelt, wenn es Berichte schriftführender Kulturen über sie gibt, so in der Neuzeit im Falle der amerikanischen Kolonien. Wenn außereuropäische Kulturen überhaupt Gegenstand der Darstellung werden, dann hauptsächlich als Bestandteil der Frühgeschichte, als eine Art Prolog von der Schöpfung beziehungsweise Mut-

 Michael Gottlob: Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus. Johannes von Müller und Friedrich Christoph Schlosser. Frankfurt a.M. 1989; Ellen-Charlotte Sellier-Bauer: Friedrich Christoph Schlosser. Ein deutsches Gelehrtenleben im 19. Jahrhundert. Göttingen 2004.

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maßungen über die Entstehung des Menschengeschlechts über die asiatischen und vorderasiatischen Hochkulturen einschließlich Ägyptens bis zum Beginn der „eigentlichen“ Geschichte in der griechisch-römischen Welt.

2.2 Anspruch Interessanterweise konterkariert dieser Befund den Anspruch der Historiografen, wie er sich in den spärlichen Hinweisen aus den theoretisch-methodologischen Einleitungen zu den Weltgeschichten und anderen Theorietexten erkennen lässt. Während bei Schlosser nahezu offen bleibt, auf welcher Grundlage seine Konzentration auf die abendländisch-europäische Geschichte erfolgt, weist Rotteck darauf hin, dass auch „ungeschriebene“ Quellen, „die man auch uralte oder stumme heißt“, zum Material des Historikers zählen: „Die ungeschriebenen Quellen lassen sich auf die beiden Rubriken der mündlichen Überlieferung und der Denkmale zurückführen.“¹¹ Zu Ersteren zählt Rotteck die „Tradition“ und „Historische Lieder“; zu Letzterer „künstliche und natürliche Denkmale“, worunter er Münzen und Medaillen, Feste, Gedächtnisfeiern und Gebräuche sowie Sitten und Sprache versteht. Nicht-sprachliche Quellen gehören für ihn also unzweifelhaft zum Material des Historikers, auch wenn Rotteck sie für seine eigene Arbeit, vor allem in Bezug auf Kulturen, über die keine sprachlichen Quellen vorliegen, unberücksichtigt lässt. Ähnliches findet sich auch bei Pölitz: „Mythen oder Sagen“, „geschichtliche Lieder“ sowie „stumme Denkmäler“ bezeichnet er als „Quellen der Geschichte“.¹² Der Leipziger Alt- und Kulturhistoriker Wilhelm Wachsmuth (1784– 1866) zählte sogar „die Natur selbst“ zu den Quellen, und auch für den Berliner Historiker und Nordisten Friedrich Rühs (1781– 1820), dessen Grundriß der allgemeinen Geschichte von der Sintflut über Asien, Indien und Nordafrika (Ägypten, Äthiopien) bis zu „Altgriechenland“ führt, hatten „Bruchstücke aus der mythischen und historisch dunklen Zeit der ältesten bekannten Völker des Orients“ geschichtswissenschaftliche Relevanz.¹³ Dementsprechend rechneten die Autoren auch Erdkunde und Ethnografie zu den historischen Hilfswissenschaften, so auch prominent Ludwig Wachler (1767– 1838) in seinem

 Karl Wenzeslaus Rodeckher von Rotteck: Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten, für denkende Geschichtsfreunde. Bd. 1. Freiburg 1812, S. 14.  Karl Heinrich Ludwig Pölitz: Kleine Weltgeschichte oder compendiarische Darstellung der Universalgeschichte für höhere Lehranstalten. Leipzig 1834, S. 16.  Wilhelm Wachsmuth: Entwurf einer Theorie der Geschichte. Halle 1820, S. 86; Friedrich Rühs: Lehrbuch der Historischen Propädeutik und Grundriß der allgemeinen Geschichte. Marburg 1830, S. 85 f.

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Lehrbuch der Geschichte zum Gebrauche bey Vorlesungen auf höheren Unterrichtsanstalten. ¹⁴ Der Breslauer Historiker und Literaturhistoriker widmete in seiner Einleitung, in der er auch nicht-sprachliche Quellen als Material des Historikers erwähnt, einen längeren Absatz der Bedeutung von Erd- und Völkerkunde und ging dann nur knapp auf die vorgeschichtlichen Kulturen ein, bevor auch er mit der Behandlung der griechisch-römischen Welt in seiner historischen Darstellung einsetzte. Bezeichnend ist der Umstand, dass die Erdkunde ausschließlich auf die „alte Welt“, das „Mittelalter“, die „Araber“ und die „neuere Zeit“ bezogen ist. Wachler behandelte also mit den Arabern eine (schriftführende) außereuropäische Kultur, wandte das Wissen der Erdkunde aber nicht auf schriftlose Kulturen an, obwohl diese für ihn prinzipiell mit zum Umfang seiner Weltgeschichte zählten. Ähnliches gilt auch für die Völkerkunde, der sich Wachler ausschließlich disziplinentheoretisch und mit Bezug auf Herder geschichtsphilosophisch zuwandte, ohne sie praktisch in seine Arbeit zu integrieren. Nicht nur über die Methodologie, sondern auch über die Systematik erklärte Johann Gustav Droysen (1808 – 1884) in seiner Historik-Vorlesung seit 1857 die Geschichtswissenschaft als zuständig für nicht-schriftliche Quellen und schriftlose Kulturen.¹⁵ Die Geschichtswissenschaft habe „nicht bloß zu tun mit dem, was herkömmlich in den Bereich der Geschichtsschreibung gehört; sondern alles Werden und Sein menschlicher Dinge hat ein Moment an sich, das geschichtlicher Natur ist, also wissenschaftlich nur der Historie zusteht“.¹⁶ Erkennbar ist, dass sowohl Vertreter der dem aufklärerischen Denken verhafteten Allgemeinen Geschichte – wie Pölitz, Rotteck und in gewissem Maße auch Schlosser – nicht-schriftliche Quellen und schriftlose Kulturen als Teil der Geschichte ansahen, als auch frühhistoristische Universalhistoriker wie Rühs, Wachsmuth und Wachler sowie später Droysen in seiner theoretischen Grundlegung des Historismus.¹⁷ Offensichtlich bestehen im Fall der sich disziplinär etablierenden Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

 Ludwig Wachler: Lehrbuch der Geschichte zum Gebrauche bey Vorlesungen auf höheren Unterrichtsanstalten. 6. Aufl. Breslau 1838 (1. Aufl. von 1816).  Und grenzte sich dadurch gegen Ranke ab, dessen Vorstellung von Geschichtswissenschaft stärker auf rein „urkundlicher Forschung“ beruhte. Leopold von Ranke: Idee der Universalhistorie. In: Ders.: Vorlesungseinleitungen. München/Wien 1975 (Aus Werk und Nachlaß. Bd. IV. Hrsg. von Volker Dotterweich u. Walther Peter Fuchs), S. 84 f.  Johann Gustav Droysen: Historik. Hrsg. von Peter Leyh. Stuttgart/Bad Cannstatt 1977, S. 4 (Hervorhebung im Original).  Zur Unterscheidung zwischen Allgemeiner Geschichte und Universalgeschichte s. Stefan Jordan: Deutschsprachige Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Schwellenzeit zwischen Pragmatismus und Klassischem Historismus. Frankfurt a.M./New York 1999.

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zwischen den theoretischen Ansprüchen an eine objektivitätsorientierte Weltgeschichte einerseits und einer andererseits von anderen Motiven oder einer Einsicht in die Begrenztheit der Möglichkeiten geleiteten Historiografie große Diskrepanzen.

3 Mögliche Gründe für den Ausschluss schriftloser Kulturen aus der deutschen Weltgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert Üblicherweise wird die Geschichte der Geschichtswissenschaft in Deutschland vor dem Hintergrund eines einsetzenden „modernen“ Nationalisierungsprozesses gedeutet. Dies gilt für die hier zur Sprache gebrachten Autoren vor allem für Droysen, kaum aber für Pölitz, Rotteck etc. Geschichtsschreibung im Zeichen nationaler Politiklenkung oder Verherrlichung eigener nationaler Leistungen ist eher ein Merkmal des späten 19. Jahrhunderts. Der schlagendste Beweis hierfür ist die Konzentration deutscher Historiker wie Droysen, Sybel, Treitschke oder später Meinecke und Below auf die preußisch-deutsche Geschichte, wogegen die Beschäftigung mit der Weltgeschichte deutlich in den Hintergrund trat. Die von verschiedener Seite vorgebrachte These, dass nationaler Chauvinismus für eine Ausklammerung schriftloser Kulturen und außereuropäischer Völker leitend verantwortlich gemacht werden könne, ist damit sehr fraglich – zumindest für die Begründungsphase des Historismus vor 1848.¹⁸ Was aber können dann die Gründe für den bemerkenswerten Befund sein, dass die Historiker historiografisch nicht das umgesetzt haben, was sie theoretisch auf dem Panier vor sich hertrugen?

 Für die These vom Chauvinismus von Seiten der frühen Kulturgeschichte s. etwa: Pierangelo Schiera: Kulturstaat und Kulturgeschichte. Karl Lamprecht und der Imperialismus der Deutschen Wissenschaft. In: Kultursoziologie – Symptom des Zeitgeistes? Hrsg. von Helmuth Berking u. Richard Faber. Würzburg 1989, S. 218 – 237; für die Sicht der späteren Sozialgeschichte beispielsweise: Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. Erw. Aufl. Wien [u. a.] 1997, S. 365 – 386; für die Auffassung aus kolonial- oder globalgeschichtlicher Sicht unter anderem: Andrew Zimmerman: Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany. Chicago/London 2001.

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3.1 Fehlende Quellen und begrenzte Sprachkenntnisse Sicherlich ein Grund für die fehlende Berücksichtigung schriftloser Kulturen in der Weltgeschichtsschreibung waren die fehlende Kenntnis von Quellen, mangelnder Zugang zu bekannten Quellen und begrenzte fremdsprachliche Kenntnisse für die Erschließung von Quellen sowie grundsätzlicher die unterschiedlichen Positionen im Methodenstreit zwischen Wort- und Sachphilologie. Die Anfänge der Volkslied- und Sagenforschung, etwa der Brüder Grimm oder Karl Simrocks, liegen in derselben Zeit wie die Etablierung der Geschichtswissenschaft als eigenständiges universitäres Fach. Die Historiker konnten also nur bedingt auf vorliegenden Erkenntnissen ihrer philologischen Kollegen aufbauen. Hinsichtlich dinglicher Quellen waren die Voraussetzungen noch schlechter. Archäologische Kenntnisse waren bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem zur Antike vorhanden und in der Tendenz kunsthistorisch beziehungsweise als „Botschaften des Schönen“ ästhetisch ausgerichtet.¹⁹ Auch eine dingliche Annäherung an ältere, vorgeschichtliche wie auch jüngere Kulturen (etwa durch die Mittelalterarchäologie) begann zeitgleich oder später: Erst durch die Arbeiten des dänischen Altertumsforschers Christian Jürgensen Thomsen (1788 – 1865) setzte sich im Jahr 1836 die von Antoine Ives Goguet (1716 – 1758) entwickelte Vorstellung eines „Dreiperiodensystems“ durch, das die Anfänge der Menschheitsgeschichte gliederte; Reste des Neandertalers wurden erstmals 1856 gefunden; nach wissenschaftlichen Prinzipien betriebene Grabungen von deutschen Archäologen etablierten sich erst nach den Babylonforschungen der Deutschen OrientGesellschaft unter Leitung von Robert Koldewey (1855 – 1925) im Jahr 1899;²⁰ die Gründungsphase der typisch deutschen Disziplin Volkskunde als Mischung aus Geschichtswissenschaft, Archäologie, Ethnologie, Anthropologie und Philologie fällt in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.²¹ Auch die Entschlüsselung älterer Sprachsysteme steckte Anfang des 19. Jahrhunderts noch in den Kinderschuhen. 1822 dechiffrierte Jean-François Champollion (1790 – 1832) die ägyptische Hieroglyphenschrift anhand des im Jahr 1799 geborgenen Steins von Rosette; die Entzifferung der logosyllabischen Maya-

 Michael Stahl: Botschaften des Schönen. Kulturgeschichte der Antike. Stuttgart 2008, S. 30 – 39; Winckelmann etwa sah seine Tätigkeit als Beitrag „zum guten Geschmack“. Johann Joachim Winckelmann: Brief an Georg Conrad Walther vom 23.10.1764. In: Ders.: Briefe. Hrsg v. Walther Rehm. 3. Bd. Berlin 1956, S. 63; s. hierzu allgemein kontextuierend: Jeorjios Martin Beyer: Archäologie. Von der Schatzsuche zur Wissenschaft. Mainz 2010, S. 39 – 47.  Robert Koldewey: Das wieder erstehende Babylon. 4. Aufl. Leipzig 1925 [ND München 1990].  Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. 4 Bde. Stuttgart [u. a.] 1851– 1869. Hiervon gab es zahlreiche Nachdrucke bis 1981.

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Schrift zog sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hin. Konnte man bei den Historikern des frühen 19. Jahrhunderts eine vielseitige philologische Bildung voraussetzen, die Griechisch und Latein sowie mitunter Hebräisch und moderne romanische Sprachen und Englisch sowie zum Teil germanische Sprachen umfasste, so stieß die Quellenlektüre bei slawischen, arabischen oder erst recht bei außereuropäischen Sprachen recht schnell an ihre Grenzen. Einige Sprachen der von Franz Bopp 1816 als „indoeuropäisch“ und 1823 von Heinrich Julius Klaproth als „indogermanisch“ bezeichneten Sprachfamilie, wie das Hethitische und Tocharische, waren bis Ende des 19. Jahrhunderts schlicht noch unbekannt.²² Das Fehlen von Sprachkenntnissen beziehungsweise von Übersetzungen erschwerte den Einbezug außereuropäischer Schriftquellen in die Arbeit an den Weltgeschichten. Wie bereits angesprochen, sollte dies durch die Auswertung von Reiseberichten und Schriften von Kolonialisten kompensiert werden. Aber auch diese Quellenart war begrenzt; Berichte indigener Bevölkerungsteile aus anderen Erdteilen, wie sie heute für die Mehrzahl der Kulturen auch in modernen westlichen Fremdsprachen, vor allem in Englisch und Französisch, vorliegen, gab es nicht, oder sie waren für die Historiker im 19. Jahrhundert nicht verfügbar.

3.2 Fachliche Etablierung von Ethnologie, Anthropologie und historischer Geografie Neben Archäologie, an Oralität interessierter Philologie und Volkskunde beschäftigten sich vor allem Ethnologie, Anthropologie und historische Geografie mit schriftlosen Kulturen beziehungsweise mit „Naturvölkern“ und „Naturgeschichte“. Die Erdkunde entwickelte sich zeitgleich zur Geschichtswissenschaft, besonders durch die Arbeiten Carl Ritters (1779 – 1859), der diese Disziplin seit 1817 mit Die Erdkunde im Verhältniß zur Natur und zur Geschichte des Menschen als Gesellschaftswissenschaft begründete.²³ Ethnologie und Anthropologie, die ja wie die Erdkunde bereits Anfang des 19. Jahrhunderts als „Hilfswissenschaften“ Eingang in die Historiken gefunden hatten, etablierten sich erst später zu eigenständigen Fächern.²⁴ Im Jahr 1886 wurde für Johannes Ranke (1836 – 1916) in München ein erster Lehrstuhl für Allgemeine Naturgeschichte und Anthropologie

 Allgemein hierzu: Peter Stein: Schriftkultur. Eine Geschichte des Lesens und Schreibens. Darmstadt 2006.  Carl Ritter: Die Erdkunde im Verhältniß zur Natur und zur Geschichte des Menschen. 19 Bde. Berlin 1817– 1859.  Hans-Jürgen Hildebrandt: Bausteine zu einer wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte der Ethnologie. München 2003, S. 21– 206.

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eingerichtet. Ethnologische, anthropologische und geografische Forschungen, die modernen wissenschaftlichen Standards, wie sie von Seiten der Historiker eingefordert wurden, standhalten konnten, waren daher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rar. Diesen Umstand verschärfte eine disziplingeschichtliche Besonderheit der Geschichtswissenschaft: ihre zunehmende universitäre Exklusivität. Waren in der Gründungsphase noch sogenannte Laien – Lehrer, Vertreter anderer Disziplinen, Museumsleute, „Volkskundler“ – mit in den Verwissenschaftlichungsprozess der Geschichtswissenschaft einbezogen, so änderte sich dies mit der Einrichtung eigenständiger historischer Lehrstühle und Seminare an den Universitäten. Zunehmend wurden nun die „Dilettanten“, wie Georg Waitz sie 1859 nannte, aus der akademischen Geschichtswissenschaft ausgegrenzt.²⁵ Besonders diese „Dilettanten“ hatten sich aber – aus pragmatischen oder rechtlichen Gründen von der Nutzung der großen Archive ausgeschlossen und häufig hinsichtlich der Kontakte und Reisemöglichkeiten weniger flexibel – den dinglichen Quellen und mündlichen Überlieferungen weitaus mehr geöffnet als die Professoren an den Universitäten. Dass die Volkskunde wie die Landesgeschichte und die Geschichtsdidaktik zunächst jenseits der Geschichtswissenschaft in anderen Fakultäten oder außerhalb des universitären Betriebs vorangetrieben wurde und ein Wiedereingliederungsprozess erst im Laufe des 20. Jahrhunderts erfolgte, gründet genau in diesem fachlich-wissenschaftlichen Exklusionsvorgang der von Vertretern der außenpolitisch orientierten Geschichtswissenschaft betrieben wurde. Dadurch fehlten der universitären Geschichtswissenschaft methodische wie inhaltliche Impulse „von unten“ für die Einbeziehung schriftloser Kulturen in ihre Arbeit.²⁶

3.3 Emanzipation von Theologie und Philosophie Die Söhne Noahs, die die Sintflut überstanden hatten, pflanzten sich fort bis zu Nimrod, der ein Reich begründete, dessen Kerngebiet „Babel, Erech, Akkad und

 Georg Waitz: Falsche Richtungen. Schreiben an den Herausgeber. In: Historische Zeitschrift 1 (1859), S. 17– 28.  Zum fachlichen Exklusionsprozess in der Geschichtswissenschaft s. Stefan Jordan: Die Entwicklung einer problematischen Disziplin. Zur Geschichte der Geschichtsdidaktik. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 274– 279; ders.: Die Entstehung moderner Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert und ihr Verhältnis zu Land und Region. In: Historiographie: Traditionsbildung, Identitätsstiftung und Raum. Südwestdeutschland als europäische Region. Hrsg. von Sönke Lorenz. Ostfildern 2011, S. 111– 122; ders.: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. 3. Aufl. Paderborn [u. a.] 2016, S. 63 – 68.

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Kalne im Land Schinar“ war, so lehrt es das zehnte Kapitel der „Genesis“ und schrieb damit den Anfang der nachsintflutlichen Geschichte für lange Zeit fest.²⁷ Wie bereits eingangs erwähnt, emanzipierte sich die Geschichtsphilosophie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts von diesem heilsgeschichtlichen Modell, in dem wiederum das Alte Testament als Vorgeschichte des Neuen Testaments diente und dessen Perspektive auf die Selbstoffenbarung Gottes beim Jüngsten Gericht gerichtet war. Anstelle der Heilsgeschichte begründete die Geschichtsphilosophie ein Fortschrittsmodell, das auf der Humanität des Menschen – vorwiegend kenntlich gemacht in seiner Vernunftbegabung – basierte und zur Perfektibilität strebte. Sowohl Hegels idealistisches als auch das materialistische Stufenmodell teilten diesen Fortschrittsglauben und diese Perfektibilitätsorientierung. Die deutsche Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, für die Wilhelm von Humboldts Rede Über die Aufgabe des Geschichtschreibers (1821) ein wichtiges Gründungsdokument darstellt, profanisierte das Modell von Theologie wie Philosophie insofern weiter, als sie das endzeitliche Telos entfernte und die in der Geschichtsphilosophie als überzeitlich apostrophierten Ideen in die Geschichte einholte.²⁸ Alles Denken und Tun wurde damit historisch, oder anders gesagt: Es gab nichts mehr außerhalb der geschichtlichen Welt. Selbst das „Reich der Ideen über der Geschichte“ war nunmehr nur in seinen jeweiligen historischen Manifestationen fassbar; diese Manifestationen waren nicht mehr Beleg oder Indiz für geschichtsphilosophisch oder theologisch vorab aufgestellte Sätze. Diese Emanzipation gegenüber den überhistorischen Vorgaben von Theologie und Philosophie sowie die fachliche Eigenständigkeit der Disziplin Geschichtswissenschaft, die sich nach 1800 durchsetzte, ermöglichten eine „Universalgeschichte“ in dem Sinne, dass Geschichtlichkeit zum Attribut jeder Entität wurde, also auch Attribut außereuropäischer, nicht-christlicher und schriftloser Völker.²⁹ Der Theologe und Geschichtsphilosoph Ernst Troeltsch bezeichnete dies Anfang des 20. Jahrhunderts als „grundsätzliche Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte“³⁰ und entwickelte daraus seine Sicht auf das „Problem des Historismus“: „Historisierung erschüttert […] alle ewigen Wahrheiten, seien sie kirchlich-supranaturaler und darum von der höchsten autorita-

 Gen. 10.1−12.  Die Rede ist beispielsweise veröffentlich durch Albert Leitzmann. S. Wilhelm von Humboldt: Über die Aufgabe des Geschichtschreibers. Hrsg. von Albert Leitzmann. Leipzig 1919.  Klaus E. Müller: Der Ursprung der Geschichte. In: Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland. Hrsg. von Jan Assmann u. Klaus E. Müller. Stuttgart 2005, S. 17– 86.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch. Berlin/New York 2008 (Kritische Gesamtausgabe. Bd. 16.I/II. Hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf), S. 281.

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tiven Art, seien es ewige Vernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit.“³¹ Geschichtslosigkeit, wie sie Engels für einige Völker behauptet hatte, wurde damit nur als geschichtsphilosophisches Postulat im Rahmen eines Modells möglich, das Geschichtlichkeit an einem a priori ermittelten Maß von Fortschrittlichkeit misst. In der modernen Geschichtswissenschaft gibt es Geschichtslosigkeit nicht; sie widerspricht den Prinzipien der fachlichen wie inhaltlichen Verfassung des Fachs. Gleichwohl spekulierten einige der hier behandelten Autoren über die Entstehung der Menschheit und referierten die vorsintflutliche Zeit anhand der Bibel als Quelle – ein Status, den sie mit Aufkommen der quellenkritischen historischen Theologie im Laufe des 19. Jahrhunderts weitgehend einbüßte. Dies mag damit zu erklären sein, dass über die ältesten Zeiten der Menschheit keine anderen Dokumente vorlagen. Es zeigt aber auch, dass die Geschichtswissenschaft, die sich methodisch-theoretisch deutlich von Theologie und Philosophie abgrenzte, zeitgleich in ihrer praktischen Arbeit doch bestimmten Denkfiguren verhaftet blieb. Das trifft auf den Rückgriff auf die biblische Geschichte ebenso zu wie auf ein letztlich im Idealismus begründetes Fortschrittsdenken, das fester Bestandteil historistischer Historiografie wurde und sich als solcher bis weit in das 20. Jahrhundert hinein erhielt.Wie dauerhaft diese Imprägnierung wirkte, belegt etwa die 1960 von Golo Mann (1909 – 1994) herausgegebene, bis in die 1990er Jahre nachgedruckte elfbändige Propyläen Weltgeschichte, deren erste beiden Bände traditionell der (schriftlosen) „Vorgeschichte“ beziehungsweise den (schriftführenden) „Hochkulturen des mittleren und östlichen Asiens“ gewidmet waren, bevor dann mit „Griechenland“ die ‚eigentliche‘ Geschichte einsetzt.³² Anspruch und Wirklichkeit klaffen auch hier weit auseinander.

4 Fazit Die weitgehende Auslassung schriftloser und außereuropäischer Kulturen bei gleichzeitigem Anspruch von deren Mitbehandlung mag also zu weiten Teilen auf die eben angesprochenen Hindernisse zurückzuführen sein, aber möglicherweise erklären sie sie nicht vollständig. Auch der Chauvinismus-Vorwurf, dem die deutsche (Geschichts‐)Wissenschaft des 19. Jahrhunderts vor allem von Seiten der frühen Kulturgeschichte und später der Sozialgeschichte ausgesetzt war und zum  Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus (1922). In: Ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918 – 1923). Bd. 15. Berlin/New York 2002 (Kritische Gesamtausgabe Bd. 15. Hrsg. von Gangolf Hübinger), S. 437.  Golo Mann (Hrsg.): Propyläen Weltgeschichte. 11 Bde. Berlin 1960 – 1965.

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Teil noch ist, enthält ein Erklärungsmoment. Denn dass die Weltgeschichte in der deutschen Geschichtswissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an Boden verlor und stattdessen dem Primat der (europäisch-westlichen) Außenpolitik in einer auf die deutsche Nation bezogenen Sichtweise Vorzug gegeben wurde, steht außer Frage. Auch dass der durch den Historismus forcierte und ebenso wie der Fortschrittsbegriff auf Hegels Denken basierende Machtstaatsgedanke³³ das Ausdem-Blick-Lassen schriftloser und außereuropäischer Kulturen forderte und diese bestenfalls als defizitäre Entwicklungsstufen betrachtete, ist unzweifelhaft. Erklärbar ist dieser Chauvinismus allerdings nicht allein aus politischer Blindheit und überheblicher Großmannssucht, sondern aus Denkvoraussetzungen, für deren Deutung die Denkfigur von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen benutzt werden kann.³⁴ Stellt man sich nämlich Ungleichzeitigkeiten im Rahmen von Glaubenssätzen und Ideologien vor, so werden diese zwangsläufig zu historischen Bewertungen.Wie für Friedrich Engels einige Völker geschichtslos waren, weil sie fehlende Revolutionsbereitschaft zeigten, und Bloch diesen Willen bei der Bauernschaft vermisste, so waren für Philosophen und Wissenschaftler des 18. und 19. Jahrhunderts Angehörige von schriftlosen Kulturen, die am eigenen europäischen, als höchstentwickelten eingeschätzten Standard gemessen wurden, „Wilde“, „Primitive“ oder „Ureinwohner“. Zwar waren den Historikern vielleicht „alle Epochen unmittelbar zu Gott“, aber in den Epochen herrschten Kultur- und Zivilisationsunterschiede. Und diese wurden zunächst theologisch, dann geschichtsphilosophisch und schließlich bis hin zur Modernisierungstheorie der Sozialhistoriker des 20. Jahrhunderts nach Maßgabe von Fortschrittlichkeit bewertet. „Die Fortschrittsidee benötigt die Identifizierung von bremsenden oder gegenläufigen Bewegungen, um sichtbar zu werden.“³⁵ Die schriftlosen Kulturen und außereuropäischen Völker waren daher „defizitär“: Sie verfügten weder über das grundlegende Moment der Staatlichkeit noch über

 Grundlegend hierfür weiterhin: Hermann Heller: Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte. Leipzig 1921.  S. hierzu besonders: Hermann Bausinger: Ungleichzeitigkeiten. Von der Volkskunde zur empirischen Kulturwissenschaft. In: Kultursoziologie. Hrsg. von Helmuth Berking. Würzburg 1989, S. 267– 285; Wolfram Drews: Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ als Problem transkultureller historischer Komparatistik am Beispiel frühmittelalterlicher Herrschaftslegitimation. In: Comparativ 18 (2008), S. 41– 56; s. allgemeiner: Jörn Leonhard: Historik der Ungleichzeitigkeit. Zur Temporalisierung politischer Erfahrung im Europa des 19. Jahrhunderts. In: Journal of Modern European History 7 (2009), S. 145 – 167; Achim Landwehr: Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1– 34; Matthias Micus u. Felix Butzlaff (Red.): Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Göttingen 2016; dazu: Stefan Jordan: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In: Neue Politische Literatur 62 (2017), S. 585 f.  Landwehr, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, S. 9.

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Stefan Jordan

„moderne“ Zivilisationstechniken und über materiellen Wohlstand. Waren sie also für den Gang der Weltgeschichte von Bedeutung, selbst wenn sie theoretisch zu diesem dazuzurechnen waren, oder war das Auslassen dieser Kulturen auch aus arbeitspragmatischen Hinsichten ‚nicht so schlimm‘? Nicht nur moderne Historiker bis in das 20. Jahrhunderts hinein hätten hier Bedenken gehabt, auch neuere Geschichtsphilosophen wie Francis Fukuyama ziehen die weltgeschichtliche Bedeutung der Fortschrittsrückständigen in Frage.³⁶ Dass ihre pejorative Sichtweise auf schriftlose und außereuropäische Kulturen heute verstörend wirkt, hängt wieder mit einem Umstand zusammen, der mit der Denkfigur vom Gleichzeitigen des Ungleichzeitigen erklärt werden kann: Die „Entdecker“ dieser Denkfigur, besonders Ernst Bloch und Reinhart Koselleck, waren wie ihre Generation von Fortschritts- und Modernisierungstheorien geprägt, die heute nicht mehr uneingeschränkt geteilt werden. Die Vorstellung von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist heute nicht mehr ein Mittel, um in irgendeiner Weise als höherstehend bewertete Kulturen mit „minderwertigen“, geschichtslosen oder historisch unbedeutenden Kulturen – in den Worten Blochs: die „Stadt“ mit der „Provinz“³⁷ – zu vergleichen. Vielmehr hat die Abkehr von Modernisierungstheoremen dazu geführt, dass unter der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen heute Alteritäts- und Fremdheitserfahrungen zur Sprache kommen. Auch angesichts einer globalisierten Welt, die vor allem in einer echtzeitlich gleichzeitigen Kommunikationswelt spürbar ist, bleiben Ungleichzeitigkeiten bestehen, allerdings so, dass das Eine gegenüber dem Anderen als anders oder fremd wahrgenommen wird und damit in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung Bestand hat. Schriftlosigkeit und der Status einer Kultur als außereuropäisch scheiden damit – anders als in der Geisteswelt des 19. Jahrhunderts – als Kriterien für eine nun als gegeben gesetzte Zugehörigkeit zur Weltgeschichte aus.

Literatur Bausinger, Hermann: Ungleichzeitigkeiten. Von der Volkskunde zur empirischen Kulturwissenschaft. In: Kultursoziologie. Hrsg. von Helmuth Berking. Würzburg 1989, S. 267 – 285. Beyer, Jeorjios Martin: Archäologie. Von der Schatzsuche zur Wissenschaft. Mainz 2010. Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit. Zürich 1935.

 Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man. New York 1992.  Ernst Bloch: Über Ungleichzeitigkeit, Provinz und Propaganda (1974). In: Ders.: Tendenz – Latenz – Utopie. Frankfurt a.M. 1978, S. 209 – 220.

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Stefan Jordan

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Nathan Schlanger

Antike Münzen und Steinwerkzeuge als Quellen für ungeschriebene Geschichte im Werk des Antiquars und Archäologen John Evans (1823 – 1908) 1 Einführung: Eine paradoxe Zurückweisung Als das 19. Jahrhundert zu Ende ging, wurde John Evans dazu eingeladen, das 67. Jahrestreffen der British Association for the Advancement of Science (BAAS) zu leiten, das im Juli 1897 in Toronto in der Dominion Kanada abgehalten wurde. Seine Rede bei dieser pompösen Veranstaltung der imperialien Wissenschaften – teils Schwanengesang, teils Zusammenfassung seiner langen und herausragenden Karriere –, ging den Linien nach, „die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden“. Sie enthielt in ihrer Vorbemerkung auch einige prägnante Kommentare zur Unterscheidung von Antiquarianismus und dem, was er „echte Archäologie“ nannte: Es ist sicherlich schwer, die genauen Grenzen von Archäologie als Naturwissenschaft und Archäologie als Unterabteilung der Geschichte und der Belles-Lettres zu ziehen. Oft wird eine Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft auf der einen und Wissen und Gelehrsamkeit auf der anderen Seite getroffen […] Es muss aber eingeräumt werden, dass es tatsächlich einen Unterschied gibt zwischen der eigentlichen Archäologie und dem, was man, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, Antiquarianismus nennen mag. Es mag interessant sein, die innere Organisation eines Dominikanerklosters im Mittelalter zu kennen […] oder festzustellen, ob ein bestimmtes Gebäude zur römischen, sächsischen oder normannischen Zeit erbaut wurde. Doch die Fähigkeit, das zu tun, setzt zwar keine geringe Menge an detailliertem Wissen und einige Vertrautheit mit wissenschaftlichen Methoden voraus, kann aber kaum ausreichen, um den Ausübenden zu den Vertretern der Wissenschaft zu zählen. Eine Vertrautheit mit allen Details der griechischen und römischen Mythologie und Kultur muss eher als literarische denn als wissenschaftliche Qualifizierung gelten; wenn wir jedoch unter den Überbleibseln der Klassischen Zeit auf Spuren von Verhaltensweisen und Bräuchen stoßen, die die Generationen überdauert haben und die ein paar Lichtstrahlen auf die trübe Vergangenheit zu werfen scheinen, als Geschichte und Schriftlichkeit noch unbekannt waren, nähern wir uns, wie ich meine, den Grenzen der wissenschaftlichen Archäologie.¹

 „It is no doubt hard to define the exact limits which are to be assigned to Archæology [sic] as a https://doi.org/10.1515/9783110552201-008

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Der Urheber dieser Behauptung, das sollten wir von vornherein anerkennen, war selbst ein führender Erforscher dieser archäologischen Grenzen. Sir John Evans, der zu dieser Zeit bereits zahlreiche Leistungen und Ehrungen vorzuweisen hatte, hatte seine Aktivitäten als Gentleman-Wissenschaftler und Unternehmer während seines gesamten Erwachsenenlebens eifrig verfolgt.² Wie dieser Aufsatz außerdem zeigen wird, waren seine Beiträge zur Förderung der Numismatik, prähistorischen Archäologie und Quartärgeologie herausragend. Sie wurden sowohl in Großbritannien als auch weltweit durch zahlreiche Veröffentlichungen, öffentliche Vorträge und Mitgliedschaften in Gelehrtenvereinigungen von der Society of Antiquaries bis zur Londoner Royal Society verbreitet.³ Währenddessen setzte

science and Archæology as a branch of History and Belles-Lettres. A distinction is frequently drawn between science on the one hand, and knowledge or learning on the other […] It must however be acknowledged that a distinction does exist between Archæology proper, and what, for want of a better word, may be termed Antiquarianism. It may be interesting to know the internal arrangements of a Dominican convent in the middle ages […] or to decide whether some given edifice was erected in Roman, Saxon, or Norman times. But the power to do this, though invoking no small degree of detailed knowledge and some acquaintance with scientific methods, can hardly entitle its possessors to be enrolled among the votaries of science. A familiarity with all the details of Greek and Roman mythology and culture must be regarded as a literary rather than a scientific qualification; and yet when among the records of classical times we come upon traces of manners and customs which have survived for generations, and which seem to throw some rays of light upon the dim past, when history and writing were unknown, we are, I think, approaching the boundaries of scientific Archæology“. John Evans: Presidential Address. Report of the 67th Meeting of the British Association for the Advancement of Science, Toronto, 1897. London 1897, S. 3 – 20, hier S. 3 f.  Vgl. das Buch seiner Tochter, Joan Evans: Time and Chance. The Story of Arthur Evans and his Forebears. London 1943, zu vielen biografischen Details, ebenso wie die jüngeren Würdigungen in Andrew Sherratt: Darwin among the Archaeologists. The John Evans Nexus and the Borneo Caves. In: Antiquity 291 (2002), S. 151– 157; Arthur MacGregor (Hrsg.): Sir John Evans (1823 – 1908). Antiquity, Commerce and Natural Science in the Age of Darwin. Oxford 2008, und ders.: Sir John Evans, Model Victorian, Polymath and Collector. In: Ders. (Hrsg.): Sir John Evans (1823 – 1908). Antiquity, Commerce and Natural Science in the Age of Darwin. Oxford 2008, S. 1– 38; Anne O’Connor: Finding Time for the Old Stone Age. A History of Palaeolithic Archaeology and Quaternary Geology in Britain, 1860 – 1960. Oxford 2007; Jenny Bulstrode: The Industrial Archaeology of Deep Time. In: The British Journal for the History of Science 49 (2016), S. 1– 25, ebenso wie Nathan Schlanger: Series in Progress. Antiquities of Nature, Numismatics and Stone Implements in the Emergence of Prehistoric Archaeology (1776 – 1891). In: History of Science 48 (2010), S. 344– 369, und ders.: Coins to Flint. John Evans and the Numismatic Moment in the History of Archaeology. In: European Journal of Archaeology 14 (2011), S. 465 – 479, auf dem spätere Teile dieses Beitrags basieren.  Die Internetseite des Sir John Evans Centenary Project (Oxford), http://johnevans.ashmolean. org/evans/societies.html (letzter Aufruf 9. 2. 2018), enthält eine Liste der Gesellschaften und Gelehrtengremien, bei denen Evans Mitglied, Sekretär, Schatzmeister oder Präsident war. Vgl.

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Evans seine beeindruckende Arbeitsethik, seine Managementfähigkeiten und sein technisches Verständnis in der Papier- und Briefumschlagfabrik seines Onkels ein. Er war schon früh in die Firma eingetreten und avancierte zum Partner und Schwiegersohn des Eigentümers. John Evans kann zweifellos als Universalgelehrter (im Englischen: polymath) angesehen werden – besonders, wenn man über die übliche Verwendung dieses Begriffs hinausgeht und ihn nicht auf eine reine Ehrenbezeichnung reduziert (auch wenn er angesichts unseres eigenen Zeitalters der Schmalspur-Spezialisierungen umso verdienter erscheinen mag). „John Evans, Universalgelehrter“ sollte vor allem für ein Leistungspotenzial stehen, für eine geistige Einstellung, eine tiefgründige Möglichkeit, verschiedene und sogar weit voneinander entfernte Gebiete und Methoden gegenseitig fruchtbar zu machen – zum Beispiel, indem man Einsichten aus der Wissenschaft und der Geschäftswelt unter einen Hut bringt⁴ oder sogar Bereiche wissenschaftlicher Forschung zusammenbringt, die bisher keine Verbindung aufwiesen. Tatsächlich, so meine These, waren es genau solche universalgelehrten Verbindungen (auch wenn sie nicht völlig bewusst gezogen, bedacht oder durchgeführt wurden), durch die Evans seinen entscheidenden Beitrag zur Genese der prähistorischen Archäologie leistete. Wenn das stimmt, müssen die oben zitierten Feststellungen neu gelesen werden. In den Grenzen ihrer strategischen Ziele und im aufgeregten Kontext der BAAS-Konferenz folgen diese Behauptungen dem wohlbekannten Trick innerhalb von Forschungsdisziplinen, eine eigene, neuerdings bevorzugte Position auch dadurch hervorzuheben, dass man sie von anderen, „früheren“ Ansätzen abgrenzt und diese schlechtmacht. Diese Praxis hat durchaus Langzeitfolgen, doch im Moment kann ein genauerer Blick auf diese Behauptungen und ihren Urheber nicht umhin, eine paradoxe Ironie freizulegen – die man, im Vorgriff auf eine klassische historische (oder zumindest literarische) Anspielung weiter unten, als „Et tu, Evans?“ ausdrücken könnte. Unser universalgelehrter Protagonist war nicht nur eine Schlüsselperson bei der Verbreitung sowohl der „literarischen“ als auch der „wissenschaftlichen“ Perspektive, sondern die retrospektiven Unterscheidungen, die er nun postulierte, scheinen die Grundlagen seiner wegwei-

ebenfalls Aileen Fyfe: Journals, Learned Societies and Money. Philosophical Transactions, ca. 1750 – 1900. In: Notes and Records of the Royal Society 69 (2015), S. 277– 299.  Die Verbindungslinien zwischen Wissen und Geschäftsleben scheinen in verschiedenen Beiträgen in MacGregor (Hrsg.), Sir John Evans, auf. Für einige spezifische Beispiele s. Schlanger, Series in Progress (zu Evans’ und Prestwichs Behauptung von „Buchprüfung“ und „Bestandsaufnahme“ im Zusammenhang mit der Akzeptanz der menschlichen Frühgeschichte im Jahr 1859) und besonders Bulstrode, Industrial Archaeology (zu Evans’ „Viktorianischer Industriekultur“ und seiner Beschäftigung mit Erfindung, Design, Eichung und Patenten).

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senden archäologischen Leistungen zu untergraben – „verraten“ geht vielleicht zu weit. Eine kritische Bestandsaufnahme von Evans’ Werk wird zeigen, dass er seinen grundlegenden Beitrag zur Untersuchung der „ungeschriebenen Geschichte“⁵ zuerst und vor allem als Anhänger des Antiquarianismus leistete, als Experte für antikes Münzwesen, der sich in den antiken Geschichtsquellen, der Belletristik und all diesen altmodischen gelehrten Unterdisziplinen bestens auskannte. Wir können im Folgenden zwei Universalgelehrten-Geschichten oder -Episoden betrachten, die teils verbunden sind, jedoch überraschend wenig miteinander zu tun haben. Die erste Episode, die 1850 beginnt, betrifft Evans’ bemerkenswerten Beitrag auf dem Feld der Numismatik, wo er mittels eines nie zuvor in Betracht gezogenen Bezugs auf die Naturgeschichte ein sattsam bekanntes Objekt – antike Münzen – in neuem Licht betrachten konnte. Die zweite Episode ab 1860 berichtet von Evans’ erfolgreicher Transformation bis dahin eher unwichtiger Fundstücke – antiker Steinwerkzeuge – zu geradezu neuen Objekten wissenschaftlicher Betrachtung: eine Transformation, die, wie ich zeigen werde, durch die gut eingestellte Linse der Numismatik durchgeführt wurde. Um all dies besser zu verstehen, sollten wir uns diese Episoden der Reihe nach ansehen.

2 Die erste Universalgelehrten-Episode: Die Naturgeschichte von Münzen In gewissem Sinne widersprach es der tatsächlichen Reihenfolge, doch Münzen hatten in den westlichen Gelehrtenkreisen lange vor den Steinwerkzeugen Neugier und wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen – ebenso in Evans’ eigenen Forschungsinteressen. Evans war schon früh durch seinen Vater in die Numismatik eingeführt worden und war in den 1840er-Jahren bereits ein ernstzuneh-

 So der Titel eines populären Vortrags, den er 1882 am Rande einer BAAS-Konferenz in der Eislaufhalle in Southampton hielt: John Evans: History that is not Written. The Implements of Prehistoric Man and the Civilization Indicated by them. (From an address by Dr. John Evans before a popular audience in the Southampton skating rink), The New York Times, September 17, 1882. Eine weitere Veröffentlichung des (vermutlich) gleichen Vortrags vor der „Arbeiterklasse“ erschien als: Ders.: Unwritten History and How to Read it. (A Lecture to the Working Classes). In: Nature 26 (1882), S. 513 – 516, 531– 533; s. dazu Alison Roberts u. Nick Barton: Reading the Unwritten History. Evans and Ancient Stone Implements. In: Sir John Evans (1823 – 1908). Antiquity, Commerce and Natural Science in the Age of Darwin. Hrsg. von Arthur MacGregor. Oxford 2008, S. 95 – 115.

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mender Kenner und Sammler von britischen und römischen Münzen und ein aktives, respektiertes Mitglied der numismatischen Gesellschaft geworden. Die erste seiner vielen Veröffentlichungen erschien im Numismatic Chronicle von 1850; ihr folgte 15 Jahre später ein gelehrtes Kompendium zu The Coins of the Ancient Britons (1864), das zweieinhalb Jahrzehnte später durch ein beachtliches Supplement (1890) ergänzt wurde.⁶ Weitere Details zu Evans’ numismatischer Praxis werden weiter unten beschrieben, aber schon hier kann festgestellt werden, dass sein Beitrag in der Hauptsache klassifizierend und beschreibend war. In seinen zahlreichen Publikationen benutzte Evans eine äußerst akribische viktorianische Prosa, um viele hundert einzelne Münzen aus Fundorten und Sammlungen im ganzen Land so genau wie möglich zusammenzutragen, zu identifizieren, zu vergleichen, zu systematisieren, zu lokalisieren und zu illustrieren. Zusätzlich zu dieser zweifellos grundsoliden Leistung propagierte er jedoch lebenslang auch weitaus radikalere und einzigartige Interpretationen, was die Existenz, Charakteristik und Datierung von Münzen im vorrömischen Britannien anging. Als er dieses Problem zunächst in numismatischen Kreisen vorstellte, hätte er nicht traditioneller „literarisch“ argumentieren können: Sollte Julius Cäsars Anmerkung in De Bello Gallico (V, 12): „Sie gebrauchen als Münzen entweder Erzoder Goldmünzen oder eiserne Stäbchen, die zu einem bestimmten Gewicht abgewogen waren“, so verstanden werden, dass die vorrömischen Stämme kein Münzwesen praktizierten?⁷ Evans’ eigene Position, die er 1850 in seinem Aufsatz On the Date of British Coins mit Nachdruck ausbreitete und lebenslang unbeirrt vertrat, war, dass solche schriftlichen Zeugnisse – wie auch immer man sie interpretierte – immer mit „dem Zeugnis der Münzen selbst“⁸ abgeglichen werden müssten. Nachdem er die numismatischen Beweise zu seiner Zufriedenheit eingeordnet und interpretiert hatte, war Evans davon überzeugt, dass Münzen in Britannien weit vor der römischen Eroberung im Jahr 55 v.Chr. im Umlauf waren und dass sie sich auf den makedonischen Stater Philipps II. von etwa 300 v.Chr. zurückverfolgen ließen – oder, wahrscheinlicher, auf eine gallisch-kontinentale Imitation dieser Währung, die Britannien durch Handelsaustausch oder die Be-

 S. v. a. Philip de Jersey: Evans and Ancient British Coins. In: MacGregor (Hrsg.), Sir John Evans, S. 152– 172.  „Utuntur aut aere aut nummo aureo aut taleis ferreis ad certum pondus examinatis pro nummo.“ Übersetzung aus: Gaius Iulius Caesar: Der Gallische Krieg. Hollfeld 2016, S. 116. Zitiert und analysiert in John Evans: The Coinage of the Ancient Britons and Natural Selection. In: Notices of the Proceedings of the Royal Institution of Great Britain 7 (1875), S. 476 – 487, hier S. 478; s. auch Jersey, Evans and Ancient British Coins.  Evans, Coinage of the Ancient Britons, S. 478.

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zahlung von Söldnern erreicht hatten. Indem er die sich ändernde Gestaltung der Münzen und ihr abnehmendes Gewicht analysierte, stellte er ausgewählte Münzen auf einer Tafel zusammen, um zu „zeigen, wie durch aufeinanderfolgende Imitationen der Imitation eine ganze Anzahl von neuen und komplett verschiedenen Typen von diesem Prototyp ausging, bis das Original ganz aus dem Blick geriet“. Obwohl keine „exakte numismatische Abfolge“ aufgestellt werden konnte, sollte der Leser den wohlgeordneten Änderungen „folgen“ und zugeben, dass „der Übergang von Nr. 2 zu Nr. 3 [Abb. 1, oben Mitte nach unten rechts] leicht ist […] [D]avon [Nr. 8] erreichen wir Nr. 9, den perfekten Verulam-Typ“.⁹ Dieser gesamte Prozess vom ersten Prototypen bis zur letzten Nachahmung zur Zeit des Kontakts mit den Römern brauchte seine Zeit, und Evans schätzte in Bezug auf seine Eingangsfrage, dass die britischen Stämme 100 bis 120 Jahre vor Cäsars Ankunft schon Münzen produziert hatten. Dieser angenommene Veränderungsprozess, in dem formelle Ähnlichkeiten im Detail und historische Verwandtschaften verbunden wurden, platziert Evans’ Interpretation auf einer Art Wasserscheide westlicher Forschung. Auf der einen Seite passten solche Erwartungen von „gradueller Degeneration“ wunderbar in das klassische Modell, das der Kunsthistoriker und Antiquar Johann Joachim Winckelmann (1717– 1768) fast ein Jahrhundert früher postuliert hatte, dass sich nämlich die westliche Zivilisation nach ihrer Entstehung im Griechenland des 5. Jahrhunderts v.Chr. in aufeinanderfolgenden, mehr oder weniger erfolgreichen Phasen der kreativen Nachahmung nach Norden verbreitet habe, bis zum NeoKlassizismus zu seinen Lebzeiten. Auf der anderen Seite war die Terminologie, die Evans auf die Münzen und ihre Veränderungen anwendete – darunter Konzepte wie Varietät, Herkunft, Metamorphosen, Abfolge, Stammbaum oder Abstammung – durchaus mit den biologistischen Konzepten der Selektion kompatibel, ob künstlich (etwa durch Züchter, die ihren Bestand verbessern) oder natürlich herbeigeführt. Evans’ Ansichten wurden ein Jahrzehnt später deutlich bestätigt, als 1859 Charles Darwins Über die Entstehung der Arten erschien. Abgesehen davon, dass Evans offenbar ebenfalls die „Sprache der Natur“¹⁰ benutzte, bewegte er sich in den gleichen Intellektuellenzirkeln, vor allem über seinen Freund, den Bankier, Politiker und Anthropologen John Lubbock (1834– 1913).¹¹ Auf jeden Fall

 John Evans: On the Date of British Coins. In: Numismatic Chronicle 12 (1850), S. 127– 137.  Vgl. Ludmilla J. Jordanova (Hrsg.): Languages of Nature. Critical Essays on Science and Literature. London 1986; Gillian Beer: Darwin’s Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth-Century Fiction. Cambridge 1983.  Das Evans-Lubbock-Netzwerk und seine Verbindung zum darwinistischen X-Club wird dargestellt bei William R. Chapman: The Organizational Context in the History of Archaeology. Pitt Rivers and Other British Archaeologists in the 1860s. In: The Antiquaries Journal 69 (1989),

Antike Münzen und Steinwerkzeuge im Werk von John Evans

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Abb. 1: Die Herkunftsableitung verschiedener Typen britischer Münzen durch John Evans. Tafel I in „On the Date of British Coins“ (Numismatic Chronicle 1850), S. xii

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konnte Evans diese neuesten naturwissenschaftlichen Konzepte nutzen, um ganz bewusst dem, was andernfalls eine historistische oder morphologische numismatische Ausarbeitung hätte bleiben können, einen weitaus kühneren methodischen und theoretischen Anspruch zu geben. So schrieb er 1864 in The Coins of the Ancient Britons: „In barbarischen Nationen sind die Gesetze, denen die Typen dieser Art von Münzen folgen, nämlich aufeinanderfolgende Kopien von Kopien eines Originals, denen ziemlich ähnlich, die laut unserem besten Naturforscher [Darwin] die Abfolge von Typen im Naturreich bestimmen.“¹² Ebenso 1875 in einem Aufsatz unter dem sprechenden Titel Coinage of Ancient Britons and Natural Selection: „die Typenabfolge der [einheimischen britischen] Münzen folgte bestimmten Gesetzen, die in hohem Maße denen entsprechen, nach denen die Evolution von aufeinanderfolgenden Formen organischer Lebensformen abläuft.“¹³ 1890 wiederum, im Supplement: Tatsächlich habe ich [1850] versucht, die Prinzipien der „Evolution“ und der „natürlichen Selektion“ auf numismatische Fragestellungen anzuwenden; und als zehn Jahre später Darwins großes Werk über die Entstehung der Arten erschien, stellte ich fest, dass ich das Studium der barbarischen Künste nach Leitlinien betrieben hatte, die denen, die er in seiner weitaus wichtigeren Erforschung der verborgenen Geheimnisse der Natur angewendet hatte, sehr ähnlich waren.¹⁴

1897 sagte Evans in seiner bereits erwähnten Rede bei der BAAS-Konferenz in Toronto:

S. 23 – 42; Janet Owen: Darwin’s Apprentice. An Archaeological Biography of John Lubbock. Barnsley 2012.  „Among barbarous nations the laws which regulate the types of coinage of this kind, consisting of successive copies of copies of a given original, are much the same as those which, according to our best naturalists [i. e. Darwin], govern the succession of types in the organic kingdom.“ John Evans: The Coins of the Ancient Britons, Arranged and Described by John Evans F.S.A., F.G.S. and Engraved by F. W. Fairholt, F.S.A. London 1864, S. 27 f.  „[T]he succession of the types of the [native British] coins followed certain laws, to a great extent analogous to those by which the evolution of successive forms of organic life appear to be governed“. Ders., Coinage of Ancient Britons, S. 476.  „In fact, I attempted [in 1850] to apply the principles of ‚evolution‘ and ‚natural selection‘ to numismatic inquires; and when, ten years afterwards, Darwin’s great work on the origins of species was published, I found that I had been approaching the study of the barbaric art on much the same lines as those which he had conducted in his far more important inquiries into the hidden secrets of nature“. Ders.: The Coins of the Ancient Britons. Supplement. London 1890, S. 421.

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Als ich die chronologische Abfolge dieser Münzen festgelegt habe, war mir die Evolution ihrer Typen – ein Prozess, der fast genauso bemerkenswert und sicherlich ebenso gut zu bestimmen ist wie die, die in der Natur zu finden sind – eine wirksame Leitlinie. Ich wage auch zu erwähnen, dass die Erkenntnisse des Studiums der Morphologie dieser Münzserie zehn Jahre vor der Veröffentlichung von Darwins großem Werk über die „Entstehung der Arten“ publiziert wurden.¹⁵

Die Botschaft, die hier verbreitet wurde, war durchaus konsequent, und trotzdem kann man aus dieser Universalgelehrten-Episode sehr unterschiedliche Schlüsse ziehen. Erstens liegen hier einige bislang wenig in Betracht gezogene Elemente vor, die sich auf die umstrittene Frage von Darwinismus und Archäologie beziehen. Der grundsätzliche historiografische Eindruck (der hier nicht infrage gestellt wird) ist, dass der Darwinismus mit seinen Konzepten von „Selektion“, „Kampf“ oder „Abstammung mit Abwandlungen“ nur langsam einen Weg in die prähistorische Archäologie fand und kaum einen merkbaren Einfluss auf die Akzeptanz und darauffolgende Analyse der Menschheitsgeschichte in den 1860er-Jahren hatte. Die Anwendung eines ausdrücklich typologischen Denkens (d. h., eines Klassifikationssystems, das von seriellen, chronologischen oder Entwicklungserwartungen geprägt ist) in der Archäologie wird üblicherweise den schwedischen Gelehrten Hans Hildebrand und Oscar Montelius zugeschrieben, die sich in den 1870er-Jahren gelegentlich auf Darwins Werk bezogen.¹⁶ Hier konnte Evans Vorrang beanspruchen – und tat es auch, als er etwa 1890 die zitierte Passage mit der Bemerkung beendete: Seit diese Forschungsmethode auf den Fall der britischen Münzen angewandt worden ist, ist sie auch im Zusammenhang mit anderen Serien genutzt worden, sodass ich auf zwei interessante Aufsätze von Mr. C. F. Keary¹⁷ zur „Morphologie von Münzen“ verweisen kann, die

 „In arranging the chronological sequence of these coins, the evolution of their type – a process almost as remarkable, and certainly as well defined, as any to be found in nature – has served as an efficient guide. I may venture to add that the results obtained from the study of the morphology of these series of coins were published ten years before the appearance of Darwin’s great work on the ‚Origins of Species‘“. Ders., Presidential Adress, S. 4 f.  Zu diesen Fragen s. die gründliche Studie von Bo Gräslund: The Birth of Prehistoric Chronology. Dating Methods and Dating Systems in Nineteenth-century Scandinavian Archaeology. Cambridge 1987, S. 99 ff., und mit einer etwas anderen Perspektive Felix Riede: The Scandinavian Connection. The Roots of Darwinian Archaeology in 19th-century Scandinavian Archaeology. In: Bulletin of the History of Archaeology 16 (2006), S. 4– 19.  In „The Morphology of Coins“ breitete der Numismatiker, Historiker und spätere Romanschriftsteller Charles Francis Keary (1848 – 1917) seine eigene Erklärung dafür aus, warum gerade Münzen als „Teil einer natürlichen Evolution“ verstanden werden konnten: weil Münzen, anders als andere Werkzeuge oder Gerätschaften, „keine spezielle Funktion in Bezug auf die Naturge-

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im Numismatic Chronicle veröffentlicht wurden [1885, 1886]. Dr. Hans Hildebrand ist bei seiner Betrachtung der Geschichte der frühesten skandinavischen Münzen der gleichen Methode gefolgt. In seiner ethnologischen Forschung hat General Pitt Rivers in der Form und Verzierung von Gerätschaften eine beinahe analoge Entwicklung zu derjenigen der Münzen vorgefunden.¹⁸

Eine zweite Anmerkung führt uns in eine komplett andere Richtung. Wie faszinierend auch immer diese Veränderungsmuster waren, so ging es Evans doch primär um das historische Potenzial dieser „aufeinander folgenden Stufen […] um die verschiedenen Münzen auch nur in eine ungefähre chronologische Abfolge zu stellen“,¹⁹ nämlich einen Zeithorizont für das britische Münzwesen zu erhalten. Daher drückte Evans in seinem Aufsatz von 1875 zur natürlichen Selektion seinen Stolz darauf aus, Licht „in einen der dunkelsten Abschnitte der Geschichte dieses Landes“ gebracht und gezeigt zu haben, dass Britanniens Ureinwohner tatsächlich weniger barbarisch und deutlich zivilisierter waren als bis dahin geschildert. Er schloss mit der Hoffnung, dass ein günstigerer Eindruck unserer Vorfahren oder Vorgänger in diesem Land zur Zeit von Cäsars Eroberung entstanden ist, als er bisher vorherrschte. [Evans] hoffte, dass sie nicht mehr als reinste Wilde angesehen würden, die „sich blau anmalten, unter Mistelzweigen saßen und obszöne Riten ausübten“ und die Menschen bei lebendigem Leib in Weidenkörben verbrannten, statt, wie es der modernen Sicht entspricht, die Toten in diesen nützlichen Gegenständen [Weidenkörben] zu bestatten, für deren Herstellung Britannien schon zur Römerzeit bekannt war.²⁰

walten auszuüben haben“ – ihre Funktion ist rein symbolisch und arbiträr. Charles F. Keary: The Morphology of Coins. I. The Greek Family. In: Numismatic Chronicle 5 (1885), S. 165 – 249, hier S. 169 f. und passim.  „Since the time this method of inquiry was adopted in the case of British coins it has been found of service in connection with other series, and I may call attention to two interesting papers by Mr C. F. Keary on ‚The morphology of coins‘ which have been published in the Numismatic Chronicle [1885, 1886]. Dr. Hans Hildebrand has also followed the same method in investigating the history of some of the earliest Scandinavian coins. In his ethnological researches General Pitt Rivers has found, in the form and ornamentation of implements, an almost analogous development with that which has prevailed among coins“. Evans, Coins of the Ancient Britons (1890), S. 422.  Evans, Coinage of the Ancient Britons, S. 476.  „[A] more favourable impression of our ancestors or predecessors in this country at the time of Caesar’s invasion has been created than that which commonly prevailed. [Evans] hoped that they would no longer be regarded as the merest savages ‚who stained themselves blue, sat under the mistletoe, and indulged in obscene rites‘, and who burnt the living in wicker baskets, instead of, in accordance with the modern view, burying their dead in those useful articles [wicker baskets], for the manufacture of which Britain was famous even in Roman times“. Evans, Coinage of the Ancient Britons, S. 487.

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Auch wenn die letzte Bemerkung sicherlich scherzhaft gemeint war, ist das Aufscheinen von unternehmerischen und werberischen Instinkten hier durchaus verräterisch, ebenso wie Evans’ viel weitreichenderer, post-druidischer, durch William Stukeley inspirierter, zweifellos antiquaristischer Zugang zum Studium des vorrömischen Britanniens. Das bringt uns zur dritten und womöglich widersprüchlichsten Beobachtung in Bezug auf Evans’ Transformationstheorie: ihre Generalisierung und Anwendungsmöglichkeit über den numismatischen Ursprung hinaus. Schon in der oben zitierten Passage von 1890 haben wir gesehen, dass Evans den Beitrag seines Freundes, Ethnologen und archäologischen Sammlers General Augustus Henry Lane Fox (1827– 1900, seit 1880 und auch in der Rückschau als Pitt Rivers bekannt) lobte. Die beiden tauschten sich wiederholt über diese Themen aus, und Pitt Rivers zollte der „prototypischen“ Inspiration, die Evans’ numismatische Überlegungen für sein eigenes Konzept der ethnografischen Serien (s. Abb. 2) gewesen waren, bereitwillig seine Anerkennung.²¹ Diese Anerkennung erstreckte sich übrigens auch auf die nachfolgende Generation britischer Anthropologen und Museumskuratoren wie Henry Balfour und Alfred Court Haddon.²² Evans selbst erschien reservierter. An einer Stelle stellte er fest, dass „diese Theorie der Abstammung mit Abwandlungen zweifellos auf die meisten menschlichen Gerätschaften angewandt werden kann“.²³ Im Vorwort zu seinem Buch über The Ancient Bronze Implements von 1881 ging er sogar so weit, seine Beobachtung als grundlegendes Prinzip anzubieten: Einige mögen denken, dass ein riesiger, sinnloser Aufwand darauf verschwendet wurde, so viele Varianten von etwas zu erkennen und zu beschreiben, das meistenteils ganz normale Handwerksgeräte oder gewöhnliche Krieger- und Jagdwaffen waren, die sich nur in scheinbar unwichtigen Details unterschieden. Aber so wie die Anatomie von Winzigkeiten in biologischen Studien oft die vertrauenswürdigsten Hinweise auf die Abstammung eines bestimmten Organismus von einer früheren Lebensform bietet, so können diese unbedeutenden Details in der Form und der Ausprägung gewöhnlicher Gerätschaften, die einem flüchtigen Betrachter bedeutungslos erscheinen, einem begabten Archäologen wertvolle Hinweise geben, durch die die Verbreitung der bronzezeitlichen Zivilisation in Europa zu ihrem Ursprungsort zurückverfolgt werden kann.²⁴

 Diese Verbindungen werden detailliert dargestellt in Schlanger, Series in Progress.  Henry Balfour: The Evolution of Decorative Art. An Essay upon its Origin and Development as Illustrated by the Art of Modern Races of Mankind. London 1893, S. viii, 30 u. passim; Alfred C. Haddon: Evolution in Art as Illustrated by the Life History of Designs. London 1895, S. 313.  Evans, Coinage of the Ancient Britons, S. 482.  „It may by some be thought that a vast amount of useless trouble has been bestowed in figuring and describing so many varieties of what were after all in most cases the ordinary tools of the artificer, or the common arms of the warrior or huntsman, which differed from each other only

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Abb. 2: „Verzierungen von Paddeln aus Neuirland [Papua-Neuguinea], die die Weiterentwicklung der Formen zeigen“, Tafel IV in Augustus H. L. F. Pitt Rivers: On the Principles of Classification Adopted in the Arrangement of his Anthropological Collection, now Exhibited in the Bethnal Green Museum. In: Journal of the Anthropological Institute (1874), S. iv.

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Doch wie erfolgreich Evans auch immer darin gewesen sein mag, Bronzegerätschaften und -verzierungen mit dieser Methode zu analysieren,²⁵ so überrascht es sehr, dass er nie wirklich versuchte (und zeitweise, wie wir sehen werden, es sogar ablehnte), diesen Transformations-Ansatz auf den archäologischen Bereich anzuwenden, den er so geschickt für sich reklamierte: die Analyse von antiken Steinwerkzeugen.

3 Die zweite Universalgelehrten-Episode: die Numismatik der Feuersteine Tatsächlich verdankte sich Evans’ entscheidender Beitrag zur Betrachtung von bearbeiteten Feuersteinen nicht den neuesten Methoden der Naturforschung, sondern den viel traditionelleren und elementaren Werkzeugen der Numismatik. Evans machte Feuersteine vor allem dadurch zu neuen Objekten der wissenschaftlichen Forschung und zentralen Quellen der ungeschriebenen Geschichte, indem er sie betrachtete, als ob sie Münzen wären. Wir sollten daher einige Einzelheiten seiner archäologischen Beiträge betrachten, bevor wir abschließend auf ihre universale Bedeutung eingehen. Evans’ erste Begegnung mit Steinwerkzeugen erfolgte im Frühjahr 1859, als er zusammen mit dem Quartärgeologen und Weinhändler Joseph Prestwich (1812 – 1896) im Auftrag der Geological Society Nordfrankreich besuchte. Ein Antiquar vor Ort in Abbeville, Jacques Boucher de Perthes (1788 – 1868), hatte schon seit Längerem behauptet, er habe Beweise für eine frühe, gar „vorsintflutliche“ Menschheitsgeschichte gefunden. Die beiden Engländer nahmen die Beweise selbst in Augenschein und sammelten genug „direkte und indirekte Zeugnisse“, um sich davon zu überzeugen, dass echte, von Menschen bearbeitete Steinwerkzeuge im Zusammenhang mit den Knochen ausgestorbener Tierarten in unberührten Trift-Ablagerungen aufzufinden waren. Die betroffenen wissenschaftlichen Autoritäten in Frankreich und England (unter anderem die Society of

in apparently unimportant particulars. But as in biological studies minute anatomy often affords the most trustworthy evidence as to the descent of any given organism from some earlier form of life, so these minor details in the form and character of ordinary implements, which to the cursory observer appear devoid of meaning, may, to a skilful archaeologist, afford valuable clues by which the march of the bronze civilisation over Europe may be traced to its original starting-place“. John Evans: The Ancient Bronze Implements, Weapons and Ornaments, of Great Britain and Ireland. London 1881, S. v.  Vgl. MacGregor, Sir John Evans.

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Antiquaries und die Royal Society) folgten dieser Auffassung bald, und die prähistorische Archäologie war geboren.²⁶ Evans unternahm diese Reise, das sollten wir uns in Erinnerung rufen, als anerkannter Experte. Sein Auftrag war – wie er es in seinem ersten Bericht an Prestwich am 25. Mai 1859 bestätigte –, die Feuersteinwerkzeuge in diesen Ablagerungen aus dem Quartär zu untersuchen, indem er sie aus dem Blickwinkel eines Antiquars, weniger aus einem geologischen betrachtete. Genauer gesagt, sollte Evans nach möglichen Unterschieden oder Ähnlichkeiten, „die das Material, die Form oder die Bearbeitung betreffen“,²⁷ zwischen diesen neu entdeckten Trift-Exemplaren und den besser bekannten keltischen Werkzeugen suchen – also genau nach den Kriterien, die er nun schon seit über einem Jahrzehnt auf die Untersuchung von Münzen anwandte.²⁸ Durch verschiedene physische und konzeptuelle Verlagerungen wurde es Evans möglich – oft ganz unbewusst und auf Wegen, die weder von seinen Zeitgenossen noch von den späteren Kommentatoren erkannt wurden –, einige gut eingeführte methodische und interpretatorische Einstellungen von einem Gebiet der altertümerischen Expertise auf ein neues, gerade erst im Entstehen begriffenes und noch zu definierendes Gebiet zu übertragen. Diese weitreichenden Transfers betrafen vor allem die Dokumentierung der antiken Steinwerkzeuge, ihre Authentifizierung und ihre Interpretation. Neben den oben erwähnten beobachtungsorientierten Kriterien des Materials, der Form und der Bearbeitung griff Evans vor allem auf die Dokumentierungskonventionen der Numismatik zurück. Zum Beispiel wurden die Begriffe „schlagen“ und „bearbeiten“, die Teil des technischen Vokabulars der Numis Die bekannten Ereignisse um die Debatten um und die Anerkennung der menschlichen Frühgeschichte in den 1860er-Jahren erklären detailliert: Donald K. Grayson: The Establishment of Human Antiquity. New York 1985, und Arnaud Hurel u. Noël Coye (Hrsg.): Dans l’epaisseur du temps. Archeologues et geologues inventent la prehistoire. Paris 2011. Zu den Vorgängerfiguren von Boucher de Perthes vgl. hauptsächlich Léon Aufrère: Figures de préhistoriens. In: Préhistoire 7 (1940), S. 7– 134; Claudine Cohen u. Jean-Jacques Hublin: Boucher de Perthes. Les origines romantiques de la préhistoire. Paris 1989, und eine neue Interpretation seiner Motive und Beiträge in Nathan Schlanger: Boucher de Perthes au travail. Industrie et préhistoire au XIXe siècle. In: Histoire des sciences et des savoirs. Bd. 2: Modernité et globalisation. Hrsg. von Kapil Raj u. Otto Sibum. Paris 2015, S. 267– 283.  „[…] which may consist in material, form or workmanship“. John Evans: On the Form and Nature of the Flint-implements (Letter to J. Prestwich, 25 May 1859). In: J. Prestwich: On the Occurrence of Flint-implements, Associated with the Remains of Animals of Extinct Species in Beds of a Late Geological Period, in France at Amiens and Abbeville, and in England at Hoxne: Appendix A. In: Philosophical Transactions of the Royal Society 150 (1859), S. 310 – 312, hier S. 310 (Hervorhebung durch den Autor); vgl. ders.: On the Occurrence of Flint Implements in Undisturbed Beds of Gravel, Sand and Clay. In: Archaeologia 38 (1860), S. 280 – 307, hier S. 287.  Etwa Evans, On the Date of British Coins, S. 135.

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matik waren, sehr bald auch auf Steine angewandt, etwa in „die am besten bearbeiteten Formen von Feuersteinwerkzeugen“ oder „Stücke […] abgeschlagen und durch Bearbeitung in Form gebracht“.²⁹ Auch wenn Evans vielleicht nicht der Erste war, der diese Begriffe benutzte, griff er doch eindeutig auf sein spezialisiertes numismatisches Wissen zurück – erst recht, da er aufschlussreiche Übereinstimmungen zwischen dem Schlagen von Münzen und dem Schlagen von Feuersteinen erkannte. Breiter gefasst, übernahm Evans aus der Numismatik die Kunst der einheitlichen, genormten, disziplinierten Beobachtung. Da sie so klein waren und einander so ähnlich zu sein schienen, mussten Münzen anders betrachtet werden als mit einem pauschalen Eindruck oder Überblick, wenn man aus ihnen Erkenntnisse ziehen wollte. Seit der Renaissance und erst recht seit Joseph Hilarius Eckhel (1737– 1798) in seiner Doctrina numorum veterum einen systematischeren Ansatz vertreten hatte, näherten sich Numismatiker den Münzen, indem sie sie methodisch vorbereiteten und untersuchten und jede dem gleichen beschreibenden Blick nach dem gleichen Kriterienkatalog (z. B. Metall, Größe, Gewicht) unterwarfen, um ihren Zustand und ihre Abmessungen zu erfassen und gegebenenfalls ihre Besonderheiten, Kennzeichen oder Fehler einzuordnen. Wenn diese vorbereitenden Maßnahmen einheitlich durchgeführt und von detailliert ausgeführten Illustrationen begleitet wurden, konnte man die betrachteten Münzen anhand ihrer „Ausgaben“ und „Typen“ (wie sie auf den Prägeformen, mit denen sie geschlagen wurden, eingraviert waren) einordnen und dann ihre historischen oder ästhetischen Zusammenhänge finden.³⁰ Diese „gewissenhafte Genauigkeit“ in der Dokumentation spiegelte auch die tiefsitzenden Bedenken in Bezug auf die Echtheit wider. Während der zweieinhalbtausend Jahre ihrer Existenz wurde an den Münzen wiederholt herumgepfuscht, sie wurden beschnitten, nachgemacht und gefälscht – und dies nicht nur einfach zur Herstellung von Sammlerstücken für arglose Laien (wie es bei griechischen Marmorstatuen oder den sogenannten etruskischen Vasen der Fall ist), sondern auch, mit deutlich ernsteren Konsequenzen, als vermeintlich echte Zahlungsmittel, die hinterlistig in die Geldwirtschaft eingebracht wurden. Die Numismatik als Disziplin widmete sich von Anfang an besonders aufmerksam

 Evans, On the Date of British Coins, S. 280, 289; vgl. ders.: The Ancient Stone Implements, Weapons, and Ornaments, of Great Britain. London 1872 (2. Aufl. 1897), S. 22, 292, 573 ff.  Zur weiteren Diskussion und Erklärung numismatischer Praktiken vgl. Schlanger, Series in Progress; ders., Coins to Flint, und die archäologischen Überlegungen in Fleur Kemmers u. Nanouschka Myrberg: Rethinking Numismatics. The Archaeology of Coins. In: Archaeological Dialogues 18 (2011), S. 87– 108; Katy Barrett: Writing on, around, and about Coins. From the Eighteenth-century Cabinet to the Twenty-first-century Database. In: Journal of Museum Ethnography 25 (2012), S. 64– 80.

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dieser Frage, erst recht im 19. Jahrhundert, als sich auch viele Geschäftsleute darin übten, die ihr moralisches Ansehen zu heben versuchten. Evans war einer von ihnen, und schon früh in seiner Laufbahn erlebte er die Notwendigkeit am eigenen Leib, Anschuldigungen über den zweifelhaften Charakter einiger von ihm erworbener Münzen abzuwehren: „Ich kann nur sagen, dass ich noch nie eine Münze gesehen habe, die weniger zu Zweifeln Anlass geboten hätte. Ihre Patina, ihr Gewicht, die handwerkliche Ausführung und die Art und Weise, wie sie in meinen Besitz gelangte, lassen an ihrer Authentizität keinen Zweifel“.³¹ Dieselbe wachsame Redlichkeit übertrug er auf das Studium antiker Steinwerkzeuge, wo das Risiko doppelt so hoch war. Als erste und wichtigste Frage war zu beantworten, ob das vorliegende Exemplar wirklich künstlich hergestellt war; es war also wichtig zu bestimmen, ob sie von Menschenhand mit Bedacht hergestellte und bearbeitete Objekte waren oder im Gegensatz nur irreführende, durch geologische oder mechanische Vorgänge hervorgerufene „Launen der Natur“, einfach nur „kantige, durch das arbeitende Eis zerbrochene Stücke“, wie ein Beobachter sie einmal abtat (s. unten). Die zweite Frage, die im Zusammenhang mit den Steinwerkzeugen zu beantworten war, betraf ihre Authentizität als tatsächlich antike Objekte und keine modernen Fälschungen, die manchmal von skrupellosen Arbeitern vorsätzlich in Quartärschichten „platziert“ wurden. Evans als Numismatiker war tatsächlich in einzigartiger Weise dazu berufen, die „Charakteristika von Authentizität“ der betreffenden Exemplare zu suchen und zu bewerten.³² Die ihm eigene Aufmerksamkeit wird aus der Beobachtung deutlich, dass „viele der Werkzeuge [aus dem Sommetal] einen Überzug aus Kalziumkarbonat haben, das eine fest haftende Kruste bildet – das […] ist für diese Waffen das, was die Patina für Bronzemünzen und -statuen ist, nämlich ein Beweis für ihr Alter“³³ – eine aufschlussreiche Bemerkung, die auf einzigartige Weise den Transfer eines Konzepts und seiner Bedeutung von einem Bereich des Antiquarianismus auf einen anderen bestätigt. Das gleiche gilt für Evans’ Interesse an den Prozessen der Feuersteinherstellung, das natürlich seinen Hintergrund als Industrieller widerspiegelt. Die Tatsache, dass sie gefälscht werden konnten, argumentierte er, sprach in Wahrheit für ihren künstlichen Charakter und gegen diejenigen, die sie als natürliche Gebilde abtaten. In ähnlicher Weise folgte Evans’ Rückgriff auf ethnografische Beobachtungen von Steinbearbeitung unter den

 John Evans: Errors Respecting the Coinage of Ancient Celtic Kings of Britain. In: Numismatic Chronicle 18 (1856), S. 161– 165, hier S. 164; vgl. auch ders., Coins of the Ancient Britons (1864); ders.: On the Forgery of Antiquities. In: Notices of the Proceedings of the Royal Institution of Great Britain 4 (1866), S. 356 – 365.  Evans, On the Form and Nature, S. 310.  Evans, On the Occurrence, S. 297.

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Azteken, den Eskimos und den australischen Aborigines (wenn auch gründlicher und mit besser definierten Zielen) dem Interesse der Antiquare an „Analogien unter Wilden“, die von Gelehrten wie Lafitau und Jussieu in der Mitte des 18. Jahrhunderts verfolgt worden war – eine Vorstellung des Antiquarianismus, die, wie Evans oben selbst andeutete, viele Rekonstruktionen des vorrömischen, druidischen Britannien beeinflusste.³⁴ Origineller waren Evans Besuche bei den Gewehrfeuersteinwerken in Brandon, seine Anstellung eines Feuersteinbearbeiters aus Suffolk und auch seine eigenen frühreifen Versuche in der experimentellen Feuersteinbearbeitung, mit der er seinen Fachkollegen auch die Anfertigung von Nachahmungen demonstrierte – alles Unternehmungen, die Evans den bleibenden Ruf als unanfechtbare Autorität bei der Reproduktion und Klassifizierung von antiken Steinwerkzeugen sicherten.³⁵ Tatsächlich waren auch diese Aktivitäten grundlegend von numismatischen Überlegungen beeinflusst. Seit seinem ersten Besuch des Sommetals war Evans’ Untersuchung des „Charakters“ der Feuersteinfunde auf ihren weiteren chronologischen Nutzen ausgerichtet. Seine Klassifizierung lieferte nicht nur Beweise für die Existenz einer Steinzeit (in dem seinerzeit noch umstrittenen dreiteiligen Schema von Stein-, Bronze- und Eisenzeit³⁶), sondern teilte diese Steinzeit auch noch in zwei Perioden ein, die keltische und die Trift-Periode. Von Anfang an sah Evans es als seine wichtigste Aufgabe an,

 Evans, The Coinage of Ancient Britons, S. 487, wie oben zitiert, und vgl. Stuart Piggott: Ancient Britons and the Antiquarian Imagination. London 1989; Alain Schnapp: Die Entdeckung der Vergangenheit. Ursprünge und Abenteuer der Archäologie. Stuttgart 2009; ders.: Between Antiquarians and Archaeologists. In: Antiquity 76 (2002), S. 134– 140, ebenso wie Christopher P. Manias: The Problematic Construction of „Palaeolithic Man“. The Old Stone Age and the Difficulties of the Comparative Method, 1859 – 1914. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 51 (2015), S. 32– 43.  John Evans: On the Manufacture of Stone Implements in Prehistoric Times. In: Third International Congress of Prehistoric Anthropology and Archaeology, 1868, London and Norwich. London 1869, S. 191– 193; ders.: Ancient Stone Implements, S. 13 ff. S. auch die Würdigungen in Mark J.White: Out of Abbeville. Sir John Evans, Palaeolithic Patriarch and Handaxe Pioneer. In: A Very Remote Period Indeed. Papers on the Palaeolithic Presented to Derek Roe. Hrsg. von Sarah Milliken u. Jill Cook. Oxford 2001, S. 242– 248; Roberts/Barton, Reading the Unwritten History; O’Connor, Finding Time for the Old Stone Age; Hugo Lamdin-Whymark: Sir John Evans. Experimental Flint Knapping and the Origins of Lithic Research. In: Lithics 30 (2009), S. 45 – 52.  Vgl. Gräslund, Birth of Prehistoric Chronology; Peter Rowley-Conwy: From Genesis to Prehistory. The Archaeological Three Age System and its Contested Reception in Denmark, Britain, and Ireland. Oxford 2007; Claude Blanckaert: Nommer le préhistorique au XIXe siècle. Linguistique et transferts lexicaux. In: Organon 49 (2017), S. 57– 103.

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„zu zeigen, wo die Werkzeuge aus der Trift denen ähneln oder sich von ihnen unterscheiden, die als in gewisser Weise analog mit ihnen anzusehen sind, die so häufig in diesem Land oder auf dem Kontinent gefunden werden und die gewöhnlich als Werk der primitiven, oder, wie ich sie der Einfachheit halber nennen werde, der keltischen Bewohner dieses Teils von Europa angesehen werden“.³⁷

Diese Kelten-/Trift-Unterscheidung, die schon bald von Lubbock in „neolithische“ und „paläolithische“ Periode umbenannt werden sollte,³⁸ verkörperte für Evans gleichzeitig eine technologische und haptische Unterscheidung zwischen „polierten“ und „unpolierten“ Steinwerkzeugen – eine klare Analogie zur zeitgenössischen numismatischen Unterscheidung zwischen „beschrifteten“ und „unbeschrifteten“ Münzen. In seiner Betrachtung der unpolierten Feuersteine und ihrer Schneidekanten unterschied Evans drei Haupttypen: „1. Flintabschläge, offenbar für Pfeilspitzen und Messer gedacht. 2. Spitze Waffen, analog zu Lanzen- oder Speerköpfen. 3. Ovale oder mandelförmige Werkzeuge mit umlaufender Schneidekante“³⁹ (vgl. Abb. 3). Evans ließ die Flintabschläge unbeachtet, da sie als chronologisch wenig aussagefähig angesehen wurden, und legte fest, dass sowohl die „spitzen“ als auch die „ovalen“ Werkzeuge in die Trift-Periode gehörten. Doch überraschenderweise hatte er diese angeblich eindeutigen und gut zuzuordnenden Werkzeugtypen kaum identifiziert, als er sich auch schon daran machte, ihre Unterscheidungen abzuschwächen und herunterzuspielen. Diese Werkzeuge könnten „zur Vereinfachung in drei Klassen eingeteilt werden, doch die Vielfalt innerhalb der Klassen ist so groß, dass man sagen könnte, dass insbesondere die zweite und dritte ineinander übergehen.“ Das erschwerte es sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne, eine „deutliche Trennlinie“ zwischen der spitzen und der abgerundeten Form zu ziehen, da so viele Exemplare „eine Mittelposition einnahmen“. Außerdem wurde die Frage, „welche Art von Spitze ein Werkzeug haben würde“, tatsächlich „zu einem großen Teil durch den Zufall entschieden“, ausgehend von den Schwierigkei-

 „[…] to point out wherein these implements from the drift resemble or differ from those in some degree analogous with them, which are so frequently found in this country and on the Continent, and are usually considered to be the work of the primitive, or as for convenience sake I will call them, the Celtic inhabitants of this part of Europe“. Evans, On the Form and Nature, S. 130.  John Lubbock: Pre-Historic Times, as Illustrated by Ancient Remains, and the Manners and Customs of Modern Savages. London 1865.  Evans, On the Form and Nature; ders., On the Occurrence of Flint Implements.

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Abb. 3: Klassifizierung von Steinwerkzeugen aus der Trift. Tafel IV in Evans: Account of some Further Discoveries, S. xxxix. Nr. 1 – 4 sind Beispiele für „Flintabschläge“, 5 – 10 für „spitze“ und 11 – 20 für „ovale“ Stücke.

ten, die durch die natürlichen Gegebenheiten und die Qualität des verwendeten Rohmaterials bestimmt wurden.⁴⁰ Das Konzept der Variabilität, das hier aufscheint, ist tatsächlich von der Numismatik geprägt: Indem es die systematische Untersuchung von vergrößerten Merkmalen auf der Mikroebene heranzog, schaffte es einen fertigen Zugang, der sich auf die Voraussetzungen beim Prägen bezog. Wie Evans in seinen numismatischen Schriften ausgebreitet hatte,⁴¹ war der technische Prozess der Münzherstellung in der Antike so beschaffen, dass keines der produzierten Exemplare je mit einem anderen identisch war. Gründe für die Variabilität lagen in den spezifischen Eigenschaften der veredelten und legierten Rohmaterialien (Metalle), dem Gewicht, der Form und dem Zustand der Rohlinge, ihrer Positionierung und Zentrierung auf der Aversform (Amboss), der Platzierung und Ausrichtung des Reversstempels darüber, der Kraft, dem Winkel und der Wiederholung des  John Evans: Account of some Further Discoveries of Flint Implements in the Drift on the Continent and in England. In: Archaeologia 39 (1862), S. 57– 84, hier S. 77; ders., Ancient Stone Implements, S. 561, 566 f.  V. a. in Evans, Coins of the Ancient Britons (1864), S. 34, 43 – 45.

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Schlags und so weiter. Diese ganze Abfolge wurde für jede Münze in jeder benutzten Form (die abgenutzt wurde und am Ende zerbrach) wiederholt, ebenso wie für jeden „Typ“, den die Münzbehörde ausgab. Und wie bei den Münzen, so schien es auch bei den Feuersteinen zweifelhaft, ob es hilfreich ist, auf diesen Unterteilungen nach der Form zu bestehen, da viele davon zweifellos durch die Art und Weise bestimmt wurden, wie der Feuerstein während der Bearbeitung gebrochen ist. Obwohl ich also hier eine recht detaillierte Klassifizierung versucht habe, soll das keineswegs heißen, dass ich annehme, dass jedes Werkzeug für einen speziellen Zweck angefertigt wurde, wie das bei vielen Werkzeugen und Waffen heutzutage der Fall ist. Viel eher gehe ich davon aus, dass man eigentlich nur zwei Haupteinteilungen vornehmen kann, auch wenn sogar diese ineinander übergehen mögen; ich meine spitze Werkzeuge zum Stechen, Graben oder Bohren und scharfkantige Werkzeuge zum Schneiden oder Schaben.⁴²

Fazit: Ungehinderte Universalgelehrsamkeit Indem er Feuersteine untersuchte, als ob sie Münzen wären; indem er sie dokumentierte, ihre Authentizität bestimmte und sie nach numismatischen Kriterien beurteilte, trug Evans mehr zur Förderung ihrer Erforschung bei als jeder andere Gelehrte zumindest im 19. Jahrhundert – so weit ihn sein Ansatz trug. Tatsächlich wurde seine halbherzige Unterscheidung zwischen spitzen und ovalen Formen neuerdings durch Messungen teils bestätigt. Ebenso ist die heutige Forschung über die morphologische und typologische Beschreibung hinausgegangen und wendet sich nun eher den technologischen Fragen zu, etwa den Bearbeitungseigenschaften und Nutzanwendungen des Rohmaterials oder auch dem Produktionsablauf – Fragen nach Prozessen und Produktivität, zu denen Evans mit seinem (Papier‐)Fabrikanteninstinkt schon vorausgreifend eine Affinität besaß. Trotzdem bleibt festzustellen, dass Evans nicht versuchte, „das Dreieck zu vollenden“: Nachdem er die Numismatik durch das Prisma der Naturgeschichte betrachtet hatte und dann Feuersteine aus der Perspektive der Münzen, verfolgte er

 „[…] it seems doubtful whether it is worth while to insist much on these subdivisions of form, many of which must, no doubt, have resulted from the manner in which the flint happened to break during the process of manufacture. Though, therefore, I have here attempted a somewhat detailed classification, I by no means wish it to be supposed that I consider each form of implement to have been specially made to serve some special requirement, as is the case with many of the tools and weapons of the present day. I am far more ready to think that only two main divisions can be established, though even these may be said to shade off into each other; I mean pointed implements for piercing, digging, or boring, and sharp-edged implements for cutting or scraping“. Evans, Ancient Stone Implements, S. 567.

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die Option nicht, die im weiteren Verlauf zum Leitmotiv der prähistorischen Forschung wurde – die Naturgeschichte der Steinwerkzeuge. Obwohl er mit der Terminologie von Auslese, Abstammung, Transformation und Fortschritt vertraut war – eine Vertrautheit, die er, wie wir gesehen haben, zehn Jahre vor den Werken „unserer besten Naturforscher“ für sich reklamierte –, versuchte Evans kaum, diese spezifische Sprache auf Feuersteine anzuwenden, und Darwin erwähnte er in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht. Nicht nur das, denn während Evans Pitt Rivers’ durch ihn inspirierten Versuch gutgeheißen haben mag, die Verzierungen auf melanesischen Paddeln (s.o., Abb. 2) in eine Abfolge zu bringen, lehnte der dessen spätere Ausdehnung dieser Perspektive auf Steinwerkzeuge deutlich ab. Tatsächlich hatte Pitt Rivers, scheinbar in den Fängen der Gesetze von Abfolge und Kontinuität, die er zu untermauern half, vorgeschlagen, eine Abfolge von Steinwerkzeugen zusammenzustellen, von den ältesten bekannten (aus St. Acheul und den englischen Flusstriften, aber auch aus dem südlichen Afrika und aus Indien) bis zu zeitgenössischen ethnografischen Exemplaren. „Indem ich bestimmte Objekte ausgesucht und sie von links nach rechts angeordnet habe, habe ich mich bemüht, den Übergang vom Trift-Typ zum mandelförmigen keltischen Typ nachzuzeichnen“ und so zu zeigen, wie sie „fast unmerklich“ „zahlreiche Formabstufungen“ durchlaufen, sodass, „wenn man mit dem Auge die obere Reihe von Diagramm Nr. 1 (Tafel XII) von links nach rechts verfolgt, auch der scharfsinnigste Beobachter darüber rätseln wird, wo genau der Trift-Typ endet und der keltische beginnt“.⁴³ Evans seinerseits lehnte diese Sichtweise mit ihrer Betonung der Kontinuität statt der Klassifikation konsequent ab, ebenso wie Pitt Rivers’ Behauptungen aufgrund seiner Ausgrabungen in Cissbury. Im Gegenteil, so Evans, „ein einziger Blick auf die Abbildung zeigt, wie unterschiedlich sie sind“, sowohl von der Form als auch von der Machart her, sodass sich eine „deutliche Lücke zwischen der Flusstrift- und der Oberflächensteinperiode [zeigt], was eine Zwischenform von Werkzeugen angeht“.⁴⁴ Diese deutliche Lücke bekräftigte wiederum Evans’ (möglicherweise durch die Bibel oder die Sintflut inspirierte) Hypothese eines kompletten Bevölkerungsaustauschs im Land zwischen dem Paläolithikum (Trift) und dem Neolithikum (Kelten). Evans’ anfängliche Motivation beim Studium der Steinwerkzeuge war es gewesen, mithilfe „der Untersuchung von antiken Überresten lange vergangene  Augustus H. L. F. Pitt Rivers: Primitive Warfare. Part II: On the Resemblance of the Weapons of Early Man, their Variation, Continuity, and Development of Form. In: Journal of the Royal United Services Institution (1868), S. xii [Nachdruck in ders.: The Evolution of Culture and other Essays. Oxford 1906, dort S. 103 ff.].  Evans, Ancient Stone Implements, S. 560 ff.

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Tage in einem Ideal wieder lebendig zu machen, die Bedingungen früherer Zustände nachzuvollziehen und sozusagen die Erde wieder mit ihren früheren Bewohnern zu bevölkern.“⁴⁵ Wir können heute erkennen, dass der Bezugsrahmen, auf den er mehr oder weniger stillschweigend zurückgriff, tatsächlich derjenige des Antiquarianismus war. Genau genommen scheint Evans so vorgegangen zu sein, als ob seine Quellen schriftlicher statt nichtschriftlicher Natur gewesen wären, denn er projizierte eine durch Julius Cäsar inspirierte Suche nach Fürstendistrikten und antiken Stammesgrenzen bis tief in die Steinzeit hinein. So ist der aus der Numismatik stammende Ansatz in Ancient Stone Implements (1872) zu verstehen, wo er sich bemüht, eine Kartierung der Fundorte von Feuersteinwerkzeugen innerhalb von pseudopolitischen territorialen Einheiten vorzunehmen, wobei wenig Raum oder Notwendigkeit für Überlegungen über die Verfügbarkeit von Rohmaterialien, den Einfluss der Geomorphologie oder ähnliche Erwägungen der Naturforschung blieb. Da seine Interpretation der Variabilität von Feuersteinen auf seinem technologischen Verständnis als Fabrikant und der ihm bekannten, durch Zufälle und aus der Situation heraus zu erklärenden Variation von Münzen beruhte, hielt es Evans zeit seines Lebens kaum einmal für nötig, langfristige und umfassende Entwicklungstrends zu identifizieren oder zu erforschen. Das schloss auch die Thesen ein, die zur gleichen Zeit auf dem Kontinent durch den zum Museumskurator gewandelten Ingenieur Gabriel de Mortille (1821– 1898) vertreten wurden. Dessen Periodisierung der Steinzeit in das Acheuleen, Mousterien und Arignacien bekräftigte nicht nur, dass von Menschen hergestellte Objekte die besten Kennzeichen von Zivilisationen sind, sondern demonstrierte auch ausgiebig die universellen Gesetze für menschlichen Fortschritt und Entwicklung.⁴⁶ Bis auf eine kleine terminologische Substitution blieb sich unser Protagonist ansonsten treu. Als er sich daranmachte, bei der Etablierung der frühen Menschheitsgeschichte mitzuwirken, hatte Evans die Notwendigkeit betont, Feuersteine „aus einem antiquarischen Blickwinkel“ zu betrachten – und heute wissen wir, wie wichtig und von welch unschätzbarem Wert diese antiquarische,

 Evans, On the Occurrence of Flint Implements, S. 280.  Gabriel de Mortillet: Classification des diverses periodes de l’age de la pierre. In: Congres International d’Anthropologie et d’Archeologie Prehistoriques, 6e Session, 1872. Brüssel 1873, S. 432– 459; Evans, Ancient Stone Implements, S. 430 ff. S. auch Nathalie Richard: Inventer la Préhistoire. Les débuts de l’archéologie préhistorique en France. Paris 2008; Nathan Schlanger: Gabriel de Mortillet. 1821– 1898. Classifying Human Cultural Evolution. In: The Great Archaeologists. Hrsg. von Brian Fagan. London 2014, S. 28 – 30; ders.: One Day Hero. Jules Reboux at the Crucible of Prehistory in 1860s Paris. In: Speaking Materials. Histories of Archaeology. Hrsg. von Oscar Moro Abadía u. Christoph Huth. Complutum 24 (2014), S. 73 – 88.

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numismatikbasierte und pedantische Perspektive für die Entwicklung der prähistorischen Archäologie war. Wenn es noch eine weitere Bestätigung braucht, müssen wir nur Evans’ Schlussfolgerungen von 1859 mit denen vergleichen, die niemand anders als Charles Darwin zur gleichen Zeit aus den gleichen Objekten zog. In einem Brief vom Juni dieses Jahres an seinen Freund Joseph Hooker gab Darwin mit Blick auf die Bestätigung von Boucher de Perthes’ Behauptungen durch die wissenschaftliche Gemeinschaft seine vorangegangene Skepsis beiläufig zu: „Ich habe mich gefreut, von Prestwichs Schreiben [an die Royal Society] zu hören. Ich war im Zweifel darüber (& ich habe gesehen, dass Wright das gleiche im Athenæum geschrieben hat), ob die Feuersteinstücke tatsächlich Werkzeuge sind: Ihre Anzahl lässt mich zweifeln, & wenn ich bisher Boucher de Perthes’ Zeichnungen angesehen habe, kam ich zu dem Schluss, dass sie kantige, durch das arbeitende Eis zerbrochene Stücke seien.“⁴⁷ Mit seinem antiquarischen Blick erkannte Evans, was diese Feuersteine waren, und griff auf seine Autorität als Numismatiker und Geschäftsmann zurück, um danach die wissenschaftliche Gemeinschaft davon zu überzeugen. In seiner Abschiedsrede als Präsident bei der BAAS-Konferenz in Toronto rund 40 Jahre später konnte er mit einer leichten Terminologieverschiebung behaupten, dass „es eindeutig in das Tätigkeitsgebiet des Archäologen fällt, darüber zu entscheiden, ob vorliegende Exemplare so bearbeitet wurden oder nicht“.⁴⁸ Wir müssen auf jeden Fall erkennen und anerkennen, dass die prähistorische Archäologie zusammen mit dem Antiquarianismus entstanden ist, sich entwickelt hat und gewachsen ist, nicht gegen ihn. In historiografischer Hinsicht und mit Blick auf die Ausfächerung der Disziplinen mag es für Evans und für die ihm nachfolgenden Generationen von Prähistorikern und Archäologen dienlich gewesen sein, ihre Nähe zu den Naturwissenschaften zu betonen, was eine Reihe von intellektuellen, methodischen, akademischen, organisatorischen und finanziellen Verbindungen nach sich zog, deren Auswirkungen auch heute noch deutlich spürbar sind. Aber Evans’ Fall hilft uns auf jeden Fall, die Voreingenommenheiten und Beschränkungen dieser Meistererzählung offenzulegen, und zeigt im Gegenteil, dass das Studium der ungeschriebenen Geschichte auf der Basis von Objekten, Überresten und Spuren immer maßgeblich mit den Leistungen der historischen

 „I was glad to hear about Prestwich’s paper [to the Royal Society]. My doubt has been (& I see Wright has inserted same in Athenæum) whether the pieces of flint are really tools: their numbers make me doubt; & when I formerly looked at Boucher de Perthes drawings I came to the conclusion that they were angular fragments broken by ice-action.“ Charles Darwin an Joseph Dalton Hooker, 22.6.1859, Darwin Correspondence Project, Letter no. 2471, https://www.darwinproject. ac.uk/letter/DCP-LETT-2471.xml (14. 2. 2018).  Evans, Presidential Adress, S. 6 (Hervorhebung durch den Autor).

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und humanistischen Forschung zusammenhing.⁴⁹ Nur wenn wir diese Nähe und Überschneidungen anerkennen, werden wir die Grenzen des Universalgelehrtentums wirklich überschreiten und nach einem besseren Verständnis der Menschheit in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft streben können. Aus dem Englischen von Cordula Hubert, Olching

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 Vgl. Schnapp, Entdeckung der Vergangenheit; ders.: Between Antiquarians and Archaeologists; Peter N. Miller: History and Its Objects. Antiquarianism and Material Culture since 1500. Ithaca 2017.

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„Deutsche“ Dinge

Der Germanist Otto Lauffer zwischen Altertums- und Volkskunde Dass die Dinge nicht sprechen, sondern stumm sind und allenfalls zeigen, ist in der Museologie aller Disziplinen bis heute ein geflügeltes Wort.¹ Diese quellenkritische Sentenz geht zurück auf den Volkskundler bzw. Altgermanisten Otto Lauffer (1878 – 1949). Im Folgenden geht es um eine historische Situierung dieser Position. Um zu verstehen, welches Erkenntnisinteresse und welche historischpolitischen Horizonte bei dieser Aussage über das, was man heute materielle Kultur nennt, mitverhandelt wurden und werden, ist es notwendig, Otto Lauffers Postulat in einem weiteren wissensgeschichtlichen Kontext zu rekonstruieren. Damit ist nicht die Lösung eines methodischen Problems intendiert, etwa ein verbessertes Verfahren zur Analyse materieller Kultur, sondern eine wissens- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung. Die von und um Otto Lauffer geführte Auseinandersetzung um die Methoden der Erschließung und die Epistemologie der nicht-schriftlichen, materiellen Quellen war zentral für die Herausbildung und die Gegenwart jener disziplinären Ansprüche, die in den anthropologischen Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1970er-Jahre als „Deutsche Volkskunde“ bekannt wurden.

1 Die Entstehung der Germanistik, um 1840: „ausgeschlossen bleiben alle handgreiflichen altertümer“ Im Laufe des 19. Jahrhunderts tat sich zwischen Klassischer Philologie und Klassischer bzw. Christlicher Archäologie sowohl im blühenden bürgerlichen Vereinswesen als auch an den Universitäten, Museen und Akademien ein Feld auf, das unter  Einige aktuelle Titel aus den Forschungsfeldern Museum und materielle Kultur mit entsprechenden Anspielungen: Mario Schulze: Wie die Dinge sprechen lernten. Eine Geschichte des Museumsobjekts. Bielefeld 2017 (Edition Museum 25); Thomas Thiemeyer: Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung. In: AlltagsKultur! www.alltagskultur.info/ 2013/10/die-sprache-der-dinge (25.5. 2018); Elisabeth Tietmeyer [u. a.] (Hrsg.): Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur. Münster 2010 (Schriftenreihe Museum Europäischer Kulturen 5). https://doi.org/10.1515/9783110552201-009

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der Bezeichnung „Altertum“ oder „deutsches Altertum“ einen eigenen Gegenstandsbereich beanspruchte. Die historischen Inhalte, für die man sich als „Altertümer“ interessierte, sollten nicht mehr oder nicht mehr primär im Kontext der griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Überlieferung seit der Antike betrachtet werden,² sondern als „deutsche“ oder „germanische“ Gegenstände sui generis identifiziert bzw. in ein neues, autonomes Verhältnis zur Klassischen Antike gesetzt werden.³ Für das hier behandelte Thema ist zentral, dass man bei der ersten wissenschaftlichen Institutionalisierung dieser Altertumsforschung, der Gründung der Zeitschrift für deutsches Alterthum im Jahr 1841, mit einem expliziten Ausschluss schriftloser Vergangenheit operierte. Moriz Haupt, ausgebildet als Klassischer Philologe, ab 1843 Inhaber der ersten, ad personam eingerichteten ordentlichen Professur für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Leipzig und Spiritus Rector der Zeitschrift, zog in seinem „Vorwort zum ersten Hefte“ folgende Grenze zum „umfang […] in welchem hier der name des deutschen alterthumes gilt“: Ausgeschlossen von dem stoffe dieser zeitschrift bleiben alle handgreiflichen alterthümer ohne geistigen gehalt. Es ist nicht nöthig für diese gegenstände ein neues mittel der bekanntmachung

 Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Bd. 1: A–E. Wien 1811. Lemma: Das Alterthum. Sp. 239 f. dokumentierte die ältere Verwendung, bei der die griechisch-römische Antike als generisches „Altertum“ fungierte: An erster Stelle wird die Bedeutung im Sinne von „Lebensalter“ genannt, unter „2) Die alte längst verflossene Zeit und die Menschen, die darin gelebt haben […] Das heidnische Alterthum. Das christliche Alterthum. Das gelehrte Alterthum. […] Besonders die schöne Zeit der Griechen und Römer, und die Schriftsteller, die aus derselben übrig geblieben sind.“ sowie „3) Ehemalige, in alten Zeiten noch übliche Gebräuche, ingleichen Werke der Kunst, die aus alten Zeiten noch übrig sind, in welcher Bedeutung nur der Plural gebraucht wird. Griechische, Römische, Deutsche Alterthümer. Heidnische, christliche Alterthümer. Daher die Alterthumskunde, die Kunde oder Kenntnis der Alterthümer, und in engerer Bedeutung, der Alterthümer der Griechen und Römer“ [Hervorhebungen durch die Autorinnen].  Diese Entwicklung ist zudem im Kontext der Neuordnung historischen Wissens seit der Frühen Neuzeit zu betrachten. Die lange auf die biblische Überlieferung rekurrierenden Horizonte der Frühgeschichte waren innerhalb der universalhistorischen Entwürfe nach und nach dadurch isoliert worden, dass sie die schriftlichen Quellen, die die sich herausbildende Geschichtswissenschaft forderte, nicht bieten konnte. S. Helmut Zedelmaier: Vor- und Frühgeschichte als Problembezirk historischen Wissens im 18. Jahrhundert. In: Vorwelten und Vorzeiten. Archäologie als Spiegel historischen Bewußtseins in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Dietrich Hakelberg u. Ingo Wiwjorra. Wiesbaden 2010 (Wolfenbütteler Forschungen 124), S. 93 – 104, hier S. 100 f. So wurden vor- oder frühgeschichtliche Sachverhalte im 19. Jahrhundert zum Gegenstand von Geschichtsphilosophie und „ethnographischer Empirie“, die ihre Wissensbestände nicht auf der Grundlage historisch-kritischer Methoden legitimierten. In diesem Kontext zerbrach hinsichtlich des Feldes historischen Wissens „das Konkordanzverhältnis von schriftlicher Überlieferung und schriftlosen Fundstücken“, s. Zedelmaier, Vor- und Frühgeschichte als Problembezirk, S. 101 f.

Der Germanist Otto Lauffer zwischen Altertums- und Volkskunde

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zu schaffen, da ja ganze gesellschaften auf die sammlung und beschreibung derselben den grösten theil ihrer thätigkeit verwenden. die vaterländische gesinnung mit der dies geschieht ist gewiss nicht zu schelten, aber der wissenschaftliche ertrag dieser bestrebungen scheint mir sehr gering. die gräber die man zu hunderten aufgedeckt hat sind doch fast stumm geblieben über die alte zeit deren sprache verhallt ist; scherben waffen und geräthe werden aus ihnen in zahlloser aber gleichförmiger menge zu tage gefördert ohne dass wir dadurch mehr lernen als wir längst wusten. Und das ist nicht viel, denn ich sehe nicht, dass man auch nur so weit gekommen ist in diesen alterthümern deutsches celtisches slavisches mit fester sicherheit zu unterscheiden. Sollte es gelingen solchen überresten des grauen alterthumes erhebliche belehrung abzugewinnen, dann mag auch diese zeitschrift sie in ihren kreis ziehen.⁴

Ebenso schloss Haupt die „denkmäler der bildenden kunst des mittelalters“ aus: Diese seien zwar ergiebigere Quellen, aber deren systematische Berücksichtigung würde der neuen Zeitschrift ein „allzu weites gebiet“ aufbürden. Auch die „geschichte“ insgesamt habe ihre eigenen Zeitschriften, und ebenso liege „die politische geschichte […] ausserhalb des kreises den diese zeitschrift zu umfassen sich vorsetzt“.⁵ Der fachliche Gegenstand der Zeitschrift seien „die literatur, die sprache, die sitten, die rechtsalterthümer, de(r) glauben der deutschen vorzeit“.⁶ Von der „classischen philologie“ wiederum unterscheide sich das, weil zu deren Gebiet keine neuen Quellen verfügbar seien. Als zentrale Quellen für das „deutsche Alterthum“ stellte sich Haupt vor allem „sprachdenkmäler“ vor.⁷ Das wissenschaftliche Feld sollten die „literaturgeschichte“ und die „sprachforschung“ sein.⁸ Und anders als die „classische philologie“, zu der Haupt selbst u. a. mit Goethe-Übersetzungen ins Lateinische federführend beigetragen hatte, widmet sich diese Zeitschrift dem Deutschen: Auf deutsches in der eigentlichen bedeutung des namens ist diese zeitschrift gerichtet; doch wird es unvermeidlich oder erlaubt sein zuweilen in das gebiet anderer germanischer stämme über zu streifen. ja selbst die alterthümer anderer völker mögen hier und da in betracht kommen, wie sich die deutsche grammatik der berücksichtigung anderer sprachen nicht entziehen kann. so bedarf in diesem hefte der abdruck des seltenen aufsatzes über die götter der samogiten keiner entschuldigung; er fordert vielfach zur vergleichung mit der deutschen mythologie auf.⁹

 Moriz Haupt: Vorwort zum ersten Hefte. In: Zeitschrift für deutsches Alterthum (ZdA) 1 (1841), S. III–VIII, hier S. III.  Haupt, Vorwort, S. IIIf.  Haupt, Vorwort, S. IV (dort auch das folgende Zitat im Text).  Haupt, Vorwort, S. VI.  Haupt, Vorwort, S. VIf.  Haupt, Vorwort, S. VII. Die hier kaum verhüllte territorial-politische Thematisierung nationaler bzw. staatlicher Grenzen und Binnenordnungen sowie deren Verknüpfung mit einem fachlichakademischen Wissensanspruch charakterisierten die Verhandlungen der Germanisten. S. Ka-

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Jacob und Wilhelm Grimm waren in diesem ersten Heft der Zeitschrift für deutsches Alterthum nicht nur durch die Herausgeber-Referenz auf die Deutsche Mythologie präsent, sondern auch selbst mit mehreren Beiträgen vertreten. Zudem würdigte Haupt das Grimm’sche Unterfangen durch die Kleinschreibung. Die mit diesem orthografischen Programm verbundenen Überlegungen haben ebenfalls mit dem neuen Interesse an einer „Volksüberlieferung“ zu tun, die man seitwärts der antiken, philosophischen und theologischen Schriften verorten wollte: Jacob Grimm hatte die Großschreibung in seiner Deutschen Grammatik abgelehnt, da sie dem Sprachgefühl nicht entspreche und für Pedanterie stehe.¹⁰ Vor allem aber war die Kleinschreibung das Ergebnis einer paläografischen Überlegung Grimms, symbolisierte doch für ihn die Großschreibung das Lateinische, namentlich die römische Majuskelschrift. Die schriftlose Vergangenheit der gesprochenen (Volks‐)Sprache könne dadurch, so Grimm, nicht angemessen abgebildet werden, die Großschreibung dürfe „durchaus nicht für eine organische modification der lateinischen schrift zum behuf der deutschen sprache gelten“.¹¹ Hier zeigt sich eine präsentistische Vorstellung von Vergangenheit als etwas, das selbst nicht der Geschichte unterliege (mithin: unabhängig wäre von der schriftlich überlieferten, philosophischen oder theologischen Gelehrsamkeit), sondern durch die „deutsche sprache“ unmittelbarimmediat („organisch“) artikuliert würde: „Der majuskel andere ausdehnung einräumen heißt die würde der sprache verletzen, welche der schrift keinen vorrang gestatten, sondern völlige neutralität von ihr fordern darf. wozu sollen substantiva, die in der rede nicht stärker betont sind als adjectiva und verba, vor diesen ausgezeichnet werden?“¹² Das bedeutet, dass das Interesse an den „deutschen Altertütinka Netzer: Wissenschaft aus nationaler Sehnsucht. Verhandlungen der Germanisten 1846 und 1847. Heidelberg 2006, S. 21 f. Im Unterschied zur deutschen Entwicklung erlangten in Großbritannien die ostensibly materialist discourses der entstehenden Folklore Studies erst nach dem Ersten Weltkrieg museale Autonomie, da die territoriale bzw. koloniale Expansion des Empires durch den Evolutionismus eine zeitliche Klammer bot, die die homeland ethnography nicht separierte, sondern historisch und systematisch stärker integrieren konnte, s. Oliver Douglas: Folklore, Survivals, and the Neo-Archaic. The Materialist Character of Late Nineteenth-century Homeland Ethnography. In: Museum History Journal 4 (2011), S. 223 – 244.  Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. Göttingen 1840, S. 2 f.  Grimm, Deutsche Grammatik, S. 27 (dort auch das folgende Zitat im Text). Das Ringen mit der antiken römischen Geschichte als Bezugsmaßstab war auch für die Herausbildung der Germanistik zentral. So musste Jacob Grimm bei seinen Ausführungen „Über den Namen der Germanisten“ noch auf die Gepflogenheit eingehen, dass diese Bezeichnung im Bereich des Rechts für diejenigen stand, die sich anders als die „Romanisten“ nicht mit römischem, sondern mit „deutschem“ Recht befassten, s. Netzer, Wissenschaft, S. 241.  Die Sprachwissenschaft und die Sprachphilosophie haben die Geschichte dieser teils präferierten, teils abgelehnten Sekundarität der Schrift seit der Antike intensiv untersucht; als Überblick: Sybille Krämer: „Operationsraum Schrift“. Über einen Perspektivenwechsel in der Be-

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mern“ und das Interesse, deren Spezifik zu bestimmen, neuartiger historischer Quellen bedurfte: nämlich Quellen, die, anders als altsprachlich verfasste Schriften mit ihrer langen Überlieferungsgeschichte, „entzeitlichte“ Medien des Vergangenen sind. Mit der Zeitschrift für deutsches Alterthum, ihrer Orthografie und seiner Absage an die „handgreiflichen alterthümer“ fand Moriz Haupt einen Kompromiss, der ihn davor schützte, wegen seiner Ablehnung antiker Gelehrtheit auch des „wissenschaftlichen ertrags“ verlustig zu gehen. In Konfrontation mit dem bis dahin maßgebenden Horizont klassischer, altsprachlicher Überlieferung definierten die klein geschriebenen „sprachdenkmäler“ ein wissenschaftliches Proprium der germanistischen Altertumskunde. Zugleich verwahrte er sich durch den Ausschluss der Dinge (vorbehaltlich etwaiger „erheblicher belehrung“ durch sie, siehe oben) und der mit ihnen verbundenen Sammelleidenschaft („in zahlloser aber gleichförmiger menge zu tage gefördert“, siehe oben) gegen den Verdacht, sich nicht mit Ausgezeichnetem, sondern bloß mit Gewöhnlichem oder gar mit Vulgärem zu befassen. Diese Gegenstandsbestimmung der „deutschen alterthümer“ in der gleichnamigen Zeitschrift gilt als das Gründungsdokument der Germanistik.¹³ Moriz Haupt und seine Mitstreiter im Gefolge der Brüder Grimm hatten bei dieser Schöpfung oder Emanzipation der Germanistik aus der Klassischen Philologie das betrieben, was die Wissenschaftsforschung später als boundary work¹⁴ definierte: Sie grenzten die „deutschen Altertümer“ sozial gegen gelehrte Überlieferung und historisch gegen griechisch-römische und christliche Geschichte (in weiteren Spielarten später auch explizit gegen jüdische Geschichte) ab. Zugleich markierten sie, wie Haupts Einleitungssätze zeigen, die Dinge an sich als inhaltsleer und die aufkommende Beschäftigung mit ihnen als unwissenschaftlich und ergebnislos. Diese Positionierung der Dinge war jedoch nicht eindeutig, sondern ambivalent: Zum einen wurde hier eine negative Epistemologie des Materiellen formuliert. Zum anderen barg dieser Mangel das Potenzial jener Unmittelbarkeit, die um 1848 sowohl herrschaftskritisch (die von vielen gesprochene Sprache im Unterschied zu der von wenigen verwendeten Schrift) als auch für nationalstaatliche Bestrebungen (also nicht in Orientie-

trachtung der Schrift. In: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. Hrsg. von Gernot Grube [u. a.]. München 2005 (Reihe Kulturtechnik), S. 23 – 61.  Die Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur erscheint noch immer; die Zeitläufte haben ihr mittlerweile das Attribut „altgermanistisch“ beigegeben.  Thomas Gieryn: Boundary-work and the Demarcation of Science from Non-science. Strains and Interests in Professional Ideologies of Scientists. In: American Sociological Review 48 (1983), S. 781– 795.

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rung am klassischen demos, sondern am Staatsvolk – ethnos) in Anschlag gebracht werden konnte.¹⁵ Drei Jahrzehnte später war das Feld der Germanistik unter den Wissenschaften etabliert und durch die Reichsgründung auch politisch-territorial gerahmt worden, sodass der neue Herausgeber Elias Steinmeyer mit der Namensänderung in Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Litteratur im Jahr 1876 die Aufnahme von „philologischen Arbeiten aus dem Bereiche der modernen deutschen Litteraturgeschichte“ anzeigen konnte.¹⁶ Von dieser germanistischen Seite aus war das Verhältnis zu den Dingen zudem insofern geklärt, als das Verdikt aus dem Gründungsjahrgang an dieser Stelle nicht mehr wiederholt werden musste. Auf der Seite der Bestrebungen, die „Deutsche Volkskunde“ als eigenständige wissenschaftliche Disziplin zu etablieren suchten, wurde diese Auseinandersetzung jedoch weitergeführt. Wie im Folgenden gezeigt werden wird, geschah das in den 1890er-Jahren in einem anderen Kontext, nämlich im Gefüge des Methodenstreits der Geschichtswissenschaft. Dabei verschob sich der Diskurs auf die Überlegenheit der Dinge: Die Sachzeugnisse seien unberührt von der Gelehrsamkeit religiöser und weltlicher Obrigkeit, sie trügen keine Spuren der politischen Formationen antiker Gesellschaften, sondern seien direkte Hervorbringungen des „Volkes“. Für die entstehende Volkskunde sollte Otto Lauffer hier einen separaten Bereich der popularen Vergangenheit konzipieren, der durch die „weltlichen Sachgüter“ exklusiv und eigenständig überliefert sei: Seit rund einem Menschenalter ist es mein Wunsch gewesen, einmal eine zusammenfassende Darstellung der Methodik und der Geschichte der Erforschung der weltlichen Sachgüter in Deutschland, man kann auch sagen der weltlichen Archäologie Deutschlands im Mittelalter und in den neueren Jahrhunderten zu geben. Ich wollte dazu beitragen, daß der ungeheure Vorsprung, den die kirchliche Archäologie als wissenschaftliche Einheit seit langer Zeit gewonnen hat, von weltlicher Seite allmählich wieder eingeholt werde.¹⁷

 Wilhelm Grimm reklamierte für das Deutsche Wörterbuch ein unmittelbares Ausdrucksverhältnis zur gesprochenen Sprache und grenzte sich damit gegen das Lexikon der französischen Sprache, das die Académie française herausgab, ab. Während das französische Pendant ein „Gesetzbuch“ sei, charakterisierte er das Deutsche Wörterbuch als „Naturgeschichte der einzelnen Wörter“, s. Netzer, Wissenschaft, S. 244.  Elias Steinmeyer: Vorwort. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur NF 7 XIX (1876), o. S.  Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Hamburg: Nachlass (NL) Otto Lauffer. Kasten 4 ohne Mappen-Nr., mschr. MS (mit hschr. Notizen) „Sachforschung und Nachbarwissenschaften. Von Prof. Dr. Otto Lauffer“. o. J. Bei den maschinenschriftlichen Manuskripten in Lauffers Nachlass wie diesem hier handelt es sich wohl um Texte für Publikationen. Die thematisch geordneten Notizblätter im Format DIN A5 oder DIN A6 könnten das Gerüst für Vorlesungen sein oder Fundstellensammlungen nach dem Zettelkastenprinzip. Ein anderer Begriff von ihm hierfür ist

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2 Sachen als Denkmal: „die weltlichen Sachgüter in Deutschland“ Die Kehrseite der germanistischen negativen Epistemologie des Materiellen war jene nationale Potenz der Sachzeugnisse, bei deren Wertschätzung bürgerliche Vereine und Museen zunächst unter sich blieben. Die Etablierung der „Volkskunde“ als wissenschaftlich-universitäre Disziplin, die dieses Feld reklamieren konnte, war mit dieser Ambivalenz der Sachen aufs Engste verbunden, und genau hier ist die bis heute tradierte Einlassung von Otto Lauffer zur „Stummheit“ der Dinge zu verorten (Abb. 1).¹⁸ Nach seinem Studium der Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Göttingen, Berlin und München hatte Otto Lauffer zunächst fünf Jahre als Assistent am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, dann fünf Jahre als Direktorial-Assistent und ein halbes Jahr als Direktor am Historischen Museum in Frankfurt am Main gearbeitet.¹⁹ In der Frankfurter Zeit

„heimische Altertümer“, s. Otto Lauffer: Das Historische Museum. Sein Wesen und sein Wirken und sein Unterschied zu den Kunst- und Kunstgewerbe-Museen. In: Museumskunde 3 (1907), S. 78 – 99, hier S. 81. Dass Lauffer die „deutsche“ Geschichte mit den Karolingern/im Mittelalter beginnen lässt, kann darauf zurückgeführt werden, dass es bereits eine Arbeitsteilung mit der entstehenden Ur- und Frühgeschichte gab.  Dieser Kontext ist in der Fachgeschichte der Volkskunde bislang nicht thematisiert worden, und zwar weder von den Rückblicken, die Wissenschaftsgeschichte eher als kumulativen Erkenntnisfortschritt schreiben, noch von denjenigen, die einen wissensarchäologischen oder diskursanalytischen Zugang verwenden. Als Beispiele für eine Position, die Otto Lauffer als seiner Zeit weit voraus denkenden „Sachforscher“ würdigen, dessen Quellenkunde 1:1 übernommen werden könnte, s. Ruth-E. Mohrmann: Perspektiven historischer Sachforschung. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 88 (1992), S. 142– 160, hier S. 144 f.; Urte Evert: „Gute Sach stärkt den Mann“. Sachkundliche Überlegungen zu symbolischen Funktionen der frühneuzeitlichen Militärwaffen. In: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 13 (2009), S. 50 – 74, hier S. 60. Als Beispiel für Ansätze, die wissenschaftliche Formationen als Ergebnis von Aushandlungen und Ausschlüssen rekonstruieren: Stefan Beck: Umgang mit Technik. Kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte. Berlin 1997, S. 109; er beschreibt Otto Lauffers Position als insofern folgenreich, als Lauffer als Inhaber der ersten Volkskunde-Professur nicht den Kulturbegriff geklärt habe, sondern sich – wie andere noch lange nach ihm – „gegenüber anderen Fächern allein durch den bearbeiteten Gegenstandsbereich“ abzugrenzen suchte, der für ihn eben nur die Vergangenheit beinhaltete. Günter Wiegelmann benannte zwar die im Kontext der Grimm’schen Bestrebungen intensivierte Separierung von „Geist“ und „Materie“, allerdings vertrat er dabei eine Variante der Ideengeschichte, die ohne Rekonstruktion der politischen Verhältnisse auskommen will. S. Günter Wiegelmann: „Materielle“ und „geistige“ Volkskultur. Zu Gliederungsprinzipien der Volkskunde. In: Ethnologia Europaea IV (1970), S. 187– 193, hier S. 187.  Staatsarchiv (StA) Hamburg: Hochschulwesen, Dozenten- und Personalakten (Otto Lauffer). Bestand 361– 6, Sign. I 265: Personalbogen vom 27.11.1909. Überblick zur Biografie bei: Norbert

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übernahm er in der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde den Berichts- und Rezensionsteil zu den „äußeren Denkmälern der deutschen Volkskunde“ und in der Museumskunde publizierte er aus der Perspektive des historischen Museums eine Artikelserie zum Museumswesen.²⁰ Damit erwarb er sich überregional und international Anerkennung.²¹ Im Jahr 1908 begann er mit dem Aufbau des Museums für Hamburgische Geschichte, das er 1922 neu eröffnete und bis 1946 leiten sollte. Aus der Position als Gründungsdirektor heraus erhielt Lauffer schließlich 1919 an der neu gegründeten Universität Hamburg das Ordinariat für deutsche Altertums- und Volkskunde. Dieses Ordinariat war die erste Universitätsprofessur, bei deren Denomination „Volkskunde“ nicht einem neusprachlichen oder philologischen Rayon zugeordnet war. Lauffer selbst betonte dazu: „Deutsche Altertums- und Volkskunde als vollberechtigtes Lehrfach habe ich an der Hansischen Universität, als erster an deutschen Hochschulen, vertreten.“²² Gleichwohl konnte er sich der erlangten Autonomie noch nicht sicher sein, sah die eingangs genannte Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur das Lauffer-Ordinariat doch genau in dem Feld, das sie als ihres

Fischer: Lauffer, Otto. In: Hamburgische Biografie. Bd. 3. Göttingen 2006, S. 219 f. Lauffers Berufung zum Gründungsdirektor geschah durch eine enge Kooperation des Senators und Präses der Oberschulbehörde, Werner von Melle, mit Georg Thilenius, dem Direktor des Museums für Völkerkunde in Hamburg – dies entgegen den Wünschen der Bürgerschaft, die einen Kandidaten aus Hamburg bevorzugt hätte, jedoch keinen lokalen Museumsfachmann finden konnte. S. Victoria Asschenfeldt u. Olaf Matthes (Hrsg.): Quellen zur Geschichte des Museums für Hamburgische Geschichte 1839 bis 1973. Hamburg 2014, S. 123 – 125.  Otto Lauffer: Neue Forschungen über Wohnbau, Tracht und Bauernkunst in Deutschland. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde (ZVV) 13 (1903), S. 330 – 340, u. 14 (1904), S. 226 – 243; ders.: Forschungen über volkstümlichen Wohnbau, Tracht und Bauernkunst in Deutschland im Jahre 1903. In: ZVV 15 (1905), S. 107– 122 u. 182– 204; ders.: Neue Forschungen über die äußeren Denkmäler der deutschen Volkskunde. Volkstümliche Bauten und Geräte, Tracht und Bauernkunst. In: ZVV 16 (1906), S. 100 – 116, 223 – 235 u. 329 – 351; ders., Das Historische Museum, S. 1– 14, 78 – 99, 179 – 185 u. 222– 245.  Asschenfeldt/Matthes, Quellen, S. 124, machen geltend, dass Lauffers Artikelserie in der Museumskunde für seine Berufung nach Hamburg ausschlaggebend war, da sich Justus Brinckmann, Direktor des dortigen Museums für Kunst und Gewerbe, auf dieser fachlichen Grundlage für Lauffer einsetzte. Dass die Museumskunde nicht für eine nationale deutsche Entwicklung steht, sondern vielmehr weltweite Transformationen des modernen Museums reflektiert/e, zeigt diese Analyse: Andrea Meyer: The Journal Museumskunde. „Another Link between the Museums of the World“. In: The Museum is Open. Towards a Transnational History of Museums 1750 – 1940. Hrsg. von ders. u. Bénédicte Savoy. Berlin/Boston 2014, S. 179 – 190.  Otto Lauffer: Das Museum für Hamburgische Geschichte 1839 – 1939. In: Ehrengabe des Museums für Hamburgische Geschichte zur Feier seines hundertjährigen Bestehens. Eine Sammlung von Beiträgen zur Hamburgischen und zur allgemeinen deutschen Altertumskunde. Hrsg. von dems. Hamburg 1939, S. 7– 15, hier S. 15.

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Abb. 1: Otto Lauffers handschriftliche Notiz: „Sie zeigen nur. Im Übrigen sind sie stumm.“, o. D.

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definiert hatte: In den Personalnotizen des Jahrgangs 1919 berichtete sie über drei der Professuren an der neu gegründeten Hamburger Universität und positionierte dabei den Museumsdirektor Lauffer als Teil eines Triumvirats neben Conrad Borchling, der das Ordinariat für ältere deutsche Sprache und Literatur erhielt, und Robert Petsch, der als ao. Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte berufen wurde.²³ Es ist daher nicht verwunderlich, dass Otto Lauffer sein Ringen um den Quellenwert der Dinge zunächst primär in diesem germanistischen Kräftefeld, das eng mit der nationalen Bewegung des 19. Jahrhunderts verbunden war, artikulierte. Welche Vergangenheit in welchen Quellen überliefert ist, welche wissenschaftliche Disziplin unter welchem Namen dafür zuständig wäre, damit befasst er sich intensiv. Dadurch ergab sich für ihn die Aufgabe, der oben rekonstruierten Abwertung der materiellen Überlieferung seit Mitte des 19. Jahrhunderts entgegenzutreten. In seiner Einführung in die deutsche Altertumswissenschaft aus dem Jahr 1918 tat er dies folgendermaßen: Altertümer seien „nur die aus Menschenhand hervorgegangenen gegenständlichen Schöpfungen der Vergangenheit […] von denen wir entweder durch die Schriftquellen Kunde haben, oder die selbst ganz oder in Resten auf uns gekommen sind“²⁴. Dabei handele es sich um „deutsche Kultur“, deren „Beginn“ er in der „Karolingerzeit“ verortete, womit er zugleich die „deutsche Altertumswissenschaft“ von der „germanistischen Altertumswissenschaft“ unterschieden sah.²⁵ Außerdem überließ er damit die „germanischen“ Altertümer der Ur- bzw. Frühgeschichte, die sich in ähnlichen Auseinandersetzung wie die Volkskunde seit dem 19. Jahrhundert um akademische Institutionalisierung bemühte.²⁶ Zwischen der „germanischen“ und der „deut Anders als diese Personalnachrichten meldeten, ist in der Personalakte Lauffers für 1919 zunächst lediglich eine „ao. Professur“ und erst für 1923 das Ordinariat bzw. eine ordentliche Professur dokumentiert. Vgl. StA Hamburg: Hochschulwesen, Dozenten- und Personalakten (Otto Lauffer) Bestand 361– 6 Sign. I 265: Ernennungsurkunde zum 27. April 1923 als „planmäßiger ordentlicher Professor in der Philosophischen Fakultät“. Datiert: 22.1.1924.  Otto Lauffer: Deutsche Altertümer im Rahmen deutscher Sitte. Eine Einführung in die deutsche Altertumswissenschaft. Leipzig 1918 (Wissenschaft und Bildung. Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens 148), S. f.  Lauffer, Deutsche Altertümer, S. 2 (dort auch das folgende Zitat im Text).  Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts. Darmstadt 2006. Die ebenfalls in der Germanistik fundierte Herausbildung der Ur- und Frühgeschichte im Kaiserreich, namentlich die Etablierung des ersten Lehrstuhls und dessen Besetzung mit Gustaf Kossinna (Berlin 1902), hat Ulrich Veit: Der Prähistoriker als „local hero“. Gustaf Kossinna (1858 – 1931) und sein Kampf für die „deutsche Archäologie“. In: Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Stefanie Samida. Bielefeld 2011, S. 297– 315, untersucht. Er führt die intensive Vermittlungstätigkeit, mit der Kossinna das Fach insbesondere durch Diavorträge der breiten Öf-

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schen“ Überlieferung sah Lauffer zunächst keine direkte historische Linie. Den Sachbereich der „deutschen Altertumswissenschaft“ grenzte er, wie oben bereits erwähnt, gegen die Ausprägungen von Religion, Staat und Wissenschaft ab, die er gegenüber der „deutschen“ Überlieferung als „fremd“ kategorisierte: „Ebenso muß bei Entlehnungen aus fremden Kulturen, z. B. bei kirchlichen und wissenschaftlichen Altertümern, teilweise auch bei denen des Staates und der Gemeinde, gelegentlich ihre außerdeutsche Vorgeschichte erwähnt werden.“ Hierbei handelt es sich um eine Ausprägung der Herder’schen Idee, mit der dieser „das ‚Volk‘, nicht zuletzt das deutsche, zum Subjekt und Zentrum der Geschichte, zu einer unbewußt natürlichen Wesenheit stilisiert“ hatte.²⁷ Daraus ergab sich für Otto Lauffer eine spezifische Ordnung der „deutschen“ bzw. „weltlichen“ „Altertümer“ als eigentümlich zu separierende Quellen: „Bezüglich der kirchlichen Altertümer in Deutschland müssen wir daher zunächst immer dessen eingedenk bleiben, daß die christliche Kirche mit allen ihren gottesdienstlichen Handlungen und Gebräuchen etwas von außen Hereingekommenes ist.“²⁸ Ebenso seien „die Altertümer des jüdischen Kultus“ „[e]ine Denkmälergruppe für sich“: „Zu den deutschen Altertümern gehören sie nach ihrer wesentlichen Bedeutung nicht. Dennoch kann die deutsche Altertumskunde sie ebenso wenig unberücksichtigt lassen, wie etwa die deutsche Sprachwissenschaft an dem Fremdwort vorübergehen kann.“²⁹ Dabei zeigt sich eine Zwischenstellung der Lauffer’schen Quellenkunde materieller Kultur: Wie hier erläutert, war diese noch der Auseinandersetzung um die Etablierung der Germanistik seit Beginn des 19. Jahrhunderts verpflichtet, jedoch auch verwendbar für die ihm nachfolgenden Fachvertreter, die sich ab dem Ersten Weltkrieg bereitwillig und vermehrt an jener „Volkstumswissenschaft“ beteiligten, die „Deutsches“ gemäß völkischer Ideologie unumwunden auf „Germanisches“ zurückführen wollten.³⁰ Im Unterschied dazu aber ließ Lauffer (jedenfalls

fentlichkeit bekannt machte, darauf zurück, dass sich das entstehende Fach, dem klassische akademische Reputation noch nicht zur Verfügung stand, auf diese Weise Legitimität verschaffte.  Renate Schlesier: Anthropologie und Kulturwissenschaft in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. In: Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900. Hrsg. von Christoph König u. Eberhard Lämmert. Frankfurt a.M. 1999, S. 219 – 231, hier S. 220.  Lauffer, Deutsche Altertümer, S. 101.  Lauffer, Deutsche Altertümer, S. 126.  Die Festschrift zu Otto Lauffers 60. Geburtstag kann als eine solche Verwendung durch zwei völkisch orientierte Schüler eingeordnet werden. S. Ernst Bargheer u. Herbert Freudenthal (Hrsg.): Volkskunde-Arbeit. Zielsetzung und Gehalte. Otto Lauffer zum sechzigsten Geburtstage. Berlin/ Leipzig 1934. Für die Volkskunde hat Bernd Jürgen Warneken den Umschwung hin zu einer Dominanz der nationalen bzw. nationalistischen und völkischen Orientierungen in den Jahren um den Ersten Weltkrieg lokalisiert. S. Bernd Jürgen Warneken: „Völkisch nicht beschränkte

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zunächst) den Überlieferungsstrang seiner „Altertümer“ erst später, nämlich in der historischen Zeit beginnen: Wir haben es dabei also nur mit den Sachen zu tun, mit den gegenständlichen Resten der deutschen Vergangenheit. Zeitlich nehmen wir den Anschluss an die Arbeiten der germanischen Frühgeschichte. Wir wollen mit unserer Forschung da einsetzen, wo eine deutsche Kultur sich gegen die voraufgehende [sic] germanische abzuheben beginnt, also etwa in den Zeiten der Karolinger, und wir wollen die ungeheure Fülle der volkstümlichen Sachgüter in ihrer Entwicklung verfolgen durch das „Mittelalter“ und die „neueren Jahrhunderte“ bis in das 19. Jahrhundert hinein oder – um mit Georg Steinhausen’s [sic] „Geschichte der deutschen Kultur“ zu reden – bis zum „Beginn eines völlig neuen, auf naturwissenschaftlichtechnische Umwälzungen gegründeten Zeitalters“.³¹

Aus diesem Grund wandte er sich gegen die in der Klassischen Philologie noch übliche Begriffsverwendung „Altertumskunde“ für die „Erforschung der provinzial-römischen Kultur auf heute süd- und westdeutschem Boden“, wie sie sich etwa in den Lemmata zur Altertumskunde in Antiquariats-Katalogen und Buchverzeichnissen niederschlage, „die ganz harmlos so tun, als ob es für den deutschen Leser kein anderes Altertum als das griechisch-römische geben könnte.“ Die von der Hochschätzung der griechisch-römischen Antike profitierende Archäologie suchte er von einer historischen Disziplin sui generis zu einer Variante herabzustufen, wie seine Korrektur der Fachbezeichnung vom Eigennamen in eine Adjektiv-Substantiv-Kombination belegt: Eine Verschiedenheit der Bedeutung haftet auch an der Bezeichnung Archaeologie. Wir sprechen in Deutschland gelegentlich von vorgeschichtlicher, sonst aber (2) entweder von klassischer oder von kirchlicher Archaeologie, wobei der K klassischen meist eine überwiegend K kunstwissenschaftliche, der kirchlichen mehr eine bedeutungsgeschichtliche Betrachtungsweise zu eigen ist. Der Gebrauch des Namens Archäologie, der als solcher erst der am Ausgang des 18. Jahrh. hervortretenden Neigung für das Griechische entstammt, ist aber bei anderen Kulturvölkern ein anderer. In Frankreich umfaßt er neben der vorgeschichtlichen und der gallisch-römischen auch die gesamte Kulturgeschichte des Mittelalters, und er geht zurück auf den im 16. und 17. Jahrh. aufgestellten Begriff der „Antiquitates“,

Volkskunde“. Eine Erinnerung an die Gründungsphase des Fachs vor 100 Jahren. In: Zeitschrift für Volkskunde (ZfV) 95 (1999), S. 169 – 196.  SUB Hamburg, NL Otto Lauffer, Kasten 26 Mappe 80, mschr. MS (mit hschr. Notizen und Korrekturen) „Deutsche Altertumskunde. Die Erforschung der Sachgüter aus deutscher Vergangenheit. Von Prof. Otto Lauffer, Hamburg“, o. J. [um 1936], S. 1 (hier auch das folgende Zitat im Text). Eine Variante dieser Ausführungen wurde publiziert: Otto Lauffer: Die Begriffe „Mittelalter“ und „Neuzeit“ im Verhältnis zur deutschen Altertumskunde. Berlin 1936, S. 3.

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unter dem die damaligen Gelehrten den ganzen Umkreis der antiken Lebensführung, also Staats- und Rechtsleben, Privataltertümer, Kultus, Sitte, Denkmäler u.s.w. verstanden.³²

Zudem ging es Otto Lauffer darum, das Verdikt „ohne geistigen Gehalt“ zurückzuweisen, zugleich aber nicht die Legitimationsstrategien der an Meisterwerken interessierten Kunstgeschichte zu verwenden, sondern zu betonen, dass „ein jeder Gegenstand“ „Bedeutung“ habe: Für die Kunsthistoriker können nur solche Stücke ernstlich in Betracht kommen, die in ihrer Formgestaltung durch einen bestimmten Kunstwert oder, besser gesagt, durch einen überdurchschnittlichen Kunstwert ausgezeichnet sind. Alles andere muss er als für ihn belanglos bei Seite lassen. Für die Altertumskunde aber stellt sich die Aufgabe ganz anders. Ein jeder Gegenstand, ob in der Form wohlgefällig oder nicht, ist zu einem bestimmten Zweck geschaffen und demnach auch zu einer bestimmten Zweckform entwickelt. Es gibt deshalb für die Altertumskunde in der älteren deutschen Gegenstandskultur nichts Bedeutungsloses, und wäre es der Strohwisch oder der Bratspieß oder alle die anderen einfachen Geräte für Ofen und Herd.³³

Diese ausführlichen Erklärungen und Rechtfertigungen Lauffers zeigen, dass er – anders als die völkischen Anthropologien der Zwischenkriegszeit, welche die Auseinandersetzung mit dem engen Kulturbegriff der klassischen Geisteswissenschaften nicht mehr führen mussten – dem, mit Michel Foucault gesprochen, „historischen Apriori“ der germanistischen Abwertung materieller Kultur des frühen 19. Jahrhunderts zeitlebens argumentativ verbunden blieb. Zugleich aber rezipierte er sowohl die sprachwissenschaftliche und sprachphilosophische Diskussion um Wörter und Sachen wie auch den Methodenstreit der Geschichtswissenschaft der 1890er-Jahre intensiv, und aus Letzterem bezog er die Semantik seiner berühmt gewordenen Sentenz: Die Quellen, die der altertumskundlichen Forschung zur Verfügung stehen, sind verschiedener Art. An erster Stelle stehen die erhaltenen Denkmäler, daneben die älteren Abbildungen, die in den Fällen, in denen die Denkmäler überhaupt fehlen, ihre besondere Bedeutung gewinnen. Nun aber sind die Sachen selbst an und für sich stumm, und sie lassen durchaus nicht immer den Gebrauch, zu dem sie einst gedient haben, ohne weiteres er-

 SUB Hamburg, NL Otto Lauffer, Kasten 26 Mappe 80, mschr. MS (mit hschr. Notizen und Korrekturmarken) „Deutsche Altertumskunde. Die Erforschung der Sachgüter aus deutscher Vergangenheit. Von Prof. Otto Lauffer, Hamburg“, o. J. [nach 1936].  SUB Hamburg, NL Otto Lauffer, Kasten 26 Mappe 80, mschr. MS (mit hschr. Notizen und Korrekturen) „Deutsche Altertumskunde. Die Erforschung der Sachgüter aus deutscher Vergangenheit. Von Prof. Otto Lauffer, Hamburg“, o. J. [nach 1936], S. 5.

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kennen. In manchen Fällen kommen hier die älteren Bilder zu Hülfe, aber auch sie durchaus nicht immer. Wir suchen also Auskunft in den vorhandenen Schriftquellen.³⁴

Das resultierte nicht in einer nüchternen Quellenkunde materieller Kultur, sondern in einer regelrechten Umkehrung, würden die von Seiten der Germanistik als „geistlos“ abgetanen Sachen doch ältere und zudem auch unmittelbarer Vergangenheiten überliefern als schriftliche Dokumente: „[D]ie Erkenntnisquellen, auf die wir unsere Darstellung zu stützen haben, führen uns zum guten Teile weit zurück über die ersten Zeiten, in denen uns antike Schriftquellen über Germanien und seine Bewohner eine Nachricht geben.“³⁵ Und diese Dinge könnten schließlich, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht per se, aber bei entsprechender Präsentation im Museum mehr mitteilen als jedes Dokument.

3 Die Gesprächigkeit der Dinge: „Einzelstücke, die wie von selbst anfangen, dem Beschauer ihre Geschichte zu erzählen“ In seinen Überlegungen zu den Dingen stellte Otto Lauffer die schriftliche und die nicht-schriftliche Überlieferung wie in einem Wettbewerb immer wieder gegeneinander auf. Seine überlieferten handschriftlichen Manuskripte und Literaturexzerpte dokumentieren dieses Ringen: Wörter und Sachen. Bei der Vereinigung von Wort- und Sachforschung darf man also nur eins nicht vergessen: Das Wort ist immer das ältere Zeugnis als die Sache. Tritt zum Zwecke der Worterklärung die Sache zu dem Worte, so haben wir damit zwei Erkenntnisquellen. Wo aber zum Zwecke der Sachforschung das Wort in vorlitterarischer Zeit die einzige Grundlage bildet, da liegen die Verhältnisse erheblich anders. Da ist jene gegenseitige Kontrolle nicht mehr möglich. Mit anderen Worten: Bei der Vereinigung von Wort- und Sachforschung wird die Wortforschung besser gesicherte Ergebnisse erzielen als die Sachforschung. […] Daß die Wortforschung für sich allein nicht immer unbedingt zuverlässig bezüglich der Worterklä-

 SUB Hamburg, NL Otto Lauffer, Kasten 26 Mappe 80, mschr. MS (mit hschr. Notizen und Korrekturen) „Deutsche Altertumskunde. Die Erforschung der Sachgüter aus deutscher Vergangenheit. Von Prof. Otto Lauffer, Hamburg“, o. J. [nach 1936], S. 6.  Otto Lauffer: Die Entwicklungsstufen der germanischen Kultur. Umwelt und Volksbrauch in altgermanischer Zeit. In: Germanische Wiedererstehung. Ein Werk über die germanischen Grundlagen unserer Kultur. Hrsg. von Hermann Rollau. Heidelberg 1926, S. 17– 155, hier S. 17.

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rung ist, haben ihre Vertreter selbst gefühlt. Deshalb haben sie ja gerade die Sachforschung zu Hülfe gerufen.³⁶

Ob es einen solchen „Hilferuf“ tatsächlich gab, darf bezweifelt werden. Sicher ist allerdings, dass das hier von Lauffer bearbeitete Problem spätestens seit dem Methodenstreit der Geschichtswissenschaft in den 1890er-Jahren nicht irgendeine Detailfrage war, sondern dass es hier um den Aussageanspruch und das empirische Fundament historischer Forschung überhaupt ging.³⁷ Rund um die Quellenkunde von Wörtern und Sachen, auf die sich Lauffer hier bezog, war eine interdisziplinäre wissenschaftliche Schule entstanden. Lauffer schreibt in seinem Lebenslauf, dass er in seiner Zeit am Germanischen Nationalmuseum „kulturgeschichtliches Allerlei“ betrieben habe. Das Nürnberger Museum sammelte seit 1852 nicht nur Gegenstände und verstand sich nicht nur als Museum, sondern trennte sein Aufgabengebiet in Archiv, Bibliothek, Kunstund Altertumssammlung. Insofern ging es neben dem Sammeln um das Dokumentieren schriftlicher (archivalischer, literarischer), mündlicher, monumentaler und bildlicher Quellen sowie um „die noch im Volke lebendig erhaltenen, althergebrachten Sitten, Gebräuche, Sagen und Lieder“.³⁸ Dieses Sammlungsprofil formulierte das Museum im Vorgriff auf die spätere institutionalisierte Spezialisierung in den Wissenschaften. Insofern mutete es Lauffer noch als „Allerlei“ an, zumal die kunsthistorische Perspektive für ihn alle anderen Zugänge zu überlagern schien. „Altertumskundliche Interessen wurden von den kunsthistorischen Collegen […] verlacht“,³⁹ weswegen er in den 1890er-Jahren den Kontakt zu den volkskundlichen Vereinen gesucht habe. Den Grazer Sprachwissenschaftler Ru SUB Hamburg, NL Otto Lauffer, Kasten 3 Mappe 5, hschr. Notiz o. J., Hervorhebungen im Original.  Otto Lauffers Position kann hier in die Phase eingeordnet werden, in der die Methodenstreit-Frage, ob Vergangenheit primär kulturgeschichtlich (Karl Lamprechts Kulturhistorische Methode, 1900) oder primär politik- und personengeschichtlich rekonstruiert werden sollte, s. Matthias Middell: Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890 – 1990. Leipzig 2005 (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert 6/1), S. 47 f., in jene Mischung aus Kulturgeschichte und Geopolitik kippte, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Gründung des Instituts für Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig (1920) mündete, und an der sich später die evolutionistische Kulturraumforschung der Volkskunde federführend beteiligen sollte.  Vgl. Satzung des germanischen Museums zu Nürnberg vom 1. August 1852. In: Bernward Deneke u. Rainer Kahsnitz (Hrsg.): Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852– 1977. Beiträge zu seiner Geschichte. München 1978, S. 951.  StA Hamburg, Hochschulwesen, Dozenten- und Personalakten (Otto Lauffer), Bestand 361– 6 Sign. IV 600, Lebenslauf vom 1.9.1921, S. 1– 6, hier S. 4.

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dolf Meringer bezeichnet er als Freund, dessen Losung „Wörter und Sachen“ er befolge.⁴⁰ Meringer hatte im Jahr 1909 die Zeitschrift Wörter und Sachen. Kulturhistorische Zeitschrift für Sprach- und Sachforschung gegründet. Fast 70 Jahre nachdem die junge Germanistik den Dingen den „geistigen Gehalt“ abgesprochen hatte (siehe oben), wird nun das gegenteilige Programm formuliert. Im Vorwort führen die Herausgeber einen weiten Begriff der Sachen als materielle Kultur aus. Sachen seien nicht nur „räumliche“, dreidimensionale Gegenstände, sondern auch der materialisierte Ausdruck von Gedanken, Vorstellungen und Institutionen.⁴¹ Die Vereinigung von Sprachwissenschaft und Sachwissenschaft berge die Zukunft der Kulturgeschichte; die Herausgeber plädieren dafür, „zeitgenössische Wörter und Gegenstände zusammenzustellen“, Bildquellen vergleichend heranzuziehen und nicht nur schriftliche Quellen zu verwenden, sondern insbesondere „Sachstudien im Volke“ zu machen, um die Wissenschaft mit dem Leben in Verbindung zu bringen. Mit diesem Programm beeinflusste diese Zeitschrift die volkskundliche universitäre Arbeit bis in die 1940er-Jahre, in der das Sammeln von Text- und Bildbelegen sowie das Einrichten von Lehrsammlungen etwa an den Universitäten Tübingen und Heidelberg verknüpft wurden. Typisch für die volkskundliche Variante von Wissenschaft ist hierbei die Anwendungsorientierung; genauer formuliert: Diese „deutsche Volkskunde“ ist Teil dessen, was sie untersuchen will, sodass, erkenntnistheoretisch gesprochen, die Erforschung der Vergangenheit des Volkes mit dessen Gegenwart in eins fällt.⁴² Der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl hatte bereits im Jahr 1895 ebenfalls das „Vor-Ort-Gehen“ empfohlen; die planmäßige und systematische Erforschung von „volksmäßig“ einschlägigen Gegenständen „am Orte ihrer Entstehung und ihres Gebrauchs“ aufzusuchen; das „eigentlich ethnographische Interesse“ als Antwort auf die Fragen wo, von wem und zu welchem Gebrauch die Sachen gemacht worden seien zu formulieren und das „volksmäßig“ Einschlägige dezidiert gegen

 StA Hamburg, Hochschulwesen, Dozenten- und Personalakten (Otto Lauffer), Bestand 361– 6, Sign. IV 600, Lebenslauf vom 1.9.1921, S. 1– 6, hier S. 4.  Rudolf Meringer [u. a.]: Vorwort. In: Wörter und Sachen. Kulturhistorische Zeitschrift für Sprach- und Sachforschung 1 (1909), S. 1 f., hier S. 1 (dort auch die folgenden Zitate im Text).  Diese Vorstellung ist bei Otto Lauffer schon früh deutlich vorhanden, wenn er etwa in seiner Niederdeutschen Volkskunde formuliert, dass er „dem Buche einen möglichst großen Leserkreis“ wünsche, es sich aber „an möglichst breite Schichten vor allem des niederdeutschen Volkstums“ wende. S. Otto Lauffer: Niederdeutsche Volkskunde. Leipzig 1917 (Wissenschaft und Bildung. Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens 140), S. 5. 1933 wird er dies dann noch völkisch zuspitzen: „Die deutsche Volkskunde ist die Gegenwartswissenschaft von deutscher Gemeinschaftsart!“ Ders.: Was heißt „Deutsche Volkskunde“? In: Zeitschrift für Volkskunde 42 NF IV (1933), S. 69 f., hier S. 70.

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das „Modemäßige und Internationale“ abzugrenzen.⁴³ Riegl war zwischen 1898 und 1901 Vereinsmitglied des Berliner Museums für Deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes. Seine Vorstellungen trafen sich in weiten Teilen mit dem volkskundlichen Fachverständnis. Die Region war das Sammelprinzip für die „handgreifliche Volkskunde“⁴⁴ um 1900.⁴⁵ Die Volkskunde, die mit den Händen nach den materiellen Überresten griff, stellte aus zeitgenössischer musealer Sicht ein „objektives Archiv“⁴⁶ der Kultur zusammen, das die Objekte hochschätzte und sie als unmittelbare Zeugnisse betrachtete. Entscheidend ist hier der Quellenbegriff: Die Dinge wurden weniger als Quellen konzipiert, die wissenschaftlich gelesen und gedeutet werden, sondern als Zeugen, denen man zuhört, wenn sie unwillkürlich von einer Vergangenheit erzählen, mit der durch andere Mittel nicht in Kontakt zu kommen ist. Otto Lauffer, der in seinem Lebenslauf verzeichnet, dass er nie „eine Vorlesung über Vorgeschichte, Deutsche Stammeskunde, Mythologie, Sittengeschichte oder Volkskunde gehört“ habe, charakterisierte den Göttinger Germanisten und Lexikografen Moriz Heyne als seinen eigentlichen Lehrer.⁴⁷ Er hatte durch ein Semester in München und eines in Berlin zahlreiche Historiker und Germanisten gehört, auch Wilhelm Heinrich Riehl in München, doch seinem germanistischen Doktorvater Heyne fühlte er sich wissenschaftlich eng verbunden. Was er mit Heyne teilte, war die Hinwendung zur Museumsarbeit und zu den Sachquellen. Heyne war von 1883 bis zu seinem Tod sowohl Mitglied im Gelehrtenausschuss als auch im Verwaltungsrat des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg und hatte Lauffer den Weg nach Nürnberg geebnet.⁴⁸ Zwar war Heynes eigentliche  Alois Riegl: Wie sollen wir sammeln? In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 1 (1895), S. 219 – 221, hier S. 220.  Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes. Berlin o. J. [1890], S. 3.  Vgl. zum Begriff „handgreifliche Volkskunde“: Franka Schneider: Städtische Arenen volkskundlicher Wissensarbeit. Die Internationale Volkskunstausstellung 1909 im Berliner Warenhaus Wertheim. In: Horizonte ethnografischen Wissens. Eine Bestandsaufnahme. Hrsg. von Ina Dietzsch [u. a.]. Köln [u. a.] 2009, S. 54– 86, hier S. 58; Ina Dietzsch: Volkskunde in Berlin oder Berliner Volkskunde? Überlegungen zu einer orts- und raumbezogenen Wissenschaftsgeschichte. In: Verräumlichung,Vergleich, Generationalität. Dimensionen der Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. von Matthias Middell [u. a.]. Leipzig 2004, S. 46 – 69, hier bes. S. 52.  Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes. Berlin o. J. [1890], S. 3.  StA Hamburg, Hochschulwesen, Dozenten- und Personalakten (Otto Lauffer), Bestand 361– 6 Sign. IV 600, Lebenslauf vom 1.9.1921, S. 1– 6, hier S. 3.  StA Hamburg, Hochschulwesen, Dozenten- und Personalakten (Otto Lauffer), Bestand 361– 6 Sign. IV 600, Lebenslauf vom 1.9.1921, S. 1– 6, hier S. 3; Deneke/Kahsnitz, Nationalmuseum, S. 1048.

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Beschäftigung in Göttingen die Herausgabe des Grimm’schen Wörterbuches, seine wissenschaftliche Beschäftigung mit Realien sei nur „nebenbei“, doch parallel hatte Heyne Ende der 1880er-Jahre in Göttingen die Städtische Altertumssammlung aufgebaut. Lauffers Nachruf auf Moriz Heyne im Jahr 1906 hat museologisch einen programmatischen Charakter und nimmt manche seiner Überlegungen zum Stellenwert eines historischen Museum vorweg,⁴⁹ die er ein Jahr später ausführlich in der Museumskunde veröffentlichen sollte. Da ist (1) Lauffers Plädoyer für die Eigenständigkeit eines Historischen Museums gegen die Kunst- und Kunstgewerbemuseen, verbunden mit der Konsequenz, die „technologische und stilgeschichtliche“ Aufstellung abzulehnen; (2) das Eintreten für eine deutsche Archäologie als Synonym für eine nach seiner Aussage noch nicht existierende deutsche Altertumskunde und damit gegen eine klassische Altertumswissenschaft gerichtet; (3) ein Verständnis von Region als Richtschnur für die Exklusion von Objekt-„Fremdlingen“ anderer Regionen mit Berücksichtigung lokaler jüdischer Altertümer;⁵⁰ schließlich (4) die Vorstellung eines stadthistorischen Museums als einer „lebendigen Kraft“, in dem durch eine wissenschaftliche Auswahl, Ordnung und Aufstellung der Exponate „den Einzelstücken, ich möchte fast sagen, die Zunge gelöst wurde, daß sie wie von selbst anfangen, dem Beschauer ihre Geschichte zu erzählen“.⁵¹ Diese Beredsamkeit der Dinge verortet er in der wissenschaftlichen Auswahl und im Aufstellungsprinzip. Von Heyne

 Otto Lauffer: Moriz Heyne und die archäologischen Grundlagen der historischen Museen. In: Museumskunde 2 (1906), S. 153 – 162.  Lauffer, Moriz Heyne, S. 161. Lauffers Positionierung jüdischer Dinge war weder neutral noch antisemitisch, s. Christoph Daxelmüller: Volkskunde – eine antisemitische Wissenschaft? In: Conditio Judaica. Hrsg. von Hans Otto Horch u. Horst Denkler. Bd. 3: Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938. Tübingen 1993, S. 190 – 226, hier S. 192 f. Vielmehr war sie nicht explizit (z. B. in den Literaturreferenzen), aber argumentativ geprägt durch die evolutionistische Annahme, dass sich „deutsche“ Kultur in Konfrontation mit „fremden“ Dingen besonders kräftig entwickelt habe: „Alle diese jüdischen Ritualgegenstände sind die Träger von Lebensäußerungen, die – wenn sie auch nicht der deutschen Kultur angehören – sich doch auf deutschem Boden abspielen. Und manches Stück von ihnen erzählt bei aller Fremdartigkeit der Zweckbestimmung doch in seiner Formgestaltung von deutscher Kunstfertigkeit, die auch das Fremde mit einem Teile des eigenen Schönheitsgefühles und somit auch des eigenen Lebens zu umkleiden gewußt hat.“ S. Lauffer, Deutsche Altertümer, S. 131. Diese Position Lauffers als Idee einer „Bereicherung“ „deutscher“ Kultur durch „Fremdes“ im moralisch-positiven Sinne zu deuten, so: Kai Detlev Sievers: „Kraftwiedergeburt des Volkes“. Joachim Kurd Niedlich und der völkische Heimatschutz.Würzburg 2007, S. 64, ist angesichts der Forschung, die die Wissens- und Motivgeschichte des Evolutionismus detaillierter untersucht, z. B. Gillian Beer: Darwin’s Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth-Century Fiction. 3. Aufl. Cambridge 2009, nicht mehr möglich.  Lauffer, Moriz Heyne, S. 160.

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hatte er die Quellensynthese übernommen, also die Gleichwertigkeit des Zeugnischarakters von Schrift, Bild, Sprache und Sache. Lauffer lehnt in seiner taxonomischen Ordnung für das historische Museum die kunsthistorischen, material- und formalästhetischen Kategorisierungen zugunsten von funktionalen Zusammenhängen ab (Abb. 2).⁵² Die Museumsobjekte stehen in diesem Sinn für einen vergangenen „Gebrauchszweck“, der allein die Aufnahme und das disziplinäre Interesse legitimiert. So gehören Trinkbecher, Messkelch und Zunftpokal für ihn nicht gemeinsam in eine Vitrine für Metallarbeiten, sondern zu den häuslichen, kirchlichen und zünftigen Altertümern.⁵³ Auch dieses Prinzip steht einer historisch-zeitlichen Ordnung der Dinge entgegen und ist Instrument und Indiz einer „entzeitlichten“ Auffassung dieser „deutschen“, „volkskulturellen“ Materialitäten. Die theoretische Mehrdeutigkeit der Dinge wird von ihm zugunsten des vermeintlich eindeutigen Zeugnischarakters negiert. Konsequenterweise lehnte er auch die Einzelaufstellung ab (Abb. 3): Denn eindringlicher und verständlicher als alle einzeln aufgestellten Waffen, Uniformstücke, Fahnen und Trophäen, mögen sie auch noch so eingehend durch Worte kommentiert sein, sprechen zum großen Publikum farbige Schlachtenbilder, die die toten Einzelstücke in lebendig-glaubhafter Handlung zeigen. Was würde man z. B. darum geben, wenn die Waffenhalle des Museums für Hamburgische Geschichte ein Bild der Schlacht bei Loigny besässe und zwar keine später zusammengestellte Rekonstruktion sondern den tatsächlichen malerischen Bericht eines Augenzeugen!⁵⁴

Das Ausstellen und damit das Zeigen als Zeugen eines historischen Sachverhalts machen die Dinge gewissermaßen gesprächig. Diese Mitteilsamkeit sollte allerdings nicht aus einem formalen Historismus oder aus einem eindrücklichen, selbst erklärenden Ensemble resultieren. So lehnte Lauffer bei den Planungen für den Neubau des Museums für Hamburgische Geschichte „romantische Neigungen“ ab (Abb. 4): Das Museum ist in seiner Gesamtheit nichts als ein grosser Speicher […] Der Neubau muss so eingerichtet werden, dass in demselben Raum, in dem heute etwa die kirchlichen Altertümer

 Vgl. zu Lauffer nun auch: Peter N. Miller: History and its Objects. Antiquarianism and Material Culture since 1500. Ithaca 2017, S. 20 f.  Vgl. Lauffer, Moriz Heyne, S. 16 f. In der 1922 eröffneten Dauerausstellung des Museums für Hamburgische Geschichte gliederte er die Ausstellung in acht „Sachgruppen“ („Familienaltertümer“, „Hausaltertümer“, „Staats- und Gemeindealtertümer“, „Rechtsaltertümer“, „kirchliche Altertümer“, „profane Kunstaltertümer“, „wissenschaftliche Altertümer“, „Kriegsaltertümer“) ohne jede historische Kontextualisierung, s. Asschenfeldt/Matthes, Quellen, S. 161).  Otto Lauffer an die Oberschulbehörde, Sektion für die Wissenschaftlichen Anstalten, 9. Oktober 1914, zit. nach Asschenfeldt/Matthes, Quellen, S. 14 f.

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Abb. 2: „Silber und Keramik“, Aufstellung in der ersten Dauerausstellung im Neubau des Museums für Hamburgische Geschichte am Holstenwall, 1922. aufgestellt werden, in späterer Zeit ebenso gut Möbel, Schiffsmodelle, Spielsachen oder Strafaltertümer untergebracht werden können. Es muss der Zukunft [sic] völlige Verfügungsfreiheit über die einzelnen Räume gewahrt werden.⁵⁵

Um die Spezifik dieser Idee von der Gesprächigkeit der Dinge genauer zu rekonstruieren, geht es im Folgenden um eine weitere zentrale Referenz Lauffers, nämlich die Methodenlehre und Geschichtsphilosophie von Ernst Bernheim.

 Otto Lauffer an Fritz Schumacher, 23. September 1909, zit. nach Asschenfeldt/Matthes, Quellen, S. 129.

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Abb. 3: „Militärsaal“, Aufstellung in der ersten Dauerausstellung im Neubau des Museums für Hamburgische Geschichte am Holstenwall, 1922.

4 „Ich kann mich hier auf eine Äußerung von Bernheim beziehen“:⁵⁶ Lauffers Reformulierung in der NS-Zeit Die bereits eingangs erwähnten zwei kurzen Sätze über den Quellenwert der Dinge von Otto Lauffer, die in der volkskundlichen Sachkulturforschung, der kulturwissenschaftlichen Museumstheorie und der historischen Analyse materieller Kultur zur Merkformel geworden sind, wurden erstmals im Jahr 1943 publi-

 SUB Hamburg, NL Otto Lauffer, Kasten 3b Mappe 5, hschr. Notiz o. J., Hervorhebung im Original.

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Abb. 4: „Kirchensaal“, Aufstellung in der ersten Dauerausstellung im Neubau des Museums für Hamburgische Geschichte am Holstenwall, 1922.

ziert: „Sie zeigen nur. Im übrigen sind sie stumm.“⁵⁷ Im Nachlass von Otto Lauffer finden sich die Exzerpte aus seiner Hand, die diese Aussage generiert haben: Denkmäler. Mit Recht sagt E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 5./6. Aufl. Leipzig 1908 S. 603: „Die Überreste im engeren Sinne sind meist sozusagen stumm und tot; sie gewinnen oft erst Leben und verständliche Sprache durch die Beziehung auf Tatsachen, die wir aus erzählenden Quellen kennen. Wir könnten z. B. gewisse Funde der Gegend des Teutoburger Waldes nicht als Überreste jener großen Entscheidungskämpfe zwischen Römern und Germanen zu deuten versuchen, wenn wir nicht durch Geschichtsschreiber der Zeit über diese Kämpfe unterrichtet wären, wir könnten nicht herausbringen, von welchem germanischen Volke einzelne in Afrika gefundene Waffenstücke herrühren, wenn wir nicht durch die Annalen der Völkerwanderung erführen, daß die Vandalen in Afrika geherrscht haben.“⁵⁸

 Otto Lauffer: Quellen der Sachforschung,Wörter, Schriften, Bilder und Sachen. Ein Beitrag zur Volkskunde der Gegenstandskultur. In: Oberdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 17 (1943), S. 106 – 131, hier S. 125.  SUB Hamburg, NL Otto Lauffer, Kasten 3 Mappe 5, hschr. Notiz o. J., Hervorhebungen im Original. Vgl. denselben Wortlaut dann 1943: Lauffer, Quellen der Sachforschung, S. 125.

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Markant ist, dass Lauffer im Kontext seiner Analyse der „Gegenstandskultur“ die „erhaltenen Denkmäler“ als wichtige Quelle der „Sachforschung“ inthronisiert und gleichsam Bernheim paraphrasierend auf ihre begrenzte Zeugenschaft aufmerksam macht. Obgleich die Lauffer’sche Formel in der Volkskunde in den Diskussionen um die Sachkulturforschung seit den 1960er-Jahren intensiv im Gebrauch war, wurde der Kontext des Zitats zunächst nicht thematisiert.⁵⁹ Dass das vermutlich mit dem Antisemitismus zu tun hatte, der Lauffers Publikation von 1943 markierte, ist zwar schon vor einiger Zeit herausgearbeitet, bisher aber in den neueren Diskussionen um die „Sprache der Objekte“ und Ähnliches nicht beachtet worden.⁶⁰ Ein detaillierter Blick auf die 1943 von Lauffer publizierte Fassung der Sentenz zu den bloß zeigenden Dingen ist für die Frage nach seinem Begriff nichtschriftlicher Überlieferung höchst aufschlussreich. Lauffer zitiert zur Unterstützung seiner These aus Bernheims methodischen Standardwerk: „Die Überreste im engeren Sinne sind meist sozusagen stumm und tot.“⁶¹ Lauffer hatte, das belegen seine Literaturexzerpte im Nachlass (Abb. 5), diese Pointierung unmittelbar aus der Auseinandersetzung mit den methodischen Überlegungen Bernheims entwickelt. Die prägnante Zuspitzung auf das Verhältnis von „Zeigen und Schweigen“ in Lauffers Kernsatz verrät allerdings die im Dingumgang erprobten Kenntnisse und Erfahrungen des Museumspraktikers. Bei Bernheim hingegen war ein weiterer, prinzipieller Kontext der Quellenkunde relevant gewesen. Er hatte sowohl geschrieben, dass die Geschichtswissenschaft die „schriftlichen Traditionen“ bevorzugt habe, als auch von der Aufgabe, „alles, was als Quelle dienen kann, aufzuspüren“⁶², und er unterschied zwischen der mittelbaren Überlieferung der „Tradition“, die absichtsvoll historisches Erinnerungsmaterial ist, und der unwillkürlichen Überlieferung der „Überreste“.⁶³ An dieser Stelle soll weder sein

 Das gilt auch für die jüngeren Anspielungen auf die Lauffer’sche Sentenz, s. die Literatur in Anm. 1. Vgl. allerdings zur Volkskunde: Karl-S. Kramer: Überlegungen zum Quellenwert von Museumsbeständen für die Volkskunde. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 7 (1975), S. 5 – 19, hier S. 6, 9 u. 11. Kramer diskutiert zwar Bernheims Lehrbuch in der Trennung von Tradition und Überrest und zitiert auch die Lauffer’sche Formel, stellt jedoch keine Verbindung zwischen Bernheim und Lauffer her.  Gudrun M. König: Dinge zeigen. In: Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur. Hrsg. von ders. Tübingen 2005, S. 9 – 42, bes. S. 16 – 25.  Lauffer, Quellen der Sachforschung, S. 125; ebenso: Ernst Bernheim: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit dem Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte. 5. u. 6. neubearb. u. vermehrte Aufl. Leipzig 1908, S. 603.  Bernheim, Lehrbuch, S. 259.  Bernheim, Lehrbuch, S. 255 – 267. Bernheim orientiert sich mit der Unterteilung in „Tradition“ und „Überrest“ an Johann Gustav Droysen, vgl. dazu: Gudrun M. König: Wie Dinge zu deuten sind.

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tendenzielles Präferieren der Schriftquellen noch die Unschärfe zwischen „Tradition“ und „Überrest“ diskutiert werden. Vielmehr geht es darum, dass Lauffer sich auf diese Unterscheidung von „Tradition“ und „Überrest“ nicht einlässt und den Quellenwert der Formen Wort, Schrift, Bild und Sache gegeneinander abwägt. Bildquellen gäben die äußere Form eines Gegenstands wieder, sagten über den Gebrauch allerdings nur dann etwas aus, wenn er in Verwendung dargestellt werde. Lauffer erkennt darin einen Vorzug der bildlichen gegenüber der schriftlichen Quelle.⁶⁴ Damit bewegt er sich auch im Umfeld der Bernheim’schen Vorlage einer „gegenseitigen Interpretation der Quellen“⁶⁵. Die Zeigekraft und das „Stummsein der Dinge“ sind bei beiden Autoren, Lauffer wie Bernheim, relational in Bezug auf die anderen Quellengattungen und keine absoluten Aussagen. In diesem methodischen Sinne haben alle Quellen, aber eben graduell unterschiedlich, das Vermögen der Aussage, müssen jedoch mit jeweils spezifischen Instrumenten entschlüsselt werden: durch die Perspektive der Fragen, die Wahl der Methode und die Kunst der Interpretation.Was Lauffer jedoch beiseitelässt, ist die von Bernheim mit seiner Differenzierung von „Tradition“ und „Überrest“ aufgeworfene prinzipielle Frage der historisch-kritischen Methode, also die Frage danach, ob und welche Interessen eine Quelle egal welchen Genres hervorgebracht und geformt haben. Und diese Leerstelle erklärt sich unseres Erachtens aus dem spezifischen Fach- und Sachverständnis, das Otto Lauffers Konzept der „deutschen Altertums- und Volkskunde“ prägte: Diese Vergangenheit des „deutschen Volkes“ sei auf eine andere Weise historisch als die Klassische Geschichte mit ihrer langen Reihe an schriftlicher Überlieferung, nämlich unmittelbar und zeitlos, da sie vom „Volk“ immer wieder direkt hervorgebracht würde, also eher eine Art unverbundener Gegenwärtigkeiten als eine Historie darstellte. Lauffers Auseinandersetzung mit Bernheim und die methodische Diskussion der Reichweite der Quellen war insbesondere für die volkskundliche Sachkulturforschung bis in die 1980er-Jahre und neuerdings auch für die aktuelle Forschung zu materieller Kultur produktiv. Diese wichtige Passage zur „Stummheit“ und zum „Zeigen der Dinge“ kann jedoch nicht besprochen werden, ohne darauf hinzuweisen, dass Lauffer im publizierten Zitatnachweis von Ernst Bernheim eine ungewollt sprechende Formulierung wählt: „E. Bernstein (Jude), ‚Lehrbuch der historischen Methode‘, 1908, S. 603.“⁶⁶ Hier fällt erstens die Namensverwechslung

Methodologische Überlegungen zur materiellen Kultur. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (2013), S. 23 – 33, hier S. 29.  Vgl. Lauffer, Quellen der Sachforschung, S. 123.  Bernheim, Lehrbuch, S. 599.  Lauffer, Quellen der Sachforschung, S. 125.

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Abb. 5: Otto Lauffers Exzerpt aus Bernheims Lehrbuch der Historischen Methode, o. D.

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auf: Er nennt den Schriftsteller und Politiker Eduard Bernstein (1850 – 1932)⁶⁷ statt den Greifswalder Historiker und ehemaligen Rektor der Universität Ernst Bernheim (1850 – 1942)⁶⁸. Zweitens ist der Autor durch einen verschriftlichten Judenstern indiziert. Die Kennzeichnung jüdischer Autoren war obligatorisch für wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten und für die Drucklegung unter der antisemitischen Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus. Im Kontext des Jahres 1943 kann sie sowohl als Distanzierung von dem wissenschaftlichen Autor interpretiert werden, der maßgeblich zur prägnanten Formulierung Lauffers beigetragen hat, als auch als Versuch, die inhaltliche Auseinandersetzung und das Benutzen zugunsten einer formalen Anpassung überhaupt möglich zu machen. Es gibt nur wenig Hinweise auf die Zitiervorschriften und einige Untersuchungen über die Zitierpraxis im Nationalsozialismus, die insbesondere aus der Rechtswissenschaft und aus der Medizin vorliegen.⁶⁹ Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung formulierte in mehreren Erlassen, dass „verbotene oder unerwünschte Literatur“, nämlich „jüdische und marxistische“ Schriften, in den Universitätsbibliotheken zu separieren seien.⁷⁰ Im Jahr 1939 regelte ein Runderlass zu Promotionsverfahren die bestehende Vorschrift, „jüdische Autoren niemals“ zu zitieren, ohne sie „als Juden“ besonders zu kennzeichnen und im Literaturverzeichnis getrennt aufzuführen.⁷¹ Das Ignorieren dieser Literatur galt als wissenschaftlich legitim.⁷² Nach Uwe Dietrich Adams Forschungen war die Kennzeichnung seit dem Jahr 1938 generell Pflicht bei Dissertationen der Universität Tübingen.⁷³ In den geheimen Lageberichten des Si-

 Zu Bernstein vgl. The Jewish Encyclopedia: A Descriptive Record of the History, Religion, Literature, and Customs of the Jewish People from the Earliest Time to the Present Day. Bd. 3. New York [u. a.] 1903, S. 98 f.  Mircea Ogrin: Ernst Bernheim (1850 – 1942). Historiker und Wissenschaftspolitiker im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Stuttgart 2011 (Pallas Athene 40).  Grundlegend: Otmar Jung: Der literarische Judenstern. Die Indizierung der „jüdischen“ Rechtsliteratur im nationalsozialistischen Deutschland. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 25 – 59.  Gerhard Kasper [u. a.] (Hrsg.): Die Deutsche Hochschulverwaltung. Sammlung der das Hochschulwesen betreffenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse. Bd. 1. Berlin 1942, S. 261.  Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 5 (1939), Nr. 563, S. 533 – 535, hier S. 534, Promotionsverfahren, Erlass W A 2036 vom 20. Oktober 1939; vgl. etwa auch die Markierung „J“ in der Bibliografie von Peter-Heinz Seraphim: Das Judentum im osteuropäischen Raum. Essen 1938, S. 680 – 705.  Vgl. Uwe Dietrich Adam: Hochschule und Nationalsozialismus. Die Universität Tübingen im Dritten Reich. Tübingen 1977, S. 183 f.  Vgl. Adam, Hochschule. Es gab zwei Runderlasse des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 15. 3.1938 und 20.10.1939, die das „Zitieren jüdischer Autoren“ zu regeln versuchten.

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cherheitsdienstes der SS vom 10. April 1940 wurden Schwierigkeiten gemeldet, solche Zitate zu vermeiden und jüdische Autoren im Literaturverzeichnis zu separieren, da häufig nicht bekannt sei, ob ein Autor „Jude ist oder unter den Judenbegriff falle“.⁷⁴ Rechtswissenschaftliche Fakultäten haben sich in diesem Punkt deutlich hervorgetan. Bereits im Jahr 1936 wurde ein Verzeichnis publiziert, das auf eine „rassengesetzliche Rechtsauffassung“⁷⁵ zurückging und der Identifikation jüdischer Autoren dienen sollte. In Lauffers Aufsatz wirken Kennzeichnung sowie die Namensverwechslung von Bernheim und Bernstein in der Fußnote stigmatisierend. Vielleicht war Lauffer für die Darstellung nur bedingt verantwortlich und Eugen Fehrle, der Heidelberger Fachvertreter, hatte als Herausgeber der Zeitschrift eingegriffen?⁷⁶ Der Zitatnachweis scheint weniger zu Lauffers Erörterung der Bernheim’schen Lehrbuchpassage zu passen als zu Fehrle, dessen rassenideologisch orientierte Wissenschaftsanschauung unbestritten ist.⁷⁷ Die typografische Verwandlung des Nachnamens von Bernheim in Bernstein ließe sich plausibler mit einer eventuellen Unkenntnis der Materie erklären als durch Lauffers eigenhändiges Schreiben. Gleichwohl gibt es genügend Indizien, Lauffer einerseits gediegene Arbeitsweise, andererseits ebenfalls Unterstützung der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik und Weltanschauung zu attestieren. Im Gegensatz zur jüngeren Generation seiner Schüler⁷⁸ gehörte er zwar nicht zu den exponierten NSIdeologen, war jedoch allenfalls ein leiser Mahner und kein Warner.⁷⁹ Er war im

 Heinz Boberach (Hrsg.): Meldungen aus dem Reich 1938 – 1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Bd. 4. Herrsching 1984, S. 979.  Erwin Albert: Verzeichnis jüdischer Verfasser juristischer Schriften. 2. ergänzte Aufl. Stuttgart 1937. Vorwort [S. 2]. Die erste Auflage datiert von 1936.  Im Universitätsarchiv Heidelberg fanden sich keine Hinweise auf Fehrles Arbeit als Herausgeber.  Peter Assion: „Was Mythos unseres Volkes ist“. Zum Werden und Wirken des NS-Volkskundlers Eugen Fehrle. In: Zeitschrift für Volkskunde 81 (1985), S. 220 – 244; vgl. Eugen Fehrle: Die Volkskunde im neuen Deutschland. In: Oberdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 7 (1933), S. 1 f.  In der Festschrift zu seinem 60. Geburtstag unterzeichnen die Herausgeber und LaufferSchüler sowohl mit altdeutscher Datumsangabe („20. Hornung 1934“) als auch mit dem verschriftlichten Hitlergruß. Vgl. Bargheer/Freudenthal, Volkskunde-Arbeit, S. VI.  In der älteren fachhistorischen Forschung wurde er als „Mahner und Warner“ eingeschätzt, vgl. Rolf Wilhelm Brednich: Germanistische Sinnbilder und ihre vermeintliche Kontinuität. In: Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. Hrsg. von dems. u. Heinz Schmitt. Münster/ New York 1997, S. 80 – 93, hier S. 87. Lauffers Kritik der nationalsozialistischen Sinnbildforschung bezog sich allerdings nicht auf deren politische Ideologie, sondern ihn störte die fehlende Belegkette. Eine ähnliche Argumentationsfigur ist Lauffers Ablehnung stammeshistorischer Konzepte zugunsten einer Semantik rund um das „Deutsche“ („oberdeutsch“, „niederdeutsch“), s. Lauffer, Neue Forschungen über die äußeren Denkmäler, S. 106 u. 337. Diese Position reformu-

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Jahr 1933 Unterzeichner des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat und Mitglied der NSDAP;⁸⁰ im Februar 1947 wurde ihm bei einer politischen Überprüfung auf dem Formblatt Report on Satisfactory Preliminary Investigation bescheinigt, dass „no ground for suspicion“ vorliege.⁸¹

5 Die volkskundliche Sachkulturforschung als Erbschaft der nationalen Rehabilitierung der „altertümer ohne geistigen gehalt“ Wie die Mehrheit derjenigen volkskundlichen Fachvertreter, die aufgrund fehlender Exponiertheit oder wegen einer letztlich misslungenen Entnazifizierung ihre Professuren behalten konnten oder im Zuge der diversen Amnestien ab Ende der 1940er-Jahre an die Universitäten zurückkehren konnten,⁸² sah auch Otto Lauffer keinen Anlass, sich von seinem Wissenschaftsverständnis der 1930er- und 1940er-Jahre zu distanzieren. In dem mit Will-Erich Peuckert postum publizierten lierte er überdies gerade in Schriftenreihen, die als Popularisierung völkischer Konzepte fungieren sollten, in völliger Übereinstimmung mit der NS-Ideologie. Vgl. etwa sein Plädoyer dafür, „Rasse, Umwelt und Geschichte“ als gleichwertig gültige Kräfte des historischen Prozesses zu veranschlagen, und die Position, „daß Blut und Boden den naturgegebenen Grund bilden, aus dem alle Keime des volkstümlichen Lebens ihre Kraft empfangen“, s. Otto Lauffer: Niederdeutsche Landschaft und niederdeutsches Volkstum. Hamburg 1938 (Das niederdeutsche Hamburg 8), S. 4. Dass er sich in der völkischen Wissenschaft nicht mehr engagierte, dürfte auch mit dem Alter des im Jahre 1874 geborenen Lauffer zu tun haben – das Sozialprofil der exponierten Volkstumswissenschaftler war deutlich jünger.  Bundesarchiv Berlin, R 9361-VII Kartei/62, Aufnahmeantrag von Otto Lauffer in die NSDAP, Gau Hamburg, Ortsgruppe Groß-Flottbek, 10. Juli 1937, eingestempelte Mitgliedsnr. 4489902. Auf die Beteiligung Lauffers am Kunst- und Kulturraub des NS-Staates in seiner Funktion als Museumsdirektor gibt es Hinweise, eingehend untersucht wurde dies bisher noch nicht, s. Asschenfeldt/Matthes, Quellen, S. 179 – 181.  StA Hamburg, Bestand 361– 6, Sign. I 265, Personalakte Otto Lauffer, Report, Appendix K vom 19. 2.1947.  So z. B. Gustav Bebermeyer an der Universität Tübingen oder Bruno Schier an der Universität Münster, s. Sabine Besenfelder: „Staatsnotwendige Wissenschaft“. Die Tübinger Volkskunde in den 1930er und 1940er Jahren. Tübingen 2002 (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen 94); Elisabeth Timm: Münster 1952. Von der „Volks- und Kulturbodenforschung“ über den „Volkstumskampf“ zur „Deutschen und vergleichenden Volkskunde“ in der Bundesrepublik. In: Zur Situation der Volkskunde 1945 – 1970. Orientierungen einer Wissenschaft zur Zeit des Kalten Krieges. Hrsg. von Johannes Moser [u. a.]. Münster 2015 (Münchner Beiträge zur Volkskunde 43), S. 93 – 138.

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Forschungsüberblick zur Volkskunde „seit 1930“ resümiert er die „kulturgeschichtliche Behandlung der Gegenstandskultur“ der beiden zurückliegenden Jahrzehnte. Die NS-Ideologie habe zwar die Marschroute und die Fragestellungen fast vorgegeben, sei aber für die „Sachforschung“ nicht ungünstig gewesen.⁸³ Lauffer durchmisst hier einen weit aufgefächerten Gegenstandskanon des Faches von der Hausforschung über die Kleidungsforschung bis zu weiblichen Handarbeiten und reklamiert damit über 20 Arbeits- und Gebrauchsweisen materieller Kultur als fachrelevante Aufgaben einer geschichtsorientierten Gegenwartsforschung. Mit Zitationen seiner eigenen Vorkriegspublikationen „in der Frage der Herkunft aus Blut und Boden“⁸⁴ kann er auf disziplinären und universitären Konsens vertrauen. Die politische Förderung der Volkskunde in der NS-Zeit habe Professuren geschaffen und Forschung ermöglicht, sodass neue Studien nicht mehr nur durch die „Nachbarwissenschaften, vor allem von der Germanistik zugeführt“ worden, sondern aus dem Fach entstanden seien. Auch sein Aufsatz von 1943 kommt zur Sprache, mit dem Hinweis auf die „Worte und Schriften, Bilder und Sachen“,⁸⁵ die ihn situativ näher an die Germanistik der „Wörter und Sachen“ als an die Geschichtswissenschaft und die Bernheim’sche Quellenkritik führen.

6 Resümee Die wissensgeschichtliche Rekonstruktion des geflügelten Wortes von den „stummen Dingen“, die zeigen, steht für eine prinzipielle erkenntnistheoretische Einsicht: Wissenschaft vollzieht sich nicht als kumulativer Erkenntnisfortschritt. Es wurde aufgefächert, mit welchen nationalen Interessen Otto Lauffers Konzept der materiellen Quellen seit dem späten 19. Jahrhundert verbunden war. Er traute diesen Quellen nicht nur eine Überlieferungsleistung zu, sondern auch eine direkte, unmediierte Vermittlungsleistung beim Zeigen in Museum und Ausstellung. Das von ihm befürwortete Exponieren gewöhnlicher Dinge darf dabei freilich nicht nur oder nicht primär als Ausdruck eines erweiterten Kulturbegriffs oder eines demokratischen Kulturverständnisses gedeutet werden (obwohl er sich mit der Museumsreformbewegung, namentlich mit dem Hamburger Alfred Lichtwark, intensiv auseinandersetzte).Vielmehr sollten die „deutschen Altertümer“ und das „deutsche Volk“ durch das Ausstellen zueinander in einer Weise in Kontakt kommen, die der moderne Alltag verunmöglicht hatte. Das germanistische Ver Otto Lauffer: Volkswerk. In: Volkskunde. Quellen und Forschungen seit 1930. Hrsg. von dems. u. Will-Erich Peuckert. Säckingen/Brombach 1951, S. 261– 335, hier S. 263.  Lauffer, Volkswerk, S. 266.  Lauffer, Volkswerk, S. 26 f.

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dikt, dass seine „Altertümer“ „ohne geistigen Gehalt“ seien, drehte Lauffer für seinen politisch-historischen Horizont um in eine exklusive epistemische Potenz, nämlich die Kontaktnahme mit dem „deutschen“ Leben selbst. Insofern verdeutlicht die Rekonstruktion der Sentenz von den bloß zeigenden Dingen, dass vom Namen des von Lauffer geleiteten „historischen“ Museums in Hamburg nicht auf einen historisch-kritischen Begriff von Geschichte geschlussfolgert werden kann. Die Vertreter der völkischen Zurichtung der volkskundlichen Anthropologie griffen um den Ersten Weltkrieg diesen Ansatz auf, triumphierten nach 1933 und trieben das spezifische, „entzeitlichte“ Vergangenheitsverständnis weiter, indem sie, wie hier Lauffers Schüler Ernst Bargheer und Herbert Freudenthal, forderten, „den Volksgeist in seinen völkisch-politischen Kraftquellen nicht nur in der Gegenwart durch Erlebnis, Beobachtung und Deutung nachzuspüren, sondern auch die einschlägigen Zeugnisse der Vergangenheit in nationalpolitischer Sehweise zu sondieren“.⁸⁶ Während diese explizit völkisch-vitalistischen Zuschreibungen materieller Kultur als notwendigerweise schriftloser Vergangenheit mit dem politischen Systemwechsel 1945 verschwanden, blieb die „Sachkulturforschung“ bis in die 1980er-Jahre ein angestammtes Gebiet, mit dem sich die Volkskunde als akademische Disziplin nicht nur behaupten, sondern durch die Etablierung sozialhistorischer Differenzierung und kultur- sowie alltagsgeschichtlicher Perspektiven auch in den Museen weiterentwickeln konnte. In historisch-epistemologischer Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass, ungeachtet neuer Begriffe wie „Alltagskultur“, die kritische Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Gründungsmythos eines „deutschen Altertums“ immer wieder geführt werden muss. Wissenschaftshistorisch noch zu wenig verstanden ist, was die episteme der dann folgenden und bis heute anhaltenden Konjunktur an Forschungen zur materiellen Kultur mittransportiert. Das „Kulturerbe“, dem manche wieder Unmittelbarkeit und Offenbarungsleistungen zutrauen, ist für unterschiedliche politische Ziele ein Medium ersten Ranges geworden. Aktuell findet sich überdies in der Politik (und auch in mancher Expertise) zum „immateriellen Kulturerbe“ eine weitere Variante der Vorstellung unmittelbaren, „entzeitlichten“, populären Wissens, in dem Vergangenheit und Gegenwart erneut in eins fallen würden. Aus historisch-kritischer Perspektive ist auf den damit einhergehenden essentialistischen Überlieferungsbegriff hingewiesen worden.⁸⁷ Die Behauptung eines „immateriellen Kulturerbes“, das nicht nur ohne schriftliche, sondern auch  Ernst Bargheer: „Politische“ Volkskunde? In: Ders./Freudenthal, Volkskunde-Arbeit, S. 3 – 6, hier S. 6.  Barbara Kirshenblatt-Gimblett: Intangible Heritage as Metacultural Production. In: Museum International 56 (2004), S. 52– 65.

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ohne gegenständliche Überlieferung bestehe,⁸⁸ entwertet wissenschaftlich argumentierende Quellenkritik und Historisierung als akademischen Elitarismus und inauguriert das nun „Laien“ oder citizen scientists genannte „Volk“ in neuer Weise. Es ist einer umfassenderen Zusammenschau solcher Ideen vorbehalten, deren Spezifik, historische, gesellschaftliche und politische Konjunkturen und Erscheinungsformen zu dokumentieren und zu untersuchen.

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 Dies entgegen der UNESCO-Konvention zum Immateriellen Kulturerbe und entgegen der reichhaltigen historischen und kulturanthropologischen bzw. gegenwartsethnografischen Forschung zu den vielfältigen Austauschprozessen zwischen gelebtem Leben, gelehrter und populärer, religiöser und profaner, mündlicher und schriftlicher, mediierter und unmediierter, transitorischer und manifester Überlieferung. Hier nur ein Nachweis zum Karneval, einer der beliebten Evidenzen vermeintlicher „Immaterialität“ und Schriftlosigkeit: Alessandro Testa: „Fertility“ and the Carnival 2. Popular Frazerism and the Reconfiguration of Tradition in Europe Today. In: Folklore 128 (2017), S. 111– 132.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nachlass Otto Lauffer, Kasten 3b, Mappe 5. Abb. 2: Museum für Hamburgische Geschichte, Inv.-Nr. 2011-1478-1. Abb. 3: Museum für Hamburgische Geschichte, Inv.-Nr. 2011-1495-2. Abb. 4: Museum für Hamburgische Geschichte, Inv.-Nr. 2011-1466-2. Abb. 5: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nachlass Otto Lauffer, Kasten 3b, Mappe 5.

Für die freundliche Genehmigung zur Verwendung dieser Abbildungen danken wir der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg und dem Museum für Hamburgische Geschichte.

Hans Peter Hahn

Anthropologie als „spekulative Geschichte“ Versuche der Annäherung und ihre Grenzen A beau mentir qui vient de loin!¹ Die Erkenntnis der Einheit des Menschengeschlechtes und seiner Kultur hat oft und früh den Gedanken einer Universalgeschichte lebendig werden lassen. Ein alter Traum, kann man sagen; ja, meistens mehr Traum als Wirklichkeit.² Die Menschen und ihre Geschichte betrachte ich gerne mit der Mentalität eines Laborforschers. Historiker beschwören gern den Einzelfall. Ich bin an großen Datenmengen interessiert und halte Ausschau, wo die Geschichte natürliche Experimente angestellt hat.³

1 Einleitung: Arten der Erzeugung von Wissen über die Vergangenheit Das 19. Jahrhundert ist geprägt von einer zuvor für unmöglich gehaltenen Ausdehnung der Felder wissenschaftlichen Wissens. Die Zahl der Disziplinen multipliziert sich, die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Durchdringung, gleich welchen Problems der Gesellschaft oder der Natur, wird allgemein anerkannt, wenn nicht gar gefordert. Neben dieser Anerkennung und die Zunahme an wissenschaftlichen Disziplinen tritt ein zweites Merkmal der Entfaltung. Die bis dahin etablierten Orte der Wissenschaft, die Akademien und die Universitäten, werden ergänzt durch das Museum als eine neue, von spezifischen Triebkräften ermöglichte und geforderte Einrichtung. Während Universität und Akademie im alten Europa wesentlich mit der feudalen Staatsform verknüpft sind, betritt das Museum mit dem Selbstbewusstsein einer den Bürgern zugeordneten Einrichtung die Sphäre der Öffentlichkeit: Museen gehören zur modernen, mit der Epoche der Aufklärung verbundenen Idee vom Staat; sie werden als Recht oder auch Eigentum des Volkes

 Lemma „Mentir“, in: Dictionnaire de l’Académie Française. Paris 1694, S. 41.  Wilhelm Koppers: Der historische Gedanke in Ethnologie und Prähistorie. In: Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte und Linguistik 9 (1953), S. 11– 65, hier S. 38.  Jared Diamond: „Ich pflege eine konstruktive Paranoia“. Interview, ausgeführt von Kai Michel. In: GEO 3 (2018), S. 112– 117, hier S. 114. https://doi.org/10.1515/9783110552201-010

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verstanden.⁴ Die Forschung in Museen ist nicht mehr nur die Sache akademisch etablierter Fachleute, sondern auch ein Ort der (Selbst‐)Bestätigung von gebildeten Dilettanten. Das Bild des wissenschaftlich Interessierten, des außerhalb etablierter Institutionen tätigen, unabhängigen Forschers ist eng mit der Idee des „Privatgelehrten“ verknüpft.⁵ Obgleich Privatgelehrte ihr Engagement nicht exklusiv auf Forschungen in Museen beschränken, so bildet doch das Anlegen einer Sammlung oder die Arbeit beispielsweise an kunsthistorischen oder ethnografischen Sammlungen eine typische Beschäftigung dieser Gruppe von Wissenschaftlern. Wesentlich für das Argument dieses Beitrags ist die gemeinsame Stoßrichtung, die im 19. Jahrhundert sowohl Privatgelehrten als auch den Museen ihre herausgehobene Bedeutung verlieh und ein außerordentliches Ansehen bescherte: In beiden Fällen geht es um neue Praktiken der Wissenserlangung. Diese neuen epistemischen Praktiken gehen einher mit neuen Orten (dem Museum, der Sammlung, dem wissenschaftlichen Verein⁶) und auch mit der Betonung der Unabhängigkeit gegenüber etablierten Formen der Wissensproduktion, also den Universitäten und Akademien. Hinzu kommt als Drittes ein weiteres Merkmal der Wissenschaftsentwicklung, das ebenso wesentlich ist. Es geht dabei um die Auffächerung des Methodenspektrums. Das 19. Jahrhundert brachte es mit sich, dass sich neben den bis dahin praktizierten und anerkannten Methoden der Wissenschaftlichkeit weitere, neue Methoden entwickelten. Die neuen Methoden waren damals vielfach um-

 Museen sind zugleich auch Einrichtungen der Disziplinierung des Bürgers. Tony Bennett zeigt, in welcher Form dies insbesondere für die Selbstvergewisserung des Bürgers und seines Status im 19. Jahrhundert gilt: Ders.: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics. London 1995.  Zur Entwicklung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert und den damit einhergehenden Spannungen zwischen Universitätsgelehrten und engagierten Bürgern s. Joseph Ben-David: The Scientist’s Role in Society. A Comparative Study. Englewood Cliffs 1971, S. 128, sowie Andreas W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848 – 1914. München 1998, S. 425. Entgegen der Aussage von Walter Rüegg ist hier festzustellen, dass die explosionsartige Entwicklung von Fachgesellschaften nach 1850 nicht von den Professoren getrieben wurde. Gerade in den Fachgesellschaften waren zahlreiche Gelehrte aktiv, die keinen Platz in der universitären Welt hatten: Ders.: Themen Probleme Erkenntnisse. In: Ders.: Geschichte der Universität in Europa. Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800 – 1945). München 2004, S. 17– 41, hier S. 22, Anm. 17.  Sabine Imeri beschreibt am Beispiel der Situation in Berlin Ende des 19. Jahrhunderts sehr genau den außerordentlichen Zulauf, den wissenschaftliche Vereine damals hatten: Dies.: Volkskunde als urbane Wissenspraxis. Berlin um 1900. In: Alltag – Kultur – Wissenschaft. Beiträge zur Europäischen Ethnologie 3 (2016), S. 107– 133. Popularität wurde insbesondere durch neue, ereignishafte Wissenspraktiken erzeugt: Exkursionen, das Vorweisen von neu erworbenen Objekten durch Museumsexperten, Lichtbilder u. a.

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stritten, und nicht wenige der Konflikte um wissenschaftliche Theoriebildung in jener Zeit betrafen die Anerkennung oder aber Zurückweisung solcher Methoden. Die drei damit kurz skizzierten Entwicklungen – (1) Zunahme der wissenschaftlich bearbeiteten Wissensfelder; (2) Entstehung neuer Wissensorte und -praktiken (z. B. Museen) und (3) die Ausweitung des Methodenspektrums – bilden die Grundlage für das zentrale Argument dieses Beitrags. Das Argument bezieht sich auf den Anspruch der Ethnologie im 19. Jahrhundert, mit eigenständigen Methoden eine Geschichte jener Regionen der Welt zu rekonstruieren, für deren Kulturen es keine schriftlichen Dokumente gibt, und damit zugleich als historische Disziplin anerkannt zu werden. Das bedeutet: Autonomie im Hinblick auf die epistemischen Praktiken, zugleich aber der Wunsch nach Anschluss an eine der Leitdisziplinen jener Zeit – das ist die paradoxale Struktur in der Selbstbestimmung des jungen, noch nicht etablierten Faches, die unausweichlich zu inneren Widersprüchen wie auch zum Teil zur Zurückweisung durch andere Disziplinen führen mussten. Bevor jedoch hier die unmittelbaren Reaktionen von Historikern auf die in deren Augen inakzeptablen Ansprüche der Ethnologie referiert werden, sei zunächst noch einmal auf die Positionierung der Ethnologie in statu nascendi im Umfeld der dynamischen und spannungsreichen Wissenschaftsentwicklung jener Zeit eingegangen. Ein weiterer Abschnitt wird der Spezifik der von Ethnologen neu entwickelten Methode – der Geschichtsschreibung aufgrund der Analyse von Objektformen – gewidmet sein, um deutlich zu machen, um welche unmittelbare Provokation es sich bei den Versuchen der historischen Rekonstruktion handelt.

2 Ethnologische Erkenntnis: ein marginales Wissen Eine der beiden Entwicklungslinien hin zu einem Korpus ethnologischen Wissens beginnt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verweist auf die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei. Zunächst sind in diesem Kontext philanthropische Motive hervorzuheben. So wurde in den 1830er-Jahren die Ethnological Society of London gegründet, vorrangig mit dem Ziel, die Menschenwürde der australischen Urbevölkerung sichtbar zu machen.⁷ Engagierte Bürger und wissenschaftliche Dilettanten wollten die Existenz einer Kultur dieser Bevölkerungsgruppen und

 Conrad C. Reining: A Lost Period of Applied Anthropology. In: American Anthropologist 64 (1962), S. 593 – 600.

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damit das Anrecht auf die Beachtung der vollen Menschenwürde hervorheben.⁸ Diese, wie auch die etwa zur gleichen Zeit gegründete Société ethnologique de Paris sammelten mithilfe von Fragebögen⁹ Informationen über Kulturen und Gesellschaften in Übersee und verfassten auf dieser Grundlage Vorträge und Berichte über die schwierige wirtschaftliche und politische Lage indigener Bevölkerungsgruppen in den Kolonien.¹⁰ Das philanthropische Anliegen war klar: Es ging um das gleiche Recht von Menschen auf ein menschenwürdiges Leben, gleich welcher Herkunft, Kultur oder Hautfarbe. Aber damit ist nur eine Wurzel der Ethnologie im 19. Jahrhundert beschrieben. Von wenigstens gleicher Bedeutung war daneben das Interesse, die damals immer deutlicher sichtbare Vielfalt der Kulturen und Rassen zu ordnen. So verfolgt die Mehrzahl der Autoren die Vorstellung einer beschränkten Anzahl menschlicher Rassen, die sich aus einem gemeinsamen Ursprung entwickelt hätten. Dieses anthropologisch-anatomische Denken wurde zum Beispiel in prominenter Weise durch den Göttinger Gelehrten Johann Friedrich Blumenbach vertreten.¹¹ Dessen Studien wurden damals auch in England zur Kenntnis genommen¹² und sind

 Justin Stagl: August Ludwig Schlözer and the Study of Mankind. In: A History of Curiosity. The Theory of Travel 1550 – 1800. Hrsg. von Justin Stagl. Chur 1995, S. 233 – 268; George W. Stocking: What’s in a Name? The Origins of the Royal Anthropological Institute (1837– 71). In: Man. New Series 6 (1971), S. 369 – 390.  Im Auftrag des Zaren Peter I. führte der Göttinger Historiker Gerhard Friedrich Müller schon im 18. Jahrhundert Forschungsreisen nach Sibirien durch und hatte dafür wohl die ersten Fragebögen zu Kultur entwickelt. Dieser älteste ethnografische Fragebogen hatte den Titel „Instruction was zu Geographischen und Historischen Beschreibung von Sibirien […]“. Vgl. Han F. Vermeulen: Von der Empirie zur Theorie. Deutschsprachige Ethnographie und Ethnologie von Gerhard Friedrich Müller bis Adolf Bastian. In: Zeitschrift für Ethnologie 134 (2009), S. 253 – 266, hier S. 255.  Die allmähliche Durchsetzung der sogenannten Fragebogenmethode und die einhergehende Etablierung des „Lehnstuhlethnologen“ können als die Fundierung einer wissenschaftlichen Ethnologie angesehen werden. James Urry: Notes and Queries on Anthropology and the Development of Field Methods in British Anthropology 1870 – 1920. In: Proceedings of the Royal Anthropological Institute (1973), S. 45 – 57; Jeremy Coote: Notes and Queries and Social Interrelations. An Aspect of the History of Social Anthropology. In: Journal of the Anthropological Society of Oxford 18 (1987), S. 255 – 272. Obgleich der Typus und die Methode etwa um 1900 eher kritisch gesehen wurden, spielten Fragebögen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine Rolle. Royal Anthropological Institute: Notes and Queries on Anthropology. 6. Aufl. London 1951.  Dieter Haller: Die Suche nach dem Fremden. Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945 – 1990. Frankfurt a.M. 2012, S. 31; Lothar Schott: „Verteidigung der Rechte der Menschheit“ als Aufgabe anthropologisch-ethnographischer Sammlungstätigkeit. Johann Friedrich Blumenbach zum 150. Todestag. In: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 32 (1991), S. 18 – 22.  Han F. Vermeulen: Before Boas. The Genesis of Ethnography and Ethnology in the German Enlightenment. Lincoln 2015, S. 372.

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deshalb von einiger Bedeutung für die gleich noch zu erläuternde Verschiebung des Selbstverständnisses der engagierten Dilettanten in diesem Wissensgebiet. Blumenbachs vergleichend-anatomische Vorgehensweise stand schon damals, in den Jahren nach 1800, in einer gut etablierten Tradition anthropologischer Abhandlungen. Solche Beschreibungen des Menschen hatten, wie Werner Sombart schildert, schon im 18. Jahrhundert ihre erste Blütezeit.¹³ Es handelte sich in jener Zeit um Werke, die ganz überwiegend von medizinisch gebildeten Autoren verfasst wurden. Diese Abhandlungen gingen vom anatomischen Wissen aus und beruhten in erster Linie auf allgemeinen Überlegungen (z. B. Introspektion). Damit standen sie im Kontrast zur Wissenspraxis der britischen und französischen gelehrten Gesellschaften, bei denen, wie bereits erwähnt, empirisch in der Beobachtung einer Kultur erhobene Informationen eine größere Rolle spielten. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass im deutschsprachigen Raum auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zahlreiche Ethnologen auf eine medizinische Ausbildung verweisen konnten, noch bevor sie sich der Anthropologie oder Ethnologie zuwendeten. Dazu sind einige wichtige Gründerfiguren zu rechnen, wie Adolf Bastian, Rudolf Virchow und Augustin Kramer. Diese medizinische Basis anthropologischen Denkens stand für eine naturwissenschaftliche Auffassung von Mensch und Gesellschaft: Ordnung war in die Vielfalt der Kulturen nur durch naturwissenschaftliche Verfahren zu bringen, allen voran die direkte Beobachtung der Physiologie des Menschen und insbesondere der Schädelformen. Die beiden soweit kurz skizzierten Wissensquellen – (1) Befragung und Beschreibung der Kulturen auf der Grundlage von Berichten; (2) direkte Beobachtung im Sinne einer Physiologie – bilden das breite und uneinheitliche Fundament des Faches, das sich im engeren Sinne erst Jahrzehnte nach 1850 herausbilden sollte.¹⁴ Anders formuliert: Empathie (= philanthropisches Interesse) und Ordnung (= vergleichend-anatomische Methode) beschreiben die Eckpunkte einer noch nicht etablierten Wissenschaft, die ihre Anerkennung erst noch zu finden hatte. Den Gründerfiguren in England, Frankreich oder im deutschsprachigen Raum kam das Interesse aus sehr unterschiedlichen Wissensfeldern und politischen

 Werner Sombart (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der wissenschaftlichen Anthropologie. Berlin 1938.  Wie Peter Probst: Beobachtung und Methode. J.S. Kubary als Reisender und Ethnograph im Spiegel seiner Briefe an Adolf Bastian. In: Baessler-Archiv. Neue Folge 31 (1983), S. 23 – 56, zeigt, gibt es noch mehr Abgrenzungen, auch wenn diese kaum je explizit gemacht wurden. Neben Beobachten und Beschreiben tritt nämlich auch die Vorstellung einer notwendigen Distanz, wie am Scheitern von Johann Kubary zu beobachten ist, der als Ethnologe über zwanzig Jahre auf den Karolinen-Inseln lebte.

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Engagements zugute: Gleichviel, ob es sich um prähistorische Knochenfunde oder die Beschreibung der lokalen Bevölkerung in den gerade erst entdeckten und von europäischen Nationen in Besitz genommenen überseeischen Territorien handelte, immer waren Ethnologen gefragt. Sie sollten Ordnungen entwickeln und kulturelle Beziehungen beschreiben.¹⁵ Das Nebeneinander zwischen naturwissenschaftlichen und deskriptiven Zugängen erwies sich überall in Europa als heikel. Es gab keine Einigkeit über die Gültigkeit bestimmter Methoden. Während manche wie z. B. Virchow der Beschreibung einschließlich dem Vermessen von Schädeln die Priorität gaben, konzentrierten sich andere, wie Moritz Lazarus, auf die Untersuchung der Entwicklung sozialer Normen.¹⁶ Trotz eines gemeinsamen Auftretens mit neuen äußeren Merkmalen, etwa dem wissenschaftlichen Verein oder dem Laboratorium, blieben die Methoden sehr unterschiedlich.¹⁷ In einem breiteren Rahmen beschreibt Han F. Vermeulen dieses Nebeneinander bereits für die letzten Jahre des 18. Jahrhunderts. Sein Bild jener Zeit stützt sich auf die biologische Anthropologie einerseits, namentlich den bereits erwähnten Blumenbach, und ethnografisch arbeitende Historiker andererseits, insbesondere die Göttinger Professoren August Ludwig Schlözer, August Gatterer und Gerhard Friedrich Müller.¹⁸ Während Blumenbach und andere, denen man durchaus auch Immanuel Kant hinzurechnen kann, die Aufgabe der Beschreibung der Menschheit als eine „Naturgeschichte“ ansahen, orientierten sich die

 Marianne Sommer: Bones and Ochre. The Curious Afterlife of the Red Lady of Paviland. Boston 2007; dies.: The Lost World as Laboratory. The Politics of Evolution between Science and Fiction in the Early Decades of Twentieth-Century America. In: Configurations 15 (2007), S. 299 – 329.  Vgl. Moritz Lazarus: Über den Ursprung der Sitten. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1 (1860), S. 437– 477, und Ivan Kalmar: The Völkerpsychologie of Lazarus and Steinthal and the Modern Concept of Culture. In: Journal of the History of Ideas 48 (1987), S. 671– 690.  Das gilt auch für die Szene der Anthropologen in Berlin. Die Berliner Gesellschaft für Ethnologie, Anthropologie und Urgeschichte umfasst sowohl biologisch-anthropologische Strömungen als auch Ethnologie im Sinne einer historischen Wissenschaft. Uwe Hoßfeld: Zur Geschichte der biologischen Anthropologie in Deutschland, 1856 bis 1930. Tendenzen und Strömungen. In: Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 36 (2015), S. 165 – 180. Mitunter erschien es so, als sei die Zugehörigkeit zu dieser oder einer der beiden anderen Gesellschaften das wichtigste Merkmal, um überhaupt als Anthropologe oder Ethnologe zu gelten.Vgl. Sabine Imeri: Heimatforschen in der Metropole oder wie regionales Wissen entsteht. Die Brandenburgia, Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg zu Berlin um 1900. In:Volkskundliches Wissen. Akteure und Praktiken. Hrsg.von Antonia DavidovicWalther. Münster 2009 (Berliner Blätter 50), S. 113 – 138.  Stagl, Schlözer.

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Ethnografen an dem damals noch umstrittenen Ideal einer „Geschichte der Zivilisationen“.¹⁹ Offensichtlich sollte das 19. Jahrhundert den Fokus auf Anthropologie und die Naturgeschichte bringen, während die alten ethnografischen Zugänge eher zurückgedrängt wurden, ohne jedoch ganz zu verschwinden.²⁰ In England wurde 1871 die bereits erwähnte Ethnological Society of London aufgelöst und durch das Royal Anthropological Institute ersetzt. Einerseits hatte sich damit die Frage nach den menschlichen Rassen – also die „anthropologische“ Frage nach der Ordnung in der beobachteten Diversität von Kulturen – durchgesetzt, andererseits wurde aber auch die „ethnografische“ Vorgehensweise mithilfe von Fragebögen perfektioniert. Dies ist besonders an dem von dieser Gesellschaft herausgegebenen Handbuch mit dem Titel Notes and Queries zu erkennen.²¹ Die britische (und auch US-amerikanische) Orientierung ist ergänzend zu kennzeichnen durch die weitgehende Übernahme der Theorie des Evolutionismus. Wie besonders an dem Werk von Edward Tylor untersucht wurde,²² dominierte das Prinzip einer Einordnung der Kulturen nach ihrem Status auf einer imaginierten Entwicklungsleiter. Der Evolutionismus stellt ein Schema bereit, das jeder Kultur eine spezifische Stufe zwischen der „primitiven Kultur“ einerseits und der „Zivilisation“ andererseits zuordnet. Kulturwandel bedeutet damit stets die Entwicklung von einem gegebenen und durch Beobachtung feststellbaren Niveau hin zur nächsthöheren Stufe. Bis heute ist es umstritten, ob ein solcher gerichteter Prozess als „historische Entwicklung“ angesehen werden kann.²³ Aus dieser Unsicherheit heraus ist für die Argumentation dieser wichtigen Studie festzustellen: Geschichte spielt in der anglophonen Tradition der Ethnologie eine eher geringe Rolle.

 Ob und nach welchen Prinzipen diese zu schreiben wäre, war damals zudem Gegenstand einer heftigen Wissenschaftsdebatte. Als Gegner Schlözers hatte sich damals insbesondere Johann Gottfried Herder positioniert, indem er nämlich den Versuch einer systematischen Geschichte als unerfüllbar und letztlich obsolet verwarf. Johann G. Herder: Rezension von Schlözers „Vorstellung der UniversalHistorie“, Göttingen/Gotha 1772. In: Frankfurter Gelehrte Anzeigen (1772), S. 473 – 478. Herder stellt stattdessen das sympathetische Vorgehen in den Mittelpunkt und bekennt sich zur notwendig subjektiven Position des Geschichtsschreibers. Dietrich Harth: Kritik der Geschichte im Namen des Lebens. Zur Aktualität von Herders und Nietzsches geschichtstheoretischen Schriften. In: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), S. 407– 456.  Vermeulen, Before Boas, S. 45 f.  Urry, Notes and Queries.  Joan Leopold: Culture in Comparative and Evolutionary Perspective. E. B. Tylor and the Making of Primitive Culture. Berlin 1980.  Klaus E. Müller: Grundzüge des ethnologischen Historismus. In: Grundfragen der Ethnologie. Hrsg. von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik u. Justin Stagl. Berlin 1981, S. 193 – 231.

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3 Ethnologie zwischen Geschichte und Biologie Mehr als andere Fächer, die sich im späten 19. Jahrhundert konstituierten, ist die Ethnologie zwischen den beiden Leitdisziplinen jener Epoche hin- und hergerissen. Neben der Geschichte ist hier die Biologie zu nennen, deren berühmtester Vertreter jener Zeit, Charles Darwin, eine Ausstrahlung weit über Fächergrenzen hinaus hatte. In einem Zeithorizont, in dem sich die zunächst in hohem Ansehen stehende historistische Schule der Geschichtswissenschaften unwillkürlich in einer direkten Konkurrenz zum Evolutionismus wiederfand, konnten die noch nicht akademisch etablierten Ethnologen ein Nebeneinanderherlaufen der beiden Strömungen in ihrem Wissensfeld tolerieren.²⁴ Für Karl Pusman,²⁵ der sich wesentlich auf Justin Stagl bezieht, wird der im gleichen Zeithorizont „zusammenbrechende“ Historismus durch einen szientistischen Materialismus, also eine Orientierung an den Naturwissenschaften ersetzt.²⁶ Die Entwicklung der Ethnologie in Großbritannien zeigt, in welch hohem Maße die Ethnologie sich ab 1860 an spätestens seit dem 18. Jahrhundert bereits etablierten naturwissenschaftlichen Methoden und Theorien orientierte. Auch die Zuordnung von ethnografischen Sammlungen zu naturhistorischen Museen sollte in diesem Lichte betrachtet werden: Den Gesellschaften, deren kulturelle Artikulationen in diesen Museen verwahrt und untersucht wurden, wurde mit dieser  Justin Stagl: Kulturanthropologie und Gesellschaft. Wege zu einer Wissenschaft. München 1974, S. 22. Stagl hielt das Jahrzehnt 1850 – 1860 für die entscheidende Dekade im Hinblick auf den damals erfolgten Paradigmenwechsel: Die in den 1840er-Jahren gegründeten ethnologischen Gesellschaften in Paris und London gerieten damals mangels öffentlichen Interesses in eine Krise. Stagl stellt an den Beginn dieses Zeithorizonts die bürgerliche Revolution von 1848. An dessen Ende – gewissermaßen als öffentlich unübersehbarer Vollzug der Durchsetzung naturwissenschaftlicher Prinzipien – steht die erste wichtige Publikation von Charles Darwin On the Origin of Species (1859). Charles Darwin: On the Origin of Species. London 1859.  Karl Pusman: Die „Wissenschaften vom Menschen“ auf Wiener Boden (1870 – 1959). Münster 2008, S. 18.  Ganz ähnlich äußerte sich bereits Rudolf Virchow: Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter. Rede am 3. August 1893 in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Berlin 1893, S. 24. Ihm zufolge ist „aus den Studierzimmern der Philosophen kein Aufschluss über wirkliche Naturvorgänge zu erlangen, sondern nur aus der dauernden Verbindung der Wissenschaft mit realen Dingen“, also „Museen Sammlungen, Laboratorien, Institute“. Bei seiner Rede am Ende seiner Amtszeit als Präsident der Humboldt-Universität gibt es einen Rückblick auf die Entwicklung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Dabei bestätigt er die Beobachtung einer Konkurrenz zwischen Geschichte und Naturwissenschaften. Ihm zufolge war 1856, das Jahr der Gründung des pathologischen Instituts, für den Sieg der Naturwissenschaft (und damit der direkten Beobachtung) entscheidend. Virchow, Gründung, S. 28.

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Platzierung nicht etwa der Status einer von Menschen hervorgebrachten Kultur abgesprochen. Die Verknüpfung erfolgte vielmehr auf der Grundlage der methodologischen Basis: So, wie die Biologie durch Beobachtung und Vergleich die relative Platzierung jeder einzelnen Spezies bestimmen konnte, so glaubte man, durch ähnliche Methoden den Platz jeder einzelnen Kultur in der Menschheitsgeschichte identifizieren zu können.²⁷ Die Ordnung der Kulturen entspricht der Ordnung der Tier- und Pflanzenarten. Ethnologie wurde zu einer „vergleichenden Anatomie“ der Kulturen.²⁸ Trotz der philanthropischen Wurzeln richteten sich die Ethnologen in England nach 1871 an der Biologie aus, verfolgten die historisch nur wenig informierte Theorie des Evolutionismus.²⁹ Damit kamen sie zu einem dezidiert „anthropologischen“ Verständnis aller Kulturen weltweit. In den deutschsprachigen Ländern verlief der Weg im gleichen Zeitraum in die entgegengesetzte Richtung. Auch hier kann von einer doppelten Orientierung als Ausgangspunkt gesprochen werden: einerseits die biologische, die unter anderem in dem großen Engagement von Ärzten in dem neuen Wissensgebiet erkennbar ist; andererseits eine historische, die sich zum Beispiel schon im späten 18. Jahrhundert in dem Konflikt zwischen Johann Gottfried Herder und August Ludwig Schlözer über die Geschichte der Bildung der Menschheit erkennen lässt.³⁰ Gegenläufig zur für Großbritannien gezeichneten Entwicklung des Faches verlief in der deutschsprachigen Tradition der Weg recht bald weg von der somatisch-physiologischen Anthropologie und hin zur historisch-rekonstruieren-

 Martin Gierl: Das Alphabet der Natur und das Alphabet der Kultur im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 18 (2010), S. 1– 27, hat die im Grunde aus dem 18. Jahrhundert stammende Parallelisierung des Ordnungssystems der Natur (insbesondere die Linné’sche Nomenklatur) mit Ordnungssystemen der kulturellen Vielfalt anhand der Studien der Göttinger Universitätskollegen Gatterer und Büttner untersucht.  Frances Larson: Anthropology as Comparative Anatomy? Reflecting on the Study of Material Culture During the Late 1800s and the Late 1900s. In: Journal of Material Culture 12 (2007), S. 89 – 112.  In einem Rückblick zur Entwicklung der Ethnologie verweist Frobenius kritisch auf diese Strömung und bezeichnet speziell britische Vertreter (wie z. B. Edward Tylor) als „Analogisten“, die nur Prozesse der Konvergenz beschrieben und deshalb keine historische Entwicklung der Kulturen erkennen könnten. Konvergenz meint hier die Entwicklung zu einer einheitlich und homogen gedachten Zivilisation, wie es die britische Gesellschaft jener Zeit verkörperte.  Herder, Rezension; Harth, Kritik. In einem umfangreichen Kommentar zu Herders Traktat hat Hans-Georg Gadamer dessen besondere Leistung herausgearbeitet. Demnach liegt Herders Leistung in einer der frühesten Formulierungen des Kulturrelativismus: Mit der Zurückweisung des Fortschrittsglaubens hat Herder sich bereits im Jahr 1774 für die Gleichwertigkeit der Menschen in allen Kulturen ausgesprochen. Johann G. Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Nachwort von Hans-Georg Gadamer. Frankfurt a.M. 1967.

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den Ethnologie oder „Völkerkunde“, mit zunehmend kritischer Distanz zur biologischen Ausrichtung und hin zu einer stärkeren Orientierung an geschichtlichen Fragen. Dies ist insbesondere am wissenschaftlichen Profil eines der Begründer des Faches, Adolf Bastian, erkennbar.³¹ Bastian, in jungen Jahren als Mediziner ausgebildet, entwickelte die Theorie der Elementargedanken und engagierte sich zuletzt mit großer Energie für das Völkermuseum in Berlin als Ort der Forschung.³² Nach Fiedermutz-Laun steht Bastians zentrales Forschungsanliegen in einer „komparativ-genetischen“ Betrachtung der Kulturen.³³ Zugleich ist für Bastian die Einheit der Menschheit durch deren biologische Grundlagen gegeben.³⁴ Diese beiden Theorieelemente machen deutlich, wie in seinem Denken Geschichte und Biologie unmittelbar nebeneinanderstehen. Zugleich wird aber deutlich, dass für Bastian die Idee der historischen Rekonstruktion die eigentliche Zukunftsaufgabe der Ethnologie sein wird.³⁵ Im Verhältnis zu den etablierten Fächern ist für die Ethnologie also ein ungleiches Nebeneinander zu konstatieren. Einerseits übernahmen Ethnologen Methoden (Beobachten, Vergleichen) und Konzepte (Entwicklung, Geschichtlichkeit) von den damals dominanten Disziplinen Biologie und Geschichte. Andererseits gelang es nicht, daraus einen im System des einen oder des anderen Faches verankerten Wissensanspruch abzuleiten: Weder galt die Ethnologie als eine Subdisziplin der Biologie, noch hatten ihre Ergebnisse einen substanziellen Einfluss auf die historischen Wissenschaften.

 Wenigstens für die Periode als Schiffsarzt ist Bastian auch der Kategorie der forschungsreisenden Privatgelehrten zu zurechnen. Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 414. Auch andere wichtige „ethnologische Amateure“ – Nachtigall, Rohlfs, Ratzel – nennt Daum an gleicher Stelle.  Annemarie Fiedermutz-Laun: Der kulturhistorische Gedanke bei Adolf Bastian. Systematisierung und Darstellung der Theorie und Methode mit dem Versuch einer Bewertung des kulturhistorischen Gehalts auf dieser Grundlage.Wiesbaden 1970 (Studien zur Kulturkunde 27); dies.: The Scientific Legacy of Adolf Bastian (1826 – 1905). Compilation, Evaluation and Significance of Knowledge about the Life and Work of the Scholar. In: Adolf Bastian and his Universal Archive of Humanity. The Origins of German Anthropology. Hrsg. von Manuela Fischer [u. a.]. Hildesheim 2007. S. 55 – 74.  Fiedermutz-Laun, Der kulturhistorische Gedanke, S. 259.  Klaus-Peter Koepping: Adolf Bastian and the Psychic Unity of Mankind. The Foundations of Anthropology in Nineteenth Century Germany. St. Lucia 1983.  Pusman, Die „Wissenschaften vom Menschen“, S. 83, fasst die besondere Situation der deutschsprachigen Ethnologie in einen scheinbar klaren Trend: „Vom evolutionistischen zum kulturhistorischen Denkansatz“. Pusman, der sich sehr weitgehend auf Justin Stagl und Eike Haberland stützt, stellt die Verbindung von Ratzel und Frobenius dabei in den Vordergrund. Eine Begründung, warum diese Entwicklung gerade im deutschsprachigen Raum möglich war, liefert er jedoch nicht.

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Stattdessen mussten Ethnologen sich damit abfinden, in eng umrissenen Kontexten der Exotisierung als Fachleute zu gelten. So wurden sie bei Völkerschauen herangezogen, um eine Expertise der „Echtheit“ abzugeben.³⁶ Die Museen für Völkerkunde wurden zu Rumpelkammern kolonialer Trophäenjagden, ohne dass die verantwortlichen Ethnologen sich zu einer grundsätzlichen Kritik am kolonialen System durchringen konnten.³⁷ Damit wurden sie zu Werkzeugen einer Wissensordnung, die zu überwinden das Fach einmal angetreten war: Ethnologen waren nicht mehr für die Menschheit insgesamt zuständig, sondern nur noch für die weit entfernten Kulturen, für die Gegenentwürfe zur eigenen „zivilisierten“ Welt.

4 Materielle Kultur als „Methode“ Möglicherweise haben Ethnologen eine tendenziell eher exotische Selbstinszenierung akzeptiert, um ihrem Fach eine größere Popularität in der schon geschilderten wissenschaftsaffinen Öffentlichkeit am Ende des 19. Jahrhunderts zu geben. Das gilt ohne Zweifel für eine Person wie Leo Frobenius, der in geschickter Weise Exotik und Wissenschaft miteinander verbindet.³⁸ Eine Resonanz dieser durchaus problematischen „Selbst-Exotisierung“ findet sich im sogenannten Expeditionsstil,³⁹ der für einen kurzen Zeitraum um 1900 sogar als eine zentrale

 Andrew Zimmerman: Geschichtslose und schriftlose Völker in Spreeathen. Anthropologie als Kritik der Geschichtswissenschaft im Kaiserreich. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 197– 210. Die Berliner Gesellschaft für Ethnologie, Anthropologie und Urgeschichte ließ sich „Privatvorstellungen“ der von Hagenbeck nach Berlin gebrachten „Wilden“ geben. Edward G. Norris: Trivialisierung der Allgemeinbildung durch Ausstellungen mit überseeischer Exotik. Carl Hagenbeck. In: Kultur im Spannungsfeld von Wirtschaft und Politik. Hrsg. von Dirk Rustemeyer u. Jürgen Wittpoth. Berlin 1991, S. 149 – 170.  Hans P. Hahn: Ethnologie und Weltkulturenmuseum. Positionen für eine offene Weltsicht. Berlin 2017, S. 22 f. Sicher hat auch Bastian selbst in dieser Hinsicht nicht deutlich genug Stellung bezogen. Seine Kritik an einer von kolonialer Überheblichkeit geprägten Sicht auf die Kulturen der Menschen in den Kolonien ist dennoch deutlich vernehmbar. Adolf Bastian (Hrsg.): Zwei Worte über Colonial-Weisheit von jemandem dem dieselbe versagt ist. Berlin 1883. Insbesondere stört ihn die mangelnde Verwertbarkeit kolonialer Sammlungen für seine wissenschaftliche Fragestellung. Ders.: Ueber Ethnologische Sammlungen. In: Zeitschrift für Ethnologie 17 (1885), S. 38 – 42.  Hans-Jürgen Heinrichs: Die fremde Welt, das bin ich. Leo Frobenius: Ethnologe, Forschungsreisender, Abenteurer. Wuppertal 1998.  Hans P. Hahn: Ethnologie. Eine Einführung. Berlin 2013, S. 68 ff.

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Forschungsmethode von Ethnologen gelten muss.⁴⁰ Das Sammeln von Objekten, also das „Erringen“ von Dokumenten „fremder Kulturen“ wurde dabei zu einer öffentlich anerkannten Priorität erhoben.⁴¹ So wichtig das Sammeln von Dingen als praktische Tätigkeit war, so bedeutsam war der Versuch, den ethnologischen Wissenskorpus abzusichern, indem man konsistente Methoden der Analyse solcher Sammlungen entwickelte und sich damit einem der großen, etablierten Fächer annäherte. Die Konsistenz einer Methode ist dabei nicht nur eine Frage des Vorgehens, sondern vielmehr der Ausdruck einer klar definierten Fragestellung und der erwarteten Ergebnisse. In diesem Sinne lässt sich feststellen, dass die Geschichte eine prominente Rolle einnimmt. Ethnologen wie Adolf Bastian und Friedrich Ratzel, aber auch Leo Frobenius haben in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer wieder und ganz entschieden für die Ethnologie als historische Wissenschaft plädiert. Ihre Fragestellung bezieht sich auf die Geschichte jener Gesellschaften, die nicht über eine eigene Geschichtsschreibung verfügten. Diese Ethnologen vertraten uneingeschränkt den Anspruch, Aussagen über die Geschichte der von ihnen untersuchten Gesellschaften und Kulturen zu machen. Ethnologen präsentierten ihre Ergebnisse als „komplementär“ zu den von Historikern bereits untersuchten Regionen und Epochen und behaupteten selbstbewusst, auf diese Weise zu einer Art Universalgeschichte beizutragen. Die damals rasch anwachsenden ethnografischen Sammlungen bewerteten sie als Basis für dieses Vorhaben, da die Dinge als direkte Zeugnisse der außereuropäischen Kulturen aufgefasst wurden.⁴² Öffentlich sichtbarer Ausdruck der selbstbewussten Behauptung eines eigenen Wissensfeldes waren die in jener Zeit entstehenden Museen für Ethnologie, die zugleich, wie eingangs erläutert, als Orte der Forschung verstanden wurden. Es waren Laboratorien der Forschung, mithin Orte, an denen neuartige Methoden erprobt werden konnten, deren Ergebnisse dann die Anerkennung der Ethnologie durch die universitären historischen Disziplinen erzwingen sollte.⁴³  Frobenius als ein wichtiger Vertreter dieser Methode wurde bereits erwähnt. Ein wichtiger Konkurrent, der mit der gleichen Methode arbeitete, war Emil Torday. S. John Mack: Emil Torday and the Art of the Congo, 1900 – 1909. London 1991; Johannes Fabian: Curios and Curiosity. Notes on Reading Torday and Frobenius. In: The Scramble for Art in Central Africa. Hrsg. von Enid Schildkrout u. Curtis A. Keim. Cambridge 1998, S. 79 – 108.  Johannes Fabian: Ethnische Artefakte und ethnographische Objekte. Über das Erkennen von Dingen. In: Das entfernte Dorf. Moderne Kunst und ethnischer Artefakt. Hrsg. von Ákos Moravánszky. Wien 2002, S. 21– 40; Thomas Fillitz: Vom Sammeln und Klassifizieren. In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft Wien 141 (2011), S. 209 – 218.  Bastian, Ueber Ethnologische Sammlungen.  Hahn, Ethnologie und Weltkulturenmuseum, S. 27.

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Aber wie lässt sich eine Geschichte mit den methodologischen Instrumenten der Ethnologie und im Kontext der heterogenen Orientierung rekonstruieren? An dieser Stelle rückt die Vorstellung in den Mittelpunkt, technische oder handwerkliche Artikulationen einer Kultur in der Form ethnografischer Objekte seien eine verwertbare Quelle, vergleichbar mit den Dokumenten der Historiker. Ethnologen wie Leo Frobenius und Fritz Graebner beriefen sich dabei auf Ernst Bernheim und dessen Lehrbuch der historischen Methode. ⁴⁴ Dort findet sich eine Definition, die darauf verzichtet, die ursprüngliche Bestimmung eines Dokuments als Zeugnis zum zentralen Merkmal einer echten Quelle zu machen. Nach Bernheim gelten als Quelle vielmehr: „Resultate menschlicher Betätigungen, welche zur Erkenntnis und zum Nachweis geschichtlicher Tatsachen entweder ursprünglich bestimmt oder doch vermöge ihrer Existenz, Entstehung oder sonstiger Verhältnisse vorzugsweise geeignet sind“.⁴⁵ Bastian und andere zeitgenössische Ethnologen untersuchten materielle Artefakte als Quelle für die Form der jeweiligen Kultur, die sie hervorbrachten. Es erschien so, als sei ein Objekt, ähnlich wie ein Text, das komplexe Ergebnis unterschiedlicher intentionaler Akte: Einerseits die Weitergabe des Wissens über Formen, andererseits die Reproduktion von handwerklichen Techniken und Routinen der Materialaufbereitung und -bearbeitung. Sichtbare Evidenzen unterschiedlicher Materialbearbeitung und Formgebung schienen ausreichend, um „Kulturgeschichte“ zu rekonstruieren. Die Form der Objekte transportierte kulturelle Kontinuität und Identität, auch wenn keine anderen Quellen für solche Aussagen existierten. So bietet Frobenius in einem Reisebericht die Zeichnung einer eisernen Glocke aus Nord-Togo und auf der gegenüberliegenden Seite eine Skizze eines levantinischen Musikinstruments aus Bronze in ganz ähnlicher Form.⁴⁶ Die formale Übereinstimmung ist für Frobenius der Ausgangspunkt einer Spekulation über die Wanderung von Kulturen vom Mittelmeerraum nach Westafrika. Diese Quelle stützt seine „Atlantistheorie“. Er glaubt also aufgrund der Beweiskraft einer Objektform, dass Reste einer bron-

 Koppers, Der historische Gedanke, S. 20.  Ernst Bernheim: Lehrbuch der historischen Methode mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte. 3. Aufl. Leipzig 1903, S. 227, Hervorhebung durch den Autor. Nach Ulrich Veit: Abfall als historische Quelle. Zeugenschaft in der Archäologie. In: Parapluie 22 (2005), o. S., erhob Virchow das „Nichtintentionale“ der materiellen Kultur als Argument für deren Wahrhaftigkeit sogar besonders hervor.  Leo Frobenius: Ethnologische Ergebnisse der zweiten Reiseperiode der Deutschen Innerafrikanischen Forschungsexpedition (DIAFE). In: Zeitschrift für Ethnologie 41 (1909), S. 759 – 783, hier S. 780 f.

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zezeitlichen mediterranen Kultur in der Regenwaldzone Westafrikas anzutreffen sind.⁴⁷ Das konkrete Beispiel mag exotisch erscheinen. Aber die größeren und komplexeren Rekonstruktionen der kulturhistorischen Methode funktionieren sehr ähnlich. Sie bedürfen nicht einmal der unmittelbaren Evidenz des Auffindens am Ort ihres Gebrauchs, so wie es im obigen Beispiel der Fall ist. Solche Evidenzen können durch das Nebeneinanderstellen von ähnlichen Objekten im Museum erzeugt werden. Sobald eine oder mehrere Grundeigenschaften von Objekten sich gleichen, so liegt damit das Indiz für eine gemeinsame kulturelle Basis vor. Unter bestimmten Bedingungen hielten Ethnologen die visuelle Evidenz einer bestimmten Formähnlichkeit für hinreichend.⁴⁸ Ein weiterer Schritt dieser Methode war die Definition sogenannter Kulturkomplexe. Dabei handelt es sich um eine kleine Anzahl verschiedener Objekte mit ziemlich genau zu beschreibenden Formeigenschaften. Dies erschien wie eine Absicherung: Nicht das Auftreten einer einzelnen Form (wie im Beispiel oben), sondern das gemeinsame Auftreten dieser Gruppe von Dingen wurde als Indiz für die Übereinstimmung in der Kulturgeschichte gewertet.⁴⁹ Der Nachweis einer Gruppe von Dingen ähnlicher Form war gewissermaßen der „Basisbefund“ für einen Kulturkreis. Er wurde ergänzt durch die Beschreibung der räumlichen Verbreitung. Erst der Nachweis dieser Gruppe an zwei verschiedenen Orten machte es plausibel, diese Orte miteinander zu verbinden. Dabei fragte man nicht nach der Modalität; es war auch ohne Bedeutung ob es sich dabei um die Mobilität von Menschen oder von Ideen und Techniken handelt.  Jürgen Zwernemann: Culture History and African Anthropology. Stockholm 1983 (Uppsala Studies in Cultural Anthropology 6), S. 5 f. Zwernemann schildert sehr differenziert, in welcher Hinsicht Bernheim für die Generation der Ethnologen wie Frobenius oder Graebner gelesen wurde und warum man damals dessen Lehrbuch als Schlüssel zur Aufwertung materieller Kultur verstand. Vgl. dazu auch Hans P. Hahn: Ethnologie. In: Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Hrsg. von Stefanie Samida [u. a.]. Stuttgart 2014, S. 269 – 278.  Aus der unendlichen Zahl von Objekteigenschaften, die jedem Gegenstand anhaften, wählten die Ethnologen in jener Zeit nur die scheinbar dem Objekt immanenten aus: Farbe, Form, Material, Bearbeitung. Später mussten sie eingestehen, dass „Objektimmanenz“ ein unhaltbares Kriterium ist. So erklären sich Techniken der Herstellung mitunter nur, wenn auch der spätere Gebrauch berücksichtigt wird. Wie heute bekannt ist, können Formen von Objekten nicht von Gebrauchskontexten getrennt werden. Hans P. Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin 2005. Die Geschichte der Befassung mit materieller Kultur könnte deshalb auch als eine Geschichte zunehmender epistemischer Unklarheit geschrieben werden: Die Klarheit der Kriterien, wie auch die Qualität, als „Indiz für […]“ gewertet zu werden, schwanden im Laufe des 20. Jahrhunderts beständig. Hans P. Hahn: Dinge als unscharfe Zeichen. In: Handbuch Museum. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Hrsg. von Markus Walz. Stuttgart 2016, S. 14– 18.  Zwernemann, Culture History, S. 53.

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Man beschrieb die Mobilität der Kultur als Abstraktum und kam dadurch zu Modellen, die eine Wanderung von Kulturen über etliche tausend Kilometer hinweg unterstellte. Die beiden damit geschilderten Prinzipien – (1) die Formkonstanz und (2) die Gleichartigkeit an verschiedenen Orten – erschienen den Ethnologen eine methodisch sichere Grundlage.⁵⁰ Obgleich damals dieser Begriff nicht verwendet wurde, bezeichnet man dieses Verfahren als diffusionistische Lehre. Der Diffusionismus war damals weit verbreitet und hatte auch in England und in den USA Anhänger.⁵¹ Der Begriff der „kulturhistorischen Methode“ beschreibt mithin eine vergleichsweise eng umrissene und anspruchsvolle Methode, die im weiteren Sinne nur als eine Methode unter anderen im Spektrum der diffusionistischen Ansätze darstellt. Da es innerhalb der deutschsprachigen Ethnologie erhebliche Differenzen und intensive Debatten bezüglich der Zahl der sogenannten Urkulturen und auch über die Ausbreitungswege gab, wäre es ohnehin falsch, von einer „Schule“ oder „Lehre“ zu sprechen. Vielmehr bildeten die ethnologisch-kulturhistorischen Zentren in Berlin, Köln, Frankfurt und Wien jeweils eigene „Schulen der Kulturgeschichte“ und stritten intensiv darüber, ob es z. B. eine einzige „älteste“ Kultur gegeben habe oder drei oder gar noch mehr „Urkulturen“.⁵² Es gab massive Differenzen darüber, ob z. B. alle indianischen Kulturen zu einer solchen Kultur zu rechnen wären oder ob hier unterschiedliche Einflusssphären, z. B. über den pazifischen Ozean hinweg und hin zu Inselkulturen des Süd-Pazifik anzunehmen wären. Vielfach wird die „kulturhistorische Methode“ mit dem Begriff „Kulturkreislehre“ unmittelbar verknüpft.⁵³ Wissenschaftsgeschichtlich wird dieser Begriff dadurch jedoch in unangemessener Weise überbewertet, da es niemals eine übereinstimmende Lehre bezüglich der „Kulturkreise“ gab.⁵⁴ Es existierte nicht einmal eine von allen Seiten anerkannte Definition für diesen Begriff, der auch

 Fritz Gräbner: Methode der Ethnologie. Heidelberg 1911.  Hans P. Hahn: Leo Frobenius et le Panafricanisme aujourd’hui: W.E.B. Du Bois et l’idée de la malléabilité des cultures. In: Kulturkreise. Leo Frobenius und seine Zeit. Hrsg. von Jean-Louis Georget [u. a.]. Berlin 2016 (Studien zur Kulturkunde 129), S. 361– 376.  Zwernemann, Culture History, S. 67 ff.  Clyde Kluckhohn: Some Reflections on the Method and Theory of the Kulturkreislehre. In: American Anthropologist 38 (1936), S. 157– 196; Koppers, Der historische Gedanke; Hélène Ivanoff, Jean-Louis Georget u. Richard Kuba (Hrsg.): Kulturkreise. Leo Frobenius und seine Zeitgenossen. Berlin 2016 (Studien zur Kulturkunde 129).  Paul Leser: Zur Geschichte des Wortes Kulturkreis. In: Anthropos 58 (1963), S. 1– 36.

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von Bernheim und Ratzel verwendet wurde, jedoch mit sehr unterschiedlicher Bedeutung.⁵⁵ Die grundlegenden Probleme dieses Ansatzes standen damals den aktiven Verfechtern wie Ankermann, Frobenius und Graebner, aber auch einer nicht gering zu schätzenden Zahl von Kritikern⁵⁶ deutlich vor Augen: Stets schien die Auswahl von Kulturmerkmalen willkürlich; und die Frage nach dem Wie der kulturellen Mobilität wurde systematisch vernachlässigt. Dennoch hat die hier geschilderte Methode massive Auswirkungen auf die Situation der Ethnologie bis in die Gegenwart. Dafür ist insbesondere die paradoxe Lage der Museen anzuführen, die in der Zeit bis 1920 zweifellos als wichtige Orte der Forschung gelten konnten. Danach und parallel mit dem Untergang der kulturhistorischen Methode haben sie ihre wissenschaftliche Bedeutung auch deshalb verloren, weil die „Feldforschung“ zur zentralen epistemischen Praxis aufstieg. Die Durchsetzung der Feldforschung ging mit einem substanziellen Verzicht der ihr verpflichteten Ethnologen einher: Sie verzichteten zumeist darauf, Modelle historischen Wandels und überregionaler Kulturzusammenhänge zu präsentieren.⁵⁷ Kulturen wurden von der Mehrzahl der Ethnologen spätestens ab 1920 nur noch als lokal abgegrenzte und tendenziell eher statische Einheiten betrachtet. Die Frage nach dem historischen Wandel erschien als zu komplex und im Grunde unlösbar.

5 Hat die Geschichtsschreibung mit materieller Kultur eine historische Aussage? Was nun sind die Leistungen und Defizite des Versuchs, auf der Grundlage eines Vergleichs von Objektformen „Geschichte“ zu schreiben? In einer sehr pragma Zu den unterschiedlichen Verwendungen des Begriffes und seiner zentralen Stellung für kulturhistorische Rekonstruktionen vgl Koppers, Der historische Gedanke, S. 25 – 28. Trotz der Widersprüche in der Definition ist der Begriff „Kulturkreis“ aus der Ethnologie im Zeitraum der Jahre nach 1900 in die Alltagssprache übergegangen und gehört heute zum allgemeinen Wortschatz.  Michael Haberlandt: Zur Kritik der Lehre von den Kulturschichten und Kulturkreisen. In: Petermanns Mitteilungen 57 (1911), S. 113 – 118; Paul Hambruch: Das Wesen der Kulturkreislehre. Zum Streite um Leo Frobenius. Hamburg 1924; Alfred Vierkandt: Rezension von: Graebner, Fritz: Kulturkreise und Kulturschichten in Ozeanien. Bernhard Ankermann: Kulturkreise und Kulturschichten in Afrika. In: Zentralblatt für Anthropologie 10 (1905), S. 211– 213; ders.: Die Stetigkeit im Kulturwandel. Eine soziologische Studie. Berlin 1908.  Hans P. Hahn: Lokale Kulturen und globale Verflechtungen. Handwerker, Traditionen und transkontinentale Bezüge. In: Same same, but different. Der Dokra-Weg der Ringe. Hrsg. von Johanna Hess-Dahm. Zürich 2008, S. 86 – 95.

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tischen Hinsicht wurde darauf bereits eine Antwort gegeben: Diese Methode diente als essenzieller „Trittstein“ auf dem Weg zu einer vollwertigen Wissenschaft. Gerade Frobenius, der deutlicher als Bastian in den Jahren um 1900 ein wahrhaft weltumspannendes Modell präsentieren konnte, verhalf damit seinem Fach zu größerem Selbstbewusstsein. Die Anerkennung durch die Leitwissenschaft Geschichte konnte nur eine Frage der Zeit sein.⁵⁸ Aber es zeigt sich, dass die Reaktionen der Historiker sehr unterschiedlich waren. Andrew Zimmerman zufolge fiel es Virchow und Bastian schwer, Verbündete in den etablierten Geisteswissenschaften zu finden, obgleich sie Herder als Ahnherr benannt hatten und glaubten, eine Fortsetzung der Idee einer Universalgeschichte zu realisieren.⁵⁹ Bastian und andere Ethnologen dieser Zeit verstanden die Leistung der Ethnologie als Erweiterung der humanistischen Ausrichtung in einem Moment, in dem die „Naturvölker“ unter dem Druck des Kolonialismus ihrer Ansicht nach dem Untergang geweiht seien.⁶⁰ Bastian verstand ethnologische Museen als „Textsammlungen schriftloser Völker“.⁶¹ Nach Zimmerman waren Ethnologen damals „Positivisten“, also faktenversessen, sie traten damit in Opposition gegen die Philologen.⁶² Artefakte betrachteten sie als „objektiver“ im Vergleich zu ohnehin nicht verfügbaren schriftlichen Selbstzeugnissen. Die Masse der Daten und ihre statistische Auswertung galten als der beste Weg für die induktive Erforschung. Historiker wendeten sich gegen solche Vorstellungen und äußerten sich kritisch. Ihr Vorwurf lautete, die kulturhistorische Beschreibung begreife den Menschen nur monistisch.⁶³ Ottokar Lorenz zufolge tendiere die naturwissenschaftliche Geschichte dazu, die immanente Potenz des Staates geringzuschätzen: Ich erblicke hierin eine Gefahr des induktiv technischen Zeitalters […]: die naturwissenschaftliche Betrachtung der Dinge schätzt nicht selten die immanente Potenz dessen, was sich als Staat geschichtlich darstellt, gering. […] Sie ist bestrebt, das analytische Verfahren auf gesellschaftliche Zustände anzuwenden, als wenn sie ein bloßes Objekt ihrer Aufgaben

 Wenigstens für Frobenius selbst hat sich die Erwartung auch erfüllt: Frankfurter Historiker waren Fürsprecher, als es darum ging, sein Afrika-Archiv in den frühen 1920er-Jahren nach Frankfurt zu holen. Bernhard Streck: Leo Frobenius. Afrikaforscher, Ethnologe, Abenteurer. Frankfurt a.M. 2014 (Gründer, Gönner und Gelehrte. Biographienreihe der Goethe-Universität Frankfurt am Main).  Zimmerman, Geschichtslose und schriftlose Völker, S. 197.  Eike Haberland: Historische Ethnologie. In: Ethnologie. Eine Einführung. Hrsg. von Hans Fischer. Berlin 1983, S. 319 – 343, hier S. 332.  Bastian, Ueber Ethnologische Sammlungen, S. 40.  Zimmerman, Geschichtslose und schriftlose Völker.  Ottokar Lorenz: Die bürgerliche und die naturwissenschaftliche Geschichte. In: Historische Zeitschrift 39 (1878), S. 458 – 485, hier S. 461.

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vor sich hätte; die Herabsetzung dieser letzteren Aufgaben [= die Erkenntnis des Staats und seiner kausalen Bedingungen] wird nicht nur die zeitgemäßen Bewegungen des Staats und seiner Zwecke erschweren, sondern auch sehr vieles beitragen, in jenem ‚Ameisenhaufen‘ eine Schranke zu lockern, welche wenigstens die Ameisen der Naturgeschichte auszeichnet: das Staatsgefühl.⁶⁴

In ähnlicher Stoßrichtung äußert sich Johann Gustav Droysen, auf den Zimmerman ebenfalls verweist.⁶⁵ Droysen sieht in der ethnografischen Beschreibung von Kulturen ein Missverständnis bezüglich der eigentlichen Zielsetzungen der Geschichte. Wer darangehen wollte, eine Ethnografie im rechten Sinne zu machen, der müßte vor allem diesem Gedanken nachgehen, er müßte den Wandel der Völker, ihre Zersetzungen und die neuen Kombinationen verfolgen […] Er würde zu der Frage kommen, welche Völker konnten sich verbinden, sich kreuzen, aus welchen Kreuzungen entstand Edleres, in welchen mulattisch Verächtliches, welches Volkselement war in der Kreuzung das zeugende, welches das empfangende? […] Ein wunderliches, aber gedankenreiches Buch hat diese Aufgabe zu behandeln versucht: [Karl] Vollgraf ‚Erster Versuch einer allgemeinen Ethnologie durch Anthropologie‘ 1851– 55.⁶⁶

Damit ist offensichtlich: Die externe Kritik war prägnant. Sicher war sie auch deutlich genug, um damals die Einrichtung eines regulären Lehrstuhls für Ethnologie oder Völkerkunde an der Universität in Berlin zu verhindern. Zugleich sollte jedoch nicht vergessen werden, dass auch die historischen Wissenschaften in der Zeit nach 1870 unter Kritik geraten waren. Eine interne gegenüber dem Historismus kritische Bewegung ist mit Karl Lamprecht und seiner Position zu den Aufgaben einer Geschichtswissenschaft verbunden. Lamprecht hat sich auf Herder berufen und auch Ethnologen wie Tylor und Henry Morgan zitiert.⁶⁷ Zwar

 Lorenz, Die bürgerliche und die naturwissenschaftliche Geschichte, S. 483. Zur tendenziellen Bereitschaft der Professorenschaft im Preußen jener Zeit, die Belange des Staates vor die Freiheit der Wissenschaft zu stellen, s. Christophe Charle: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1997, S. 208 ff.  Zimmerman, Geschichtslose und schriftlose Völker, S. 209.  Johann G. Droysen: Historik 1. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Stuttgart 1977, S. 312. Dieser Absatz endet mit einem Fragment, das möglicherweise später hinzugefügt wurde: „Schematisch, doktrinär, unhistorisch – Bastian“. Zit. S. 312.  Hasso Spode: Was ist Mentalitätsgeschichte? In: Kulturunterschiede. Interdisziplinäre Konzepte zu kollektiven Identitäten und Mentalitäten. Hrsg. von Heinz Hahn. Frankfurt a.M. 1999 (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Analyse interkultureller Beziehungen 3), S. 10 – 57, hier S. 26.

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plädierte er für eine „empirische Historik“,⁶⁸ in der sowohl die Geschichte aus der Reflexion über die Geschichtlichkeit heraus vorkommt als auch die Ethnologie als Geschichte ohne Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit genannt wird. Aber Lamprechts Versuch, Ereignisgeschichte durch Alltags- oder Sozialgeschichte zu ersetzen, wurde von der Mehrheit der Historiker um 1900 abgelehnt. Seine Verteidigungsschrift Die kulturhistorische Methode ⁶⁹ benennt zwar noch einmal die Vorteile seines Ansatzes, aber er hat damit – wenigstens zu jener Zeit – nicht die Mehrheit der Historiker auf seiner Seite.⁷⁰ Weitgehend unverbunden steht neben der Kritik der Historiker die interne Kritik von kulturhistorisch ausgerichteten Ethnologen, die die Beweiskraft der Objekte in Zweifel zogen. Je genauer nämlich Ethnologen die zuvor definierten Kulturkomplexe untersuchten, desto weniger war klar, ob ihre Beschreibungen der ethnografischen Objekte überhaupt kohärent und objektiv nachvollziehbar waren. Es wurden Debatten darüber geführt, ob die sogenannte Schlitztrommel in allen Fällen, in denen Objekte dieser Gruppe zugeordnet waren, überhaupt als ein einheitlicher Typus angesprochen werden sollte.⁷¹ An solchen Details von Form und Funktion hing die Bestimmung eines Kulturkomplexes und daran wiederum die Antwort auf die Frage, ob die indianischen Gruppen Südamerikas einer Grundkultur zugehörten oder aber mehr divergierenden Einflüssen zuzurechnen seien. Zur Kritik gehört auch die Debatte über Motive der Übernahme von kulturellen Neuerungen. Insgesamt gab es auch unter kulturhistorisch arbeitenden Ethnologen sehr bald Zweifel bezüglich ihrer Methode.⁷²

 Karl Lamprecht: Was ist Kulturgeschichte? Beitrag zu einer empirischen Historik. In: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Neue Folge I (1896/1897), S. 75 – 150.  Karl Lamprecht (Hrsg.): Die kulturhistorische Methode. Berlin 1900.  Zu dem schwierigen Erbe dieser Debatte gehört sicher die bis in die Gegenwart anhaltende Skepsis gegenüber „materieller Kultur“. Hans Medick benennt sehr deutlich einige Missverständnisse, die scheinbar immer noch aus historischer Sicht vorherrschen. So kritisiert er Fernand Braudel, der materielle Objekte als Indikatoren für Stillstand und Unveränderlichkeit heranzieht. Hans Medick: Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hrsg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 94– 109.  Erland Nordenskiöld: Ist die sogenannte Schlitztrommel in der neuen Welt sowohl wie in der alten Welt selbständig erfunden worden? In: Ethnologische Studien. Hrsg. von Fritz Krause. Leipzig 1929, S. 17– 28; Paul Rivet: L’étude des civilisations matérielles. Ethnographie, archéologie, préhistoire. In: Documents, Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie, Variétés 1 (1929), S. 130 – 135.  Auch Frobenius selbst gehört zu den Kritikern eines übermäßigen Vertrauens in die Beweiskraft materieller Kultur: „Alles in allem entzieht sich jedes Kulturgut, das äußerlich auch noch so einförmig aussehen mag, durch seine Variabilität jeder Bemühung einer wirklich exakten und nicht erzwungenen Zusammenfassung, wie solche die mehr statischen Objekte der Geologie,

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Auch innerhalb der Ethnologie schwelte dieser Streit, und wichtige Vertreter wie Richard Thurnwald plädierten sehr früh gegen eine historische Rekonstruktion und für eine sozialwissenschaftliche Analyse von Überschichtung und Unterschichtung.⁷³ Auch Franz Boas distanzierte sich sehr früh von der Idee der vergleichenden Untersuchung der weltweiten Verbreitung bestimmter Merkmale.⁷⁴ Stattdessen trat er für die Darstellung lokaler Kulturen im Zusammenhang ihrer Kulturtechniken und lebensweltlichen Bezüge ein.⁷⁵

6 Schluss: Das zweifelhafte Erbe einer spekulativen Geschichte mit materiellen Objekten und aktuelle Aufgaben Der begrenzte Umfang eines Aufsatzes bietet nicht den erforderlichen Raum, um auf die grundsätzlichen Widersprüche der kulturhistorischen Methode einzugehen. Es mag an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass sich die Lesbarkeit der Objekte immer deutlicher als eine fragwürdige epistemische Annahme herausstellt. Eine der schädlichen Nebenwirkungen dieses Vorhabens „in Objekten lesen“ ist die in den Humanities weit verbreitete, aber dennoch problematische Überbewertung des Materiellen.⁷⁶

Botanik und Zoologie gewähren. […] Das Moment der Kinematik [Beweglichkeit] wird noch auffälliger, wenn wir beachten, daß jedes KuIturgut der Vergesellschaftung unterworfen ist. Die Verbreitung des Wurfeisens wird bedingt durch das Auftreten bestimmter Bogenformen, die des Knollenbaues durch Erscheinen von Getreidearten. […] Das Leitende kann der Kulturkunde nur die Kinematik, das Statische lediglich ihr Objekt sein. Kultur ist eben ein lebendig Wirkliches.“ Leo Frobenius (Hrsg.): Atlas Africanus. Belege zur Morphologie der afrikanischen Kulturen. München 1921, S. 8.  Richard Thurnwald: Probleme der Völkerpsychologie und Soziologie. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie (Sociologus) 1 (1925), S. 1– 20.Weitere leidenschaftliche Kritiker der kulturhistorischen Methode waren Haberlandt, Kritik und Hambruch, Wesen.  Franz Boas: The Limitations of the Comparative Method of Anthropology. In: Science. New Series 4 (1896), S. 901– 908.  Claude Imbert: Boas, de Berlin à New York. Manières de vivre, manières de voir. In: Franz Boas. Le travail du regard. Hrsg. von Michel Espagne u. Isabelle Kalinowski. Paris 2013, S. 15 – 32.  Hans P. Hahn: Konsumlogik und Eigensinn der Dinge. In: Warenästhetik – Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Hrsg. von Heinz J. Drügh [u. a.]. Frankfurt a.M. 2011, S. 92– 110; ders.: Vom Eigensinn der Dinge. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (2013), S. 13 – 22; ders. (Hrsg.): Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen. Berlin 2015; ders.: Güterexpansion und Kulturwandel. Anmerkungen zu einer transepochalen Globalgeschichte des Sachbesitzes. In: Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften.

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Was aber ist mit der Erwartung geworden, auf der Basis materieller Quellen eine Geschichte der Gesellschaften ohne Schrift zu etablieren? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass auch die unbeugsamsten Kulturhistoriker unter den Ethnologen diese Methode in der Form, in der sie Ende des 19. Jahrhunderts gestartet wurde, nicht mehr für anwendbar halten. Innerhalb dieser kulturgeschichtlichen Strömung wie auch in der Ethnologie allgemein mag das Anliegen einer solchen Geschichtsschreibung weiterhin unterschiedlich hoch bewertet werden, die methodologischen Ausgangspunkte, das Nebeneinanderstellen von Objekten und der Vergleich der Formen sind heute obsolet. Es stellt sich heraus, dass das Projekt einer Verflechtung von Ethnologie und Geschichte zumindest auf diesem Weg schnell in eine Sackgasse geführt hat. Einhellig räumen die Fachleute an den früheren wichtigen Stätten kulturhistorischer Forschung (Wien, Frankfurt a.M., Köln) die methodologischen Defizite ein und äußern sich skeptisch im Hinblick auf eine Verbindung von materieller Kultur und Geschichte.⁷⁷ Was ist also geblieben von diesem weitreichenden Ansatz? Welches sind die Wirkungen bis in die Gegenwart? Man kann die Folgen dieser spekulativen, empirisch niemals erfüllten Idee einer kulturhistorischen Forschung auf der Grundlage von materieller Kultur und der in den ethnologischen Museen verfügbaren Sammlungen in mehreren Etappen oder auf unterschiedlichen Ebenen sehen. Hier wären zu nennen: 1. Der taktische Erfolg. Wenn auch mit Verzögerung, so konnte sich die Ethnologie doch als akademisches Fach etablieren. 2. Die Zurückweisung. Das gilt sowohl für die Kritik der damals (um 1900) etablierten Geschichtswissenschaft wie auch für kritische Ethnologen, die den spekulativen Charakter der kulturgeschichtlichen Methode herausstellten. 3. Die breite Anerkennung einer Notwendigkeit zur wechselseitigen Bezugnahme von Geschichte und Ethnologie in der Gegenwart. Dieser letzte Punkt ist offensichtlich der Aspekt, welcher es sinnvoll erscheinen lässt, heute noch einmal zurückzublicken und sich um ein genaueres Verständnis des damaligen Scheiterns zu bemühen. Gerade in einer globalisierten Welt, in der

Stand und Perspektiven der Forschung. Hrsg. von Annette C. Cremer u. Martin Mulsow. Köln 2017, S. 47– 62.  Christoph von Fürer-Haimendorf: Culture History and Cultural Development. In: Yearbook of Anthropology 1 (1955), S. 149 – 168; Haberland, Historische Ethnologie; Sigrid Westphal-Hellbusch: Trends in Anthropology. The Present Situation of Ethnological Research. In: American Anthropologist 61 (1959), S. 848 – 865.

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Identitätsbildungen in jeder beliebigen Nation weltweit nicht ohne den Rekurs auf Geschichte möglich sind,⁷⁸ stellt sich die Frage nach der Geschichte von Kulturen ohne eine lange Tradition der schriftlichen Fixierung von Geschichte erneut und mit größter Dringlichkeit. Niemand wird heute auf die alte Kritik der Historiker rekurrieren, und es gibt einen breiten Konsens bezüglich der Rolle von Geschichte im Kontext von nation building oder der Bestätigung der civil society. Ethnologen sehen hier ein besonderes Potenzial ihres Wissens und haben unterschiedliche Strategien vorgeschlagen, diese Wissenslücke zu schließen. Während zum Beispiel Zwernemann dafür plädiert, wieder materielle Kultur zu untersuchen, und darauf setzt, damit zumindest „regionale Kulturgeschichte“ schreiben zu können,⁷⁹ hat Karl Wernhart ein neues methodisches Paradigma vorgeschlagen, das er als „Ethnohistorie“ bezeichnet.⁸⁰ Damit meint er eine Kombination unterschiedlicher Quellen, die die Geschichte von Technologien genauso umfasst wie orale Traditionen und den Sprachvergleich. Überhaupt gibt es mit Jan Vansina einen prominenten Fachmann, für den „orale Tradition“ den Schlüssel zur Geschichte – in gewissen zeitlichen Grenzen – darstellt.⁸¹ Schließlich sei auch noch einmal auf den bereits erwähnten Überblicksartikel von Eike Haberland hingewiesen, der die vier bislang genannten Methoden nebeneinanderstellt und die Hoffnung äußert, durch eine geschickte Kombination zur Geschichtserkenntnis dieser – oftmals jungen Nationen – zu gelangen. Haberland nennt namentlich die folgenden Methoden: (1) schriftliche Quellen (z. B. in Kolonialarchiven), (2) orale Traditionen, (3) archäologische Befunde und (4) Geschichte der umweltbezogenen Techniken.⁸² Es ist kein Zufall, dass die im letzten Absatz genannten Autoren ihre Prognosen durchweg in den 1980er-Jahren und damit vor über 30 Jahren veröffentlicht haben. Es zeigt die langsam zunehmende Einsicht, dass, jenseits einer wenig an historischen Entwicklungen orientierten Ethnologie, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte, die Geschichte aller Kulturen weltweit wieder auf der Tagesordnung steht. Zugleich besteht die Unsicherheit fort: Auf welcher methodologischen Grundlage wäre eine solche Geschichte zu schreiben? Welche Gültigkeit dürfen

 Flora E. S. Kaplan: Nigerian Museums. Envisaging Culture as National Identity. In: Museums and the Making of „Ourselves“. The Role of Objects in National Identity. Hrsg. von ders. London 1994, S. 45 – 78.  Zwernemann, Culture History.  Karl R. Wernhart (Hrsg.): Ethnohistorie und Kulturgeschichte. Wien 1986.  Jan Vansina: Oral Tradition as History. London 1985.  Haberland, Historische Ethnologie, S. 327– 339.

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bestimmte Quellen beanspruchen? Diese Fragen zu klären, ist von besonderer Bedeutung, wenn die Ethnologie ihren Anspruch aufrechterhalten will, eine universale Wissenschaft vom Menschen und deren Gesellschaften zu sein. Gerade die kritische Rückfrage von Wissenschaftlern und Politikern der jungen Nationen des globalen Südens nach dem Beitrag der Ethnologie heute für das Schreiben einer anerkannten Geschichte zeigt die Notwendigkeit, in diesem Gebiet neuen Ansätze zu finden und die Verbindung von Geschichte und Ethnologie wieder mit größerem Nachdruck zu unterstützen.

Literatur Bastian, Adolf (Hrsg.): Zwei Worte über Colonial-Weisheit von jemandem dem dieselbe versagt ist. Berlin 1883. Ders.: Ueber Ethnologische Sammlungen. In: Zeitschrift für Ethnologie 17 (1885), S. 38 – 42. Ben-David, Joseph: The Scientist’s Role in Society. A Comparative Study. Englewood Cliffs 1971. Bennett, Tony: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics. London 1995. Bernheim, Ernst: Lehrbuch der historischen Methode mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte. 3. Aufl. Leipzig 1903. Boas, Franz: The Limitations of the Comparative Method of Anthropology. In: Science. New Series 4 (1896), S. 901 – 908. Charle, Christophe: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1997. Coote, Jeremy: Notes and Queries and Social Interrelations. An Aspect of the History of Social Anthropology. In: Journal of the Anthropological Society of Oxford 18 (1987), S. 255 – 272. Darwin, Charles: On the Origin of Species. London 1859. Daum, Andreas W.: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848 – 1914. München 1998. Diamond, Jared: „Ich pflege eine konstruktive Paranoia“. Interview, ausgeführt von Kai Michel. In: GEO 3 (2018), S. 112 – 117. Droysen, Johann G.: Historik 1. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Stuttgart 1977. Fabian, Johannes: Curios and Curiosity. Notes on Reading Torday and Frobenius. In: The Scramble for Art in Central Africa. Hrsg. von Enid. Schildkrout u. Curtis A. Keim. Cambridge 1998, S. 79 – 108. Ders.: Ethnische Artefakte und ethnographische Objekte. Über das Erkennen von Dingen. In: Das entfernte Dorf. Moderne Kunst und ethnischer Artefakt. Hrsg. von Ákos Moravánszky. Wien 2002, S. 21 – 40. Fiedermutz-Laun, Annemarie: Der kulturhistorische Gedanke bei Adolf Bastian. Systematisierung und Darstellung der Theorie und Methode mit dem Versuch einer Bewertung des kulturhistorischen Gehalts auf dieser Grundlage. Wiesbaden 1970 (Studien zur Kulturkunde 27).

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Praktische Perspektiven

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Geschichtslose „Barbaren“ aDNA-Forschung und die Entdeckung frühmittelalterlicher Migranten Wenn man von den „Völkern ohne Geschichte“ spricht, meint man normalerweise machtlose oder an den Rand gedrängte Menschen. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einer ganz anderen Art von Menschen „ohne Geschichte“, den als Barbaren bezeichneten Eroberern des westlichen Römischen Reichs zwischen dem vierten und dem siebten Jahrhundert. Sie sind in dem Sinne ebenfalls „ohne Geschichte“, als diese vorschriftlichen Gesellschaften keine Aufzeichnungen über ihre Identitäten, Sehnsüchte oder Vorhaben hinterließen. Die Geschichte, die sie haben, ist vollständig von außen entstanden: Sie wurde entweder von den Römern produziert, die sie beobachtet oder mit ihnen interagiert haben, oder erst Generationen später geschrieben, als die betreffenden Bevölkerungsgruppen schon weitgehend in den römischen Provinzen, die sie erobert hatten, assimiliert waren. Doch gerade weil wir keine Stimmen aus den Generationen der Barbaren hören können, deren Einfall in das Römische Reich die Institutionen, Gesellschaft und Kultur des Westens grundlegend beeinflussten, wird über die Frage, wer sie waren, was sie taten und wie sie mit der romanisierten Bevölkerung des Spätreichs interagierten, weiterhin erbittert gestritten. Dieser Streit beschränkt sich nicht auf die Gelehrtenkreise. Politiker aus ganz Europa vergleichen die derzeitige Flüchtlingskrise offen mit der barbarischen Invasion. In einem Buch, das kurz vor seinem Tod erschien, hat der deutsche Historiker Hans-Peter Schwarz unverblümt die Frage gestellt, ob die zeitgenössische Flüchtlingskrise eine neue Völkerwanderung darstellt, was in der Presse aufgenommen und breit diskutiert wurde.¹ Der ungarische Premierminister Viktor Orbán nannte die gegenwärtige Flut von Flüchtlingen eine neue népvándorlás, der ungarische Begriff für Völkerwanderung ²; Geert Wilders stellte einen ausführli-

 Hans-Peter Schwarz: Die neue Völkerwanderung nach Europa. Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten. München 2017. Vgl. ebenfalls Wolfgang Büscher: Ist das die neue Völkerwanderung? (23. 8. 2015). Die Welt online: https://www.welt.de/politik/deutsch land/article145532343/Ist-das-die-neue-Voelkerwanderung.html (31.1. 2018).  Zum Beispiel in seiner Pressekonferenz am 19. Februar 2016 nach einem Treffen des Europarats in Brüssel, bei der er feststellte, dass Ungarn das einzige europäische Land sei, das unter Migrationsdruck nicht nur aus dem Süden, sondern auch aus dem Osten stehe. Dabei benutzte er den Begriff népvándorlási nyomás, wörtlich: „Druck durch die Wanderung der Völker“. Online https://doi.org/10.1515/9783110552201-011

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chen Vergleich zwischen der Invasion des Jahres 406 und dem jetzigen Migrantenstrom in die Europäische Union an,³ und am 15. September 2016 vertrat Marine Le Pen die Auffassung: „Wir wollen keine zusätzlichen Einwanderer mehr aufnehmen und können das auch nicht mehr. Man muss mit diesem Wahnsinn sofort aufhören, der unseren Sozialvertrag, unsere Freiheit und Identität destabilisieren und erschüttern wird. Wenn das französische Volk nicht handelt, wird die Migranteninvasion [„l’invasion migratoire“] derjenigen, die wir im 4. Jahrhundert erlitten haben, in nichts nachstehen und wird möglicherweise die gleichen Folgen haben.“⁴ Doch bevor Politiker und Experten darüber debattieren können, ob die derzeitige Einwanderungskrise eine „neue Völkerwanderung“ darstellt, sollte man zuerst fragen, was die Völkerwanderungen des vierten bis siebten Jahrhunderts eigentlich waren. Hat Europa tatsächlich das erlebt, was die Franzosen die invasions barbares nennen? Gab es eine Masseneinwanderung von homogenen, eigenständigen Völkern ins Römische Reich, die über gemeinsame Vorfahren, eine gemeinsame Sprache und Kultur verfügten, sich über Jahrhunderte von ihren Nachbarn abgegrenzt hatten und zwischen dem ersten und dem fünften Jahrhundert von Skandinavien an die Donau- und die Rheingrenze zuwanderten? Oder waren die von den Römern so genannten „Barbaren“ jüngere Bevölkerungsamalgame, die sich um kleine Anführerfamilien herum bildeten, deren legendäre Herkunft sich als Gründungsmythos für eigentlich neu entstandene Völker als nützlich erwies? Waren sie vielleicht einfach nur militärische Einheiten, die für die Bürgerkriege des späten Römischen Reichs rekrutiert worden waren und sich mit der Zeit als eigenständige Völker ansahen? Hat es überhaupt jemals eine massive Invasion gegeben oder fand nicht eher ein graduelles Eindringen von kleinen und verschiedenartigen Gruppen barbarischer Soldaten in die Krisenregionen des Reichs statt, die schließlich die größere einheimische Bevölkerung dominierten? Und wie sah das Verhältnis zwischen diesen Neuankömmlingen und den provinziellen Römern aus? Behielten sie ihre Identität bei, indem sie eine strikte Endogamie pflegten, oder kam es bald zu Eheschließungen mit den Einheimischen, wodurch eine neue Gesellschaft entstand?

unter: http://www.kormany.hu/hu/a-miniszterelnok/beszedek-publikaciok-interjuk/orban-vik tor-sajtotajekoztatoja-az-europai-tanacs-uleset-kovetoen (31.1. 2018).  Online unter: https://www.geertwilders.nl/index.php/in-english-mainmenu-98/in-the-pressmainmenu-101/77-in-the-press/1740-speech-geert-wilders-in-rome-25th-of-march-2011 (31.1. 2018).  Marc de Boni: Marine Le Pen compare la crise des migrants à la chute de l’empire romain. Le Figaro online: http://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/citations/2015/09/15/25002-20150915ART FIG00111-marine-le-pen-compare-la-crise-des-migrants-a-la-chute-de-l-empire-romain.php (16.09. 2018).

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In den letzten Jahrzehnten hat eine kritische Re-Interpretation der schriftlichen und archäologischen Quellen eine Reihe von bekannten Wissenschaftlern in Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Nordamerika dazu gebracht, die Meistererzählung infrage zu stellen, die wir aus der Romantik geerbt haben. Während Althistoriker wie der britische Archäologe Brian Ward-Perkins immer noch unbeirrt schreiben: „Die germanischen Invasoren des Westreiches bemächtigten sich der meisten Gebiete, in denen sie siedelten, durch Gewaltandrohung“,⁵ sind andere weitaus skeptischer. Man argumentiert, dass das westliche Eurasien schon immer Bevölkerungsbewegungen von einer zur anderen Region erlebt hat und dass der Zeitraum zwischen dem vierten und dem siebten Jahrhundert keine Ausnahme darstellt. Es habe tatsächlich sowohl gewaltsame militärische Eroberungen als auch friedlichere Übertragungen von politischer Autorität auf regionale Akteure gegeben, aber diese sollten nicht mit Masseneinwanderungen verwechselt werden. Aus diesem Grund hat Peter Heather den Begriff der „Einfälle“ benutzt und nicht den der Invasion oder Migration.⁶ Michael Borgolte, der die Idee einer Invasion oder Migration ganz herunterspielen möchte, zieht den Begriff der „Expansion“ vor.⁷ Guy Halsall schließlich streitet nicht ab, dass die Wanderungsbewegungen stattgefunden haben, sieht aber diese Migrationen nicht als Ursache, sondern eher als Folge des Zerfalls des Römischen Reichs, eines Zerfalls, der nicht durch Eroberer von außen, sondern durch die römischen Bürgerkriege verursacht worden sei.⁸ Aber warum ist nach zwanzig Jahren Forschungskontroverse immer noch keine Einigkeit darüber erzielt worden, ob es in der Spätantike signifikante Bevölkerungsbewegungen vom Rand bis ins Zentrum des Reichs gab? Diese weiterhin bestehende Zweideutigkeit hat ihre Ursachen in der Unzulänglichkeit der schriftlichen Quellen, der Zweideutigkeit der archäologischen Quellen und der zeitgenössischen Ideologie. Da die militarisierten barbarischen Armeen, die als Verbündete, Invasoren oder Flüchtlinge ins Reich kamen, keine eigenen schriftlichen Aufzeichnungen hinterließen, spiegeln die zeitgenössischen bzw. beinahe zeitgenössischen Be Brian Ward-Perkins: Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation. Darmstadt 2007, S. 21.  Peter Heather: Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus. Stuttgart 2011, S. 165.  Michael Borgolte: Mythos Völkerwanderung. Migration oder Expansion bei den „Ursprüngen Europas“. In: Viator 41, Multilingual (2010), S. 23 – 48 (Wiederabdruck in: Ders.: Mittelalter in der größeren Welt. Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung. Hrsg. von Tillmann Lohse. Berlin 2014, S. 445 – 474).  Guy Halsall: Rezension: Movers and Shakers. The Barbarians and the Fall of Rome. In: Early Medieval Europe 8, 1 (1999), S. 131– 145. Genauer ausgeführt in ders.: Barbarian Migrations and the Roman West 376 – 568. Cambridge 2007.

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richte dieser Bewegungen ausschließlich die römische Perspektive wider, und diese war sowohl durch die zeitgenössische ideologische Agenda als auch die lange Tradition der griechisch-römischen Ethnografie und Historiografie geprägt.⁹ Es gibt keine zeitgenössischen Berichte über die Herkunft der Franken oder Alemannen im Reich.¹⁰ Die Invasion der Vandalen und ihre Eroberung Nordafrikas werden aus der feindseligen Perspektive eines orthodoxen Bischofs beschrieben, der ins Exil gehen musste.¹¹ Auf ähnliche Weise wurde das Wenige, was die zeitgenössischen Quellen zur Ankunft der Sachsen in Britannien sagen, von christlichen Polemikern geschrieben.¹² Zeitgenössische Berichte über die Goten wurden meist aus der Perspektive römischer Autoren geschrieben, die sie zunächst in der Tradition der klassischen Ethnografie mit ihren Wurzeln im 4. Jahrhundert vor der Zeitenwende als „Skythen“ wahrnahmen und dann als gefährliche Feinde, die die Stabilität bedrohten.¹³ Die sorgfältiger ausgearbeiteten

 Zur Darstellung von „Barbaren“ in der römischen Historiografie und Ethnografie vgl. Walter Pohl: Tradition, Ethnogenese und literarische Gestaltung. Eine Zwischenbilanz. In: Ethnogenese und Überlieferung. Angewandte Methoden der Frühmittelalterforschung. Hrsg. von Karl Brunner u. Brigitte Merta. Wien 1994 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 31), S. 9 – 26; ders.: Telling the Difference. Signs of Ethnic Identity. In: Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300 – 800. Hrsg. von Walter Pohl u. Helmut Reimitz. Leiden [u.a.] 1998 (The Transformation of the Roman World 2), S. 17– 69.  Zum Fehlen von Ursprungslegenden (abgesehen von der Troja-Legende) vgl. allgemein Helmut Reimitz: History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity, 550 – 850. Princeton 2015, besonders S. 52– 65; zur Ethnogenese der Franken und Alemannen vgl. Hans Hummer: Franks and Alamanni. A Discontinuous Ethnogenesis. In: Franks and Alamanni in the Merovingian Period. An Ethnographic Perspective. Hrsg. von Ian Wood. Woodbridge [u.a.] 1998, S. 21– 32.  Victor Vitensis: Historia persecutionis Africanae provinciae temporum Geiserici et Hunerici regum Wandalorum. Kirchenkampf und Verfolgung unter den Vandalen in Africa. Hrsg. u. übers. von Konrad Vö ssing. Darmstadt 2011. Zu den Vandalen in Nordafrika s. Roland Steinacher: Die Vandalen. Aufstieg und Fall eines Barbarenreichs. Stuttgart 2016.  Die einzige zeitgenössische Quelle aus Britannien, die sich mit der sächsischen Eroberung befasst, wurde von dem Geistlichen Gildas zwischen dem späten fünften und der Mitte des sechsten Jahrhunderts geschrieben. Sein „Brief über die Verheerung und Eroberung Britanniens“ behandelt die sächsischen Übergriffe im Zusammenhang mit einem Aufruf zur moralischen Erneuerung. Vgl. Gildas: The Ruin of Britain and Other Works. Hrsg. von Michael Winterbottom. London 1978. Zu den Gildas-Interpretationen, die um eine Deutung des fünften Jahrhunderts konkurrieren, vgl. David N. Dumville: Origins of the Kingdom of the English. In: Writing Kingship and Power in Anglo Saxon England. Hrsg. von Rory Naismith u. David A. Woodman. Cambridge 2018, S. 71– 121, hier S. 75; ders.: Post-colonial Gildas. A First Essay. In: Quaestio Insularis 7 (2006), S. 1– 21, und Halsall, Barbarian Migrations, S. 311– 313.  Zur Geschichte der Goten s. Herwig Wolfram: Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. 5. Aufl. München 2009.

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Geschichten dieser Barbarenvölker, die Jahrhunderte nach den Geschehnissen entstanden sind, die sie zu beschreiben vorgeben, sind noch problematischer.Wie Walter Goffart schon vor Jahrzehnten argumentierte, waren Gregor von Tours, Beda, Jordanes und Paulus Diaconus keineswegs die „Erzähler der barbarischen Geschichte“, als die man sie bezeichnet. Diese frühmittelalterlichen Autoren hatten gar nicht den Anspruch, die Geschichte spezifischer ethnischer Gruppierungen wie der Franken, Sachsen, Goten oder Langobarden zu schreiben. Sie waren engagierte soziale und politische Kommentatoren ihrer eigenen Zeit und erschufen mit ihren Schriften eine Vergangenheit, die ihre eigenen ideologischen Programme unterstützte.¹⁴ Sie haben zwar frühere Quellen genutzt, von denen viele inzwischen verloren gegangen sind, und haben womöglich auch in begrenztem Umfang mündliche Überlieferungen in ihren Erzählungen verarbeitet, doch ihre Texte sind weit davon entfernt, einen emischen oder einheimischen Bericht der barbarischen Vergangenheit wiederzugeben. Als Beispiel sehen wir uns das an, was als bestdokumentierte Geschichte einer „Barbareninvasion“ gilt: Jene über die Langobarden, die laut der beiden zeitgenössischen Quellen und der viel später entstandenen Historia Langobardorum von Paulus Diaconus¹⁵ im Jahr 568 aus Pannonien nach Italien kamen und das Gebiet eroberten, das zum Regnum Langobardorum wurde. Nur zwei zeitgenössische Autoren, Gregor von Tours¹⁶ und Marius von Avenches, liefern eine schriftliche Beschreibung der Langobardeninvasion. Marius schreibt nicht mehr als: In diesem Jahr besetzte Alboin, der König der Langobarden, sein Vaterland Pannonien verlassend und anzündend, mit seiner ganzen Armee und seinen Frauen und seinem ganzen Volk Italien in fara, und dort starben einige an Krankheiten, einige an Hunger und etliche durch das Schwert. Im gleichen Jahr wagten sie außerdem, die Grenzen Galliens zu überschreiten, wo eine große Zahl von Gefangenen dieses Volks zum Verkauf stand.¹⁷

 Walter Goffart: The Narrators of Barbarian History: Jordanes, Gregory of Tours, Bede, and Paul the Deacon. Princeton 1988.  Paulus Diaconus: Historia Langobardorum. Hrsg. von Georg Waitz. Hannover 1878 (MGH SSRL), S. 45 – 187.  Gregor von Tours: Libri historiarum X. Hrsg. von Bruno Krusch u. Wilhelm Levison. Hannover 1951 (MGH SSRM), S. 174.  „Hoc anno Alboenus rex Langobardorum cum omni exercitu relinquens atque incendens Pannoniam suam patriam cum vel mulieribus vel omni populo suo in fara Italiam occupavit, ibique alii morbo, alii fame, nonnulli gladio interempti sunt Eo anno etiam in finitima loca Galliarum ingredi praesumpserunt ubi multitudo captivorum gentis ipsius venundati sunt.“ Marius d’Avenches: La Chronique de Marius d’Avenches (455 – 581). Texte, traduction et commentaire. Hrsg. von Justin Favrod. Lausanne 1991, S. 82.

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Wie ist dieser Text zu interpretieren? Es ist nicht eindeutig, worauf sich „einige“ (alii) im zweiten Satzteil bezieht, aber üblicherweise sollten damit die schon erwähnten Personen gemeint sein, also die Langobardi. Also scheint der Text zu berichten, dass die Langobarden ins Reich einfielen, dass diese Invasion aber fehlschlug: Einige starben an Krankheiten, einige an Hunger und etliche durch das Schwert, und als sie es auch noch wagten, in Gallien einzufallen, wurden sie gefangen genommen und in die Sklaverei verkauft. Das hat wenig mit unserem Verständnis der langobardischen Eroberung Italiens zu tun! Angesichts dieser Zweideutigkeit haben sich die Historiker lange Zeit dem erzählenden Bericht von Paulus Diaconus zugewandt, den er zweihundert Jahre nach den Ereignissen, von denen er berichtet, aufgeschrieben hat. Hier finden wir einen langen, ausschweifenden Bericht über die Langobarden und ihre Wanderung von der Unterelbe zur Donau, detaillierte Einzelheiten über ihre Herrscher und eine Geschichte der unmittelbaren Umstände, die zur Invasion Italiens führten. Paulus hatte zwar Zugang zu der inzwischen verloren gegangenen Geschichte der langobardischen Eroberung von Secundus von Trient, doch Secundus selbst schrieb sie erst lange nach den erzählten Ereignissen und stand dabei außerdem unter der Patronage und dem Einfluss der Langobarden-Königin Theodelinde (ca. 570 – 628), der Tochter eines bayerischen Herzogs, die die frühe langobardische Geschichte wahrscheinlich nach ihren eigenen Bedürfnissen formte.¹⁸ Paulus’ Erzählung, die nach der endgültigen Zerstörung des Langobardenkönigreichs durch den Frankenkönig Karl der Große im Jahr 772 für einen Langobardenfürsten in Süditalien geschrieben wurde, kann kaum als sicherer Wegweiser zum Verständnis der langobardischen Gesellschaft im 6. Jahrhundert gelten. Während die Barbarenvölker innerhalb und außerhalb des Römischen Reichs keine zeitgenössischen schriftlichen Aufzeichnungen hinterließen, sind von ihnen reiche materielle Zeugnisse überliefert, zum Teil in Siedlungen, aber hauptsächlich aus ihren Grabstätten. Seit dem 5. Jahrhundert begegnen uns innerhalb und außerhalb des Reichs bestimmte Formen von Begräbnispraktiken. Zu ihnen gehören Erdbestattung statt Verbrennung, Reihengräber und Grabstätten mit sorgfältig gearbeiteten Grabbeigaben (Waffen und Werkzeuge bei Männern und Schmuck und Haushaltsgerätschaften bei Frauen). Diese Neuerungen wurden als Beweise für die neuen kulturellen Traditionen der Barbarenvölker interpretiert, die in den geschriebenen Texten dargelegt werden. Die Nutzung dieser archäo Vgl. Walter Pohl: Paolo Diacono e la costruzione dell’identità longobarda. In: Paolo Diacono. Uno scrittore fra tradizione longobarda e rinnovamento carolingio. Convegno Internazionale di Studi, Cividale del Friuli–Udine, 6 – 9 maggio 1999. Hrsg. von Paolo Chiesa. Udine 2000, S. 413 – 426; Ken Gardiner: Paul the Deacon and Secundus of Trento. In: History and Historians in Late Antiquity. Hrsg. von Brian Croke u. Alanna M. Emmett. Sydney/New York 1983, S. 147– 153.

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logischen Beweise zum Verständnis der historischen Entwicklung spezifischer barbarischer Bevölkerungsgruppen ist jedoch weiterhin höchst umstritten. Seit dem späten 19. Jahrhundert hat die kulturhistorische Archäologie versucht, bestimmte Zusammenstellungen von Artefakten zu nutzen, um einzelne Kulturen und Bevölkerungsgruppen zu identifizieren. Dieser Ansatz der kulturgeschichtlichen Archäologie ist besonders in der prähistorischen Archäologie verbreitet, in der Wissenschaftler Begriffe wie „Glockenbecherkultur“ verwenden, um Bevölkerungsgruppen der späten Jungsteinzeit eine kollektive Identität zuzuschreiben, die einen bestimmten Typ Tonbecher herstellten und benutzten, der wie eine umgedrehte Glocke geformt ist, oder „Schnurkeramik-Kultur“ für wieder andere Bevölkerungsgruppen, benannt nach den dekorativen Elementen ihrer Tonwaren.¹⁹ Während diese Begriffe eigentlich nur eine bestimmte materielle Kulturtechnik beschreiben, tendieren Archäologen in der Praxis oft dazu, denen, die diese Techniken oder die Produkte dieser Techniken verwenden, eine Gruppenidentität und Weitervermittlung zuzuschreiben. Sie setzen sie mit ethnischen Gruppen oder Völkern gleich und behaupten, dass typische Komplexe der Materialkultur bewusst eingesetzt wurden, um eine Gruppenidentität in Abgrenzung zu anderen ethnischen Gruppen herzustellen. Der Archäologe, der diesem Ansatz in Bezug auf die germanische Wanderungsperiode am nächsten steht, war der deutsche Archäologe Gustaf Kossinna (1858 – 1931), der die Meinung vertrat, unterschiedliche Arten von Grabbeigaben, vor allem bestimmte Typen weiblichen Schmucks und Bekleidung, seien Kennzeichen zur Unterscheidung verschiedener germanischer Völker.²⁰ Er verwendete einzelne Objekttypen, um Karten mit Verteilungsmustern zu erstellen, die er dann mit den Territorien bestimmter Völker gleichsetzte. Kossinnas Bild eines „Volks“ war, wie das der meisten Gelehrten seiner Generation, ein statisches, einheitliches: Er nahm an, dass jedes germanische Volk eine abgeschlossene, kulturell homogene Sprachengruppe mit gemeinsamen Vorfahren war. Ihre Gruppenidentität wurde durch die Typen von Verzierungen, Gerätschaften und Waffen, die sie benutzten, gekennzeichnet, und  Als Beispiele für Studien, die von solchen Töpfertechniken auf Kulturen oder sogar Völker schließen, vgl. Morten E. Allentoft [u.a.]: Population Genomics of Bronze Age Eurasia. In: Nature 522 (11. Juni 2015), S. 167– 172, doi: 10.1038/nature14507; Marc Vander Linden: What Linked the Bell Beakers in Third Millennium BC Europe? In: Antiquity 81/312 (1. Juni 2007), S. 343 – 352, und Ewen Callaway: Ancient-genome Study Finds Bronze Age „Beaker Culture“ Invaded Britain. In: Nature 545 (18. Mai 2017), S. 276 f., doi: 10.1038/545276a.  Gustaf Kossinna: Die Herkunft der Germanen. Zur Methode der Siedlungsarchä ologie. Wü rzburg 1911. Einen kritischen, aber ausgewogenen Blick auf den kulturgeschichtlichen Ansatz Kossinnas und anderer bietet Florin Curta: The Making of the Slavs. History and Archaeology of the Lower Danube Region, c. 500 – 700. Cambridge 2001, S. 24– 35, s. auch die dort angegebenen Literaturhinweise.

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ebenso durch die Rituale, mit denen sie ihre Toten bestatteten. Kossinna hat diese Vorstellungswelt nicht erfunden, aber er hat ihre Methodik stark weiterentwickelt und die Komplexe der Materialkultur mit den schriftlichen Quellen der Römer über die Barbarenvölker in Korrelation gesetzt. Kossinna glaubte, dass er durch die Kombination von Archäologie, Philologie und schriftlichen Nachweisen die ursprünglichen Siedlungsgebiete der germanischen Völker, die in den lateinischen und griechischen Quellen genannt werden, identifizieren und ihren Wanderungsmustern an und über die Grenzen des Römischen Reichs folgen könne. Während des Nationalsozialismus wurden Kossinnas Methoden, mit denen er die ursprünglichen Siedlungsgebiete der Germanenvölker entdeckt haben wollte – in Polen und anderen ost- und mitteleuropäischen Gebieten –, ebenso wie sein Glaube an die „rassische“ Überlegenheit der germanischen Völker Teil der Begründung für die Invasion in Polen und dessen Besetzung. Trotz dieses Missbrauchs seiner Methodik ist die kulturhistorische Archäologie in abgewandelter Form eine wichtige Disziplin der europäischen Archäologie geblieben, sowohl für die prähistorische Zeit als auch für die Zeit der Wanderungen. Die wichtigsten intellektuellen Herausforderungen, mit denen die Disziplin der Identifizierung von Völkern anhand ihrer materiellen Kultur konfrontiert wurde, kamen aus zwei Richtungen. Erstens hat sich das Konzept von „Volk“ oder ethnischer Gruppe stark weiterentwickelt, hauptsächlich als Folge der modernen Ethnologie, die sich seit der grundlegenden Arbeit von Reinhard Wenskus auch mit der Wanderungszeit beschäftigt.²¹ Im Gegensatz zu den homogenen, ahistorischen Einheiten, von denen die Nationalisten der Romantik und die Historiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausgingen, werden die Gruppen, die in den klassischen Quellen als gentes bezeichnet werden, immer stärker als heterogene, instabile Ansammlungen mit durchlässigen Grenzen angesehen. Einzelpersonen, Familien und ganze Gruppen können diese Grenzen überschreiten und ihre ethnische Zugehörigkeit im Lauf der Generationen durch Einheiratung, Änderung der politischen Gefolgschaft und Besatzungen ändern. Sie können multiple, sich widersprechende ethnische Identitäten annehmen, die immer mehr als Strategien zur kollektiven Entscheidungsfindung und Handeln gesehen werden, weniger als objektiv auszumachende Einheiten. Außerdem können ethnische Gruppen verschwinden, wenn sie neue ethnische Identitäten annehmen oder sich ihr Selbstverständnis und das Bild ihrer eigenen Vergangenheit ändert.

 Reinhard Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frü hmittelalterlichen Gentes. Köln 1961.

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Die zweite Herausforderung an die kulturhistorische Archäologie hat sich aus den Debatten über die Bestimmtheit ergeben, mit der die materielle Kultur als Mittel zur Festlegung und Verfestigung von Grenzen zwischen Gruppen eingesetzt wird, und über die Bedeutung bestimmter Objekte bei der Grenzziehung.²² Auch wenn man annimmt, dass gewisse kulturelle Traditionen als Marker für ethnische Abgrenzungen genutzt werden können, zeigen ethnologische Studien, dass das nicht überall der Fall ist und dass die kulturellen Praktiken, die von einzelnen Gruppen als Identitätsmarker genutzt werden, nicht unbedingt die sind, die in archäologischen Zeugnissen erhalten bleiben. Ethnische, politische oder religiöse Identitäten können durch immaterielle oder flüchtige kulturelle Praktiken wie Rituale, Tätowierungen, Kleidung, Frisuren oder Sprachen ausgedrückt werden und nicht durch Metall, Stein oder andere harte Bestandteile von Kleidung oder Ausrüstung, die in einem Grab überdauern. Ebenso können Bevölkerungsgruppen, die sich selbst als voneinander abgegrenzt betrachten, die gleichen Objekte des täglichen Gebrauchs, Verzierungen und Waffen verwenden. Durch Handel und den Austausch von Geschenken verbreiten sich Objekte in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, und die Techniken, mit denen solche Objekte gefertigt werden, können sich durch Verbreitung, Imitation und Aneignung übertragen. Schließlich können Objekte und Objektgruppen auch eher einen sozialen Status als eine ethnische Identität anzeigen. Das Vorhandensein bestimmter Arten von Schmuck oder Waffen kann ein Zeichen für Handel, Mode oder Bündnisse sein, nicht unbedingt für Gruppenzusammengehörigkeit.²³ Um uns wieder den Fall des Langobardenreichs anzusehen: Wir haben eindeutige Nachweise für das Aufkommen bestimmter Bestattungspraktiken und Grabbeigaben, die zunächst nördlich der Donau auftauchen, dann auf dem Gebiet des heutigen Ungarn und Österreich und schließlich im heutigen Slowenien und

 Zu der komplexen Beziehung zwischen kultureller Praxis und ethnischen Grenzen vgl. Curta: The Making of the Slavs, S. 28 – 31, aber auch Sebastian Brather: Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Berlin 2004 (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde – Ergänzungsbände 42), und ders.: Ethnic Identities as Constructions of Archaeology. The Case of the Alamanni. In: On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages. Hrsg. von Andrew Gillett. Turnhout 2002, S. 149 – 175.  Eine hervorragende Darstellung der Komplexität von möglichen Bedeutungen von Prestigeobjekten als Grabbeigaben, die eher ein Zeichen von interkulturellem Austausch als ethnische Marker sein könnten, bieten Frans Theuws u. Monica Alkemade: A Kind of Mirror for Men. Sword Depositions in Late Antique Northern Gaul. In: Rituals of Power From Late Antiquity to the Early Middle Ages. Hrsg. von Frans Theuws u. Janet L. Nelson. Leiden 2000, S. 401– 476.

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Italien.²⁴ Diese Verbreitung wurde als Nachweis für die Wanderung einer Bevölkerungsgruppe angesehen, für die diese Objekte als ethnische Marker gelten. Für einige Archäologen ist dies der eindeutige Beweis für die Ankunft der Langobarden an der Donau am Ende des 5. Jahrhunderts, ihre Verbreitung südlich der Donau in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts und ihren endgültigen Aufbruch nach Italien im Jahr 568. Wenn wir uns allerdings das meistbeschriebene langobardische Objekt, die „S-Fibel“, anschauen, die in einigen Gräbern in dem Gebiet gefunden wurde, das allgemein als Teil des Langobardenreichs angesehen wird, so finden wir diese Fibeln auch noch in vielen anderen Regionen Europas. Ihre Beziehung zu den Langobarden ist höchst zweifelhaft, und andere Erklärungen wie Mode oder Handel könnten für ihre Verbreitung verantwortlich sein, nicht unbedingt die Ausbreitung einer Bevölkerungsgruppe. Außerdem ist die Annahme, dass Änderungen im Stil chronologisch bedingt sind und daher genutzt werden können, um den Wanderungszug der Langobarden zu verfolgen, ebenso problematisch. Zum Beispiel sind alle Varianten von S-Fibeln, die in der Forschungstradition als Anzeichen einer zeitlichen Abfolge anzusehen sind, in slowenischen Grabfeldern zu finden, wo allerdings, wenn man den schriftlichen Quellen glaubt, nur spätlangobardische Gemeinschaften zu finden sein sollten.²⁵ Natürlich sind S-Fibeln nicht die einzigen Merkmale zur Identifizierung eines langobardischen Gräberfelds: Die Grabtiefe, ihre räumliche Anordnung und andere Arten von Grabbeigaben sind ebenfalls Teil des Materialkultur-Komplexes, den Archäologen heranziehen, um Gräberfelder als langobardisch zu identifizieren. Allerdings enthält nicht jedes Grab in diesen Friedhöfen alle oder überhaupt eines dieser Objekte. Bedeutet das, dass nicht alle dieser Personen Langobarden waren? Gab es hier ethnisch gemischte Siedlungen? Vielleicht hat das Vorhandensein oder das Fehlen bestimmter Objekte weniger mit ethnischer Zugehörigkeit als mit dem Sozialstatus, dem Alter, der Bedeutung für die Gemeinschaft oder speziellen Familientraditionen zu tun. Im Endeffekt sind die archäologischen Funde wie die schriftlichen Nachweise zu uneindeutig, um ein klares Bild der barbarischen Sozialorganisation, Mobilität und Assimilierung zu liefern.

 Zur Archäologie der Langobarden vgl. vor allem István Bóna u. Jolán B. Horváth: Langobardische Gräberfelder in West-Ungarn. Budapest 2009 (Monumenta Germanorum archaeologica Hungariae 6); Jaroslav Tejral [u.a.] (Hrsg.): Langobardische Gräberfelder in Mähren I. Brünn 2011 (Schriften des archäologischen Instituts der AW CR in Brünn 39), und den Katalog der Langobarden-Ausstellung des Rheinischen Landesmuseums Bonn 2008/2009: Die Langobarden. Das Ende der Völkerwanderung. Bonn/Darmstadt 2008.  Tina Milavec: Prispevek h kronologiji S-fivul v Sloveniji. In: Arheološki vestnik 58 (2007), S. 333 – 355.

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Im Zwiespalt zwischen der Unzulänglichkeit unserer schriftlichen und materiellen Quellen und der heutigen Instrumentalisierung eines nur unzureichend verstandenen Prozesses brauchen wir dringend neue Möglichkeiten, um die tatsächliche Form der Bevölkerungsbewegungen in der Spätantike zu begreifen. Waren die Gruppen, die in das Kaiserreich eindrangen, zusammenhängende kulturelle oder soziale Einheiten oder ad hoc entstandene Bündnisse? Welche Größenordnung hatten diese Wanderungen? Waren es kleine militärische Einheiten oder große Gemeinschaften mit Männern, Frauen und Kindern? Hielten sie sich getrennt von den Gemeinschaften vor Ort oder verschmolzen sie rasch mit ihnen? Fand die Wanderung, wie Marius andeutet, in einem einzigen Jahr statt, oder verlief sie, wie die meisten heutigen Migrationen, als jahrzehntelanger Prozess? Gibt es während dieser Jahrhunderte Hinweise auf Bewegungen nicht nur in das Römische Reich hinein, sondern auch aus ihm hinaus? Ein neuer, vielversprechender Datentyp, der neuerdings zur Beantwortung dieser Fragen ausgewertet wird, sind die Informationen, die im menschlichen Genom enthalten sind. Schließlich enthält das Genmaterial in der DNA jeder Einzelperson präzise Informationen über alle Vorfahren dieses Individuums. Wichtige Teile des männlichen Y-Chromosoms werden direkt von Vater zu Sohn vererbt; mtDNA, die in jeder Zelle reichlich vorkommt, wird direkt von Mutter zu Tochter vererbt. Nukleäre DNA, die aus dem größten Teil der DNA jeder Person besteht, stellt die kombinierte Erbschaft aller Vorfahren durch die Jahrtausende dar. Das Genom kann also selbst als Archiv angesehen werden, das Daten über Generationen überträgt. Das Schwierige ist, diese Daten zu heben und zu verstehen, zur Beantwortung welcher Art von Fragen sie genutzt werden können – und, genauso wichtig, zu welchen nicht. Seit den 1960er-Jahren, als Luigi Cavalli Sforza damit anfing, die Verteilung von Blutgruppen in der Bevölkerung stellvertretend für genetische Gruppen zu kartieren, haben Genetiker daran gearbeitet, Muster in den genetischen Daten mit historischen Bevölkerungsgruppen in Verbindung zu bringen.²⁶ Direkter Zugang zu den Daten, die in der DNA enthalten sind, ist erst seit den 1970ern möglich, als Frederick Sanger und Kollegen eine Technik zur Sequenzierung von DNA entwickelt haben, also die Möglichkeit, die Anordnung der vier Basen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin in jedem DNA-Strang zu bestimmen. Seither wurden enorme Fortschritte im Bereich der DNA-Sequenzierung gemacht und neue Techniken wie Next Generation Sequencing machen es heute möglich, ungeheure Mengen ge-

 Eine seiner bahnbrechenden Studien war Luigi Cavalli-Sforza u. Walter Bodmer: Genetics, Evolution, and Man. San Francisco 1976.

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netischer Daten zu relativ niedrigen Kosten zu erhalten, was ein riesiges Archiv der menschlichen Vergangenheit eröffnet.²⁷ Genetische Zugänge zur Geschichte sind allerdings keine „Wunderkur“, um ein für alle Mal Fragen zu mittelalterlichen Migrationen oder irgendeinem anderen Problem der menschlichen Geschichte zu beantworten. Es ist sehr wichtig, dass die Wissenschaft das Potenzial der Verwendung von genetischen Daten zur Erforschung der menschlichen Vergangenheit erkennt – also nicht nur die Möglichkeiten, die sie eröffnet, sondern auch ihre Grenzen. Genomdaten müssen genau wie Text- und Materialquellen kritisch analysiert und interpretiert werden. Erst dann können sie in Kombination mit diesen genutzt werden, um ein besseres Verständnis der Vergangenheit zu entwickeln. Im Grunde sind bisher zwei verschiedene Ansätze genutzt worden, um Genomdaten für das Verständnis der menschlichen Geschichte, insbesondere der Migrationsgeschichte, nutzbar zu machen. Der erste besteht darin, DNA von lebenden Menschen zu sammeln und von dort aus in der Zeit zurückzurechnen, um die Bevölkerungsvielfalt in verschiedenen Zeiträumen in der Vergangenheit einzuschätzen. Eine Reihe von faszinierenden Studien wurden durchgeführt, vor allem in Großbritannien, bei denen moderne Gendaten für den Versuch genutzt wurden, die Auswirkungen der angelsächsischen und später der dänischen Einfälle und Zuwanderungen in der Spätantike und im frühen Mittelalter zu klären.²⁸ In den letzten Jahren hat eine Forschergruppe der Universität Oxford für das Projekt People of the British Isles Blutproben von 4500 Freiwilligen aus ländlichen Regionen des Vereinigten Königreichs gesammelt, deren vier Großelternteile aus dem gleichen Ort stammen, und erstellen anhand dieser Daten eine feinmaschige genetische Karte von Großbritannien. Diese Karte soll es ermöglichen, die prozentualen Anteile zu ermitteln, die verschiedene Einwanderergruppen über die Jahrhunderte beigetragen haben.²⁹ In einem größeren Rahmen haben Peter Ralph und Graham Coop versucht, die europäische genealogische Ahnenfolge der

 Zur Anwendung der Genomik auf die Geschichte s. Elsbeth Bösl: Doing Ancient DNA. Zur Wissenschaftsgeschichte der aDNA-Forschung. Bielefeld 2017.  Darunter Michael E. Weale [u.a.]: Y Chromosome Evidence for Anglo-Saxon Mass Migration. In: Molecular Biology and Evolution 19.7 (2002), S. 1008 – 1021; Mark G. Thomas [u.a.]: Evidence of an Apartheid-like Social Structure in Early Anglo-Saxon England. In: Proceedings of the Royal Society B 273 (2006), S. 2651– 2657, und Cristian Capelli [u.a.]: A Y Chromosome Census of the British Isles. In: Current Biology 13 (27. Mai 2003), S. 979 – 984.Vgl. Patrick J. Geary: Genetic History and Migrations in Western Eurasia 500 – 1000. In: Empires and Exchanges in Eurasian Late Antiquity. Hrsg. von Nicola di Cosmo u. Michael Maas. Cambridge 2018, S. 135 – 150.  Bruce Winney [u.a.]: People of the British Isles. Preliminary Analysis of Genotypes and Surnames in a UK-control Population. In: European Journal of Human Genetics 20 (2012), S. 203 – 210, doi: 10.1038/ejhg.2011.127.

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letzten 3000 Jahre über ganz Europa hinweg zu verfolgen.³⁰ Sie sind der Meinung, dass sie die Strukturen von kürzlich erfolgten Populationsveränderungen ausmachen können, und zwar in 500-Jahres-Intervallen bis zu 3000 Jahren in die Vergangenheit. Sie haben herausgefunden, dass Europäer über den ganzen Kontinent hinweg innerhalb der letzten 1000 Jahre mit hoher Wahrscheinlichkeit einen gemeinsamen Vorfahren haben und mit Sicherheit innerhalb der letzten 2500 Jahre.Vor allem in Osteuropa haben sie ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten durch Identity by Descent (eine identische ererbte Gensequenz auf mindestens einem Chromosom) von einem gemeinsamen Vorfahren ohne zwischenzeitliche Neukombination gefunden. Hierin sehen sie die Annahme bestätigt, dass sich die slawische Bevölkerung während der Wanderungszeit (4. bis 9. Jahrhundert) ausgedehnt hat. Sie stellen die These auf, dass Ungarn und Rumänen als Ergebnis des Hunnenreichs des 5. Jahrhunderts in dieses Muster mit aufgenommen werden. Frankreich, Italien und die Iberische Halbinsel dagegen haben die geringsten Raten von Identity by Descent, was Ralph und Coop der Tatsache zuschreiben, dass diese Gegenden am wenigsten von den slawischen und Hunnenwanderungen betroffen waren. Sie postulieren, dass die „germanischen Wanderungen/ Einfälle“ mit geringerem Bevölkerungsaustausch einhergingen. Diese Forschung eröffnet anregende und vielversprechende neue Wege, allerdings muss vorausgesetzt werden, dass die Personen, deren DNA eingesammelt wird, direkte Nachfahren jener Bevölkerungsgruppen sind, deren Bewegungen, Verbreitung oder Interaktionen vor tausend oder noch mehr Jahren am gleichen Ort man analysieren möchte. Eine solche Kontinuität ist sicherlich in einigen Gegenden Europas anzunehmen, aber das, was wir heute als isolierte Region ansehen, mag Jahrhunderte früher keine solche gewesen sein. Die Annahme, dass die einzigen großen Bevölkerungsänderungen in einer bestimmten Region bis zur Industriellen Revolution diejenigen des sogenannten Zeitalters der Völkerwanderung gewesen sind, ignoriert die möglichen Auswirkungen von Kriegen, Hungersnöten und Änderungen in Arbeits- und Landwirtschaftssystemen, die die Bevölkerungszusammensetzung beeinflusst haben könnten. Die genetische Vielfalt einer bestimmten Region kann über Generationen durch Flaschenhälse beeinflusst werden, also Zeitpunkte in der demografischen Entwicklung, in denen nur wenige Personen ihr Genmaterial an zukünftige Generationen weitergeben konnten, oder durch die Ausbreitung einer kleinen Gründerbevölkerung in einer bis dahin unbewohnten Gegend. In einer Studie, die von unserem Team aus Genetikern und Historikern aus Italien und den USA durchgeführt wurde, zeigten wir

 Peter Ralph u. Graham Coop: The Geography of Recent Genetic Ancestry across Europe. In: PLoS Biology 11,5 (2013), e1001555, doi: 10.1371/journal.pbio.1001555.

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die potenziellen Auswirkungen einer langfristigen Populations-Diskontinuität auf, indem wir uns die mtDNA von Friedhöfen aus dem 6. Jahrhundert im Piemont ansahen und sie mit moderner DNA aus den gleichen Orten verglichen.³¹ Es zeigte sich, dass es in drei von vier Fällen starke Hinweise auf Diskontinuitäten in der matrilinearen genetischen Diversität in der Region gibt. Das zweite Problem, das bei der Heranziehung von moderner DNA zur Rekonstruktion von früheren Bevölkerungsverteilungen auftritt, ist, dass die moderne Bevölkerung – auch wenn es eine Kontinuität zwischen ihr und der früheren Bevölkerung gibt – nur einen Teil der genetischen Vielfalt repräsentiert, die es in der Vergangenheit gab. Abstammungslinien sterben aus, andere weiten sich aus, und in der Folge geht die genetische Diversität der Vergangenheit verloren, auch wenn die Personen, deren genetisches Erbe im Lauf der Jahrhunderte verschwunden ist, in der früheren Gesellschaft eine wichtige Rolle gespielt haben. Man kann den Studien, die moderne DNA verwenden, vorwerfen, dass sie nur die „Gewinner“ der Geschichte betrachten. Genetiker wenden sich zur Analyse historischer Populationen daher inzwischen alter DNA (aDNA) zu, die aus Grabstätten gehoben wird. Dieser Ansatz hat den offensichtlichen Vorteil, dass die DNA der tatsächlichen Bevölkerung, um die es geht, betrachtet wird und nicht die modernen Stellvertreterpopulationen, von denen wir hoffen, es aber nicht beweisen können, dass sie Kontinuität und Proportionalität zur Vergangenheit aufweisen. Solche Ansätze bringen allerdings eine Menge technischer Probleme mit sich. Zunächst müssen Proben von Ausgrabungsstätten oder aus Museen und anthropologischen Sammlungen gewonnen werden. Genetiker sind hier auf die Arbeit von Archäologen und Vertretern der Physischen Anthropologie angewiesen und ihre Arbeit wird von der Verfügbarkeit dieser Proben begrenzt. Außerdem setzt der Zerfallprozess von DNA unmittelbar nach dem Tod ein, sodass Forschungen auf der Basis von aDNA nur selten lange Sequenzen zusammenhängender DNA vorfinden. Schließlich ist aDNA ausnahmslos durch Mikroorganismen kontaminiert oder auch durch jeden Archäologen und Museumsbediensteten, der Umgang mit den Knochen hatte, wodurch die Gefahr besteht, dass die sequenzierten Daten von dem jeweiligen Forscher stammen und nicht vom eigentlichen Studienobjekt. Zum Glück haben die jüngsten Fortschritte bei der Sequenzierung die Probleme der Kontamination und der Zersetzung größtenteils überwunden; tatsächlich kann die höhere Qualität der Verunreinigungen, was die Sequenzlänge und das Fehlen typischer Missinkorporationen angeht, genutzt werden, um alte

 Stefania Vai [u.a.]: Genealogical Relationships between Early Medieval and Modern Inhabitants of Piedmont. In: PLoS ONE 10,1 (2015), e0116801.

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DNA von den Kontaminationen zu unterscheiden. Es gilt: Wenn die DNA zu gut ist, ist es die falsche DNA. Das Problem bleibt jedoch bestehen, dass der Zerfall von DNA nicht einfach nur zu Missinkorporationen führt, sondern zum Totalverlust von DNA. In den letzten Jahren hat die Entdeckung, dass im Felsenbein, einem kleinen Knochen im Innenohr, die größte Menge an DNA erhalten bleibt, dieses Problem teilweise gelöst.³² Dennoch bleibt das Risiko, dass die Genforscher je nach Temperatur, Feuchtigkeit und Bodenbeschaffenheit auch unter den besten Bedingungen überhaupt keine aDNA in einer Probe finden oder nur eine sehr kleine Menge gewinnen und sequenzieren können, ein ständiges Problem. Früher wurde der Schwierigkeit, aDNA zu gewinnen, dadurch begegnet, dass man sich auf die mitochondriale DNA (mtDNA) konzentriert hat, die nicht im Zellkern, sondern in zahlreichen Kopien in der ganzen Zelle aufzufinden ist. Die Gewinnung von mtDNA ist daher oft auch aus schlecht erhaltenen Proben möglich. Leider enthält mtDNA allerdings nicht viele Informationen: Anders als nukleäre DNA, die durch Rekombination eine komplette Aufzeichnung der Vorfahren einer Person enthält, ist mtDNA der Teil des Genoms, der nicht rekombiniert und ausschließlich von Mutter zu Tochter vererbt wird. Innerhalb von Einzelpopulationen kann man mtDNA-Vererbungslinien bis zu einem Punkt zurückverfolgen, wo sie in einem jüngsten gemeinsamen Vorfahren miteinander verschmelzen, sodass man die Konturen bestimmter Stammbäume ausmachen kann, auch wenn man die genaue Beschaffenheit dieses Stammbaums nicht bestimmen kann. Haplogruppen aus mtDNA können auch in Bezug auf ihre relative Häufigkeit in menschlichen Bevölkerungsgruppen kartiert werden, was Hinweise auf die Diversität der Bevölkerung gibt. Aber da mtDNA nur über einen einzelnen weiblichen Vorfahren pro Generation Auskunft gibt, steht sie auch nur für einen sehr kleinen Anteil der Ahnenreihe einer bestimmten Person und kann nur wenig über Verwandtschaftsverhältnisse oder Bevölkerungsgeschichte aussagen. Glücklicherweise haben Fortschritte in der sogenannten Hochdurchsatzsequenzierung oder Next Generation Sequencing es möglich gemacht, nukleäre DNA sehr schnell und zu vernünftigen Kosten zu sequenzieren. Studien zur alten DNA beschäftigen sich daher immer mehr mit nukleärer DNA, was unsere Möglichkeiten, detaillierte Informationen über frühere Bevölkerungsgruppen zu erhalten, revolutioniert hat. Die größten Herausforderungen bei der Verwendung von Daten aus aDNA zum Verständnis der Geschichte der Völker „ohne Geschichte“ sind allerdings nicht technischer Natur, sondern eher die konzeptionelle Schwierigkeit, sich klarzumachen, welche Fragen diese Art von Daten tatsächlich beantworten kann,

 Ron Pinhasi [u.a.]: Optimal Ancient DNA Yields from the Inner Ear Part of the Human Petrous Bone. In: PLoS ONE 10,6 (2015), e0129102, doi: 10.1371/journal.pone.0129102.

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welche Grenzen die Daten in Bezug auf historische Fragestellungen haben und wie diese Art von Erbgutinformationen mit den Informationen kombiniert werden kann, die aus archäologischen und Textquellen gewonnen werden. Da nur ein interdisziplinäres Team alle technischen Fähigkeiten bieten kann, um diese Probleme zu meistern, ist es eine genauso große Herausforderung, die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Fachexperten mit ganz unterschiedlichen theoretischen, epistemischen und konzeptionellen Hintergründen zu erlernen. In dem Pilotprojekt, das ich zurzeit in Zusammenarbeit mit Genetikern, Archäologen und Historikern durchführe, haben wir uns auf Populationen in Pannonien und Italien im 5. bis 7. Jahrhundert konzentriert und versuchen, die Sozialstruktur, Verwandtschaftsverhältnisse, Mobilität und Vermischung in dieser Zeit zu verstehen.³³ Dazu stellt unser Team tiefgreifende Genanalysen von Skelettüberresten auf Friedhöfen des 6. und 7. Jahrhunderts in Österreich, Ungarn, der Tschechischen Republik (Mähren) und Italien an. Laut den schriftlichen Quellen ist dies das Gebiet, das im späten 5. und im 6. Jahrhundert durch die Langobardenkönige beherrscht wurde. Wie wir an anderer Stelle erklärt haben,³⁴ haben wir die Wanderung der Langobarden ausgesucht, weil sie unter den verschiedenen „Völkern“, die in den Quellen aus dem 5. bis 7. Jahrhundert erscheinen, das bestdokumentierte sind, sowohl durch zeitgenössische und frühmittelalterliche Autoren als auch aufgrund von Generationen archäologischer Forschung. Die Berichte von Gregor von Tours, Marius von Avenches und später von Paulus Diaconus mögen nicht historisch exakt sein, doch sie präsentieren ein Modell davon, wie die Migration abgelaufen sein könnte, das auf den Prüfstand gestellt werden kann. Ebenso haben Generationen von Archäologen in Deutschland, Italien, Ungarn, der Tschechischen Republik und Slowenien Friedhöfe ausgegraben und analysiert, die sie als langobardisch einordnen möchten. Diese Kategorisierung stützt sich in einem hohen Maße auf Ähnlichkeiten bei den Grabbeigaben und den Begräbnisriten, geht aber zudem von der Annahme aus, dass die betreffenden Personen in gewissem Sinne Langobarden sein müssen, wenn die charakteristischen Gräberfelder in Regionen gefunden werden, die in schriftlichen Quellen erwähnt werden. Für unsere Zwecke müssen wir nicht verifizieren, ob diese Einordnung richtig ist.

 Für die Details und die Ergebnisse dieser Forschung s.: Carlos Eduardo G. Amorim [u.a.]: Understanding 6th-Century Barbarian Social Organization and Migration through Paleogenomics. In: Nature Communications 9 (December 2018). https://doi.org/10.1038/s41467-018-06024-4 (12.09. 2018).  Patrick Geary u. Krishna Veeramah: Mapping European Population Movement through Genomic Research. In: Medieval Worlds 4 (2016), S. 65 – 78.

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Ethnische Begriffe wie „Langobarden“ sind subjektive Bezeichnungen, mit denen sich eine Gruppe selbst beschreibt oder die ihr von anderen zugeschrieben werden, und könnten nicht die Bezeichnung sein, die alle Personen oder Gruppen eines Gebiets für sich beansprucht hätten oder als die sie von anderen identifiziert worden wären. Außerdem könnten sich Einzelpersonen und Gruppen unterschiedlich zugeordnet haben, je nachdem, ob es um die Rechtstradition, die Sprache, Religion, die politische Zugehörigkeit oder andere Kriterien gegangen wäre. Wir können allerdings feststellen, ob Gruppen von Menschen mit einem ähnlichen Genprofil zusammengewohnt und ähnliche kulturelle Praktiken ausgeübt haben oder ob wir gemeinsame kulturelle Praktiken in biologisch unterschiedlichen Gruppen vorfinden. Wir können untersuchen, ob die Gliederung von Friedhöfen biologischer Verwandtschaft oder anderen Mustern folgte.Wir können auch feststellen, ob Bevölkerungsgruppen nördlich und südlich der Alpen, die ähnlichen kulturellen Traditionen folgten, näher miteinander verwandt waren als mit Gruppen, deren Begräbniskultur sich deutlich davon unterschied. Ebenso können wir nach Zusammenhängen zwischen genetischen Mustern und den Mustern aus Isotopenanalysen suchen, die etwas über ihre geografische Herkunft verraten könnten. Unser Team hat sich vorläufig auf das Sammeln von Daten aus zwei Grabungsstätten aus dem 6. und frühen 7. Jahrhundert konzentriert, in Collegno bei Turin im Piemont³⁵ und in Szólád am Ufer des Plattensees³⁶. Diese Orte wurden ausgewählt, weil sie die am besten ausgegrabenen, analysierten und dokumentierten langobardischen Friedhöfe in Italien bzw. Ungarn sind. Beide enthalten ähnliche Gegenstände, die zumindest einen kulturellen, wenn nicht gar einen biologischen Zusammenhang nahelegen. Stefania Vai, unsere Mitarbeiterin an der Universität Florenz, begann die Arbeit, indem sie mtDNA aus Proben von beiden Orten entnahm, dann zunächst die hyper-variable Region 1 aus diesen Proben sequenzierte und danach die kompletten Mitochondrien. Die Proben, die vielversprechend erschienen, wurden nach Tübingen geschickt, wo Johannes Krause und Cosimo Posth die Zellkernentnahme und Sequenzierung überwachten. Zusätzlich wurde bei den zehn besten Exemplaren am New York Genome Center unter Federführung von Krishna Veeramah von der Stony Brook University das Gesamtgenom isoliert. Wir haben sowohl ca. 1.200.000 SNPs (Einzelnukleotid-Polymorphismen – vererbbare Genvarianten) aus allen zugänglichen Begräbnisstätten auf beiden Friedhöfen erhalten als auch Isotopen-Daten (Stronti Luisella Pejrani Baricco (Hrsg.): Presenze Longobarde. Ori, armi e gesta della fara di Collegno. In mostra gli straordinari ritrovamenti della necropoli longobarda di Collegno. Turin 2004.  Kurt W. Alt [u.a.]: Lombards on the Move. An Integrative Study of the Migration Period Cemetery at Szólád, Hungary. In: PLoS ONE 9,11 (2014), e110793, doi: 10.1371/journal.pone.0110793.

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um, Sauerstoff und Kohlenstoff) und haben eng mit den Kulturarchäologen zusammengearbeitet, die die beiden Grabungsstätten analysiert haben. Anhand dieser Daten sind wir bestimmte historische Fragen angegangen. Als Erstes haben wir mithilfe einer innovativen Technik, die Krishna Veeramah entwickelt hat, die Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der beiden Friedhöfe untersucht. In beiden gibt es große Sippenverbünde, die sich über viele Generationen erstrecken und hauptsächlich Männer umfassen. Sie scheinen den Kern der Friedhöfe zu bilden. Diesen Personen wurden typischerweise Waffen mit ins Grab gegeben und sie wurden in den Gräberfeldern zusammen gruppiert. Es ist eine vernünftige Hypothese, dass diese Gruppen das Herzstück der Gemeinschaften bildeten, zu der weitere gehörten, die mit dieser Sippe nicht oder nur entfernt verwandt waren. Frühe schriftliche Quellen über die Langobarden sprechen von den fara, ein rätselhafter Begriff, der sich möglicherweise auf eine verwandtschaftliche oder eine militärische Gruppe als die Basiseinheit der langobardischen Gesellschaftsorganisation bezieht.³⁷ Marius von Avenches etwa schreibt, dass die Langobarden Italien „in fara“ besetzten (s.o.).³⁸ Der Edictus Rothari aus dem 7. Jahrhundert enthält ein Kapitel über Freisassen, die „cum fara sua“ umziehen möchten.³⁹ Die Gliederung der beiden Friedhöfe, in denen jeweils ein wichtiges Netzwerk von miteinander verwandten Kriegern zu finden ist, könnte darauf hindeuten, dass die fara, die aus einem Kern von Familienangehörigen und deren Kameraden bestand, das Organisationsprinzip solcher Siedlungen war. Eine zweite Frage, mit der wir uns beschäftigt haben, war die nach der Komplexität der Genzusammenstellung auf jedem Friedhof. Auf beiden Friedhöfen haben wir Gräber mit hochwertigen Grabbeigaben (Waffen, Werkzeug, Schmuck usw.) gefunden, aber auch Gräber ganz ohne Beigaben oder nur mit einer einfachen Gürtelschnalle. Wir wollten wissen, ob es zwischen den Genprofilen der einzelnen Personen auf den Friedhöfen und der Art, wie ihre Gräber konstruiert und ausgestattet waren, einen Zusammenhang gibt.  Zur Diskussion über den Begriff fara vgl. Alexander C. Murray: Germanic Kinship Structure. Studies in Law and Society in Antiquity and in the Early Middle Ages. Toronto 1983, S. 89 – 97, der zu dem Schluss kommt, dass die Bedeutung ursprünglich eine militärische war und erst später im Sinne von Familie, Haushalt und Angehörige verwendet wurde.  Marius d’Avenches, Chronique de Marius d’Avenches, S. 82.  Edictus Rothari 177: „De homo libero ut liceat eum migrare. Si quis liber homo potestatem habeat intra dominium regni nostri cum fara sua megrare ubi voluerit – sic tamen si ei a rege data fuerit licentia –, et si aliquas res ei dux aut quicumque liber homo donauit, et cum eo noluerit permanere, uel cum heredes ipsius: res ad donatorem uel heredes eius reuertantur.“ Edictus ceteraeque Langobardorum leges cum constitutionibus et pactis principum beneventanorum. Hrsg. von Frederich Bluhme. Hannover 1869, S. 36.

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Um das zu bewerkstelligen, führten wir eine Hauptkomponentenanalyse der genetischen Entfernung durch, die zwischen den Gräbern der einzelnen Friedhöfe lag. Dazu benutzten wir POPRES, einen modernen europäischen Gendatensatz, um zu sehen, wo die Personen aus den Friedhöfen auf einer heutigen europäischen Gen-Landkarte einzuordnen wären. In beiden Friedhöfen stellten wir eine starke Nord-Süd-Tendenz fest. An beiden Orten ließ sich die Bevölkerung in zwei Gruppen einteilen: diejenigen, deren genetische Herkunft nach Nord- und Mitteleuropa wies, und die, deren genetische Herkunft auf das moderne Mittelitalien verwies. Danach untersuchten wir die Lage der Gräber, ihre Ausstattung und ihre Bauweise, um zu sehen, ob genetische Herkunft und kulturelle Repräsentation korrelierten. Die Resultate waren besonders in Szólád bemerkenswert. Alle Mitglieder der nord-/mitteleuropäischen Gruppe waren im nördlichen oder westlichen Teil des Friedhofs begraben worden, diejenigen aus dem Süden dagegen am südlichen und südöstlichen Rand. Jene der nördlichen Gruppe waren ausnahmslos mit ihren Waffen oder – die Frauen – mit ihrem Schmuck bestattet worden. Keines der Gräber, die der südlichen Gruppe zuzuordnen war, enthielt Beigaben, mit Ausnahme von zwei Frauen, die beide näher an der nördlichen Gruppe begraben worden waren. Allerdings war eine von den beiden mit Schmuck bestattet worden, der für die vorlangobardische, spätrömische Zeit in der Region typisch war. Daraus lässt sich also schließen, dass diese Bevölkerungsgruppen getrennte kulturelle Identitäten pflegten, die eine starke Korrelation mit ihrer genetischen Herkunft aufweisen, obwohl sie eine Friedhofsgemeinschaft bildeten. Man könnte leicht in die Versuchung geraten, die nord-/ mitteleuropäische Gruppe als die langobardische Elite und die südeuropäische Gruppe als ihre Diener, Sklaven oder vielleicht Reste der früheren pannonischen Bevölkerung einzuordnen. Diese Annahme kann allerdings nicht durch die Genomanalyse belegt werden: Wir können nicht sicher sagen, ob die nord-/mitteleuropäische Gruppe tatsächlich neu in der Gegend war, weil alle Grabstellen aus der Mitte des 6. Jahrhunderts stammen. Wir müssen DNA aus den Grabstellen des 5. Jahrhunderts in der Gegend sequenzieren, um das herauszufinden. Genauso wenig können wir wissen, ob die andere, südlicher einzuordnende Bevölkerungsgruppe wirklich die örtliche prä-langobardische Bevölkerung darstellt. Tatsächlich deuten die Isotopen-Daten an, dass alle Erwachsenen in Szólád von anderswo stammten, aber woher, können wir nicht feststellen. Also könnten beide Gruppen aus der gleichen Gegend gekommen sein. In Collegno haben wir die gleiche Einteilung in eine nord-/mitteleuropäische und eine südeuropäische Population gefunden. Hier ist die Anordnung der Grabstellen nicht so eindeutig wie in Szólád, aber es gibt trotzdem einen Zusammenhang zwischen Grabbeigaben und der nord-/mitteleuropäischen Gruppe bzw. Gräbern ohne Beigaben und der südeuropäischen Gruppe.

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Die letzte Frage, die wir uns stellten, um Wanderungsbewegungen festzustellen, war, ob die nord-/mitteleuropäischen Populationen der beiden Friedhöfe wohl eng miteinander verwandt waren. Um das zu testen, haben wir einen Treemix Plot erstellt, in dem wir die vier Populationsgruppen, die wir an den zwei Orten gefunden haben, sowohl miteinander als auch mit anderen Bevölkerungsgruppen verglichen. Im Moment können wir zwar noch nicht zeigen, dass die nord-/mitteleuropäischen Gruppen aus beiden Orten identisch sind, doch sie stehen sich auf jeden Fall deutlich näher als den südeuropäischen Gruppen an beiden Orten. Die Ergebnisse deuten stark darauf hin, dass die pannonische Population, die wir in Szólád gefunden haben, Ende des 6. Jahrhunderts in Collegno ansässig war. Das heißt natürlich nicht, dass die Population in Collegno direkt von jener in Szólád abstammte, aber immerhin, dass die beiden im Vergleich zu allen anderen Populationen eine Einheit bildeten.⁴⁰ Unsere Genomanalyse kann nichts darüber aussagen, wie die Menschen, die in Collegno und Szólád begraben sind, sich selbst bezeichnet hätten oder von anderen genannt wurden. Es scheint sicher zu sein, dass die nördliche Bevölkerungsgruppe von Szólád gewissermaßen ein Teil des Langobardenreichs war, das große Teile Italiens eroberte, darunter Collegno. Die Einzelpersonen mögen sich auch als Langobardenkrieger bezeichnet haben, doch gleichzeitig können sie andere bedeutende Identitäten gehabt haben, etwa kleinerer Gruppen, denen sie angehörten, oder einzelner Clans, Familien oder religiöser Gruppierungen. Ebenso können die südlichen Bevölkerungsgruppen unter bestimmten Voraussetzungen als Teil des Langobardenvolks gesehen werden, auch wenn sie nicht zur militärischen Elite gehörten. Genanalyse allein kann solche Fragen nicht beantworten. Ebenso wenig kann Genanalyse die Frage beantworten, warum diese militaristische Gesellschaft im 6. Jahrhundert an der Donaugrenze auftauchte oder warum ihr Anführer sie 568 nach Italien führte. Diese Fragen werden durch naturwissenschaftliche Forschungen niemals beantwortet werden. Die Genomanalyse hat es dennoch möglich gemacht, das Organisationsprinzip dieser Population aufzuzeigen. Damit können wir sozusagen die Gräber öffnen und die Verwandtschafts- und kulturellen Muster erkennen, die diese Gemeinschaften verbinden und trennen. Und wir können so Bevölkerungsgruppen verfolgen, die sich von einer europäischen Region in eine andere bewegen. In Zukunft möchten wir noch mehr Informationen über diese Gruppen zutage fördern. Indem wir die Bevölkerung in Pannonien und Norditalien vor dem 6. Jahrhundert analysieren, können wir einschätzen, wie lange die Einwanderung dieser Gruppen in die Regionen zurückliegt. Wir sollten dann auch einschätzen

 Der Abschlussbericht, der diese Resultate zusammenfasst, ist in Vorbereitung.

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können, ob unsere nord-/mitteleuropäischen und südeuropäischen Gruppen schon vor der Langobardeneroberung in der Region lebten oder ob diese mit ihr eintrafen. Und wenn wir in Italien auch noch die Folgezeit betrachten, sollten wir erkennen können, wann diese unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen anfingen, untereinander zu heiraten und zu einem neuen, gemeinsamen Volk zu verschmelzen. Wir können den „Völkern ohne Geschichte“ niemals eine Stimme geben, aber wir können nach und nach aufdecken, wie sie ihr Leben und ihre Gesellschaft formten. Aus dem Englischen von Cordula Hubert, Olching

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Ta Masa und die Magier Politische Geschichte in Mali jenseits der Schriftquellen „Früher war unser Dorf eine Stadt mit Namen Ta.¹ Einer der Klans mit dem Patronym² Jiré hatte Ta gegründet, vor sehr langer Zeit, unmittelbar nach der Sintflut. Die Arche Noah ankerte hier.“ So begann eine Erzählung, die man uns³ in Markaduguba, einem Dorf am rechten Ufer des Niger zwischen Ségu und Markala (Abb. 1), präsentierte. Als die Maninkaw ⁴ in dieses Gebiet kamen und es eroberten, siedelten sie sich auch in Ta an. Zu dieser Zeit war Ta sehr groß und wichtig und die Maninkaw beherrschten die Stadt. Der Herrscher hieß Ta Masa und er war grausam. Er hatte einen Brunnen, in dem er unzählige Menschen und Tiere opferte. Vierzig Jungen, vierzig Mädchen, vierzig Schafe und vierzig Kühe warf er jedes Jahr in den Brunnen. Ta Masas Herrschaft brachte also unerträgliches Leid über die Menschen in Ta. So beschlossen sie, etwas gegen ihn zu unternehmen. Es gelang ihnen, ein weißes Pferd zu verzaubern, welches sie Ta Masa als Geschenk überreichten. Sobald er das Pferd aber bestieg, lief es mit ihm davon. Pferd und Reiter verschwanden für immer. Der Weg, den das Pferd einschlug, existiert noch heute. Wir alle kennen ihn. Niemand geht dort entlang, denn man würde verschwinden. Selbst, wenn ein Esel ihn nimmt, verschwindet er auf Nimmerwiedersehen. Den Ort, wo der Opferbrunnen war, können wir euch auch zeigen und von den Häusern von Ta sieht man noch die Reste. Das sind die Hügel, die zwischen dem Dorf und dem Fluss liegen.

 Gängige Varianten sind auch Tan, Tan Dugu oder Tanga.  Im lokalen Denken über die Vergangenheit ersetzen solche patriclans Individuen beinahe vollständig. So werden Migrationen, Gründungen, Konflikte u.Ä. fast immer Patronymen (jamu) zugeschrieben. Diese sind allerdings keineswegs immer so beständig, wie sie im Ideal dargestellt werden. S. hierzu auch Jean-Loup Amselle: Mestizo Logics. Anthropology of Identity in Africa and Elsewhere. Stanford 1998, insbes. S. 133 – 135.  Die in diesem Beitrag vorgestellte Forschung wurde im Dezember 2016 und Januar 2017 im Rahmen des Forschungsprojektes „Markadugu: The Relationship of State Power to Urbanism and Trade in the Segou Region (Mali)“ ausgeführt. Das Projekt wird von der Volkswagenstiftung im Rahmen eines Freigeist-Fellowships unterstützt. Die Interviews entstanden in Kooperation mit Dr. Seydou Camara und Soumaila Coulibaly; für die Transkription danke ich Soumaila Coulibaly. Die Nacherzählung dieser Geschichte basiert auf mehreren Gesprächen mit verschiedenen Informanten in Markaduguba und Ségu zwischen Dezember 2016 und Januar 2017. Ebenso danke ich Adam Jones, dessen Kommentare und Hinweise diesen Artikel entscheidend verbessert haben.  Sg. Maninka, in der Bamana-Sprache die Leute des Reiches Mali (c. 13.–15. Jh.; s.u.). https://doi.org/10.1515/9783110552201-012

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Abb. 1: Karte der im Text erwähnten Orte Seitdem ist das Dorf für die Keïta, die Angehörigen des Herrscherclans der Maninkaw, verboten. Wenn ein Keïta das Dorf sieht, wird er blind⁵.

Diese Geschichte lässt einiges von dem künstlerischen Flair vermissen, das man sonst von Geschichten aus Westafrika gewohnt ist – sie wurde hier von Dorfbewohnern erzählt, nicht einem der spezialisierten Erzähler Malis, den jeliw. Doch erfüllt die Geschichte von Ta Masa einige Kriterien, die für Malier eine gute Erzählung ausmachen: Es gibt Herrscher, Pferde, gruselige Details und einen klaren Gewinner. Aus zwei Gründen ist sie es jedoch wert, sich auch aus historischer Sicht näher mit ihr zu beschäftigen: Erstens findet die Geschichte in einer genau beschriebenen Periode statt und zweitens an klar definierten Orten. Dies ist also eine Geschichte, die mehr als nur der Unterhaltung dient. Sie gehört zur mündlichen Überlieferung, dem „Geschichte Erzählen“, welche in Mali das Gegenstück zur Historiografie, dem „Geschichte Schreiben“, darstellt.

 Dieses Verbot wird allgemein respektiert. Zwei der Präsidenten der Malischen Republik trugen bisher dieses Patronym. Beide statteten bei ihren Staatsreisen in dieser Gegend Markaduguba keinen Besuch ab. Man sagt, Modibo Keïta, Malis erster Präsident, habe sich beim Vorbeifahren sogar die Augen verbinden lassen. Die Signifikanz dieser Aussage soll im Laufe dieses Beitrags deutlich werden.

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Kann man eine solche Geschichte in eine wissenschaftliche Analyse und Darstellung einbinden? Wenn ja: wie? Diese Fragestellung ist der Geschichte Afrikas nicht neu. Seit den 1960er-Jahren wird hier diskutiert, inwiefern die mündliche Überlieferung als Geschichtsquelle dienen kann und welche methodischen Herangehensweisen man hierfür nutzbar machen kann.⁶ In diesem Beitrag soll aufgezeigt werden, wie die mündliche Überlieferung durch vorsichtige Analyse ihres Kontextes und innerhalb eines multidisziplinären Ansatzes zu einer Bereicherung der Historiografie werden kann. Es öffnen sich hierbei Perspektiven auf die Vergangenheit, die weder aus Schriftquellen noch aus den materiellen Überresten der Archäologie zu erarbeiten sind. Dies ist vor allem für die hier behandelte Periode des Mali-Reiches wichtig, da sich in der bisherigen Historiografie ein recht einseitiges und unkritisches Bild dieser Phase der politischen Geschichte Westafrikas durchgesetzt hat. Ein differenzierteres Bild dieser Vergangenheit, so meine These, ist nur unter der Rücksichtnahme auf verschiedene historisch arbeitende Disziplinen möglich und nur, wenn auch die lokale, auf mündlichem Zeugnis basierende Deutung der Vergangenheit ernst genommen wird. Im Folgenden soll nun die Geschichte Ta Masas aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden. Was sagen die Schriftquellen dazu? Was die archäologischen Zeugnisse? Was kann uns eine nähere Analyse der mündlichen Überlieferung über die Geschichte erklären? Ich werde so drei historische Narrative herausarbeiten, die sich teils decken, teils gegenseitig fundamental infrage stellen, und ihre Hintergründe beleuchten. Um den Ertrag dieser Methode zu verdeutlichen, ist es notwendig, zunächst einen kurzen Überblick über die bestehenden Darstellungen der Epoche des Großreiches Mali zu geben.

 Einen guten Überblick über diese Debatten liefert David Henige: Oral Tradition as a Means of Reconstructing the Past. In: Writing African History. Hrsg. von John Edward Philips. Rochester 2006 (Rochester Studies in African History and the Diaspora 20), S. 169 – 190. Für eine Diskussion der Wertschätzung mündlicher Überlieferung aus Sicht der Historiker s. die Einführung und Beiträge in Joseph C. Miller (Hrsg.): The African Past Speaks. Folkestone 1980.

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1 Das Reich Mali in Schriftquellen, mündlicher Überlieferung und Archäologie Aus arabischen Schriftquellen, die seit dem 9. Jahrhundert⁷ Informationen über die Gegenden südlich der Sahara dokumentieren, lassen sich die Grundzüge einer politischen Geschichte der Gegend am oberen und mittleren Lauf des Niger erarbeiten.⁸ Von einigen Autoren bekommen wir zu verschiedenen Zeiten Momentaufnahmen der politischen Situation dieser Gegend. Die einzige Quelle, die allerdings die Entwicklung des Reiches Mali⁹ mit historischem Blick zu schildern versucht, ist Ibn Khaldūns Kitāb al-̔Ibar. ¹⁰ Ibn Battūta liefert in seinen Riḥla in den Jahren 1352– 1353 den vermutlich einzigen Augenzeugenbericht vom Hofe Malis.¹¹ Trotz der spärlichen Quellenlage lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass das Reich Mali gegen Mitte des 13. Jahrhunderts in eine Vorherrschaftsstellung kam, die in der anglo- und frankophonen Literatur üblicherweise als empire charakterisiert wird. Durch das 14. Jahrhundert hindurch beherrschte Mali einen sehr großen Teil Westafrikas. Im 15. Jahrhundert scheint die Kontrolle des Reiches in den nördlichen Gegenden und im Binnendelta des Nigers entscheidend schwächer geworden zu sein. Dem Staat der Songhai, vormals unter der Vorherrschaft Malis, gelang es dann, weite Teile dieser Gegend in einem eigenen Großreich aufgehen zu lassen. Mit extrem reduzierter Autorität blieb Mali aber wohl bis weit ins 17. Jahrhundert bestehen. Zwei Historien aus den berühmten Bibliotheken Timbuktus, der Tarikh al-Sudan und der Tarikh al-Fattash, ebenfalls in arabischer Sprache, liefern in der zweiten  Joseph M. Cuoqs Sammlung arabischer Quellen (1975) enthält spätere Zitate von Autoren aus dem 8. Jahrhundert. Der früheste existierende Text ist allerdings al-Khuwārizmis Ṣurat al-arḍ aus dem 9. Jahrhundert, vgl. Nehemia Levtzion u. J. F. P. Hopkins (Hrsg.): Corpus of Early Arabic Sources for West African History. 2. Aufl. Princeton 2006, S. 5 – 10.  Das beste Beispiel einer solchen Arbeit bleibt Nehemia Levtzion: Ancient Ghana and Mali. London 1973.  Mit „Mali“ wird im Folgenden das Reich bezeichnet. Wenn von dem nach ihm benannten modernen Staat die Rede ist, wird dies vermerkt.  Levtzion/Hopkins, Corpus, S. 333 – 337.  Ibn Battūta reiste zwischen Februar 1352 und Dezember 1353 von Marokko aus in das subsaharische Westafrika. Sein Bericht wurde 1355 – 1356 von Ibn Juzayy, einem Schriftgelehrten des marinidischen Sultans Abū ̔Inān aufgeschrieben und wohl an etlichen Stellen auch „verbessert“, s. Levtzion/Hopkins, Corpus, S. 279 f. Der andere „Augenzeuge“, Leo Africanus, hat wohl, entgegen den eigenen Angaben, den Niger nie aufwärts der heutigen Stadt Gao gesehen. Auch die Authentizität des Berichts Ibn Battūtas wird von manchen heute angezweifelt, s. François-Xavier Fauvelle-Aymar u. Bertrand Hirsch: Voyage aux frontières du monde. In: Afrique & histoire 1 (2003), S. 75 – 122.

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Hälfte des 17. Jahrhunderts die indigene Sicht auf die Geschichte des Reiches und enthalten Augenzeugenberichte zu dessen stark reduzierter Macht. Diese Dokumente sind trotz der vielfach problematischen Quellenkritik solcher Handschriften¹² wertvoll, da ihre Perspektive in erheblichem Kontrast zu den Quellen arabischer Autoren steht, welche durch den Filter ihres eigenen Verständnisses und dessen ihrer Informanten ein auf nicht nachzuvollziehende Weise verzerrtes Bild bieten. In den Tarikh von Timbuktu sind Orte oft wiederzuerkennen und einzelne Akteure der Vergangenheit sichtbar, wo die nordafrikanischen und arabischen Quellen geografisch schwer nachzuvollziehen sind und unter den subsaharischen Afrikanern selten tatsächliche Personen nennen. Mit der möglichen Ausnahme des Augenzeugen Ibn Battūta ist den Quellen beider Kategorien aber gemeinsam, dass sie sich im Hinblick auf das Mali-Reich alle auf mündliche Quellen beziehen,¹³ die zumeist unbekannt sind. Primärquellen¹⁴ sind also fast nicht existent. Ebenfalls ist ihnen gemeinsam, dass sie die südlicher liegenden Kerngebiete Malis nicht wirklich kennen – die meisten Informationen beziehen sich auf die von Mali kontrollierten Provinzen nördlich des 14. Breitengrades. Im Geschichtsverständnis vieler Menschen in den heutigen Staaten Mali, Guinea, Gambia, Senegal und der Elfenbeinküste spielt das Reich Mali eine zentrale Rolle. Hier sehen sich große Bevölkerungsgruppen als Erben dieses Reiches, dessen Herrschaft gerne als goldenes Zeitalter Westafrikas dargestellt wird. Dieses Kulturerbe wird vor allem mündlich tradiert, oft in Form langer Epen mit musikalischer Begleitung. Die Aufführungen sind vornehmlich das Metier einer spezialisierten Berufsgruppe, der jeliw.¹⁵ Das Hauptaugenmerk der Forschung zu mündlicher Überlieferung in dieser Gegend liegt bisher auf den Erzählungen dieser „Meister des Wortes“, deren Werke seit Beginn der Kolonialzeit gesammelt und oft als Geschichtsquellen oder Beispiele oraler Literatur von westlichen Forschern herausgegeben und analysiert werden. Für das Reich Mali ist dies in erster Linie die Ge-

 Paulo Fernando de Moraes Farias: Intellectual Innovation and Reinvention of the Sahel. The Seventeenth-century Timbuktu Chronicles. In: The Meanings of Timbuktu. Hrsg. von Shamil Jeppie. Kapstadt 2008, S. 95 – 108; Mauro Nobili u. Mohamed Shahid Mathee: Towards a New Study of the So-called Tārīkh al-fattāsh. In: History in Africa 42 (2015), S. 37– 73; Nehemia Levtzion: A Seventeenth-century Chronicle by Ibn al-Mukhtar. A Critical Study of Tarikh al-fattash. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 34 (1971), S. 571– 593.  S. Adam Jones: Zur Quellenproblematik der Geschichte Westafrikas 1450 – 1900. Stuttgart 1990 (Studien zur Kulturkunde 99), S. 27.  Jones, Quellenproblematik, S. 36 merkt an: „Das beste, was wir in dieser Hinsicht erhoffen können, ist eine stark verdünnte Darstellung der Geschichte wie sie ‚eigentlich gewesen‘ ist, und die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärquellen ist nur eine Frage des Grades“.  Sg. Jeli, in der französischen Literatur auch als griot bezeichnet.

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schichte Sunjatas,¹⁶ des sagenhaften Gründers des Reiches. Die Überlieferung dieser Geschichte ist über die Jahrhunderte so stabil geblieben, dass Ibn Khaldūns Aufzeichnung von 1394, also ca. 150 Jahre nach der beschriebenen Zeit, und heutige mündliche Versionen in ihren Grundzügen sehr ähnlich sind. Wissenschaftlich ist allerdings der historische Wahrheitsgehalt solcher Traditionen sehr schwer zu prüfen. Dies gilt vor allen Dingen für die in der Geschichte enthaltenen Details. So ist sowohl aus schriftlichen als auch aus den epischen mündlichen Quellen der jeliw über die grundlegenden Parameter der Existenz des Reiches Mali hinaus nur wenig sicher zu erfahren. Im Fokus beider Quellenformen auf eine Geschichte großer Reiche, großer Persönlichkeiten und ihrer Taten gehen Themen, die die moderne Geschichtsschreibung interessieren, unter. Die Geschichte Ta Masas gehört zu einer anderen Art der mündlichen Überlieferung. Hier sind nicht die jeliw Hüter der Tradition, sondern Dorfbewohner aller Gesellschaftsklassen, die über die Region hinaus meist unbekanntes und unkanonisiertes Wissen über lokale Vergangenheiten tradieren. Archäologische Untersuchungen haben bisher das Mali-Reich nicht wirklich fassen können. Trotz der gemeinsamen Bemühungen einiger Historiker und Archäologen war die Suche nach der Hauptstadt weder durch Auswertung des Reiseberichts Ibn Battūtas noch mithilfe der mündlichen Überlieferung erfolgreich.¹⁷ Nur westlich der heutigen Stadt Ségu, außerhalb des Kerngebiets Malis, hat man bisher eine größere Siedlung gefunden, deren Datierung die Interpretation als peripheres politisches Zentrum des Reiches zulässt.¹⁸ Generell hat sich die Eingliederung archäologischer Ergebnisse in die historischen Narrative dieser Region nicht einfach gestaltet. Dem Fokus der mündlichen und schriftlichen Überlieferung auf Großreiche und Herrscher setzt die Archäologie den beachtlichen Fund eines bis in vorchristliche Zeit zurückreichenden Urbanismus entgegen, kann allerdings keine Anzeichen für die historisch belegte politische Integration dieser Gegend in den Rahmen des Reiches Mali erkennen. Es ergeben sich hieraus recht unterschiedliche Sichtweisen auf die Vergangenheit dieser Region, die nicht einfach zu vereinen sind. Vor diesem Hintergrund wenden wir uns nun wieder der Geschichte Ta Masas zu, bei der wir zunächst versuchen werden, uns der Erzählung auf der Basis von Schriftquellen und archäologischen Befunden so gut wie möglich anzunähern.

 Ralph A. Austen (Hrsg.): In Search of Sunjata. The Mande Oral Epic as History, Literature and Performance. Bloomington 1999.  Hadrien Collet: L’introuvable capitale du Mali. La question de la capitale dans l’historiographie du royaume médiéval du Mali. In: Afriques. Débats, méthodes et terrains d’histoire 4 (2013). https://afriques.revues.org/1098 (17.12. 2017).  Kevin C. MacDonald [u. a.]: Sorotomo. A Forgotten Malian Capital? In: Archaeology International 13 (2011), S. 52– 64.

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2 Die Sultane von Kala: Ta Masa in den Schriftquellen Aus der Perspektive der Schriftquellen ist die Geschichte Ta Masas nur bedingt anschlussfähig, zumal die erste schriftliche Erwähnung des Ortes aus dem Jahr 1865 stammt.¹⁹ Jedoch bieten der Herrschername und seine Position in der Herrschaftsstruktur Malis einen Anknüpfungspunkt. Obwohl der Titel masa ²⁰ heutzutage relativ unspezifisch eine Machtposition bedeutet, scheint er im Staatsapparat Malis sehr verbreitet gewesen zu sein. Er bezeichnete sowohl den Herrscher des Reiches als auch seine untergeordneten Funktionäre. Ta Masa ist somit der Titel der Person, die Macht über die Siedlung Ta ausübte oder den Regierungssitz in Ta hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich hierbei um eine Art Gouverneur, wie ihn der Tarikh al-Sudan Mitte des 17. Jahrhunderts just für diese Gegend beschreibt: „[The Empire of Mali’s] state grew very large, and they ruled a territory, including Kala, Bendugu, and Sibiridugu, up to the borders of the land of Jenne. Each of these territories had twelve sultans. As for the Sultans of Kala, eight of them are on its island.“²¹ Die genannte „Insel“ wird als das Gebiet zwischen den Flüssen Niger und Bani verstanden, doch in der folgenden Aufzählung der Sultane, die demselben Titelschema Ort–Herrscher folgt, aber den Herrschertitel in der Songhai-Sprache als koï wiedergibt, wird Ta nicht genannt.Viele der genannten Orte sind allerdings recht leicht wiederzufinden²² und in diesen Orten ist die Überlieferung über die masa noch sehr lebendig.²³ Dort wird das Amt als eine relativ klar nachzuvollziehende Position innerhalb einer zentralisierten Hierarchie dargestellt.²⁴ Über

 Eugene Mage: Voyage dans le Soudan Occidental. Paris 1868, S. 416 – 424.  Auch mansa, ein Wort der Malinké-Sprache.  John O. Hunwick: Timbuktu and the Songhay Empire. Al-Sa’dī’s Ta’rīkh al-sūdān down to 1613 and other Contemporary Documents. Leiden 1999 (Islamic History and Civilization 27), S. 14. S. auch: Aberrahman Es-Sa’di u. Octave Houdas: Tarikh es-Soudan. Paris 1964, S. 1 f.  Jean Bazin: Princes désarmés, corps dangereux. Les „rois-femmes“ de la région de Segu. In: Cahiers d’études africaines 28 (1988), S. 375 – 441; Robert Pageard: La marche orientale du Mali (Ségou-Djenné) en 1644, d’après le Tarikh es-Soudan. In: Journal de la Société des Africanistes 31 (1961), S. 73 – 81.  Im Gegensatz zu Bazin, Princes désarmés, S. 37 f., der sich über die Unklarheit der Traditionen zu den masa beklagte. Das Wort masa wird hier zum besseren Verständnis auch für den Plural verwendet, grammatikalisch korrekt wäre der Plural masaw.  „To be an Old Masa town means […] a thing, because with the settlements […] today, even today we are in the same situation: the capital is Bamako, but there are [seats of] mairies inside

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den Tarikh al-Sudan wird weiter deutlich, dass die masa nach dem Machtverlust des Mali-Reiches recht viel Autonomie besaßen, dass sie Landrechte regelten, auf lokale wirtschaftliche Angelegenheiten Einfluss nahmen und auch militärischen Einfluss hatten. Jean Bazins Arbeit zu diesem Thema verdeutlicht außerdem die spirituelle Dimension und die Aufgabe der Rechtsprechung, die dieses Amt zumindest nach dem 18. Jahrhundert beinhaltete.²⁵ Die Existenz eines Ta Masa, allerdings eher als Amt anstelle einer Einzelperson, passt also durchaus zu dem, was wir von der territorialen Verwaltung des Mali-Reiches wissen. Es gibt jedoch keinen schriftlichen Beleg für seine Existenz. Es ist möglich, dass die Stadt Ta und ihr masa bis zur Niederschrift des Tarikh alSudan in den 1650er-Jahren den Informanten des Verfassers nicht mehr geläufig war. Ebenso ist es möglich, dass es ihn nie gegeben hat.

3 Ta aus archäologischer Perspektive Eine Stadt der Größenordnung, die einen Gouverneur vielleicht verdient, hat es aber an der angezeigten Stelle durchaus gegeben. Wir führten im Dezember 2016 und Januar 2017 erste archäologische Prospektionen und Ausgrabungen der Siedlungsreste durch, die der Stadt Ta zugesprochen werden.²⁶ Unsere vorläufigen Ergebnisse zeigen recht drastische Veränderungen des Siedlungsmusters. Die Ausgrabungen weisen eine frühe Besiedlungsschicht aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. nach, auf die erst im 14. Jahrhundert weitere Bauten folgten. Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts scheint die Siedlung enorm gewachsen zu sein.²⁷ Sie er-

that [the state]. There are cercles and régions inside that. In the past, the masa were that kind of thing. One of their towns was there, another one over there, another one over there. […] The large power that they [the emperors] had, the large power that was there, they could not be present in all their territory. […] Their representatives were there. They passed on the important news. That’s what it is.“ („masa dugu kɔrɔ ye fεn min ye, sabu la sigidaw la, bi hali bi an bε o de nɔ kan wo : kapitali ye Bamako ye ; kana mεri kow bɔ a kɔnɔ ; kana sεrikili nin eregionw bɔ a kɔnɔ. fɔlɔ, masaw de tun bε o cokola. Masaw ka dugu bε yan ; a dɔ bε yan fε, dɔ bε yan fε […] O mara ba min tun bi kε dε, o mara ba min tun ben ninɔ, oluw tun tise ka jamana yala wo. […]u ka lasigiden de tun bε yen. Kibaru ya min ma bɔyan o bi ta fɔ u yε. O de don.“) Gruppeninterview in Faraku, 18.12. 2016.  Bazin, Princes désarmés, S. 375 – 441.  S. Nikolas Gestrich u. D. Keita: Report on a Season of Prospection and Excavation near Ségu, Mali. In: Nyame Akuma 88 (Dezember 2017), S. 48 – 55.  Die unterste Besiedlungsschicht wurde auf 406 – 542 cal AD (95,4 %, Beta – 464270) datiert. Die darüber liegenden Bebauungsschichten datieren mit zwei Proben auf 1270 – 1391 cal AD (95,4 %, Beta – 464268 und Beta – 464269).

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streckte sich über zwei Kilometer entlang des ansteigenden Flussufers auf einer Fläche, die 25.000 bis 30.000 Einwohner zulässt.²⁸ Obwohl noch auf recht spärliche Daten gegründet, können wir eine archäologisch fundierte Geschichte der Siedlung aufstellen: Schon vor oder im 5. Jahrhundert n. Chr. war das Flussufer um das heutige Dorf Markaduguba besiedelt. Erst im 14. Jahrhundert nahm die Siedlung die Ausmaße an, die heute noch in Form von Siedlungshügeln, ähnlich den tells des Nahen Ostens, zu sehen sind. Über etwa 100 Jahre war die Siedlung eine der größten, die wir für jene Zeit in dieser Gegend kennen. Ihre räumliche Konfiguration (Abb. 2) lässt darauf schließen, dass der Fluss für die Bewohner eine zentrale Rolle spielte: Die langgestreckte Form am Flussufer suggeriert, dass leichter Zugang zum Ufer von allen erwünscht war. Im ausgehenden 14. oder frühen 15. Jahrhundert wurde diese Siedlung anscheinend sehr rasch aufgegeben. Die Bewohner zogen sich einige hundert Meter vom Flussufer zurück und lebten nunmehr in einer Siedlung mit radikal veränderter Form. Die Sicht auf den Fluss und vom Fluss auf das Dorf war nun vom Kamm des steilen Ufers verdeckt. Die neue Siedlung war zum Schutz rund angelegt, vielleicht sogar befestigt.²⁹ Wir können hier also während der Zeit des Mali-Reiches eine tiefgreifende Veränderung nachweisen, in der mehrere Dimensionen anklingen. Zum einen ist eine demografische Veränderung klar sichtbar, die einen Bedeutungsverlust der Siedlung nahelegt. Die radikale Änderung der architektonischen Form lässt auch eine grundlegende Änderung der wirtschaftlichen oder politischen Gegebenheiten vermuten. Entweder war der Fluss den Bewohnern aus ökonomischen Gründen nicht mehr so wichtig wie zuvor, oder die Präsenz am Fluss wurde ihnen zu gefährlich. Der Ort und die Form der neuen Siedlung sind eindeutig defensiver. Allerdings muss die Bedrohung hier nicht unbedingt von Mensch oder Natur stammen: Auch spirituelle Bedrohungen sind ein in Mali bekannter Grund für defensive Dorfarchitektur.³⁰

 Diese Rechnung basiert auf einem Verhältnis von Siedlungsfläche zu Einwohnerzahl, die als Mittelwert aus fünf modernen Siedlungen dieser Gegend ermittelt wurde. Noch sind die Ausgrabungen hier nicht weit genug fortgeschritten, um ein Bild der Siedlungsdichte zuzulassen. Die hier angegeben Zahlen könnten also völlig falsch liegen.  Interview von Seydou Camara und Kevin MacDonald mit Baru Jiré in Markaduguba, 3. 3. 2005. Jiré gibt an, dass Markaduguba befestigt gewesen sei, man aber die Reste der Mauern nicht mehr sehe und die Orte der Tore nicht mehr kenne. Mage, Voyage, S. 418 weist im Januar 1865 nicht auf eine solche Befestigung hin.  Renata A. Walicka Zeh: Building Practice and Cultural Space amongst the Bambara, Senufo and Bozo of Mali. An Ethnoarchaeological study. Dissertation. London 2000.

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Abb. 2: Karte des heutigen Dorfes Markaduguba und der Siedlungsreste von Ta

Eine solche spirituelle Dimension kann auch bei den Gründen für den Umzug der Siedlung in Betracht gezogen werden. So weist z. B. Canós in ihrer Untersuchung der senegalesischen Casamance ein Phänomen nach, das sie shifting sedentism nennt – den Umzug ganzer Dörfer über kurze Distanzen auf ihren eigenen Ländereien. Bei diesem ist die aufwändige Relokalisierung oft auf recht trivial erscheinende Gründe wie den Tod eines Dorfbewohners oder eine Krankheit zurückzuführen.³¹ Während im Falle Tas/Markadugubas eine Epidemie eine mögliche Erklärung für den demografischen Einbruch ist, haben wir bisher keine archäologischen Anzeichen für eine solche oder eine andere Katastrophe. Die von

 Sirio Canós Donnay: Shifting Sedentism in the Upper Casamance (Senegal). In: Azania. Archaeological Research in Africa 51 (2016), S. 453 – 468.

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uns ausgegrabenen Gebäude weisen keines der Merkmale eines gewalttätigen Endes auf, wie es zum Beispiel im nahen Sorotomo im 15. Jahrhundert der Fall war.³² Die sozialen Prozesse, die den archäologisch wahrnehmbaren Änderungen in den materiellen Überresten menschlicher Siedlungen zugrunde liegen, sind zwar real, zugleich aber häufig sehr weit entfernt von der von den Zeitgenossen wahrgenommenen Kausalität historischer Veränderungen. Die Begebenheiten, die für diese Wahrnehmung eine Rolle spielen, kann die Archäologie in aller Regel nicht nachweisen. Archäologische Forschung ist also für den Beweis der Historizität einer solchen Überlieferung eher schlecht geeignet. So wäre es ein Glücksfall, wenn wir in unseren weiteren Ausgrabungen etwas finden sollten, das auf den Grund der Veränderung in Ta und Markaduguba hinweist oder auch auf die Präsenz der Maninkaw und ihres masa. Auch können wir den uns gezeigten Weg nicht auf die historische Präsenz eines verzauberten Pferdes untersuchen. Einzig der Ort des Brunnens, der sich als unscheinbar herausstellte und über den es Unstimmigkeiten gab, könnte mit relativ hohem Aufwand auf Überreste der Opfer untersucht werden.³³

4 Der Widerstand der Magier: Die mündliche Überlieferung in ihrem Kontext Wir könnten hier also feststellen, dass aus Sicht der Schriftquellen und der Archäologie zumindest die Existenz eines Ta Masa einigermaßen glaubhaft klingt, da Ta zur fraglichen Zeit bewohnt war und das Amt der masa schriftlich belegt ist. Der Rest der Geschichte klingt für das „wissenschaftliche Ohr“ europäischer Forscher überhaupt nicht glaubwürdig. Sollte man sich also mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Quellen zufriedengeben und sagen: Alles weist darauf hin, dass der Ort Duguba im 14. Jahrhundert ein provinzieller Regierungssitz des Reiches Mali war, und diesen Status, und damit seine Bedeutung, dann verlor? Dass aber die „echte“ tradierte Erinnerung an diese Fakten in der Lokalbevölkerung von den mythischen Elementen des Opfers und der Magie überlagert wurde?

 MacDonald [u. a.], Sorotomo, S. 52– 64.  Solche Funde sind in Westafrika durchaus schon gemacht worden. Vgl. hierzu Graham Connah: Archaeological Research in Benin City 1961– 1964. In: Journal of the Historical Society of Nigeria 2 (1963), S. 465 – 477, hier S. 468. Ebenso scheinen die Funde in Igbo Ukwu auf Menschenopfer hinzudeuten: Thurstan Shaw: Igbo Ukwu. An Account of Archaeological Discoveries in Eastern Nigeria. Bd. 1. London 1970, S. 265, 269.

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Der Gedanke, dass durch Archäologie und die Triangulation mit existierenden Schriftquellen in einer solchen Geschichte die Magie von der historischen Wahrheit zu trennen wäre, ist attraktiv. Doch ist ein solcher Ansatz „nicht nur ethnozentrisch, sondern auch unsinnig.“³⁴ Denn die Magie ist ein Kernbestandteil der Erzählung. Dies wird allerdings erst klar, wenn wir sie nicht als einzelnen Text oder als das Werk eines Künstlers betrachten, wie dies generell mit den Erzählungen der jeliw getan wird. Erst als Teil eines größeren Korpus an Erzählungen in der Region und über Markaduguba und seine Nachbardörfer lässt sich die Geschichte Ta Masas als ein Element einer Gruppe von Erzählungen betrachten, die alle das Thema des magischen Widerstandes gegen politische Autorität haben und in denen Markaduguba eine zentrale Rolle spielt. In der Ergründung dieses Kontextes liegt auch der Unterschied des hier verfolgten Ansatzes zu vielen anderen Einbindungen der mündlichen Überlieferung in die Geschichtsschreibung. Die Betrachtung einzelner Erzählungen als Teil einer größeren Tradition, deren Sammlung wir bisher in 13 Orten über mehrere hundert Interviewstunden betrieben haben und in den kommenden Jahren noch weiter ausbauen werden, soll über den Vergleich ein kritisches Verständnis der Erzählungen³⁵ erlauben. Genau dieses kritische Verständnis, welches notwendigerweise sowohl ein Verständnis der Vergangenheit als auch der Gegenwart ist, wird von Vansina in seinem Grundlagenwerk zur mündlichen Überlieferung als Geschichtsquelle als Voraussetzung einer soliden Interpretation genannt.³⁶ In vielen der darauf folgenden historischen Werke wird allerdings nicht ernsthaft versucht, ein solches Verständnis herzustellen. Nur dadurch, dass man eben dem unglaubhaft erscheinenden magischen Element der Erzählung folgt, kommt man im Falle der Geschichte Ta Masas zu einem Verständnis des ambivalenten Verhältnisses zwischen der zwingenden, militärischen Macht und der subversiven, okkulten Macht, unter dem die Vergangenheit dieser Gegend in diesen Erzählungen dargestellt wird. Diese Darstellung gewinnt vor allem im Diskurs zur Identität der sogenannten Maraka an Bedeutung.

 „To divide the elements of a narrative into those that seem likely from a European point of view and those that seem to be magical accretions upon an historical core is ethnocentric – worse, it is illogical.“ S. Wyatt MacGaffey: African History, Anthropology, and the Rationality of Natives. In: History in Africa 5 (1987), S. 101– 120, hier S. 106.  Die Bedeutung des Vergleichs für die Kritik mündlicher Überlieferungen ist ein zentrales Thema in Paul Irwin: Liptako Speaks. History from Oral Tradition in Africa. Princeton 1981.  Jan Vansina: Oral Tradition. A Study in Historical Methodology. Neuausg. New Brunswick 2006, Kap. III.

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Die Bewohner von Markaduguba zählen sich zu einer Bevölkerungsgruppe, die sich Maraka oder Marka nennt. Diese Gruppe ist aus mehreren Gründen nicht leicht zu definieren. Erstens ist das Wort „Maraka“ in der Bamana-Sprache die einzige Bezeichnung für die ethnische Gruppe, deren Mitglieder sich selbst als Soninké bezeichnen, jedoch zählen sich bei weitem nicht alle Maraka in der Gegend um Ségu zu den Soninké. Zweitens entsprechen die Merkmale, die laut unseren Gesprächspartnern die Maraka von den anderen Gruppierungen der Gegend unterscheiden sollen,³⁷ keinen heutzutage realen sozialen Grenzen. Drei Hauptmerkmale wurden uns in unseren Interviews genannt: der islamische Glaube, die Nichtteilnahme an Kriegszügen und die Teilnahme am Handel. In der Region sind allerdings islamische Religionspraktiken bei der großen Mehrheit der Bevölkerung Teil des Alltags geworden. Der letzte Kriegszug ist lange her und außerdem gibt es einige Soninké bei der malischen Armee. Ferner gehören die Märkte der Maraka-Siedlungen zu den unbedeutendsten der Gegend. Die allermeisten Maraka sind Feldbauern, keine Händler. Es scheint sich hier also um eine Art fossile Identität zu handeln, die vielleicht zu einem gewissen Zeitpunkt real war,³⁸ deren Existenz sich heute aber nur auf die Vergangenheit bezieht. Genau in diesem identitären Diskurs nimmt die Geschichte Ta Masas eine Funktion ein. Denn im Zuge unserer Interviews wurde deutlich, dass sich die Bewohner Markadugubas, wie auch viele andere Maraka um die Stadt Ségu, einer bestimmten Untergruppe der Maraka zugehörig fühlen. Diese Untergruppe, die maraka fin, „dunkle“ oder „schwarze Maraka“, haben ein weiteres entscheidendes Merkmal, juguya, was sich ungefähr mit „Boshaftigkeit“ übersetzen lässt. Eine Handlung wird als jugu bezeichnet, wenn sie Anderen absichtlich Schaden zufügt. Im Falle der maraka fin bezieht sich diese Eigenschaft vor allem auf spirituelle Gewalt.³⁹ Denn in der Funktion der Maraka-Siedlungen als Zentren islamischer Lehre hat sich in vielen auch eine aktive Praxis synkretischer Magie herausgebildet. Duguba ist heute, zusammen mit dem Dorf Maban, der gefürch-

 Zur Diskussion der Entstehung und Erhaltung quasi-ethnischer Gruppen in dieser Gegend s. auch Franz-Volker Müller: Ethnizität und gesellschaftliche Arbeitsteilung in Westafrika. Beispiele aus der Ethnographie Malis. In: Ethnizität im Wandel. Hrsg. von Peter Waldmann u. Georg Elwert. Saarbrücken/Fort Lauderdale 1989 (Spektrum 21), S. 169 – 185.  In dieser Hinsicht lässt sich eine Art essenzieller Dualismus zwischen der Identität der Bamana und derjenigen der Maraka herstellen, wie es Bazin in Umrissen schildert, s. Jean Bazin: À chacun son Bambara. In: Au coeur de l’ethnie. Ethnies, tribalisme et état en Afrique. Hrsg. von Jean-Loup Amselle u. Elikia M’Bokolo. Paris 1985, S. 87– 128. Dieser Dualismus scheint vor allem auf Idealvorstellungen des 17. Jahrhunderts, zu Beginn des Bamana-Reiches in Ségu, gegründet zu sein. Dabei scheint unbestritten, dass die Maraka eine längere Siedlungsgeschichte in dieser Gegend haben als die später dominanten Bamana.  Vgl. hierzu Paul Stoller u. C. Oakes: In Sorcery’s Shadow. Chicago 1987.

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tetste Produzent schwarzer Magie in Mali. Fast jeder im Land hat den Namen des Ortes schon einmal gehört. Wenn die Bewohner Dugubas heute als jugu gelten und sich auch so verstehen, dann ist dies aber nur zum Teil der Ausübung von als schädlich verstandener Magie zuzuschreiben. Denn juguya hat auch eine weitere Komponente, die des Ungehorsams, der Ablehnung von Autorität, die die Identität der maraka fin geradezu definiert: „Wenn jemand jugu ist, wenn man niemandem je gehorcht, diese Person nennt man maraka fin.“⁴⁰ Diese beiden Aspekte, die schwarze Magie und der Ungehorsam, sind in der Geschichte Ta Masas exemplarisch dargestellt. Die Erzählung stellt somit auch die historische Genese der Identität der maraka fin dar. Ein ganzes Genre an Überlieferungen greift dieses Thema in späteren Perioden weiter auf. Diese Erzählungen sind oft ahistorisch. Sie erzählen Geschichten, die vordergründig die Vergangenheit behandeln, deren Funktion aber darin besteht, ein Kulturerbe des magischen Widerstands zu bestärken. Dies zeigt sich deutlich am Beispiel eines Interviews, in dem uns eine Geschichte erzählt wurde, die von Lehmziegeln handelt: Den Bewohnern von Markaduguba war aufgetragen worden, als Frondienst die Ziegel für den Bau eines Palastes in Ségu herzustellen. Diese Aufgabe wurde ausgeführt, aber als Zeichen des Protestes und der magischen Macht Markadugubas wurden sie nicht die 30 Kilometer nach Ségu getragen. Stattdessen gab man den Kindern Peitschen, um die Ziegel vor sich her in die Stadt zu treiben, als wäre es Vieh. In der Version, die uns erzählt wurde, wechselten bezeichnenderweise die Periode und die Herrscherperson zwischen dem kolonialen Commandant und einem der Herrscher des Bamana-Reiches, Da Jara (frühes 19. Jahrhundert). Auf unser Nachfragen hin erklärte unser Informant mehr oder weniger deutlich, dass es keine Rolle spiele, welcher Herrscher es nun gewesen sei: „Es kann sein, dass es der Commandant war, es könnte aber auch … Auf jeden Fall war es um das Haus eines Herrschers zu bauen, weil seine Macht über uns [Markaduguba] reichte“.⁴¹ Wichtig ist das Prinzip⁴²: Es ist möglich, Markaduguba mit militärischer Macht zu erobern und die Bewohner zu beherrschen, aber man sollte sich vor-

 Interview mit Basana Kuma, Sinzani, 25.12. 2016: „Ni maa min ka jugu, ni i tɛ son maa ta ma, u ba fɔ o ma de k’o ye maraka fin ye.“  „A bi se ka kε kɔmandan ye, a bi se ka kε … a kɔnin kun bi na kε a fama ka so jɔ parsike a ka se kun bi boli an kan.“ Interview mit B. F., Ségu, 16.12. 2016.  Die Verwendung der Kolonialzeit als Erklärung und Verbildlichung anderer Perioden erinnert unter anderem an das colonie belge genannte Genre der Wandmalerei im Kongo. S. Bogumil Jewsiewicki: Une société urbaine „moderne“ et ses représentations. La peinture populaire à Kinshasa (Congo) (1960 – 2000). In: Le Mouvement Social 204 (2003), S. 131– 148, hier S. 139 f.

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sehen, denn das unscheinbare Dorf hat andere Formen der Verteidigung. Viele weitere Geschichten haben dieselbe Tendenz. In den Nachbarorten kursiert das Gerücht, Markaduguba zahle keine Steuern, weil sich die Eintreiber nicht in das Dorf wagen. Dieses Thema, die Narrative des magischen Ungehorsams, durch dessen Prisma die Vergangenheit verständlich gemacht werden soll, ist grundlegend an der Bildung und Erhaltung sozialer Identitäten beteiligt. Es festigt einen Aspekt der marakafinya, des „maraka-fin-Seins“. Nicht nur Opfer der Staatsgewalt sind jedoch die maraka fin, insbesondere die Bewohner Markadugubas, sondern auch machtvolle Akteure und Kollaborateure. In beeindruckender Übereinstimmung sagten unsere Interviewpartner in der Region aus, dass sie die Kriegszüge des Bamana-Reiches magisch unterstützten.⁴³ An diesen Aussagen ist zunächst erstaunlich, wie viele dieser Aggressionszauber offensichtlich von verschiedenen Herrschern benötigt wurden, und auch, welche zentrale Bedeutung damit den maraka fin zugewiesen wird. In Anbetracht der Tatsache allerdings, wie viele reiche und einflussreiche Malier heute noch aus sehr ähnlichen Gründen Markaduguba diskrete Besuche abstatten, sollte uns diese historische Inanspruchnahme vielleicht nicht wundern. Magie war und ist in Mali in solchem Maße Wirklichkeit, dass unser hypothetischer europäischer Versuch, sie aus der Historiografie zu verbannen, ein ganzes Feld sehr real existierender sozialer Beziehungen ausschließt. Eine Geschichtsschreibung, die sich auf die wirtschaftliche Geschichte der Maraka während der Periode des Bamana-Reiches konzentriert, wie es Richard Roberts und Jean Bazin tun,⁴⁴ vernachlässigt also zwei entscheidende Dimensionen der Beziehung dieser Bevölkerungsgruppe mit dem Staat: die Magier als ständige Bedrohung und als vertraute Mitwisser, Unterstützer und Berater. Die in der Überlieferung propagierte juguya der Bewohner Markadugubas ist also sowohl ein roter Faden für das Verständnis der Vergangenheit wie auch Ausdruck eines politischen Ziels: Sie soll Schutz vor Übergriffen bieten und gleichzeitig eine einflussreiche Position bei politischen Machthabern sichern.

 Durch sog. duaw, die oft in der örtlichen Praxis des sufistischen spirituellen Rückzugs Khalwa enthalten sind.  Richard Roberts: Warriors, Merchants, and Slaves. The State and the Economy in the Middle Niger Valley, 1700 – 1914. Stanford 1987; Jean Bazin: L’État, avec ou sans cité. In: Journal des africanistes 74 (2004), S. 49 – 56; ders.: Commerce et predation. L’état Bambara de Ségou et ses communautés Marka. Unveröffentlichter Beitrag. Conference on Manding Studies. Royal Anthropological Institute MS415/9. SOAS. London 1972.

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5 Ein nicht so goldenes Zeitalter und ein Niedergang, der keiner ist Die Einbeziehung der Geschichte Ta Masas wirkt somit in zwei Perspektiven bereichernd auf eine Historiografie des Mali-Reiches: Auf der einen Seite, weil sie die Machtbeziehungen auf magisch/spiritueller Basis sichtbar macht, und auf der anderen, weil sie eine sonst kaum bestehende Kritik an Mali zum Ausdruck bringt. Die auf Schriftquellen basierte Geschichtswissenschaft kann die magische Komponente in der Geschichte Malis schon allein deswegen nicht wahrnehmen, weil sie dort nicht vorkommt. Denn genausowenig, wie solche Praktiken zu einem modernen westlichen Weltbild gehören, so wenig gehörten sie auch zum Weltbild der islamischen Verfasser dieser Quellen. Diese nehmen zwar generell den Unterschied zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen wahr, jedoch nicht die fließenden Übergänge in den Religionspraktiken, die der Idee und Praxis der juguya zugrunde liegen. Ebenfalls sind die im Fachjargon so genannten rituellen Praktiken zwar in archäologischen Untersuchungen häufig nachzuweisen, ihre konkrete Motivation und soziale Wirkung aber so gut wie nicht nachzuvollziehen. Die Konzentration des von uns gesammelten Genres der mündlichen Überlieferung auf diese magischen Machtbeziehungen liefert jedoch einen gänzlich anderen Blickwinkel auf die Geschehnisse der Vergangenheit Tas/Markadugubas. Aus archäologischer Sichtweise wäre hier recht leicht ein Standardnarrativ des Aufstiegs und Niedergangs zu konstruieren, das vor allem auf demografischen Entwicklungen und architektonischer Syntax basiert. Der Zeitpunkt des archäologischen Niedergangs ist allerdings aus Sicht der mündlichen Überlieferung genau das Gegenteil: Die Verstoßung Ta Masas ist in der Überlieferung ein Triumph, in dem die maraka fin mithilfe ihrer magischen Fähigkeiten die Macht eines Herrschers überkamen und damit ein Mittel fanden, sich auch den Respekt aller folgenden Herrscher zu erzwingen. Dass es im Reich Mali auch solche gab, die unter dessen Herrschaft litten, wie die Bewohner Tas, ist vielleicht wenig überraschend. Allerdings ist dies ein Thema, welches in der bisherigen Geschichtsschreibung zu Mali überhaupt nicht vorkommt. Dies ist einer Reihe von historischen wie zeitgenössischen Faktoren geschuldet, die allesamt ein Interesse daran hatten, die westafrikanischen Großreiche so stabil wie möglich darzustellen. Dies beginnt mit den Timbuktuer Tarikh, welche die Geschichte der Region in einer besonderen Situation, mit einem klaren politisch-ideologischen Ziel schrieben. Dieses kurzlebige Genre geht, so de Moraes Farias, auf den Wunsch der lokalen Eliten zurück, sich in eine „imperiale“

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Tradition zu stellen und so eine kooperative Herrschaft zu legitimieren.⁴⁵ Mit dem Scheitern dieses Projektes endet auch die Geschichtsschreibung in Timbuktu. Diese Motivation erklärt aber die Sichtweise, die die Tarikh auf die früheren Perioden haben: Sie akzentuieren die Geschichte der Herrscher und Großreiche, bestehen auf Kontinuität und projizieren ihren erstrebten Staat somit in die Vergangenheit.⁴⁶ Selbstverständlich kamen solche Narrative auch dem französischen Kolonialbestreben entgegen, welches den Kolonialstaat so in eine lange imperiale Tradition einbinden konnte. Hiermit erklärt sich zumindest in Teilen das recht große Interesse der Kolonialbeamten an der Vergangenheit dieser Region, welches zahl- und umfangreiche Werke hervorbrachte. Vielleicht nicht zuletzt deswegen, weil diese imperiale Vergangenheit im europäischen Wertesystem geschätzt wurde und wird, ist das Reich Mali auch lokal zu etwas geworden, auf das man stolz sein kann. Doch sollte man nicht übergehen, dass das historische Narrativ vom Mali-Reich als ein goldenes Zeitalter auch ganz aktuelle lokalpolitische Interessen bedient. Die über Jahre entstandene, quasi-offizielle Version der Geschichte dieser Region, aus den Epen der jeliw unter Einbeziehung der Schriftquellen entstanden und zum Beispiel in den relevanten Kapiteln der achtbändigen UNESCO General History of Africa sowie zahllosen Schulbüchern festgehalten, reflektiert fast ausschließlich den Vergangenheitsdiskurs der politischen und intellektuellen Eliten des heutigen Mali. Hieraus schöpfen bestimmte Gruppen des modernen Vielvölkerstaats entscheidendes politisches Kapital.⁴⁷ Aus dem Zusammenspiel dieser schriftlichen und mündlichen Überlieferungen resultiert eine Verklärung der Vergangenheit des Reiches Mali in der modernen Historiografie. Die kritische Analyse von Erzählungen wie der Ta Masas innerhalb ihres größeren Kontextes ist wohl eine unserer wenigen Möglichkeiten, uns einem differenzierteren Vergangenheitsbild zu nähern. Doch gilt die Verwendung dieser mündlichen Darstellungen der Vergangenheit als genuine Quellen in der europäischen Wissenschaft als problematisch. Sehr lange haben sich die Pole des Umgangs mit dieser erzählten Vergangenheit zwischen zwei Extremen bewegt. Die eine im Zuge der afrikanischen Unabhängigkeiten entstandene Ansicht, die besagt, dass sich aus mündlicher Überlieferung mit einiger Arbeit brauchbare

 Moraes Farias, Intellectual innovation, S. 95 – 108.  Moraes Farias, Intellectual innovation, S. 96 – 100.  Zur Entstehungszeit dieses Aufsatzes wird dies im Bestreben des malischen Präsidenten deutlich, eine Verfassungsänderung zu erwirken, in der die sog.Verfassung von Kurukanfuga eine nicht unwichtige Rolle spielt. Letztere ist wohl eine Erfindung der 1980er-Jahre, die aber für intellektuelle und politische Eliten in Bezug auf eine Erneuerung der historischen Bedeutung des Mali-Reiches sehr wichtig geworden ist.

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Quellen erarbeiten lassen, ist in der europäischen Wissenschaft so gut wie ausgestorben. Hier regiert die zweite Ansicht, die die Historizität der mündlichen Überlieferung für unbeweisbar hält und sich daher mit den heute wirksamen Dimensionen der Erzählungen beschäftigt. Dabei ist anzumerken, dass die erste Ansicht in afrikanischen Wissenschaftskreisen sehr wohl salonfähig geblieben ist. Dies hat vermutlich auch damit zu tun, dass die zweite Ansicht, ähnlich aller extrem konstruktivistischen Strömungen in den Geschichtswissenschaften, die Realität der Vergangenheit in Afrika anzweifelt beziehungsweise so reduziert, dass für die Vorkolonialzeit ausschließlich die Beobachtungen von Fremden als legitime Quellen erachtet werden können. Um die mündliche Überlieferung weder als Quelle in der Tradition der europäischen Geschichtswissenschaften zu sehen, deren Anspruch sie nicht erfüllen kann, noch ihre Aussage über die Vergangenheit deshalb ignorieren zu müssen, ist sowohl ihre kontextuelle Erforschung als auch ihre Einbindung in eine multidisziplinäre Historiografie meiner Meinung nach unerlässlich. Es ist keinesfalls so, als würde aus dem Zehnkampf der Sozialwissenschaften, als den MacGaffey⁴⁸ eine solche Geschichtsschreibung Afrikas charakterisierte, ein kohärentes Narrativ hervorgehen. Eher ergeben sich mehrere Erzählfäden, die manchmal zusammengesponnen werden können, deren Regeln aber so unterschiedlich sind, dass am Ende eher ein Sammelsurium an unterschiedlichen Perspektiven auf die Vergangenheit steht. Aus diesem geht jedoch ein Mehrwert hervor, der vor allem darin besteht, die Machtansprüche und Weltsichten in den Narrativen der Einzeldisziplinen herauszuarbeiten und infrage zu stellen.

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 MacGaffey, African History, S. 101.

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Bilder – alternative historische Narrationen? 1 Von der Bedeutung der Bilder für die historische Analyse Lange bevor Schriften entwickelt wurden, schufen Menschen Bilder.¹ Die äußere wie innere oder auch die transzendente Welt wurde verbildlicht; und mit Bildern setzen sich Menschen mit der Welt auseinander. Schriftlichkeit ist somit, auf die gesamte Entwicklung der Menschheit gesehen, jüngeren Ursprungs und Schrift hat auch niemals das Bild als Mittel der Auseinandersetzung mit der Welt ersetzt. Das deutet bereits an, dass Vergangenheit sich kaum allein über schriftliche Zeugnisse erschließen kann, und es deutet auch an, dass Bilder eine besondere Form darstellen, über die sich Vergangenheiten erschließen lassen. Diese Erkenntnisse sind nicht neu, so bemerkte Frederick Douglass (1818 – 1895), ehemaliger Sklave, Aktivist in der Bewegung zur Gleichstellung der „Schwarzen“ in den USA und Verteidiger von Bürgerrechten, im Jahr 1861: „Man is the only picturemaking animal in the world. He alone of all the inhabitants of the earth has the capacity and passion for pictures […] Poets, prophets, and reformers are all picturemakers, and this ability is the secret of their power and achievements: they see what ought to be by the reflection of what is, and endeavor to remove the contradiction.“ ² In dem Vortrag, dem das Zitat entnommen ist, verdeutlicht er, dass es nicht die Schrift ist, die den Menschen ausmacht, sondern die Fähigkeit, Bilder herzustellen und diese auch gezielt einzusetzen.³ Douglass betont, dass Bilder nicht simpel Realität verdoppeln, sondern diese Realität zu verändern imstande sind. Sie sprächen nicht nur den Intellekt an, sondern unmittelbar die Emotion (passion). Damit argumentiert er, dass ihre Aussagekraft ebenso rational wie emo-

 Dies ist eine allgemein bekannte Tatsache; vgl. lediglich Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurt a.M. 2010, S. 28 – 34.  Frederick Douglass: Pictures and Progress [Vortrag vom 3.12.1861]. In: The Frederick Douglass Papers. Bd. 3: Series One. Speeches, Debates, and Interviews: 1855 – 1862. Hrsg. v. John W. Blassingame. New Haven 1985, S. 459.  Man mag einwenden, dass Douglass hier offenbar vor allem an Metaphern dachte, schließlich erwähnt er Dichter, Propheten und Reformer, aber in dem Vortrag gibt er der Fotografie breiten Raum und lässt keinen Zweifel daran, dass er weit mehr im Sinn hat als die Fähigkeit, Metaphern und Sprachbilder zu erzeugen. https://doi.org/10.1515/9783110552201-013

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tional verfängt, sie ergreifen also den gesamten Menschen. Schriftlosigkeit ist nach Douglass überhaupt kein Kriterium für „Geschichtslosigkeit“ – ganz im Gegenteil, Bilder zu erzeugen und mit Bildern zu kommunizieren unterscheide den Menschen von allen anderen Lebewesen, und es sei eine Fähigkeit, die – wie rudimentär auch immer ausgeprägt –, jedem menschlichen Wesen zugehöre. Nicht von ungefähr ist Frederick Douglass hier angeführt. Er ist selbstverständlich nicht der Erste, der auf die besondere Wirkmächtigkeit von Bildern verweist und ebenso wenig geht die Erkenntnis, dass Bilder älter sind als Schrift, auf ihn zurück. Douglass ist hier wichtig, weil sein großes humanitäres und politisches Anliegen eine Bevölkerungsgruppe betraf – vor allem die Sklaven im Süden Nordamerikas und die African Americans im Norden, die verglichen mit der „weißen“ Mehrheit wenig Zugang zu Schrift und Bildern hatten, aber gleichwohl in Texten und Bildern begegnen. Diesen Gedanken aufnehmend, ist es notwendig, dass die Geschichte der Sklaven, überhaupt jene von marginalisierten Gruppen, auch auf andere Quellen zurückgreift als auf schriftliche. Es gilt die Quellen, in denen Sklaven erwähnt oder gezeigt werden, dahingehend zu analysieren, die Abgebildeten eben nicht nur als passive Objekte der Repräsentation, sondern als aktive Teilnehmer und Teilnehmerinnen im Prozess der Bildwerdung zu betrachten, so gering dieser Eigenanteil auch im Einzelfall gewesen sein mag. Wenn das Mensch-Sein sich – um wieder Douglass aufzugreifen – auch über die Fähigkeit des Bildermachens definiert, dann ist Menschheitsgeschichte auch die Geschichte von Bildern und dem, was Menschen mit Bildern machen und wie sie in Bildern erscheinen. Letzteres ist deswegen wichtig, weil Menschen eben nicht nur Bilder erzeugen, sondern häufig auch in ihnen repräsentiert sind. Fotografie, die einen wichtigen Aspekt in Douglass’ Vortrag darstellte, ist eine besondere Art zur Bilderzeugung, da sie auf spezifische Weise stets mehr von den Objekten zeigt, als ein Fotograf beabsichtigen oder kontrollieren konnte.⁴ Zudem ist Fotografien eine besondere Beziehung zu den abgebildeten Objekten eigen, welche als „indexikalische“ bezeichnet wird: Was vor der Kamera zu sehen war, ist auch im Bild wiedergegeben, unter der Voraussetzung, dass keine größeren Manipulationen vorgenommen worden sind. Damit sind Fotografien immens wichtige Zeugnisse der Vergangenheit und entfalten ein spezifisches historisches Narrativ, welches weit mehr ist als die Reproduktion des materiell Gewesenen. Erzeugen Bilder aber auch andere (historische) Narrative? Um diese Frage beantworten zu können, gilt es zunächst zu klären, ob und was Bilder überhaupt

 Zum grundsätzlichen „Mehr“ des Bildes vgl. exemplarisch Bredekamp, Theorie des Bildakts, S. 21.

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erzählen.⁵ Bilder zeigen, machen sichtbar, betonen Visuelles; sie sind in der überwältigenden Mehrzahl nicht zufällig oder unbewusst entstanden, sondern dienen kommunikativen Zwecken – sie sollen etwas mitteilen. Sie tun dies durch verschiedene technische und ästhetische Mittel, die potenzielle Betrachter mit dem Sehsinn erfassen und anschließend mit ihrem Wissen verknüpfen. Daher ist es wichtig, die spezifische Form des Bildes zu berücksichtigen – mit verschiedenen Techniken (Zeichnung, Grafik, Malerei, Fotografie) verknüpfen sich auch unterschiedliche Abbildungsmöglichkeiten und Rezeptionsweisen. Die Botschaften können einfach (etwa ein Piktogramm), aber auch sehr komplex sein (z. B. frühneuzeitliche Allegorien). Ferner sind sie häufig mit Hinweisen versehen, was zu sehen sei und welcher Sinn mit ihnen ausgedrückt werden soll. Diese Hinweise können konkret als textliche Angaben im Bild (Ikonotexte) oder als Bildunterschrift oder Legende am Bild angebracht sein. Zudem bietet der engere Kontext ihrer Präsentation (der Ort und der Zeitpunkt, an dem sie begegnen) einen Schlüssel ihrer möglichen Bedeutungen. „Mögliche Bedeutungen“ ist hier bewusst im Plural formuliert, denn auch wenn Bilder oft bestimmte Intentionen der Produzenten und Verbreiter ausdrücken sollen, ist keineswegs sichergestellt, dass genau diese Intentionen von den Betrachtern auch erkannt werden. Neben den intendierten Bedeutungen vermitteln Bilder auch nicht-intendierte Botschaften, und genau das macht ihre Polysemie aus. Dazu nur einige knappe Hinweise: Erstens sind die verwendeten technischen und ästhetischen Mittel sowie dargestellte Objekte mit Bedeutungen verbunden, die den Produzenten und zeitgenössischen Verwendern nicht bewusst sein müssen. Zweitens offenbaren sie – nach Erwin Panofsky – ein grundsätzliches Verhalten zur Welt,⁶ welches nicht im Vordergrund der kommunikativen Absicht stand. Drittens verschieben sich Bedeutungen, wenn sich der Kontext ändert und/oder die analytische Herangehensweise das Bild „gegen den Strich“ betrachtet. Was Douglass 1861 andeutete, ist 150 Jahre später u. a. durch ausgedehnte Überlegungen im Zuge des Iconic Turn oder Pictorial Turn theoretisch durchdrungen: Bilder sind aktive Teilnehmer am Diskurs, können Handeln beeinflussen und auslösen (Bildakt) – oder eben auch nicht. Da sie anders kommunizieren als vergleichbare Aufzeichnungssysteme, sind sie einerseits anders zu analysieren, andererseits vermitteln sie auch Anderes oder zumindest auf andere Weise.

 Hierzu ausführlich: Jens Jäger: Überlegungen zu einer historiographischen Bildanalyse. In: Historische Zeitschrift 304 (2017), S. 655 – 682.  Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst [1932]. In: Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme. Hrsg. von Ekkehardt Kaemmerling. Köln 1979 (Bildende Kunst als Zeichensystem Bd. 1), S. 200.

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Betrachter erhalten „unabdingbar mehr als nur den Rekurs [ihrer] Vorstellungen und Imaginationen“, wie es Horst Bredekamp ausgedrückt hat.⁷ Dass Bilder Materialien der Geschichtsforschung sind, wurde früh formuliert, etwa von Johann Gustav Droysen. Dass sie besonders wichtige Quellen darstellen, wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert indes eher von Kulturhistorikern erwähnt, die – wenn man so will – an den Randbereichen der etablierten Geschichtswissenschaft arbeiteten: Karl Lamprecht, Jacob Burckhardt, Eduard Fuchs, um nur einige aus dem deutschen Sprachraum zu nennen. Nun ist es ein zentrales Moment der Moderne, dass sich nicht nur die Möglichkeiten des Bildermachens ausweiteten, sondern auch die Vielfalt und Zugänglichkeit zu Bildmedien quantitativ zunahm. Kurz: immer mehr Menschen erzeugten Bilder, immer mehr Menschen wurden Gegenstand von Bildern – gerade auch solche, von denen keine anderen Spuren hinterlassen sind. Gerhard Paul⁸ hat diese Entwicklung vor allem für das 19. und 20. Jahrhundert nachgezeichnet (ähnliche Gedankengänge finden sich aber auch bei anderen Historikerinnen und Historikern).⁹ Er geht davon aus, dass sich ein neuer Typus etablierte – der visuelle Mensch, der zunehmend mediale Realitäten als Grundlage seines Weltbildes und damit seines Denkens und Handelns nahm. Daher muss, so lässt sich der Gedankengang verfolgen, die visuelle Kultur in ihrer Gesamtheit als prägend für Gesellschaften des (späten) 19. und 20. Jahrhunderts angenommen werden. Hier lässt sich einwenden, dass die visuelle Kultur auch vorher mitprägend für gesellschaftliche Entwicklungen gewesen ist. Entscheidend für die vergangenen zwei Jahrhunderte ist aber, dass eben auch weit mehr Menschen als Bilderproduzenten, -gegenstände, und -rezipienten angenommen werden müssen, die durch ihr „visuelles Verhalten“ (wie ich es nennen möchte) geprägt sind und die dadurch auch sämtliche historische Prozesse mitbestimmen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass gerade auch die Präsenz im Bild und vor dem Bild im historischen Narrativ Platz finden muss, und das nicht nur in Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. Das gilt gerade vor dem Hintergrund, dass ja Bildquellen teils auch deswegen wiederentdeckt wurden, weil in der Forschung das Bedürfnis entstand, auch jene Akteure zu fassen, von denen eben keine oder kaum Schriftquellen berichten. Stichworte: Alltagsgeschichte, Arbeitergeschichte, neue Kolonialgeschichte.

 Bredekamp, Theorie des Bildakts, S. 21. An anderer Stelle betont Bredekamp, dass „die Welt kaum angemessen begriffen werden kann, wenn die Frage der Bilder nicht geklärt ist.“ Bredekamp, Theorie des Bildakts, S. 15.  Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel. Göttingen 2016.  Z. B. Christian Delporte [u. a.] (Hrsg.): Quelle est la place des images en Histoire? Paris 2008; Christine Brocks: Bildquellen der Neuzeit. Paderborn 2012.

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Ebenso bewirkte das steigende Interesse an langfristigen, kollektiven Prozessen, dass serielle bzw. Massenquellen stärker in den Blick gerieten. Fragen wir also danach, worin die Unterschiede der Narrative bestehen können. Diese Bemerkungen möchte ich mit zwei Beispielen untermauern. Sie sollten zeigen, dass Bilder eigenständige Narrative entfalten – auch gegen Texte. Und damit soll auch gezeigt werden, dass auch ohne Texte historische Narrative möglich sind, die jenen Präsenz gibt, die scheinbar „schriftlos“ sind bzw. von denen oder über die eine schriftliche Überlieferung nicht (mehr) vorhanden ist. Der Vollständigkeit halber sei auch noch erwähnt, dass Bilder Details enthalten, die zur Zeit der Herstellung derart selbstverständlich waren, dass sie im Diskurs nicht verbalisiert oder thematisiert wurden, etwa bezüglich der materiellen Kultur. Um dieses weiter auszuführen, wenden wir uns zwei Beispielen zu. Im Rahmen neuer Kolonialgeschichte ist seit etwa zwei Jahrzehnten ein Umbruch in der Forschung zu beobachten: zum einen bedingt durch die Rezeption der Postcolonial Studies, zum anderen durch den Visual Turn vorangetrieben. Vor allem galt und gilt es, die Perspektive der Kolonialisten zu verlassen, von denen die meisten der zugänglichen Quellen stammen. In den Akten „sprechen“ Kolonialpioniere, Beamte, Händler, Missionare, zuweilen Siedler und Forscher, häufig Angehörige des Militärs, selten jedoch kommt die andere Seite zu Wort – jedenfalls außerhalb kolonialer Strukturen. Gleiches gilt auch für die bildliche Überlieferung, namentlich für die Fotografie. Lange Zeit wurde sie vor allem als Instrument kolonialer Herrschaftspraktiken angesehen, die unter dem Deckmantel „objektiver“ Aufzeichnung des Sichtbaren das Metanarrativ von den überlegenen Kolonisatoren und den in jeder Beziehung unterlegenen Kolonisierten bestätigen sollte. Freilich wurden auch hier schon Zwischentöne oder besser -blicke wahrgenommen. Doch erst in neuerer Zeit werden die Fotografien aus kolonialen Kontexten dahingehend analysiert, wie weit sie Bedeutungsüberschüsse enthalten, die Hinweise auf Sichtweisen, Selbstbild und Handlungsmöglichkeiten der Kolonisierten geben können. Das setzt freilich voraus, dass – im Falle von Darstellungen von Personen – den Menschen vor der Kamera (ein Rest von potenzieller) Autonomie zugestanden wird. In der Mehrzahl von Aufnahmesituationen darf davon ausgegangen werden, dass dies so ist. Selbst unter Bedingungen zwangsweiser Abbildung verbleibt ein Rest von Handlungsmacht bei den Personen vor einer Kamera – mit der höchst formalisierten erkennungsdienstlichen Fotografie als Ausnahme. Jedenfalls ist das Bildergebnis in seiner Gesamtheit von den Aufnehmenden nur begrenzt allein zu bestimmen. Denn anders als in der schriftlichen Überlieferung ist der Anteil des kolonialen Raumes und der Abgebildeten stets sichtbar – wie stark dies auch immer vor einer Kamera inszeniert worden ist.

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Die Beispiele sind jeweils Fotografien aus der Zeit um 1900. Im ersten, ausführlicher dargestellten Beispiel geht es um Deutsch-Südwestafrika, genauer um Porträts der politisch wichtigsten Persönlichkeit der Herero um diese Zeit, Samuel Maharero. Das zweite Beispiel behandelt die afroargentinische Minderheit in Bildmedien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In beiden Fällen steht im Vordergrund, dass gerade Bilder – hier Fotografien – als Quellen Anderes berichten können als die zeitgenössisch ihnen beigegebenen Texte. Dazu gehört schon, dass Fotografien die Existenz von Personen und Dingen nachweisen, die andernorts nicht erwähnt werden. Sie verweisen aber auch darauf, was gesellschaftlich „sichtbar“ war und damit im zeitgenössischen Diskurs seinen Platz hatte. Räumliche Ordnungen werden ebenso greifbar wie symbolische Kommunikation, die zeitgenössische Vorstellungen vom äußeren Erscheinungsbild der Welt mitbestimmte, aber auch Deutungen der Welt enthielt – eben genau durch vermittelte ästhetische wie symbolische Zeichen. Nicht zu vergessen sind die Bezüge, die durch Zusammenstellungen von Bildern wie Zuschreibungen in beigefügten Texten hergestellt wurden. Zudem sind es die Bilder, die Aussagen über die abgebildeten Menschen ermöglichen, die in Textform nicht vorliegen und, was etwa die Körpersprache angeht, auch in keiner anderen Quellenart zu finden sind. Die Fotografien erlauben also einen Blick auf die Handlungsmöglichkeiten (Agency) der Abgebildeten, die das historische Wissen ergänzen, teils korrigieren und damit vervollständigen.

2 Samuel Maharero – Selbstbehauptung gegen Fremdzuschreibung Abbildung 1 zeigt drei Personen im Freien auf grasbewachsenem Grund vor einem Wagen mit Deichsel. Hinter dem Wagen erhebt sich ein dürrer Baum ohne Blattwerk. Der Himmel ist zeittypisch und durch die Aufnahmetechnik (längere Belichtungszeit) bedingt eher milchig grau, rechts sind Wolken zu erahnen. Die Zugtiere sind ausgespannt und befinden sich außerhalb des Bildraumes. Zwei Personen posieren in Militäruniformen; die Person links trägt eher Zivilkleidung, einen hellen breitkrempigen Hut, ein langes dunkleres Jackett mit einer Armbinde am linken Arm. Bei den beiden uniformierten Männern handelt es sich um einen Deutschen und einen Afrikaner, sie sind etwa gleich groß und die Körperhaltung ähnelt sich, jeweils der linke Arm ist angewinkelt und etwa hüfthoch in die Seite gestemmt. Die Fotografie findet sich im Bundesarchiv und wird dort auf ca. 1894– 1904

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Abb. 1: Anon., Theodor Leutwein, Kapitain Hendrik Witboi [sic]!, Samuel Maharero. Nach der Schlacht in Otjundu. Fotografie, s/w, ca. 1901 – 1903, wahrsch. Zentral-Südwestafrika (Namibia), Bundesarchiv-Bildarchiv (BArch), Bild 146-2011-0066.

datiert.¹⁰ Die abgebildeten Personen werden als Hendrik Witbooi (ca. 1830 – 1905), Kapitain der Nama, Theodor Leutwein (1849 – 1921), Gouverneur von Südwestafrika, und Samuel Maharero (1856 – 1923), Paramount Chief der Herero, identifiziert. Indizien an der Uniform Leutweins weisen darauf hin, dass dieser auf der Fotografie den Rang eines Obersten bekleidete und somit eine Datierung 1901 oder später anzunehmen ist, weil die Beförderung erst in diesem Jahr erfolgte. Da der Kampf der Herero gegen die deutsche Kolonialmacht im Januar 1904 ausbrach, dürfte die Aufnahme also zwischen 1901 und 1903 entstanden sein. Die drei Männer waren zum Zeitpunkt der Aufnahme verbündet und stellten die wichtigsten Repräsentanten der in Südwestafrika agierenden Gruppen dar. Witbooi hatte bereits eine Niederlage gegen die deutsche Kolonialmacht erlitten und war 1894 zu einem Schutzvertrag mit den Deutschen gezwungen worden, den er seitdem loyal einhielt. Bildimmanent kommt Leutwein die zentrale Stellung zu,

 Bundesarchiv-Bildarchiv (BArch), Bild 146 – 2011– 0066. Nach Bezeichnung dort lautet die Bildlegende: „Gouverneur L + Kapitain Hendrik Witboi! + Samuel Maharero. Nach der Schlacht in Otjundu“.

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räumlich näher an Leutwein befindet sich zwar Witbooi, aber Maharero erscheint durch Haltung und Uniform „dichter“ am deutschen Gouverneur und überragt diesen körperlich um einige Zentimeter.Witbooi steht aufrecht mit vor dem Bauch verschränkten Händen. Ohne tiefer in die Bildanalyse einzusteigen, lässt sich festhalten: Das Bild zeigt die drei Männer zwar in einem hierarchischen Verhältnis, verortet sie aber dennoch auf ähnlicher Ebene, auch kann angenommen werden, dass jeder vor der Kamera die ihm passendste Pose wählte. Abbildung 2 entstand ebenfalls vor 1904 und zeigt eine Schwarzweiß-Fotografie von Samuel Maharero zusammen mit einem weiteren Mann, der dicht hinter ihm steht. Es ist ein Doppelporträt, welches beide Männer im Freien zeigt. Sie stehen auf einem planierten Weg, der von Pflanzen gesäumt ist. Mahareros Pose ist selbstbewusst, er trägt europäische Kleidung, hat einen „Südwester“ auf dem Kopf und am rechten Handgelenk eine Peitsche/Gerte. Der Arm ist angewinkelt und an die Taille gestemmt. Die linke Hand ruht auf dem Oberschenkel. Am Oberarm ist eine Binde zu sehen, die offenbar dreigestreift ist. Der kleinere Mann hinter ihm ist ebenfalls europäisch gekleidet und trägt einen „Homburg“ oder Homburg-artigen Hut. Bildimmanent ist die vordere Person „wichtiger“ als die Person dahinter. Die Pose Mahareros erinnert an die Inszenierung der ersten Abbildung. Auch hier spricht wenig dafür, dass der Fotograf mit Überzeugungskraft oder gar Zwangsmitteln die Pose der fotografierten Personen bestimmt hat. Viel wahrscheinlicher ist die Selbstinszenierung der beiden Afrikaner vor der Kamera, freilich nach europäischem Muster. Über den Ort der Aufnahme lässt sich nur spekulieren,¹¹ ebenso über den Fotografen wie den Anlass der Aufnahmen. Mehr Klarheit herrscht über die zeitgenössische Verwendung: Nach dem Ausbruch des Aufstandes im Januar 1904 veröffentlichte der Verlag Franz Spenker (Hamburg) eine Postkarte mit einem kolorierten Ausschnitt des Doppelporträts (Abb. 3a). Da der Verlag um 1905 von Schwerin nach Hamburg umzog und die Adress-Seite der Karte geteilt ist (Abb. 3b), ist sie wahrscheinlich frühestens 1905 produziert worden sein.¹² Neben der Kolorierung, die durchaus einen authentischeren Seheindruck erzeugen sollte, aber auch dem Zeitgeschmack und wohl den Kundenbedürfnissen entsprach, fallen zwei Veränderungen auf: Erstens fehlt auf der Postkarte die Armbinde, sie ist wegretuschiert. Offensichtlich war es eine schwarz-weiß-rote Armbinde, die Maharero als Verbündeten des Kaiserreichs ausgewiesen hätte, sonst  Wahrscheinlich ist sie in Windhuk entstanden, dem einzigen Ort in Südwestafrika mit angelegten (öffentlichen) Gärten, vielleicht im Garten des Gouverneurssitzes.  Die Kaiserliche Postbehörde verfügte, dass Postkarten ab Februar/April 1905 eine geteilte Rückseite haben mussten, um als Postvertriebsstück anerkannt zu werden. Vgl. Felix Axster: Koloniales Spektakel in 9 x 14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich. Bielefeld 2014, S. 104 f.

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Abb. 2: Anon., Samuel Maharero und ein weiterer Mann, Fotografie, s/w, ca. 1903, wahrscheinlich Windhuk (Windhoek, Namibia).

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Abb. 3a: Anon., Verlag Franz Spenker (Hamburg), Samuel Maharero der feige Oberhäuptling der Hereros, Deutsch-Süd-West-Afrika, Fotografisch illustrierte Postkarte, koloriert, 1905 oder später, Vorderseite, Privatsammlung Jens Jäger.

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Abb. 3b: Anon., Verlag Franz Spenker (Hamburg), Samuel Maharero der feige Oberhäuptling der Hereros, Deutsch-Süd-West-Afrika, Fotografisch illustrierte Postkarte, koloriert, 1905 oder später, Rückseite, Privatsammlung Jens Jäger.

wäre sie nicht entfernt worden. Zweitens ist eine Bildlegende hinzugefügt (in rot): „Samuel Maharero / der feige Oberhäuptling der Hereros / Deutsch-Süd-WestAfrika“. Der Text versucht demnach eine bestimmte Interpretation des Bildes nahezulegen. Der ehemalige Verbündete wird herabgewürdigt, sein Verrat zwar nicht explizit erwähnt – das dürfte 1904/1905 gängiges Alltagswissen gewesen sein –, aber in jedem Fall geht es darum, den Gegner zu verunglimpfen. Bildimmanent indes hat sich wenig verändert. Noch immer ist Maharero als imposante Autoritätsperson repräsentiert. Die Selbstdarstellung entspricht der gängigen Herrscherikonografie im Kaiserreich und Europa insgesamt. Zahllose militärische und politische Führungspersönlichkeiten ließen sich so inszenieren, nicht zuletzt auch der 1905 abgesetzte und nach Deutschland zurückberufene Theodor Leutwein (Abb. 4). Die Schmähpostkarte auf Maharero transportiert ikonografisch immer noch den Herrschaftsanspruch des Chief der Herero und unterläuft auf diese Weise das beabsichtigte Narrativ. Unabhängig von der zeitgenössisch deutschen/europäischen rassistisch geprägten Sichtweise, die Afrikaner immer unterhalb der Europäer einordnete, ist das Bild selbst also kaum zwangsläufig auf dieses Narrativ beschränkt.

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Abb. 4: Atelier E. Bieber, Theodor Leutwein (in der Uniform eines Generalmajors), Fotografie, s/w, wahrscheinlich 1905. bpk; Studio Niermann; Atelier E. Bieber; Inventar Nr. Bb GP672; Bildnummer 10012266.

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Abb. 5: Anon., Samuel Maharero, Oberhäuptling der Herero beim Aufstande 1904, Buchabbildung, s/w, aus: Alexander Cormans, Aus der Geschichte der Schutztruppe für Südwestafrika, in: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens. […] 12 (1914).

Kaum zehn Jahre später begegnet die Fotografie, die Vorlage für Spenkers Postkarte war, erneut in einer Publikation (Abb. 5).¹³ Hier wird die Geschichte des Herero-Nama-Krieges erzählt – aus deutscher Sicht. In der Abbildung greift der Autor auf die ursprüngliche Schwarzweiß-Fotografie von Maharero und dessen Begleiter zurück, beschneidet die Ränder aber etwas anders. Maharero wird nunmehr als „Oberhäuptling der Herero beim Aufstande 1904“ bezeichnet. Auch wenn er Gegner war, so entsprechen die Bezeichnung als „Oberhäuptling“ und die Pose einander und es gibt keine weiteren (ab)wertenden Bezeichnungen. Auch legt der unmittelbare Ikonotext keine Entwürdigung nahe, stattdessen zeigt sich Maharero für den sehr aufmerksamen Betrachter eigentlich als potenzieller Verbündeter, trägt er doch gut sichtbar die (schwarz-weiß-rote) Armbinde. Angesichts der wachsenden politischen Spannungen in Europa 1913/1914 transportierte dieses Detail sicherlich eine Idee der prinzipiellen Treue der indigenen

 Alexander Cormans: Aus der Geschichte der Schutztruppe für Südwestafrika, 1914. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens. mit Originalbeiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten sowie zahlreichen Illustrationen 12 (1914), S. 181– 200.

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Bevölkerung mit den Kolonialherren und war daher 1914 durchaus opportun in einer deutschen Publikation. Wir können in diesem Bildnarrativ erkennen, dass die bildliche Grundaussage erhalten bleibt – unabhängig von den Deutungen, die je zeitgenössisch angeboten werden. Vor allem aus historischer Perspektive zeigt sich, dass Maharero in der Lage war, sich europäische Bilderpolitik zu eigen zu machen. Nicht nur Kleidung und Körperhaltung zeigen, dass Maharero sich die Formen imperialer Herrschaftsrepräsentation aneignen konnte. Möglicherweise war ihm sogar bewusst, dass die Armbinde in der Fotografie (Abb. 2) durch das helle Jackett seines Begleiters im Hintergrund besonders hervorgehoben wurde. Damit wären Kleidung wie Position des Mannes gegenüber dem Fotografen alles andere als zufällig. Man kann das – nach Homi Bhabah¹⁴ – Mimikry nennen, also als Adaption von Formen bezeichnen, die Maharero strategisch zur Verbesserung und Stabilisierung seiner eigenen Position vis-à-vis der Kolonialmacht, aber auch gegenüber der indigenen Bevölkerung einsetzte, war er doch mit Hilfe der deutschen Kolonialmacht in die Position des Paramount Chief gelangt.¹⁵ So unterstreicht das Bild seinen Herrschaftsanspruch und verortet Maharero auch in der kolonialen Metropole vom Anspruch her als annähernd gleichwertig, selbst wenn die zeitgenössischen Deutungen einem Afrikaner grundsätzlich Unterlegenheit zuschrieb und die Herrscherpose als (lächerliche) Anmaßung interpretiert haben mag. Vor 1904 jedenfalls legitimierte sich Maharero auch durch seine Selbstrepräsentation gegenüber den Kolonialherren, wie er gegenüber den Herero zeigte, dass seine Position dort anerkannt war. Das Bild entfaltet ein Narrativ, welches jenseits textlicher Zuschreibung und zeitgenössischer Deutungen eine eigene Geschichte zu entfalten vermag.

3 Afroargentinier – Unsichtbar? Diese Minderheit wurde in den zeitgenössischen Medien und im entstehenden nationalen Narrativ als im Verschwinden betrachtet. Die Historikerin Vanessa Höse fasst zusammen, dass diese Minderheit auf zweierlei Weise zum „Verschwinden“ gebracht werden sollte: Einerseits wurde sie in Texten vor allem als sozial marginal markiert und weniger als ethnisch unterscheidbar dargestellt. Andererseits wurde behauptet, dass sich die äußeren Merkmale der Afroargenti-

 Vgl. hierzu Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, S. 51.  Vgl. Horst Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien. 5. Aufl. Paderborn 2004, S. 112.

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nier alsbald völlig verlieren würden.¹⁶ Gegen beide Thesen spräche jedoch die Sichtbarkeit dieser Minderheit gerade in den Bildern, die in der zeitgenössischen Magazinpresse veröffentlicht wurden. Die erste Abbildung (Abb. 6) stammt von 1905 und ist in der wichtigen argentinischen Illustrieren, Caras y Caretas, erschienen.¹⁷ Sie illustrierte eine Reportage mit dem Titel Gente de Color und zeigt ein tanzendes Paar offenbar während einer Veranstaltung. Im Hintergrund befinden sich weitere Personen, von denen der Mann ganz links offenbar auch ein Afroargentinier ist. Dunkler Anzug und blankgeputzte Schuhe des Mannes sowie das lange Abendkleid der Frau fügen sich problemlos in den Kleidungsstil der anderen abgebildeten Männer ein. Die Aufnahme entstand in einem Innenraum, der zwar kaum genauer identifizierbar ist, aber Anzeichen festlicher Dekoration an der Wand vermuten lässt. Ambiente und Kleidung identifizieren die Personen als zur bürgerlichen Schicht gehörig.

Abb. 6: Anon., Flirt, Fotografie s/w, 1905, Buenos Aires, aus: Caras y Caretas (1905).

Die dazugehörige Reportage des Autors Juan José Soiza Reilly (1880 – 1959) hebt ganz darauf ab, dass die afroargentinische Minderheit am Verschwinden sei und gleichsam in der argentinischen Gesellschaft aufgehen würde. Zwar drückt er auch einige rassistische Positionen aus, aber es geht doch mehr um das Aufgehen der Minderheit in der „weißen“ argentinischen Mehrheitsgesellschaft. Insgesamt

 Vanessa Höse: Wie die Anderen leben. Die Soziale Frage in der argentinischen Magazinpresse (1900 – 1920). Bielefeld (im Druck; Verweise beziehen sich auf die Seitenzahlen in dem freundlicherweise zur Verfügung gestellten Manuskript), S. 35 f.  Höse, Wie die Anderen, S. 39 f.

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zeigt sich aber in den Bildern eine durchaus lebendige, keineswegs verschwindende Minderheit. So spiegelt die Abbildung auch eine – wenn man so möchte – selbstständige Identitätspolitik der afroargentinischen Mittelschicht, die sich hier als erfolgreich und vital zeigt. Im Übrigen dabei auch, ganz gegen zeitgenössische ethnische Zuschreibungen an Afrikaner, als zivilisiert und integriert. Zwei weitere Beispiele aus der argentinischen illustrierten Presse zeigen weitere Angehörige der afroargentinischen Minderheit. Der 1916 im Magazin Fray Mocho vorgestellte Gepäckträger (Abb. 7) wie der im selben Jahr in Caras y Caretas abgebildete Schuhputzer (Abb. 8) – sichtbar Afroargentinier – werden in den zugehörigen Reportagen aber kaum bezüglich ihrer Ethnizität markiert.¹⁸ Der Gepäckträger wird in der Bildunterschrift als argentino bezeichnet. Der Schuhputzer – bis auf seine Blindheit – völlig ohne Bezug auf sein Äußeres vorgestellt.¹⁹ Vielmehr geht es hier um soziale Marginalisierung – Schuhputzer, Gepäckträger; das sind „kleine“ Leute. Sie arbeiten ein Leben lang, bleiben aber doch am Rande der Gesellschaft. „Unsichtbarmachung“ von Afroargentiniern ist in den Visualisierungen der zeitgenössischen argentinischen Illustrierten eigentlich weniger auszumachen – auch wenn in den Texten und Deutungen das Verschwinden geradezu herbeigeschrieben wurde. Vielmehr zeigen [d]ie Repräsentationen von AfroargentinierInnen in der Magazinpresse, dass die These des Unsichtbarmachens und -werdens [wie sie auch in der gegenwärtigen historischen Forschung begegnet, Zusatz des Verfassers] ebenso wie das Scheitern afroargentinischer Identitätspolitiken nur eingeschränkt zutrifft. Sie waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht bereits aus dem nationalen Gedächtnis ausgelöscht, sondern traten in den verschiedenen Spielarten biopolitischer Repräsentationsstrategien in den zirkulierenden Zeitschriftenmedien hervor und verursachten zugleich Brüche und Risse im hegemonialen Diskurs des „weißen Argentinien“²⁰

So zeigt sich, dass die Identitätspolitik des „weißen Argentinien“ nicht-weiße Argentinier zwar versuchte zu marginalisieren, und dies vor allem über soziale Differenz und dem Versuch der Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft, damit aber gleichzeitig diesen Versuch unterlief, indem im Bild die Existenz afroargentinischer Individuen immer wieder bestätigt wurde. Auf diese Weise vermitteln die Bilder ein anderes Narrativ von der argentinischen Gesellschaft um 1900 als die Texte, was von Vanessa Höse auch empirisch nachgewiesen ist. Damit

 Höse, Wie die Anderen, S. 381.  Höse, Wie die Anderen, S. 384.  Höse, Wie die Anderen, S. 396.

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Abb. 7: Anon., Emilio Vargas, 84-jähriger Argentinier, seit 40 Wintern Gepäckträger am Bahnhof Retiro [Ausschnitt], Fotografie, s/w, 1916, Buenos Aires, aus: Fray Mocho (1916).

bestätigen sie durchaus das Gegenteil des in Texten Behaupteten, belegen die Existenz einer angeblich „verschwindenden“ Gruppe. Sie zeigen die Vielfalt ihrer Lebensformen und sind als Ausdruck von Handlungsmacht (selbst wenn diese zeitgenössisch sozial und gesellschaftlich beschränkt war) lesbar. Zudem sind die Bilder inzwischen auch Anknüpfungspunkte gegenwärtiger afroargentinischer

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Abb. 8: Anon., Der blinde Cabrera poliert die Stiefeletten von Doktor Benito Villanueva, Fotografie, s/w [Ausschnitt], 1916, Buenos Aires, aus: Justo Hernandez: Vidas Heroicas. In: Caras y Caretas (1916).

Identitätspolitiken.²¹ Indem die Abbildungen in der illustrierten Presse eben nicht nur als Illustrationen der Texte gelesen werden, sondern eben daraufhin geprüft werden, was sie anders und zusätzlich zeigen, offenbaren sie, was in Texten entweder verschwiegen oder spezifisch gedeutet wurde. Es ist die Autonomie der Fotografien, die sie zu fruchtbaren Quellen neuer kultur- und sozialhistorischer Geschichtsschreibung macht. Was um 1900 als „Beweis“ für das Verschwinden afroargentinischer Gruppen herangezogen wurde, oder als Nachweis für deren Marginalität, lässt sich auch anders interpretieren, nämlich als Phänomen, das schon zeitgenössisch erklärungsbedürftig war. Gerade der Versuch, die Fiktion eines „weißen“ Argentinien zu untermauern, führte dazu, all jenes abzubilden und auch öffentlich in der Magazinpresse zu diskutieren, was dieser Vorstellung widersprach und dennoch mit ihr in Einklang zu bringen versucht wurde. Historikerinnen und Historiker, die das Phänomen der Afroargentinier untersuchten, legten u. a. Ansätze der Mikro- und Alltagsgeschichte zugrunde, die den Blick gegenüber Alltagsquellen und eben auch Bildern (Fotografien wie auch Karika-

 Höse, Wie die Anderen, S. 397.

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turen) öffneten.²² Das oftmals unbeachtete Material stellte das hegemoniale Narrativ der „weißen“ argentinischen Geschichte in Frage. Die Beispiele zeigen, dass Bilder – hier Fotografien – tatsächlich andere Geschichten erzählen als zeitgenössische Texte, selbst wenn die zeitgenössischen Texte oder spätere Forschungen sich mühten, eine bestimmte Deutung des Gezeigten nahezulegen. In der Darstellung Mahareros bleibt ganz deutlich die Herrscherpose sichtbar, die bis 1904 durchaus in das koloniale Konzept des Kaiserreiches passte und dann 1914 auch wieder opportun wurde. In der Darstellung afroargentinischer Menschen bleibt vor allem einmal belegt, dass diese existierten und in der Mehrheitsgesellschaft vielleicht sogar alltäglich präsent waren. Dem tat es auch keinen Abbruch, dass Marginalisierungen textlich nahe gelegt wurden. Die Bilder selbst zeigen dagegen keine „Marginalisierungen“, sie schufen und schaffen Präsenz und Sichtbarkeit gerade auch jener Menschen, die quellenmäßig kaum anders erfassbar sind. Dadurch sind sie aber ganz gewiss als historische Akteure und Akteurinnen erkennbar und nicht (mehr) aus der Geschichtsschreibung ausschließbar.

4 Konventionelle versus potenzielle Bedeutung In den Fotografien ist das Potenzial vorhanden, die zeitgenössischen Sinnzuschreibungen zu konterkarieren. Zwar mag eingewendet werden, dass diese gegenläufige Deutung der Bilder den damaligen Betrachtern kaum zugänglich gewesen ist, da deren Deutungshorizont weit stärker durch rassistische Sichtweisen und Stereotype geprägt war. Dennoch kann die Tatsache einer Herrscherpose bei Maharero auch den Deutschen der Kaiserzeit nicht entgangen sein, ebenso wie der argentinische Illustriertenleser mit der Präsenz der Afroargentinier konfrontiert wurde. Insgesamt folgt daraus aber auch, dass die Eigenheiten und Spezifika des Visuellen zumindest längerfristig als ebenso wirkmächtig angenommen werden dürfen wie textlich festgehaltene Umstände. Oder anders ausgedrückt: Der Versuch, Bildern durch Texte einen eindeutigen „Sinn“ zuzuschreiben wie beispielsweise bei der Fotografie von Samuel Maharero, ist immer nur ein Versuch. Das Bild selbst transportiert auch gegen diese Zuschreibungsversuche stets Botschaften, die zeitgenössisch „sichtbar“ waren, oft aber nicht verbalisiert wurden.

 Astrid Windus: Afroargentinier und Nation. Konstruktionsweisen afroargentinischer Identität im Buenos Aires des 19. Jahrhunderts. Leipzig 2005; Lea Geler: Andares negros, caminos blancos. Afroporteños, Estado y Nación Argentina a fines del siglo XIX. Rosario 2010.

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Genau diese Botschaften sind der historischen Analyse zugänglich. So gibt es das historische Narrativ der versuchten Sinnsteuerung wie das bildimmanente Narrativ, die in Spannung zueinander stehen. Aus historiografischer Sicht ist das bildimmanente Narrativ ebenso zu erschließen wie die zeitgenössische Sichtweise. Um anachronistischen Interpretationen vorzubeugen, ist es notwendig, das zeitgenössische Narrativ zu ermitteln, also sich der kontextabhängigen (möglicherweise) dominanten Lesart der Bilder anzunähern. Dazu ist es allerdings notwendig, bei der Analyse zunächst von der zeitgenössischen Sinnzuschreibung zu abstrahieren und bildimmanent vorzugehen:²³ Was wird von wem auf welche Weise in welchem Medium dargestellt? Welche ikonografischen Traditionen und Konventionen sind nachweisbar – dies ist anhand der Beispiele um Samuel Maharero exemplarisch vorgeführt worden. Erst dann gilt es gezielt den engeren Kontext genauer einzubeziehen: Wo wurde das Bild veröffentlicht und auf welche Weise wurde es durch Bildunterschrift, Ikonotext und Text interpretierend eingehegt? Der weitere Kontext ist ebenfalls zwingend notwendig: Was waren der historische Hintergrund, welche Grundannahmen, Wissensbestände, Stereotypen zeitgenössisch wirksam, die einem Bild einen zeitgenössisch wahrscheinlichen Hauptsinn zuschrieben? Wenn damit so etwas wie eine wahrscheinliche zeitgenössische Lesart oder besser: Sehweise des Bildes ermittelt werden kann, ist dies dennoch nicht die einzige oder stets dominante Botschaft, die vermittelt werden konnte. Dazu dienten die Hinweise auf Traditionen der Herrscherikonografie oder Konventionen bei der Repräsentation von (militärischen) Funktionsträgern und die Bemerkungen zu der bildlichen Präsenz derjenigen Minderheit in Argentinien, die zeitgenössisch gerne als nicht mehr vorhanden oder verschwindend markiert war. Nicht zuletzt geben die Fotografien aber auch immer etwas von der Agency der abgebildeten Personen preis. Die Bilder erzählen also eigene Geschichten, entfalten eigene Narrative. Erstens − und vor allem −, dass die dargestellten Personen real und existent waren oder ihnen zumindest Realität zugeschrieben wurde. Zweitens, dass sie die eigene Darstellungsweise mitbestimmen konnten. Damit lässt sich also das nachweisen, was den dargestellten Menschen in (post‐)kolonialen oder rassistisch motivierten Diskursen zeitgenössisch abgesprochen wurde – nämlich Agency. Drittens vermögen sie auch jene Narrative in Frage zu stellen, die mit ihnen belegt oder essenzialisiert werden sollten – und das potenziell schon zeitgenössisch, sofern sich zeigen lässt, dass die Ikonografie dieses schon damals zuließ.

 Hier sei nochmals auf die ausführliche Darstellung eines solchen Vorgehens bei: Jäger, Überlegungen, verwiesen.

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Viertens, dass gerade die visuelle Quelle nicht von Texten dominiert werden kann, da das bildeigene Narrativ andere Deutungen zulässt und Widersprüche hervorzuheben vermag. Fünftens erzeugen Bilder in Kombination mit Texten immer eine Spannung, da Bild und Text niemals völlig übereinstimmen können; das ist eine zentrale Position jeden bildwissenschaftlichen Ansatzes und daher auch in historiografischer Bildanalyse Conditio sine qua non.

Literatur Axster, Felix: Koloniales Spektakel in 9 x 14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich. Bielefeld 2014. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000. Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts. Frankfurt a.M. 2010. Brocks, Christine: Bildquellen der Neuzeit. Paderborn 2012. Cormans, Alexander: Aus der Geschichte der Schutztruppe für Südwestafrika, 1914. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens. Mit Originalbeiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten sowie zahlreichen Illustrationen 12 (1914), S. 181 – 200. Delporte, Christian [u. a.] (Hrsg.): Quelle est la place des Images en Histoire? Paris 2008. Douglass, Frederick: Pictures and Progress [Vortrag vom 3. 12. 1861]. In: The Frederick Douglass Papers. Bd. 3: Series One. Speeches, Debates, and Interviews: 1855 – 1862. Hrsg. v. John W. Blassingame. New Haven 1985. Geler, Lea: Andares negros, caminos blancos. Afroporteños, Estado y Nación Argentina a fines del siglo XIX. Rosario 2010. Gründer, Horst: Geschichte der deutschen Kolonien. 5. Aufl. Paderborn 2004. Höse, Vanessa: Wie die Anderen leben. Die Soziale Frage in der argentinischen Magazinpresse (1900 – 1920). Bielefeld (im Druck). Jäger, Jens: Überlegungen zu einer historiographischen Bildanalyse. In: Historische Zeitschrift 304 (2017), S. 655 – 682. Panofsky, Erwin: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst [1932]. In: Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme. Hrsg. von Ekkehardt Kaemmerling. Köln 1979 (Bildende Kunst als Zeichensystem Bd. 1), S. 185 – 206. Paul, Gerhard: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel. Göttingen 2016. Windus, Astrid: Afroargentinier und Nation: Konstruktionsweisen afroargentinischer Identität im Buenos Aires des 19. Jahrhunderts. Leipzig 2005.

Archive Bundesarchiv-Bildarchiv (BArch), Bild 146-2011-0066.

Muriel Favre

Hört zu!

Erkenntnispotenzial von Tonquellen für die Geschichte des 20. Jahrhunderts

1 Einführung Vom 23. bis zum 25. Mai 1952 versammelten sich die Schriftsteller der Gruppe 47 auf Einladung des Nordwestdeutschen Rundfunks in dessen Gästehaus in Niendorf an der Ostsee.¹ Paul Celan war unter den Gästen. Er las am Abend des zweiten Tages Gedichte vor, die einige Monate später in dem Band Mohn und Gedächtnis veröffentlicht werden sollten. Dem Ritual der Gruppe entsprechend, wurde dann das Vorgelesene durch die Zuhörer unter die Lupe genommen, ohne dass sich der Autor zu Wort melden durfte. Celans Rezitationsstil stieß auf heftige Kritik, weil er dem damals üblichen monotonen Stimm-Gestus nicht entsprach. „Ich habe laut gelesen“, beschrieb Paul Celan später die Situation in einem Brief an Gisèle Lestrange. „Aber Hans Werner Richter, der Chef der Gruppe, […] lehnte sich auf. Diese Stimme, im vorliegenden Falle die meine, die nicht wie die der anderen durch die Wörter hindurchglitt, sondern oft in einer Meditation bei ihnen verweilte, an der ich gar nicht anders konnte, als voll und von ganzem Herzen daran teilzunehmen – diese Stimme musste angefochten werden“.² Der Nationalsozialismus hatte sich durch eine zugleich autoritäre und pathetische Stimmführung ausgezeichnet: Die Stimme befahl, musste aber auch für die Sache einnehmen. Diesen autoritativen und appellativen Habitus galt es nach 1945 zu vergessen. In vielen Dichterlesungen herrschte eine Stimmmonotonie, die laut Cornelia EppingJäger „der unausgesprochenen Maxime folgte, man könne sich dadurch am sichersten vom politischen Pathos der NS-Stimmen distanzieren, dass man jegliches Pathos unter Verbot stellt“.³ Ein solches Gebot kam für Paul Celan, so Ep-

 Ich danke Carsten Parré für seine Hilfe beim Verfassen dieses Textes.  Brief vom 31.5.1952, zitiert nach: Hans-Ulrich Wagner: Celan-„Sound“ und Mäzenatentum. Paul Celan und die Gruppe 47 zu Besuch beim Nordwestdeutschen Rundfunk. In: Die Lyrik der fünfziger Jahre. Hrsg. von Günter Häntzschel [u. a.]. München 2017, S. 281– 293, hier S. 288.  Cornelia Epping-Jäger: Der „unerlässlich ruhige Ton“. Umbauten der Stimmkultur zwischen 1945 und 1952. In: Formationen der Mediennutzung III. Dispositive Ordnungen im Umbau. Hrsg. von Irmela Schneider u. Cornelia Epping-Jäger. Bielefeld 2008, S. 77– 95, hier S. 88. https://doi.org/10.1515/9783110552201-014

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ping-Jäger weiter, einer Erinnerungsverweigerung gleich. Indem er am 24. Mai 1952 seine Gedichte mit einer Stimme vorlas, die keine neutrale Stimme zu sein vorgab, „[führte] er seinen Zuhörern […] unabweisbar vor Augen, dass die Erfahrungen derer, die ins Exil gingen, die in den Lagern überlebten, die ihre Nächsten durch die Shoah verloren, von denen der Mehrheit der Deutschen radikal geschieden waren und blieben“.⁴ Wegen dieses Streits um Celans Rezitationsstil ist das Treffen der Gruppe 47 in Niendorf in die Geschichte eingegangen. Wie Celan sich tatsächlich angehört hatte, wusste allerdings außer den damals Anwesenden niemand direkt. Rekonstruiert wurde der Vorfall mithilfe schriftlicher Zeugnisse: Zu Celans Brief an Gisèle Lestrange kommen die Erinnerungen Walter Jens’ hinzu, welcher ebenfalls in Niendorf anwesend war und in einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold 1976 festhielt: „Als Celan zum ersten Mal auftrat, da sagte man: ‚Das kann doch kaum jemand hören!‘, er las sehr pathetisch.Wir haben darüber gelacht, ‚Der liest ja wie Goebbels!‘, sagte einer. Er wurde ausgelacht“.⁵ In seiner 1988 erschienenen Autobiografie berichtete Milo Dor seinerseits von einer Bemerkung Hans Werner Richters, nach der Celan „in einem Singsang vorgelesen [habe] wie in der Synagoge“.⁶ Anfang 2017 wurden jedoch im Archiv des Norddeutschen Rundfunks Originaltonaufnahmen von Paul Celan genau aus der Zeit der Niendorfer Tagung wiederentdeckt: Nach der Tagung hatte Ernst Schnabel, der Intendant des damaligen Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), mehrere Autoren zur Aufnahme von Lesungen ins Hamburger Funkhaus eingeladen, unter ihnen Paul Celan, der am 28. Mai dreizehn seiner Gedichte las.⁷ Standen bisher lediglich Sekundärquellen zur Verfügung, ist also nunmehr mit den Einspielungen des NWDR eine Primärquelle vorhanden, die einen in die Lage versetzt, den „Celan-Sound“ aus dem Jahre 1952 zu hören. Hans-Ulrich Wagner hatte als einer der Ersten das Glück, sich die Tonaufnahmen anhören zu können. Zwar befand er sich in einer ganz anderen Situation als die Mitglieder der Gruppe 47. Er kam jedoch zu einem ähnlichen Urteil: Ihn frappierte, wie träumerisch die Rezitation klang. „Die hohe und helle Stimme entwarf lange Stimmbögen, der Vortragende dehnte einzelne Laute, Silben und Wörter, er setzte lange Sprechpausen.“⁸ Wagners Fazit: Erst die

 Epping-Jäger, Der „unerlässlich ruhige Ton“, S. 89.  Zitiert nach: Heinz Ludwig Arnold: Die Gruppe 47. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 76.  Milo Dor: Auf dem falschen Dampfer. Fragmente einer Autobiographie. Wien 1988, S. 214.  Vgl. Hans-Ulrich Wagner: Ein unerhörter, hymnischer Ton. Wiederentdeckte Tonaufnahmen zeigen, wie Paul Celan 1952 vor der Gruppe 47 klang und warum er seine Kollegen so verstörte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) (3.4. 2017), S. 13.  Wagner, Ein unerhörter, hymnischer Ton.

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Tonaufnahmen erlaubten es, die Auseinandersetzungen auf dem Treffen der Gruppe 47 „richtig [zu] verstehen“.⁹ Niemand wird das 20. Jahrhundert als schriftlose Vergangenheit bezeichnen wollen. Im Gegenteil: Zeithistoriker stehen eher vor dem Problem, zu viele schriftliche Quellen zur Verfügung zu haben. In Bezug auf den Umfang staatlicher Überlieferungen hat man z. B. ausgerechnet, dass „die Akten des Board of Trade, die in England während des Zweiten Weltkrieges entstanden sind, würde man sie auf Regalen nebeneinander reihen, genau die gleiche Länge hätten wie die gesamten Archivalien zur englischen Geschichte von der normannischen Landung bis zum Jahre 1900“.¹⁰ Das 20. Jahrhundert zeichnet sich aber auch durch das Vorhandensein neuartiger Quellengattungen aus, wie Film- und Fernsehaufnahmen auf der einen und Ton- und Rundfunkaufnahmen auf der anderen Seite. Nicht selten hat man es mit hybriden Quellenkorpora zu tun: Schriftquellen mögen auf den ersten Blick entscheidend sein, zusätzlich existieren jedoch weitere Quellengattungen, die sich ebenfalls als relevant erweisen können. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf eine der nichtschriftlichen Quellengattungen der Zeitgeschichte, nämlich Tonquellen. Darunter versteht er ausschließlich gesprochene Tonaufnahmen mit zeitgeschichtlichem Inhalt, lässt also Musik- und Geräuschaufnahmen sowie Wortaufnahmen mit künstlerischen Inhalten (Rezitationen, Lesungen, Hörspiele usw.) außer Betracht. Grundsätzlich sollte zwischen Rundfunk- und Tonaufnahmen unterschieden werden. Bei Ersteren handelt es sich um Rundfunksendungen oder Sendebeiträge, Letztere waren nicht zu Ausstrahlungszwecken gedacht und wurden nicht von Rundfunktechnikern verantwortet. Ziel ist es, die Erkenntnismöglichkeiten von Tonquellen für die Geschichte des 20. Jahrhunderts vorzuführen. Was bieten sie, was Schriftquellen nicht bieten? Eine erste Antwort – in Bezug auf den Streit um Paul Celans Rezitationsstil auf der Tagung der Gruppe 47 im Jahre 1952 – liefert Hans-Ulrich Wagner: Tonquellen fördern das emotionale Nachvollziehen eines Geschehens, das Sich-Einfühlen, Sich-Hineinversetzen in dieses Geschehen. Hören ist keine intellektuelle Leistung, sondern eine sinnliche Erfahrung, man hört und wird im Intimsten herausgefordert. Und wir wissen ja, wie stark historisches Denken auf affektiven Eindrücken beruht. Es ist allerdings nötig, es nicht dabei zu belassen und einen Schritt weiterzugehen. Im Folgenden werden drei Arbeitsfelder umrissen, in denen es Tondokumente auf eine je andere Art und Weise ermöglichen, historische Er Wagner, Ein unerhörter, hymnischer Ton.  Hans Günter Hockerts: Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 29 – 30 (1993), S. 3 – 19, hier S. 7.

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kenntnisse zu gewinnen: Sie können nach einem dokumentarischen Modell zur Kontrolle und gegebenenfalls zur Berichtigung des Inhalts einer Rede eingesetzt werden. Sie regen zu neuen Hypothesen an, ja können gar zu neuen Erzählungen führen. Besonders in diesem Fall verändern sie das Handeln des Historikers und sind ein Instrument mehr, um den Stein zu meißeln. Will man schließlich die mediale Dimension von Politik untersuchen, stellen Hörfunksendungen für die Zeit bis ca. 1960 die Hauptquellen dar.

2 Mehrwert von Tonquellen bei Editionen und Dokumentationen Für die Arbeit des Historikers grundlegend sind kritische Editionen, welche die Überlieferungsgeschichte eines Werkes rekonstruieren und auf bewusste oder unbewusste Abweichungen zwischen den verschiedenen Fassungen dieses Werkes aufmerksam machen. Kritische Editionen beruhen in der Mittelalterlichen Geschichte auf der Untersuchung von Handschriften. In der Neuesten Geschichte, in der man vor allem mit Editionen von Reden zu tun hat, werden Manuskripte und Typoskripte sowie die Texte, die im Nachhinein in der Presse und in zeitgenössischen Redesammlungen veröffentlicht wurden, herangezogen. Hat der Politiker im Rundfunk gesprochen, sind die überlieferten Tonmitschnitte ebenfalls zu berücksichtigen. In diesem Fall werden die Tonquellen nach einem dokumentarischen Modell ausgewertet: Es wird ermittelt, was über den Äther ging. Meistens wird man zwischen den verschiedenen Fassungen einer Rede lediglich stilistische Abweichungen ausmachen. Diese sind kaum beachtenswert. Man weiß z. B. bei den stenografischen Protokollen von Reichstags- und Bundestagssitzungen, dass es sich um redigierte Fassungen handelt. Die Parlamentsstenografen nehmen bei der redaktionellen Bearbeitung ihrer Mitschriften grammatische und stilistische Änderungen an den Texten vor; die jeweiligen Redner haben das Recht, die überarbeiteten Fassungen einzusehen und gegebenenfalls zu korrigieren, allerdings darf die Bearbeitung Sinn und Inhalt sowie den individuellen Sprachgebrauch der jeweiligen Abgeordneten nicht verändern. Wie wertvoll Tonquellen für den Zeithistoriker dennoch sind, zeigt sich in den Fällen, in denen inhaltliche Abweichungen zutage gefördert werden können. Philippe Pétains Rundfunkansprache vom 17. Juni 1940 ist ein erstes Beispiel dafür, Willy Brandts Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ ein zweites. Nach dem Sieg der Wehrmacht über Polen im Oktober 1939 und über Dänemark und Norwegen im April 1940 kam derjenige über die Niederlande, Belgien und Frankreich im Mai bzw. Juni 1940. Während die niederländischen und die

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belgischen Streitkräfte kapitulierten, entschied sich die französische Regierung unter Marschall Pétain für einen Waffenstillstand. Im Falle einer Kapitulation hätte der Kampf von den nordafrikanischen Kolonien aus fortgeführt werden können. Der Waffenstillstand sollte dagegen die Feindseligkeiten beenden und es Pétain und seinen Anhängern ermöglichen, unter deutscher Kontrolle eine neue Ordnung einzuführen. In einer Rundfunkansprache am 17. Juni 1940 bereitete Pétain die Franzosen auf die bevorstehende Unterzeichnung eines Waffenstillstandsvertrags vor. „Mit schwerem Herzen muss ich Ihnen heute mitteilen, dass wir den Kampf beenden müssen“¹¹, sagte er zu ihnen. In den meisten Zeitungen am Tag danach sowie in allen Redesammlungen, die zur Zeit der Vichy-Regierung verbreitet wurden, stand allerdings: „Mit schwerem Herzen muss ich Ihnen heute mitteilen, dass wir versuchen müssen, den Kampf zu beenden.“¹² Der ursprüngliche Satz war wegen seiner Brisanz umformuliert worden. In der Nachkriegszeit galt lange der abgemilderte Satz als authentisch, eine in den 1970er-Jahren vermarktete Edition der Reden Pétains übernahm die ursprüngliche Fassung, doch erst als Jean-Claude Barbas 1989 eine kritische Edition dieser Reden – unter Einbezug der Rundfunkmitschnitte – vorlegte, stand fest, welche Worte Pétain tatsächlich gewählt hatte.¹³ Im zweiten Beispiel hat man es in der Textfassung mit einer Formulierung zu tun, die in der Tonfassung gar nicht vorhanden ist. Die Abweichung zwischen Text und Ton hat Bernd Rother herausgefunden, als er sich daranmachte, alle in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten überlieferten Beiträge mit und über Brandt zusammenzutragen.¹⁴ Der Satz: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, ist berühmt. Lange Zeit dachte man, Willy Brandt hätte ihn am 10. November 1989 auf der Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg gesprochen, die als Reaktion auf den Fall der Berliner Mauer organisiert worden war. So steht es jedenfalls im Geschichtskalender Archiv der Gegenwart, und so steht es auch im 1990 veröffentlichten Sammelband des Dietz-Verlags von Willy Brandts Reden zu Deutschland. Doch als Rother im Rahmen seiner Recherchen im Deutschen Rundfunkarchiv nach dem Tonmitschnitt der Kundgebung fragte und ihn sich dann anhörte, musste er feststellen, dass der fragliche Satz fehlt. Nachfolgende

 „C’est le cœur serré que je vous dis aujourd’hui qu’il faut cesser le combat.“  „C’est le cœur serré que je vous dis aujourd’hui qu’il faut tenter de cesser le combat.“  Vgl. Philippe Pétain: Discours aux Français. 17 juin 1940 – 20 août 1944. Bearb. von JeanClaude Barbas. Paris 1989, S. 15 – 53 u. S. 57 f.  Vgl. Bernd Rother: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – Oder: Warum Historiker Rundfunkarchive nutzen sollten. In: Timothy Garton Ash: Wächst zusammen, was zusammengehört? Deutschland und Europa zehn Jahre nach dem Fall der Mauer. Vortrag im Rathaus Schöneberg zu Berlin, 5. November 1999. Berlin 2001, S. 25 – 30.

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Recherchen ergaben, dass Willy Brandt ihn sehr wohl am 10. November 1989 verwendet hatte, jedoch nicht in seiner Rede vor dem Rathaus Schöneberg, sondern in zwei Interviews. Dass der Satz in der ersten Fassung der Redesammlung – die seitdem korrigiert worden ist – zu finden war, lag an Brandt selbst, der ihn laut dem damaligen Lektor des Dietz-Verlags in die Druckfahnen eintrug, obwohl er sich nicht mehr genau daran erinnerte, wo er ihn gesagt hatte.¹⁵ An dieser Stelle muss der Befund differenziert werden. Rundfunkmitschnitte erlauben es, festzulegen, was von einem Politiker gesagt und von den Zeitgenossen gehört wurde. Es sind wichtige Erkenntnisse, die einen Einfluss auf die Geschichtsschreibung haben. Über die Wirkung einer Rede sagen Tonquellen jedoch nichts aus. Die unmittelbare Wirkung hängt von den Rezeptionsbedingungen ab: Wurde durch die Mehrheit der Bevölkerung nicht die Rundfunkfassung, sondern die bereinigte Textfassung zur Kenntnis genommen, muss in der Analyse vor allem diese herangezogen werden. Ähnlich entscheidet die Fassung, die als gültig anerkannt wird, über die langfristige Wirkung der Rede. Die Auswertung der Tonquelle bringt eine neue Bewertung mit sich, indem sie die tatsächliche politische Position des Redners im Moment seines Auftritts dokumentiert. Die absichtlich oder irrtümlich verfälschte Textfassung verliert dennoch nicht an Bedeutung: Sie ist nunmehr als die Grundlage aufzufassen, auf der die Rede bis zur Richtigstellung des Inhalts gedeutet wurde.

3 Neue Fragestellungen und Interpretationsangebote 3.1 Die Stimme als Orientierungsmittel In jedem Sprachverkehr und dementsprechend auch bei Reden dient die Stimme als Orientierungsmittel. Aus dem akustischen Signalton filtert der Hörer drei verschiedene Typen von Informationen heraus: Wer spricht? Was wird gesagt? Wie wird etwas gesagt?¹⁶ Wie eine Rede von den Adressaten aufgenommen wird, wird ferner durch die Körpersprache des Redners (Pose, Mimik und Gestik) beeinflusst. Dieser Aspekt entgeht leider dem Historiker, der mit Tonquellen arbeitet – so, wie er bei Reden vor einem Massenpublikum oder bei Rundfunkansprachen aber auch den Zeitgenossen entging. Verlassen wir das dokumentarische Modell – also die Frage ausschließlich nach dem Was – und widmen wir uns darüber hinaus der  Vgl. Rother, „Jetzt wächst zusammen“, S. 28.  Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. Berlin 2001, S. 2.

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Frage nach dem Wer und nach dem Wie.¹⁷ Die Klangfarbe und der Akzent sind Teil der Identität eines Individuums. Während die Klangfarbe (Sopranstimme, tiefe Stimme, raue Stimme usw.) als spezifische Stimmqualität zu verstehen ist, verweist der Akzent auf die Gruppenzugehörigkeit. Nur für sich genommen, sind diese stimmlichen Indizes mit der ersten der oben genannten Fragen in Verbindung zu bringen: Sie verraten, wer spricht. Laut Ekkehard König und Johannes G. Brandt ist deshalb auf dieser Ebene die Stimme mit einer Kompetenz gleichzusetzen.¹⁸ Das Wie der gesprochenen Sprache – oder die Performanz¹⁹ – lässt sich über andere, prosodische Merkmale erfassen: die Tonhöhe, die Lautstärke, die Sprechgeschwindigkeit, die Pausenorganisation, die Betonung und die Intonation.²⁰ Ein Redner hat vielfältige Möglichkeiten, seinen Sprechausdruck bewusst zu gestalten und damit seine persönlichen Einstellungen deutlich werden zu lassen: Er kann bestimmte Wörter betonen, bei wichtigen Sätzen langsamer sprechen oder davor und danach innehalten, er kann sich bei ironischen Äußerungen für eine Intonation entscheiden, die dem wörtlichen Inhalt widerspricht usw. Zugleich aber kann derselbe Redner nicht verhindern, dass mit jeder Äußerung auch Informationen über ihn preisgegeben werden, die er lieber verheimlichte oder derer er sich nicht bewusst ist (Unsicherheit, Aufregung, niedergeschlagene Stimmung usw.). Es ist bekannt, dass für einen Psychoanalytiker der Ton, in dem sein Patient spricht, wichtiger sein kann als der Inhalt des Gesagten. Für den Historiker verhält es sich etwas anders: Erst in Verbindung zueinander erhalten die drei Parameter „Wer?“, „Was?“ und „Wie?“ Bedeutung. Folgt er einem kulturgeschichtlichen Ansatz, interessiert er sich nämlich nicht nur für die „harten Fakten“, sondern nimmt auch die Ebene ihrer kommunikativen Konstitution in den Blick.²¹ Konkret heißt das, dass in einem solchen Fall nicht nur festgehalten wird, dass am Tag X am Ort Y die Person Z eine Rede mit einem bestimmten Inhalt gehalten hat, sondern dass auch nach dem Zusammenspiel zwischen der Person des Redners

 Die semantisch-lexikalische und die rhetorische Ebene werden außer Acht gelassen. Eine gründliche Analyse der Redetexte unter diesem Blickwinkel ist zwar unerlässlich, jedoch spielt die Stimme hierbei noch keine Rolle.  Vgl. Ekkehard König u. Johannes G. Brandt: Die Stimme – Charakterisierung aus linguistischer Perspektive. In: Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Hrsg. von Doris Kolesch u. Sybille Krämer. Frankfurt a.M. 2006, S. 111– 129.  Vgl. König u. Brandt, Die Stimme.  Vgl. Ines Enterlein [u. a.]: Prosodische Merkmale als Indikatoren der Sprechereinstellung. In: Stimmlicher Ausdruck in der Alltagskommunikation. Hrsg. von Walter Sendlmeier u. Astrid Bartels. Berlin 2005, S. 9 – 38.  Vgl. u. a. Thomas Mergel: Kulturgeschichte der Politik, Version: 2.0. www.docupedia.de/zg/ mergel_kulturgeschichte_politik_v2_de_2012 (31.1. 2018).

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(Stimme als Kompetenz), der rednerischen Realisierung (Stimme als Performanz) und dem Inhalt der Rede geschaut wird. Stimmen die Botschaften auf allen drei Ebenen miteinander überein? Oder unterminiert vielleicht die eine Botschaft die anderen zwei? Mit welchen Konsequenzen für die Wirkung der Rede? Diese auf dem Hören einer Rede basierende Herangehensweise erlaubt es, Fragen zu stellen, zu denen man allein mit der Textfassung nicht kommt, und sie ist daher in der Lage, neue historische Erzählungen hervorzubringen.

3.2 Clara Zetkins Rede zur Eröffnung des Deutschen Reichstags am 30. August 1932 Dies soll am Beispiel der Rede veranschaulicht werden, die Clara Zetkin in ihrer Funktion als Alterspräsidentin zur Eröffnung des Deutschen Reichstags am 30. August 1932 hielt.²² Die Rede ist berühmt geworden, zum einen wegen des politischen Kontextes, zum anderen wegen ihres Inhalts. Die NSDAP war zum ersten Mal stärkste Fraktion: Sie hatte bei den Wahlen am 31. Juli 37,3 % der Stimmen erhalten, die SPD dagegen nur 21,6 %. Nach ihrer Eröffnungsrede musste Clara Zetkin deswegen das Amt der Reichstagspräsidentin an einen Nationalsozialisten, Hermann Göring, übergeben. Die kommunistische Parlamentarierin hätte sich, wie schon damals üblich, auf eine kurze, feierliche Ansprache beschränken können. Stattdessen verlas sie eine lange Rede, die als kämpferischer Mahnruf gegen den Faschismus verfasst worden war²³ und die sie provokativ mit dem Wunsch schloss, einst noch das Glück erleben zu dürfen, „als Alterspräsidentin den ersten Rätekongress Sowjetdeutschlands zu eröffnen“. Darauf reagierte die NSDAP-Fraktion mit eisigem Schweigen, weil Tumulte die Arbeitsunfähigkeit des Reichstags bewiesen und womöglich zu dessen Auflösung geführt hätten. Der Forschungsstand zu Clara Zetkins Rede erweist sich als höchst unbefriedigend. Für die marxistische Literatur symbolisiert Clara Zetkin die mutige

 Die Tonaufnahme der Rede liegt im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA [Frankfurt], KONF.664813), das Stenographische Protokoll ist unter www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w6_bsb00000138_00 033.html (bis www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w6_bsb00000138_00039.html) online abrufbar (31.1. 2018).  Laut Tânia Puschnerat las Clara Zetkin, welche gegen Ende ihres Lebens unter Aufsicht stand und der Zensur unterlag, nicht den ursprünglichen, von ihr selbst verfassten Text vor, sondern eine Fassung, in der manche Passagen der offiziellen kommunistischen Linie entsprechend umformuliert worden waren. Vgl. Tânia Puschnerat: Clara Zetkin: Bürgerlichkeit und Marxismus. Eine Biographie. Essen 2003, S. 387 f. u. 392.

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Gegnerin des Faschismus, die, obwohl krank und fast erblindet, an jenem 30. August 1932 nicht zögerte, noch einmal an die Front zu gehen. Die Genese dieser Interpretation lässt sich recht gut rekonstruieren. Sie beginnt 1934 mit einem Bericht, in dem eine „große politische bolschewistische Rede“ erwähnt wird. „Mit gleichmäßiger Stimme, mit nur seltenen, kurzen Pausen“, fährt der Autor fort, „spricht Clara Zetkin über die Millionen Arbeitslosen“.²⁴ 1949 referiert eine Zeitzeugin über die Eröffnung des Reichstags mit ähnlichen Worten: Die Genossin, erzählt sie, „war nun alt und fast völlig erblindet. Aus ihren Worten aber sprach genau derselbe Feuergeist wie in jüngeren Jahren […]. Die Worte sprudelten ihr nur so von den Lippen.“²⁵ Die ostdeutsche Biografin Luise Dornemann weicht 1974 kaum von dieser Schilderung ab: „Ihre ersten Worte sind mühsam geformt, kaum zu verstehen, dann aber gewinnt ihre Stimme Festigkeit, strafft sich ihre Gestalt. […] Das Haus hat ihr in atemloser Stille zugehört, eine dreiviertel Stunde lang; so groß ist die moralische Kraft, die von der Veteranin der internationalen Arbeiterbewegung ausgeht.“²⁶ Ihre Version übernimmt 1993 der französische Historiker Gilbert Badia: Clara Zetkin, schreibt er, hielt ihre Rede „mit anfangs kaum hörbarer Stimme, die sich jedoch allmählich festigte und leidenschaftlich wurde“.²⁷ In ihrer 2007 in einer Reihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienenen Dokumentensammlung spricht schließlich Florence Hervé von einer „beeindruckenden Rede“.²⁸ Aus der nichtmarxistischen Geschichtsschreibung ergibt sich ein uneinheitlicheres Bild. Man findet den Hinweis auf den Widerspruch zwischen der „geschwächt[en] und fast blind[en]“ Frau und einem „großen Auftritt“.²⁹ Dort ist aber auch von dem zutiefst misslungenen Auftritt einer „75-jährigen, schwerkranken Frau“ die Rede, „die von ihrem Fraktionskollegen Torgler gestützt werden musste und immer wieder den Überblick über ihre Rede verlor“.³⁰ Clara Zetkins Mut ist unbestreitbar, und über den Inhalt der Rede bestehen keine Zweifel. Wie aber erklärt sich die Diskrepanz zwischen der leidenschaftlich und sicher vorgetra-

 Michael Kolzow: Ein herrliches Leben. In: Clara Zetkin. Ein Sammelband zum Gedächtnis der großen Kämpferin. Moskau/Leningrad 1934, S. 111– 114, hier S. 112.  „Wir können diese Frau nicht vergessen“. Wilma Heckert erzählt von Clara Zetkin. In: Clara Zetkin. Leben und Lehren einer Revolutionärin. Hrsg. von Anneliese Bauch. Berlin 1949, S. 82.  Luise Dornemann: Clara Zetkin. Leben und Wirken. Ost-Berlin 1974, S. 18 f.  Gilbert Badia: Clara Zetkin. Eine neue Biographie. Berlin 1994, S. 272 (deutsche Übersetzung des französischen Originals).  Florence Hervé: Geliebt und gehasst: Clara Zetkin. In: Clara Zetkin oder: Dort kämpfen, wo das Leben ist. Hrsg. von ders. Berlin 2007, S. 7– 37, hier S. 36.  Vgl. Michaela Karl: Streitbare Frauen. Porträts aus drei Jahrhunderten. München 2013, S. 133.  Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag. Düsseldorf 2002, S. 433.

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genen Rede auf der einen und der erbärmlich anmutenden Performanz auf der anderen Seite? Eine Antwort wird man zunächst in zeitgenössischen Berichten suchen. Goebbels’ Tagebuch ist schnell beiseitegelegt, enthält es doch wie nicht anders zu erwarten nur Despektierliches über die KPD-Abgeordnete: „Plenum überfüllt. Die Zetkin keucht einen langen Sermon. Unwürdig und grotesk.“³¹ Wichtiger sind die Zeitungsartikel, obwohl auch sie weit davon entfernt sind, objektiv zu sein, und die Berichterstattung über Reichstagssitzungen stark von der politischen Position des jeweiligen Blattes abhängt. Alle drei ausgewerteten Zeitungen untermauern Thomas Mergels Darstellung. Die Vossische Zeitung berichtet von einer „mühsam vorgetragenen und mühsam anzuhörenden parteiagitatorischen Rede“.³² Die Frankfurter Zeitung erwähnt einen „beklemmend[en] Augenblick“, „weil der Anblick der Greisin, die nur noch von ungefähr zu dieser Welt zu gehören schien, das Gefühl erweckte, daß wir Zuhörer und Zuschauer einer peinlichen Sache entgegengingen“.³³ The Times verwendet beinahe die gleichen Worte: „The House can hardly have witnessed a stranger scene than that which followed“, steht dort. Frau Zetkin, „very old and ill“, „spoke for nearly an hour, and few of her hearers thought when she began that she would finish 500 of the 2000 words which the fanatism of Moscow had insisted that she should deliver“.³⁴ Die britische Zeitung würdigt gleichzeitig die innere Kraft Zetkins, die es ihr erlaubte, ihre Rede doch bis zum Ende zu halten. Noch steht sozusagen Aussage gegen Aussage, die marxistische gegen die nichtmarxistische. Um den gordischen Knoten zu lösen, bleibt nur noch eins: sich die Tonaufnahme anzuhören. Tondokumente produzieren Unmittelbarkeit und Präsenz. Die aufgezeichnete Stimme tritt für den toten Körper der Politikerin (oder im Falle Paul Celans: des Dichters) ein und macht diese (und diesen) wieder lebendig. Daher das Gefühl, in die damalige Situation hineinversetzt zu werden, den Abstand zum Untersuchungsgegenstand plötzlich überbrückt zu haben. Hinzu kommt jedoch, dass Urteile über eine Stimme subjektiv, ja stark sinnlich gefärbt sind. Wie Reinhart Meyer-Kalkus in Anlehnung an Roland Barthes anmerkt, gibt es „keine Stimmwahrnehmung, die nicht unsere Wertschätzung oder Ablehnung, Liebe oder Haß herausfordert, die nicht an unser Unbewußtes appelliert“.³⁵ Bei der Arbeit mit Tonquellen stellen persönliche, sinnliche Eindrücke

 Elke Fröhlich (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil 1. Aufzeichnungen 1923 – 1941, Band 2/II: Juni 1931–September 1932. München 2004, S. 353 (31. 8.1932).  Vossische Zeitung (31. 8.1932), Morgen-Ausgabe, S. 1.  Frankfurter Zeitung (31. 8.1932), 2. Morgenblatt, S. 1.  The Times (31.8.1932), S. 10.  Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste, S. 433.

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ein wichtiges Arbeitsinstrument dar. Sie dürfen nicht unterdrückt, sondern müssen vielmehr im Rahmen eines ersten Abhörprotokolls festgelegt und festgehalten werden. Danach allerdings gilt es, das Hören zu objektivieren. Dies geschieht durch das Variieren der Hörsituationen und das Erstellen mehrerer Abhörprotokolle: ohne Text und mit Text, ohne Kopfhörer und mit Kopfhörer, allein und im Kollektiv. Diese Vorgehensweise wurde bei Clara Zetkins Rede angewandt, und das Ergebnis lässt sich wie folgt zusammenfassen: Beim ersten Abhören der Tonaufnahme hört man vor allem eines, und zwar eine Frau, die sehr langsam und mit vielen, teilweise willkürlich gesetzten Pausen spricht, mit einer von Alter und Krankheit gezeichneten Stimme, eine Frau, die immer wieder stöhnt, sich immer wieder verspricht, der man immer wieder Worte zuflüstern muss, kurzum: eine Frau, die erschöpft wirkt und der es Mühe macht, ihren Text vorzulesen. Dies fällt umso mehr auf, als es im Saal absolut still ist. Die Stimme als Kompetenz (das Wer) und als Performanz (das Wie) steht im Gegensatz zum Inhalt (das Was). Beim weiteren Abhören kommt jedoch ein anderer Aspekt zum Vorschein. Man merkt, dass es Clara Zetkin trotz der großen körperlichen Anstrengung gelingt, kraftvoll zu intonieren und ihre Überzeugung zum Ausdruck zu bringen. Sie bringt in das Gesagte eine Dynamik, die ihre rednerische Erfahrung erkennen lässt. In gewisser Weise unterstützt der Vortrag doch den Inhalt der Rede. Aus der Analyse der Tonquelle kann man schließen, dass die zwei widersprüchlichen Bilder – einerseits die erschöpfte Frau, andererseits die unerschrockene Kämpferin – kein späteres Konstrukt durch die Literatur sind, sondern das Wesen Clara Zetkins in ihren letzten Jahren kennzeichneten.³⁶ Die Lage sieht dadurch etwas anders aus: Man hat es nicht mehr mit zwei entgegengesetzten Aussagen zu tun; vielmehr geht es nun darum, diese beiden Aspekte zu gewichten. Die eigene Wahrnehmung ist nicht an sich, sondern als Werkzeug zum Verständnis der Wahrnehmung durch die Zeitgenossen von Relevanz. Wenn also beim heutigen Abhören das erste Bild der erschöpften Frau überwiegt, so macht das die Interpretationen der Vossischen Zeitung, der Frankfurter Zeitung und der Times plausibler als jede andere. Auf die Frage, warum die Frankfurter Zeitung weitergeht und von einem „beklemmend[en] Augenblick“ und einer „peinlichen Sache“ spricht, wird man eine psychologische Antwort geben können. Ob gestern oder heute: Es kann in der Tat beklemmend sein, zu beobachten, was Alter und Krankheit aus einem Menschen machen. Im Reichstag, dem sie seit 1920 ange-

 Darauf macht auch Gilbert Badia aufmerksam, leider ohne Bezug auf die Rede vom 30. August 1932. Vgl. Badia, Clara Zetkin, S. 275.

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hörte, genoss Clara Zetkin lange Zeit einen „verschämten Respekt“³⁷, erstens, weil sie anders als mancher Genosse auf die Einhaltung der Regeln achtete, die die Kommunikation im Parlament bestimmten (wie z. B. die Höflichkeit unter Abgeordneten, aus welcher Partei auch immer), zweitens, weil sie eine hervorragende Rednerin war. Am 30. August 1932 wurde die Politikerin von vielen dagegen nur noch als ein Schatten ihrer selbst angesehen. In diesem Kontext nimmt Goebbels’ Einschätzung von Rednerin und Rede eine andere Bedeutung an. Mehr als um eine prinzipiell diffamierende Haltung vonseiten eines Gegners handelt es sich um eine von Vielen geteilte Reaktion („unwürdig“). Sie drückt aber auch ein Empfinden aus, das auf einen ganz anderen Grund hinweisen mag, warum diese Rede Clara Zetkins als Schlüsselmoment zu betrachten ist. Die KPD konnte die Tatsache, dass eine ihrer weiblichen Abgeordneten Alterspräsidentin des Deutschen Reichstags wurde, nicht ungenutzt lassen. Der Rang dieser Abgeordneten – eine Ikone des deutschen Kommunismus – sollte darüber hinaus eine besondere Sprengkraft hervorbringen. In Goebbels’ Augen erreichte das Unterfangen jedoch genau das Gegenteil: „Grotesk“ war Clara Zetkin, lächerlich, nicht ernst zu nehmen; trotz der kämpferischen kommunistischen Semantik und Rhetorik strahlte sie nichts Bedrohliches aus; vertreten durch eine solche Rednerin stellte die KPD keine Gefahr dar. Clara Zetkin wollte sich am 30. August 1932 ganz und gar in den Dienst ihrer Partei stellen. Dem entgegengesetzt muss gefragt werden, ob sie ihr nicht eher geschadet und das Überlegenheitsgefühl der Nationalsozialisten noch verstärkt hat.

4 Das 20. Jahrhundert als Hörfunk- und Fernsehzeitalter Die Aufnahme von Clara Zetkins Rede gehört einer Kategorie an der Grenze zwischen Ton- und Rundfunkaufnahmen an. Sie wurde von Rundfunktechnikern hergestellt, jedoch nicht zu Ausstrahlungs-, sondern allein zu Archivierungszwecken. In der Weimarer Republik ging keine einzige Reichstagssitzung über den Äther. Warum die Geschichte der jüngsten Vergangenheit ohne die Einbeziehung der audiovisuellen Medien nicht seriös zu schreiben ist, hat Thomas Lindenberger 2004 in einem Aufsatz erläutert: Die Zeitgeschichte sei nicht nur die „Epoche der Mitlebenden“, wie Hans Rothfels sie einst definiert habe, sondern auch, da dieses „Mitleben“ meistens massenmedial stattgefunden habe und immer noch statt-

 Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 107.

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finde, die Epoche der „Mithörenden“ und „Mitsehenden“.³⁸ Eine Zäsur markieren in Deutschland die frühen 1960er-Jahre: Damals wurde das Hörfunkzeitalter – das Zeitalter des Hörfunks als Leitmedium – durch das Fernsehzeitalter abgelöst. Wer die mediale Dimension von Zeitgeschehen im Allgemeinen und von Politik im Besonderen mitberücksichtigt, wird demzufolge für die Zeit bis 1960 eher Rundfunk- und für die Zeit nach 1960 eher Fernsehaufnahmen heranziehen. Mit anderen Worten: Anders als die Aufnahme von Clara Zetkins Rede haben Rundfunkaufnahmen einen immanenten Wert. Diverse schriftliche Quellen erlauben es, den Produktions- und den Sendekontext sowie die Rezeption zu rekonstruieren: Produktionsunterlagen, Programmzeitschriften, Hörerumfragen usw. Allein anhand der Tonquellen ist es jedoch möglich, den realitätskonstruierenden Charakter des Rundfunks zu untersuchen. Ein Beispiel dafür sind die Reportagen, die in der NS-Zeit anlässlich bestimmter Rundfunkereignisse ausgestrahlt wurden.³⁹ Die nationalsozialistische Rundfunkpropaganda lässt sich aus dem klassischen Blickwinkel der Verzerrung von Inhalten untersuchen. So wurde am „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 in den Reportagen, mit denen der Rundfunk die feierliche Eröffnung des neu gewählten Reichstags in der Potsdamer Garnisonkirche begleitete, kein einziges Mal erwähnt, dass weder die sozialdemokratischen noch die kommunistischen Abgeordneten anwesend waren, Erstere aus Protest, Letztere, weil sie bereits geflohen, in Haft oder im Untergrund waren. „Schöner, schöner Tag von Potsdam!“, ergötzte sich stattdessen der Hauptreporter, Eberhard Freiherr von Medem. Die Rundfunkpropaganda erschöpfte sich jedoch nicht in der Kontrolle der Inhalte. Auch auf formaler Ebene wurde versucht, die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu beeinflussen.⁴⁰ Der nationalsozialistischen Auffassung nach musste in einer Reportage immer das Ereignis selbst zum Hörer sprechen. Der Berichterstatter stand in dessen Dienst: Er sollte lediglich in Erscheinung treten, wenn es notwendig war, und sich darauf beschränken, optische Eindrücke in Worte umzuwandeln. Dadurch sollte der Zugang zum „authenti Vgl. Thomas Lindenberger: Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien. www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Lin denberger-1-2004 (31.1. 2018).  Der Begriff „Rundfunkereignis“ weist auf Festveranstaltungen hin, die nicht nur für das Publikum vor Ort organisiert, sondern auch so konzipiert wurden, dass sie im Radio von der größtmöglichen Zahl an Personen mitverfolgt werden konnten. Vgl. Muriel Favre: Rundfunkereignisse im Dritten Reich (1933 – 1939). Fallstudie und Erfahrungsbericht. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 66 (2015), S. 663 – 680.  Die folgenden Ausführungen stützen sich auf dies.: Les cérémonies radiophoniques du IIIe Reich/Rundfunkereignisse. Mediale Festveranstaltungen im Dritten Reich. Dissertation. Paris/ Stuttgart 2012.

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schen“ Ereignis gewährleistet werden. Der Rundfunk inszenierte sich als reine Vermittlungsinstanz und verneinte jeglichen Eingriff in die Realität. In vielen Reportagen stellt man allerdings fest, dass von einer sachlichen Faktenwiedergabe nicht die Rede sein kann. Nicht Schilderungen, sondern Bewertungen stehen im Vordergrund. Es wird erklärt, was von der Szene, die sich gerade abspielt, zu halten ist, die Aufmerksamkeit der Hörer wird auf besonders bedeutsame Details gelenkt, Episoden aus der Vergangenheit werden in Erinnerung gerufen und mit dem unmittelbaren Geschehen in Verbindung gebracht etc. Daraus darf man schließen, dass die Rolle des nationalsozialistischen Rundfunks eigentlich eine andere war. Dem Medium oblag es weniger, das Ereignis für sich selbst sprechen zu lassen, als es vielmehr im Sinne des Regimes zu interpretieren. Wie alle öffentlichen Ereignisse wurden auch Rundfunkereignisse in ihrer Bedeutung offiziell definiert. Damit die akustischen Inhalte eindeutig erschienen, wurde ein Kommentar hinzugefügt, der alternative Deutungen gänzlich ausschloss und keinen Interpretationsspielraum mehr ließ. Bei Reportagen hat man es mit rundfunkeigenen Beiträgen zu tun, von denen meistens keine schriftliche Fassung, sondern allein der Tonmitschnitt überliefert ist. In diesem Fall besteht die Arbeit an den Tondokumenten zunächst darin, den Inhalt so zu transkribieren, dass er analysierbar wird. Die Reportagen, die der NSRundfunk im Rahmen der von ihm inszenierten Rundfunkereignisse gesendet hat, werden analog zur Methodik der Filmanalyse in Einstellungen zergliedert. Anders als im Filmbereich handelt es sich dabei nicht um physische Einheiten – die Folge von Einzelbildern, die ohne Unterbrechung mit einer Filmkamera aufgenommen wurden –, sondern um durch den Bearbeiter gewählte Sinnabschnitte. Die einzelnen Abschnitte sollten so gesetzt werden, dass pro Einstellung nur ein Thema, eine gleichbleibende Zeitform und ein örtlicher Bezug auftauchen. Hinzu kommen Einstellungen, die alleine aus Musik oder Geräuschen bestehen. Das Einstellungsprotokoll, das man dadurch erhält, kann in einem zweiten Schritt in ein Sequenzprotokoll umgewandelt werden, indem diejenigen Einstellungen, die eine Handlungseinheit bilden, unter einer Sequenz subsumiert werden. Am Ende des Verfahrens verfügt man über ein Arbeitsinstrument, das mehrere Vorteile bietet: Die Struktur der Reportage – sowohl die Feinstruktur (Einstellungen) als auch die Erzählstruktur (Sequenzen) – wird deutlich; es können Quantifizierungen durchgeführt werden; die Analyse wird für den Leser nachvollziehbar (man kann auf Einstellung X oder Sequenz Y verweisen). Fragt man danach, inwiefern nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form der NS-Reportagen dazu beigetragen hat, die Wirklichkeitserfahrung der Zeitgenossen zu beeinflussen, sind das Herausarbeiten der Fein- und Erzählstruktur besagter Reportagen, das Einordnen der Einstellungen als Erzählung, Beschreibung oder Kommentar sowie schließlich die Quantifizierung der Kommentare im Ver-

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gleich zu der Anzahl von Erzählungen und Beschreibungen von zentraler Bedeutung. Andere Fragestellungen, z. B. über die Prosodie des Reporters, hätten zu anderen Vermerken im Einstellungs- und Sequenzprotokoll geführt.

5 Schlussbetrachtung Jürgen Müller beklagte 2011 in einem Aufsatz die „Gehörlosigkeit“ seiner Kolleginnen und Kollegen.⁴¹ Er warf ihnen vor, auf schriftliche Quellen fixiert zu sein und sich keine Mühe zu geben, die Geschichte anders als nur durch das Sehvermögen zu erschließen. Dabei seien Töne omnipräsente Elemente unserer sinnlichen Umwelt. Die Vernachlässigung der akustischen Dimension der Vergangenheit im Allgemeinen und das Ignorieren von Tonquellen im Besonderen bedeuteten, so Müller, einen immensen Verlust an Erkenntnismöglichkeiten.⁴² Den Mahnruf hörten viele: Auf dem Historikertag 2012 in Mainz wurde eine Sektion Sound History angeboten. 2013 gaben Gerhard Paul und Ralph Schock den nunmehr als Standardwerk anzusehenden Sammelband Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute heraus.⁴³ Schließlich widmeten mehrere Zeitschriften dem neuen Forschungsfeld ein Themenheft: Zeithistorische Forschungen 2011 („Politik und Kultur des Klangs im 20. Jahrhundert“), Geschichte und Gesellschaft 2012 („Musikalische Kommunikation“), Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 2015 (Sound History). Auch international ist Sound History im Begriff, sich zu etablieren. Als Beweis dafür sei das 2017 erschienene Heft der Revue de la Bibliothèque nationale de France, „Le mur du son. Quand le son fait sens“, genannt. Die meisten Texte haben ein bestimmtes Ziel: Die Frage nach dem Klang der Geschichte wird mit dem Anspruch gestellt, historische Begebenheiten (wie den Bauernkrieg 1524– 1526⁴⁴) oder das Alltagsleben an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit (wie in Paris im 18. Jahrhundert⁴⁵) neu bewerten zu können. Dafür muss man allerdings nicht unbedingt Tonquellen heranziehen. Schriftliche und

 Vgl. Jürgen Müller: „The Sound of Silence“. Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens. In: Historische Zeitschrift 292 (2011), S. 1– 29.  Vgl. Müller, „The Sound of Silence“, S. 15.  Gerhard Paul u. Ralph Schock (Hrsg.): Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute. Bonn 2013.  Vgl. Daniela Hacke: Hearing Cultures. Plädoyer für eine Klanggeschichte des Bauernkriegs. In: GWU 66 (2015), S. 650 – 662.  Vgl. Mylène Pardoen: Archéologie du paysage sonore. Reconstruire le son du passé. In: Revue de la Bibliothèque nationale de France 55 (Oktober 2017), S. 30 – 39.

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Bildquellen können in dieser Hinsicht ebenfalls aufschlussreich sein und sind für alle Historiker, die sich mit einer früheren Zeit befassen als dem 20. Jahrhundert, auch die einzigen verfügbaren Quellen. Tonaufnahmen gibt es bekanntlich seit 1877, Rundfunkaufnahmen – in Deutschland – seit 1929. Die Einführung des Akustischen in die Erforschung der Vergangenheit nimmt aber auch die Form an, um die es im vorliegenden Beitrag ging: Im Zentrum des Interesses steht die Frage nach dem Wert von Tonquellen für die Geschichtswissenschaft. Zu diesem Thema liegt noch wenig Literatur vor, weswegen die eben entwickelten Ausführungen dringend der Ergänzung durch weitere Fallstudien bedürfen. Besonders auf dem Gebiet der Emotionsgeschichte dürften Tonquellen ergiebig sein, lassen sich doch affektive Zustände am besten an der Stimme erkennen. In methodologischer Hinsicht spricht einiges dafür, jenseits der sinnlichen Wahrnehmung des Historikers bzw. der von ihm entwickelten Herangehensweisen auch Computerprogramme einzusetzen, wie dies Sprachwissenschaftler in ihrem Bereich schon länger tun. Vielversprechend erscheint die Analysesoftware PRAAT, welche prosodische Merkmale wie Tonhöhe, Intonationskurve und Pausenorganisation erfasst und in Form von Spektrogrammen wiedergibt und so in der Lage ist, den Höreindruck zu objektivieren und zu visualisieren.

Literatur Quellen Frankfurter Zeitung (31. 8. 1932), 2. Morgenblatt, S. 1. Stenographisches Protokoll der Rede von Clara Zetkin zur Eröffnung des Deutschen Reichstags am 30. August 1932 unter: www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w6_bsb00000138_00033.html (bis www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w6_bsb00000138_00039.html) (31. 1. 2018). The Times (31. 8. 1932), S. 10. Tonbandaufnahme der Rede von Clara Zetkin zur Eröffnung des Deutschen Reichstags am 30. August 1932. Deutschen Rundfunkarchiv DRA [Frankfurt], KONF.664813. Vossische Zeitung (31. 8. 1932), Morgen-Ausgabe, S. 1.

Literatur Arnold, Heinz Ludwig: Die Gruppe 47. Reinbek bei Hamburg 2004. Badia, Gilbert: Clara Zetkin. Eine neue Biographie (deutsche Übersetzung des französischen Originals). Berlin 1994. Dor, Milo: Auf dem falschen Dampfer. Fragmente einer Autobiographie. Wien 1988. Dornemann, Luise: Clara Zetkin. Leben und Wirken. Ost-Berlin 1974.

Erkenntnispotenzial von Tonquellen für die Geschichte des 20. Jahrhunderts

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Die Selbsterzählungen von Migranten als Quelle der Geschichtsschreibung comment décrire? comment raconter? comment regarder? […] comment reconnaître ce lieu? restituer ce qu’il fut? comment lire ces traces? comment aller au-delà, aller derrière¹

Seit einigen Jahren arbeite ich zusammen mit einer Gruppe von Freiwilligen, Wissenschaftlern und Erziehern am Projekt eines Archivs der Erinnerungen von Migranten und Asylsuchenden, die zunächst vom Horn von Afrika, später aber aus allen Winkeln der Welt nach Italien gekommen sind. Mithilfe dieses Archivs sollen die Erzählungen und Aussagen der Flüchtlinge gesammelt, gespeichert und verbreitet werden. Mit dem Projekt beabsichtigen wir, Spuren eines befremdlichen und komplexen Kapitels der Zeitgeschichte zusammenzutragen² und gleichzeitig die Schaffung von Räumen anzuregen, in denen man an den Erzählungen der direkt Betroffenen teilhaben und ihren Stimmen zuhören kann. Es soll auch ein dokumentarischer Apparat für Audio- und Videoquellen entstehen, die gemeinsam mit den Betroffenen entwickelt, gesammelt und produziert werden.³ Der Weisung Abdelmalek Sayads folgend, wonach Einwanderung und Auswan Georges Perec u. Robert Bober: Ellis Island. Paris 1995, S. 40 – 41. Deutsche Fassung von Eugen Helmlé: „Wie beschreiben? wie erzählen? wie betrachten? […] wie diesen Ort wiedererkennen? rekonstruieren, was gewesen ist? wie diese Spuren lesen? wie darüber hinausgehen, dahinter zurückgehen […]“ In: Georges Perec u. Robert Bober: Geschichten von Ellis Island oder wie man Amerikaner macht. Berlin 1997, S. 31.  Die grenzüberschreitende Mobilität ist nicht nur einer der beherrschenden Faktoren der „unmittelbaren Geschichte“ oder der Zeitgeschichte (Benoit Verhaegen: Introduction à l’histoire immédiate. Essai de méthodologie qualitative. Gembloux 1974; Jean-François Soulet: L’histoire immédiate. Historiographie, sources et méthodes. Paris 2009), sondern Teil eines laufenden Konflikts zwischen den Vorstellungswelten, den Identitäten und den abweisenden Blicken, von denen „ansässige Ausländer“ in ganz Europa betroffen sind. S. hierzu den kürzlich erschienenen Essay von Donatella De Cesare: Stranieri residenti. Una filosofia della migrazione. Turin 2017.  S. das Projekt Borders-AMM: Focus on Migrants, Fondazione lettera27. https://moleskinefounda tion.org/it/initiative/borders-amm (22.03. 2018). 2008 – 2015. https://doi.org/10.1515/9783110552201-015

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derung „zwei Seiten ein und derselben Medaille“ sind, will das Projekt versuchen, die Komplexität der Migrationserfahrung in ihrer Gesamtheit zu rekonstruieren. So wollen wir das Hier und das Dort der heutigen Wanderungsbewegungen der Menschheit mit den erzählerischen Quellen verknüpfen, die von diesen Wanderungen zu berichten wissen und sie in gewisser Weise darstellen können.⁴ Dies ist nicht die erste „Grenzübertretung“, die ich in meiner Arbeit als Ethnohistoriker vornehme. Lange habe ich mich mit Forschungen über Grenzvölker entlang der Südgrenze des Sudan zu Äthiopien und mit der Suche nach Quellen befasst, die die Durchlässigkeit und die Überlagerungen von Identitäten widerzuspiegeln vermögen, wie sie für jedes Grenzgebiet typisch sind.⁵ Wer in den Territorien des Andersseins und des Anderswo forscht, weiß sehr wohl, wie wichtig es ist, zwischen Fachgebieten, Kenntnissen und durchlässigen Grenzen hin- und herwandern zu können. Die Art der vor Ort auffindbaren Quellen zwingt einen dazu, hybride Korpora des Wissens zu erstellen (in meinem Fall Audio- und Videozeugnisse, Selbsterzählungen, multimediale Tagebücher, Schriften), die vom großen selbstlegitimierenden Narrativ des Staates und der offiziellen Medien zumeist ignoriert oder verdrängt werden – ebenso wie die Menschen, von denen sie stammen.⁶ Kaum anders verhält es sich meiner Meinung nach in methodischer Hinsicht mit den Schwierigkeiten und Herausforderungen für den Historiker, der zu einer größeren Bewusstwerdung über die Komplexität der Migrationsbewegungen beitragen möchte, indem er die selbsterzählerischen Quellen der direkt Betroffenen zu kodifizieren und zu deuten versucht. Er tut dies in der doppelten Absicht, ihrer Stimme Legitimität und Eigenständigkeit zu verleihen und eine dokumentarische Spur der fließenden und kontroversen Gegenwart zu hinterlassen, in der wir leben. Die Entstehungsgeschichte eines Archivs von Erinnerungen und Zeugnissen zu rekonstruieren, das auf den Stimmen der eigentlichen Subjekte und Akteure der Migration beruht, zielt nicht so sehr darauf ab, das Erreichte zu präsentieren, als vielmehr in schriftlicher Form ein Verfahren zugänglich zu machen. Es handelt

 Abdelmalek Sayad: La double absence. Paris 1999, S. xii.  S. Alessandro Triulzi: Salt, Gold and Legitimacy. Prelude to the History of a No-Man’s Land: Bela Shangul, Wallagga, Ethiopia (ca. 1800 – 1898). Neapel 1981; ders. u. Tamene Bitima: The Past as a Contested Territory. Commemorating New Sites of Memory in War-torn Ethiopia. In: Violence, Political Culture and Development in Africa. Hrsg. von Preben Kaarsholm. Oxford 2006, S. 122– 138; ders. u. Tesema Ta’a: Documents for Wallaga History (1880s–1920s E.C.). Bd. 1: Amharic Texts. Dipartimento di studi e ricerche su Africa e Paesi Arabi, Università di Napoli L’Orientale-Department of History, Addis Ababa University. Addis Abeba 2004.  Vgl. Uoldelul Chelati Dirar [u. a.] (Hrsg.): Colonia e postcolonia come spazi diasporici. Attraversamenti di memorie, identità e confini nel Corno d’Africa. Rom 2011, S. 269 – 366.

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sich dabei um ein work in progress rund um die Idee eines zukunftsorientierten Archivs und erst in zweiter Linie um ein Depot für gesicherte und unmittelbar zugängliche Quellen.⁷ An dieser Idee zu arbeiten war für uns alle Erziehungspraxis und gleichzeitig Willkommensarbeit. Es hieß auch, Zeugnis abzulegen und Zeugnis zuzulassen. So wollten wir dazu beitragen, dass Menschen ein Recht auf ihre Stimme erhalten und dass dieses Recht in einem Land wie Italien kollektiv anerkannt wird, das zwar Körper, aber noch keine Stimmen und Personen in ihrem ganzen Menschsein aufgenommen hat.⁸

1 Der Plan eines Archivs der erzählerischen Quellen von Migranten Der Plan zu einem Archiv der Memoiren von Migranten (AMM)⁹ entstand anfangs als Depot (repository) für Geschichten, Erzählungen und Zeugnisse, die in einer Sprachschule für Ausländer gesammelt wurden. Eine Gruppe von Freiwilligen und Wissenschaftlern hatte damit begonnen, in Zusammenarbeit mit der italienischen NGO Medici contro la Tortura (Ärzte gegen Folter: www.mct-onlus.it) ein therapeutisches Pilotprojekt zum post-migratorischen Trauma zu begleiten. Geschichten und Erzählungen sollten mit dem Ziel gesammelt werden, die Identität und die Erinnerungen der Migranten zu rekonstruieren, die die Gewalt der Zwangsabwanderung überlebt hatten. Die Idee hatte sich 2004 unter Asylsuchenden und politischen Flüchtlingen aus Darfur und den Regionen am Horn von Afrika entwickelt, die zu mehreren hundert die großen Lagerhallen Magazzini di Tiburtina in Rom besetzt hatten, bis die Stadt sie 2005 gewaltsam räumen ließ.¹⁰  Schließlich ist jedem, der in Gefahr ist, Datenschutz zu gewähren sowie das von Edouard Glissant: Poétique de la Relation (Poétique III). Paris 2007, geforderte „Recht auf Opazität“, also Undurchsichtigkeit.  S. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie d. Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 1971; Giorgio Agamben: Homo Sacer [1]. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Berlin 2002.  Das Archiv ist unter der folgenden URL abrufbar: www.archiviomemoriemigranti.net (26.08. 2018).  Zwölf Jahre später, am 23. August 2017, widerfuhr den Flüchtlingen aus Eritrea, die den Schiffbruch vom 3. Oktober 2013 in Lampedusa überlebt hatten, dasselbe Schicksal. Und dies, obwohl sie unter dem „Schutz“ der italienischen Regierung standen und das italienische Parlament den 3. Oktober zum nationalen Gedenktag für die Opfer der Einwanderung ausgerufen hatte. Sie wurden gewaltsam aus einem Gebäude in der Nähe des römischen Hauptbahnhofs Roma Termini vertrieben, das sie besetzt hatten, nachdem ihnen vier Jahre nach dem Schiffbruch immer noch keine Unterkunft zugewiesen worden war, vgl. o.V.: Italy: Police Beat Refugees During

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Es handelte sich um die erste spontane Aufnahmestation für Migranten in Rom, die damals „Hotel Africa“ genannt wurde. Zwischen den Resten dessen, was die Abrissbagger hinterließen – Kleidungsfetzen, Fotos und Papiere – entstand in der Gruppe die Idee, die Spuren, die Erzählungen und die Zeugnisse der Reise und des Ankommens zu bewahren, um das „Rätsel der Ankunft“¹¹ und die umständliche Aufnahme der fremden „Gäste“ in Tiburtina aufzuzeichnen.¹² In der Sprachschule Asinitas in Rom, die aus der Hinterlassenschaft jener Erfahrung hervorgegangen war,¹³ wurden die in ihrem knappen italienischen Wortschatz unsicher vorgetragenen Erzählungen der Migranten in der Schulpraxis als Spuren der Erinnerung sowie zur Erkenntnis der eigenen kulturellen Identität eingesetzt. Gleichzeitig dienten sie der Verbesserung der Italienischkenntnisse der in Rom ansässigen ausländischen Migranten. Mit der Arbeit an der Schule begann die erste Phase des Archivs (2005 – 2011). Zusammen mit den Lehrern von Asinitas kümmerten wir uns um den Aufbau des Archivs und unternahmen erste Versuche mit Projekten des Sammelns und Verbreitens audiovisueller Zeugnisse und Erzählungen. Wir wollten damit dem Verlorenheitsgefühl der Migranten an ihren neuen Aufenthaltsorten hinsichtlich der Sprache, der Kultur und der kulturellen Normen der Herkunftsorte entgegenwirken. Zugleich war es ein Versuch, die „doppelte Abwesenheit“ (A. Sayad) auszugleichen, die für den Emigranten/Immigranten in der zeitgenössischen Gesellschaft so typisch ist. Über das Sprechen und die aktive Teilnahme der Migranten an der erzählerischen Audio- und Videoproduktion sowie durch Schaffung eines Umfelds teilhabenden Zuhörens wollten wir das Ans-LichtKommen traumatischer, gewissermaßen „unsäglicher“ Erfahrungen erleichtern. Daraus sollte Material entstehen, das sich zum Zuhören und zur Bestärkung rund um die Erzählungen und Deutungen des Migrationsgeschehens unserer Gesprächspartner eignete. Diese Arbeit war für die Freiwilligen und die Wissenschaftler nicht weniger wesentlich als für die Migranten und Schüler der Italienischkurse, von denen einige später zu Kultur- und Kommunikationsmittlern des Archivs wurden.¹⁴ In

Eviction. Provide Adequate Housing for Homeless Refugees. www.hrw.org/news/2017/08/25/italypolice-beat-refugees-during-eviction (22.03. 2018).  Vidiadhar Surajprasad Naipaul: Das Rätsel der Ankunft. Roman in fünf Kapiteln. Köln 1993.  Alessandro Triulzi: Listening and Archiving Migrant Voices. How it All Began. In: African Dynamics in a Multipolar World. Hrsg. von Ulf Engel u. Manuel J. Ramos. Leiden 2013, S. 51– 66.  S. hierzu die Website der Sprachschule Asinitas: www.asinitas.org (26.08. 2018).  Abgesehen von den Freiwilligen und den Lehrern von Asinitas bestand die Gründungsgruppe des AMM aus einem Afrikahistoriker (dem Autor), einem aus Äthiopien geflohenen Migranten und Regisseur (Dagmawi Yimer), einem Fachmann für Kommunikation und für die Nöte Jugendlicher

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der Schule sammelten wir zum einen Material, zum anderen war es für uns eine Werkstatt für Erfahrungen in Bildung und Forschung. Die Schüler waren Migranten und Asylsuchende aus den Regionen am Horn von Afrika, die von Stammeskriegen in Verbindung mit Armut und autoritären Herrschaftsformen heimgesucht wurden. Die Flüchtlinge stammten hauptsächlich aus Eritrea, Somalia, Äthiopien und Darfur im Sudan und waren erst kurz zuvor nach Italien gekommen. Der Italienischunterricht war von Anfang an stark mit den Spuren der Erinnerungen durchsetzt, die wir erhalten wollten: In der Schule folgt der Unterricht den ‚Spuren‘ der Schüler.Wir lernen die Sprache, indem wir jedes Wort, das sie mühsam und unversehens aussprechen, aufgreifen und besprechen. Anfangs sagen die Schüler Wörter ohne syntaktischen Zusammenhang; das sind Sprechabsichten, Satzentwürfe, unvollständige Gedanken. Die Worte lassen aber ganze Aussagen entstehen, sie erzeugen Redeweisen. Das ist unser Ansatzpunkt. So haben wir angefangen, mit ihnen einen Gedankengang zu formulieren, ausgehend von Wörtern, die sie oft gehört, aber noch nicht ganz verstanden haben. Eines Tages zeichnete ein Junge, um seinem Freund zu helfen, sich auf Italienisch auszudrücken, eine Gazelle. Damit ergab sich an jenem Tag das Wort ‚gazzella‘ [Gazelle]. Ein anderes Wort, das die sudanesischen Schüler sehr häufig verwendeten, war ‚Tiburtina‘ [der Ortsteil Roms, in dem sich die besetzten Lagerhallen befanden], aber es brauchte noch eine Weile, bis ‚gazzella‘ und ‚Tiburtina‘ zu einem Satz verknüpft werden konnten.¹⁵

Genau darin bestand die Arbeit der Schule: den erzählenden Stimmen der direkt Betroffenen nach dem Verlorenheitsgefühl bei ihrer Ankunft eigenständigen Raum für die notwendige Rekonstruktion oder Rekomposition ihrer Identitäten zu geben. Am Ende eines jeden Schuljahrs wurde das zusammengetragene Material zu einem Lesebuch für die Migranten/Lernenden und damit zu einer Art der Selbstanerkennung für die gemischte Gemeinschaft von Schülern, ehrenamtlichen Helfern und Wissenschaftlern. Die kleinen Bücher mit den anschaulichen Aussagen, den Abbildungen der handwerklichen Produkte und den Zeichnungen der Schüler markierten die laufenden Fortschritte in der Praxis der aktiven Erziehung und bildeten die erste Sammlung von Archivmaterial, das audiovisuelle Produktionen und Computerlabore zu Themen der Migration zusammenführte.¹⁶ Aus der Verknüpfung von Fachkenntnissen und Praktiken des kulturellen Aus-

(Giulio Cederna), einem Anthropologen, der seine Dissertation über die in Lampedusa angelandeten Migrantenkörper geschrieben hatte (Gianluca Gatta), einer Italienischlehrerin, die an der Universität Salzburg über die Aussagen der Überlebenden von Mauthausen gearbeitet hatte (Monica Bandella) und einem unabhängigen sizilianischen Fotografen (Mario Badagliacca).  Alessandro Triulzi u. Marco Carsetti: Ascoltare voci migranti. Riflessioni intorno alle memorie di rifugiati dal Corno d’Africa. In: afriche e orienti IX (2007), S. 96 – 115, hier S. 108.  S. hierzu Asinitas: Produzioni. www.asinitas.org/?page_id=83 (22.03. 2018).

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tauschs entstanden mit der Unterstützung einiger Stiftungen – insbesondere von lettera27¹⁷ und Open Society Foundations¹⁸ – weitläufigere Bildungsprojekte: Erzählkreise mit jungen Migranten in Zusammenarbeit mit den aus Somalia stammenden Schriftstellerinnen Cristina Ali Farah und Igiaba Scego¹⁹; plastische Modelle von Orten der Migration in Verbindung mit Memoiren von der Ankunft und von Durchgangsstationen, etwa für die Ausstellung und Konferenz Geografie extra-vaganti, die im Juni 2010 in der Città dell’altra economia in Rom stattfand²⁰. Damals begannen wir auch, erste „partizipative Videos“ zu drehen (Il deserto e il mare, 2007; Come un uomo sulla terra, 2009; C.A.R.A. Italia, 2010; Una scuola italiana, 2011). Italienische Regisseure und Migranten führten gemeinsam Regie bei diesen Filmen, die den künftigen Weg des AMM nicht nur als Ort der Sammlung, sondern auch der Herstellung audiovisueller Quellen vorzeichneten. Die ersten Videos des AMM sowie die Sammlung von Reisegeschichten und Selbsterzählungen waren das Ergebnis einer klaren Entscheidung zugunsten der Beteiligung der Migranten, deren Wortmeldung ermutigt und unterstützt werden sollte. Es ging darum, Regiekompetenz und professionelle Ausstattung mit der Selbsterzählung des Eingewanderten in einem Verfahren gemeinsamen, anteilnehmenden Zuhörens zu verknüpfen. Nach diesem Muster entstanden in der Asinitas die Kurzfilme L’equilibrio, Buongiorno, L’albero und Viaggio di non ritorno in dem Bestreben, sowohl die Unterrichtspraxis als auch Formen der Selbsterzählung vorzuführen. Der äthiopische Flüchtling und Regisseur Dagmawi Yimer führte 2009 Regie bei diesen vier kurzen Videos, die in Zusammenarbeit mit Giulio Cederna und Angelo Loy entstanden, zwei Regisseuren und Kommunikatoren, die in Kenia umfangreiche Erfahrungen mit Straßenkindern gesammelt hatten.²¹

 Nähere Informationen unter: https://moleskinefoundation.org (26.08. 2018).  Nähere Informationen unter: www.opensocietyfoundations.org (26.08. 2018).  Alessandro Triulzi: Il cerchio e la scuola. In: Lo straniero XI (2009), S. 28 – 32; Marco Carsetti: Il tempo dell’arrivo. In: Lo straniero XI (2009), S. 32– 37; Igiaba Scego: Ascoltare. In: Lo straniero XI (2009), S. 38 – 42.  Giacomo Borella, Marco Carsetti u. Chiara Mammarella (Hrsg.): Geografie extravaganti. Luoghi e percorsi della migrazione. Rom 2010.  S. Archivio delle memorie migranti: „Equilibrio“ (8’), „L’Albero“ (8’), „Buongiorno“ (10’), „Viaggio Senza Ritorno“ (7’). Regie Dagmawi Yimer, Schnitt Fabrizio Barraco, Koordination der audiovisuellen Medien Giulio Cederna und Angelo Loy, Produktion Asinitas Onlus, mit der Unterstützung von lettera27 sowie der Tavola Valdese. 2009; s. auch: Giulio Cederna u. John Muruiri: The Black Pinocchio. Avventure di un ragazzo di strada (mit DVD). Rom/Florenz 2005.

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2 Die Konsolidierung der Arbeit des AMM 2012 begann die zweite Phase des Archivs, das nun zu einem eigenständigen Verein geworden war, der in enger Zusammenarbeit mit den Oral-History-Akteuren des Circolo Gianni Bosio in der Casa della Memoria e della Storia der Stadt Rom Memoiren und audiovisuelle Zeugnisse über die Migration sammelte und produzierte.²² In dieser Zeit wurden fruchtbare Kontakte zu römischen Instituten und Bibliotheken geknüpft, woraus ein Netzwerk von Archiven und Memoiren der Migration (RAMM) entstand, das darauf abzielte, an dem für die Bewahrung der nationalen Erinnerung bestimmten Ort die mündliche und visuelle Erinnerung der Migration zu verwahren.²³ Ebenso fruchtbar war die Kontaktaufnahme zu den im Gebiet von Neapel und Rom aktiven Organisationen der Zivilgesellschaft, um auf der interkulturellen Ebene gemeinsame Wege zu gehen. Das Archiv beteiligte sich zu jener Zeit am Projekt der Aufarbeitung der kolonialen Quellen Returning and Sharing Memories, das Paolo Bertella Farnetti an der Universität von Modena und Reggio Emilia angestoßen hatte. Dabei betrieb er in Zusammenarbeit mit anderen Universitäten und kulturellen Einrichtungen die Eröffnung eines Portals zu den kolonialen Quellen, das mit den Studenten und Wissenschaftlern der Länder geteilt werden kann, die einst unter italienischer Verwaltung gestanden haben.²⁴ In diese Zeit fiel auch die Produktion von partizipativen Dokumentarfilmen und Videos, die gemäß der „geteilten Anthropologie“ Jean Rouchs²⁵ Praktiken und Formen des „Akts der Darstellung“ umsetzten. Dabei liegt der Akzent nicht mehr auf dem Produkt, sondern auf dem Prozess. Auch wird Wert darauf gelegt, dass die Migranten selbst als Autoren auftreten, Regie führen, die Themen auswählen und die konkrete Arbeit ausführen sollen.²⁶ In den Jahren 2011– 2013  Der Circolo Gianni Bosio ist ein legendärer römischer Kulturverein, in dem Intellektuelle, Aktivisten und Freiwillige Volksmusik, Oral History und audiovisuelle Dokumentationen im Sinne einer aktiven und pluralistischen Erinnerungskultur der zeitgenössischen Gesellschaft sammeln und verbreiten. Vorsitzender ist der Amerikanist und Oral-History-Forscher Alessandro Portelli, www.circologiannibosio.it/ (26.08. 2017).  Das ICBSA–Istituto Centrale per i Beni Sonori e Audiovisivi in Rom trat 2007 das Erbe der Discoteca di Stato an, die 1928 mit der Aufgabe gegründet worden war, die oralen Zeugnisse der Protagonisten des Ersten Weltkriegs und später (1939) das klangliche Erbe und die oralen Quellen der italienischen Geschichte zu erfassen www.icbsa.it/index.php?it/129/discoteca-di-stato (22. 3. 2108).  S. hierzu: www.memoriecoloniali.org (26.08. 2018).  Vgl. Raul Grisolia: Jean Rouch e il cinema del contatto. Rom 1988.  Simone Moraldi: Decolonizzazione, de-gerarchizzazione, condivisione. Pratiche e forme di video partecipativo in Italia tra etnografia e partecipazione. In: L’Africa in Italia. Per una con-

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produzierte das Archiv mehrere Dokumentarfilme, bei denen Migranten Regie oder Ko-Regie führten: Soltanto il mare (2011) über die Einwohner Lampedusas aus der Kameraperspektive eines einige Jahre zuvor angelandeten Migranten betrachtet; Benvenuti in Italia (2012), dessen fünf Episoden von Migranten aus Afghanistan, Burkina Faso, Äthiopien, Kurdistan und Somalia gedreht wurden; sowie Va’ pensiero. Storie ambulanti (2013), in dem der Regisseur Dagmawi Yimer die Erzählungen der Opfer zweier rassistischer Angriffe gegen afrikanische Migranten in Mailand (2009) und in Florenz (2011) aufzeichnete.²⁷ Das Projekt dieses Films gewann 2011 den Premio Mutti für in Italien ansässige ausländische Regisseure. Ein Jahr später ergab sich daraus eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Archiv und dem Premio Mutti, der fortan Mutti-AMM hieß, dem bislang einzigen Wettbewerb für Migrantenfilme in Italien, der zusammen mit der Cineteca di Bologna sowie anderen lokalen und nationalen Partnern veranstaltet wird. Bei der Sammlung der Selbsterzählungen des Archivs stehen die audiovisuellen Arbeiten im Vordergrund. Die Filme des AMM zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie das Anderssein durch die Selbsterzählung pflegen und dem Blick des Anderen innerhalb der italienischen Gesellschaft Raum geben. Diese Filme klagen an, regen aber mal auf dramatische, mal auf ironische Weise zum Nachdenken über Lebenswirklichkeiten an, die miteinander in Kontakt (und keineswegs immer nur in Konflikt) geraten: im Alltag, in der Schule, auf der Straße, an den Orten, an denen Migranten sich aufhalten, auf den Märkten, in den Aufnahme- und den Abschiebeeinrichtungen. Die Grundlage bildet eine BilderErzählung nicht nur von und über Migranten und Asylsuchende, sondern über Italien – wie es sich verändert, wenn man es mit den Augen der „Fremden unter uns“ betrachtet – sowie über die Praktiken der Aufnahme – oder der Ablehnung – des Landes in seiner Gesamtheit. Begonnen hat die Selbsterzählung der Migranten mit dem Film Come un uomo sulla terra des Regisseurs Dagmawi Yimer, der gemeinsam mit Andrea Segre und Riccardo Biadene Regie führte. Durch diesen Film wurde Yimer zum Sprecher des Archivs und seiner Methoden. Der Film erzählt mit den Stimmen mehrerer Zeugen und Reisegefährten des äthiopischen Regisseurs von der „unmöglichen Reise des Migranten“ durch die Sahara und über das Mittelmeer, längs der berüchtigten „Route L-L“ (Libyen – Lampedusa), die schon damals für Migranten aus den Subsahara-Ländern nach Italien der zwangläufig einzuschlagende Weg war. Yimer tritt in dem Film „mit den Personen in Interaktion, er gibt den ‚internen Mediator‘, als ‚Leitfigur‘ in der trostoria postcoloniale del cinema italiano. Hrsg. von Leonardo De Franceschi. Rom 2013, S. 221– 236, hier S. 221– 226.  Die Filmografie der vom AMM produzierten Filme findet sich auf der Website www.archiviome moriemigranti.net (26.08. 2018).

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Gemeinschaft der Geflüchteten. Seine Stimme aus dem Off führt außerdem in die Begegnung mit den Migranten ein und geleitet durch den Film, als gelte es, die Notwendigkeit zu unterstreichen, den Bildern Beweiskraft zu verleihen“.²⁸ Auf diese Weise wird der Film selbst zur Quelle von Erinnerung und Zeugnis, aber auch zu einer Vermehrung der Stimmen und der Blicke auf die Migration und auf die Gesellschaft, in der sie stattfindet. Zu diesen Dokumentarfilmen gehören auch: der Kurzfilm To whom it may concern (2012) des 2008 in Lampedusa an Land gegangenen somalischen Journalisten Zakaria Mohamed Ali, der vier Jahre später auf die Insel zurückkehrte, um nach den Fotos und Unterlagen zu suchen, die ihm bei seiner Ankunft gemeinsam mit seinem Namen und seiner Identität abgenommen worden waren²⁹; die Audio-Landkarte von Mohammad Aman, der von seiner persönlichen „Rückkehr“ als freier Mann nach Lampedusa im Sommer 2012 erzählt und jetzt Kulturmittler von Save the Children in Agrigento ist; sowie Grooving Lampedusa aus demselben Jahr, eine Foto-Erzählung in Bildern,³⁰ die zusammen mit den Protagonisten die Orte von deren erster Ankunft in einer Mischung von historischem Rückblick und persönlicher Erinnerung Revue passieren lässt.³¹ In den Jahren 2015 – 2017 produzierte das AMM in Zusammenarbeit mit Videomachern und engagierten Vereinen weitere partizipative Videos, um öffentliche Initiativen der Erinnerung zugunsten der Migranten anzustoßen, um Asylsuchende, die in die letzten Winkel des Landes zerstreut sind, zu Wort kommen zu lassen,³² oder um deren materielle Spuren aufzuzeigen wie bei der Ausstellung und Tagung Oggetti migranti. Dalla traccia alla voce (Migranten-Objekte. Von den Spuren zu den Stimmen), die im März/April 2017 im Laboratorio di Arte Contemporanea der römischen Universität La Sapienza stattgefunden hat.³³ Seit 2016 arbeitet das

 Moraldi, Decolonizzazione, S. 232.  Anschließend war Zakaria an dem Film Lampedusa des österreichischen Regisseurs Peter Schreiner beteiligt, www.echtzeitfilm.at/films/lampedusa (22.03. 2018), setzte aber seine Mitarbeit an partizipativen Videos des AMM und die Arbeit an seinen eigenen Filmen fort.  Mario Badagliacca: Grooving Lampedusa. Un foto-racconto (2013). www.archiviomemoriemi granti.net/film/produzioni-amm/grooving-lampedusa/ (22.03. 2018).  Mehr Details zu den Produktionen des AMM finden sich auf www.archiviomemoriemigranti. net/film/produzioni-amm (22.03. 2018).  S. den Dokumentarfilm Asmat-Nomi (2015) zur Würdigung der Opfer des Schiffbruchs vom 3. Oktober 2013, den Dagmawi Yimer zusammen mit dem Comitato 3 Ottobre auf Lampedusa gedreht hat. https://vimeo.com/114849871 (22.03. 2018). Oder das partizipative Video Nako-La terra (2016), das Stefania Muresu mit einer Gruppe von Asylsuchenden eines Aufnahmezentrums in Sarule auf Sardinien gefilmt hat. https://vimeo.com/181494992 (22.03. 2018).  S. Arte.it (Hrsg.): Oggetti migranti. Dalla Traccia alla Voce. www.arte.it/calendario-arte/roma/ mostra-oggetti-migranti-dalla-traccia-alla-voce-37631 (22.03. 2018).

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AMM schließlich noch eng mit dem Archivio Diaristico Nazionale in Pieve Santo Stefano zusammen,³⁴ das Saverio Tutino 1984 gegründet hatte, um etwa 7000 in Italien erstellte autobiografische Aufzeichnungen an einem Ort zu vereinen. Dieses Projekt sammelt multimediale Migranten-Tagebücher (DiMMi), es steht auch anderen Sprachen offen und wird in den Schulen und den Aufnahmezentren der Region Toskana verbreitet. Bei dem Wettbewerb DiMMi³⁵ kamen 2017 in den Archiven von Pieve Santo Stefano 99 Tagebuchaufzeichnungen zusammen, die auf Italienisch, Französisch, Englisch, Arabisch und Farsi (Persisch) verfasst waren. Dies zeigt auch die Notwendigkeit, Ego-Dokumente über die sprachlichen und territorialen Grenzen des Projekts hinauswachsen zu lassen, um sie auf eine nationale und europäische Dimension zu heben.³⁶

3 Erfahrungen in der Praxis: Hindernisse, Methoden und Ziele Den Nutzen einer partizipativen Arbeit der Erforschung und Aktion zu den Stimmen der Migranten zu messen und die verwendeten Verfahren auf die Ziele abzustimmen bedeutet, sich nach den Grenzen zu fragen, die einer Einbeziehung in der Praxis gesetzt sind. Auch stellt sich ganz allgemein die Frage nach den Grenzen einer Forschungsarbeit, bei der es nicht nur um die Vertiefung des Wissens zu einem soziokulturellen Phänomen geht, sondern um eine Umkehr des Blickwinkels und der Modalitäten der Darstellung. Der Wert einer Sammlung der auf Selbsterzählung beruhenden Quellen angesichts der aktuellen „Kontrolle“ der Migrationsströme nach Europa – die eigentlich eine Abwehr ist – besteht in erster Linie darin, sich bei der Darstellung der Realität mit dem hybriden Charakter subjektiver und dennoch klärender – da „bezeugender“ – Stimmen derer aus-

 S. Fondazione Archivio Diaristico Nazionale. www.archiviodiari.org/index.php/iniziative-eprogetti/dimmi.html (22.03. 2018).  S. Fondazione Archivio Diaristico Nazionale (Hrsg.): DiMMi. www.archiviodiari.org/index. php/iniziative-e-progetti/dimmi.html (22.03. 2018).  Ende 2017 wurde das Projekt zur Ausweitung der Migrantenschriften auf nationaler Ebene aus Mitteln der Entwicklungshilfeagentur des italienischen Außenministeriums finanziert. Sie sollen Initiativen der Sensibilisierung und Erziehung zum Weltbürgertum zugute kommen. 46 staatliche Einrichtungen und Vereine der Zivilgesellschaft haben sich daran beteiligt. S.: Agenzia Italiana per la Cooperazione allo Sviluppo: Bando per la Concessione di Contributi a Iniziative di Sensibilizzazione ed Educazione alla Cittadinanza Globale proposte da Organizzazioni della Società Civile e Soggetti Senza Finalità di Lucro. Dotazione Finanziaria 2017. www.info-cooperazione.it/ wp-content/uploads/2017/07/BandoECG.2017.pdf (22.03. 2018).

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einanderzusetzen, die aus ihrer Heimat und ihrem Land fliehen mussten. Auch die ebenso notwendige wie mühsame menschliche und berufliche Betroffenheit des Wissenschaftlers, der die schwierige Balance zwischen Professionalität und sozialem Engagement zu halten versucht, kommt auf den Prüfstand. Nicht umsonst mahnte Barbara Harrell-Bond, die Gründerin der Refugee Studies in Oxford, häufig: „Es hat keinen Sinn, über Flüchtlinge zu forschen, ohne etwas für sie zu tun“.³⁷ Ich muss zugeben, dass ich mich mehrmals hilf- und wehrlos gefühlt habe angesichts meiner mangelnden Vorbereitung als Afrika-Historiker und des potenziellen Verlorenheitsgefühls, das die Arbeit unter Migranten im eigenen Land von den Wissenschaftlern nicht minder verlangt als von den Betreuern. Deren eigenes (privilegiertes) Anderssein wird zwangsläufig auch zum Thema, es spiegelt sich im Objekt der Untersuchung wider und wird dadurch gewissermaßen auf den Kopf gestellt. Das Verlorenheitsgefühl und das Unbehagen wirken hier gegenseitig und kumulativ, es gibt kein „Zelt“ und keine symbolische Abschirmung à la Malinowski,³⁸ die den Betrachter vor den Blicken und Forderungen der Beobachteten schützen und die verfremdeten Kommunikationsstrukturen auflösen könnten. Dieses Unbehagen betrifft sowohl die Beobachter (die Wissenschaftler), die nicht wirklich unter den Migranten leben, sondern lediglich die künstlichen Orte besichtigen können, an denen diese leben (die Aufnahmeeinrichtung, das besetzte Haus, die Hilfseinrichtung in der Erntezeit usw.), als auch die Beobachteten (die Migranten), die in unseren Städten kein Zuhause haben, sondern nur Orte des Wartens, der Identitätsfeststellung, der Unterhaltung, der Gefangenschaft oder der Überwachung. Wir können abends nach Hause zurückkehren, sie nicht: Sie sind auch Migranten des Alltags, und im Alltag sind sie fortwährend in Bewegung, ständig verfolgen sie etwas oder werden von jemandem verfolgt. Das Fehlen eines gemeinsamen Umfelds des Zuhörens stellt vielleicht das größte Hindernis in der Arbeit des Sammelns und der Koproduktion selbsterzählerischer Quellen der Migration dar. Die von Pierre Bourdieu beklagte doppelte Asymmetrie³⁹ beim Sammeln von Daten in den Eingeborenenvierteln des kolo-

 Barbara Harrell-Bond hat 1982 das Refugee Studies Centre der Universität Oxford gegründet und bis 1996 geleitet.  Damit ist das berühmte Bild gemeint, auf dem der polnische Anthropologe Bronislaw Malinowski vor seinem Zelt auf den Trobriand-Inseln ein Buch liest, während eine Gruppe Einheimischer ihn von der Seite her interessiert betrachtet. S. Bronislaw Malinowski: Ein Tagebuch im strikten Sinn des Wortes: Neuguinea 1914– 1918. Frankfurt a.M. 1986; vgl. auch Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1983.  Pierre Bourdieu (Hrsg.): La misère du monde. Paris 1993, S. 905.

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nialen Algier zu Beginn des Befreiungskrieges⁴⁰ oder in den überfüllten Arrondissements der Pariser Peripherie der 1980er-Jahre⁴¹ wird bei der Untersuchung unter und mit den Eingeborenen unter uns noch verstärkt, nicht etwa abgeschwächt. Denn die heutigen Migranten werden im kollektiven Bewusstsein immer noch als nicht weniger fremd, primitiv und antimodern empfunden als die algerischen „Fellachen“ im Kampf von einst oder die in die Peripherien der Städte gezogenen französischen Bauern, die um ihre in den 1970er-Jahren erworbenen Identitäten und Sicherheiten bangen. Wenn ein irregulärer Einwanderer heute in einer beliebigen italienischen Stadt einen Bus besteigt, in einer Schlange vor einer öffentlichen Einrichtung wartet, in einem Laden oder Supermarkt einkauft oder die Dienste eines öffentlichen Amtes in Anspruch nimmt, bedeutet das, ständig zerstreuten, gleichgültigen oder feindseligen Blicken ausgesetzt zu sein. Diese geben ihm das Gefühl, bis auf die Knochen fremd zu sein. Er ist eingeschüchtert, fühlt sich verloren, unsicher, als ein Mensch „ohne Ort ohne Haus ohne Arbeit“, der seine „überschüssige Menschlichkeit“ in „definitiv zeitweiligen Zonen“ der zeitgenössischen Gesellschaft verschleißt.⁴² Viele gehen unter – im Alkohol, in der Depression; sie kapseln sich ein, tun sich selbst und anderen (oft Frauen) Gewalt an, sie konvertieren zu Religionen mit dubiosen Heilsversprechen, nehmen sich das Leben oder verzichten auf die Kommunikation mit der Außenwelt. Daraus ergeben sich die Schwierigkeiten, Projekten des Storytelling unter Beteiligung von Institutionen und Migranten Kontinuität und Bestand zu verleihen. Viele Projekte des Archivs wurden mehrfach unterbrochen oder verschoben, die anfänglichen Finanzierungsquellen versiegten, mehrere anfangs einbezogene und auch bereitwillige Migranten gaben später die Zusammenarbeit mit dem Archiv auf, weil sie eine Arbeit gefunden hatten oder anderen Verpflichtungen bzw. Interessen nachgingen oder schlicht an einen anderen Ort zogen. Die derzeitige Kriminalisierung der Migration in ganz Europa und das Klima des Streits, das in Italien zum endgültigen Aus für das Gesetzesvorhaben geführt hat, den Kindern in Italien ansässiger Ausländer die Staatsbürgerschaft zu verleihen (ius soli),⁴³ hat es nicht einfacher gemacht, die direkten Erzählungen der

 Pierre Bourdieu: In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung. Hrsg. von Franz Schultheis u. Christine Frisinghelli. Aus dem Franz. von Jörg Ohnacker u. Daniela Böhmler. Graz 2003.  Bourdieu (Hrsg.), La misère du monde.  Vgl. Federico Rahola: Zone definitivamente temporanee. I luoghi dell’umanità in eccesso. Verona 2003, passim.  Am 24. Dezember 2017 hat der italienische Senat endgültig 800.000 Kindern von in Italien ansässigen Ausländern das Recht versagt, die Staatsbürgerschaft zu erlangen. „Wegen Beschlussunfähigkeit“ nahm er zum Auslauf der Legislaturperiode das sog. Jus-Soli-Gesetz nicht an, vgl. o.V.: Ius soli, che cosa sarebbe successo se il Senato avesse votato il ddl. In: Corriere della

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Migranten aufzunehmen und zu verbreiten, da der politische und kulturelle Referenzrahmen grundlegend gestört ist.⁴⁴ Die starken Migrationsströme der letzten Jahre über das Mittelmeer haben Europa und den Westen im Allgemeinen dazu veranlasst, sich hinter Mauern, Barrieren und repressiven Vorschriften zu verbarrikadieren, die den Durchzug und die Aufnahme migrierender Ausländer im Land stark eingeschränkt haben. Dies hat die Offenlegung und damit die geteilte Anhörung ihrer Identitäten und Erinnerungen besonders erschwert. Gegenseitige Verdächtigungen, die Furcht der Migranten, ihre Herkunft, ihre Motive und ihre verletzte Subjektivität offenzulegen, die identitären Ängste des neuen Europa und die verdrängten Erinnerungen an die eigene Auswanderung sowie an die koloniale Expansion in die Herkunftsregionen der Neuankömmlinge haben in unseren Gesellschaften nicht nur die Menschen- und Bürgerrechte beschädigt, sondern auch die Fähigkeit und die Bereitschaft, über das Erlebte zu berichten. Daraus hat sich vielerorts, wo Migranten ankommen und aufgenommen werden, eine Schwierigkeit ergeben, sich zu äußern und Gehör zu finden. Man ist den eigentlichen Motiven der neuen Wanderer gegenüber zunehmend skeptisch bis feindlich eingestellt, mag sich ihre Erzählungen kaum anhören und ihre Vorstellungen nicht teilen. Für die Wissenschaftler hat dies auf der einen Seite die Dringlichkeit erhöht, das Desaster zu erfassen – so wie Pierre Bourdieu⁴⁵ es vor Beginn des französisch-algerischen Krieges der 1950er-Jahre getan hatte –, in einem Europa, das sich durch die sogenannte Flut der Migranten immer mehr „belagert“ fühlt. Auf der anderen Seite hat es die Wahrnehmung der Glaubwürdigkeit ihrer Erzählungen so stark beeinträchtigt, dass der Wert des Bezeugten in Frage gestellt Sera, online. www.corriere.it/politica/cards/ius-soli-che-cosa-sarebbe-successo-se-senato-aves se-votato-ddl/tredici-anni-discussioni_principale.shtml (22.03. 2018).  S. den „Straftatbestand“ der Solidarität, der in Frankreich gegen diejenigen ins Feld geführt wird, die irreguläre Migration unterstützen oder fördern. S. Giovanni Ansaldo: Multato Cédric Herrou, il contadino francese che aiuta i migranti. In: Internazionale, online. www.internazionale. it/notizie/2017/02/10/cedric-herrou-francia-migranti (22.03. 2018), und den Gegenappell zur Solidarität aus der Zivilgesellschaft, s.: Commission Nationale Consultative des Droits de l’Homme (CNCDH) (Hrsg.): La solidarité n’est pas un délit! www.cncdh.fr/fr/publications/la-solidarite-nestpas-un-delit (22.03. 2018). In Italien ging dem Übereinkommen zwischen der italienischen und der libyschen Regierung zur Abweisung der Migranten eine Kampagne zur Dämonisierung von „Solidaritätsverbrechen“ voraus, die NGOs angeblich bei der Rettung in Seenot geratener Flüchtlinge auf dem Mittelmeer begangen haben sollen, vgl. Patrick Wintour: Italian plan to curb Mediterranean rescue boat charities ‟threatens lives“. In: The Guardian, online. https://www.the guardian.com/world/2017/jul/03/anger-at-rules-plan-for-migrant-charities-in-mediterranean (22.03. 2018); ders.: Italy’s deal to stem flow of people from Libya in danger of collapse. In: The Guardian, online. www.theguardian.com/world/2017/oct/03/italys-deal-to-stem-flow-of-peoplefrom-libya-in-danger-of-collapse (22.03. 2018).  Bourdieu, In Algerien.

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ist. Die Stimme der Migranten wird auf diese Weise – weil zu subjektiv, zu befangen, zu markiert – als Quelle für Zeugenaussagen sowie für Ansprüche und Rechte häufig abgelehnt oder abgewertet. In diesem Klima fanden die ersten Sammlungen des Archivs in eingegrenzten Erzählräumen Platz wie etwa jenem der Asinitas, aber auch an raueren Orten des Zuhörens wie den CIE – den von der Regierung Berlusconi 2008 geschaffenen Zentren zur Identifikation und Abschiebung – sowie rund um die Ankunfts- oder Anlandungsbereiche der Migranten in Tiburtina oder auf Lampedusa.⁴⁶ Man hat sich gefragt, wieviel Wahrheit und wieviel Fiktion sich wohl hinter förmlichen Erzählungen verstecken mag, die ein afrikanischer Migrant mit dem Ziel äußert, als Flüchtling anerkannt zu werden; oder ob die Aussagen von Asylsuchenden zu ihren Migrationsentscheidungen oder zur erlittenen Gewalt ebenso wie die Angaben zu den Herkunftsländern, den Gründen der Abwanderung oder zur eigenen Identität nicht eher ihrem Überlebenswillen zuzuschreiben sind als dem Bedürfnis, eine Lebensgeschichte zu teilen oder sich darüber mit jemandem anzufreunden. Die den Asylanträgen in Italien beigefügten „Zusatzerklärungen“ dienen zumeist der Verfolgung praktischer Ziele – dem Erhalt eines Einreisevisums, einer Aufenthaltsgenehmigung aus „humanitären“ Gründen, der Anerkennung als politischer Flüchtling – und geben nicht notwendigerweise wieder, was der Einzelne tatsächlich erlebt hat. Aus diesem Grund haben wir im Archiv stets jenen Erzählformen den Vorzug gegeben, die von den zusätzlichen, zu Zwecken des Asylantrags formulierten Schriftsätzen möglichst losgelöst sind. Hierfür haben wir Erzählungen und Begegnungen an eigens vereinbarten Orten, mehrstimmige „Erzählkreise“, lange Interviews sowie spontane, auf Zeichnungen, Musik und Handybildern beruhende Formen der Selbsterzählung gefördert. Solche Quellen sind in der Lage, Momente der Intimität und der Entspannung sowie die umfassendsten Träume und Wünsche derer zu vermitteln, die ihre Heimat verlassen und die Grenzen des Menschlichen überschreiten. Denn diese privaten Momentaufnahmen erachten wir als genauso wichtig wie die Erzählungen von der an den Orten der Durchreise

 S. Gianluca Gatta: Luoghi migranti tra clandestinità e spazi pubblici. Cosenza 2010; ders. u. Giusi Muzzopappa: Middle Passages. Musealizzazione e soggettività a Bristol e Lampedusa. In: Estetica. Studi e ricerche 1 (2012), S. 167– 181; Triulzi, Listening and Archiving, sowie die Zeugnisse der Migranten auf ihren Reisen nach Lampedusa: Federica Mazzara: Lampedusa. Cultural and Artistic Spaces for Migrant Voices. In: Crossings. Journal of Migration and Culture (Special Issue) 7 (2016), S. 227– 243 und die Aussagen der Somalier, die Yimer im Aufnahmezentrum von Castelnuovo di Porto aufgenommen hat: Yimer, C.A.R.A. Italia (2009).

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oder der Ankunft erlebten oder beobachteten Gewalt.⁴⁷ Auf diese Weise haben wir versucht, Raum für private Erinnerungen und Überlegungen zu lassen, die nicht mit unter Zwang erfolgten Fluchten oder erlittenen Misshandlungen im Zusammenhang stehen. Das Ergebnis war nicht weniger reich an Erzählungen und Zeugnissen von Erlebtem, Beschreibungen von Be- und Entgegnungen zwischen Kulturen und Sprachen sowie an Momenten des Nachdenkens über die berichteten Ereignisse. Andererseits werden – im Übrigen nicht erst seit heute – die „ergänzenden Schriftsätze“, die Migranten schreiben, um die Berechtigung ihrer Asylanträge zu belegen, und die „gegenteiligen Schriftsätze“, die von sog. Territorialkommissionen verfasst werden, um Asylrecht zu gewähren oder zu verweigern, gleichermaßen als „rhetorische Übungen“ betrachtet. Sie sind in den typischen Formeln staatlicher Bürokratie, des magischen Realismus und der fiction hinsichtlich der Ausreiseoption verfasst: einer fiction, die Wissenschaftler nicht nur in Italien⁴⁸ seit geraumer Zeit in Frage stellen. Die Stimmen der Stille und der Angst, des Schmerzes oder der Scham zu sammeln – die durch die Wüste und über das Meer in einem Zustand des Überlebens und der Unterwerfung gekommenen Migranten sind alle irgendwie gezeichnet wie die Untergegangenen und die Geretteten Primo Levis –,⁴⁹ ohne das anfängliche Trauma zu beseitigen oder zu verschärfen, sondern sie zum Gegenstand der Erzählung und der Selbstreflexion zu machen, wirft ethische, historiografische und methodische Fragen auf, die jede traumatische Erfahrung unserer Zeit kennzeichnen, des Zeitalters des Zeugen.⁵⁰ Wie bei der Aufzeichnung institutioneller Momente von Gerichtsprozessen gegen die Gewalt und kollektiven Gedenkens der Gewalt (etwa der Nürnberger Prozesse, der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika oder des Internationalen Strafgerichtshofs in Arusha wegen des Völkermords in Ruanda) hat man sich beispielsweise gefragt, wie man das Schweigen, die Körpersprache, den nicht protokollierten Subtext, den Knoten im Hals des Opfers oder eines Täters erfassen soll. Und, um näher an uns zu bleiben, wie man die Anonymität aufzeichnet, wie man diejenigen schützen kann, die in ihrem und in unserem Land vor Regierungen und Ausschlussinstrumenten auf der Flucht sind; wie die Auslassungen in den Erzählungen, die Pausen, das Nicht-Gesagte zu interpretieren sind. In den Worten einer

 S. die Aussagen von Dagmawi Yimer, Zakaria Mohamed Ali und Mahamed Aman in Mazzara, Spaces.  Vgl. Terence Ranger: The Narratives and Counter-Narratives of Zimbabwean Asylum. Female Voices. In: Third World Quarterly 26 (2005), S. 405 – 421; s. auch Peter Gatrell: The Making of the Modern Refugee. Oxford 2013.  Vgl. Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. München 1990.  Annette Wieviorka: L’ère du témoin. Paris 1998.

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der Protokollantinnen der in den langen Sitzungen der Wahrheitskommission in Südafrika erzählten Gewaltakte: I was the Commission’s own captive, Its anonymous after-hours scribe, Professional blank-slate. word by word by word from winding tape to hieroglyphic key, from sign to sign, I listened and wrote. […] word upon word upon word. At first unpunctuated A part from quotations and full stops. But how to transcribe silence from tape? Is weeping a pause or a word? What written sign for a strangled throat?⁵¹

Dies sind nur einige Beispiele für die vielen Hindernisse sowie die inneren und äußeren Herausforderungen, die die Arbeit des Archivs in den zehn Jahren seines Bestehens begleitet haben. Heute müssen die Wissenschaftler vertieft darüber nachdenken, wie ihre Prozesse der Annäherung und des Teilens stiller oder verdrängter Kenntnisse und Erzählungen der neuen „Verdammten dieser Erde“⁵² zu bewerkstelligen sind, deren Worte und Zeichen (und vielleicht auch deren Schweigen) für die Zukunft zu bewahren sind. Letztere verlangen nicht nur nach Rechten und einer Staatsbürgerschaft, sondern sie verlangen von uns auch, dass wir ihren vielfachen und subjektiven Geschichten und Aussagen eine Heimat bieten. Denn ihre Erzählungen bilden eine lange, dichte Geschichte der Auswanderung, der Diaspora und des Exils nicht nur entlang der Mittelmeerküsten,⁵³ sondern innerhalb der europäischen Gesellschaften, die immer stärker von der wachsenden Mobilität der Personen und der Vielfalt der Stimmen der zeitgenössischen Gesellschaft durchdrungen werden. Mobile Stimmen der Migrationsgegenwart anzuhören und zu versuchen, Spuren ihrer Schicksale und ihrer Konditionierungen zu dokumentieren, ist

 Ingrid De Kok: Terrestrial Things. Kwela 2002, S. 32. „Ich war Gefangene der Kommission / Ihre anonyme Schreibkraft nach Dienstschluss / Das professionelle offene Ohr. / Wort für Wort für Wort / Vom abspulenden Tonband zur Symboltaste / Zeichen um Zeichen hörte ich hin und schrieb / […] / Wort um Wort um Wort / Zunächst ohne Satzzeichen / Abgesehen von Anführungszeichen und Punkt / Doch wie die Stille vom Band transkribieren? / Ist Weinen eine Pause oder ein Wort? / Welches Schriftzeichen für eine zugeschnürte Kehle?“  Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a.M. 1981.  Predrag Matvejevich: Der Mediterran. Raum und Zeit. Zürich 1993.

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deshalb eine ermüdende und aufwändige Arbeit. Der zeitgenössische Historiker steht vor Herausforderungen und Chancen, die angenommen und in Netzwerke des Bewusstseins für die Gegenwart umgewandelt werden müssen sowie in Spuren des Wissens und der Dokumentation für die Zukunft. Für diese Arbeit der Reflexion und der Erstellung (im Sinne des „Ausfindigmachens“, Bewahrens und Pflegens) dokumentarischer Quellen, die es auf dem rauen und schlüpfrigen Terrain der menschlichen Mobilität aufzuspüren gilt, wurden die Historiker heutiger Zeitläufe nicht geschult. Wir kommen nicht umhin, uns sorgfältig Gedanken über die eigenen Grenzen und über die unseres Fachs zu machen, wenn wir nicht riskieren wollen, eine staatliche und institutionelle Historiografie über die Migration zu betreiben, die nicht in der Lage ist, für die von der Migration aufgeworfenen Fragen brauchbare Antworten zu liefern. Gerade die neuen Fragen, die wir rund um die Spuren des Wissens und des Bewusstseins um das heutige Geschehen zu formulieren vermögen, werden es uns später einmal erlauben, zu einer weniger hindernisbeladenen Lesart der menschlichen Fährnisse zu gelangen, die heute den ethischen Seelenhaushalt unserer Generation belasten. Carlo Levi schrieb auf der Rückkehr aus dem Exil, in das ihn der Faschismus der 1930er-Jahre gezwungen hatte, es sei sein einmaliges großes Glück gewesen, (dank Alter, dank Bildung, dank seinem Charakter, dank der Unmöglichkeit, eine negative Welt zu akzeptieren) so frei von der eigenen Zeit zu sein, so ausgestoßen von ihr, dass er wirklich ein Zeitgenosse sein konnte, nicht nur Zeitgenosse in der grenzenlosen Gleichzeitigkeit, sondern tatsächlich Zeitgenosse der neuen Männer, der Kleinen, der Dunklen, mit denen er zu leben hatte, sich zu formen und zu erkennen.⁵⁴

Aus dem Italienischen von Walter Kögler

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Filme AMM: Equilibrio (8’), L’Albero (8’), Buongiorno (10’), Viaggio Senza Ritorno (7’). Regie Dagmawi Yimer, Schnitt Fabrizio Barraco, Koordination der audiovisuellen Medien Giulio Cederna und Angelo Loy, Produktion Asinitas Onlus, mit der Unterstützung von lettera27 sowie der Tavola Valdese. 2009. Muresu, Stefania: Nako-La terra (30’). Produktion 4CaniperStrada, unter Mitwirkung der Region Sardinien, AMM und ZaLab. 2016. Yimer, Dagmawi: C.A.R.A. Italia (40’). Produktion Asinitas, AMM. 2009. Yimer, Dagmawi: Asmat-Nomi (17’). Produktion Comitato 3 Ottobre, AMM, Open Society, Amnesty International, Emmaus. 2015.

Interview mit Giacomo Sferlazzo

Objekte von Migranten von der Müllhalde ins Ausstellungsregal Der Raum PortoM auf Lampedusa als politische Erinnerungspraxis Lisa Regazzoni: Giacomo Sferlazzo, Sie sind Künstler, Liedermacher und Mitglied des politischen Kollektivs Askavusa, das 2009 mit dem Ziel gegründet worden ist, sich mit der italienischen bzw. europäischen Migrationspolitik und ihren Auswirkungen auf die Insel Lampedusa kritisch auseinanderzusetzen. An seinem Sitz, „PortoM“, bewahrt das Kollektiv zahlreiche Gegenstände auf, die den auf der Insel angekommenen Migranten gehörten und aus den Booten geborgen wurden, mit denen diese aus Afrika über das Meer gekommen sind; Boote, die dann beschlagnahmt und auf Deponien abgestellt wurden. Wann und wie entstand die Idee, diese Objekte zu sammeln? Giacomo Sferlazzo: Zunächst ist zu sagen, dass die angelandeten Boote beschlagnahmt und auf die Deponie gebracht wurden, um sie zu zerstören. Der italienische Staat hat einigen Firmen Hunderttausende von Euro gezahlt, damit sie diese Boote zerstören, die sich oft noch in einem ausgezeichneten Zustand befanden. Eine dieser Firmen ist die S.E.A.P. von Sergio Vella (Trauzeuge von Angelino Alfano¹), die mehrere Jahre lang die Entsorgung der von den „Migranten“² benutzten Boote durchführte. Durch den Einwanderungsnotstand und die direkte Beauftragung durch den Katastrophenschutz erhielt die S. E.A.P. in den Jahren 2000/2001 einen ersten Auftrag im Wert von 800 Millionen Lire.³ Später war von 600.000 – 700.000 Euro pro Jahr die Rede. Der gesamte Abfall der Insel wird auf die Deponie Imbriacola gebracht und wartet dort auf den Abtransport auf andere Deponien in Sizilien. Die Deponie liegt in der Nähe des Auffanglagers für Migranten, in einer sehr schönen Gegend der Insel, einem der fruchtbarsten Täler. In wenigen Jahren entstanden in der Deponie Imbriacola echte Holzberge. Als ich dort hinaufstieg, kam es mir vor wie ein stürmisches Meer, ein Meer aus

 Italienischer Politiker, zunächst in Silvio Berlusconis Forza Italia. Nach dem Bruch mit Berlusconi gründete er 2013 die Partei Nuovo Centrodestra. Zwischen 2008 und 2018 war er Justiz-, dann Innen- und schließlich Außenminister verschiedener Regierungen.  Zu Giacomo Sferlazzos Verständnis der Bezeichnung „Migrant“ s.u.  Dies entspricht 410.316 Euro. https://doi.org/10.1515/9783110552201-016

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Trümmern; von dort aus konnte man den „Trümmerhaufen“⁴ sehen, der laut Walter Benjamin die Geschichte ist. Seit meiner Kindheit gehe ich auf Mülldeponien und ich fühle mich aus tausend Gründen davon angezogen. Die Deponie ist das wahre Sinnbild unserer Zeit und die Vergegenständlichung des wirtschaftlichen und politischen Systems, in dem wir leben. Es ist kein Zufall, dass die Deponien sich auf Sizilien oft in den Händen der Mafia befinden, die jedes Interesse daran hat, die Bewirtschaftung von Abfällen im totalen Chaos zu belassen, das die Anhäufung von Abfällen auf der Deponie begünstigt und Mülltrennung oder Konsumkritik in jeder Hinsicht verhindert. Die Mafia ist schließlich nichts anderes als ein Anhängsel des Kapitalismus. Beim Abfall tun sich viele entscheidende Fragen auf, zuallererst die nach dem Wert. Der Konsumismus, ein unvermeidlicher und notwendiger Aspekt des Kapitalismus, stellt sicher, dass in erster Linie „Abfall“ produziert wird. Und wenn die Ware einmal ihren spezifischen Wert verloren hat und zu Abfall geworden ist, zieht man erneut Profit daraus. Auf meinen Spaziergängen über die Müllhalden hat mich unheimlich oft die Phantasie beflügelt, ich habe den Müll häufig in meinen Werken verwendet. Für mich ist das Gehen durch den Müll eine Art Meditation. Bei einer dieser Erkundungen auf der Mülldeponie von Imbriacola fand ich ein in Plastik und Klebeband eingewickeltes Päckchen. Als ich es öffnete, hielt ich sakrale Texte, Fotos und Briefe in fremder Sprache in den Händen. So etwas habe ich nicht noch einmal erlebt. Es war, als hätte man die ägyptischen Pyramiden oder ein altes Grab voller archäologischer Funde entdeckt. Ich war mit etwas in Berührung gekommen, das mit der ganzen Menschheit zu tun hatte, etwas Verschollenem, das nun wieder ans Licht kam. Diese Briefe waren von einem äthiopischen Diakon und im Paket befanden sich auch ein Tagebuch seiner Reise von Äthiopien nach Libyen sowie einige Briefe, die ihm seine Schwester aus Äthiopien über einen anderen jungen Äthiopier nach Libyen geschickt hatte. Als Kollektiv hatten wir nicht geplant, solche Objekte zu sammeln, es hat sich so ergeben. Wir haben dann versucht, das Sammeln zu organisieren, und im nächsten Schritt haben wir uns Gedanken darüber gemacht, wie wir sie ausstellen sollten und welchen politischen Wert sie haben. Diese Objekte haben eine Reihe von sehr interessanten Übergängen erlebt, aus Abfall sind sie zu Ausstellungsgegenständen mit einer sehr starken Aura geworden, deren Wirkung wir ständig in Frage zu stellen versuchen. Es besteht die Gefahr, dass die Objekte wieder zu einem Bild der Rhetorik und letztlich zu einem Ausdruck des Kapitals werden. Manche sehen in diesen Objekten die Möglichkeit eines wirtschaftlichen oder propagandistischen Gewinns oder wollen damit

 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. Hrsg. v. Gérard Raulet. Berlin 2010, S. 75.

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Karriere machen. Als Kollektiv mussten wir ständig alles hinterfragen. Marcel Duchamp hatte viele Dinge in Bezug auf das dekontextualisierte Objekt vorweggenommen, aber in diesem Fall sind die Implikationen so vielfältig, dass Duchamps Analysen nicht ausreichen, um der Komplexität der entstandenen Situation gerecht zu werden, auch weil wir das Verhältnis zwischen den Objekten und ihrer Zurschaustellung immer wieder in Frage gestellt haben. Welche Art von Gegenständen haben Sie außer den Briefen noch gefunden? Welche haben Ihre Neugier am meisten geweckt? Von welchen wussten Sie nicht, was sie waren oder wie man sie nutzt? Die Objekte wurden nicht nur von mir, sondern von allen Mitgliedern des Kollektivs Askavusa gefunden und aufbewahrt. Es gibt viele davon und sie sind sehr unterschiedlich. Abgesehen von Briefen haben wir auch Alltagsgegenstände wie Schuhe, Küchenutensilien und Medikamente gefunden (Abb. 1– 3). Doch die Briefe bleiben für mich die faszinierendsten Funde, auch wenn ich die Sprachen, in denen sie geschrieben sind, nicht verstehe. Aber jedes Mal, wenn ich einen fand, war es immer aufregend. Die Briefe bergen den großen historischen und politischen Wert dieser Gegenstände, sie sind zugleich Spuren einer subjektiven und kollektiven Geschichte. Sie zeugen von einem beiläufigen Bedürfnis wie dem, mit einem Verwandten oder Freund in Beziehung zu stehen, und ganz allgemein dem universellen Bedürfnis des Menschen zu kommunizieren. Wenn ich Briefe fand, hatte das etwas Magisches. Diese Briefe aus dem Müll zu ziehen, hat Wege geöffnet, die für mich zauberhaft sind. 2011 fand ich auf dieser Müllhalde sogar die Briefe einer Großtante von mir, wunderschöne Briefe, die eine Verwandte von mir weggeworfen hatte, nachdem sie das Haus meiner Großtante geräumt hatte. Ich war auf Drängen der befreundeten Fotografin Maria Di Pietro auf die Deponie gegangen, die mich beim Suchen auf der Deponie fotografieren wollte. Ich hatte sie gewarnt, dass ein Feuer fast alles eingeäschert hatte, aber sie bestand darauf, und als wir weggingen, bemerkte sie aus den Augenwinkeln heraus die Ecke eines Briefes, die aus einem Haufen roter Erde herausragte. Der Wind ließ das Blatt hinund herflattern, wobei ein leichtes Geräusch entstand. Als wir es herausgezogen und die Erde abgeklopft hatten, las ich nach dem Umblättern der letzten Seite den Namen Paolo Sferlazzo, ein Verwandter von mir. Wir fanden etwa fünfzig Briefe meiner Familie, die ich wie einen Schatz hüte. Ich war auf die Deponie gegangen, um nach Briefen von „Migranten“ zu suchen, und fand Briefe von meiner Familie! Hinsichtlich der Dinge, deren Verwendung ich nicht kannte, erinnere ich mich an Erde, die in Plastik gehüllt und fest verschlossen war. Wir fanden viele solcher Tüten und erfuhren dann, dass manche ein Stück Heimaterde als Amulett und als Glücksbringer mitnehmen (Abb. 4).

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Abb. 1: Schuhe, PortoM, ©Askavusa.

Abb. 2: Teekannen, PortoM, ©Askavusa.

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Abb. 3: Arzneifläschchen, PortoM, ©Askavusa.

Abb. 4: Beutel mit Heimaterde, PortoM, ©Askavusa.

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Was für ein Raum ist PortoM? Er wird oft als Museum bezeichnet, wirkt aber eigentlich nicht so. Er hat eher den Anschein eines Archivs, oder besser gesagt eines Zwischenlagers. Oder soll es eher ein Labor sein? Wie würden Sie diesen Raum bezeichnen? Und welche Aufgaben soll er erfüllen? Ich würde ihn nicht eindeutig definieren, zumindest nicht mit einem einzigen Wort. Es ist ein Ort, an dem das Kollektiv Askavusa viele Menschen aus aller Welt trifft. Zuerst schauen sich diese Leute die Objekte an und dann bleiben sie stehen, um mit uns zu reden. Wir erzählen von unserer Haltung zur Migration und der Rolle Lampedusas im globalen Kontext, nicht nur als Experimentierfeld der EUEinwanderungspolitik, sondern vor allem als militärischer Außenposten der NATO im Mittelmeerraum und als Medienbühne. PortoM will ein antirhetorischer, politischer Raum sein. Ein Raum der Erinnerung, der in Wallung ist. Es gibt darin auch eine Bibliothek, die Thomas Sankara⁵ gewidmet ist, und eine natürliche Höhle, in der wir verschiedene Aktivitäten durchführen, darunter „Lampemusa“, meine Geschichte über Lampedusa, die aus Liedern und cunti, Geschichten, besteht. Bald werden wir die Informationstafeln zum Thema Migrationen/Militarisierung/Schaubühne fertigstellen, die zusammen mit den Objekten die Funktion erfüllen, die wir PortoM geben wollen, nämlich ein Ort der Information zu sein, der Analyse, des Austauschs, des Nachdenkens, der sich den Lügen und Interessen des kapitalistischen Staates entgegenstellt und eine Funktion der Entschleierung erfüllt. Dieser Raum will auch ein Beispiel für eine konkrete Alternative sein, wie man mit politischen und kulturellen Räumen umgeht. Das Kollektiv hat mit Fachleuten aus dem Museumsbereich zusammengearbeitet, um diesen Raum zu bauen und über die Präsentation der Objekte nachzudenken. Wie hat sich diese Zusammenarbeit gestaltet und welche Ergebnisse hat sie gebracht? In den Jahren 2010 bis 2013 haben wir mit mehreren Personen gesprochen, um gemeinsam ein Museum für Migration in Lampedusa aufzubauen. Insbesondere mit dem AMM (Archivio Memorie Migranti)⁶ und dem „progetto Isole“ („Projekt Inseln“) wurde die Katalogisierung von Objekten und die Restaurierung einiger Papiere (Briefe, Fotos, Tagebücher etc.) durch das Restaurierungslabor der Sizilianischen Regionalbibliothek begonnen. Möglich wurde dies durch die Koordination und die Interessenahme des Kunsthistorikers und Restaurators Giuseppe

 Sozialistischer und panafrikanistischer Präsident Burkina Fasos, der 1987 ermordet wurde.  Siehe den Beitrag von Alessandro Triulzi in diesem Band.

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Basile. Ich möchte darauf hinweisen, dass all diese Menschen sich vorher nicht kannten und erst durch uns miteinander in Kontakt gebracht wurden. Innerhalb des Kollektivs gab es manche Bedenken hinsichtlich einiger Entscheidungen, etwa zum Dialog mit der Verwaltung von Giuseppina Maria Nicolini⁷, mit der wir kurz vor den Kommunalwahlen im Mai 2012 die Beziehungen abgebrochen hatten. Aber der Wille, das Kooperationsprojekt durchzuführen, setzte sich durch. Je mehr der Aufbau des Museums vorankam, desto mehr wurde uns klar, dass es in eine Richtung ging, die wir nicht teilten, und vor allem spürten wir, dass wir die Kontrolle darüber verloren, in welchem kontextuellen Rahmen die Objekte erscheinen sollten. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Objekte sprechen selbst, sie sagen Dinge, aber es ist eine Sprache, die von Subjekt zu Subjekt geht und die nicht jeder „hören“ kann. Was ihre „öffentliche“ Botschaft angeht, ist die Situation jedoch eine andere. Diese „öffentliche“ Botschaft kann je nach dem Kontext, in dem diese Objekte gezeigt werden, nach den angebrachten Beschriftungen, dem Licht, in das sie gestellt werden, oder der die Ausstellung begleitenden Pressemitteilung völlig konträr ausfallen. Dieser Weg führte zu einer rhetorischen Herangehensweise an die Objekte, und das entsprach den Anforderungen der für das Museum vorgesehenen Sponsoren: der EU-Institutionen oder der möglichen Stiftungen und Vereine, die als Unterstützer auftreten sollten. Dieselben Subjekte, die Migrationen verursachen, wissen sie in vielerlei Hinsicht auszunutzen, unter anderem, indem sie ein mehr oder weniger raffiniertes Spektakel daraus machen. Diese oft verkitschte und sentimentale Darstellung (rund um die „migrantischen“ Objekte) dient dazu, jede kritische Analyse zunichte zu machen und den humanitären Diskurs zu verfestigen, der zum Beispiel die Rettung auf See durch militärische Apparate verherrlicht und die Frage der Bewegungsfreiheit und der Legalisierung der Reisen verschleiert. Irgendwann haben wir also alles gestoppt, und mit dem Tod von Giuseppe Basile haben wir nicht nur einen der größten Restauratoren und Kenner der italienischen Kunst verloren, sondern es kam uns auch das äußerst prekäre Gleichgewicht abhanden, das sich eingestellt hatte. Wir haben dort weitergemacht, wo wir angefangen hatten: bei der Mülldeponie. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass in diesen Jahren auf Lampedusa alles Mögliche passiert ist, und wir haben als politisches Kollektiv am Geschehen teilgenommen, im Gegensatz zu den anderen, die am Bau des Museums für Migration auf Lampedusa beteiligt waren, manchmal mit Positionen, die überhaupt nicht mit unseren übereinstimmten. Bis heute versucht einer der Beteiligten, die von der Sizilianischen Regionalbibliothek restau-

 Nicolini war von 2012 bis 2017 Bürgermeisterin von Lampedusa und Linosa.

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rierten Papiere, die von der Bibliothek übergeben wurden, nicht uns, die wir sie gesammelt und aufbewahrt hatten, sondern der Gemeinde zu überlassen, weil sie ein institutioneller Bezugspunkt ist. Es war ein Fehler, nicht auf der Rückgabe an uns zu bestehen und ihrer Verwendung auf anderen Ausstellungen zuzustimmen, zum Beispiel anlässlich der Ausstellung in Rom zum Gedenken an Basile. Wie setzt sich Ihre Idee dann auf der Ausstellungsebene um? Oder vielmehr, wie haben Sie die Objekte im Raum angeordnet, um Ihre Kritik auszudrücken? Wir haben aus dem Holz der Boote, die auf die Deponie gebracht wurden, Regale gebaut. Wir haben uns dafür entschieden, den Regalen und Wandbrettern verschiedene Formen zu geben, und wir haben die Objekte nach Gattung sortiert und angeordnet (Abb. 5). Es gibt Regale für Medikamente, solche mit Küchenutensilien, solche mit Gegenständen von Kindern und Regale für sakrale Texte (die es bald nicht mehr geben wird). Wir haben uns entschieden, sie nicht zu beschriften, um sie jeder Form der Musealisierung zu entziehen, aber wir bewahren Fotos der einzelnen Objekte auf, damit wir wissen, was wir haben und wo die Teile aufbewahrt werden.

Abb. 5: Regal mit Küchenutensilien, PortoM, ©Askavusa.

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Warum wird es die sakralen Texte nicht mehr geben? Wir entwickeln Projekte, um die Gemeindeverwaltung von Lampedusa einzubeziehen und unsere Analyse und kritische Botschaft weiter zu verbreiten. Wir haben vor, in der ganzen Gegend, an mindestens einem Dutzend öffentlicher Orte, einige Objekte von „Migranten“ zu verteilen, etwa am Historischen Archiv, an der Schule und am Touristenzentrum. Wir bauen Schaukästen, die einige Objekte mit Erläuterungen enthalten, die erzählen, was in den letzten Jahren alles passiert ist. Natürlich machen wir das alles ehrenamtlich und ohne Mittel. Neben den genannten Orten, unter denen die Schule eine grundlegende Bedeutung hat, gibt es die Kirche, deren Pfarrer bereit ist, die sakralen Texte anderer Religionen aufzunehmen. Was bedeutet es für Sie, mit den Objekten zu tun zu haben, aber nicht mit den Menschen, denen sie gehörten und die bekanntlich gleich nach dem Betreten der Insel zum Identifikations- und Abschiebezentrum (CIE) gebracht wurden? Haben Sie versucht, ihre Geschichten oder Zeugnisse rund um diese Objekte zu sammeln? Tatsächlich standen wir mit vielen „Migranten“ zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen in Kontakt. Fast nie waren die Leute, die wir kontaktiert haben, die Eigentümer der Objekte, aber das ist für mich irrelevant. Wir haben einige Dinge gemacht, darunter ein improvisiertes Musikalbum, das man kostenlos online anhören kann, wo es einige direkte Erfahrungsberichte in Form von Rap oder Reggae gibt. Mit Musik kann man anderen Menschen auf authentischere Weise begegnen. Natürlich nur, wenn man Musik mit einer guten Dosis Körpereinsatz macht, wenn man sich gehen lässt, wenn die Musik auch Verwirrung und Düsteres zu sein vermag, wenn Rationalität, gesunder Menschenverstand und alles andere verschwindet und man zusammen mit denen, die sie spielen, und denen, die sie hören, zur Musik wird. Ich glaube, das Nützlichste, was wir zusammen mit einigen „Migranten“, die in Aufruhr waren, getan haben, war, ihre Erklärung zu übersetzen. Sie hatten den Platz der Kirche von Lampedusa besetzt, um gegen die erzwungene Abnahme von Fingerabdrücken zu protestieren und die Gewalt innerhalb des Hotspots zu verurteilen, und für sie war es notwendig, dass ihre Forderungen nicht in Lampedusa blieben, sondern zumindest eine nationale Dimension erreichten, und ich muss sagen, dass uns dies gelungen ist. Einige Migranten sind nach Lampedusa zurückgekehrt, wie die Dokumentarfilme Soltanto il mare (2011) von Dagmawi Yimer und Grooving Lampedusa (2012) von Mario Badagliacca zeigen. Hat einer dieser Migranten PortoM besucht? Wenn ja,

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wie haben sie auf die Sammlung der Objekte reagiert? Konnten Sie Namen und Geschichten ergänzen? Hinsichtlich der Reaktionen der Menschen auf die Objekte wie auch auf alles andere würde ich versuchen, über die Definition von „Migrant“ hinauszugehen. Es ist schwierig, darüber zu reden, ohne das Wort „Migrant“ zu verwenden, und in diesem historischen Moment sind wir gezwungen, es zu benutzen, aber ich möchte darauf hinweisen, dass es einer dieser Mechanismen der Sprache ist, denen man sich unmöglich entziehen kann, und dass es „die Migranten“ nicht gibt. Vielmehr ist es eine Kategorie, die von der Politik geschaffen und genutzt wird. Die Reaktionen sind von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, unabhängig davon, ob er die direkte Erfahrung gemacht hat, sich auf eine solche Reise zu begeben, die aber tatsächlich Millionen von Menschen gemeinsam ist. Wer kann heute sagen, dass er ein „Migrant“ ist, und wer kann das für sich verneinen? Ich erinnere mich sehr gut daran, dass wir 2011 ein Büro hatten, das Peppino Impastato⁸ gewidmet war, mitten im Dorf. Im ersten Raum waren ein paar Objekte und einige meiner Arbeiten ausgestellt. Als die Regierung 2011 Tausende von Tunesiern auf der Insel festhielt, um einen Notfall zu schaffen, kamen viele in unser Büro, um ihr Telefon aufzuladen, etwas zu essen und sich zu unterhalten. Einmal schrieb ein Junge auf Arabisch, mit einem schwarzen Stift, über eines meiner Werke. „Allah“ (Abb. 6). Zuerst war ich wütend, aber dann wurde mir klar, dass das perfekt passte. Wie Sie wissen, ist der vorliegende Band den Vergangenheiten gewidmet, von denen es keine schriftlichen Spuren gibt, und der Art und Weise, wie Historiker versuchen, diese Vergangenheiten durch alternative Quellen und Methoden zu rekonstruieren. Wie Patrick Geary auf der Pariser Konferenz zu Recht bemerkte, müssten diese Objekte, um als historische Quellen zu dienen, bestimmten Dokumentationsverfahren unterzogen werden, z. B. der Angabe des genauen Ortes und Datums des Auffindens. Es ist klar, dass dies nicht der Zweck Ihrer Initiative ist. Welches Zeugnis können diese Objekte folglich geben, welche Geschichten erzählen sie? Was ist Ihrer Meinung nach ihr „historischer“ Wert? Wir sollten zuerst verstehen, auf welche Art von Historikern wir uns beziehen. „Der Historiker ist ein rückwärtsgewandter Prophet“, schrieb Walter Benjamin 1917. Und zum historischen Wert möchte ich Benjamin noch einmal aufgreifen: „Die materialistische Geschichtsschreibung wählt ihre Gegenstände nicht leichter

 1978 ermordeter Anti-Mafia-Aktivist.

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Abb. 6: Giacomo Sferlazzo, Il the e la musica (Bruchstücke von Booten, Kassette, Teebeutel, Ölfarben) 2010, ©Giacomo Sferlazzo.

Hand. Sie greift nicht, sondern sprengt sie aus dem Verlauf heraus. [… Denn] das destruktive Moment in der materialistischen Geschichtsschreibung ist als Reaktion auf eine Gefahrenkonstellation zu begreifen, die sowohl dem Überlieferten wie dem Empfänger der Überlieferung droht. Dieser Gefahrenkonstellation tritt die materialistische Geschichtsdarstellung entgegen; in ihr besteht ihre Aktualität, an ihr hat sie ihre Geistesgegenwart zu bewähren.“⁹ Der Historiker von mor-

 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. V.1. Frankfurt a.M. 1982, N 10 a, 1– 2, S. 594 f.

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gen wird sich mit der Verfälschung auseinandersetzen müssen, die heute alles durchdringt. Wenn diese Objekte in einen anderen Kontext gestellt und verwendet werden, um die Rhetorik der Migration zu reproduzieren, die so nützlich ist, um den Status quo zu erhalten, wenn man sie untersucht, werden sie weit mehr beinhalten als nur eine einfache Archivierung und Katalogisierung. Die Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses oder des offiziellen historischen Narrativs ist fast immer eine Fälschung. Nun müssen wir ein weiteres Element der Fälschung zur Kenntnis nehmen, das sich aus der Spektakularisierung der möglichen historischen Quellen von morgen ergibt, die hauptsächlich Waren sein werden. Wie Guy Debord mit großer Klarheit erklärt hat, ist das Spektakel der Moment, worin die Ware zur völligen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist, weshalb nicht nur das Verhältnis zur Ware sichtbar ist, sondern man nichts anderes mehr sehen kann: Die Welt, die man sieht, ist ihre Welt. Eine Welt, diese Warenwelt, die über alles herrscht, was gelebt wird. Letztendlich glaube ich, dass diese Objekte viele Dinge sagen können, dass aber die wichtigsten außerhalb dieser Objekte zu suchen sind, in dem Sinn, den man um sie herum und in den Beziehungen dieser Konstruktion zur Macht errichtet. Um auf Gearys Überlegung zurückzukommen, kann niemand diese Objekte benutzen, ohne sie den eigenen Bedürfnissen anzupassen. Wenn Geary auf der Konferenz sagt, dieses Konvolut von Objekten und die (anti-auratische) Ausstellungsstrategie, die sie nutzbar macht, bezeuge nicht so sehr eine Einwanderungsgeschichte als vielmehr unsere Arbeit des politischen Aktivismus, dann stimme ich dem zu, vorausgesetzt, man lässt gelten, dass jede Form der Ausstellung und Nutzung von Gegenständen bereits in sich selbst eine Interpretation ist. Die Sache ist aber, dass die wissenschaftlichen, akademischen oder künstlerischen Formen der Archivierung und Ausstellung von Objekten so dominant sind, dass sie die einzig möglichen Formen der Ausstellung einer Migrationsgeschichte zu sein scheinen. Es geht darum, dass Objekte allein nicht ausreichen, um über die Geschichte der Migration zu sprechen. Wenn wir Besucher haben, endet der Besuch in PortoM immer mit der Ausstellung unserer historisch-politischen Analyse dessen, was in den letzten dreißig Jahren in Bezug auf Migration geschehen ist. Wir arbeiten an einer Reihe von Medien (Fotos, Videos, Schautafeln), die diese Analyse, diese Studien innerhalb von PortoM wiedergeben können. Natürlich kann man auf diese Weise auch unsere Kritik am Verhältnis von Kultur und Macht aufspüren. Unter diesem Gesichtspunkt kommt es sehr auf den Willen jedes Einzelnen an, wo er lieber hinschaut und was er vertiefen will. Ich möchte noch einmal auf das Thema der „Archivierung“ zurückkommen. Das Aufzeichnen der Namen der Boote (falls vorhanden), das Notieren des Tages und möglicherweise die Liste der anderen Dinge, die in ihnen gefunden wurden, ist nicht

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nur eine archäologische Praxis. Sie kann später einmal z. B. auch die Identifizierung des Eigentümers erleichtern. Und das führt mich dazu, Ihnen die heikle, wahrscheinlich nicht leicht zu beantwortende Frage zu stellen, wer der Besitzer dieser Objekte ist und wem Sie eventuell bereit sind, sie zu geben, und wem nicht… Die Frage nach dem Besitz dieser Objekte ist nicht nur heikel, sondern erfordert eine sehr differenzierte Antwort, die vom Begriff des Eigentums, seiner Entwicklung und seiner mittlerweile vollständigen Akzeptanz durch alle (abgesehen von kleinen Minderheiten) ausgehen sollte. Zusammenfassend möchte ich sagen, dass die einzigen, denen ich diese Objekte geben würde, diejenigen sind, die sie hier auf Lampedusa verloren haben. Manchmal habe ich das Bedürfnis, sie loszuwerden, aber eine Entscheidung müsste ich auf alle Fälle zusammen mit den anderen Mitgliedern des Kollektivs treffen. Denn ich entscheide nicht allein über diese Objekte, außer in einigen Fällen, in denen es aus verschiedenen Gründen unmöglich ist, eine gemeinsame Entscheidung zu treffen. Generell geht es uns nicht darum, diese Objekte zu besitzen, sondern ihre Bedeutung in diesem historischen Moment zu organisieren. Aus dem Italienischen von Walter Kögler

Personenregister Abū ̔Inān (marinidischer Sultan) 250 Acosta, José de 11 – 18, 20 – 23 Adam, Uwe Dietrich 182 Adam (Bibel) 7, 114 Africanus, Leo 250 Akçam, Taner 67 al-Khuwārizmi 250 Alboin (Langobardenkönig) 227 Alexander der Große 12 Alfano, Angelino 327 Ali, Zakaria Mohamed 315, 321 Ali Farah, Cristina 312 Aman, Mohammad 315, 321 Anchieta, José de 17 f. Ankermann, Bernhard 208 Aristarchos von Samothrake 7 Arnold, Heinz Ludwig 290 Atatürk, Mustafa Kemal 80 Avenches, Marius von 227, 233, 238, 240 Bacchus (Beiname des Dionysos) 39, 50 Badagliacca, Mario 311, 315, 335 Badia, Gilbert 297, 299 Balfour, Henry 139 Balta, Evangelia 76, 79 Bancel, Nicolas 93 Bandella, Monica 311 Barbas, Jean-Claude 293 Barère, Bertrand 52 Bargheer, Ernst 167, 183, 186 Baronius, Caesar XV Barthes, Roland 298 Basile, Giuseppe 332−334 Bastian, Adolf 196 f., 202 – 205, 209 f. Bazin, Jean 253 f., 259, 261 Beauharnais, Joséphine de 34, 58 Bebermeyer, Gustav 184 Beda Venerabilis 227 Below, Georg Anton Hugo von 117 Benjamin, Walter 328, 336 f. Bennett, Tony 194 Berktay, Halil 67 Berlusconi, Silvio 320, 327 https://doi.org/10.1515/9783110552201-017

Bernheim, Ernst XIII, XXIV, 176 – 183, 185, 205 f., 208 Bernstein, Eduard 180, 182 f. Berossus (Pseudo-Berossus) XVI Bertella Farnetti, Paolo 313 Bhabah, Homi K. 280 Biadene, Riccardo 314 Blanchard, Pascal 93 Bloch, Ernst 111, 123 f. Blumenbach, Johann Friedrich 196 – 198 Blumenberg, Hans IX Boas, Franz 212 Bochart, Samuel 53 Bonaparte, Lucien 40 Bonaparte, Napoleon 34 f., 58, 85 Bopp, Franz 119 Borchling, Conrad 166 Borgolte, Michael 225 Bourdieu, Pierre 16, 317 – 319 Brandt, Johannes G. 293 – 295 Brandt, Willy 295 Braudel, Fernand 211 Bredekamp, Horst 267 f., 270 Brinckmann, Justus 164 Burckhardt, Jacob 270 Büttner, Christian Wilhelm 201 Caesar, Gaius Julius 37, 39, 55, 133 f., 138, 150 Calmet, Dom Augustin 41, 47 f. Camara, Seydou 247, 255 Cambry, Oise Jacques 32 – 36, 38, 40, 56, 58 Camden, William 36 Cañizares-Esguerra, Jorge 5 Canós Donnay, Sirio 256 Cantino Alberto 87 Cavalli Sforza, Luigi 233 Caylus, Anne-Claude-Philippe Comte de 36 Cederna, Giulio 311 f. Celan, Paul 289 – 291, 298 Certeau, Michel de XXVI−XXVIII, 4, 8 – 10, 16, 51 f.

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Personenregister

Champollion, Jean-François 118 Chaptal, Jean-Antoine 40 Chatzidakis, Georgios 73 Chladenius, Johann Martin XII, XV Chrysostomos von Smyrna/Izmir 78 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de XXII Coop, Graham 234 f. Coulibaly, Soumaila 247 Creizenach, Theodor 114 Cuoqs, Joseph M. 250 Curzon, George N. 69 Da Jara (Herrscher des Bamana-Reiches) 260 Darwin, Charles 130, 132, 134, 136 f., 149, 151, 174, 200 Debord, Guy 338 Denina, Carlo 32 Descartes, René XVII, 30 Di Pietro, Maria 329 Diaconus, Paulus 227 f., 238 Diana (Gottheit) 49 Dor, Milo 290 Dornemann, Luise 297 Douglass, Frederick 267 – 269 Droysen, Johann Gustav X, XII f., XXII−XXIV, XXVII, XXXI f., 116 f., 179, 210, 270 Du Cange, Charles Du Fresne 44, 50 Duchamp, Marcel 329 Dulaure, Jacques-Antoine 32 f., 38, 40, 49 f., 56 f. Eckhel, Joseph Hilarius 143 Engels, Friedrich 111, 122 f. Epping-Jäger, Cornelia 289 f. Erzbischofs von Trapezunt 73 f Estete, Miguel de 8 Evans, John XX, 129 – 139, 141 – 151 Exertzoglou, Haris 73 – 76, 78 Fauvelle-Aymar, François-Xavier XXVII f., 250 Favre, Muriel XXIX, XXXI, 289 ff. Fehrle, Eugen 183 Félibien, Michel 37 Fiedermutz-Laun, Annemarie 202 Fontaine, Olivier 85, 88 – 94, 98 – 102

Foucault, Michel XXVI, 169, 309 Fresnoy, Nicolas Lenglet du 31 Freudenthal, Herbert 167, 183, 186 Frobenius, Leo IV, 201 – 209, 211 f. Fuchs, Eduard 270 Fukuyama, Francis 124 Fuma, Sudel 89 Gadamer, Hans-Georg 201 Gaius Plinius Secundus Maior 41 Garsault, A.-G. 95 f. Gatta, Gianluca 311, 320 Gatterer August 198 Gatterer, Johann Christoph XV, 201 Gauvin, Gilles 85, 90 f., 100 f. Geary, Patrick J. XI, XXVIII f., XXXI, 223 ff., 336, 338 Gébelin, Antoine Court de 53 Géraud, Jean-François 85 – 87, 97 f., 101 f. Gerbi, Antonella 5 Gestrich, Nikolas XXVI, XXVIII, XXXI, 247 ff. Gierl, Martin 201 Gildas (Hl.) 226 Goebbels, Joseph 290, 298, 300 Goffart, Walter 227 Goguet, Antoine Ives 118 Göring, Hermann 296 Graebner, Fritz 205 f., 208 Grégoire, Henri 51 – 54 Greimer, Peter 75 f. Grimm, Jacob und Wilhelm 118, 160 – 163, 174 Guemené, Doyen von 46 Guiomar, Jean-Yves 32 f. Haberland, Eike 202, 209, 213 f. Haddon, Alfred Court 139 Hagenbeck, Carl 203 Hahn, Hans Peter XVI, XXIV, XXXI, 193 ff. Halaçoğlu, Yusuf 67 Halsall, Guy 225 f. Harrell-Bond, Barbara 317 Haupt, Moriz 158 – 161 Heather, Peter 225 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich XXII f., 110, 121, 123

Personenregister

Herder, Johann Gottfried 116., 167, 199, 201, 209 f. Hermann, Jules 88, 95 Hermes, Karl Heinrich 113 Herodot von Halicarnassos 110 Hervé, Florence 297 Heyne, Moriz 173 – 175 Hildebrand, Hans 137 f. Hitler, Adolf 183 f. Homer 7 Hooker, Joseph 151 Höse, Vanessa 280 – 282, 284 Hubert, Cordula 152, 243 Hubertus (Hl.) 49 Humboldt, Wilhelm von XXII, 121, 200 Ibn Battūta 250 – 252 Ibn Juzayy 250 Ibn Khaldūn 250, 252 Imeri, Sabine 194, 198 Immig, Nicole XVIII, XXV, XXXI, 67 ff. Impastato, Peppino 336 Jäger, Jens XXIX, XXXI, 267 ff. Jäger, Oscar 114 Jens, Walter 290 Jesus Christus 16 f. Jiré, Baru 247, 255 Johanneau, Éloi 32 f., 36, 38 – 40, 42, 57 f. Johannes der Täufer 39, 47 Jones, Adam XXVII, 247, 251 Jordan, Stefan XV f., XXXI, 109 ff. Jordanes (Geschichtsschreiber) 227 Julia, Dominique 51 f. Jussieu, Antoine de XII, 145 Kant, Immanuel IX, XXII, 198 Karl der Große 228 Keary, Charles Francis 137 f. Keïta, Modibo 248 Kerdrel, Jean-Maur Audren de 46 Kersaint, Armand-Guy 53 Keyssler, Johann Georg 36 Klaproth, Heinrich Julius 119 Kögler, Walter 323, 339 Koldewey, Robert 118 König, Ekkehard 295

343

König, Gudrun M. XVI, XXIV, XXXI, 157 ff. Koselleck, Reinhart X, XII, 109, 124 Kossinna, Gustaf 166, 229 f. Kramer, Augustin 197 Kramer, Karl-S. 179 Krause, Johannes 239 Kubary, Johann S. 197 Kyros II. (persischer König) 113 f. La Peyrère, Isaac de 109 La Tour d’Auvergne, Théophile-Malo de 33, 36, 54 – 56 Lafitau, Joseph-François XIX, 145 Lamprecht, Karl XXV, 117, 171, 210 f., 270 Las Casas, Bartolomé de 22 Lauffer, Otto 157, 162 – 186 Lavallée, Joseph 32 f., 38, 52 Lazarus, Moritz 198 Le Blond, Gaspard Michel 37 Le Brigant, Jacques 52 – 54, 56 Le Gallois, Paul-Antoine 46 Le Noir, Dom Jacques-Louis 46 Le Pen, Marine 224 Le Roy, Loys 6 – 10 Lebeuf, Jean 37, 46 – 49 Lebrun, Pierre 45 Lenoir, Alexandre 32 – 37 Léon, Cieza de 8 Lequinio, Marie Joseph 52 f. Lestrange, Gisèle 289 f. Lestringant, Frank 6, 8 Leutwein, Theodor 273 f., 277 f. Levi, Carlo 323 Levi, Primo 321 Liakos, Antonis 72, 76 Lichtwark, Alfred 185 Lindenberger, Thomas 300 f. Lithoxoos, Nikolaos 74 Logotheti-Merlier, Melpo 78 f. Lopes de Sequeria, Diogo 86 f. Lorenz, Ottokar 209 f. Loy, Angelo 312 Lubbock, John 134, 136, 146 Ludwig XIV. (König von Frankreich) 53 Mabillon, Jean XV, XVII, 37, 45 MacGaffey, Wyatt 258, 264

344

Personenregister

Maggiolo, Louis 47 Magnus, Olaus 36 Maharero, Samuel 272 – 280, 285 f. Maillard, Louis 86 Malinowski, Bronislaw 317 Mangourit, Michel-Ange-Bernard 32 f., 38, 54 f. Mann, Golo 122 Marchetti, François 44 Maria (Mutter Jesu) 17 f. Martini, Martino 20 Marx, Karl 110 f., 182, 296−298 Mascarenhas, Pedro de 86 Maurus (Hl.) 45 Maury, Jean-Sifrein 53 May, Niels F. 23 Medem, Eberhard Freiherr von 301 Medick, Hans 211 Meinecke, Friedrich 117 Melle, Werner von 164 Mendoza, Gonzales von 19 Mentelle, Edme 32, 38 Mergel, Thomas 295, 297 f., 300 Meringer, Rudolf 171 f. Meyer-Kalkus, Reinhart 294, 298 Miranville, Alexis 91 f. Momigliano, Arnaldo 15, 29 Montelius, Oscar 137 Montfaucon, Bernard de XV, 30, 36 f. Moraes Farias, Paulo Fernando de 251, 262 f. Moreau de Saint-Méry, Médéric-Louis-Elie 58 Morgan, Henry 210 Mortille, Gabriel de 150 Moses (Bibel) XVI, 7 Müller, Gerhard Friedrich 196, 198 Müller, Jürgen 303 Muresu, Stefania 315 Nachtigall, Horst 202 Nicolini, Giuseppina Maria 333 Nietzsche, Friedrich Wilhelm XX, 199 Nimrod (Bibel u. Koran) 120 Noah (Bibel) 7, 120, 247 Nóbrega 17 f.

Nompère de Champagny, Jean-Baptiste de 35 North-Coombes, Alfred 86 f. O’Gorman, Edmund 5, 21, 23 Oikonomidis, Dimosthenis 74 Orbán, Viktor (ungarischer Premierminister) 223 Ozouf, Mona 31, 40, 51 Pagden, Anthony 5 Panofsky, Erwin 269 Papadopoulos, Anthimos 74 Papailias, Penelope 79−81 Paul, Gerhard 270, 303 Pelloutier, Simon 53 Perthes, Jacques Boucher de XI, 141 f., 151 Pétain, Philippe 292 f. Peter I.( Zar von Russland) 196 Petsch, Robert 166 Peuckert, Will-Erich 184 f. Pezron, Paul-Yves 54 Philipp II. von Makedonien 133 Philipp II. von Spanien 19, 22 Pitt Rivers, General Augustus Henry Lane Fox 138 – 140, 149 Pizarro, Francisco 8 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 112 – 117 Portelli, Alessandro 313 Posth, Cosimo 239 Prestwich, Joseph 131, 141 f., 151 Probst, Peter 197 Pusman, Karl 200, 202 Rabasa, José 5, 23 Ralph, Peter 234 f. Ranke, Johannes 119 Ranke, Leopold von XXII f, XXV, 94, 116 Ratzel, Friedrich 202, 204, 208 Regazzoni, Lisa IX f, XVIII f., XXXI, 8, 11, 20, 29 ff., 74, 86, 327 Revel, Jacques 44, 51 f. Ricci, Matteo 18 f. Richter, Hans Werner 289 f. Riegl, Alois 172 f. Riehl, Wilhelm Heinrich 118, 173 Ritter, Carl 119

Personenregister

Roberts, Richard 261 Robespierre, Maximilien de 54 Rohlfs, Gerhard 202 Romano, Antonella XVIII, XXVII, XXXI, 3 ff. Rosdolsky, Roman 110 f. Rother, Bernd 293 f. Rothfels, Hans 300 Rotteck, Karl Wenzeslaus Rodeckher von 113 – 117 Rouch, Jean 313 Rousseau, Jean-Jacques XXI Rüegg, Walter 194 Rühs, Friedrich 115 f. Rüsen, Jörn X, XII, XXVI Saint-Martin, Jean 58 Salvanou, Emilia 73, 76 Sanger, Frederick 233 Sankara, Thomas 332 Sauvy, Alfred 4 Sayad, Abdelmalek 307 f., 310 Scego, Igiaba 312 Schier, Bruno 184 Schlanger, Nathan XVI, XX, XXIV, XXXI, 129 ff. Schlosser, Friedrich Christoph 114 – 116 Schlözer, August Ludwig XX, XXII, 196, 198 f., 201 Schnabel, Ernst 290 Schock, Ralph 303 Schwarz, Hans-Peter 223 Segre, Andrea 314 Severin-Barboutie, Bettina XVIII, XXIX, XXXI, 85 ff. Sferlazzo, Giacomo XXXI, 327 ff. Sferlazzo, Paolo 329 Simrock, Karl 118 Soiza Reilly, Juan José 281 Sombart, Werner 197 Spenker, Franz 274, 276 f., 279 Stagl, Justin 196, 198 – 200, 202 Steinhausen, Georg 168 Steinmeyer, Elias 162 Strabon 55 Stukeley, William 139 Sunjata (Myth.) 252 Sybel, Heinrich Karl Ludolf von 117

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Ta Masa 247 – 249, 252 – 254, 257 – 260, 262 f. Tacitus, Gaius Cornelius Publius 55 Theodelinde (langobardische Königin) 228 Théodora, Roger 88−99, 101 f. Thiers, Jean-Baptiste 44 Thilenius, Georg 164 Thomsen, Christian Jürgensen 118 Thukydides 110 Thurnwald, Richard 212 Timm, Elisabeth XVI, XXIV, XXXI, 157 ff. Torday, Emil 204 Torgler, Ernst 297 Tours, Gregor von 227, 238 Tovar, Juan de 22 f. Treitschke, Heinrich Gotthardt von 117 Trient, Secundus von 228 Trigault, Nicolas 18 Triulzi, Alessandro XXVI, XXIX, XXXI, 307 ff., 332 Troeltsch, Ernst 121 f. Tutino, Saverio 316 Tylor, Edward 199, 201, 210 Ulrich, Volker

90

Vai, Stefania 236, 239 Van Gennep, Arnold 59 f. Vansina, Jan 214, 258 Veeramah, Krishna 238 – 240 Veidlinger, Jeffrey 75 Vella, Sergio 327 Venus (Gottheit) 46 Vergès, Françoise 91 Vermeulen, Han F. 5, 196, 198 f. Vico, Giambattista 110 Virchow, Rudolf 197 f., 200, 205, 209 Vollgraf, Karl 210 Volney, Constantin-François 33, 42 Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet) XX, XXI, XXII, 110 Vovelle, Michel 44, 49 Wachler, Ludwig 115 f. Wachsmuth, Wilhelm 115 f. Wagner, Hans-Ulrich 289 – 291 Waitz, Georg 120

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Personenregister

Walpole, Horace 36 Ward-Perkins, Brian 225 Warneken, Bernd Jürgen 167 Wenskus, Reinhard 230 Wernhart, Karl 214 Wiegelmann, Günter 163 Wilders, Geert 223 Winckelmann, Johann Joachim Witbooi, Hendrik 273 f. Xaver, Franz

16 f., 20

Yimer, Dagmawi

XX, 118, 134

310, 312, 314 f., 320 f., 335

Zedelmaier, Helmut XX f., 109, 158 Zetkin, Clara 296 – 301 Zimmerman, Andrew XV f., 5, 117, 203, 209 f. Zimmermann, Volker 23 Zwernemann, Jürgen 206 f., 214