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German Pages 436 [442] Year 2010
Kurt-H. Weber Die literarische Landschaft
Kurt-H. Weber
Die literarische Landschaft Zur Geschichte ihrer Entdeckung von der Antike bis zur Gegenwart
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022763-5 e-ISBN 978-3-11-022764-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandillustration: Gottfried Keller, An der Sihl, Bleistift und Aquarell, Zentralbibliothek Zürich Satz: Michael Peschke, Berlin Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Zur Einführung ............................................................................. 1
Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung 1. Die Lust an der Natur .................................................................... 15 2. Über Naturbegriffe und deren Widerschein in der Literatur ............................................................................... 47 3. Die Bilder und die Worte oder die Kunst der Beschreibung .......................................................................... 101 4. Vom Wesen der Landschaft ......................................................... 167 5. Das Naturschöne und das Erhabene ............................................. 199 6. Anmerkungen zur Geschichte der Naturbeschreibung ................................................................. 235
Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft 1. Der Tempel der Natur – Jean Paul ............................................... 297 2. Der große Wald – Adalbert Stifter ............................................... 319 3. Der Zauber einer Kiefernheide – Theodor Fontane .......................................................................... 361 4. Musivisches Dasein – Arno Schmidt ........................................... 385
Literaturverzeichnis ................................................................. 417 Verzeichnis der Abbildungen ................................................... 429 Namensregister ......................................................................... 431
Zur Einführung Einen Garten hat sich Schiller in Jena gekauft. Noch am ersten Abend, den er darin verbringt, schreibt er, sehr vergnügt, an Goethe: „Ich begrüße Sie aus meinem Garten, in den ich heute eingezogen bin. Eine schöne Landschaft umgibt mich, die Sonne geht freundlich unter, und die Nachtigallen schlagen. Alles um mich herum erheitert mich, und mein erster Abend auf dem eigenen Grund und Boden ist von der fröhlichsten Vorbedeutung.“1 Das Gefallen, das Schiller an seiner Umgebung findet, ist weniger selbstverständlich, als man glaubt. Eine Empfänglichkeit für die Schönheit der Natur muss sich erst herausbilden, und das ist ein individueller und ein historischer Vorgang. Exemplarisch dafür sind die Erfahrungen, die Goethe die Romanfigur ‚Wilhelm Meister‘ machen lässt. Der hat zunächst keinen Sinn für seine natürliche Umwelt. Erst durch einen Maler werden ihm „die Augen aufgetan“, und er entdeckt die landschaftlichen Reize des Lago Maggiore. Es ist demnach die Kunst, die den Menschen aufnahmebereit macht für die Vorzüge seiner natürlichen Umgebung. Sie macht sichtbar, sie regt an zum Hinsehen, und sie fordert dazu auf, über das Geschaute zu reflektieren. Sie spricht Goethe an als die „würdigste Auslegerin“ der Natur, und er meint damit nicht nur die Malerei, sondern, was er eigens hervorhebt, auch die Literatur. Aber damit sich die Natur aufschließt, müssen bestimmte Vorkehrungen getroffen werden; es bedarf dazu besonderer Hinsichtnahmen, Techniken und Darstellungsprinzipien, und vor allem, was ganz am Anfang steht, es muss überhaupt die Natur als Gegenstand der Kunst begriffen werden. So ergibt sich erst relativ spät, erst in der Renaissance, dass der Naturraum als Landschaft wahrgenommen wird. Das zeigt sich nur dem geschulten Blick, einem Blick, der sich darauf versteht, die sich darbietende Vielheit zusammenzusehen, der in der Lage ist, Geringes und Voluminöses, die einzelnen Gegenstände und die großen Formationen, Nahes und Fernes zu einer in sich konsistenten Einheit zu verbinden. Über den historischen Prozess, der dazu führt, hat sich Goethe selbst in zwei Entwürfen zur Geschichte der „landschaftlichen Malerei“ Rechenschaft gegeben. 1
Brief vom 2. Mai 1797; (Nationalausgabe, Bd. 29, S. 71).
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Wenn auch die Aufmerksamkeit auf Gegenstände gelenkt wird, die den Betrachter ansprechen, ihn fesseln und entzücken, so muss die Darstellung sich doch an die „Wahrheit“ halten, sagt Goethe. Nur dann offenbare sich die tatsächliche Schönheit der Natur. Sie, also die Natur solle der Künstler „so treu als möglich nachbilden“. Damit schließt sich Goethe einer Forderung an, die auf Aristoteles zurückgeht und die die Künste bis in die Gegenwart bestimmt hat, der Forderung, die Natur nachzuahmen. Darunter ist freilich sehr Unterschiedliches verstanden worden. Das ergibt sich schon daraus, dass jede Wiedergabe, ob eine bildnerische oder eine sprachliche, doch ein Kunstwerk ist, also ein Gebilde, das eine eigene Sichtweise aufweist, das bestimmte Mittel und Techniken einsetzt. Hinzukommt, dass die Abbildung keine geistlose Kopie sein will, sondern immer auch Ausdruck dessen, was der Betrachter bei einem Anblick fühlt und denkt. An Ruysdael lobt Goethe, er sei ein „denkender Künstler, ja Dichter“, also nicht einer, der nur eine öde Verdoppelung des Vorgefundenen anfertigt.2 Fürs erste kann man sagen, dass die Malerei und die Literatur mit aufdeckenden Mitteln an die Natur herangehen, dass sie verschiedene Sehmuster, Gestaltungsvorgaben und handwerkliche Fertigkeiten verwenden; nicht, um sich die Dinge willkürlich zurechtzulegen, vielmehr soll durch den Einsatz solcher Mittel etwas aufgezeigt werden, von dem, was ist, von dem, was sonst unerkannt bliebe. Die Behauptung Dichtung und Kunst erwiesen die „Wahrheit“ der physischen Welt, ist indessen höchst fraglich. Das traut man eher einer anderen Instanz zu, die darauf mit einem vermeintlich größerem Recht Anspruch erhebt, der Wissenschaft. Schließlich hat sie seit dem Beginn der Neuzeit Instrumente und Verfahrensweisen entwickelt, mit denen sie die wirklichen Sachverhalte eruieren will. Aber die Wahrheit der Kunst ist nicht die der Naturwissenschaft. Die genießende Betrachtung, zu der die erste anhält, verschafft andere Einsichten als es die sind, zu welchen die Forschung gelangt. Nur hat man über den Erfolgen der Wissenschaft die Lehren der artifiziellen Weltsicht nahezu vergessen, und das ist ein Verlust für uns und unsere Welt. Gleichwohl wollen beide Richtungen der Naturaneignung Wissen vermitteln. Den Unterschied zwischen ihnen markiert sehr treffend die Begrifflichkeit des Kunsttheoretikers John Ruskin. Er setzt eine ‚Wissenschaft von den Erscheinungen‘ ab gegen eine ‚Wissenschaft von den Fakten‘ („science of aspects“ – „science of facts“). Beide wollen genau hinsehen, das verbindet sie, und der Ausgang von der Empirie ist ihre 2
Zu den Ausführungen über Goethe vgl. Wilhelm Meisters Wanderjahre, zweites Buch, siebentes Kapitel; Werke, ed. Trunz (Hamburger Ausgabe), München 1981, Bd. VIII, S. 226 ff; dort finden sich die meisten der hier wiedergegebenen Zitate; vgl ferner: Bd. XI, S. 427, Bd. XII, S. 216 ff, S. 138.
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gemeinsame Basis. Das ist auch der Grund, warum sich Erkenntnisse der einen auf die andere übertragen lassen. Gewissermaßen personifiziert ist diese Übereinstimmung bei Naturkundigen, die sich auf beiden Gebieten hervorgetan haben. Das beste Beispiel dafür ist Ruskin selbst, der nicht nur Kunsttheoretiker, sondern auch Geologe war und zudem ein überragender Zeichner. In diese Reihe gehören auch Leonardo da Vinci, Goethe, Alexander von Humboldt und Stifter. Anders als die Wissenschaft von den Erscheinungen hält sich aber die von den Fakten nicht auf bei dem, was die Wahrnehmung darbietet. Sie will gerade darüber hinausgelangen und zu dem vordringen, was den sichtbaren Gestalten zugrunde liegt. Das sinnlich Gegebene interessiert sie eigentlich nicht; für sie ist dieses nur ein Fall, der auf die ursächlichen Zusammenhänge verweist, die hinter den Phänomenen stehen. Worauf die Naturwissenschaft aus ist, sind generalisierbare Bestimmungen, sind die allgemeinen Eigenschaften und Gesetze der Materie. Und um diese zu ermitteln, seziert und analysiert sie die Naturphänomene. In dieser Sicht ist es gleichgültig, ob ein Stern niederfällt oder ein Löffel; entscheidend ist, ob diese Vorgänge zurückzuführen sind auf dasselbe Gesetz. Die andere Erkenntnisart verweilt gerade bei den Dingen, sie versenkt sich in ihren Anblick. Ihr Untersuchungsfeld ist die Sinnenwelt. Von ‚Erscheinung‘ spricht Ruskin, und das ist ein Relationsbegriff. Er verweist auf die Beziehung zwischen einem Gegenstand und einem Betrachter: Eine ‚Erscheinung‘ ist das, was die Apperzeption von einem Objekt aufnimmt. Daraus geht schon hervor, wovon diese Naturerkundung eigentlich handelt und worin sie sich von der Naturwissenschaft im üblichen Verstande unterscheidet. In Ruskins Worten: „… es gibt genausogut eine Wissenschaft von den Erscheinungen der Dinge, wie eine >Natur-Wissenschaft< existiert. Und es ist genauso wichtig, herauszuarbeiten, welche Wirkungen die Dinge auf das Auge und das Herz machen, wie festzustellen, aus welchen Atomen oder Schwingungen der Materie sie bestehen.“3 Und an anderer Stelle sagt er, die etablierte Forschung befasse sich nur mit der Beschaffenheit der Dinge und mit ihrer Wirkung aufeinander, nicht aber damit, wie diese die „menschlichen Sinne und die menschliche Seele affizierten“. Genau das macht aber die Kunst. Sie ist Anwendung und Umsetzung der Wissenschaft von den Erscheinungen. Sie zeigt, was in der Natur ist, sie lehrt das Sehen, und sie ist Ausdruck der Gefühlswerte und der Gedanken, die sich mit einem Anblick verbinden. Ruskins Konzeption trifft sich in vielem mit dem, was auch Goethe vertreten hat. Seine kritische Haltung gegenüber der experimentellen Forschung, seine Berufung auf die An3
Zitiert nach Wolfgang Kemp, John Ruskin. Leben und Werk, München 1983, S. 76.
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schauung, begründet er ebenfalls damit, dass es darauf ankäme, die Beziehungen zwischen dem Menschen und den Naturerscheinungen zu klären. Und diese Aufgabe fällt dem bildnerischen und dem sprachlichen Kunstwerk zu. Sie holen Aspekte ein, die der szientistischen Weltsicht gerade entgehen. Von daher haben sie eine Erkenntnisfunktion und sind nicht bloße Dekoration oder Expression beliebiger Stimmungen. Man könnte sagen, Goethe und Ruskin argumentieren lebensweltlich. Die Lebenswelt ist das, was sich dem Menschen durch die Sinne erschließt, ist das, was er sieht, riecht, hört, schmeckt, fühlt. Und das findet eine Resonanz in seiner Seele. Es löst Gedanken und Empfindungen aus, Gefühle des Wohlgefallens, der Freude, der Trauer, der Furcht. Die Dinge haben eine Bedeutung für den Menschen, und die unterschlägt eine reine Faktenerhebung. Deshalb hält Alexander von Humboldt die Schilderung des Eindrucks, den eine Gegend auf den Betrachter macht, für eine notwendige Ergänzung der Daten und Messwerte, die die wissenschaftliche Sondierung eines Terrains einbringt. Humboldt selbst ist dieser Verpflichtung dadurch nachgekommen, dass er „Naturgemälde“ – so lautet der von ihm dafür geprägte Begriff – der untersuchten Gebiete anfertigte. Es kommt darin etwas zur Sprache, das doch der tiefste Grund dafür ist, dass der Mensch Gefallen findet an der Natur. „Wir fühlen uns … mit allem Organischen verwandt“, heißt es in den ‚Einleitenden Betrachtungen‘ zum KosmosWerk. Ohne es ausdrücklich zu sagen, liegt Goethe wie auch Ruskin an einer Rehabilitierung dessen, was in der Geschichte der abendländischen Philosophie ‚cognitio sensitiva‘, also sinnliche Erkenntnis heißt. ‚Gnoseologia inferior‘ lautet ein anderen Begriff für sie, und von einem ‚unteren Erkenntnisvermögen‘ spricht man im Deutschen. Klar ist, dass darin eine Abwertung steckt. In einer vornehmlich rational ausgerichteten Epistemologie gilt das Zeugnis der Sinne nicht viel. Dessen Wert wird von Descartes sogar grundsätzlich angezweifelt, ja es wird der Täuschung verdächtigt. Eine weniger strenge, aber doch ähnliche Beurteilung findet sich bei Kant. In dessen Erkenntnislehre ist die Anschauung zwar eine notwendige Bedingung und der Anfang aller Erkenntnis, aber sie reicht nicht an das Wesen der Dinge. Was sie zeigt, ist nur die „Erscheinung“, nicht das Ding, wie es an sich ist. Die volle Anerkennung als Erkenntnisquelle findet die Wahrnehmung dagegen bei einem der Begründer der Kunsttheorie, bei Alexander Gottlieb Baumgarten. Das ist schon dem Titel zu entnehmen, den er der neuen Wissenschaft gibt: ‚Ästhetik‘, was bekanntlich nichts anderes heißt als ‚Wahrnehmung‘ auf Griechisch. Aber auch Baumgarten bewegt sich in den herkömmlichen Vorstellungen, und danach ist die Sinnlichkeit eben einzustufen als eine niedrige Form der Erkenntnis. Gegen diese Einschätzung
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anzugehen ist schwer, zumal sie in einer Tradition begründet ist, die lange zurückreicht. Man braucht nur an Plato zu erinnern, dessen Dichotomie zwischen sinnlich-materiell und geistig-ideell die Geschichte des Denkens prägte. Danach vermag nur die Vernunft die Wahrheit, die Ideen zu erfassen, nicht dagegen die Sinnlichkeit. Unter diesen Voraussetzungen muss eine ‚Wissenschaft‘, die auf die Anschauung rekurriert, erst einmal beweisen, dass sie etwas zu leisten imstande ist. Und es klingt vermessen, wenn Ruskin behauptet, er wolle „die Wahrheit“ der Natur zeigen.4 Das Sehen ist, nicht nur nach der Meinung Ruskins, der vornehmste Sinn des Menschen, und demjenigen, der sich darauf einlässt, öffnet sich die Natur in ihrer überwältigenden Fülle. „Es gab immer mehr in der Welt, als Menschen sehen konnten, gingen sie auch noch so langsam“, hat Ruskin gesagt, und dieser Satz ist eine Art Bekenntnis.5 Nicht also um die von den Sinnesdaten abgezogenen allgemeinen Bestimmungen geht es, es geht um die Erscheinungen selbst. Und deren Beschaffenheit gewahrt nur der Blick, der nicht befangen ist durch vorgefasste Meinungen, der nicht schon zu wissen glaubt, was er vor sich hat. Gefordert ist die Anstrengung des genauen Hinsehens. Nur unter dieser Voraussetzung geht die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur auf. Obwohl es zweifellos so etwas in der physischen Welt gibt wie Typen, Arten, Gattungen, wird man Ruskin doch darin zustimmen, dass keine Wolke der anderen gleicht, kein Baum dem anderen, kein Blatt dem anderen. „Unendlichkeit“ ist der Grundzug der Natur. Dabei denkt Ruskin weniger an kosmische Räume als vielmehr an den unausschöpflichen Reichtum dessen, was vor Augen liegt. Es ist damit gemeint die Mannigfaltigkeit der Formen, Farben, der Linien. Aber nicht nur das, die Unendlichkeit rührt auch daher, dass die Natur immer in Bewegung ist und ständig Neues hervorbringt. Damit zusammen hängt etwas, das Goethe das „Übergängliche“ genannt hat, also die Tatsache, dass sich die Natur in einem nie endenden Spiel der Variationen, Nuancierungen, Schwebungen, Schattierungen auslegt. Diese Vielheit lässt sich nicht in ein System bringen, ebenso wenig wie sie sich festen Schemata fügt. Man hat es hier zu tun mit flüchtigen Zuständen und besonderen Konstellationen. Die Wissenschaft der Erscheinungen kommt nur zu partikularen, nicht zu universalen Wahrheiten. Die Wandelbarkeit und Variabilität der Natur hat ihren Grund darin, dass sie nach ihrem innersten Wesen Leben ist. Mit Goethe und dem Deutschen Idealismus teilt Ruskin diese Überzeugung, die allerdings älteren Ur4 5
Diesen Anspruch erheben schon die Überschriften in Ruskins Werk Moderne Maler; sie lauten beispielsweise „Wahrheit der Farben“ oder „Wahrheit des Wassers“. Zitiert nach Kemp, a.a.O., S. 42.
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sprungs ist. Für Platon ist der „Kosmos“ ein „Zoon“, ein Lebewesen, ein großer Organismus, der selbst wieder die verschiedenen Formen des Lebens aus sich entlässt und sich entfaltet in der unendlichen Mannigfaltigkeit der vitalen Gestalten.6 Ruskin hat nicht nur Theorien aufgestellt. In dem grandiosen Werk, das in berühmt gemacht hat, in ‚Moderne Maler‘ („Modern Painters“) führt er vor, wie die Kunst die Erscheinungen der physischen Welt adaptiert und sichtbar macht. William Turner, sicher einer der bedeutendsten Landschaftsmaler überhaupt, ist ihm dafür Beispiel und Vorbild. Was Ruskin vorlegt, sind jedoch nicht nur Bildbesprechungen, sind nicht einmal kunsthistorische Ausführungen im üblichen Sinne. Er kennt die Motive Turners und anderer Künstler aus eigener Anschauung. Und davon hat er Schilderungen angefertigt, kaum zu überbietende, hinreißende Glanzstücke der Naturbeschreibung. In langen, weit ausschwingenden Perioden gibt er eine Ansicht wieder, und man kann sich kaum vorstellen, dass ihm die Malerei in der Subtilität, im Reichtum, in der Genauigkeit der Wahrnehmung folgen kann. Sie habe durch dieses Buch Sehen gelernt, schrieb Charlotte Brontë, und diesem Urteil wird sich jeder Leser anschließen; ihm wird aufgehen, wie wenig er über das Wasser, über die Wolken, die Bäume wusste, bevor er nicht die entsprechenden Kapitel in ‚Moderne Maler‘ gelesen hat. Um einen Eindruck davon zu vermitteln, wird hier eine längere Passage wiedergegeben, die dem Abschnitt „Wahrheit der Farbe“ entnommen ist. Als ich über einen weiten Abhang der Albaner Berge hinan klomm, drehte sich das Gewitter nach Norden und die edeln Umrisse der Türme von Albano und die dunkle Anmut seines Ilextals hoben sich vom reinen, blau und wie Bernstein schimmernden Himmel ab. Oben lichtete es sich allmählich und leuchtete nun durch die letzten Fetzen der Regenwolke – in tiefer zitternder Bläue – halb Äther, halb Tau. – Die Nachmittagssonne sandte schiefe Strahlen über die felsigen Abhänge von La Riccia und seine Massen hohen, verworrenen Laubwerks. In die herbstlichen Töne mischte sich das feuchte Grün von tausend immergrünen Pflanzen, und benetzte sie wie Regen. Das war nicht mehr Farbe zu nennen – es war eine Feuersbrunst. Purpurn, hochrot, scharlach, wie Vorhänge vor Gottes Gezelt sanken die in Lichtschauern frohlockenden Bäume ins Tal; jedes einzelne Blatt zitternd, schwimmend und brennend vor Leben; jedes einzelne Blatt, das den Sonnenstrahl widerspiegelte oder fortpflanzte – war erst eine Fackel und dann ein Smaragd. Weit oben in den Tiefen des Tals wölbten sich die grünen Schluchten wie gewaltigen Wogen eines kristallenen Meeres, von Blüten wie mit Schaum überschüttet; silberne Strahlen von Orangenblüten wirbelten in den Lüften um sie her, sprühten auf über den grauen Felsmauern wie tausend Sterne, sanken und loderten, je nachdem der sanfte Wind sie trug und fallen ließ. Jeder Grashalm brannte, wie wenn der goldne Himmelsboden sich plötzlich leuchtend öffnete, bis das Laub sich wie6
Vgl. Timaios 30 c.
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der über ihm zusammenschloss; es war wie Wetterleuchten, das bei Sonnenuntergang aus der Wolke bricht. Die bewegungslosen Massen dunkler Felsen – dunkel doch glühend von Scharlachmoosen, die ihre stillen Schatten über ruhelose Pracht breiten; darunter die Fontäne ihr marmornes Becken mit blauem Nebel und launischem Plätschern füllend; und über allem – als ein reiches Gelände von Rosa und Ambra – die heiligen Wolken ohne Dunkel, die nur in unermesslicher Ferne leuchten, zwischen der feierlichen, sphärischen Stille der Steinfichten. Sie zogen vorüber, um sich endlich in dem letzten weißen, blendenden Glanz der endlosen Linie zu verlieren, in der die Campagna sich mit dem Leuchten des Meeres verschmilzt.7
Die Naturbeobachtungen hat Ruskin aber nicht nur umgewandelt in eine prunkende Prosa, für ihn hatten sie auch eine praktische Abzweckung. Sehr genau registrieren sie die Veränderungen der Umwelt, und Ruskin war einer der ersten, der die Zerstörung und die Verschmutzung der menschlichen Lebenswelt wahrgenommen und davor gewarnt hat. Die vorstehenden Bemerkungen umreißen das Thema des Buches. Hinzuzufügen wäre noch, dass sich die Darstellung auf die Naturbeschreibung, also auf Prosatexte beschränkt. Zudem bezieht sie sich hauptsächlich auf die deutsche Literatur. Bleibt für die Einführung noch übrig, wenigstens anzudeuten, worum es in den einzelnen Kapiteln geht. Mit Zuneigung, Liebe, Verehrung, Bewunderung, Anbetung, Schwärmerei, Nachahmung ist die Natur bedacht worden. Einen Eindruck davon vermittelt ein Blick auf die europäischen Literaturen; er zeigt auch, dass diese Bewegung nicht beschränkt ist auf ein Land oder eine Epoche. Man kann aber darüber nicht reden, ohne wenigstens ein andere Sicht der Natur zu erwähnen. In der erscheint sie als eine zerstörerische, schreckenerregende Gewalt. Aber auch so betrachtet, behält sie ihre Faszination. Erstaunlich ist, wie viele Facetten die Literatur dem Thema Natur abgewonnen hat, eben das entdeckt sich einer übergreifenden Lektüre. Damit setzt das erste Kapitel ‚Die Lust an der Natur‘ ein. Eine Theoriebildung kann aber bei einer Bestandsaufnahme nicht stehen bleiben. Der zweite Teil dieses Kapitels geht daher den Gründen für die Attraktivität der Natur nach. Er findet sie in drei Motiven, die die Menschen dazu bewegen, sich der Natur zuzuwenden. Nun ist das leicht dahingesagt, die Natur. Zu prüfen ist aber, was damit jeweils gemeint ist. Sicher ist, dass dieser Begriff, wie übrigens alle fundamentalen Begriffe, sehr weit gefasst ist. Das legt schon die simple Einsicht nahe, dass die Natur des Physikers eine andere ist als die des Dichters. Den verschiedenen Bedeutungen, die der Begriff Natur unter sich fasst, geht das zweite Kapitel nach. Es ist überschrieben 7
John Ruskin, Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung, Bd. XI, XII (Moderne Maler Bd. I, II), Leipzig 1902, S. 75f.
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‚Über Naturbegriffe und deren Widerschein in der Literatur‘, womit angedeutet wird, dass dieser Abschnitt sich seine Ausrichtung vorgeben lässt durch die generelle Thematik. Untersucht wird, auf welche Vorstellungen von Natur oder auf welche Aspekte von Natur die Dichtung bezogen ist. Die Ausführungen kommen zu dem Schluss, dass sich die verschiedenen Auffassungen von Natur zwei großen Linien zuordnen lassen, die von der Antike bis in Gegenwart reichen. Die erste orientiert sich an der Analyse und an der Reduktion des Bestehenden auf seine Bestandteile, während sich die zweite an die Anschauung und an die lebendigen Formen hält. Jene ist weitgehend gleichzusetzen mit der wissenschaftlichen Sicht der Natur; diese dagegen weist eine Affinität zu deren künstlerischen Betrachtung auf. Soviel kann aber jetzt schon festgehalten werden: Wenn die Natur reduziert wird auf nackte Zahlen und Fakten, wenn ihr das Leben und die sinnliche Gestalt genommen werden, dann hat die Kunst über sie nichts mehr zu sagen. Die Naturbeschreibung ist Teil einer alten Kunst, die ‚ekphrasis‘ mit ihrem griechischen, ‚descriptio‘ mit ihrem lateinischen Namen heißt. Sie wurde abgehandelt in den Lehrbüchern der Rhetorik und Poetik. Anschaulichkeit ist die erste Forderung, die an sie gestellt wird. Damit rückt die Literatur in die Nähe der bildenden Kunst. Sie solle es der Malerei gleichtun, hat man von ihr verlangt. Aber auch umgekehrt wurde es als geboten erachtet, dass die bildende Kunst sich an der Poesie ein Beispiel nehme. Das Bild müsse einen dichterischen Gehalt haben, wurde postuliert. Beide Künste standen also in einem engen Verhältnis. Zeitweilig hat man sogar behauptet, sie würden das Gleiche ausdrücken, nur in etwas unterschiedlicher Weise. Im Gegenzug dazu entstand in der Renaissance eine ästhetische Theorie, die gerade den Unterschied der Künste hervorhob, die sogar einen Wettstreit der Künste ausrief. Ihr zufolge ist die bildnerische Kunst besser geeignet, die Natur abzubilden als die Literatur. Diese Auseinandersetzung läuft hinaus auf eine Besinnung, was die zwei Künste überhaupt zu leisten imstande sind. Das aber entscheidet sich an den Zeichensystemen, die sie benutzen. Das pikturale Zeichen ist völlig anders geartet als das linguale, und entsprechend behaupten beide Künste eine Eigenständigkeit, wie Lessing in seinem Laokoon herausstellt. Gleichwohl sind sie auch wieder aufeinander verwiesen. Das Bild bedarf des sprachlichen Kommentars wie die Beschreibung eine imaginative Vergegenwärtigung verlangt. Wenn also im vorigen Kapitel dargetan wurde, auf welche Seite von Natur sich die Literatur richtet, so geht es in diesem dritten Kapitel mit dem Titel ‚Die Bilder und die Worte oder die Kunst der Beschreibung‘ darum, wie und mit welchen Mitteln das sprachliche Kunstwerk die Natur darstellt.
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Zweifellos kulminiert die Naturdarstellung in der Landschaft. Diese ist nicht etwa etwas Vorfindliches. Sie beruht vielmehr auf einer geistigen Konstruktion. Zu ihren Voraussetzungen hat sie die Entwicklung der Zentralperspektive und des panoramatischen Sehens. Daraus geht das Sehmuster ‚Landschaft‘ hervor. Bei dessen Herausbildung übernimmt die bildende Kunst die Führung. Erst viel später gelingt es der Literatur, mit ihrem Mitteln eine Ansicht der landschaftlichen Natur anzufertigen. Das Sehmuster Landschaft ermöglichte es, die physische Umwelt als vielgestaltige, mehrgliedrig strukturierte Ganzheit in den Blick zu nehmen, und es entsteht damit zugleich eine Vorstellung von der Einheit der Natur. Bei der Erfassung der physischen Welt als Landschaft lässt sich auch verfolgen, wie die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft wenigstens teilweise aufgehoben werden, nicht die zwischen diesen beiden Gebieten überhaupt, sondern die zwischen der artifiziellen Erfassung der Natur und den deskriptiven Wissenschaften. Das ist der Inhalt des vierten Kapitels, welches die Überschrift ‚Vom Wesen der Landschaft‘ trägt. Ein Grund, warum eine Landschaft als anziehend empfunden wird, ist der, dass sie schön ist, und um das ‚Naturschöne‘ geht es im fünften Kapitel. Zunächst weist das Naturschöne die allgemeinen Kennzeichen auf, die man seit der Antike für die Bedingungen der pulchritudo gehalten hat; dazu zählen die Harmonie der Teile und die Abgerundetheit zu einem Ganzen. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht aber die Naturphilosophie Kants. Deshalb, weil an ihr sich exemplarisch zeigen lässt, dass Schönes in der Natur nur auszumachen ist, wenn sie als teleologischer Zusammenhang begriffen wird. An Zwecken und Zielen ausgerichtet zu sein, ist aber ein Kennzeichen des Lebens. Und die Schönheit ist verbunden mit der Seite der Natur, nach der sie schöpferisch, zielsetzend, gestaltend, formgebend ist. Entsprechend wird in der Kritik der Urteilskraft die Theorie des Naturschönen entwickelt als Teil einer Teleologie der Natur. Aufschlussreich ist Kants Naturphilosophie noch in anderer Hinsicht. Sie beschränkt sich nämlich nicht, wie man immer zu hören bekommt, auf die transzendentale Begründung der Naturerkenntnis vom Typus der Galileisch-1ewtonschen Physik. Diese wird vielmehr ergänzt durch die Ausführungen über das Prinzip der Zweckmäßigkeit der 1atur in der dritten Kritik, aus gutem Grund, denn ohne sie würden die Erscheinungsweisen des Organischen überhaupt nicht berücksichtigt. Anders gesagt: Der Bereich des Biologischen, der doch einen großen Teil der Natur ausmacht, käme gar nicht vor in Kants Philosophie der physischen Welt und mit ihm auch nicht das Phänomen des Naturschönen. Dieses lässt sich nur begründen, wenn der Naturbegriff nicht reduziert ist auf die Vorstellungen der experimentellen Wissenschaft. Die Natur ist jedoch nicht nur gefällig, sie ist auch über-
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mächtig, ist furcht- und schreckenerregend. Aber auch diese Ansicht von ihr vermag zu faszinieren. Unter dem Begriff des ‚Erhabenen‘ ist das Teil der Naturästhetik, worüber am Schluss dieses Kapitels gehandelt wird. ‚Anmerkungen zur Geschichte der Naturbeschreibung‘ heißt das sechste Kapitel. Damit wird gesagt, dass es sich um eine Art Abriss der historischen Entwicklung handelt. Mit den angeführten Autoren und Werken sollen bestimmte geschichtliche Konstellationen skizziert werden. Die Übersicht beginnt mit dem höfischen Epos des Mittelalters und reicht bis zum Roman des 18. Jahrhunderts. Wenigstens hingewiesen wird darauf, dass es auch außerhalb der Dichtung eine Naturschilderung gibt, die künstlerischen Ansprüchen genügt. Die findet sich vor allem in den Abhandlungen der deskriptiven Wissenschaften, in geographischen und historischen Werken, dann auch in der Reiseliteratur. Darauf gingen auch schon die früheren Kapitel ein. Der eigentlichen geschichtlichen Darstellung ist eine Reflexion über die Bedingungen der prosaischen Naturdarstellung vorangestellt. Diese sind zunächst allgemeiner Art, beruhen auf bestimmten Raumvorstellungen und Sehgewohnheiten, sind verbunden mit religiösen und philosophischen Weltdeutungen. Abhängig ist die Behandlung der natürlichen Umgebung zudem von rein künstlerisch-literarischen Gesichtpunkten, von den Vorgaben durch die Gesetze der Gattung, des Epos oder des Romans beispielsweise; sie ist ferner geprägt durch die Übernahme traditioneller Topoi und Stilfiguren. Wie im vierten Kapitel dargetan, ist die Wahrnehmung der Natur als Landschaft nicht selbstverständlich, vielmehr handelt es sich um eine Sichtweise, die zuerst die bildende Kunst entwickelt. Sie eröffnet damit einen ganz neuen Zugang zur Natur. Erst relativ spät folgt ihr die Dichtung. Das bedeutet aber, und das ist eine der Hauptthesen dieses Buches, dass nicht jede Aussage zum Naturraum umstandslos für eine Landschaft genommen werden kann, wie das die bisherige Literaturgeschichtsschreibung getan hat. Man muss hier auf Klarheit der Begriffe dringen und den der Landschaft für eine Schilderung reservieren, die genau angebbare Bedingungen erfüllt. Die Kapitel des zweiten Teils brauchen in dieser Einleitung nicht jedes für sich durchgenommen zu werden. In gewisser Weise setzen sie den historischen Überblick fort, denn an einzelnen Autoren wird die Ausgestaltung der literarischen Landschaft von der idealistischromantischen Epoche über den Realismus bis in die Gegenwart verfolgt. Interessiert ist dieser Teil aber nicht allein an der Literaturgeschichte, er will ebenso herausarbeiten, welche Mittel und Perspektiven überhaupt die Literatur für die Erfassung des Naturraums entwickelt hat, welche Möglichkeiten ihr dazu zur Verfügung stehen. Behandelt werden entscheidende Beiträge zur Landschaftsschilderung, die visio-
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nären, ins Metaphysische gesteigerten Bilder Jean Pauls, die genauen, sorgfältig ausgearbeiteten Landschaftsporträts Adalbert Stifters, die von der Geschwindigkeit neuer Verkehrsmittel bestimmten Ansichten Theodor Fontanes. Schließlich wird gezeigt, wie sich bei Arno Schmidt das Wahrnehmungsschema ‚Landschaft‘ auflöst. Dabei muss auch geklärt werden, welcher Naturbegriff dem Werk des jeweiligen Schriftstellers zugrunde liegt. Selbstverständlich sind die besprochenen Autoren auch abhängig von außerliterarischen Einflüssen, von Anregungen aus der Malerei, von Fortschritten auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet, von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Auch diese Aspekte sind in die Fragestellung einbezogen.
Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung
Hans Thoma, Taunuslandschaft, Ölgemälde, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Neue Pinakothek, München.
1. Die Lust an der Natur Viele zieht es hinaus. Es macht ihnen Vergnügen, sich, wie sie sagen, in der Natur aufzuhalten. Häufig ist dieses Verlangen lediglich der Ausdruck rein physischer Bedürfnisse, des Wunsches, frische Luft zu atmen und des Dranges nach Bewegung. Die Umgebung spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Natur gewährt aber noch ganz andere Genüsse. Das Blau des Himmels, das Grün der Wälder, die Weite des Meeres, davon geht eine große, namenlose Anziehung aus. Unbestimmt genug heißt sie ‚Liebe zur Natur‘. Die Literatur hat ihr ein Bewusstsein gegeben, hat gesagt, wie sich diese Liebe äußert und was das ist, wonach sie sich verzehrt. Das Gefühl für die Natur, das Gespür für ihre Erscheinungen und für ihren Ausdruck ist nicht der Vorzug eines bestimmten Volkes oder einer Nationalliteratur, etwa der deutschen. Großartige Zeugnisse davon finden sich bei den Russen, bei den Franzosen und Engländern, bei den Italienern und Skandinaviern. Man trifft darauf auch bei den antiken Autoren, bei den griechischen und lateinischen Schriftstellern. Sie alle stehen unter dem Eindruck eines gewaltigen Zaubers, den sie wiederzugeben suchen. Und für die Reize der jeweiligen Landesnatur haben sie besondere Sensorien entwickelt. Endlos dehnt sich bei Anton Tschechow die Steppe, bis zu der lilafarbenen Hügelkette in der Ferne, der man sich, so scheint es dem Reisenden, überhaupt nicht nähert. Melancholisch wirkt die weite, von der Julisonne versengte Grasebene, traurig und verloren; ein Eindruck, der noch durch eine einsame Pappel und durch eine allein stehende Windmühle verstärkt wird. Wie das Land, dehnt sich die Zeit. Nur selten werden die Monotonie und die Stille unterbrochen durch einen jähen Windstoß oder durch aufsteigende Steppenvögel. Und doch ist dieses Land schön. Ein unvergleichlicher Himmel spannt sich des Nachts über es, von blassgrüner Farbe und von Sternen übersät. „Schrecklich“ sei dieser Himmel, „schön und zärtlich“, sagt Tschechow. Über die unergründliche Tiefe und Grenzenlosigkeit des Himmels könne man nur auf dem Meer und in der Steppe sprechen. Und dann gibt es eine Gegend, die besteht aus „Parks von Apfelbäumen“. Alleen ziehen sich hin, hoch und kühlen Schatten gebend; sie hallen wider vom Schlag der Nachtigallen. Und das ist nun Guy de
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Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung
Maupassant, das ist die Normandie. Das Meer ist nicht weit. Felder und Wiesen neigen sich ihm zu, die dann jäh abfallen und sich zu einer gewaltigen Steilküste formieren, welche hier Falaise heißt. Sie bildet eine lange Küstenlinie, die weiter weg nur noch als kaum wahrnehmbarer Strich auszumachen ist. Vor ihr weitet sich, soweit das Auge reicht, die See. Dunkelblau und glatt liegt sie da, im Sommer, wenn das Wetter schön ist. Und Segel, „weiß wie Vogelschwingen“, ziehen draußen vorbei. Und das Herz dessen, der das alles, der Felder, Bäume und das Meer mit seinen Blicken umfasst, „überschwemmt tolle Freude, unendliche Rührung vor der Herrlichkeit der Welt“. Das schildert Samuel Taylor Coleridge: die Berge, auf denen er umherwandert im Lake District. Bögen bilden sie und Rücken. Und über ihnen ragen Gipfel auf. Wie ein Zuckerhut sieht der eine aus, wie ein Kegel aus Steinen. Und ein anderer ist zerklüftet und zerfallen in weiße Klippen. Und weiter weg erhebt sich ein vornehmer, einzelner Berg. Von oben eröffnen sich weite Ausblicke auf enge, grüne Täler. Und Seen liegen da, die sehen aus wie schwarze Spiegel. Steil fallen die Berghänge ab. Der nackte Fels tritt grau und weiß hervor. Bisweilen ist diese Nacktheit durchsetzt mit gelbgrünen Flecken oder mit Lineamenten von Moos. Diffus und nebelig liegt das Licht über den Bergen; doch dann schießen Ströme von Helligkeit aus der Höhe, so dass die Farben aufleuchten: die braunen und gelben Tönungen der hoch gelegenen Moore, das satte Grün der Wiesen im Tal und, davon abgesetzt, das dunklere Grün der Baumgruppen. Im Gebirge gehen die Füße über Steine und Moose, und sie streifen durch Farn. Auf und ab schlängelt sich der Pfad. Und der Wanderer ist ganz hingerissen; bald fesseln ihn ein herabstürzender Gießbach oder ein blinkender Bergsee, bald umfängt ihn die schreckliche Ödnis eines Torfmoores. Dann wieder überrascht ihn die grandiose Aussicht auf ferne Täler und Seen. „Die Natur“, sagt Coleridge, „schlug alle Saiten meines Herzens an“. Die Natur hat nicht nur den Augen etwas zu bieten, sie spricht alle Sinne an. Sie lässt sich vernehmen in Geräuschen, Klängen und Tönen. Wie sie riecht, in einer Frühlingsnacht z.B. oder nach einem Herbstregen, ist bei Jean Giono nachzulesen. Vor allem schmeckt sie, und beim Franzosen Giono gibt es ordentlich was zu essen. Da finden sich ein paar Bauernfamilien, die verstreut auf einem weiten Plateau wohnen, zu einem sonntäglichen Essen ein. Vor dem Haus braten die Männer ein Zicklein und einen Hasen am Spieß. Drinnen hört man es Hacken und Klopfen. Das sind die Frauen, die eine Hühnerfrikassee zubereiten. Sie singen bei ihrer Arbeit. Tische und Stühle sind ins Freie gerückt, und unter dem Essen hat man das weite Plateau vor sich und die entfernteren Berge. Schwer und saftig sind die Braten. Sie riechen nach frischen Kräutern und wildwachsenden Berg-
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pflanzen. Salbei, Terpentinblüte und Kardomon haben sie vermengt mit gewiegtem Spinat und Sauerampfer, mit zerhacktem Knoblauch, Öl, Pfeffer und Salz. Damit sind die Braten gefüllt. Der Geruch des Feuers mischt sich mit dem des Fleisches und der Kräuter. Und der Wind bringt den Duft von blühenden Narzissen mit, denn es ist Frühling. Wenn man in das Fleisch beißt, kracht es zuerst zwischen den Zähnen, dann zerschmilzt es auf der Zunge, so zart ist es. Schweren Wein trinken sie zum Essen, der dunkel wie Teer in den Gläsern funkelt. Die verschiedenen Aromen und Gerüche kommen zusammen, die der Kräuter, der Gewürze, des Fleisches und des Weines. Sie reizen und kitzeln die Sinne. Dazu liegt die Frühlingssonne angenehm auf der Haut. Und die, die um den Tisch sitzen, empfinden „unbestimmt, wie schön die Welt ist“, dass sie das beinahe haben: „das Glück und die Freude“. Das Dasein in der Natur scheint überaus verlockend, und es hat einen Namen: Arkadien. Man hat sich darunter eine anmutige Gegend vorzustellen, ausgestattet mit sanften Wiesentälern und lauschigen Hainen. Begrenzt wird sie von bewaldeten Höhenzügen. Ein angenehmes Klima kommt hinzu. Hier strahlt purpurner Lenz, hier breitet bunt um die Ströme Blumengefilde der Grund, hier schimmert silbern die Pappel über der Grotte, der Weinstock webt sein Schattengeranke.1
So beschreibt es Vergil, und er muss es wissen, denn Arkadien ist seine Erfindung. Zwar gibt es einen Landstrich gleichen Namens auf dem Peloponnes. Der ist aber ziemlich öde und entspricht so gar nicht dem, was Vergil daraus gemacht hat, nämlich das Ideal einer schönen, paradiesischen Natur, wo Schäfer und Schäferinnen ohne anstrengende Arbeit ihr Leben vertändeln. Nur an einige reale Züge konnte Vergil anknüpfen. Der Antike galt Arkadien als Hirtenland und als Heimat des Hirtengottes Pan. Üblich sei es dort gewesen, so überliefert es der Historiker Polybios, sich im Singen zu üben und musikalische Wettkämpfe abzuhalten.2 Offenkundig war es aber gar nicht Vergils Absicht, einen wirklichen Ort zu schildern. Sein Arkadien ist eine Geburt der Phantasie. Dort leben keine realen Landbewohner, sondern als Hirten verkleidete Dichter, die die Natur und die Liebe besingen. Bewusst setzt Vergil die Natur der Geschichte entgegen. Während diese geprägt ist von Unheil, von Krieg und von der Zerstörung des Lebensgrundlagen, herrschen in jener Friede und Harmonie. Arkadien trägt utopische Züge. 1 2
Vergil, Bucolica IX, 40–42, Landleben, ed. Johannes u. Maria Götte, lateinisch – deutsch, Zürich 1995, S. 75. Näheres dazu und zu Vergils Arkadien bei Bruno Snell, Arkadien, die Entdeckung einer geistigen Landschaft, in: Ders., Die Entdeckung des Geistes, 5. Aufl., Göttingen 1980, S. 257–274.
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Nun war Vergil nicht der erste, der das Hirtenleben zum Thema der Dichtung machte. Er hatte griechische Vorgänger, deren wichtigster Theokrit ist. Im Unterschied zum Römer Vergil wählt dieser aber nicht eine entlegene Lokalität, sondern seine Heimat Sizilien zum Schauplatz. Das verschafft seiner Dichtung einen mehr realistischen Anstrich. Auch seine Hirten reimen und musizieren, aber sie sind, anders als die Vergils, nicht schwärmerisch und sentimental. Sie sind eher von der groben Observanz und kommen wirklichen Bauern nahe. Ihre poetische Ader hindert sie nicht, über die „Mistviecher“, GXVVRDheißt das auf Griechisch, zu schimpfen. Und um das richtige Ziegenfutter kümmern sie sich auch. Was nun die Liebe betrifft, so sind Theokrits Figuren nicht nur von zarten Gefühlen bewegt. Sie haben ziemlich perverse Sexualpraktiken, deren drastische Schilderung nicht gerade aufs Humanistische Gymnasium gehört. Von Arkadien weiß Theokrit nur zu sagen, dass sie dort „schöne Schafe“ hätten. Gleichwohl gibt es auch bei ihm den Preis der Natur, das Lob der schönen Umgebung. Viele Pappeln und Ulmen rauschten oben über unserem Kopf; und das nahe heilige Wasser floß plätschernd aus der Nymphen-Grotte herab. Die dunklen Zikaden auf den schattigen Zweigen mühten sich mit ihrem Gezirpe; der Laubfrosch quakte von fern in den dichten Dornen der Brombeersträucher; es sangen Lerchen und Finken, es gurrte die Taube, es flogen summend im Umkreis der Quellen die Bienen. Alles roch nach üppiger Ernte, roch nach Fruchtreife. Birnen rollten zu unseren Füßen, zu den Seiten Äpfel in Hülle und Fülle, und die Zweige hingen unter der Last der Schlehen zum Boden herab.3
Vergil hatte also Vorläufer, und Theokrit ist als eigentlicher Begründer der Bukolik anzusehen. Es war aber Vergil, der diesem literarischen Genre die Wendung ins Idealische gab, der mit ihm die Erinnerung an ein goldenes Zeitalter verband. Die Späteren haben ihn immer wieder aufgenommen, bis hin zur Schäferei des Barock und des Rokoko, den Traum von einer Natur, der seit Vergil Arkadien heißt.4 Das literarische Vorbild hat weiter gewirkt, es ist auch eingegangen in die bildende Kunst, in die Landschaftsgemälde Annibale Carraccis und Claude Lorrains, von denen das ganze geistige Europa entzückt war. Etwas zu finden, das an ihr Ideal heranreichte, war auch das Ziel vieler Italienreisender, von denen nicht wenige glaubten, es tatsächlich entdeckt zu haben. Und wenn es schon nicht in der Wirklichkeit anzutreffen war, so konnte man es wenigstens nachbauen. Ganze Parks sind 3 4
Bezug genommen wird auf folgende Stellen: Theokrit, Gedichte, hrsg. u. übersetzt v. Bernd Effe, IV,45; IV,25; IV, 58ff; V, 41ff; XXII, 157; VII, 135ff. Einen Überblick vermittelt Johannes Hösle, Die europäische Hirtendichtung, in: August Buck (Hg.), 1eues Handbuch der Literaturwissenschaft ,Bd. 9, Frankfurt/M. 1972, S. 212ff; einzelne Aspekte und Autoren werden behandelt bei Klaus Garber (Hg.), Europäische Bukolik und Georgik, Darmstadt 1976.
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nach literarischen Mustern gestaltet worden. Im regnerischen, gemäßigten Klima des nördlichen Europa nehmen sich allerdings die schattigen Plätze und künstlichen Felsenhöhlen wie ein ironischer Kommentar zu Theokrits und Vergils Kühlung verheißenden Grotten aus. Nicht jeder fühlt sich von der Natur angesprochen. Es gibt auch solche, denen sie nichts sagt oder die sie sogar verachten. Sokrates ist so einer. Nur mit einem Buch kann ihn ein gewisser Phaidros in Platons gleichnamigen Dialog ins Freie locken. Gefragt, warum er selten vor die Stadt gehe, entgegnet er, dass ihn „Felder und Bäume“ nichts „lehrten“, wohl aber „die Menschen in der Stadt“. Und Baudelaire, ein später Geistesverwandter des Sokrates, sagt sogar, dass der Mensch sich nicht nach der Natur richten dürfe. Er müsse über sie hinausgehen und sich seine eigene Welt schaffen. Die Künstlichkeit einer urbanen Existenz wäre demnach einer naturwüchsigen vorzuziehen. Indessen, selbst Sokrates kann sich dem Reiz eines ländlichen Aufenthaltes nicht entziehen. Er gerät sogar ins Schwelgen angesichts einer Schatten spendenden „prächtigen Platane“, unter der die „lieblichste Quelle des kühlsten Wassers“ fließt. Und er rühmt die „Fülle des Grases am sanften Abhang“. „Erfüllt“ sei der Ort von „Wohlgeruch“, die Luft „wehe willkommen“, und „süß und sommerlich“ säusele „der Chor der Zikaden“.5 Was Sokrates bzw. Platon rühmt, ist ein locus amoenus6. Es ist dies ein Stück liebliche Natur, wie es die Antike so überaus schätzte. Der Lustort, so lautet die deutsche Bezeichnung, muss ein bestimmtes Inventar aufweisen. Zum Grundbestand gehören ein Baum oder eine Baumgruppe, eine Quelle oder ein Bach und eine Wiese. Dieses Ensemble kann bereichert und variiert werden, etwa durch Vogelgesang, Blumen und Düfte. Und zuweilen wird das lauschige Fleckchen mit wahrhaftem Prunk ausgestattet. Berechnet ist es auf die Bedürfnisse des Südländers, der der drückenden Hitze entfliehen will. Die Bäume sorgen für Schatten, das Wasser für Erquickung und der Rasen lädt zum Niederlassen ein. Keine Frage, dergleichen existiert. Der Rastplatz des Sokrates lässt sich lokalisieren. Er liegt in Athen am Bach Illissos. Platon, und das gilt auch für andere Autoren, wollte aber weniger eine bestimmte Örtlichkeit abbilden. Ihm ging es hauptsächlich um eine passende Szenerie für seinen Dialog. Das weist darauf hin, dass der locus amoenus vor allem eine literarische Figur ist. Nicht nur die pastorale Dichtung verwendet ihn, das Beispiel Platons zeigt es. Homer ist derjenige, der ihn zuerst gestaltet hat. In der knappsten Darstellung liest sich das so: 5 6
Platon, Phaidros, 229d–230e; zu Baudelaire vgl. den Essay Der Maler des modernen Lebens. Vgl. dazu: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 8. Aufl., Bern 1948, Kp. 10, §§ 2,6.
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„Einen herrlichen Hain der Athene wirst du nahe an den Wiesen finden, von Pappeln, und drinnen fließt eine Quelle, und rings umher ist eine Wiese.“7
Und wenn man an Homers Welt denkt, an die „rosenfingrige Eos“, die „graue Salzflut“ und an das „gutbebaute Land“ auf fernen Inseln im Meer, so sind es immer die Bilder von lieblichen Plätzen, die einen besonderen Reiz ausüben. Auf ihnen lassen es sich die Menschen wohl sein, und selbst die Götter verweilen da mit dem größten Behagen. Die Späteren haben sich hier bedient, und der locus amoenus wird zum festen Bestandteil der Hirtendichtung Theokrits, Vergils und ihrer Nachfolger. Schließlich erreicht er auch den Norden. Er nimmt nun die Gestalt eines von Wald bekränzten, von einem Bach durchflossenen Wiesentals an. In Deutschland ergehen sich an ihm die Spaziergänger Goethes und Jean Pauls.8 Vergil hält sich nicht nur bei der arkadischen Seite der Natur auf, er kennt auch die praktische. In seinem Werk Georgica, Über den Landbau, wird er ganz handfest, ganz erdnah. Über das richtige Pflügen handelt er da, über Mist und Fruchtwechsel. Die vier Bücher der Georgica beschäftigen sich mit den Themen Ackerbau, Baumkultur, Viehzucht und Bienenpflege. Dass alles in kunstvolle Verse gesetzt ist, verweist darauf, dass es um mehr geht als um simple Anleitungen für den Landwirt. Der Würde des Gegenstandes sucht die gehobene, die dichterische Rede zu entsprechen. Die Arbeiten des bäuerlichen Alltags sind nämlich keineswegs geringe Tätigkeiten. Ihre Dignität erhalten sie dadurch, dass sie hineingenommen sind in das kosmische Geschehen, das die Welt trägt und erhält. Die Kultivierung der Erde fügt sich ein in das Walten der Naturkräfte. Dieses beruht auf einem Geben und Nehmen, auf einem Hin- und Zurückströmen. Den Ausgleich, der dadurch entsteht, bezeichnet Vergil als „iustitia“, als Gerechtigkeit, und es ist die ausgleichende Gerechtigkeit, die den Bestand der kosmischen Ordnung garantiert. Der Bauer ist Teil von ihr; auch in seinem Tun vollzieht sich das Gesetz, dem alle Erscheinungen der Natur unterstehen. Die Mühseligkeit des bäuerlichen Lebens wird entgolten, auf das Säen folgt das Ernten. „O fortunatos nimium ... agricolas“, so beginnt Vergil seinen großen Hymnus auf das Landleben, „überglücklich“ sind „die Bauern“.9 Sie wären das, schränkt er ein, wenn sie denn wüssten, was sie besitzen, denn selbst ihr bescheidenes Dasein verfügt über eine große Zahl von Glücksgütern, über solche, die der Reichtum und der Luxus nicht zu bieten haben. Der Gewinn des Landlebens resultiert aus der Selbstge7 8 9
Homer, Odyssee, 6,291, in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt. Zu denken ist an die Wahlverwandtschaften und an das Kampaner Tal. Vgl. Georgica, II, 458 ff, a.a.O. S. 139ff.
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nügsamkeit. Der homo rusticus ist von niemand abhängig, weder in materieller noch in psychischer Hinsicht. Sein Dasein schuldet er allein der Erde und dem, was er ihr abgewinnt. Um politische Umwälzungen braucht er sich nicht zu scheren, ebenso wenig wie um „Rechtsstreitigkeiten“ und um den „Lärm des Marktes“. Er muss sich nicht um den Beifall der Menge kümmern. Und die Gier nach Macht, Ruhm und Reichtum sind ihm fremd. Seine Glücksgüter sind anderer Art. Die bezieht er aus seiner Arbeit, daraus, dass aufgeht, was er angelegt hat. Er freut sich an dem Gedeihen der Früchte und des Viehs. Sein Tun bestimmen die Jahreszeiten. Sie halten auch die Genüsse bereit, die sein Leben kennt. Getreide, Öl und Wein hat er und Fleisch und Milch dazu. Gefeiert werden diese Gaben an ländlichen Festen, im Gedenken an die Götter der Erde und des Weins. Aber nicht nur darüber verfügt er, ihm sind Friede und Beschaulichkeit gegeben und die Schönheit der Natur. Seiner Sehnsucht nach „Ländlichkeit“ gibt Vergil beredten Ausdruck: „… O wer mich in kühle Täler des Haemus brächte und tief mich bärge im schattigen Dunkel der Zweige!“10
Vom einfachen Leben redet Vergil, davon, dass man glücklich sein kann auf dem Lande. Nach ihm hat sich eine ganze Literatur mit diesem Thema befasst. Was bei Vergil noch zusammengeht, teilt sich aber in einen eher praktischen und in einen eher poetischen Zweig. Zu ersterem gehören Handbücher, die Anweisungen geben wollen für die Landwirtschaft. Schon die Antike kennt sie, und sie sind über die Jahrhunderte fortgeschrieben worden. Erst die Verwissenschaftlichung der Agrikultur, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzt, macht ihnen ein Ende. Diese Schriften haben aber nicht nur den Charakter nüchterner Ratgeber. Auch sie enthalten ein Lob des Landlebens, betonen aber vor allem dessen sittlichen Wert. Sie folgen darin der Systematik dieses literarischen Genres. Den Anfang macht immer eine Tugend- und Pflichtenlehre. Bevor es also ans Werken geht, ist es nötig, auf die richtige Gesinnung zu achten. Vor allem muss Ordnung in Haus und Hof herrschen. Dafür zu sorgen hat der Hausvater, der pater familias, was seit alters auch ein Rechttitel ist. Er ist derjenige, an den sich die Ratgeber wenden, und zu den Büchern, die ein Wissen von der Agrarik vermitteln wollen, gehören auch die, die man auf den Begriff Hausväterliteratur gebracht hat. Nicht selten wird darin das Leben auf dem Lande als das einzig wahre ausgegeben.11 Mehr ins Fach der Dichtung fällt die Ausmalung des ländlichen Daseins, wie sie in der erzählenden Literatur, aber auch im beschreibenden 10 Ebd., II, 485–489. 11 Vgl. dazu Gotthardt Frühsorge, Die Kunst des Landlebens, München/Berlin 1993, insbesondere S. 19–29; dort finden sich auch Hinweise auf weitere Literatur.
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Gedicht zu finden ist. Was diese schildern, ist eine Lebensform. Und in den verschiedenen Sprachen haben sich dafür bestimmte Termini herausgebildet. Trotz aller Gemeinsamkeiten spricht daraus eine facettenreiche Vielfalt. Landleben, countrylife, vie champêtre sind Ausdrücke, die jeweils mit etwas anderen Gefühls- und Erfahrungswerten besetzt sind. Darin aufbewahrt sind nationale Eigenheiten und Traditionen, die einen festen Platz im Bewusstsein der Völker haben. Das Italienische kennt den Begriff der Villegiatura. Er ruft Bilder auf, Ansichten von Landhäusern, wie sie auf den Gemälden Giorgiones, Tizians und selbst noch Morandis erscheinen. Ein solches Haus liegt für sich auf einem Hügel und behauptet einen beherrschenden Platz in der offenen Landschaft. Ringsum sind Felder, weite Flächen, die sich an den Hängen hinziehen und in den Tälern. Zuweilen erheben sich lichte Haine von Oliven über dem Getreide und dem Wein. Große Bäume, ausladend und Schatten spendend, sind nur oben zu finden, bei dem Landsitz. Sie umstehen ihn als Einzelexemplare oder als ganze Gruppen und geben ihm Schutz. Ihr dunkles Grün setzt sich ab gegen die sonst helleren Töne des Landes. Eine Allee führt hinauf zu der Villa, ein weißer Weg, gesäumt von Zypressen oder Pinien. Und im Sommer, wenn die Fluren der südlichen Sonne ausgesetzt sind, verspricht dieser Ort Kühle und ein angenehmes Leben. Ganz so liegen die beiden Güter, die den Rahmen abgeben für Boccaccios Dekameron. Die Landschaft der Toskana gibt Boccaccio nur in äußerster Stilisierung wieder, um nicht zu sagen, er führt nur deren Elemente auf. Da sind die „wogenden Getreidefelder“ und die verschiedenen „Bäume, der freie, klare Himmel“ und, als der angestammte Platz des Landsitzes, eine „Anhöhe“. Der Leser empfängt aber den Eindruck eines ganz vom Menschen gestalteten, eines kultivierten Stückes Natur. Mehr in die Details geht Boccaccio, wenn er an den eigentlichen Wohnbereich kommt. Der ist komfortabel ausgestattet. Auf den Hof gehen Loggien, und das Innere verfügt über Säle und Zimmer, die mit „sehenswerten Malereien auf das schönste geschmückt sind“. Was den Aufenthalt aber besonders angenehm macht, sind die gärtnerischen Anlagen. Insbesondere die der zweiten Villa werden hervorgehoben. Dass sie „zu Seiten“ von ihr lägen und mit einer „hohen Mauer umgeben“ seien, lässt erkennen, woran Boccaccio bei seiner Darstellung denkt. Vor Augen hat er einen Garten, der noch mittelalterliches Gepräge hat. Erst etwas später wird die Renaissance den Garten zur Landschaft hin öffnen und ihn als Teil des Wohnhauses begreifen, ihm also nicht einen besonderen Bezirk zuweisen. Der hier dagegen gehört noch zum Typus des hortus conclusus. Laubengänge von Wein durchziehen ihn, die gesäumt sind von Rosen und Jasmin. Der Besucher wird die schattigen Wege als angenehm empfinden und sich an den Farben er-
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freuen, am Rot der Rosen und am Weiß des Jasmins. Zudem kann er den Duft der Blumen genießen, und der Gesang der Vögel bereitet ihm ein zusätzliches Vergnügen. Das gärtnerische Arrangement ist also darauf berechnet, die verschiedenen Sinne anzusprechen. Das wird noch gesteigert durch einen „Rasenplatz“ in der Mitte des Gartens. Der hat solch ein sattes Grün, dass er geradezu „schwarz“ erscheint. Zitronen- und Orangenbäume umstehen ihn; die haben zugleich Blüten und Früchte. Und die Bäume und das Gras und die Blumen auf dem Gras vereinigen sich zu einem ganzen Tableau von Farben und Gerüchen. Die Mitte des Platzes nimmt ein „Springbrunnen“ in einem „weißen, intarsiengeschmückten Marmorbecken“ ein. Das reine, klare Wasser bietet Erquickung, und sein Plätschern und „gefälliges Rauschen“ erhöht noch den Reiz des Ortes. Unschwer erkennt man hierin eine Spielart des locus amoenus. An diesen Plätzen finden sich, eine Jeunesse dorée, sieben junge Damen und drei junge Herren ein, die sich auf der Flucht vor einer Pestepidemie in Florenz auf ihre Landgüter begeben haben. Sie verfügen nicht nur über Geld, sondern auch über Geschmack und sind kultiviert genug, ihr müßiggängerisches Dasein mit Beschäftigungen auszufüllen, die auch für den Geist anregend sind. Wenn sie nicht im Garten auf dem Rasen sitzen und sich Geschichten erzählen, sie bringen es auf die 10 x 10 Novellen des Dekameron, machen sie Musik, oder sie vergnügen sich mit allerlei Spielen. Vor allem aber gehen sie viel spazieren, nicht nur in den Gärten. Morgens, gleich nach Tagesanbruch, wenn die Temperaturen noch angenehm sind, durchstreifen sie die Gegend. Das ist freilich kein Wandern, eher ein heiter-gemächliches Dahinschreiten in Gesellschaft. Wenn es zu heiß wird, ziehen sie sich in die Kühle des Hauses und der Gärten zurück.12 Beim Gang durch die Felder und beim Genuss der Erträge des Landes ist von der Arbeit, die damit verbunden ist, nicht die Rede. Darum müssen sich die Villenbesitzer auch kaum kümmern. Sie sind Angehörige einer Oberschicht, für deren Bequemlichkeit ihre Bauern und andere Bedienstete sorgen. Aufs Land wechseln sie, wenn es ihnen in der Stadt, wo sie natürlich auch ein standesgemäßes Haus haben, zu eng oder zu stickig geworden ist. Zuweilen geschieht der Umzug nicht ganz freiwillig, dann nämlich, wenn sich die Machtverhältnisse gegen sie gekehrt haben. Unter diesen Bedingungen müssen sie in die Verbannung, oder, schlimmer noch, sie sind gezwungen, sich der Verfolgung der gerade Herrschenden zu entziehen. In Florenz ist es einigen der Medici so ergangen und Machiavelli. 12 Vgl. zu dem oben Ausgeführten: Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, Berlin und Weimar 1985, S. 29f, 33f, 288–291; Bd. 2, S. 73, 313.
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Gleichwohl, was die Renaissance mit dem Aufenthalt in der Natur verbindet, schildert Boccaccio an deren Beginn. Es ist dies ein Leben, das frei, leicht und heiter ist. Aber das gewährt nur eine Natur, die wohltemperiert ist, deren Härten gemildert sind. Und das weiß die Kultur des Landhauses einzurichten. Sie gewinnt den geographischen Gegebenheiten, dem Klima und der Vegetation die erfreulichsten Seiten ab. So bestimmt Leon Battista Alberti in seinem Werk Über die Baukunst, dass die Villa „höher“ gelegen sein soll, um einen Rundblick zu ermöglichen. Der Aufstieg sei aber so zu gestalten, dass er nicht beschwerlich falle. Ein „sonniges Feld, blühende Wiesenflächen, kühle Waldschatten“ und „klare Bäche“ soll die Umgebung aufweisen. Das Haus selbst müsse sich „heiter“ und „anmutig“ präsentieren. Es dürfe keinesfalls den Eindruck des Ernstes und der Strenge erwecken. Die Besucher werden aufgefordert, sich zu befreien von den Gedanken an ihre Alttagsgeschäfte. Zustimmend zitiert Alberti Martial, der auf die Frage, was er auf dem Land tue, geantwortet habe: „Nur wenig. Frühstücken, trinken und singen; spielen, baden und essen. Ruhen, lesen sodann. Apoll weck ich und necke die Musen.“13 Das weist darauf hin, dass die Kultur des Landhauses in Italien weit zurückreicht, bis in die Römerzeit. Den besten Einblick vermittelt Plinius der Jüngere. In seinem Briefwerk beschreibt er detailliert die Einrichtung eines solchen Gutes; er gibt Auskunft über seinen Tagesablauf und macht auch Angaben über wirtschaftliche Aspekte.14 Die Renaissance hat sich bei den antiken Schriftstellern bedient. Und der Springbrunnen in der Marmorschale, den Boccaccio in seinen Garten stellt, könnte eine literarische Reminiszenz sein, denn Plinius erwähnt ein ähnliches Becken. Der Wunsch, in der Natur zu leben, richtet sich nicht gegen den städtischen Lebenszuschnitt. Er enthält keinen antizivilisatorischen Affekt. Die Nähe der Stadt ist sogar erwünscht. Boccaccio denkt an „zwei Meilen“; bei Alberti und bei Plinius finden sich ähnliche Vorstellungen. Der Reiz liegt gerade im Wechsel der Umgebung. Der Landaufenthalt folgt nicht dem Ideal des einfachen Lebens, er ist keine asketische Übung. Die Landhäuser des Plinius, er hatte welche am Comer See, in der Toskana und in der Nähe von Rom, sind mit einem erstaunlichen Luxus und mit großem Raffinement ausgestattet, wobei die jeweiligen natürlichen Gegebenheiten geschickt genutzt werden. Geradezu neuzeitlich mutet der Blick an, den Plinius für die individuelle 13 Vgl. Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, ed. Max Theuer, Darmstadt 1975, 9. Buch, 2. Kp., S. 476–480. 14 Vgl. Plinius der Jüngere, Sämtliche Briefe, ed. André Lambert, Zürich 1969, Briefe: 1,3; 2,17; 3,19; 5,6; 6,19; 6,30.
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Schönheit einer Landschaft hat. Dieser erweist sich der eher emblematischen Betrachtungsweise Boccaccios überlegen. Man kann den Tag auch damit hinbringen, durch die Gegend zu streifen und irgendwelchen Tieren nachzustellen. Geschieht das ohne Not, so wird daraus ein Sport. Land, Wasser und Himmel geraten dann unter einen bestimmten Blickwinkel. Und es sind vor allem die Briten, die die damit verbundenen Vergnügungen überaus schätzen. Der Sport oder der Sportfimmel wird für sie zu einem wesentlichen Bestandteil des countrylife. Und das Scheinen der Frühlingssonne lässt bei einem rechten englischen Landedelmann nicht Gedanken an die Liebe aufkommen, sondern an eine zünftige Angeltour. Jedenfalls stellt es so James Thomson dar. Gleich 49 Verse seines großen Lehrgedichtes The Seasons, Die Jahreszeiten, sind dem Fischen gewidmet. Ausführlich wird dargestellt, wie die Bachläufe aussehen, in denen die Forellen stehen und wie man die Angel werfen muss, um eine gute Beute zu machen. Epochemachend war aber die Schilderung der Jahreszeiten und ihres Wechsels. Das zeigt die enthusiastische Aufnahme des Werkes, nicht nur in England, sondern auch auf dem Kontinent. In Deutschland hat Barthold Heinrich Brockes das Gedicht übersetzt und es zur Vorlage eigener Schilderungen genommen. Und Gleim, Gessner, Ewald v. Kleist, Lessing und Wieland haben sich ausdrücklich auf Thomson bezogen. Eine ähnliche Aufnahme fand er in Frankreich. Diese Resonanz ist einigermaßen erstaunlich, denn das Thema ist wahrlich nicht neu. Seit jeher fühlt der Mensch sich eingebunden in den Rhythmus der Natur. Die Mythen sprechen davon, und Gottheiten wie Dionysos oder Demeter sind figürliche Manifestationen dieses Kreislaufes. Dass er auch Gegenstand der artifiziellen Darstellung wurde, versteht sich fast von selbst. Mit dem jahreszeitlichen Wandel hat sich vor allem die bildende Kunst befasst. Selbstverständlich ist auch die Literatur, wie das Beispiel Vergils belegt, darauf eingegangen. Aber sie hat daraus zunächst kein eigenes Thema gemacht. Anders die bildende Kunst. Sie entwickelt Bilderfolgen oder Bilderzyklen mit einer festen Ikonographie, die das Werden und Vergehen in der Natur wiedergeben. Da sind zunächst die Monatsbilder mittelalterlicher Kalendarien, von denen die Très riches heures des Herzogs von Berry die berühmtesten sind. Sie stammen von den Brüdern von Limburg und zeigen die mit den einzelnen Monaten verbundenen Arbeiten und Tätigkeiten. Auf dem Bild für den März sind beispielsweise ein Sämann und ein Pflüger zu sehen. Es wird so die Vorstellung einer Welt entworfen, die bestimmt ist durch wohlgeordnete Abläufe. Das findet seine Fortsetzung in den Darstellungen der vier Jahreszeiten. Diese halten immer eine feste Reihenfolge ein: der Frühling macht den Anfang, und am Ende
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steht der Winter. Solche Bilderfolgen gibt es vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, von Malern wie Pieter Breughel, 1icolas Poussin und Caspar David Friedrich. Nicht selten gehen diese Darstellungen ins Allegorische über, immer aber haben sie einen ausgesprochen symbolischen Charakter, was sich schon daraus ergibt, dass die Jahreszeiten seit alters als Sinnbilder der menschlichen Lebensalter angesehen wurden. Es ist sicher nicht zufällig, dass zeitgleich mit Thomsons Dichtung auch eine musikalische Bearbeitung des Themas entstanden ist: Antonio Vivaldis Violinkonzerte Die vier Jahreszeiten. Dagegen ist Joseph Haydns Oratorium Die Jahreszeiten abhängig von dem literarischen Vorbild. Sein Librettist Van Swieten hat sich an die englische Vorlage gehalten. Was die Jahreszeiten an Freuden, aber auch an Entbehrungen und Leiden bringen, das erfährt der Landbewohner intensiver als der Städter. Wer dem Frost im Winter ausgesetzt war, dem Erstarren der Erde und des Lebens, der empfindet die Wiederkehr der Wärme als ungeheure Wohltat. Er genießt die Sonne, erfährt ganz unmittelbar ihre „lebensspendende Kraft“. Es sind diese Erfahrungen, die einen Begriff vermitteln von dem, was die Natur ist, und nur einer Betrachtung, die sich auf den Wandel einlässt, erschließt sich ihre Größe und Macht. Thomsons Schilderungen des jahreszeitlichen Wechsels, der Veränderung von Vegetation, Klima und Licht und deren Auswirkungen auf Tiere und Menschen rückten den Zeitgenossen diese Seite des Landlebens eindrücklich vor Augen. Auch er spricht von den Annehmlichkeiten dieses Daseins, spricht von der Stille, der Zurückgezogenheit und von seinen Büchern. Der Gestus des Rühmens, den, wie alle Landlebendichtung, sein Werk einnimmt, bezieht sich aber vor allem darauf, dass die Abfolge der Jahreszeiten als eine sinnvolle Ordnung ausgewiesen wird. Auch das scheinbar Zerstörerische ist Teil des göttlichen Plans, es erfüllt, wie alles in der Welt, eine Bestimmung, eine, die der Schöpfer in es gelegt hat. Die zweckmäßige Einrichtung der Welt geht dem Menschen dann auf, wenn er erfährt, wie die Naturerscheinungen auf ihn zugestellt sind. Sie alle können ihm nutzen, sie können ihn darüber hinaus erfreuen und belehren. Darin offenbart sich das segensreiche Wirken Gottes. Und der Erfolg Thomsons beruht auch darauf, dass er ganz dem teleologischen Denken des Barock verpflichtet ist, wonach alle Erscheinungen einen Zweck haben, sinnvoll und nützlich sind. Das gesteigerte Interesse der Epoche an der Empirie verschafft sich eine religiöse Rechtfertigung. Die Hinwendung zur Natur ist keine Abkehr vom Göttlichen, sie lenkt im Gegenteil die Gedanken gerade auf den Schöpfer. In seinen Werken gibt er sich zu erkennen. Brockes bringt diese Auffassung mit dem Titel seines Hauptwerkes auf eine Formel:
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Irdisches Vergnügen in Gott. In den Besitz der göttlichen Gaben bringt man sich aber nach Thomson vor allem durch ein tätiges Leben. Der Begriff country life ist mit einer Lebensweise verbunden, die der englischen Gesellschaft als erstrebenswertes Ideal gilt. Die Literatur hat sie beschrieben und überhöht. Materialisiert hat sie sich im country house und vor allem im country garden. Ihren grandiosesten Ausdruck findet sie aber im englischen Landschaftspark. Mit ihm hat sich das englische Landleben das passende Umfeld geschaffen, eine ideale Landschaft, deren weite Rasenflächen, stattliche Baumgruppen, gewundene Wege und zu Weihern anschwellende Wasserläufe sich in die Umgebung einfügen. Dieses Arrangement schafft auch den Platz für die Art von Vergnügungen, die man auf den britischen Inseln so überaus schätzt, für den Sport. Der Rasen, hier schlicht Green genannt, gibt auch die Spielfelder ab für das Bowling- und Kricketspiel. Das weist darauf hin, dass das country life durchaus aristokratische Züge trägt. In ihm nimmt die Jagd und der Sport, aber auch das Interesse an der Gärtnerei und der Agrikultur breiten Raum ein. Ihnen widmet sich vor allem der gentry, der Landadel, deren Angehörige – leicht blasiert, die Jagdflinte lässig in der Hand – einem aus den Bildern Gainsboroughs anblicken. Die englische Literatur hat zur Darstellung des Landlebens sogar ein besonderes Genre geschaffen, das der Country House Poems. Exemplarisch dafür ist Ben Jonsons Gedicht To Penthurst. Es entwirft die Topographie einer Herrschaft, in deren Mittelpunkt der Adelssitz liegt. Er ist das Zentrum eines wohlgeordneten Mikrokosmos, auf den alles ausgerichtet ist, die Behausungen der abhängigen Bauern, die Gärten, Felder und Wiesen und selbst die angrenzende Landschaft.15 Die Ansicht einer solchen Herrschaft begegnet einem wieder in Henry Fieldings Roman Tom Jones. Das Herrenhaus liegt auf halber Höhe eines Hügels, aber hoch genug, um eine „höchst reizende Aussicht“ auf das umliegende Land zu gewähren. Vor sich hat der Betrachter eine offene Ebene, die durch „Gruppen von Buchen, Ulmen und weidende Schafe verschönt“ wird. Ihr Mittelpunkt bildet ein See, aus dem im gekrümmten Lauf ein Bach durch Wiesen und Gehölze dem Meer zufließt. Zur Rechten schaut man auf ein kleineres Tal, „geziert mit verschiedenen Dörfern“, das seinen Abschluss im „Turm einer alten verfallenen Abtei“ findet. Schließlich zeigt der Ausblick zur Linken „einen schönen Park …, der mit einer großen Mannigfaltigkeit von Hügeln, Grasplätzen, Wäldchen und Gewässern mit vortrefflichem Geschmack gestaltet ist und dennoch der Kunst weniger verdankt als der Natur“. Begrenzt
15 Vgl. dazu Eckhard Lobsien, Landschaft in Texten, Stuttgart 1981, S. 21ff.
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und abgeschlossen wird die Szenerie durch ein „hohes Gebirge“.16 Hier ist auf knappem Raum alles versammelt, was nach englischem Geschmack landschaftliche Schönheit ausmacht. Der darüber herrscht, ist der Squire Allworthy. Mit ihm hat Fielding das Portrait eines englischen Landjunkers geschaffen, aber eines von der milden Observanz. Er regiert sein kleines Reich mit Güte, Wohlwollen und Nachsicht. Freilich, die schöne Ländlichkeit ist für alle da, auch für die niedrigen Klassen – wenigstens in der englischen Literatur ist das so. Sie kommt auch vor in dem harten Leben der Pächter und Landarbeiter, das Thomas Hardy beschreibt. Und die Melkerin Tess ist durchaus empfänglich für den Liebreiz eines gefälligen, anmutigen Tales im Südwesten Englands.17 Das Grün, „die gelassenste der Farben“, über das Bulwer-Lytton ins Schwärmen gerät, erfreut Arme wie Reiche, den vagabundierenden Zauberkünstler wie den vornehmen Lord. „Oh süßes Grün!, für die Welt das, was ein sanftes Gemüt für das Leben der Menschen bedeutet: Wer möchte all deine lieblichen Schattierungen auf einen derben Farbton reduzieren!“18 Und dann gibt es Orte in Europa, da geht es sehr gemütvoll zu, um nicht zu sagen schläfrig. Sehr dörflich sind diese Orte, und an sportliche Aktivitäten, Raffinement der Lebensführung und philosophische Klügeleien ist überhaupt nicht zu denken. Ganz unaufgeregt verläuft das Leben, und die große Welt dringt nicht hinein in diesen Winkel. So unspektakulär wie das Leben ist auch die Landschaft. Sie ist herabgemildert, moderat, ohne Schroffheiten und Härten. Es gibt weder steile Berge noch dunkle Wälder. „Lodernde Kornfelder und ein glitzerndes Flüsschen“ bestimmen das Bild. Das Wäldchen, das sich gleichwohl gehalten hat, wirkt fast schon unheimlich und sollte möglichst gemieden werden. Die Orte, die so aussehen, könnten allesamt Oblomoska heißen. Sie liegen in Russland, in einem entlegenen Gouvernement, Moskau ist weit und der Zar auch. Der Romanheld, der hier seine Kindheit und Jugend verbringt, trägt denselben Namen, nämlich Oblomow. Sein Autor Gontscharow beschreibt diese Welt mit einem milden Spott, der nicht ohne Schärfe ist, aber auch mit Anteilnahme und einer leichten Trauer.19 Die rührt daher, dass das Leben stillzustehen scheint. Es herrscht „das Ideal der Ruhe und der Tatenlosigkeit“. Ein Adelssitz ist das auch, denn schließlich gehören den Oblomows einige hundert Seelen und das Dorf. Aber hochherrschaftlich geht es 16 Henry Fielding, Die Geschichte des Tom Jones, eines Findlings, 1. Buch, 4. Kp. 17 Das bezieht sich auf Hardys Roman Tess of the d’Urbervilles. 18 Edward Bulwer-Lytton, Was wird er damit machen?, Deutsch von Arno Schmidt, Frankfurt/M. 1990, S. 302. 19 Das bezieht sich auf Iwan Alexandrowitsch Gontscharow, Oblomow, Erster Teil, Kp. 9: Oblomows Traum.
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nicht zu. Und am Haus blickt überall der Verfall durch. Beide, Herrschaft wie Dienerschaft, leben im herzlichen Einvernehmen miteinander, und das bisschen Schimpfen darf man nicht allzu ernst nehmen. Die Herrschaft redet hauptsächlich über das Essen, trinkt viel Tee und gibt den Domestiken sinnlose Anweisungen, die gleich wieder vergessen sind. Viel leisten alle nicht. Und doch gibt es so etwas wie den „Zauber der Oblomowschen Atmosphäre“. Und Gontscharows Held, den es in die Großstadt verschlagen hat, sehnt sich zurück in sein Dorf, in den Kreis träger, aber herzensguter Menschen, bei denen er sich umsorgt und geborgen fühlte. Interessantes, Anregendes hat so ein Leben nicht zu bieten. Dafür stellt es aber auch keine Ansprüche an die Menschen. Still und gemächlich geht es dahin. Es sind Möglichkeiten, die einem die Literatur vorhält, Möglichkeiten, wie es sich leben lässt auf dem Lande. Sie stehen aber unter dem Eindruck der urbanen Zivilisation, sind immer auch gedacht als Gegenbilder dazu. Diejenigen, die hinauswollen, kennen das Leben in der Stadt; sie wissen um seine Nachteile und entwickeln Vorstellungen eines besseren Daseins. Die Schilderungen des Landlebens sind also Hervorbringungen einer städtischen oder verstädterten Intelligenz. Und die Verklärungen, die es erfahren hat, lassen sich darauf zurückführen. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Entwürfe rein illusionär wären. In sie eingegangen sind durchaus reale Züge. Und zudem, es gibt sie ja wirklich, die Schönheit der Natur, und reine Luft und Ruhe in der Abgeschiedenheit auch. Die Opposition der beiden Bereiche lässt sich jedoch nicht auf einen simplen Gegensatz reduzieren, bei dem alles Böse auf die Seite der Stadt fiele, das Land dagegen auf die Seite des Guten rückte. Das liefe auf das ewige Lamento über die angebliche Verdorbenheit der Metropolen hinaus, wogegen sich dann das Land umso vorteilhafter abhebt. Darüber hat sich bereits Wilhelm Busch im ersten Kapitel der Frommen Helene gründlich lustig gemacht. Die Gegenstellung der beiden Lebensformen gestaltet sich entschieden differenzierter. Das erklärt sich schon aus den unterschiedlichen persönlichen und sozialen Milieus, aus denen die Verfasser kommen. Das Spektrum reicht von der einseitigen Verdammung alles Städtischen bis zu der Überzeugung, dass beide Sphären sich keine Konkurrenz machten, dass jede von ihnen ihre eigenen Vorzüge hätte. Das Rom Vergils sieht anders aus als das London Thomsons, und entsprechend muss der Kontrast dazu jeweils anders ausfallen. Das Landleben selbst hat die vielfältigsten Ausformungen gefunden. Und wenn man zurückblickt, so ist einiges davon vorgeführt worden. Selbstverständlich spielt dabei die Landesnatur, das Klima, die Vegetation und die geographischen Formationen eine wichtige Rolle.
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Der Süden lässt eben andere Gewohnheiten entstehen als der Norden. Trotzdem sind diese Lebensformen nicht naturwüchsig. Sie sind im Gegenteil ein Ausdruck von Kultur. Sie stellen Entwürfe dar, denen abzunehmen ist, wie sich eine Gesellschaft in der Natur einrichtet. Es versteht sich, dass es immer auch den Freiraum individueller Gestaltung gibt, aber die Schriftsteller stehen doch in einer Tradition. Sie geben etwas von dem wieder, wie die Kultur, der sie entstammen, ihr Verhältnis zur Natur auffasst. Nun steht es nicht so, dass Städter Menschen wären, die nichts anderes im Sinn hätten, als ihr Territorium zu verlassen. Alles Dörfliche trifft sogar ihre Verachtung, und gegen die sprichwörtlich dummen Bauern spielen sie gern ihre Überlegenheit aus. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass in dem Wort ‚Tölpel‘ der Dörfler steckt. Ein Reflex davon findet sich auch in der Literatur; diese hat sich also keineswegs nur aufs Rühmen verlegt. Nun ist die Dichtung immer an Formen gebunden. Die Form ist mitbestimmend für den Inhalt, das Personal und die Stilhöhe eines Werkes. Der grobe, ungehobelte, blöde Bauer ist vor allem ein Fall für das Lustspiel und die Posse. Darin werden die dörflichen Verhältnisse, ihre Primitivität und Rückständigkeit bloßgestellt und verspottet. Darauf soll hier nicht eingegangen werden, eben so wenig wie auf die im engeren Sinne lyrischen Formen. Die Darlegungen beschränken sich auf die Prosa und auf das beschreibende Gedicht. Wenn oben von Landlebendichtung gesprochen wurde, so ist diese keinem bestimmten Genre zuzuordnen. Da gibt es die Tradition der Hirtendichtung oder der Bukolik, dann die Idylle und die Dorfgeschichte, ferner die Schriften, die den Charakter von Ratgebern haben, und nicht zuletzt findet sich die Pastorale im Roman und in der Erzählung. Formengeschichte zu betreiben, ist aber nicht die Absicht dieser Abhandlung. Wie verwickelt jedoch die Verhältnisse sind, zeigt der Umstand, dass im Barock, bei Opitz zum Beispiel, der Begriff Landleben auch auf die bukolische Dichtung angewendet wird, also nicht etwa reserviert ist für belehrende Schriften. Vermerkt sei noch, dass die deutsche Literatur bisher nur gestreift wurde. Wie sich die Dinge in ihr darstellen, wird später an geeigneter Stelle erörtert. Die Natur ist nicht nur schön und verlockend. Sie zeigt auch ein ganz anderes Gesicht. Joseph Conrad berichtet über eine Flussfahrt ins Innere Afrikas, ins Herz der Finsternis.20 Tückisch sieht der Fluss schon auf der Landkarte aus; er bildet die Form einer Schlange. Nach einer Fahrt entlang einer ganz verlorenen Küste geht es hinein in die Wildnis. Das Land ist vollkommen unvertraut, in einem Maße fremd, dass es sich jedem Vergleich mit einer bekannten Umgebung entzieht. 20 So der Titel der Erzählung.
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An beiden Ufern des Stromes erhebt sich der Urwald, höher hinausreichend als „die Mauer eines Tempels“, ein Verhau aus Pflanzenwuchs, „eine strotzende und ineinander verflochtene Masse von Stämmen, Ästen, Blättern, Zweigen, Rankenwerk“. Nur scheinbar eröffnet der Fluss einen Zugang zu der „grünlichen Düsternis“. Gleich hinter der Expedition schließt sich wieder die Wildnis „wie das Meer über einen Taucher“. Der Wald gleicht einer „heranrollenden Woge aus Pflanzen“, bereit, „jedes kleine Menschenwesen aus seinem Dasein zu fegen“. Er führt ein ganz unverständliches Leben. Meist ist er stumm, bewahrt ein unheimliches Schweigen. Dann wieder hört man Geräusche, sogar Schreie. Aber die kann man nicht zuordnen. Sie sind Regungen eines geheimnisvollen Lebens, deren Bedeutung sich nicht entschlüsseln lässt. Die Artikulationen der Wildnis haben nichts mitzuteilen. Sie ist „ein Ding, das nicht sprechen“ kann und scheinbar auf nichts reagiert, sie ist „taub“. Von ihren Äußerungen weiß man nicht, ob sie ein „Flehen“ oder eine „Drohung“ sind. Unermesslich ist dieses Stück Natur. Es übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen; es verbreitet einen „begriffslosen Schrecken“. Die „Tiefen der Finsternis“ sind undurchdringlich für das menschliche Denken und zudem „erbarmungslos gegen menschliche Schwächen“. Was die Unheimlichkeit vollkommen macht ist, dass nichts an eine Welt erinnert, die für den Menschen bewohnbar wäre. Die Wildnis wirkt „unirdisch, vorgeschichtlich“, wie der „Mars“. Und doch ist sie auch das, sie ist „primitiv und herrlich“. Die Natur ist, wie das Verhältnis des Menschen zu ihr, durchaus ambivalent. Neben der Seite der Schönheit und Gefälligkeit, weist sie auch die des Zerstörerischen und Furchteinflößenden auf. Gegenüber ihrer Größe, Weite und Unermesslichkeit muss sich der Mensch als klein und unbedeutend empfinden. Aber gerade dieses Grenzenlose und in seinen Ausmaßen Majestätische übt auch wieder eine ungeheure Anziehung aus. Es ist nicht nur schreckenerregend, sondern auch faszinierend. Und das konstatiert ja auch Joseph Conrad. Der Aspekt der bewundernswürdigen Größe der Natur wird in der Kunst und in der ästhetischen Theorie unter dem Begriff des Erhabenen abgehandelt. Beides, das Schöne und das Erhabene, gehört zur Natur. Nicht selten geht das eine in das andere über. So kann das Schöne sich ins Übermäßige steigern und das Erhabene eine Wohlgestalt annehmen. Die Analyse dessen, warum die Natur auf den Menschen anziehend wirkt, kommt im Wesentlichen auf drei Motive.21 Das erste ist so nahe21 So auch Martin Seel, Eine Ästhetik der 1atur, Frankfurt/M. 1996. Er unterscheidet drei Grundformen ästhetischer Wahrnehmung der 1atur oder drei Attraktionen der Natur: Kontemplation, Korrespondenz und Imagination. Das entspricht ungefähr dem, was hier ausgeführt wird, wobei die Reihenfolge allerdings umgekehrt ist. Manches, was Seel
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liegend wie simpel. Die Natur erscheint deswegen schön, weil die Kunst sie als schön erscheinen lässt. Oder auch, etwas weniger kategorisch, die Kunst lenkt den Blick auf ihre Schönheiten. Die Steppe mag für die Augen eines unvorbereiteten Besuchers ein öder Landstrich sein. Erst Tschechows Beschreibung lässt ihre Reize hervortreten. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf die sonst nirgendwo anzutreffenden Formen und Farben, und sie vermittelt ein Gespür für die Weite und Größe dieser Landschaft. Ebenso geht es mit Maupassants Normandie. Auch sie ist dem ersten Anschein nach ziemlich eintönig, flaches Land, nur Felder und Wiesen und ein paar Bäume dazwischen. Aber auch diese grandiose Herbheit vermag zu überzeugen, vorausgesetzt es gelingt, dafür empfänglich zu werden, und dazu kann eben die Literatur verhelfen. Der Künstler, sagt Marcel Proust, gehe vor „wie etwa ein Augenarzt“. Durch seinen Eingriff sieht man die Welt anders. Sie hat ihr gewohntes Aussehen abgestreift und bietet einen neuen Anblick. Die Gegenstände, die Farben, das Licht – alles ist verändert, weil es in der Sichtweise des Künstlers aufscheint. Und der Betrachter gewahrt Qualitäten an den Dingen, die ihm vorher nie aufgegangen sind. „Wir haben Lust“, so Proust, „in dem Walde, den Renoir gemalt hat, spazierenzugehen, der uns am ersten Tag alles andere als ein Wald vorkam, eher zum Beispiel wie eine Stickerei mit vielen Farbtönen.“22 So kann selbst das Gewöhnliche attraktiv werden, dann, wenn seine bislang unbeachteten Werte aufgedeckt worden sind. Nun sind bildende Kunst und Literatur nicht umstandslos gleichzusetzen. Diese hat durchaus ihre eigenen Gesetze. Anders als etwa die Malerei zeigt sie die Dinge nur indirekt. Das soll heißen: sie zeigt sie vermittelt durch eine fiktive Person. Die Personen eines Romans oder einer Erzählung leben in einer bestimmten Gegend. Sie gehören zu ihr, sind oft sogar typische Vertreter von ihr. Was sie erleben und erleiden, ist verbunden mit diesem Umfeld. Der Leser wird da hineinversetzt. Mit dem alten Dubslav ist er in der Grafschaft Ruppin, sitzt mit ihm auf einer Bank am Stechlinsee, unter den „alten Buchen“, von denen Fontane sagt, dass „deren Zweige, von ihrer eigenen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihren Spitzen berühren“.23 Und er wartet mit dem Hausherrn auf die Gäste, die gerade eine der für diese Landschaft chaausführt, kann man nicht mitmachen; so die wenig plausible Trennung zwischen ästhetischer Aneignung und Erkenntnis der Natur. 22 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Deutsch von Eva RechelMertens. Frankfurt/M. 1964, Bd. 6, S. 435f. 23 Theodor Fontane, Der Stechlin, Werke, hrsg. v. Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger, Abt. I, 5. Bd., S. 7. Das verweist schon auf das Kapitel über Fontane. Auch die Ausführungen zu Jean Paul, Stifter und Arno Schmidt sind so zu verstehen; das wird im Folgenden nur ausnahmsweise vermerkt.
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rakteristischen Alleen hinunterreiten. Der Leser ist also mit den epischen Personen an den Orten des Geschehens. Und er steht auch mit ihnen vor der Natur, sieht sie mit ihren Augen, erfährt, welche Gedanken und Gefühle sie bei einer Aussicht bewegen. Wie der Maler muss auch der Schriftsteller ein Bild entwerfen, mit seinen Mitteln versteht sich, mit den Mitteln der Sprache. Aber er fügt dem optischen Eindruck noch etwas hinzu, nämlich die Reaktion des Betrachters. Er spricht aus, wie ein Anblick wirkt. Auf diese Weise wird dem Leser die Schönheit eines Ortes nahe gebracht oder auch dessen Großartigkeit, vielleicht auch das, was an ihm abstoßend oder schreckenerregend ist. Selbst wenn letzteres der Fall ist, wird der Leser doch immer eine Lokalität als interessant empfinden, die Schauplatz merkwürdiger, spannender oder tragischer Ereignisse geworden ist. Und gesetzt ein Buch hat Erfolg, so zieht die in ihr geschilderte Landschaft die Aufmerksamkeit auf sich. Sie, die vorher niemand beachtet hat, findet nun ihre Liebhaber. Diese sehen sie in der Perspektive ihrer künstlerischen Aufbereitung. Natürlich gibt es da auch Enttäuschungserlebnisse, dann, wenn nicht aufzufinden ist, was ein Autor so eindrucksvoll beschrieben hat. Das beruht zum Teil aber auf einem Missverständnis, denn es ist nicht unbedingt die Absicht von Literatur, eine realitätsgetreue Abbildung anzufertigen. Sie verändert das Vorgefundene und unterwirft es einem künstlerischen Zweck. Ihm folgend arrangiert sie die Wirklichkeit, sodass sie etwas ausdrückt. Sie soll zum Beispiel eine Stimmung widerspiegeln oder einen Gedanken, oder sie soll sich zu einer bestimmten Atmosphäre verdichten. Oft genug ist der Schauplatz einer Geschichte auch nur eine Erfindung, die allenfalls an eine tatsächliche Gegend erinnert oder Züge einer solchen verwendet. Die Schönheit, die der Betrachter oder der Leser wahrnimmt, ist also das Ergebnis einer bestimmten Anordnung der Realität. Dazu gehören Operationen wie die der Selektion. Sie besteht darin, dass nur ein besonderer Ausschnitt einer Landschaft ins Bild gesetzt wird. Selektion bedeutet aber auch, dass Elemente der Realität ausgewählt und neu zusammengesetzt werden. Selbstverständlich kann sich der Betrachter auch von der Vorlage lösen. Er vollzieht nicht nach, was ein Künstler ihm vorgesetzt hat, sondern er hat gelernt, so hinzusehen wie ein Künstler. Das Bild komponiert er gewissermaßen selbst. Er wird etwa bemüht sein, einen ausgesuchten Standpunkt einzunehmen, und er wird einen Ausschnitt aus dem Vorgefundenen herauslösen. Man kann das gut mit dem Vorgehen beim Fotografieren vergleichen, nur dass es dabei die Kamera ist, die das Segment festlegt. Durch dieses Verfahren verwandelt sich die Umgebung. Sie ist herausgenommen aus den üblichen Lebensvollzügen, ist nicht länger alltäglich und gewöhnlich. Sie gewinnt einen ganz eigenen Reiz, sie sieht aus wie gemalt. Eine solche
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Sichtweise wird vor allem dem geschulten Blick gelingen, geschult durch die Kunst. Die Aussicht auf eine flache Meeresküste wird dann das Aussehen eines niederländischen Gemäldes annehmen, ein Hochgebirgsprospekt gerät zu einem Waldmüller, und der Wald gibt sich erhaben und geheimnisvoll, ganz in der Manier von Stifter. Anziehend erscheint die Realität, weil sie gesehen wird durch das Medium der Kunst. Welche Natur als schön und einnehmend gilt, ist beträchtlichen Schwankungen unterworfen. Und es ist beileibe nicht so, dass das, was unser Gefallen findet, auch zu anderen Zeiten als angenehm empfunden wurde.24 Die Kunst und die Literatur haben da geschmacksbildend gewirkt. Nichts ist diesbezüglich aufschlussreicher als die ästhetische Vereinnahmung der Schweizer Bergwelt. Über Jahrhunderte ist sie mit Prädikaten wie „hässlich“, „erschröcklich“, „unwegsam“ versehen worden. Diese Einschätzung beginnt sich erst im 18. Jahrhundert zu ändern. Bezeichnend ist, dass derjenige, der daran entscheidend mitgewirkt hat, nämlich Albrecht von Haller, anfänglich noch ein ganz anderes Naturideal vertritt. Ausgerechnet Holland findet er „bezaubernd“, und bei Heidelberg kommt ihm die Unterbrechung der Ebene durch Berge „störend“ vor.25 Mit seinem Werk Die Alpen setzt aber eine gründliche Neubesinnung ein. Die Favorisierung bestimmter Gegenden hat auch seine triviale Seite. Dergleichen fördert den Tourismus. Und ohne das Zutun der Literaten und Maler, von Männern wie Haller und vor allem Jean-Jacques Rousseau hätte die Schweiz vermutlich lange noch als ein ziemlich wüstes Land gegolten. Der Drang, sich fremde Räume zu erschließen, hat verschiedene Gründe. Für die Künstler und Literaten ist aber entscheidend, dass sich ihnen mit dem Betreten eines unbekannten Terrains neue Möglichkeiten des Ausdrucks eröffnen. Das ist zunächst so zu verstehen, dass eine Naturszenerie bestimmt psychische Reaktionen herausfordert. Und eine neue Umgebung setzt verborgene seelische Regungen frei. Das Reisen ist ein vergleichbarer Vorgang. Auch das ist begleitet von einer Fülle von Eindrücken und Anregungen. Die künstlerische Adaption eines Naturraumes bedeutet demnach immer auch eine Bereicherung des Fühlens, Wollens und Denkens. Genau das wollten diejenigen erreichen, die einen solchen Aufbruch unternahmen. Die Maler, die die Landschaft um Worpswede für sich entdeckten, geben ein Beispiel dafür ab. Rilke, der sich ihnen anschloss, hat ihre Intentionen interpretiert und kommentiert. Es sei ihnen, führt er aus, darum gegangen, das 24 Einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung gibt Alfred Biese, Das 1aturgefühl im Wandel der Zeiten, Leipzig 1926. Zu dem hier angesprochenen Sachverhalt vgl. insbesondere S. 114–134. 25 Nachweise ebd., S. 116.
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Repertoire an Stimmungen und Gefühlsvalenzen zu erweitern. Und dazu hätten sie herausgemusst aus dem allzu Vertrauten, hätten eine Gegend aufsuchen müssen, die eine Herausforderung darstellte – wie eben der äußerst karge, dürftige Landstrich des Teufelsmoores. „Woran unsere Väter im geschlossenen Reisewagen, ungeduldig und von Langeweile geplagt, vorüberfuhren, das brauchen wir“, schreibt Rilke. Die Berge, zu denen diese gereist wären, wirkten nicht auf seine Generation: „Unsere Empfindung gewinnt keine Nuance hinzu, unsre Gedanken vertausendfachen sich nicht, …denn wir leben in Zeichen der Ebene und des Himmels.“26 Nicht die Schönheit allein, nicht allein das, was an ihr Expression ist, macht die Natur attraktiv. Die Kunst, insbesondere aber die Literatur spricht auch davon, dass sie ein Versprechen auf ein gutes Leben enthält, und daraus ergibt sich das zweite Motiv für das Wohlgefallen an ihr. Eine Erinnerung an die Landlebendichtung macht das deutlich. Da laden Wald und Flur zum Spaziergang ein und zur Jagd; die abgeschiedene Lage verheißt Muse, Ruhe und Beschaulichkeit; die Erde fordert auf zur Gestaltung und zu selbstbestimmter Arbeit. Eine Anschauung, wie das Dasein sein könnte, liegt in der Natur. Und die Dichtung führt das vor. In Gottfried Kellers Roman wird der junge Heinrich Lee ins Heimatdorf seiner Eltern geschickt. Er ist niedergeschlagen und orientierungslos. Von der Schule hat man ihn verwiesen, und eine Aussicht auf einen beruflichen Werdegang hat er auch nicht. Und dann kommt er in das Haus seines Onkels, in ein Haus halb Pfarrei, halb Bauerngut, das angefüllt ist mit buntem, quirligem Leben; Menschen und Tiere laufen durcheinander, Jungen und Mädchen, Hunde und Katzen und ein zahmer, verspielter Marder. Dazwischen bewegen sich der joviale Onkel und die sehr um das leibliche Wohl besorgte Tante. Und als Heinrich kurz nach seiner Ankunft allein ist in dem Haus, die anderen sind draußen auf den Feldern, da guckt durch die Fenster die ganze, wunderbare Gegend: Das „sattgrüne Wiesental“, durch das sich „silbern der Fluss schlängelt“; und die aufsteigende „waldige Berghalde“ jenseits des Wassers, an der „alle Laubarten durcheinander wogen“; und die „düsteren Felswände“ weiter oben, über denen sich die „ferneren Blauberge zeigen“. Von der Mühle flussaufwärts leuchtet nur „das Blitzen und Stäuben des Rades“ durch die Bäume. Und vor dem Haus liegen „Gemüse- und Blumengärten“; die bilden zusammen mit „vernachlässigten Zwischenräumen eine reizende Wildnis“. Und aus Heinrich, auf den das alles einstürmt, das Haus mit seinen Bewohnern und die umliegende schöne Natur, bricht es heraus: „Hier war überall Farbe und Glanz, Bewegung, Leben und Glück, reichlich, ungemessen, dazu Frei26 Rainer Maria Rilke, Worpswede, Sämtliche Werke, V. Bd., Frankfurt/M. 1987, S. 26.
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heit und Überfluß, Scherz, Witz und Wohlwollen.“27 Ihn überkommt ein unbändiger Wille, sich zu entfalten und sich zu betätigen. Das Talent zu zeichnen und zu malen, welches zeitweilig verschüttet war, regt sich wieder in ihm. Beim Erkunden der Umgebung des Dorfes beeindruckt ihn das Alpenpanorama, das über Bergrücken hin in der Ferne auszumachen ist. Er wird aufmerksam auf die eigentümlichen Landschaftsformationen in seiner Nähe. Sie versprechen eine „reiche Zuflucht für fortwährende Streifereien“. Er gewahrt eine „Menge malerischer Anblicke, und an Bäumen und Steinen springt“ ihm das „reichste Detail entgegen“. Alles drängt sich danach, festgehalten zu werden. Heinrich erkennt darin seine Aufgabe; ganz hingegeben ist er an sie. Vergessen ist das, was ihn kürzlich noch bedrückte, und in ihm reift der Entschluss, ein Maler zu werden. Anziehend ist die Natur für den, der in ihr findet, was seinem Wesen gemäß ist. Es ist das besondere Stück Natur, das jemandem zusagt, weil er glaubt, in ihm sich verwirklichen zu können. In eine Umgebung ist er gelangt, welche ihm ein Leben nach seiner Fasson gestattet. Nicht länger fühlt er sich eingeengt, nicht zurückgeworfen auf die Bilder in seinem Inneren. Das, was er sich wünscht, kommt ihm draußen entgegen. Die Dinge und selbst die Menschen neigen sich ihm zu. Sie spornen ihn an, und er hat das Gefühl, dass sich entfalten darf, was vordem zurückgedrängt war und nur als Ahnung in ihm lag. Es ist dies ein gesteigertes Leben, ein Dasein, das endlich gelungen ist, eines, das sich nicht zurückhalten muss, sondern das sich ausleben darf. Das Glücksgefühl, das jemand überfällt, wenn er eine bestimmte Gegend betritt, rührt eben daher, dass er das Empfinden hat, bei sich angekommen zu sein. Und wenn eine Definition des Glücks die ist, dass es keine Diskrepanz zwischen Innen und Außen gibt, dass das Glück auf dem Zusammenstimmen der beiden beruht, so ist das hier zu haben. Vor dem Ankömmling breitet sich eine Fülle von Möglichkeiten aus. Er braucht sie nur zu ergreifen oder auch, bei wiederholtem Aufenthalt, sie sich erneut anzueignen. Anschaulich wird ihm vorgeführt, auf welche Beschäftigung er sich verlegen kann. Die Aufnahme eines Stückes Natur kann demnach die Vergegenwärtigung einer Lebenskonzeption sein, eines Entwurfes von einem geglückten Dasein. Dergleichen stellt immer auch ein Korrektiv dar zu einem schlechten Leben, wenigstens aber zu einem, das nicht so gut geraten ist. Verheißen ist ein Leben jenseits des Zwangs. Und selbst wenn es mit Arbeit und Mühe verbunden ist, so sind diese doch nicht aufgenötigt, sondern sie wurden freiwillig übernommen. Noch die fadeste Urlaubsregion hat etwas von diesem Glanz, auch sie enthält ein Versprechen auf Freiheit und Glück. 27 Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, Sämtliche Werke, 1. Bd., München 1958, S. 194f.
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Sich so hingezogen zu fühlen zur Natur, ist elementarer als jede künstlerische Gestaltung. Die Zuneigung, die Menschen für eine bestimmte Gegend empfinden, entsteht aus ihrer eigenen Situation, und es sind ihre Existenzmöglichkeiten, die sie in ihr gewahren. Zudem sind es ganz unterschiedliche Gesichtspunkte, die sie anlocken: Das Klima mag angenehm sein; oder es ist die Physiognomie einer Landschaft, die beeindruckt; vielleicht überzeugt auch die Stimmung, die von einem Ort ausgeht, dessen Heiterkeit oder Gelassenheit. Die Literatur nun hat dieses Motiv aufgenommen und es vielfach variiert. Wie sich das Dasein ausnimmt unter den unterschiedlichsten natürlichen Bedingungen, das wird ihr ein Gegenstand der Darstellung. Sie erzählt dem Leser von fremden Existenzweisen, versetzt ihn in unbekannte Territorien und lässt ihn teilhaben an dem Leben, das sich dort entwickelt hat. Abenteuerlich mag es da zugehen oder auch exotisch. Das hat dann den Geschmack der Ferne und des Entlegenen. Es kann aber auch so sein, dass nur geschildert wird, was jedem vertraut ist, etwas, das vielleicht in der Kindheit am intensivsten genossen wird. Da wirkt irgendein Ferienland mit seinen Sensationen. Schon beim ersten Augenschein ist den Örtlichkeiten anzusehen, welche Freuden sie bereithalten. Das Wasser und der Wald, die Wiesen und die Berge warten nur darauf, erkundet und in Besitz genommen zu werden. Für Kinder sind solche Aufbrüche eine Weise der Welterfahrung. Es gibt sie auch bei anderer Gelegenheit. Und Wilhelm Raabe hat die daran geknüpften Wonnen festgehalten. Die „grüne Freiheit“ beginnt gleich hinter den Häusern. „Der Inbegriff aller Dinge, die Welt, die absolute Totalität eröffnet dem Forscher nicht weitere und nicht geheimnisvollere Räume, als dem Kinde die engbegrenzte Wiese und das Stückchen Himmelblau darüber bieten.“ Es gibt tausend Dinge, die neu sind und unbekannt. An ihnen entzündet sich die Leidenschaft des Forschens und des Sammelns. Es kommen auch Zeiten, „wo man still im Gras liegt und den Wind in den Blättern hört, die Wolken in der Luft schwimmen sieht und nach den fernen Bergen hinüberstaunt.“ Dann wieder muss man laufen, „um die Stelle zu finden, an welcher der Regenbogen auf der Erde steht“. Eine Zeit ist das, schreibt Raabe, „wo man mit Gras und Baum, mit dem lieben Gott, mit jedem Vogel, jeder bunten Mücke, jedem glänzenden Käfer auf du und du steht; wo man Pantheist in der lautersten Bedeutung des Wortes ist.“28 Kaum sind sie draußen, geraten Jean Pauls Helden in Verzückung. Grund dafür haben sie eigentlich nicht, denn Sorgen haben sie genug. Mit dem Auszug in die Natur sind diese nicht abgeschafft. Sie existie28 Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor, in: Werke in vier Bänden, hg. v. Karl Hoppe, Bd. I, München o.J., S. 536f.
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ren noch. Sie sind nicht vergessen, etwa weil zeitweilig für Ablenkung gesorgt wäre. Sie beschäftigen auch weiterhin die Gedanken. Es hat sich nur ein Zustand eingestellt, in dem sie nicht mehr als belastend empfunden werden. Die Figuren fühlen sich hinausgehoben über den Kreis ihrer Sorgen. So geht es dem Armenadvokaten Siebenkäs. Der macht sich in gedrückter Stimmung auf eine Fußreise. Die engen Verhältnisse, in denen er sich gefangen sieht, liegen ihm schwer auf der Seele. Als er aber hinauskommt in die offene Landschaft, da geht vor ihm eine ganze Frühlingswelt auf: „Über die Erde schwammen tausend Farben, und aus dem Himmel brach ein einziges lichtes Weiß“. Und Siebenkäs wird das Dasein leicht, er fühlt sich getragen und gehoben. Das Schicksal pflückte aus Firmians Seele, wie Gärtner im Frühjahr aus Blumen, die meisten gelben, alten, welken Blättchen aus … In der Seele stieg eine überirdische Sonne mit der zweiten am Himmel. In jedem Tal, in jedem Wäldchen, auf jeder Höhe warf er einige pressende Ringe von der engen Puppe des winterlichen Lebens und Kummers ab und faltete die nassen Ober- und Unterflügel auf und ließ sich von den Mailüften mit vier ausgedehnten Schwingen in den Himmel unter tiefere Tagesschmetterlinge und über höhere Blumen wehen.29
War die Welt vorher verdüstert durch allerlei Kümmernisse, so ist Siebenkäs nun empfänglich für ihre Schönheit. Selbstverständlich ist das abhängig von seiner Gemütsverfassung, aber doch nicht allein davon. Die Umgebung trägt das ihrige dazu bei, und es kommt zweierlei zusammen: die Gestimmtheit des Individuums und das Besondere der äußeren Gegebenheiten. Der Einzelne erlebt das in der Weise, dass sich die Welt verändert hat. Sie hat alles Gewöhnliche abgelegt. Es ist dies nicht auf eine Operation des Willens zurückzuführen, nicht auf ein Tun. Diese Veränderung erfasst einen Menschen, sie kommt über ihn. Getragen wird sie also vom Gefühl, und der Einzelne erfährt sie als Versetzung in einen bestimmten Zustand. Gleichwohl handelt es sich nicht um ein bloßes Erleiden, vielmehr um eine erhöhte geistige Aktivität. Es ist die der Kontemplation. Aus dieser Haltung ergibt sich der dritte Grund für die Attraktivität der Natur. Für gewöhnlich sind die Dinge eingepasst in einen bestimmten Zusammenhang. Sie haben ihren Platz und ihre Funktion im Vollzug des Lebens. Die Alltagswelt ist so beschaffen. Da gehen die Dinge auf in ihrem Gebrauch. Sie haben nichts Besonderes, nichts, was Beachtung verdiente, und schön sind sie schon gar nicht. Die Aufmerksamkeit ziehen sie allenfalls dann auf sich, wenn die Selbstverständlichkeit, mit 29 Jean Paul, Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Firmian Stanislaus Siebenkäs, in: Werke, hrsg. von Norbert Miller, München 1959–66, 2. Bd., S. 352f.
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der man sich ihrer bedient, aufgehoben ist. Sie erlangen den Status der Auffälligkeit, und man ist bemüht, diese Störung schleunigst zu beheben.30 Mit dem Raum verhält es sich so ähnlich. Auch er hat eine von der Gewohnheit vorgegebene Gliederung und Bedeutung. Er stellt sich etwa dar als Weg zur Arbeit. Auch er ist eingebunden in die Routine, erscheint unter dem Blickwinkel der sich wiederholenden Abläufe des alltäglichen Besorgens. Eine ästhetische Qualität hat er ebenso wenig wie die Gebrauchsdinge. Und nun kann es geschehen, dass sich dieser Zusammenhang auflöst. Die Dinge und die Umgebung, der sie angehören, haben sich verändert; sie sind fremd geworden; frisch und unverbraucht sehen sie aus; und in ihrer Fremdheit wirken sie überaus reizvoll und schön. Sie weisen Eigenschaften auf, die der geschäftige Umgang mit ihnen verdeckt hat. Es war die allzu große Vertrautheit mit ihnen, die sie banal und unbedeutend machte. Jetzt aber beginnen sie zu leuchten. Auf sie legt sich ein ungeahnter Glanz. Aber der subjektiven Seite stellt sich dieses Geschehen als Distanz zum Leben dar. Jemand hat Abstand gewonnen zu dem, was er üblicherweise betreibt. Eben das tritt ein in der Denkweise der Kontemplation. Arthur Schopenhauer, der diese eindringlich analysiert hat, erklärt deren Entstehung mit der Aussetzung des Willens. Der Wille ist gleichzusetzen mit dem Prinzip des Lebens. Er äußert sich als blinder Drang, als der dem einzelnen Lebewesen innewohnender Trieb, sich im Dasein zu halten. Das gilt für alles Leben, auch für das des Menschen. Und so ist es die Not des Existierens, die den Menschen beherrscht. Sie bestimmt sein Handeln und lässt ihn vor allem danach streben, ein einigermaßen erträgliches Auskommen zu haben. Aber auch die höheren Interessen, die Bemühungen des Geistes um Erkenntnis stehen unter der Botmäßigkeit des Willens. Im Verstand habe „der Wille…sich… ein Licht angezündet“31, lautet einer der Kernsätze Schopenhauers. Selbst von der Wissenschaft behauptet er, dass sie nicht nach dem Wesen der Dinge frage, sondern einzig danach, wie diese sich einsetzen ließen für die Zwecke der Daseinsfristung. Ihr gehe es lediglich um „das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu“, nicht aber um „das Was“32. Der Bann, der den Einzelnen an den Willen fesselt, kann aber gebrochen werden. Gleichgültig werden dann die Sorgen, die ihn sonst drückten, sie interessieren nicht mehr. Wie abgefallen ist von ihm die Last des Daseins. Aus einem von der Lebensnot umgetriebenen Individuum ist ein „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der 30 Man kann hier an die Untersuchung der Alltagswelt denken, die Martin Heidegger vorgenommen hat; vgl. Sein und Zeit, 3. Kp., §§ 14ff. 31 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Sämtliche Werke, hrsg. v. Arthur Hübscher, Wiesbaden 1966, S. 179. 32 Ebd., S. 210.
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Erkenntnis“ geworden33. Dieses ist demnach herausgetreten aus den Relationen, in die es eingebunden war. Vor allem aber ist es dem „Strom der Zeit“ enthoben, es ist „zeitlos“, weil es weder Gedanken an die Zukunft noch an die Vergangenheit kümmern. Es befindet sich in einer reinen Gegenwärtigkeit. Hineingezogen in diese Verwandlung sind auch die Gegenstände. Sie sind nicht länger bloßes Material der Lebenssicherung und der Zukunftsgestaltung. Mit dem Subjekt haben sich auch die Objekte aus diesen Bindungen gelöst. Dadurch haben sie gewonnen an Format, Tiefe und Vielgestaltigkeit. Das Subjekt der Kontemplation hat sich demnach von den Zwängen der Individualität befreit. Es kann sich deswegen öffnen für die Gegenstände, kann sich hingeben an sie, ganz so wie man sagt, jemand sei in einen Anblick versunken. Es sind dies Momente der Selbstvergessenheit, in denen nichts mehr von dem zählt, was sonst die Existenz ausmachte. „Es ist dann einerlei, ob man aus dem Kerker, oder aus dem Palast die Sonne untergehn sieht“, so macht Schopenhauer diesen Zustand kenntlich.34 Freilich, er kann nicht anhalten. Der ins Schauen Vertiefte muss zurück ins Leben, und das sagt nicht nur Schopenhauer. Ekstatische Züge hat die Kontemplation bei Jean Paul. Die ästhetische Wahrnehmung der Natur steigert sich zur Erfahrung des Göttlichen. Die Schönheit der Natur ist nur der Abglanz des Überirdischen, ist sichtbarer Ausdruck einer alle Erscheinungen durchwaltenden Harmonie. Sie führt hin zu einer Schau des Ganzen, in der dem Menschen der Sinn für die Einheit der Welt aufgeht. In diese ist alles einbezogen, das Größte und das Geringste und nicht zuletzt der Betrachter selbst. Er empfindet sich als Teil von ihr, fühlt sich in ihr aufgehoben und geborgen. Was demnach in dieser Einstellung geschieht, ist eine ‚unio mystica‘, eine Vereinigung mit dem Göttlichen. Und selbst wenn man diesen Vorgang nicht religiös versteht, wenn man ihn, wie Schopenhauer, begreift als Akt der Erkenntnis, so ist auch dann die Gegenstellung von Subjekt und Objekt aufgehoben, in der Weise nämlich, dass sie einander nicht länger fremd sind. Denn indem alle selbstischen Impulse vom Subjekt abgefallen sind, erscheinen auch die Gegenstände nicht mehr unter dem Aspekt der Zu- oder Abträglichkeit. Von der „Seligkeit des willenlosen Anschauens“ spricht Schopenhauer. Und die Kontemplation nennt er eine „uninteressierte Betrachtung“, eben weil die Nöte des Daseins nicht mehr zählen.35 Das verweist auf den Zusammenhang der Kontemplation mit der antiken ‚Theoria‘, was wörtlich übersetzt ‚Schau‘ heißt. Sie ist ein Wissen, das jenseits des tätigen Lebens steht 33 Ebd. 34 Ebd., S. 232. 35 Ebd., S. 233; S. 220.
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und sich auf die Einsicht in die kosmische Ordnung richtet. Für Platon, auf den sich Schopenhauer beruft, besteht sie darin, sich von der Welt des Scheins, die den Menschen gemeinhin gefangen hält, frei zu machen. Derjenige, der das tut, übersteigt die sichtbare Wirklichkeit und erhebt sich zu dem, was dieser zu Grunde liegt, und das sind die reinen geistigen Formen, die Ideen, während die sinnlichen Erscheinungen nur deren Abbilder sind. Wer sich dieser Aufgabe stellt, hat sich ganz der Wahrheit verschrieben; er hat sich der Wesensschau überlassen, verliert sich in ihr. Anders als für die Neueren geht für Platon die Kontemplation aber weniger aus einem ekstatischen Erfasstwerden hervor, als vielmehr aus einer ethischen Entscheidung. Sie beruht auf dem Beschluss, sich in der Wahrheit zu halten. So jedenfalls stellt es das Höhlengleichnis der Politeia dar, in dem Platon seine Erkenntnislehre entwickelt. Die Kontemplation braucht sich nicht auf den Höhen der Metaphysik zu bewegen; sie ist auch nicht unbedingt darauf angelegt. Sie vermag andere Formen anzunehmen, solche, die eher bescheiden sind. Es kann sich dabei um ein vorübergehendes Aussetzen der Alltagswahrnehmung handeln oder um ein Gefühl des Abgehobenseins und des Hinübergleitens zu den Dingen. Das ist nicht die Sache einer besonderen Begabung, einer philosophischen, künstlerischen oder religiösen. Ganz gewöhnliche Menschen berichten darüber, dass sie Momente kennten, in denen die Trennung zwischen ihnen und den Dingen aufgehoben sei, Momente, die insbesondere als Gefühl des Einsseins mit der Natur erlebt werden. Die Literatur knüpft an diese Erfahrungen an und gestaltet sie, nicht nur in der Weise, dass sie diese, wie Jean Paul, ins Transzendente steigert. Stifter kennt die kleinen, als glückhaft erlebten Augenblicke, die sich beim Anblick eines sonnenbeschienenen Waldweges oder einer besonderen Gesteinsformation einstellen. Noch die moderne Literatur weiß davon. Gehäuft finden sich die Zustände des Innehaltens in den kleinen Prosastücken Robert Walsers. Deren ausgeprägt meditativer Charakter lässt nicht nur die Menschen und die Gebrauchsdinge in einem ungewöhnlichen Licht erscheinen, sondern auch die Natur. Oben auf der winterlichen Bergweide lag Schnee, der wunderbar glänzte, die Schneefläche so silbern, und unten in der Tiefe so abendsonnig-dunkel das weite, grau-grüne Land, und in der Ferne das göttlich-schöne, kühne, zarte Hochgebirge. Es war mir, als wolle meine Seele in die Seele der Landschaft, die ich da so groß vor mir sah, hineintauchen. Ein Abendrot, wie ich es so schön und so reich noch nie glaubte gesehen zu haben, kam nun über die Welt
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und machte sie zur bezaubernden Rätselerscheinung. Die Welt war ein Gedicht, und der Abend war ein Traum.36
Und selbst in Handkes Amerika der Großstädte und der Autobahnen kommt noch ein Gefühl des Angesprochen- und Angezogenseins von Naturerscheinungen auf. Auf einem kleinen Hügel stand in einiger Entfernung eine Zypresse. Ihre Zweige sahen in der Dämmerung noch fast kahl aus. Sie schwankte leicht hin und her, in einer Bewegung, die dem eigenen Atem glich. Ich vergaß sie wieder, aber während ich dann auch mich selbst vergaß und nur noch hinausstarrte, rückte die Zypresse sanft schwankend mit jedem Atemzug näher und drang mir schließlich bis in die Brust hinein. Ich stand regungslos, die Ader im Kopf hörte auf zu schlagen, das Herz setzte aus. Ich atmete nicht mehr, die Haut starb ab, und mit einem willenlosen Wohlgefühl spürte ich, wie die Bewegung der Zypresse die Funktion des Atemzentrums übernahm, mich in sich mitschwanken ließ, sich von mir befreite, wie ich aufhörte, ein Widerstand zu sein, und endlich als Überzähliger aus ihrem sanften Spiel ausschied.37
Man kann bei diesen Erfahrungen nicht einmal von geistigen Zuständen sprechen. Getragen werden sie von starken Emotionen, von einer Ergriffenheit, die sich des ganzen Menschen bemächtigt, des Körpers wie der Seele. Das kontemplative Verhältnis zur Wirklichkeit, wie es in der Literatur anzutreffen ist, kann jedoch auch anders angelegt sein. Es versteht sich dann mehr artistisch, behält sozusagen einen klaren Kopf. Es hat dann etwas vom Geist des Experiments und verfährt spielerisch mit den Gegenständen. Es wendet sie nach allen Seiten und entdeckt an ihnen Eigenschaften, die dem einfachen Umgang mit ihnen verborgen bleiben. Diese Vorgehensweise setzt die Dinge frei. Sie werden erlöst vom Zwang der bloßen Verfügbarkeit, und erlöst wird auch der Blick, der sie, nicht minder zwanghaft, nur aus dieser Perspektive zu sehen vermochte. Diese Art der Betrachtung erprobt sich nicht zufällig gerade am Banalen und Unscheinbaren. Dass es die Moderne ist, die sich den unbedeutenden Erscheinungen zuwendet, die das Triviale, selbst das Hässliche zum Gegenstand der Kunst macht, hat sicher auch damit zu tun, dass der Aspekt der puren Nützlichkeit sich auf alles und jedes gelegt hat, auch auf die Naturerscheinungen. Der Verwertungszusammenhang ist so universal geworden, dass es nur dem artistischen Eingriff gelingt, ihn zu durchbrechen. Auf diesem Hintergrund sind die Arbeiten von Francis Ponge zu sehen, die als Beispiel für diese Möglichkeit der Kontemplation dienen können. Über die Seife hat er geschrieben, über den Telefonapparat, über den Flieder und eben auch über den Schlamm. Daraus ist die folgende Passage: 36 Robert Walser, Ein 1achmittag, Das Gesamtwerk in 12 Bänden, Bd. II, Zürich – Frankfurt/M. 1978, S. 89. 37 Peter Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied, Frankfurt/M. 1972, S. 95.
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Wenn, mehr als die Ferne, das Nächste sich verdüstert und nach langem, finstrem Brüten der Regen, der plötzlich den Boden grün und blau prügelt, schon bald den Schlamm gründet, betet ein reiner Blick ihn an: der des Azurs, der schon wieder auf diesem schlammigen Körper kniet, den feindselige Karren allzu sehr gerädert haben…38
Nun hat die Kunst insgesamt kontemplative Züge. Sie entrückt die Erscheinungen, hebt sie heraus aus dem geschäftigen Betrieb. Und was bei Ponge als besonderer methodischer Zugriff erscheint, ist noch in jeder Landschaftsdarstellung angelegt. Solchen Ansichten mögen Erlebnisse der Begeisterung und der Ekstase zugrunde liegen, es kommt aber schließlich doch darauf an, dass diese gestaltet werden, und dazu müssen bestimmte Verfahrensweisen angewendet werden. Oben wurde darauf verwiesen, z.B. auf das Mittel der Selektion. Gleichwohl bringt die Kunst nur eine allgemeine Möglichkeit des Naturverhältnisses zum Ausdruck. Sie zeigt, wie sich die Erscheinungen geben, wenn man sie ohne Rücksicht auf eine eventuelle Besitznahme wahrnimmt. Sie erhalten dann eine bestimmte Qualität, nämlich die der Schönheit. Nach dieser Seite hin betrachtet erregen sie ein „Wohlgefallen“, das „uninteressiert und frei“ ist. So sagt es Kant, und er meint damit, dass es beim Schönen gar nicht darum geht, sich das Objekt der Zuneigung anzueignen, so wie es die „Begierde“ oder die triebhafte „Neigung“ will. Das Gefallen ist rein „kontemplativ“, worunter Kant versteht, dass sich dieses nur auf die Beschaffenheit eines Gegenstandes richtet, nicht auf seine tatsächliche, reale Gegebenheit.39 Die Erscheinungen bewahren so ihre Selbständigkeit. Sie stehen jenseits praktischer Absichten und ziehen weder die Leidenschaften auf sich noch sind sie Objekte technischer Indienstnahme. Das Gefallen an der Natur hat also drei Gründe. Sie wirkt anziehend, weil sie in der Darstellung der Kunst als schön erscheint – weil in ihr die Verheißung eines geglückten Lebens zu finden ist – weil sie einen Zustand kontemplativer Entrücktheit ermöglicht – Selbstverständlich überschneiden sich diese Motive. Die kontemplative Einstellung zur Welt gehört zu den Voraussetzungen der Kunst und der Schönheit. Und wenn eine Gegend schön, reizvoll und verlockend dargestellt wird, entsteht wie von selbst der Wunsch, darin zu wohnen. Und sicher wird ein Stück Natur, welches das Verlangen weckt, in ihm sich niederzulassen, als schön wahrgenommen. 38 Francis Ponge, Unvollendete Ode auf den Schlamm, Ausgewählte Werke – Stücke, Methoden, Frankfurt/M. 1968, S. 77. 39 Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Kritik der Urteilskraft, Bd. V, S. 209 ff (§ 5).
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Die Behauptung jedoch, die aufgeführten Attraktionen kämen allein der Natur zu, lässt sich nicht ohne weiteres halten. Auch anderes, Nichtnatürliches ist schön, es lädt gleichfalls zum Bleiben ein, und es kann ebenso die kontemplative Versenkung fördern. Zudem war für Generationen von Menschen das Leben in der Natur alles andere als begehrenswert. Es war verbunden mit schwerer Arbeit in knechtischer Abhängigkeit. Und vielen jungen Leuten, die auf dem Lande zu versauern glaubten, ist es so ergangen wie dem Studenten bei Ernst Bloch, der „hingerissen“ die „große Stadt betritt“ und „im Café, an einem stolzen kleinen Tisch“, sich im Kreis „der Auserwählten“ wähnt, „welche Verse schreiben“. Und er selbst träumt von Ruhm und Erfolg.40 Hier ist die Fülle des Lebens, hier gibt es Chancen und Möglichkeiten und die Aussicht, aus seiner Person etwas zu machen. Trotz solcher Einwände zeichnet sich die Natur durch einen besonderen Vorzug aus. Sie wird als ein Bereich wahrgenommen, der noch nicht von der Gesellschaft vereinnahmt wurde. Sie hat sich, so will es zumindest scheinen, der Okkupation durch menschliche Zwecke entzogen; und weil sie frei davon ist, kann derjenige, der sie aufsucht, sich auch frei fühlen. Der Vergleich macht das deutlich. Im gesellschaftlichen Raum, man denke an ein städtisches Umfeld, sind die einzelnen Orte hergerichtet für bestimmte Tätigkeiten, sie sind Stätten des Wohnens und der Produktion, sie dienen schulischen und kirchlichen Zwecken; und selbst die freie Zeit, die Muße und das Amüsement haben ihre Plätze, dafür sind Theater, Gasthäuser, Parks und Sportfelder da. Dann gibt es Straßen, die den Wagenverkehr und die Wege der Menschen lenken und dirigieren. Diese Einrichtungen fordern auf zu bestimmten Tätigkeiten und Verhaltensweisen, sind verbunden mit den passenden Einstellungen und Empfindungen. Was für den Raum gilt, das trifft auch für die einzelnen Dinge zu. Sie sind Gebrauchsgegenstände, angefertigt für eine bestimmte Verwendung; sie gehen auf in ihrem Nutzen und verlangen eine ihnen angemessene Handlungsweise. Und schließlich unterliegt das Zusammensein und der direkte Austausch der Menschen Vorschriften und Gesetzen, die es zu befolgen gilt. So verläuft das Leben in vorgezeichneten Bahnen, es ist umfassend reglementiert. Der Einzelne hat das alles nicht gemacht; nicht er hat die Vorschriften erlassen, die er einzuhalten hat; nicht er hat die Dinge, die er gebraucht, hergestellt; nicht er hat die Verrichtungen, die er ausführt, festgelegt. Und selbst die Vergnügungen hat er sich nicht ausgesucht. Sein Bewusstsein ist demnach besetzt von den anderen. Und so beglückend und anregend das Gesellige auch sein mag, es kommt immer auch das Gefühl auf, eingeengt zu sein. Unter diesen Umständen wird 40 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, S. 29.
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die Natur als Befreiung empfunden. In ihr sind keine Anordnungen vorhanden, die immerzu sagen, was einer zu tun, zu denken und zu fühlen hat. Er kann deshalb bei sich sein. Die Natur ist so gesehen ein offenes Feld von Möglichkeiten. Die allenthalben anzutreffende Sehnsucht nach der ‚unberührten Natur‘ hängt offensichtlich damit zusammen. Aus der Auffassung der Natur als einem Bereich der Freiheit lassen sich die Gründe für ihre Anziehung ohne weiteres herleiten. Das Individuum bewegt sich in einem Terrain, das für es nicht geprägt ist von den Absichten und Aktivitäten der anderen, was hier nur bedeuten kann, dass es sich jenseits des Gewohnten bewegt. Es unterliegt nicht dem Zwang der ihm sonst zugemuteten Verhaltensmuster und Denkschablonen. Es kann sich entfalten und den eigenen Eingebungen, Empfindungen und Handlungsimpulsen folgen. Lange Unterdrücktes vermag in der Natur entbunden zu werden. Das Leben wird neu und entwickelt einen ungeahnten Glanz. Und das ist der Grund, warum die Natur ein Versprechen auf ein geglücktes Dasein enthält. Gleicherweise wird die Kontemplation und die Wahrnehmung des Schönen dadurch ermöglicht, dass die Naturräume und die Naturdinge frei sind, frei von Verwertungszusammenhängen. Sie sind ihrem Wesen nach herausgelöst aus der Routine, sie widersetzen sich dem bloßen Gebrauch, lassen Eigenschaften erkennen, die nicht zusammenfallen mit ihrer Nützlichkeit für den Alltag. Als solche sind sie immer mehr als etwas, das nur der Daseinsvorsorge dient. Darin liegen der Zauber und die Faszination, die von ihnen ausgehen. Und weil sie ein interesseloses Wohlgefallen erwecken, weil sie schön sind, sind sie von sich aus Objekte der Kunst, womit das dritte Motiv bezeichnet ist. Bisher wurde mehr oder weniger ein Verständnis dessen, was Natur ist, vorausgesetzt. Dass darunter Unterschiedliches gefasst ist, deutete sich bereits an. Es muss also eine Klärung dieses Begriffes erfolgen, vor allem in der Absicht herauszustellen, auf welchen Aspekt von Natur sich Literatur bezieht. Das soll im nächsten Kapitel geschehen.
Jakob Philipp Hackert, Rotbuche, Radierung, aus dem Radierzyklus der Baumbilder.
2. Über Naturbegriffe und deren Widerschein in der Literatur Sie glauben in der Natur zu sein, sind es aber nicht. Denn das, was sie umgibt, wenn sie sich hinausbegeben, ist doch nur wieder vom Menschen gemacht. Das gilt nicht nur für Gärten und Parks, sondern auch für großräumige Formationen wie Wälder oder ganze Landschaften. Der Fluss ist eingedämmt, der Berghang terrassiert, der Wald wurde zur Plantage und der Talgrund zum Acker. Die Landschaft schließlich ist zur ,Kulturlandschaft‘ umgeschaffen worden; und in dem, was als typisches Landschaftsbild wahrgenommen wird, steckt die Arbeit von Generationen, jedenfalls verhält es sich so in vielen Teilen der Welt. Und am Ende säße die emphatische Naturverehrung nur einem Irrtum auf. Zunächst ist zu konstatieren, dass eine Trennung zwischen künstlich und natürlich zu Recht vollzogen wird. Und der Begriff der Natur bestimmt sich seit der Antike durch eine Reihe von Entgegensetzungen zum Menschlichen.1 Als weniger vollkommen erscheinen uns die vom Menschen gefertigten Dinge, als bloße Machwerke. Anders als diese sind die Naturerscheinungen, sind Pflanzen und Tiere von selbst entstanden, sie wachsen und führen ein eigenes Leben. Diese Opposition zweier Bereiche, des physischen und des artifiziellen, ist grundlegend. Die übrigen Gegenstellungen sind ihr nachgeordnet. Von diesen ist als erste eine anzuführen, die sich auf die Lebensweise bezieht; einer verderbten und gekünstelten wurde immer eine natürliche entgegengehalten. Das wäre eine, die dem Wesen und der Bestimmung des Menschen angemessen ist. Vieles, von der Diätetik bis zu den Morallehren, fällt darunter. Einfache Kost, bekömmliche Speisen und Getränke, maßvoll genossen, der Aufenthalt in frischer Luft und reichlich Bewegung, darauf belaufen sich Empfehlungen, wie sie zu allen Zeiten zu finden sind, bei Platon und den Stoikern ebenso wie bei den Lebensreform- und Ökologiebewegungen der neueren Geschichte. Als natürlich gilt ferner ein Benehmen, das nichts Geziertes hat, das geradezu, offen und ehrlich ist, das in seiner Ungezwungenheit absticht vom Gestelzten, Steifen und Affektierten. Unzählige Male variiert die Literatur das Motiv vom unverfälschten Menschen, dessen 1
Das hat insbesondere Gernot Böhme näher ausgeführt. Vgl. 1atürlich 1atur, Frankfurt/M. 1992, S. 11–15.
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Reinheit, Spontaneität und Herzenswärme gegen die Gefühlskälte, die berechnende Schläue und den Standesdünkel des Gesellschaftsmenschen ausgespielt wird. Rousseau hat es in der 1euen Héloise verarbeitet, Goethe im Werther, und Jean Paul macht es zu einem der großen Themen seiner Romane. Was nun die Moral im engeren Sinne betrifft, so hat diese Lehren entwickelt, welche gegen die tatsächliche oder vermeintliche Zügellosigkeit die Ordnung der Natur geltend machen, eine Verfassung, die das Christentum als Schöpfungsordnung auslegt. Diese hat es so eingerichtet, dass jedes Lebewesen mit besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestattet ist, und diese geben ihm auch vor, wie es sich aufzuführen hat. Beispielsweise ist es nach Aristoteles dem Menschen beschieden, in einem staatlichen Verband zu leben; das ergebe sich aus seiner Anlage zum ‚Zoon politikon‘, zum gesellschaftlichen Wesen. Und ein „Tier“ nennt er den, der dazu nicht in der Lage ist. Auch die Sklaverei findet er in dem Wesen der Dinge begründet, denn es gebe nun einmal Menschen, die zum Dienen geschaffen seien, einfach deswegen, weil ihre Verstandesgaben zum Herrschen nicht ausreichten.2 Was als unmenschlich, pervers oder anormal anzusehen ist, hat man noch immer an dem bemessen, was als natürlich ausgegeben wurde. Mit dieser Argumentation verurteilt die katholische Moraltheologie Schwangerschaftsverhütung ebenso wie Homosexualität. Eng verknüpft mit dem Bereich der Moral ist der des Rechts. In beiden geht es um Regeln des Zusammenlebens, und hier wie da stellt sich die Frage, woher diese ihre Gültigkeit beziehen und was deren Bestand garantiert, gleichgültig, ob es sich um Moralvorschriften oder rechtliche Verfügungen handelt. Darauf antworten bereits die Sophisten mit der Unterscheidung zwischen Gesetzen, die von Natur aus (IXVHL bestehen und solchen, die auf menschlicher Setzung (THVHL) beruhen.3 Letztere sind willkürlich, es handelt sich um bloße Konventionen, auf die sich eine bestimmte Gemeinschaft verständigt hat. Nur in ihr müssen sie respektiert werden, anderswo herrschen andere Satzungen. Ihre Gültigkeit ist also beschränkt, was den Bereich ihrer Akzeptanz und die Dauer ihres Bestehens betrifft. Beispielsweise ist die Regelung, im Straßenverkehr rechts zu fahren, eine ganz beliebige Vereinbarung. Die Gesetze dagegen, die sich von der Natur herleiten, haben den Status der Notwendigkeit, sie sind allgemein gültig und liegen nicht in dem Ermessen einzelner Menschen oder Gesellschaften. Sie wurden erlassen von einer Macht, die über dem Menschen und seiner Gesellschaft steht. Und um auch hierfür ein Beispiel anzuführen, so 2 3
Aristoteles, Politik I, 2–4. So beispielsweise beim Sophisten Antiphon; vgl. Walther Kranz (Hg.), Vorsokratische Denker, Berlin 1959, S. 218 bzw. 219. Weiteres bei Ernst Bloch, 1aturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1980, S. 20ff.
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folgert Antiphon aus der Ordnung der Natur, dass „wir alle in allen Beziehungen gleich geschaffen sind, Barbaren wie Hellenen“.4 Die Trennung zwischen gesetzten und natürlichen Geboten hat weitreichende Auswirkungen. Sie begründet das Naturrecht, aus dem sich wiederum die Menschenrechte ableiten, wie sie in der UN-Charta von 1948 festgeschrieben sind. Sie beanspruchen Verbindlichkeit über alle staatlichen und kulturellen Grenzen hinweg. Sie wirken wie kleine Erwachsene, die Kinder auf den Gemälden des 18. Jahrhunderts; die Mädchen im Reifrock und die Jungen mit gepuderter Perücke, das Jabot vor der Brust; und so wurden sie auch gehalten. Das heißt, ab dem 17. Jahrhundert setzt sich zwar die Einsicht durch, dass die Kindheit ein besonderes Lebensalter sei, sehr im Unterschied zu früheren Zeiten, die keinen Unterschied zwischen einer infantilen und einer adulten Phase machen.5 Aber die Aufklärung behandelt die Kinder doch als Vernunftwesen, die nur dazu angehalten werden müssen, sich vernünftig, und das bedeutet verständig und tugendhaft, zu benehmen. Dazu bringen sollte sie die Erziehung, und das Zeitalter der Aufklärung versteht sich selbst vor allem als eines der Erziehung. Verfahren wurde dabei mit einer für unsere Begriffe unnachsichtigen Härte. So berichtet Christoph Martin Wieland von sich, dass er ab dem Alter von drei Jahren ein volles Schulpensum zu absolvieren hatte. Ganz selbstverständlich scheint ihm das, denn er spricht darüber, ohne sich zu beklagen.6 Eine Änderung in der Einstellung zum Kind bewirkte Rousseau. In seinem groß angelegten Roman Emile oder Über die Erziehung lehnt er den herkömmlichen Umgang mit Kindern als schädlich ab und tritt für eine „natürliche Erziehung“ ein. Sie müsse die kindliche Wesensart sich entfalten lassen, habe alles zu vermeiden, was diesen Prozess störe. Falsch sei es, dem Heranwachsenden Kenntnisse beibringen zu wollen, für die es nach seinem Entwicklungsstand noch gar nicht empfänglich sei. Der Erzieher habe hauptsächlich alle unzeitigen und verderblichen Einflüsse von seinen Zöglingen fernzuhalten. Seine Aufgabe bestünde im Wesentlichen darin, günstige Umstände herbeizuführen, die den Werdegang der ihm Anvertrauten beförderten. Und darunter versteht Rousseau vor allem ein intaktes Umfeld, wie es auf dem Lande zu finden sei. Rousseaus Vorstellungen fanden großen Anklang. Und davon haben sich auch die Schriftsteller inspirieren lassen. Wenn Wieland in seinem Staatsroman Der goldne Spiegel einen jungen Fürsten in ländlicher Abgeschiedenheit von einem weisen Ratgeber erziehen lässt, so ist das ganz Rousseauistisch gedacht. Und Jean 4 5 6
Walther Kranz, a.a.O., S. 221. Nach Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München 1978, insbesondere S. 69–221. Vgl. dazu J.G. Gruber, C.M. Wielands Leben, Hamburg 1984 (Hamburger Reprintausgabe von Wielands Werken), S. 11ff.
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Pauls Helden wachsen selbstverständlich in einer dörflichen Umgebung auf, betreut von Erziehern, die auf ihre Veranlagung eingehen. „Jede Naturkraft ist heilig“, heißt es mit Blick auf die Ausbildung der menschlichen Fähigkeiten in dessen theoretischen Werk Levana oder Erziehlehre.7 In der Pädagogik steht also eine natürliche Entwicklung gegen eine bloße Abrichtung oder Dressur, eine Konzeption, die auch für das moderne Denken prägend wurde. Jean Piaget etwa sieht in „Reifeprozessen“, körperliche wie geistige Vorgänge sind darunter gefasst, das Grundgeschehen der Ontogenese. Dieses gehorcht einer feststehenden Abfolge und kann nicht beliebig umgestellt, verändert oder beschleunigt werden. Nach Piagets Forschungsergebnissen kann ein Kind nicht vor dem Erreichen einer bestimmten Altersstufe gewisse mathematische und logische Operationen durchführen. Um herauszubekommen, was der Mensch sei, muss man ihn aus allen mehr oder weniger zufälligen Bindungen lösen; man muss ihn unabhängig von dem betrachten, was soziale Verhältnisse oder historische Konstellationen aus ihm gemacht haben. Mit diesem Gedanken setzt die neuzeitliche Staatsphilosophie ein, und er bestimmt sie dazu, einen Naturzustand anzunehmen, der den konkreten, geschichtlichen Ausprägungen menschlichen Lebens vorgelagert ist. Der Naturzustand ist nur ein theoretisches Konstrukt, eine heuristische Annahme, mit deren Hilfe man Aufschluss über das wahre Wesen des Menschen erlangen kann. Das Ziel besteht also nicht darin, eine anfängliche Epoche der Geschichte zu rekonstruieren; nicht um Historiografie, sondern um Philosophie geht es. Gleichwohl wird hier eine Voraussetzung gemacht, die völlig ungeprüft ist und auch nicht weiter diskutiert wird, die nämlich, dass die eigentliche Bestimmung des Menschen in einer ursprünglichen Verfassung zu finden ist, nicht in dem, was er im Laufe der Geschichte aus sich gemacht hat. Die Staatstheoretiker, zuerst Thomas Hobbes, dann John Locke, entwickeln die Konzeption eines Naturzustandes in der Absicht, daraus eine staatliche Ordnung abzuleiten, die den eigentümlichen Anlagen des Menschen gerecht wird. Allerdings kommen Hobbes und Locke zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während der erste die Überzeugung gewinnt, der aggressive Charakter des Menschen verlange nach einem starken, absolutistischen Staat, der in der Lage ist, die zerstörerischen Neigungen niederzuhalten, kommt der zweite zu dem Schluss, dass die allen zuteil gewordenen Freiheit und Gleichheit nur in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen ihre angemessene Entsprechung fände.8 Bei gedanklichen Abstraktionen ist es aber nicht 7 8
Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 694. Das bezieht sich auf Thomas Hobbes, Der Leviathan und auf John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung.
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geblieben, denn es schien Menschen zu geben, bei denen sich die ursprüngliche Wesenart erhalten hatte. Auf sie trafen die Europäer bei ihren überseeischen Reisen und Kolonisationszügen. Von kindlicher Unschuld waren diese Menschen und Völker, sie lebten im Einklang mit der Natur, sorglos und frei, nicht selten in paradiesischer Nacktheit. Schön waren nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Umgangsformen und Sitten. Die Einfachheit ihres Lebens, ihre Bedürfnislosigkeit und unverdorbene Vitalität, ihre Unbekümmertheit machten sie in den Augen der Weißen zu Bewohnern einer glücklichen Welt. Sie schienen etwas zu besitzen, das der europäischen Zivilisation verloren gegangen war. Und es entstand die Fabelfigur vom ‚edlen Wilden‘. Dieser hat allerdings auch sein Gegenstück im Wilden als grausame Bestie. Jedenfalls haben die Berichte über die ‚Naturvölker‘, wie sie bald hießen, die Phantasie der Europäer, der Philosophen und Literaten, mächtig angeregt.9 Der Auszug zu den ‚glücklichen Inseln‘ wurde zur Vorlage unzähliger Werke. Stolbergs Roman Die Insel ist ein deutsches Beispiel dafür. Und Karl Mays Winnetou ist ein später Abkömmling der Spezies ‚edler Wilder‘. Die Auffassung, dass die Kultivierung eine Entfernung vom Ursprung sei, was auf den Verlust humaner Qualitäten hinausliefe, hat am wirkungsvollsten Rousseau vertreten.10 Gegenüber dem Naturmenschen ist der Kulturmensch unfrei und sittlich korrumpiert. Eingesperrt ist er in ein System, das seine angeborenen Regungen unterdrückt und pervertiert. Anders als der Wilde, der das, was er benötigt, sich selbst beschaffen kann, hat der Zivilisierte Bedürfnisse entwickelt, zu deren Befriedigung er auf die anderen und die Produkte der anderen angewiesen ist. Aus dieser Abhängigkeit resultieren der Zwang und die Deformationen, denen er ausgesetzt ist. Und in der zunehmenden Abhängigkeit erkennt Rousseau das Bewegungsgesetz des Zivilisationsprozesses, man kann einfach sagen: der Geschichte. Auch er führt den Naturzustand zunächst nur aus methodischen Gründen ein, das betont er ausdrücklich. Er braucht ihn als Maßstab, um abschätzen zu können, wie weit sich der Mensch in den verschiedenen Phasen seiner Geschichte von seinen Anfängen fortentwickelt hat. Aber er stattet ihn doch mit Zügen aus, die den Reiseberichten über eingeborene Ethnien entnommen sind, so dass unklar bleibt, ob er nicht doch tatsächliche Gegebenheiten meint. Bei der Geschichtsbetrachtung und der Gesellschaftstheorie steht also Natur für das Ursprüngliche und Urwüchsige, von dem das Zivilisierte, das Raffinierte und Dekadente abgesetzt wird. 9
Näheres über die Auseinandersetzung zwischen den Europäern und den überseeischen Völkern findet sich bei Urs Bitterli, Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘, München 1982; vgl. insbes. S. 207ff. 10 So vor allem in seinen Discours, vor allem in dem zweiten: Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen.
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Was unter Natur zu verstehen ist, das haben in der Neuzeit vor allem die Wissenschaften festgelegt. Entscheidend für sie wurde eine Aufteilung, nach der auf die eine Seite das Ich, auf die andere die Natur rückt. Es war Descartes, der diese Dichotomie bündig formuliert hat, und sie bestimmt bis in die Gegenwart das europäische Denken über die Natur. Descartes nimmt seinen Ausgang davon, dass er nach einer „klaren und gesicherten Erkenntnis“, das ist eine, die unzweifelhaft gewiss ist, sucht.11 Und er spricht damit das Erkenntnisideal der neuzeitlichen Wissenschaft aus. Dem Vorbild der Mathematik entnimmt er, dass man dahin nur durch ein methodisch gelenktes Vorgehen gelangen kann. Der Titel seiner Schrift Regulae ad directionem ingenii, Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, ist Programm. Und darin drückt sich das Methodenideal der neuzeitlichen Wissenschaft aus. Das erste Verfahren, das er einsetzt, ist der Zweifel, mit dessen Hilfe er überprüfen will, was überhaupt als gesichert angesehen werden kann. Nachdem er gezeigt hat, dass das Zeugnis der Sinne und das logische Schließen, dass selbst die Annahme einer Existenz der Außenwelt und des eigenen Körpers diesem Anspruch nicht genügen, gelangt er an eine erste, unumstößliche Gewissheit. Die besteht darin, dass er an der Tatsache, dass er denkt, nicht zweifeln kann. Daraus ergibt sich für ihn der „erste Grundsatz der Philosophie“, und der lautet: „Ich denke, also bin ich“ – „cogito, ergo sum“. Für Descartes bedeutet das, dass alles Wissen, welches Bestand haben soll, ebenso sicher wie diese erste Gewissheit sein muss. Und er folgert weiter, dass nur das wirklich existiert, was so klar wie das ‚Ich denke‘ begriffen werden kann. Den sich daran anschließenden Denkschritten braucht hier im einzelnen nicht gefolgt zu werden. Festzuhalten ist lediglich, dass Descartes weitere Gegebenheiten findet, von denen sich Aussagen machen lassen, die an Zuverlässigkeit der ersten Gewissheit gleichkommen. Es sind dies die numerisch oder quantitativ erfassbaren Verhältnisse in der Außenwelt. Wie den Kern des Ichs der reine Vollzug des Denkens ausmacht, so liegt der Grundbestand der außersubjektiven Wirklichkeit in der reinen Körperlichkeit; er beschränkt sich auf das Ausgedehnte. Die gesamte Wirklichkeit spaltet sich in zwei wesensmäßig unterschiedliche Sphären, in die des Denkens, der res cogitans und in die des Ausgedehnten, der res extensa. Alle materiellen Gebilde, gleichgültig, ob es sich um Mineralien, Pflanzen, Tiere oder den menschlichen Körper handelt, gehören zu dem zweiten Bereich. Und ihn setzt Descartes mit der Natur gleich. Wenn das vorneuzeitliche Denken, wenn insbesondere die lange Zeit maßgebliche aristotelische Physik in ihr zwecksetzende und formge11 Discours de la Méthode, I, 6. Descartes’ grundlegende Gedanken lassen sich am besten in dieser Schrift verfolgen.
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bende Kräfte annahmen, so verwirft das cartesianische Alternativprinzip solche Vorstellungen. In der Natur gibt es nichts Geistiges, nichts, das an seelische Regungen oder willentliche Setzungen erinnerte. Ihre Erscheinungen können auch nicht begriffen werden als Ausdruck eines Inneren. Alle Gegebenheiten und Vorgänge dieser Art sind allein dem Bereich der denkenden Substanz zuzuschlagen. Die Welt des Geistes und die der Dinge sind radikal voneinander geschieden. Und in ihnen herrschen jeweils andere Bedingungen. Die Bedeutung Descartes‘ liegt weniger in seinen Einzelergebnissen, als vielmehr darin, dass er die Grundsätze der wissenschaftlichen Erforschung der Natur formuliert hat.12 Danach weist sie keine hierarchische Ordnung unterschiedlicher Wesen auf, die ihren jeweils eigenen Regeln, denen des Organischen und des Anorganischen beispielsweise, unterworfen wären. Sie bildet ein homogenes Feld, auf dem ausnahmslos die gleichen Gesetze, physikalische und chemische nach heutigem Verständnis, gelten. Als gesicherter Tatbestand kann ausschließlich das angesehen werden, was zahlenmäßig ausgedrückt oder als messbare Größe ausgewiesen werden kann. Um das zu erreichen, müssen universal einsetzbare Methoden angewendet werden, ein für die Erkenntnisgewinnung bereit gestelltes Instrumentarium, das nicht an bestimmte Gegenstandsbereiche geknüpft ist. Zu ihm zählt vor allem das Experiment. Es beginnt die exakte oder mathematisierte Naturwissenschaft. Durch ihren Wahrheitsanspruch und selbstverständlich auch durch ihren Erfolg wurden nicht nur andere Forschungsansätze beinahe verdrängt, daraus resultierten auch weitreichende Konsequenzen für die Kunst und die Literatur. Diese verlieren weitgehend ihre Erkenntnisfunktion. Das bedeutet, dass die Darstellungen der Maler und Schriftsteller nicht das erfassen, was in der Natur selbst liegt. Sie geben allenfalls subjektive Eindrücke wieder. Dass die Gestalten der Natur einen Ausdruck haben, dass sie beredt sind, dass sie Stimmungen und Gefühle mitteilen, das sei nur an sie herangetragen. Die verschiedenen Erscheinungsweisen des Physischen, die Heiterkeit oder die Schwermut einer Landschaft, die Bilder der Verlassenheit und der Lebensfülle, die Vorstellungen vom übermächtig Erhabenen wie die vom berückend Schönen, diese ganze Formensprache hätten die Künstler der Natur nur angedichtet. Und es setzt sich die Meinung durch, die Naturdarstellungen seien lediglich Spiegelungen von Gemütszuständen, sie dienten allein zur Illustration oder Vergegenständlichung innerer Regungen; über die Beschaffenheit der objektiven Gegebenheiten sagten sie aber nichts. Wie eben, wenn die Liebenden auseinandergehen, der Dichter es regnen lässt; und wenn sie 12 Zur Bedeutung Descartes’ für die Wissenschaft vgl. S.F. Mason, Geschichte der 1aturwissenschaft, Stuttgart 1974, S. 200ff.
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sich wieder finden, er gleich den Sonnenschein bereit hält. Eine Auffassung, die in der Natur Seelisches zu erkennen glaubt, erliegt dem Verdacht, sie zu vermenschlichen, sie unter anthropomorphe Kategorien zu bringen. Solche Annahmen verbieten sich selbst von Tieren, denn diese sind auch nur ein Stück Natur, sie sind, so sah es Descartes, bloße Maschinen. Der neuzeitliche Dualismus cartesianischer Prägung vollzieht also einen essentiellen Bruch zwischen dem Ich und der Welt. Der Natur setzt er den Geist, dem Physischen das Psychische entgegen. Und in beiden Sphären herrschen andere Prinzipien.13 Aus den Entgegensetzungen geht zunächst hervor, dass ‚Natur‘ nicht nur ein beschreibender, sondern auch ein wertender Begriff ist. Er bezeichnet einen Bereich der Wirklichkeit, der sich abhebt von anderen, insbesondere von dem der menschlichen Hervorbringungen materieller und geistiger Art, und er enthält zudem Anleitungen, die das menschliche Leben und Verhalten regulieren sollen. Eine normative Funktion hat er vor allem auf dem Gebiet der Moral und des Rechts, aber auch auf dem der Geschichte und der Erziehung. Richtungsweisend kann die Natur für den Menschen aber allein unter einer Bedingung sein, und das ist die zweite Folgerung aus den Gegenüberstellungen, unter der nämlich, dass er nicht nur im Gegensatz zu ihr steht, sondern zugleich auf sie bezogen ist. Und das Verhältnis des Menschen zur Natur war seit jeher prekär. Einerseits ist er Teil von ihr, er ist ein Organismus unter Organismen, und wie diese untersteht er gewissen Gesetzmäßigkeiten, Stoffwechselprozessen zum Beispiel und der Steuerung durch Hormone, und wie diese ist er das Produkt einer evolutionären Entwicklung. Andererseits ist es aber auch berechtigt zu sagen, dass er sich im Widerspruch zu ihr befindet, und das ergibt sich aus der Möglichkeit, dass er sie zum Gegenstand machen, ihr also gegenübertreten kann; er kann gewissermaßen auf Distanz zu ihr gehen. Es ist in dieser Möglichkeit beschlossen, dass der Mensch in die Natur eingreift, dass er auf ihre Beherrschung aus ist, dass er natürliche Prozesse lenkt, fördert oder unterbindet. Und er kann zerstörerisch wirken, wohl nicht für die ganze Natur, so viel Macht hat er wieder nicht, aber er bringt es doch fertig, ganze Arten auszurotten und ökologische Systeme, auch solche großen Ausmaßes, zu vernichten; die Veränderung der klimatischen Bedingungen ist dafür nur ein Beispiel. Die Möglichkeit des Eingriffs ist nicht nur bezogen auf die umgebende Natur, sondern auch auf die des Menschen selbst. Seinen Körper kann er modellieren, ihn kräftigen, schmücken oder verstümmeln. Zudem vermag er seine natürlichen Verhal13 Die Konsequenzen von Descartes’ Zwei-Substanzen-Lehre für Naturtheorien, insbesondere für eine Theorie des Lebendigen hat sehr eindringlich Helmuth Plessner dargestellt; in: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin – New York 1975, S. 38ff.
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tensweisen zu verändern, zu disziplinieren oder zu verfeinern. Und es gelingt ihm auch, bestimmte Regungen völlig zu unterdrücken. Schließlich ist es ihm sogar gegeben, sich den Anforderungen des Organischen ganz zu verweigern; sich das Leben zu nehmen, bleibt ihm als eine letzte Option. Was den Menschen aber vollends zu einem Gegenpart der Natur macht, das ist das kollektive Unternehmen, mit dem er seine eigene Welt errichten will, das ist die Kultur. Sie, verstanden als Inbegriff aller menschlichen Schöpfungen, der technischen Entwicklungen und der rechtlichen und sittlichen Ordnungen ebenso wie der künstlerischen Leistungen und der wissenschaftlichen und religiösen Lehren, die Kultur also stellt das Leben auf eine andere Basis, in der Weise, dass sie einen besonderen Bezirk schafft, der für die Zwecke des Menschen und seine Bedürfnisse eingerichtet ist. Dieses Bestreben erfasst gleichermaßen den Einzelmenschen und die Naturerscheinungen. Beide sollen umgestaltet werden, so dass sie sich einfügen in die Zielsetzungen eines allgemeinen Willens. Das Individuum bekommt neben der natürlichen eine gesellschaftliche Existenz. Es erlebt eine zweite Geburt, durch die es zum vollen Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft wird, was den Sinn der Initiationsriten für Jugendliche bei vielen Völkern ausmacht. Um überhaupt existieren zu können, ist es für ihn unabdingbar, den Anforderungen der Kultur, in welche er hineingeboren wurde, zu genügen. Vor allem ist der Einzelne gehalten, sich die geltenden Verhaltensmuster anzueignen und Fähigkeiten im Umgang mit den Gebrauchsdingen zu erwerben.14 Dazu gebracht wird er durch die Erziehung. Um die notwendige Anpassung zu vollbringen, muss er geformt oder abgerichtet werden. Und als Endgeltung dafür wird ihm das gesellschaftliche Wissen vermittelt, erhält er Schutz und Geborgenheit. Wie sich der Wille zur Gestaltung auf den Einzelnen legt, so ergreift er auch seine Umgebung. Die Kultur zieht die Natur hinein in ihren Kreis, formt sie und macht sie sich kommensurabel. Diese verliert dadurch ihre Wildheit, ihre Spröde und ihr abweisendes Wesen und wird dienstbar, angenehm und gefällig. Und gerade so wie der Mensch abstreift, was an ihm ungeschliffen, grob und rau ist, so verliert die Natur ihr unbändiges Wesen, das Erschreckende und Verstörende. Sie wird selbst kultiviert. Die Bearbeitung der Natur im Interesse der Menschen folgt zunächst nicht einem luxurierenden Bedürfnis nach Verschönerung des Daseins. Sie gehorcht dem Zwang, die Lebensgrundlagen zu sichern, also für Nahrung, Kleidung und Wohnung zu sorgen. Wie sich aber der 14 Damit werden natürlich Sozialisationsprozesse angesprochen, auf die hier nicht ausführlicher eingegangen werden soll. Aus der Fülle der Literatur sei hier nur angegeben: Agnes Heller, Das Alttagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion, Frankfurt/M. 1981; vgl. insbesondere S. 24ff.
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Austausch einer Zivilisation mit der Natur im einzelnen vollzieht, hängt von verschiedenen Umständen ab. Zunächst von den äußeren Bedingungen, von den geologischen, klimatischen und vegetativen Gegebenheiten. Hinzu kommen rein kulturelle Faktoren wie der Stand der Technik und das Niveau des Wissens um physische Prozesse und Gesetzmäßigkeiten. Einfluss darauf nehmen zudem philosophische Ideen und religiöse Überzeugungen. Was eine Kultur denkt über die Stellung des Menschen in der Natur, das kommt auch darin zum Ausdruck, wie sie sich in der Gegend, die sie bewohnt, einrichtet. Daran zeigt sich zum Beispiel, ob sie einen Herrschaftsanspruch erhebt und die Natur nur sich unterwerfen will oder ob sie den natürlichen Erscheinungen ein Eigenrecht einräumt und diese hineinzieht in ihr Leben. Sie kann die umgebende Natur fördern und verbessern, sodass sie sich zeigt in ihrer Anmut und Schönheit. Sie kann aber auch destruktiv wirken und eine Region verschandeln, zersiedeln und zur Öde werden lassen. Es ist noch nicht ausgemacht, was überhaupt als Natur angesprochen werden kann, und die eingangs dieses Kapitels wiedergegebene Behauptung, dass nicht Natur sein kann, was menschlicher Gestaltung unterzogen wurde, bedarf der Überprüfung. Dagegen stehen Beobachtungen und Erfahrungen, die zu der Ansicht kommen, dass die vom Menschen kultivierte Natur ein Stück Natur bleibt. Sie ist nicht total in die Verfügungsgewalt des Menschen übergegangen, sie ist nicht sein Machwerk, und sie weist alle wesentlichen Merkmale des Physischen auf. Marcel Proust merkt dazu an: Aber auch noch in seinen künstlichsten Schöpfungen hat es eben der Mensch doch stets mit der Natur zu tun; gewisse Stätten stellen immer wieder ihre Eigenherrschaft her und richten inmitten eines Parks ihre Hoheitszeichen genauso auf, wie sie es fern von jedem menschlichen Eingriff getan hätten, in einer Einsamkeit, die sich von allen Seiten her wieder lautlos um sie schließt und ihren Bedingungen gemäß alles Menschenwerk von neuem überdeckt.15
Der Glaube, der Gewachsenes für beliebig disponierbar hält, der in ihm nur seine eigene Kreation sieht und es wie einen Besitz behandelt, erweist sich als pure Anmaßung. Wie absurd und lächerlich diese Haltung ist, demonstriert Turgenjew in einem seiner Gedichte in Prosa. Da redet ein betagter, gebrechlicher Gutsbesitzer, zu dessen Anwesen ein alter Park gehört, von „seinen Bäumen“. Der Verfasser kommentiert das mit einer Anrede an einen Baum: „Hörst du es, tausendjähriger Riese? Ein halbtoter Wurm, der dir zu Füßen kriecht, nennt dich ‚seinen‘ Baum.“16
15 A.a.O., I, S. 182f. 16 Iwan S. Turgenjew; Erzählungen 1857 –1883. Gedichte in Prosa, München o.J., S. 934.
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Anzuführen sind hier aber nicht nur solche Beobachtungen. Auch die sehr konkreten Erfahrungen derer, die das Land bearbeiten, der Bauern und Gärtner, verweisen auf bestimmte Strukturen. Hegel, der ihre Produktionsweise von der handwerklichen und fabrikmäßigen absetzt, sagt, dass ihnen keine „unbestimmte Abnutzung“ des Bodens abverlangt werde, „sondern eine objektive Formierung“.17 Das bedeutet, dass sie sich an die ‚objektiven‘ Gegebenheiten anzupassen haben. Sie müssen sich also nach den vorgefundenen Verhältnissen richten, nach Bedingungen, die sie nicht in der Hand haben. Der Acker, den sie bestellen, hat eine bestimmte Bodenqualität; seine Erträge sind nicht nur davon abhängig, sondern auch vom Klima, vom Wetter und von den Jahreszeiten. Und die Pflanzen, die sie anbauen, folgen dem Gesetz ihres Werdens. Der Landmann hat es mit einem Gegenüber zu tun, das von sich aus schöpferisch ist, das lebt und wächst. Diese Vorgänge vermag er nur begrenzt zu beeinflussen. Seine Erzeugnisse sind also nicht allein auf das eigene Können, Wissen und den eigenen Fleiß zurückzuführen, sondern immer auch auf das Wirken einer anderen Macht. „Was er erwirbt, ist Gabe eines Fremden, der Natur“, resümiert Hegel, ein Urteil, das allerdings relativiert werden muss, da es den Faktor der menschlichen Arbeit zu wenig berücksichtigt. Im Gegensatz dazu hat der Handwerker das, was er hervorbringt, „vornehmlich sich selbst, seiner eigenen Tätigkeit zu danken“. Sein Produkt ist nahezu ausschließlich das Ergebnis seiner Vorstellungen und seiner Geschicklichkeit. Er ist nicht gebunden an äußere Konditionen: Das Material hat er ausgewählt, und wie das Werk aussieht und wozu es nützen soll, das liegt ganz an ihm, und insofern ist er frei. Dagegen arbeitet der agrarische Produzent im Gefühl seiner Gebundenheit an die Mächte der Erde und des Wachstums. Hegel leitet aus den Unterschieden der Produktionsweise zwei gegensätzliche Konstellationen des menschlichen Bewusstseins ab, eines der Stadt, das sich im Prozess des Herstellens als unabhängig erfährt und sich deshalb frei fühlt und eines des Landes, dem aus seiner Arbeit das Wissen um seine Begrenztheit entsteht und dessen Dasein deshalb vom Empfinden der Unfreiheit geprägt ist. Was durch Bearbeitung der Natur entsteht, ist also keine freie Schöpfung des Menschen. Seinen Absichten und Wünschen, seinem Gestaltungswillen setzt sie die in ihr liegenden Kräfte entgegen, die von sich aus die mannigfaltigsten Erscheinungen hervorbringen. Selbst die nach den Zwecken ihrer Bewohner modellierte Landschaft weist immer noch ursprüngliche Züge auf. Da sind die geologischen Formationen, das Klima, das Licht und der Himmel über dem Land. Und Pflanzen, 17 Vgl. dazu: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 203, 204, (Werke in 20 Bänden, Frankfurt/M. 1971, Bd. 7).
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auch wenn sie importiert sind, entfalten sich nur, soweit es diese Gegend zulässt. Und so künstlerisch ein Park auch angelegt sein mag, Bäume und Blumen treiben aus sich heraus und empfangen von dem Landsstrich, in dem sie wachsen, ihr Gepräge. Sogar das Blümchen auf der Fensterbank bleibt ein Stück Natur. Das Gefühl, in der Natur zu sein, sie zu genießen auch in einer Kulturlandschaft, auch in einem Garten, trügt also nicht. Wohl ist ein Unterschied zu machen, der aber noch in den Naturbegriff selbst fällt. Einmal wäre da die unberührte Natur; man kann sie auch wild, frei und ungezähmt nennen, womit nur jeweils andere Akzente gesetzt werden. Und zweitens gibt es die kultivierte Natur, eine, die sich auch als gezähmt und gestaltet bezeichnen lässt. Selbstverständlich kann der Eingriff des Menschen zerstörerisch wirken. Aber das vermag er auch, er kann der Natur aufhelfen und das, was in ihr liegt, zum Aufblühen bringen. Es käme dann zu einem geglückten Zusammenspiel von Natur und Mensch, über dem die ungebundene, die vom Menschen unverdorbene Natur ihre Anziehungskraft verliert. Die Welt würde unter diesen Umständen tatsächlich zum Paradies, was bekanntlich nichts anderes als Garten heißt. Über die italienische Landschaft schreibt Victor Hehn, einer der vergessenen ProsaAutoren von Rang aus dem 19. Jahrhundert: Auch das Verlangen nach freier, nicht umgewandelter Natur wird Dir allmählig als eine ungebildete Forderung erscheinen; Gärten, Villen, Pflanzen, starre, dunkelschwarze Bäume, weisse Ochsen und graue Esel, Wege, Pfade und Hecken, Verrichtungen sich mühender oder müssiger Menschen, gradwinkelige Wände, mit einfachem Verhältniss tragender Kraft und ruhender Last – Alles zusammen wird sich Dir, wenn Du Geduld hast, als eine zweite veredelte Natur offenbaren, als Natur und Kunst, Natur und Kultur, Beides in Eins verschmolzen und wieder zu unmittelbarem, absichts- und bewusstlosem Dasein, d.h. zu Natur geworden.18
In Adalbert Stifters Werk verschränken sich beide Aspekte. Die Sehnsucht nach der unberührten Natur, die den Nimbus des Reinen, des Unschuldigen hat, die fern ab von dem liegt, was die menschliche Gesellschaft mit ihren Verwüstungen angerichtet hat, wird in der Schilderung vom großen Wald beschworen, der das bayerisch-böhmische Bergland, Stifters Heimat, bedeckt. So vor allem in der Erzählung Der Hochwald. Vom Glück in einer Gegend zu wohnen, die durch menschliche Kunstfertigkeit in einen gedeihlichen und für das Auge gefälligen Zustand versetzt wurde, redet der Roman Der 1achsommer. Dieses Glück wird komplettiert durch die überwältigende Erfahrung der ganz ursprünglich gebliebenen Hochgebirgsnatur. Zuweilen ist auch die 18 Victor Hehn, Italien. Ansichten und Streiflichter, Nachdruck der 2., stark vermehrten Aufl. Berlin 1879, Darmstadt 1992, S. 268f.
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Wahrnehmung von Natur eingenommen von dem Wunsch, auf einen Landstrich zu treffen, der unbelastet ist vom menschlichen Eingriff. Ausgerechnet in der Lüneburger Heide will Arno Schmidt so etwas gefunden haben, in einer Gegend, deren Charakter geprägt wurde durch den Raubbau des Waldes, der in der Salzgewinnung seine Ursache hat. Das Beispiel lehrt, wie täuschend der Augenschein sein kann, und mitunter hinterlässt das angeblich Verfälschte einen ebenso starken Eindruck wie das Originale. Man kann das auch so sehen, dass die Natur der Brache ein neues Aussehen von eigentümlichem Reiz gegeben hat. Ganz fraglos gilt den Autoren der klassischen Epoche das bestellte und gepflegte Terrain als Natur. Mehr noch, sie lassen sich von der Vorstellung leiten, dass diese erst darin zur ihrer eigentlichen Bestimmung kommt. In Bezug auf die Natur müsse es das Bestreben des Menschen sein, „ihren Schritt“ zu fördern, „das Schöne“ an ihr „allenthalben zu erhöhen“, fordert Herder. Das sei Aufgabe einer der frühesten Künste, der des Gartens, des Gartens in dem großen Sinne nämlich, dass eine Gegend mit allen ihren Erzeugnissen ein Garten werde. Ein Bezirk, wo jedes Land und Beet das Seine, in seiner Art das Beste trägt und keine kahle Höhe, kein Sumpf und Moor, keine verfallene Hütte, keine unwegsame Wüstenei von der Trägheit ihrer Bewohner zeuge.
Das Ziel liegt darin, dass „die Kunst…zur Natur, die Natur zur Kunst“ wird.19 Für Wieland ist es Teil der Staatskunst, dass die Regierenden alles tun, um die Fruchtbarkeit und das Gedeihen des Landes zu fördern und zu erhalten. Scharfe Kritik übt er an einem Despoten, der alle Kräfte darauf konzentriert, ein Gelände, das von sich aus einen solchen Ausbau gar nicht erlaubt, in einen exotischen und mit deplazierten Zierereien ausgestatteten Garten zu verwandeln und der es obendrein zulässt, dass darüber die anderen Teile des Landes in eine Wüstenei versinken. Der Hauptfehler habe darin bestanden, „einen Plan auszuführen, wobey die Natur nicht zu Rathe gezogen worden war.“ Das erinnert an historische Ereignisse, an die Anlage des Parks von Versailles zum Beispiel, der auf Befehl Ludwigs XIV. unter ungeheuren Anstrengungen einem denkbar ungeeigneten Terrain abgewonnen wurde.20 Dem setzt Wieland eine gelungene Kultivierung entgegen, durch die nicht nur das Auskommen der Bewohner gesichert, sondern auch deren Wohlbefinden gesteigert wird. „Wilde Gegenden wurden angebaut; künstliche Wiesen und Gärten voll fruchtbarer Bäume blühten in Gegenden hervor, die mit Disteln und Heidekraut bedeckt gewesen waren; und Felsen 19 So Herder in der Schrift Kalligone, Herders Sämmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, 22. Bd., Leipzig 1800, S. 128, 132f. 20 Nachzulesen bei Derek Clifford, Geschichte der Gartenkunst, München 1966, S. 136ff.
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wurden mit neu gepflanzten Weinreben beschattet.“21 Die Gestaltung eines Naturraumes thematisiert Goethe vor allem in zwei Werken, in den Wahlverwandtschaften und – fast schon didaktisch – in der 1ovelle. Es geht immer darum, dass ein Ausgleich geschaffen wird zwischen Mensch und Natur, dass sich die Tätigkeit des Menschen harmonisch mit dem Gewachsenen verbindet. Angestrebt ist ein Zustand, von dem „niemand zu sagen wüsste, wo die Natur aufhört, Kunst und Handwerk aber anfangen“, heißt es in der 1ovelle.22 Und in der Topographie von Jean Pauls Romanen steht der englische Landschaftspark für eine geläuterte und verklärte Natur. Dass nicht Natur sein kann, was unter die Hände der Menschen geraten ist, steht ganz unter dem Eindruck eines absoluten Bruchs zwischen Mensch und Natur, wie ihn die cartesianisch inspirierte Wissenschaft annimmt. Die Klassiker halten dem entgegen, dass der Mensch eingefügt ist in die Natur, er ist „ihr eigenes Werk“, sagt Wieland, und Herder ergänzt, dass er selbst dem Kreatürlichen angehört, er ist der „Letztgebohrene der Schöpfung“.23 Diesen Vorstellungen liegt eine Konzeption zu Grunde, der bereits Aristoteles eine theoretische Fassung gab, die aber vor allem bestätigt wird durch die oben mitgeteilten Beobachtungen und Erfahrungen im Umgang mit dem Physischen. Auch Aristoteles hält zwei Bereiche auseinander, den der Natur, griechisch IXVLVPhysis) und den der menschlichen Hervorbringungen, griechisch WHFQK(Technik).24 Entsprechend gibt es zwei Arten von Gegenständen, die in ihrer Beschaffenheit wesentlich voneinander abweichen. Die Naturdinge entstehen aus eigener Kraft, und sie entwickeln sich nach einer ihnen innewohnenden Gesetzmäßigkeit, ganz so, wie eine Blume aus dem Samen aufgeht und die einzelnen Stadien ihres Werdens bis hin zur Blüte und Frucht durchläuft. Das ohne fremdes Zutun aus sich Entstehende ist also die Grundbedeutung von Natur. Hinzu kommt noch ein Charakteristikum, das der Reproduktion. Aus der Blume entsteht wieder eine Blume, sie pflanzt sich fort wie alles Natürliche. Das technisch hergestellte Ding verdankt demgegenüber seine Existenz, seine Form und seine Funktionsweise einer fremden Instanz. Bei einem Handwerksstück, eine Bronzestatue führt Aristoteles an, hat ein Produzent das Material ausgesucht, und er hat in es hineingelegt, welche Eigenschaften es hat und wozu es taugt. Und noch ein wesentlicher Unterschied ist hervorzuheben. Das Artefakt kann nichts Neues seiner Art generieren, es besitzt nicht die Fähigkeit der Repro21 Christoph Martin Wieland, Der goldene Spiegel, Sämmtliche Werke II, Bd. 6, (Hamburger Reprintausgabe) Hamburg 1984, S. 22, 101. 22 Werke, a.a.O., Bd. VI, S. 493. 23 Wieland, ebd., S. 110; Herder, a.a.O., S. 128. 24 Die entsprechenden Ausführungen finden sich bei Aristoteles, Physik Vorlesung II, 1.
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duktion. Zudem bedarf es zu seiner Erhaltung der Wartung des Menschen. Wie der Unterschied zwischen einem technischen und einem natürlichen Ding aufgefasst werden muss, hat Aristoteles an einem Beispiel erläutert, das er beim Sophisten Antiphon fand.25 Würde man ein Bett aus Holz in der Erde vergraben und könnte aus dem faulenden Bett ein Schössling hervortreiben, so würde kein Bett, sondern wieder Holz entstehen. Dabei ist der griechische Begriff ‚Technik‘ der Inbegriff für alle Fertigkeiten des Menschen, werksetzend und gestaltend tätig zu werden. Er umfasst das Künstliche wie das Künstlerische, bezeichnet demnach gleichermaßen Kunst und Handwerk; und Platon kennt sogar eine soziale Technik (SROLWLNKWHFKQK , durch die es gelingt, eine Gemeinschaft zu organisieren.26 Eine ähnliche Bedeutungsbreite hat das lateinische ‚Ars‘. Und noch das 18. Jahrhundert verwendet das Wort ‚Kunst‘ in diesem weiten Sinne. Trotz der wesentlichen Differenz zwischen den beiden Bereichen gibt es doch auch wieder Übereinstimmungen. Und das führt ins Zentrum der aristotelischen Naturphilosophie. Natur bedeutet Bewegung; ihr sind alle Naturerscheinungen unterworfen. Die „einfachen Körper“ – Erde, Feuer, Luft und Wasser – machen Ortsveränderungen durch; Pflanzen und Tiere „wachsen“ und „schwinden“, und sie wandeln sich in ihren Eigenschaften; das gilt selbstverständlich auch für den Menschen, müsste man hinzufügen.27 So unterschiedlich diese Vorgänge auch sind, sie haben eines gemeinsam: Ihre Bahn ist vorgezeichnet. Wonach sie sich richten, das ist das „Zugrundeliegende“, das ist ihr „Wesen“. Die Naturdinge entwickeln sich nach der Form, die in ihnen angelegt ist; diese müssen sie aus sich heraustreiben und zur Vollendung bringen. Das Feuer will seiner Bestimmung gemäß nach oben, und die Umschwünge der Gestirne nehmen den ihnen eingegebenen Lauf. Am plausibelsten lässt sich aber die Lehre des Aristoteles am Gedeihen einer Pflanze demonstrieren. Ihre Endgestalt ist der Möglichkeit nach schon im Samen enthalten, und indem sie ihre Eigenschaften ausbildet, entfaltet sie nur, was in ihr steckt. Heute würde man von Steuerungsprozessen durch die genetische Information reden. Angetrieben wird also die Bewegung von der jeweiligen Zielsetzung; und die Verfassung der Physis ist durchgängig teleologisch. Aristoteles gebraucht dafür den Begriff ‚Entelechie‘, und das bedeutet: das Ziel in sich selbst habend. Die Natur insgesamt ist eine Ordnung, in der jedes seinen festgesetzten Ort hat und einen ihm zugedachten Zweck erfüllt. Sie kommt nie zur Ruhe. Aber diese Bewegung beschreibt die Figur 25 Vgl. Kranz, a.a.O., S. 216 bzw. 217. 26 Vgl. Protagoras, 322a. 27 Physikvorlesung II, 1–192b 1–19.
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eines Kreises. Das, was war, kommt wieder; die Pflanze stirbt, und ihr Samen entlässt eine Pflanze derselben Art. Und eigentlich entsteht nichts Neues. Das kosmische Geschehen ist ein Rotieren, bei dem immer das Gleiche wiederkehrt. Was nun die Technik oder Kunst betrifft, so folgt diese nur dem natürlichen Schaffensprozess. Dessen „Struktur“ kehre in ihr wieder, sagt Aristoteles. Damit ist gemeint, dass die nicht-humane und die humane Produktion einander darin gleichen, dass die einzelnen Schritte aufeinander aufgebaut sind; über deren Abfolge entscheidet das angestrebte Ziel. Aber nicht allein in der Weise des Hervorbringens gibt es Übereinstimmung, diese überträgt sich auch auf die Produkte selbst, denn die artifiziell gefertigten Dinge haben ihr Vorbild in den Naturdingen. „Das menschliche Handeln bringt Gebilde der Natur teils zum Abschluss, nämlich dort, wo sie die Natur selbst nicht zu einem Abschluß zu bringen vermag, teils bildet es Gebilde der Natur nach.“28 „Mimeitai“ (PLPHLWDL steht im griechischen Text, und das ist der entscheidende Begriff: Alles vom Menschen Geschaffene ist nichts anderes als Mimesis, ist Nachahmung der Natur. Er kann nur so zu Werke gehen, dass er sich in dem von ihr vorgegebenen Rahmen hält. Mit seinem Tun ist er demnach eingespannt in die kosmische Ordnung, weil er selbst nichts wirklich Neues entstehen lässt; seine Schaffenskraft erprobt sich an dem, was er vorfindet. Es versteht sich, dass solche Unternehmen auch missraten, scheitern oder dem eigentlichen Zweck zuwiderlaufen können. Die Nachahmung der Natur ist kein Automatismus, und sie ist immer als Anleitung und Auftrag verstanden worden. So haben das die Autoren der Goethezeit aufgefasst. Sie wollten sich als Mitschöpfer einsetzen, die das fördern und zu Ende bringen, was in der Natur angelegt ist. Voraussetzung dafür ist aber, dass man diese, wie Aristoteles, finalistisch betrachtet. Sie ist selbst gestaltend und formbildend. Und es kommt darauf an, dass man ihr ansieht, welche Zwecke und Absichten sie verfolgt. Man verfährt dabei wie der Bauer, der schließlich weiß, was aus seiner Saat werden soll und der die Prozesse unterstützt, die dahin führen. Aus den Beispielen geht schon hervor, dass der Aristotelische Naturbegriff am Organischen gewonnen wurde. Die Natur ist ihrem inneren Wesen nach Leben; sie ist Subjekt, Autor ihres eigenen Bildungsprozesses. ‚Natura naturans‘ hieß das in der älteren Philosophie und von dieser, von der schaffenden wurde die ‚natura naturata‘ die geschaffene Natur unterschieden. Die Natur ist gleichwohl beides in einem: „Produktivität“ und „Produkt“, so formulierte Schelling diesen
28 Ebd.; II, 2–194a 21–23; II, 8 199a 17–20.
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Sachverhalt.29 Das Programm einer Nachahmung der Natur hält sich an diese Vorstellungen. Die Natur ist selbst „poietisch“,30 formbildend, und weil sie sich sichtbare Gestalt gibt, beruht ihre Erkenntnis auf einem anschauenden Begreifen. Das menschliche Gestalten in Kunst und Technik ist Nachvollzug dessen, was im Außermenschlichen präfiguriert wurde. Aber auch das moralische Handeln kann sich als imitatio naturae verstehen. Denn wenn im Kosmos alles auf einen Zweck hin geordnet ist, ist es Aufgabe des Menschen herauszufinden, was über ihn verfügt ist, um dieser Bestimmung gemäß sein Dasein einzurichten. Dass beide Komplexe zusammengehören, der werkpraktische und der ethisch-praktische, ist aus den Romanen Wielands herauszulesen. Wie er seinen weisen Danischmend ausführen lässt, müsse sich der Mensch der Natur als Führerin anvertrauen. Diese habe ihm Sinne und Verstand verliehen, und es sei an ihm, seine Anlagen voll zu entwickeln. Die Ausstattung mit Sinnen weise darauf hin, dass Sinnengenuss in der Absicht der Natur liege. Begierden und Lüste müssten aber vom Verstand, auch eine natürliche Mitgift, gezügelt werden. Die Mäßigung, zu der er den Menschen anhalte, sei deshalb nötig, weil alles, was im Übermaß genossen werde, „zu Überdruss und Erschlaffung“ führe, also gerade nicht Lust verschaffe. Und wenn man sich einmal Auge und Ohr vornimmt, von denen Wieland annimmt, sie seien „die vollkommensten unserer Sinne“, so können sich diese nur in einer Umgebung delektieren, welche dergleichen auch zulässt. Das Auge ist wie geschaffen dafür, sich „an der Schönheit der Natur, ihren mannigfaltigen schönen Formen, ihren reichen Zusammensetzungen, an ihrer reitzenden Farbgebung“ zu erfreuen. Man kann Wieland dahingehend ergänzen, dass in einer ruinierten Gegend, die verdreckt und verqualmt ist, keine Augenlust zu finden ist, ebenso wenig, wie betäubender Krach und kakophonischer Lärm das Ohr entzücken. Daraus drängt sich der Schluss auf, dass der Mensch für eine Welt zu sorgen hat, die wohltuend für die Sinne ist, die diese nicht überreizt oder verkümmern lässt. Seine Arbeit muss so angelegt sein, dass er ihre Wohlgestalt, dass er ihre Anziehung erhält und fördert. Nur so kommt er in den Genuss seines Daseins und zu dessen Erfüllung. Wieland sagt dazu „Glück“, und er denkt sich dieses in einer Gegend, aus der mit Hilfe des Menschen ein blühender und schöner Garten wurde. Das ist nur ein Idealzustand, Wieland weiß das, aber er versucht doch deutlich zu machen, welche Impulse von diesem Leitbild auf das konkrete, gesellschaftliche Han29 In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Einleitung zu dem Entwurf einer 1aturphilosophie, Schriften von 1799–1801, Darmstadt 1975; vgl. insbesondere S. 269ff. 30 Mir dem Begriff ‚poietisch‘ charakterisiert Jürgen Mittelstraß die Aristotelische Naturphilosophie insgesamt; vgl. Leben mit der 1atur, in: Oswald Schwemmer (Hg.), Über 1atur, Frankfurt/M. 1987, S. 37ff.
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deln ausgehen können. Dieses Leitbild enthält auch eine weitere moralische Forderung, die, dass es niemandem erlaubt ist, einem anderen seine Glücksmöglichkeiten zu nehmen, denn die Natur hat alle Menschen gleichermaßen mit Sinnen und Verstand bedacht, und sie hat damit allen das Verlangen nach Genuss und Glück eingegeben. Hier verschränken sich also werkpraktische, moralische und ästhetische Aspekte.31 In der künstlerischen und literarischen Naturdarstellung hat das Prinzip der Mimesis sehr unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Darauf berufen haben sich sowohl Idealisten wie auch Realisten und Naturalisten. Jean Paul hat ebenso von sich behauptet, er hielte sich an die Natur, wie Stifter und Arno Schmidt. Es ist dabei kaum Vergleichbares herausgekommen, so dass jeweils zu prüfen ist, was denn mit der Formel von der Nachahmung der Natur im Einzelnen gemeint ist. Und um das wenigstens anzudeuten, so haben die Idealisten, zu denen Jean Paul zu zählen ist, in der Landschaft den Ausdruck für das Wesentliche finden wollen, was zu dem Verfahren führte, vorgefundene Formen zu einer neuen Einheit, zu sogenannten ‚Kompositlandschaften‘, zu verbinden; Realisten wie Stifter suchten bestimmte Ansichten in ihren Eigenheiten und in ihrer Einzigartigkeit abzubilden, Ansichten, die sich geographisch lokalisieren lassen; eine moderniste Spielart des Realismus, die im Werk Arno Schmidts vorliegt, versteht unter Wirklichkeitstreue die Wiedergabe einzelner, individueller Eindrücke, auch divergierender, auch einander abstoßender, die sie kaleidoskopartig zusammensetzt. Aber solche Schilderungen sind nicht nur Ausdruck einer bestimmten Epoche, Manifestationen einer ‚klassizistischen‘ oder ‚realistischen‘ Auffassung. Sie sind immer auch der Reflex objektiver Gegebenheiten im Medium individueller Imagination. Darin sind eingegangen das Temperament, die Beobachtungsgabe und die technischen Fertigkeiten eines Künstlers. Diesbezüglich kennt Goethe drei Kategorien: die „einfache Nachahmung der Natur“, die sich bei aller Tüchtigkeit eng und sklavisch ans Gegebene hält; die „Manier“, welche die Einzelheiten vernachlässigt, um einen Begriff des Ganzen zu geben; den „Stil“, der zum Wesentlichen einer Sache vordringt und das Charakteristische herauszustellen vermag.32 Obwohl immer wieder behauptet, ist es ein Irrtum anzunehmen, Nachahmung sei unverstellte Widerspiegelung der Wirklichkeit. Sie ist in jedem Fall nicht passive Hinnahme, sondern aktive Aneignung des Gegebenen. Und obwohl ursprünglich in einem Aristotelisch inspirierten Naturbegriff begründet, 31 Ähnliche Überlegungen finden sich an verschiedenen Stellen bei Wieland; hier wird nur verwiesen auf Der goldne Spiegel, insbesondere auf a.a.O., S. 98–114. 32 Werke, a.a.O., Bd.XII, S. 30–34.
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ist sie in neuerer Zeit auch anders motiviert, bei Arno Schmidt zum Beispiel. Das Verständnis der Kunst als Mimesis behauptet sich bis ins 20. Jahrhundert. Es wurde universal ausgelegt und auf die physische und die soziale Welt bezogen, wobei hier vor allem der Aspekt der Naturdarstellung interessiert. Dieses Kunstverständnis ist schon im 19. Jahrhundert in Frage gestellt worden. Es wird nicht einfach abgelöst, aber es bekommt doch Konkurrenz, und diese geht bis zur Naturfeindlichkeit. Der erste und wohl auch prominenteste Propagandist dieser Auffassung ist Baudelaire. Mit dem großstädtischen Boulevard errichtet sie sich eine Gegenwelt zur natürlichen. Ihre Vertreter, die Boulevardiers und Dandys, Menschen einer überspannten Kultiviertheit, lassen sich so vernehmen: „Das schönste Naturschauspiel wird niemals den Anblick einer Plakatwand aufwiegen.“33 Das Dokument dieser bis ins Extrem getriebenen Künstlichkeit ist der Roman Gegen den Strich (A rebours) von Joris-Karl Huysmans. Der Hauptfigur zufolge hat die Natur ihre Zeit gehabt. Durch die abstoßende Einförmigkeit ihrer Landschaften und Himmel hat sie die Aufmerksamkeit und Geduld der Menschen mit verfeinertem Geschmack endgültig erschöpft. Wie ist sie im Grunde doch platt, diese Spezialistin, die sich auf ein einziges Gebiet beschränkt, was ist sie doch für eine kleinliche Krämerin, die unter Ausschluß aller anderen Artikel nur einen einzigen führt, welch eintöniger Baum- und Wiesenladen, welch banale Meeres- und Gebirgsagentur wird hier betrieben! Es gibt im übrigen keine als subtil oder grandios gelobte Erfindung, die das menschliche Genie nicht ebenfalls hervorbringen könnte… Kein Zweifel, diese ewige Schwätzerin hat die gutmütige Bewunderung der wahren Künstler nun abgenutzt, und der Augenblick ist gekommen, da man sie, wo irgend möglich, durch Künstlichkeit ersetzen muß.
Und weiter heißt es: Wo gibt es hienieden ein in der Freude des Fleisches gezeugtes und unter Schmerzen dem Mutterleib entsprungenes Wesen, dessen Modell, dessen Typus betörender und herrlicher wäre als jener der beiden Lokomotiven, die auf der Strecke der Nordeisenbahn verkehren?34
Dass dies mehr ist als modische Pose und die Lust an der Provokation, lassen andere Äußerungen erkennen. So sagt Apollinaire über den ‚Kubismus‘:
33 Zitiert nach Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt/M 1976, S. 186. 34 Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, München 1995, S. 33f.
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Was diesen „von der alten Malerei unterscheidet, ist die Tatsache, dass er nicht mehr eine Kunst der Nachahmung ist, sondern eine Kunst der Vorstellung, die sich zu erheben trachtet bis zur Neuschöpfung.35
Die Bezugnahme auf Maschinen in diesem Zusammenhang kommt nicht von ungefähr. Sie verweist darauf, worum es hier eigentlich geht, es geht um die Selbstvergewisserung des menschlichen Produzierens überhaupt, des künstlerischen und des technischen. Und da setzt sich die Überzeugung durch, dass die menschliche Kreativität Werke hervorbringen kann, die ganz ohne Beispiel sind. Sich ans Vorgefundene zu halten, zieht den Macher herab, es fesselt seine Schaffenskraft und schränkt seinen Erfindergeist ein. Diese gilt es gerade freizusetzen, und das gelingt nur, wenn sich der Geist löst aus der Bindung ans Faktische, wenn er sich besinnt auf seine eigene Gestaltungskraft. Die Vorbilder für sein Tun kann er nur aus sich selbst gewinnen. Verächtlich redet 1ietzsche von den Schriftstellern, die am „Tatsächlichen“ kleben; er hält sie für Kleinlichkeitskrämer. Das sei geradezu unkünstlerisch, „antiartistisch“, denn das „Studium >nach der Natur< scheint mir ein schlechtes Zeichen: es verrät Unterwerfung, Schwäche, Fatalismus…“ Der schöpferische Mensch verfährt souverän, und die Kunst – das Theater führt 1ietzsche an, die Oper – hat sich nie so verhalten wie die Wirklichkeit. Wer fängt schon an zu deklamieren oder gar zu singen, wenn er von Schmerzen gepeinigt wird! Die Kunst hat ganz andere Intentionen als die, eine Kopie dessen, was ist, zu liefern. In ihr feiert der Mensch sich selbst. Sie ist Steigerung des Lebens, ist dessen Bejahung, auch in seinen tragischen Momenten. Diese Einschätzung ist nicht zu lesen als Akzentuierung einer der in der Kunst angelegten Möglichkeiten. In ihr reflektiert sich die geistige Situation, die 1ietzsches Philosophie als ‚Nihilismus‘ diagnostiziert. Die Kunst ist deshalb ein freies Schaffen, weil nichts existiert, woran sich der Mensch halten könnte. Es gibt keine umgreifende Ordnung, in die er eingebunden wäre; weder die Religion noch die Naturerkenntnis ist imstande, dergleichen zu vermitteln. Die Naturwissenschaft hat selbst einen „nihilistischen Zug“, denn ihr zeigt sich die Welt als unendliches Kontinuum, als ein von der Notwendigkeit beherrschter „Mechanismus“, in dessen Abläufen weder „Absichten“ noch „Begrenzungen“ und schon gar nicht ein „Sinn“ zu erkennen sind. Die Natur ist völlig „indifferent“, sie verhält sich „gleichgültig“ gegenüber dem Menschen und seinem Tun. Er ist demnach nicht Teil eines Wirkungsgefüges, in dessen Zwecke er eingespannt wäre. Er ist ortlos. „Seit Kopernikus rollt 35 Zitiert nach Walter Hess (Hg.), Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Reinbek bei Hamburg 1956, S. 55. Dass die Auseinandersetzung mit dem mimetischen Prinzip zu den Hauptfragen der modernen Kunst gehört, sei hier nur angemerkt; vgl. dazu Werner Hofmann, Grundfragen der modernen Kunst, Stuttgart 1978, S. 81ff.
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der Mensch aus dem Zentrum ins x“, urteilt 1ietzsche, und darin sieht er „die nihilistischen Konsequenzen der Naturwissenschaft“. Und was nun die Religion betrifft, so gilt das Diktum der Fröhlichen Wissenschaft: „Gott ist tot!“ Und das bedeutet, dass auch kein Schöpfungsplan existiert, der den Menschen in seinen Eigenschaften festgelegt und ihm eine Aufgabe zugewiesen hätte. Unter diesen Bedingungen ist der Mensch auf sich gestellt. Und weil er keine Anleihen bei vorgegebenen Strukturen machen kann, muss er sich und seine Welt nach seinem eigenen Entwurf fertigen. Damit ist seine Schöpferkraft entbunden, sie hat alle Fesseln abgeworfen. Aber diese Freiheit ist zugleich eine ungeheure Belastung, gerade 1ietzsche hat das mit großem Nachdruck ausgesprochen. Denn nun trägt der Mensch die volle Verantwortung für sein Tun. Er kann sich nicht mehr berufen auf angebliche Weisungen, die im Gang der Natur oder im Willen Gottes beschlossen wären.36 Das Abrücken vom Prinzip der Nachahmung war nicht allein Sache der Kunst. Ungleich wirkungsvoller war dieses Vorgehen auf anderem Gebiet, und man kann sagen, dass dadurch das Aussehen der modernen Welt zu einem guten Teil geprägt wurde. Dafür gesorgt haben die Techniker. Anders als die Künstler kommentieren die Ingenieure ihr Handeln nicht, und deshalb ist weniger klar ins Bewusstsein gelangt, worauf denn deren Erfindungen basieren. Ein Vorgang aus der Technikgeschichte vermag das zu beleuchten. Bei der Konstruktion einer Flugmaschine hat man in den Anfängen versucht, den Vogelflug zu imitieren. Otto Lilienthal und andere haben solche Experimente durchgeführt, kamen damit aber nicht so recht weiter. Der Durchbruch gelang den Brüdern Wright, die davon abgingen, den Flügelschlag als Muster zu nehmen. Sie führten etwas gänzlich Neues ein, um sich in die Luft zu erheben, etwas, das kein Vorbild in der Natur hatte. Das war der von einem Verbrennungsmotor betriebene Propeller. Exemplarisch daran ist, dass man unter Ausnutzung der Naturgesetze zu Lösungen kam, die die Natur nicht hervorgebracht hat, und darauf beruhen große Erfolge der modernen Technik.37 Eine frühe Vorwegnahme findet diese Haltung im ausgehenden Mittelalter bei 1ikolaus von Kues. Zwei prinzipielle Möglichkeiten des Herstellens von Artefakten werden dort aufgezeigt, von denen sich die zweite erst im Verlauf der Neuzeit durchsetzen kann. Im Dialog Idiota de mente (Der Laie über den Geist) lässt Cusanus einen Handwerker, einen „Löffelschnitzer“ auftreten, der von sich behauptet, dass er anders 36 Die Nietzsche-Auslegung bezieht sich auf folgende Stellen, denen auch die Zitate entnommen sind: Friedrich Nietzsche, Werke, ed. Karl Schlechta, München 1966, I, S. 130; II, S. 89f; II, S. 995f; III, S. 491; II, S. 572; III, S. 882; II, S. 126f. 37 Materialien dazu im Katalog der Ausstellung Die Kunst zu fliegen, NRW-Forum Düsseldorf 2004.
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vorgehe als „ein Bildhauer oder Maler“, welcher „seine Urbilder von den Dingen“ nehme, „die nachzubilden er sich beschäftigt“. Sein Löffel dagegen habe „außer der Idee unseres Geistes kein Urbild“ eben so wenig wie die anderen von ihm fabrizierten Gebrauchgegenstände. Bei dieser Tätigkeit „bilde er nicht die Gestalt irgend eines natürlichen Dinges nach.“ Und er fügt hinzu: „Demzufolge ist meine Kunst vollkommener als diejenige, welche geschaffene Figuren nachahmt; darin ist sie der unendlichen Kunst ähnlicher.“38 Mit „unendlicher Kunst“ ist die göttliche gemeint und der Mensch kann in seinem Tun dieser nur folgen. Sich dabei ans Bestehende zu halten, an die vorgeformten Dinge ist aber lediglich eine minderwertige Art, den Schöpfungsprozess Gottes nachzuvollziehen. Denn dieser ist unendlich, ist eine „ars infinita“. Als solcher ist er aber über bestimmte Formen immer schon hinaus, und kann deswegen in den endlichen Dingen, in den begrenzten Gestalten auch nicht ergriffen werden. Zu seiner höchsten Bestimmung kommt das menschliche Schaffen dann, wenn es sich nicht ans Vorgefertigte hält, sondern selbst etwas Neues hervorbringt, etwas das kein Vorbild in der Natur hat; erst dann ist es Nachahmung des göttlichen Schöpfungsaktes. Endscheidend und vorausweisend an diesen Gedanken ist die Spekulation über das Unendliche. Damit wird der Kosmos der antiken Philosophie, die Welt der ewigen Formen und Urbilder, der Ideen, verlassen, und es tut sich ein unendliches Feld auf, das immer neue Figurationen und Kombinationen zulässt. Verknüpft damit ist ein völlig verändertes Naturverständnis. Aristoteles zufolge sei „Verstand“ in der Natur, sagt Hegel. Allerdings dürfe man diesen nicht gleichsetzen mit Bewusstheit. Gemeint sei damit lediglich Zweckgerichtetheit, und die könne sich auch ohne Reflexion vollziehen, wofür das instinktive Verhalten der Tiere ein Beispiel abgebe. Und nun sagt Hegel, dass darin der „ganze, wahrhafte, tiefe Begriff der Natur“ liege, und der sei der der „Lebendigkeit“. „Dieser wahre Begriff der Natur ist verlorengegangen“, fährt er fort, und als einen Grund dafür gibt er das Aufkommen der „mechanischen Philosophie“ an, „die immer äußere Ursachen (und äußere Notwendigkeit) hat, die selbst wieder Dinge sind.“39 Hegel hält also zwei Begriffe von Natur auseinander, die mit ‚Leben‘ einerseits und ‚Mechanik‘ andererseits gekennzeichnet sind. Ob der erste tatsächlich überholt ist, wird noch zu besprechen sein. Man muss aber Hegel darin zustimmen, dass er schon 38 Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Schriften, Wien 1967, Bd. III, S. 493. Zum Problem der Mimesis vgl. Hans Blumenberg, 1achahmung der 1atur, in: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt/M. 2001, S. 9ff; bei der Besprechung von Cusanus setzt Blumenberg andere Akzente. 39 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O., Bd. 19, S. 179.
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zu seiner Zeit in den Hintergrund getreten ist. Jedenfalls zeigen die beiden Begriffe zwei große Richtungen im Denken über die Natur an, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Wenn diese jetzt behandelt werden, so ist das nicht so zu verstehen, dass man es mit kontinuierlichen Entwicklungen zu tun habe. Es verhält sich nur so, dass zu den verschiedenen Zeiten Gedanken aufkommen, die der einen oder der anderen Linie zuzuordnen sind. Und es kann hier auch nicht auf subtile Einzelheiten etwa der antiken Naturphilosophie eingegangen werden. Für Demokrit ist die Welt aus kleinsten Bausteinen der Materie zusammengesetzt, denen er den Namen DWRPRVAtom, das Unteilbare gegeben hat. Aus der Bezeichnung geht schon hervor, von welcher Grundvorstellung sich diese Theorie leiten lässt. Wenn man die komplexen und kompakten Dinge zerkleinert, kommt man schließlich an Teile, die sich nicht weiter zerlegen lassen, und diese Substanzen machen den Grundbestand der Wirklichkeit aus. Sie denkt sich Demokrit so, dass sie von unterschiedlicher Beschaffenheit und Größe sind, sich im Raum bewegen, sich abstoßen und anziehen. Alles, was entsteht, ob Belebtes oder Unbelebtes, lässt sich nun so erklären, dass sich solche ‚Urkörper‘ zeitweise zusammenfinden. Sie haften aneinander und verklammern sich, denn die einen sind hakenförmig, andere schief und wieder andere gewölbt, und sie haben noch weitere Formen. Der Tod oder das Vergehen, Tiere, Pflanzen und ganzen Welten sind davon betroffen, beruht dann darauf, dass die Atome ihre Verbindung wieder aufgeben und sich voneinander lösen. Die kleinsten Bestandteile der Wirklichkeit selbst, die Atome eben, sind nicht wahrnehmbar. Hinter der sichtbaren Welt befindet sich also eine unsichtbare, aus der gleichwohl die Welt der Sinne aufgebaut ist. Der Kern dieser Lehre besteht vor allem darin, dass es für alles, was ist, stoffliche ‚Urgründe‘ gibt. Diesen Standpunkt hatte vor Demokrit schon Thales vertreten, und sie begründen damit den Materialismus, die Theorie, nach der alle Erscheinungen und Vorgänge aus stofflichen Ursachen und Prozessen zu erklären sind. Zu den entscheidenden Zügen dieser Position gehört ferner, dass die Realität, wie sie sich den Sinnen zeigt, dekomponiert, aufgelöst werden muss, um an die Elemente zu gelangen, aus denen die Welt zusammengesetzt ist. Und schließlich kommt hinzu, dass die letzten Bausteine der Materie der Anschauung nicht zugänglich sind.40 Bekanntlich sind diese Überzeugungen in neuerer Zeit wieder vertreten worden. Selbstverständlich nicht so, dass die Wissenschaft in Einzelheiten sich an Demokrits Lehre gehalten hätte. Übereinstimmung besteht nur in der Modellvorstellung, die sich darauf beläuft, dass man zu 40 Die Demokrit-Darstellung bezieht sich vor allem auf den Bericht des Simplicius, in: Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 396ff; vgl. dazu auch Aristoteles, Metaphysik, I, 3. 983bff u. I, 4. 985bff.
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den Bestandteilen der Materie vordringen müsse, um eine Erkenntnis der Natur zu gewinnen. Man kann hier auf die Atomphysik und auf solche Vorstellungen wie das periodische System der Elemente verweisen. Auch Descartes sah in der Natur einen Bereich des Körperhaften. Dass er diesen gegen die Sphäre des Geistes absetzte, wurde schon erwähnt, und auch, dass ihm zufolge kein Verstand in der Natur sei. Als er die Regeln aufstellte, die für den Erwerb eines sicheren Wissens zu befolgen seien, kam er auf Erwägungen, welche an die des Demokrit erinnern. Die wichtigste dieser Regeln fordert, das Kompakte in seine Teile zu zerlegen, um eine klare Einsicht in seine Zusammensetzung zu ermöglichen. Nach einer weiteren Regel wird das Komplexe dadurch erfasst, dass man untersucht, wie dieses aus der Zusammenfügung seiner Bestandstücke hervorgeht. Der Weg der Erkenntnis verläuft demnach vom Vielschichtigen zum Einfachen und von diesem wieder zum Mehrgliedrigen; man kann auch vom Analysieren und Synthetisieren sprechen.41 Hier findet sich also ebenfalls der Gedanke, dass man durch Dekomposition Aufschluss über die Natur erhält. Soll sie offen legen, was sie im Innersten ausmacht und bewegt, müssen Eingriffe vorgenommen werden, darf man sie nicht so belassen, wie sie vorgefunden wird. Rigoroser formuliert Francis Bacon, einer der Wegbereiter der neuzeitlichen Naturwissenschaften, diese Forderung. Bei ihm ist zu lesen, dass sich „die durch Kunst gereizte und geplagte Natur deutlicher“ offenbart, „als wenn sie frei sich selbst überlassen wäre“. „Irritare“ und „vexare“ steht im lateinischen Text, und ‚vexare‘ hat auch die Bedeutungen ‚quälen‘, ‚misshandeln‘. Bei Bacon kommt die Vorstellung auf, dass es neben einer freien Natur, der ,natura libera‘, eine vom Menschen unter Zwang gestellte gibt, ‚natura vexata‘ könnte man sie nennen.42 Kant ist ebenfalls der Auffassung, dass man die Natur „nötigen“ müsse. Nichts anderes vollziehe das Experiment, und es sei dieses Verfahren, das Forschern wie Galilei zu wahren Einsichten verholfen habe. Was eigentlich im Experiment geschieht, das erläutert Kant im Bilde einer Gerichtsverhandlung. Wie der Richter will auch die forschende Vernunft Aufklärung über einen bestimmten Sachverhalt erlangen, und wie dieser vernimmt sie dazu Zeugen. Der Richter ist Herr des Verfahrens; welche Zeugen er anhört und welche Fragen er stellt, ist ihm überlassen. Und sein Geschick ist ausschlaggebend dafür, ob der Schuldige ermittelt wird. Einen Schuldigen sucht auch die experimentierende 41 Vgl. z.B. Discours de la méthode, II, 7–13. 42 Francis Bacon, Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften, zitiert nach Wolf von Engelhardt, Was heißt und zu welchem Ende treibt man 1aturforschung?, Frankfurt/M. 1969, S. 24.
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Vernunft, nämlich die Ursachen für bestimmte Tatbestände und Vorgänge. Und sie übernimmt, darin dem Richter gleich, die Führung in diesem Verfahren, auf die Weise, dass sie Vorkehrungen trifft, durch die sie Antworten auf ihre Fragen erwirkt. Als Zeuge lädt sie die Natur vor, und der Erfolg der Untersuchung ist abhängig von der Tauglichkeit ihrer Arrangements. Kant drückt das so aus, dass „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“. Und das Experiment gehöre in der Physik zu einer „vorteilhaften Revolution ihrer Denkungsart“, die sich „lediglich dem Einfalle zu verdanken“ habe, „demjenigen, was sie selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muss und worüber sie sonst nichts wissen würde.“ Diese Sätze sind selbstverständlich nicht so zu verstehen, als würde die Vernunft in der Natur nur sich selbst, ihre eigenen Vorstellungen wiederfinden. Es handelt sich um eine wirkliche Untersuchung, bei der die Natur die Gegenseite bildet und deren Ausgang ungewiss ist. Der Anteil der Vernunft besteht darin, dass sie Fragen an die Natur heranträgt, nicht beliebige, sondern solche, die zur Auffindung gesetzmäßiger Zusammenhänge und allgemeiner Bestimmungen dienen. Sie steckt damit einen Horizont ab, der vorgibt, wonach und was überhaupt gesucht wird. Das Verfahren soll ausschließen, dass „zufällige Beobachtungen“ verallgemeinert werden, was eben dann geschieht, wenn man sich von der Natur „allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse.“43 Die Natur selbst stellt keine Fragen und sie legt keine Theorien zurecht; die muss die Vernunft aus ihr herausholen. Carl Friedrich von Weizsäcker, der in seinen Ausführungen über das Experiment den ganzen Passus aus der Kritik der reinen Vernunft zustimmend zitiert, möchte Kant in einem Punkt korrigieren. „Statt Vernunft will er lieber einfach Mensch sagen“, mit der Begründung, dass in Kants Ausdrucksweise zu einseitig die rationale Komponente betont werde. Wie von Weizsäcker darlegt, basiert das Experiment eben nicht allein auf theoretischen Operationen; die Anordnung von Dingen und das Beobachten gehören ebenfalls dazu. Gefordert ist der Einsatz der Vernunft, der Hände und der Sinne, denn „erst die Dreiheit Denken, Handeln und Wahrnehmen macht das Experiment möglich.“ Mit gescheiten Überlegungen allein ist es also nicht getan. Der Forscher muss auch immer Vorrichtungen und Geräte bereitstellen, mit deren Hilfe er seine Vermutungen überprüfen kann. Und er muss zugucken, was sich im Versuch abspielt. Naturerkenntnis gründet sich in der sinnlichen Erfahrung, erklärt von Weizsäcker, aber es genüge nicht, dass zu ihr „nur Denken oder nur Handeln“ hinzukomme. „Im ersten Fall entsteht 43 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XII–B XIV.
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Philosophie, im zweiten Handwerk. Die neuzeitliche Naturwissenschaft ist das Kind einer Ehe zwischen Philosophie und Handwerk.“44 Diese sehr allgemeinen Angaben konkretisieren sich in einer Abfolge von Verfahrensschritten, welche sich zwingend aus der Zielsetzung ergeben. Sie sind deshalb in jedem Experiment auffindbar, auch in dem, das in der Wissenschaftsgeschichte als erstes wirkliches Experiment gilt, das des Galilei zum ‚freien Fall‘. Unzählige Male ist es nachgestellt worden, und die meisten werden es aus dem Physikunterricht kennen. Und da sich die einzelnen Verfahrensschritte am besten am Beispiel aufweisen lassen, wird eine Beschreibung des berühmten Versuchs vorausgeschickt. Man wusste… wohl, dass die Geschwindigkeit des fallenden Körpers zunimmt. Aber es war mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht möglich, festzustellen, ob diese Zunahme proportional zum Fallweg oder zur Fallzeit erfolgt. Galilei nahm den Fallvorgang selbst in die Hand. Er zwang den natürlichen Prozess, in einer Form abzulaufen, die den Zugriff einer messenden Beobachtung erlaubte. Er beobachtete nämlich statt frei fallender Steine Kugeln, die auf schrägen Ebenen mit verschiedenen Neigungswinkeln hinabrollten. Ihre Geschwindigkeit war so gering, dass man Zeiten und Wege messen konnte. Das Verständnis des freien Falls ergab sich, indem man ihn als den Grenzfall des Rollens auf einer schrägen Ebene auffasste, als Herabrollen nämlich auf einer Ebene mit dem maximalen Neigungswinkel von 90°. Da eine Variation des Neigungswinkels wohl die Geschwindigkeit, nicht aber die allgemeine Form des Zusammenhanges zwischen Zeit, Weg und Geschwindigkeit veränderte, erwies sich die festgestellte quantitative Beziehung zwischen diesen Größen auch für den freien Fall als gültig. So war das Ergebnis dieses Experiments, dass die Geschwindigkeit des fallenden Körpers proportional zur Fallzeit und nicht proportional zum durchfallenen Weg zunimmt.45
Am Beginn eines jeden Versuchs steht eine Fragestellung. Diese kann auch die Form einer Hypothese annehmen. Jedenfalls muss erst einmal Klarheit darüber hergestellt werden, was untersucht werden soll. Das kann mehr oder minder scharf umrissen sein. Es kommt sogar vor, dass die Ausgangsvermutung ziemlich vage ist. Bei Galilei war die Sache klar. Er wollte wissen, von welchen Faktoren die Zunahme der Geschwindigkeit abhängt. Eine weitere Maßnahme ist die, einen Vorgang oder ein Ding zu isolieren. Sie werden herausgenommen aus ihren natürlichen Zusam44 Carl Friedrich von Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, Stuttgart, 10. Aufl. 1963, S. 196–171. 45 Engelhardt, a.a.O., S. 21f. Die Darstellung des Experiments knüpft an die Ausführungen von Engelhardt an. Galileo Galilei selbst hat seine Experimente zum ‚freien Fall‘ beschrieben in: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neuere Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend, hrsg. v. A. von Oettingen, Darmstadt 1973, vgl. insbesondere S. 162f.
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menhang und Bedingungen ausgesetzt, die in ihrer angestammten Umgebung so nicht vorkommen. Man kann auch sagen, dass sie unter idealen oder Laborbedingungen untersucht werden. Der ganze Versuchsaufbau ist darauf eingerichtet. Der freie Fall, wie ihn Galilei analysierte, findet in der Natur nie statt. Beim Versuch wurden alle Störeinflüsse wie Reibung, Wind und dergleichen ausgeschaltet oder vernachlässigt. Kugeln als Körper und polierte Flächen sorgten für einen glatten Ablauf. Man muss hinzufügen, dass nur unter solchen idealen Bedingungen Gesetzmäßigkeiten überhaupt erst in den Blick kommen, andernfalls hat man es mit Verhältnissen zu tun, die ganz zufällig sind und sich mit dem Ort und der Gelegenheit ändern. Galilei musste die ins Auge gefassten drei Faktoren möglichst rein herauspräparieren, um ihre Relationen erkennen zu können. Eng verknüpft damit ist der nächste Schritt. Er besteht darin, einen Vorgang selbst auszulösen oder ein Ding selbst hervorzubringen. Es handelt sich dann um einen experimentell erzeugten Prozess bzw. um eine künstlich hergestellte Erscheinung. Auch das betrifft wieder den Versuchsaufbau, also das Arrangement von Geräten und Instrumenten, das bestimmte Abläufe und Ereignisse ermöglicht. Hierbei muss auch über den Einsatz von Messinstrumenten entschieden werden. Galilei brachte seine Kugeln selbst in Gang und er variierte die Umstände, unter denen sie hinunterrollten. Ein entscheidender Bestandteil des Experiments ist die Messung. Es ist überhaupt so angelegt, dass ein quantitativ erfassbares Ergebnis festgehalten werden kann. Es geht also nicht nur darum, etwas zu beobachten; das ist möglicherweise ungenau und zudem nicht sicher gegen Täuschung. Die wahren Verhältnisse schlagen sich in den eruierten Zahlen nieder. Dieser Zug wurde im Laufe der wissenschaftlichen Entwicklung immer weiter perfektioniert. Und in einem Großteil der heutigen Experimente macht die Erfahrung das aus, was an den Messinstrumenten abzulesen ist. Erst durch die Messung bekommt man einen Tatbestand in den Griff; durch sie wird er beherrschbar. Nicht quantifizierbare Aussagen verbieten sich und verbürgen keine gesicherte Erkenntnis. Sätze wie der, dass das Wetter schön sei, sind ziemlich vage und auf jeden Fall unwissenschaftlich. Einen präzisen Sinn bekommen sie erst, wenn angegeben wird, welche Messwerte damit verbunden sind, was Robert Musil zu Beginn des Mannes ohne Eigenschaften gründlich ironisiert hat. Galilei sagt über seine eigenen Erhebungen: Häufig wiederholten wir den einzelnen Versuch zur Ermittlung der Zeit…Darauf ließen wird die Kugel nur durch ein Viertel der Strecke laufen und fanden stets genau die halbe Fallzeit gegen früher. Dann wählten wir andere Strecken und verglichen die gemessene Fallzeit mit der zuletzt erhalte-
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nen…; bei wohl hundertfacher Wiederholung fanden wir stets, dass die Strecken sich verhielten wie die Quadrate der Zeiten.
Dass man durch die numerische Erfassung Gewalt über einen Vorgang bekommt, zeigt schon das Beispiel Galileis. Der nämlich konnte seine Erkenntnisse einsetzen bei der Berechnung der Flugbahnen von Geschützkugeln.46 Zu einem Wesensmerkmal des Experiments gehört schließlich das, was man gewöhnlich mit dem Begriff ‚Objektivität‘ bezeichnet. Allerdings gibt diese Ausdrucksweise den wahren Sachverhalt nur unzulänglich wieder, denn das Experiment erfasst die Objekte eben nicht wie sie an sich sind. Das untersuchende Subjekt manipuliert diese ja gerade, und man könnte genauso gut von subjektiv reden. Richtiger und der Sache angemessener ist es, von ‚intersubjektiver Überprüfbarkeit‘ zu sprechen. Damit ist gemeint, dass unter denselben Bedingungen dieselben Ergebnisse erzielt werden müssten, ganz unabhängig davon, wer den Versuch durchführt. Und in der Disziplin wissenschaftlichen Arbeitens hätte der Papst Urban VIII. nichts anderes herausfinden können als Galilei. Die experimentelle Forschung hat sich demnach unabhängig gemacht von individuellen Einschätzungen und von der Wahrnehmungsfähigkeit Einzelner. Demokrit hat nicht experimentiert und die übrigen antiken Naturkundigen auch nicht, ein historisches Faktum, über dessen Motive hier keine Mutmaßungen angestellt werden brauchen. Was aber bei den Griechen noch im Bereich theoretischer Erwägungen blieb, der Gedanke, dass man durch Zergliederung oder Dekomposition an die Wirklichkeit herankommen kann, das wurde von der neuzeitlichen Wissenschaft in die Tat umgesetzt. Sie ließ die Dinge nicht, wie sie sich zeigen. Sie handelt, sie nimmt Eingriffe vor und verändert das Vorgefundene. Sie löst die Erscheinungen aus ihren ursprünglichen Verbindungen und Relationen, sie separiert sie, um dann zu prüfen, wie sie sich verhalten, wenn man sie bestimmten Einflüssen aussetzt, über deren Art und Stärke der Experimentator entscheidet. Das Experiment ist ein Geschehen, das unter kontrollierten Bedingungen abläuft. Indem präzise ermittelt wird, wie sich der Untersuchungsgegenstand unter genau festgehaltenen Konstellationen verhält, wozu die Messungen dienen, bekommt man ihn in seine Gewalt. Und das bedeutet, dass man die Sache oder den Vorgang selbst erzeugen kann. Genau hierauf beruht die enge Verbindung zwischen experimenteller Wissenschaft und Technik. Machbarkeit ist nicht etwa bloßer Zusatz, eine technische Verwertung theoretischen Wissens, sie steckt vielmehr schon in der 46 Näheres bei John Desmond Bernal, Sozialgeschichte der Wissenschaften, Reinbek b. Hamburg 1970, Bd. 2, S. 399–403.
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Forschung selbst. Und die experimentelle Wissenschaft und die Technik bilden eine Einheit. Die Möglichkeit der industriellen Produktion ist übrigens davon nicht berührt; sie ist eher eine ökonomische als eine technische oder wissenschaftliche Frage. Die Herausbildung eines einheitlichen technisch-wissenschaftlichen Komplexes zeigen vor allem neuere Entwicklungen. In Bezug auf die Genforschung kann man nicht mehr ausmachen, wo die reine Erkenntnisgewinnung aufhört und die technische Anwendung anfängt. In der Wissenschaft geht es also nicht allein um Erkenntnis der Natur, sondern immer auch um deren Beherrschung, eine Intention, die nicht immer klar ausgesprochen wird. Von Weizsäcker geht sogar soweit, von einer „Vergewaltigung der Natur“ zu reden.47 Das Prinzip des Teilens und Isolierens führt zu einem Verlust der Anschauung. Vor dem wissenschaftlichen Zugriff hat die Welt, wie sie sich der unmittelbaren Wahrnehmung darbietet, keinen Bestand. Die sinnlichen Figuren, die Formen und Farben, die Klangebilde werden aufgelöst. Sonst waren die Dinge eingebettet in einen größeren Zusammenhang, sie waren Teil eines Ganzen, von dem her sie ihre Gestalt und ihre Funktion empfingen. Jetzt bekommen sie ein anderes Ansehen, weil sie herausgenommen sind aus ihren ursprünglichen Verbindungen und Relationen. Und die experimentelle Methode ist Aufgabe einer ganzheitlichen Betrachtung, die nur dem Anschauen gegeben ist. Zwar ist es richtig, dass sie auf Beobachtung setzt, und die neuzeitliche Forschung begreift sich als empirisch. Damit hat es aber eine besondere Bewandtnis, und das wurde schon bei Galilei offenkundig. Das Experiment macht nämlich sichtbar. Es verwendet und erfindet Prozeduren, die Sachverhalte aufdecken, die den Sinnen verborgen sind. Es ist Aufbruch in eine unbekannte Welt, und die eingesetzten Instrumente verhelfen zu ungeahnten Entdeckungen. Zu Recht hat man immer wieder hervorgehoben, dass der wissenschaftliche Fortschritt eng verknüpft ist mit technischen Erfindungen. Auch von dieser Seite her ist also Wissenschaft und Technik eine Verbindung eingegangen. Man denke an die unsichtbare Welt, die sich erst in der Vergrößerung durch das Mikroskop erschließt und an die Erforschung des Makrokosmos, die dann möglich wurde, als Fernrohre eingesetzt werden konnten. Bekanntlich ist Galilei einer der ersten, der mit Hilfe von Teleskopen den Himmel erkundete. Und was sein Experiment zum ‚freien Fall‘ betrifft, so machte er wahrnehmbar, was dem bloßen Auge gar nicht zugänglich ist, indem er nämlich das Geschehen aus der Vertikalen in die schiefe Ebene verlagerte. Die Tendenz zur Unanschaulichkeit, die ja bereits bei Demokrit vorhanden war, hat sich in der Wissenschaftsgeschichte zu47 A.a.O., S. 31.
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nehmend verstärkt, und vollends die subatomare Welt der modernen Physik entzieht sich vollkommen den Sinnen.48 Die Sensorien, die da überhaupt etwas in Erfahrung bringen können, wenn man das so bezeichnen darf, sind die Messinstrumente. Die Wissenschaft hat geradezu ein Misstrauen gegenüber der Wahrnehmung, denn deren Angaben ersetzt sie durch Messdaten. Nicht die sinnlichen Qualitäten zählen für sie; nur was quantitativ erfassbar ist, lässt sie gelten. Aus einem Gegenstand der Sinne macht sie ein Erkenntnisobjekt. Von einer „Revolution der Denkungsart“ hatte Kant gesprochen, und damit wird die tragende Rolle, die das Experiment für die neuzeitliche Wissenschaft hat, herausgestellt. Dass sie experimentelle Forschung ist, charakterisiert sie mehr als alle anderen Prädikate. Die Natur des Experiments ist eine vom Menschen hervorgebrachte, eine künstlich erzeugte Natur, sie ist die Natur der Labors und der Versuchsanstalten, eben die natura irritata et vexata des Francis Bacon, auf den sich auch Kant beruft. Das wird wiederum am Beispiel deutlich. Die von der Chemie angewendete Verfahren sind vor allem die der ‚Analyse‘ und ‚Synthese‘. Durch die Analyse gelang es, die vorgefundenen komplexen Stoffe immer weiter zu zerlegen, sodass man genötigt war, die Auffassung von den Grundstoffen oder Elementen fortwährend zu revidieren. In der Synthese nun konnte man die so aufgespürten Stoffe wieder zusammensetzen, auch in Verbindungen, die in der sich selbst überlassenen Natur gar nicht vorkommen. Dabei wurde auf Vorgänge zurückgegriffen, die als Polymerisation bekannt sind. Was so entstand, waren ‚Kunststoffe‘, Erzeugnisse, die aus unserer Welt gar nicht mehr wegzudenken sind. Erneut zeigt sich die Einheit des wissenschaftlich-technischen Komplexes. Die experimentelle Methode hat das Wissen über die Natur ungeheuer erweitert. Ohne sie wüsste man nichts über Elektrizität, molekulare Strukturen oder den Aufbau der Zelle, und das sind nur willkürlich herausgegriffene Beispiele. Und weil sie mit der Herrschaft und der Macht über die Natur verknüpft ist, verlangt sie ein hohes Maß an Verantwortung. Dabei sollte aber Klarheit darüber bestehen, dass sie nur ein möglicher Zugang zur Natur ist; und schon gar nicht legt sie frei, was die Dinge an sich sind. Ihre Vorgehensweise deckt nur bestimmte Seiten an der Natur auf. Und wenn man anders an sie herangeht, werden sich andere Ansichten zeigen. In jüngerer Zeit hat sich das Bewusstsein dafür verstärkt, dass die Wissenschaft nicht an die Objekte selbst reicht, sondern nur daran, was das von ihr eingesetzte Instrumentarium an ihnen offen legt. So schrieb schon Werner Heisenberg: „Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung 48 Vgl. dazu von Weizsäcker, ebd., S. 27ff.
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nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst.“49 Jedenfalls muss man mit verschiedenen Naturbegriffen rechnen: mit der ‚kultivierten‘ Natur, das wäre die des Gärtners und des Bauern; mit der ‚genötigten‘ Natur, der der experimentellen Wissenschaft; und mit der ‚freien‘ Natur, der natura libera, und das ist eine, die unbehelligt ist vom Menschen. Demokrits Lehre hat etwas unmittelbar Einleuchtendes, nicht nur, weil andere nach ihm auf ähnliche Erklärungsmodelle gekommen sind; sie wird beglaubigt durch die Erfahrung, dass sich das Bestehende zerlegen lässt und man dadurch an die es aufbauenden Glieder gelangt. Die Atomtheorie versagt jedoch an einer Stelle. Sie bietet keine Antwort an auf die Frage, wie sich die Elementarteilchen zusammenfinden, zumindest ist davon nichts überliefert. Ebenso fundamental wie die Erfahrung, dass alles Seiende zusammengesetzt ist, ist nämlich eine andere, die, dass wir in einer Welt der Ordnung leben. Die Natur wirkt nicht so, dass sie immer andere, nie da gewesene Gestalten hervorbrächte. Zwar ist sie in einem steten Wandel begriffen; alle ihre Erscheinungen vergehen, aber sie werden ersetzt durch solche, die den untergegangenen gleichen. Pflanzen und Tiere sterben, und es entstehen neue von derselben Art, und Ähnliches trifft auch für die Sphäre des Unbelebten zu. Offensichtlich ist das Werdende keinem Zufallsprinzip unterworfen, sodass immer neue, phantastische Gebilde entstünden. Es folgt bestimmten Entwürfen. Und wenn man von der Annahme kleinster Bausteine der Materie ausgeht, stellt sich die Frage, nach welchen Prinzipien diese sich zusammenschließen. Woher also wissen die Atome, dass sie sich zu einem Stein, einem Baum oder zu einem Menschen vereinigen sollen? Es gibt offensichtlich ein Prinzip, das der unaufhörlichen Fluktuation entgegenwirkt, und das nennt Platon eine ‚Idee‘. ‚Idein‘, ‚Sehen‘ steckt darin, und eine Idee ist mehr als ein abstrakter Verstandesbegriff. Mit ihr ist auch immer das Aussehen, die Gestalt gemeint, und sie hat selbst etwas Anschauliches. Sie ist die Form, die das Wesen eines Dinges ausmacht. Platon verwendet diesen Terminus im Sinne von ‚Urbild‘, und er setzt zwei Sphären an, die der sinnlichen, der materiellen Dinge und die der Ideen, der immateriellen Formen. Die beiden Bereiche stehen im Verhältnis von Vorbild und Abbild zueinander. Und diese Unterscheidung prägt Platons Philosophie insgesamt, auch seine Naturlehre, die er im späten Dialog Timaios vorträgt. Allerdings redet er nicht von der Natur, sondern vom „Kosmos“, metaphorisch von „Uranos“ oder von „dem Gott“. 49 Werner Heisenberg, Das 1aturbild der heutigen Physik, Hamburg 1955, S. 18.
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Erst einmal umfasst die Natur die sinnlichen Erscheinungen. Die Gesteine, die Pflanzen, die Tiere und auch der Mensch in seiner leiblichen Existenz gehören zu einer Welt des Werdens. Die materiellkörperhaften Gestalten befinden sich in einem fortwährenden Wandel, sie entstehen und vergehen. Unermesslich sind sie in ihrer Anzahl und Vielfalt, jede von ihnen stellt etwas Besonderes dar und ist einmalig. Trotz der individuellen Eigenart einer jeden weisen sie doch wieder Gemeinsamkeiten auf. Sie schließen sich zusammen zu Gruppen mit gleichen Merkmalen, fallen also unter die allgemeinen Bestimmungen einer Gattung oder Art. Ein Baum ist zunächst ein Einzelgewächs. Er steht an einem bestimmten Platz, hat ein besonderes Aussehen und Eigenschaften, die nur an ihm zu finden sind. Zugleich weist er aber alle Merkmale des Baumseins auf; die teilt er mit den übrigen Bäumen. Es muss also so etwas geben wie ein Muster, nach dem alle Bäume gebildet sind und das in jedem einzelnen mehr oder weniger stark ausgeprägt ist. Zwar ist es in jeder singulären Erscheinung anwesend, geht aber darin nicht auf. Die Idee, um nun den Ausdruck Platons zu verwenden, steht über den individuellen Bildungen. In diesen hat sie sich nur materialisiert. Und weil sie dadurch den zufälligen Bedingungen individueller Existenz ausgesetzt ist, wird sie verfälscht und entstellt. Jedes Einzelwesen bringt demnach das es leitende Urbild nur unvollkommen zum Ausdruck. Es verkörpert die Idee auf die ihm eigene Weise, und diese Verkörperung hat nur ein befristetes Dasein; sie verschwindet mit dem Ende der Besonderung. So drückt jeder Mensch das Menschsein auf seine Art aus, als Dunkel- oder Hellhäutiger, als Mann oder Frau, als Schwacher oder Starker. Mit ihm wird jedoch diese Ausprägung, die einzig ist und unwiederholbar, aufhören zu existieren. Die Idee des Menschen aber, das Menschsein hat Bestand; sie erhält sich über den Tod des Individuums hinaus. Die Ideen sind unvergänglich, sie sind ewig. Sie sind die reinen Formen, die nicht hineingezogen sind in das unaufhörliche Fließen, das der Makel alles Stofflichen ist. An ihnen als dem unwandelbar Beständigen ist das Veränderliche ausgerichtet. Weil sie sich zwar der Materie mitteilen, in diese aber nicht eingehen, sind sie mit den Sinnen nicht wahrzunehmen, sind also nicht sichtbar oder hörbar. Sie erschließen sich allein dem intellektuellen Vermögen. Und Platon unterscheidet drei Stufen der Erkenntnis, denen entsprechende Seelenteile zugeordnet sind: die sinnliche, die empirische und die vernünftige. In der reinen Vernunfttätigkeit, in der ‚Noesis‘ gipfelt der Weg der Erkenntnis; sie strebt nach einem Erfassen der Ideen als der Grundlage alles Seien-
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den.50 Die sinnliche Wahrnehmung kann zu den Urbildern hinführen, sofern sie sich nicht im Einzelnen verliert, sondern an ihm das Typische sucht, das Modell, nach dem es gemacht ist. Ganz so, wie man nach dem Symposion durch den Anblick schöner Gegenstände und schöner Menschen schließlich an das Schöne selbst gerät, welches allen die Wohlgestalt verliehen hat, dessen man aber in der Konkretion nicht habhaft wird. Die Ideen sind jedoch keine bloßen empirischen Begriffe, sind also nicht durch Vergleich der sinnlichen Daten und durch Abstraktion davon gewonnen. Sie gehen vielmehr den sinnlichen Erscheinungen voraus, bringen diese erst ins Dasein. Und das Denken folgt nur den äußerlich vorgegebenen Strukturen. Was der Sache nach das erste ist, das ist für die Erkenntnis das letzte. Sie geht also den umgekehrten Weg, geht vom Bedingten, den materiellen Dingen, zum Bedingenden, den reinen Formen. Man darf die Ideen auch nicht verwechseln mit Kants Verstandeskategorien. Zwar liegen sie aller Erfahrung voraus, sie stellen aber kein Ordnungsgefüge dar, das allein in der Subjektivität gründete. Sie sind objektive Gegebenheiten, sie bilden einen intelligiblen, ideellen Kosmos, dem die sinnliche Welt des Werdens gegenübersteht. Die Ideen haben einen sehr unterschiedlichen begrifflichen Status; das betrifft den Grad der Allgemeinheit und den Bezug auf konkrete Gegenstände. Rein formal logisch sind solche wie die der ‚Gleichheit‘. Sie sind noch am ehesten zu vergleichen mit Kants transzendentalen Verstandeskategorien. Andere sind Abstrakta, die den Charakter von Normen haben. Zu ihnen gehört die Idee der ‚Gerechtigkeit‘. Insgesamt aber haben die Ideen eine ordnende und das heißt eine Form gebende und eine Zwecke setzende Funktion. Ein System der Ideen hat Platon nicht ausgearbeitet. Dass sie aber hierarchisch gegliedert sind, hat er deutlich gemacht. An oberster Stelle stehen die Prinzipien des ‚Wahren‘, ‚Guten‘ und ‚Schönen‘, auf die hin die anderen orientiert sind. Für die Natur im Sinne des Materiellen und des Werdens machen die Ideen die Bestimmungsgründe aus. Sie geben den sinnlichen Erscheinungen die Gestalt und die Ausrichtung, sie wirken als Form- und Zweckursachen und sind das, was die spätere antike Philosophie als ‚causa formalis‘ und als ‚causa finalis‘ bezeichnet.51 Um den Aufbau des Kosmos insgesamt zu erklären, bedient sich Platon teilweise einer mythologischen Darstellungsweise. Er führt einen Demiurgen ein, der die Welt geschaffen hat. Dieser ist jedoch kein freier Weltenschöpfer wie der Gott der Genesis, der das Universum aus 50 Seine Erkenntnislehre legt Platon im Höhlengleichnis dar; Politeia, 512a–518b; über die Seelenteile handelt er 435bff. 51 Das stellt Karen Gloy in ihrer Darstellung von Platons Naturphilosophie heraus; vgl. Das Verständnis der 1atur, München 1995/96, erster Bd., S. 92–94.
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dem Nichts hervorbringt. Eine Schöpfung aus dem Nichts, eine ‚creatio ex nihilo‘, ist dem griechischen Denken fremd. Platons Weltenbaumeister entwirft den Kosmos im Blick auf das Unvergängliche, auf die ewigen Urbilder oder Ideen.52 Was Platon als Ideen bezeichnet, ist in der Natur darin wiederzufinden, dass sie gegliedert ist, nach dergleichen wie Arten und Gattungen. Das gilt nicht nur für die belebte, sondern ebenso für die unbelebte Natur. Auch Mineralien beispielsweise zeigen typische Bildungen. Hier vor allem wird deutlich, dass die Ideen mehr sind als vom menschlichen Geist entwickelte Begriffe. Sie sind objektive, die Wirklichkeit gestaltende Kräfte. Obwohl sie nicht ins Sichtbare treten, haben sie doch das, was in ihrem Namen steckt, nämlich eine gewisse Bildhaftigkeit. Wie das aufzufassen ist, eröffnet sich am Beispiel einer biologischen Art. Darunter wird die Struktur, der Bauplan, das abstrakte Muster verstanden, das bei allen ihr zugehörigen Individuen wiederkehrt, obwohl es in keinem vollkommen ausgebildet ist. Es selbst zeigt sich nur dem geistigen Auge, dem, was bei den Platons Idealismus fortführenden Denkern ‚intellektuelle Anschauung‘ heißt. Obwohl Platon zwei Sphären unterscheidet, die sinnlich-materielle und die intelligibel-ideelle, ist der Kosmos doch ein einheitliches Ganzes. Ein Zusammenhang ist schon dadurch gegeben, dass die singulären Gestalten auf das Urbild verweisen. Sie können in unendlichen Variationen auftreten, sie bleiben aber immer gebunden an ihre Vorlage. Und eigentliche entsteht nichts Neues. Es gibt gewissermaßen einen Fundus an Formen, welche immer wieder, mehr oder weniger gut, reproduziert werden. Eine Weiterentwicklung, eine Evolution ist damit ausgeschlossen. Die Ideen sind die stets sich gleich bleibenden Urformen. Was wechselt, sind lediglich ihre Verkörperungen. Und weil sie Dauer haben, weil sie in der Flucht der Erscheinungen ihre Identität bewahren, sind sie für Platon das wahrhaft Seiende. Bei ihm kehrt sich die übliche Sichtweise also um. Nicht die Dinge in ihrer Materialität machen die Wirklichkeit aus; das Reale ist das, was unveränderlich beharrt, und das ist das Geistige, ist die Idee. Gleichwohl muss eine Instanz vorhanden sein, die die Einheit der beiden Bereiche garantiert. Und es ist die Seele, die diese Verbindung stiftet und erhält. Für die Griechen ist die Psyche das Prinzip des Lebens. Sie wirkt dahin, dass die Glieder eines Organismus aufeinander abgestimmt sind und so ein Ganzes bilden. Als ein alles umfassendes 53 ‚Lebewesen‘, Zoon steht im Urtext, begreift Platon das Universum. Und wie beim einzelnen Organismus, so werden auch beim Gesamtor52 Timaios, 29 a, b. 53 Ebd., 33 b.
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ganismus die Teile zu einer Einheit vermittelt durch das vitale Prinzip. Als Weltseele kann es „das Ganze durchdringen und auch noch von außen her den Körper umgeben.“54 Im Einzelwesen wirkt die Seele in der Weise, dass sie zur Form drängt. Sie ruft überhaupt erst etwas ins Dasein, dadurch, dass sie diffuse Materieteile zu einer Gestalt verbindet, dass sie dem Ungeformten eine Struktur verleiht. Das wiederum ist nicht anders zu denken als so, dass sie einer der Urformen, also einer Idee nachstrebt. Jede Gestaltwerdung kann sich nur als ‚Teilhabe‘ an der Idee vollziehen, ein Vorgang, den Platon unter dem Titel „Methexis“ erörtert.55 Etwas hält sich allein im Dasein, indem es das ihm vorgegebene Formprinzip ausfüllt. Eben das heißt Beseelung, darunter ist also nicht eine unzulässige Vermenschlichung der Natur zu verstehen, sondern ein Prozess der Formgebung. Es ergibt sich daraus eine Gesamtschau, nach der das Ganze das Einzelne trägt, und das Einzelne dem Ganzen zustrebt. Intendiert ist ein Verständnis dafür, wie sich die Natur zu einem einheitlichen Gefüge zusammenschließt. Die diese Theorie leitenden Begriffe sind Form, Leben, Seele. Gegenüber der analytischen Wissenschaft hat sich die Fragerichtung geradezu umgekehrt. Nicht darum geht, woraus etwas besteht, sondern darum, worauf es mit etwas hinauswill. Was das Ziel und der Zweck des Einzelnen und des Ganzen ist, das ist das Interesse, das diese Wissenschaft antreibt. Ein solches Unternehmen kann nur so vorgehen, dass es in das natürliche Geschehen nicht eingreift. Es muss sich darauf verlegen, zuzuschauen, wie die Dinge sich entfalten. Jede Art der Dekomposition würde ihren Absichten gerade entgegenstehen. Platons Timaios endet mit einem Lobpreis auf den Kosmos: Und so wollen wir nun sagen, dass unsere Untersuchung über das All nun schon ihr Ziel erreicht hat. Denn indem diese unsere Welt sterbliche und unsterbliche Lebewesen erhielt und derart mit ihnen erfüllt ward, ist sie ein sichtbares Lebewesen, das die sichtbaren Lebewesen umgibt, als Abbild des nur denkbaren Lebewesens, ein wahrnehmbarer Gott, der größte und beste, schönste und vollkommenste geworden – dieser unser einziger einzigartiger Himmel.56
Als Goethe den botanischen Garten in Padua besichtigte, verfestigte sich bei ihm der Gedanke, dass es dergleichen geben müsse wie eine „Urpflanze“. Darunter ist ein Gewächs zu verstehen, das archetypisch alle Züge der Pflanze in sich vereinigt. Er erhoffte sich davon, „dass man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickeln könne. Hierdurch würde es allein möglich werden, Geschlechter und Arten 54 Ebd., 34 b. 55 Vgl. Phaidon, 100 c–e. 56 Timaios, 92 c.
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wahrhaft zu bestimmen, welches, wie mich dünkt, bisher sehr willkürlich geschieht.“57 Darin ist ein Vorwurf gegen einen damals führenden Naturwissenschaftler enthalten, gegen Linné. Diesem war es gelungen, Ordnung in die Natur zu bringen, dadurch, dass er eine Methode entwickelt hatte, mit welcher sich alle Erscheinungen, insbesondere die botanischen, bestimmen ließen. Er verfuhr dabei rein äußerlich, nahm also auf verwandtschaftlichen Beziehungen überhaupt keine Rücksicht. Er benutzte eine der Logik entliehene binäre Nomenklatur, die er gewissermaßen der Vegetation überstülpte. Als Bestimmungsgrund dienten ihm allein die Beschaffenheit der pflanzlichen Geschlechtsmerkmale, der Bau von Griffeln und Staubfäden sowie die Anzahl der Staubfäden, was letztlich auf eine simple Abzählerei hinausläuft.58 Immerhin hat sich dieses System der Benennung bewährt, so dass die Biologie daran festgehalten hat. Auch Goethe will zu einer Ordnung kommen, aber zu einer, die sich aus den natürlichen Gegebenheiten selbst ergibt. Die stellt sich ein, wenn man alle Pflanzen als Variation einer einzigen begreift und von daher die für eine Gruppe von Gewächsen charakteristischen Abweichungen und deren Verhältnis zu anderen Gruppen erkennt. Anfänglich glaubte Goethe wohl, dass eine solche exemplarische Gestalt tatsächlich, das heißt wahrnehmbar existiere. Im öffentlichen Garten von Palermo notiert er: „Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte.“ Dass es sie geben müsse, erscheint ihm völlig offenkundig, denn sie hat eine unentbehrliche Erkenntnisfunktion. „Woran“, fährt er fort, „würde ich sonst erkennen, dass dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären.“ Rückblickend sagt er, ihm habe „die sinnliche Form einer übersinnlichen Urpflanze“ vorgeschwebt. Diese paradoxale Ausdrucksweise ist nicht etwa eine Nachlässigkeit, sondern sie trifft genau Goethes Meinung. Zunächst aber hat er seine Auffassung revidiert. Dieses Muster ist später für ihn nur noch ein gedankliches Konstrukt. An Herder schreibt er, wieder aus Italien: Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben.
57 Italienische Reise, a.a.O., XI, S. 60. 58 Niedergelegt ist das in Linnés Systema 1aturae.
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Und schließlich spricht er aus, worum es sich dabei eigentlich handelt, um einen Typus oder, noch prägnanter, um eine Idee, um eine Idee durchaus im Sinne Platons, obwohl Goethe den Namen nicht erwähnt.59 Diese Betrachtungsweise dehnt er auf die ganze Natur aus; er redet nicht nur von einer „Urpflanze“, sondern auch von einem „Urtier“, von „Urphänomenen“ allgemein. Ein solches „Urphänomen“ ist ihm die Farbe, und Goethes Naturwissenschaft insgesamt, seine botanischen, morphologischen, geologischen, physiologischen, physikalischen und meteorologischen Untersuchungen verstehen sich als Suche nach den Urbildern, sind aus auf eine Erkenntnis der Ideen.60 Dass mit der Bestimmung der Urpflanze die Natur übertroffen werden soll, wie der Brief an Herder nahe legt, beruht nicht etwa auf Anmaßung; dazu hatte Goethe zu viel Ehrfurcht vor der Natur. Kenntlich gemacht wird damit, dass das Urphänomen über den einzelnen Erscheinungen steht. In der Realität kann es sich nicht rein verwirklichen, da unterliegt es Einschränkungen und Zwängen. Es selbst zeigt sich nur dem Geist. Dennoch ist es keine blutleere Abstraktion; es steht immer in Korrespondenz zum Sinnlichen. Goethes Urphänomene bilden auch kein intelligibles Reich, das für sich gesetzt wäre, ein Eindruck, der sich leicht bei Platon einstellt. Sie sind in jeder konkreten Gestalt anwesend. Man erfasst sie nicht dadurch, dass man sich von der wahrnehmbaren Realität abwendet, sondern gerade dadurch, dass man bei ihr verweilt. Die Operation, die zu ihrer Erkenntnis führt, könnte man geradezu als ein Hineinsehen bezeichnen. Durch intensive Versenkung in die besondere Erscheinung zeigen sich die Konturen der reinen Gestalt; diese zeichnen sich überhaupt erst ab auf der Folie des Wahrnehmungsbildes. Darauf sind die Verse gemünzt: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis.“61 Und die Ineinsbildung von Reellem und Ideellem hält der eben zitierte Ausdruck von der „sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze“ fest. Diese Zusammenhänge spiegeln sich wider in aphoristisch gehaltenen Reflexionen über das Verhältnis des Einzelfalles zum Generellen: „…deswegen denn auch das Besondere, das sich ereignet, immer als Bild und Gleichnis des Allgemeinsten auftritt.“ Und weiter: „Das Allgemeine und Besondere fallen zusammen; das Besondere ist das Allgemeine, unter verschiedenen Bedingungen erschei-
59 Die zitierten Stellen finden sich: XI, S. 266; XIII, S. 164; XI, S. 324; XIII, S. 63. Auch C.F. von Weizsäcker stellt die Verbindung zu Platon her; vgl. dessen Essay zu Goethes Naturwissenschaft, XIII, S. 545. 60 Wenigsten einen Eindruck von Goethes Forschungsarbeit vermittelt der Aufsatz Goethes naturwissenschaftliche Studien von Manfred Wenzel, in: G. Böhme/G. Schiemann (Hg.), Phänomenologie der Natur, Frankfurt/M. 1997, S. 44ff. 61 Faust II, 5. Akt.
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nend.“62 Was so erfasst werden soll, sind reelle Vorgänge. In ihnen manifestiert sich das Wirken der Natur; und dessen Grundzug ist, dass sich das Universelle zum Speziellen herabstimmt, dass das Urbild sich in der Besonderung materialisiert. Darin offenbart sich das Wesen der Natur, das nichts anderes ist als „Leben“.63 Wenn die Idee im Einzelnen gegenwärtig ist, dann hat sie teil am Wandel der Erscheinung. Sie ist demnach nicht statisch gedacht, vielmehr ist sie selbst hineingezogen in die Prozessualität der Natur, die sich als Leben auslegt. Die Vorstellung vom „Urphänomen“ wird deshalb ergänzt durch die der „Metamorphose“. Bestand hat danach das Ordnungsmuster, der Bauplan z.B. mit konstanten Lagebeziehungen der Glieder. Und dieses Schema wird nun mannigfaltig variiert. Goethe legt das dar an der Metamorphose der Pflanzen.64 Ihr Wachstum ist eine Folge unterschiedlicher Ausprägungen des Grundmusters ‚Blatt‘. Vom Keimblatt bis in die Blüten hinein lässt sich verfolgen, welche Modifikationen das Blattmuster in den verschiedenen Entwicklungsphasen erfährt. Der Gestaltenwandel selbst wird angetrieben durch eine Bewegungsgesetzlichkeit, die Goethe auf den Begriff „Polarität“ bringt. Allgemein gesprochen sind darunter zwei gegenläufige Bewegungen gefasst, die an jeder Formwerdung beteiligt sind. Einmal besteht die Tendenz der Ausdehnung und Ausweitung, dann die der ersten entgegengesetzte der Hemmung und Rückbindung. Um das wiederum an der Pflanze zu demonstrieren: Das Wachstum muss gebremst werden, damit überhaupt so etwas entstehen kann wie ein proportioniertes Gebilde. Die Gegensätzlichkeit findet sich auch darin wieder, dass das Werden der Pflanze eingespannt ist zwischen den Extremen der Dunkelheit und des Lichts, des Feuchten und des Trockenen, dass sie also zu ihrem Gedeihen Erde und Luft benötigt. „Polarität“ ist ein produktives Prinzip der Natur, und es ist überall in ihr wirksam, im Organischen und im Anorganischen. So kontrastieren und ergänzen sich der Plus- und der Minuspol beim Magnetismus, Licht und Dunkel bei der Farbwerdung, das Männliche und das Weibliche im Pflanzen- und Tierreich. Noch ein weiterer Zug ist in dem Gestalten-wandel angelegt, und das ist der der „Steigerung“. Die Intensivierung des Daseins und die Ausrichtung auf ein Ziel sind den natürlichen Entwicklungen inhärent, so wie bei der Pflanze alles zur Blüte drängt und die Farben ihre volle Leuchtkraft
62 Wilhelm Meisters Wanderjahre, VIII, S. 302f. 63 So ausdrücklich XIII, S. 35 u.ö. 64 Vgl das gleichnamige Gedicht und Goethes theoretische Ausführungen zu diesem Thema; I, S. 199ff; XIII, S. 64ff. Eine Auslegung des Gedichts gibt Gernot Böhme, in: Für eine ökologische 1aturästhetik, Frankfurt/M. 1989, S. 102ff. Die zentralen Begriffe von Goethes Naturlehre erläutert der schon zitierte Essay von Weizsäckers.
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entfalten wollen. Im Gedanken der „Steigerung“ erkennt man unschwer das Aristotelische Prinzip der Finalität oder Entelechie wieder. Dass Goethes Leitvorstellungen nicht nur ein dichterisch inspiriertes Gedankengebäude errichten, sondern auch zu konkreten Ergebnissen führen, zeigt die Entdeckung des ‚Os intermaxillare‘, des menschlichen Zwischenkieferknochens. Dabei handelt es sich um eine Knochennaht am Oberkiefer, die bei allen Tieren eine deutliche Ausprägung erfahren hat, beim Knochenbau des erwachsenen Menschen jedoch nahezu verschwunden ist. Nur an kindlichen Skeletten ist sie noch erkennbar. Goethe gelang der Nachweis, weil er daran festhielt, dass der Bauplan der Tiere, genauer: der Wirbeltiere, durch Abänderungen hindurch über konstante Merkmale verfügt, die sich folglich in einer Reihe verwandter Gestalten wiederfinden müssen. Er orientierte sich also an seinen Ordnungsbegriffen der ‚Idee‘ und der ‚Metamorphose‘. Gegen alle ideologischen Widerstände, die die Aufgabe der Sonderstellung des Menschen in der göttlichen Schöpfung betrafen, ordnete Goethe damit den Menschen ins Tierreich ein. Das bedeutete einen Schritt in Richtung Evolutionstheorie, wovon ihn freilich noch einiges trennte. Er hatte allerdings Pech damit, dass ein französischer Forscher ihm zuvorgekommen war, sodass er nicht das Verdienst der Erstentdeckung für sich reklamieren konnte. Die Voraussetzung, auf der Goethes Wissenschaft basiert, ist die, dass das Wesen in die Erscheinung tritt. Das Wahre liegt vor Augen, und es ist die Geduld und die Anstrengung des Sehens, die herausbringen, was es mit den Dingen auf sich hat. Goethes Untersuchungen sind Phänomenologie, nämlich Lehre von den Erscheinungen. Dass er sich ganz auf das Zeugnis der Sinne verlässt, demonstriert seine Farbenlehre, sein ambitioniertestes und aufwendigstes Forschungsunternehmen. Daran wird beides klar, die Berechtigung, aber auch die Grenzen seines Ansatzes. Die Farben entstünden durch die Brechung des Lichts, hatte 1ewton erklärt. Den experimentellen Nachweis erbrachte er dadurch, dass er durch ein Loch im Fensterladen einen dünnen Lichtstrahl in ein dunkles Zimmer leitete und diesen durch ein Glasspektrum schickte. Auf einem dahinter gestellten Schirm zeigte sich ein Farbmuster, das eben die Farben enthielt, die wir als Spektralfarben kennen, also rot, orange, gelb, grün, blau, violett. Farben waren demnach nichts anderes als Fraktionen des Lichts, und ihre Unterschiede ergaben sich aus der messbaren Größe des Brechungswinkels. Am kleinsten war der für das Rote, am größten der für das Violette. Goethe reagierte auf diese Theorie nicht nur mit Ablehnung, sondern sogar mit Empörung. Er hielt sie für eine geradezu skandalöse Simplifizierung dessen, was er immer aufs Neue als überaus reich, bezaubernd und das menschliche Gemüt
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einnehmend erlebte. 1ewtons experimentelle Beweisführung erkannte er nicht an, mit dem Argument, sie berücksichtige nur Belegmaterial, das in die abgehobene Doktrin passe.65 Dagegen führte er eine Fülle genau und sorgfältig beobachteter Fakten an. Darunter waren optische Effekte, die bis dahin weitgehend unbeachtet geblieben waren, wie die der farbigen Schatten, der Komplementärfarben und der enoptischen Farbfiguren.66 Es schien ihm am plausibelsten, wenn er die unerschöpfliche Vielfalt der Farben, ihre Nuancen, Mischungen und Intensitätsgrade auf das Zusammenspiel von Licht und Finsternis zurückführte. Aus den unterschiedlichen Möglichkeiten der Eintrübung ergäben sich die Farberscheinungen, wofür das Rot der durch eine abendliche Dunstschicht scheinenden Sonne oder das Blau ferner, verschleierter Berge einfache Beispiele sind. Als „Taten und Leiden des Lichts“ hat Goethe die Farben definiert, des Lichts im Streit mit der Finsternis, muss man hinzufügen.67 Hier kehren Goethes Grundbegriffe wieder: Farbigkeit ist ein „Urphänomen“, das seine „Metamorphosen“ erfährt in der „Polarität“ von Licht und Finsternis. Die viel beredete Frage, wessen Meinung die richtige sei, die 1ewtons oder die Goethes, muss so beschieden werden, dass beide recht und unrecht haben. Das ergibt sich zunächst aus einem einfachen Grund. Vom heutigen Standpunkt aus bewegten sich beide auf unterschiedlichen Gebieten. 1ewton beschäftigte sich mit physikalischer Optik, Goethe mit der Physiologie und der Psychologie des Sehens. 1ewton muss man entgegenhalten, dass Farben nicht nur eine physikalische Gegebenheit sind, sondern auch eine Leistung des menschlichen Wahrnehmungsapparates. Gegen Goethe ist vorzubringen, dass die Farben nicht nur das sind, als was sie sich dem menschlichen Auge zeigen, sondern auch eine Wirklichkeit unabhängig davon haben. Farben sind ein physikalisches und ein physiologisches Phänomen; und darüber hinaus haben sie Einfluss auf die Psyche. Es geht aber um mehr als um fächerbezogene Zuordnungen. Hier stoßen zwei entgegengesetzte Auffassungen aufeinander, die unter völlig anderen Voraussetzungen, mit unterschiedlichen Absichten und nicht mit dem gleichen methodischen Rüstzeug an die Natur herangehen. 1ewton hält sich an die gesicherte Ordnung des Experimentierens. Alle Schritte, die oben ausführlich dargestellt wurden, finden sich bei 65 Die zitierte Hamburger Ausgabe enthält Goethes Zur Farbenlehre nicht vollständig; sie dokumentiert und kommentiert aber deren Werdegang (Bd. XIII, XIV). Die Auseinandersetzung zwischen Newton und Goethe nimmt Rudolf Carnap auf; vgl. Einführung in die Philosophie der 1aturwissenschaft, München 1969, S. 114ff. 66 Genaueres auch bei John Neubauer, Der Schatten als Vermittler von Subjekt und Objekt, in: Böhme/Schiemann, a.a.O., S. 64ff. 67 XIII, S. 315.
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ihm wieder. Zur Erinnerung: Ein Vorgang wird isoliert; er läuft unter künstlichen Bedingungen ab; das Verfahren ist auf Messung angelegt; die Ergebnisse sind völlig unabhängig vom jeweiligen Experimentator. Für Goethe ist diese Vorgehensweise – und er meint damit nicht nur 1ewton, sondern die ganze Richtung, also die experimentelle Wissenschaft – eine Vergewaltigung und Verstümmelung der Wirklichkeit. Diese wird reduziert auf vereinzelte Fakten, auf mathematisierbare Restbestände. Darüber geht etwas Entscheidendes verloren, nämlich die sinnlichen Qualitäten der Dinge. Diese sind mehr als das, was sich in nackten Zahlen ausdrücken lässt. Selbstverständlich weiß das auch die rechnende Wissenschaft, aber für sie sind die sonstigen Eigenschaften, die charakteristische Form oder das anschaulich Gegebene beispielsweise, bloße Zusätze, die nicht zum objektiven Bestand der Gegenstände gehören. Sie sind bloß subjektiv, vom Menschen an die Realität herangetragen. Die philosophische Erkenntnislehre hat das aufgenommen in der Lehre von den ‚primären‘ und ‚sekundären Qualitäten‘. Erstere sind die Merkmale, die mit der Hilfe analytischer und messender Verfahren zu ermitteln sind, die zweiten sind der subjektiven Sichtweise zuzuschlagen. Damit aber werden rigoros der Mensch und die Dinge voneinander getrennt, Mensch und Welt werden einander fremd. Und das liegt in der Konsequenz des Cartesianischen Alternativprinzips, das für die neuzeitliche Wissenschaft maßgebend ist.68 Für Goethe dagegen bilden Mensch und Welt eine Einheit. Er will Einsicht gewinnen in die lebendigen Beziehungen zwischen den beiden. Und deswegen dürfen beide Seiten nicht reduziert werden, die Dinge nicht auf reine Zahlenverhältnisse, das Bewusstsein nicht auf den bloß registrierenden Intellekt. Die erzwungenen Umstände des Versuchs enthüllen nicht die wahren Verhältnisse. Sich in der freien Natur umzutun, die Dinge eben nicht herauszulösen aus ihrer angestammten Umgebung, sie im Zusammenhang zu sehen, sie zu sehen in der Fülle ihrer Eigenschaften und Bezüge, ist seine erste Forderung. Über seine „chromatischen Arbeiten“ sagt er, mit deutlicher Anspielung auf 1ewton, dass ihn dazu „die schönsten Erfahrungen in freier Welt aufregten, wie sie keine dunkle Kammer, kein Löchlein im Laden geben kann.“ Die zweite Forderung ist die, dass bei allen Forschungen der Bezug zum Menschen gewahrt sein müsse. Das, was die Wissenschaft will, unbeteiligte Neutralität und subjektunabhängige Sachbezogenheit macht Goethe ihr gerade zum Vorwurf. Er konstatiert: „Das größte Unheil der neueren Physik“ sei, „dass man die Experimente vom Menschen abgesondert hat“.69 68 Dieses wurde oben dargestellt. Sehr klar und eindringlich erklärt Theodor Litt Goethes Verhältnis zur experimentellen Wissenschaft und dessen eigenen Forschungsansatz; vgl. 1aturwissenschaft und Menschenbildung, Heidelberg/Wiesbaden 1959, S. 133ff. 69 Ebd., S. 614; XII, S. 458.
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Das ist jedoch nicht so zu verstehen, dass Goethe einen relativistischen Standpunkt vertritt, der die Möglichkeit allgemein gültiger Erkenntnisse bestreitet. Was die Dinge sind, enthüllt sich der Wahrnehmung des Menschen, des Menschen nicht als Individuum, sondern als Gattungswesen. Ein solcher Forschungsansatz ist subjektbezogen, aber deshalb nicht subjektiv. Wie es einen allen Menschen gemeinsamen Körperbau gibt, so verfügen auch alle Menschen über bestimmte Aufnahmeorgane für die Dinge. Beispielsweise sind die Farbempfindungen bei allen Menschen annähernd gleich. Goethes Erkenntnislehre fußt nun auf der Annahme eines Entsprechungsverhältnisses zwischen der äußeren Wirklichkeit und dem Wahrnehmungsapparat. Subjekt und Objekt, Inneres und Äußeres sind gewissermaßen füreinander bestimmt, die Sensibilität korrespondiert mit der Beschaffenheit der Gegenstände. Das bringt der Spruch der weltanschaulichen Gedichte, den Goethe in der Farbenlehre wieder aufnimmt, zum Ausdruck: „Wäre nicht das Auge sonnenhaft / wie könnten wir das Licht erblicken?“ Dieses Aufeinanderbezogensein erklärt sich Goethe naturgeschichtlich. „Aus gleichgültigen tierischen Hülfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde, und so bildet sich das Auge am Licht fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete.“70 Diese Überzeugung spricht sich auch darin aus, dass der Teil über die Geschichte der Farbenlehre die Autoren kritisiert, die außergewöhnliche Farbeindrücke als bloße Sinnestäuschung abtun wollen. Und kategorisch heißt es in einer Notiz: „Es ist eine Gotteslästerung zu sagen, dass es einen optischen Betrug gebe.“ Es hat also etwas zu sagen, dass der Mensch auf das Licht und die Farben anspricht, etwas über diese selbst, und das sind Qualitäten, die nur im Reflex des Auges offenkundig werden. Deswegen behandelt das Werk nicht das Licht und nicht das Auge, sondern die lebendige Beziehung beider.71 Folgerichtig setzt es mit „physiologischen“ Beobachtungen ein und kommt erst dann zu den „chemischen“ und „physikalischen“ Eigenschaften der Farben. Was Letzteres betrifft, so ist Goethe zweifellos Irrtümern erlegen. Seine Verdienste liegen aber auf dem Gebiet der Farbwahrnehmungen, auf dem der Physiologie also. Und da gelingen ihm richtungsweisende Einsichten. Vieles davon ist kaum gewürdigt worden, so die Entdeckung der farbigen Schatten. Nicht erst die Impressionisten haben die gesehen, sensationell neu war das also nicht. Allerdings wussten die modernen Maler nichts mehr von Goethes genauen Beschreibungen dieser Effekte. Vom heutigen Erkenntnisstand wird Goethe darin bestätigt, dass das Farbsehen von der Beschaffenheit 70 XIII, S. 323f. 71 XIII, S. 627 Anm. 1; vgl. XIII, 324f.
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des visuellen Wahrnehmungssystems abhängt. Um es einfach zu sagen: es ist das menschliche Auge, das die Welt einfärbt. Das hat zu tun mit zapfenförmigen Sinneszellen auf der Netzhaut und der Weiterverarbeitung eingehender neuronaler Reize im Gehirn. Ohne diese Ausstattung hätten wir keine Farbempfindungen, was Defekte wie die totale Farbenblindheit, die sogenannte Achromatopsie oder die Fälle partieller Farbenblindheit, Ausfall der Rotgrün- oder der Blaugelbunterscheidung, belegen. Andere Lebewesen mit einer anderen physiologischen Ausstattung sehen die Dinge anders als der Mensch. Unsere Haushunde zum Beispiel können nur Grautöne unterscheiden; ihre Welt ist eben nicht bunt. Goethe will also die Reaktionen des Subjekts auf die Spiele des Lichts untersuchen, und da ist es nur konsequent, dass er nicht allein die physiologischen, sondern auch die psychologischen berücksichtigt. Er fügt also ein Kapitel über die Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe hinzu. Das Gelbe etwa rufe „einen durchaus warmen behaglichen Eindruck“ hervor, während „das Blaue…uns ein Gefühl von Kälte“ gebe.72 Auch solche Betrachtungen sind später wieder aufgenommen, nicht nur von Wissenschaftlern, sondern auch von den Künstlern, von Kandinsky zum Beispiel. Wie schon im Teil über die Physiologischen Farben geht es auch hier nicht um individuelle Empfindungen, und es geht auch nicht um etwas Nebensächliches, sondern um etwas Wesentliches, nämlich darum, welche Bedeutung die Farberscheinungen für den Menschen haben. Wenn Goethe als eigentliches Medium der Erkenntnis die Wahrnehmung bezeichnet, so ist damit nicht einfach die Übermittlung von Sinnesdaten gemeint. Was andere Theorien auseinanderreißen, das stellt sich für ihn als ein einheitlicher Vollzug dar, in dem sich ein Sinneseindruck mit ähnlichen Erlebnissen verbindet, was schließlich zu einer geistigen Verarbeitung führt. Das Sehen ist schon ein geistiger Akt, vorausgesetzt, wir haben die Fähigkeit erlangt, richtig hinzugucken, aber dann gilt, „dass wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren“. Es entsteht das, was Goethe als wahre Annäherung an die Natur begreift und was er immer wieder als deren „lebendiges Anschauen“ herausstellt.73 Goethe ist einer Forschungsrichtung zuzuzählen, die auf der ‚Reinen Beobachtung‘ aufbaut.74 Anders als die experimentelle Wissenschaft will sie die Verhältnisse untersuchen, ohne Eingriffe vorzunehmen. Ihr Gegenstand ist demnach die ‚freie Natur‘, das heißt die, die 72 Ebd., S. 496; S. 498. 73 XIII, S. 317; vgl. z.B. XIII, S. 56. 74 Vgl. dazu W. v. Engelhardt, a.a.O., S. 17ff.
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nicht verändert oder manipuliert wurde. Diese Methode muss nicht nur als Gegenzug zum Experimentieren verstanden werden. Mitunter verhält es sich einfach so, dass mit den Untersuchungsgegenständen keine Versuche durchgeführt werden können. So im Fall der Astronomie, und Johannes Kepler verdankt seine Einsicht in die Regelmäßigkeit der Sternenbahnen der ‚Reinen Beobachtung‘. Wieder anders ist es da, wo es das erklärte Ziel ist, die Naturerscheinungen im Zusammenhang zu sehen. Die ausgreifenden Studien Alexander von Humboldts sind so angelegt. Mit ihnen soll die eigentümliche Beschaffenheit eines ganzen Landes, die Verbindung der geologischen Formationen mit der Vegetation und der Fauna erfasst werden. Beide Richtungen können also gut nebeneinander bestehen. Klar ist indessen, dass die Verschiedenartigkeit des Zugangs auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Und derselbe Gegenstand kann eine jeweils andere Beleuchtung erfahren. Die ‚Reine Beobachtung‘ hat eine lange Tradition. Ihrem Geist ist die Physik des Aristoteles verpflichtet. Sie will aufnehmen, wie sich etwas von sich her zeigt. Sie abstrahiert nicht von den vorgefundenen Bedingungen, sondern fertigt Beschreibungen von den konkreten Umständen an. Das Bestreben der ‚Reinen Beobachtung‘ ist demnach auf eine Deskription der tatsächlichen Verhältnisse gerichtet, und Aristoteles wäre es nicht eingefallen, die Dinge in künstlichen Arrangements zu erproben. Diese Vorgehensweise hat sich bis in die Gegenwart erhalten und neben der experimentellen gibt es eine deskriptive Wissenschaft. Die Geographie führt den Begriff der Beschreibung schon in ihrem Namen, und auch die Biologie hat sich bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein hauptsächlich als deskriptive Wissenschaft verstanden, vor allem die Botanik, und Linné ist dafür ein gutes Beispiel. Diese Einstellung findet bei Goethe eine besondere Ausprägung. Was er begründet, ist eine lebensweltlich orientierte Wissenschaft. Ihr ist nicht darum zu tun, was die Dinge an sich sind, vielmehr will sie herausfinden, welche Qualitäten sie für den Menschen haben. Und programmatisch zu verstehen ist der Satz: „Wir wissen von keiner Welt als in Bezug auf den Menschen.“75 Man kann diesen Gedanken auch so fassen, dass Goethe den Menschen als „Geschöpf der Natur“ begreift, und das heißt, sie hat ihn mit den Organen ausgestattet, die ihn dazu befähigen, sich in ihr zurechtzufinden, mehr noch, sie zu erkennen. „Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, / Nachzudenken…,“ wie es in der Metamorphose der Tiere heißt. In der Wahrnehmung verfügt der Mensch über das geeignete Instrumentarium, durch das sich ihm die Dinge zu erkennen geben. Das ist gemeint, wenn Goethe davon redet, dass „der Mensch an sich selbst, insofern er 75 XII, S. 467.
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sich seiner gesunden Sinne bedient, … der größte und genaueste physikalische Apparat ist.“76 Fast schon verstiegen hört sich an, was er über „Mikroskope und Fernröhre“ schreibt: Diese „verwirren eigentlich den reinen Menschensinn.“77 In seiner Konzeption ist das aber durchaus folgerichtig. Der Blick durch das Glas hat einen Effekt der Verfremdung. Er präsentiert nur einen Ausschnitt, er löst einen Gegenstand auf und zeigt ihn nicht in seinen natürlichen Proportionen. Dadurch aber wird die Einsicht in das verwehrt, was er ist. Er steht nämlich nicht für sich, sondern ist eingefügt in eine Ordnung, in die der Idee. Er ist Repräsentant eines allgemeinen Formprinzips; in ihm ist die Idee in die Erscheinung getreten, und sich dafür empfänglich zu halten, ist Aufgabe der Wahrnehmung. Und wie sich das Muster in der singulären Gestalt konkretisiert, so geht umgekehrt die Wahrnehmung von der einzelnen Perzeption weiter zur Schau des Vorbildes. Nur dem unverstellten Blick eröffnet sich dieser Zusammenhang. Anders als es sich der experimentellen Forschung darstellt, ist die Natur für das menschliche Auge keine bloße Faktenverschränkung. Als Verkörperung von Ideen haben die Dinge einen geistigen Gehalt. Deshalb sprechen sie den Menschen an, sie wecken in ihm Gefühle, und sie wenden sich an seinen Verstand. Eben darin sind sie auf ihn bezogen. In ihnen kommt etwas zum Ausdruck, sie haben eine Bedeutung. Die Seite, nach der die Natur Expression ist, bleibt der analytischen Wissenschaft verborgen. Mit ihren Mitteln kann sie diese auch nicht offen legen. Daran ist nichts verkehrt, solange man nicht die so gewonnenen Ergebnisse als die Wahrheit schlechthin ausgibt. Goethes Naturerkundung ist keine messende, sondern eine schauende Wissenschaft, als eine „scientia intuitiva“ hat er sie einmal bezeichnet.78 Für diese Betrachtungsweise haben die Naturgegenstände einen Zeichencharakter. Sie verweisen auf das Wesen, und wenn die Erscheinung eines geistigen Gehalts in einem, singulärem sinnlichem Gebilde ein Symbol zu nennen ist, so hat die Natur symbolische Züge. Und wenn es ferner die Eigentümlichkeit der künstlerischen Weltsicht ist, in der einzelnen Begebenheit, in dem einzelnen Gegenstand das Bedeutungsvolle zu erkennen, so ist die kontemplative Behandlung der Natur der künstlerischen verwandt. Wer auf diese Weise sich ihr nähert, „der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.“79 Die Übereinstimmung zwischen Natur und Kunst geht aber noch weiter. Die Natur ist selbst eine Künstlerin, sie ist eine Bildnerin 76 Ebd., S. 458. 77 VIII, S. 293. 78 So in einem Brief an Jacobi; vgl. H.A. Korff, Geist der Goethezeit, 10., unveränderte Aufl., Darmstadt 1977, II, S. 31. 79 XII, S. 467.
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und Schöpferin.80 Und so kann Goethe schreiben, dass „die höchste und einzige Operation der Natur und der Kunst die Gestaltung sei, und in der Gestalt die Spezifikation, damit jedes ein Besonderes, Bedeutendes werde, sei und bleibe.“ Wenn im Physischen schon die Formen angelegt sind, so kann die Kunst sich darauf beziehen, sie bildet diese nach und lässt sie in ihrem Medium neu erstehen. Auf diese Weise eignet sie sich das Unbekannte an. Daraus ergibt sich eine neuerliche Begründung für den Aristotelischen Gedanken der Mimesis. Aber die Kunst leistet noch mehr. Sie ist Darstellung, sie präsentiert einen Gegenstand. Und dieser ist selbst im Werk anwesend und wird darin vergegenwärtigt. Wenn man eine Landschaft nimmt, so kann die Wissenschaft sie in ihren Fachausdrücken beschreiben, was meistens auf eine nüchterne Bestandsaufnahme hinausläuft. Die Dichtung aber rückt diese ins Bild, von ihr ist etwas eingegangen in den Text, von den ihr eigentümlichen Farben, von den Rhythmen ihrer Linien, von ihren Stimmungen, von dem Eindruck, den sie auf das menschliche Gemüt macht. Das Gespür für Formen ist nicht etwa eine Besonderheit der ästhetischen Betrachtungsweise. Der Grundgedanke Platons, den Goethe produktiv aufnimmt, der, dass die Natur nach Mustern geordnet sei, findet sich in der neueren Biologie wieder. Sie sieht darin die Basis allen Lebens. Sich in der Welt zu orientieren heißt, Muster zu erkennen. Das gilt für alle Lebewesen, nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Tiere. Damit diese überhaupt existieren können, ist es notwendig, dass sie auf die Gegebenheiten ihres Umfeldes angemessen reagieren. Die Voraussetzung dafür ist, dass sie die Fähigkeit besitzen, das, was ihnen begegnet, zu taxieren, danach, welche Relevanz es für ihr Dasein hat. Nahrung, Feinde, Kumpanen, Sexualpartner müssen nach ihren Erkennungsmarken identifiziert werden, und dazu verfügen sie über die entsprechenden Sensoren. Wissen ist deshalb ein essentieller Zug des Lebens. Dieses sei „mit einer konstitutiven Seite seines Wesens ein Erkenntnisvorgang“, sagt Konrad Lorenz. Kürzer formuliert es der Neurobiologe Umberto Maturana: „Leben ist Erkennen.“81 Worauf die Aufnahmeorgane ansprechen, sind Vorgänge oder Gegenstände, die eine prägnante Gestalt aufweisen: auffällige Farben, geometrische Formen, rhythmisierte Lautgebungen. Tiere bringen es dabei zu erstaunlichen Abstraktionsleistungen. Auch die Reduktion einer natürlichen Erscheinung auf ein bloßes Schema löst einen Effekt des Wiedererkennens aus. Besonders auffällig ist diese Leistung bei der 80 Diesen Aspekt des Naturbegriffs, den Goethe mit Herder und anderen Vertretern seiner Zeit teilt, hebt Korff hauptsächlich hervor; vgl. a.a.O., S. 14ff. Goethe selbst macht das vor allem im Fragment Die 1atur deutlich. Das nächste Zitat bei Litt, a.a.O., S. 152. 81 Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, München 1977, S. 216; Maturana/Varela, Der Baum der Erkenntnis, Bern-München-Wien 1987, S. 191.
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Kommunikation zwischen Artgenossen. Es sind die Ausdrucksgebärden, durch die sich Tiere verständigen, und nicht nur sie, auch der Mensch verfügt neben der Verbalsprache über dieses naturgeschichtlich alte System des Austausches. Eine beliebige Verrichtung kann zum Zeichen werden, dadurch, dass sie stilisiert und betont wird, ein Vorgang, den die Verhaltensbiologie als „Ritualisation“82 bezeichnet. Ein einfaches Beispiel wäre die Geste des Heranwinkens. Worauf die Symbolhandlungen, so nennt sie Lorenz, hinweisen ist, dass Expressivität ein fundamentales Prinzip der Natur ist. Der Leib ist nicht von der Art der Dinge. Er ist zudem kein bloßes Instrument, zum Schlagen, zum Greifen oder zur Nahrungsaufnahme. Er ist immer auch ein Mittel des Ausdrucks, in Stellung und Haltung, in Gestik und Mimik. Und was für die belebten Körper gilt, das gilt auch für die unbelebten. Diese sind mehr als nur Ausgedehntes. In einer lebensweltlichen Sicht haben die Steine und das Wasser, die Berge und die Wolken eine Physiognomie, sie haben eine Bedeutung für die Lebewesen. Und deshalb spricht Goethe von einer „Sprache der Natur“. Diese zu verstehen, hat zunächst eine lebensdienliche Funktion. Für den Menschen, der in der Natur lebt, ist es eine Existenzfrage, ob er ihre Zeichen deuten kann. Der Bauer oder der Fischer muss danach sein Handeln ausrichten. Erst in zweiter Linie ist das ein Gegenstand der Theorie. Der Unterschied zwischen einer wissenschaftlich objektivierenden und einer lebensweltlichen Erfassung lässt sich an einem einfachen Beispiel erläutern. Die chemische Bestimmung von Wasser ist H2O. In dieser Formel ist nichts über die Beziehung zu einem Subjekt enthalten; über die Bedeutung des Wassers wird nichts ausgesagt. Dass es lebensspendend und lebenserhaltend ist, dass es den Durst stillt, dass es reinigend wirkt, dass es das Ungeformte, Fließende ist, alles das, woran bei den Riten der Taufe, der Wiedergeburt und der Quellenverehrung gedacht wird, eröffnet sich nur in einem lebensweltlichen Zusammenhang. Das Lebewesen ist nicht isoliert, es ist schon immer eingebunden in eine ‚Umwelt‘. Diesem Begriff hat der Biologe Jakob von Uexküll einen prägnanten Sinn gegeben.83 Damit ist nicht einfach nur ein Bereich gemeint, in dem ein Organismus das findet, was er für Daseinsfristung braucht, also Nahrung, Schutz und dergleichen. Die Umwelt ist keine objektive Gegebenheit, etwas, das sich unabhängig von der Aufnahmefähigkeit eines Lebewesens beschreiben ließe. Sie ist abhängig von den Rezeptororganen, also von den Leistungen der Sinnessysteme und beschränkt sich auf das, was diese aufschließen. Anderes, was gleichwohl 82 S. dazu K. Lorenz, Stammes- und Kulturgeschichtliche Ritenbildung, in: Das Wirkungsgefüge der 1atur, München 1983, S. 153ff. 83 Das bezieht sich auf Jakob von Uexküll / Georg Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Frankfurt/M. 1983.
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vorhanden ist, wird ausgeblendet, oder richtiger: ist für dieses Lebewesen gar nicht existent. Die Umwelt ist demnach immer nur ein Ausschnitt aus der vollen Wirklichkeit. Und je nach der Organausstattung der Arten gibt es die unterschiedlichsten Umwelten, die des Hundes, die der Biene oder die der Amsel. Die Umwelt kann überaus reich, sie kann aber auch auf wenige Merkmale zusammengeschrumpft sein. So hat die Welt der Zecke keine Töne, Farben und Formen und keinen Geschmack, sie besteht fast ausschließlich aus wenigen Geruchs- und Tastempfindungen, während anderer Tiere in einer Fülle von Tönen, Gerüchen und Bildern leben. Der ganze Körperbau eines Tieres ist nun auf das Segment berechnet, in dem es lebt. Das ist der Ausschnitt der realen Welt, den es wahrnehmend und handelnd, sensorisch und motorisch bewältigt. Zwischen ihm und den äußeren Bedingungen besteht demnach ein Entsprechungsverhältnis; es ist in seinen natürlichen Lebensraum eingepasst. Der Organismus und seine Umwelt bilden eine Einheit, sie sind ein „höherer Organismus“, wie Uexküll sagt. Wie die Tiere, so hat auch der Mensch seinen spezifischen Bereich, einen Bereich, der abgesteckt ist durch die Leistungen seiner Sinne. Auch er lebt in einer ‚Wahrnehmungswelt‘ oder in einem besonderen ‚kognitiven Bereich‘. Die Sinne einschließlich der cerebralen Verarbeitung haben eine selektive und konstruktive Funktion; sie bauen die Welt des Menschen auf, sind also nicht bloß passiv hinnehmend, sondern sie sind selbst aktiv. Was sie eröffnen, ist der Teil der Wirklichkeit, für den der Mensch bestimmt ist; auf ihn ist er in seinen seelischen und körperlichen Reaktionen eingestellt. Zwischen den äußeren Gegebenheiten und den menschlichen Anlagen, zwischen Welt und Mensch besteht eine Einheit, und das ist die Welt von der Goethe redet, die Welt für deren Formen und Farben, für deren Klänge und Rhythmen, für deren Gerüche und Geschmacksempfindungen der Mensch empfänglich ist. Die neuere Biologie erklärt diese Einheit damit, dass der Mensch sich in seiner stammesgeschichtlichen Entwicklung an bestimmte Bedingungen angepasst habe, sie sei also ein Ergebnis der Evolution. Als einen „Mesokosmos“, als einen Bereich mittlerer Reichweiten beschreibt die evolutionäre Erkenntnistheorie das spezifisch menschliche Umfeld. So ist das Hören beschränkt auf einen bestimmten Frequenzbereich; Töne, die höher oder tiefer liegen, werden nicht wahrgenommen. Und physikalisch ist das für uns sichtbare Licht nur einer kleiner Ausschnitt aus dem elektromagnetischen Spektrum.84 Das Wissen um die Beschränktheit seiner Wahrnehmungswelt verweist aber schon drauf, dass der Mensch über sie hinauskommen kann. Das 84 Näheres dazu bei Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 3. Aufl., Stuttgart 1983; über die auch in Bezug auf Goethe interessante Frage nach dem Farbsehen vgl. das Kapitel Wahrnehmungsstrukturen S. 45ff.
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gelingt ihm durch die Technik. Fernrohre und Mikroskope, spezifische Messinstrumente und Sensoren ermöglichen den Zugang zu Welten, die ihm sonst verschlossen blieben. Da der Mensch nicht auf ein Milieu festgelegt ist, hat er statt einer ‚Umwelt‘ die ‚Welt‘, so drückt diesen Sachverhalt die moderne Anthropologie aus.85 Die Biologie des 20. Jahrhunderts hat Aspekte der Natur wiederentdeckt, die seit Goethe nahezu vergessen waren oder wenigstens nicht als Gegenstand seriöser Forschung galten. Was beide vor allem verbindet, ist der subjektbezogene Ansatz. Trotz aller Gemeinsamkeiten gibt es doch wesentliche Unterschiede. Für Goethe und seine Zeitgenossen ist die Natur eine in sich beständige Ordnung. Ihre Abläufe werden bestimmt durch unwandelbare, eherne Gesetze und Gestaltungsprinzipien. Und in der Natur gibt es keine Fortentwicklung. Auch die Arten und Klassen des Organischen haben sich nicht im Laufe der Zeit herausgebildet, sondern bestehen seit der Entstehung der Welt und sind Teile der göttlichen Schöpfung. Platonisch formuliert: es gibt die ewigen, unverrückbaren Ideen, und von diesen sind die konkreten Erscheinungen nur Abdrücke. Das unaufhörliche Werden in der Natur beruht lediglich auf Wiederholungen. Darauf bezieht sich der Satz aus dem Fragment Die 1atur: „Alles ist neu und doch immer das Alte.“86 Zwar hatte man erkannt, dass im Bereich der Tiere und Pflanzen Veränderungen vonstatten gegangen waren, aber diese erklärte man als bloße Variation von Urtypen. Der Gedanke an eine Naturgeschichte, in der sich die komplexen Formen des Lebens aus primitiven entwickelt hätten, konnte sich noch nicht durchsetzen. Erst Darwins Evolutionstheorie sorgte dafür, dass die Zeit als ein entscheidender Faktor in das wissenschaftliche Kalkül aufgenommen wurde.87 Goethe jedenfalls konnte seine Forschungen in der Überzeugung betreiben, dass diese an den wesentlichen, unverbrüchlichen Bestand der Welt heranreichten, an die Strukturen der kosmischen Ordnung, in die der Mensch eingefügt ist und für die seine Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit geschaffen wurde. Die Kunst wendet sich der Seite der Natur zu, nach der sie Ausdruck ist; ein weiterer Aspekt muss also hinzugefügt werden, der einer ‚expressiven Natur‘. Und wie es eine instrumentelle Vernunft gibt, so gibt es auch eine expressive. Das instrumentelle Denken lässt die Dinge nicht, wie sie sind. Es benutzt sie für beliebige Zwecken. Sein Verfahren ist eines der Dekomposition und der Rekombination. Es entdeckt im Vorgefundenen Möglichkeiten, die dessen ursprünglicher Verfassung 85 Das geht zurück auf Max Schelers Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos. 86 XIII, S. 45. 87 Vgl. dazu Stephen Toulmin/June Goodfield, Die Entdeckung der Zeit, Frankfurt/M. 1985, insbesondere S. 201ff.
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nicht zu entnehmen sind und löst es auf, um es neu zusammenzusetzen. Ihm ist der ragende Fels nicht das Majestätische oder Bedrohliche, sondern dieser wird zum Untersuchungsgegenstand oder zum Material, das sich zum Bauen verwenden lässt. Sachlich, experimentell, analytisch, berechnend sind Attribute, die diesen Denktypus charakterisieren, und diese Eigenschaften sind eingegangen in den technisch-wissenschaftlichen Komplex. Die instrumentelle Vernunft löst sich von den Bindungen ans Vorgefundene und schafft sich eine eigene Welt. Man braucht sie nicht gleich als gewalttätig zu denunzieren, sie ist eine genuin menschliche Möglichkeit. Die expressive Vernunft dagegen sieht im Gegenüber einen Selbstwert, den sie andenkend umkreist und dem sie sich in der Abbildung zu nähern trachtet. Ihr ist der Gegenstand nicht Mittel, und sie verbraucht und zerstört ihn nicht. Sie sieht in ihm eine sinnhafte Gestalt. Den Dingen sucht sie eine Bedeutung abzugewinnen, fragt also danach, was sie zu sagen haben. Dieser Denktypus ist kontemplativ und deskriptiv, form- und umweltbezogen. Nun bleibt die künstlerische Auseinandersetzung mit der Natur nicht unberührt von den gesellschaftlichen und zivilisatorischen Entwicklungen. Schon zu Goethes Lebzeiten deuteten sich völlig neue Möglichkeiten an. 1783 hatten sich die ersten Menschen in die Luft erhoben. Das gelang den Brüdern Montgolfier in einer nach ihnen benannten ‚Montgolfiere‘, einem Heißluftballon. Diese Tat fand bald Nacheiferer. Einer dieser Flugpioniere, Francois Blanchard, führte seine effektvoll inszenierten Aufstiege auch in Deutschland durch, und Jean Paul inspirierten sie zu seiner Erzählung Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch. Darin werden Erfahrungen antizipiert, die erst die Flieger und Flugreisenden des 20. Jahrhunderts machen konnten. Der Aeronaut genießt über der Erde nicht nur eine nie gekannte Freiheit, die Höhe und die Geschwindigkeit bewirken auch, dass sich die bis dahin gültigen Koordinaten von Raum und Zeit verschieben. Das Fliegen verschafft nahezu die Gabe der Omnipräsenz, da die Entfernungen zusammenschrumpfen. Und was vormals als getrennt erschien, das verschmilzt zu einer Einheit. Da „wachsen hundert Berge zu einer Riesenschlange zusammen“. Es ist dies ein Effekt der Nivellierung; unterschiedslos werden Häuser, Wälder, Tiere und Menschen durcheinander geworfen. Giannozzo ist nicht nur selig im „hohen Blau“, er fühlt sich auch „einsam“ und „leer“, denn er hat die vertraute Welt verlassen.88 Was das bedeutet, hat Adalbert Stifter sich vorzustellen versucht. In der Erzählung Der Condor machen die Ballonfahrer, die bis in den „höchsten Äther“ emporschweben, die Erfahrung, dass das „wohnliche 88 Die Erzählung findet sich im Komischen Anhang zum Titan; Zitate a.a.O., 3. Bd., S. 927, 1007.
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Vaterhaus der Erde“ ihnen entgleitet und die „schöne blaue Glocke des Himmels“ sich in einen „schwarzen Abgrund“ verwandelt.89 Ihnen schwinden förmlich die Sinne, sie werden orientierungslos, weil ihre natürlichen Ortungssysteme versagen. Sie haben für diese fremde Welt keine Sensorien. Um sich überhaupt zurechtzufinden, können sie sich nur an die Anzeigen ihrer Instrumente halten. Zwischen den Menschen und die Welt schiebt sich das technische Gerät, und das mit zunehmender Tendenz. Daraus ergeben sich völlig neue Sichtweisen. Die Natur zeigt Seiten und Eigenschaften, die man vorher nicht wahrgenommen hatte. Entscheidenden Anteil daran hat die die Geschwindigkeit produzierende Maschine. Der Blick aus dem Zugfenster eröffnet sensationelle, ungewohnte Perspektiven. Fontane nimmt sie auf in seine Landschaftsschilderungen. Auf diese Bedingungen muss sich die Wahrnehmung einstellen, und es entstehen gänzlich veränderte Sehgewohnheiten. Auch der fotografische Apparat erschließt Teile der Wirklichkeit, die bis dahin verborgen blieben. Eingegangen ist die Sicht der Kamera in Arno Schmidts Naturdarstellungen. Das Verweilen vor der Natur, die meditative Versenkung und die Wesensschau der klassisch-romantischen Epoche werden teilweise abgelöst durch das Vorübergleiten flüchtiger Anblicke. Überhaupt ist es die Hektik und die Dynamisierung des Lebens, welche die moderne städtische Zivilisation hervorbringt, die zunehmend das Verhältnis zur Natur bestimmen.90 Auch noch in anderer Weise macht sich das Vordringen des naturwissenschaftlich-technischen Denkens bemerkbar. Mit der Überzeugung, es sei die analytisch-experimentelle Forschung, die eigentlich die Natur erfasse, wird die künstlerische Darstellung gewissermaßen privatisiert. Ihr wird die Fähigkeit abgesprochen, allgemein Gültiges vorzubringen. Sie nimmt den Charakter bloßer Gefühlsäußerungen einzelner Naturliebhaber an. Dabei gerät die Literatur teilweise selbst in den Bann wissenschaftlicher Erklärungsmodelle. Die Vorstellung, alle Vorgänge seien festgelegt durch einen unaufhebbaren, lückenlosen Kausalnexus, führt geradewegs zu einer fatalistischen Weltanschauung. Sie findet sich bei Georg Büchner, aber auch bei Stifter. Nicht nur die physischen Erscheinungen, sondern auch der Mensch unterliegen den allgemeinen Naturgesetzen. Noch auf einen Zusammenhang muss wenigstens hingewiesen werden. Platons Vorstellung, der Kosmos sei der sichtbare Gott, wurde schon zitiert. Und während für die Antike das Göttliche und das Natürliche keinen Gegensatz darstellen, ist im christlichen Denken das Ver89 Werke, Frankfurt/M. 1978, Bd. 1, S. 16f. 90 Näheres darüber in den Kapiteln über Theodor Fontane und Arno Schmidt.
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hältnis beider problematisch. Zwar ist die Welt die Schöpfung Gottes, und er hat sie nach seinem Willen eingerichtet, aber er geht in sie nicht ein. Er steht über ihr, so wie ein Handwerker mehr ist als sein Produkt und mit ihm nicht verschmilzt. Es kommt nun darauf an, wie diese Beziehung ausgelegt wird. Der Protestantismus vollzieht eine radikale Trennung. Gott ist der Jenseitige und kann in der Natur nicht aufgefunden werden. Der Pfarrerssohn Jean Paul bezieht sich ausdrücklich auf diese Tradition. Sein Preis der Natur enthält immer den Hinweis, dass man sie transzendieren müsse, um sich Gott anzunähern. Anders steht es im Fall des gläubigen Katholiken Stifter. Seine Naturverehrung weiß sich im Einklang mit seiner Kirche. Diese kennt eine ‚Theologia naturalis‘, in der die mittelalterliche Lehre von der ‚Analogia entis‘ fortlebt. Zwar übertrifft das göttliche alles irdische Sein, aber beide weisen doch wieder Ähnlichkeiten auf, und die natürliche Ordnung führt hin zu ihrem Schöpfer. Als Zusammenfassung kann festgehalten werden, dass der Begriff Natur eine Reihe von Aspekten enthält, die sich verbinden mit bestimmten menschlichen Bestrebungen. Zu unterscheiden sind: die genötigte und bezwungene Natur des Wissenschaftlers und Technikers, die kultivierte und gepflegte Natur des Bauern und Gärtners, die expressive und beredte Natur des Malers und Dichters; schließlich gibt es eine freie und unberührte Natur, die sich jenseits menschlicher Zielsetzungen entfaltet. Zwei große Linien des Denkens über die Natur lassen sich ausmachen, und die aufgeführten Hinsichten können ihnen zugeordnet werden. Die erste ist mit dem Namen Demokrits, Galileis und Descartes’ verknüpft. Sie zergliedert die Wirklichkeit, sie analysiert, experimentiert und stellt Berechnungen an. Die zweite Linie markieren die Namen Platon, Aristoteles und Goethe. Sie sieht die Dinge im Zusammenhang, setzt auf die Anschauung und sucht die Formen der Natur zu erfassen. Die eine ist atomistisch und mechanistisch ausgerichtet, die andere organismisch und vitalistisch. Das trifft sich mit einer Unterscheidung, auf die schon in der ‚Einführung‘ verwiesen wurde, mit der Ruskins zwischen einer ‚Wissenschaft von den Fakten‘ und einer ‚Wissenschaft von den Erscheinungen‘. Die Kunst hat es mit den Erscheinungen zu tun, sie richtet sich darauf, wie sich die Natur den Sinnen präsentiert. Aber auf welche Weise sie das tut, darüber wurde noch nichts gesagt. Wenn also in diesem Kapitel gefragt wurde, welchen Aspekt der physischen Welt die Kunst zu erfassen sucht, so muss nun untersucht werden, welche Mittel sie dazu einsetzt. Dabei hat die Malerei offensichtlich ganz andere Möglichkeiten als die Literatur, wenngleich auch wieder Gemeinsamkeiten zwischen den beiden bestehen, was schon daraus hervorgeht, dass von der Naturbeschreibung erwartet wird, dass auch sie ‚bildhaft‘ sei, wobei
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fraglich ist, ob von ‚Bildern‘ in der Literatur überhaupt geredet werden kann. Nur der Vergleich der Künste führt zu einer Einsicht in deren Eigenheit und damit auch dazu, was jede zu leisten imstande ist.
3. Die Bilder und die Worte oder die Kunst der Beschreibung Darüber, was die Birken tun, ist Kurt Tucholsky ins Sinnieren geraten. Dass die Birkenblätter „sirren, flirren oder flimmern“, scheint ihm nicht treffend zu sein. Auch dass sie „schauern“, verwirft er. „Ähnlicher“ kommt ihm Liliencrons Ausdruck vor, der vom „Zischellaub“ einer Birke redet. Zu bemängeln daran sei jedoch, dass nur ein Höreindruck wiedergeben werde. Wie aber müsste es heißen, „wenn man nun weitab steht und es nicht hören kann?“1 Tucholskys Feuilleton enthält einige Hinweise auf die Schwierigkeiten der Naturbeschreibung. „Ähnlich“ soll sie sein, und diese Forderung bewegt sich in einem bestimmten ästhetischen Vorstellungskreis, in dem einer Nachahmung der Natur. Es gilt also, den passenden Ausdruck zu finden, gewiss. Aber das bleibt viel zu allgemein. Näher betrachtet, fragt sich, wie ein Naturphänomen überhaupt gegeben ist, das heißt, welchem der Sinne es präsent ist, dem Auge oder dem Ohr; oder vielleicht, so könnte man Tucholsky ergänzen, dem Geruch, dem Geschmack oder dem Tastsinn. Und dann ist die Frage, ob es sich um einen festen Gegenstand oder um einen Vorgang handelt. Eine Bewegung will Tucholsky erfassen. Etwas Dinghaftes abzubilden, verlangt offensichtlich andere Mittel. Die Beschreibung bekommt es demnach mit der bewegten und der unbewegten Natur zu tun, mit Regen und Wind, mit den Jahreszeiten, mit Bäumen, mit Gebirgsformationen und den bleibenden Charakterzügen einer Landschaft. Das Naturerlebnis ist nicht aufs Visuelle beschränkt. Mitunter sind es gerade die Töne oder die Gerüche, die typisch sind für eine Umgebung. Die Sprache nun bringt Eindrücke aus allen Sinnesbezirken zur Darstellung. Sie ist so gesehen ein universales Medium, darin anderen medialen Formen überlegen, die sich damit begnügen müssen, nur das wiederzugeben, was ausschließlich einem Sinn gegeben ist. Die Farben beispielsweise sprechen allein das Sehen an. Die Literatur macht sich bei der Naturdarstellung die Vielseitigkeit und Plastizität ihres Mediums zunutze, in der Weise, dass sie Sichtbares und Hörbares ineinander komponiert, bisweilen werden auch Gerüche aufgenommen, seltener schon sind geschmackliche oder fühlbare Elemente. Es ist das Empfin1
Kurt Tucholsky, Was tun die Birken?, Gesammelte Werke, Reinbek b. Hamburg 1975, Bd. 7, S. 232.
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den der Hitze, der Anblick weiter, sommerlicher Felder, der Duft des Heus, und es sind die Stimmen der Vögel, die sich bei Johannes Bobrowski zum Erlebnis einer Landschaft verbinden. Wir lagen auf dem hochbeladenen Heuwagen … eingesunken in das abgehauene und schnell getrocknete Heu, das nach den Wiesenkräutern und Blumen roch und nach dem strengen, scharfblättrigen Gras … Aber es war noch immer heiß über den Feldern. Und so still, dass man die Stille hörte: als ein leises, ununterbrochenes Summen. Aber eigentlich doch unhörbar … Und jetzt war da eine Stimme, eine sehr hübsche und anmutige, gar nicht so leise Stimme. Aber doch so, wie aus dem Summen der Stille hervorgewachsen, wie aufgetaucht, wie ein Seehundskopf aus dem Wasser, man wundert sich nicht, dass er plötzlich da ist, unversehens. Weil er zum Wasser gehört. Wie der Wachtelruf zur Stille und zu dem warmen Nachmittag Ende Juni.2
Es ist der Ruf der Wachtel, der dieser sommerlich hellen Landschaft einen melancholischen Zug verleiht; sie ist ein Ort der Vergangenheit und unwiederbringlich verloren, wie die Stimme des Vogels, die flüchtig ist und verklingt. Nicht unerheblich beteiligt an der Erschließung der Welt sind der Geschmacks- und der Geruchssinn. Das Besondere an ihnen ist, dass sie aneinander gekoppelt sind, was allein schon die Erfahrung belegt, dass wir bei einem Schnupfen nichts mehr zu schmecken glauben. Wie suggestiv diese Sinne sind, weiß man erst richtig seit Marcel Proust. Sein Schlüsselerlebnis ist, dass es der Geschmack eines in eine Tasse Tee getauchten Törtchens vermag, Bilder und Vorgänge aus der Vergangenheit aufsteigen zu lassen.3 Wie hoch der Anteil der olfaktorischen und der geschmacklichen Empfindungen an der Wahrnehmung der Realität auch sein mag, gegenüber den Seh- und Hörerlebnissen treten sie doch zurück. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass vieles davon gar nicht ins Bewusstsein tritt, also unbewusst bleibt. Und es rührt wohl daher, dass die Sprache für diesen Bereich eine eher dürftige Nomenklatur entwickelt hat, so dass dessen verbale Erfassung nur mangelhaft gelingt, wenn sie überhaupt versucht wird. Gegenüber den klassischen fünf kommt die neuere Wahrnehmungstheorie sogar auf zehn Sinne. Diese unterteilt sie wieder und hält z.B. Interorezeptoren, die Organempfindungen vermitteln und Exterorezeptoren, die Informationen über die Umwelt aufnehmen, auseinander. Relevant ist hier nur die Trennung der letzteren in Kontaktrezeptoren (Tast-, Geschmacks-, Temperatur- und Schmerzsinn) und Distanzrezeptoren (Gesichts-, Ge-
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Johannes Bobrowski, Stiller Sommer; zugleich etwas über Wachteln; in: Der Mahner, Berlin 1968, S. 36–38. Proust, a.a.O., Bd. 1, S. 63–66.
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hör- und Geruchssinn).4 Für die Beschreibung der Natur sind die Daten der Distanzrezeptoren entscheidend. Daran hat das Sehen den größten Anteil, weit geringer ist der des Hörens und noch weniger fällt auf das Riechen. Die Tradition redet vom Gesicht und Gehör als von den „theoretischen Sinnen“ und billigt allein ihnen eine tragende Rolle bei der geistigen Erschließung der Welt zu.5 Von den akustischen Wahrnehmungen sind ganz bestimmte einfach ein Teil der natürlichen Umgebung, wie zum Meer das Klatschen der Wellen an den Strand gehört und zum Hochgebirge das Toben der herabstürzenden Wasser. Töne können der sichtbaren Welt eine gewisse, emotionale Einfärbung geben, was im Film durch die Musik erreicht wird. Oft entscheidet sie darüber, in welcher Weise etwas aufgenommen wird; derselbe Anblick kann durch ihre Einwirkung düster oder heiter wirken. Sehr genau kalkuliert ist der Einsatz von Klängen bei Jean Paul und Fontane. Dabei kann es sich um Naturlaute handeln oder auch um solche, die von Menschen hervorgebracht werden. Festlichen Glanz bekommt die Pastorale, die Walt in den Flegeljahren durchstreift, durch die ihn begleitenden, wehenden und ziehenden Flötentöne. Die Musik ist nicht nur in seinem Gemüt, wie er annimmt, sondern sie erklingt tatsächlich und wird produziert von seinem Bruder Vult, der ihm heimlich hinterherläuft. Und entfernte Axtschläge machen eine landschaftlich reizende Partie am Seeufer zu einem Ort der Abgeschiedenheit, an dem der alte Stechlin über sein vergangenes Dasein nachdenkt. Das Leben, an dem er kaum noch Anteil hat, meldet sich nur aus der Distanz. Seit jeher ist die Verwendung von akustischen Reizen ein Mittel des Schauerromans gewesen. Ganz vorzüglich versteht sich E.T.A. Hoffmann darauf. Wir fuhren durch das Dorf, es war gerade Sonntag, im Kruge Tanzmusik und fröhlicher Jubel…; desto schauerlicher wurde die Öde, in die wir hineinfuhren. Der Seewind heulte in schneidenden Jammertönen herüber und, als habe er sie aus tiefem Zauberschlafe geweckt, stöhnten die düstern Föhren ihm nach in dumpfer Klage.6
Der Gruseleffekt wird häufig dadurch erzielt, dass die Quelle eines Geräusches nicht immer auszumachen ist; eben deshalb wirkt es unheimlich. Diese Eigentümlichkeit der akustischen Wahrnehmung, die, dass ihre Ursache verborgen bleiben kann, lässt sich auch noch anders 4 5 6
Näheres bei Rainer Guski, Wahrnehmung, Stuttgart 1989, S 9ff. Es ist nicht nötig in diesem Zusammenhang auf die umfangreiche Literatur über Wahrnehmung weiter einzugehen. So Hegel, vgl. Ästhetik, ed. F. Bassenge, Frankfurt/M. o.J., Bd. I, S. 48f, 141. Eine Hierarchie der Sinne gibt es schon in der Antike z.B. bei Aristoteles; vgl. Über die Seele, II, 7–11. Die Passage findet sich auf den ersten Seiten der Erzählung Das Majorat.
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einsetzen, etwa so, dass dadurch eine Atmosphäre freudiger Erwartung erzeugt wird, durch Vogelgezwitscher oder durch fernes Glockenläuten beispielsweise. Was den Einsatz akustischer Mittel anlangt, so nimmt Eichendorff eine besondere Stellung ein. Der erste Eindruck, der sich beim Lesen seiner Naturschilderungen einstellt, ist der, dass man nichts Bestimmtes zu fassen bekommt. Anders als bei Stifter oder Fontane wird der Leser nicht vor eine Aussicht gestellt, deren Teile dann mehr oder weniger ausführlich beschrieben werden. Es werden nur recht vage Angaben gemacht, zudem solche, die immer wiederkehren und Versatzstücke der Eichendorffschen Landschaft darstellen. Eichendorffs Leser ist damit vertraut wie mit einem bekannten, liebgewordenen Anblick. Da rauschen unter einem die Wälder, blaue Ströme blitzen aus der Ferne, und man kann in tiefe, stille Täler hinaussehen. Oder noch summarischer tut sich einfach „eine glänzende Landschaft“ oder „eine prächtige Gegend“ auf.7 Für sich genommen sind diese Wendungen ziemlich nichtssagend, und man ist versucht von Klischees zu reden. Zuweilen ist es sogar so, dass Eichendorff gegen die Anschauung verstößt, weil er sich ausschließende Bilder zusammenbringt. Der Taugenichts kommt auf seiner Reise von seinem Heimatort nach Wien zuerst durch „Saaten“, da ist es also Frühjahr, was auch der erzählerischen Ordnung entspricht. Gleich darauf, im selben Absatz, fährt er durch „wogende Kornfelder“, also durch sommerliche Fluren.8 Und doch geht von Eichendorffs Naturdarstellung eine eigentümliche Suggestion aus. Was sich zunächst ausnimmt wie hohle Formeln, die allenfalls einen gewissen Gefühlswert haben, erweist sich in der Reflexion als Bestandteil eines gekonnten Arrangements. Die erste Beobachtung ist die, dass Eichendorffs Schilderungen nicht ausladend sind, sondern kurz, nur wenige Zeilen umfassend. Sie sind zudem zahlreich, und die Erzählung ist gewissermaßen mit ihnen durchwirkt. Bei ihm gibt es also keine ausführlichen Beschreibungen von Orten oder Gegenden, die dann den Schauplatz einer Handlung bildeten. Nur diese knappen, aus wenigen Motiven bestehenden Naturaufnahmen finden sich. Sie lassen ein bestimmtes kompositorisches Schema erkennen, und die nun folgende steht nicht allein in Eichendorffs Werk.
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Vgl z. B. Joseph von Eichendorff, Werke, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1966, S. 611, 761, 1089, 1197; die Stellen ließen sich beliebig vermehren. Aus dem Leben eines Taugenichts, ebd., S. 1063.
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Draußen aber ging der herrlichste Sommermorgen funkelnd an allen Fenstern des Palastes vorüber, alle Vögel sangen in der schönen Einsamkeit, während von fern aus den Tälern die Morgenglocken über den Garten herauf klangen.9
Es geht etwas Frisches, Freudiges, auch Feierliches von dieser Landschaft aus. Das rührt schon daher, dass die einzelnen Elemente – der Sommermorgen, das Vögelgezwitscher, die Glocken – einen evokativen Wert haben. Aber die Aneinanderreihung stimmungshaltiger Ausdrücke allein macht noch nicht den Zauber dieses Bildes aus, das spürt man. Und ein Vergleich zeigt, dass Eichendorff an anderer Stelle auch Vorstellungen einsetzt, die nichts Harmonisches haben. So hört man in einem schönen, waldigen Revier einen „Eisenhammer“ und wiederholt ist „Hundgebell“ zu vernehmen, Klänge, die doch eher kakophonisch sind. Trotzdem bleibt der Reiz erhalten.10 Gesagt ist damit schon, dass Eichendorff vermehrt akustische Eindrücke aufnimmt. Gleich zwei sind es hier, nämlich der Vogelgesang und das Glockenläuten. Bemerkenswert daran ist, dass deren Quelle unsichtbar bleibt. Mit den Tönen verbindet sich demnach keine klar umrissene optische Vorstellung. Auffallend ist ein weiteres Merkmal; das ist der sehr eigenwillige Umgang mit dem Begriff „Sommermorgen“. Es handelt sich hierbei nicht um eine schlichte Personifizierung, denn die temporäre Bestimmung verwandelt sich nicht in ein körperliches Wesen, etwa in eine jungendlichen Gestalt. Aber die Tageszeit legt sich auch nicht auf die Landschaft, die als das Bleibende nur eine momentane Veränderung erführe. Der Morgen wird vielmehr in sie hineingezogen, und die Zeitbestimmung ist ein Teil von ihr. Ebenso ungewöhnlich ist die Verwendung des Wortes „Einsamkeit“. Wie das Adjektiv „schön“ deutlich macht, ist mit ihm kein Zustand gemeint, auch nicht der Aufenthaltsort von einem, der für sich lebt. Die Angabe, die sonst immer nur gebraucht wird in Bezug auf die Verfassung von Menschen, hat sich davon gelöst. Sie wird absolut gesetzt und ist eine Ortsangabe. Wie schon im Fall des Sommermorgens wird auch dieses Abstraktum, und das heißt: etwas Ungreifbares, ein Teil der Landschaft. Und wenn man sich nun andere Substantive anguckt, die doch als Dingwörter ein beharrendes Element sind, so verflüchtigten sich auch die. Das bewirkt der Gebrauch des Plurals, von den „Vögeln“ und den „Tälern“ tritt keines sichtbar in Erscheinung, und die „Morgenglocken“ gehören zu keiner bestimmten Kirche. Vol9 Genommen aus der Erzählung Viel Lärm um nichts, ebd., S. 1191. 10 Richard Alewyn hat die aufgeführte Landschaft sehr eingehend untersucht; vgl. Eine Landschaft Eichendorffs, in: Jost Schillemeit (Hg.), Interpretationen Bd. IV, Frankfurt/M. 1966, S. 196ff; die Eichendorff- Darstellung referiert Alewyns Ergebnisse, aber nur, was den rein philologischen Teil betrifft. Den darüber hinausgehenden Schlussfolgerungen kann man sich nicht anschließen. Das liegt daran, dass Alewyn mit einem geradezu abenteuerlichen Raumbegriff operiert.
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lends die Verben geben zu erkennen, worauf die Komposition überhaupt hinauswill: es funkelt, singt und tönt. Und die ganze Gegend löst sich auf in Licht, Klang, Bewegung. Aber diese Bewegung hat nichts Gewaltsames, nichts Hastiges und Plötzliches. Sie ist leicht und schwebend, ein körperloses Dahingleiten. Und daher rührt das Zauberische. Anders als etwa die Landschaft Stifters ist die Eichendorffs nicht aus Dauerhaftem und Festem gefügt. Sie ist auch nicht angelegt auf Anschaulichkeit. Das jedoch ist nicht als Mangel zu begreifen. Die Aufhebung der Konturen, der materiellen Schwere wird hier gerade zum Prinzip gemacht. Die Zeit, das zeigt schon das Verhältniswort „während“ an, ist das eigentliche Element dieser Schilderung. Sie rückt nicht in sich ruhende landschaftliche Komponenten nebeneinander, sondern setzt Verläufe in Beziehung. Das Sichtbare tritt zurück, und angesprochen ist eher das Ohr als das Auge. Das kehrt auch darin wieder, dass Eichendorff die nächtlichen Szenerien liebt; sie finden sich bei ihm in einer Häufigkeit wie sonst bei keinem: eine vom Mond nur wenig erhellte Gegend, in der sich die Geräusche der Nacht – das Rauschen und Wispern und ferner Hörner- oder Gitarrenklang – vernehmen lassen. „Der Mond schien prächtig, von den Bergen rauschten die Wälder durch die stille Nacht herüber, manchmal schlugen im Dorfe die Hunde an, das weiter im Tale unter Bäumen und Mondschein wie begraben lag.“11 Und wenn der Gesichtssinn den Menschen abzieht von sich und ihn hinlenkt auf das Äußere, auf seine Umgebung, die die Aufmerksamkeit fesselt, so sprechen die Töne das Innere an. Es ist der Gegensatz von Raum und Zeit, der hier zum Tragen kommt. Und in Anlehnung an Kant könnte man sagen, dass die Wahrnehmung des Raumes der „äußere Sinn“, die der Zeit der „innere Sinn“ ist. Das Seelenvolle von Eichendorffs Landschaft kommt daher, dass sie sich an das Innere wendet. Anders gesagt: sie ist Musik. Das wird unterstützt durch den ausgeprägten Rhythmus dieser Prosastücke. Und wer sich einmal die Mühe macht, sie zu skandieren, wird das leicht nachvollziehen können. Natürlich ergeben sich dabei keine gleichmäßigen Metren wie in der Lyrik. Aber ein Gespür für den Fluss der Sprache, für Pausen und Tempi lässt sich überall heraushören. Und Eichendorff spricht selbst das Losungswort aus, wenn er von der „leisen Musik“ in einer Gegend redet.12 Sie begleitet seine Helden auf ihren Wanderungen und bildet den Hintergrund der Erzählungen. Sie wird immer wieder angeschlagen. Und die kurzen über das Werk verstreuten Landschaftsstücke geben nicht, wie häufig üblich, die in die Natur projektierte Gemütslage einer Person wieder. Sie wirken 11 A.a.O., S. 1087. 12 Ebd., S. 1027.
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wie Impromptus, die eine große Melodie immer wieder aufnehmen. Und die ist das stets gegenwärtige Walten der Natur. So sehr auch die Welt tönt, es ist doch vornehmlich das Auge, das sie erschließt, ein Sachverhalt der durch die Anthropologie der Sinne beglaubigt wird. Orientierung verschafft vor allem der Gesichtssinn.13 Diese in der Biologie des Menschen verhaftete Disposition hat selbstverständlich Auswirkungen auf die Beschreibung. Sie gibt hauptsächlich optische Eindrücke wieder. Dergleichen ist seit jeher Bestandteil der Dichtung, etwa in der Form, dass ein Schauplatz vorgestellt wird. Aber nicht nur da erfüllt die Beschreibung eine wichtige Funktion. Sie ist auch ein Stück Gebrauchsliteratur. Die Wissenschaft greift auf sie zurück zur Identifizierung und Registrierung eines Tatbestandes. Und in der Antike gehört sie auch zur Rhetorik. Das ergibt sich schon aus der Notwendigkeit, einen Sachverhalt oder einen Fall darzulegen, wie das vor allem in der Gerichtsrede, aber auch in den anderen beiden Formen, die die Antike kennt, in der politische Rede und in der Lobrede (epideiktische Rede) erforderlich ist. Natürlich kann sich der Orator nicht mit einer nüchternen Bestandsaufnahme begnügen. Er will seine Zuhörer beeindrucken und überzeugen. Deshalb muss er sich an gewisse Regeln halten, wie sie die Schulen und Lehrbücher der Rhetorik explizieren. Verständlich muss er eine Sache darbieten, klar und anschaulich. Was das letzte betrifft, so soll der Vortragende dem Auditorium etwas „vor Augen rücken“, verlangt Aristoteles in seiner Rhetorik. Und er lässt sich in diesem Zusammenhang eingehend über die Arten der Metapher und deren Einsatz aus.14 Hier wird offenkundig, dass es Überschneidungen zwischen der Rede- und der Dichtkunst gibt, wie sie ja auch zwischen der Literatur und der Wissenschaft bestehen. Die Beschreibung, in der spätantiken Rhetorik, griechisch Ekphrasis oder seltener Hypotyposis, lateinisch Descriptio oder Evidentia genannt, findet sich also in allen drei Gebieten und selbstverständlich auch in der Alltagssprache. Bei allen Gemeinsamkeiten existieren doch gravierende Unterschiede, was sich aus den unterschiedlichen Funktionen und Zielsetzungen der Deskription erklärt.15 Für sie kann vieles zum Gegenstand werden: Waffen, Geräte, Menschen, Ereignisse, Abläufe, Lokalitäten und Naturansichten. Ein Sonderfall ist die Bildbeschreibung, die 13 Vgl. dazu z.B. Konrad Lorenz, Das Wirkungsgefüge der 1atur, a.a.O., S. 228ff; ähnlich Helmuth Plessner, Philosophische Anthropologie, Frankfurt/M. 1970, S. 200ff. 14 Rhetorik, Buch III, Kp. 10–11. 15 Eine erste Orientierung zum Thema Beschreibung (Wortbedeutung, Beschreibung in Wissenschaft, Rhetorik und Literatur) gibt Hans Christoph Buch, Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács, München 1972. In neuerer Zeit hat man sich wieder Fragen der Beschreibungskunst zugewendet; vgl. den Sammelband Gottfried Böhm/Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995.
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in der Kunstgeschichte nach eigens entwickelten Methoden vorgenommen wird. Die Literatur hat nun Formen der Ekphrasis herausgebildet, indem sie sich an bestimmten Mustern orientierte. Diese fand sie bei Homer. Vorbildlich wurde die Darstellung des Achillesschildes im 18. Gesang der Ilias; Lessing erörtert daran im Laokoon die Möglichkeiten einer sprachlichen Erfassung der gegenständlichen Welt. Und Schule hat weiter die Homerische Landschaft gemacht, wie sie vor allem die Odyssee als locus amoenus entwirft. Das wurde immer wieder aufgenommen, noch Goethe und Jean Paul variieren dieses Thema; und seit Homer hat die Naturschilderung einen festen Platz in der erzählenden Literatur. Die Beschreibung hat keine eigenständige literarische Gattung begründet. Naturgemäß ist sie ein wesentliches Element der Epik. Aber auch Gedichte können mehr oder weniger umfangreiche deskriptive Passagen aufweisen. Gleichwohl spricht man von einer ‚Beschreibungsliteratur‘. Sie definiert sich durch eher äußerliche Merkmale. In den narrativen Formen tritt die Handlung zurück gegenüber ausgiebigen Schilderungen, worunter vor allem Naturdarstellungen zu verstehen sind. Diese Dichtung ist also ausgesprochen ‚handlungsarm‘, wie man gesagt hat. Die Bukolik und Anakreontik zählt dazu, die Idylle und der Hirtenroman, in ihrer antiken Ausprägung durch Autoren wie Theokrit und Vergil und in ihrer neuzeitlichen Weiterentwicklung bei Tasso, Guarini bis hin zu Opitz oder Gleim.16 Mit der Etablierung des Romans als anerkannte Form der Dichtung gegen Ende des 18. Jahrhunderts bildet sich eine besondere Erzählweise heraus, bei der die Deskription nicht ein untergeordnetes Element ist, eines, das lediglich der Handlung dient, sondern das selbst einen Eigenwert beansprucht. Arno Schmidt kommt sogar zu der Auffassung, dass das Verhältnis von Fabel und Beschreibung ein Trennungsmerkmal für „zwei große Schulen“ der Literatur abgebe. Die eine setzt auf Dramatik, auf die Erzählung einer Geschichte, die möglichst turbulent und ereignisreich sein soll, die andere wendet sich eher unspektakulären Themen zu und bildet Zustände und Alltagserscheinungen, Orte und Dinge ab. Die großen Schilderer der Natur gehören selbstverständlich zur zweiten Richtung, Jean Paul und Adalbert Stifter und Arno Schmidt selbst.17 Dabei handelt es sich aber keineswegs um eine deutsche Eigenheit. Schriftsteller wie etwa James Fenimore Cooper oder Gustave Flaubert ließen sich hier einordnen. Zur Beschreibungsliteratur zählt insbesondere die sogenannte ‚malende Poesie‘ des 18. Jahrhunderts. Vom Genre her ist sie dem Lehrge16 Zur antiken Naturdarstellung vgl. die Bemerkungen über Homer, Theokrit, Vergil und Plinius im ersten Kapitel; auch über Thomson ist da etwas zu finden. 17 Näheres im Kapitel über Arno Schmidt.
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dicht zuzuschlagen, und sie enthält mehr epische als lyrische Elemente. Thomson spielt bei dieser Richtung eine führende Rolle; im Deutschen sind vor allem Brockes, Haller und Ewald von Kleist zu nennen. Die Beschreibung muss bestimmten Anforderungen wie der der sachlichen Richtigkeit genügen. Was von ihr aber vor allem erwartet wird, ist Anschaulichkeit. Sie rückt damit in die Nähe des Bildes oder hat sogar selbst bildhafte Qualitäten. Ihr Synonym ‚schildern‘ heißt ursprünglich ‚ein Schild bemalen‘, dann ‚etwas mit Wörtern ausmalen‘. Das Barock versteht in Anlehnung an das Niederländische unter ‚Schilderei‘ ein Gemälde. Und in der Poetik der Zeit dient der Begriff zur Kennzeichnung der dichterischen Beschreibung im Unterschied zur wissenschaftlichen.18 Dahinter steckt offensichtliche die Überzeugung, dass man mit Worten Ähnliches ausrichten kann wie mit bildnerischen Darstellungen. Diese Auffassung vertrat schon die Antike. Plutarch überliefert einen Spruch des griechischen Dichters Simonides von Keos, nach dem „die Malerei eine stumme Poesie und die Poesie eine redende Malerei sei.“ Allgemeingut wurde die Forderung des Horaz, dass die Dichtung der Malerei nacheifern solle: „ut pictura poesis“. Ob damit tatsächlich die Gleichsetzung von Literatur und bildender Kunst gemeint ist, ist zumindest fraglich. Jedenfalls hat man Horaz so verstanden. In einem Gedicht von Opitz, das an den Maler Strobel gerichtet ist, heißt es: „…der Pinsel macht der Feder, / Die Feder wiederum dem Pinsel alles nach. / …daß euer edles Mahlen / Poeterey, die schweig’, und die Poeterey / Ein redendes Gemähld’ und Bild, das lebe sei.“ Allerdings soll nach Opitz nicht nur die Literatur der Malerei folgen, sondern es gilt auch, was man meist übersehen hat, die umgekehrte Forderung, die nämlich, dass das Bild dichterisch angelegt sein müsse. Gemeint ist damit, dass es darauf ankommt, den geistigen Gehalt einer Vorlage herauszuarbeiten. Gegenstand eines Bildes können überhaupt nur Sujets werden, die eine Botschaft enthalten. Über die Güte eines Bildes entscheidet, ob es die seinem Gegenstand innewohnende Bedeutung äußerlich sichtbar zu machen vermag. Ganz im Sinne traditioneller Ästhetik urteilt Georg Forster, wenn er von der „dichterischen Ausführung“ eines Gemäldes redet.19 So ohne weiteres will die Überführung des einen Mediums in das andere indessen nicht einleuchten. Schon für das unmittelbare Empfinden erscheint das Bild näher an der Wirklichkeit, es ist realitätsgesättigter als der sprachliche Ausdruck, und seinen Reichtum können dürre Worte kaum ausschöpfen. Anderseits ist es gewissermaßen primitiver 18 Nachweise bei Buch, a.a.O., S. 21. 19 Georg Forster, Ansichten vom 1iederrhein, Leipzig 1979, S. 92; die Stelle findet sich im Kp. VII, das Ausführungen über die Düsseldorfer Kunstgalerie enthält; in diesem und den folgenden Kapiteln legt Forster seine ästhetische Theorie dar.
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als Worte. Es mutet weniger intellektuell an, weil es auf der Ebene der Wahrnehmung bleibt und so nicht imstande ist, das Vorgefundene geistig zu durchdringen. Offensichtlich haben beide eine völlig andere Verfassung. Und allenfalls metaphorisch wäre von einer Sprache des Bildes und von einer bildhaften Sprache zu reden. Unausgemacht ist dabei, ob sich die zwei Bereiche strikt trennen lassen. Eher scheint es so zu sein, dass sie aufeinander bezogen sind, dass also das Bild nach Verbalisierung verlangt, wie umgekehrt die Sprache auf Plastizität dringt. Die Gleichsetzung der Künste kann denn auch nur unter bestimmten Bedingungen erfolgen, und erst von daher wird sie verständlich. Diese Bedingungen sind dann gegeben, wenn die Malerei und die Dichtung einen gemeinsamen Bezugsrahmen haben, und das ist bis ins 18. Jahrhundert hinein der Fall. Sie befassen sich mit denselben Gegenständen. Es sind die Inhalte des christlichen Glaubens, der antike Mythologie oder die großen Ereignisse der Geschichte, die ihnen als Themen vorgegeben sind. Die Kunst ist eingebunden in eine umfassende Weltdeutung, die ihr lediglich eine dienende Funktion zuweist. Sie ist demnach nicht frei oder autonom. Für diese Auffassung gibt es keine genuine künstlerische Wahrheit, eine Wahrheit, die sich nur mit artifiziellen Mitteln aufzeigen ließe. Das Kunstwerk ist Ausdruck eines übergeordneten Sinns, dem es eine materielle Gestalt verleiht. Sein Rang bemisst sich daran, in welchem Maße es ihm gelingt, die Mächte und Ereignisse, die die Welt und das menschliche Dasein beherrschen und formen, die Fundamente der kosmischen und moralischen Ordnung beispielsweise oder, christlich gewendet, die Begebenheiten der Heilsgeschichte, darzustellen. Damit ist nicht gesagt, dass nicht auch die niedrige Wirklichkeit, alltägliche Vorkommnisse, gewöhnliche Menschen und triviale Erscheinungen Eingang in die Kunst finden könnten. Aber solche Darstellungen sind doch Genres minderen Ranges vorbehalten. Das ist auch immer eine Frage der Stilhöhe, und nicht nur die Literatur kennt einen hohen und einen niedrigen Stil. Der Schwank und die Posse sind Formen, die die Alltagswelt und die Umgangssprache aufnehmen. Ähnliches leistet auf dem Gebiet der bildenden Kunst die Genremalerei. Ganz so sauber lässt sich freilich das ‚ErhabenTragische‘ vom ‚Alltäglich-Realistischen‘ nicht trennen. Wie Erich Auerbach gezeigt hat, gibt es auch die Erscheinung der „Stilmischung“. Sie ist ein charakteristisches Merkmal christlicher Kunst, für welche die „Inkarnation Gottes in einen Menschen niedrigsten gesellschaftlichen Ranges, sein Wandel auf Erden zwischen niedrig alltäglichen Men-
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schen und Verhältnissen und seine nach irdischen Begriffen schmachvolle Passion“ zu einem wesentlichen Inhalt wird.20 Auch die Naturdarstellung kann sich nicht aus der Bindung an vorgegebene Inhalte lösen. Die Natur ist eben kein Raum unvoreingenommener Beobachtung, wie es das heutige Bewusstsein glauben machen will. Sie ist besetzt mit Bedeutungen; nichts zeigt das deutlicher als ein Blick auf die Geschichte der Landschaftskunst. Die Landschaftsmalerei sei die „entscheidende künstlerische Leistung des neunzehnten Jahrhunderts“, behauptet Kenneth Clark. Er beruft sich dabei auf einen der besten Kenner dieser Materie, auf John Ruskin.21 Nun hat es solche Bilder schon vorher gegeben und obendrein überaus eindrucksvolle; man braucht nur an Claude Lorrain zu denken. Aber es handelt sich hierbei nicht um die Darstellung eines Naturausschnitts um seiner selbst willen. Eine reine Landschaft, das heißt eine ohne jede Staffage, erscheint nur vereinzelt und dann relativ spät in der Kunstgeschichte. Als erstes Bild dieser Art wird ein kleines Gemälde von Albrecht Altdorfer mit dem Titel Donaulandschaft angesehen, das auf 1520 datiert ist. Und als erste topographisch richtige Landschaftsdarstellung gilt Der wunderbare Fischzug des Konrad Witz aus dem Jahre 1444. Die biblischen Erzählungen von Jesu Wandeln auf dem Wasser (Matth. 14, 27–31) und dem erfolgreichen Fischfang der Jünger (Luk. 5, 1–11) fasst der Maler zu einer Szene zusammen und verlegt sie an den Genfer See. Zwar wird die Gegend detailgenau wiedergeben, aber sie ist doch nur ein Rahmen und so angelegt, dass dadurch die hoheitsvolle Gestalt des Heilandes, die im Bildzentrum steht, betont wird.22 Auf Bildern der Renaissance lässt sich verfolgen, wie die Landschaft immer mehr an Platz gewinnt. Zunächst ist sie ganz in den Hintergrund gerückt. Häufig sieht man sie nur durch Fenster wie auf dem Gemälde Madonna des Kanzlers 1. Rolin von Jan van Eyck. Auch hier wird die Aufmerksamkeit ganz auf die heilige Gestalt gelenkt und auf den Vertreter der weltlichen Obrigkeit, der sie anbetet. Aber eigentlich hat man den Eindruck, dass der Maler ganz neugierig ist auf das, was dahinter ist, auf die Umgebung, die hineinschaut durch die hohen Fenster und die sehr sorgfältig ausgeleuchtet ist. Und diese Neugier teilt sich auch dem Betrachter mit. Bei Tizian wird man dann ins Freie geführt; aber die Natur gibt doch nur den Schauplatz ab für den Auftritt von Personen als den eigentlichen Bedeutungsträgern. Sicher, Maler wie Dürer haben wunder20 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 9. Aufl., Tübingen – Basel 1994, S. 44. 21 Kenneth Clark, Landschaft wird Kunst, London 1962, S. 1. 22 Einen kurzen, sehr instruktiven Überblick vermittelt der Aufsatz von Werner Hofmann, Zur Geschichte und Theorie der Landschaftsmalerei, in: Caspar David Friedrich. Katalog zu Ausstellung in Hamburg, München 1974, S. 9ff.
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bare, topographisch genaue Landschaften angefertigt. Aber das sind Aquarelle und nur Studien, noch nicht Werke, die den Anspruch erheben, Kunst zu sein. Und was nun einen der größten Landschafter betrifft, nämlich Claude Lorrain, so gibt es auch bei ihm keine reine Landschaft. Es sind biblische oder mythologische Szenen, die auf seinen Bildern zu sehen sind. Zwar verschwinden die Menschen fast in der großen Natur, aber sie darf nicht für sich selbst sprechen. Ihre Majestät betont nur die großen Gesten der Gestalten aus der Bibel oder aus der klassischen Antike. Es ist auch nicht die römische Campagna, die abgebildet wird. Zwar sind Züge von ihr identifizierbar. Aber was Lorrain schließlich daraus macht, ist eine freie Komposition, die Versatzstücke der Wirklichkeit neu zusammenfügt. Die ‚ideale Landschaft‘, die daraus entsteht, will die Botschaft von einem ursprünglichen, geglückten Dasein verkünden. Solche Ansichten sind angeregt durch die Schriftsteller des Altertums, insbesondere durch Vergil. Was in ihnen aufleuchtet, enthält Züge von Arkadien. Noch beim Romantiker Joseph Anton Koch finden sich vergleichbare Szenen. Zwar kann man nachvollziehen, wie die Natur immer mehr das Interesse auf sich zieht. Aber noch hat sie etwas von dem Zug, Beiwerk, Begleitstimme oder Kommentar zum göttlichen oder menschlichen Geschehen zu sein. Immer noch muss ihr ein Sinn unterlegt werden, der in oder hinter ihren Formen aufscheint. Es ist also noch nicht so weit, dass man sie selbst auf den Betrachter wirken lässt in der unermesslichen Vielheit ihrer Erscheinungen, ihrer Expressionen und Stimmungen. Erst das 19. Jahrhundert kommt dahin, Turner oder Corot beispielsweise. Im Wertesystem der Kunst rangiert die Landschaft lange hinter der uns heute so öde vorkommenden Historienmalerei. Es ist dafür bezeichnend, dass die Ernennung von Caspar David Friedrich zum Mitglied der Dresdener Akademie als etwas Besonderes galt, weil er ‚nur‘ ein Landschaftsmaler war. Nach dem über Jahrhunderte herrschenden Kunstverständnis hat ein Naturgegenstand für sich genommen keinen Sinn. Dieser Auffassung folgt auch die Literatur. Und die ‚emblematische Dichtung‘ des Barock ist als letzte Ausgestaltung einer langen Tradition anzusehen. Sie versteht alles, was in der Natur begegnet, sinnbildlich oder allegorisch. Die Natur ist weder ein geheimnisvoller, dunkler Bezirk wie für das romantische Naturgefühl noch ein offenes, zu enträtselndes Forschungsfeld wie für die empirische Wissenschaft. In ihr ist im Gegenteil alles vorgezeichnet, und sie kann in der Art einer Schrift, die eine feste Semantik aufweist, entziffert werden. Die geläufige Vokabel vom ‚Buch der Natur‘ (liber naturae) fasst die Zeit so auf, dass die physischen Erschei-
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nungen einen literalen Sinn haben.23 Jedes Einzelne hat eine bestimmte Bedeutung. Welcher Text da niedergelegt ist und wer ihn verfasst hat, geht nach Grimmelshausen aus der „Meinung jenes heiligen Mannes hervor, welcher dafür hielt, die ganze weite Welt sei ihm Buchs genug, die Wunder seines Schöpfers zu betrachten und die göttliche Allmacht daraus zu erkennen.“24 Die weltlichen Dinge sind nur Zeichen, die über sich hinausweisen. Sie müssen auf ihren überweltlichen Sinn hin durchsichtig gemacht werden. Und der Weg geht vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. Der sinnliche Eindruck tritt ganz zurück zugunsten des geistigen Gehalts, auf den das Interesse gelenkt wird. Was die Poesie leistet, ist die Umwandlung der bloßen Gegenständlichkeit in Bedeutung. So wird in allem und jedem ein Sinnbild gesehen. Das Verfahren der Allegorisierung führt wiederum der Simplicissimus vor: Sah ich ein stachelicht Gewächs, so erinnerte ich mich der Dornenkron Christi, sah ich einen Apfel oder Granat, so gedachte ich an den Fall unserer ersten Eltern und bejammert denselbigen; gewann ich Palmwein aus einem Baum, so bildet ich mir vor, wie mildiglich mein Erlöser am Stammen des hl. Kreuzes sein Blut für mich vergossen; sah ich Meer oder Berg’, so erinnerte ich mich des einen oder andern Wunderzeichens und Geschichten, so unser Heiland an dergleichen Orten begangen.25
Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Tradition und einer für alle weitgehend verbindlichen Weltsicht ergänzen und kommentieren sich Dichtung und Malerei gegenseitig. Wie sich der Austausch zwischen Text und Bild konkret vollzieht, lässt sich am Beispiel demonstrieren. Das folgende Sonett des Andreas Gryphius ist mit dem Titel Einsamkeit überschrieben. In diser Einsamkeit / der mehr denn öden Wüsten / Gestreckt auff wildes Kraut / an die bemoßte See: / Beschau’ ich jenes Thal und diser Felsen Höh’ / Auff welchem Eulen nur und stille Vögel nisten. / Hir / fern von dem Pallast; weit von des Pövels Lüsten / Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh’ Wie / auff nicht festem Grund’ all unser Hoffen steh’ Wie die vor Abend schmähn / die vor dem Tag uns grüßten. Die Höl’ / der rauhe Wald / der Totenkopff / der Stein / Den auch die Zeit auffrist / die abgezehrten Bein / Entwerffen in dem Mutt unzehlige Gedancken. 23 Die Metapher vom ‚Buch der Natur‘ hat eine überaus lange Geschichte. Sie war aber nicht nur in Gelehrtenkreisen verbreitet. Näheres bei Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1986. 24 Der abenteuerliche Simplicissimus, 2. Buch, 10. Kp. (hrsg. v. Alfred Kelletat, Darmstadt 1978, S. 128). 25 Continuatio 23. Kp.(a.a.O., S. 586.); vgl. dazu Urs Herzog, Der deutsche Roman des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1976, S. 93ff.
114 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung Der Mauren alter Grauß / diß ungebau’te Land Ist schön und fruchtbar mir / der eigentlich erkant / Daß alles / ohn ein Geist / den Gott selbst hält / muß wancken.
Man darf diese Verse nicht als Wiedergabe eines Naturerlebnisses lesen. Es geht in ihnen gar nicht um die Ansicht einer bestimmten Landschaft, auch nicht um deren Stimmungsgehalt. Und das Ich, das hier redet, ist nicht biographisch, sondern exemplarisch zu verstehen. Aufgebaut wird eine Naturszenerie, die alle Merkmale des ‚locus desertus‘ oder ‚locus terribilis‘ aufweist. Wie der ‚locus amoenus‘, die anmutige Natur, zitiert wird, um einen bestimmten Gedanken zu illustrieren, den von der Herrlichkeit der göttlichen Schöpfung, so wird der ‚wüste Ort‘ herangezogen, um die Überzeugung von der Eitelkeit alles Irdischen zu veranschaulichen. Die einzelnen Naturelemente passen nicht einmal zueinander, Wüste nicht zu See und auch nicht zu Wald. Sie sind nur wie Eule, Tal, Höhle, geborstene Mauern und brachliegendes Feld Requisiten, die eben zum locus terribilis gehören. Der Dichter hat sie sich nicht ausgedacht. Sie finden sich, enzyklopädisch aufgelistet, in den allegorischen Handbüchern, Florilegien und Rhetorikanleitungen der Zeit. Ihnen sind festliegende Bedeutungszuordnungen zu entnehmen.26 Die ‚Poeterei‘ ist eine Art gelehrtes Handwerk, dessen Qualität sich danach bestimmt, ob die einzelnen Versatzstücke gekonnt arrangiert sind. Im vorliegenden Fall geht es darum, den christlichen Gedanken von der Nichtigkeit der Welt überzeugend und lebendig auszudrücken. Was es konkret heißt, dass nach der Bibel (Koh. 1,2; 12,8) alles eitel sei, demonstrieren die Beispiele des Verfalls und der Vergänglichkeit. Der abstrakte Begriff wird gewissermaßen körperlich, er wird sinnlich fassbar, dadurch, dass zum Allgemeinen das Besondere assoziiert wird. Eben das ist das Verfahren der Allegorie. Und die Szenerie des Sonetts bietet eine topisch-anschauliche Entsprechung zu der Auffassung von der Erde als einem Jammertal. Die Dichtung macht aus der Landschaft eine allegorische Ansicht oder sie entwirft mit landschaftlichen Versatzstücken eine Allegorie Das Vanitas-Motiv ist auch Gegenstand zahlreiche Gemälde der Barockzeit, die als Radierungen eine weite Verbreitung fanden. Alles, was im Gedicht angeführt wurde, begegnet hier wieder: die Wüste, der verödete Acker, das zerborstene Mauerwerk, selbst die Eule und der 26 Näheres, eine Interpretation des Gedichts sowie weitere bibliographische Verweise finden sich bei Wolfgang Mauser, in: Volker Meid (Hg.), Gedichte und Interpretationen Bd.1. Renaissance und Barock, Stuttgart 1982, S. 231ff. Über die Behandlung der Natur in der emblematischen Barockdichtung vgl. Eckhard Lobsien, a.a.o., S. 21; was Lobsien für die englische Literatur herausarbeitet, lässt sich ohne weiteres auf die deutsche übertragen.
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Salvator Rosa, Democritus in Meditation, Radierung nach einem Gemälde Rosas.
Totenkopf haben sich eingestellt. Im Mittelpunkt sitzt eine männliche Gestalt, die, den Kopf in die Hand gestützt, eine Pose grüblerischer Versunkenheit einnimmt. Sie trägt ein langes, antikes Gewand, eine Art Büßer-Bekleidung. Wen sie vorstellen soll, steht auch fest; es ist dies der Philosoph Demokrit.27 Der zeitgenössische Betrachter, der mit dieser Ikonographie vertraut war, wusste um die Bedeutung solcher Darstellungen; er konnte deren Sinn entziffern und erkennen, was sie ihm mitteilen wollten. Er wäre nicht auf den Einfall gekommen, darin einen Landschaftsprospekt oder eine historisierende Charakterstudie zu sehen. Das Verständnis wurde ihm auch noch dadurch nahegebracht, dass 27 Mauser druckt zwei Radierungen mit diesem Motiv ab. Eine ist nach dem Gemälde Democritus in Meditation des bedeutenden Malers Salvatore Rosa gefertigt; a.a.O., S. 236f.
116 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung
sich teilweise unter den Radierungen eine Inschrift befand; vanitas vanitatum et omnia vanitas ist da zu lesen. Natürlich hatte der Betrachter die entsprechenden Worte – aus der Bibel, aus Predigten, aus der Dichtung – im Ohr, während umgekehrt der Leser das, was die Texte ansprachen, mit den bildnerischen Versionen des Themas verbinden konnte. Die Frage nach der Beziehung von Wort und Bild ist aber nicht allein die, wie sich das Verhältnis von Dichtung und Malerei in der Geschichte entwickelt hat. Sie rührt an die Verfassung des Kunstwerks selbst. Die Begriffe ‚dichterisch‘ und ‚bildnerisch‘ verweisen auf die zwei Bestandteile, die wesentlich zu ihm gehören. Es sind die beiden Pole des Sinnlichen und des Geistigen, welche sich im Kunstwerk verschränken. Nichts anderes drücken die Formeln aus, nach denen die Dichtung bildhaft und die Bilder dichterisch sein sollen. Ebenso wenig wie ein Gemälde ein bloßes Objekt der Wahrnehmung ist, hat eine Dichtung ihr Genügen im reinen Denken. Der sprechende Gehalt und die anschauliche Gestalt gehören wesensmäßig zu beiden. Jedes Kunstwerk, das verbale wie das piktorale, stellt etwas vor die Sinne, aber es geht darin nicht auf. Im realen Gegenstand, im Sichtbaren und Hörbaren, meldet sich etwas, das der Wahrnehmung entgeht, ein Sinn, eine Bedeutung, eine Aussage, eine Gegebenheit also, die nur für den Intellekt fassbar ist. Deshalb ist aber die äußere Gestalt nichts Zufälliges oder gar Überflüssiges. Sie ist nicht nur das Vehikel, um einen geistigen Gehalt zu transportieren, vielmehr ist dieser unlöslich an sie gebunden. Das eine kann nicht ohne das andere sein, und so ist jedes Kunstwerk ein Zweifaches, das aber in eins gesetzt ist. Aus dieser Komplexität, die in der Sache selbst liegt, resultiert der „Rätselcharakter“ aller Kunst.28 Die immanente Spannung, die unaufhebbar in ihrem Wesen begriffen ist, kommt mit unterschiedlicher Akzentuierung in den Bestimmungen der Kunst zum Ausdruck. So sagt Hegel: „Das Sinnliche“ ist in ihr „vergeistigt, da das Geistige in ihr als versinnlicht erscheint“. Oder kurz: sie ist „das sinnliche Scheinen der Idee“.29 Weniger idealistisch, aber auf denselben Sachverhalt zielend, formuliert Adorno: „Schein sind“ die Kunstwerke, „indem sie ihr Inneres, Geist, nach außen setzen.“30 Auch wenn bestimmte Richtungen der modernen Kunst alles Bedeutungsvolle von sich weisen und nur Kombinationen von Materialien sein wollen, so ist zumindest die Konzeption, die hinter dieser An28 So Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, S. 182. 29 Ästhetik, a.a.O., Bd. I, S. 49, 117. 30 Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 166.
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ordnung steht, ein geistiges Moment und hebt die Objekte über die Sphäre des rein Dinghaften hinaus. Nun leuchtet es ohne weiteres ein, dass die Sprachkunst sich mehr der geistigen Seite zuneigt. Wörter sind nicht bloß artikulierte Laute. Ihre Körperlichkeit tritt nahezu ganz zurück hinter ihre Bedeutungshaltigkeit. Und die Versuche, die Dichtung der Musik anzunähern, sie also als reines Klanggebilde auszugeben, sind Episode geblieben. Sprache wurde seit jeher als „Organ der Vernunft, als die Bildnerin menschlicher Gedanken“ aufgefasst.31 In der bildenden Kunst dagegen überwiegt der sinnliche Anteil. Sie wendet sich vornehmlich an die Wahrnehmung. Sie ist so sehr ins Sichtbare getreten, dass es gewöhnlich eines besonderen Aktes bedarf, um den geistigen Gehalt herauszustellen. Welche Formen die Kunst ausbildet, entscheidet sich an ihrer Stellung zur Wirklichkeit. Seit der Antike wird dieses Verhältnis als ‚Mimesis‘ bestimmt. Die Kunst habe danach die Wirklichkeit nachzuahmen. Höchst unterschiedlich war aber, was darunter verstanden wurde. Prinzipiell genommen bestand immer die Frage, ob die sichtbare Welt in ihrer ganzen Fülle, wozu auch das Zufällige, Flüchtige und angeblich Geringfügige gehört, die Wirklichkeit ausmache, oder ob diese nicht dahinter zu suchen sei, im Bereich des Geistigen, in dem, worin das Wesen der Dinge begriffen sei. Gegenüber der Vergänglichkeit der Erscheinungen sei allein das Geistige in sich beständig und müsse deshalb als das wahrhaft Wirkliche angenommen werden; diese Auffassung vertrat das platonisch-christliche Wirklichkeitsverständnis. Unter dessen Zeichen stand die abendländische Kunst über Jahrhunderte. Wenn sich aber die eigentliche Wirklichkeit nicht den leiblichen, sondern nur den geistigen Augen öffnet, gelangt die Kunst in eine prekäre Situation. Sie gerät in den Verdacht, den Menschen von der Wahrheit abzuziehen und ihn in der Sphäre des Scheins und der Täuschung festzuhalten. Andererseits wird ihr aber auch die Fähigkeit zugesprochen, den Menschen hinzuleiten auf die transzendente Wahrheit. Schon bei Platon ist diese Zweideutigkeit der Kunst und des Schönen angelegt. Nur die Vernunfterkenntnis, man könnte dafür sagen: das begriffliche Denken, reicht an die Ideen, an die Urbilder und Muster alles Seienden, während die Sinne allenfalls deren mehr oder weniger schlechte Abbilder zu fassen bekommen. Die Kunst nun als Wiedergabe des Sinnenscheins erstellt Abbilder der Abbilder und ist deshalb in sich nichtig. Zugleich ist aber das sinnlich Schöne auch wieder ein Abglanz des Wahren, und es kann deshalb auf dieses hinführen. Denn die Ideen 31 Johann Gottfried Herder, a.a.O., 22.Bd., S. 167; Herder legt seine Theorie über das Verhältnis der Künste in seiner Schrift Kalligone dar, der die Zitate entnommen sind.
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teilen sich der sichtbaren Welt mit. Sie sind die formalen Prinzipien, nach denen die Materie gestaltet ist. Und gerade die Kunst hat das Vermögen, sie aufzudecken und in ihren Verkörperungen zu ergreifen. Wie das Beispiel Goethes zeigt, kann man mit dem Instrumentarium der Platonischen Philosophie auch zu einer Rechtfertigung der Kunst gelangen.32 Platons Stellung zur Kunst beruht also auf dem Gegensatz zwischen der Sphäre der ‚Noesis‘ (Denken) und der der ‚Aisthesis‘ (Wahrnehmung). Eine ähnliche Konstellation kehrt im Christentum wieder, worin sich natürlich Platonischer Einfluss bemerkbar macht. Das Irdische tritt dem Göttlichen gegenüber, das Diesseits dem Jenseits. Und die Welt gilt als Ort der Sünde und der Gottesferne. Die Kunst ist mit dem Makel behaftet, dass sie den Menschen daran hindert, sich Gott zuzuwenden. Sie befördert die Freude an den weltlichen Dingen. Unter die „Versuchungen des Fleisches“ („concupiscentiae carnis“) zählt Augustinus „die Lust der Augen und der Ohren“ („voluptas oculorum et aurium“). Diese Gelüste werden gerade durch die Künste geweckt und gesteigert, durch „lieblichen, kunstreichen Gesang, Gemälde und verschiedenartige Gebilde des Meißels.“ Aber auch im Christentum kehrt die Zweideutigkeit in der Bewertung der Kunst wieder, die schon bei Platon zu finden war. Die Erde ist auch als göttliche Schöpfung zu begreifen, und in ihrer Schönheit offenbart sich die Güte des Schöpfers. Für Augustinus sind infolgedessen die Kunst, der Wohllaut und die gefällige Gestalt nicht an sich verwerflich, sie sind sogar nützlich, dann, wenn sie die religiöse Verkündigung unterstützten und die Seele zu Gott führen. Verderblich ist die Kunst nur, wenn sie sich verselbständigt und allein der Sinnenlust dient. Augustinus gibt diesen Überlegungen eine charakteristische Wendung. Er sagt nämlich, dass die „heil’gen Worte, wenn sie gesungen werden, unsere Seelen andächtiger und glühender zur Flamme der Frommheit entfachen“.33 Es ist demnach die Botschaft, das ‚Wort‘, das im Zentrum steht, und die ästhetische Gestaltung ist ihm untergeordnet und soll zu seinem Verständnis beitragen. Unter den Bedingungen einer idealistisch orientierten Epistemologie behauptet das Wort einen Vorrang gegenüber dem Bild. Man könnte auch sagen, im Gefüge der Kunst bekommt das Geistige ein Über32 Platons Ablehnung der Kunst findet sich in der Politeia; vgl.10, 605a–605e; 3, 398a– 398b u. 401b–402a; eine positive Bewertung steht im Phaidros 2, 249b. Platons ästhetische Position stellt Hans Robert Jauß dar, in: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1997, S. 90ff. Zu Platon und Goethe vgl. auch die obige Darstellung. 33 Die Zitate stammen aus den Confessiones, liber X, Caput XXXIII, XXXIV. Vgl. zu Augustinus auch Jauß, a.a.O., S. 73f.
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gewicht gegenüber dem sinnlichen Stoff. Das hat Folgen für die künstlerische Praxis. Es reicht nicht, die vorgefundene Realität wiederzugeben. Diese muss ins Ideale überhöht werden. Das künstlerische Vorgehen wird geleitet von dem Bestreben einer umformenden Vergeistigung. Davon geprägt ist selbstverständlich auch die Darstellung der Natur. In ihr wird der Ausdruck hoher, würdiger Denkinhalte gesucht. In der Malerei ist die ‚ideale Landschaft‘ ein Beispiel für solche Bestrebungen. Eine reale Gegend abzubilden ist also gar nicht intendiert. In gleicher Weise will die Literatur nicht eine tatsächlich existierende Szenerie abschildern; auch sie ist dem Ziel einer Transformierung des Wahrnehmbaren ins Sinnbildliche verpflichtet, wie der Hinweis auf die emblematische Dichtung des Barock gezeigt hat. Da nun aber Dichtung wie Malerei ausgerichtet sind auf die metaphysische Wahrheit, fallen ihre Unterschiede nicht ins Gewicht. Sie haben jeweils ihren Teil am Ausdruck vorgegebener Inhalte und können deshalb als Einheit aufgefasst werden. Diese Einheit zerbricht in dem Moment, in dem sich die Künste von weltanschaulichen Prämissen lösen und sich auf ihre eigenen Möglichkeiten besinnen. Damit verbunden ist eine Veränderung dessen, was unter Wirklichkeit zu begreifen sei. Den Wendepunkt markiert Lessings Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie von 1766. Freilich, solche Umbrüche sind keine plötzlichen Ereignisse, sondern Ausdruck längerer Entwicklungen. Und Untersuchungen wie die Lessings finden lediglich einsichtige Formulierungen für Erscheinungen, die sich über größere Zeiträume vorbereitet haben, ohne dass sich davon immer ein klares Bewusstsein herausgebildet hätte. Schon in der Renaissance wird die Sinnenwelt als das eigentlich Seiende ausgelegt. Wirklich ist das, was sich der Erfahrung zeigt. Und im Erkenntnisprozess übernimmt die Wahrnehmung die Führung. Eine ungeahnte Fülle tut sich nun auf, denn auch das Flüchtige, das Alltägliche, das Unscheinbare zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Prinzipiell enthält die Empirie eine unbegrenzte Vielfalt an Gestalten, Phänomenen und Vorgängen. Die Öffnung des Wahrnehmungsfeldes wird in Gang gesetzt durch die Entbindung der ‚theoretischen Neugierde‘. Während die mittelalterliche Theologie die „curiositas“, die Wissbegierde als sündhafte Fesselung ans Irdische unterdrückt, kann sie sich in der Renaissance von dieser Bevormundung lösen.34 Das vollzieht sich in der Abkehr von der christlichen Innenschau, die die Seele auf das Irdische und Göttliche richtet und in der Hinwendung zur äußeren Welt. Und die Schau der Ideen wird ersetzt durch die Beobachtung der einzelnen Erschei34 Hans Blumenberg hat diesen Prozess eingehend untersucht; vgl. Der Prozeß der theoretischen 1eugierde, Frankfurt/M. 1973.
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nungen. Die Ausrichtung an der Erfahrung ist verbunden mit der Entdeckerfreude und der Lust am Schauen. Die sichtbare Welt erschließt sich in ihrer Schönheit, in ihrem Reichtum an Farben und Formen. Unter diesen Voraussetzungen vollzieht sich eine Umstellung in der Rangordnung der Künste, die unter dem Titel „Paragone“, womit der Wettstreit der Künste gemeint ist, vor allem im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts diskutiert wird. Und während vordem die Poesie als künstlerisch höchster Ausdruck des Geistigen einen gewissen Vorrang behauptete, beansprucht nun die bildende Kunst eine Führungsrolle. Sie erhält einen Modellcharakter und die anderen Künste sollen ihr nachstreben. Man könnte auch sagen, von den beiden Seiten der Kunst wird jetzt die der Sinnlichkeit betont. Selbstverständlich ist es nicht so, dass auf einmal christliche, mythologische oder philosophische Motive von den Bildern verschwänden. Wie schon angedeutet, halten sich die traditionellen Themen lange. Das hat zunächst einen sehr banalen Grund. Auch in der Renaissance und in den nachfolgenden Epochen bleibt die Kunst weitgehend abhängig von Auftraggebern. Die kommen vor allem aus der Kirche und aus dem Kreis der Machthaber. Und was die letzteren betrifft, so zeigen sich solche Herrschaften gern im Bunde mit Gott oder den Göttern. Entscheidend aber ist, dass die offizielle Thematik oft nur wie ein Vorwand wirkt, um sich ausgiebig mit den Erscheinungen der sichtbaren Welt auseinandersetzen zu können. So werden an den biblischen Gestalten die Gesetze der Anatomie und der Perspektive erprobt. Und neben der religiösen Szenerie zieht eine andere die Aufmerksamkeit auf sich, die der Natur. Bereits im 15. Jahrhundert erweitert ein Maler wie Mantegna die Möglichkeiten der Perspektive, indem er Heiligenfiguren mit extremer Auf- und Untersicht von einer verblüffenden Virtuosität schafft. Das bedeutet nicht, dass die Künstler als Gegner des Glaubens oder der Kirche aufgetreten wären. Auch diese Werke können Zeugnisse einer innigen Frömmigkeit sein. Nur eben, die Einstellung hat sich gewissermaßen umgedreht. Es wird nicht ein vorgefasster Inhalt illustriert, sondern der Ausgangspunkt ist die Empirie, und ihr muss sich die Thematik anbequemen. Die antike Bestimmung, nach der Kunst ‚Mimesis‘ sei, hat weiterhin Gültigkeit. Sie bekommt nun aber eine andere Bedeutung. Verstanden wird darunter die Nachahmung der empirischen, nicht der ideellen Wirklichkeit. Im weiteren Verlauf dieser Entwicklung wird es darum gehen, den Daten der Wahrnehmung einen Sinn abzugewinnen. Auch der Künstler, der sich ans Sichtbare hält, wird das Vorgefundene verändern, er wird Verfahren der Steigerung, der Selektion, selbst der Idealisierung einsetzen. Denn auch die an der Empirie ausgerichtete Darstellung ist Kunst, und das heißt, sie will
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nicht die kruden Fakten widerspiegeln, sondern sie will eine Vergeistigung des Sinnlichen bewirken. Die Überlegenheit der bildenden Kunst, das heißt die Tatsache, dass es ihr weit früher als der Literatur gelingt, die natürliche Welt nuanciert wiederzugeben, ist durchaus bemerkt worden, ohne dafür zureichende Gründe angeben zu können.35 Während die illusionistische Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts bereits eine große Meisterschaft in der Erfassung landschaftlicher Gegebenheiten entwickelt, das betrifft vor allem die Behandlung der räumlichen Dimensionen, des Lichts und der Farben, fallen solche Darstellungen noch in der Literatur des 18. Jahrhunderts undifferenziert und schablonenhaft aus, selbst bei einem so glänzenden Prosaisten wie Christoph Martin Wieland. Der übliche Hinweis auf Lessings Laokoon und die Grenzen der Dichtung und der Malerei reicht zur Erklärung nicht aus. Was im übrigen die Beziehung der Künste im Allgemeinen anlangt, so beeinflussen sie sich selbstverständlich gegenseitig; das belegen schon die zahlreichen Bilder mit literarischen Motiven. Und selbstverständlich sind Dichtung wie Malerei immer auch ein Ausdruck ihrer Zeit. Daraus folgt aber noch nicht zwangsläufig eine Gleichheit hinsichtlich der Aussagen und der künstlerischen Intentionen. Es ist durchaus möglich, dass sich in einem bestimmten Zeitraum die Künste unterschiedlich entwickeln, worüber umfassende Epochenbezeichnungen meist hinwegtäuschen. Jedenfalls ist immer zu überprüfen, inwiefern charakteristische Merkmale der einen auf die andere übertragbar sind. Ein Werk wie etwa Wellen von Eduard von Keyserling mit dem malerischen ‚Impressionismus‘ in Verbindung zu bringen, ist nur dann sinnvoll, wenn sich das im einzelnen nachweisen lässt. Vage Parallelen haben keinen Erkenntniswert. Richtig verstanden kann es indessen überaus förderlich sein, das eine mit dem anderen zu vergleichen. Wie es zur vollen Erschließung eines Bildes gehört, dessen etwaige poetische und religiöse Bezüge aufzudecken, so kann das Wissen um kunstgeschichtliche Sachverhalte zur Erklärung von Werken der Dichtung einen wesentlichen Beitrag liefern. Und in Bezug auf die Adaption der landschaftlichen Natur ist es sogar unerlässlich, dass man zum Verständnis der Literatur auf die bildende Kunst zurückgreift. Es muss noch hinzugefügt werden, dass es hier immer um erzählende Literatur und verwandte Formen geht, denn selbst bei den dichterischen Gattungen gibt es Unterschiede. Das Naturgedicht hat eine ganz andere Geschichte als die Naturbeschreibung. Schon früh, schon im Mittelalter ist es entwickelt. In ihm spricht sich ein Naturgefühl aus, für das es im Epos nichts Vergleichbares gibt. Der 35 So z.B. Ernst Bertram, Studien zu Adalbert Stifters 1ovellentechnik, Dortmund, 2.Aufl., 1966, S. 56f.
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Unterschied, um das wenigstens anzudeuten, hat damit zu tun, dass das Naturgedicht im Mittelalter wesentlich Preis der göttlichen Schöpfung ist, wofür in späterer Zeit ‚Natur‘ eingesetzt wird. Die hymnischen Formen, in denen sich das kundtut, haben ihr Vorbild in den biblischen Psalmen und Lobpreisungen. So ist diese Poesie vor allem Ausdruck der Empfindungen, die die Größe und die wunderbare Ordnung der Schöpfung oder der Natur dem Menschen eingeben. Das ist aber etwas ganz anderes als die Erfassung des Raumes, die Schulung des Blicks für die Ferne und die Entwicklung des panoramatischen Sehens. Dergleichen setzt erst spät ein, erst in der Renaissance, und seinen literarischen Niederschlag findet es, was sehr bezeichnend ist, nicht in den eigentlich dichterischen Genres, nicht in der Novelle und nicht im Epos, sondern im Brief und in eigens hervorgebrachten Formen der Beschreibung, worüber noch zu reden sein wird.36 Es war Leonardo da Vinci, der den Vorrang der Malerei in der Hierarchie der Künste begründet hat. Seine Ausführungen sind nicht nur von historischem Interesse. Sie haben darüber hinaus ihre Bedeutung für die Bestimmung des Verhältnisses von Wort und Bild bewahrt.37 Das Auge ist nach Leonardo das Organ, welches die Welt aufschließt. Geradezu hymnisch feiert er seine Leistungen. Sie sind das Fundament aller Wissenschaften und Künste. Das Auge ist das „Fenster des menschlichen Körpers“. Es ist ihm zu verdanken, dass der Geist Kontakt aufnehmen kann mit der ganzen Welt. Schon die Form des Augapfels, die eine Analogie zum Kosmos darstellt, deutet darauf hin. „Das Wissen“ des Auges „ist unumstößlich“, und das Sehvermögen wird mit dem Intellekt nahezu gleichgesetzt.38 Die Bilder, die die Augen vermitteln, begründen die Erfahrung, aus der alle Erkenntnis stammt. Sie, die Erfahrung, bezeichnet Leonardo als „gemeinsame Mutter aller Wissenschaften und Künste.“39 Das prinzipiell Neue dieser Auffassung, tritt erst hervor, wenn man berücksichtigt, wogegen Leonardo damit Front macht. Er richtet sich gegen die Buchgelehrsamkeit, nicht etwa nur gegen die ältere, die Scholastik, sondern auch gegen die 36 Vgl dazu das Kapitel Die Entdeckung der landschaftlichen Schönheit aus Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 1976, S. 274ff. 37 Die folgenden Erörterungen beziehen sich auf die unter dem Titel Das Buch von der Malerei (Trattato della pittura) bekannten Aufzeichnungen und Fragmente Leonardos. Eine von ihm selbst geplante Veröffentlichung kam nicht zustande; spätere Herausgeber haben daraus Sammlungen zusammengestellt. Vieles ist unvollständig geblieben, manches verdorben und auch der ursprüngliche Zusammenhang lässt sich oft nur vermuten. Leonardos Gedanken sind vor allem als Anregungen zu lesen. Eine neuere Edition hat André Chastel besorgt und kommentiert, Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, München 1990. 38 So vor allem ebd., S. 137f. 39 Ebd., S. 205.
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der eigenen Zeit, den Humanismus. Er selbst hebt ausdrücklich hervor, dass er kein „Humanist“ sei.40 Und er schreibt auch nicht lateinisch, sondern in seiner Muttersprache, in Italienisch. Das ist keineswegs lediglich eine biographische Notiz, sondern gehört zur Sache, die er vertritt. Es sind nicht die Schriftkundigen, die die Wahrheit ergründen, sondern Leute wie er: Techniker und Künstler. Darin bekundet sich das epochale Bewusstsein einer neuen Wissenschaft. Und Leonardo berührt sich hier mit 1ikolaus von Kues, bei dem auch ein Handwerker, nicht ein Schulphilosoph den richtigen Weg zur Erkenntnis darlegt.41 Die Erfahrung beschränkt sich nicht auf die Hinnahme dessen, was sich dem Auge zeigt. Sie besteht vielmehr aus verschiedenen Teilen, und die Autopsie ist nur der Ausgangspunkt. Das Gesehene wird weitervermittelt an den ‚sensus communis‘ („Sammel- und Urteilsvermögen“), um dort mit anderen Wahrnehmungen abgeglichen zu werden. Wie das geschieht, darüber finden sich keine Angaben. Gemeint ist aber offensichtlich die geistige Verarbeitung der Sinnesdaten. Die entscheidende Neuerung bringt aber der Teil, der den Prozess der Empirie zum Abschluss bringt. Er beruht auf einem Tun. Die bis dahin gewonnene Einsicht muss umgesetzt werden, entweder in eine technische Hervorbringung, Leonardo redet von „Mechanik“, oder in eine Zeichnung. Man könnte sagen, wirklich erkannt ist ein Sachverhalt erst dann, wenn es gelingt, ihn zu rekonstruieren. „Hand und Geist“ müssen also zusammenwirken, um zu einer gültigen Erkenntnis zu kommen. Und seine Beglaubigung findet ein auf diese Weise erlangtes Wissen nicht durch die Berufung auf Autoritäten, also auf irgendwelche Autoren oder Bücher, sondern allein dadurch, dass seine Richtigkeit vor Augen geführt werden kann. Bei der Lektüre Leonardos lässt sich unmittelbar nachvollziehen, wie sich das die neuzeitliche Wissenschaft beherrschende Prinzip einer methodisch geleiteten Erfahrung allmählich herausbildet. Was er formuliert, ist nämlich nichts anderes als eine besondere Version des Experiments.42 Die Vermutungen über einen bestimmten Sachverhalt werden überprüft und verifiziert, indem man diesen selbst herzustellen versucht. Die Erkenntnis ist also verknüpft mit der Rekonstruktion eines fraglichen Zusammenhanges. Das kann auf zweierlei Weise geschehen, durch eine technische Realisation oder durch eine künstle40 So z.B. ebd., S. 126. 41 Das deutet schon der Titel eines seiner Werke an: Idiota de mente (Der Laie über den Geist). 42 Zur Erfahrung vgl. Leonardo, a.a.O., S. 140, 135, 62, 284. Die Formel Geist und Hand erinnern an die Bestimmung des Experiments von K.F. v. Weizsäcker, nach der dieses eine Synthese von Philosophie und Handwerk ist; vgl. die Ausführungen im vorigen Kp.
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rische Abbildung. Was die erste Möglichkeit betrifft, so kommt dafür z.B. der Bau eines Modells in Frage, und man muss sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass Leonardo ein genialer Konstrukteur war. Höher schätzt er aber die zweite Möglichkeit ein, schon deshalb, weil sie universaler ist. Sie beruht darauf, dass die gesamte Wirklichkeit mit artistischen Mitteln erkundet wird. Es ist die Kunst, die die wahren Verhältnisse herausstellt. Sie erfasst nicht nur isolierte Tatsachen, wie sie im Modell oder im Experiment erprobt werden, sondern auch noch die Nuancen, die Übergänge und den Einzelfall. Ihre Aufgabe besteht in der Sichtbarmachung. Erst in der Tätigkeit des Abbildens, erst dadurch, dass das Reale noch einmal erschaffen wird, können die Bedingungen seiner Existenz einsichtig gemacht werden. Eine besondere Stellung wird dabei der Zeichnung zugewiesen. Sie ist das „Grundprinzip“ der Malerei, und darüber hinaus gibt sie auch die Basis ab für die übrigen Künste, Wissenschaften und Handwerke; für sie alle liefert sie die Entwürfe und die Anleitung für die Durchführung eines Werks. In Leonardos Verständnis ist die Malerei eine „Wissenschaft“. Und mit ihr untersucht er Fragen wie beispielsweise die nach der Struktur des Raumes, nach dem Wesen der Farbe, nach dem Verhältnis von Licht und Schatten, nach der Beziehung von Anatomie und Ausdrucksgebärde; und es sind zwei große Aufgabenfelder, die die Malerei zu bearbeiten hat: den natürlichen und den menschlichen Kosmos.43 Die mimetische Angleichung ans natürlich Gegebene, die das Bild vollbringt, darf aber nicht auf ein unverstandenes Imitat hinauslaufen. Gefordert ist vielmehr eine geistige Durchdringung der Vorlagen. Wobei zunächst generell zu sagen ist, dass die Nachahmung ein Verfahren des Lernens und der Erkenntnisgewinnung ist. Derjenige, der einen Menschen nachmachen will, muss sich in ihn hineinversetzen können; dadurch begreift er etwas von seinem Wesen. Noch jede gelungene Parodie ist eine Erfassung der Eigenart des Parodierten. Und selbst eine Abbildung, die sich sklavisch an das Original hält, vermittelt eine Einsicht in einen Sachverhalt. Das mimetische Vorgehen ist zudem eine Methode der Exploration, es legt Eigenschaften, Bezüge und Verhältnisse des Realen offen. Und weiter hat es die Funktion, Eindrücke festzuhalten und zu konservieren. Bei Leonardo ist aber noch mehr damit gemeint, nämlich die Freilegung der konstitutiven Bedingungen der sichtbaren Welt. Was ihr zugrunde liegt, sind mathematische Bestimmungen. Es sind Zahlenverhältnisse und Maße, die den Kosmos durchwalten. Leonardo gebraucht dafür den Begriff der „Proportionalität“ („proportionalità“), der für ihn eine zentrale Bedeutung hat.44 Die 43 Vgl. Leonardo, a.a.O., S. 135f, 173. 44 Ebd., S. 142.
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Ordnung der Welt fußt auf dem Zusammenstimmen genau bemessener Größen, ganz so wie der menschliche Körper dadurch eine Einheit bildet, dass seine Glieder in einer zahlenmäßig angebbaren Relation zueinander stehen. Die wohl bekannteste Zeichnung Leonardos gibt dafür das Grundbeispiel ab: ein Mann, dessen ausgestreckte Arme und Beine sich in einen Kreis und in ein Quadrat einfügen, die übereinandergelegt sind. Die mathematischen Beziehungsgrößen machen jedoch nur einen Teil der Wirklichkeit aus; sie sind nur eine Abstraktion, so etwas wie eine formale Struktur, ein Gerüst oder Skelett. Das Erscheinungsbild der Dinge muss hinzukommen, um die volle Wirklichkeit zu erreichen. Sie ergibt sich aus dem Zusammenwirken der beiden Aspekte, des inneren und des äußeren. Beide bestehen nicht unabhängig voneinander. Was sich unter der Oberfläche abspielt, zeichnet sich auf ihr ab, und im Äußeren spiegeln sich die internen Verhältnisse wider. Die Malerei muss sich auf der Kenntnis beider Bereiche gründen. Sie kann die sichtbare Erscheinung nur richtig wiedergeben, wenn sie über das, was sich dahinter verbirgt Bescheid weiß. So kann man die Haltungen und Bewegungen, den Ausdruck und die Mimik von Menschen nur dann wahrhaft erfassen, wenn man sich auf den inneren Aufbau des menschlichen Körpers versteht. Leonardo selbst hat Leichen seziert und seine anatomischen Blätter sind ein imposantes Zeugnis dieser Studien. Ein anderes Beispiel wäre die Darstellung der Landschaft. Sie basiert auf einer Konstruktion des Raumes. Das ist eine Sache der Geometrie, von Operationen nach den Gesetzen der Perspektive. Zu einem Anblick der natürlichen Welt ist man damit noch nicht gelangt. Aber ohne diese Konstruktion wären die Beziehungen und die Stellungen der Erscheinungen im Raum allenfalls mangelhaft aufgefasst. Daraus zu schließen, die Essenz der Dinge liege in rein quantitativen Bestimmungen, verbietet sich aber nach Leonardo. Das liefe auf einen Reduktionismus hinaus, der die eine Seite der Wirklichkeit überhaupt nicht gewahrt, die nach der sie den Menschen anspricht, ihn anzieht und seine Gefühle erweckt. Es ist das, was die Fülle des Lebens ausmacht und was die Malerei festhalten will. Leonardo sagt dazu einfach „Schönheit“. Das Lächeln ist noch etwas anderes als die Kontraktion von Gesichtsmuskeln, es ist unendlich viel mehr; es ist geheimnisvoll, betörend und beglückend wie das der Mona Lisa. In ihrem Aussehen, in ihren Posen und Stellungen bekunden die Gestalten der Wirklichkeit ihren Daseinszweck. Das heißt, sie sind beseelt, und das gilt nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Naturerscheinungen. Und dies ist die Seite der Wirklichkeit, nach der sie Ausdruck, Expression ist. Das Sezieren und Analysieren, die mathematischen Berechnungen, so notwendig sie sind, reichen nicht an diese Dimension. Die Strukturen, die dadurch
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aufgedeckt werden, sind eigentlich tot. Ins Dasein treten sie erst in der individuellen Verkörperung, in den unendlichen Gestaltwerdungen, die das Spiel des Lebens darstellen. Leonardo ist die Verwunderung darüber anzumerken, dass sich das menschliche Skelett bei Dicken wie bei Dünnen in nichts unterscheidet. Leonardos Wissenschaft der Malerei ist ausgespannt zwischen den Polen der Abstraktion und Konkretion, der Zergliederung und der Gestaltwahrnehmung. Ihr Rang besteht darin, dass sie die beiden Hinsichten der Wirklichkeit verbindet. In der weiteren Entwicklung der neuzeitlichen Epistemologie fallen diese auseinander. Es etabliert sich eine analytische, mathematisierte Wissenschaft, die über die Bedeutung der sichtbaren Welt nichts zu sagen weiß. Die Außenansicht der Dinge überlässt sie der Kunst, die ihre Erkenntnisfunktion verliert und nur noch emotionale und dekorative Bedürfnisse befriedigt. Gegenüber dieser generellen Tendenz haben sich die Versuche, eine an der Anschauung und an der lebensweltlichen Sicht ausgerichtete Wissenschaft zu begründen, nicht behaupten können. Gleichwohl gehören beide Seiten, der Innenaspekt und der Außenaspekt, zur Wirklichkeit. Eine Besinnung darauf hat in der Biologie des 20. Jahrhunderts stattgefunden. Einer ihrer Vertreter, Adolf Portmann, gebraucht das Bild des Theaters, um die Lage des Forschers kenntlich zu machen. Einmal kann er sich als Betrachter vor der Bühne aufhalten und den Sinn des Geschehens zu ergründen suchen. Er ist dann mit den mannigfaltigen Formen befasst, mit den Expressionen, Posen, Figurationen und Rhythmen des Lebendigen. Von dieser Warte aus versteht sich die Wissenschaft, gemeint sind vor allem die Zoologie und die Botanik, als „Formenkunde“ oder „Morphologie“. Sie erfordert eine dem künstlerischen Blick verwandte Sichtweise. Die andere Möglichkeit liegt darin, hinter die Bühne zu gucken und die Mechanismen, die die Schaustellung benötigt, freizulegen. Dann werden die vitalen Gestalten aufgelöst, und die Lehre vom Lebendigen wird als Biochemie, Biophysik oder Molekularbiologie betrieben.45 Die Kunst ist nach Leonardo integrierender Bestandteil der auf der Erfahrung sich gründenden Wissenschaft. Wie sich dem Auge die Wirklichkeit öffnet, so wird das Gesehene begriffen in der künstlerischen Rekonstruktion und durch sie. Die Kunst ist eine zweite Schöpfung, aber eine, die vom menschlichen Geist hervorgebracht wurde. Dieser ist „ein Abbild des göttlichen Geistes“ und wie er begabt mit der Kraft der Erfindung. Auch hierin begegnen sich Leonardo und Cusanus, und man sieht, wie zwei führende Vertreter einer Epoche unabhängig voneinander ähnliche Gedanken entwickeln. Diese Bestimmun45 Adolf Portmann, An den Grenzen des Wissens, Frankfurt/M. 1976, S. 29ff.
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gen sind indessen hauptsächlich bezogen auf die Malerei. Sie steht an der Spitze der Künste. Und im Paragone, im Wettstreit der Künste, rangiert sie noch vor der Bildhauerei, schon deshalb, weil letztere die Vielfalt der verschiedenartigen Farben nicht ausdrücken kann und Licht und Schatten nicht selbst hervorbringt. Sie generiert zudem von sich aus keine perspektivische Sicht der Welt. Diese Argumentation lässt etwas von den Maßstäben erkennen, die Leonardo anlegt. Gemessen wird eine menschliche Kunstfertigkeit an dem kreativen und investigativen Potential, das in ihr steckt. Und was das betrifft, so steht die Dichtung weit unter der Malerei, denn von den beiden ist nur die zweite daran beteiligt, die wahren Zusammenhänge der Wirklichkeit aufzudecken. Sie verfügt dazu über die operativen Mittel und Techniken, man braucht nur an die konstruktive Kraft des Zeichnens zu denken; sie nennt Leonardo eine „universale Enthüllerin“. Die Dichtung dagegen ist selbst nicht produktiv, sie kann nur wiedergeben, was die anderen Wissenschaften herausgefunden haben, sie „stiehlt“, sagt Leonardo geringschätzig. Diese Insuffizienz hängt damit zusammen, dass sie nicht wie die Malerei in der Lage ist, ein naturgetreues Abbild der Dinge vor Augen zu führen. Sie erreicht nur das Ohr und appelliert damit lediglich an die „Einbildung“. Was die Worte an jemanden herantragen, muss dieser von sich aus zur anschaulichen Gegebenheit bringen. Er muss selbst eine Vorstellung des Gesagten erzeugen. Anders das Bild, nur dieses verbürgt Authentizität. Es wendet sich gleich an das Auge und gibt die Realität direkt wieder, während der sprachliche Ausdruck diese nur indirekt erfasst und erst über das Ohr zum Auge gelangt. Hinter dieser Argumentation steckt Leonardos Überzeugung, dass die Wirklichkeit mit der sichtbaren Welt gleichzusetzen ist. Entsprechend nehmen die „sichtbaren Künste“ eine Vorrangstellung ein und das gesamte Wissensgebäude wird von daher neu aufgebaut. Worauf aber Leonardos Überlegungen hinauslaufen, ist etwas, wofür ihm noch die Begriffe fehlen. Der Unterschied zwischen der Malerei und der Literatur beruht darauf, dass es sich beim Bild und beim Wort um völlig andere Arten der zeichenhaften Vermittlung von Sachverhalten handelt. Darüber später mehr. Jedenfalls legt Leonardo die Gründe klar dar, warum bei der Naturdarstellung die Malerei gegenüber der Literatur einen Vorsprung gewinnen konnte. Sie ist erstens der Erfahrung und der Beobachtung verpflichtet. Sie vermag sich damit zweitens aus geistigen und religiösen Traditionen zu befreien. Sie ist drittens das Medium, das die Seheindrücke, welche die Welt des Menschen aufbauen, am besten erfassen kann. Im praktischen Teil seiner Ausführungen, also in dem, der einzelnen Fragen der Malerei gewidmet ist, gibt Leonardo Anleitungen für die Landschaftsmalerei, die ohne jeden allegorischen oder sinnbildlichen Bezug auskommen und die dem reinen Sehen ab-
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gewonnen wurden. Er beschäftigt sich da mit den Farben der Berge in der Ferne oder mit dem Aussehen der Bäume und der Wolken.46 Neben den drei genannten Gründen gibt es einen vierten, der eine Sonderstellung einnimmt, schon deshalb, weil er immer wieder angeführt wurde, nicht zuletzt von Lessing. Er bezieht sich auf ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal der Künste, darauf, dass die Dichtung die Zeit, die Malerei den Raum zu ihrem Element hat. Auch hierin liegt für Leonardo ein Vorzug der letzteren. Es ist die Eigenart der Literatur, dass sie ihre Gegenstände in einem Nacheinander entfalten muss. Sie reißt damit auseinander, was eigentlich zusammengehört. Und während sie bei einem Teil ist, ist der vorhergehende schon nicht mehr vorhanden und, so muss man hinzufügen, der nachfolgende noch nicht. Das betrifft sowohl die Herstellung als auch die Aufnahme von Literatur. Wer sie verstehen will, muss das bereits Gesagte behalten und muss zudem vorauseilen an das vermutliche Ende, um die Passage, bei der er gerade ist, einordnen zu können. Es entsteht ein Zirkel des Verstehens. Aber das sind Fragen einer literarischen Hermeneutik, die hier nicht zu erörtern sind. Imgleichen muss der Autor sich darüber Gedanken machen, wie er eine Einheit aus aneinandergereihten Elementen hervorbringen kann. Das wird besonders deutlich bei einer Beschreibung, zum Beispiel bei der einer Landschaft, und solche Beispiele hat wohl auch Leonardo im Sinn. Wie kann es gelingen einen Gesamteindruck zu erzeugen, wo doch immer nur das eine nach dem anderen ausgeführt werden kann? Im Unterschied dazu stellt der Maler einen Betrachter vor eine Ansicht, die alle Teile auf einmal darbietet. Er zeigt seinen Gegenstand „ganz“ und „gleichzeitig“. Die Ganzheit erreicht er in zweierlei Hinsicht. Einmal so, dass er nicht separierte Aspekte präsentiert, sondern ein fertiges, in sich geschlossenes Gebilde. Immer kommt also das Werk als Ganzes in den Blick. Und sodann lässt er sehen, wie sich die Glieder zu diesem Ganzen verhalten. In einem Zug werden also der Sinn der Gesamtkomposition und der Sinn der einzelnen Teile, aus denen diese besteht, herausgestellt. Ihre ontologische Grundlage hat diese Konzeption in der Annahme, dass die Gestalten der Wirklichkeit eine ihnen eingepflanzte Ordnung haben. Die gibt vor, wie die Teile aufeinander bezogen sein müssen, damit sie ins Dasein treten und sich im Dasein halten können. Es verhält sich damit so wie bei einem Organismus, wie beim menschlichen Körper zum Beispiel. Die Zuordnung der Glieder und der verschiedenen Organe muss stimmen, damit er lebensfähig ist. Die Dinge streben also einer bestimmten Form zu, und erkannt sind sie, auch die in statu nascendi, wenn sie vom Stadium ihrer Vollendung her begriffen werden. Sie finden ihre Erfüllung in dem 46 Vgl. Leonardo, a.a.O., S. 271–280.
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Ziel, das in ihnen angelegt ist. Das erinnert natürlich an den EntelechieGedanken des Aristoteles. Für Leonardo ist es aber der Künstler, vor allem der Maler, der die Proportionen der Dinge und damit ihr Wesen erfasst und sichtbar macht.47 Die Darlegungen Leonardos nehmen eine überraschende Wendung. Er, der der Literatur kaum zutraut, die natürliche Welt adäquat wiederzugeben, beginnt selbst zu schriftstellern. Gemeint sind nicht die Sonette, von denen wir nur Berichte kennen und die er wohl für bestimmte Gelegenheiten gedichtet hat; auch nicht die Fabeln und kleinen Humoresken, von denen eine Anzahl überliefert ist.48 Was hier in Betracht kommt, ist der Umstand, dass sich Leonardo mit philologischen Fragen auseinandergesetzt hat. Erkennbar ist in diesen Studien das Bemühen, sich Rechenschaft zu geben über die Ausdrucksfähigkeit der Sprache, insbesondere über die der italienischen. Er lässt sich dabei von dem Grundsatz leiten, den auch seine übrigen Untersuchungen bestimmen: Auch das Wort muss an die sichtbare Erfahrung gebunden sein, und er überprüft, inwiefern das vorhandene sprachliche Material geeignet ist, Sachverhalte zu erfassen. Die Philologie ist für ihn also mehr als die Exegese überlieferter Texte, auf die sich der humanistische Literaturbetrieb weitgehend beschränkt hatte.49 Schließlich nimmt er ins Buch über die Malerei Prosastücke auf, die sich wie Szenarien lesen. Zu nennen wären vor allem Die Insel der Venus, Wie eine Schlacht darzustellen ist und Die Beschreibung der Sintflut. Skizzen und Zeichnungen sind in sie eingefügt, so dass die Wörter durch bildnerische Elemente ergänzt werden. Konzipiert sind diese Arbeiten wohl auch als Vorlagen für Gemälde. Deren „in gewissem Sinne filmisches Wesen“ überstiege allerdings die Möglichkeiten der Malerei, wie der Herausgeber André Chastel zu Recht bemerkt. Tatsächlich hat Leonardo die Übertragung einer dieser Schilderungen in ein Gemälde in Angriff genommen; es ist das nicht zu Ende gebrachte über die Schlacht von Anghiari.50 Was Leonardo entwickelt, ist eine völlig neuartige Kunst der Beschreibung, die über das hinausgeht, was man in seiner Zeit unter Dichtung verstand. Sie besticht durch die minutiöse, nuancierte Wiedergabe von Bewegungen und Abläufen. Einen „hohen, literarischen Rang“ billigt ihr Chastel zu. Aber von einer „amüsanten Rache des Geschriebenen über das Bild“ zu
47 Vgl. ebd., S. 140–146. 48 In dem Sammelband Leonardo da Vinci. Das Leben eines Genies, Wiesbaden/ Wien 1955, der Beiträge von italienischen Experten vereinigt, sind diese kleinen Stücke abgedruckt; s. S. 215ff. 49 Vgl. dazu den Beitrag von Luigi Sorrento, Die Philologie Vincis, ebd., S. 215ff. 50 Die Stücke und die entsprechenden Zeichnungen sind zu finden a.a.O., S. 185ff.
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sprechen, nimmt diesen Arbeiten ihr bestes, nämlich Erkundungen über das Verhältnis von Wort und Bild zu sein.51 Wenn, was die vormoderne Ästhetik behauptet und was Leonardo immer wieder hervorhebt, wahre Kunst ‚Nachahmung der Natur‘ ist52, dann bedeutet für sie die Darstellung der Bewegung eine Herausforderung. Prozesse sind nun einmal für die Natur konstitutiv. Dem muss auch eine Weltsicht Rechnung tragen, die im Grunde genommen einen statischen Naturbegriff hat. Sie nimmt an, dass nichts Neues generiert wird. Es sind die ewigen Verlaufsgesetze und Formen, die das kosmische Geschehen bestimmen. Die der Natur innewohnende ungeheure Dynamik, dies, dass sie in ständiger Veränderung begriffen ist, spricht nicht gegen diese Annahme. Die Formel Goethes dafür lautete: „Alles ist neu und doch immer das Alte.“53 Erst im 19. Jahrhundert beginnt sich eine andere Überzeugung durchzusetzen. Sie ist verbunden mit der Evolutionstheorie und dem Namen Darwin. Nun gewinnt der Faktor Zeit eine zentrale Bedeutung. Diese fundamentale Umstellung des Weltbildes wirkt sich auch auf die Kunst aus. Sie wird gewissermaßen verzeitlicht, mit einer sich steigernden Tendenz. Die Bilder Claude Lorrains wirken zeitlos. Ein Abendhimmel steht über der Landschaft, wie er immer über ihr gestanden hat. Dagegen wollen die Maler der naturalistischen Richtungen Ort und Zeit genau registrieren. Der Blick auf den Jardin du Luxembourg des Jacques Louis David hält nur diese bestimmte Stunde fest. Und John Constable sucht die wechselnden atmosphärischen Bedingungen einer sich ständig verändernden Natur einzufangen. Im Impressionismus verschwimmen die Ansichten vollends zu relativen, flüchtigen Momenten.54 Die vordarwinistische Epoche richtet dagegen ihr Augenmerk auf das, was Bestand hat, auf die bleibende Form. Dafür steht bei Leonardo der Begriff der Proportion. Aber das ergibt noch keine Antwort auf die Frage, was es mit den fließenden Teilen der Natur auf sich hat, mit dem Wasser, dem Wind, den Wolken, mit den unsteten Spielen des Lichts, den Launen des Wetters, dem Wechsel der Jahres- und Tageszeiten und mit der Fortbewegung der Körper. Gerade diesen inkonstanten, oszillierenden Erscheinungen, die sich einem Zugriff immer wieder entziehen, wendet sich Leonardo zu. Als Naturforscher und Ingenieur beschäftigt er sich mit der Luft und dem Wasser. Er gewinnt Erkenntnisse über den 51 52 53 54
Vgl. ebd., S. 173f. So ebd., S. 139, 161, 164, 169, 206, 213f, 223. Aus dem Fragment Die 1atur, a.a.O., Bd. XIII, S. 45. Einzelheiten bei Erich Steingräber, Zweitausend Jahre europäische Landschaftsmalerei, München 1985, S. 327ff, S. 343ff. Über die Hintergründe der Dynamisierung des Lebensgefühls äußert sich Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1975, S. 928ff.
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Luftdruck und den Auftrieb, und er ergründet, auch experimentell, die Strömungsgeschwindigkeiten in Fließgewässern sowie die Bildung von Strudeln und Wellen.55 Die Ergebnisse dieser Forschungen gehen ein in die künstlerische Arbeit oder richtiger: sie sind von ihr gar nicht zu trennen, denn die beobachteten Phänomene sind nur zu erfassen durch artifizielle Mittel. Und nun ergibt es sich aus der Sache, dass Leonardo gezwungen ist, zur Beschreibung überzugehen, denn nur diese vermag eine Folge darzustellen, ist aufnahmefähig für das Nacheinander, etwas, das die bildnerische Wiedergabe nicht zuwege bringt. In ihr erstarren die Bewegungen, die das Auge registriert. Und es ist nur ein Moment, den sie fähig ist festzuhalten. Allerdings kann das der entscheidende Moment sein, also der, in dem ein Geschehen kulminiert. Ein Beispiel wäre die Zeichnung einer Welle. Sie zeigt das Wasser in einem Zustand, in dem es sich zu einer bestimmten Form aufgetürmt hat. Gewiss, das ist nur ein Durchgangsstadium. Wie die Welle sich vorher formiert hat, so wird sie ein wenig später umschlagen. Aber sie strebt doch einer charakteristischen Gestalt zu, und es ist genau diese, welche die Zeichnung festhält. Das erlaubt, sie von anderen Wellen zu unterscheiden, und der Erkenntnisgewinn wäre der, dass man auf diese Weise zu einer Typologie von Wellen kommt. In der Beschreibung liest sich das folgendermaßen: „Wenn aber die Wellen an verschiedene Gegenstände stoßen, dann schnellen sie zurück über die herannahenden nächsten Wellen, wobei ihre gekrümmte Bewegung auf dieselbe Weise zunimmt, wie wenn sie ihre bereits begonnene Bewegung zu Ende geführt hätte.“56 Das Bild hält den Prozess an, darin verfehlt es die Wirklichkeit. Allenfalls kann es andeuten, dass die Dinge im Fluss sind. Es muss dann so angelegt sein, dass der Betrachter in die Lage versetzt wird, sich vorzustellen, was vorangegangen ist und was folgen wird. Er muss sich also das Regungslose zurück übersetzen in die Verlaufsform. Und das Bild kann nur an sein Vorstellungsvermögen appellieren. Die sprachliche Wiedergabe ist dem Bild darin überlegen, dass sie fähig ist, ein Geschehen zu dokumentieren. Aber wie dieses hat auch sie einen entscheidenden Mangel. Der optische Eindruck ist in ihr nämlich nur indirekt präsent. Auch sie muss an das Vorstellungsvermögen des Rezipienten appellieren. Der Text kann nur auf Visuelles verweisen. Zwar lenkt er bis zu einem gewissen Grad die Einbildungskraft des Lesers oder Hörers, aber die Bilder muss dieser sich doch selbst aus55 Der angeführte Sammelband bringt Beiträge zu diesen Thema; vgl. Sebastiano Timpanaro, Die Physik Vincis, a.a.O., S. 209ff; Carlo Zammattio, Hydraulische und nautische Studien, ebd., S. 467ff. 56 Buch von der Malerei, a.a.O., S. 192; vgl. die Zeichnungen S. 191, 322; Sammelband, S. 460–466, S. 471ff.
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staffieren. Nur annähernd entsprechen sie dem, was dem Verfasser vor Augen stand, sie sind also nicht authentisch, und sie variieren nach der individuellen Aufnahme. Das Vorgehen Leonardos besteht nun darin, dass sich Schilderung und Zeichnung gegenseitig erläutern. Das bildgebende Verfahren überlässt es nicht der Phantasie des Rezipienten, sich einen optischen Eindruck der tatsächlichen Gegebenheiten zu verschaffen, ebenso wenig wie die verbale Notierung es ihm überträgt, sich die Phasen eines Prozesses auszudenken. Um eine Einsicht ins Tatsächliche zu vermitteln, bedarf es der Ergänzung von Bild und Wort, und die deskriptiven Wissenschaften wie die Geografie, wohl wissend um die Schwächen des einen wie des anderen, bedienen sich beider Verfahren. Wobei unter ‚bildgebend‘ auch Landkarten und dergleichen zu verstehen sind.
Leonardo da Vinci, Die Schlacht von Anghiari, Kopie von Peter Paul Rubens, Louvre, Paris.
Es gibt in der bildenden Kunst verschiedene Möglichkeiten der Bewegung und damit der Zeit beizukommen. Angefangen damit, dass die Sukzession in die Simultaneität aufgehoben wird. Man sieht dergleichen auf mittelalterlichen Fresken. Da werden die sich ablösenden Phasen einer Geschichte einfach nebeneinandergestellt und in einem Bild vereinigt. ‚Erzählende Bilder‘ nennt das die Kunstgeschichte, und viel-
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leicht sind sie weniger naiv, als sie uns heute anmuten. Wieder anders erscheint die Zeit, wenn auf sie durch Symbole wie Sanduhren oder Totenschädel hingewiesen wird. Das welke Blatt und die faule Frucht im Stillleben haben die gleiche Funktion. Diese traditionelle Ikonographie der Vergänglichkeit setzt aber ein erhebliches Vorverständnis beim Betrachter voraus, und sie ist auch deshalb unbefriedigend, weil die gezeigten Gegenstände in der Bewegungslosigkeit verharren. Die Frage ist, ob die Zeit nicht mit rein malerischen Mitteln dargestellt werden kann. Das ist allerdings ein paradoxes Unterfangen, denn dass das Bild statisch ist, ist überhaupt nicht in Abrede zu stellen. Wie alle Künste des Disegno, wie die Architektur, die Bildhauerei und die Graphik gehört auch die Malerei zu einer Kunst des Raumes, im Unterschied zu einer der Zeit, welche die Dichtung, die Musik und den Film umfasst. Die scheinbar unmögliche Aufgabe ist demnach die, Bewegung in das seinem Wesen nach Statuarische zu bringen. Von einer Zeitstruktur des Bildes kann indessen durchaus gesprochen werden, allerdings nur unter der Bedingung, dass man den Betrachter einbezieht. Nun steht das Kunstwerk nie für sich; es ist immer berechnet auf einen Rezipienten. Aber dessen Aktivität wird doch unterschiedlich gefordert. Die Darstellung des Wandels nun muss verstärkt auf seinen Beistand setzen. Wie die Aufgabe gelöst werden kann, wurde bereits mit dem Hinweis auf Leonardos zeichnerische Behandlung der Welle angedeutet. Eine größere Herausforderung ist die Darstellung eines Ereignisses, bei dem mehrere Abläufe, Intentionen und Reaktionen ineinander greifen. Ihr stellt sich Leonardo mit dem Gemälde der Schlacht von Anghiari.57 Die unterschiedlichen Handlungen, die Körperbewegungen und Haltungen von Menschen und Pferden, den aufwirbelnden Staub und die Lichtreflexe komponiert Leonardo zu einem überaus dynamisch wirkenden Tableau. Es zeigt den entscheidenden Moment des Kampfes, den, in welchem die eine Partei die Oberhand gewinnt und der Ausgang sich abzuzeichnen beginnt. Die Besiegten schicken sich an zu fliehen, und die Sieger drängen nach, nun schon ihres Triumphes gewiss. Der Zeitpunkt wird festgehalten, in dem sich das Geschehen gewissermaßen zusammenzieht. Er lässt Rückschlüsse darauf zu, was ihm vorausliegt und was folgen wird. Es ist dies kein beliebiger Zeitpunkt, kein bloßes Durchgangsmoment. Vielmehr ist er herausgehoben aus der Folge gleicher Zeitatome; diese überragt er an Bedeutung. Er ist der Wendepunkt, die kurze Zeitspanne, in der ein Prozess den ihn bestimmenden Impuls 57 Dieses ist, wie schon gesagt, nicht fertig gestellt worden. Zahlreichen Vorstudien dazu und die Kopie von Rubens finden sich in dem zitierten Sammelband, a.a.O., 129–137, 508. Ergänzt werden sie durch die Beschreibung einer Schlacht, Buch von der Malerei, a.a.O., S. 185ff.
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bekommt. Im Unterschied zum verschwindenden, vorübergehenden temporären Bruchstück hat man ihn als ‚Augenblick‘ bezeichnet, als Augenblick der Wahrheit oder der Entscheidung, als Fülle der Zeit. Er ist das, wofür das Griechische das Wort NDLURV(Kairos) geprägt hat. In dieser exklusiven, nichtalltäglichen Bedeutung hat der Terminus eine lange Tradition. Im religiösen Sprachgebrauch bezeichnet er den besonderen Moment der Bekehrung oder der göttlichen Erleuchtung, in dem alles neu wird. Und in der Philosophie markiert er das Element der Dauer im kontinuierlichen Fluss der Zeit. Kierkegaard definiert ihn folgendermaßen: Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren, und damit ist der Begriff Zeitlichkeit gesetzt, allwo die Zeit fort und fort die Ewigkeit abriegelt und die Ewigkeit fort und fort die Zeit durchdringt. Erst jetzt erhält jene besprochene Einteilung ihre Bedeutung: die gegenwärtige Zeit, die vergangene Zeit, die zukünftige Zeit.58
Abgesehen davon, dass den Formulierungen die religiöse Abkunft anzumerken ist, enthalten sie eine fundamentale Aussage über das Wesen der Zeit. Diese kann man nicht begreifen als stetige Abfolge von Jetztpunkten. Man muss aus dem unaufhörlichen Vergehen herausgehoben sein und Phasen des Wandels überblicken, um überhaupt von Zeit reden zu können. Eben das leistet der Augenblick, und durch ihn konstituieren sich erst die zeitlichen Ekstasen, erst durch ihn gibt es eine Gegenwart, von der aus sich die Vergangenheit und die Zukunft öffnen. Diesen Zusammenhang wird auch von den Theoretikern der Zeit in unterschiedlicher Weise ausgedrückt. So sagt Aristoteles: Erleben wir… nur ein einziges Jetzt und entweder keine Abfolge von Bewegungsphasen oder auch den Jetztpunkt nicht als identischen Punkt zwischen einer früheren und einer späteren Prozessphase, dann haben wir nicht den Eindruck, es sei Zeit verstrichen, weil wir auch nicht den Eindruck haben können, es sei ein Prozess vor sich gegangen.59
In der bildenden Kunst erscheint der Augenblick als das Stadium eines Geschehens, in dem eine Gestalt erkennbar wird. In dieser verdichtet sich ein Prozess. Sie ist das, was bleibt, die Fluktuation gewinnt Dauer, ganz so wie die Welle eine typische Form annahm. Von diesem Schnittpunkt aus lässt sich eine Entwicklung ausmachen. In ihm ereignet sich die simultane Präsenz eines Vorher und Nachher oder die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.60 Dadurch gewinnt die Zeit Ein58 Der Begriff Angst, Gesammelte Werke, 11. u. 12. Abt., Düsseldorf 1958, S. 90f. 59 Physikvorlesung, IV, 10. 60 So der Kunsthistoriker Hans Holländer. Er redet von ‚Augenblicksbildern‘ und findet sie bei Leonardo, aber auch bei Rembrandt und anderen. Vgl. Augenblicksbilder. Zur Zeit-Perspektive in der Malerei, in: Christian W. Thomsen/Hans Holländer (Hg.), Au-
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gang in die Kunst. Aber es ist der Betrachter, der die Sukzession herstellen muss. Er verlängert gewissermaßen den Augenblick, zurück in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft. Erst in seinem Bewusstsein entsteht eine Entwicklungslinie. Diese anzuregen, ist die Leistung des Bildes. Es löst beim Betrachter der Schlacht von Anghiari eine Vorstellung vom ganzen Verlauf des Treffens aus. Und natürlich wird dabei auch sein Wissen über die historischen Umstände abgerufen. Obwohl also die bildende Kunst Darstellungsweisen entwickelt, durch die sie aufnahmefähig wird für die Zeit, so bleibt sie darin doch sehr beschränkt, und was die Auseinandersetzung mit Leonardo gerade zeigt ist, dass sich die bildhafte und die sprachliche Erfassung ergänzen müssen, dass die eine auf die andere verweist. Lessing nimmt die Vorstellung einer aus dem gleichmäßigen Dahinfließen herausgehobenen Zeitspanne auf. In der Form des „fruchtbaren Augenblicks“ dient sie ihm als wichtiges Kriterium, um die bildende Kunst von der Dichtung abzuheben. Erstere kann das „Transitorische“, wie er es nennt, also das bloß Vorübergehende nicht verwenden, deshalb nicht, weil ihr alles zur Dauer gerinnt. Ein Durchgangsstadium, etwas, das nur das Stück eines Weges ist, bekäme eine ihm nicht gebührende Bedeutung. Und eine flüchtige Erscheinung gewinnt den Status des Endgültigen. Ein Lachen beispielsweise erstarrt zur Grimasse, es wirkt dann völlig unangemessen und widernatürlich, ja abstoßend. Das Transitorische ist etwas für die Dichtung, denn sie begreift es als das, was es ist, als Teil einer Entwicklung, von der her es seinen Sinn empfängt. Der bildende Künstler unterliegt ganz anderen Bedingungen, er kann „von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick …brauchen“. Und dieser darf nicht zufällig oder nur nebensächlich sein. Er muss den Extrakt eines Vorgangs enthalten. Deshalb kann er „nicht fruchtbar genug gewählet werden“. Der „prägnanteste“ Moment ist zu finden, und das ist der, „aus dem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.“61 Die LaokoonGruppe dient Lessing zur Demonstration seiner Auffassung. Aber Lessing bewertet den Augenblick anders als die neuere Kunstgeschichte. Nicht wie diese sieht er darin die Möglichkeit, das Problem der Zeit mit artistischen Mitteln anzugehen, sondern er nimmt dies als Beleg dafür, dass die bildende Kunst nur darzustellen vermag, was die Dignität der Dauer hat. Ihr ist es nicht gegeben, den Wandel auszudrücken. Und daraus folgt, dass sie allein das Räumliche und das Nebeneinander adäquat wiedergeben kann, während das Zeitliche und genblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaft, Darmstadt 1984, S. 175ff. 61 Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, 6. Bd., München 1974, S. 25, 103.
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das Nacheinander das Gebiet der Dichtung ist. Diese Aufteilung wird gestützt durch eine Erörterung über die Beschaffenheit der Zeichen, deren sich beide Künste bedienen. Die Malerei verwendet „Figuren und Farben im Raume“, und ist deshalb befähigt, „Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren“ zu erfassen. Die Zeichen der Poesie dagegen bestehen aus „artikulierten Tönen in der Zeit“ und gehen auf Gegenstände, „die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen“. Die Unterscheidung fällt zusammen mit der zwischen „natürlichen“ und „willkürlichen Zeichen“. Als ‚natürlich‘ kann das Bild deshalb gelten, weil es in einem Verhältnis der Ähnlichkeit zum Dargestellten steht. Der Baum auf dem Gemälde entspricht dem in der Landschaft. Anders liegen die Dinge in der Sprache. Das Wort hat nichts von dem bezeichneten Gegenstand an sich; ebenso gut hätte man eine andere Lautkombination wählen können; es muss deswegen ‚willkürlich‘ heißen.62 So sehr auch Lessings Trennung, nach der „die Zeitfolge … das Gebiet des Dichters, … der Raum das Gebiet des Malers“ ist,63 einleuchtet, so sind doch seine Ausführungen über die Zeichen weniger überzeugend, denn über die Qualität der sprachlichen scheint er sich im Unklaren zu sein. Im veröffentlichten Text des Laokoon werden sie durchweg als „willkürlich“ ausgegeben. In späteren Erläuterungen zu seiner Schrift, welche ein Brief an 1icolai enthält, soll die Dichtung hingegen auch über „natürliche Zeichen“ verfügen. Damit sind nicht nur die onomatopoetischen oder lautmalerischen Wörter gemeint. Nach Lessing gibt es vielmehr eine Staffelung der Symbole, die der Literatur zu Gebote stehen, bis sie schließlich dahin gelangt, natürliche Zeichen zu gebrauchen. Daraus ergeben sich Kriterien für die Bewertung der Kunst. Wie die Malerei ihr Bestes gibt, wenn sie sich auf das beschränkt, was sich mit optischen und räumlichen Mitteln, also mit den für sie ‚natürlichen Zeichen‘ darstellen lässt, so gelangt auch die Dichtung zu ihrer höchsten Bestimmung, wenn sie sich an das hält, was einzig durch Worte ausgedrückt werden kann, wofür diese also die ‚natürlichen Zeichen‘ abgeben. Die entscheidende Passage lautet: Die Poesie muss schlechterdings ihre willkürlichen Zeichen zu natürlichen zu erheben suchen; und nur dadurch unterscheidet sie sich von der Prose, und wird Poesie. Die Mittel, wodurch sie dieses tut, sind der Ton, die Worte, die Stellung der Worte, das Silbenmaß, Figuren und Tropen, Gleichnisse usw. Alle diese Dinge bringen die willkürlichen Zeichen den natürlichen näher; aber sie machen sie nicht zu natürlichen Zeichen: folglich sind alle Gattungen, die sich dieser Mittel bedienen, als die niedern Gattungen der Poesie zu betrachten; und die höchste Gattung der Poesie ist die, welche die willkürlichen Zei62 Ebd., S. 102f; zu den Begriffen natürlich bzw. willkürlich s. S. 52, 56, 96, 109. 63 Ebd., S. 116.
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chen gänzlich zu natürlichen Zeichen macht. Das ist aber die dramatische; denn in ihr hören die Worte auf, willkürliche Zeichen zu sein, und werden natürliche Zeichen willkürlicher Dinge.64
Lessing gibt dazu keine weiteren Erklärungen ab, und so bleibt offen, wie das genau zu verstehen ist. Man kann sich aber in Fortführung von Lessings Gedanken fragen, was denn die Reden, die Dialoge und Monologe im Drama ausdrücken. Und das sind die Gedanken und Gefühle der agierenden Personen, ihre Absichten und Motive. Sie erklären, begründen, rechtfertigen und entschuldigen ihre Handlungen und Haltungen. Die dramatische Rede ist Expression eines Innerseelischen, und die Worte wären die natürlichen Zeichen, und das heißt die adäquaten Repräsentanten psychischer Vorgänge. Der Laokoon hat durchaus seine polemischen Passagen. Wogegen sich Lessing wendet, sind die Übergriffe der einen Kunst auf das Gebiet der anderen. So ist die Dichtung nur in eingeschränktem Maße fähig, eine Ansicht wiederzugeben, einfach deswegen, weil das Medium der Sprache das nicht hergibt. Hierin ist das Gemälde nicht zu überbieten. Es den Malern gleichtun zu wollen, verurteilt Lessing als „Schilderungssucht“. Der Vorwurf richtet sich vor allem gegen die sogenannte „malende Poesie“. Die ausgiebigen Naturschilderungen eines Haller, die die Zeitgenossen so begeisterten, hält er für nicht sonderlich geglückt. An ihnen moniert er, dass sich keine Vorstellung des Ganzen einstellen will. Denn weil die Literatur genötigt ist, einen Teil nach dem anderen vorzuführen, sei beim letzten Zug der erste schon vergessen, während beim Bild auch die schon betrachteten Teile ständig präsent seien. Obendrein bezweifelt er, dass bei einem Leser die zitierten Naturdinge zur anschaulichen Gegebenheit kämen, wenn er sie nicht schon aus eigener Erfahrung kenne. Besser kommt ein anderer Vertreter dieser Richtung, Ewald von Kleist, weg. Bei ihm lobt Lessing das Bemühen, weniger Bilder, als vielmehr die Empfindungen, die mit den Bildern verbunden sind, wiederzugeben. Hierin bekundet sich abermals Lessings Auffassung, die er allerdings nirgendwo klar formuliert: Nicht die äußeren Objekte sind Gegenstand der Dichtung, sondern deren Wirkung auf die Seele. Der Beschreibungsliteratur will er ihre Berechtigung nicht absprechen, sie kann durchaus Nützliches leisten, aber sie zählt doch zu den niedrigen Gattungen der Poesie, zur „Prosa“ und zur „dogmatischen“ oder Lehrdichtung, und ist Dichtung nicht im höchsten Sinne.65 Generell empfiehlt er, die Schilderungen auf nötige Angaben zu beschränken. Er beruft sich dabei auf das Vorbild Homers. Den Einwand, dass es doch bei diesem eine berühmte, äußerst umfangreiche 64 Anm. zu S. 104, ebd., S. 897f. 65 Das findet sich in Kp. XVII, a.a.O., S. 109–115.
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Darstellung vom Schild des Achilles gebe, eine Beschreibung, die der gesamten epischen Literatur als Muster diente, lässt er nicht gelten. Mit folgender Begründung: Homer malet nämlich das Schild nicht als ein fertiges vollendetes, sondern als ein werdendes Schild. Er hat also auch hier sich des gepriesenen Kunstgriffs bedienet, das Koexistierende seines Vorwurfs in ein Konsekutives zu verwandeln, und dadurch aus der langweiligen Malerei eines Körpers, das lebendige Gemälde einer Handlung zu machen.66
Lessings Urteil hatte Gewicht; Wieland und Goethe, und nicht nur die, sind von ihm beeinflusst. Richtig ist, dass die Aufnahme der sichtbaren Welt ins sprachliche Kunstwerk problematisch ist. Und richtig ist auch, dass die Transformation der einen Kunst in die andere, wie es die einschlägige Devise ‚ut pictura poiesis‘ und ähnliche Empfehlungen nahelegen, sich so einfach nicht bewerkstelligen lässt. Eine Besinnung auf die Möglichkeiten der bildenden Kunst einerseits, der Dichtung andererseits, die Lessing anstrengt, ist also angebracht. Ebenso ist ihm darin zu folgen, dass diese Untersuchung bei den Mitteln oder Zeichen, die den Künsten jeweils zur Verfügung stehen, anzusetzen hat. Die pikturalen unterscheiden sich von den linguistischen Zeichen darin, dass die ersten ‚natürlich‘ die zweiten ‚willkürlich‘ oder ‚arbiträr‘ sind; so fassen Lessing und seine Zeitgenossen diese Differenz. Etwas aussagekräftiger ist die Terminologie, deren sich die neuere Linguistik und Kommunikationsforschung bedient. Sie bringen denselben Gegensatz auf die Begriffe ‚analog‘ und ‚digital‘. Was unter ‚analog‘ zu verstehen ist, gibt schon der Name an. Es besteht ein Verhältnis der Ähnlichkeit zwischen dem Zeichen und dem Bezeichnetem. Analogisch sind beispielsweise die Ausdrucksgebärden der Menschen und Tiere. In der geballten Faust, die jemand hochreckt, um anderen zu drohen, steckt schon etwas von der Tat, die damit angekündigt werden soll. So verhält es sich auch mit den bildnerischen Zeichen. Das Aussehen des Baumes in der Natur nimmt der Baum auf dem Gemälde auf. Den Charakter eines Zeichens hat er dadurch, dass er eine Abbreviatur ist; er ist keine Verdoppelung der tatsächlichen Gegebenheit, sondern eine Vereinfachung, eine Stilisierung oder auch eine Reduzierung auf besondere Merkmale. Er verweist auf diese Weise auf eine bestimmte Sache oder auf bestimmte Sachverhalte. Und noch eins: Wie der bezeichnete Gegenstand ist auch das Symbol selbst eine sinnliche Gegebenheit. Der reale und der abgebildete Baum gehören zur Welt des Sichtbaren. 66 Ebd., S. 120; Buch stellt Lessings Stellung zur ‚beschreibenden Literatur‘ ausführlich dar. Er geht auch näher auf die 1achwirkungen des Laokoon ein; a.a.O. S. 26–63.
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Mit ‚digital‘ ist gemeint, dass die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten, zwischen der Benennung und dem benannten Gegenstand keiner in der Sache liegenden Notwendigkeit unterliegt, sondern willkürlich hergestellt wurde. Zwischen den Wörtern und den gemeinten Objekten besteht eben kein Entsprechungsverhältnis. Bestimmte Laute und Lautkombinationen mit realen Dingen zu verknüpfen, beruht auf einer Übereinkunft zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft. Die Bezeichnungen Haus, casa, maison, oikos, bet, ev gehen ungefähr auf denselben Tatbestand, haben aber nichts Hausähnliches an sich. Selbst ihre sinnliche Qualität, dies, dass sie akustische Signale sind, ist keine notwendige Voraussetzung für ihre Bildung. Man kann sie durch optische Zeichen ersetzen, wie sich an den verschiedenen Taubstummenalphabeten und visuellen Zeichensystemen demonstrieren lässt. Der ‚Konventionalismus‘, also der Umstand, dass Lauten Bedeutungen durch Übereinkunft zugeordnet werden, ist auch nie ernsthaft bestritten worden. Das ist auch keine neue Erkenntnis. Schon Platon vertritt sie. Er weist auch ausdrücklich den ‚Naturalismus‘ ab, also die Theorie, die glaubt, es gebe eine Affinität zwischen der Lautgestalt eines Wortes und der bezeichneten Sache.67 In der Sprache tauschen sich Menschen über Sachzusammenhänge aus. Aber das ist keineswegs das einzige, was sie leistet. Karl Bühler hat das am sogenannten Organon-Modell erläutert. Er nimmt dabei eine ebenfalls bereits von Platon vertretene Ansicht auf, nach der die Sprache ein ‚Organon‘, also ein Werkzeug sei. Es ermöglicht, dass „einer dem anderen etwas“ mitteilt „über die Dinge“.68 Wir haben demnach drei Bezugspunkte: den ‚einen‘, das ist der Sender, den ‚anderen‘, das ist der Empfänger, und die ‚Dinge‘, das sind die Sachen oder Sachverhalte. Das Sprachzeichen, das „konkrete Schallphänomen“ bezieht sich auf alle drei Punkte. Es ist zugleich „Darstellung“ von Gegenständen, „Ausdruck“ des Senders und „Appell“ an den Empfänger. Mit diesen Begriffen, wofür er auch „Symbol“, „Symptom“, „Signal“ einsetzt, kennzeichnet Bühler die drei Funktionen der Sprache.69 Sie finden sich in jeder Rede und auch in der schriftlichen Äußerung wieder, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Einmal kann der Sachbezug im Vordergrund stehen und das andere Mal die Gefühlsbekundung des Sprechenden; oder die Betonung liegt darauf, was beim Hörer bewirkt werden soll. Der Satz ‚Das Wetter ist schön‘ ist erstens „Darstellung“ eines Sachverhalts, es wird eine meteorologische Aussage gemacht. Er 67 Kratylos, 423 b–e; 426c–427b: vgl. dazu auch Franz von Kutschera, Sprachphilosophie, München 1975, S. 32ff. 68 Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, 2. unveränderte Aufl., Stgt. 1965, S. 24. 69 Ebd., S. 28f; zur Erläuterung S. 31f.
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ist zweitens „Ausdruck“ der Gefühlslage des Sprechers; er kann freudig, überrascht oder sogar vorwurfsvoll klingen. Und er ist drittens ein „Appell“ an den Hörer; er will bei ihm eine Reaktion auslösen. Durch den Einsatz der ihr zu Gebote stehenden artistischen Mittel erreicht die Dichtung besondere Effekte nach allen drei Seiten hin. Der Rhythmus, der Wohllaut der Reime, die Wortwahl, die Anschaulichkeit der Vergleiche, das alles kann zur genauen Erfassung objektiver Gegebenheiten wie auch zur Expression von Gefühlen und Leidenschaften dienen. Und die Dichtung verfügt auch über die Kraft, einen Leser mitzureißen; sie kann suggestiv auf ihn wirken. Im Rahmen dieser Arbeit interessiert indessen nur ein Aspekt, der, nach dem die Sprache „Darstellung“ von Dingen sei. Allerdings ist der Terminus ‚Darstellung‘, um das mindeste zu sagen, missverständlich. Die linguistischen Symbole stellen nichts dar, sie bilden nichts ab, und schon gar nicht spiegeln sie äußere Objekte wider.70 Dazu sind sie nicht in der Lage, schon deswegen, weil sie nicht in einer Relation der Analogie zu den intendierten Dingen stehen. Anders verhält es sich mit den pikturalen Zeichen. Der gezeichnete Baum führt Eigenschaften seines Vorbildes in der Realität unmittelbar vor Augen, etwa, ob es eine runde Krone oder gezackte Blätter hat. Das Wort hat dagegen einen völlig anderen Sachbezug. Es stellt nichts vor die Sinne, ist nicht der sinnliche Abdruck einer sinnlichen Gegebenheit. Es ist wahr, auch das Wort ist eine Erscheinung der Wahrnehmungswelt, als gesprochenes ist es ein akustisches, als geschriebenes ist es ein visuelles Phänomen. Aber seine sinnliche Gestalt tritt doch ganz hinter dem zurück, was sein eigentliches Wesen ausmacht, und das ist sein geistiger Gehalt oder seine Bedeutung. Darüber werden die Klänge und die optischen Signale zur Nebensache. Die sprachlichen Zeichen richten sich auch nicht primär an die Sinnlichkeit. Diese kann sie gar nicht fassen. Woran sie sich wenden, ist der Verstand als dem, nach Kant, Vermögen der Begriffe. Denn das sind die Worte, sie sind Begriffe und nur die Eigennamen bilden eine Ausnahme. Die lateinischen Definitionen, wie sie in der Philosophie gebräuchlich waren, machen deutlich, worum es sich bei einem Begriff handelt: er ist eine repraesentatio generalis, also eine Allgemeinvorstellung, im Gegensatz zur sinnlichen Wahrnehmung, die eine repraesentatio singularis, also eine Einzelvorstellung ist. Der Begriff umfasst eine Klasse von Objekten, während die Wahrnehmung immer nur ein Einzelnes und Besonderes ergreift. Die Allgemeinvorstellungen sind – sofern es sich um empirische Begriffe handelt, es gibt daneben auch solche a priori – gewonnen durch das Verfahren der Ab70 Die These von der Widerspiegelung der Wirklichkeit durch die Sprache vertritt insbesondere die marxistisch orientierte Sprachphilosophie; vgl. Adam Schaff, Sprache und Erkenntnis, Reinbek b. Hamburg 1974, S. 137ff.
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straktion. Sie sind demnach abgezogen von der sinnlichen Wirklichkeit und bilden rein geistige Wesenheiten. Das Wort ‚Baum‘ umfasst eine große Gruppe von Dingen; es umschließt so unterschiedlichen Gestalten wie Eichen, Fichten und Pinien und gibt keinen singulären Seheindruck wieder. Nicht ein äußeres Objekt stellt es demnach dar, was es allenfalls darstellt, ist ein Gedankending oder ein Bewusstseinszustand oder eine kognitive Einheit. Begriffe, woran an dieser Stelle nur erinnert werden soll, können sehr verschiedenartig sein; so sind die Abstrakta wie Freiheit oder Politik von den Konkreta, zu denen Baum, Haus und Wolke gehören, zu trennen. Mittels der kategorialen Bestimmungen bilden die Sprachen Klassifikationssysteme, die sie über die Welt legen. Diese Maßnahme läuft auf eine Vereinfachung hinaus, denn durch sie gelingt es, die ungeheure Vielfalt der Erscheinungen zu bändigen und Orientierung zu geben. Das Singuläre kann einer Klasse von Objekten zugeordnet werden. Man weiß dadurch, wie man es aufzufassen und wie man sich ihm gegenüber zu verhalten hat. Die Beziehung muss nicht jedes Mal neu eingestellt werden. Dieses aufragende Gebilde ist ein ‚Baum‘ und nicht etwa ein ‚Felsen‘ oder ein ‚Turm‘. Die Worte oder Begriffe sind also Sammelbezeichnungen, die durch kognitive Operationen gebildet worden sind. Wenn sie aber frei erfunden wurden, wenn ihr Verhältnis zu den Gruppen von Gegenständen, die sie benennen, digital und eben nicht analogisch ist, dann fragt sich, wie diese Verknüpfung überhaupt zustande gekommen ist. Beim Bild gibt es wenigstens insoweit Klarheit darüber, dass es sich, als Zeichen für ein reales Objekt, seine Beschaffenheit vom Original vorgeben lassen muss. So einfach, wie es zunächst den Anschein hat, ist das wieder nicht, denn da herrscht eine große Spannweite von Möglichkeiten, von der extremen Reduzierung auf wenige charakteristische Merkmale bis zur penibelsten Ausmalung der Einzelheiten. Jedenfalls kann der Betrachter das Dargestellte identifizieren, was allerdings mitunter auch nicht leicht ist und große Schwierigkeiten bereiten kann. Diese Zusammenhänge gestalten sich bei der Sprache weit problematischer. Denn es geht ja nicht allein darum, dass Laute Bestandteilen der Wirklichkeit willkürlich zugeordnet werden. Diese Zuordnung muss auch die Bedingung erfüllen, dass sie nicht nur für einen, sondern für eine Gruppe von Menschen Gültigkeit hat. Denn die Sprache ist eine kollektive Einrichtung und soll die Verständigung zwischen Menschen über Gegenstände, also Kommunikation ermöglichen. Die Theorien, welche die sprachlichen Zeichen als Darstellung oder Denotation begreifen wie die Bühlers, setzen den Vereinigungspunkt in eine Wirklichkeit, die völlig unabhängig von ihrer Beziehung zu den Menschen existiert. Darstellung oder Abbildung, auf Sprache angewendet, bedeutet dann so viel, dass Worte objektive Tatbestände widerspie-
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geln, die für alle in der gleichen Weise gegeben, die sowohl für einen Sprecher wie für einen Zuhörer evident sind. Informationen können so ausgetauscht werden. Und wie das geschieht, denkt man sich als einen Prozess der ‚Kodierung‘ und ‚Dekodierung‘. Darunter verstehen wir die Umsetzung von Vorstellungen des Sprechers in sprachliche Zeichen und die Rückübersetzung sprachlicher Zeichen in Vorstellungen des Hörers. Wir nehmen dabei vorläufig an, dass diese Vorstellungen >vorsprachlich< also von der Sprachstruktur unabhängig im Gehirn gespeichert sind.71
Die Grundannahmen, von denen diese Auffassung ausgeht, werden hier klar ausgesprochen: Es gibt eine objektive Wirklichkeit, diese ist für die Kommunikationspartner, für Sender wie Empfänger gleichermaßen bestimmend, und das sprachliche Zeichen steht nur stellvertretend für die objektive Gegebenheit. Wie dann das konkrete Zeichen, das Wort gebildet wird, wäre eine sekundäre Frage. Dieser Vorgang muss sich jedenfalls aus dem Zusammenleben einer Gemeinschaft erklären lassen. Dieses auf einem naiven Realismus basierende Konstrukt ist gleich aus mehreren Gründen nicht haltbar. Um nicht allzu weitschweifig zu werden, sei nur auf ein paar einfache Wahrheiten hingewiesen. Der Ethnologe Bronislaw Malinowski berichtet von einer für ihn zunächst befremdlichen Erfahrung. Er musste einsehen, dass alle Bemühungen, die Sprache der Eingeborenen auf Trobriand – einer Inselgruppe in Melanesien – lexikalisch zu erfassen, zum Scheitern verurteilt waren. Bei dem Versuch, für die Wörter der Insulaner Äquivalente aus dem Englischen oder anderen europäischen Sprachen einzusetzen, wollte sich kein Sinn einstellen. Ein Verständnis erschloss sich erst, als Malinowski am Leben der Trobriander teilnahm, ihre Arbeiten verrichtete, sie auf ihren überseeischen Handelsfahrten begleitete, mit ihnen ihre Feste feierte. Er folgert daraus, „dass die Sprache wesentlich in der Wirklichkeit der Kultur, des Stammeslebens und der Sitten und Gebräuche eines Volkes wurzelt und dass sie nicht ohne fortwährende Bezugnahme auf diese umfassenderen Kontexte verbaler Äußerung erklärt werden kann.“72 Was die Wörter demnach bezeichnen, sind nicht objektive Tatbestände, Fakten, die für alle Menschen gleichermaßen gegeben sind. In der Sprache kommt zum Ausdruck, in welcher Weise sich Menschen auf die Wirklichkeit beziehen, und das manifestiert sich vor allem in ihren Handlungen und in ihrem Verhalten. Nicht um die objektive Beschaffenheit der Dinge geht es, sondern darum, wie sie aufgefasst werden, wie sich Menschen von ihnen angehen lassen, 71 So W. Herrlitz, in: Funk-Kolleg Sprache, Bd. 1, Frankfurt/M. 1973, S. 47. 72 Bronislaw Malinowski, Das Problem der Bedeutung in primitiven Sprachen, in: G.K. Ogden/J.A. Richards, Die Bedeutung der Bedeutung, Frankfurt/M. 1974, S. 336.
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was sie in ihnen bewirken. Die Einstellungen der Menschen auf ihre Umgebung, das dokumentiert sich demnach in der Sprache. Von einer Gruppe von Menschen muss man reden. Es ist das gemeinsame Tun, es sind die gemeinsamen Erfahrungen, aus denen eine Sprache erwächst und deren Niederschlag sie ist. Und im Spracherwerb eignet sich der Einzelne die Einstellungen, das Wissen und die Werte der Gesellschaft an, in der er lebt. Aber er wird dadurch nicht endgültig festgelegt. Er seinerseits ist hineingezogen in den Prozess ständiger Umwandlungen, dem die Sprache unterliegt. Für den Menschen ist die Wirklichkeit überaus vielschichtig und facettenreich. Sie enthält eine Fülle möglicher Hinsichten. Welcher Aspekt für eine Sozietät herausgehoben wird, das hält das Wort fest. Dieses spiegelt daher die Wirklichkeit nicht wider, sondern es ist für diese konstitutiv, in dem Sinne, dass es eine Hinsichtnahme auf die Realität vorgibt. Und das bedeutet nicht weniger, als dass es wirklichkeitssetzend ist. Diesen Standpunkt hat Wilhelm von Humboldt begründet. Bei ihm steht: In die Bildung und in den Gebrauch der Sprache geht aber nothwendig die ganze Art der subjectiven Wahrnehmung der Gegenstände über. Denn das Wort entsteht eben aus dieser Wahrnehmung, ist nicht ein Abdruck des Gegenstandes an sich, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes.73
Mit ‚subjektiv‘ ist hier nicht ‚individuell‘ gemeint, gemeint ist vielmehr die spezifische Adaption der Wirklichkeit durch ein generalisiertes Erkenntnissubjekt oder den menschlichen Geist. Und die vollzieht sich in der Weise, dass sich der Geist die Welt gewissermaßen zurechtlegt. In der Sprache nimmt diese standpunktbezogene Wahrnehmung eine feste Form an. Hervorgebracht wird sie aber durch ein Kollektiv, und in der Sprache bildet sich die „eigenthümliche Weltansicht“ eines Volkes oder einer Gesellschaft aus. „Weltansicht“ ist denn auch ein zentraler Begriff Humboldts und diese ist gebunden an die Sprache. Man kann…als allgemein anerkannt annehmen, dass die verschieden Sprachen die Organe der eigenthümlichen Denk- und Empfindungsarten der Nationen ausmachen, dass eine große Anzahl von Gegenständen durch die sie bezeichnenden Wörter geschaffen werden, und nur in ihnen ihr Daseyn haben.74
Gestützt wird Humboldts Theorie durch grundsätzliche, anthropologische Einsichten. Danach ist der Mensch nicht eingepasst in ein bestimmtes Ausschnittsmilieu wie die meisten Tiere. Diese verfügen über 73 Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Sprachphilosophie, Werke in fünf Bänden III, Darmstadt 1963, S. 433. 74 Ebd., S. 26; der Begriff Weltansicht findet sich z.B. S. 434. In neurer Zeit hat Benjamin Lee Whorf eine ähnliche Ansicht vertreten, ohne auf Humboldt Bezug zu nehmen. Hier sei nur darauf verwiesen; s. Sprache. Denken. Wirklichkeit, Reinbek b. Hamburg 1963.
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angeborene Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, die ihr Überleben in dem Habitat, für das sie organisch ausgerüstet sind, sichern. Im Gegensatz dazu ist der Mensch ‚weltoffen‘. Er ist eben nicht für eine spezifische Umwelt geschaffen; anders gesagt: er ist ein Lebewesen, das ‚unspezialisiert‘ ist und sich in den verschiedensten Umgebungen zurecht findet. Es ist nur die Kehrseite derselben Sache, dass ungeheuer vieles auf ihn einwirkt; er ist einer ‚Reizüberflutung‘ ausgesetzt. Unter diesen Bedingungen muss er wählen zwischen dem, was er für seine Lebensfristung gebrauchen will, und dem, was er als ihm nicht nützlich aussondert. Er schafft sich auf diese Weise seine eigene Welt. „Der Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur heißt >KulturKulturfilmGroßer Kain< & >Bullenkuhleseine< Landschaft kennen lernt – jene Kombination von Bodenformen, Pflanzenarten und Wettererscheinungen, die die ideale Anregung für die Produktion ergibt, und in die man später, oft unbewußt, fast jede Fabel verlegen wird ...25
Das Flachland ist aber nicht allein gut für die Herstellung von Literatur, in ihm wohnen auch noch die aufgeweckteren Menschen, denn: „ & , ja sogar , hat im Heilig=Römischen Reich immer noch die Norddeutsche Tiefebene“.26 Das ist eine von Schmidts Verstiegenheiten, die man nicht weiter kommentieren braucht. Von Kindertagen in Hamburg-Hamm hat er aber Erinnerungen mitgenommen und bis ins Alter bewahrt, die er in stille, eigentümlich suggestive Bilder umgesetzt hat: so hell und leer war die Welt mit großen Räumen und reinem kaltem Farbenspiel. Von breiten hölzernen Brücken sah man hinab auf die Bahngeleise, die in erregender Unerbittlichkeit schnurgerade auf den erbleichenden Himmel zu liefen; schollige Felder gingen ins fernste Blau; Mehlbeeren hingen wie traubiges Feuer in drahtstarren Dornenbüschen; vereinzelte Garben wie aus nickendem Golddraht gebündelt auf den Feldern; fliegend überall zauberfarbenes Laub und tönender Wind zwischen roten Zweigen. Weiße ruhige Villen lagen hinter abwehrend umgitterten Gärten, an kahlen Vorstadtstraßen; raschelnd wandelte man im kühlen Abendgold. Und wenn man eins der großen gelben Blätter am weichen kalten Stiele aufnahm, lag eine rote funkelnde Kastanie darunter: der schlanke Geist im roten Seidenmantel hatte ein edles Haus. Dann kam ein kurzer kalter Windstoß, der die schleifenden Blätter drehte, und man wußte, daß er ein Wesen für sich war, deren viele diesen großen rauschenden Vorort bewohnen mußten.27
Bei Schmidt ist die Natur selbst Gegenstand des epischen Interesses. Deren Beschreibung nimmt einen unverhältnismäßig großen Platz ein. 24 25 26 27
I,2, S. 201. Zur dt. Lit., 3, S. 13. Zur dt. Lit. 4, S. 11. I, 1, S. 254; noch in Julia, oder die Gemälde finden sich ähnliche Reminiszenzen.
Musivisches Dasein – Arno Schmidt 393
Wenig passiert demnach in seinen Geschichten, und die Handlung ist schnell hererzählt. Es gibt im Grund genommen nur zwei Handlungsschemata: Einer aus der Stadt, erste Möglichkeit, wird aufs Land verschlagen oder macht dort einen Besuch; oder, zweite Möglichkeit, einer, der auf dem Land lebt, bekommt Besuch aus der Stadt. Im zweiten Fall geht das etwa so vonstatten: Einen in einem Heidedorf lebenden Büchernarren, einen Sammler literarischer Kuriositäten und Liebhaber entlegener Gelehrsamkeit suchen Freunde auf. Da macht man einen Gang durch die Landschaft und schwatzt über Gott und die Welt, besonders aber über Literatur. Meist ist es so eingerichtet, dass einer der Besucher ein alter Kumpel des Gastgebers ist. Da kann man ein bisschen rumschweineigeln und zwischendrin mal einen nehmen, aber nur wenn die Frauen in gehörigem Abstand sind, denn trotz der ausgiebigen Thematisierung des Sexuellen geht es bei Schmidt kleinbürgerlichwohlanständig zu. Das ist fast schon alles, und sehr viel mehr ereignet sich auch nicht in dem dicken Roman Zettels Traum. Natürlich kommt es zu Verwicklungen zwischen den Personen, aber allzu dramatisch ist das auch nicht. Die Handlungsarmut seiner Prosaarbeiten begreift Schmidt als ‚Realismus‘. Auf diese Weise werde dem Rechnung getragen, dass das Leben aus den „bekannten kleinen Einförmigkeiten“ bestehe. Diejenigen, die das Dasein beschrieben, als sei es eine Folge „pausenlos=aufgeregter Ereignisse“, fertigt er mit dem Begriff „Handlungsreisende“ ab.28 Er greift damit in einen Literaturstreit ein, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, eigentlich aber älter ist, denn es geht um grundsätzliche Fragen der Literatur. Die Kontroverse ist verbunden mit zwei Namen, mit dem Stifters und dem Hebbels. Letzterer fand Stifters 1achsommer derart langweilig, dass er dem, der ihn nachweislich ausgelesen habe, gleich die „Krone Polens“ versprach. Auf die Sache gesehen richtet sich der Vorwurf darauf, dass Stifter die Hierarchie zwischen „Groß“ und „Klein“, zwischen dem Bedeutenden und dem Unbedeutenden missachtet habe. Er halte sich bei der Schilderung der banalen und unscheinbaren Details auf, bei den sattsam bekannten Dingen des Alltags. Darüber habe er vergessen, was menschlich wirklich berührend sei, das seien die ewigen großen Konflikte, die Gegensätze von Individuum und Gesellschaft, von Held und Schicksal, von Mann und Frau und so weiter. Noch vor der Rezension des 1achsommers hatte Hebbel die ganze Richtung angegriffen, mit einem Epigramm, das behauptete, den betreffenden Literaten glückten „die Käfer“ und „die Butterblumen“ nur, weil sie nichts von den Regungen des menschlichen 28 So in dem gleichnamigen Essay; Zur dt. Lit. 3, S. 157ff, vgl. auch das Nachtprogramm über Brockes; Zur dt. Lit. 1, S. 7ff; vgl. weiter Hartwig Suhrbier, Zur Prosatheorie Arno Schmidts, München 1980, S. 11–13.
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Herzens verstünden. Wie in dem betreffenden Kapitel bereits ausgeführt, hatte Stifter auf diese Vorwürfe mit der berühmten Vorrede zu den Bunte Steinen geantwortet. Sein Hauptargument war dies, dass die Kräfte, die die Abläufe in der Natur und im menschlichen Leben bestimmten, solche seien, die „still und unaufhörlich“ wirkten. Nicht in den jähen Ausbrüchen der Naturgewalten oder in den heftigen Äußerungen der Leidenschaften zeige sich das eigentlich Bewegende, vielmehr werde im „Kleinen“ offenkundig, was die Welt in Wahrheit antriebe. Seine Vorstellungen brachte Stifter auf die Formel vom „sanften Gesetz“. Schmidt gibt sich nicht mit den Einzelheiten ab. Was er aus der Kontroverse mitnimmt, ist die Unterscheidung zweier „großer Schulen“ der Literatur. Die eine verlege sich auf die Gestaltung von „Taten und Handlungen“, für sie stehe Hebbel, die andere sei aus auf die Darstellung von „Zuständen, Denkweisen, Funktionen und Befindlichkeiten“, für sie trete Stifter ein. Selbstverständlich rechnet sich Schmidt zur zweiten Schule. Er sieht sich in Tradition der „malenden“ Poesie des Barock, eines Brockes, Haller und E. von Kleist. Gegenstand der „Beschreibungsliteratur“, wie man diese Richtung auch nennen kann, ist vor allem die Natur. Den Unterschied zwischen Lyrik und Epik kann man in diesem Zusammenhang vernachlässigen.29 Es war die Autorität Lessings, die der malenden Poesie ein vorläufiges Ende bereitete. Wie dessen Abhandlung Laokoon befand, vollziehe sich die Dichtung in der Zeit; das sei die ihr eigentümliche Dimension, und folglich sei es ihr wesensgemäß, Handlungen darzustellen. Die bildende Kunst dagegen sei bezogen auf den Raum. Abläufe zu erfassen, sei ihr deswegen nicht gegeben; ihrem Wesen entspreche, die Dinge abzubilden. Die Klassiker haben Lessing nachgegeben, etwas zögerlich Goethe, Wieland mit einer ironischen Verbeugung vor Lessing: „Er läßt den Fluß zurück und tritt in den Hain, / Den ich, weil Lessing mich am Ohr zupft, nicht beschreibe“.30 Allerdings hat sich die Dichtung nicht ganz nach den Dekreten der Poetik gerichtet. Auch nach Lessing hat es große beschreibende Literatur gegeben, man braucht nur an Jean Paul zu denken und an dessen Kampaner Tal. Für Lessings Laokoon hat Schmidt nur die Bemerkung übrig, dieser sei „unselig=geschäftig“.31 Dagegen verteidigt er seine eigene Sichtweise, und da ist ihm Stifter das Vorbild für ein realistisches Schreiben, vom „großen Stifter“ spricht er sogar. Das mag zunächst verwundern, 29 Im Kp. I, 3 wurde ausführlicher darauf eingegangen. Hinzuweisen ist hier auch auf die dort zitierte Abhandlung von H. Ch. Buch. Dieser sagt allerdings über Schmidt nichts. 30 Die Stelle findet sich in Wielands Idris. Mehr über Lessings Laokoon ebenfalls im Kp. I, 3. 31 Zur dt. Lit.3, S. 158.
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denn es lässt sich nicht leicht ein größerer Gegensatz denken als den zwischen den beiden. Auf der einen Seite der betulich-pedantische, jeden Anstoß vermeidende Stifter, konservativ und kirchenfromm, auf der anderen Seite Schmidt, ruppig-aggressiv und gegen Tabus angehend, ein militanter Atheist und unorthodoxer Linker. Es gibt aber einiges, das sie verbindet. Zuerst ist das die Form ihrer Prosa. Sie sind keine Fabulierkünstler. Der Vorwurf, sie könnten keine Geschichten erzählen, trifft beide gleichermaßen. Die Handlung ist für sie auch nebensächlich, sie ist nur der Anlass, ausgiebige Beschreibungen anzufertigen. Daraus ergibt sich ein zweiter Punkt, der mit dem ersten zusammenhängt: Ihr gemeinsames großes Thema ist die Natur, sie steht im Mittelpunkt ihrer schriftstellerischen Arbeiten. Es kommt daher, dass sie literarische Vorlieben teilen. Stifter wie Schmidt sehen in James Fenimore Cooper eines ihrer Vorbilder; beide waren vollkommen fasziniert von der Schilderung der großen Wälder in den Lederstrumpfgeschichten. Mit der Erzählung Der Hochwald hat Stifter versucht, Ähnliches zu machen, und es ist diese Erzählung, die Schmidt immer wieder als Beispiel gelungener Beschreibungskunst anführt; er bescheinigt Stifter sogar, er habe, was die Güte der Naturdarstellung betrifft, Cooper übertroffen.32 Und schließlich ist es die Nähe zu wissenschaftlichen Verfahrensweisen, worin beide zusammenfinden. Das Dringen auf Genauigkeit, die Tatsache, dass Stifter in die Erfassung der Naturerscheinungen wissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse einbezog, dass er einer war, für den Mathematik und Literatur keine Gegensätze waren, hat Schmidt Respekt abgenötigt. Jedoch, in späteren Jahren will er das alles nicht mehr wahrhaben, da behauptet er ziemlich genau das Gegenteil von dem, was er früher einmal vertreten hatte. Nun gehört Stifter zu den „pseudorealistischen Schriftstellertypen“, und es wird befunden: ihm „mißlingt die Landschaft“. Und im Streit zwischen Stifter und Hebbel wechselt Schmidt die Fronten, auf einmal gibt er Hebbel Recht gegen Stifter. Das führt schließlich zu ausgesuchten Bosheiten, wie etwa die, dass der Witiko ein „Handbuch für Offiziersanwärter“ sei. Es endet bei einer rigorosen moralischen Aburteilung, von „gemütlicher Verrohung“ wird gesprochen und von „sittlicher Verkommenheit“.33 Was da vorgeht, ist die Demontage eines Idols. Daraus erklärt sich das 32 Im Nachwort zu seiner Übersetzung von Coopers Conanchet oder die Beweinte von Wish-Ton-Wish. 33 Die Verrisse stehen in den beiden Nachtprogrammen Der sanfte Unmensch (Zur dt. Lit.3, S. 162ff) und ...Und dann die Herren Leutnants (Zur dt. Lit.3, S. 186ff). Natürlich hat Schmidts scharfe Kritik selbst wieder einen Literaturstreit provoziert. Vor allem die Stifter-Gemeinde zeigte sich empört. Näheres bei Josef Huerkamp, Später 1achtrag zu Arno Schmidts Angriffen auf Adalbert Stifter, in: Vierteljahresschrift des Adalbert Stifter Instituts des Landes Oberösterreich, 1979, Folge1/2, S. 43ff.
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teilweise Gehässige des Tonfalls, und man kann sagen, manches von dem, was Schmidt vorbringt, fällt auf ihn selbst zurück. Sichtlich peinlich geworden ist ihm die Nähe zu einem, der in den Jugendschriften im Kreis seiner Hausgötter sitzen durfte und mit ihnen, mit Fouqué und Poe, von Gleich zu Gleich parlierte. Dichtergespräche im Elysium heißt das Werk, in dem die ‚Götter‘ gestelzt und weihevoll daherreden: DER FREMDE: Deine Augen leuchten verdächtig – du scheinst mir einer von den Naturschwärmern zu sein. Meiner Ansicht nach hat die Landschaftsschilderung keine Berechtigung in der Literatur! STIFTER: Das betrübt mich. Es geschah mir oft, daß sich meine Menschen mir unter den Händen in der Landschaft verloren, bis nur noch Wald war und sich die Fluren um mich dehnten.- Aber warum? – Oder warst du nur nicht dieses ewigen Gefühls mächtig? Schmälst du aus Unvermögen?34
Was Schmidt zunächst angreift ist, dass Stifter sich um die Nöte seiner Zeit nicht gekümmert habe. Das Leid der Kriege und Revolutionen, das Elend der arbeitenden Klassen, die sozialen Verwerfungen der beginnenden Industrialisierung – das alles käme bei ihm nicht vor. In der geschichtlichen Stunde, in der die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf Veränderung drängten, habe er sich in eine Scheinwelt geflüchtet, in die einer patriarchalisch geordneten Ländlichkeit, und der 1achsommer sei „die Magna Charta des Eskapismus“. Vom Dichter verlangt Schmidt, dass er ein „Bild seiner Zeit“ hinterlasse, und das kann er sich nicht anders denken als „realistisch“, womit gemeint ist, dass die sozialen Zustände, die Denk- und Handlungsweisen einer Epoche ohne „Schönfärberei“ wiedergegeben werden müssen. Die Kritik richtet sich also zunächst auf die Inhalte. Dann aber wendet sie sich gegen die Darstellungsweise. Die Akribie von Stifters Schilderungen, das Versenken ins Detail sei nichts als öde Aufzählung. Es fehle die kompositorische Stringenz. Danach hätte Stifter auf seinem ureigensten Gebiet versagt, er hätte nicht vermocht, was doch jede Naturschilderung anstrebt, nämlich dies, dass sich beim Leser die angeführten Gegenstände zum Bild einer Landschaft zusammenschließen. Die ganzheitliche Anschauung löst sich auf, wenn die einzelnen Gegebenheiten ein Eigenwicht bekommen und ungebunden nebeneinander stehen; das eben ist der Fall bei der bloßen Aneinanderreihung. „Durch Aufzählung fossiliert ein Dichter seine Landschaft“, schreibt Schmidt, und Stifter habe meistenteils nur „katalogisierende Schilderungen“ geboten. Für Schmidt gibt es nur zwei „Techniken“, eine Landschaft sichtbar zu machen. Die eine nennt er „das Verfahren der Expressionisten“, die andere
34 I, 4, S. 259.
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„die Methode Brockes“.35 Beide teilten die Voraussetzung, dass die Dichtung mit ihren Mitteln dem Leser kein Bild vor Augen stellen könne. Ihr bliebe nur die Möglichkeit, an etwas zu appellieren, was der Leser ohnehin schon kenne. Der Dichter zitiere gewissermaßen eine Ansicht, die einer waldgesäumten Wiese zum Beispiel, und der Leser müsse diese in Erinnerung an schon Gesehenes in sich erzeugen. Um das zu bewerkstelligen, genügt nach Schmidt die Anführung von zwei, höchstens drei charakteristischen Merkmalen, von „schärfsten Wortkonzentraten“ spricht er. Das wäre die „expressionistische Methode“. Dieses Vorgehen ähnelt dem des Karikaturisten, der mit wenigen Strichen das Typische eines Gesichtes erfasst. Die „Methode Brockes“ dagegen benötigt umständliche und lange Ausführungen, mit der schon erwähnten Gefahr, dass beim Leser sich der Eindruck des Ganzen verliert. „Zeilenschindend“ nennt Schmidt das mit Blick auf Stifter, und er sagt damit, welcher Technik er den Vorzug gibt. Unabhängig von der Art der Darstellung wird befunden, „daß Landschaftsschilderung etwa der Porträtmalerei entspricht“. Das ist nun aber eine arge Verkürzung, und die Naturdarstellung wird damit auf eine einzige Möglichkeit festgelegt, auf die des Landschaftsporträts. Die Literaturgeschichte hingegen bietet eine Anzahl anderer Möglichkeiten an; die jedoch nimmt Schmidt gar nicht zur Kenntnis. Und wenn man nun einen seiner Favoriten nimmt, nämlich Jean Paul, so sind seine Naturszenerien gerade keine tatsächlichen Ansichten, sondern Kompositionen aus realen Versatzstücken, um dadurch bestimmte Ausdruckswerte zu erreichen. Überhaupt ist die künstlerische Intention nicht primär die, das Konterfei einer bestimmten Gegend anzufertigen. Das Landschaftsporträt kommt erst in der narrativen Dichtung des nachromantischen 19. Jahrhunderts auf, und der Hauptvertreter dieser Richtung ist nun einmal – Adalbert Stifter. Dass Stifter nicht zur „wahren Landschaft“ gefunden habe, dass er nicht verstanden habe, durch Konzentration auf wenige, genau beobachtete Merkmale die Ansicht einer Naturszenerie zu vermitteln, hatte Schmidt moniert und in diesem Zusammenhang beanstandet, dass Stifter für seine Darstellung wenigstens „10 Druckseiten“ benötige. Auch dieser Kritikpunkt ist nicht umstandslos zu akzeptieren. Sicher, die sprachliche Form soll zur Imagination eines kompletten Bildes führen. Aber das ist nicht eine Frage der bloßen Länge. Das beweist wiederum das Beispiel Jean Pauls. Dessen weit ausschwingende Satzperioden werden zusammengehalten durch einen variablen, vorwärtsdrängenden Rhythmus und dadurch, dass die heraufbeschworenen einzelnen Seh35 So im Nachwort zu James F. Cooper, Conanchet oder die Beweinte von Wish-TonWish, a.a.O., S. 380–382, S. 385; hier wird etwas näher ausgeführt, was auch in Der sanfte Unmensch steht; vgl. Zur dt. Lit. 3, S. 180–182.
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eindrücke aufeinander abgestimmt sind. Es entsteht so eine Einheit in der Sukzession.36 Schmidts Überlegungen zur beschreibenden Dichtung sind widersprüchlich. Um sie richtig einzuschätzen, muss man sehen, dass es in ihnen nicht in erster Linie um Literaturgeschichtsschreibung geht, wenngleich sie dazu einige Anregungen bieten. Vielmehr geht es darum, dass ein Schriftsteller Möglichkeiten des Schreibens untersucht, und das tut er in der Auseinandersetzung mit der Literatur der Vergangenheit. Dabei verfährt Schmidt nicht historisch, was so viel heißt, dass er die betreffenden Autoren nicht vor dem Hintergrund ihrer Zeit sieht. Er nimmt sie, ohne große Umstände zu machen, als Zeitgenossen, mit denen er sich in einen leidenschaftlichen Disput einlässt. Sein Credo ist: „Alles, was je schrieb, in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln.“37. Mitunter führt das zu eher humorigen Ergebnissen, so, wenn behauptet wird, Goethe habe sich „in der DDR niedergelassen“.38 In der beschreibenden Dichtung nun findet Schmidt ein Konzept von Literatur, das seine eigenen Anschauungen und Arbeiten bestätigt. Und von Brockes und Stifter lernt er. Wie sehr er gerade Letzterem verpflichtet ist, ergibt sich nicht allein aus den über das Werk verstreuten, wiederholten Anspielungen auf ihn, sondern auch daraus, dass die Erzählung Schwarze Spiegel auf Stifter verweist. In dessen Schilderung der Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 wird dieser Begriff verwendet, um den Eindruck einer Weltuntergangsszenerie wiederzugeben, und thematisch schließt sich Schmidt daran an. Was also mit Schmidts Prosaarbeiten vorliegt, ist eine Weiterentwicklung der beschreibenden Literatur, deren moderne Version, wenn man so will. Kennzeichen von ihr kehren bei ihm wieder: die „Handlungsleere“ und der Naturbezug. Aber diese sind nun anders begründet und werden anders eingesetzt. Zu tun bekommt man es mit einem Bewusstsein, dem Beschaulichkeit nicht vergönnt ist, dem das Gemütvolle eines Verweilens in der Natur vergangen ist, ein malträtiertes Bewusstsein, das nicht loskommt von den Schrecken des 20. Jahrhunderts. Ihm sind besondere Weisen des Erlebens und Sehens eigen, und unter diesen Voraussetzungen ist es vorbei mit dem herkömmlichen Geschichtenerzählen. Ähnlich verhält es sich mit dem Naturerleben. Selbstverständlich ist auch dieses besetzt von den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit. Geprägt ist es zudem von den Wahrnehmungsmöglichkeiten, die das Zeitalter bereit hält, die sich ergeben aus den Techniken 36 Hier kann auf das Kp. über Jean Paul verwiesen werden. 37 Zitiert nach Schardt/Vollmer, (Hg.) Arno Schmidt, Leben – Werk – Wirkung, Reinbek b. Hamburg 1990, S. 260; zur Problematik vgl. den Aufsatz von Friedrich P. Ott, Aufnahme und Verarbeitung literarischer Tradition im Werk Arno Schmidts, ebd., S. 259ff. 38 I,1, S. 397.
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der Fotografie und des Films, die entstehen mit der Beschleunigung durch die modernen Verkehrsmittel, mit der zunehmenden Rasanz des Lebens überhaupt. Wenn Schmidt sagt, eine gelungene Landschaftsschilderung käme mit wenigen, pointiert gesetzten, charakteristischen Kennzeichen aus, sie wende eine „expressionistische Technik“ an, so kann das auch so verstanden werden, dass damit traditionelle Bildvorstellungen abgewiesen werden. Das moderne Bewusstsein verträgt die ausladenden, fein ausgemalten Beschreibungen mit ihren getragenen Rhythmen nicht mehr, wie sie bei Jean Paul oder Stifter vorliegen. Es ist zupackender, nervöser, schneller. Das liefe darauf hinaus, dass die Natur immer unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen wird. Ihr Bild wäre abhängig vom Betrachter, und das, was objektiv der Fall ist, verschwände unter den subjektiven Einstellungen. Dem steht eine Einstellung entgegen, an der Schmidt konsequent festgehalten hat, die des Realismus. Der Literatur, der Kunst überhaupt wird die Aufgabe zugewiesen, die Wirklichkeit „abzubilden“. Das ist für Schmidt die Grundlage der Dichtung, der eigenen und der fremden. Der Gedanke kommt bei ihm gar nicht auf, dass sie auch etwas anderes sein könnte, ein sich selbst genügendes Spiel beispielsweise oder ein reines Phantasieprodukt. Mit dieser vorgefassten Meinung geht er an alles Gedichtete heran und versucht, dessen Realitätsgehalt herauszufinden. Mitunter führt das zu kuriosen Ergebnissen, etwa dann, wenn er Finnegans Wake ganz aus der Biographie von James Joyce erklären will. Nun ist Realismus ein höchst fragwürdiger Begriff. Die daran geknüpfte Forderung, die Wirklichkeit unverfälscht und ungeschönt zu erfassen, sie ‚objektiv‘ „abzubilden“, lässt sich gar nicht einlösen. Schon der Hinweis auf die Arbeitsweise der Wahrnehmung genügt, um einzusehen, dass es ‚objektive‘ Tatbestände gar nicht gibt. Das Bild, das wir uns von der Welt machen, beruht, generell gesprochen, auf den Einstellungen des Subjekts. Und was sich schon an der Wahrnehmung ablesen lässt, dass sie sich nämlich die Realität zurechtlegt, dass sie diese strukturiert und selektiert, das wird noch verstärkt durch den Einsatz von Methoden und Apparaten, welche Wissenschaft und Technik bereitstellen.39 Dadurch werden bis dahin unbekannte Seiten der Wirklichkeit aufgedeckt. Was diese ist oder vielmehr: was von ihr in Erscheinung tritt, das ist immer auch abhängig von den Mitteln, die zu ihrer Exploration eingesetzt werden. Nicht, dass das Subjekt nur an die Ausgeburten seiner Phantasie geriete, das, was es entdeckt, ist durchaus
39 Oben wurde wiederholt auf Wahrnehmungstheorien eingegangen; vgl. z.B. den Eingang von Kp. I, 6.
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real, nur eben, es ist abhängig von seiner Art, sich der Wirklichkeit zu nähern. Die Wirklichkeit wird demnach nicht widergespiegelt, und das gilt erst recht für die Kunst. Diese verfährt ähnlich wie die Wahrnehmung, wie diese bringt sie etwas zur Erscheinung. Das bezieht sich natürlich nur auf die Kunst, die überhaupt eine mimetische Absicht hat. Es ist immer das Arrangement des Künstlers, das etwas sehen lässt, und das kann unterschiedlich ausfallen. Es kann liegen in der Typisierung und Überhöhung, in der Anordnung der Materialien und in der Abstimmung von Tönen, Farben oder Wörtern, in der Verkürzung und in der Zusammenziehung. Selbst die Kunst, die vor anderen dokumentarischen Charakter hat, selbst die Fotografie arrangiert die Gegenstände, allein dadurch, dass der Fotograf einen bestimmten Standort wählt, einmal abgesehen von der Belichtung und anderen Vorkehrungen. An der Fotografie wird ein Kennzeichen der modernen Kunst exemplarisch deutlich. Es setzt sich nämlich die Auffassung durch, dass durch den Einsatz technischer Mittel unbekannte Seiten des Bestehenden aufgedeckt werden. Die Kamera legt offen, was dem menschlichen Sehen verborgen bleibt. Das Kardinalbeispiel dafür ist, dass man vor der Entwicklung der Fotografie nicht wusste, wie ein Pferd galoppiert, deshalb nicht, weil das menschliche Auge die einzelnen Phasen einer mit hoher Geschwindigkeit ablaufenden Bewegung nicht auseinanderhalten kann. Das gelang erst dem fotografischen Apparat, der den Lauf des Pferdes in eine Sequenz einzelner Bilder zerlegte. Viele solcher Techniken wurden entwickelt, und was die Literatur betrifft, so hat sie eine Reihe besonderer Verfahrensweisen hervorgebracht, teilweise in Anlehnung an andere Künste. Zu denken ist dabei an die Schnitttechniken des Films, an Anordnungen wie die der Collage oder auch an fotografische Techniken wie den Schnappschuss oder die Nahaufnahme. Ein anderer Aspekt dieser Sache ist, dass die Literatur eine Wirklichkeit vorfindet, die durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung nachhaltig geprägt ist, durch die modernen Verkehrmittel des Autos und des Flugzeuges, durch die neuen Kommunikationsmittel des Telefons und des Radios, durch die optischen Geräte des fotografischen Apparates und der Filmkamera. Jetzt entstehen bis dahin unbekannte Formen des Erlebens, der Erfahrung von Raum und Zeit, der Weisen, die Welt zu wahrzunehmen. Bereits bei Fontane wurde deutlich, wie die Eisenbahn, wie eine Maschine, die Geschwindigkeit produziert, das Bild der Wirklichkeit veränderte.40 Die Kunst nimmt diese Entwicklungen auf. In sie zieht der Geist des Experiments ein. Auch die neuere Literatur will ihrerseits mit aufspürenden Mittel ans Dasein herangehen und heraus40 S. dazu das vorige Kp.
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bekommen, was man mit diesem Instrumentarium sichtbar machen kann. Schmidt hat sich solchen Vorstellungen ganz verschrieben. Seine Prosaarbeiten versteht er als „Versuchsreihen“. In ihnen will er „präzise und erbarmungslose Techniken“ anwenden, damit die Wirklichkeit sich zu erkennen gebe.41 Das verträgt sich allerdings kaum mit einer simplen Abbildungstheorie. Die von ihm eingeforderte Ausrichtung am objektiv Vorhandenen wird gleich wieder dementiert durch die Beispiele, die er beibringt. So beruht nach seinen Ausführungen die Gegenstandsnähe von Brockes und Stifter gerade darauf, dass sie alles beiseite ließen, was sich den verwendeten Deskriptionsmodi widersetzt. Bei Stifter kämen, behauptet Schmidt, deshalb keine Tiere vor, weil sie zu „rasch“, zu „handelnd“ seien, und das könne er mit seinen Methoden nicht erfassen.42 Der hier propagierte ‚Realismus‘ besteht demnach in einem rigorosen Auswahlverfahren des Autors. Und in Schmidts eigene Schilderungen fließen immer die Gedanken und Assoziationen des Betrachters ein, so dass beim Leser ein Eindruck entsteht, der nach landläufigen Begriffen subjektivistisch ist. Wollte man definieren, was für Schmidt ‚Realismus‘ heißt, so müsste man ungefähr folgendes sagen: Die Darstellung soll sich auf tatsächlich Vorhandenes beziehen, sie muss eine an der wissenschaftlichen Beobachtung geschulte Genauigkeit einhalten und sie darf nicht schönfärberisch über die Gegebenheiten hinwegtäuschen. Mit der Forderung nach einer „Abbildung der Welt“ wird eine zweite erhoben, die nach „Genauigkeit“. Auch dies ist ein Begriff, der unbestimmt bleibt, solange nicht definiert ist, was darunter zu verstehen ist.43 Es gibt unterschiedliche Arten von Genauigkeit. Die von Helmholtz sieht anders aus als die von Proust. Und was die Verlässlichkeit betrifft, so sind die Anforderungen an die Literatur verschieden von denen an die Wissenschaft. Diese begreift unter ‚Genauigkeit‘ ‚Quantifizierbarkeit‘. Die ‚exakten‘ sind die mathematisierten Wissenschaften, und sie haben Verfahren wie das Experiment entwickelt, durch die Sachverhalte und Vorgänge in zahlenmäßige Äquivalente überführt werden.44 Schwieriger ist es zu bestimmen, was Genauigkeit in der Literatur heißen soll. Jedenfalls beruht sie auf der Sorgfalt des Hinsehens, darauf, die Sinnenwelt bis in die Nuancen, Schwebungen und flüchtigen Zustände zu beschreiben. Beschreibungen werden auch in der Wissenschaft angefertigt und die artifizielle und die szientistische 41 42 43 44
So in den Berechnungen; Zur dt. Lit. 4, S. 350f. Zur dt. Lit. 1, S. 21; vgl. die Ausführungen über Brockes in diesem Aufsatz. Vgl. dazu Klaus Podak, Problematische Genauigkeit, in: Drews/Bock, a.a.O., S. 183ff. Näheres dazu in den Ausführungen über das Experiment; oben I, 2.
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können sich überschneiden. Nur muss man beachten, dass es bei der wissenschaftlichen Deskription einzig darum geht, das Erscheinungsbild der Gegenstände adäquat zu erfassen. In der Dichtung können die Dinge auf anderes verweisen, sie bekommen eine symbolische Bedeutung; oder aber sie sind Ausdruck eines Seelisch-Inneren. Die poetische Wahrheit ist eben nicht gleichzusetzen mit der wissenschaftlichen. Für Schmidt müssen die Fakten stimmen. Sie dürfen nicht verbogen werden, um einen poetischen Effekt zu erzielen. So mokiert er sich über ‚Dichter‘, die das Sternbild des Orion am Sommerhimmel aufgehen lassen. Die angestrebte Genauigkeit ist zunächst eine der Beschreibung. Es geht darum, die Sprache geschmeidig zu machen; sie muss aufnahmefähig werden für die Differenziertheit der Erscheinungen. Der Wind weht beileibe nicht nur, er führt eine Unzahl unterschiedlicher Bewegungen aus, die ihren sprachlichen Ausdruck suchen. Die Sprache behindert eher die Erkenntnis, als dass sie sie fördert, und zwar deshalb, weil sie meistens nur Stereotypen anzubieten hat, die der Eigenart des Beobachteten nicht gerecht werden. So muss der Beschreiber sprachschöpferisch werden, er muss die herkömmlichen Möglichkeiten erweitern, auch durch ungewöhnliche Bildungen. Immer wieder beklagt Schmidt die „Armut“ der Sprache. Vor allem bliebe sie hinter der Wahrnehmung zurück. Gerüche etwa könne sie nicht zufrieden stellend benennen, sie hätte nicht einmal ein Wort für den, der nichts riecht, sie kenne nur ‚blind‘ und ‚taub‘.45 „Was not täte“, wäre eine Sprache, die „imstande wäre, z.B. in einer Flüssigkeitsfläche hin= und her=schwappende Lebewesen rasch und bildhaft=überzeugend zu inventarisieren.“46 Als einen, der sich dieser Aufgabe gestellt habe, führt Schmidt den romantischen Naturphilosophen Lorenz Oken an. Der habe zahlreiche Benennungen erfunden, um der Vielgestaltigkeit der Natur beizukommen.47 Schmidts Sprachkritik ist nicht nur Ausdruck eines persönlichen Ungenügens, sie ist vielmehr symptomatisch für die Lage der Literatur seit 1900. Am Anfang steht ein diffuses Gefühl des Unbehagens. Formuliert hat es Hugo von Hofmannsthal in einem fingierten Brief, der einem gewissen Lord Chandos zugeschrieben wird. Berichtet wird darin von einer verstörenden Erfahrung, von der, dass die Wörter die Dinge nicht mehr erreichen. Während diese von der Sprache sonst eine Bedeutung empfingen und hineingestellt wurden in einen vertrauten Zusammenhang, entziehen sie sich jetzt der Benennung. Offensichtlich sind sie noch anderes als das, wofür sie die Begriffe ausgeben. Es ist 45 I, 1, S. 269. 46 I, 3, S. 330. 47 Vgl. ebd., S. 327ff.
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die Funktion der Sprache ein Kategoriengefüge bereitzustellen, das sich über die Erscheinungen legt, das sie einordnet und gruppiert, das vorgibt, wie man sich auf sie einzulassen hat: Das hier ist ein Baum, und das daneben ist ein Wagen. Offensichtlich, und das ist die Erfahrung, von der der Brief redet, kann das herkömmliche System der Bezeichnung diese Aufgabe nicht mehr erfüllen. Daraus resultiert das Gefühl, dass sich die Dinge entziehen, sie sind fremd geworden, sie haben einen verborgenen Sinn, an den die Wörter nicht heranreichen. Der Briefschreiber äußert sich auch dazu, wie diese Krise des Weltbezuges zustande gekommen ist. Sie geht hervor aus einem Prozess, in dem die kompakten Gegenstände sich in immer kleinere Partikel auflösen. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.48
Der Brief richtet sich an einen der Begründer der neuzeitlichen Wissenschaft, an Francis Bacon, und die Adresse enthält einen Hinweis darauf, in welchem Zusammenhang die veränderte Einstellung zur Realität zu sehen ist. Die Dinge lösen sich auf unter einem Zugriff, der ihre Zusammensetzung herausfinden will. Nicht von ungefähr kommt die Reminiszenz an ein Vergrößerungsglas. Der Einsatz des technischen Apparats, der die Einzelheiten scharf umrissen hervortreten lässt, führt dazu, dass sich das Ganze verliert. Ausgesetzt ist die Gewohnheit, die die Dinge aufs Gebrauchdienliche vereinfacht, sie reduziert, auf die bewährten Muster. Vielmehr werden sie zerlegt und dadurch werden an ihnen immer neue, bis dahin unbekannte Eigenschaften bemerkbar. Es ist dieses Vorgehen, das der Wissenschaft eigentümlich ist. Sie hat ein Instrumentarium entwickelt, das die Wirklichkeit seziert und analysiert, das die Gegebenheiten herausnimmt aus ihrem gewöhnlichen Kontext und sie Versuchen und Kontrollverfahren unterzieht. Es kommt zu dem, was als ‚Wirklichkeitszerfall‘ viel beredet wurde. Hofmannsthals ‚Brief‘ ist als Reaktion der Literatur auf diese Entwicklung zu lesen. Er begreift die veränderte Weltsicht indessen nicht nur als einen Verlust, 48 Hugo von Hofmannsthal, Ein Brief, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden, Erzählungen – Erfundene Gespräche und Briefe – Reisen, Frankfurt/M. 1979, S. 461 ff; das Prosastück erschien erstmalig 1902.
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vielmehr sieht er darin zugleich neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Kunst. Gerade vorher nicht beachtete Gegebenheiten, Wirklichkeitsbestände, die als banal und minderwertig galten, erscheinen plötzlich in einem anderen Licht. Sie sind geheimnisvoll und in Ihrer Vieldeutigkeit von einer versteckten Magie. Die Bemächtigung der Welt durch die Wissenschaft hat für die Literatur noch eine andere Folge. Sie reflektiert Robert Musil in Der Mann ohne Eigenschaften. Seit dem Ende der großen spekulativen Systeme, wie sie etwa der ‚Deutschen Idealismus‘ errichtet hatte, seit deren Aufhebung durch die empirische Forschung, hat es einen enormen Zuwachs an handfesten, technisch verwendbaren Wissen gegeben. Die Erfahrungswissenschaft dringt bis zu den Bestandteilen der Realität vor und weiß diese mit zunehmender Genauigkeit zu bestimmen. Aber diese Anhäufung von Faktenwissen ergibt keine Einsicht in die Zusammenhänge. Nicht ohne Ironie zieht Musil Bilanz. Wir haben in diesen hundert Jahren uns und die Natur und alles sehr viel besser kennen gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, daß man alles, was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am Ganzen wieder verliert, so daß wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung haben.49
Woran es mangelt, ist demnach eine Hierarchie, aus der hervorginge, was entscheidend und was nebensächlich wäre, was Bedeutung hätte und was keine Beachtung verdiente. Die Unmöglichkeit einer Gewichtung hat Folgen für das Erzählen. Wo alles als gleich wichtig rangiert, gibt es nichts, was sich heraushebt. Das wäre ein Ereignis, auf das die anderen Vorkommnisse zuliefen oder von dem sie ausgingen. Die Geschehnisse stünden in einem Verhältnis der Folge. Was nichts mit dem herausragenden Ereignis zu tun hat, könnte vernachlässigt werden, wäre eine Größe, die nicht zählt. Die Mannigfaltigkeit würde zurückgeführt auf eine einfache, eindimensionale Ordnung mit einem eindeutigen Richtungssinn, auf A folgt B. Wenn dergleichen nicht möglich ist, dann stehen die Begebenheiten nicht in einem Verhältnis des Nacheinander, sondern in einem des Nebeneinander. Die Ereignisse liefen aneinander vorbei; sie könnten sich auch überlagern oder auch sich berühren und sich beeinflussen. Was sich herausbildete, wäre ein komplexes Muster, eine Geflecht von Gegebenheiten mit einer eher räumlichen Struktur. Dann ist aber die Ordnung des Erzählens aufgehoben, die auf einer „perspektivischen Verkürzung des Verstandes“ beruht. Diese besteht eben darin, dass getilgt wird, was sich dem Hauptstrom der Ereignisse nicht einfügt. Ein Beispiel macht das deutlich. Die Aufklärung eines Verbrechens ist das Ziel einer Kriminalgeschichte. Personen, 49 Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, S. 379.
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Handlungen und Vorfälle, die damit zu tun haben, sind von Belang, alles andere ist überflüssiges Beiwerk. Dazu schreibt Musil: Die meistem Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig ‚weil‘ und ‚damit‘ hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen ‚Lauf‘ habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitive Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‚Faden‘ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.50
Zu konstatieren ist also, dass das Vordringen wissenschaftlicher Erklärungen Rückwirkungen auf die Literatur hat. Ihre Befähigung, Tatbestände zu eruieren und zu benennen wird dadurch in Frage gestellt. Hatte die Dichtung vordem das Dasein des Menschen, seine Stellung in der Welt und sein Leben in der Gesellschaft geschildert und interpretiert, so treten an die Stelle dieser Daseindeutungen zunehmend die Erklärungsmodelle der Naturwissenschaften, der Psychologie und der Soziologie. Die Wissenschaft nimmt für sich in Anspruch, die wahren Sachverhalte herauszustellen, und sie hat dazu einen ins Gigantische angewachsenen Forschungsbetrieb errichtet, gegen den sich die Bemühungen des einzelnen Schreibers geradezu dürftig ausnehmen. Der Bereich, in dem sich ein Schriftsteller wirklich auskennt, wird dadurch immer mehr eingeschränkt, und es kommt zu dem, was Dieter Wellershoff, selbst ein Betroffener, den „Kompetenzzweifel der Schriftsteller“ genannt hat.51 Am Ende bleibt dem Schriftsteller nur, über sich zu reden, denn das ist das einzige Gebiet, auf dem er über die nötige Sachkunde verfügt. Auch die sogenannte ‚Rollenprosa‘ ist eine Antwort auf dieses Problem. Der Autor gibt seine Allwissenheit auf und redet nur noch aus der Perspektive einzelner Personen. Was noch die großen Romane des 19. Jahrhunderts, die Balzacs oder Tolstois sich zutrauten, nämlich das Gesamtbild einer Welt und einer Gesellschaft zu entwerfen, das ist obsolet geworden. Und fragwürdig geworden ist auch, das ist der zweite Punkt, die Form des Erzählens. Die Einhaltung eines schlichten Nacheinander erweist sich als undurchführbar angesichts einer komplexen Wirklichkeit, der die Simultaneität und das Nebeneinander eher gerecht werden 50 Ebd., S. 650. 51 Vgl. das gleichnamige Kp., in: Die Auflösung des Kunstbegriffs, Frankfurt/M. 1976, S. 45ff.
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Das ist die Lage der Epik, die Schmidt vorfindet. Aber er lamentiert nicht über angebliche Zerfallserscheinungen, sondern stellt sich den aktuellen Fragen und entwickelt daraus seine Prosaformen. Seine Beschreibungen beschränken sich auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit, den er sehr genau kennt. Was er an Brockes rühmt, dass er es vermocht habe, die „getreuliche Monographie“ einer „in sich geschlossenen kleinen Welt“ anzufertigen, das unternimmt auch er.52 Er konzentriert sich dazu auf einen Bezirk, der begrenzt und übersichtlich ist, der wenig Abwechslung bietet, so dass es gelingen kann, alle Äußerungen des Lebens, auch die alltäglichen, auch die scheinbar geringfügigen und nebensächlichen aufzunehmen. Schmidts Rückzug in einen ländlichen Winkel, in ein Heidedorf, ist auch dadurch motiviert. Er gehört gewissermaßen zur Versuchsanordnung seiner experimentierenden Prosa. Konsequent wird zudem aus der Perspektive der epischen Personen erzählt. Schon immer ist bemerkt worden, dass der in allen Romanen und Erzählungen auftretende Ich-Erzähler kein anderer ist als Arno Schmidt selbst.53 So ganz stimmt das freilich nicht; natürlich handelt es sich um fingierte Personen. Aber sie alle tragen doch Züge ihres Autors, haben seine Vorlieben und Macken. Dass die Protagonisten Spiegelungen von ihm selbst sind, hat Schmidt bewusst so angelegt. Zur Begründung führt er an, dass die eigene Person dem Schriftsteller doch am vertrautesten ist. Er spricht in diesem Zusammenhang von „Vivisektion“ und von der „Aufopferung“ der eigenen Person. Darin besteht für ihn die Gewähr, „sämtliche Menschlichkeiten leichter, ehrlicher & aufschlussreicher“ darzustellen als an „schwächerem Material“.54 Das Bemühen um Genauigkeit hat zunächst etwas mit Schmidts persönlichen Obsessionen zu tun. Er werde umgetrieben von einer „wahnsinnigen Lust am Exakten“, lässt er eines seiner Alter Egos sagen. Das gehöre geradezu zum Prosa-Schreiber, denn: „Wer die Sein=setzende Kraft von Namen, Zahlen, Daten, Tabellen, Karten, nicht empfindet, tut recht daran, Lyriker zu werden; für beste Prosa ist er verloren.“55 Schmidts Liebe zur Mathematik spielt da hinein, die sich in allerhand Rechenkunststückchen niederschlägt. Entscheidend ist aber, dass er für seine Schriftstellerei Vorgehensweisen der empirischen Wissenschaft adaptiert. Der Schriftsteller solle nicht „Metaphysik“ betreiben, sondern „beobachten“, „registrieren“ und „messen“. Sich sieht er als „Topographen“ und „Landmesser“.56 Diese Arbeitsweise hat 52 Zur dt. Lit. 1, S. 31. 53 Vgl. dazu z.B. Hartmut Vollmer, Das vertriebene und das flüchtende Ich. Zu den Protagonisten im Frühwerk Arno Schmidts, in: Schardt/Vollmer, 89ff. 54 S. dazu Hubert Witt, Dädalus im Gehäuse, ebd. S. 190 f; Nachweise da. 55 I, 2, S. 46. 56 Vgl. I, 1, S. 328; I, 2, S. 104.
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ihre handfeste Seite. Für seine Erkundungen benutzt Schmidt Präzisionsinstrumente, vor allem den Fotoapparat und das Fernrohr. Er weiß sich dabei in der Tradition der Naturforschung, deren Erfolg „geradezu schicksalhaft mit einem entscheidenden Fortschritt der >Optik< gepaart“ gewesen sei, mit dem Einsatz von „Mikroskop und Fernrohr“.57 Das mit diesen Mitteln erworbene Bildmaterial bildet zusammen mit Skizzen und schematischen Darstellungen die visuelle Stütze der Prosaarbeiten. Aber eigentlich handelt es sich dabei um mehr; diese Materialien sind Realitätspartikel, die mit anderen Bruchstücken, die mit akustischen Wahrnehmungen, Wortassoziationen und Gedankensplittern verwoben werden zu einer literarischen Komposition. Das Fotografieren ist noch etwas anderes als nur ein Hilfsmittel. Exemplarisch vollzieht sich in ihm, was Schmidts Darstellungsweise überhaupt ausmacht. Das ergibt sich schon daraus, dass er seine Prosastücke über Begriffe wie ‚Fotoalbum‘ und ‚Schnappschuss‘ definiert. Der fotografische Apparat zerlegt die Welt in Ausschnitte. Einzelnes wird herausgehoben, es wird isoliert von seiner Umgebung. Das gilt für den Raum und die Zeit. In der Momentaufnahme erstarrt die Bewegung, die flüchtige Geste erscheint herausgelöst aus ihrem Vollzug. Mit den Objekten geht Ähnliches vor, sie werden separiert von ihrem Umfeld. Damit aber tritt klar und deutlich hervor, was sonst aufgeht in übergeordneten Vollzügen und Bezügen. Was der einzelne Gegenstand aufweist an Strukturen und Eigenschaften, an Formen und Farben, das wird erst jetzt offenkundig. Gemessen daran, wie die Dinge für das unbewaffnete Auge aussehen, liegt hier eine Verfremdung vor. Aber die Zurichtung durch den technischen Apparat ermöglicht auch ihre genaue Erfassung. Generell verfährt Schmidt nach dem Grundsatz, „das Unbegreifliche in einzelne Begreiflichere zu zerlegen.“58 Das ist gut cartesianisch gedacht und findet sich in der ‚Zweiten Regel‘ der Discours de la méthóde wieder, nach der „jedes Problem … in so viele Teile zu teilen“ ist „wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen.“59 Wahr ist dann, was das methodisch vorgehende Denken zu Tage fördert und was für den aufnehmenden Geist zweifelsfrei feststeht. ‚Evidenz‘ sagt dazu die von Descartes inspirierte Philosophie. An das Wesen der Dinge gelangt man, wenn man sie in ihre Bestandteile auflöst, und das kann auch mit Hilfe von Instrumenten, Sensorien und optischen Geräten geschehen. Konstitutiv für das als real Geltende sind demnach die Operationen des Subjekts, und da ist es nur konsequent, wenn man auch 57 Zur dt. Lit. 1, S. 19. 58 I, 1, S. 332. 59 II. Teil, 8.
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der speziellen Sichtweise einer bestimmten Person einen Erkenntniswert einräumt. Einer, der mit Vorkenntnissen an eine Sache herangeht, sieht eben anderes als einer, der darüber nichts weiß. Und einer, der ein Ding benennen kann, hat einen anderen Zugriff darauf als derjenige, dem dafür das Wort fehlt. Dabei können die eingesetzten Methoden und Instrumentarien natürlich verbessert werden. Wenn aber unter Wirklichkeit das zu verstehen ist, was das Subjekt an den Dingen aufdeckt, dann wird gewissermaßen unter der Hand die Aufgabe, die sich Schmidt gestellt hat, verändert. Aus der Abbildung der Realität wird die Abbildung der Akte, durch die diese zugänglich gemacht wird. Festgehalten werden Bewusstseinsakte, werden die Prozeduren, durch die das Aussehen der Gegenstände bestimmt wird. Es handelt sich dabei weniger um eine „Ausweitung“ des Realitätsbegriffes60 als vielmehr um eine folgerichtige Fortsetzung des einmal eingeschlagenen Weges. Denn von Beginn an setzt Schmidt auf Verfahrenstechniken, das belegen schon die relativ frühen Berechnungen, in denen Schmidt seine Theorie der Prosa darlegt. Schmidts Konzeption einer ‚realistischen‘ Erzählweise lässt die Handlung völlig in den Hintergrund treten. Registriert wird vielmehr alles, was einer Figur begegnet und was ihr dabei durch den Kopf geht, auch Ephemeres, Marginales und Banales. Er bemerkt dazu: Es sei noch einmal angesprochen, daß das Problem der heutigen (und künftigen) Prosa weder der feinsinnige noch der originelle noch der >schockierende< Stoff ist – …sondern die übrigens längst fällige, systematische Entwicklung des Gerüstes, also die Anordnung der Prosaelemente, sowie deren Durcharbeitung und Verfeinerung selbst; wodurch in letzter Instanz weiter nichts erreicht werden soll, als eine präzisere Abbildung der Welt und des Menschen als bisher: GRÖSSERE WAHRHEIT!61
Die einzelnen Teile der Erzählung werden nicht im Hinblick darauf, ob sie für die Fabel bedeutungsvoll sind, ausgewählt. Damit entfällt auch ein Kriterium dafür, was wichtig und was unwichtig ist. Der für den Roman des 18. und 19. Jahrhunderts so entscheidende Begriff der ‚Abweichung‘ oder ‚Digression‘ ergibt hier gar keinen Sinn. Und weil es sich Schmidt versagt, zu selektieren, gehen daraus Texte hervor, die das aufweisen, was Musil als Auflösung der erzählerischen Ordnung diagnostiziert hatte. Einzelnes, das ganz heterogen sein kann, wird nebeneinander gesetzt: das lyrische Bild steht neben dem Geplapper aus dem Radio, eine alltägliches Beobachtung neben der Zeitanalyse, eine melancholische Reminiszenz neben der Zote.
60 So Suhrbier, a.a.O., S. 15. 61 Zitiert nach Schardt/Vollmer, a.a.O., S. 184.
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Da Schmidt Bewusstseinsvorgänge schildern, nur das wiedergeben will, was der Ich-Erzähler erkundet, ausmisst, sieht, hört, sich überlegt, woran er sich erinnert, wovon er träumt, wird er zwangsläufig auf eine in der Moderne vielfach variierte Erzählweise gebracht, auf den ‚inneren Monolog‘. Er ist darin aber ganz eigenständig und kopiert nicht, was man zuweilen zu lesen kriegt, James Joyce.62 Nach Schmidt kann man von einem ‚Bewusstseinsstrom‘, von einem unaufhörlichen, ohne Unterbrechung vonstatten gehenden Fließen wie bei Joyce gar nicht reden. Es ist vielmehr so, dass die Bewusstseinsprozesse „springen“. Kleine, unabhängige Erlebniseinheiten lösen einander ab, wobei sich an jede von ihnen andere Bewusstseinselemente anlagern. Etwa in der Weise: Die Sonne verbrannte am unteren Rande des Himmels (zu fester Wolkenasche); aus den Wäldern kam grauer Moorgeist, Gras und Gewelke troffen sehr und schnarchten (neben meinen Schuhen, meinen Hosen). Ich stellte den Kopf auf dem Beinstativ waagrecht und maß um mich: 5 Lichter, 200 Grad Wälder, dann Wasserwiese und Felderwust (und kein Radio, keine Zeitung, kein Volk, kein Führer!). Wind coiffierte mir gefällig im Haar (was ich nicht schätze!), und wischperte waschhaft und figarös: Laß das! Über den Weg …63
Zwischen die erste Einheit und die folgende wird ein Schnitt gelegt, was schon durch das Schriftbild zum Ausdruck kommt. Die Darstellung nimmt die Form eines Mosaiks an, und „musivisches Dasein“ ist ein Grundbegriff, den Arno Schmidt für seine Prosa verwendet.64 Schmidt hält an dieser Struktur weitgehend fest, wenngleich er sie verfeinert und anreichert. Vor allem nimmt er zunehmend Unbewusstes auf, denn er glaubt, dass unbewusste Bezüge in die Textur der Welt verwoben sind, die er in deren sprachliche Abbildung aufzunehmen sucht. Dabei geht die Tendenz dahin, die Texte immer stärker zu zerhacken. Sie werden dadurch mehrdeutiger, anspielungsreicher und durchlässiger für Assoziationen. So schreibt er beispielsweise in Kaff „Ammeerie=Kahner“ für Amerikaner.65 Wie unter dem Zugriff der mikrologischen Methode die äußere Realität zerfasert, so löst sich auch das Subjekt auf. Es zerfällt in einzelne Akte und Erlebnisse: Mein Leben?!: ist kein Kontinuum! (nicht bloß durch Tag und Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen! Denn auch bei Tag ist bei mir der ein Ande62 Über das Verhältnis Schmidts zu Joyce vgl. Stefan Gradmann, Das Ungetym: Mythos, Psychoanalyse und Zeichensynthesis in Arno Schmidts Joyce-Rezeption, München 1986. 63 I, 1, S. 312. 64 So schon in den Berechnungen; vgl. Zur dt. Lit. 4, S. 353. 65 I, 3, S. 272.
410 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft rer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt; schreibt; Tausendsdenker; auseinanderfallender Fächer; der rennt; raucht; kotet; radiohört; „Herr Landrat“ sagt: that’s me!) : ein Tablett voll glitzernder snapshots.66
Das Individuum muss erkennen, dass es eine durchgehende Ordnung nicht garantieren kann, nicht für sich und nicht für die Dinge. Dem Zerfall der äußeren Welt korrespondiert die der inneren, und was zurückbleibt sind Fragmente, die sich nicht zu einer Einheit zusammenschließen. Zu überwinden wäre dieser Zustand nur, wenn es dem Subjekt gelänge, sich und die Dinge in einen größeren Zusammenhang hineinzustellen, in eine Schau des Ganzen, von der her das Einzelne seine Bedeutung empfinge. Eben dazu waren Brockes und Stifter, für Schmidt Vorbilder in Bezug auf Wirklichkeitstreue und die verlässliche Schilderung des Details, übergegangen. Ihnen offenbarten sich im Kleinen und Unscheinbaren die kosmische Harmonie und das Walten Gottes. Aber das weist Schmidt zurück, solche Konstruktionen hält er für pure Spekulation, schlimmer noch: für Lüge. Der redliche Beobachter ist allein an die Erfahrung verwiesen. Die einzelnen Gegebenheiten fügen sich nicht zu einer höheren Ordnung, sie stehen für sich, und was sich erfassen lässt, sind lediglich Bruchstücke. Für die Naturdarstellung ergibt sich daraus ein Verfahren des Additiven. Eine Wahrnehmung wird neben die andere gesetzt, und daraus entsteht der Eindruck des Flächigen, von Bildern ohne Tiefe. Bei längeren Passagen, bei einen von Schmidts zahlreichen Gängen durch die Natur wird nie ein Gesamtprospekt der Gegend entworfen, vielmehr entsteht ein Mosaik aus singulären Hinsichten, die alle den Charakter des Ausschnitthaften haben. Immer aber handelt es sich, worauf schon hingewiesen wurde, um tatsächliche Örtlichkeiten. „Die einen denken sich ihre Landschaften aus. Die Anderen fahren vorher hin, und sehn sie sich an.“67 Die Gegend um den Dümmer, in der Seelandschaft mit Pocahontas spielt, hat Schmidt sorgfältig inspiziert. Die davon mitgebrachten Notizen und Fotos dienten als Vorlage beim Schreiben. Bei der Abfassung anderer Werke ist er ähnlich vorgegangen. So machte er eine seiner wenigen Reisen an die Eider, um das Terrain für die Schule der Atheisten zu sondieren, wenn er nicht gleich seinen Wohnort Bargfeld als Schauplatz wählte wie für zahlreiche Erzählungen und für Zettels Traum. Die Zweidimensionalität teilen Schmidts Schilderungen mit Bildern der modernen Malerei. Diese öffnen nicht den Raum, sie bleiben in der Fläche und gehen nicht in die Tiefe. Und das bedeutet, dass die Land66 I, 1, S. 301. 67 Zur dt. Lit. 3, S. 159.
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schaftskunst an ein Ende gekommen ist. „Die Landschaft hört im Impressionismus auf, Landschaft zu sein“, befindet Rolf Wedewer.68 Dieses Ende setzt eigentlich schon ein mit der Aufgabe der Zentralperspektive, wie sie sich auf Bildern von Caspar David Friedrich andeutet. Als undurchführbar erscheint ein Unternehmen, das die Natur aus einem einheitlichen Gesichtspunkt betrachten will. Die Bilder selbst bezeugen das. Beim späten Monet kommt es nicht mehr zur Darstellung landschaftlicher Natur. Das verhindert die Konzentration auf bestimmte Phänomene. Die Aufmerksamkeit wendet sich nahezu ausschließlich der Farbe zu wie auf den Gemälden des Seerosenteichs von Giverny. Von der Gegenständlichkeit ist wenig geblieben, es entstehen farbliche Tableaus, die sich bereits der abstrakten Malerei annähern. Die Darstellung gibt nur einen eng begrenzten Ausschnitt wieder, aber diese Beschränkung ermöglicht eben auch die minutiöse und nuancierte Erfassung des Sujets. Aber von der Umgebung, in der sich der Teich befindet, wird keine Vorstellung vermittelt. Und was Arnold Gehlen über den Kubismus sagt, beginnt sich hier schon abzuzeichnen. Jetzt begann die Epoche der ‚absoluten und klar ausgesprochenen Herrschaft (des Malers) über den Gegenstand‘ (Malraux), und damit schwenkte die Kunst in eine Tendenz ein, die zuerst Descartes vorgezeichnet hatte, als er in der Absicht, den Menschen zum ‚maître et possesseur de la nature‘ zu machen, die Wirklichkeit in ihre Elemente zerdachte und sie aus ihnen konstruktiv wieder aufgebaut hatte.69
Bei Arno Schmidt lässt sich verfolgen, wie dieser Prozess auch die Literatur ergreift und wie es zur Auflösung des Sehmusters ‚Landschaft‘ kommt. Dieses hatte zur Voraussetzung den individuellen Blick, der die Landschaft einrichtet. Er stellt die Dinge auf sich zu, und verbindet sie so zu einer Einheit. Das gelingt mit Hilfe einer Konstruktion, mit der der Zentralperspektive.70 Nach den Postulaten der empirischen Wahrheitsfindung und nach dem davon abgeleiteten Prinzip der Dekomposition lässt sich aber eine Einheit nicht mehr herstellen. Das Subjekt, das allein dies bewerkstelligen könnte, verliert sich ans Einzelne und zerfällt selbst in Fragmente. In den frühen Erzählungen unternimmt Schmidt noch den Versuch, etwas aufscheinen zu lassen von Reiz landschaftlicher Natur. Mit wenigen Strichen wird da das Bild der norddeutschen Landschaft gezeichnet.
68 A.a.O., S. S. 137. 69 Zeit-Bilder, a.a.O., S. 75. 70 Hier wird lediglich stichwortartig wiederholt, was im Kp. I, 4 ausführlich dargestellt wurde.
412 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft Ich trat gebückt über den Graben, und sah aufs leere Moor, wilde Weite, süß und eintönig, in der schwarzen Strahlung, bis ich die Schultern in der Jacke rieb. Das ist das Schönste im Leben: Nachttief und Mond, Waldsäume, ein stillglänzendes Gewässer fern in bescheidenen Wieseneinsamkeit – so hockte ich lange und müßig mit rechtsgeneigtem Kopf.71
Die Ansicht der nächtlichen Moorlandschaft ist ganz konventionell gehalten. Der Standpunkt des Betrachters steht fest; eine einheitliche Sicht ist gewahrt; der Waldsaum mit dem Mond darüber bildet den Hintergrund; davor, im Mittelgrund befindet sich ein Gewässer; das liegt in einer Wiese, die bis in den Vordergrund reicht. Völlig hingegeben an die Szenerie ist der Betrachter, und sie geht ganz auf in der Stimmung: lauter Mondschein und in sich gekehrte Stille. Später wird ein einheitlicher Vorstellungsraum, in den die einzelnen Naturdinge und die verschiedenen Landschaftspartien eingefügt wären, nicht mehr aufgebaut. Jetzt stoßen sich die Erscheinungen, sie stehen unvermittelt nebeneinander. Die Eindrücke ergeben keine Kohärenz, sie lösen sich nur ab in einer Art Bilderflucht, wie beim ‚Pibroch‘, bei der schottischen Pfeifenmelodie: Oktoberpibroch (dabei wars Februar) : Und ein ganzer Clan grauer Wolken, ladies from hell, marschierte heran; die Felder begannen heiser zu meutern; Buschgerippe griffen (faßten) sich verzweifelt an. Vor ihrem Schaufenster erschien ein schneidiges Ladenmädchen und rang das Eisengitter nieder.72
Natürlich macht sich darin expressionistischer Einfluss geltend, der im Frühwerk Schmidts überall spürbar ist. Das erinnert an den sogenannten ‚Reihungsstil‘, der Verschiedenes und Disparates einfach aneinander hängt. Auch andere expressionistische Ausdrucksmittel adaptiert Schmidt, so die Gewaltsamkeit des sprachlichen Gestus. Und auch das hat er daher: Die Naturerscheinungen werden personifiziert, die Felder „meutern“ und die Büsche sind „verzweifelt“. ‚Aufstand der Dinge‘ heißt das entsprechende Schlagwort.73 Von der expressionistischen Manier löst sich Schmidt endgültig in seiner mittleren Phase. Er baut aus, was früher begonnen wurde. Da werden unterschiedliche Bruchstücke ineinander montiert: Sinneseindrücke, Assoziationen und Reminiszenzen, Gesprächsfetzen und Kommentare, geographische und kartographische Angaben, Gefühlsregungen und Körperreaktionen, nicht zu vergessen: Wortspiele. Die folgende Passage zeigt etwas davon.
71 I, 1, S. 204. 72 I, 1, S. 326. 73 Schmidts Verhältnis zum Expressionismus ist mehrfach untersucht worden; weitere Angaben bei Suhrbier, a.a.O., S. 21–23.
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und sprach doch erfreut sein >Ach – Potz Bach & As=Bach< murmelte er nachdenklich.)74
Von der Anlage her bilden die Bruchstücke aus sich heraus keinen Zusammenhang. Dieser ist mehr oder weniger willkürlich und ergibt sich eher zufällig, er ist vage und unbestimmt. Die Einzelheiten stehen nur nebeneinander. Aus der Nähe, aus den Berührungen ergeben sich aber unterschiedliche Abfärbungen und Beleuchtungen, und es bilden sich Muster. Eine Affinität kann entstehen, die überraschend ist und etwas aufdeckt an den Dingen, einen Aspekt, der ohne diese Nähe unbemerkt bliebe. Durch dieses Verrücken und Aneinanderrücken ergeben sich immer neue Sichtweisen, so dass die Gegenstände im Grund genommen unerschöpflich sind. Der Betrachter braucht sich nicht einmal fortzubewegen, er hat an wenigem genug, und Schmidt hat sich immer wieder auf dieselben Anblicke bezogen, auf einen sandigen Heideweg beispielsweise oder auf einen waldumstandenen Teich. Es ist das Verfahren der Collage, das hier eingesetzt wird. Dieses versucht, die Wirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit wiederzugeben. Der Text lässt unterschiedliche Lesarten zu, er wird vielstimmig und erreicht in Zettels Traum eine kaum zu überbietende Polyvalenz. Da wird probiert, die Diskursivität der Sprache aufzuheben und die Simultaneität unterschiedlicher Vorgänge abzubilden, dadurch, dass drei Kolumnen nebeneinander gesetzt werden. Dass diese aufeinander abgestimmt sind und dass dadurch ein polyphoner Effekt erzielt wird, hat Jan Philipp Reemtsma in einem Leseexperiment gezeigt. Er ließ die drei Kolumnen von drei Sprechern gleichzeitig vortragen.75 Diese tendenziell sich immer weiter ausfächernden Strukturen resultieren natürlich aus der mikrologischen Technik. Und wenn alles wichtig ist, entsteht ein Verlangen nach Vollständigkeit. Um ein konsistentes Bild der Wirklichkeit zu erschaffen, sollen die akribisch erhobenen Bestandteile möglichst lückenlos zusammengetragen werden. Das hat zuweilen etwas von einer Sammelwut, eine Leidenschaft, die Schmidt nicht fremd ist. Alles zu erfassen, ist natürlich unmöglich. Man kommt diesen Ziel aber nahe, wenn man sich auf einen Ausschnitt beschränkt, und das ist, es wurde 74 I, 3, S. 432. 75 In einer Lesung, die vom Fernsehen aufgezeichnet wurde. Zur Konzeption von Zettels Traum vgl. Jörg Drews, Arno Schmidt: „Zettels Traum“, Seite 1(ZT 4). Ein Kommentar, in: Bargfelder Bote, Lfg. 9 / Oktober 1974.
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schon gesagt, für Schmidt ein Grund eine ländliche Umgebung abzuschildern. Schmidts experimentierende Prosa ist aber immer getragen von einem starken Empfinden für die Natur. Von ihr fühlen sich seine Protagonisten unwiderstehlich angezogen. Nicht anders als in der Naturdichtung vor Schmidt appellieren die Naturerscheinungen an die Seele, sie teilen sich ihr mit, wie der Wind, der die unterschiedlichsten Gebärden ausführt, der lockt und reizt und einen mitnimmt. Und so ist er Geist, einer der Elementargeister, der ‚Sylphen‘ oder ‚Windleutte‘, von denen Paracelsus sprach. Die Romantiker, Fouqué vor allem, haben sich solche Lehren zu eigen gemacht. Und Schmidt lässt sie in der Nachfolge Fouqués wieder aufleben. Das ist aber mehr als eine Reverenz an eine literarische Epoche. Darin bekundet sich die Überzeugung des Künstlers, dass hinter der Welt der Erscheinungen eine andere existiert, eine, die zeitlos ist, die des Mythos. Das, was die Erfahrung aufnimmt, weist auf sie hin, ist eine Manifestation von ihr. Die Wirklichkeit geht demnach nicht auf in den Fakten, die wissenschaftlich erhebbar sind. Sie hat eine Tiefenschicht, und die entdeckt, wer darauf achtet, welchen Ausdruck die Dinge haben, also der Künstler. Er gewahrt, dass auch das scheinbar Vordergründige hineingezogen ist in ein System universaler Sinnbezüge. Ein schmales Rinnsal oder ein bescheidener Tümpel in der Heide, nichts Besonderes, etwas, das sich kartographisch ausmessen lässt, hat doch teil am untergründigen Wesen des Wassers. Es ist die Heimat amphibischer Geister, ‚Wasserleutte‘ nennt sie Paracelsus. Die weiblichen Figuren Schmidts verbinden sich mit ihnen, Pocahontas aus der gleichnamigen Erzählung, Hertha aus Kaff und die Frauen aus Die Wasserstraße. Sie korrespondieren auch mit Gestalten aus der Literatur, sind nicht nur Undine, sondern auch Heines Prinzessin Ilse und die Wäscherin Anna Livia Plurabelle aus Finnigans Wake. Schmidts Texte lassen demnach mehrere Lesarten oder, wie er es nennt, „Lesemodelle“ zu. Sie haben immer auch eine autobiographische Bedeutungsebene, können gelesen werden als Kommentare zur Literatur, und ihnen ist zudem ein mythischer Sinn zu entnehmen. Die topographisch genauen Naturbeschreibungen enthalten eben auch Hinweise auf die Naturmächte.76 Die Natur enthält ein Glücksversprechen, das die Gesellschaft dem Einzelnen gerade versagt. Der Traum vom Häuschen auf dem Land beherrscht Schmidts Figuren wie auch ihren Autor selbst, und „insulares Dasein“ ist für ihn ein geflügeltes Wort. Dennoch verfällt Schmidt 76 Es ist mittlerweile anerkannt, dass schon Schmidts frühe Erzählungen diesen mythischen Bezug haben; bei den späteren tritt der deutlich hervor. Vgl. dazu. Bernhard Sorg, Die frühen Erzählungen und Kurzromane – 1eue Prosaformen, in: Schardt/Vollmer, a.a.O., S. 116ff.
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nicht in die Vorstellungen einer heilen Welt. Seine Personen nehmen ihre Blessuren mit aufs Land. Und die Landbevölkerung bedenkt er mit wahren Schimpftiraden. Bei ihm sind die Bauern nicht die besseren Menschen und schon gar keine unverdorbenen Naturkinder. Und so sehr auch Schmidt Phantasien an eine unberührte Natur nachgehangen haben mag, seine Landschaft weist die Eingriffe der Zivilisation auf. Straßen mit Autos durchziehen sie, und zu ihrem Erscheinungsbild gehört wie selbstverständlich das modernen landwirtschaftliche Gerät wie in diesem Bild von einem Mähdrescher: „… da schwankte 1 Riesengerät durch die Felder. Und wendete schnarchend. Kam gefräßig wieder in unsere Richtung her.“77 Noch etwas kommt hinzu. Schmidt verschließt sich nicht der Einsicht, dass es neben der sich dem Menschen zuneigenden Natur auch eine gibt, die abweisend und zerstörerisch ist, die ganz gleichgültig ist gegen alle menschlichen Bestrebungen. Die so erfahrene Natur hat den Charakter eine Ungeheuers, als „Leviathan“ bezeichnet sie Schmidt, und bewundernd zitiert er Stifters grandiose Schilderung einer monströsen Naturkatastrophe, den ungeheuren ‚Eisbruch‘ aus Die Mappe meines Urgroßvaters. Es ist keine kosmische Ordnung, die Schmidt in seinen Naturdarstellungen vorführt, es ist eine fragmentierte, zerstückelte Natur. Und doch enthält auch das Fragment eine Ahnung von einem Aufgehobensein in einem größeren Zusammenhang, ein Glück, das nur noch da ist in einem flüchtigen Augenblick. Sommer ist es, leichte Bewölkung liegt über dem See im flachen Land. Und auf dem See, im Boot, hat der Erzähler um sich die Fülle der Formen und Farben, der Pflanzen und Tiere, die er sich zum Vergnügen mit Namen aufführt; „Wonnen der Aufzählung“ genießt er. Und über sich hat er den Himmel, der ihn wie eine „Riesenmuschel“ umfasst, ihn, den See und die ganze Gegend. Und er hat jemand, den kann er teilhaben lassen an diesem Moment des Glücks: Seelandschaft mit Pocahontas.
77 I, 3, S. 347.
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