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German Pages 296 Year 2018
Erhard Oeser
Geschichte der Hirnforschung Von der Antike bis zur Gegenwart
2. Auflage
Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Einbandbild: AlienCat/Fotolia.com
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., erweiterte Auflage 2010 © 2010 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 2002 Die Herausgabe dieses Werks wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-23216-1
Inhalt Vorwort zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Die Vorgeschichte der Hirnforschung: Schädelkult und Trepanation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die Anfänge der Hirnforschung in der Antike . . . . . . . . Die ersten Hirnforscher: Alkmaion von Kroton, Diogenes von Apollonia und Demokrit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hippokrates und die „Heilige Krankheit“ . . . . . . . . . . Hirn oder Herz: Die zephalozentrische und die kardiozentrische These . . . . Die zephalozentrische These Platons . . . . . . . . . . . . Die kardiozentrische These des Aristoteles . . . . . . . . Die aristotelische Erkenntnistheorie als heuristische Grundlage der Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . Die Lehre vom Pneuma oder Spiritus animalis . . . . . . Die Entdeckung der Nerven: Herophilos und Erasistratos . . Das Ende der kardiozentrischen These: Galens Synthese von aristotelischer Pneumalehre und experimenteller Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Vom Mittelalter zur Neuzeit: Die Gehirnventrikel als Sitz der Seele . . . . . . . . . . . . . . 39 Die spekulative Zellenlehre des Mittelalters . . . . . . . . . . . 39 Leonardo da Vincis anatomische Untersuchung der Hirnventrikel 41 4. Hirnforschung im Zeichen der neuzeitlichen Naturwissenschaft . Das Ende der aristotelisch-scholastischen Ventrikeltheorie: Die Hirnanatomie des Vesalius und seiner Nachfolger . . . . . . Die Renaissancephysiologie: Jean Fernel . . . . . . . . . . . . .
44 44 47
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Inhalt
Die Entdeckung des Blutkreislaufes durch Harvey und ihre Auswirkungen auf die Hirnforschung . . . . Das mechanische Modell des Menschenhirns: Descartes Die neue Lokalisationstheorie der Hirnfunktionen: Thomas Willis . . . . . . . . . . . . . . . Die materiellen Grundstoffe der Seele . . . . . Tierseele und Vernunftseele . . . . . . . . . . Großhirn- und Kleinhirnfunktionen . . . . . . . Epilepsie und Hysterie als Nervenkrankheiten . . . Vergleichende Anatomie und Psychologie . . . . . Die Entwicklung der experimentellen Hirnund Rückenmarkphysiologie: Von Steno zu Haller. . . Kleinhirnexperimente . . . . . . . . . . . . Großhirnexperimente . . . . . . . . . . . Versuche über die Funktionen der Medulla oblongata und des Rückenmarks . . . . . . . . . . . . Das vorläufige Ende der Lokalisationstheorie: Hallers Äquipotenztheorie des gesamten Gehirns . . Die Lehre von der Irritabilität und Sensibilität . . Die Physiologie des Menschenhirns . . . . . . Der Maschinenmensch: de La Mettrie . . . . . . . Die experimentelle Gehirnphysiologie in der Nachfolge Tierische Elektrizität: Vom Zitterfisch zum Galvanismus Die Wiedergeburt der alten Ventrikellehre: Soemmerings Seelenorgan . . . . . . . . . . .
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5. Die Erforschung der Architektur und Mechanik des Gehirns im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . Die individualisierende Lokalisationstheorie Galls . . . . . Vergleichende Verhaltensforschung als Grundlage der Organologie . . . . . . . . . . . Von der Organologie zur Schädellehre . . . . . . . . Galls Physiologie und Anatomie des Gehirns als Grundlage seiner Lokalisationstheorie . . . . . . . . . . . . . Die Äquipotenztheorie der Großhirnrinde: J. P. Flourens . . . Sensorische und motorische Nerven: Das Bell-Magendie-Gesetz Hirngewichte und Hemisphärenwindungen als Maße für Geistesvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mythos von den großen Gehirnen: Tiedemann und Huschke . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Die Gehirnwindungen des Mathematikers Gauß: Rudolph Wagners Physiologie des menschlichen Gehirns als Seelenorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . Elitegehirne und mikrozephale Idioten . . . . . . . . Die evolutionäre Begründung des Tier-Mensch-Vergleichs in der Hirnforschung: Darwin, Huxley und die Folgen . . . . Sprachstörungen: Die Anfänge der Aphasieforschung . . . . Die Entdeckung des motorischen Sprachzentrums: Bouillaud, Dax und Broca . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckung des sensorischen Sprachzentrums: Meynert und Wernicke . . . . . . . . . . . . . . Aphasieforschung in England: Bastians Organ des Geistes . . Die Wiederentdeckung der tierischen Elektrizität und die Anfänge der Elektrophysiologie: du Bois-Reymond . . . Die elektrische Erregbarkeit des Großhirns: Fritsch und Hitzig . Vergleichende Hirnphysiologie als Grundlage der Lokalisationstheorie der höheren Hirnfunktionen: David Ferrier . . . . . Das Rückenmark als Reflexzentrum . . . . . . . . . Die Funktionen des Klein- und Mittelhirns . . . . . . . Die Hypothese vom reflektorischen Charakter des Ausdrucks der Gemütsbewegungen . . . . . . . . . . . . . Die Funktionen des Großhirns . . . . . . . . . . . Das Gehirn als Organ des Geistes . . . . . . . . . . Der Hund ohne Großhirn: Friedrich Goltz’ Experimente . . . Seelenblindheit und Rindenblindheit: Hermann Munk . . . . Die Entdeckung der Assoziationszentren: Paul Flechsig . . . 6. Hirnforschung und Neurowissenschaft im 20. Jahrhundert Die elementaren Bausteine des Gehirns: Neuronenund Synapsentheorie . . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckung der Nervenzellen . . . . . . . . Vom Nervennetz zur Neuronentheorie: His, Forel und Ramón y Cajal . . . . . . . . . . Die Entdeckung der Synapsen als Kontaktstellen zwischen den Neuronen: Sherrington . . . . . . . Die Theorie von den drei Arten der Gehirnrindenzentren: Ramón y Cajal . . . . . . . . . . . . . . . Schichtenstruktur und Zellaufbau der Großhirnrinde als Grundlage der Lokalisationstheorie . . . . . . . Die Hirnkarten von Brodmann und Economo . . . .
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Inhalt
Lokalisation der Hirnfunktionen auf architektonischer Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . Der sensomotorische „Homunculus“: Penfield und Rasmussen Die übertriebene Lokalisation: K. Kleist . . . . . . . . . . . Ganzheit und Teilbarkeit des Gehirns. Der Holismus und die Rückkehr der Äquipotenztheorie: Head, Goldstein und Lashley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Linkes Hirn und rechtes Hirn: Die funktionale Asymmetrie der Großhirnhemisphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verteilten Hirnfunktionen: Neuronale Netze . . . . . . . . . Die Entdeckung der Modularität: Zellverbände und neuronale Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Neurowissenschaft: Der integrative Ansatz . . . . . . Sprachverarbeitung im Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten des weiblichen Gehirns . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckung des Bereitschaftspotentials . . . . . . . . . . . Hirntod und Hirntransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . .
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235 237 240 244 250 252 254 260 261 264
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Inhalt8
Vorwort zur 2. Auflage Vorwort zur 2.
Auflage9
Bereits vor mehr als hundert Jahren hat der Wiener Medizinhistoriker Max Neuburger (1897) eine „kritische philosophische Betrachtung“ der Geschichte der Hirnforschung gefordert. Und auch heutzutage sind die meisten Vertreter der Neurowissenschaften davon überzeugt, dass die Befassung mit der mehr als zweitausendjährigen Geschichte dieser faszinierenden Wissenschaft für das Verständnis und die Bewertung ihres gegenwärtigen Forschungsstandes unerlässlich ist. Einen Beitrag zu dieser Zielsetzung will auch dieses Buch leisten. Die dabei angewandte Methode ist die einer wissenschaftstheoretischen Rekonstruktion, die von der Idee ausgeht, dass die Wissenschaft ein System darstellt, das in höchstem Maß die Fähigkeit der Selbstkorrektur besitzt. Das aber bedeutet, dass die historischen Fakten für sich selbst sprechen und daher auch in ihren Originalquellen aufgesucht werden müssen. Nur so lässt sich die innere Logik der Entwicklung dieses komplexen Gebietes der Hirnforschung erfassen, deren Fortschritte oft darin bestehen, viel mehr alte Irrtümer und Vorurteile einzureißen als neue Erkenntnisse aufzubauen. Entsprechend dieser Zielsetzung und Methodik stehen nicht die speziellen neurowissenschaftlichen Details im Vordergrund, die bereits von den Fachleuten der Neurowissenschaften selbst in bestimmten Teildisziplinen und für bestimmte Zeiträume behandelt worden sind, sondern es geht hier um die Entdeckung des menschlichen Gehirns als des „Organs der Seele“ oder des „Geistes“. Das heißt, es geht um die seit den Anfängen der Hirnforschung in der Antike immer wieder gestellte Frage, ob aus der Erkenntnis der Struktur und Funktion des Menschenhirns auch Schlüsse auf die Mechanismen von Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken und Sprache gezogen werden können und somit auch der menschliche Geist auf diese verobjektivierende Weise naturwissenschaftlicher Erkenntnis erfassbar wäre. Darüber hinaus sind, seitdem sich das Herz als einfacher Muskel erwiesen hat, der den Pumpmechanismus des Blutkreislaufes besorgt und damit seine Bedeutung als Zentralorgan der Gefühle und Emotionen verloren hat, weitere Fragen entstanden. Sie betreffen sowohl die Wechselwirkungen zwischen emotionalen und kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die beide ihre Grundlage im zentra-
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Vorwort zur 2. Auflage
len Nervensystem haben, als auch ihre Störungen, die über verschiedene Formen der Geisteskrankheiten bis zum Tode des Individuums reichen können. Auf all diese Fragen sind im Laufe der Geschichte der Hirnforschung sehr unterschiedliche Antworten gegeben worden, die auch heute noch aktuell sind. Denn sie zeigen die Möglichkeiten und Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis bei der Behandlung jener grundlegenden Fragen nach Sinn und Wesen menschlicher Existenz. Diese Fragen waren bisher fast ausschließlich spekulativer Metaphysik und normativer Ethik vorbehalten, können aber heutzutage bereits einem neuen Bereich der transdiszplinären Hirnforschung, der sog. „Neurophilosophie“, zugeordnet werden, die sich entsprechend den klassischen Disziplinen der Philosophie, angefangen mit der „Neurologik“ und „Neuroepistemologie“ bis zur „Neuroethik“ und „Neuroästhetik“, schon zu eigenen Teilbereichen weiterentwickelt hat. Da dieser Bereich von mir bereits in dem 2006 erschienenen Buch ›Das selbstbewusste Gehirn. Perspektiven der Neurophilosophie‹ behandelt worden ist, sind hier nur zwei Ergänzungen nötig. Die eine Ergänzung betrifft die lange in der Geschichte der Hirnforschung vernachlässigte Frage nach der Besonderheit des weiblichen Gehirns, während die andere Ergänzung sich mit der bereits historisch gewordenen Entdeckung des sog. „Bereitschaftspotentials“ beschäftigt, das jene bis zum heutigen Tag so kontrovers geführte Diskussion um die Willensfreiheit ausgelöst hat. Wien im Juni 2009
Erhard Oeser 10
Einleitung Die Hirnforschung ist eine der erfolgreichsten wissenschaftlichen Unternehmungen der Gegenwart. Weltweit wurde vor allem in den letzten Jahrzehnten mit großem personellen und materiellen Aufwand die Untersuchung des zentralen Nervensystems des Menschen vorangetrieben. Die Anzahl der einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen, die jährlich in diesem Zeitraum erschienen sind und noch weiterhin erscheinen, gehen bereits in die Tausende und die daraus resultierenden Erfolge in Diagnose und Therapie von Hirnerkrankungen und Hirnverletzungen sind unübersehbar. Die Bedeutung der Hirnforschung liegt aber nicht nur auf dem medizinisch-praktischen Gebiet, das allein schon diesen großen Aufwand rechtfertigen würde. Die vielleicht größte Herausforderung, die seit jeher mit der Erforschung der Funktion und Struktur des Gehirns verbunden war und ihr auch seit ihren Anfängen ihre einzigartige Dynamik verliehen hat, besteht vielmehr in der Hoffnung, dass auf diese Weise der menschliche Geist seine eigenen Voraussetzungen erfassen könnte. Daher war die Hirnforschung seit ihren Anfängen vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren immer auch ein philosophisches Anliegen, das weit über die Grenzen der neurowissenschaftlichen Fachdisziplinen hinausreicht. Seitdem das Gehirn von den alten Griechen des klassischen Altertums als das Organ der Seele entdeckt worden ist und Platon mit seiner Lehre von der Dreiteilung der Seele eine Grundlage für weitere Spekulationen über den möglichen Sitz oder Ort der verschiedenen Seelenteile im menschlichen Körper geschaffen hat, ist die Diskussion um das Verhältnis von Leib und Seele nicht mehr unabhängig von der Erforschung des Gehirns behandelt worden. Und sogar Aristoteles, der das Herz als den Sitz der Seele betrachtete, hat einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Hirnforschung dadurch geliefert, dass er in subtiler Weise eine Theorie der höheren psychischen Funktionen ausgearbeitet hat, die noch in der gegenwärtigen Hirnforschung nach dem Zeugnis eines berühmten Hirnforschers (Sherrington) eine Rolle spielt. Obwohl bereits Kants Kritik an der damaligen Hirnforschung der Suche nach einem räumlichen Ort oder Sitz der Seele in bestimmten Hirnteilen
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Einleitung
ein Ende gesetzt hat und man heute erkannt hat, dass es sich hierbei um zwei unterschiedliche Beschreibungsebenen handelt, hat sich an der Vorstellung vom Gehirn als Organ des Geistes nichts geändert. Deutlicher als je zuvor ist klar geworden, dass alle Lebensumstände des Menschen, seine geistige Entwicklung von frühester Kindheit bis zum Alter, seine intellektuelle und körperliche Leistungsfähigkeit, seine Gemütsverfassungen, seine Krankheiten und sein Tod von den Funktionen des Gehirns abhängig sind. Daher wird auch der Hirnforschung in Zukunft eine noch größere Bedeutung in der Erforschung und Beurteilung menschlicher Verhaltensweisen zukommen, als sie sie bisher schon hatte. Denn das, was sich trotz aller offenen Probleme in der Hirnforschung bereits unabweisbar herausgestellt hat, ist das Faktum, dass das Menschenhirn jenes organische System ist, das an Komplexität und Dynamik alle anderen Systeme im Universum weit übertrifft. Es ist unser Stolz und Elend zugleich. Denn mit der Komplexität und Dynamik steigt auch die Störanffälligkeit dieses Systems und die Grenzen zwischen normal und krank beginnen undeutlich zu werden. Bereits sehr früh wurde in der medizinischen Hirnforschung erkannt, dass Genie und Wahnsinn, Wohltat und Verbrechen eng beisammen liegen. Viele große geistige Leistungen – philosophische, wissenschaftliche und künstlerische – sind am Rande des geistigen und emotionalen Chaos entstanden. Die Geschichte der Menschheit ist voll von sozialen und politischen Entscheidungen, die sich später als die Wahnsinnstaten kranker Gehirne herausgestellt haben. Deshalb ist auch die Beschäftigung mit der Geschichte der Hirnforschung in höchstem Maße das, was der große französische Neurophysiologe Flourens in seiner Gedenkrede auf den Anatomen George Cuvier von der Historiographie der Wissenschaften ganz allgemein behauptet hat: Wer Wissenschaftsgeschichte betreibt, stellt eine experimentelle Theorie des menschlichen Geistes auf. In diesem Sinne versteht sich daher auch die vorliegende Darstellung der Geschichte der Hirnforschung als eine Rekonstruktion des naturwissenschaftlichen Weges der menschlichen Selbsterkenntnis, der keineswegs immer geradlinig verlaufen ist. Bezahlt wurden die großen und tief gehenden Erfolge der Hirnforschung mit dem nun schon Jahrtausende andauernden Leiden und Sterben unzähliger Tiere, an denen seit der Antike bei lebendigem Leib grausame Experimente vorgenommen wurden. Dass es auch Vivisektionen am Menschen gegeben hat, wurde zwar ebenso oft behauptet als auch bestritten, doch sind sie nach der vorliegenden Quellenlage nicht gänzlich auszuschließen. Zumindest sind jene schrecklichen Experimente mit den abgeschlagenen Köpfen von zum Tode verurteilten Verbrechern ein gut belegtes historisches
Einleitung
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Faktum menschlicher Wissbegierde, die sogar vor ihresgleichen nicht halt macht, abgesehen davon, dass seit jeher das umfangreichste menschliche Untersuchungsmaterial aus der sog. „natürlichen Vivisektion“ menschlicher Kampfhandlungen und Kriege stammt. Von den Gladiatorenkämpfen im antiken Rom bis zu den großen Weltkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts gab es Hirnverletzungen aller Art, die zu den grundlegendsten Entdeckungen über die Lokalisation der Hirnfunktionen führten, die sonst auf keinen anderen Weg erreichbar gewesen wären. Deshalb kann man die Geschichte der Hirnforschung nicht nur als eine Geschichte der Erfolge und Fortschritte beschreiben, sondern sie muss auch als eine Geschichte der Irrtümer, Kontroversen und Grausamkeiten verstanden werden, die auf diesem Wege begangen wurden. Die Ergebnisse der Hirnforschung wurden daher auch, wie ein bedeutender Hirnforscher unserer Tage bemerkt hat, nicht als eine Liste positiver Beiträge zum Selbstverständnis des Menschen angesehen, sondern vielmehr als eine „Liste schwerer Straftaten“ (Sperry). Aber man war sich darin einig, dass es besser ist, die enttäuschende Wahrheit zu kennen, statt mit illusorischen Werten zu leben. Bis ins 19. Jahrhundert beherrschten die Hirnforschung relativ einfache mechanistische Modelle. Das, was manche Philosophen schon lange befürchtet hatten, dass der Mensch nichts anderes ist als eine auf zwei Beinen stehende „emporgereckte Maschine“ (de La Mettrie), die sich sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrer Funktion restlos aus ihren physikalisch-chemischen Bestandteilen und Eigenschaften erklären lässt, schien sich auf dramatische Weise zu bestätigen. In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch unter den Hirnforschern eine neue Grundauffassung durchgesetzt, die in dem mechanistischen Materialismus nicht das letzte Wort sah. Ausschlaggebend war die Entwicklung einer verfeinerten Beobachtungstechnik, die einen immer tiefer gehenden Einblick in die erstaunliche Komplexität des menschlichen Gehirns lieferte und damit auch eine neue Grundlage für das Verständnis der Beziehungen zwischen dem physischen und mentalen Dasein des Menschen bieten konnte. In praktischer Hinsicht ergaben sich dadurch neue Wege zur Erklärung von Verhaltens- und Sprachstörungen wie auch neue Hoffnungen für die Behandlung von Geistes-und Gemütserkrankungen. Zugleich wurden auch die Grenzen einer rein empirisch vorgehenden Naturwissenschaft erkannt und der Zugang zu einer transdisziplinären Hirnforschung eröffnet, in der sich die alten Gegensätze von Natur- und Geisteswissenschaften aufheben. Denn die Einsicht, dass der menschliche Geist, der Schöpfer der menschlichen Gesellschaftsstruktur, Sprache und Kultur, in dieser Welt mit dem Gehirn untrennbar verbunden ist, verleiht der Hirnforschung eine zentrale
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Einleitung
Stellung im System der Wissenschaften: Sie ist die einzige Naturwissenschaft, die eine direkte Verbindung zu den Geisteswissenschaften herstellen könnte, wenn es ihr jemals gelingen sollte, das Rätsel aller Rätsel – das Verhältnis von Leib und Seele – zu lösen.
1. Die Vorgeschichte der Hirnforschung: Schädelkult und Trepanation Die Erkenntnis, dass unsere geistigen Kräfte vom Funktionieren unseres Gehirns abhängig sind, reicht bis in prähistorische Zeiten zurück. Darauf weist der uralte Schädelkult hin, der in frühen Zeiten wohl mit rituellen Kannibalismus verbunden war. So kann man bereits an Funden von Schädelbestattungen der Neandertaler erkennen, dass manchmal das Hinterhauptsloch an der Basis des Schädels künstlich erweitert worden war. Die Annahme liegt daher nahe, dass nach der gewaltsamen Tötung und Enthauptung der Schädel aufgebrochen und das Gehirn entnommen worden war. Ob diese Entnahme des Gehirn Teil eines Bestattungsritus oder zeremonieller Kannibalismus war, kann jedoch nicht eindeutig entschieden werden. Hier gehen die Meinungen der Prähistoriker und Anthropologen auseinander. Die Mehrheit der Forscher allerdings sind auf Grund der vielen Funde aus verschiedenen Zeiten, bei denen immer wieder Schädeleröffnungen nachzuweisen sind, zu Überzeugung gelangt, dass man bereits auf der Homo-erectus-Stufe der Hominidenevolution mit Kopfjagd und Kannibalismus rechnen muss. Unterstützt wird diese Annahme durch die Tatsache, dass bei einigen gegenwärtig lebenden Naturvölkern Indonesiens, Taiwans, Neuguineas, Hinterindiens, Südamerikas und Westafrikas noch immer die Kopfjagd üblich und zum Teil noch, wie in Süd-Neuguinea, mit Kannibalismus verbunden ist (vgl. Winkler u. Schweickhardt 1982, S.155). Ein weiterer Hinweis für die Kenntnis von der Bedeutung des Gehirns für den Menschen ist die Verwendung von „Schädelbechern“ als Trinkgefäße. Sie ist bereits in den frühesten Stufen der Hominidenevolution bei den Australopithecinen, also vor fast zwei Millionen Jahren, nachzuweisen und reicht in Europa bis ins 19. Jahrhundert. Allerdings wird die Beziehung zwischen rituellem Kannibalismus und der Verwendung von Schädelbechern in der Geschichte der Zivilisation immer lockerer. Kann man für die eiszeitlichen Jäger und Sammler noch eine enge Verbindung dieser Phänomene annehmen, so dürfte sich in späterer Zeit zumindest in Europa die Sitte
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1. Schädelkult und Trepanation
des Schädeltrunks immer mehr von kannibalistischen Praktiken gelöst haben. Für die Interpretation der urgeschichtlichen Funde von zum Teil kunstvoll hergerichteten Schädelbechern aus der Stein-, Bronze- und frühen Eisenzeit sind vor allem die Berichte der griechischen und römischen Ethnographen und Historiker von Bedeutung. So schreibt Herodot über die Skyten: „Den Hirnschädel sägen sie unter den Augenbrauen ab, und machen ihn rein. Die Armen überziehen ihn zum Gebrauche nur mit einer Rindshaut. Die Reichen hingegen lassen ihn außerdem noch von innen vergolden und trinken dann daraus“ (Herodot Bd.2, S.163). Plutarch schreibt diese Sitte des Schädeltrunkes auch den Germanen zu, die sich auf diese Weise den persönlichen Mut ihres Gegners einzuverleiben hofften und Livius berichtet von den Kelten, dass sie den Kopf eines römischen Heerführers zu einer in Gold gefassten Opferschale verarbeitet haben. Auch das Christentum hat die heidnische Tradition des Trinkens aus Schädelbechern aufgenommen und weitergeführt. Klöster und Kirchen bewahren seit Jahrhunderten die Hirnschalen heiliger und besonders frommer Männer und Frauen in Form von kostbar geschmückten Reliquienschalen auf. Der Schädeltrunk verheißt den Gläubigen Gnade und Erlösung von Sünde und Krankheit. Ein besonders schönes Beispiel ist die im bayrischen Ebersberg aufbewahrte prächtig geschmückte, silberbeschlagene Hirnschale des heiligen Sebastian, die ursprünglich verwendet wurde, um sich durch einen Trunk Wein aus ihr vor der Pest zu schützen. Wie aus einer Chronik des Jahres 1590 hervorgeht, wurde jedoch dieser Brauch von einem Verwaltungsbeamten eingestellt, als dieser empört feststellen musste, dass die heilige Hirnschale zu profanen Zechgelagen missbraucht wurde. Im weltlichen Bereich hielt sich diese Sitte des Schädeltrunks noch länger. So schützt nach dem schottischen Volksglauben ein Trunk aus der Hirnschale eines armen Sünders vor Epilepsie und dem Dichter Lord Byron (1788 – 1824) wurde nachgesagt, dass auch er sich ein Trinkgefäß aus einem menschlichen Schädel habe anfertigen lassen (Winkler u. Schweikhardt 1982). Bereits in den Bereich der medizinischen Hirnforschung reicht die schon in der Steinzeit ausgeübte Technik der „Trepanation“, d. h. das Aussägen von Knochenstücken aus dem Schädeldach, das sowohl bei Lebenden als auch bei Toten schon vor mehr als 10000 Jahren üblich war. Unterscheiden lässt sich die Trepanation am lebenden Leib von der an einem Toten vorgenommenen noch heute dadurch, dass beim Lebenden an den Rändern ein Knochenwachstum feststellbar ist. Ob nun die Trepanation aus religiös-kultischen Zwecken an einem Toten vorgenommen wurde, um der Seele einen Ausgang zu verschaffen, oder beim lebenden Menschen aus medizinischen
1. Schädelkult und Trepanation
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Abb. 1: Die älteste schriftliche Darstellung des Begriffes „Gehirn“; Hieroglyphen aus dem Papyrus Smith (17. Jh. v. Chr.; aus Kandel, Schwartz u. Jessel 1986)
Gründen zur Heilung von Geisteskrankheiten oder Schädelverletzungen, in jedem Fall bedeutet sie einen Hinweis auf die Kenntnis des Zusammenhangs von Gehirn und Seele. Außerdem musste jede Art von schwerer Kopfverletzung, die der Träger überlebte, diesen Zusammenhang besonders deutlich werden lassen. Denn sowohl das intellektuelle als auch das emotionale Verhalten war dann meist drastisch gestört. Die ersten direkten, schriftlich nachweisbaren Belege findet man bereits im alten Ägypten. Ein nach seinem Entdecker „Papyrus Smith“ benanntes medizinisches Schriftstück, das um das 17. Jahrhundert v.Chr. datiert wird, aber wahrscheinlich bis ins 3. Jahrtausend v.Chr. zurückreicht, enthält Schilderungen von Kopfverletzungen und chirurgischen Eingriffen, die sowohl die ersten bekannten Darstellungen der Gehirnfurchen und -windungen als auch Hinweise auf Funktionsstörungen enthalten. Wie Changeux (1984) mit Recht feststellt, muss man sich zwar davor hüten, mit dem neurobiologischen Wissen unseres Jahrhunderts zu viel in einen so fragmentarischen Text hineinzulesen, aber trotzdem geht aus diesem Dokument eindeutig hervor, dass die Zuständigkeit des Gehirns für die Bewegung, auch weit vom Kopf entfernt liegender Glieder und Organe bekannt war. Denn der Schreiber stellt ausdrücklich fest, dass „eine Verletzung, die im Schädel liegt“, dazu führt, dass der Betroffene „den Fuß beim Gehen nachzieht“. Neben diesen motorischen Beeinträchtigungen waren auch schon Sprachstörungen bekannt. So wird ein Verletzter beschrieben, dessen Schläfe eingedrückt war und der, wenn er angesprochen wurde, nicht antworten konnte, weil er der Sprache nicht mehr mächtig war. Im Papyrus Smith findet auch zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit der Begriff „Gehirn“ seinen schriftlichen Ausdruck. Andererseits sind jedoch keine Hinweise aus dem alten Ägypten bekannt, dass dem Gehirn außerhalb der medizinisch-chirurgischen For-
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1. Schädelkult und Trepanation
schung eine besondere Bedeutung zugemessen wurde. Im religiös-kultischen Bereich wurde bei der Mumifizierung der Leichen das Gehirn im Unterschied zu den Eingeweiden des Brust- und Bauchraumes nicht beachtet. Wie alle leicht in Fäulnis übergehenden Weichteile musste es aus dem Körper entfernt werden. Während die inneren Organe und Eingeweide in einem eigenen Schrein unversehrt aufbewahrt wurden, musste das Gehirn bei der Entfernung notwendigerweise zerstückelt und zerstört werden. Denn es wurde gewöhnlich einfach mit einem Haken durch die Nasenlöcher herausgezogen und die Reste wurden herausgespült.
2. Die Anfänge der Hirnforschung in der Antike Die ersten Hirnforscher: Alkmaion von Kroton, Diogenes von Apollonia und Demokrit Die eigentliche Geschichte der wissenschaftlichen Hirnforschung beginnt erst bei den Griechen, und zwar schon im 6. Jahrhundert v.Chr., als Alkmaion von Kroton die zentrale Rolle des Gehirns für die menschliche Erkenntnis hervorhob: „Das Gehirn ist es, das die Wahrnehmungen des Hörens, Sehens und Riechens gestattet; aus diesen entstehen Gedächtnis und Vorstellung, aus Gedächtnis und Vorstellung aber, wenn sie sich gesetzt haben und zur Ruhe gekommen sind, bildet sich das Wissen“ (Capelle 1940, S. 111). Alkmaion galt auch schon in der Antike als derjenige, „der es zuerst gewagt hat, eine Sektion vorzunehmen“. Auf diese Weise erkannte er bereits die „zwei schmalen Wege, die vom Gehirn aus, in dem die höchste und entscheidende Kraft der Seele wurzelt, zu den Höhlungen der Augen gehen, die ein natürliches Pneuma enthalten“. Die genaue Schilderung des Verlaufes dieser Wege, der Nervenstränge, die er selbst als „Poroi“, d.h. hohle Kanäle oder Röhren, ansah, zeigen deutlich seine anatomischen Kenntnisse: „Während diese Wege von ein und demselben Ursprung und derselben Wurzel (im Gehirn) ausgehen und im innersten Grunde der Stirn eine Weile verbunden sind, gelangen sie, nachdem sie sich gabelförmig voneinander getrennt haben, zu den Augenhöhlen, da wo sich die den Augenbrauen querliegenden Wege erstrecken, dort biegen sie um, indem der Schoß von Häuten die natürliche Feuchtigkeit aufnimmt und füllen Kugeln aus, die durch die Decke der Augenlider geschützt sind“ (Capelle 1940, S.110f.). Und Alkmaion fügt hinzu, dass die Tatsache, dass diese Wege von ein und demselben Ursprung im Gehirn ausgehen, „durch die Sektion schlagend bewiesen“ wird. Dass Alkmaion diese Sektionen nicht nur an toten, sondern auch an lebenden Tieren durchgeführt hat, lässt sich nur vermuten (Wellmann 1929, S.159; Hirschberg 1922, S.19f.). Es zeigt sich jedenfalls damit schon die dunkle Schattenseite der Hirnforschung, die von nun an ihre gesamte historische Entwicklung begleitet.
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2. Hirnforschung in der Antike
Aber auch ohne Sektionen, die den Verlauf dieser Wege sichtbar machen, ist es klar, dass beide Wege einen gemeinsamen Ursprung haben müssen. Das ergibt sich schon daraus, „daß beide Augen nur zusammen bewegt werden und nicht das eine ohne das andere bewegt werden kann“ (Capelle 1940, S.111). An der Beschreibung der Nervi optici samt dem Chiasma opticum durch Alkmaion kann daher kein Zweifel bestehen (vgl. Benedum 1988, S.30). Der eigentliche Vorgang des Sehens wird von Alkmaion als eine Art von Widerspiegelung der Gegenstände angesehen, die durch die anatomische Struktur des Auges bestimmt wird: Die Substanz des Auges besteht selbst aus vier Häuten oder Hüllen von ungleicher Festigkeit. Diese Häute sind durchsichtig und mit diesem Durchsichtigen wird das Licht und alle hellen Gegenstände widergespiegelt. Das aber wird dadurch ermöglicht, dass in den Augen selbst Licht bzw. Feuer enthalten ist: „Denn wenn das Auge ein Schlag träfe, dann sprühe es Funken“ (Capelle 1940, S.110). In ähnlicher Weise erklärt Alkmaion, dass wir mit den Ohren hören, weil in ihnen ein Hohlraum vorhanden ist, der selbst tönt. Denn wir sprechen ja auch vermittels eines Hohlraumes. Mit der Nase riechen wir zugleich mit der Einatmung, indem wir den Atem bis zum Gehirn einziehen. Mit der Zunge unterscheiden wir die Geschmäcke. Denn sie ist warm und weich und bringt durch ihre Wärme die Geschmäcke zum Schmelzen. Infolge ihrer lockeren und zarten Natur nimmt die Zunge sie auf und leitet sie dem Gehirn weiter. Daher ist es auch weder die Luft noch das Feuer, mit dem wir denken, sondern vielmehr das Gehirn, dass die Tätigkeit des Hörens, Sehens und Riechens verleiht. Und daraus, argumentiert Alkmaion weiter, entsteht dann Gedächtnis und Meinung, und aus diesen entwickelt sich das Wissen, das sich sprachlich mitteilen lässt. Aber auch hier ist es das Gehirn, das den Verstand sprechen lässt. Und solange das Gehirn unversehrt ist, hat der Mensch auch Verstand. In Zusammenhang mit diesen Forschungen stellt Alkmaion auch einen fundamentalen Unterschied zwischen Mensch und Tier fest: „Der Mensch unterscheidet sich von den übrigen Lebewesen dadurch, daß er allein denkt, während die anderen Lebewesen zwar Sinneswahrnehmungen haben, aber nicht denken“(Capelle 1940, S.112). Eine ähnliche Vorstellung wie Alkmaion hatte im letzten Drittel des vorchristlichen Jahrhunderts Diogenes von Apollonia entwickelt. Als Anhänger oder Epigone des Anaximenes, der die Luft als Weltprinzip annahm, versuchte Diogenes dieses Prinzip auf die Physiologie anzuwenden, insbesondere auf das Herstellen der Verbindung der Sinnesorgane mit dem Gehirn. Es besteht zwar eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen ihm und Alkmaion in der Rolle, die beide der Luft in der Funktion des Riechens
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und Hörens zuschreiben, aber sie hat bei Diogenes eine noch viel weitergehende Bedeutung. Denn sie ist für ihn überhaupt der Träger des Lebens, der Sinneswahrnehmung, des Denkens und der Bewegung. Als Physiologe und Arzt war er im Unterschied zu seinem Vorbild Anaximenes mehr an der Frage der normalen und wirksamen Übertragung von Sinneseindrücken interessiert als an erkenntnistheoretischen oder metaphysischen Problemstellungen. Deswegen schreibt er auch der Seele keinen besonderen Sitz zu. Das Organ des Denkens muss nicht mit dem Organ des Lebens identisch sein. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage nach den Leitungen, welche die Sinnesorgane mit dem Gehirn und Herzen verbinden. Für Diogenes sind es die Blutgefäße, durch die sich auch die Luft bewegt. Das Blut selbst hat für ihn nur eine Hilfsfunktion und darf nicht den Durchgang der Luft verhindern. Denn die Übermittlung von Wahrnehmungen der Nase und des Ohres zum Gehirn erfolgt durch die Adern. Die Übertragung von Sinneseindrücken wird als ein „Mischen“ verstanden. Die Luft, die von außen in die Sinnesorgane kommt, vermischt sich mit der Luft, die „das Gehirn umgibt“ (Capelle 1940, S. 331). Für das richtige Funktionieren sowohl der Übertragung der Sinneswahrnehmungen zum Gehirn als auch deren Verarbeitung ist auch die Beschaffenheit der Luft von entscheidender Bedeutung: „Denken läßt sich nur vermittels der reinen und trockenen Luft. Denn die Feuchtigkeit behindert das Denken. Deshalb haben wir im Schlaf, im Rausch und bei überladenen Magen weniger Denkfähigkeit“. Eine konsequentere materialistische Erklärung der Übertragung der Sinneseindrücke hat Demokrit geliefert. In dieser Hinsicht kann man ihn auch als einen Vorläufer von Descartes und de La Mettrie ansehen. Die durch Theophrast überlieferte Zusammenfassung seiner Ansichten zeigt, dass Demokrit sich nicht nur mit den Vorgängen in den Sinnesorganen befasste, sondern dass er auch zu erklären versuchte, wie Wahrnehmungen „weitergegeben“ werden. Wo immer sich auch der vernunftbegabte Teil der Seele nach seiner Auffassung befinden mag, seine von Leukipp übernommene Lehre von den Atomen gibt jedenfalls eine Antwort auf die Frage über den Transport der Sinneseindrücke im Körper selbst. Denn die Grundidee seiner Atomistik besteht darin, dass alles aus Atomen und leeren Zwischenräumen besteht. Die Atome sind wegen ihrer Kugelgestalt immer in Bewegung und daher gibt es auch einen ständigen Strom von den Atomen der Wahrnehmungsgegenstände zu den Sinnesorganen. Da auch der menschliche Körper in allen seinen Bestandteilen aus Atomen und leeren Zwischenräumen besteht, können die durch die Sinnesorgane einströmenden Atome weit in den Körper eindringen und mit den im menschlichen Körper vorhandenen Seelenatomen in Berührung kommen.
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Hippokrates und die „Heilige Krankheit“ Hippokrates, der Vater der Medizin, übernahm hundert Jahre später diese Lehre vom Primat des Gehirns, um jene berühmte Erklärung der Epilepsie zu liefern, mit der er der „Heiligen Krankheit“ ihre mystische Bedeutung nahm. Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren detaillierte Beobachtungen des Verhaltens der Kranken verschiedenen Alters vor und während des Anfalls: „Die Kranken, die schon mit der Krankheit vertraut sind, merken vorher, wenn ein Anfall kommt, und fliehen aus der Gesellschaft der Menschen, und zwar, wenn ihr Haus in der Nähe ist, nach Hause, andernfalls an möglichst einsame Stellen, wo recht wenige sehen können, wie sie hinfallen, und sie verhüllen sich sofort. Das aber tun sie, weil sie sich ihres Leidens schämen, und nicht, wie die verbreitete Meinung ist, aus Furcht vor der Gottheit. Die kleinen Kinder aber fallen, weil sie noch nicht an die Krankheit gewöhnt sind, anfänglich hin, wo sie sich gerade befinden. Wenn sie aber häufig Anfälle gehabt haben, dann flüchten sie sich, wenn sie sie kommen fühlen, zu ihrer Mutter oder sonst einem guten Bekannten, wegen der Furcht und des Schreckens, die das Leiden ihnen einflößen“ (Hippokrates 1962, S. 144). Nach der Ansicht des Hippokrates ist jedoch diese sog. „Heilige Krankheit“ keineswegs göttlicher oder heiliger als die anderen Krankheiten. Wie alle Krankheiten, so hat auch sie eine natürliche Ursache, auch wenn sie schwer erkennbar ist. Diejenigen, die zuerst diese Krankheit für heilig erklärt haben, waren nach seiner Meinung „Menschen, wie sie auch jetzt noch als Zauberer, Entsühner, Bettelpriester und Schwindler herumlaufen“. Sie missbrauchten die göttliche Macht als Deckmantel für ihre eigene Ratlosigkeit, weil sie nicht wussten, wie sie den Kranken helfen sollten. Ihre obskuren Heilmethoden bestanden aus Besprechungen, Entsühnungsriten und Verboten, wie das Verbot Ziegenfleisch zu essen, auf Ziegenfellen zu schlafen oder sich in sie zu kleiden oder schwarze Kleider zu tragen, weil Schwarz die Farbe des Todes ist. Alle diese Praktiken und Vorschriften dienen nach Hippokrates diesen Schwindlern nur dazu, dass sie für sich, wenn der Kranke gesund wird, den Ruhm ärztlicher Geschicklichkeit in Anspruch nehmen können. Wenn er aber stirbt, weisen sie die Schuld den Göttern zu, da sie dem Kranken weder feste noch flüssige Medizin gegeben, noch in warme Bäder gesteckt haben. Wenn es aber an Ziegenleder und Ziegenfleisch läge, sagt Hippokrates höhnisch, würde von den Afrikanern im Innern des Landes keiner gesund sein; denn diese haben keine Decken, kein Kleid und keine Schuhe, die nicht aus Ziegenleder gemacht wären, da sie kein anderes Vieh als Ziegen besitzen.
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Die Epilepsie ist daher nach seiner Meinung eine Krankheit wie alle anderen und nicht weniger heilbar als sie, sofern sie nicht schon vor langer Zeit her eingewurzelt ist, sodass sie stärker ist als die Arzneien, die man den Kranken eingibt. Ihr natürlicher Ursprung liegt in der Vererbung und sie ist an eine bestimmte Konstitution gebunden. Schuld aber an diesem Leiden ist das Gehirn, das bei Menschen mit angeborener schleimiger Konstitution durchnässt und feucht ist und vor Schleim, den es nicht mehr ausscheiden kann, überläuft. Am besten kann man das nach Hippokrates am Vieh erkennen, das auch von dieser Krankheit befallen werden kann, am häufigsten aber die Ziegen, was vielleicht das Verbot, Ziegenfleisch zu essen, rechtfertigen kann. Wenn man den Kopf einer Ziege seziert, sagt Hippokrates, der dies offensichtlich auch selbst getan hat, wird man finden, dass das Gehirn feucht, voll von Wasser und übel riechend ist. Daran kann man erkennen, dass nicht die Gottheit den Körper schädigt, sondern die Krankheit. Sieht man von der bei Hippokrates alle medizinischen Überlegungen beherrschenden Lehre von den beiden Hauptsäften ab, so scheint er bereits deutlich die genetisch determinierte, primär generalisierte Epilepsie, die nach heutiger Auffassung subkortikal, d. h. in den tieferliegenden Teilen des Gehirns „gezündet“ wird, von der kortikal, in der Hirnrinde angeregten sekundären Epilepsie unterschieden zu haben. Denn er weist darauf hin, dass die Entstehung der Epilepsie bereits im Embryo beginnt und dass das so erkrankte Kind, wenn es heranwächst einen kranken Kopf haben wird, „der voll von Geräusch ist“ und weder Sonne und Kälte ertragen kann. Aber es sind nicht so sehr die äußeren Ursachen die einen epileptischen Anfall auslösen. Die ersten Anlässe zu solchen Anfällen sind vielmehr dann gegeben, wenn das Kind erschrickt und wenn es sich fürchtet, weil jemand laut gerufen hatte, oder auch, wenn es mitten im Weinen nicht imstande ist, schnell wieder zu Atem zu kommen, wie es ja bei Kindern häufig vorkommt. In jedem Fall packt den Körper sogleich ein Kälteschauer, das Kind verliert die Sprache, vergisst das Atmen, die Atemluft kommt zum Stillstand und das Gehirn verfestigt sich. Diejenigen, die als kleine Kinder von dieser Krankheit befallen werden, werden größtenteils sterben. Wenn sie aber überleben, bleibt meist etwas zurück. Entweder bleibt der Mund verzogen oder ein Auge oder eine Hand oder der Hals. Für die Zukunft ist das meistens von Nutzen, denn das Kind wird nicht wieder von dieser Krankheit befallen, wenn es einmal in dieser Weise gezeichnet ist. Für diejenigen, die ohne Schaden davon gekommen sind, besteht dagegen die Gefahr, dass die Krankheit sich bei ihnen einnistet und mit ihnen wächst. Menschen aber, die mehr als zwanzig Jahre alt sind, werden von dieser Krankheit kaum noch
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befallen, soweit der Kranke nicht seit seiner Kindheit an ihr gelitten hat. Die älteren Leute tötet diese Krankheit nicht, wenn sie auftritt, denn ihr Gehirn hat sich bereits konsolidiert und ist fest. Die Analyse dieser Krankheit, aber auch anderer geistiger Erkrankungen und abnormer psychischer Zustände, führen Hippokrates zur Ansicht, dass alle Phänomene des Geistigen und seelischen Lebens, „Lust und Freude, Gelächter und Scherz und ebenso Schmerz und Leid, Unlust und Weinen vom Gehirn her über uns kommen. Mit ihm vor allem denken wir und haben Einsicht und sehen und hören und unterscheiden das Hässliche und das Schöne, das Schlechte und Gute, das Angenehme und Unangenehme. Eben dieses Gehirn ist für uns auch Ursache von Raserei und Wahnsinn, und durch seine Einwirkungen befallen uns Angst und Schrecken in der Nacht wie am Tage, Schlaflosigkeit, Mißgriffe, Irrtümer, unangebrachte Sorgen, mangelnde Einsicht in die tatsächliche Lage und Handeln gegen die Gewohnheit“ (Hippokrates 1962, S. 146). So großartig diese Intuition aus den Erfahrungen eines praktischen Arztes auch sein mag, die anatomische Struktur und Funktionsweise des Gehirns, war ihm jedoch noch weitgehend unbekannt. Er sah das Gehirn selbst nur als eine Drüse an: „Das Gehirn ist weiß und bröckelig und liegt in der geräumigen Kopfhöhle.“ Er erkannte aber bereits die Zweiteilung in die beiden Gehirnhemisphären: „Das menschliche Gehirn ist zweihälftig … Eine zarte Haut zerteilt es in der Mitte. Wegen dieser Anordnung hat man nicht immer auf derselben Seite Kopfschmerzen, sondern bald links, bald rechts, bald im ganzen Kopf.“ Trotzdem war er der Meinung, dass „für alle Sinnesempfindungen allein das Gehirn verantwortlich ist. Die Augen, die Ohren, die Zunge, die Hände und die Füße führen nur das aus, was das Gehirn für richtig hält“. Aus diesen Gründen behauptete er auch, „daß das Gehirn den Verstand vermittelt“. Das Medium des Denkens aber war für Hippokrates nicht die „weiße, bröckelige“ Hirnmasse, sondern die Luft, die zuerst ins Gehirn kommt, wenn der Mensch den Atem einzieht, und von dort aus dann sich im ganzen Körper verbreitet, „wobei sie im Gehirn ihren besten Teil. d. h. das, was Denkfähigkeit und Einsicht hat, hinterläßt“ (a. a. O., S. 147).
Die zephalozentrische und die kardiozentrische These
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Hirn oder Herz: Die zephalozentrische und die kardiozentrische These Von allen Anfang an standen sich jedoch in der Antike zwei einander widersprechende Thesen vom Sitz des Denkens im menschlichen Körper gegenüber, die sich zumindest in der Alltagsmeinung im Gegensatz von Herz und Hirn bis zum heutigen Tag erhalten haben, aber ohne ihren philosophischen Hintergrund nicht zu verstehen sind. Denn es waren die beiden größten Philosophen der Antike, Platon und Aristoteles, die diesen Gegensatz vertraten.
Die zephalozentrische These Platons Der Bezug zwischen Denken und Gehirn wird von Platon hergestellt, der im ›Timaios‹ drei Seelenteile, den „erkennenden“, den „mutigen“ und den „begierigen“ Teil, unterscheidet, den erkennenden Teil im Gehirn lokalisiert (Timaios 69 d) und auf diese Weise dem Gehirn eine Führungs- und Kontrollfunktion zuschreibt. Doch handelt es sich bei ihm nicht so sehr wie bei Alkmaion und Hippokrates um eine Beziehung zwischen Körperteilen als vielmehr zwischen Seelenteilen (vgl. Solmsen 1971, S. 220). Platon macht sich zwar die bereits vorhandenen physiologischen Kenntnisse zunutze, aber sein Hauptanliegen ist es, die Herrschaft des unsterblichen vernünftigen Seelenteiles im Kopf über die niedrigeren sterblichen Seelenteile in Brust und Unterleib zu erklären. Diese Kontrolle kann das Gehirn nur dann ausüben, wenn seine Befehle von jedem der niedrigen Seelenteile, die fähig sind auf die vernünftige Seele zu reagieren, mit ihr physisch verbunden sind. Wenn das sich selbst überlassene Herz, in dem der mutige Seelenteil haust, zu „kochen“ beginnt, kann das Gehirn, weil es, wie auch Aristoteles wusste, kühler ist als die Herzgegend, das „kochende“ Herz dadurch beruhigen, dass es Ströme kühlenden Stoffes herab sendet. Da der Kopf mit dem Rumpf eng mit Blutgefäßen verbunden ist, übernimmt ganz offensichtlich bei Platon das Blut die Rolle, die einst die Luft gespielt hat. Blut ist für Platon auch der Träger aller Sinneseindrücke. Der Ton wird als ein Stoß definiert, der von der Luft hervorgerufen „durch Ohren, Gehirn und Blut zur Seele weitergegeben wird“ (67 b 2 ff.). Der Geschmacksinn beruht auf den kleinen Blutgefäßen der Zunge. Blutgefäße dienen auch als Träger des Geruches (66 d 4). Nur beim Sehvermögen werden von Platon Blutgefäße nicht erwähnt. Für den Sehvorgang und für das Farbensehen findet Platon eine mechanistische Erklärung im Sinne der antiken Strahlenop-
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tik. Denn das Sehen kommt nach seiner Meinung dadurch zustande, dass aus den „lichtvollen Augen“ ein dem Tageslicht verwandtes Feuer hervorströmt und mit dem von den Gegenständen ausgesandten Licht zusammentrifft. Sind die von den Gegenständen ausgehenden und auf den Sehstrahl fallenden Teilchen ebenso groß wie die des Sehstrahles selbst, dann sind sie durchsichtig und daher für uns nicht wahrnehmbar; sind sie aber kleiner oder größer, dann wirken sie auf den Sehstrahl entweder erweiternd oder zusammenziehend. Das den Sehstrahl erweiternde ist das Weiße, sein Gegenteil das Schwarze. Die Farben aber entstehen durch die Mischung dieser beiden Feuer – das eine, das wie ein Blitzstrahl aus dem Auge hervorspringt und das andere von außen entgegenkommende, das auf den Sehstrahl eindringt, ihn bis zum Auge hin erweitert und sich dann gewaltsam durch die Durchgänge des Auges hindurchdrängt und in der Feuchtigkeit des Auges erlischt. Trotzdem bleibt der Eindruck, dass die Blutgefäße und das darin enthaltene Blut die Hauptträger der Vermittlung zwischen der vernünftigen Seele mit dem Rumpf und den darin enthaltenen sterblichen Teilen der Seele sind. Denn Platon weist ausdrücklich darauf hin, dass die beiden Hauptadern, die Kopf und Rumpf miteinander verbinden, in den Körper eingepflanzt sind, „damit die Wirkung von Sinneswahrnehmungen durch den ganzen Körper verbreitet werden kann“ (77 e 5). Als Blutgefäße sind daher auch jene „engen Kanäle“ zu verstehen, durch die nach Platons Auffassung alle mit Empfindung ausgestatteten Körperteile den Befehlen und Drohungen des besten und regierenden Teils der Seele gehorchen. Auf diese Weise verbindet Platon seine physiologische Kenntnis des Blutgefäßsystems, das nach seiner Auffassung das Herz als „Knotenpunkt aller Adern“ und als „Quelle des alle Glieder mächtig durchströmenden Blutes“ zum Zentrum hat, mit seiner philosophisch-erkenntnistheoretischen Ansicht, dass das Gehirn das Organ der vernünftigen Kontrolle im Kopf sein muss. Für diese hervorragende Stellung des Kopfes gegenüber dem Rumpf und allen anderen Körperteilen liefert Platon auch eine entwicklungsgeschichtliche Erklärung: Ursprünglich wurde die unsterbliche Vernunftseele in einen der runden Gestalt des Weltganzen nachgebildeten kugelförmigen Körper eingepflanzt, den wir jetzt Kopf nennen. Damit aber der Kopf nicht hilflos auf dem unebenen Boden hin- und herrollt, sondern Höhen und Tiefen überwinden kann, dehnte er sich in die Länge und ließ vier ausgestreckte und biegsame Glieder mit Händen und Füßen aus sich hervorwachsen. In diesem sterblichen Leib, dem Fahrgestell der unsterblichen Vernunftseele, entstand eine andere Art der Seele, die sterbliche, in der sich mächtige und unabweisliche Leidenschaften regen. Damit aber die im Gehirn lokalisierte Vernunftseele nicht durch diese sterbliche Seele verunreinigt werden kann,
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ist zwischen Kopf und Brustkorb das Genick als Grenzscheide eingefügt. Die sterbliche Seele zerfällt wiederum von Natur aus in einen besseren und in einen schlechteren Teil. Der mutige Teil befindet sich im Brustkorb zwischen Genick und Zwerchfell, damit er, entsprechend seinem Sitz näher dem Kopf, der Vernunft gehorsam den begierigen Teil der Seele, der an der Futterkrippe im Bauch wie ein wildes Tier angefesselt ist, in Zaum halten kann. Wenngleich Platon den Tieren entsprechend ihrer niederen und höheren Organisation offensichtlich nur die sterblichen Seelenteile zubilligt, kennt er auch in diesem Bereich wesentliche Unterschiede. Niedere Tiere, wie Schnecken und Austern befinden sich in einem psychischen Dämmerzustand und sind nur dem Augenblicksreiz hingegeben. Aber auch die höchstorganisierten Tiere unterscheiden sich durch ihre zusammengedrückte Stirn, die dem Gehirn nur einen engen Raum anweist, vom Menschen. Nur bei den Hunden scheint Platon eine Ausnahme zu machen. Wie alle Griechen des Altertums war Platon ein großer Hundeliebhaber. In seiner Schrift über den Staat spricht er sogar von der „philosophischen Natur“ des Hundes, der Freund und Feind sehr genau unterscheiden kann und vergleicht die Hunde mit den Wächtern des Staatswesens. Platon ist daher noch weit entfernt vom cartesianischen Dualismus, der die Tiere als bloße Maschinen ansieht. Doch nimmt auch bei ihm die unsterbliche Vernunftseele des Menschen eine Sonderstellung ein, die sie im Christentum des Mittelalters nicht mehr hatte. Nach Platons Auffassung kommt ihr nicht nur Unsterblichkeit nach dem Tod des Leibes zu, sondern auch eine Präexistenz. Das berühmte Höhlengleichnis und seine Lehre von der Wiedererinnerung beruhen auf dieser wohl aus dem asiatischen Raum stammenden Auffassung. Zur wahren Erkenntnis ist die Vernunftseele nur in ihrem reinen, vom Körper abgelösten Zustand fähig. Denn der Eintritt der Vernunftseele in den vergänglichen Leib verwirrt sie nur und behindert die direkte Schau der Ideen. Wie die Gefangenen in einer Höhle sehen wir nur die Schatten der Ideen, die sich an der Rückwand abmalen. Daher ist es das Beste für den Menschen, wenn er sich von den Fesseln des Leibes löst und durch das dunkle Tor des Todes aus der Höhle des irdischen Lebens ins lichte Reich der Ideen tritt. Wie stark auch noch Aristoteles in seinen Frühschriften von diesen Lehren Platons beeinflusst war, zeigt ein Fragment aus seinem verloren gegangenen Dialog Eudemos. Der weltverneinende und diesseits abgewandte Grundzug der platonischen Todesmetaphysik erfährt hier durch folgenden Vergleich eine grausige Steigerung: „Es wurden manchmal diejenigen, wenn sie in die Hände der etruskischen Seeräuber gefallen waren, mit aus-
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gesuchter Grausamkeit getötet. Ihre lebendigen Körper, mit den Erschlagenen Gesicht an Gesicht gefesselt, wurden so eng wie möglich miteinander zusammengebunden; so aber sind unsere Seelen mit dem Körper eins, wie die Lebenden mit den Toten zusammengefesselt sind“ (Augustinus: Contra Julianum Pelagianum 4, 15; vgl. Bernay 1863, S. 144). Mehr als eine bloße Metapher oder Analogie ist jedoch die Berufung des Aristoteles auf die Medizin, wenn er sagt, dass unser irdisches, mit dem Leib behaftetes Leben einer entsetzlichen Krankheit gleicht, genauso wie das körperlose Leben der Gesundheit gleicht, weil es das eigentliche naturgemäße Leben der Seele ist, die nach Platon schon vor ihrem Eintritt in den Leib existierte. Deshalb haben wir auch, wie manche Menschen, die aus der Gesundheit in eine schwere Krankheit verfallen und dabei sogar die Buchstaben vergessen, die sie vorher gelernt haben, keine Erinnerung an das, was wir in diesem präexistenten Zustand geschaut haben. Das Beste wäre daher nach der Auffassung des frühen Aristoteles, überhaupt nicht geboren zu werden oder wenigstens so bald wie möglich nach der Geburt zu sterben (Aristoteles 1953, S. 5 f.).
Die kardiozentrische These des Aristoteles Ganz anders jedoch klingt die Seelenlehre des Aristoteles in seiner späteren Schrift ›De Anima‹. Dort vertritt er im Gegensatz zu Platon und seinen eigenen Frühschriften einen betonten Empirismus, der jedoch keineswegs wie in der Neuzeit zu einer Materialisierung der Seele führt. Auf diese Weise konnten die subtilen Differenzierungen, die Aristoteles an dem Begriff und den Eigenschaften und Fähigkeiten der Seele vorgenommen hat, zur Grundlage sowohl des naturwissenschaftlichen anatomisch-physiologischen als auch spekulativ-philosophischen Weges menschlicher Selbsterkenntnis bis weit in die Neuzeit werden. Seine Beschreibung der, wie Sherrington sagt, „biologischen Ausstattung des Bewußtseins“ wurde von der Hirnforschung übernommen und zum Paradigma für Jahrhunderte gemacht“ (Sherrington 1964). Deshalb ist es auch berechtigt, seine Seelenlehre als einen grundlegenden Beitrag zur Geschichte der Hirnforschung zu betrachten, obwohl er auf Grund von empirischen vergleichenden anatomischen Studien dem Gehirn jegliche empfindende oder kognitive Funktion abgesprochen hat und damit der „zephalozentrischen“ These Platons die „kardiozentrische“ These gegenübergestellt hat. Sein Hauptargument ist, dass das freigelegte Gehirn nicht auf mechanische Reizungen anspricht. Was für das Gehirn übrig bleibt ist nur noch die
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Funktion eines Kühlaggregates, die darin besteht, die Temperatur des mit Nahrung beladenen Blutes zu senken; daher bringt es auch den Schlaf. Das Herz ist zwar für Aristoteles ganz eindeutig das Zentralorgan, aber es gewinnt bei ihm keineswegs alles, was das Gehirn verloren hat. Denn er betrachtet es lediglich als den Wohnsitz der Ernährungs- und Wahrnehmungsseele (Anima vegetativa und anima sensitiva). Im Gegensatz zu seinem von Platon bestimmten Frühwerk Eudemos gibt es nun weder eine Präexistenz dieser Seele vor dem Leib, noch trennt sie sich im Tode von ihm. Es ist die Seele selbst, die stirbt und den Leib durch ihr Sterben zu einem toten Leib macht, der sich dann in der Verwesung zersetzt. Der Tod ist der Tod der Seele und nicht zu allererst der Tod des Leibes. In diesem Sinne muss daher auch Aristoteles die Unsterblichkeit der Seele leugnen. Doch macht er, wenn er vom Denken redet, vorbereitende Einschränkungen. Denn die höchste Funktion der Seele, die aktive Venunft (Intellectus agens), bedarf nach seiner Auffassung für die Ausübung ihrer Tätigkeit keiner physiologischen Basis, d. h. keiner physiologischen Werkzeuge und keines physiologischen Prozesses. Das geht aus ihrer Fähigkeit hervor, die darin besteht, alles zu erkennen, während dagegen alle Wahrnehmungen an bestimmte Sinnesorgane gebunden sind, ohne die sie nie zustande kämen. Die menschliche denkende Geistseele, der eigentliche Ort der Ideen (topos eidon), hat daher auch keinen bestimmten Platz im Körper weder im Kopf noch im Herzen. Deswegen ist sie auch allein unsterblich und ewig, was im Sinne des griechischen Wortes „aidos“ nicht nur das zukünftige Sein einschließt, sondern auch die Vergangenheit. Wie bereits die arabischen Kommentatoren des Aristoteles (z. B. Averroes) vermuteten, konnte jedoch mit diesen Aussagen nicht die individuelle Unsterblichkeit, sondern vielmehr nur die Unsterblichkeit der allgemeinen oder göttlichen Vernunft gemeint sein, in die die menschliche Geistseele beim Tod des Leibes zurückkehrt. Denn die Materie ist das Individuationsprinzip und nur durch die an die Sinnesorgane gebundenen Wahrnehmungen kann die denkende Seele zu der ihr eigenen persönlichen Erfahrung und zum individuellen Selbstbewusstsein gelangen. Bereits an diesen Aussagen lässt sich erkennen, dass bei Aristoteles drei unterschiedliche Bereiche zusammenkommen: der medizinisch-physiologische, der philosophisch-erkenntnistheoretische und der metaphysisch-theologische Bereich. Diese Verbindung bleibt jedoch bis weit in die Neuzeit für die Hirnforschung charakteristisch. Ohne ihre Berücksichtigung und ohne die Kenntnis des damit verbundenen aristotelischen Begriffsapparates erscheinen daher auch die frühen Aussagen, die in der neuzeitlichen Anatomie und experimentellen Physiologie des Gehirns und Rückenmarks gemacht wurden, seltsam widersprüchlich.
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Die aristotelische Erkenntnistheorie als heuristische Grundlage der Hirnforschung Es war vor allem jener von Aristoteles in subtiler Weise ausgearbeitete Bereich zwischen Wahrnehmen und Denken, der bis weit in die Neuzeit für die Hirnforschung eine entscheidende Rolle spielte. Denn gerade die Fähigkeiten Sensus communis (Gemeinsinn), Phantasia (Einbildungskraft) und Memoria (Gedächtnis) waren es, die als höhere Hirnfunktionen entweder wie im Mittelalter in den Ventrikeln oder wie in der Neuzeit in bestimmten Teilen des Gehirns lokalisiert wurden. Am wenigsten genau ist von Aristoteles der Sensus comunis beschrieben. Er ist aber eine notwendige Konsequenz seiner Wahrnehmungstheorie. Die Wahrnehmung ist, wie Aristoteles aus seiner Kenntnis der Physiologie und Medizin weiß, an die Differenzierung in die fünf Sinnesorgane gebunden, welchen wiederum jeweils die ihnen eigentümlichen Sinnesobjekte zukommen. Wenn Aristoteles in diesem Zusammenhang von der Unfehlbarkeit der Wahrnehmung spricht, dann meint er nur diese sinnesadäquate Wahrnehmung: Der Gesichtssinn sieht Farbe, Helligkeit oder Dunkelheit, der Gehörsinn hört Töne usw. Es gibt daher für Aristoteles eine Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung, bei der Sinnesorgan und Gegenstand eine Einheit bilden, in der wir uns niemals täuschen können. Die Wahrnehmung ist einerseits im Organ als Empfindung des Gegenstandes und andererseits im Gegenstand als Reiz des Organs. Aber diese Wahrnehmung ist lediglich die Wahrnehmung der dem jeweiligen Sinnesorgan eigentümlichen Merkmale des Gegenstandes und nicht des Gegenstandes selbst als Träger dieser Eigenschaften: Darin, dass etwas weiß ist, täuscht man sich nach Aristoteles nie, ob es aber dieses Weiß, z. B. Schnee, oder ein anderes, z. B. Zucker, ist, darin kann man sich täuschen. Das aber heißt, dass sich diese untrügliche Wahrnehmung gewissermaßen in ihre einzelne Sinnesobjekte zerschlagen würde, was zur Folge hätte, dass weder ein gemeinsames Objekt der Wahrnehmung zustande käme, noch dass der Wahrnehmungsgegenstand als solcher erkannt würde. Deshalb muss Aristoteles einen „gemeinsamen“, „einheitlichen“ oder „zentralen“ Sinn annehmen, über den er sich allerdings nur sehr spärlich äußert (De Anima 426 b 16 und 20, 431 b 5). Über die Frage, ob diesem Sensus communis ein körperliches Organ entspricht, das Herz oder überhaupt das Fleisch, darüber haben sich bereits die Aristoteleskomentatoren in der Antike gestritten. Dass Aristoteles selbst den Sitz dieses Zentralsinns nicht im Gehirn angenommen hat, geht bereits daraus hervor, dass er das Zusammentreffen
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zweier Sinne im Schädel oder Gehirn ausdrücklich bestreitet (De Vita 469 a 21 f, De Part an. 656 a 17 ff.). Aber wie bereits Sherrington hervorgehoben hat, zog er den für die Erklärung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit so entscheidenden Schluss, „daß ein interner Versammlungsort der Sinneskanäle ein charakteristischer Zug des Organs des Bewußtseins sein müsse“. Und Sherrington fügt im Sinne der bereits von der Evolutionstheorie beeinflussten Hirnforschung hinzu: „Nicht neue Sinne, sondern eine bessere Verbindung zwischen den alten Sinnen hat die Entwicklung des Nevensystems angestrebt“ (Sherrington 1964). Dass auch Aristoteles nicht einen besonderen Sinn über die Fünfzahl der Sinne hinaus angenommen hat, geht schon aus seinen eigenen Bemerkungen hervor, wenn er ausdrücklich sagt, „daß es außer den fünf Sinnen, Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn, keine weiteren gibt“, weil uns sonst ja ein Sinneswerkzeug fehlen würde (424 b 22). Der Sensus comunis liegt daher wie bereits der antike Kommentator des Aristoteles Philoponus festgestellt hat, auf einer anderen nicht direkt mit einem körperlichen Organ identischen Ebene, die zwischen der adäquaten Sinneswahrnehmung und dem Denken vermittelt, das ohne sinnliches Vorstellungsbild (Phantasma) nicht zustande kommen kann. Zu dieser Ebene gehören daher auch Einbildungskraft (Phantasia) und Gedächtnis (Memoria). Wenn Aristoteles von „Phantasia“ spricht, so meint er in erster Linie nicht die freie, willkürlich schöpferische, produktive Einbildungskraft im heutigen Sprachgebrauch des Wortes „Phantasie“, sondern die reproduktive, welche die Wahrnehmungsinhalte wieder hervorufen kann. Das „Phantasma“ ist somit die Vorstellung eines Wahrnehmungsgegenstandes in seiner Abwesenheit. Es bedarf daher des Gedächtnisses, um den Gegenstand ohne sein unmittelbares Vorhandensein wieder reproduzieren zu können. Das Bildhafte der Phantasmata drückt Aristoteles dadurch aus, dass er sagt, dass wir uns, wenn wir uns in der Phantasie etwas Schreckliches vorstellen, so verhalten, als ob wir es auf einem Gemälde betrachten. Da die Phantasie gerade dann auftritt, wenn die unmittelbare Bezogenheit auf die wirklichen Gegenstände fehlt, ersetzt sie die wirkliche Wahrnehmung und ist gleichsam „ein Sehen mit geschlossenen Augen“ (428 a 16). Je mehr die wirkliche Wahrnehmung zurücktritt, desto mehr kann die Einbildungskraft in Tätigkeit treten. Auf diese Weise ist die Einbildungskraft sowohl als ergänzender als auch als verfälschender Faktor an der Wahrnehmung beteiligt. Als ergänzender Faktor, der die adäquate Sinneswahrnehmung der einzelnen Merkmale zu einem einheitlichen Gegenstand verbindet, steht sie dem „Gemeinsinn“, dem Sensus communis nahe oder ist sogar mit ihm identisch.
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Zur Erinnerung (Mnemoneuma) wird das Phantasma, wenn man in ihm das Abbild eines Wahrgenommenen erkennt und sich der Gedanke mit ihm verbindet, dass es die Wiederholung einer früheren Wahrnehmung sei; ein Punkt, über den man sich nicht immer im Klaren ist. Deshalb erkennt man bald wirkliche Erinnerungen nicht als solche, bald hält man bloße Einbildungen für Erinnerungen. Die Vermittlerrolle, die die Phantasie zwischen Wahrnehmung und Denken spielt, kommt bei Aristoteles dadurch zur Geltung, dass er die reproduzierende Einbildungskraft mehr der Wahrnehmung und die schöpferische, produzierende Einbildungskraft, „die aus mehreren Phantasmata eins machen kann“, mehr dem Denken zuordnet, ja als „Ersatz für das Denken“ (433 a 10) bezeichnet. Sie kommt daher auch seiner Meinung nach nur bei jenen Lebewesen vor, die denken können (434 a 7). Wie Aristoteles eine reproduktive Einbildungskraft, die dem Sensus communis und somit der Wahrnehmung nahe steht, von einer produktiven Einbildungskraft, die einem bildhaften Denken ähnlich ist, unterscheidet, so unterscheidet er auch einen passiven Verstand (Intellectus passivus), der auf die Phantasmata der Einbildungskraft angewiesen ist, von einem aktiven Verstand, dem bereits erwähnten Intellectus agens, der an kein körperliches Organ gebunden ist und daher anders als der passive Verstand, der mit dem Leib zugrunde geht, unsterblich ist. Dass Aristoteles mit dieser Differenzierung nicht eine Art von Schichtenlehre der Seele vertritt, die ein äußeres Neben- oder Übereinander von einzelnen Seelenteilen bedeutet, indem man eine Pflanzen-, Tier- und Menschenseele unterscheidet und diesen Unterschied jeweils durch das äußerliche Hinzutreten eines neuen Vermögens erklärt, geht schon aus der von ihm immer wieder gebrauchten Analogie zu den geometrischen Figuren hervor: „Auch geht es mit den Figuren, wie mit der Seele: immer ist in der nächstfolgenden die frühere der Anlage nach enthalten, bei den Figuren, wie bei den beseelten Wesen, es steckt etwa im Viereck das Dreieck und in der Wahrnehmungskraft die Nährkraft... Diejenigen Wesen, die Denkkraft haben, haben auch alles übrige, aber die das übrige haben, besitzen nicht auch alle die Denkkraft“ (414 b 28 f.; vgl. Oeser 1969, S. 133). Solche Formulierungen erklären sowohl den inneren Zusammenhang der einzelnen Seelenvermögen als auch die für die experimentelle Hirnphysiologie der Neuzeit so selbstverständlich angenommene Ähnlichkeit oder prinzipielle Gleichheit von Tier- und Menschenseele (Willis), die in den gleichartigen Strukturen von Tier- und Menschenhirn ihre Entsprechung hat.
Die Lehre vom Pneuma oder Spiritus animalis
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Die Lehre vom Pneuma oder Spiritus animalis Wenngleich dieses ebenso differenzierte wie ganzheitliche Schema der Seele primär ein Resultat philosophisch-erkenntnistheoretischer Spekulation ist, versucht doch Aristoteles auch die physiologischen Lehren seiner Zeit zu berücksichtigen. Da nach seiner Auffassung mit Ausnahme der aktiven Vernunft die Seele mit allen ihren Teilen in Gemeinschaft mit den Körperorganen handelt, ist er auch in seinen naturgeschichtlichen Schriften bereit, Angaben über die physischen Veränderungen zu machen, die in den Sinnesorganen während ihres Funktionierens vor sich gehen (De generatione animalium 779 b 13 – 781 a 63; vgl. Solmsen 1971, S. 234), und er beschäftigt sich auch mit der Frage, wie die Empfindungen der Sinnesorgane das Zentralorgan Herz erreichen und wer der Träger dieser Übertragung sein kann. Das Blut ist zwar auch nach seiner Auffassung der Träger des Ernährungsvermögens oder der vegetativen Seele und kein blutloser Teil des Körpers (nach Aristoteles fällt darunter auch das Gehirn) ist der Empfindung fähig, aber es empfindet selbst nicht, wie man eindeutig feststellen kann, wenn man es berührt und daher kann es auch nicht der Träger der Empfindungen sein, die von den Sinnesorganen zum Herzen geleitet werden. Mit der Verwerfung des Blutes als Träger der Empfindungen bricht Aristoteles zwar mit einer langen Tradition, die bis zu Empedokles zurückreicht und dem Herzen eine zentrale Rolle zugesprochen hat, eröffnet aber andererseits eine neuen, die gesamte weitere Geschichte der Hirnforschung bestimmenden Weg in die Zukunft: Es ist seine Lehre vom Pneuma, das als „Spiritus animalis“ bis weit in die Neuzeit hinein fast alle Hirnphysiologen mit wenigen Ausnahmen beeinflusst hat. Unter „Pneuma“, wie der ursprüngliche griechische Ausdruck lautet, ist bei Aristoteles nicht einfach die Luft zu verstehen, die bei Alkmaion, Diogenes und Hippokrates eine zentrale Rolle spielt. Denn Aristoteles redet von einer „eingeborenen“ (symphoton) Substanz, die in den Gängen (Poroi) des Geruchs und Gehörs, die mit der äußeren Luft in Verbindung stehen, bereits von vornherein vorhanden ist. Die Luft aber, die durch die Atmung erst in den Körper eindringt, kann nicht eingeboren sein, deshalb lässt sich Luft und Pneuma bei Aristoteles nicht gleichsetzen. Vielmehr handelt es sich bei Aristoteles um ein Prinzip der Bewegung, das in der gesamten belebten und unbelebten Natur eine kausale Rolle spielt, so zum Beispiel auch bei den Erdbeben, die durch das aufsteigende Pneuma verursacht werden, in ähnlicher Weise, wie es Zittern und Krämpfe im kranken menschlichen Körper hervorruft. Das Pneumatische Prinzip ist nach Aristoteles für alle Bewegungen des Lebewesens
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verantwortlich: „Alle Tiere haben natürlich eingeborenes Pneuma und üben ihre Kraft vermittels desselben aus.“ Aristoteles selbst versucht jedoch nicht jene „Gänge“ zu identifizieren, in welchem das Pneuma zu den Gliedern oder Sinnesorganen und Herz gelangen kann. Diese Frage wurde erst von den nächsten Generationen der experimentellen Anatomen und Physiologen behandelt und führte zur Entdeckung der Nerven.
Die Entdeckung der Nerven: Herophilos und Erasistratos Es waren vor allem zwei Namen, Diokles von Karystos und Proxagoras von Kos, die im 4. und 3. Jahrhundert vor Chr. die hippokratischen Lehren mit der aristotelischen Pneumatheorie verknüpften und weiter ausbauten. Für beide war zwar noch immer das Herz das Zentralorgan, doch nahm Diokles das Vorhandensein von psychischem Pneuma auch im Gehirn an. Denn er erklärte, dass Lethargie auf der Abkühlung des Seelenpneumas in beiden Organen beruht. Dem jüngeren von beiden, Proxagoras, schreibt man im Allgemeinen die Unterscheidung von Arterien und Venen zu und den Glauben, dass Pneuma sich durch die ersteren und das Blut durch die letzteren bewegt. Diese Lehre von den Arterien als Gefäße für das Pneuma war ein erster Schritt zur Entdeckung der Nerven, die von den beiden alexandrinischen Gelehrten Herophilos und Erasistratos stammt. Proxagoras, der der Lehrer von Herophilos war, bevor dieser nach Alexandrien zog, gebraucht zwar bereits das Wort „Neuron“, das früher als Bezeichnung für die Sehnen verwendet wurde, doch versteht er darunter nur jene Teile der Arterien, die so dünn geworden sind, dass ihre „Wände“ einfallen und somit den Sehnen ähnlich sind. Aber aus der Darstellung dieser Lehre durch Galen wissen wir, dass Proxagoras mit der Tätigkeit dieser „Neura“ die Bewegungen der Finger erklärte, was unserer heutigen Auffassung von der Funktion der motorischen Nerven durchaus entspricht. Die eigentliche Entdeckung von Bewegungsnerven war jedoch Herophilos vorbehalten, der bereits nicht nur die motorischen Nerven, sondern auch die Sinnesnerven kannte. Obwohl auch er terminologisch noch keine klare Unterscheidung zwischen den motorischen Nerven und den Sehnen traf, die Knochen mit Knochen oder Muskel mit Muskel verbinden, weil er beide noch mit „Neura“ bezeichnete, muss man ihm das Verdienst zubilligen, jene Organe identifiziert zu haben, durch welche die Seele an den Prozessen beteiligt ist. Die motorischen Funktionen, die noch Proxagoras als Vertreter
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der kardiozentrischen These den Arterien zugeschrieben hat, wird nun in aller Deutlichkeit auf die Nerven übertragen, deren Ursprung Herophilos bis zum Gehirn und Rückenmark verfolgt. Das Gleiche gilt für die sensorischen Nerven. Auch sie sind mit dem Gehirn als Zentralorgan verbunden. Dass es Verbindungswege zwischen Augen und Gehirn gibt, hat zwar schon Alkmaion festgestellt und auch Aristoteles erwähnt sie in seinen zoologischen Schriften, obwohl ihn seine kardiozentrische Lehre daran hinderte, die Funktionen anzuerkennen, die ihnen Alkmaion zugewiesen hatte. Aber erst Herophilos hat nach Galens Zeugnis jene „Poroi“ oder „Gänge“, die von den Augen zum Gehirn laufen, als „Nerven der Empfindung“ bezeichnet. Herophilos war es auch, der als Erster das Groß- und Kleinhirn, die Hirnhäute und die Ventrikel mit großer Genauigkeit beschrieb. Überliefert ist auch, dass er die „vierte Kammer“ oder die „Höhle“ des Kleinhirns als Sitz des „Hegemonikons“, der Führungskraft, bezeichnete (vgl. Solmsen 1971, S. 271). Diese großartigen anatomischen Kenntnisse, die in der Neuzeit erst im 17. Jahrhundert überboten werden konnten, verdankte Herophilos systematischen Hirnsektionen am Menschen, die zu dieser Zeit nur in Ägypten ohne jede Einschränkung und in unbegrenzter Zahl möglich waren. Wie der römische Enzyklopädist Celsus berichtet, waren diese Sektionen, die nicht nur Herophilos sondern auch Erasistratos durchführten, Vivisektionen an Verbrechern, „die ihnen aus den Gefängnissen überlassen wurden und die sie untersuchten, solange sie noch atmeten“ (Celsus, De medicina. Lib. I, S. 7). Diesen Vorwurf wiederholt im 2. Jahrhundert n. Chr. der streitbare Kirchenlehrer Tertullian, der Herophilos als „Arzt oder Metzger“ (medicus aut lanus) bezeichnet, weil er „Tausende von Menschen ausgeweidet hat“ (Tertullianus 1744, S. 270). Wegen dieser Sektionen am lebenden Menschen wurde auch Herophilos von den frühen Christen am meisten gehasst. Dass Herophilos für die Sehnerven immer noch den alten von Aristoteles gebrauchten Begriff der Poroi beibehält, hat seinen Grund darin, dass er durch seine anatomischen Studien herausgefunden zu haben glaubte, dass diese Bänder hohl sind. Wie man von Galen erfahren kann, war Herophilos der Meinung, dass diese hohlen Gänge „Pneuma“ enthalten. Er greift damit die aristotelische Tradition auf und folgert aus rein theoretischen Überlegungen, dass das auch für alle anderen Nerven gilt. Deutlicher als bei Herophilos sind diese Ansichten bei seinem jüngeren Zeitgenossen Erasistratos überliefert. Während Herophilos noch weitgehend auf dem Boden der hippokratischen Überlieferung stand, war Erasistratos in Athen in nahe Berührung mit der peripatetischen Schule des Aristoteles gekommen. Denn der große Aristoteles-Schüler und Verfasser von naturgeschichtlichen Wer-
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ken Theophrast war sein Lehrer, ebenso wie Metrodoros, der eine Tochter des Aristoteles geheiratet hatte. Deshalb scheute Erasistratos sich auch nicht vor schwerwiegenden Korrekturen der herrschenden hippokratischen Lehre. In umgekehrter Reihenfolge wie Hippokrates behauptet er, dass die lebensspendende Luft zuerst durch die Atmung in die Lungenvenen, von dort ins Herz und schließlich als Pneuma psychikon in die Gehirnventrikel komme. Doch nimmt er wie Hippokrates an, dass es auch einen direkten Weg des Pneuma von der Nase in das Gehirn gibt, weil er an Tiersektionen festzustellen glaubte, dass sich röhrenförmige Ausstülpungen der vorderen Hirnventrikel in die Nase hinein erstrecken. Auf Galen beruft sich viel später noch der persische Arzt Rhazes, der im 9. Jahrhundert n. Chr. lebte, und der älteste medizinische Schriftsteller in hebräischer Sprache, der jüdische Arzt Asaf, der im 7. Jahrhundert in Mesopotamien wirkte und die Nase als „Türhüter des Gehirns“ bezeichnete (vgl. Benedum 1988, S. 26). Auf der Basis seiner Sektionen demonstrierte Erasistratos zunächst unwiderleglich, dass alle Nerven im Gehirn ihren Ursprung haben und konzentrierte sich dann auf die Feststellung jener Stellen oder Teile des Gehirns, zu denen die verschiedenen Arten von Nerven gehören. Er unterscheidet, wie Herophilos drei Kammern im Großhirn und eine im Kleinhirn. Er kennt die Hirnhäute und beschreibt die Großhirnwindungen und das Kleinhirnrelief. Wie Herophilos sieht auch Erasistratos im Kleinhirn das Führungs- oder Denkorgan, weil er durch vergleichende anatomische Studien Folgendes feststellt: „Genau wie andere Lebewesen, z. B. Rehe oder Kaninchen oder irgend ein anderes, das die übrigen an Schnelligkeit des Laufens übertrifft, hierfür mit nützlichen Organen, nämlich Muskeln und Sehnen ausgerüstet ist, so hat beim Menschen, der in der Kraft des Denkens die anderen Lebewesen übertrifft, dieser Teil viel mehr Windungen“ (Galen, De usu part. VIII 13; vgl. Solmsen 1971, S. 272). Wenn Erasistratos die Großhirnwindungen erwähnt, vergleicht er sie zwar mit den Dünndarmschlingen, stellt aber fest, dass es zum Großhirn Verbindungen von den Wahrnehmungen gibt, die sowohl von der Nase als auch von den Ohren und der Zunge herkommen.
Das Ende der kardiozentrischen These
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Das Ende der kardiozentrischen These: Galens Synthese von aristotelischer Pneumalehre und experimenteller Hirnforschung Die lange Geschichte der Kontroverse zwischen der zephalozentrischen und kardiozentrischen These findet schließlich 300 Jahre später bei Claudius Galenus ihren Abschluss. Denn Galen übernimmt zwar von Aristoteles die Pneumalehre, lehnt aber dessen Ansicht, dass das Gehirn nur eine Kühlfunktion für das Herz hat, als völlig absurd ab. Wäre dies wirklich der Fall, argumentiert er, so hätte die Natur das Gehirn nicht so weit vom Herzen entfernt platziert, sondern hätte es in den Brustkorb rundherum um das Herz gelagert. Daher bekennt er sich ausdrücklich zur zephalozentrischen These von Alkmaion und Hippokrates und folgt in der Hirn- und Nerventheorie Herophilos und Erasistratos. Er unterscheidet wie diese die motorischen und sensorischen Nerven und nimmt an, dass die härteren motorischen Nerven im Kleinhirn entspringen, während die weichen sensorischen Nerven zum Großhirn gerichtet sind. Anders jedoch als Erasistratos glaubt er nicht, dass die Gehirnwindungen etwas mit Intelligenz zu tun haben und verweist auf den Esel, der zwar ein ausgesprochen komplexes Gehirn besitzt und doch bemerkenswert dumm ist. Obwohl es Galen selbst nicht gelang ein ausgearbeitetes System aus den von ihm übernommenen Elementen zu errichten, war sein physiologisches Grundkonzept richtungsweisend bis in die Neuzeit. Er differenziert das aristotelische Pneuma in drei Arten von Spiritus: Der Spiritus naturalis wird aus den Nährstoffen in der Leber gebildet, der dann durch die Venen zum Herzen gleitet und dort in der linken Herzkammer zum Spiritus vitalis umgewandelt wird. Von dort wird das Spiritus vitalis durch die Arterien zu einem „wunderbaren Netz“ (Rete mirabile) geführt, das Galen in vielen Tiersektionen entdeckt hatte und das er deshalb auch dem Menschen zuschrieb. Er bezeichnet es deswegen als „wunderbar“, weil es alle handgemachten Netze an Komplexität und Feinheit übertrifft. Dieses wunderbare Netz umschließt die Hirnbasis und verteilt den Spiritus vitalis in die Gehirnventrikel, in denen der Spiritus animalis, die höchste Form des Spiritus entsteht, der über die Nerven im ganzen Körper verteil wird. Es waren aber weniger seine theoretischen Ansätze als seine empirischen und praktischen Forschungen, die ihn zu umfangreichen anatomischen und physiologischen Kenntnissen führten. Er durfte zwar nicht mehr wie Herophilos und Erasistratos Sektionen an Menschen vornehmen, aber er konnte als Gladiatorenarzt seine Erfahrungen sammeln. Krieg und Gladiatorenkämpfe, schrieb er, sind die größte Schule der Chirurgie. So bemerkte er bei
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den Wunden, die den Kopf bzw. die Schädeldecke spalteten, die rhythmische Bewegung des Gehirns und bei Tieren stelle er fest, dass ein Einschnitt in das Gehirn dem betreffenden Tier nur dann seine Empfindungs- und Bewegungsfähigkeit raubt, wenn der Schnitt bis zu einem der Hirnventrikel vordringt. Bei Galen erreichten allerdings auch die Vivisektionen an Tieren einen bisher unbekannten Grad an Anzahl und Grausamkeit. In seiner Abhandlung über die anatomischen Prozeduren schildert er Sektionstechniken an lebenden Tieren verschiedenster Arten. So führte er bereits schichtenweise Abtragung des Gehirns und totale oder partielle Durchschneidung des Rückenmarks durch, um Klarheit über die Funktionen dieser Organe zu gewinnen. Dass ihn selbst diese Vivisektionen nicht ungerührt lassen, kann man jedoch an seiner Empfehlung erkennen, die Freilegung des Gehirns lieber an Schweinen und Ziegen vorzunehmen als an Affen, weil „du auf diese Weise vermeiden kannst, den unerfreulichen Ausdruck des Affen zu sehen, wenn er viviseziert wird“ (Galen 196, S. 15). Er stellt auch fest, dass die „Ekelhaftigkeit des Ausdrucks bei der Vivisektion nicht diesselbe in allen Tieren ist“ (a. a. O., S. 85). Wenn einmal die Prozedur der Vivisektion begonnen hat, soll aber nach Galens Vorschriften der Anatom genauso vorgehen wie bei einem toten Tier und ohne Mitleid und Mitgefühl in die tiefen Gewebe eindringen. Auch darf er sich von der Wiederholung solcher Prozeduren durch das häufige Ausströmen von Blut nicht abschrecken lassen. Für Galen sind Vivisektionen ausschließlich aus ästhetischen Gründen beunruhigend. Er vermied daher auch bei öffentlichen Vivisektionen widerwärtige Operationen an Sexualorganen, wie er überhaupt Sektionen an lebenden und toten Tieren in aufrechter menschenähnlicher Haltung zurückwies. Gerechtfertigt sah er diese grausame Haltung gegenüber Tieren in der damals weit verbreiteten Auffassung der stoischen Philosophie, dass Tiere keine rationale Seele wie die Menschen besitzen und daher auch keine Persönlichkeit und Rechte. Wenngleich Galen sich selbst nicht entscheiden konnte, ob das „Pneuma“ mit der Seele identisch sei oder nur ihr Werkzeug (Organon), so gab er aber doch allen, die sich dafür interessierten, den Rat: „Haltet euch nicht an die Götter, um durch ihre Eingebung die alles beherrschende Seele zu entdecken, erkundigt euch lieber bei einem Anatomen.“
3. Vom Mittelalter zur Neuzeit: Die Gehirnventrikel als Sitz der Seele Die spekulative Zellenlehre des Mittelalters Diesen Ratschlag haben die Kirchenväter und Scholastiker des Mittelalters berücksichtigt. Sie übernahmen mit der aristotelischen Erkenntnistheorie und Psychologie zugleich als unantastbare Autorität die anatomisch-physiologische Lehre des Galen, ohne sie auch nur im Geringsten zu verändern. Das Gleiche taten auch die arabischen Aristoteleskommentatoren, von denen die berühmtesten, wie z. B. Avicenna, auch zugleich Ärzte waren. Auf diese Weise erhielt das Paradigma der Ventrikellehre jene universale kulturinvariante Bedeutung, wie die fast stereotypen Darstellungen zeigen, in denen das Dreizellenschema aus religiösen Gründen zum Teil in symbolischer Form, aber außerhalb des arabisch-islamischen Bereiches auch immer häufiger in einen naturalistisch dargestellten Kopf hineinprojiziert wird. Wie jedoch bereits Grünthal (1957) betont hat, ließ gerade diese ausschließlich die Ventrikel für funktionell bedeutsam erklärende Ansicht kein Interesse an der Form des Hirnes selbst aufkommen. Die Ventrikel, von deren anatomischer Struktur und Lage man eigentlich nichts mehr wusste, wurden als drei große, hintereinander im Kopf liegende Zellen vorgestellt, in denen eine oder mehrere Erkenntniskräfte oder Erkenntnisvermögen hausen sollten, deren Existenz als Spiritus animales, bestehend aus dem Dunst des Blutes, halb materiell, halb geistig angesehen wurde. Folgende Anordnung war es, die mit geringen Abwandlungen das ganze Mittelalter hindurch bis zur Neuzeit aufrechterhalten worden ist: In der ersten Zelle (anatomisch mit den beiden Seitenventrikeln gleichzusetzen) wurden der Sensus communis, der nach Aristoteles alle Sinne zu einer Einheit verbindet, und die Phantasie oder Vis imaginativa, die Einbildungskraft, angesiedelt, in der zweiten Zelle der Verstand (Vis cogitativa) und in der dritten Zelle das Gedächtnis (Vis memorativa). Zwischen der ersten Zelle und den beiden hinteren Zellen stellte man
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sich eine seltsame Einrichtung vor: den sog. Vermis, einen wurmförmigen, beweglichen Fortsatz, der die Funktion haben sollte, den Weg zu den hinteren Zellen zu öffnen oder zu versperren. Klappte dieser Vermis zu, dann bedeutete das, dass die vorne erzeugten Sinneseindrücke und Vorstellungen vom Verstand nicht weiterverarbeitet und vom Gedächtnis nicht aufgenommen werden konnten. Dieses, zumindest seiner Funktion nach, mit Recht als „Phantasiegebilde“ (Grünthal 1957) bezeichnete Organ, das man meist AvicenAbb. 2: Die Ventrikellehre nach einer Handschrift aus dem Jahre 1524 na zuschreibt, aber als „ana(aus Clarke u. Dewhurst 1974) tomische Realität“ bereits in Galens Schriften vorkommt, taucht in fast allen Darstellungen der Zellen im Mittelalter und in späteren Druckschriften auf. So unsinnig war allerdings die Vorstellung von der Funktion des Vermis nicht, denn der Vermis hat tatsächlich in der sog. Formatio reticularis, einem System von vielgestaltigen Nervenzellen in der Region des Hirnstammes, ein funktionales Äquivalent. Die Formatio reticularis hat die Bedeutung eines Steuersystems der Bewusstseinslage, von dessen Aktivitäten es abhängt, in welchem „Wachheitszustand“ sich ein Lebewesen befindet, womit sich auch die Vermutung des Aristoteles bestätigt, dass das Gehirn für den Schlaf verantwortlich ist.
Leonardo da Vincis anatomische Untersuchung
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Leonardo da Vincis anatomische Untersuchung der Hirnventrikel Die Zellenlehre wurde nicht nur unangetastet im ganzen Mittelalter – also zu einer Zeit, in der man keine anatomischen Forschungen mehr betrieb – weitergegeben, sondern sie bestimmte auch noch einen der selbständigsten und größten Geister der Renaissance. Leonardo da Vinci befasste sich zwar ursprünglich nicht mit der Anatomie des Menschen um ihrer selbst willen, sondern wie andere Maler der Renaissance nur deswegen, um eine feste Grundlage für sein künstlerisches Schaffen zu bekommen. Aber wie bei allen anderen Gebieten der Naturwissenschaft und Technik, mit denen er sich beschäftige, wurde daraus ein rein wissenschaftliches Anliegen. Aus zeitgenössischen Zeugnissen und Leonardos eigenen Angaben geht hervor, dass er an mehr als dreißig Leichen beiderlei Geschlechts und aller Lebensalter Sektionen ausgeführt hat. Dabei entwickelt er eigene neue Methoden zur Herstellung von Präparaten, die er dann genau nachzeichnete und mit Anmerkungen versah. Leider ist der größte Teil dieser anatomischen Aufzeichnungen verloren gegangen oder vernichtet worden. Er musste auch seine anatomischen Studien plötzlich abbrechen, als ihm Papst Leo X. den Zutritt zur Totenkammer des Heiliggeistspitals in Rom verwehrte. Charakteristisch für Leonardos Studien über den menschlichen Körper ist die enge Verbindung von anatomischer und physiologischer Betrachtungsweise. Er wollte ja, dass von jedem Organ oder Körperteil „der Gebrauch, der Zweck, der Nutzen“ festgestellt würde. Das war auch die Zielsetzung bei seinen hirnanatomischen Untersuchungen, die sich vor allem auf die Hirnventrikeln bezogen. Denn auch er nahm an, dass sich in ihnen der Prozess der Erkenntnis abspielt: „Die Forscher des Altertums haben die Schlußfolgerung gezogen, daß das Urteilsvermögen, das dem Menschen gegeben ist, durch ein Werkzeug hervorgerufen wird, mit dem die andern fünf Sinne durch das Wahrnehmungsorgan (Impressiva) in Beziehung stehen. Und sie haben diesem Werkzeug den Namen ‚Allgemeinsinn‘ (Sensus communis) beigelegt und behaupten, dieser Sinn liege genau in der Mitte. Übrigens gebrauchen sie diese Bezeichnung ‚Allgemeinsinn‘ nur, weil er der gemeinsame Beurteiler der anderen fünf Sinne ist, nämlich Gesichts-, Gehör-, Tast-, Geschmackund Geruchsinn. Der Allgemeinsinn wird angeregt durch das Wahrnehmungsorgan, das in der Mitte zwischen ihm und den Sinnen angebracht ist. Das Wahrnehmungsorgan aber wird angeregt durch die Bilder der Dinge, die ihm übermittelt werden durch die an der Oberfläche liegenden Werkzeuge, d. h. der Sinne, die in der Mitte zwischen den äußeren Dingen und
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Abb. 3: Gehirnventrikel in der Darstellung von Leonardo da Vinci (aus Clarke u. Dewhurst 1974)
dem Wahrnehmungsorgan liegen, und die Sinne werden wiederum durch die Gegenstände angeregt. Die Dinge ringsum senden ihre Bilder zu den Sinnen, und die Sinne übertragen sie bis zum Wahrnehmungsorgan, und das Wahrnehmungsorgan übermittelt sie dem Allgemeinsinn und dieser prägt sie dem Gedächtnis ein, und dort werden sie mehr oder weniger gut behalten, je nach der Bedeutung oder Wirkungskraft des übertragenen Gegenstandes“ (Leonardo da Vinci 1940, S. 118 f.).
Leonardo da Vincis anatomische Untersuchung
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Entsprechend dieser Beschreibung stellte auch Leonardo zunächst die drei Ventrikel als drei hintereinander liegende und ineinander übergehende Kreise dar (vgl. Abb. 3). Aus dieser Darstellung geht auch die besondere Bedeutung des Gesichtssinnes hervor: „Der Sinn, der dem Wahrnehmungsorgan am nächsten ist, erfüllt seine Aufgabe am schnellsten. Es ist der Gesichtssinn, der Gebieter und Fürst der anderen.“ Um die wahre Form der Hirnventrikel zu bestimmen, gibt Leonardo selbst folgende Anweisung: „Mache zwei Luftlöcher in die Hörner der großen Ventrikel, führe das geschmolzene Wachs mit einer Spritze ein, indem du ein Loch in den Ventrikel der Memoria bohrst, und fülle durch dieses Loch die drei Gehirnventrikel. Nimm dann, sobald das Wachs fest geworden ist, das Gehirn heraus, und du wirst die Gestalt der drei Ventrikel genau sehen. Vorher aber setze dünne Röhren in die Luftlöcher ein, damit die Luft, die in diesen Ventrikeln ist, entweichen und dem Wachs Platz machen kann.“ (a. a. O., S. 105) Dieselbe Methode wandte Leonardo auch bei Darstellung der Herzkammern an. Das Rückenmark hat nach Leonardo seinen Ursprung im Gehirn und besteht aus der gleichen Substanz. Von ihm gehen dann die Nerven aus. Wie wichtig das Rückenmark für jedes Lebewesen ist, geht daraus hervor, dass man sofort stirbt, wenn es durchbohrt wird. Der Tradition Galens folgend, hat auch Leonardo selbst Experimente an Fröschen angestellt: „Der Frosch behält das Leben noch einige Stunden, wenn der Kopf, das Herz und alle Eingeweide ihm genommen sind. Aber wenn du das genannte Rückenmark durchstichst, dann zuckt er plötzlich zusammen und stirbt“ (a. a. O., S. 118).
4. Hirnforschung im Zeichen der neuzeitlichen Naturwissenschaft Das Ende der aristotelisch-scholastischen Ventrikeltheorie: Die Hirnanatomie des Vesalius und seiner Nachfolger Andreas Vesalius, der eigentliche Begründer der neuzeitlichen Anatomie, war der Erste, der mit der klassischen Ventrikellehre und ihrer erkenntnistheoretischen Konsequenz brach. Er war es auch, der an einem horizontal aufgeschnittenen menschlichen Gehirn die genaue Lage der Ventrikel richtig darstellte und ihren Inhalt beschrieb – zu einer Zeit, als die ebenfalls schon richtig dargestellten Ventrikelzeichnungen von Leonardo da Vinci noch unbekannt waren. Aber im Gegensatz zu Leonardo lehnte Vesalius die ihnen zugeschriebene Funktion strikt ab. Nichts spricht nach seiner Meinung dafür, dass in den Ventrikeln, welche nur wässrige Flüssigkeit enthalten, die Spiritus animales entstehen, und somit ist es für ihn sinnlos, nach dem Sitz der Seele und ihren Funktionen zu suchen. Aber er legt insofern die weitere Entwicklung dieser Fragestellung in geradezu prophetischer Weise fest, als er auf die Hirnwindungen verweist und die Frage, ob der Mensch vielleicht gerade deswegen Verstand habe, den Philosophen zuweist. Denn bloß anatomisch zeigen sie nichts Besonderes: Esel, Pferd und Rind und andere Tiere besitzen sie auch. An diese Arbeitsteilung hielten sich die unmittelbaren Zeitgenossen und Nachfolger Vesals im 16. Jahrhundert, Bartholomäus Eustachius (1510 – 1574), Constantino Varolio (1534 – 1575) und Julius Cäsar Arrantius (1530 – 1589). Kennzeichnend für diesen Zeitraum sind „Beobachtungsfreudigkeit, Tatsachennähe und die Scheu vor theoretischen Erwägungen und weitschweifigen Erörterungen“ (Grünthal 1957, S. 101). Das Resultat dieser nach Jahrhunderten erstmals wieder neu beginnenden anatomischen Forschung ist die Erkenntnis der Grundstruktur des menschlichen Gehirns, die, wenn schon nicht in allen Einzelheiten benannt, doch zumeist in den bildlichen Darstellungen in großen Zügen erfasst worden ist: Es sind nicht nur die Gehirnventrikel, deren Bedeutung mehr und
Das Ende der Ventrikeltheorie: Die Hirnanatomie
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Abb. 4: Gehirnventrikel nach der Darstellung von A. Vesalius, De humani fabrica, 1543 (aus Grünthal 1957)
mehr in den Hintergrund tritt, richtig dargestellt, sondern es wird auch das Großhirn von Kleinhirn unterschieden. Auf den Darstellungen der Hirnbasis von Vesalius und Varolio erkennt man den Nervus opticus. Auch der Balken wird beschrieben, der nach Vesalius nur dazu dient, die beiden Hemisphären zusammenzuhalten. Bevor die bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts immer wieder nachgedruckten anatomischen Tafeln des Eustachius im Jahre 1714 erschienen sind, war das am meisten von den Chirurgen sowohl in Italien als auch in England verwendete Lehrbuch der Anatomie das ›Syntagma anatomicum‹ von Johann Vesling (1598 – 1649). In den dazugehörigen anatomischen Tafeln, die 1709 von dem ersten Chirurgen des Hospitals in Padua herausgegeben wurden, kann man auch deutlich die einzelnen Schritte der Gehirnsektionen an einer Leiche feststellen (Abb. 5). I Nach Abheben der Schädelkalotte wird zuerst die harte Hirnhaut (C) abgelöst, sodass das Großhirn mit seinen Hirnwindungen freigelegt wird. II Dann wird ein Teil des Großhirns bis zum Balken (BB) abgetragen. III Durch weitere Abtragungen werden die Ventrikel (DD) sichtbar. IV Nach Abheben und Umklappen des Balkens zeigt sich die Zirbeldrüse (a);
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4. Hirnforschung im Zeichen der neuzeitlichen Naturwissenschaft
Abb. 5: Die einzelnen Schritte der Gehirnsektion an einer Leiche nach J. Vesling (aus Masieri 1709)
Die Renaissancephysiologie: Jean Fernel
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V und jene nach Herophilus benannte Zusammenflussstelle der Hirnsinus (Torcular Herophili F). VI Schließlich erscheint nach Abtragung des hinteren Teil des Großhirns das Kleinhirn (DD). Auffallend ist jedoch, dass in all diesen Darstellungen das Großhirnrelief nur mangelhaft abgebildet wird. Die Großhirnwindungen erscheinen überall nur wie Wolken oder Dünndarmschlingen, mit denen sie schon Vesalius verglichen hat. Und über ihre Funktionen erfährt man überhaupt nichts. Die entscheidenden Fortschritte in der Erkenntnis der Hirnfunktionen kommen aus einem anderen Gebiet: aus der Physiologie.
Die Renaissancephysiologie: Jean Fernel Um die historische Entwicklung der Neurophysiologie verstehen zu können, muss man weit in die Antike zurückgreifen. Bei den Griechen war die „Physiologie“, wie die ursprüngliche Bedeutung dieser Bezeichnung besagt, zunächst ganz allgemein auf die gesamte Natur (Physis) gerichtet. Erst später konzentrierten sich diese Überlegungen auf die lebende Natur und schließlich vor allem auf die Funktionen und Leistungen der tierischen und pflanzlichen Organismen. Doch behielt sie ihren ursprünglichen umfassenden Erklärungsanspruch, zu erkennen „was die Welt in Innersten zusammenhält“ bis in die Neuzeit. So erklärte noch einer der bedeutendsten Neurophysiologen des 19. Jahrhunderts Emil du Bois-Reymond auf der Naturforscherversammlung in Leipzig 1872, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis immer in der „Zurückführung der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen der Atome besteht, die durch deren Zentralkräfte bewirkt werden“. In der Antike war dieser Anspruch durch die bereits im 5. Jahrhundert vor Chr. vertretene Elementenlehre des Empedokles vertreten, aus der Hippokrates und schließlich Galen die vier wesentlichen „Qualitäten“: warm, kalt, trocken und feucht ableiteten, denen im tierischen Körper das Blut, der Schleim, die schwarze Galle und die gelbe Galle entsprechen sollten. Die Qualitätenlehre und die Viersäftelehre, zu der noch die aristotelische Lehre vom Pneuma oder Spiritus kam, beherrschte die Physiologie bis zur Zeit der Entdeckung des Blutkreislaufes durch Harvey im Jahre 1628. Galen und ihm folgend die gesamte galenische Tradition im Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein hatten gelehrt, dass die Nahrung in der Leber zu Blut verarbeitet wird und von dort in die rechte Herzkammer und durch die Poren der Scheidewand (Septum) in die linke Herzkammer gelangt, von
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wo aus das Blut in alle Organe und Glieder des Körpers fließt. In Leber, Herz und Gehirn wird das Blut mit den drei Arten von Spiritus durchsetzt, die alle Funktionen beherrschen. Diese galenische Lehre wurde in der Neuzeit durch Jean Fernel (1497 – 1558) zu einem in sich geschlossenen System ausgebaut, dem er den Namen „Physiologie“ gab. Es war die erste Verwendung dieser Bezeichnung in unserem heutigen Sinn als Lehre von den Lebensvorgängen und Körperfunktionen. Doch verwendet auch Fernel noch den Begriffsapparat der Aristotelisch-Galenischen Pneuma- oder Spiritustheorie. Auch nach seiner Auffassung sind diese Spiritus, die aus einer äußerst feinen Materie bestehen, die Träger und Vermittler jener Vermögen, die alle Leistungen des Körpers bestimmen. Die Vermögen selbst sind jedoch nicht körperlicher Natur, sondern sie sind die Werkzeuge der Seele, welche die eigentliche Ursache für die Verrichtungen des Körpers ist. Es gibt nach Fernel drei Hauptvermögen (Facultas naturalis, vitalis und animalis), die durch so viele helfende Vermögen unterstützt werden, wie es Körperfunktionen gibt. So leistet zum Beispiel das „bewegende Vermögen“ (Facultas movendi) die Bewegung der Glieder. Keine Facultas wirkt ohne Instrument, wie auch kein Handwerker, ohne Werkzeug wirken kann. So bewirken die vitalen Vermögen ihre Funktionen mittels des Herzens, das eine eigene Vis pulsifica, ein eigenes „Schlagvermögen“ besitzt. Auf die gleiche Art und Weise erklärt Fernel auch die Leistungen des Gehirns, das der Ort des Spiritus animalis ist, der aus den Spiritus vitales des Blutes entsteht und von seinem Entstehungsort, den Hohlräumen des Gehirns, über die Nerven im Körper verteilt wird. Konsequenterweise muss nach Fernel jedes Sinnesorgan auch seinen spezifischen Spiritus haben. So hört das Ohr durch seinen Spiritus audiendi. Mit diesem phantastischen System von „Fakultäten“ oder Seelenvermögen und ihren materiellen Werkzeugen war der Höhepunkt der Renaissance-Physiologie erreicht worden. Fernels Darstellung der Physiologie, erstmals gedruckt im Jahre 1542, war das bekannteste, verbreiteste und am meisten zitierte Lehrbuch der Zeit. Erst im darauf folgenden Jahrhundert gab es abweichende Strömungen in der Physiologie. Sie hatten ihren Ursprung in der Entstehung der neuzeitlichen Physik und ihrer Grundlagentheorie der Mechanik. In Frankreich war es Descartes und in Italien waren es die Anhänger Galileis in der Medizin, die Iatromechaniker Baglivi und Borelli. Den entscheidenden Durchbruch zu einer neuen Physiologie gelang jedoch William Harvey mit der Entdeckung des Blutkreislaufes.
Die Entdeckung des Blutkreislaufes
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Die Entdeckung des Blutkreislaufes durch Harvey und ihre Auswirkungen auf die Hirnforschung Während es in der Bio- und Iatromechanik Borellis und Baglivis um die Übertragung der Prinzipien der Galileischen terrestrischen Mechanik fester Körper auf die Bewegungen und Körperhaltungen von Mensch und Tier ging, wendete Harvey die Gesetze der Hydrodynamik auf die Bewegungen des Blutes im menschlichen Körper an. Erfolgreich war diese Anwendung vor allem deswegen, weil dieser Vorgang als einzige der großen Körperfunktionen fast ausschließlich von den Gesetzen der Bewegung von Flüssigkeiten abhängt und sich durch die Begriffe „Volumen“, „Durchfluß“ und „Geschwindigkeit“ im Sinne exakter Messung darstellen lässt. Diese durchaus berechtigte Funktionsanalogie von Herz und Pumpe wird jedoch noch verstärkt durch eine weitere Analogie, welche den Blutkreislauf mit dem Kreislauf der Planeten und der Sonne vergleicht: „So ist das Herz der Urquell des Lebens und die Sonne der ‚kleinen Welt‘, so wie die Sonne im gleichen Verhältnis den Namen Herz der Welt verdient“ (Harvey 1910, S. 110). Dass aber Harvey vor allem ein Experimentator war, das stellt er selbst ausdrücklich fest. Wie Galilei pocht er darauf, dass er zu seinen Überlegungen nicht durch das Lesen von Büchern und Schriften anderer kam, die über die Bewegung und den Zweck des Herzens entweder unzutreffende oder dunkle und unmögliche Sachen geschrieben haben, sondern durch eigene Beobachtungen aufgrund von „häufigen Vivisektionen“ (a. a. O., S. 100). Die Vivisektion, das Experiment am lebenden Tier, war ja schon im Altertum bekannt. Denn sie ist eines der wichtigsten und unentbehrlichsten Hilfsmittel der physiologischen und pathologischen Forschung, insofern es vielfach nur durch willkürliche Abänderung der Tätigkeit eines Organs gelingt, seine Bestimmung klarzulegen. Die Entdeckung des Blutkreislaufs war der erste große Erfolg dieser wegen ihrer Grausamkeit seit jeher umstrittenen Methode. Auch Harvey war nicht sehr zimperlich. Wenn man seine Originalschrift ›Über die Bewegung des Herzens und des Blutes‹ vom Jahre 1628 betrachtet, in der er nur die Resultate seiner Experimente schildert, wird deutlich, in welchem Ausmaß er zu diesem Mittel greifen musste: Zur Beobachtung der Herzbewegung mussten nicht nur der Brustkorb vieler Tiere geöffnet und die Arterien und Venen freigelegt werden, sondern es musste auch das lebende Herz in die Hand genommen werden, um die Verhärtung durch die Muskelbewegung zu spüren. Zahllose Messungen der Stromgeschwindigkeit in den Arterien, Kapillaren und Venen waren nötig. Und schließlich musste Harvey, um die lebenswichtige Bedeutung des Herzens zu erkennen, auch seine Experimente bis zum Tode des Tieres treiben.
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So berichtet er von einer Taube, bei der er bis zum Stillstand des Herzens wartete, um dann „den speichelbenetzten warmen Finger“ aufs Herz zu legen und ihn dort eine Zeit lang fest darauf liegen zu lassen: „Da sieht man dann wirklich, wie das Herz und sein Ohr sich bewegen, sich zusammenziehen und erschlaffen, als ob das Herz durch diesen warmen Umschlag seine Kräfte und das Leben nachträglich wiedergewonnen hätte und gewissermaßen aus der Unterwelt zurückgerufen würde“ (Harvey 1910, S. 104). Da er an den Eiern der Tiere, aber auch an der menschlichen Frucht feststellen konnte, dass gleichzeitig auch das Herz mit seinen Kammern wächst, war für ihn klar, dass „das Herz das erstlebende und zuletztsterbende Organ ist“. Wie die Entwicklung eines Lebewesens sozusagen vom „Nichtsein zum Sein vorschreitet, so rollt die Vernichtung im gleichen Schritt aus dem Sein ins Nichtsein zurück, daher das, was bei den Lebewesen zuletzt entsteht, zuerst versagt, und das, was zuerst entstanden ist, zuletzt“ (a. a. O., S. 105). Hört das Herz auf zu schlagen, dann ist der Tod eingetreten. Was aber ist der Zweck der Herztätigkeit, mit der Leben und Tod so direkt zusammenhängen ? Harveys Antwort darauf war die Entdeckung des Blutkreislaufs: „Das Blut bewegt sich bei den Lebewesen in einem Kreise und es ist in immer währender Bewegung, und dies ist die Tätigkeit des Herzens, die es mittels seines Pulses zustandebringt“ (a. a. O., S. 117). Während vor Harveys Entdeckung in der Tradition von Galen behauptet wird, dass das Blut sowohl von den Arterien als auch von den Venen von seinem zentralen Entstehungsort der Leber weg über das Herz zur Erwärmung und Ernährung der Glieder und Organe an die Peripherie des Körpers fließt, ist nun klar geworden, dass die Venen das Blut zur rechten Herzkammer zurückbringen, das durch die Lunge zur linken Herzkammer hinübergeleitet und von dort über die sich verästelnden Arterien in das Gewebe der Gliedmaßen und Organe ausgeworfen wird und dann durch die Poren der Gewebe in die Venenanfänge hinüberfließt und zum Herzen zurückkehrt. Auf diese Weise entsteht nicht nur ein einfacher, sondern ein doppelter oder dreifacher Blutkreislauf, der sowohl über die Lunge als auch nach oben zum Gehirn und nach unten zu den Verdauungsorganen gerichtet ist und daher alle Lebensfunktionen umfasst. Damit war nun endlich eine grundsätzliche Lösung für die durch neue Erkenntnisse anatomischer Untersuchungen immer rätselhafter gewordenen Frage nach der Herztätigkeit und den Weg des Blutes im menschlichen Körper gefunden, von der noch Fracastoro – einer der bedeutendsten Ärzte der Renaissance – verzweifelt sagte, dass sie nur Gott allein beantworten könne. Erst auf Grund der Experimente, die Harvey an zahllosen Tieren von mehr als 80 Arten durchgeführt hat, war es möglich, die von den Anatomen regel-
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mäßig gefundene Leere der Arterien als eine Leichenerscheinung zu erklären und zu zeigen, dass sie eine Konsequenz des Nachlassens der Herztätigkeit ist, durch die der Druck erzeugt wird, welcher die Arterien während des Lebens mit Blut füllt. Die Bedenken, die gegen den Blutkreislauf erhoben wurden, weil er erfordert, dass die Gesamtmasse des Blutes durch die Lungen hindurchströmen muss, beseitigt Harvey durch den Hinweis auf das Hindurchströmen aller Nahrungssäfte durch die Leber, das ebenfalls ziemlich rasch und noch dazu ohne jede Muskelbewegung geschieht. Dem Streit um Harveys Anschauungen wurde schließlich durch ein Tierexperiment ein Ende gesetzt. Der Holländer Jan de Wale band im linken Bein eines Hundes die Oberschenkelvene ab, wodurch sich die herznahen, oberhalb der Abschnürung liegenden Teile entleerten. Nur wenige Blutstropfen traten heraus, wenn man dort die Vene verletzte. Dagegen spritzte unterhalb der Abschnürung das Blut, das zum Herzen zurückströmte, in hohem Bogen heraus, wenn man diesen Teil der Vene durch eine Stich verletzte. Schnürte man aber den rechten Oberschenkel mit den Arterien ein, ohne jedoch die Venen mit einzubinden, versiegte in ihnen der Blutstrom gänzlich. Damit war eindeutig bewiesen, dass das Blut einen Kreislauf durchführt, der vom Herzen ausgehend das Blut durch eine stoßende Bewegung durch die Arterien wegführt und durch die Venen wieder zum Herzen zurückführt. Wie das Blut von den Arterien zu den Venen gelangt, konnte jedoch erst später mit Hilfe mikroskopischer Untersuchungen aufgeklärt werden, welche die allerfeinsten Ausläufer der Arterien und Venen als Übergangsstellen entdeckten. Harvey stand zwar insofern noch im Banne der galenischen Anschauung, als er noch beim Menschen ebenso wie ursprünglich Vesal das Rete mirabile akzeptierte, aber im Bezug auf die Nervenfunktionen vertrat er eine eigene Hypothese. Er lehnte die Auffassung ab, dass es in den Nerven so etwas wie ein Fließen oder eine Bewegung von „animalischen Geistern“ (Spiritus animales) gäbe, sondern nahm eine „Erregung“ an, die er sich wie „das Licht in der Luft“ oder Ebbe und Flut im Meer vorstellte. Konkreter wurde diese Vorstellung bei dem Begründer der Biomechanik, Giovanni Alfonso Borelli, der in seinem Buch ›De motu animalium‹ von einer „Nervenflüssigkeit“ (Succus nerveus) sprach und durch ein Experiment demonstrierte, dass die „animalischen Geister“ nicht gasförmiger Natur sind. Dazu schlitzte er einem in Wasser untergetauchten Tier die Muskeln auf. Die Tatsache, dass trotz Kontraktion im verletzten Glied keine Blasen aufstiegen, widerlegte die klassische Idee von der dunst- oder gasförmigen Natur der Spiritus animales und führte ihn zur Annahme eines flüssigen Mediums, das in den Muskeln einen explosiven Vorgang (ebbulitio et displosio) verursacht.
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Das mechanische Modell des Menschenhirns: Descartes Einer der ersten Anhänger der Lehre vom Blutkreislauf in Frankreich war René Descartes. Descartes kannte zwar die Grundthese von Harveys Entdeckung des Blutkreislaufes, hatte aber wie aus einem Brief an Mersenne hervorgeht, erst Ende 1632, also nach der Niederschrift seines Traktates über den Menschen, die Abhandlung Harveys gelesen. Daher weicht er sowohl was die Anzahl der Beweise für diese Theorie, als auch was seine Vorstellung über die Herztätigkeit betrifft von Harvey stark ab. Denn im Unterschied zu Harvey, der dem Herzen die aktive Rolle zuschrieb, durch Kontraktion das Blut aus der Herzkammer herauszutreiben, nahm Descartes an, dass die Herzbewegung bloß passiv sei, hervorgerufen durch die Ausdehnung des erhitzten Blutes. Diese Auffassung entspricht seinem streng mechanistischen Konzept, das mit einer solchen mechanisch nicht zu erklärenden Fähigkeit des Herzens sich nach seiner Blutfüllung zusammenzuziehen, nicht vereinbar war. Die Ursache für die Wärme des Herzens war dagegen nach Descartes mechanistisch zu erklären: nämlich als Selbsterwärmung des Blutes durch einen Gärungsprozess. Diese Abweichung von Harveys Theorie macht auch die unterschiedliche Zielsetzung deutlich, die Descartes mit der Abfassung seines Traktates über den Menschen beabsichtigte. Sein Ziel war es, alle Funktionen des menschlichen Körpers ohne Zuhilfenahme von irgendwelchen Vermögen und Kräften durch ein Modell zu erklären, das ausschließlich von den Gesetzen der Mechanik wie die Bewegung einer Uhr oder eines anderen Automaten bestimmt ist. Daher haben auch alle seine Aussagen über das Gehirn und seine Funktionen einen hypothetischen Charakter. Insbesondere sind seine Beschreibungen der Struktur des Gehirns ebenso wenig wie die dazu entworfenen Figuren, die fast alle nicht von ihm selbst stammen, sondern erst später nach der Textvorlage von zwei seiner Zeitgenossen und Anhängern Gerard van Gutschoven aus Löwen und Louis de la Forge aus La Flèche gezeichnet wurden, als realistische anatomische Darstellungen zu verstehen. Sie sind lediglich Aussagen über den Schauplatz eines mechanischen Geschehens, das in einer menschenähnlichen Maschine abläuft und menschenähnliche Tätigkeitsäußerungen hervorbringt. Diese hypothetische Menschen-Maschine ist von Descartes ausschließlich zu dem Zweck erfunden worden, um die Möglichkeit eines rein mechanischen, selbsttätigen Ablaufs aller Körperfunktionen wie Atmung, Verdauung, Herzschlag, Wahrnehmung und Gedächtnis aufzuzeigen. Daher ist es, wie er am Schluss seiner Abhandlung sagt, „in keiner Weise erforderlich, für diese Maschine eine vegetative oder sensitive Seele oder ein anderes Bewegungs- und Le-
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bensprinzip anzunehmen als ihr Blut und ihre Spiritus, die durch die Hitze des Feuers bewegt werden, das dauernd in ihrem Herzen brennt und das keine andere Natur besitzt als alle Feuer, die sich in unbeseelten Körpern befinden“ (Descartes 1632, übers. v. Rothschuh 1969, S. 136). Während nach der Entdeckung des Blutkreislaufes durch Harvey sowohl die Natur als auch der Mechanismus dieser lebenserhaltenden Substanz klar geworden war, bildete die neuartige Fassung der antiken Lehre von den Spiritus ein zentrales aber zugleich phantastisches Kapitel der cartesianischen Physiologie. Nach der traditionellen Lehre unterschied man seit Galen drei Arten von Spiritus: – der in der Leber gebildete dampfartige Spiritus naturalis, – der im Herzen gebildete feinere luftartige Spiritus vitalis und – der im Gehirn zu einer noch feineren ätherischen Substanz umgewandelte Spiritus animalis. Descartes reduziert diese Zahl der Spiritus auf einen einzigen, den Spiritus animalis und nimmt ihm zugleich jegliche okkulte geistige Qualität. Diese sind nicht wie früher ihrer Natur nach Mittelglieder zwischen Materie und Geist oder Leib und Seele, sondern rein materieller Art. Sie werden im Gehirn nicht erzeugt, sondern dort als die lebhaftesten, stärksten und feinsten Teile des Blutes nur aus den Blutgefäßen herausgedrückt. Sie bestimmen auf rein mechanische Weise durch Druck und Stoß alle Funktionen der hypothetischen Menschen-Maschine. Das Gehirn selbst als Zentrum und Steuermechanismus besteht nach Descartes aus einem ziemlich dichten und eng gefügten Netz oder Geflecht, das im Innern hohle Kammern enthält. Die Maschen dieses Geflechtes sind ebenso viele kleine Röhrchen, in denen sich die Spiritus animales bewegen. Sie weisen in ihrer Richtung stets auf die Zirbeldrüse, aus der diese Spiritus austreten, weil sie biegsam wie Wachs oder Blei sind und sich daher leicht hierhin und dorthin zu den verschiedenen Punkten dieser Drüse drehen können. Die Spiritus verweilen niemals nur einen einzigen Augenblick an einer Stelle, sondern nach dem sie aus den Löchern der Drüse in die hohlen Kammern des Gehirns eintreten, streben sie sofort zu den Öffnungen der kleinen Röhren, die sich an der inneren Oberfläche des Gehirns befinden, von wo sie aus durch diese Nervenröhren in die Organe und Glieder des Körpers verteilt werden. Auf diese Weise können dann sowohl die Sinneswahrnehmungen als auch die motorischen Reaktionen, die Muskelbewegungen der menschlichen Glieder, erklärt werden. Das hervorragendste, von Descartes ausgeführte Beispiel einer Sinneswahrnehmung, ist aber der in der Hirnforschung von der Antike bis zur Gegenwart am meisten und am genauesten untersuchte Sehvorgang (Abb. 6).
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Er wird von Descartes wiederum rein mechanisch erklärt; wobei er bereits die anatomischen Kenntnisse über den Weg der Sehnerven vom Auge zum Gehirn benützt: Die kleinen Fasern der Sehnerven erstrecken sich von der inneren Oberfläche der frontalen Hirnhöhle bis zum Grund des Auges. Durch den Druck der vom Objekt eintreffenden Lichtstrahlen werden die Öffnungen der Nervenröhren im Hintergrund des Auges entsprechend erweitert, sodass sich auf den Grund des Auges die Figur des Objektes abzeichnet und genauso werden – durch die Markfäden im Innern der Nervenröhren geleitet – auch die entsprechen Öffnungen der Nervenröhren an der Innenfläche der Hirnhöhle erweitert, sodass dort ebenfalls die gleiche Figur abgebildet wird. Aber weder diese an der Innenfläche des Gehirns noch die am Hintergrund des Auges eingezeichnete Figur ist die eigentliche Vorstellung, sondern nur diejenige, die sich „in die Spiritus auf der Oberfläche der Zirbeldrüse einzeichnet, wo sich der Sitz der Vorstellungsvermögen und des Sensus communis befindet. Dort allein befinden sich die Vorstellungen, Bilder und Formen, die die vernunftbegabte Seele unmittelbar wahrnimmt, wenn sie sich dank der Vereinigung mit dieser Maschine irgendein Objekt vorstellt oder es empfindet“ (Descartes 1632, S. 109). Das Gedächtnis erklärt Descartes dadurch, dass ein Teil der Spiritus auch in die Nervenröhren der Hirnsubstanz fließen und dort bei häufiger Wiederholung ein immer besseres Bild erzeugen, das auch dann noch aufbewahrt wird, wenn der Wahrnehmungsgegenstand nicht mehr vorhanden ist. Auf konsequent mechanische Weise ohne Mithilfe von Seelenkräften und Vermögen wird auch die auf Grund der Sinneseindrücke stattfindende Bewegung erklärt. Wenn durch den Sinneseindruck einige Röhren, aus denen die Gehirnsubstanz besteht, mehr oder weniger oder auf andere Weise geöffnet sind als die ihnen benachbarten, dann werden die Spiritus zu bestimmten Stellen der Basis des Gehirns geführt und von dort zu bestimmten Muskelnervenröhren, die den jeweiligen Muskel so aufblasen, dass er die dem Sinnesreiz entsprechende Bewegung ausführt. Dieser Vorgang läuft so mechanisch ab, wie wenn man in dem Augenblick, in dem man an dem Ende eines Seilzuges zieht, die Glocke zum Klingen bringt, die an dem anderen Ende hängt. Obwohl Descartes in vielen Einzelheiten seines mechanischen Hirnmodells ein „wissenschaftlicher Märchenerzähler“ (Rothschuh) war, für den die Natur selbst nur eine der möglichen Illustrationen seines Systems von theoretisch angenommenen Axiomen und Konsequenzen darstellte, so war doch sein methodologisches Postulat die Organismusfunktionen als Teil der räumlich ausgedehnten Materie (Res exensa) unabhängig von der denkenden Seele (Res cogitans) zu betrachten und sie Stück für Stück auf Ursache
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Abb. 6: Der Sehvorgang nach Descartes (1632)
und Wirkung zu analysieren, richtungsweisend für die weitere Entwicklung der Hirnphysiologie, die sich nun von den vitalen und sensitiven „Seelenvermögen“ löste und völlig in den Bann des mechanistischen Denkens geriet, das in de La Mettries ›Homme machine‹ seinen Höhepunkt erreichte. Die dunkle Kehrseite der cartesianischen Hirntheorie bestand nicht nur darin, dass er die Menschenseele bis auf das denkende Ich skelettierte und einen Dualismus zwischen einem rein mechanisch funktionierenden Körper und der vernunftbegabten Seele vertrat, der bis zum heutigen Tag wirksam ist, sondern dass er auch die Lehre von der Seelenlosigkeit der Tiere aufstellte, die eine noch schärfere Rechtfertigung der Vivisektion zur Konsequenz hatte. Einer der Ersten, der Einwände gegen diese Maschinentheorie der Tiere erhob, war Pierre Gassendi (1592 – 1655). Im Unterschied zu dem Theologen Arnauld, der nur meinte, dass die Annahme von der Seelenlosigkeit der Tiere bei den Menschen keinen Glauben finden kann, wenn sie nicht durch triftige Gründe gestützt wird, lieferte Gassendi grundsätzliche Einwände gegen den Cartesianischen Dualismus. Für Arnauld erschien es von vornherein unglaublich, „wie ohne Beihilfe einer Seele das Licht, das von dem Körper eines Wolfes in die Augen eines Schafes eindringt, die feinsten Fasern der Sehnerven bewegt, und wie aus dieser bis zum Gehirn sich fortpflanzenden Bewegung der Spiritus animalis sich in die Nerven verteilt mit dem notwendigen Ergebnis, daß das Schaf die Flucht ergreift“ (Arnauld in Descartes 1965, S. 186). Ansonsten stimmt er jedoch der cartesianischen Ansicht von der Verschiedenheit der sinnlichen Anschauung und des Denkens zu und ebenso der rationalistischen Grundauffassung, dass das, was wir verstandesmäßig erkennen, größere Gewissheit besitzt als das, „was wir mit
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den körperlichen Augen sehen, die immer in Konflikt mit den Tränen stehen“ (a. a. O.). Dagegen weist Gassendi auf eine grundsätzliche Unzulänglichkeit in der Argumentation von Descartes hin: Um zu beweisen, dass der Mensch sich vom Tier wesentlich dadurch unterscheidet, dass er eine unkörperliche Vernunftseele besitzt, müsste Descartes eine Funktion aufweisen, die von anderer Art als die der Tiere wäre, wenn auch nicht außerhalb des Gehirns, so doch wenigstens unabhängig vom Gehirn. Gerade das aber kann Descartes nicht. „Denn“, sagt Gassendi im Sinn seiner naturalistischen Auffassung, „wenn du ja bei einer Störung des Gehirns selbst gestört wirst, so gehst du zugrunde, wenn es zugrunde geht“ (a. a. O., S. 245). Auch ist nicht einzusehen, warum Sinneswahrnehmung und das, was man „Leidenschaften der Seele“ (Passiones animae) nennt, bei den Tieren anders zustande kommt als bei uns. Denn auch in den Tieren gibt es Nerven und ein Gehirn und im Gehirn ein erkennendes Prinzip, das das, was die Spiritus melden, in gleicher Weise in Empfang nimmt und die Empfindung zustande bringt. So entsendet ein Bissen (z. B. ein Fleischstück) in das Auge des Hundes ein Bild von sich, das bis in das Gehirn geleitet, gleichsam durch Häckchen in der Seele hängen bleibt: und dementsprechend wird auch beim Hund „die Seele selbst und mit ihr der ganze Körper zu den Bissen hingezogen, als hingen beide durch ganz feine Kettchen anneinander“ (a. a. O.). Auch beim Hund gibt es so etwas wie eine durch das erkennende Prinzip bewirkte freie Wahlentscheidung zwischen Ausüben oder Unterlassen einer Handlung. Denn es kommt doch vor, dass ein Hund bisweilen ohne alle Furcht vor Drohungen und Schlägen auf den Bissen, den er sieht, losspringt, wie der Mensch oft Ähnliches tut. Aber nicht nur bei solchen Verhaltensweisen, die man auch als Überwiegen eines Triebes gegenüber einem anderen erklären kann, sondern auch in einer ganz andern, sehr menschenähnlichen Form zeigt sich die willkürliche freie Wahl bei Tieren. Als Beispiel führt Gassendi einen Hund an, der tatsächlich sein Gebell so dem Klang einer Trompete anpasste, dass er jeden Wechsel in der Höhe des Tones und im Tempo nachahmte, mochte das Tempo auch noch so stark nach Belieben und überraschend beschleunigt oder verlangsamt werden. Und wenn Descartes sagt, dass ein Hund nur bellt und nicht spricht und sogar ein Irrer mehrere Worte verbinden kann, um etwas auszudrücken, was auch das klügste Tier nicht kann, so antwortet Gassendi darauf, dass Hunde zwar keine menschlichen Laute hervorbringen, weil sie eben keine Menschen sind, aber doch ihre eigenen besonderen Laute hervorbringen und sich ihrer genauso bedienen, wie wir uns der unsrigen. Daher ist es auch
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nicht recht und billig, von den Tieren menschliche Stimmen zu verlangen, ohne auf ihre eigenen zu achten. Das entscheidende Argument, das Gassendi gegen Descartes anführt, ist jedoch nicht die Sprache und menschliche Stimme als Ausdruck des Denkens und Urteilens, sondern der auf das bloße Denken reduzierte Begriff der Seele. Damit lässt Descartes, wie Gassendi sagt, die „landläufige Definition der Seele fallen“, die neben der Vernunft (ratio) auch die vegetative und wahrnehmende Seele miteinschließt, die auch Descartes nicht den Tieren absprechen kann. Nur auf Grund dieser Umdeutung des Begriffes der Seele zur reinen körperlosen und vom Körper unabhängigen Vernunftseele kann Descartes dann von der Seelenlosigkeit der Tiere reden. Diese Unabhängigkeit des selbstbewussten Geistes vom Körper müsste jedoch Descartes nach Gassendis Meinung erst beweisen. Denn sie ist für ihn eine Voraussetzung, die selbst bloß ein „Hirngespinst“ ist. Denn wer könnte behaupten, dass der körperliche Zustand keinen Einfluss auf unsere Denkfähigkeit besitzt und dass man durch „widrige und schwere Dünste oder Schwaden, die bisweilen das Gehirn so ungünstig beeinflußen“, nicht behindert oder verwirrt werden kann. Dem Beispiel des Wachses, das Descartes bringt, um zu zeigen, das nicht das Wahrnehmen der äußerlichen Eigenschaften, die sich bei der Erwärmung ändern, sondern die das Erfassen der eigentlichen Substanz des Wachses, das nur durch den Verstand erreicht werden kann, das Wesen menschlicher Erkenntnis ausmacht, stellt Gassendi ein anderes, ebenfalls von Descartes in diesem Zusammenhang verwendetes Beispiel gegenüber. Wenn Descartes sagt, daß wir von Menschen“ sprechen, „die wir sehen oder mit dem Geist erkennen, obwohl wir nur ihre Hüte oder Kleider erblicken“, so beweist das nicht, dass der Geist es eher sei als die Einbildung, die urteilt. Jedenfalls urteilt auch der Hund, dem Descartes nicht den gleichen Geist zugesteht, auf ähnliche Weise, so oft er nicht seinen Herrn, sondern nur den Hut oder die Kleider sieht. Mag der Herr stehen, sitzen, liegen, sich zurücklehnen, zusammenkauern oder ausstrecken, er erkennt doch immer den Herrn, der unter all diesen Erscheinungsformen steckt. Es ist nicht nur Gegenstandserkenntnis als solche, die Gassendi damit dem Hund zubilligt, sondern auch das, was heutzutage als Objektkonstanz bezeichnet wird. Denn er fragt Descartes: „Und so oft ein Hund einen laufenden Hasen jagt und ihn zuerst unversehrt, dann tot und hernach abgezogen und in Stücke zerlegt sieht, glaubst du, er meint nicht, daß es immer derselbe Hase sei ?“ (a. a. O., S. 248). Gibt man das zu, dann liegt der Schluss nahe, dass auch in den Tieren, vor allem in den sog. höheren Tieren, die ein Gehirn besitzen, auch ein den
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Menschen „nicht unähnlicher Geist“ wohnt. Es war diese Auffassung von Gassendi über die prinzipielle Ähnlichkeit von Menschen- und Tierseele, die bei Willis nicht nur zu einer neuen Lokalisationstheorie der Hirnfunktionen sondern auch zur Begründung der neuzeitlichen vergleichenden Hirnanatomie führte.
Die neue Lokalisationstheorie der Hirnfunktionen: Thomas Willis Harveys Beschreibung des Blutkreislaufes hatte der Medizin ein neues Fundament gegeben. Auf diesem Fundament baute auch Thomas Willis (1621 – 1675) in Oxford seine Theorie von den Hirnfunktionen auf. Im Unterschied zu Descartes war Willis praktischer Arzt, der durch die Anwendung der neuen Lehre vom Blutkreislauf in der Behandlung der Kranken bekannt wurde. Durch die Erkenntnisse Harveys, dass das Blut in seiner Kreislaufbewegung die Nährstoffe aufnimmt und Abfallstoffe wie gelbe und schwarze Galle durch Milz und Leber ausscheidet, war für Willis die klassische Grundlage der bisherigen Medizin, die Lehre von den vier Säften, unhaltbar geworden. Nachdem sich drei von diesen vier Säften, der Schleim (Phlegma), die schwarze und die gelbe Galle als bloße Abfallstoffe erwiesen hatten, blieb von dieser alten Säftelehre des Hippokrates und Galen nur das Blut übrig. An die Stelle der anderen obsolet gewordenen Säfte setzt Willis den Nervensaft und die seröse Flüssigkeit, die „ständig vom Blut getrennt wird“. Die Lehre vom Nervensaft übernimmt Willis von Francis Glisson (1597 – 1677), der jedoch als Regius Professor der Physik in Cambridge noch immer den Lehren des Hippokrates und Galen verbunden geblieben ist (Brazier 1959, S. 13). Für Willis dient der Nervensaft nur als Vehikel für die Spiritus und wird wie diese im Großhirn und Kleinhirn aus dem Blut hergestellt. Im Unterschied jedoch zu allen anderen Zeitgenossen, die ebenfalls versuchten diese aristotelisch-scholastischen Vorstellungen von den „animalischen Geistern“ zu materialisieren, ging Willis einen entscheidenden Schritt weiter: Er stellte diese alte Lehre auf eine durch die zeitgenössische Chemie begründete empirische Basis, durch die sie eine völlig neue und weit tragende Bedeutung gewinnt.
Die materiellen Grundstoffe der Seele
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Die materiellen Grundstoffe der Seele In seinen frühen Arbeiten (1659, 1676) über die Fermentation bekennt Willis sich zu den damals noch umstrittenen Lehren der Chemiker, die „mit Feuer eine Analyse machen und beliebige Körper in Teilchen von Spiritus, Sal, Aqua und Terra auflösen und mit Recht behaupten, daß jene aus diesen bestehen“ (De Fermentatione 1. Kap., S. 2; vgl. Isler 1963, S. 47). Unter „Fermentation“ versteht jedoch Willis nicht nur die Gährung, sondern dieses Wort hat wie bei vielen anderen Zeitgenossen wie Paracelsus und van Helmont einen viel weiteren Sinn. Willis selbst bezeichnet damit „irgendein Aufschäumen oder Anschwellen, das in einem natürlichen Körper von den verschiedentlich bewegten Teilchen diese Körpers erzeugt wird“ (a. a. O. 1. Kap., S. 1). Ähnlich verhält es sich mit den Bezeichnungen der chemischen Grundsubstanzen. Von den fünf genannten Stoffen, Spiritus, Sal, Aqua und Terra, stimmt nur Aqua mit dem gewöhnlichen Wasser überein, während die vier anderen außerhalb des Laboratoriums keinem der bekannten Stoffe entsprechen. Sie sind für Willis die „letzten sinnlich erfaßbaren Teile“, in die sich die natürlichen Dinge auflösen lassen. „Durch ihre Verbindung und innere Bewegung entstehen und wachsen die Körper; und wiederum durch ihre gegenseitige Trennung und Auflösung verändern sie sich und vergehen“ (a. a. O. 1. Kap., S. 2; vgl. Isler 1963, S. 48). Unter diesen Grundstoffen sind die Spiritus die feinsten Teilchen. Sie sind sehr flüchtig und kommen daher nur in Verbindung mit gröberen Teilchen vor oder sind in Gefäßen oder Eingeweiden von Lebewesen eingeschlossen. Mit dieser Einordnung der aristotelisch-scholastischen Spiritus in die materiellen Grundstoffe der zeitgenössischen Chemie war Willis seiner Zeit weit voraus. Sie steht auch in direktem Gegensatz zu Descartes’ Dualismus von Res extensa und Res cogitans. Denn Willis schreibt damit, wie ein anonymer Rezensent in den „Philosophical Transactions“ vom 20. Mai 1672 richtig feststellt, „jener Seele, durch die Tier und Mensch das Leben haben, nicht nur Sinnesfunktionen und Bewegung, nicht nur (räumliche) Ausdehnung und gewissermaßen organische Teile, sondern auch bestimmte Krankheiten und geeignete Kuren“ zu. Damit wird auch deutlich, dass Willis seine Theorie der Seele nicht wie Descartes in erster Linie aus einem philosophischen, sondern aus einem praktisch-therapeutischen Interesse konstruiert hat, das er mit den Ergebnissen seiner experimentellen und klinischen Forschungen immer in enger Verbindung zu bringen versucht. Ähnlich wie Vesalius lehnt er deshalb jede über die sinnliche Wahrnehmung hinausgehende Spekulation mit unverhohlener Selbstironie ab: „Schwachsinnig und schwer von Begriff, wie ich
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bin, überlasse ich genaueres jenen, die scharf sehen (lynceis); ich bin damit zufrieden, nur das zu wissen, was die äußeren Sinne dem Verstand zur Verfügung stellen; ich gestehe gern, daß ich keine Philosophie fabrizieren oder zusammenträumen will“ (a. a. O. 1. Kap., S. 2, Isler 1963, S. 48).
Tierseele und Vernunftseele Diese philosophische Abstinenz konnte jedoch Willis nicht aufrecht erhalten. Wie bei allen führenden Iatrochemikern seiner Zeit musste er sich einerseits gegen den Vorwurf eines groben reduktionistischen Materialismus verteidigen, andererseits versuchte er im Sinne seiner Zielsetzung einer großen Synthese aller Gebiete der Hirnforschung die bisher gewonnenen Ergebnisse einander anzupassen, was ihm nur durch Rückgriff auf frühere Hypothesen und spekulative Hilfstheorien gelang, mit denen er die Lücken seines Gebäudes ausfüllte. So bildete auch die aristotelisch-scholastische Seelenlehre ebenso eine Grundlage seines umfassenden Systems wie die chemische Lehre von den Grundstoffen und ihren gegenseitigen Reaktionen. Willis geht zwar von der aristotelischen Dreiteilung der Seele in Anima vegetative, sensitiva und rationalis aus, reduziert sie aber auf eine Zweiteilung, indem er eine Körper- oder Tierseele (Anima brutorum) und eine Vernunftseele (Anima rationalis) unterscheidet. Die Körperseele besteht aus der alten aristotelischen anima sensitiva, die Willis nun als die Gesamtheit der Funktionen des Nervensystem versteht und aus der Anima vitalis, die als „Lebensflamme“ im Blut existiert. Diese Körperseele ist Tieren und Menschen gemeinsam. Die Vernunftseele dagegen ist allein dem Menschen vorbehalten. Ihr Sitz ist das Gehirn, dessen Struktur und Aufbau Willis durch genaue anatomische Untersuchungen feststellte und in seinem berühmten Werk ›Cerebri Anatome cui accessit Nervorum descriptio et usus‹ (London 1664) beschrieb. Die darin abgedruckten Hirndarstellungen sind von keinem Geringeren als dem Erbauer der St. Paul-Kathedrale in London und dem von Newton selbst anerkannten Vorläufer der Entdeckung des Gravitationsgesetzes, Christopher Wren, gezeichnet worden, der nach den eigenen Worten von Willis bei den Sektionen selbst anwesend war. So ist auch die Hirnbasis naturgetreu dargestellt, wie man sie erst mehr als hundert Jahre später wieder finden kann (Grünthal 1957, S. 102). Das Großartige an dieser weitreichenden Lokalisationstheorie der Hirnfunktionen war, dass sie keinen bloß statischen Charakter hatte wie die alte Hirnverntrikeltheorie, bei der die einzelnen Seelenvermögen in Zellen
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Abb. 7: Darstellung der Hirnbasis von Christopher Wren aus Thomas Willis „Cerebri Anatome“ 1664 (nach Grünthal 1957)
gleichsam eingesperrt waren. Willis dagegen verlagerte die psychischen Funktionen in die Hirnsubstanz selbst. Er hatte zwar in dieser Hinsicht bereits Vorläufer, sowohl in dem Schaffhauser Arzt Johann Jakob Wepfer (1620 – 1659), der sowohl den Hauptsitz der Spiritus animales als auch ihre Wirkungen in der weißen Substanz des Hirns verlegte, als auch in dem durch die erste Beschreibung einer besonderen, später nach ihm benannten großen Hirnfurche bekannt gewordenen Arzt Franciscus de le Boë Sylvius, der wiederum den Entstehungsort der Spiritus animales in die graue Rinde
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des Groß- und Kleinhirns ansiedelte und annahm, dass diese dann von dort in die weiße Marksubstanz und die peripheren Nerven eindringen. Diese Angaben waren jedoch, wie Sylvius selbst zugibt, bloß vorsichtig geäußerte Vermutungen. Willis dagegen stellte eine in allen Details ausgearbeitete Theorie der Spiritus animales, von ihren Sitzen und ihren Funktionen auf. Wie Sylvius nimmt er an, dass die Spiritus animales in der grauen Rinde entstehen und in der weißen Marksubstanz tätig sind. Die Ventrikel dagegen, denen man im Altertum und im Mittelalter eine so große Bedeutung zugemessen hatte, sind für ihn nur Kloaken für die Ausscheidungsflüssigkeiten des Gehirns. Denn die Spiritus, die nach seiner Meinung die eigentlichen Träger der Funktion des Nervensystems sind, bedürfen nicht derartig weiter und offener Höhlen, sondern nur enger Kanäle, die in der Hirnsubstanz selbst vorhanden sind. Das Reservoir der Spiritus animales ist das Gebiet der Hirnmitte, wo sie in großen Mengen aufbewahrt werden, damit sie den Funktionen der höheren Seele, der Anima rationalis dienen können. Von dort aus fließen sie ins verlängerte Mark und ins Rückenmark und werden durch die Nerven zu den Organen der Sinne und der willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen geleitet; ebenso zu den Organen vegetativen Lebens. Mit dieser auf empirisch-chemischer Grundlage neu errichteten Lehre der Spiritus animales setzt Willis das Problem der Beschreibung der Seele und ihrer den Körper bestimmenden Funktionen mit dem Problem der Beschreibung der Gehirnfunktion und ihrer Lokalisation gleich. Denn es ist der bestimmte Ort im Gehirn, der die psychische Leistung bestimmt.
Großhirn- und Kleinhirnfunktionen Während Willis die „höheren Funktionen wie Vorstellung (Imaginatio) und „Gedächtnis“ (Memoria) ebenso wie der bewusste Wille (Appetitus) im Großhirn tätig sein lässt, fließen aus dem Kleinhirn die Spiritus animales in diejenige Nerven, welche den unbewussten Körpertätigkeiten, wie Herzschlag, Atmung, Verdauung usw. dienen. Diese Auffassung von der besonderen und lebenswichtigen Funktion des Kleinhirns ist, wie bereits Grünthal (1957, S. 104) festgestellt hat, „völlig original und theoretisch von weit tragender Bedeutung“. Denn bisher hatte man dem Kleinhirn die gleichen höheren Funktionen wie dem Großhirn als selbstverständlich beigelegt. Die von Willis selbst als „nova theoria“ bezeichnete Ansicht von den Funktionen des Kleinhirns, obwohl sie sich bald als falsch erwies, gab den Anstoß zur experimentellen Hirnphysiologie, wie
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sie im darauf folgenden Jahrhundert entwickelt wurde und im 19. Jahrhundert ihren ersten Höhepunkt erreichte. Sie ermöglichte die Frage, in welcher Abhängigkeit das Leben vom Hirn steht, was dann praktisch durch operative Eingriffe und Beobachtung ihrer Wirkungen auf Herzaktion, Atmung und Eingeweidebewegungen untersucht werden konnte. Auch die bisher kaum beachtete Großhirnrinde erscheint bei Willis in einem neuen Licht. Dort entstehen nicht nur die Spiritus animales, sondern dort ziehen sie sich auch zurück, wobei auch vorausgegangene Sinneseindrücke als Gedächtnisbilder mitgenommen werden. Die Windungen der Großhirnrinde können daher mit Fächern und Lagerräumen (cellulis et apothecis) verglichen werden in denen die Arten oder Formen der sinnlich erfassbaren Dinge aufbewahrt werden, damit sie bei entsprechender Gelegenheit wieder hervorgerufen werden können. Damit erfüllt sich auch der von Vesalius teils prophetisch, teils ironisch gemeinte Ratschlag, eine Beziehung zwischen menschlichem Verstand und Gehirnwindungen herzustellen. Während die Windungen des Großhirns unregelmäßig und verschieden sind, sind jedoch die Falten und Lamellen des Kleinhirns in bestimmter Ordnung angelegt. Dieser anatomische Unterschied ist auch für die unterschiedlichen Funktionen von Groß- und Kleinhirn von Bedeutung. Fluss und Verteilung der Spiritus ist entsprechend der gleichmäßigen anatomischen Struktur im Kleinhirn gleichmäßig und ununterbrochen. Wie in einem künstlichen Automaten fließen die Spiritus, die im Kleinhirn destilliert werden, in geregelten Bahnen, ohne einen Lenker (Auriga), der ihre Bewegungen dirigierte und mäßigte. Sie dienen ganz bestimmten automatischen oder unwillkürlichen Bewegungen des Körpers. In diesem Zusammenhang stellt Willis auch fest, dass der Bau des Kleinhirns im Gegensatz zu dem des Großhirns bei vielen Tieren sehr genau mit dem des Menschen übereinstimmt, was auch auf die gleichen Funktionen schließen lässt, die Menschen und Tiere gemeinsam haben. Aus dem gleichen Grund verwirft auch Willis die Cartesianische Lehre von der Zirbeldrüse als Sitz der Seele. Dieses Gebilde, das man von den Fischen an bei allen Tieren vorfindet, kann nach seiner Meinung keine Beziehung zu Sinnesund Intelligenzfunktionen haben, da es auch bei Tieren, die sehr arm an Vorstellungen und Gedächtnis sind, gut entwickelt ist. Willis begnügt sich jedoch nicht mit der Widerlegung der antik-mittelalterlichen Ventrikellehre und der neuzeitlichen cartesianischen Zirbeldrüsentheorie. Er setzt vielmehr an die Stelle dieser beiden klassischen Lokalisationstheorien eine durch seine anatomischen Kenntnisse erstaunlich differenzierte Theorie der Gehirnfunktionen, die sich zwar in vielen Einzelheiten als faktisch nicht haltbar erwiesen hat, aber auch zu wesentlichen bis
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heute akzeptierten Einsichten geführt hat. So verlegt er den aristotelischscholastischen Sensus communis, den Versammlungsort aller Sinne, der in der alten Ventrikellehre zusammen mit der Phantasia oder Einbildungskraft im ersten Ventrikel lokalisiert war, in das von ihm erstmals exakt beschriebene vordere, ins Hirn hineinragende Ende des verlängerten Rückenmarkes, das sog. Caudatum oder der „geschweifte Kern“ des Corpus striatum. Das verlängerte Rückenmark selbst, die Oblongata, ist für Willis der „Königsweg“ für die Spiritus vom Hirn zum Kleinhirn und die nervösen Teile des ganzen Körpers. Auf Grund dieser nicht wirklich haltbaren Lokalisation kommt aber Willis zu einem bis heute noch gültigen Begriff der Reflexbewegung, ohne wie Descartes in eine Maschinentheorie des lebendigen Organismus zu verfallen. Er definiert den Reflex als „eine Bewegung, die von einem vorherigen Sinneseindruck abhängig und sofort zurückgelenkt wird.“ Sie kommt nach seiner Auffassung dadurch zustande, dass ein Sinneseindruck nicht über das Caudatum hinaus durch den Balken zur Hirnrinde kommt, wo erst die bewusste Verarbeitung der Sinneseindrücke stattfindet.
Epilepsie und Hysterie als Nervenkrankheiten Auch auf dem Gebiet der Pathologie kommt Willis auf Grund seiner neuen chemischen Theorie der Spiritus animales zu völlig neuartigen Ansichten. So liefert er in seinen Werken ›Pathologia cerebri et nervosi generis specimen‹ (Oxford 1667) und ›Affectionum quae dicuntur Hystericae et Hypochondriacae‹ (London 1670) nicht nur eine neue kausale Erklärung der Epilepsie, die weit über die Auffassung des Hippokrates hinausgeht, sondern auch als einer der Ersten eine Erklärung der Hysterie als Nervenkrankheit. Grundlage seiner Erklärung ist seine Explosionstheorie der Spiritus animales, die er durch Vergleiche mit bekannten schnell und heftig ablaufenden chemischen Reaktionen zu untermauern versucht. So nimmt er an, dass sich mit den Spiritus animales besonders explosive nitro-sulphurische Teilchen verbinden können. Diese explosiven Teilchen werden aus dem Blut ins Hirn aufgenommen. Sie werden aber nur dann aufgenommen, wenn die Konstitution des Gehirns geschwächt ist. Bei normaler Konstitution nimmt das Hirn aus dem Blut nur den ihm zukommenden Nervensaft mit den Spiritus auf, da seine Poren eng sind. Sind die Poren dagegen zu sehr erschlafft, entweder von Geburt aus oder durch schlechte Lebensweise, dann können diese ungeeigneten explosiven Teilchen ins Gehirn gelangen.
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Dort können sie zwar durch Venen und Lymphgefäße wieder abgeführt werden, ohne großen Schaden zu stiften. Wenn sie aber lange im Gehirn bleiben kommt es zu Sehstörungen, Schwindel und Krämpfen. Denn diese explosiven Teilchen blähen die jeweiligen Körperteile auf, in denen sie sich in größerer Menge angesammelt haben, sei es im Gesicht, in den Eingeweiden oder in den Gliedern. Sie führen auf diese Weise zu Bewegungen „wider die Gebote der Natur und des Willens“. Sind die Spiritus in diesen Körperteilen durch solche krampfartigen Bewegungen aufgereizt, so reißen sie ihre Nachbarn mit, sodass sich Krämpfe von den Gliedern zum Hirn fortpflanzen und umgekehrt. Alle Krampfbewegungen (Motus convulsivi) sind daher Hirnerkrankungen. Die wichtigste Krampfkrankheit, die mit großer Macht das Hirn und alle Teile des Nervensystems ergreift, ist die Epilepsie, die ebenfalls durch eine plötzliche Explosion der Spiritus animales im Hirn entsteht. Diese führt zur Bewusstlosigkeit und löst Krämpfe aus. Auf diese Weise erklärt Willis den plötzlichen Beginn und das Ende des Anfalls. Der Sitz der Krankheit ist immer die Mitte des Gehirns. Wenn der Anfall schwerer wird, können die explosiven Teilchen ins übrige Hirn und ins Nervensystem gelangen, sodass sich die Explosion wie in ausgestreuten Schießpulver weiter verbreitet. Dann folgen auf die anfängliche Bewusstlosigkeit Krämpfe in allen Körperteilen. Auch die sog. Hysterie (Affectio dicta uterina), die man bisher auf seitliche oder aufsteigende Bewegungen der Gebärmutter zurückgeführt hatte, ist für Willis „vorwiegend und primär eine Krampfkrankheit“, deren Ursache ein gestörtes Gehirn und Nervensystem ist. Auch hier sind es die explosiven Teilchen, die mit den Spiritus animales vermischt sind, welche die bekannten Symptome hervorrufen: Bewegungen im Unterbauch, ungleichmäßige und meist behinderte Atmung, Würgen in der Kehle, Schwindel, Augenverdrehen und Augenrollen, oft Lachen oder Weinen, absurdes Fabulieren, manchmal Versagen der Stimme (Aphonia) und Bewegungsunfähigkeit (Akinesia) mit kaum fühlbarem Puls und leichenhaftem Aussehen. Willis war zwar weder der Erste noch der Einzige, der zu dieser Zeit die Hysterie als Nervenkrankheit erkannte. Er hatte in Le Pois (Carolus Piso) einen Vorläufer und in Thomas Sydenham einen Nachfolger. Aber er hatte mit seinen Ansichten viel dazu beigetragen, dass die Hysterie schließlich in die Hände der Neurologen geraten ist (vgl. Isler 1963, S. 116).
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Vergleichende Anatomie und Psychologie In seinem Werk über die Anatomie des Gehirns beschränkte Willis seine Untersuchungen nicht nur auf das Gehirn des Menschen, sondern weitete sie auch auf andere Lebewesen aus. Er lieferte für dieses Vorgehen eine einleuchtende Begründung: Menschliche Leichen stehen nicht immer zur Verfügung. Darüber hinaus ist die ungeheure Masse des menschlichen Gehirns oft ein Hindernis für die Untersuchung und bei den meisten Vierfüßern, wie Hund, Kalb, Schaf und Schwein, unterscheidet sich das Hirn außer durch seine Größe nicht wesentlich von dem des Menschen. Diese große Ähnlichkeit (Analogia) des Gehirns bei Menschen und Vierfüßern kann Willis allerdings noch nicht evolutionstheoretisch begründen. Sein Argument ist vielmehr „kreationistisch“. Denn er führt sie darauf zurück, dass der Mensch und die Vierfüßer am gleichen Schöpfungstag entstanden sind, wie auch am vorgehenden Tag die Fische und Vögel zusammen geschaffen worden sind, deren Gehirne sich ebenfalls untereinander gleichen. Daher muss man die Hirnteile der Tiere unter sich und mit denen der Menschen vergleichen. Damit erweist sich Willis nicht nur als der „Vater der Lokalisation“, sondern auch als Begründer der neuzeitlichen vergleichenden Hirnanatomie, die er in seinem Werk ›De anima brutorum‹ (Oxford 1672) dargestellt hat. Seine Grundannahme ist, dass die Kenntnis der Gehirnstrukturen nicht nur Auskunft über die Vermögen (Facultates) und den Gebrauch der einzelnen Teile dieses Organs geben, sondern dass dadurch auch die geheimen Wege der Wirkungsweise der sensitiven Seele entdeckt werden können. Solche vergleichenden anatomischen Untersuchungen hatten notwendigerweise auch ihren Preis. In der Widmung seines Werkes an den Erzbischof von Canterbury, Gilbert Sheldon, gibt Willis selbst an, dass er „im anatomischen Hof viele Opfer erschlagen habe, ganze Hekatomben von beinahe allen Tierarten“, um die unterschiedlichen Strukturen der verschiedenen Bereiche des Nervensystems sowohl von Wirbellosen als auch Wirbeltieren miteinander zu vergleichen. Auch scheute sich Willis, der ja selbst im Unterschied zu Descartes den Tieren eine sensitive Seele und damit auch Leidensfähigkeit zubilligte, nicht davor zurück, Vivisektionen durchzuführen. So unterband er bei der experimentellen Erforschung des vegetativen Nervensystems einem Hund beide Vagusnerven, um herauszufinden, ob der Herzschlag so sehr vom Zufluss der Spiritus durch die Nerven abhänge, dass er ohne diesen überhaupt aufhöre. Tatsächlich wurde der Hund sofort stumm und starr, erlitt Krämpfe und starkes Herzzittern und lebte nur noch wenige Tage, ohne sich bewegen oder fressen zu können (Cerebri Anatome 24. Kap., S. 324 f.; vgl. Isler 1963, S. 87 f.).
Vergleichende Anatomie und Psychologie
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Trotz dieser Grausamkeiten lieferte Willis mit seinem Werk über die Seele der Tiere eine vergleichende Psychologie, die den Abgrund, den Descartes zwischen Mensch und Tier aufgerissen hatte, wieder überbrücken konnte. Er stützt sich dabei auf den Gegner der Cartesianischen Maschinentheorie Pierre Gassendi (1592 – 1655), der beim Menschen ebenfalls neben der immateriellen Vernunftseele noch eine körperliche Seele als Prinzip der Bewegung, der vegetativen Vorgänge und der sinnlichen Empfindungen annahm und darüber hinaus eine enge Verbindung dieser Körperseele mit der Vernunftseele im Gehirn forderte. Damit eröffnete er bereits die Möglichkeit, Gehirnvorgänge zu physiologischen Erklärungen psychischer Vorgänge heranzuziehen. Genau das war auch die Zielsetzung, die Willis mit seiner vergleichenden Psychologie verfolgte. Denn die Seele der Tiere ist für ihn zugleich auch die sensitive und vitale Seele des Menschen, die dieser mit den Tieren gemeinsam hat. Damit wird der Mensch zu einem doppelt beseelten Wesen, denn er besitzt wie die Tiere eine Körperseele und darüber hinaus eine Vernunftseele (anima rationalis). Auch beim Menschen sind die Vitalfunktionen und die sensorischen und motorischen Vorgänge die Aufgabe der Körperseele. Sie besitzt die Fähigkeit der Wahrnehmung, der Vorstellung und des Gedächtnisses und sogar eine Art Überlegung, die aber im Vergleich mit der Denkfähigkeit der Vernunftseele äußerst beschränkt ist. Die Körperseele kann zwar Sinneseindrücke wahrnehmen, aber nicht immer richtig verstehen: Für sie ist die Sonne nur eine kleine Scheibe und die Küste entfernt sich von den Seefahrern, statt umgekehrt. Sie kann nur einfache Dinge wahrnehmen und wie man aus dem Verhalten der Tiere schließen kann, mehrere Dinge zugleich zusammenstellen oder trennen (De anima brutorum, 7. Kap., S. 36 f.). Die Vernunftseele, die allein dem Menschen zukommt, ist für Willis genauso wie für Aristoteles immateriell und unsterblich. Ihre Vermögen (Facultates) sind Urteil und Überlegung. Ihr ist die „ganze Enzyklopädie der Künste und Wissenschaften zu verdanken“. Damit zeigt sich aber auch die Grenze der anatomischen Methode, die von einer strengen Entsprechung von Struktur und Funktion ausgeht. Denn mit der Annahme einer immateriellen Vernunftseele entsteht das Problem einer reinen Funktion ohne stoffliche Struktur. Der Cartesianische Dualismus von Res extensa und Res cogitans scheint damit durch die Hintertür einer doppelten Seele des Menschen, deren einer Teil stofflicher und deren anderer Teil immaterieller Natur ist, wieder hereingekommen zu sein. Diesen Dualismus umgeht aber Willis dadurch, dass er ebenso wie Gassendi, auf den er sich in diesem Zusammenhang namentlich beruft, eine enge Verbindung der Vernunftseele mit der Körperseele annimmt. Diese
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Verbindung ergibt sich genau in jenem Bereich zwischen Wahrnehmen und Denken, den bereits Aristoteles in einer rein erkenntnistheoretischen Weise analysiert und systematisch dargestellt hat: Es ist die Vorstellung (Imaginatio) und Phantasie als reproduktive und produktive Einbildungskraft, die schon ursprünglich von Aristoteles vom Sensus communis genau unterschieden worden ist, obwohl beide meist zusammen in der späteren Ventrikellehre in die selbe Gehirnhöhle eingesperrt worden sind. Willis dagegen lokalisiert die Imaginatio in der Mitte des Gehirns, im Gehirnbalken (Corpus callosum), der für ihn das Hauptfeld der weißen Marksubstanz ist. Dort tritt auch die immaterielle Vernunftseele mit den höchsten Vermögen der Körperseele, Vorstellung und Phantasie, die Willis als passives und aktives Vermögen unterscheidet, in Verbindung, indem sie nicht durch den Eindruck der körperlichen Gestalt, sondern durch Anschauung (Intuitione) dieser Gestalt, wie sie in der Phantasie ausgedrückt wird, zur Erkenntnis kommt. Dabei gilt der alte aus der Antike bekannte sensualistische Grundsatz: „Nichts ist in der Vorstellung, oder wie ich eher sagen sollte, nichts ist im Gehirn oder Herzen, was nicht früher in den Sinnen gewesen ist“ (De anima brutorum I, 8. Kap., S. 46). Wie die Vernunftseele die Erscheinungen der Dinge ordnet, die in der Vorstellung auftauchen, so ordnet sie auch die Begierden und Affekte, die sich in der Phantasie bewegen, indem sie „diese genehmigt, jene zurückweist, andere anregt, bald unterdrückt oder in die richtigen Grenzen verweist“ (7. Kap., S. 41; vgl. Isler 1963, S. 130). Die Vernunftseele wirkt also hemmend und fördernd auf die Tätigkeit der Körperseele ein. Diese aber kann sich auch der Herrschaft der Vernunftseele widersetzen. Dann aber kommt es zu einem Kampf zweier Seelen im gleichen Körper, der so lange dauert, bis die eine die andere überwindet und gefangen nimmt. Mit solchen Überlegungen nähert sich Willis, wie Isler bereits festgestellt hat, den Theorien der späteren Lehren vom Unbewussten ohne jedoch irgendwelche psychoanalytischen Methoden anzuwenden. So ist auch seine Erklärung der Träume auf der Basis seiner chemischen Theorie der Spiritus animales errichtet. Sie entstehen nach seiner Auffassung dadurch, dass Gruppen von Spiritus animales im Schlaf führerlos und unkontrolliert umherschweifen und dabei Bewegungen durchführen, und Wege einschlagen, die sie vom wachen Leben her gewohnt sind. Auf diese Weise stellen sie verwirrte Gedanken an frühere Vorgänge dar. Grund für dieses Ausbrechen der Spiritus kann ein Reiz vor dem Einschlafen sein, oder Aufregung, Anstrengung, Wein- oder Tabakgenuss. ›De anima brutorum‹ enthält aber auch neben dieser Seelentheorie des physiologischen Teiles noch einen pathologischen Teil, dessen Krankheitsbilder zusammen mit den Schriften über die
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Krampfkrankheiten Epilepsie und Hysterie eine fast vollständige Abhandlung über Gehirnpathologie darstellen. So beschreibt Willis die Symptome von Melancholie und Manie und kommt auch der Beschreibung der Schizophrenie sehr nahe. Darüber hinaus beschäftigt er sich auch mit Kopfschmerzen, Bewusstseinstrübungen, Schlafstörungen, Lähmungen, Schwindel und Delirium und anderen Krankheitsbildern, die er meist mit Hilfe chemischer Vorstellungen als Störungen der Beschaffenheit oder Bewegung der Spiritus animales erklärt. So phantastisch diese Vorstellungen vom Gehirn als einem Laboratorium, in dem ständig chemische Prozesse ablaufen und Explosionen stattfinden, auch erscheinen mögen, so kann man in ihnen bereits eine Vorstufe oder Ahnung von der elektrochemischen Natur der nervösen Erregung und Entladung sehen. Doch das eigentliche Medium, in dem sich diese Vorgänge abspielen sollten, blieb zu dieser Zeit ein Gegenstand reiner Spekulation. Darauf wies bereits kritisch der dänische Anatom Steno (Niels Stensen 1638 – 1686) hin, der vielleicht der Erste war, der die ungeheure Komplixität des Menschenhirn erfasst hat. Denn er bezeichnete es als „das schönste Meisterwerk der Natur“ (« les plus beau chef-d’œuvre de la nature »). In seinem 1667 in Florenz erschienen Werk ›Elementorum myologiae specimen‹ traf er folgende vernichtende Feststellung: „Animalische Geister, als feinste Teile oder als Dunst des Blutes und die Nervensäfte, das sind alles Bezeichnungen, die von vielen verwendet werden, aber nicht mehr als Worte sind, die nichts meinen.“
Die Entwicklung der experimentellen Hirnund Rückenmarkphysiologie: Von Steno zu Haller Die Kritik Stenos an den auf Grund von krankhaften Störungen beim Menschen hypothetisch angenommenen Lokalisationen von Hirnfunktionen, die sich durch die anatomische Erkenntnis aus der nach dem Tode erfolgten Sektion des Patienten zu bestätigen schienen, führte dazu, dass man diese Hypothesen, insbesondere die Lokalisationstheorie von Willis durch Versuche an lebenden Tieren überprüfen wollte. Es war Steno selbst, der den Wert der Vivisektionen hervorhob. Er schlug vor, dass man nach Anwendung des Trepans (chirurgischer Knochenbohrer) verschiedene Reizmittel und Medikamente auf die harte Hirnhaut und die Hirnsubstanz auftragen oder in die Ventrikel einführen soll, um bestimmte Verletzungen hervorzurufen. Nach diesen Reizungen, Verletzungen oder Zerstörungen
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bestimmter Hirnteile soll man dann beobachten, ob und welche Funktionsstörungen eintreten und was ihre Folgen sind. Aus dem Ausfall dieser Funktionen könne man dann auf normale Vorgänge schließen und eventuell sogar Mittel zu ihrer Beseitigung finden (vgl. Neuburger 1897, S. 10 u. S. 34). Dieser Vorschlag Stenos war der Beginn einer systematisch betriebenen Hirn- und Rückenmarksphysiologie in der Neuzeit, deren Anfänge bereits von dem Wiener Medizinhistoriker Neuburger erforscht worden sind.
Kleinhirnexperimente Bereits im 17. Jahrhundert führten Claude Perault (1613 – 1688) und Raymond Vieussens (1641 – 1717) Vivisektion vor allem an Hunden durch. Während Perault den Hunden das gesamte Großhirn entfernte, ohne dass diese sofort zu Grunde gingen, trat nach Vieussens Experimenten, bei denen er den Hunden das Kleinhirn entfernte, sofort der Tod ein. Der deutsche Physiologe Bohn (1640 – 1718) sah junge Tiere nach dem Einstechen eines Messers ins Kleinhirn sogar blitzartig zusammenstürzen. In England wollte Humphrey Ridley die Theorie von Willis dadurch bestätigt wissen, dass er bei Tieren durch Kompression des Kleinhirns die Atmung zum Stilstand brachte und durch Zerschneiden dieses Hirnteiles überhaupt das Leben vernichtete. Dieser rasch oder plötzlich eintretende Tod nach all diesen Kleinhirnzerstörungen galt als direkter Beweis für die Richtigkeit der Theorie von Willis, ebenso wie das Überleben nach einer Großhirnzerstörung als indirekter Beweis dafür angesehen wurde. Aber die kurz darauf im 18. Jahrhundert nachfolgenden Experimente zeigten dagegen, dass die kürzere oder längere Lebensdauer vielmehr von der größeren oder geringeren Vorsicht abhängt, mit der diese Operationen durchgeführt wurden. Die Versuche von François Pourfour du Petit (1664 – 1741) demonstrierte bereits deutlich, wie sehr es auf die Technik des Operierens ankam. So verendete ein Hund schon nach drei Stunden, während mehrere andere erst nach einigen Tagen starben. Bei all diese Versuchstieren war nur scheinbar dasselbe geschehen: Nach der Öffnung der Hirnschale mit dem Trepan wurde ein Messer in die eine oder in die andere Kleinhirnhemisphäre gestoßen. Es war klar, dass mit einem derartig groben Eingriff unterschiedliche Zerstörungen mit unterschiedlichen Nebenumständen wie z. B. Blutungen, Kompressionen durch Knochensplitter usw. hervorgerufen wurden. Von anderen Experimentatoren aus dieser Zeit wurden noch viel gröbere Methoden und Operationstechniken angewendet, die nach den Worten
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Neuburgers „jeder genaueren Lokalisation des Eingriffs Hohn sprachen“. Man stieß nicht nur unterschiedliche Instrumente wie Skalpelle oder hakenförmige Messer in die durch den Trepan hergestellten Öffnungen ein und versuchte auf diese Weise den Hirnteil zu zerstückeln, zu zerschneiden oder zu zermalmen, sondern stieß auch ohne zu trepanieren durch die Schädeldecke einen Troikart (chirurgisches Stichinstrument) ein. Alle Folgeerscheinungen dieser brutalen und groben Eingriffe wurden ohne Rücksicht auf die dadurch notwendig gegebenen Nebenerscheinungen wie Knochenbrüche und Blutungen als Ausfallserscheinungen der Funktion des zerstörten Hirnteils angesehen. Auf diese Weise verhalf man falschen Hypothesen, wie die Willisianische Hypothese von der Steuerungsfunktion des Kleinhirns für die vitalen Vorgänge, Herzschlag und Atmung, Anerkennung und verlegte richtigen Anschauungen den Weg zu ihrer weiteren Erforschung (vgl. Neuburger 1897). Erst die Verbesserung der Operationstechniken konnte diese Situation klären. Ein sehr geschickter und vielseitiger Experimentator wie Pierre Chirac (1650 – 1732), der Rivale Raymond Vieussens’ in Montpellier, machte an Hunden wiederholt die Erfahrung, dass sie den Verlust nicht nur des Großhirns, sondern auch des Kleinhirns wenigstens kurze Zeit überlebten. So blieb z. B. ein Hund nach Abtragung des Kleinhirns durch die rasche Einleitung künstlicher Beatmung durch Lufteinblasung eine Stunde lang am Leben, während ein anderer noch 24 Stunden selbst atmen konnte, bevor er starb. Der Wahrheit einen Schritt näher kam bereits Abraham Kaau (1715 – 1758). Denn bei seinen Kleinhirnversuchen an lebenden Hunden verletzte er auch das verlängerte Rückenmark (Oblongata). Die Folge davon war, dass die Versuchstiere von intensivsten, auf den ganzen Körper ausgedehnten Krämpfen befallen wurden und unter deutlichen Erstickungssymptomen, manche laut heulend, zugrunde gingen. Wenn dagegen nur das Kleinhirn verletzt wurde, blieb sowohl die Herz- als auch die Atmungstätigkeit noch einige Zeit aufrecht. Jedenfalls zeigten diese Versuche, dass die dem Kleinhirn von Willis zugeschriebenen Funktionen nicht nachgewiesen werden konnten. Denn nach dieser Hypothese müssten die vitalen Funktionen bei einer Zerstörung des Kleinhirns sofort verlöschen. Außerdem hatten anatomische Untersuchungen gezeigt, dass die Nerven des Herzens nicht vom Kleinhirn stammen. Ein weiteres Gegenargument lieferten die Berichte über gehirnlose Missgeburten, die noch mit deutlichen Lebenszeichen auf die Welt kamen (vgl. Neuburger 1897, S. 38). Die Experimente, die das Problem der Lebenswichtigkeit der einzelnen Hirnteile zu lösen versuchten, führten jedoch auch beim Kleinhirn auf den
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richtigen Weg. Es gelang nämlich Antoine Charles de Lorry (1726 – 1783) in diesem Zusammenhang eine bedeutsame Entdeckung, deren Wert er selbst noch nicht erkennen konnte. Bei Versuchen, die er an Tauben durchführte, beobachtete dieser Experimentator ein merkwürdiges Phänomen. Jene Tauben, denen er eine lange Nadel durch eine Hemisphäre des Kleinhirns gestoßen hatte, begannen zu schwanken, indem sich eine Körperhälfte schwächer als die andere verhielt. Nach Neuburgers Meinung (a. a. O., S. 27) war es wohl das erste Mal, dass Koordinationsstörungen so genau beobachtet und beschrieben worden sind.
Großhirnexperimente Da sich primär das Interesse aller Experimentatoren auf die Frage richtete, welche Hirnteile für die organischen Lebensfunktionen verantwortlich sind, wurde zunächst dem Großhirn keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Hatte man doch übereinstimmend festgestellt, dass auch umfangreiche Verletzungen oder krankhafte Zerstörungen des Großhirns sowohl bei Tieren als auch bei Menschen nicht zum Stillstand der Atmung und Herztätigkeit führten. Über die Lokalisation der Bewegung und Empfindung war man sich nicht einig. Man war sich weder im Klaren, wie eine experimentelle Entscheidung in dieser Frage durchzuführen wäre, noch hatte man sie überhaupt versucht. Erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sollte sich diese Situation verändern. Denn zu dieser Zeit ersetzte der päpstliche Leibarzt Giovanni Maria Lancisi (1654 – 1720) die alte, von Steno scharf kritisierte Cartesianische Lehre vom Sitz der Seele in der Zirbeldrüse durch eine neue Theorie, die derjenigen von Willis näher stand. In seiner Schrift ›De sede cogitantis animae‹ (1718) nahm Lancisi an, dass der Sitz der Seele nirgendwo anders als im Balken zu suchen sei. Dort endigen nach seiner Meinung die Nerven der Sinneswahrnehmung und dort wird, der feinen Faserung dieses Hirnteils entsprechend, die Verknüpfung von Wahrnehmung, Vorstellung und Urteilen vorgenommen. Da man bei fast allen derartigen Spekulationen „Seele“ mit Lebenskraft gleichsetzte, wurde deshalb auch der Balken nicht nur als Zentrum der höheren Seelenvermögen, sondern auch der vegetativen Lebensvorgänge angesehen. Kein Tierexperiment bestätigte zwar diese Lehre, doch gab es zumindest aus dem Bereich der Chirurgie Erfahrungen, die sie zu stützen schienen. Der französische Chirurg La Peyronie (1678 – 1747) stellte fest, dass bei schweren Hirnverletzungen oder Kompressionen durch Abszesse und Blu-
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tungen immer diejenigen tödlich endigten, bei denen auch der Balken ergriffen war. Er machte auch mehrere Beobachtungen, aus denen hervorging, dass jeglicher Druck auf den Balken durch Eiter, Blut und andere Ursachen Bewusstseinsverlust, Lähmung und Lethargie nach sich zieht, die erst nach Beseitigung der Ursachen wieder verschwanden. Was jedoch dabei nicht beachtet wurde, war der Grad der Zerstörung des Balkens und die Frage, ob nicht auch andere Hirnteile in Mitleidenschaft gezogen waren. Es waren ebenfalls pathologische Befunde, welche zur grundlegenden Entdeckung einer merkwürdigen Eigenart der sensomotorischen Funktionen der Großhirnrinde führte. Seit Hippokrates wusste man, dass rechtsseitige Kopfwunden links Lähmungen hervorrufen und umgekehrt. Zwar wurde diese Erfahrung im Lauf der Jahrhunderte immer wieder bestätigt, zu einer richtigen Erklärung dieses Phänomens kam man erst dann, als der französische Arzt François Pourfour du Petit im Jahre 1710 die Kreuzung der Nervenfasern in den sog. Pyramiden nachwies, deren Bedeutung jedoch nicht von allen Anatomen akzeptiert worden ist. Daher blieb auch die alte Streitfrage der Pathologen offen, ob Läsionen einer Großhirnhälfte gesetzmäßig oder nur zufällig auf der gegenüberliegenden Seite Lähmungen der Extremitäten bewirken. In solchen Fragen, über welche die pathologische Anatomie keine Klarheit brachte, war der Tierversuch, d. h. die Vivisektion, die letzte Entscheidungsinstanz. Genau diese Methode wandte auch Pourfour de Petit an: Er trepanierte den Schädel von lebenden Hunden über den Scheitelbein und stieß dann ein Skalpell entweder durch die eine oder die andere Hirnhemisphäre nach vorne und in die Tiefe. Dann entfernte er die zerstörte Hirnmasse aus dem Schädel. Als Folge dieses Vorgehens sah er stets eine Lähmung der Extremitäten an der gegenüberliegenden Seite eintreten. Dieser experimentell festgestellte Zusammenhang zwischen der Läsion der Hirnrinde und der gegenüberliegenden Bewegungsstörung der Extremitäten in Verbindung mit den pathologisch-anatomischen Befunden führten zu dem Schluss, dass in der Großhirnrinde der Impuls zur Bewegung erteilt wird, der in der Substanz des verlängerten Rückenmarks weitergeleitet wird. Darüber hinaus bemerkte Pourfour du Petit nicht nur diese Lähmungen, sondern stellte auch fest, dass die so operierten, oder besser gesagt verstümmelten Hunde auf dem Auge der gegenüberliegenden Seite nichts sahen und mit der entsprechenden Schnauzenhälfte nichts zu fassen vermochten. Damit war das Prinzip der „kontralateralen Innervation“ nicht nur für den motorischen Bereich, sondern auch für den sensorischen Bereich empirisch nachgewiesen. Alle weiteren Versuche dieser Art bestätigten dieses Ergebnis.
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Versuche über die Funktionen der Medulla oblongata und des Rückenmarks Lange bevor man sich in der wissenschaftlichen Hirnforschung mit jenem anscheinend unbedeutenden Hirnteil beschäftige, den man das „verlängerte Rückenmark“ (Medulla oblongata) nannte, war Jägern und Kriegern, wie man aus Homers Schilderungen des Kampfes um Troja erfahren kann, die außerordentliche Gefährlichkeit von Nackenverletzungen bekannt. Diese Kenntnis wurde, worauf schon Haller in seiner Physiologie hinwies (Elem. phys. IV), von Metzgern und Henkern gewerbsmäßig ausgenützt. Auch Galen erkannte sowohl aus seinen Erfahrungen als Gladiatorenarzt als auch aus seinen Tierversuchen, dass es am Anfang des Rückenmarks eine Stelle gebe, deren Durchschneidung die Atmung und somit das Leben sofort beendet (De anat. admin. Lib. VIII, cap. IX; vgl. Neuburger 1897, S. 98). In der Neuzeit dagegen hatte man seit Willis immer angenommen, dass das Kleinhirn der Sitz der Vitalfunktionen sei, bis Lorry der Nachweis gelang, dass weder Großhirn- oder Kleinhirn-, noch Rückenmarksverletzungen im Stande sind, den sofortigen Tod herbeizuführen. Daher blieb nur noch das verlängerte Rückenmark übrig, das man als Zentralstelle der Atmung und Herztätigkeit ansehen konnte. Lorry gelang auch die schärfste Lokalisation des im obersten Halsmark liegenden spinalen Respirationszentrums. Er stellt nämlich fest, dass durch einen Stich ins Mark zwischen zweitem und drittem Halswirbel das Versuchstier sofort unter allgemeinen Zuckungen und Sistierungen von Puls und Atmung verendete. Damit war eindeutig klar geworden, dass das verlängerte Rückenmark und der obere Anfang des Rückenmarks für den gesamten Organismus eine besondere Bedeutung und Lebenswichtigkeit haben muss. Lorry ging aber insofern über seine experimentell gesicherten Ergebnisse hinaus, als er dem Groß- und Kleinhirn auch jegliche sensorische Funktionen absprach und nicht nur den Sitz der Bewegung, sondern auch den Sitz der Empfindung ins verlängerte Rückenmark verlegte. In der weiteren Untersuchung des Rückenmarks kam Lorry zu einem sehr bedeutenden Ergebnis, das zu Unrecht in Vergessenheit geriet: Er bemerkte nämlich wesentliche Unterschiede in den Verletzungssymptomen, je nachdem er das Rückenmark in größerer oder geringerer Höhe durchtrennte. An Hundeexperimenten machte er die Erfahrung, dass eine Verletzung des Lendenmarks zur Lähmung der Beine führte; wurde jedoch die Operation höher oben vorgenommen, so war die Lähmung nicht vollständig und die Sensibilität blieb länger erhalten. Auf diese Weise stellte er auf experimen-
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tellem Weg fest, was schon seit Hippokrates in der Pathologie der Wirbelsäule bekannt war. Im Buch ›De articulis‹ (cap. 48) heißt es, dass Verletzungen des unteren Teils Lähmung der unteren Glieder, Verletzungen des oberen Teils Lähmungen aller Glieder bewirkt. Auch experimentelle Untersuchungen des Rückenmarks wurden schon in der Antike durchgeführt. Es war Galen, der an vielen Tieren immer höher hinaufreichende Rückenmarkdurchschneidungen durchführte, wobei er bereits zu ähnlichen Ergebnissen wie Lorry kam. Diese pathologischen, chirurgischen und experimentellen Erfahrungen über Krämpfe und Lähmungen, Schmerzäußerungen oder Empfindungsstörungen, die bei Rückenmarksverletzungen an Mensch und Tier über die Jahrhunderte hinweg gemacht wurden, sollten eigentlich in der Neuzeit zu einer weiteren Entwicklung der Rückenmarksphysiologie führen. Das aber wurde von einer Theorie verhindert, welche die Gleichwertigkeit aller Hirnteile annahm und so überhaupt zu einem vorläufigen Ende der Lokalisationstheorie führte, aber andererseits den Beginn der experimentellen Untersuchungen der vitalen Kontroll- und Regelmechanismen im heutigen Sinn darstellt.
Das vorläufige Ende der Lokalisationstheorie: Hallers Äquipotenztheorie des gesamten Gehirns Mit Albrecht von Haller (1707 – 1777) beginnt eine neue Methodik der Hirnforschung, die bisher unbekannt war. Denn er untersuchte „das Zentralnervensystem nicht als Organ, sondern als Gewebe, er prüfte nicht die Funktionen, sondern die gewerblichen Grundeigenschaften“ (Neuburger 1897, S. 124). Seine Untersuchungsmethodik lag daher auf einer tieferen Ebene als die der vergleichenden Anatomen. Deshalb findet man auch weder in seinem großen Werk noch in seinem ›Grundriß der Physiologie‹ bei der anatomischen Beschreibung des Gehirns irgendetwas, was nicht schon bereits bekannt wäre. Seine große Leistung bestand vielmehr in einer grundlegenden Unterscheidung, die den gesamten menschlichen Körper betraf und die er auf Grund eines geradezu „erschreckenden Aufwandes“ an Tierexperimenten folgendermaßen formulierte: „Es ist aus diesen Erfahrungen eine Probe einer neuen Einteilung der Teile des menschlichen Körpers entsprungen, wobei ich mich keiner andern Benennungen bediene, als das ich die Teile des Körpers in reizbare und empfindliche unterscheide und sie von denjenigen absondere, welche entweder nicht reizbar oder nicht empfindlich, oder keines von beiden sind“ (Haller 1772 / 1922, S. 13).
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Die Lehre von der Irritabilität und Sensibilität Dass diese Unterscheidung nicht völlig neu ist und dass er keineswegs der einzige Entdecker der Irritabilität oder Erregbarkeit als der Grundfähigkeit eines belebten Körpers ist, hat Haller selbst in einer kurz gefassten Geschichte des Irribalitätsbegriffs dargestellt. Abgesehen von einigen Erfahrungen über das „Zappeln des abgeschnittenen Fleisches“, die bereits in der Antike bekannt waren, aber zu keinen Reizversuchen führten, war der Erste, der sich das Wort „Irritabilität“ ausgedacht hat und darüber auch Versuche angestellt hat, der englische Arzt Francis Glisson. Im Unterschied zu Haller nahm dieser jedoch an, dass zwischen dem Reiz und der darauf folgenden Reaktion, d. h. der Kontraktion, ein psychischer Vorgang, eine Art „natürliche Perzeption“, stattfindet, die aber keine Empfindung ist und auch in den Knochen und Säften des Menschen vorhanden ist. Daher stand diese Auffassung dem von dem deutschen Arzt Georg Ernst Stahl (1659 – 1734) vertretenen Animismus näher als der Auffassung von Haller selbst, der die „Stahlische Sekte“, wie er sie nennt, völlig ablehnt und sich vielmehr an der Iatromechanik Baglivis orientiert. Baglivi ist seiner Meinung nach der Sache insofern näher gekommen, als er durch experimentelle Erfahrung nachgewiesen hat, dass die Teilchen eines zerschnittenen Herzens ohne Beihilfe der Nerven zittern, sich zusammenziehen und nachlassen. Darüber hinaus hat er gefunden, dass sich jede Muskelfaser zusammenzieht, wenn sie zerschnitten wird, ohne dass die Seele oder die Empfindung etwas dazu beiträgt. Diese Anerkennung Hallers von Baglivis aufklärenden Leistungen zur Irribilitätslehre ist jedoch nicht mit einer Übernahme der mechanistischen Auffassung gleichzusetzen. Denn für Haller ist die Reizbarkeit eine Grundkraft des animalischen Lebens, das weder Pflanzen noch irgendwelchen anorganischen Körpern zukommt. Seine Experimente zeigten, wie er selbst sagt, „daß in der Tat jedwede tierische Muskelfaser, wenn sie gereizt wird, sich zusammenziehe, und daß sie hierdurch hauptsächlich von der Faser einer Pflanze unterschieden sei.“ Und er fügt hinzu: „Es rühre von einer fortdauernden Reizung her, daß die Werkzeuge des Lebens zu wirken fortfahren, wenn die Werkzeuge der Seele ruhen“ (Haller 1772 / 1922, S. 56). Deshalb muss er sich auch gegen seinen Lehrer Boerhaave stellen, der zwar die Bewegung des Herzens einer Reizkraft zugeschrieben hatte, die noch in den Stücken des Herzens übrig bleibe, aber dennoch der Meinung war, dass sich alle Kraft der Muskeln von den Nerven herleite. Für Haller dagegen war die Herztätigkeit vom zentralen Nervensystem unabhängig. So behauptet er bereits in einer Vorwegnahme der Irritabilitätslehre in sei-
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nen ›Commentariis Boerhaavianis‹ vom Jahre 1740: „Also wird das Herz von einer Ursache bewegt, die weder vom Gehirne, noch von der Schlagadern herrühret, die unbekannt ist, und in dem Baue des Herzens selbst verborgen liegt.“ Nach seinen experimentellen Untersuchungen, die zu der strikten Unterscheidung von Reizbarkeit (Irritabilität) und Empfindungsfähigkeit (Sensibilität), die allein den Nerven zukommt, führte, war daher für ihn die alte Streitfrage, in welchem Verhältnis das Herz als einfacher Muskel zum Gehirn steht, endgültig negativ beantwortet. Eine Theorie aber, warum eine von diesen Eigenschaften bestimmten Teilen des menschlichen Körpers zukommen und anderen nicht, wollte er jedoch nicht liefern. Denn er war davon überzeugt, „daß die Quelle dieser beiden Kräfte in dem innersten Baue der Teile verborgen liegt, und daß sie viel zu fein ist, als daß man sie mit Hilfe des anatomischen Messers oder des Vergrößerungsglases, entdecken könnte“. Und er stellt sich auf den Boden des empirischen Experimentators, der keine Mutmaßungen äußern will über etwas, was „sich nicht mit dem Messer oder dem Mikroskop entdecken läßt.“ Er war sich aber auch der entsetzlichen Grausamkeit bewusst, die er eingestandermaßen an mehr als vierhundert Tieren verübt hatte und versuchte sie, auf eine Weise zu rechtfertigen, die auch heute noch zur Entschuldigung der Vivisektion angeführt wird: „Ich habe in der Tat hierbei mir selbst verhaßte Grausamkeiten ausgeübet, die aber doch der Nutzen für das menschliche Geschlecht und die Notwendigkeit entschuldigen werden, da dabei sich gleichwohl der mitleidigste Mensch des Fleisches der Tiere ohne Vorwurf, und ohne sich ein Gewissen darüber zu machen, zu seiner Speise bedienet“ (Haller 1792 / 1922, S. 12). Wie sehr Haller jedoch von dem Problem der Vivisektion selbst betroffen war, zeigt eine Bemerkung eines Zeitgenossen, des Mathematikers und Physikers Abraham Gotthelf Kästner (1719 – 1800), über die Todesfurcht Hallers, die diesen in seinen späten Jahren befallen haben soll: „Ich glaube, ihm sind alle die armen Tiere vorgekommen, die er gemartert hat, um seine Irritabilität zu untersuchen, die, nach allen Qualen so vieler Unschuldiger, doch immer noch viel Unausgemachtes hat und zum Nutzen der Menschen ganz entbehrlich ist“ (vgl. Rudolph in Rotschuh 1964, S. 28). Die wahrhaft grausamen Experimente, die jedoch richtungsweisend für die Neurophysiologie des 19. Jahrhunderts wurden, dienten vor allem der Feststellung der sensiblen Teile des menschlichen Körpers, die jedoch alle nur an Versuchstieren und nicht an Menschen ausgeführt wurden. Das aber war nur dadurch möglich, dass Haller und seine Schüler und Anhänger, wie Johann Georg Zimmermann und Johann Gottfried Zinn durch Reizung Schmerzäußerungen hervorzurufen versuchten. Diese Vorgangsweise hat
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Haller selbst in aller Offenheit und eiskalter Sachlichkeit dargestellt: „Ich habe bei lebendigen Tieren von mancherlei Gattung und von verschiedenem Alter, denjenigen Teil entblößet, von welchem die Frage war; ich habe gewartet, bis das Tier ruhig gewesen ist, und zu schreien aufgehört hat, und wenn es still und ruhig war, so habe ich den entblößten Teil durch Blasen, Wärme, Weingeist, mit dem Messer, mit dem Ätzsteine (Lapis infernalis), mit Vitriolöl, mit der Spießglasbutter, gereizet. Ich habe alsdann acht gehabt, ob das Tier durch Berühren, Spalten, Zerschneiden, Brennen oder Zerreißen, aus seiner Ruhe und seinem Stillschweigen gebracht würde; ob es sich hin- und herwürfe, oder das Glied an sich zöge, und mit der Wunde zuckte, ob sich ein krampfhaftes Zucken in diesem Gliede zeigte, oder ob nichts von dem allen geschähe. Ich habe die oft wiederholten Erfolge dazu aufgezeichnet, wie sie ausgefallen sind“ (Haller 1792 / 1922, S. 15). Auf diese Weise stellte er nicht nur fest, dass die Sehnen, die bisher als äußerst schmerzempfindlich angesehen wurden, völlig unempfindlich sind, sondern auch, dass allein nur jene Körperteile Sensibilität besitzen, die mit Nerven durchzogen sind. Die „wunderbare Einstimmigkeit“ bei der irrtümlichen Annahme von der Schmerzempfindlichkeit der Sehnen führt Haller darauf zurück, dass das griechische Wort Neuron sowohl für Nerven als auch für Sehnen und Bänder verwendet worden ist. Um diesen Irrtum aufzuklären, hat Haller nach eigenen Angaben vom Jahre 1746 an „Hunden, Böcken, Ratten, Katzen, Kaninchen und sonst mancherlei Tieren“ die Sehnen verletzt oder zerschnitten, wobei er diese Versuche mehr als hundertmal wiederholte. In ähnlicher Weise ging er bei der Untersuchung der empfindlichen und unempfindlichen Teile des Gehirns vor. Um den alten, seit der Antike immer wieder vertretenen Irrtum, dass die harte Hirnhaut (Dura mater) nicht nur empfindlich sei, sondern sogar den Sitz aller Empfindungen darstelle, weil sie auch der Ursprung der Nerven sei, zu widerlegen, entblößte er sie von der Hirnschale und verbrannte sie mit Vitriolöl, Salpetergeist und anderen Chemikalien, zerschnitt sie mit dem Messer oder zerriss sie mit der Zange, ohne dass das Versuchstier die geringste Empfindung zu erkennen gab. Damit bestätigte er das Ergebnis eines brutalen Versuches von Pourfour du Petit, der einem Hund mit einem Hammer mehrmals auf den Schädel schlug, sodass, wie die Autopsie nachträglich ergab, Knochensplitter in die Hirnhaut eindrangen. Dieser Hund überlebte den Versuch acht Tage lang, war zwar auf der gegenüberliegenden Seite der Schädelverletzung gelähmt, lag aber ruhig, zeigte Fresslust und verriet durch nichts, dass er Schmerzempfindungen hätte. Auch die dünnen Hirnhäute (Pia mater), die nur schwer zu reizen waren,
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ohne dabei das Gehirn selbst zu berühren, erwiesen sich als unempfindlich. „Stach man aber in das Gehirn“, sagt Haller, „es mochte nun langsam oder geschwind geschehen, so erfolgten die heftigsten Zuckungen, welche den Körper des armen Tiers fast wie einen Bogen zusammenkrümmten“ (a. a. O., S. 28). Aber nicht das ganze Gehirn erwies sich als empfindlich, sondern nur das Gehirnmark, während sich die graue Hirnrinde für Haller ebenso unempfindlich wie die Hirnhaut zeigte. Nur wenn das Mark des Gehirns verletzt oder gereizt wird, entstehen „über den ganzen Körper schreckliche Zuckungen und man bemerkt keine Ausnahme, die von der Verschiedenheit des Teiles, der gereizt wird, käme; auch hat hierin weder das große, noch das kleine Gehirn, noch das große Querband einen Vorzug. Eben dies geschieht, wenn das Rückenmark gereizt wird“ (Haller 1788, S. 277).
Die Physiologie des Menschenhirns Mit diesen Versuchsergebnissen war das vorläufige Ende der Lokalisationstheorie besiegelt und der Anfang der sog. Äquipotenztheorie gegeben. Denn auf die Frage: „Ist aber im Gehirn etwa irgend eine Hauptstelle, wo der Ursprung aller Bewegungen und das Ende aller Sensationen sich findet und wo die Seele wohnt ?“ antwortet Haller mit folgenden Gegenargumenten, die vor allem gegen die am meisten verbreitete und auch von seinem Freund Charles Bonnet vertretene Meinung gerichtet ist, dass das markige Querband (Corpus callosum), das die beiden Großhirnhemisphären verbindet, den Sitz der Seele darstellt: Es ist nicht erwiesen, dass dieser Teil mit allen Sinnesnerven verbunden ist. Verletzungen oder Krankheiten dieses Teiles sind um nichts gefährlicher als die Verletzungen anderer Teile des Gehirns. Die Tödlichkeit der Verletzungen des Rückenmarks ist ebenso groß, wenn nicht größer, und doch kann es nicht der Sitz der Seele sein, da der Mensch die Zerstörung des Rückenmarks lange Zeit mit vollkommenen Vestandeskräften überlebt. Außerdem besitzen die Vögel ein solches markiges Querband nicht (vgl. Haller 1788, S. 279). Es gibt auch keine besonderen Gegenden für die Lebenskräfte; auch das Kleinhirn hat in dieser Hinsicht keinen Vorzug. Es ist vom Großhirn nicht viel unterschieden. Daher ist es auch nicht wahr, dass eine Beschädigung des Kleinhirns, das seit Willis als das Steuerungsorgan für die vitalen Funktionen der Herztätigkeit und Atmung gegolten hat, zum schleunigen Tod führt. Vielmehr sieht ja Haller im Sinn seiner Irritabilitätslehre die Tätigkeit des Herzens weitgehend unabhängig von den Hirnfunktionen, da „im lebendigen Tier selbst nach den größten Verletzungen des Kopfes, des kleinen
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Gehirns und des Rückenmarks die ungestörte Bewegung des Herzens übrig bleibt, ja sogar nach der Herausreißung des Herzens aus der Brust“ (a. a. O., S. 69). Er weist damit auf jene spektakulären Versuche hin, bei denen das Frosch- oder Schildkrötenherz dem lebendigen Leib des Tieres entnommen, noch immer in der Hand des Experimentators fortpulsierte und aus dem Stillstand durch mechanische oder elektrische Reize zu neuer Tätigkeit angeregt wurde und somit alle Nerventheorien über den Haufen warf. Den Sitz der Seele muss man nach Haller durch Versuche zu bestimmen versuchen. Er wird sich nach seinen eigenen Erfahrungen erstens im Kopf und nicht im Rückenmark finden müssen. Ferner wird er, nach den Versuchen, die erst durch Einstiche ins Innerste des Gehirns Zuckungen erzeugten, nicht im grauen Teil, sondern im Mark zu suchen sein und zwar „dort, wo ein jeder Nerv seinen Anfang nimmt, so daß die ersten Ursprünge aller Nerven zusammengenommen das wahre gemeinschaftliche Sensorium ausmachen“ (a. a. O., S. 281). Mit dieser vagen Angabe über den wahrscheinlichen Sitz der Seele, greift Haller wieder auf einen alten aristotelischen Begriff zurück und baut darauf eine Theorie der höheren Hirnfunktionen auf, die weit über die Resultate seiner eigenen experimentellen Untersuchungen hinausgehen. Zu dieser Theorie gehört aber auch eine neue Version der Vorstellung von den Spiritus animales oder wie sie Haller nennt: von den „Nervengeistern“. Trotz der vernichtenden Feststellung Stenos vor mehr als hundert Jahren war diese theoretische Vorstellung so stark, dass sie bis zu Hallers Zeiten aufrecht blieb. Sie führte auch einen der genauesten Beobachter, nämlich Anton van Leeuwenhoek (1632 – 1723), mit dem die Geschichte der mikroskopischen Untersuchungen des Nervengewebes begann, zu einem falschen Ergebnis. Denn er glaubte zu sehen, dass die Nervenfasern „hohle Gefäße“ sind, womit er im Einklang sowohl mit den Vertretern der Theorie der „Nervensäfte“, die ein flüssiges Medium annahmen, als auch mit den Ballonisten, welche die animalischen Geister als gasförmig ansahen, stand. Die eigentliche Alternative zu beiden Vorstellungen stammte aus einem anderen Bereich: nämlich aus der Physik. Es war kein Geringerer als Newton selbst, der sich das Nervengewebe als solid und uniform vorstellte. Als Medium nahm er im Sinne seiner universellen Gravitationstheorie einen elastischen Äther an, der feiner als die Luft jede Materie und so auch die soliden Nerven mit einer Vibrationsbewegung durchdringt. Unter den Medizinern war bezeichnenderweise der Hauptvertreter der Iatromechanik Giorgio Baglivi auch der wichtigste Anhänger der Theorie von der soliden Struktur der Nervenfasern. Er stellte eine Theorie von der oszillatorischen Bewegung der Nervenfasern auf. Alle diese Theorien wurden jedoch so-
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wohl von Boerhaave als auch von Haller mit dem Einwand zurückgewiesen, dass solche mechanische Vorstellungen der Natur der weichen, schwammigen und flattrigen Nerven widersprächen, von denen man außerdem durch van Leeuwenhoeks mikroskopische Untersuchungen zu wissen glaubte, dass sie hohle Leitungen darstellten. Die Neurophysiologie Boerhaaves bildet ein Verbindungsglied zwischen den extrem mechanischen Vorstellungen in der Iatromechanik Baglivis und dem Begriff der Sensibilität, wie ihn Haller zur Grundlage der Neurophysiologie machte. Der Iatromechanik folgend, veränderte Boerhaave zunächst die Vorstellung vom Spiritus animalis. Für ihn bestehen die Spiritus animales aus submikroskopischen Partikeln und befinden sich überall in den Hohlräumen des Gehirns und in den Zwischenräumen zwischen den Nervenfasern. Sie sind in allen ihren verschiedenen Arten mineralischen Ursprungs und lassen sich daher auch ganz im Sinne der Alchemisten außerhalb des Pflanzen- und Tierreichs feststellen. Das zentrale Glied der „Machina nervosa“ ist das Sensorium commune, das sich überall dort im Gehirn und Rückenmark befindet, wo die graue Substanz in die weiße Substanz übergeht. In ihm treffen sich die Sinnesreize und von ihm gehen die motorischen Impulse aus. Die Spiritus animales haben dabei die Funktion eines Reizmittels für die Nervenendungen. Auch für Haller liegt der Ausgangspunkt seiner Überlegungen in der Feststellung, die Fähigkeit zu empfinden und Bewegungen hervorzurufen sei eine Eigenschaft des Nervensystems. Anders als Leeuwenhoek, der davon überzeugt war, dass das „Nervengeflecht aus sehr kleinen Gefäßen von unvorstellbarer Feinheit“ besteht, hält es Haller aus funktionell-physiologischen Gründen nur für „wahrscheinlich, daß die Nervenfiberchen und die ebenso beschaffenen markigen Fibern des Gehirns hohl sind“. Denn keine optische Vergrößerung erreicht, wie er ausdrücklich betont, die Feinheit solcher Röhren. Wenn aber diese Fibern Röhren sind, so ist es wiederum wahrscheinlich, dass sie von den „Arterien des Gehirns ihren Saft bekommen“, eine Annahme, die Soemmering sofort mit guten Gründen in einer Anmerkung bestreitet (Haller 1788, S. 296). Dass der Nervensaft aber nicht mit den anderen Klassen der Flüssigkeiten des Körpers zusammenfällt, machen sowohl Haller als auch seine gelehrten Kommentatoren Meckel und Soemmering klar: Er gehört nicht unter dieselbe Kategorie wie Tränen, Blut, Speichel, Schweiß und Urin, mit denen die späteren Materialisten wie Vogt und Büchner argumentierten. Sondern der „Nervensaft“ oder „Nervengeist“ gehört den „hypothetischen Flüssigkeiten“ an, die „sehr fein“ und „unsichtbar“ sind und „keinen Geschmack oder Geruch“ haben und sich sehr schnell bewegen müssen. Wenn
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man nicht die Modelle solider, harter und elastischer Nervenfasern annehmen will, die auf mechanischen Kräften beruhen, wie Baglivi angenommen hat und anscheinend auch Meckel, denn dieser spricht nicht von Flüssigkeit, sondern von einer „Kugelreihe“ (Haller 1788, S. 288, Anm. ), dann bleiben nur die beiden anderen Möglichkeiten übrig, die Haller aufzählt: „ätherischer“ oder „elektrischer“ Art. Diese beiden Möglichkeiten können ebenso wie zuvor schon die naturwissenschaftlich-empirische Erklärung des Spiritus animales bei Willis als Vorstufe der gegenwärtigen Auffassung von der chemisch-elektrischen Art der Informationsübertragung im Nervensystem angesehen werden. Haller entscheidet sich für den „ätherischen Nervensaft oder Nervengeist“, der die Ursache ist, warum Nerven die Werkzeuge der Sinne und Bewegungen sein können. Diese Art der Flüssigkeit steigt entweder vom Gehirn in die Nerven hinab und fließt bis an ihre äußersten Enden oder sie pflanzt sich vom Sinnesorgan aufwärts ins Gehirn fort, wenn kein vom Gehirn kommender Empfindungsstrom dieser Bewegung widerstrebt, wobei die Bewegung der Flüssigkeit, die immer vorhanden ist, durch einen Reiz beschleunigt wird. Es sind also, wie Haller ausdrücklich betont, eben dieselben Nerven, die offenbar sowohl der Sinnesempfindung als auch der Bewegung dienen, „sodaß man ein doppeltes System, ein bewegendes, welches vom empfindenden verschieden wäre, nicht annehmen kann“ (Haller 1788, S. 289). Weil Haller annimmt, dass alle Nerven gleichwertig sind, nimmt er von der später von Marshall Hall gemachten Entdeckung der Existenz getrennt verlaufender sensibler und motorischen Bahnen keine Notiz. Von der Verarbeitung der Sinneseindrücke im Gehirn hat jedoch Haller eine wesentlich differenziertere Auffassung als die alten naiven Abbildtheorien cartesianischer Prägung. Ein neuer Gedanke entsteht, wenn das von den äußeren Gegenständen erschütterte Mark des Nerves irgend eine Veränderung durch die Nervengeister zu der Stelle des Gehirns bringt, an welchen die Fibern des erschütterten Sinnesnerves ihren ersten Ursprung nehmen. Der Gedanke selbst ist aber nicht das „ausgedruckte Bild des Objektes“, von dem der empfindende Nerv erregt worden ist. Denn die Vorstellung von der roten Farbe hat nichts gemein mit dem gebrochenen Lichtstrahl und noch viel weniger ist es „nach optischen Grundsätzen möglich, daß ein Bild, welches durch Lichtstrahlen auf den weißen sehr weichen Nerven gemalt worden ist, auf einem so langen Weg, in vollkommener Dunkelheit durch den undurchsichtigsten Körper zu seinem Ursprung in den Sehnervenhügeln gebracht werde“ (Haller 1788, S. 422). Das Gleiche gilt vom Schmerz beim Verbrennen, vom Hören eines hohen Tones oder vom Geschmack des Salzes. Die Seele erfährt bei solchen Sin-
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nesempfindungen weder etwas von den schnellen Bewegungen der Materie, noch von Schwingungen einer Seite, noch von der würfeligen Struktur der Kristalle des Kochsalzes. Was wir von der Welt vernehmen, sind nur unsere eigenen subjektiven und willkürlichen Sinnesempfindungen und Vorstellungen. Dafür, dass diese Ideen oder Gedanken nicht falsch sind, gibt es nur eine Garantie, die in der „Zusammenstimmung beständig gleicher Gedanken, die auf gleiche Eindrücke der empfindenden Nerven, in allen Menschen zu gleicher Zeit, und in demselben Menschen zu verschiedener Zeit entstehen“ (a. a. O., S. 422). Haller unterscheidet daher sehr genau fünf Bereiche, die im Erkenntnisprozess miteinander vereinigt werden müssen: – den Körper der Außenwelt, den wir empfinden, – die Erregung des Gehirns, die durch die Erschütterung des Sinnesorgans entsteht und durch die Nerven weitergeleitet wird, – die in der Seele entstandene Veränderung und schließlich – die Wahrnehmung der Empfindung, die durch das Bewusstsein der Seele entsteht. Von der Aufbewahrung dieser Wahrnehmungen im Gehirn hängt sowohl das Gedächtnis als auch die Einbildungskraft ab. Denn die Vestigia, die „Fußstapfen“ oder „Eindrücke“ der Dinge, sind nicht in der Seele (Mente), sondern im Körper selbst und zwar im Mark des Gehirns auf eine unbeschreibliche Art, mit unglaublich kleinen Merkmalen in unendlicher Menge eingezeichnet. Nur so kann sich Haller erklären, dass unsere Einbildungskraft Gedanken und Vorstellungen erregen kann, als ob sie durch die sinnliche Wahrnehmung eines äußeren Objektes selbst erzeugt würden, die der erste Ursprung für die Entstehung einer solchen Vorstellung war. Das in der materiellen Struktur des Gehirnmarks verankerte Gedächtnis ist daher die Voraussetzung für das Wirken der Einbildungskraft. Diese Tätigkeit der Einbildungskraft ist am stärksten bei der Abwesenheit sinnlich erfassbarer realer Gegenstände. Dann können diese dem Gehirn eingedrückten Vestigia sogar einen stärkeren Eindruck auf die Seele bewirken, als diejenigen Empfindungen, die die äußeren Gegenstände in der Seele erwecken. Bestätigt wird diese Auffassung nach Haller durch die Träume, „in welchen um nichts schwächere Gestalten in der Seele entstehen, als diejenigen sind, die von einem äußeren Objekt in dem empfindenden Nerven zuerst entstanden sind“ (a. a. O., S. 424). Diese Wiedererneuerung der Gedächtnisinhalte durch die Einbildungskraft ist ebenso wichtig, wie ihre Erneuerung durch die Sinneswahrnehmung. Denn wenn sie nicht auf diese oder jene Art wieder erneuert werden, werden sie allmählich „abgerieben und geschwächt“ und gehen schließlich
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„wie ausradiert“ ganz verloren. Es ist aber nicht die Zeit allein, die eine derartige Vernichtung der Gedächtnisinhalte bewirkt oder der „Kreislauf des Blutes“, sondern es sind auch „die neuen und verschiedenen Gestalten, die ins Sensorium kommen“, und dadurch die alten verdrängen. Diese sehr spekulativ klingende Gedächtnistheorie wird jedoch von Haller durch Erfahrung aus der Hirnpathologie gestützt. Denn er bemerkt auch, dass eine Krankheit, „bei welcher das Gehirn auf irgend eine Art durch Blut oder eine andere Ursache zusammengedrückt wird“, sehr schnell alle Gedächtnisinhalte zerstört. Wenn jedoch diese Krankheit nur auf einen Teil des Sensoriums wirkt, vertilgt sie auch nur einen Teil der Gestalten oder einige Worte aus dem Gedächtnis, womit auch ein erster Hinweis auf die später sog. Modularität der Hirnfunktion gegeben ist. Diese Gestalten aber können oft erneuert werden, wenn die störende Ursache beseitigt wird. Ebenso hängt auch das Denken und die Urteilskraft für Haller von einer „guten Beschaffenheit“ des Gehirns ab: „Wird es gedrückt, gereizt, von Blut erschöpft, ändert sich der Bau des Gehirns, so wird aller Gebrauch der Vernunft verworren.“ Statt der äußeren und wahren Gegenstände werden wie bei einem Verrückten der Seele „innere sehr starke Bilde“, d. h. Wahnvorstellungen, präsentiert. Der Zusammenhang der Ideen wird unterbrochen, sodass die Seele die Ideen nicht mehr vergleichen kann und daher auch die „Ähnlichkeit und Unähnlichkeit nicht voraussieht, sondern durch einen Sprung von einer Idee zu einer ganz anderen übergeht“ (a. a. O., S. 429). In den Anmerkungen zu dieser „medizinischen Seelenlehre“ wie Meckel sie bezeichnet, lassen sich bereits jene bis heute kontrovers diskutierten Fragen über das Verhältnis von Gehirngewicht und Anzahl der Windungen zur Intelligenz oder Denkfähigkeit erkennen. Während Meckel der Meinung ist, dass der Mensch relativ zur Masse des ganzen Körpers das größte Gehirn und die meisten Gehirnwindungen besitzt, schränkt Soemmering diese nicht näher bewiesenen Annahmen stark ein. So zweifelt er an den Angaben Meckels über das Gehirngewicht beim Menschen. Während Meckel bei einem Gesamtgewicht des ganzen Körpers des Menschen von 125 Pfund (= 62,5 kg) für das Gehirngewicht Größenordnungen von drei bis fünf Pfund angibt, gibt Soemmering an, dass er ein menschliches Gehirn nicht viel über drei Pfund wiegen gesehen habe. Auch die hervorragende Stellung des Menschenhirns bezüglich der Anzahl der Windungen hält Soemmering für „sehr unrichtig“ und meint, dass ein Pferdegehirn mehr Windungen hat als das Menschenhirn. Meckel ist auch der Meinung, dass die graue Hirnsubstanz mit zunehmenden Alter abnimmt und zu einem großen Teil sich zur weißen Marksubstanz verändert, was für ihn aber bei der
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generell verbreiteten Unterschätzung der Funktionen der grauen Hirnsubstanz eine Vermehrung des Verstandes bedeutet. Mit seiner heutzutage noch populären und weit verbreiteten Vorstellung, dass ein weiches Gehirn Dummheit bedeutet und ein hartes Gehirn auf höhere Intelligenz hinweist, steht er jedoch, wie Soemmering kritisiert, im Gegensatz zu Haller selbst, der die härtere Hirnsubstanz dummen Lebewesen zuschreibt. Soemmering dagegen entwickelt eine eigene Theorie über das Verhältnis von Gehirngewicht und Verstand. Für ihn kommt es auf den „größeren Überschuß von Hirnmasse“ an. Während man bei den kleinen Säugetieren und noch mehr bei den Fischen und Insekten feststellen kann, dass bereits „eine kleine Portion Hirnmasse zur gehörigen Verbindung mit den Nerven hinreicht“, hat der Mensch unter allen Tieren das größte Gehirn relativ zur Masse der Nerven. Dieser Überschuss weist daher auf eine „größere Vollkommenheit seiner sog. Geistesfähigkeiten oder seiner Seelenkräfte und seines Verstandes hin“. Denn dass das Gehirn das Organ des Verstandes ist, bestätigen ja auch alle seine Zeitgenossen unter den Gehirnanatomen, wie Blumenbach, Vicq d’Azyr u. a. Was Soemmering auf Grund der damaligen Kenntnisse einer vergleichenden Hirnanatomie erkannt hat, lässt sich durchaus mit dem vergleichen, was heutzutage als „Enzephalisations-Quotient“ (EQ), d. h. das Verhältnis von erwarteter zu tatsächlicher relativer Hirngröße, bezeichnet wird.
Der Maschinenmensch: de La Mettrie An Hallers Lehre von der Irritabilität schließt eine Episode an, die in ihrer extremen Form die Grundlage für einen Vorwurf bieten sollte, der noch lange Zeit ja bis zum heutigen Tag der Hirnforschung anhaften sollte. Es war der „unglückliche de La Mettrie“, wie ihn Haller selbst bezeichnet, der dieses Vermögen des tierischen Körpers seinem Lehrgebäude zu Grunde gelegt hat, „wodurch er die Immaterialität der Seele zu vernichten versucht hat“ (Haller 1772 / 1922, S. 57). Dieses Lehrgebäude, von dem sich Haller distanziert, ist die berüchtigte Maschinentheorie des Menschen von Julien Offray de La Mettrie (1709 – 1751). Es ist jedoch nicht bloß das Hirngespinst eines weltfremden Philosophen, der die experimentellen Ergebnisse Hallers und seiner Schule benützt, um seine Spekulationen in ein naturwissenschaftliches Gewand zu kleiden. Denn de La Mettrie versäumt es nicht, auf seine Ausbildung in Medizin und auf seine Praxis als Arzt hinzuweisen, um darauf das Recht abzuleiten, über das Verhältnis von Leib und Seele zu sprechen. „Erfahrung
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und Beobachtung“, so sagt er, „müssen unsere einzigen Führer sein; wir finden sie bei den Ärzten, die Philosophen gewesen sind; und nicht bei den Philosophen, die keine Ärzte gewesen sind. Die Ärzte allein, die die Seele in ihrer Größe wie in ihrem Elend ruhig beobachten, haben hier das Recht zu sprechen“ (vgl. Lange 1877, S. 339 f.). Denn der Mensch ist eine so komplex konstruierte Maschine, dass es unmöglich ist, von ihr a priori eine richtige Vorstellung zu gewinnen. Man muss zwar die großen Geister der Philosophie, welche dies vergeblich versuchten, wie Descartes, Malebranche, Leibniz und Wolff in ihren vergeblichen Versuchen bewundern, aber letzten Endes einen ganz anderen Weg betreten als sie: den Weg des naturwissenschaftlichen Experiments und der ärztlichen Erfahrung am Krankenbett. In den Krankheiten verdunkelt sich die Seele oder verdoppelt sich oder zerstreut sich völlig in Blödsinn: „Das größte Genie wird oft dumm und hin sind alle die Kenntnisse, die mit so großer Mühe erworben worden sind. Der eine Kranke fragt, ob sein Bein im Bette ist, ein anderer glaubt den Arm noch zu haben, den man ihm abgeschnitten hat“ (vgl. Lange 1877, S. 340). Diese Erfahrungen des Arztes hat de La Mettrie noch durch ein zusätzliches Studium in Leyden bei Boerhaave erweitert, dessen Werke er zum Teil auch ins Französische übersetzte. Als Militärarzt des Garderegiments in Paris schrieb er eine „Naturgeschichte der Seele“, in der er bereits einige Ideen seiner Maschinentheorie des Menschen vorwegnahm, was ihm seinen Stellung kostete. Nach Leyden zurückgekehrt, veröffentlichte er seinen ›Homme machine‹, in dem er seine Kenntnisse der experimentellen Physiologe insbesondere derjenigen Hallers, dem er seine Schrift widmete, verwertete. Im Einzelnen sind es folgende physiologische Fakten, die er zur Unterstützung seiner Maschinentheorie des Menschen heranzieht: Alles Fleisch der Tiere zuckt nach dem Tode umso länger, als das Tier kälter ist und weniger ausdünstet. Dies beweisen Versuche mit Schildkröten, Eidechsen und Schlangen. Auch die vom Körper getrennten Muskeln ziehen sich zusammen, wenn man sie reizt. Das aus dem Körper genommene Froschherz bewegt sich noch länger als eine Stunde, besonders wenn es der Sonne ausgesetzt ist, oder noch besser auf einem Tisch oder einem heißen Teller gelegt wird. Und auch dann, wenn diese selbständige Bewegung erloschen ist, kann man das Herz wieder zum Schlagen bringen, wie die Versuche Harveys an Kröten gezeigt haben. In diesem Zusammenhang verweist de La Mettrie auch auf Bacon, der in seiner Abhandlung ›Sylva Sylvarum‹ von einem des Verrats überführten Manne berichtet, dessen bei lebendigen Leib entnommenes Herz ins heiße Wasser geworfen mehrere Male immer weni-
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ger hoch, bis zur senkrechten Höhe von 2 Fuß sprang. Ebenso zeigten Wiederbelebungsversuche, die Robert Boyle mit Tauben, Hunden und Kaninchen durchführte, welche in einem mit einer Luftpumpe erzeugtem Vakuum beinahe leblos gemacht wurden, dass das Herz wieder zu schlagen beginnen kann. Aus eigener Erfahrung berichtet darüber hinaus de La Mettrie von einem den Schlächtern und Metzgern wohl bekannten Fall: „Ein betrunkener Soldat hieb einem Truthahn den Kopf ab. Das Tier blieb stehen, dann ging es, lief; als eine Mauer ihm in den Weg kam, wandte es sich um, schlug mit den Flügeln, wobei es seinen Lauf fortsetzte, und endlich fiel es um“ (J. O. de La Mettrie 1971, S. 80). Und de La Mettrie fügt aus seiner Kenntnis der damals üblichen wissenschaftlichen Tierversuche hinzu: „Es ist leicht, nahezu dieselben Erscheinung bei kleinen Katzen oder Hunden, denen man den Kopf abgeschnitten hat, zu sehen.“ Dieses Bewegungsprinzip ganzer Körper oder abgeschnittener Teile bringt nicht unregelmäßige, sondern sehr regelmäßige maschinenartige Bewegungen hervor. Alle animalischen, natürlichen und automatischen Bewegungen geschehen durch die Wirksamkeit dieses Prinzips, was jeder Mensch an sich selbst erfahren kann. Der Körper zieht sich maschinenmäßig bei dem Anblick eines unerwarteten Abgrunds zurück. Die Augenlider schließen sich bei der Drohung eines Schlages und die Pupillen verengen sich vor der Tageshelle und erweitern sich in der Dunkelheit. Ebenso sind Herz, Lunge, Magen und Mastdarm maschinenmäßig in Tätigkeit, sodass klar sein muss, dass dieses Prinzip ein Bestanteil des ganzen Organismus selbst ist. Aber auch jenes feinere Prinzip, die Quelle aller unserer Gefühle, aller unserer Vergnügungen, aller unserer Leidenschaften, aller unserer Gedanken, ist nichts anders als ein Bestandteil unseres Körpers. Es hat seinen Sitz im Gehirn am Ursprung der Nerven, durch welche es seine Herrschaft auf den ganzen übrigen Teil des Körpers ausübt. Mit dieser Materialisierung der Seele in ihrer Gesamtheit, die auch den menschlichen Geist einschließt, geht de La Mettrie einen entscheidenden Schritt weiter als Descartes. Er erkennt zwar an, dass dieser berühmte Philosoph zuerst klar bewiesen habe, dass die Tiere reine Maschinen seien, aber er wirft ihm vor, dass er sich was die von ihm behauptete immaterielle Natur des menschlichen Geistes betrifft völlig getäuscht habe. Lässt man dieses Vorurteil von der Einzigartigkeit des menschlichen Geistes weg, sagt de La Mettrie, dann kann man nicht nur sehen, dass zwischen einem Ackermann, dessen Geist und Einsicht sich nicht weiter als die Grenzen seiner Furche erstreckt, nicht wesentlich von dem größten Geist abweicht, wie die Zerschneidung der Gehirne von Descartes oder Newton es bewiesen hätte,
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sondern man muss auch davon überzeugt sein, dass der Schwachsinnige oder Dumme ein Tier in menschlicher Gestalt ist, so wie der Affe mit seiner Fülle von Verstand ein kleiner Mensch unter einer anderen Gestalt ist. Die unübersehbaren durch anatomische Untersuchungen nachgewiesene Ähnlichkeit zwischen Tierhirn und Menschenhirn „zwingt alle Gelehrte und wahrhaft Urteilsfähige, einzugestehen, daß jene stolzen und eitlen Wesen, welche mehr durch ihren Hochmut als durch den Namen von Menschen sich hervortun – wie groß auch ihr Verlangen ist, sich zu erheben – im Grunde genommen nur senkrecht in die Höhe gereckte Tiere und Maschinen sind“ (a. a. O., S. 94). Für Willis und Perrault, die de La Mettrie als „etwas untergeordnete aber fleißige Beobachter der Natur“ bezeichnet, hat er nur Hohn und Spott übrig. Die von ihnen vertretene Hypothese von der allgemein im Körper verbreitete Seele, die als „Seelenüberrest“ auch noch in den abgeschnittenen Gliedern eines Polypen wirkt, ist nach seiner Auffassung nur eine schlechte Ausdrucksweise in dunklen und nichts sagenden Worten (a. a. O., S. 89 f.). Aber unter Berufung auf Hallers Irritabilitätslehre sagt de La Mettrie: „Man gestehe mir nur zu, daß mit der organischen Materie ein Bewegungsprinzip verbunden ist, welches sie allein von dem nicht organisierten Stoff unterscheidet und daß alles in den Tieren von der Verschiedenheit dieser Organisation abhängt; das ist genug, um das Rätsel der Dinge und des Menschen zu lösen“ (a. a. O., S. 91). Dieses organische Bewegungsvermögen braucht keine Seele. Denn im Unterschied zu Haller nimmt de La Mettrie an, dass es auch das Prinzip der Nerventätigkeit ist. Herz und Hirn sind dem gleichen Bewegungsprinzip unterworfen. Ein verstopftes Blutgefäß schädigt die Herztätigkeit ebenso wie ein auf den Sehnerv ausgeübter Druck das Bild der Gegenstände nicht mehr durchlässt. Von zwei Ärzten ist daher seines Erachtens „derjenige der bessere, der am meisten Vertrauen verdienende, der am meisten in der Naturlehre und Mechanik des menschlichen Körpers bewandert ist und der sich nicht um die Seele und um all die Besorgnisse, welche diese Chimäre den Toren und Unwissenden einflößt, kümmert“ (a. a. O., S. 93). Diese Vernichtung der Seele mit Hilfe seiner Lehre von der Irritabilität oder Reizbarkeit, die von Haller als eine zusammenziehende Bewegung von bestimmten Teilen des Körpers definiert wird, an der die Seele keinen Anteil hat, ist für Haller eine völlig falsche Ansicht und Auslegung seiner Grundidee, die de La Mettrie, der seine Schrift Haller gewidmet hat, nicht von ihm selbst erhalten haben konnte. De La Mettrie hat, sagt Haller, wie man ihm berichtete, „diejenigen Erfahrungen, die seiner gottlosen Meinung einigen Schein geben“, von einem Helvetier übernommen, der kein Be-
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kannter, auch kein Schüler von ihm und auch kein Arzt war. Auch wird diese Ansicht de La Mettries von seinen eigenen Versuchen widerlegt: „Denn wenn die Reizbarkeit in den Teilen übrig bleibt, die von dem Leibe getrennt, und der Herrschaft der Seele nicht mehr unterworfen sind; wenn sie sich allenthalben in der Muskelfaser befindet, auch der Beihilfe der Nerven nicht bedarf, die gleichsam die Bedienten der Seele sind: so ist die Seele von dem Bezirke der Reizbarkeit sehr unterschieden, und die Reizbarkeit kommt auch nicht von der Seele her; folglich ist es auch nicht die Seele, was wir in dem Körper Reizbarkeit nennen“ (Haller 1772 / 1922, S. 57).
Die experimentelle Gehirnphysiologie in der Nachfolge Hallers Durch die Experimente Hallers angeregt und unter dem Eindruck seiner großen persönlichen Autorität setzten nicht nur seine unmittelbaren Schüler und Mitarbeiter, sondern auch eine immer größer werdende Anzahl von Ärzten in Italien und Frankreich seine Untersuchungen fort. Unter seinen Schülern war es vor allem Johann Gottfried Zinn (1727 – 1759) und Johann Georg Zimmermann (1728 – 1795), die durch ihre Experimente Beweise für die funktionelle Gleichwertigkeit der Hirnteile liefern wollten. Sie gingen dabei genauso vor wie Haller selbst, der bereits in seinen Experimenten die Lebenswichtigkeit der einzelnen Hirnteile untersucht hatte. Nur dann, wenn ein Hirnteil durch Verletzung oder Zerstörung zum unmittelbaren Tode des Versuchtstieres führen sollte, war der Nachweis seiner besonderen Bedeutung erbracht. Und da man damals jener Hirnstelle, die mit der Erhaltung der Lebenskraft verbunden ist, als den Sitz der Seele ansah, musste jedes experimentelle Ergebnis eine Entscheidung für oder gegen die Lokalisationstheorie bringen. So konzentrierte Zinn seine Versuche vor allem auf den Hirnbalken (Corpus callosum) und auf das Kleinhirn. In fünf an Hunden und Katzen angestellten Versuchen ergab sich die völlige Grundlosigkeit der Annahme, dass Verletzungen des Balkens unaufhaltsam zum Tode des Versuchstiers führe. Die genaue Schilderung der Symptome, die nach einem brutalen Einstich ins Gehirn eines Hundes erfolgte, der nicht nur den Balken, sondern auch noch andere Hirnteile bis hin zur Hirnbasis verletzte, zeigt auch die schreckliche Grausamkeit solcher Versuche, die in keinem Verhältnis zum erreichten Ergebnis steht: Zuerst verriet der Hund gar keine Veränderung. Später verfiel er in einen komatösen Zustand, der in normalen Schlaf überging. Als aber der Experimentator das Instrument, mit dem er den Einstich
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durchgeführt hatte, wieder herauszog, veränderte sich das Bild mit einem Schlag. Das Tier heulte kläglich, erbrach sich mehrmals und es trat eine motorische und sensible Lähmung der rechten Seite auf. Die Pulsfrequenz war deutlich erhöht. Später verfiel der Hund in Stupor, um am nächsten Tag zu verenden (vgl. Neuburger 1897, S. 143). Die Experimente am tiefer liegenden Kleinhirn mussten in ihrer Grausamkeit die Balkenexperimente noch übertreffen. Um die von Willis angenommene Bedeutung dieses Hirnteils für die Atmung und Herzaktion zu erforschen, öffnete Zinn den Schädel des Versuchstiers mit einer Säge und trug das so bloßgelegte Hirn schichtenweise bis zum Balken ab, den er dann durchschnitt, um den Ventrikel zu öffnen. Dann trennte er das Kleinhirn vom verlängerten Rückenmark ab und nahm es heraus. Da sich aber Atmung und Herzschlag noch minutenlang nach der Herausnahme des Kleinhirns fortsetzten, war damit die Lokalisationstheorie von Willis widerlegt. Zusätzlich bestätigte Zinn durch dieses Experiment Hallers Theorie von der Empfindlichkeit des Hirnmarks. Denn das Versuchstier zeigt immer dann heftigste Schmerzäußerungen durch Heulen und Bewegungen an, wenn die Marksubstanz gereizt wurde. Als Endergebnis dieser und noch anderer Versuche ergab sich für Zinn in einem noch radikaleren Sinn als bei Haller die Gleichwertigkeit aller Hirnteile und damit war für ihn auch die Frage nach dem Sitz der Seele beantwortet. Denn er erstreckt sich über das ganze Gehirn: „Anima sedem per omne cerebrum esse extensam.“ Während sich Zinn im Anschluss an Haller mit der Sensibilität des Gehirns beschäftigte, konzentrierte Zimmerman seine Untersuchungen auf die Irritablität und studierte das Problem, ob Kaltblüter fähig sind, ohne Gehirn fortzuleben. Zu diesem Zweck enthauptete er Frösche und stellte fest, dass ein Frosch noch acht Stunden nach der Enthauptung, wenn ein Schenkel durch Stechen gereizt wurde, flüchten konnte. Solche Versuche an Fröschen dienten noch mehr als hundert Jahre später der Erforschung der Reflexmechanismen. Auch in Italien und Frankreich dienten die experimentellen Untersuchungen des Gehirns hauptsächlich der Bestätigung der Hallerschen Unterscheidung von der Irritabilität und Sensibilität. Haller nennt selbst die Namen Fontana und Caldini und bezeichnet sie als die „besten Köpfe“ Italiens (Haller 1762, S. 57). Felice Fontana (1730 – 1805) war einer der eifrigsten Anhänger Hallers. Er ging bei der von Haller geforderten Unabhängigkeit der Herztätigkeit vom zentralen Nervensystem so weit, dass er sogar die Existenz des Herznerves in Frage stellte (Diss. qua demonstratur, cor nervis carere. Monguntiae 1792) Um die völlige Unabhängigkeit der Herzaktion vom Nervensystem im Sinn der Irritabilitätslehre Hallers zu demonstrieren,
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griff er ebenso wie Caldani zu einer neuen Methode: Er reizte das Nervensystem und das Rückenmark von Fröschen und Schildkröten durch elektrische Funken, ohne je die mindeste Veränderung der Herztätigkeit beobachten zu können. Damit widerlegte er die Annahme von Caldini, dass die „elektrische Materie“ die Bewegung des Herzens steigern könne. Während sich Fontana dann hauptsächlich toxologischen Versuchen am Nervensystem von Kaltblütern zuwandte, verfolgte Leopoldo Caldini (1725 – 1813) in zahlreichen Froschexperimenten den Einfluss elektrischer Reize auf die Nerven und kam dadurch zu dem Ergebnis, dass die Elektrizität dasjenige Reizmittel ist, das am stärksten erregt und noch wirksam bleibt, wenn alle anderen Reizarten versagen. Caldini war es auch, der als einer der Ersten die „Leydener Flasche“ (der erste, 1746 erfundene Kondensator) bei Tierversuchen verwendete, indem er mit Hilfe eines an diesem Kondensator angeschlossenen Messingdrahtes die Verbindung der Nerven herstellte und auf diese Weise Muskelkontraktionen hervorrief. Trotz dieser erfolgreichen Anwendung der Elektrizität auf das Nervensystem blieben jedoch sowohl Fontana als auch Caldini Hallers autoritärer Ablehnung der Rolle der Elektrizität für die Nerven- und Hirntätigkeit verpflichtet. Im Gegensatz dazu entwickelte sich jedoch eine Forschungsrichtung, in der die elektrische Reizung nicht nur größte Bedeutung erhielt, sondern sogar zur Gleichsetzung von Nervenkraft und Elektrizität führte.
Tierische Elektrizität: Vom Zitterfisch zum Galvanismus Seit der Antike gibt es Berichte über die sog. Zitterfische, deren seltsame Kräfte berechtigtes Staunen hervorriefen. Für die Nervenphysiologie bekamen sie erst dann Bedeutung, als man ihre elektrischen Organe erkannte und deren Funktionsweise auf Grund physikalischer Erkenntnisse erklären konnte. Zunächst glaubte man, dass die Wirkung der Schläge durch Gift (Boyle) oder rein mechanisch (z. B. Borelli) zustande kam. Erst die Erfindung der „Leydener Flasche“ (s. o.) lieferte die richtige Erklärungsgrundlage für die rätselhaften Kräfte dieser Tiere. Die Leydener Flasche besteht aus einer einfachen Wasserflasche, mit der man die sich schnell verflüchtende „elektrische Materie“ speichern konnte. Diese Erfindung war jedoch nicht geplant, sondern eigentlich ein Unfall. Der holländische Physiker Pieter van Musschenbroek aus Leiden wollte einfach nur aus einer elektrisierten eisernen Röhre, an der eine Flasche Wasser hing, „Funken herauslocken“, indem er mit der rechten Hand die Flasche hielt und die andere in die Nähe der Röhre brachte. Durch seine
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schlechte Isolation war er über den Fußboden mit der geerdeten Elektrisiermaschine verbunden. Das ergab den Stromkreis für die Aufladung der Wasserflasche in der rechten Hand. Die linke Hand bewirkte dann die fürchterliche Entladung, die der unglückliche Experimentator so spürte, als ob sein „ganzer Körper wie von einem Blitzschlag getroffen war“ und er fügt in seinem Brief an den französischen Physiker Réaumur, dem er diese „schreckliche Erfahrung“ mitteilte, hinzu: „Ich dachte, es wäre aus mit mir.“ (Fraunberger und Teichmann 1984, S. 65). Die Nachricht von den neuen schrecklichen Erfahrungen mit der Leydener Flasche verbreitete sich durch ganz Europa. Ein brillianter Experimentator am Hofe Ludwigs XV., der Abbé Nollet, der dem Leydener Experiment den Namen gab, wurde von der Pariser Akademie mit der Untersuchung dieser elektrischen Phänomene beauftragt und legte bereits im selben Jahr einen Bericht über seine Experimente vor, die ohne die richtige physikalische Erklärung zu liefern, was erst Benjamin Franklin gelang, großen Einfluss auf die Entwicklung der Elektrophysiologie nehmen sollten. Denn in diesem Bericht (Memoires de l’Academie Royale des Sciences 1746) wies er auf Grund spektakulärer Experimente nach, dass der menschliche Körper ein Leiter für die Elektrizität sein kann. Dieser Transport der Elektrizität kann sowohl „durch eine einzige Person geschehen, welche eine Hand an die Flasche hält, während daß sie mit der anderen Hand einen Funken an dem Führer (d.i. eine Eisenstange) erregt; aber man kann auch diese Mitteilung mit vielen machen, die sich mit der Hand oder sonst aneinander anhalten, und davon die erste die Flasche hält, während die letzte den Führer funkelnd macht; ich habe deren bis auf 300 gebracht mit einem völlig guten Erfolg“ (Nollet 1766, S. 413 f.). Später stellte er sogar fest, dass man ein lebendes Tier, in diesem Fall eine Katze, zu einer Elektrisiermaschine machen kann: „Endlich weiß ich von sicherer Hand, daß jemand eine Erschütterung empfunden hat, die der ähnlich ist, welche den Leydenschen Versuch von anderen unterscheidet, indem die Person mit einer Hand den Rücken einer Katze strich, während daß die andere Hand nicht weit von der Nase des Tieres entfernt war; dieser Erfolg ist selten, dieweil eine zur Elektrizität sehr bequeme Zeit und eine sehr gut zu elektrisierende Katze erforderlich ist; und wenn man die Probe damit machen will, muß man die Katze auf einem seidenen Zeug halten, und solche eine gewisse Zeit lang streichen, ehe man den Finger an deren Nase hält“(a. a. O., S. 415). Um zu beobachten, was in einer organischen Materie geschieht, wenn im Entladungskreis der Leydener Flasche der Funke überspringt, dachte sich der erfinderische Abbé folgendes Experiment aus: Die Frage, die er sich
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stellte war: Was könnte man beim Durchgang des elektrischen Stromes durch unseren Körper sehen, „wenn wir durchsichtig wären wie das Glas und das Wasser ?“ Ein Ersatz für einen solchen niemals durchsichtigen menschlichen Körper, der trotzdem organischer Art ist, findet Nollet in einem rohen Hühnerei. Wenn „die zwei Personen, die den Versuch machen, einander ein rohes Ei darreichen, in der Entfernung von einigen Linien, so sieht man in dem Augenblick der Erschütterung das Äußerste eines jeden von diesen Eiern funkeln, und beide scheinen überdies mit Licht angefüllt, wenn es in der Nacht ist und in einem dunklen Ort“ (a. a. O., S. 406). Nach diesen Variationen der Leydener Experimente bekamen die Erfahrungen, die man mit den Zitterfischen machte, eine neue Bedeutung. Der Erste, der diesen Zusammenhang erkannte, war ein Landsmann des Abbé Nollet, der junge französische Naturforscher und Reisende Michel Adanson (1727 – 1806), der durch seine „universelle Methode“ als Alternative zu Linnnés künstlichem System der Botanik bekannt wurde. Während seiner fünf an den Ufern des Senegal verlebten Jahre bemerkte er am 26. Sept. 1751 bei der Beobachtung des Zitterwelses (Silurus electricus), dass die Wirkung seines Schlages „nicht wesentlich von dem beim Leydener Experiment verschieden sei“ (Adanson 1759, S. 244 f.; vgl. Clarke u. Jacyna 1987, S. 410). Auch der Begründer des nach ihm genannten „Galvanismus“ Luigi Galvani (1737 – 1798) verglich die Muskelfasern mit einer Leydener Flasche und versuchte darüber hinaus die Abhängigkeit der elektrischen Organe vom Gehirn an einem Zitterrochen dadurch zu beweisen, dass er ihm den Kopf abschnitt, worauf die elektrischen Erschütterungen aufhörten. Auf die folgenreiche Idee der Existenz einer „tierischen Elektrizität“ kam er jedoch, wie er selbst berichtete, durch Zufall: „Ich zerlegte einen Frosch, präparierte ihn und legte ihn auf einen Tisch, auf dem eine Elektrisiermaschine stand. Als nun die eine der Personen, die mir zu Hand gingen, mit der Spitze eines Messers zufällig die Schenkelnerven eines Frosches berührte, zogen sich alle Muskeln an den Gelenken wiederholt derartig zusammen, als wären sie von heftigen Krämpfen befallen. Der andere aber, welcher mir bei Elektrizitätsversuchen behilflich war, glaubte bemerkt zu haben, daß sich dies ereignet hätte, während dem Konduktor der Maschine ein Funke entlockt wurde. Verwundert über diese neue Erscheinung machte er mich, der ich etwas gänzlich anderes vorhatte und in Gedanken versunken war, darauf aufmerksam. Hierauf wurde ich von einem unglaublichen Eifer entflammt, dasselbe zu erproben und das, was darunter verborgen war, ans Licht zu ziehen. Ich berührte daher selbst mit der Messerspitze den einen oder den anderen Schenkelnerven und gleichzeitig entlockte einer der An-
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wesenden dem Konduktor einen Funken. Die Erscheinung blieb stets dieselbe. Unfehlbar traten heftige Zuckungen in demselben Augenblick ein, in dem der Funke übersprang“ (Galvani 1791; vgl. Dannemann 1902, S. 204). Weitere Experimente, die dem Nachweis dienen sollten, ob auch die atmosphärische Elektrizität dieselbe Wirkung hervorrufen könnte, führten zu dem erwarteten Ergebnis: Jedes Mal, wenn Blitze hervorbrachen, zuckten die an einem Eisendraht im Freien aufgehängten präparierten Frösche oder präparierte Schenkel von Warmblütern. Zu seiner „nicht geringen Verwunderung“ traten aber solche Zuckungen in einem geschlossenen Zimmer auch in Abwesenheit einer Elektrisiermaschine auf, wenn er ein passend hergerichtetes, d. h. enthäutetes Tier, auf eine Eisenplatte legte und den im Rückenmark befindlichen Hacken dagegen drückte. Dieses Resultat „ließ die Vermutung in uns aufsteigen, daß dem Tiere selbst Elektrizität innewohne“ (Galvani 1791; vgl. Dannemann 1902, S. 207). Mit seinen Versuchen an Torpedos, d. h. Zitterrochen, bei denen er auch die versorgenden Nerven durchschnitt, wodurch ebenfalls wie bei der Enthauptung die Wirksamkeit der elektrischen Organe aufgehoben wurde, kam er zur Überzeugung, dass das Gehirn aller Tiere im Stande wäre, die zur Muskeltätigkeit nötige „tierische Elektrizität“ hervorzubringen, die dann vom Gehirn aus durch die Nerven in alle Körperteile ströme. Die Identität des lang gesuchten Nervenagens mit der Elektrizität war für ihn damit klargestellt: „I nervi sono i naturali, e particolari conduttori di detta ellectricità“ („Die Nerven sind die natürlichen und eigentümlichen Leiter dieser besagten Elektrizität.“; vgl. Neuburger a. a. O., S. 224). Dieser Identifizierung des Nervenagens als tierischer Elektrizität folgte Alexander von Humboldt, der umfangreiche Untersuchungen über gereizte Nerven- und Muskelfasern anstellte und an Insektengehirnen Versuche vornahm, um die Reizbarkeit des Seelenorgans zu überprüfen. Dass er weder an Insektenhirnen noch an denen von warmblütigen Tieren oder Amphibien Zuckungen erzeugen konnte, führte er weniger auf die Mangelhaftigkeit der Apparate, die er dabei benutzte, zurück als auf die spezifische Anlage des Gehirns und seiner eigentümlichen Energie: Denn ein Sensorium, wie es das Gehirn ist, ist nach seiner Meinung ebenso wenig zu Bewegungen als zum Verdauen bestimmt. Und resigniert stellt er fest: „Ob durch solche Reizung in dem Seelenorgan Vorstellungen erregt, ob der Zusammenhang derselben unterbrochen wird, liegt außer der Grenzen objektiver Wahrnehmung und bleibt so unausdenkbar als der Zusammenhang zwischen Bewegung und Perception überhaupt“ (Humboldt 1797; vgl. Neuburger 1897, S. 225). Neuen Auftrieb für die Bedeutung der tierischen Elektrizität bekam jedoch Humboldt durch die Entdeckung der südamerikanischen Zitteraale.
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Während der schon in der Antike erwähnte, weil in europäischen Meeren beheimatete Zitterrochen (Torpedo) und der von Adanson beschriebene Zitterwels bereits bekannt waren, hatte man von dem Zitteraal (Gymnotes electricus) in Europa erst seit dem Jahre 1671 Kenntnis bekommen. Die besondere elektrische Kraft, die man ihm zuschrieb, erregte großes Aufsehen. Man zweifelte aber an der Wahrheit dieser Berichte und lächelte über die Leichtgläubigkeit der Reisenden. Erst als es gelang, diese Fische nach Europa zu bringen, was schon deswegen sehr mühsam war, weil sie ständig frisches Wasser benötigten, gelang John Walsh (1725 – 1795) der Nachweis der elektrischen Eigenschaft durch den „so sehr gesuchten Funken“ (Wilhelm 1799, S. 190), den man dem Fisch entlocken konnte. Nicht nur die klassischen Funkenexperimente, sondern auch die Experimente, die der Abbé Nollet mit mehreren Personen als Entladungskreis einer Leydener Flasche durchgeführt hat, wurden mit dem Zitteraal wiederholt: „Acht und mehr Personen, die sich anfassen, werden, sobald die erste den Kopf des Fisches berührt, die letzte aber ihr Hand bloß in das Wasser hält, in dem sich der Fisch befindet, eine starke Erschütterung mit Blitzesschnelle fühlen.“ (a. a. O., S. 191) Um sich zu überzeugen, dass hierbei nicht nur menschliche Einbildung im Spiel ist, hat man auch einen Hund in diesen Personenkreis eingereiht, den die ihm zunächst Stehenden auch anfassen mussten: „Sowie der Schlag geschah, schrie und heulte das arme Tier entsetzlich“ (ebd.). Auch für Alexander von Humboldt, der mit seinen „Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser“ (1797) diesen elektrischen Phänomenen, wie er selbst später sagte (Humboldt 1860, S. 161), „so viele Jugendjahre mühevoll und hoffend gewidmet hatte“, waren die Zitteraale, die er erstmals selbst auf seiner Südamerikareise (1792) antraf, „lebendige elektrische Apparate“, die sein Interesse besonders erregten: „Mit der Begeisterung, die zum Forschen treibt, aber der richtigen Auffassung des Erforschten hinderlich wird, hatte ich mich seit Jahren täglich mit den Erscheinungen der galvanischen Elektrizität beschäftigt; ich hatte, indem ich Metallscheiben aufeinanderlegte und Stücke Muskelfleisch oder andere feuchte Substanzen dazwischen brachte, mir unbewusst, echte Säulen aufgebaut, und so war es natürlich, dass ich mich seit unserer Ankunft in Cumana eifrig nach elektrischen Aalen umsah“ (Humboldts Reise in die Aequinoktial-Gegenden, S. 293 f.). Am 19. März 1792 wurde seine unermüdliche Suche durch eine „seltsame Fischerei“, welche die Indianer mit ungezähmten Pferden und Maultieren veranstalteten, belohnt: Von den Indianern ins Wasser getrieben verursachten die Rosse durch ihr Stampfen einen derartigen Lärm, dass die Zitterale aus dem Schlamm, wo sie sich gewöhnlich aufhalten, hervorgelockt und
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zum Angriff gereizt wurden: „Die schwärzlich und gelb gefärbten, großen Wasserschlangen gleichenden Aale schwimmen auf der Wasserfläche hin und drängen sich unter dem Bauch der Pferde und Maultiere....Betäubt vom Lärm, verteidigen sie sich durch wiederholte Schläge ihrer elektrischen Batterien“ (a. a. O., S. 296). Von der Wirkung dieser Schläge konnte sich Humboldt selbst überzeugen, als er sah, wie ein 1,6 m langer Aal sich einem Pferd an den Bauch drängte und ihm nach der ganzen Länge seines elektrischen Organs einen Schlag versetzte: „Das Herz, die Eingeweide und der Plexus coeliacus der Abdominalnerven werden dadurch zumeist getroffen“ (a. a. O., S. 296). Mit dieser fachmännischen Diagnose erklärt auch Humboldt, warum der Fisch weit stärker auf ein Pferd als auf einen Menschen wirkt, wenn dieser ihn nur mit einer Extremität berührt. Dass diese Wirkung trotzdem noch sehr heftig ist, musste Humboldt am eigenen Leib erfahren: „Ich erinnere mich nicht, je durch die Entladung einer großen Leidner Flasche eine so furchtbare Erschütterung erlitten zu haben wie die, als ich unvorsichtiger Weise beide Füße auf einen Gymnotus setzte, der eben aus dem Wasser gezogen worden war. Ich empfand den ganzen Tag heftigen Schmerz in den Knieen und fast in allen Gelenken“ (a. a. O., S. 297). Die Experimente, die Humboldt mit diesem Zitteraal durchführte, zeigten aber auch, dass er nicht mit einer gewöhnlichen elektrischen Maschine zu vergleichen ist, denn er kann seine Schläge willkürlich austeilen. Hält man, laut Humboldt, zwei Leiter aber nur einen Zentimeter voneinander an den feuchten Leib, so empfängt bald der eine, bald der andere einen Schlag. Auch den scheinbaren Widerspruch zwischen mehreren Beobachtern, von denen der eine erklärte, der Schlag gehe nicht durch das Wasser, auch wenn man den Finger bis auf einen Millimeter dem Fisch nähert, während andere noch eine Wirkung in einer Entfernung von drei oder sogar sechs Metern spürten, erklärt Humboldt durch die Annahme: „Alles hängt vom Belieben des Tieres ab“ (Brehms Tierleben, 1879; Fische, S. 323). Ein weiterer Hinweis auf die Verbindung zwischen Gehirn und elektrischen Organen des Fisches, erkennt man dadurch, dass nach Abtrennung des Kopfes die elektrische Wirkung endigt. Eine genaue anatomische Untersuchung der elektrischen Organe, die sowohl am Zitteraal als auch vom Zitterrochen vor allem von John Walsh (1773) durchgeführt wurden, zeigte deutlich, dass es sich bei der Zitterfischen tatsächlich um eine lebende Elektrisiermaschine handelt, die nicht nur Elektrizität speichert, sondern sie auch selbst hervorbringt. Dem Anatomen Hunter wurde schließlich die genauere Kenntnis der Einrichtung dieser „lebenden Elektrisiermaschine“ zugeschrieben: „Eine Menge Säu-
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len, die eine Art von Netz zusammenhält, bilden ein Ganzes, das fast dem Zellengebäude des Bienenstocks gleicht. In einer zählte er über 150 Abteilungen und eine ungeheure Menge Nerven“ (Wilhelm 1799, S. 17 f.). Ebenso wurden auch die elektrischen Organe des Zitteraals erforscht, von denen man zunächst annahm, dass sie sich am Kopf befinden. Eine genauere anatomische Untersuchung ergab, dass es sich um vier an der Bauchseite des Aals liegende Organe handelt, die ein Drittel des Gesamtgewichtes des Fisches ausmachen. Sie bilden eine hell rötlich gelbe, weiche, durchscheinende Masse und bestehen aus Längsbündeln, die ihrerseits aus einer großen Anzahl häutiger, nahe aneinander liegender, fast waagrechter Plättchen zusammengesetzt und durch Längshäute in Zellen geteilt sind (vgl. Brehm 1879, S. 320). Es war gerade diese komplizierte Anordnung von einzelnen Elementen, die den großen Gegner der tierischen Elektrizität Alessandro Volta (1745 – 1827) die Anregung zum Bau seiner nach ihm benannten Säule gab, wie folgendes Zitat aus seinem Brief an den Präsidenten der Royal Society (Phil. Trans. of the Royal Society, 1800, S. 403 – 431) beweist: „Diesen Apparat, welcher in seiner Art und wie ich ihn konstruiert habe, auch in seiner Gestalt mit dem natürlichen elektrischen Organ des Zitterrochens und des Zitteraals mehr Ähnlichkeiten besitzt als mit der Leydener Flasche und den bekannten elektrischen Batterieen, möchte ich ein künstliches elektrisches Organ nennen. Und in der Tat, besteht er nicht wie dieses einzig und allein aus leitenden Substanzen ? Ist er nicht ferner wirksam aus sich selbst heraus ohne vorherige Ladung ? Ist er nicht endlich fähig in jedem Augenblick je nach Umständen mehr oder weniger starke Schläge zu geben, welche sich bei jeder Berührung wiederholen“(übers. von Dannemann 1902, S. 211). Mit der Entdeckung der Voltaschen Säule war aber auch zugleich ein Argument gegen die Existenz der tierischen Elektrizität gegeben. Denn Volta konnte mit seiner Konstruktion, die er den Zitterfischen abgeschaut hatte, demonstrieren, dass die tierische Elektrizität, die sich dadurch auszeichnete, dass sie von selbst entstand, nur eine Art von „Kontaktelektrizität“ war, die man durch bloße Berührung von unterschiedlichen Metallen mit oder ohne Zuhilfenahme einer feuchten Zwischensubstanz erzeugen konnte. Trotzdem setzten die Anhänger der Lehre von der tierischen Elektrizität ihre Versuche in grotesker und zum Teil auch schauerlichen Art und Weise fort. An die Stelle der viel schwächeren Leydener Flasche trat die Voltasche Säule als Hauptinstrument für die Reizung des Nervensystems. Der hartnäckigste Verfechter der tierischen Elektrizität war der Neffe Galvanis Giovanni Aldini (1762 – 1834). Er war der Überzeugung, dass das Gehirn selbst elektrisch reizbar ist und auf diese Weise gereizt Muskelbe-
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wegungen hervorruft. Bei seinen zahlreichen Versuchen verwendete er verschieden konstruierte Säulen, aus Silber- und Zinkplatten bestehend, an die er zwei Drähte anschloss. Mit diesen Drähten als elektrische Leiter reizte er die Köpfe von frisch geschlachteten Rindern, Kälbern, Lämmern, Ziegen, Hunden, Pferden und schließlich führte er auch Versuche an den Köpfen von enthaupteten Menschen durch. Darunter waren nicht nur Verbrecher, sondern auch Menschen, die eines natürlichen Todes gestorben waren oder auch Frauen, die bei der Geburt eines Kindes um ihr Leben gekommen waren (vgl. Neuburger 1897, S. 226, Brazier 1959, S. 47, Finger 1994, S. 432). Gewöhnlich ging er so vor, dass er den einen Draht in das mit Kochsalzwasser angefeuchtete Ohr oder Nasenloch steckt und den anderen Draht an verschiedenen Stellen des freigelegten Gehirns anlegte. Alle diese Hirnabschnitte, besonders aber der Balken und das Kleinhirn, erwiesen sich als sehr erregbar, indem bei Schließung und Öffnung des Stromes Zuckungen in der Gesichts- und Extremitätenmuskulatur hervorgerufen wurden. In einer seiner Schilderungen der Versuche an Menschenköpfen heißt es: „Ich entblößte die Rindensubstanz der linken Gehirnhälfte und brachte diese und das rechte Ohr in die Kette; die Bewegung zeigte sich an der rechten Seite des Gesichtes sehr deutlich“ (Aldini 1804; vgl. Neuburger 1897, S. 226). Zu einer regelrechten Konjunktur dieser Experimente mit Menschenköpfen (vgl. Hagner 1997, S. 186) kam es auch in Paris mit der Einführung der Guillotine am 20. März 1792. Schon in der konstituierenden Versammlung der französischen Revolution am 1. Dezember 1789 hatte der Arzt Joseph Ignaz Guillotin seine Erfindung angeboten. Er beschrieb seine Maschine bis ins Detail und fügte dann im übersprudelnden Eifer hinzu: „Mit meiner Maschine schlage ich Ihnen in einem Augenblick den Kopf ab, ohne daß sie dabei leiden“ (Quanter 1901, S. 224). Die Frage erhob sich aber dann, ob nicht auch in dem abgeschlagenen Kopf noch Sensibilität und Bewußtsein vorhanden und somit Schmerzempfindung möglich sei. Diese Fragestellung hat in der Geschichte der Menschheit eine lange Tradition. Bereits in der aus dem neunten Jahrhundert stammenden persisch-arabischen Märchensammlung ›Tausend und eine Nacht‹ wird von einem Hingerichteten erzählt, dessen abgeschlagener Kopf zur Blutstillung auf ein Pulver gesetzt noch fähig war, zumindest eine kurze Zeit lang an ihn gestellte Fragen zu beantworten, bevor er gänzlich leblos wurde (Tausend und eine Nacht. 1. Bd., S. 49). In der französischen Revolution war kein Mangel an Untersuchungsmaterial. Fast täglich fanden Hinrichtungen statt und in wenigen Minuten wurden die Leichen in die gemieteten Räume des Friedhofsaufsehers gebracht,
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wo unmittelbar die galvanischen Experimente mit den Köpfen der Guillotinierten beginnen konnten. Dass solche Versuche zu dieser Zeit in Frankreich problemlos gestattet wurden, war nicht verwunderlich. Denn einer der blutrünstigsten Vertreter der französischen Revolution, Jean Marat (1743 – 1793), war selbst, bevor er sich der Politik zuwandte, ein praktizierender Arzt gewesen, der nicht nur elektrotherapeutische Methoden – jedoch ziemlich erfolglos – verwendete, sondern auch eine umfangreiche theoretische Abhandlung über medizinische Elektrizität veröffentlichte, die den ersten Preis der königlichen Akademie zu Rouen erhielt. Die therapeutische Anwendung der Elektrizität wurde zu dieser Zeit auch von so berühmten Leuten wie Linné empfohlen, der glaubte, dass die Taubheit, die durch verhärtetes Ohrenschmalz entsteht, dadurch zu kurieren sei, dass man eine metallenen Stab ins Ohr steckt und diesen elektrisiert. Wie Aldini führte auch Alessandro Volta Selbstversuche durch, indem er den Strom seiner Säule durch seine Ohren leitete; was nach seinen eigenen Worten zu einer „gefährlichen Erschütterung des Gehirns“ führte (vgl. Frauenberger u. Teichmann 1984, S. 89). Die Versuche mit den Köpfen von enthaupteten Verbrechern setzte sich auch in Deutschland durch. So veranstaltete man im Jahre 1803 in Mainz an den hingerichteten Mitgliedern der Schinderhannes-Bande Aufsehen erregende Experimente mit Hilfe der Leydener Flasche. Nach Schädeleröffnung wurden die beiden „Hirnhälften bis zum größten Umkreis des Marks weggenommen. Die negative Kette wurde auf die eine, die positive auf die andere Hirnhälfte angebracht, und die große Flasche entladen. Auf die ersten Schläge sah man mehrmals starke Bewegungen in den Muskeln des ganzen Gesichts“ (Galvanische und elektrische Versuche an Menschen- und Tierkörpern. 1804, S. 45 f., Hagner 1997, S. 187). Im selben Jahr ordnete der König von Preußen Friedrich Wilhelm III in zwei Kabinettschreiben an, dass Versuche dieser Art in Zukunft nur noch nach behördlicher Genehmigung und bei Vermeidung jeglichen öffentlichen Ärgernisses erlaubt sein sollen, was praktisch einem Verbot gleichkam (vgl. Schwanitz 1983, S. 39 f.). Der Kommentar von Hufeland zu dieser Anordnung zeigt deutlich das wachsende moralische Verantwortungsbewusstsein der Ärzte zu dieser Zeit: „Es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß ein enthaupteter Kopf, wenn er unmittelbar nachher mit starken Reizen behandelt wird, Empfindungen mit Bewußtsein und folglich schmerzliche Gefühle, haben kann. Man kann ihn also noch nach dem Tode martern – und das ist gewiss unrecht, grausam und gegen den Willen des Gesetzes“ (Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst, Bd. 17. 3, S. 26 f.)
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Schon vorher gab es aus diesen Gründen Kritik an der Guillotinierung, bei der das Gehirn unversehrt blieb. So empfahl Carl Fr. Clossius in einer Schrift über die Enthauptung aus dem Jahre 1797 (Tübingen) aus Gründen der Menschlichkeit eine andere Form von Todesart, in welcher „der Todesstreich und die gänzliche Zerstörung“ des natürlichen Aufbaus des Gehirns zusammentreffen (vgl. Hagner 1997, S. 189). Dass solche auf die Zerstörung des Gehirns ausgerichteten Hinrichtungsmethoden, die auch schon längst vor diesem Vorschlag praktiziert wurden, nicht weniger grausam sein können, zeigt die Hinrichtung einer vierfachen Mörderin im Jahre 1770. Im 33. Teil des ›Neuen Pitaval‹ (1872) wird berichtet, dass der Henker zunächst den Nagel so weit in den Kopf trieb, dass er noch eine Handbreite herausragte. Daraufhin hob die Delinquentin „beide Arme in die Höhe und faßte sich in die Haare nahe bei dem Nagel, als wollte sie ihn herausziehen“. Erst als ihr der Nagel noch tiefer in den Kopf getrieben wurde, so daß die Spitze nahe bei der Gurgel unter dem Kinn hervorkam „veränderte sich ihre Gesichtsfarbe und erst dann lag sie stille“ (vgl. Winkler u. Schweikhart 1982, S. 173 f.). Da die königlich-preußische Anordnung aus dem Jahre 1804 zwar eine drastische Einschränkung aber nicht eigentlich ein absolutes Verbot der Experimente an Enthaupteten war, schlug der königlich-preußische Regierungs- und Medizinalrat Carl August Weinhold (1782 – 1829), einer der radikalsten Vertreter der Identität von Elektrizität und Nervenagens in Deutschland, vor, dass zum Tode Verurteilte zu „rationalen Versuchen“ verwendet werden sollten, „wo wir gewiß bessere Resultate erhalten, als die öffentlichen geräuschvollen Hinrichtungen jemals hervorbringen vermögen“ (Weinhold 1817, S. 305; vgl. Hagner 1997, S. 188). Weinhold war es auch, der radikaler noch als Galvani und Aldini, das Gehirn als eine elektrische Batterie auffasste und dies durch folgendes schauerliche Horrorexperiment zu beweisen versuchte: Er bohrte einem Kätzchen am Hinterhaupt eine Öffnung und entnahm mittelst eines durch diese Öffnung eingeführten Löffels Groß- und Kleinhirn. Sodann zerstörte er das Rückenmark mit Hilfe einer Schraubensonde, worauf das Tier „alles Leben, alle Sinnesfunktionen, die Bewegung der willkürlichen Muskeln und nach und nach alle Pulsation“ verlor. Als Weinhold hierauf beide Höhlen mit Amalgam von Zink und Silber ausgefüllt hatte, „geriet das Tier an zwanzig Minuten lang in solche Lebensspannung, daß es den Kopf hob, die Augen öffnete, einige Zeit starr vor sich hinblickte, in einer kriechenden Stellung zu gehen versuchte, einige Male wieder zusammensank, sich endlich mit sichtbarer Anstrengung erhob, herumhüpfte und dann erschöpft niedersank. Das Schlagen des Herzens und die gesammte Pulsation, sowie der
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Kreislauf waren hiebei bedeutend lebhafter... auch die tierische Wärme hatte sich vollkommen wieder eingestellt“ (vgl. Neuburger 1897, S. 227). Dass durch solche Experimente der Galvanismus, die Lehre von der tierischen Elektrizität auf Abwege geraten war, die schließlich in Horrorphantasien endeten, lässt sich deutlich an Mary Shelleys berühmter Geschichte ›Frankenstein‹ demonstrieren, deren Untertitel, ›The modern Prometheus‹, ganz offensichtlich auf eine Charakteristik Bonnets zurückzuführen ist, der in seiner ›Palingenesie philosophique‹ die Vertreter der tierischen Elektrizität als die „nouveaux Prométhées“ bezeichnet (Œvres Tom. XVI, S. 141 Neuchatell, 1783), eine Formulierung die allerdings auch de La Mettrie im Bezug auf Vaucansons Flötenspieler verwendet hat (vgl. de La Mettrie 1971, S. 92). Im Vorwort zu einer dritten Auflage ihres Romans gibt Mary Shelley an, dass die Gespräche über das „Wesen des Lebens“ am Genfer See, an denen auch Lord Byron beteiligt war, ihr die entscheidende Anregung gegeben haben. Sie beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf die galvanischen Experimente: „Einen Leichnam könnte man vielleicht wieder beleben; dafür hat der Galvanismus Belege geliefert. Vielleicht könnten auch die passenden Teile bearbeitet, zusammengebracht und mit Lebenswärme versehen werden“ (Shelley 1961, S. VIII).
Die Wiedergeburt der alten Ventrikellehre: Soemmerings Seelenorgan Während die in vielen Varianten vorliegenden Darstellungen der mittelalterlichen Ventrikeltheorien, die vom 13. Jahrhundert an bis zu Beginn des 16. Jahrhundert reichen und in einzelnen Fällen sogar noch im 18. Jahrhundert auftreten, keine genauen anatomischen Kenntnisse aufweisen, ja sogar in den Angaben über die Zahl der Gehirnhöhlen oder „Bäuche“ zwischen 3, 4, 5 und 6 schwanken, beruht die Erneuerung der Ventrikellehre durch Samuel Thomas Soemmering (1755 – 1830) auf den damaligen Höchststand hirnanatomischer und hirnpathologischer Untersuchungen. Zugleich war Soemmering, wie seine Schriften zeigen, ein ausgezeichneter Kenner der antiken Tradition und ihrer spekulativ-metaphysischen Theorien. Sein zeitgenössischer philosophischer Gewährsmann war jedoch Immanuel Kant (1724 – 1804). Wie er selbst am Beginn seiner Kant gewidmeten Schrift ›Über das Organ der Seele‹ (1796) schreibt, war die Veranlassung zur Erneuerung der „dunklen Lehre vom proton aistheterion“ oder „sensorium commune“ (Soemmering 1796, S. 4) oder wie er diesen griechischen und lateinischen
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Ausdruck ins Deutsche übersetzt, vom „gemeinschaftlichen Empfindungsort“, seine eigenen mühsamen und ununterbrochenen Untersuchungen über das menschliche Gehirn und vor allem „die Verfolgung der Ursprünge der Hirnnerven“. Die Idee, dass dieser gemeinschaftliche Empfindungsort in der „Feuchtigkeit der Hirnhöhlen bestehe, oder in selbiger enthalten sein müßte“ (a. a. O., S. 1), kam ihm aber erst zu jenem Zeitpunkt, als es ihm gelang, seine „neue richtige Abbildung des Profildurchschnitts des Hirns“ in einem anatomischen Tafelwerk zu liefern, in dem er „die Höhe“ zeigen wollte, „auf welche die Kenntnis vom Baue unseres Körpers in diesem Jahrhunderte gebracht worden ist“ (a. a. O., S. 2). Die Darstellung des Ventrikelsystems, die er seiner Schrift über das Seelenorgan zur Illustration seiner Theorie beifügte, zeichnet sich durch eine Klarheit und Genauigkeit aus, wie sie auch später nicht übertroffen worden ist (vgl. Abb. 8). Es handelte sich also bei dieser Wiedergeburt der alten Ventrikellehre nicht um einen unbegründeten Rückfall in eine rein spekulative Ansicht, die weit von jeder hirnanatomischen Realität entfernt war, sondern um eine sich ihm durch anatomische Untersuchungen „an einer Menge ganz frischer Gehirne“, zu denen ihm „der Krieg mehr als überflüssige Gelegenheit schaffte“, aufdrängende Konsequenz: Als er nämlich versuchte, die „wahren Grenzen und die wahre Form der Hirnhöhlen“ zu bestimmen, stellte er auch fest, dass die „wahren Ursprünge“ oder „Hirnendigungen“ der Nerven, denen er seit seiner Inauguraldissertation nachspürte, an den „Wänden der Hirnhöhlen liegen und mittels der hier befindlichen Flüssigkeit, als eines einfachen, zusammenhängenden, ihnen gemeinschaftlichen Mitteldinges, wirklich verbunden oder vereinigt werden“ (a. a. O., S. 37). Damit war für ihn die Lösung nach dem Sitz oder dem Organ der Seele gegeben: „Nehmen wir als ausgemacht an, daß es eine gemeinschaftliche Empfindungsstelle (Sensorium commune) gibt; und daß solche sich im Hirne findet: so glaube ich – läßt es sich wahrscheinlich machen, wo nicht beweisen: Daß dies Sensorium commune in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen (Aqua Ventriculorum Cerebri) bestehe, oder in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen sich finde, oder wenigstens in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen gesucht werden müsse; kurz: daß die Flüssigkeit der Hirnhöhlen das Organ desselben sei“ (a. a. O., S. 32). Nach Soemmerings Kenntnissen harmoniert auch die vergleichende Anatomie, soweit sie sich auf das Gehirn bezieht, mit dieser Vermutung. Denn es gibt kein Tier, welches nur einigermaßen so geräumige oder so geformte Hirnhöhlen wie der Mensch besitzt. Sogar bei allen Affenarten sind sie sehr auffallend von den menschlichen Hirnhöhlen verschieden. Bei allen Säugetieren, die er selbst zergliederte, sind sie kleiner als beim Menschen,
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Abb. 8: Darstellung des Ventrikelsystems nach Soemmering (1796)
noch kleiner bei den Vögeln und bei den Fischen sind sie am kleinsten und bei den Insekten fehlen sie ganz. Auch beim Menschen selbst gibt es sowohl entwicklungsgeschichtlich als auch individuell Unterschiede: Je feuchter ein Gehirn ist, umso besser ist das Gedächtnis und die Lernfähigkeit ausgeprägt. Das ist vor allem beim Kinderhirn der Fall, das feuchter und daher auch weicher als das der Erwachsenen ist und bei dem „auch die Flüssigkeit der Hirnhöhlen dünner, beweglicher, zur Wirkung und Gegenwirkung geschickter ist“ (a. a. O., S. 53). Das erklärt auch für Soemmering, dass Kinder „in ihren ersten Lebensjahren verhältnismäßig weit mehr als in dem folgenden, merken, behalten, lernen, vergleichen, urteilen – und: daß, wenn manche Kinder in dem Verhältnis fortfahren sollten, in dem sie anfingen, sie Riesen am Verstande werden müßten“ (ebd.). Er scheut sich auch vor der konsequenten Behauptung nicht zurück, dass man bei Personen die an Hirnhöhlenwassersucht leiden und daher mehr Flüssigkeit als gewöhnlich in ihren Hirnhöhlen haben, „vorzügliche Geis-
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teskräfte antreffen kann, wenn nicht bei diesen Hydrozephalen oder Wasserköpfen der Schädel durch dieses vermehrte Wasser so auseinadergetrieben oder verdichtet ist, daß er das Hirn zusammendrückt und Stumpfsinn und Dummheit veranlaßt“ (a. a. O., S. 55). Abgesehen von diesen pathologischen und vergleichend anatomischen Befunden verrät aber auch die auffallende Verschiedenheit der Versuche der neuzeitlichen Hirnanatomen, den Sitz der Seele und der geistigen Kräfte in einem soliden Teil der Hirnmasse, wo sich alle Nerven konzentrieren, zu finden, dass hier keine anatomische Sicherheit vorhanden war. Denn wäre irgend eine dieser Meinungen über den Ort der Seele, die Soemmering aufzählt, richtig – in der Zirbeldrüse (Descartes), im Balken (Bonnet La Peyronie u.a), im gestreiften Hügel (Willis), im Kleinhirn (Drelincourt), im Hirnknoten (Haller, Wrisberg) und in anderen Hirnteilen bis hin zum Rückenmark (Mieg u. a.) –, dann hätten ja schon längst alle Zweifel darüber aufgehört. Soemmering blieb es, wie er selbst sagt, immer unbegreiflich, wie man dieses Sensorium commune in einem „sog. soliden Teil“ oder besser gesagt, einem „starren rigiden Teil des Hirns“ suchen konnte. Denn wie sollte so etwas von der materiellen „Bewegung der Nerven“ – gleichgültig, ob man sich darunter „Schwingungen, Vibrationen, Oszillationen, Erzitterungen, Kollisionen“ von soliden festen Nerven oder ein „Fortrinnen oder Fließen einer Flüssigkeit“ im hohlen Nervenröhren oder ein Ziehen oder dergleichen sich vorstellt, – völlig Verschiedenes wie es die Empfindung ist, in der festen Hirnmasse entstehen, die ja von der gleichen materiellen Beschaffenheit und Einrichtung wie die Nerven selbst ist ? Nimmt man aber wie Soemmering an, dass die durch den Nerven nach dem Hirn zu erfolgende Bewegung zwar bis zu seiner Hirnendigung die gleiche bleibt, aber dort wo der Nerv aufhört, sie sich der Hirnhöhlenfeuchtigkeit mitteilt, „so wird wenigstens begreiflich, daß nun etwas gar sehr Verschiedenes – eine Empfindung nämlich – entstehen kann; ungeachtet man weder das, was eigentlich geschieht, noch die Art, wie es geschieht, anzugeben vermag“ (a. a. O., S. 36). Ein weiteres Argument für die große Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese liegt nach Soemmering darin, dass die Hirnendigungen der Nerven von so verschiedenen Sinnen, wie der Gesichtssinn und das Gehör, zwar so entfernt voneinander liegen, dass am vorderen Ende des Hirnhöhlensystems das Sehnervenpaar und am hinteren Ende das Hörnervenpaar endigt, dass aber letzten Endes „ein und demselben Wesen“ nämlich der darin enthaltenen Flüssigkeit an verschiedenen Stellen Verschiedenes mitgeteilt wird und dadurch auch verschiedene Empfindungen entstehen. Die Flüssigkeit der Hirnhöhlen ist also das „Medium uniens“, das vereinigende Mittel-
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ding, das sowohl die verschiedenen Sinnesgebiete zusammenführt als auch verschiedene Empfindungen entstehen lässt. Damit stellt sich aber für Soemmering, wie er selbst sagt, eine Frage „der transzendentalsten, bis in die fernsten Gefilde der Metapyshik führenden Physiologie“ – nämlich: „Kann eine Flüssigkeit animiert sein ?“ Und zwar, wie man hinzufügen muss: eine Flüssigkeit, von der man seit Vesal weiß, dass sie nicht vielmehr als bloßes Wasser ist und die Willis, für den die Hirnventrikel nichts anders sind als die Kloaken des Gehirns, sogar nur als Abwässer versteht. Soemmering weiß selbst sehr genau, dass jede Antwort auf diese Frage die empirische Erfahrung übersteigen muss und daher im Sinne von Kant, den er in diesem Zusammenhang ausdrücklich zitiert, „eigentlich nicht eine physiologische, sondern eine transzendentale“ Aufgabe ist (a. a. O., S. 38). Trotzdem wagt er eine Erklärung, die dieses philosophische Problem auf einer naturwissenschaftlichen Basis zu beantworten versucht, die weit über die Physiologie bis in die Grundlagen der Physik und Kosmologie vordringt. Die philosophische Leitidee stammt jedoch von Kant, trotz einer weit bis zum Urprinzip „Wasser“ des Thales von Milet zurückreichenden ideengeschichtlichen Argumentation, in der er sowohl den „großen Aristoteles“ als auch die „Heilige Schrift“ zitiert, die den Geist Gottes über den Wassern schweben lässt. Denn Kant teilt Soemmering in einem Schreiben an ihn mit, dass es in dieser Fragestellung nach einem Sensorium commune hauptsächlich darum geht, „durch die Gehirnstruktur begreiflich zu machen“, wie es möglich ist, Einheit „in das unendlich Mannigfaltige aller sinnlichen Vorstellungen des Gemüts zu bringen“ (a. a. O., S. 45). Das heißt konkret in Kant eigenen Worten ausgedrückt, wie „z. B. die Gesichtsvorstellung von einem Garten, mit der Gehörvorstellung einer Musik in demselben, dem Geschmack einer da genossenen Mahlzeit usw. zusammengebracht werden kann, ohne daß sich dabei diese unterschiedlichen Vorstellungen verwirren“, was der Fall sein würde, wenn sich die Nervenbündel in einem festen Hirnteil durch wechselseitige direkte Berührung gegenseitig affizieren. Daher ist auch für Kant einsichtig, dass das Wasser der Hirnhöhlen den Einfluss des einen Nerven auf den anderen vermittelt und durch dessen „Rückwirkung, die Vorstellung, die diesem korrespondiert, mit der Vorstellung der ersteren verbinden kann, ohne daß sich diese Eindrücke vermischen, so wenig wie die Töne in einem vielstimmigen Konzert vermischt durch die Luft fortgepflanzt werden“ (a. a. O., S. 46). Dieser sicherlich von Kant nur als Analogie gemeinte Zusatz wird jedoch von Soemmering zur Grundlage einer physikalischen Theorie der „Schwingungsformen“ der Nerven gemacht. Sie besagt, dass jeder Sinn ihm eigene,
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von denen der übrigen Sinne verschiedene „Schwingungsformen der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen mitteilen kann“ (ebd.). Er beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Versuche von Chladni, der solche, jedem Ton eigene Schwingungsformen auf mit Sand bestreuten Glastafeln sichtbar machte. Dass sich diese durch verschiedene Töne hervorgerufenen Schwingungsformen auch auf der Oberfläche des Wassers zeigen, ist für Soemmering ein weiteres Argument für seine Hypothese, dass diese unterschiedlichen Vibrationen oder Oszillationen der Hörnerven oder Sehnerven sich im Wasser der Hirnhöhlen weiter fortsetzten, ohne sich dort zu vermischen. Bei diesem Übergehen der durch die Nerven erfolgenden Bewegungen aus den soliden Hirnendigungen der Nerven in die Feuchtigkeit der Hirnhöhlen entstehen die Empfindungen, die entsprechend ihren Schwingungsformen unterschiedliche Qualitäten besitzen. An dieser Stelle der Argumentation zeigt sich nun deutlich der große Unterschied zur alten Ventrikellehre, die untrennbar mit der aristotelischen Pneumatheorie oder der Lehre von den Spiritus animales verbunden war. Von den Spiritus animales, die auch die Ventrikeltheorie des Mittelalters überdauerten und nicht nur bei Descartes und Willis, sondern auch noch bei Haller als ätherische Flüssigkeiten auftreten, ist bei Soemmering selbst nicht mehr die Rede. Die Bedeutung dieser grundsätzlichen Veränderung kann man nur dann einsehen, wenn man sie auf der tieferliegenden Ebene der physikalischen Grundlagen betrachtet, auf der auch die ursprüngliche Pneumatheorie des Aristoteles beruht. „Pneuma“ ist für Aristoteles ein allgemeines Erklärungsprinzip, dass nicht nur als Spiritus animalis für beseelte Organismen gültig ist, sondern auch die gesamte unbelebte Natur im Innern der Erde als Erdbeben, über der Erde als meteorologische Erscheinungen und im Weltall als kosmische Erscheinungen – bestimmt. So unterschiedlich die Erscheinungsformen dieser Phänomene auch sein mögen, sie haben eines gemeinsam: In jedem Fall, auch bei den Bewegungen der Spiritus animales handelt es sich immer um einen Massentransport von einem Ort zum anderen. Die Theorie der Schwingungsformen der Nerven und ihre Transformation im Medium der Ventrikelflüssigkeit zu unterschiedlichen Formen der Empfindung ist daher mit jenem Paradigmawechsel in der Erdbebentheorie zu vergleichen, der sich ebenfalls mit der Abkehr von der aristotelischen Pneumalehre und der Anwendung der Theorie der Schall- und Wasserwellen auf die Phänomene der Erdbebenerscheinungen vollzog: Es ist der Übergang von einer mechanischen auf den geometrischen Raum und der ihn erfüllenden Materie bezogenen Organisation zu einer dynamischen Organisation, in der sich die Frage nach dem „Sitz der Seele“ nicht mehr stellt. Das war genau die Ant-
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wort von Kant auf die Aufforderung von Soemmering zu seiner Schrift über das Organ der Seele Stellung zu nehmen: Die „dynamische Gegenwart der Seele“ im Gehirn bedarf keiner „lokalen Gegenwart“. Dass diese Stellungnahme Kants nicht, wie so häufig behauptet wurde (Breidbach 1997, S. 46, Hagner 1997, S. 79 ff.), als negativ-kritische Distanzierung zu betrachten ist, sondern von Soemmering selbst als Erweiterung und Verbesserung seiner Ansichten angesehen wurde, zeigen die einleitenden Worte Soemmerings zu der im Anhang seiner Schrift wiedergegebenen Beurteilung, zu der er selbst Kant aufgefordert hatte: „Der Stolz unseres Zeitalters, Kant, hatte die Gefälligkeit, der Idee, die in vorstehender Abhandlung herrscht, nicht nur seinen Beifall zu schenken, sondern dieselbe sogar noch zu erweitern und zu verfeinern und so zu vervollkommnen. Seine gütige Erlaubnis gestattet mir, meine Arbeit mit seinen eigenen Worten zu krönen“ (Soemmering 1796, S. 81). Die Antwort Kants stellt eine Meisterleistung auf dem schmalen Grat der Verständigung zwischen aprioristisch-erkenntnistheoretischer Reflexion und naturwissenschaftlicher Theorienbildung dar. Kant akzeptiert nämlich die Hypothese Soemmerings, konstruiert sie aber in seiner erkenntnistheoretischen Begründung so um, dass daraus eine von der Frage nach dem materiellen Träger der Prozesse völlig abgelöste dynamische Theorie der Organisation entsteht. Denn er sieht gerade in der Tatsache, die schon Vesalius erkannte, dass die Flüssigkeit der Gehirnventrikel nicht viel mehr ist als „gemeines Wasser“ und somit selbst eigentlich ohne Organisation, ohne „beharrliche Anordnung der Teile“ ist, ein wesentliches Argument, um von einer mechanischen zu einer dynamischen Betrachtungsweise überzugehen: „Wenn man nun als Hypothese annimmt: Daß dem Gemüt im empirischen Denken, d. i. im Auflösen und Zusammensetzen gegebener Sinnesvorstellungen, ein Vermögen der Nerven unterlegt sei, nach ihrer Verschiedenheit das Wasser der Gehirnhöhle in jene Urstoffe zu zersetzen und so, durch Entbindung der einen oder des anderen derselben, verschiedene Empfindungen spielen zu lassen (z. B. die des Lichts vermittels des gereizten Sehnerves oder des Schalls durch die Hörnerven usw.), so doch, daß diese Stoffe, nach aufhörendem Reiz, sofort wiederum zusammenflößen: so könnte man sagen, dieses Wasser werde kontinuierlich organisiert, ohne doch jemals organisiert zu sein: wodurch dann doch eben dasselbe erreicht wird, was man mit der beharrlichen Organisation beabsichtigte, nämlich die kollektive Einheit aller Sinnesvorstellungen in einem gemeinsamen Organ (Sensorium commune), aber nur nach seiner chemischen Zergliederung begreiflich zu machen“ (Kant in Soemmering 1796). Damit ist jedoch von vornherein klar, dass Kant in diesem Zusammen-
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hang ausdrücklich jede Frage nach der räumlich-statischen Lokalisation der Seele als Konsequenz dieser dynamischen Betrachtungsweise ablehnen muss. Die funktionelle Realität oder, wie Kant selbst sagt, die „dynamische Gegenwart“ der Seele bedarf keiner „lokalen Gegenwart“. Denn die Seele kann „sich selbst schlechterdings keinen Ort bestimmen, weil sie sich zu diesem Behuf zum Gegenstand ihrer eigenen äußeren Anschauung machen und sich außer sich selbst versetzen müßte, welches sich widerspricht.“ Nach Kant führt die Lösung der Aufgabe, den „Sitz der Seele“ im Gehirn zu bestimmen, was der Metaphysik zugemutet wird, auf eine „unmögliche Größe“, wie in der Mathematik die Quadratwurzel aus minus zwei. Für den Physiologen genügt die dynamische Gegenwart der Seele. Aber, so schließt Kant versöhnlich seine Beurteilung von Soemmerings Schrift über das Seelenorgan ab, man kann es ihm nicht verargen, „den Metaphysiker zum Ersatz des noch Mangelnden aufgefordert zu haben“ (Kant in Soemmering a. a. O., S. 86). Mit dieser kritischen Stellungnahme Kants war zwar die von Soemmering beabsichtigte Wiedergeburt der alten Ventrikeltheorie gescheitert, nicht aber die Grundidee der Lokalisation, die von einer strukturell-anatomischen Betrachtungsweise, die grundsätzlich statischen Charakter hat, zu einer funktional-physiologischen Angelegenheit wurde mit einem, wie Kant ausdrücklich hervorgehoben hatte, „dynamischen“ Charakter. Kant selbst, für den das Orakel der Metaphysik bereits verstummt war, suchte daher auch nicht mehr die Einheit des menschlichen Bewusstseins ontologisch zu begründen und an einen bestimmten Ort im Gehirn zu lokalisieren, sondern seine transzendentale Methode bestand in dem Nachweis der apriorischen Notwendigkeit einer solchen Einheit aus der erkenntnistheoretischen Analyse der Aktivitäten und kognitiven Leistungen des Menschen selbst. Das „Ich denke“ muss alle meine Vorstellungen begleiten können, denn sonst wären sie nicht meine Vorstellungen. Mit der Hirnforschung bleibt diese transzendentale Methode, die keine ontologisch-metaphysische Methode mehr ist, und die sich nach Kants eigener Definition nicht „mit den Gegenständen sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen“ beschäftigt, durch seine These von der dynamischen Gegenwart des Bewusstseins im gesamten Gehirn verbunden. Eine dynamische Theorie des Seelenorgans, die durchaus den Vorstellungen Kants entspricht, wurde jedoch zur selben Zeit von Johann Christian Reil (1759 – 1813) vorgeschlagen, nach dessen Auffassung allein im „Cerebral-System“ das Bewusstsein entstehen kann, während das von ihm benannte „Ganglien-System“ nur das Organ der bewusstlosen Seele darstellt. Reil ist sich dessen bewusst, dass er mit dieser Vorstellung vom Gehirn als
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Seelenorgan den schwierigsten Teil der Physiologie betreten hat. Denn dasjenige in uns, was sich selbst und die Welt vorstellt, was denkt, will, begehrt, verabscheut und vergangener Dinge sich erinnert, die sog. „Seele“, ist etwas, was sich selbst nicht wie andere Dinge dieser Welt erfassen lässt. So sagt er gleich zu Beginn seiner Abhandlung über die Verrichtung des Seelenorgans: „Die Spuren werden dunkler, je näher wir an uns gelangen, und indem wir die tierische Materie betrachten, wachsen die Geheimnisse in dem Grade, in welchen wir vom Umfange mehr gegen Innen dringen. Die Gestirne selbst und ihre Bewegungen sehen wir besser ein, als des eigenen Geistes Arbeit“ (Reil 1811, S. 3). Es war aber gerade jener Hirnforscher, der zwar die apriorische oder, wie er selbst sagte, „vonvornige“ Philosophie Kants und seiner Nachfolger als eine „Lehre ohne praktischen Nutzen“ ansah (Lesky 1979, S. 58 und S. 63), aber der die Idee von der Lokalisation psychischer Eigenschaften und Fähigkeiten als spezieller Hirnfunktionen wieder aufnahm und damit eine neue Ära der Hirnforschung einleitete. Von ihm sagte Soemmering in einer Anmerkung seines anatomischen Hauptwerkes ›Vom Baue des menschlichen Körpers‹ aus dem Jahre 1800 prophetisch: „Von H. Gall zu Wien erwarten wir vortreffliche Beobachtungen über die Beurteilung der Geistesanlagen, nach der verschiedenen Form der Teile des Hirnes, welche sich durch die Form der Hirnschale verrät“ (Soemmering 1800, S. 393).
5. Die Erforschung der Architektur und Mechanik des Gehirns im 19. Jahrhundert Die individualisierende Lokalisationstheorie Galls Galls Ziel war, wie er selbst im ersten Band seines monumentalen mit Spurzheim verfassten Werkes über die Anatomie und Physiologie des Nervensystems (S. IX) angibt, „einstens bestimmen zu können, in welcher Beziehung die Seelenkräfte mit dem Organismus stehen“. Erfahrungen zu dieser Aufgabenstellung hatte Gall schon in der frühen Zeit seiner ärztlichen Betätigung in Wien an Untersuchungen von Geisteskranken im Narrenturm des allgemeinen Krankenhauses, deren Leichen er auch nach ihrem Tode obduzierte, und an Dieben und Mördern in Zuchtanstalten sammeln können. Sein wenig bekanntes Erstlingswerk vom Jahre 1791 ›Philosophisch-medicinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen‹ zeigt bereits deutlich sowohl den allgemeinen Rahmen als auch die Grundsätze und Leitlinien, nach denen er seine Zielsetzung, die Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes und seiner Seelenkräfte auf organischer Grundlage, realisieren wollte. Den historisch vorgegebenen Rahmen findet er bereits in der durch Herder und Bonnet vertretenen Stufenleiter der Lebewesen, die er mit der Vorstellung von der Lokalisation verschiedener psychischer Fähigkeit in verschiedenen Hirnteilen verbindet. Im Unterschied zu den klassischen Lokalisationstheorien, die von der Antike bis zu Soemmering reichen, geht es bei Gall jedoch nicht um die Lokalisation der „gemeinsamen Eigenschaften“ der Seelenkräfte wie „Verstand, Gedächtnis, Urteilskraft, Vernunft, Einbildung“, sondern um die Lokalisation spezieller Seelenvermögen oder Fähigkeiten, die sich konkret am Verhalten und an den Handlungen einzelner Menschen, aber auch einzelner Tiere beobachten lassen. Mit dieser Zielsetzung verlässt Gall die traditionelle philosophische Grundlage der Lokalisationstheorie, von der auch noch Soemmering vollständig bestimmt war, und geht zu einer individualisierenden Lokalisations-
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theorie über, deren Grundlagen verhaltenspsychologische Beobachtungen an Einzelmenschen aber auch an einzelnen Tieren und Tierarten sind. Dabei beruft er sich sowohl auf seine eigenen Beobachtungen, die er seit seiner frühesten Jugend an Mitschülern, Bekannten und auch an Haustieren gemacht hat, als auch auf die Sprache der Volkes oder der Gesellschaft, wenn von dem sittlichen und geistigen Charakter der Einzelmenschen die Rede ist. So knüpfte er z. B. bei einer ländlichen Familie mit Vater und Mutter ein Gespräch über die Eigenschaften ihrer Kinder an und erfährt, dass diese Kinder ganz unterschiedliche Talente, Begabungen, geistige und körperliche Fähigkeiten und dementsprechend auch unterschiedliche Lebensziele haben, obwohl sie im gleichen Milieu aufgezogen wurden. Der älteste Sohn schämt sich seiner Geburt, verachtet seine Geschwister und Kameraden und strebt nach nichts anderem als seine Familie zu verlassen und in eine große Stadt zu gehen. Dagegen hat der zweite Sohn nur Freude an häuslichen Arbeiten. Ohne etwas gelernt zu haben, weist er eine erstaunliche handwerkliche Geschicklichkeit und Erfindungskraft auf. Die größere Tochter hat niemals die „elende Nadelarbeit erlernen können, aber sie singt Tag und Nacht zur Freude des ganzen Dorfes. In der Kirche gibt sie den Ton im Chor an... Kaum hat sie ein Lied einmal oder höchstens zweimal gehört, so weiß sie es auswendig und singt es besser als irgendjemand.“ Dagegen ist der dritte Knabe „ein wahrer kleiner Teufel, der Schrecken des Dorfes“. Er sucht Streit mit jedermann, „schlägt immer und wird geschlagen. Nichts bricht seinen Mut, er erzählt mit außerordentlichem Eifer von einem Kampf, einer Schlacht und erwartet mit größter Ungeduld den Augenblick, an dem er Soldat werden kann. Die Jagd ist seine Leidenschaft und je mehr Tiere er getötet hat, desto glücklicher ist er. Er hört nicht auf, sich über seine kleine Schwester lustig zu machen, die Nervenanfälle bekommt, so oft man ein Huhn oder Schwein tötet. Dieses gute Kind überhäuft nicht nur ihre Geschwister, sondern auch alle Haustiere mit zärtlicher Sorgfalt und ist in dieser Charaktereigenschaft das genaue Gegenteil zu einer anderen ihrer beiden Schwestern, die trotz ihres vielen Betens eine böse Zunge hat, geizig und eigensinnig ist und selten eine Gelegenheit versäumt, in der Familie und bei ihren Bekannten Zwietracht zu säen (vgl. Scheve 1855, S. 120). Bei dieser Schilderung der einzelnen Charaktere der Kinder einer ländlichen Familie findet Gall, dass sich niemand des einen oder anderen von den Ausdrücken in der allgemeinen Bedeutung der Philosophen bedient: wie z. B. Gedächtnis, Urteilskraft, Einbildungskraft oder Empfindungsvermögen. Das Gleiche gilt, wenn man die Zöglinge einer Erziehungsanstalt charakterisiert: Wir finden solche, welche die Bücher ihrer Kameraden stehlen, die lügenhaft, treulos, feig, undankbar, träge usw. sind. Und unter denen, die
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Preise gewinnen, zeichnen sich die einen im Studium der Geschichte, die anderen in der Dichtkunst oder Mathematik oder Geographie aus. Die einen beschäftigen sich lieber mit Literatur, die anderen mit Naturwissenschaft. Kein Erzieher oder Lehrer wird jedoch den Charakter seiner Zöglinge durch einen oder anderen allgemeinen Begriff aus der alten philosophischen Psychologie bezeichnen. Ebenso wird man die Charaktere von Musikern, Malern, Bildhauern, Mathematikern, Sprachforschern, Reisenden, Dichtern, Rednern, Feldherrn beschreiben, ohne die allgemeinen Ausdrücke der Philosophen zu verwenden, die für Gall zwar keine bloßen Hirngespinste sind, aber doch nichts anderes als abstrakte allgemeine Eigenschaften der Grundvermögen. Sie sind deswegen auf Einzelwesen nicht anwendbar, weil jeder Mensch, der nicht blödsinnig ist, alle diese allgemeinen Eigenschaften besitzt (vgl. Scheve 1855, S. 122). Auch bei den Beobachtungen des tierischen Verhaltens sind für Gall die individuellen Unterschiede wichtig, wie folgendes Zitat zeigt: „Jeder weiß, daß die Hunde im allgemeinen dieselben Qualitäten und Fakultäten haben. Aber jeder weiß sehr wohl, daß man eine solche Qualität und eine solche Fakultät im besonderen auf einer sehr verschiedenen Stufe nicht nur bei den verschiedenen Varietäten von Hunden, sondern sogar bei den verschiedenen Individuen derselben Varietät begegnet. Die große Dogge, der Fleischerhund, der Hühnerhund, der Spürhund, der Spaniel, der Mops, der Wolfshund, der Windhund unterscheiden sich untereinander nicht nur durch ihre Gestalt, sondern auch durch ihren besonderen Charakter, wenn auch alle den allgemeinen Charakter des Hundes haben“ (Gall in Lesky 1979, S. 105). Gall geht aber in seiner individualisierenden Charakteristik noch einen Schritt weiter, wenn er sagt: „Die Individuen derselben Varietät unterscheiden sich in gleicher Weise viel voneinander. Es gibt keinen Spaniel, keinen Vorstehhund, welcher genau die gleichen Eigenschaften und die gleichen Fehler wie ein anderer Spaniel oder ein anderer Vorstehhund hat“ (ebd.). Als Beweis für diese heutzutage in der Kynologie allgemein akzeptierte Ansicht von der individuellen Wesenseigenschaften eines Hundes bringt Gall folgende Geschichte von zwei Hunden aus dem selben Wurf einer Hündin: „Bevor sie ihre Augen öffneten, beobachtete ich bei ihnen ein sehr verschiedenes Verhalten: der eine, wenn man ihn in die Hände nahm, bezeugte durch seine Bewegungen, daß er zufrieden war. Der andere knurrte, bellte und zappelte, bis man ihn auf seinen Platz zurückließ. Kaum waren fünfzehn Tage vergangen, bezeugte der eine durch Schweifwedeln seine Zufriedenheit und sein Wohlwollen nicht nur anderen kleinen Hunden, sondern allen Leuten, die sich ihm näherten. Der andere dagegen knurrte
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unablässig und biß alles, was sich in seiner Reichweite fand. Von da ab beobachtete ich aufmerksam diese zwei Tiere. Da ich sehr wohl wußte, daß man ähnliche Charakterunterschiede der Erziehung zuschreibt, trug ich allen denen, die sich gewohnheitsmäßig diesen zwei Hunden näherten, auf, dem einen wie dem andern [Hund] Liebkosungen zuteil werden zu lassen. Ich selbst gab mir alle erdenkliche Mühe, den Charakter meines kleinen Böslings zu besänftigen, aber nichts konnte ihn anders machen: es biß sogar seine Mutter ein wenig, sodaß diese ihn zerzauste. In ihrem sechsten Monat wurden [beide Hunde] von einer Krankheit befallen. Mit welcher Zartheit man sie behandelte, den einen wie den anderen, der bösartige hörte bis zu seinem Tod nicht auf zu knurren und jeden zu beißen, der sich ihm näherte. Der andere hingegen hörte bis zu seinem letzten Augenblick nicht auf, denen, die ihn betreuten, Zeichen seiner Anhänglichkeit und Dankbarkeit zu bezeugen. Sogar meine Hausleute waren außerordentlich betroffen von dem Charakterunterschied dieser zwei Hunde...“ (Gall a. a. O., S. 107 f.).
Vergleichende Verhaltensforschung als Grundlage der Organologie Gall hat selbst seine Hirntheorie deswegen „Organologie“ genannt, weil er das Gehirn als eine den äußeren Sinnesorganen analoge Ansammlung von inneren Organen im Schädel ansah, die ebenfalls genaue bestimmbare Funktionen erfüllen. Wie der Geschmack, der Geruch, das Gehör, das Gesicht, der Tastsinn als Kontaktstellen mit der Außenwelt an bestimmte Werkzeuge oder Organe gebunden sind, so sind auch die seelischen Qualitäten und geistigen Fähigkeiten nach seiner Auffassung an bestimmte Organe des Gehirns gebunden. Diese Organe des Gehirns sind in gleicher Weise ebenso „Kontaktstellen mit der Außenwelt“ wie die äußeren Sinnesorgane, wie sie auch ebenso „Quellen neuer Arten von Empfindungen, Gefühlen, Instinkten, Neigungen“ und geistigen „Fakultäten“ sind. Aus Vergleichen der verschiedenen Tierarten, von denen Gall in seinem Garten in Wien eine große Anzahl beherbergte, hatte er erkannt, dass die Organe des Gehirns und ihre Funktionen bei verschiedenen Lebewesen „ungleich verteilt“ sind. Daraus ergibt sich für ihn bereits jene Konsequenz, die viel später im Rahmen der vergleichenden Verhaltensforschung als Lehre von den verschiedenen Umwelten der Tiere bekannt wurde: „Ihre Innen- und Außenwelt muß also außerordentlich variieren, sich verkleinern oder vermehren in demselben Verhältnis wie die Zahl dieser Organe sich vermindert oder vermehrt (Gall a. a. O., S. 90). Dass die Organologie Galls untrennbar mit seiner vergleichenden Tier-
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psychologie verbunden ist, die er von frühester Jugend an betrieb, ja sogar im Rahmen seiner von Bonnet übernommenen Stufenleitertheorie der Lebewesen die eigentliche empirische Grundlage seiner erst viel später ausgearbeiteten anatomischen Lokalisationsversuche darstellt, lässt sich durch eine große Anzahl von Beschreibungen seiner Verhaltensbeobachtungen an verschiedenen Tierarten zeigen, aus denen man erkennen kann, dass es auch eine „präevolutionistische“ Verhaltensforschung gibt, in der Gall einen besonderen Platz einnimmt. Der entscheidende Neuansatz bei Gall besteht im Unterschied zur Tierpsychologie, die von der Antike bis zum 18. Jahrhundert reicht, darin, „daß er bewußt und systematisch das vergleichend-ethologische Prinzip als Methode der Humanpsychologie einsetzte“ (Lesky 1979, S. 23) und diese Methode mit der vergleichenden Anatomie und Physiologie des Gehirns verband. Zur Rechtfertigung seiner damals allgemein als Häresie angesehenen Meinung schreibt er später: „Jene, die die psychischen und geistigen Handlungen des Menschen vom Verstand und vom Willen, unabhängig vom Körper, herleiten und jene, die ganz und gar unvertraut mit den Naturwissenschaften noch an einen Mechanismus und Automatismus der wilden Tiere glauben, können den Vergleich des Menschen mit den Tieren empörend und völlig fruchtlos finden.“ Diejenigen, die nur ein wenig mit den Fortschritten der vergleichenden Anatomie und Physiologie vertraut sind, werden diesen Vergleich als unentbehrlich finden. Denn die Kenntnis der psychischen und geistigen Fähigkeiten des Menschen setzt die Kenntnis der Bestandteile seines Gehirns voraus, von denen mehrere sich in den Tieren wieder finden lassen. Die niedrigeren Klassen der Tiere, die weniger Intelligenz besitzen, haben auch weniger Hirnorgane und sind deshalb leichter zu entziffern. Daraus folgt weiter, dass man, um Kenntnis über den Menschen zu gewinnen, „die Tiere studieren muß – eines nach dem anderen, indem man dem stufenweisen Gang folgt, den die Natur in der Aufeinanderfolge ihrer Hirnorgane und ihrer Fakultäten beobachtet hat“ (Gall in Lesky 1979, S. 95). Dazu bot ihm nicht nur seine eigene Menagerie Gelegenheit, von der ein Zeitgenosse (Ph. F. v. Walther) sagt, dass es „beinahe keines der vaterländischen Tiergeschlechter“ gab, „aus welchem Gall nicht wenigstens ein Individuum selbst erzogen, seine ganze Lebenszeit hindurch beobachtet und auf diese Weise seinen Charakter studiert hätte“, sondern es war auch die in Wien beliebte Tierhetze, die für ihn zu einer unerschöpflichen Quelle der Beobachtung des Kampf- und Selbstverteidigungsverhaltens der Tiere wurde. So sagte Gall zum Beispiel über das Organ der Selbstverteidigung und den später vielkritisierten und auf den Menschen übertragenen Mordsinn:
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„Ohne dieses Organ und ohne jenes des Mordtriebes, würde sich die menschliche und tierische Haushaltung (économie) völlig verändert finden.“ Es bestimmt, welche Bewegung jetzt gemacht werden muss, „hier um seine Beute zu töten, dort um dem tödlichen Biß zu entrinnen. Es ist vor allem die Gegebenheit des Krieges, welche gesellschaftlichen Zusammenschlüssen Objekt und Gestalt gibt. Die Notwendigkeit einer Verteidigung bringt die fremdesten Menschen zusammen und verschafft den seelischen und geistigen Kräften ein unermeßliches Feld. Welche Ereignisse im Leben des Einzelnen wie in der Geschichte der Völker haben diese zwei Organe hervorgebracht und werden sie in jedem Augenblick hervorbringen ?“ (Gall a. a. O., S. 90). In gleicher Weise auf Tiere wie Menschen bezogen spricht Gall auch von der „Liebe zur Nachkommenschaft“, die er mit dem Fortpflanzungstrieb, den er fälschlicherweise im Kleinhirn lokalisiert, verbindet oder von anderen seelischen Eigenschaften und Fähigkeiten wie List, Verschlagenheit, Schlauheit und Klugheit, die alle ihre Existenz demselben Organ verdanken, „dem der Fuchs das glückliche Ergebnis seiner nächtlichen Expeditionen schuldet“ (Gall a. a. O., S. 91). Sogar die großen geographischen Entdeckungen der Neuzeit haben ihre Grundlage in einem Organ, das der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat: „Das Organ des Ortsinns bewahrt jährlich durch die Wanderzüge die Hälfte der Tiere vor einem unvermeidlichen Tod. Der Mensch, getrieben von diesem Organ, durchreist die Länder, die Meere und“, wie Gall prophetisch sagt, „den unendlichen Raum der Welten“ (Gall a. a. O., 91 f.). Der Unterschied zwischen Mensch und Tier war für Gall nur ein Unterschied zwischen den Anzahl der Gehirnorgane und er vertrat die zur damaligen Zeit häretische Auffassung, dass der Mensch von den 27 Fakultäten (Fähigkeiten), denen ebenso viele Gehirnorgane entsprechen, nicht weniger als 19 mit den Tieren gemeinsam habe. Aber dieser Unterschied ist für ihn absolut und unveränderlich. Er ist eine Konsequenz der ewigen Gesetze der Stufenfolge der Natur (graduation de la nature): „Keine Kraft ohne Organ. Neue Organe, neue Kräfte.“ Die Welt jeder Tierart und diejenige des Menschen ist daher anatomisch gesehen „die sich gleich bleibende Summe ihrer Hirnorgane“. Das aber heißt physiologisch-funktional betrachtet: „die Summe der Beziehungen oder Berührungspunkte, die zwischen den äußeren Dingen und den inneren Organen gesetzt sind“. Dort wo es keine Organe mehr gibt, dort gibt es auch keine weiteren Beziehungen oder „Offenbarungen“ mehr. Deshalb kann sich auch die Schildkröte nicht zu den Instinkten eines Elefanten erheben und der Elefant wird niemals die Intelligenz des Menschen erreichen. Aber auch die Menschen
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„mögen sich immer daran erinnern, daß alle materiellen Bedingungen ihrer Erkenntnisse und Gedanken in einem Umfang von höchstens 22 Zoll eng zusammengedrängt sind.“ Der Hirnbehälter, der Schädel, der diese zusammengedrängte Ansammlung von Organen enthält, wird durch den Druck, den diese Organe auf ihn ausüben, zum äußerlich sichtbaren Abbild dieser Hirnorgane. So ist es beim Menschen die „hohe vorspringende Stirn“, an der „die Organe ihren Platz haben, die ihr den Stempel der Menschlichkeit aufdrücken“ (Gall a. a. O., S. 92). Auch seine erste Grundthese, dass die seelischen und geistigen Eigenschaften angeboren sind, findet Gall in seinen vergleichenden Verhaltensstudien an Tieren bestätigt. Er leugnet nicht, dass auch Tiere durch Abrichtung Verhaltensweisen entwickeln können, die weit über die bloße Erhaltung des Lebens hinausgehen. Aber diese Fähigkeit ist immer proportional ihren angeborenen Grundfakultäten: „Ich bewundere den Hühnerhund bei der Verfolgung des Fasans, den Falken bei der Jagd des Reihers, aber niemals wird ein Rind lernen Mäuse zu jagen, noch die Katze das Gras zu weiden“ (Gall a. a. O., S. 102). In diesem Sinn hat auch jedes Tier ein Maß arteigenen Verstandes (une dose d’entendement propre à chaque espèce), in dessen Rahmen zwar eine Vervollkommnung möglich ist, dessen Grenzen jedoch niemals überschritten werden können.
Von der Organologie zur Schädellehre Was für die verschiedenen Tierarten gilt, gilt auch für die verschiedenen Individuen einer Art und insbesondere für die Individuen der Menschen. Nicht nur seine Talente und besonderen Begabungen sind ihm angeboren, sondern auch seine schlechten, bösen, ja sogar kriminellen Eigenschaften. So gibt es Menschen, „die bei allen übrigen sittlichen Tugenden dennoch dem Drang zu stehlen nicht widerstehen können. Ähnliche Beispiele, ja sogar von unwiderstehlicher Mordsucht, sind mehrere bekannt“ (Gall a. a. O., S. 50). Aus solchen Zitaten geht deutlich hervor, dass die Grundsätze und Leitlinien zu diesem neuen individualisierenden Lokalisationsunternehmen primär psycho-physiologischer und, wie man heute sagen würde, ethologischer Art waren. Sie hatten auch den Vorrang vor seinen erst später im Detail durchgeführten anatomischen Untersuchungen, die ihn zu keiner Modifikation seiner ursprünglichen funktional-dynamischen Betrachtungsweise zwangen. Bereits in seinem Erstlingswerk standen sie fest und wurden von ihm folgendermaßen formuliert:
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1. Seelische und geistige Eigenschaften sind angeboren. 2. Ihr Funktionieren hängt von materiellen Bedingungen ab. 3. Das Gehirn ist das Organ aller Fakultäten, aller geistigen und seelischen. 4. Das Gehirn setzt sich aus so vielen Organen zusammen, als es Fakultäten gibt, die sich wesentlich voneinander unterscheiden. (Vgl. Lesky 1979, S. 19) Seine berühmt-berüchtigte „Schedellehre“ oder „Organologie“, wie er sie selbst nannte, hat Gall zum ersten Mal 1798 in großen Zügen entworfen und in dem von Wieland redigierten ›Neuen Teutschen Merkur‹ veröffentlicht. Dort erweiterte er seine Grundsätze um jenen später als Phrenologie bezeichneten Teil seines Lebenswerkes, der sich am schnellsten durchsetzte, aber ihn auch trotz seiner großen Verdienste in der Physiologie und Anatomie des Gehirns schwerste Kritik seiner Fachkollegen einbrachte und ihn als unwissenschaftlichen Scharlatan erschienen ließ und darüber hinaus ihn mit dem Vorwurf der Gottlosigkeit belastete. Die Erweiterung seiner physiologisch-anatomischen Grundsätze bestand im Prinzip nur in der Behauptung, dass diese angeborenen an unterschiedlichen Teilen des Gehirns angesiedelten psychischen Fähigkeiten oder Eigenschaften auch die Gesamtform des Gehirns bestimmen. Aber weil diese äußere Form des Gehirns bis zum hohen Alter eines Individuums die innere Fläche des Hirnbehälters bestimmt, lassen sich daher auch diese Eigenschaften an der äußeren Form der Schädelfläche, d. h. „an den Vertiefungen“, ablesen. Die von Gall selbst vorgeschlagenen Hilfsmittel zu solchen Untersuchungen, das Anfertigen von Gipsabdrücken und das Sammeln von Totenschädeln, führte in Wien zu einer weit verbreiteten Furcht vor Kopfjägerei, an der Gall selbst nicht ganz unschuldig war, was seine eigenen an seinen Freund Retzer gerichteten Worte deutlich zeigen: „Sie wissen, wie Jedermann hier nach seinem Kopfe griff, wie viel Märchen man gegen mich erfunden hatte, als ich so etwas anfing. Unglücklicherweise halten alle Menschen so viel auf sich selbst, daß jeder überzeugt ist, ich laure auf seinen Kopf als einen der wichtigsten Beiträge in meine Sammlung; und doch habe ich seit drei Jahren höchstens 20 zusammengebracht, wenn ich die ausnehme, die ich von Spitälern und dem Tollhause genommen habe“ (Gall in Lesky 1979, S. 55). Besonders die auf diese Klage folgenden Sätze demonstrieren, dass diese Furcht vor Kopfjägerei nicht ganz unbegründet war: „Könnten Sie es endlich zur Mode machen, daß mich in der Folge jede Art von Genie zum Erben seines Kopfes einsetzte, so stünde ich Ihnen mit meinem Kopf dafür, daß in 10 Jahren ein herrliches Gebäude dastünde, wozu ich einstweilen
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bloß Materialien liefere. Gefährlich wäre es freilich für einen Kästner, Kant, Wieland u.d.g., wenn mir Davids Würgengel zu Gebote stünde. Allein als ein guter Christ will ich mit Geduld auf Gottes langmüthige Barmherzigkeit harren“ (ebd.). Während sich Gall noch über diese Furcht vor Kopfjägerei lustig macht, warnt er jedoch bereits in dieser frühen programmatischen Schrift vor dem „schnöden Gebrauch“ seiner Lehre durch seine „zu unbedingten Anhänger“, die es sehr bald nicht nur in Wien sondern auf Grund seiner Vertragsreise auch in ganz Deutschland, in Frankreich und schließlich auf der ganzen Welt, insbesondere im angloamerikanischen Raum, bis weit über seinen Tod hinaus gab. Der große Zuspruch, den in Wien seine Privatvorlesungen von Anfang an in breiten Kreisen der Bevölkerung vor allem bei Musikern, Bildhauern und Schriftstellern, aber auch bei hohen Staatsbeamten der Polizei und Erziehungsbehörde gefunden hatte, war nicht unbegründet. Denn es war das erklärte Ziel Galls, seine Erkenntnisse über die Beziehungen von Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns zu den psychischen und geistigen Eigenschaften auf allen Gebieten des menschlichen Zusammenlebens in die Praxis umzusetzen. So sagt er später in seinen ›Untersuchungen über die Anatomie des Nervensystem‹, die er immer nur als Mittel zum eigentlichen Zweck der Selbsterkenntnis des Menschen angesehen hatte: „Der Naturforscher, der Erzieher, der Sittenlehrer, der Gesetzgeber werden dadurch ihre schwankenden Ideen über die wahre Ursache aller menschlichen Triebe und Leidenschaften, aller Talente und ihrer Verschiedenheiten berichtiget finden; sie werden sichtbare und fühlbare Beweise erhalten, daß der menschliche Organismus auf höhere, intellectuelle und moralische Kräfte berechnet ist; daß folglich Erziehung, Gesetze, Sittenlehre und Religion in die Natur des Menschen innig verwebt und ihm nicht nur nützlich, sondern zu seinem Glücke unentbehrlich sind, weil sie ihm eben so viele wohltätige Quellen von edleren Beweggründen werden, welche die oft so regen, schädlichen Triebe überwiegen und wodurch es ihm immer mehr und mehr möglich wird, sich zu moralisch freien Handlungen zu bestimmen“ (Gall a. a. O., S. 72). Wem Menschenkenntnis etwas wert ist – so drückt er seine Hoffnung über die Wirkung seiner Untersuchungen gegenüber dem ihm freundlich gestimmten Jenaer Anatomen Justus Christian Loder (1753 – 1832) aus, – der wird „nirgendwo den Menschen Stück für Stück“ so genau kennen lernen, wie in seinen Werken: „Am Ende steht der Mensch, das drollige Mittelding zwischen Vieh und Engel ganz durchsichtig vor Ihnen da“(Gall a. a. O., S. 44). Dieses Sendungsbewusstsein, von dem Gall seit Beginn seiner Privat-
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vorlesungen im Jahre 1796 durchdrungen war, verschaffte ihm in Wien nicht nur übervolle Hörsäle, sondern führte auch trotz des Eintretens von hohen Staatsbeamten der Justiz, Polizei und der Zensurbehörde für ihn, zu einem Vorlesungsverbot, das in einem kaiserlichen Handschreiben an den Obersten Staatskanzler folgendermaßen begründet wurde: „Da über diese neue Kopflehre, von welcher mit Enthusiasmus gesprochen wird, vielleicht manche ihren eigenen [Kopf] verlieren dürften, diese Lehre auch auf Materialismus zu führen, mithin gegen die ersten Grundsätze der Religion und Moral zu streiten scheint, so werden Sie diese Privatvorlesungen alsogleich... verbieten lassen“ (Gall a. a. O., S. 11). Nachdem alle Versuche dieses Verbot zu verhindern oder wieder aufzuheben gescheitert waren, brach Gall im März 1805 zusammen mit seinem Helfer und Mitarbeiter Johann Caspar Spurzheim (1776 – 1832) zu einer Vortragsreise nach Deutschland auf. Diese zweieinhalbjährige Vortragsreise war ein großer Erfolg für die Durchsetzung und Verbreitung seiner Lehre. Mit keiner wissenschaftlichen Publikation hätte sie in weitere Kreise eindringen können. Er selbst fühlte sich durch diesen durchschlagenden Erfolg und die große Anerkennung, die er neben der zum Teil sehr polemischen Kritik erfuhr „weit über seine Verdienste und zwar noch zu Lebzeiten belohnt“ (Gall a. a. O., S. 12). Auf dieser Reise traf er mit den bedeutendsten Anatomen Deutschlands Soemmering, Camper, Reil, Loder und Blumenbach zusammen und hatte auch Gelegenheit mit seinen Kritikern und Gegnern wie Ackermann und Hufeland zu sprechen. Eine besondere Bedeutung hat Gall selbst seiner Begegnung mit Goethe im Juli 1805 in Halle zugemessen. Nicht nur deswegen, weil er um die Ehre, den damals schon berühmten Dichterfürsten zu seinen eifrigsten Zuhörer rechnen zu können, sehr beneidet wurde, sondern weil Goethe häufig seine Sätze mit eigenen Erfahrungen bestätigte (Brief aus Kopenhagen vom 15. Okt. 1805; vgl. Lesky 1979, S. 38). Auch Goethe berichtete ausführlich über diese Begegnung mit Gall und bezeichnete dessen Lehre, die ihm von ersten Augenblick an zusagte, als den „Gipfel vergleichender Anatomie“, obwohl er auch kritisch anmerkte, dass sich Gall durch seinen Scharfblick verleiten ließ, „zu sehr ins Spezifische“ zu gehen. Goethe dürfte auch der Erste gewesen sein, der die Bedeutung von Galls neuer anatomischen Methode erkannte. Im Unterschied zu der seit Vesal in der Schule praktizierten Vorgangsweise, „wo man“ wie Goethe sagt „etagen- oder segmentweise von oben herein durch bestimmten Messerschnitt von gewissen untereinander folgenden Teilen Anblick und Namen erhielt, ohne daß auf irgendetwas weiter daraus wäre zu folgern gewesen“(Goethe, zit. nach Lesky 1979, S. 39), ver-
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folgte Gall vom Rückenmark her den Verlauf der einzelnen Faserzüge bis zur Rinde. Denn die Vergleichung mit den Gehirnen anderer Lebewesen hatte ihn gelehrt, dass das Rückenmark nicht ein Anhängsel des Gehirns sei, sondern vielmehr umgekehrt, dass das Gehirn eine Fortsetzung und Weiterentwicklung des Rückenmarks darstellt und im Sinne von Bonnets Stufenfolge der Natur zugleich eine Vervollkommnung bedeutet, die im Menschen die Krönung der Schöpfung erreicht. Diese Ansicht entspricht aber auch grundsätzlich Goethes eigener Wirbeltheorie des Schädels, obwohl er die Vorstellung einer kontinuierlich aufsteigenden Stufenleiter im Sinne Bonnets ablehnte (Oehler-Klein 1990, S. 223) und in Anlehnung an Blumenbachs „Bildungstrieb“ annahm, dass jedes Lebewesen eine ihm eigene Vollkommenheit besitzt, die im Sinne eines Kompensationsgesetzes bewirkt, dass keinem Lebewesen etwas zugegeben werden könne, ohne dass ihm an anderer Stelle etwas abgezogen werde. Nur auf diesem Wege dürfte nach Goethe Galls Theorie zu begründen sein (vgl. Goethes Gespräche 1909, S. 462). Denn im Gegensatz zu Gall, der den Unterschied zwischen Mensch und Tier nur in dem Hinzukommen weiterer, den Menschen charakteristischer Hirnteile oder Hirnorgane sah, war für Goethe dieser Unterschied von Anfang an nirgendwo zu finden: „Der Mensch ist Mensch so gut durch die Gestalt und Natur seiner oberen Kinnlade, als durch Gestalt und Natur des letztes Gliedes seiner kleinen Zehe“ (Brief Goethes an Knebel vom 17. Nov. 1784; vgl. Oehler-Klein 1990, S. 229). Weitere Begegnungen Goethes mit Gall fanden in Weimar statt. Auch am dortigen Hof erfuhr Gall ebenso große Zustimmung wie am Potsdamer und bayrischen Hof, sodass ihm, als er schließlich zusammen mit Spurzheim in Paris im November 1807 ankam, sein Ruf schon längst vorausgegangen war. Wie in Wien fand er auch dort sehr schnell sowohl Unterstützung als auch Ablehnung. Auch in Paris wurde er mit dem Vorwurf des Materialismus konfrontiert, der sogar von Napoleon selbst ausgesprochen wurde. Aber im Unterschied zu Wien wurde gegen ihn nie ein Verbot seiner Vorlesungen erlassen. So konnte er diese gleich zu Jahresbeginn wieder aufnehmen und bis zu seinem Tode ungehindert fortsetzen. Bereits vier Monate nach seiner Ankunft legte er dem Institut de France eine zusammen mit Spurzheim verfasste Denkschrift vor und innerhalb von weniger als zehn Jahren, in der Zeit von 1810 bis 1819, erschien dann sein großes Werk über die Anatomie und Physiologie des Nervensystems, mit dem er seinen wissenschaftlichen Ruf begründete. Spurzheim arbeitete nur an den beiden ersten Bänden mit, trennte sich dann von Gall und ging seit 1814 eigene Wege, die ihn nach England und Schottland führten, wo er auch
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zum großen Popularisator der seit 1815 von ihm so bezeichneten „Phrenologie“ wurde. Schon während seiner Vortragsreise hatte Gall, der von Anfang an die praktische Bedeutung seiner Schädellehre vor allem für den pädagogischen, psychiatrischen und juristischen Bereich betonte und deshalb immer wieder Irren-, Taubstummen-, Blindenanstalten und Gefängnisse aufgesucht hatte, auch unter den Laien der Hirnforschung eine große Anhängerschaft gewonnen. Während er jedoch selbst seine in der Entwicklung der Hirnforschung neuartige Lokalisationstheorie der speziellen Hirnorgane immer mehr durch physiologische und anatomische Untersuchungen zu stützen und zu rechtfertigen versuchte und deshalb immer wieder betonte, dass sein Untersuchungsgegenstand das Hirn sei, blieb die Schädellehre oder Kranioskopie im wahrsten Sinn des Wortes an der Oberfläche der Hirnforschung und wurde mit der Physiognomik in Verbindung gebracht, einem Gebiet, mit dem Gall als Hirnforscher erklärtermaßen nichts zu tun haben wollte. Zunächst war es Spurzheim, der nach der Trennung von Gall die Organologie Galls in England mit Hirndemonstrationen vor der medizinisch-chirurgischen Gesellschaft in London einführen wollte. Der Erfolg war mäßig, ebenso wie bei den weiteren Vorträgen in verschiedenen Städten Englands. Der Durchbruch gelang ihm erst in Schottland als ein Artikel in einer Edinburgher Zeitschrift erschien, der vor allem die Entdeckung Galls vom Faserbau des Gehirns kritisierte und Gall und Spurzheim mit Schmähungen überhäufte. Spurzheim verschaffte sich ein Empfehlungsschreiben an den Verfasser des Artikels und reiste nach Edinburgh, besuchte ihn und erhielt von ihm die Erlaubnis, ein Gehirn in seiner Gegenwart und in seinem Hörsaal zu zergliedern: „Da stellte Spurzheim mit jener Zeitschrift in der einen und einem Gehirn in der anderen Hand jenen Behauptungen Tatsachen entgegen, und dieser eine Tag gewann über 500 Zeugen für den Faserbau der weißen Gehirnmasse“ (Scheve 1855, S. 22). Von diesem Erfolg unterstützt eröffnete Spurzheim eine Vortragsreihe, die sehr bald nach seiner im Jahre 1817 erfolgten Rückkehr nach Paris zur Gründung einer phrenologischen Gesellschaft in Edinburgh durch den schottischen Rechtsanwalt George Combe (1788 – 1858) führte, der auch eine Zeitschrift herausgab und ein viel gelesenes Buch veröffentlichte. Spurzheim selbst gab in Paris im Jahre 1818 eine Schrift heraus, in der er im Titel zum ersten Mal die Bezeichnung Phrenologie verwendete: ›Observations sur la phraenologie, ou la connaissance de l’homme moral et intellectuelle, fondée sur les functions du système nerveux‹. Zuvor hatte bereits Benjamin Rush (1811) und Thomas Ignatius Maria Forster (1815) diese
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Bezeichnung verwendet und ebenso ein anonymer Unterstützer (1817) der Ansichten von Gall und Spurzheim, der das Wort „Craniologie“ als eine Erfindung der Feinde von Spurzheim ansah (vgl. Clarke u. Jacyna 1987, S. 223). Spurzheim selbst bestand auf der Priorität dieser Namensgebung und verwies auf deren Ableitung aus dem Griechischen Phrene (Geist) und Logos (Lehre) und Combe folgte ihm, sowohl was den Gegenstand dieser Bezeichnung, den menschlichen Geist, anbelangt als auch den Prioritätsansprüchen Spurzheims. Bedeutender als dieser Prioritätsstreitigkeiten um die Namensgebung ist jedoch die sich daraus ergebende Transformation der Lehre Galls, die in einer immer stärkeren und schließlich vollkommenen Ablösung der Schädellehre von der Hirnlehre besteht. Es war nicht mehr das Gehirn bzw. die Gehirnoberfläche, die die äußere Gestalt des Schädels formt, sondern es waren die Grundkräfte des Geistes. Nur so war es möglich, dass Laien auf dem Gebiet der Hirnforschung, wie der Rechtsanwalt Combe in Schottland, oder Verleger, wie die Brüder Fowler in Amerika, oder die Juristen Gustav Scheve und Gustav von Struve in Deutschland am meisten für die Verbreitung und praktische Anwendung dieser neuen „Geisteslehre“ sorgten. Ohne besondere anatomische und physiologische Kenntnisse des Gehirns zu besitzen, wurde allein aus den Dimensionen der Schädelknochen weitreichende Schlüsse auf die seelischen und geistigen Anlagen und Fähigkeiten ihres Besitzers oder ihrer Besitzerin gezogen. Um diese Popularität und Anwendungsmöglichkeit zu erreichen, mussten jedoch einige grundlegende Veränderungen an Galls ursprünglicher Liste der Grundqualitäten oder Grundfakultäten (qualités ou facultés fondamentales) gemacht werden, die Spurzheim selbst durchführte. Spurzheim erhöhte nicht nur die Anzahl dieser Grundkräfte von 27 auf 37, sondern benannte sie zum Teil auch ganz anders, was auch zu einer inhaltlichen Abweichung von der ursprünglichen Bedeutung führte. Im Allgemeinen sollte diese Veränderung der Nomenklatur einerseits die konkrete Ausrichtung der Grundkräfte auf Handlungsweisen vermeiden und andererseits die bösartigen und schlechten Grundkräfte beseitigen, die einen fatalistischen und pessimistischen Zug in Galls System darstellten. So wandelte Spurzheim den Dichtersinn in den Sinn für Idealität ab und den Würg- und Mordsinn Galls wandelte er in einen „Zerstörungssinn“ um, den er zusätzlich noch eine positive Bedeutung gab, da der mit diesem Sinn verbundene Ärger oder die Wut auch als Energie zur Überwindung und Beseitigung von Hindernissen angesehen werden kann. Darüber hinaus nahm Spurzheim eine Aufgliederung dieser Grundfakultäten (-eigenschaften) in affektive und intellektuelle vor, wobei er den geistigen Fähigkeiten eine
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Abb. 9: Der phrenologische Kopf nach J. C. Spurzheim (aus Scheve 1855)
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weit größere Einfluss- und Kontrollmöglichkeit der tierischen Triebe einräumte als es Gall tat. Gall selbst kritisierte im dritten Band seines Hauptwerkes, den er nun allein verfasste, diese Veränderungen Spurzheims an seinem System der Grundfakultäten und warf ihm vor, dass damit auch das Bekenntnis zu den eigentlich schlechten Grundkräften im Menschen eliminiert sei (vgl. Oehler-Klein 1990, S. 329). Trotz dieser Kritik wurde von allen Phrenologen die Veränderungen Spurzheims, die sich auch besser in der Praxis der Menschenbeurteilung anwenden ließen, bedingungslos übernommen. So gibt es für Scheve weder einen „Raufsinn“ noch einen „Mordsinn“. Spurzheim folgend meint er, dass der Name eines Sinnes immer so gewählt sein muss, dass er auch zur Bezeichnung des geringeren Maßes desselben dienen kann: „Nicht alle Menschen haben Raufsinn, aber alle haben insofern Kampfsinn, als sie alle mehr oder weniger bereit sind, geistig oder körperlich zur Verteidigung ihrer Person oder ihres Eigentums gegen einen Angriff aufzutreten“ (Scheve 1855, S. 59). Auch der von Gall sog. „Würg- oder Mordsinn“, den dieser hauptsächlich bei Fleisch fressenden Tieren und Mördern besonders entwickelt fand, wird von Scheve, Spurzheim folgend, ebenfalls in den „Zerstörungssinn“ umgewandelt, der im richtigen Maß dazu dient, den Charakter eines Menschen „die nötige Kraft und Energie zu geben, um das Böse und Schlechte zu zerstören“ (a. a. O., S. 60). Nur der Missbrauch dieses Sinnes artet in Mordsucht und boshafter Zerstörung nützlicher Dinge aus. Wenn er sehr groß entwickelt ist, ist er auch sehr leicht erkennbar. Denn er liegt gerade über dem Ohr und deshalb „steht das Ohr sehr tief und die Breite des Kopfes von Ohr zu Ohr ist eine bedeutende.“ Während die affektiven Grundkräfte mehr im hinteren Teil des Schädels lokalisiert sind, sind die intellektuellen Fähigkeiten am vorderen Teil des Kopfes und insbesondere an der Stirn abzulesen, auf der sich fast alle Talente und Fähigkeiten, wie Ortssinn, Zahlensinn, Tatsachensinn, Zeitsinn, Tonsinn, Wortsinn, Sprachsinn, Vergleichungsvermögen und Schlussvermögen befinden. Scheves phrenologische Bildergalerie, die von Goethes hoher Dichterstirn bis zu niedrigen Stirn des Patagoniers reicht, der „an Geist überhaupt so niedrig steht, als der Mensch, ohne blödsinnig zu sein, stehen kann“ (a. a. O., S. 107), liefert dazu die entsprechenden Illustrationen. Es war bereits Combe, der im Anschluss an Spurzheim mit seinem 1828 erschienen Buch ›Essay on the Constitution of Man and its Relations to External Objects‹ ein System angeboten hat, das es jedermann ermöglichte, seine eigenen Anlagen und Fähigkeiten zu testen und sie zielführend durch eigene Übung und eigenen Einsatz immer mehr und immer besser entwickeln zu können. Der kurze und durch seinen frühen Tod jäh beendete Auf-
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enthalt Spurzheims in Amerika im Jahre 1832 führte dazu, dass die Phrenologie geschäftsmäßig ausgeschlachtet wurde. So gründeten die Gebrüder Fowler, Orson Squire Fowler (1809 – 1887) und Lorenzo Niles Fowler (1811 – 1869) drei Jahre nach dem Tode von Spurzheim ein Büro in New York, dem später ein phrenologisches Museum und ein Verlagshaus angeschlossen wurde. Das Museum enthielt Büsten und Schädelabgüsse von berühmtberüchtigten Personen und von Vertretern der verschiedenen Indianerstämme, sowie von einzelnen Tierarten. Mit der Untersuchung von Köpfen der Indianer und schwarzen Sklaven der Südstaaten hatte bereits Spurzheim selbst begonnen. Die positive Deutung, die Spurzheim dem phrenologischen System gegeben hat, in dem nun keine angeborenen schlechten Eigenschaften aufgelistet waren, wurde vom Verlagshaus des New Yorker Büros, das von Samuel Wells geleitet wurde, der mit einer Schwester der Fowler Brüder verheiratet war, zu Tabellen ausgearbeitet, mit denen sich jeder selbst überprüfen und seine Talente weiter entwickeln konnte. Auf diese Weise wurden die Büros der Firma Fowler und Wells zu Berufsberatungsstellen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden diese Geschäfte mit der Phrenologie erfolgreich fortgesetzt. Erst als die Fowler-Firma sich der Unterhaltungsindustrie angliederte, verlor sie ihren wissenschaftlichen Ruf und ging allmählich ihrem Untergang entgegen, der 1928 mit der Auflösung des Büros eintrat. In England und Schottland war ebenfalls der Erfolg der Phrenologie sehr groß. Im Jahre 1843 gab es dort bereits acht phrenologische Gesellschaften. In London errichtete Anthony Deville in den 20-er Jahren ein Büro ein, in dem er phrenologische Untersuchungen vornahm. Die berühmte Irrenanstalt zu Hanswell, das Besserungshaus in Glasgow und die große Strafanstalt auf der Insel Norfolk standen unter der Leitung von Phrenologen, die nach den Vorstellungen von Gall und Spurzheim humanere Bedingungen einführten. Diese erfolgreiche Durchsetzung der phrenologischen Bewegung in England und Amerika, die hauptsächlich der Umwandlung des Gallschen Systems durch Spurzheim und dessen Propagandafeldzug in diesen Ländern zu verdanken war, war mit der Aufnahme und Weiterentwicklung der Phrenologie in Deutschland nicht zu vergleichen. Dort überwog vor allem in philosophischen und literarischen Kreisen seit dem Auftreten Galls die Kritik. Allen voran ging die Kritik Hegels, der sich in seiner 1808 erschienenen ›Phänomenologie des Geistes‹ sowohl mit der Physiognomik als auch mit der Schädellehre Galls auseinandersetzte und die Empfehlung aussprach, einen Physiognomiker zu ohrfeigen und einem Schädelkenner den Schädel einzuschlagen, um so handgreiflich zu erweisen, dass ein Knochen für den Menschen nicht seine wahre Wirklichkeit ist (Hegel 1952, S. 249).
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Abgesehen davon, dass Gall selbst von Anfang an betont hatte, dass er „nichts weniger als ein Fysiognomiker“ sei, hatte er auch ebenso deutlich immer wieder darauf hingewiesen, dass der Gegenstand seiner Untersuchung das Hirn sei und der Schädel nur insofern, als er „ein getreuer Abdruck der äußeren Hirnhälfte ist“ (Gall in Lesky 1979, S. 58). Gerade diese kausale Beziehung, die allerdings auch Gall selbst weder überprüft hat, noch beweisen konnte, wird von Hegel nicht akzeptiert. Er verwirft die Vorstellung von einem mechanischen Verhältnis, das darin besteht, „daß die eigentlichen Organe – und diese sind am Gehirne – ihn hier rund ausdrücken, dort breitschlagen oder platt stoßen, oder wie man sonst diese Einwirkung darstellen mag“ (Hegel 1952, S. 241). Für ihn ist es viel einsichtiger, dass der Schädel als das Härtere eher das Vermögen hat, das Gehirn zu drücken und ihm seine äußeren Beschränkungen zu setzen. Ob aber nun der Schädel das Bestimmende oder das Bestimmte ist, jedenfalls wird mit dem Schädel nicht „gemordet, gestohlen, gedichtet usw.“ (ebd.). Dass Hegels Polemik viel besser auf die spätere Phrenologie zutrifft, die sich völlig von der Untersuchung des Gehirns abgelöst und sich allein auf das Verhältnis von Schädelknochen und geistigen Eigenschaften bezogen hat, und in diesem Sinne auch berechtigt ist, wird durch folgende Bemerkung Hegels deutlich: „Es stehen sich also eben auf der einen Seite eine Menge ruhender Schädelstellen, auf der anderen eine Menge Geistes-Eigenschaften, deren Vielheit und Bestimmung von dem Zustand der Psychologie abhängen wird. Je elender die Vorstellung von dem Geiste ist, umso mehr wird von dieser Seite die Sache erleichtert; denn teils werden die Eigenschaften umso weniger, teils umso abgeschiedener, fest und knöcherner, hier durch Knochenbestimmungen umso ähnlicher und mit ihnen vergleichbarer“ (Hegel 1952, S. 245). In die gleiche Richtung geht Schelling in seinem Aufsatz ›Einiges über die Schädellehre‹ im ›Morgenblatt‹ vom 2. Januar 1807, wenn er schreibt: „In den speziellen Bestimmungen des Hrn. Gall hat den Einsender nur immer spaßhaft gedünkt, daß so viele tüchtige und kapitale Fähigkeiten gar kein rechtes Unterkommen dabei finden, derweil andere untergeordnete, abgeleitete sich ganz breit setzen“ (Schelling 1959, S. 489). Anders als in England und Amerika, wo die Phrenologie von bedeutenden Dichtern wie Edgar Allen Poe und Bulwer Lytton rezipiert worden ist, wurde in Deutschland die Lehre Galls häufig zum Gegenstand von Satire und Polemik. Beispiel dafür sind Jean Paul, Clemens Brentano, Heinrich Heine, E. T. A. Hoffmann und August von Kotzebue, der 1806 ein Lustspiel mit dem Titel ›Die Organe des Gehirns‹ erscheinen ließ (vgl. Oehler-Klein 1990, S. 50). Die Lücke im Rezeptionsprozess der Phrenologie, die vor allem
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in Deutschland die Kritik von Hegel und Schelling gerissen hat, konnte erst durch die Vorlesungstätigkeit der zweiten Generation der Phrenologen wieder geschlossen werden, die allerdings nicht direkt an Gall, sondern an Spurzheim und seine Nachfolger in England, Schottland und Amerika anknüpften. Begonnen hat die phrenologische Bewegung in Deutschland bezeichnenderweise dadurch, dass im Jahre 1842 Combe in Heidelberg einen Kurs phrenologischer Vorträge gab und, wie Scheve, einer der Vertreter dieser zweiten Generation der Phrenologen in Deutschland, sagt, „ so die fast vergessene Lehre in ihr Vaterland“ zurückführte (Scheve 1855, S. 24). Mit dieser zweiten Generation wurde jedoch ebenfalls und mit noch stärkerer Betonung die Phrenologie zu einer „Geisteslehre“, die sich sowohl von der damals noch introspektiv-philosophischen Psychologie (Scheidler, Beucke u. a.) als auch von der durch Carl Gustav Carus (1789 – 1869) vertretenen Kranioskopie distanzierte, die entgegen der ursprünglichen Lokalisationstheorie Galls nur eine symbolische Repräsentanz der seelischen und geistigen Vermögen im Gehirn annahm.
Galls Physiologie und Anatomie des Gehirns als Grundlage seiner Lokalisationstheorie „Der Gegenstand meiner Untersuchung ist das Gehirn“ (Gall in Lesky 1979, S. 58). Dieser programmatische Satz aus dem Jahre 1798 hatte Gall sowohl in seiner mit Spurzheim verfassten Denkschrift vom Jahre 1808 als auch in seinem großen Werk wahr gemacht. Am Beginn der Denkschrift schildert er zunächst die Vorgehensweise, die bei den öffentlichen Demonstrationen auf seiner Reise durch Deutschland nicht nur bei naturwissenschaftlich interessierten Laien wie Goethe, sondern auch bei den Fachanatomen großen Anklang fand: „Bei unseren öffentlichen Zergliederungen des Gehirns pflegen wir einige allgemeine Bemerkungen über das Nervensystem voraus zu schicken. Erst dann gehen wir zur Untersuchung des Rükkenmarks, des verlängerten Markes und des kleinen und großen Gehirns über. Wir befolgen dabei immer den Grundsatz, daß alle Teile in der nämlichen Ordnung und Verbindung untersucht werden müssen, wie sie die Natur selbst festgesetzt zu haben scheint“ (Gall a. a. O., S. 60). Wie Gall dann später in seinem Hauptwerk noch genauer ausführt, wurden diese anatomischen Untersuchungen nur mit dem gewöhnlichen „Sezierzeug“ bestehend aus einer Schere, einer Pinzette, einem Tubus und einigen Messern durchgeführt. Zusätzlich wurden nur noch gröbere Werkzeuge zur Öffnung des Schädels gebraucht, wie Hammer, Kopfsäge und Beißzan-
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ge. Die Verwendung von Vergrößerungsgläsern und Mikroskop lehnte Gall mit der damals durchaus zutreffenden Begründung ab, „daß das Mikroskop gar zu gerne eine Brille wird, wodurch jeder sieht, was er sehen will“ (Gall a. a. O., S. 60). Die fasrige Struktur der Nerven lässt sich mit jedem guten Auge erkennen. Ob dann diese Fasern aus Kügelchen oder aus was immer auch bestehen, diese Streitfrage ist für Gall deswegen ohne Bedeutung, weil nach seiner Meinung ihre Lösung für die Bestimmung der Funktion der Nervenfasern keinen weiteren Aufschluss geben kann. Der anatomische „Kunstgriff“, mit dem er nicht nur die fasrige Struktur der Nerven, sondern auch ihren Verlauf und damit auch ihre Funktion erkennen konnte, bestand darin, „daß wir anstatt zu schneiden, den Nervenfäden nachschaben, ohne ihre Oberfläche zu verletzen.“ Die wichtigste und folgenreichste hirnanatomische Leistung Galls war jedoch, dass er zum ersten Mal klar die zwei Strukturelemente des Nervensystems bestimmte: „Das Nervensystem besteht wesentlich aus zwei ganz verschiedenen Substanzen; aus der Marksubstanz und der Rindensubstanz. Die erstere hat mit dem Marke der Knochen gar nichts gemein; sie ist durchaus faserig oder von den feinsten Nervenfäden zusammengesetzt, und je nachdem diese Fäden mehr oder weniger von Häuten umwickelt sind, sind sie weicher oder fester. Die zweite hat man Rindensubstanz geheißen, weil sie das große und kleine Hirn wie eine Rinde umgibt... Diese Substanz ist sulzig, gallertartig, graulich, rötlich, gelblich, grauschwärzlich, blaß, schmutzig blaß, bald etwas derber, bald fast flüssig u.s.w. Von ihrer innern Struktur weiß man nichts Zuverlässiges; aber sie ist nicht faserig und immer weicher als die fibröse weiße Substanz.“ (Gall a. a. O., S. 62) Die graue Substanz betrachtete Gall als „den Urstoff und die Quelle des Nervensystems“. Durch vergleichende Studien an Würmern, Insekten, Mollusken stellt er fest, dass diese graue Substanz Ganglien oder Knoten bildet, woraus nicht nur Nervenfäden, sondern auch ebenso viele eigene selbständige und unabhängige Nervensysteme entstehen, die zwar untereinander durch Verbindungen in wechselseitiger Einwirkung stehen, aber jedes für sich seine eigene Funktion hat. Auf die Anatomie des Nervensystems des Menschen bezogen heißt das, dass auch das Rückenmark als eine Aufeinanderfolge von Ganglien betrachtet werden muss. Das Gehirn wird dadurch nicht, wie man bisher glaubte, zum Hauptorgan, an dem das Rückenmark hängt, sondern vielmehr umgekehrt zu einer bloßen Verlängerung und Weiterentwicklung des Rückenmarks. Wenn also das Rückenmark selbst als eine Aneinanderreihung von verschiedenen Nervensystemen zu betrachten ist, nämlich: Hals-, Rücken- und Lendenmark, die nach Galls Meinung einzelne Organe mit unterschiedlichen Funktionen darstellen, so regiert das-
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selbe Gesetz die Struktur des Gehirns, das ebenfalls in einzelne Organe zerlegbar ist. Das gilt vor allem auch für die beiden Hemisphären der Großhirnrinde, deren Windungen, soweit sie ein Organ bilden, ihre Fasern von verschiedenen Regionen empfangen. Um das Zusammenwirken der einzelnen Organe und Hirnteile zu erklären, verweist Gall auf Verbindungen zwischen ihnen hin, die aus unterschiedlichen Fasersystemen bestehen. Die größeren Verbindungssysteme sind, wie Gall weiß, schon den ältesten Anatomen aufgefallen. Schon Galen beschreibt das sog. Corpus callosum, das die beiden Großhirnrindenhemisphären miteinander verbindet. Während man jedoch früher nicht auf den Gedanken kam, nachzusehen, in welcher Beziehung diese verbindenden Faserbündel zu den einzelnen Teilen des Gehirns stehen oder ob alle Gehirnteile in ähnlicher Weise miteinander verbunden sind, hat Gall beansprucht, diese Fragestellungen aufgeklärt zu haben, indem er – auch beim Rückenmark – solche Verbindungen nachwies und außerdem den Unterschied von zweierlei Fasersystemen im Großhirn feststellte: das in die verschiedenen Hirneile hereintretende und das heraustretende System, die einigermaßen den heute sog. Assoziations- und Projektionsfasern entsprechen. Aus all dem geht deutlich hervor, dass Galls Lehre keine einfache Erneuerung der alten Lokalisationstheorie war, da sie wie keine Theorie zuvor, die Bedeutung der meist völlig vernachlässigten Großhirnrinde für die höheren geistigen Funktionen klargestellt hat. Wenn sich auch Galls Organologie mit Ausnahme der Lokalisation der Sprache im Vorderlappen als bloße Spekulation herausgestellt hat, so ist doch sein Anspruch, nun „das gesamte Nervensystem von einem weit höheren Standpunkt aus betrachten zu können“ durchaus berechtigt, und seine Worte am Ende seiner an die französische Akademie gerichteten Denkschrift waren trotz ihres fatalistischen Zuges wegweisend für alle weiteren Versuche einer Lokalisation der höheren Hirnfunktionen im 19. Jahrhundert: „Um wie viel reizender und wichtiger wird jetzt das Studium des Gehirnes als es damals sein konnte, wo man es zu einem bloßen Schnitzelwerke herabgewürdiget hatte, weil man es für keine edlere Ansicht empfänglich hielt. Wir sehen im Gehirne nicht mehr bloße Bruchstücke; überall werden Anstalten zu einem Zweck und ungeachtet der verschiedenartigsten Bestimmungen doch überall Vermittlungen zu wechselseitiger Einwirkung erkannt. Wo man bisher nichts als Formen und mechanische Verbindungen sah, da enthüllt sich uns jetzt der ganze materielle Aufwand aller Seelenverrichtungen. So wie die verschiedenen Eingeweide durch einzelne und besondere Nervensysteme beherrscht werden, so wie die verschiedenen Sin-
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nesverrichtungen durch einzelne besondere Nerven erfolgen; ebenso werden die verschiedenen Neigungen und Fähigkeiten der Tierwelt und des Menschen mittels einzelner, besonderer Hirnteile bewirkt. Können wir also auch dem Geiste selbst nichts anhaben, so verfolgen wir ihn doch in seinen Werkzeugen; diese werden uns zum Maßstabe der Kräfte eines jeden Tieres; sie bestimmen uns nicht nur die Scheidewand zwischen Vieh und Mensch, sondern ihre Beschaffenheit und ihre Entwicklung lehren uns auch, warum der eine Mensch zum Weisen, der andere zum Toren, der eine zum Gebieter, der andere zum Sklaven geeignet ist“ (Gall a. a. O., S. 71 f.).
Die Äquipotenztheorie der Großhirnrinde: J. P. Flourens Kurz nach Erscheinen von Galls vierbändigen Hauptwerk veröffentlichte der junge Physiologe Marie Jean Pierre Flourens (1794 – 1867) eine Besprechung, in der er Gall nicht nur als einen Nachfolger, sondern auch als Vervollkommner der sensualistischen Philosophie preist, der Metaphysik und Physiologie zu einer Einheit gebracht hat, in dem er gezeigt hat, dass die geistigen Fähigkeiten des Menschen nichts anderes sind und sein können als die Aktivität unterschiedlicher Gehirnorgane (vgl. Clarke u. Jacyna 1987, S. 278). Das, was er an Galls Auffassung kritisierte, war lediglich, dass er nicht konsequent genug alle die vagen Ausdrücke wie „Seele“ oder „Geist“, die in seinem System keinen Sinn haben können, noch immer verwendet hat. Denn solche abstrakte Bezeichnungen sind nicht mehr als die Zusammenfassung einer Anzahl von einzelnen geistigen Fähigkeiten, denen einzelne Gehirnorgane entsprechen. Die Zurückführung geistiger Fähigkeiten auf separate Organe im Gehirn und deren Lokalisation ist nach Flourens damaliger Meinung genau das, was die Gehirnphysiologie ausmacht. Unter dem Einfluss von Cuvier änderte jedoch Flourens seine Meinung grundsätzlich und wurde zum größten wissenschaftlichen Gegner Galls. In seiner Schrift ›Examen de la phrenologie‹, die lange nach dem Tode Galls in erster Auflage 1842 erschien, kritisierte er nicht nur Gall und Spurzheim, sondern auch den bedeutendsten Vertreter der Phrenologie in Frankreich Joseph Victor Broussais (1772 – 1838), dessen ›Cours de phrénologie‹ er als eine konfuse Mischung (melange confus) von Ideen des sensualistischen Philosophen Condillac mit den Ideen der Phrenologen bezeichnete (Flourens 1845, S. 111). Zwischen diesen beiden so widersprüchlichen Stellungnahmen Flourens’ zu Galls System liegen jedoch seine für die weitere Entwicklung der Hirn-
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forschung richtungsweisenden experimentellen Untersuchungen über die Eigenschaften und Funktionen des Nervensystems der Wirbeltiere, mit denen er seine eigene Auffassung von der Gleichwertigkeit der von Gall in einzelne Organe aufgeteilten Großhirnrinde begründete und damit für lange Zeit ähnlich wie Haller alle Versuche einer Erneuerung der Lokalisationstheorie verhinderte. Im Unterschied zu Haller, der zwar von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Hirnteile, insbesondere von Großhirn und Kleinhirn, überzeugt war, aber dennoch zumindest als mögliche Hypothese über den Sitz der Seele eine Stelle im Hirnmark vermutete, an der die Ursprünge aller Nerven zusammenkommen, schlägt jedoch Flourens auf Grund der bisher seit Haller erreichten Fortschritte in der Anatomie des Gehirns eine Dreiteilung der Funktionsbereiche vor, die er auf folgende Weise lokalisiert: – Die beiden Großhirnhemisphären sind der Sitz der Empfindung, des Willens, des Gedächtnisse und des Intellekts; – das Kleinhirn ist für die Koordination der Bewegung zuständig und – das verlängerte Rückenmark für die vitalen Funktionen wie die Steuerung der Atmung. Ein weiterer Unterschied zu seinen Vorgängern in der experimentellen Hirnphysiologie war eine neue verbesserte Methode. Denn nach seiner Meinung hängt bei experimentellen Untersuchungen alles von der Methode ab: „Es ist die Methode, die die Resultate erbringt. Eine neue Methode führt zu neuen Ergebnissen. Eine rigorose Methode führt zu präzisen Resultaten. Eine vage Methode hat stets nur zu konfusen Resultaten geführt. Wenn man sich begnügt, wie man es vor mir getan hat, den Kopf mit einem Trepan zu öffnen und durch diese Öffnung einen Troikart oder ein Skalpell in das Gehirn einstößt, dann weiß man nie, welche Teile man verletzte und folglich auch nicht, welchen Teilen man die gemachten Beobachtungen zuordnen sollte“ (Flourens 1842, S. 502). Dieser Vorwurf einer groben und unzureichenden Experimentiermethode trifft auch noch auf Luigi Rolando (1773 – 1831) zu, mit dessen Anhängern Flourens später in einen Prioritätsstreit geriet. Rolando hatte bereits 1809 in einer den meisten Zeitgenossen und sicher auch Flourens unbekannt gebliebenen Schrift: ›Saggio sopra la vera struttura del cervello dell’ uomo e degli animali e sopra le funzioni del sistema nervoso‹ (Sassari 1809) von Versuchen über die Funktionen von Groß- und Kleinhirn berichtet, die bereits zu ähnlichen Ergebnissen führten wie bei Flourens. So stellte er bei Verletzungen des Kleinhirns Koordinationsstörungen fest, war aber nicht fähig, seine Erkenntnisse so präzise zu formulieren wie Flourens. Die Koordinationsstörungen erschienen ihm nur als Schwäche, Unsicherheit und
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Lähmung (Neuburger 1897, S. 316). Dagegen stellte er völlig klar und eindeutig fest, dass Spontaneität, Wille und Bewusstsein an das Großhirn gebunden ist. Seine zahlreichen Versuche an Vögeln, Schildkröten und anderen Tierarten zeigten, dass die Zerstörung oder teilweise Wegnahme der Großhirnrinde zu größerer oder geringerer Stupidität und Bewegungslosigkeit führt: Manche Versuchstiere standen nach Entfernung der Großhirnhemisphären unbeweglich, hielten sich aber aufrecht im Gleichgewicht, wenn sie angestoßen wurden, und verschluckten das ihnen eingestopfte Futter. Eine Schildkröte, der ebenfalls das Großhirn entfernt worden war, blieb im Wasser am Boden unbeweglich sitzen, nur wenn man sie heraufzog, schwamm sie wieder. Ein gleichermaßen operierter Hai entfloh, verbarg sich hinter einem Stein und blieb unbeweglich. Ein großhirnloser Rabe zeigte die gleiche Verhaltensweise wie später die Tauben, denen Flourens die Großhirnhemisphären entfernte: „Er blieb ruhig wie im Schlafe, kein äußeres Objekt, selbst nicht die Gegenwart seiner schlimmsten Feinde, versetzte ihn in Zorn“ (vgl. Neuburger 1897, S. 317). Flourens, der diese Resultate erst nach ihrer Veröffentlichung in französischer Sprache im Jahre 1823 zur Kenntnis nahm, konnte jedoch seine Priorität leicht dadurch verteidigen, dass er sich auf die größere Präzision seiner Methode berief. Nach seiner Meinung ist es mit der simplen Methode Rolandos nicht möglich, einen bestimmten Teil des Gehirns zu treffen ohne einen anderen oder sogar mehrere andere Teile zu verletzen. Woran es mangelte war eine experimentelle Methode, die in strikter Weise die Eigenschaften isoliert. Mit einer solchen Methode hat er seine Untersuchungen begonnen, die er im Einzelnen folgendermaßen schildert: „Zwei Hauptpunkte machen die Methode aus, die ich mir vorgegeben habe. Der erste Punkt ist der, daß man das Gehirn durch Entfernung seiner Hüllen freilegt. Der zweite ist, daß man sich nur auf eine Sache konzentriert und immer nur auf diese – eine unter Ausschluß der anderen. Jeder Teil wird auf diese Weise bloßgelegt und liegt vor den Augen des Experimentators“ (Flourens 1842, S. 503). Mit dieser neuen Methode der Freilegung, Isolierung und Abtragung ganz bestimmter Hirnteile gelang es Flourens zunächst die Auffassung Galls von der Funktion des Kleinhirns zu widerlegen. Gall hatte dem Kleinhirn die Funktion des Geschlechts- und Fortpflanzungstriebes zugesprochen. Deshalb bemühte sich Flourens durch ein experimentum crucis nachzuweisen, dass seine Auffassung von der Funktion des Kleinhirn als Steuerungszentrum für die Koordination der Bewegung richtig und diejenige Galls falsch sei. Diesen auch später von den Lokalisationstheoretikern, wie Ferrier, anerkannte und als „maßgebend“ bezeichnete Beweis hat Flourens
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durch einen Hahn geliefert, dessen halbes Kleinhirn er zerstört hatte: „Ich habe das Tier, dem ich ungefähr die Hälfte seines Kleinhirnes entfernt hatte, mehrmals mit Hennen zusammengebracht, und jedes Mal versuchte es, dieselben zu begatten. Allein merkwürdigerweise, so oft es auch diesen Versuch anstellte, er gelang nie; das Tier war in Folge des gestörten Gleichgewichts nicht im Stande, auf den Rücken der Henne zu gelangen und sich oben zu erhalten“ (Flourens 1842, S. 163, vgl. Ferrier 1879, S. 132). Auch die klassischen Erfahrungen wiesen darauf hin, dass die Auffassung Galls von der Funktion des Kleinhirns nicht richtig sein kann. Denn man stellte sogar Fälle von Nymphomanie trotz mangelnden Kleinhirns fest (Ferrier 1879, S. 133). Dagegen waren die Beweise, die Flourens mit seinem Taubenversuchen zur Stützung seiner Auffassung von der Bewegungskoordinationsfunktion des Kleinhirns, sowohl was die Exaktheit der Durchführung als auch die Eindeutigkeit des Ergebnisses anbelangt, überwältigend, wie folgende Beschreibung zeigt: „Ich habe das Kleinhirn bei einer Taube in sukzessiven Schichten abgetragen. Während der Entfernung der ersten Schichten zeigte sich nur Schwäche und Mangel an Harmonie in den Bewegungen. Bei Entfernung der mittleren Lagen trat eine fast allgemeine Aufregung ein, aber ohne Konvulsionen; das Tier führte unregelmäßige, heftig Bewegungen aus; dabei sah und hörte es. Während im Verlaufe dieser Operation die Fähigkeit zu springen, zu fliegen, zu gehen und sich aufrecht zu erhalten, schon immer mehr abgeschwächt wurde, ging sie beim Wegschneiden der letzten Schichten gänzlich verloren. Auf den Rücken gelegt, war die Taube nicht mehr im Stande sich aufzurichten. Aber anstatt ruhig und unbeweglich zu bleiben, wie dies Tiere ohne Großhirn tun, war sie in einem fast andauernden Zustande von Ruhelosigkeit, von sinnloser Aufregung, ohne sich dabei jemals in einer passenden zweckmäßigen Weise zu bewegen. Sie konnte es z. B. sehen, wenn man ihr vor dem Auge drohte, sie wollte dem Schlage ausweichen, machte unzählige Drehungen, um ihn zu vermeiden – aber alles ohne Erfolg. Auf den Rücken gelegt, wollte sie allerdings in dieser Stellung nicht bleiben, allein sie erschöpfte sich in nutzlosen Versuchen, sich wieder zu erheben und mußte schließlich gegen ihren Willen in der unliebsamen Lage verbleiben. Kurz – Wille, Wahrnehmungen und Intelligenz waren erhalten; auch die Möglichkeit, Gesamtbewegungen (mouvements d’ensemble) auszuführen, bestand fort, allein die Fähigkeit, diese einzelnen Bewegungen zu einer regelmäßigen, zweckmäßigen Lokomotion einander anzupassen, zu koordiniren, war vollständig abhanden gekommen“ (Flourens 1842, S. 37, vgl. Ferrier 1879, S. 97 f.). Umgekehrt musste sich jedoch die Entfernung der Großhirnhemisphä-
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ren durch den Verlust von Wille und Wahrnehmung äußern. Das war auch tatsächlich bei den von ihm solcherart operierten Vögeln der Fall: „Sie bewahrten völlig ihr Gleichgewicht; sie liefen, wenn man sie anstieß, wenn man sie in die Luft warf, flogen sie. Sie hielten sich aufrecht auf den Beinen, und wenn man sie nicht weiter reizte, wurden sie wieder völlig unbeweglich und nahmen wieder eine Haltung tiefen Schlafes ein und verbargen erneut ihren Kopf unter dem oberen Rand ihres Flügels“ (Flourens 1842, S. 392). Die Folgerung, die Flourens aus diesen oftmals wiederholten Experimenten zog, war die sog. „Äquipotenz der Großhirnrinde“ d. h. die funktionale Gleichwertigkeit aller ihrer Teile, die jede weitergehende Lokalisation der höheren Hirnfunktionen verbietet. Flourens hat diese Äquipotenztheorie der Großhirnrinde selbst mit allen ihren Konsequenzen auf folgende klare Weise ausgedrückt: „1) Man kann, sei es von vorne oder von hinten her, von oben oder von der Seite, einen recht beträchtlichen Anteil der Großhirnhemisphären wegschneiden, ohne daß dadurch ihre Leistungen aufgehoben werden; es genügt demnach ein geringer Teil der Hemisphären zur Erhaltung ihrer Funktionen. 2) In demselben Maße, in welchem man die Hemisphären abträgt, schwächen sich nach und nach ihre Funktionen ab; wenn eine gewisse Grenze überschritten wird, erlöschen diese vollständig. Die Großhirnhemisphären nehmen daher in ihrer ganzen Ausdehnung Teil an jeder ihrer Leistungen. 3) Wenn schließlich eine Wahrnehmung verloren ist, so sind es alle; sobald eine Fähigkeit erloschen ist, sind sie alle verschwunden. Es haben daher weder die verschiedenen Fähigkeiten, noch die verschiedenen Wahrnehmungen ihren besonderen Sitz. Die Fähigkeit Einerlei wahrzunehmen, zu beurteilen oder zu wollen, ist an dieselbe Stelle gebunden, wie die, etwas anders wahrzunehmen, zu beurteilen oder zu wollen. Folglich hat diese Fähigkeit, wesentlich eine einzige unteilbare, ihren Sitz auch nur in einem einzigen unteilbaren Organe“ (Flourens 1842, S. 99 f.; vgl. Ferrier 1879, S. 136). Flourens war weder der Erste noch der Einzige, der das Tierexperiment und die damit verbundene Vivisektion zur Erforschung der Hirnfunktionen heranzog. Zur selben Zeit und schon früher betrieb wie Rolando auch François Magendie experimentelle Physiologie mit Hilfe der Vivisektion. Im Unterschied zu Flourens war Magendie Arzt und Professor der allgemeinen Pathologie in Paris. Er war aber der Ansicht, dass „die Pathologie des Nervensystems nichts anders als auf den Menschen angewandte Experimentalphysiologie“ (vgl. Hagner 1997, S. 230) sei. Die Resultate seiner Experimente stimmten jedoch nicht immer mit denen von Flourens überein. So stellte er im Gegensatz zu Flourens, der dem Großhirn keinen direkten Einfluss
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auf die Bewegung zubilligte, fest, dass Zerstörungen im Großhirn Laufphänomene bei den Tieren produzierten und bei Kaninchen, deren Kleinhirn – also das Organ der Bewegungskoordination – entfernt wurden, beobachtete er sogar regelmäßige Bewegungen, die nach Flourens nicht hätten vorkommen dürfen (vgl. Neuburger 1897, S. 329). Auf solche Diskrepanzen in den Beobachtungen und Resultaten des Experimentalphysiologen berief sich dann auch Gall in seiner Verteidigung der Lokalisationstheorie: „Diese Methode (sc. die experimentelle), gegenwärtig Lieblingsverfahren unserer physiologischen Forscher, beeindruckt durch ihr materielles Vorgehen und verdient die Billigung der meisten durch ihre Promptheit und ihre augenscheinlichen Ergebnisse. Aber man hat ebenso konstant beobachtet, daß das, was durch den Verstümmler (mutilateur) A als unwiderlegbar bewiesen zu sein schien, entweder dem Verstümmler B nicht gelang oder daß dieser in den gleichen Versuchen alle Beweise richtig gefunden hat, um die Folgerungen seines Vorgängers zu widerlegen“ (Gall a. a. O., S. 166). Außerdem sind für Gall diese grausamen Experimente, vor allem wenn sie an Tieren einer ziemlich niederen Klasse angestellt wurden, fast niemals für den Menschen schlüssig. Bei Experimenten an Hühnern, Tauben, Hasen und Meerschweinchen kann man zwar seiner Meinung nach einige, wenn auch zweifelhafte Resultate für Phänomene der Reizbarkeit, der Bewegung und der Sensibilität erhalten, auf die sich ja „die Herren Rolando und Flourens usw.“ beschränken. Vor allem Flourens gesteht er zu, „sehr geistreiche und mitunter schlüssige Versuchsanordnungen ausgesonnen zu haben“. Aber, so sagt Gall entschieden, „niemals werde ich den Physiologen beistimmen, daß die Läsionen und Verstümmelungen des Gehirns, absichtlich oder zufällig bewirkt, ein Mittel, das einzige Mittel seien, um uns die Funktionen seiner unversehrten Teile kennen zu lehren“ (Gall a. a. O., S. 167). Wie die Philosophen bezieht sich auch Flourens nach Galls Meinung nur auf Allgemeinheiten, die in Wirklichkeit fast dieselben sind wie bei den Reptilien, Fischen, Vögeln, den Säugetieren und beim Menschen. Ebenso wie sie alle erregbar und alle sensibel sind, so haben sie auch alle Willen. Wenn sie fressen, trinken, gehen, fliegen, springen, kriechen und schwimmen können, werden sie von Flourens schon in das Reich der geistigen Fakultäten eingereiht, denn sie haben alle Verstand. Aber wenn es darum geht, etwas über die verschiedenen Kunstfertigkeiten, Neigungen und Instinkte der Tiere zu erfahren, lassen uns die Experimentatoren in einer völligen Wüste. Es ist nach Gall so, als ob für sie diese Qualitäten und Fähigkeiten nicht existierten oder es keine Beziehungen zwischen ihnen und dem Nervensystem gäbe. Und er fordert daher die „Herren physiologischen Experi-
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mentatoren“ auf, zu klären, in welcher Beziehung die von ihm als Grundeigenschaften angesehenen Fähigkeiten zum Gehirn stehen: „Schneidet, stecht, zwickt, nehmt weg, laßt leben eure gemarterten Tiere, solange ihr wollt, und zeigt uns, welche von diesen Fakultäten fortfährt und welche aufhört sich zu manifestieren.“ Keiner von den Experimentatoren hat bisher den Mut gehabt, diese Fragen anzugehen. Aber Gall ist auch davon überzeugt, dass solche grausamen Versuche wegen ihrer Unzulänglichkeit völlig nichtig wären. Auf der „Spitze des Messers“ lassen sich nach seiner Meinung die materiellen Bedingungen dieser Phänomene nicht zeigen. Die weitere Entwicklung der experimentellen Hirnphysiologie bewies jedoch, dass diese von ihm selbst als hoffnungslos angesehene Aufforderung in einer zwar von ihm nicht vorausgeahnten Weise erfüllbar war. Zuvor musste aber Klarheit über die unterschiedliche Leitungsfunktion der Rückenmarksnerven geschaffen werden, die mit der Lokalisation der Hirnfunktion in einem notwendigen Zusammenhang stehen, der bisher nicht beachtet worden ist.
Sensorische und motorische Nerven: Das Bell-Magendie-Gesetz Die Entdeckung von der unterschiedlichen Funktion der Rückenmarksnerven, die Charles Bell (1774 – 1842) in einer kleinen privat gedruckten Schrift: ›Idee einer neuen Anatomie des Gehirns‹ im Jahre 1811 seinen Freunden mitteilte, wurde als die „ohne Zweifel wichtigste Vermehrung unserer physiologischen und anatomischen Kenntnisse seit Harveys Zeiten“ bezeichnet (Charles Henry’s Report of brit. Assot. III, S. 62; vgl. Whewell 1841, S. 490). Sie stammt von einem Mann, der nicht nur, wie er selbst sagt, „im Widerspruch zu herrschenden Lehre“ glaubte, „daß die einzelnen Teile des Gehirns verschiedene Funktionen haben“, sondern auch ein Gegner der Vivisektion war. Da es ihm jedoch nicht möglich war, diese Ansicht durch anatomische Untersuchungen direkt am Gehirn nachzuweisen, musste auch er auf die ihm verhasste Methode des Tierexperimentes zurückgreifen. Die wenigen Versuche, die er unternahm, hatten in seinen Augen nur sekundäre Bedeutung und waren für ihn nur Folgerungen aus anatomischen Studien (vgl. Neuburger 1897, S. 309). Ziel seiner Experimente war zunächst nur der Nachweis der unterschiedlichen Funktion von Großhirn und Kleinhirn. Als erfahrener Anatom wusste Bell, dass sich die Schenkel des Großhirns in das vordere und die des
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Kleinhirns in das hintere Rückenmarksbündel verfolgen lassen. Daher konnte er annehmen, dass man jeweils durch Reizung der vorderen und der hinteren Rückenmarksnervenwurzeln entweder das Großhirn oder das Kleinhirn beeinflussen kann. Tatsächlich zeigten seine Experimente, dass die Reizung des vorderen Rückenmarkteils und der vorderen Wurzeln unmittelbar Muskelbewegungen erregten, während die Reizung des hinteren Teils oder die Durchschneidung der hinteren Wurzeln keine Bewegung hervorbrachte. Damit war für ihn der experimentelle Beweis erbracht, dass das Großhirn die Funktion der willkürlichen Bewegung besitzt, während er sich über die Funktion der hinteren Rückenmarksstränge und des Kleinhirns nicht sicher aussprach. Sowohl seine Abneigung gegenüber der Vivisektion als auch seine Vorliebe für die anatomische Methodik hinderten ihn an der Durchführung weiterer Versuche, die eine eindeutige Antwort auf die Funktion der hinteren Rükkenmarksnerven gegeben hätten. Anders dagegen war die Situation in Frankreich. Dort hatte Magendie durch den Mitarbeiter und Schwager Bells John Shaw (1792 – 1827) von den Ansichten Bells über die unterschiedliche Funktion der Rückenmarksnerven erfahren (vgl. Neuburger 1897, S. 300) und im Jahre 1821 selbst an acht jungen Hunden Durchschneidungen der hinteren Rückenmarkswurzeln unternommen, um sich von deren Funktion Klarheit zu verschaffen. Von diesen Experimenten berichtete er dann ein Jahr später im Journal de Physiologie: „Ich wußte durchaus nicht, was das Resultat dieses Versuches sein würde. Zuerst glaubte ich, daß das den Nerven entsprechende Glied ganz paralysiert sein werde. Auch war es ganz unempfindlich sogar gegen das heftigste Drücken und Quetschen, und es schien mir auch ganz unbeweglich zu sein. Allein zu meiner großen Verwunderung sah ich bald darauf das Glied sich deutlich bewegen, obschon die Empfindlichkeit (sensibilité) noch immer ganz erloschen war“ (Journal de Physiol. Vol. II, S. 376, zit. nach Whewell 1841, S. 492 f.). Nachdem er auch die vorderen Wurzeln der Rückenmarksnervenwurzeln entzwei geschnitten hatte und feststellte, dass das Glied unbeweglich wurde, während es jedoch die Empfindlichkeit beibehielt, kam er zu dem Schluss, dass „die hinteren Wurzeln in ihrer Funktion mehr auf die Empfindung und die vorderen Wurzeln der Rückenmarksnerven mehr auf die Bewegung bezogen sind“. Auch in diesen Aussagen Magendies gab es also keine eindeutige Zuordnung der sensorischen und motorischen Funktionen, sondern nur eine Prädominanz der einen Funktion in einem bestimmten Teil der Rückenmarksnerven. Vollständige Klarheit über die Existenz von spezifisch sensorischen und motorischen Nerven und über die weitreichende Bedeutung dieser Unter-
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scheidung wurde jedoch erst durch die Entdeckung der reflektorischen Beziehungen der hinteren Wurzeln auf die vorderen durch Johannes von Müller und Marshall Hall geschaffen. Da der Ausgangspunkt von Bells Überlegungen die lokalisationstheoretische Hypothese war, dass die unterschiedlichen Funktionen der Rückenmarksnerven auch auf unterschiedliche Funktionen jener Hirnteile hinweisen, mit denen diese Rückenmarksnerven jeweils verbunden sind, kann man mit Recht sagen, „daß er durch seine grundlegenden Arbeiten auch dem fast erlöschenden Gedanken an eine Lokalisation der Funktionen im Gehirn die dauerndste Stütze gab“ (Neuburger 1897, S. 308). Dass Bell nicht nur an die unterschiedlichen Funktionen von Kleinhirn und Großhirn dachte, die ja auch von Flourens angenommen wurden, sondern auch die Lokalisation der Funktionen der Großhirnrinde mit einbezog, zeigt ein weiteres Argument aus seinen klinischen Erfahrungen: „Ich habe verschiedene Male alle inneren Teile des Gehirns krank gefunden, ohne daß es zu einer Beeinträchtigung des Verstandes kam. Doch ich habe niemals eine allgemeine Erkrankung auf der Oberfläche der Hemisphären gesehen, ohne daß der Patient an einer Einschränkung oder einem Verlust seiner geistigen Fähigkeiten litt“ (Bell 1911, S. 40, vgl. Hagner 1997, S. 133). Der Windungsreichtum der Oberfläche der beiden Hemisphären des menschlichen Gehirns war es auch, der zu einer neuen Betrachtungsweise des Organs der Seele führte, die ebenso wie Galls Organologie auch die individuellen Unterschiede zu berücksichtigen versuchte.
Hirngewichte und Hemisphärenwindungen als Maße für Geistesvermögen Der Mythos von den großen Gehirnen: Tiedemann und Huschke „Zwischen der Größe des Hirns und der Energie der intellektuellen Vermögen- und Seelen-Verrichtungen waltete unleugbar eine Beziehung ob, wie Gall behauptet hat“ (Tiedemann 1837, S. 9). Mit diesen Worten leitete der deutsche Anatom Friedrich Tiedemann (1781 – 1861) seine klassische Schrift vom Jahre 1837 über die Hirngewichte und deren Beziehungen zu den physischen und psychischen Eigenschaften des Menschen ein. Um das absolute und relative Gewicht des Gehirns zur Masse des ganzen Körpers zu ermitteln, wog und maß Tiedemann die entsprechenden Teile bei 65 männlichen und weiblichen Leichen und verglich sie mit den vorhandenen Angaben und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen. Zunächst fand er die angeblich schon von Aristoteles aufgestellte Annah-
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me bestätigt, dass das Gehirn von Frauen leichter und kleiner ist als das Gehirn von Männern. Doch macht er auch darauf aufmerksam, dass ein genauer Vergleich der Körpermaße ergibt, dass das Gehirn der Frau, obwohl absolut kleiner als das des Mannes, dennoch relativ zum Körper nicht kleiner ist (Tiedemann 1837, S. 18). Dagegen erwies sich die Behauptung des Aristoteles, dass der Mensch unter allen Tieren im Verhältnis zur Größe des Körpers das größte Gehirn habe, als irrig. Denn Tiedemann wusste bereits, dass viele kleinere Tiere als der Mensch, wie kleine Affen, Nagetiere und Singvögel, relativ zum Körper ein größeres Gehirn als der Mensch haben. Den bereits erwähnten Lehrsatz von Soemmering, dass der Mensch das größte Gehirn bei den kleinsten Nerven besitzt, sieht Tiedemann sowohl durch eigene als auch fremde Untersuchungen als erwiesen an. Nicht dagegen folgt Tiedemann den weiteren Überlegungen Soemmerings über den Unterschied von Negerhirnen und Europäerhirnen. Soemmering behauptete ja in seiner 1784 erschienen Schrift ›Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer‹, dass die Sinnesorgane bei Negern stärker ausgeprägt und ihre Nerven im Verhältnis zum Gehirn größer seien als beim Europäer, der in seinem Lebensbereich mehr geistige Funktionen benötigt und deswegen auch ein vergleichsweise größeres Gehirn besitzen muss. Aus diesem anatomischen Unterschied schließt nun Soemmering, „daß die Mohren weit näher als wir Europäer ans Affen-Geschlecht grenzen“ und „daß es nicht eingebildeter Stolz ist, der uns oft zu weit über die Mohren erhebt“ (Soemmering 1800, S. 5). Tiedemann, der in seiner Untersuchung einen sehr kleinen afrikanischen Neger mit einem sehr niedrigen Hirngewicht präsentierte, machte dagegen aufmerksam, dass es falsch wäre, daraus zu schließen, dass das Negerhirn im Durchschnitt kleiner wäre als das Europäerhirn. Die Beziehung zwischen Hirngröße und Geistesvermögen sieht aber Tiedemann durch die „sehr bedeutende Größe des Gehirns von Männern, die durch eminentes Geistesvermögen glänzten“ als erwiesen an. Er verweist in diesem Zusammenhang einerseits auf das geradezu sagenhafte Hirngewicht des berühmten Gegners von Gall Cuvier und führt andererseits die von Gall und Spurzheim bereits festgestellte Beobachtung an, dass das Hirn von Menschen mit angeborenem Blödsinn (Idiotismus) ungewöhnlich klein sei. Wie wenig diese Ausagen eine allgemeine Korrelation zwischen Hirngewicht und Intelligenz erlauben, hat Tiedemann nach seinem Tode selbst demonstriert. Denn sein Gehirn war mit 1254 Gramm unter dem Durchschnitt der mittleren männlichen Hirngewichte aller bisher untersuchten Völker Europas. Damit war der allgemein akzeptierte Satz, dass alle geistig bedeutenden Männer mit ungewöhnlich großem Gehirn versehen sein müssen,
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widerlegt. Denn dieser lehrreiche Fall Tiedemanns zeigte, dass man auch mit einem derart niedrigen Hirngewicht nicht nur Korrespondent, sondern auch Assoicié étranger der berühmten Pariser Akademie der Wissenschaften werden konnte (vgl. Wagner 1862, S. 101). Ein anderer Befürworter der Beziehung von Hirngewicht und Geistesvermögen war Emil Huschke (1797 – 1858), der in seinem 1854 erschienen Werk ›Schädel, Hirn und Seele des Menschen und der Thiere nach Alter, Geschlecht und Raçe, dargestellt nach neuen Methoden und Untersuchungen‹ (Jena 1854) den Ansichten Tiedemanns folgte und weitere Angaben über besonders schwere Hirngewichte lieferte. So führte er namentlich das Gehirn Lord Byrons mit 2238 Gramm, Cromwells mit 2233 Gramm und Cuviers mit 1829 Gramm an. Darüber hinaus wollte er auch eine Verschiedenheit der Rassen oder Nationen im Bezug auf die durchschnittlichen Hirngewichte feststellen. So übersteigt nach seinen Angaben das mittlere germanische Gehirn mit 1390 Gramm das mittlere französische, das nur wenig über 1300 Gramm beträgt, während das Gehirngewicht der Hindus sogar nur 1000 – 1100 Gramm erreicht (Huschke 1854, S. 60). Diese Angaben, insbesondere über das geringe Hirngewicht der Franzosen, erregte begreiflicherweise den Widerspruch der französischen Anatomen und Anthropologen. So bemühte sich auch der später durch die Entdeckung des motorischen Sprachzentrums berühmt gewordene Begründer der französischen Société Anthropologie Paul Broca (1824 – 1890) die Angaben Huschkes als widersprüchlich und ungenau nachzuweisen: Erstens waren alle Angaben Huschkes über die 29 Franzosengehirne mit Ausnahme einer einzigen, die sich auf das Gehirn eines Kindes bezog, wesentlich höher als 1300 Gramm. Zweitens handelte es sich bei den in Frankreich gewogenen Gehirne nur um gesunde Gehirne, während sich unter den 40 erwachsenen deutschen Männern Huschkes nur 20 befanden, die eines natürlichen Todes starben. Von den anderen 20 starben fast alle eines gewaltsamen Todes. Fast alle waren geisteskranke Verbrecher oder Selbstmörder. Das Gehirn von solchen Individuen, die hauptsächlich durch Erhängen und Ertränken starben, muss schon wegen des Zuflusses des Blutes in den Gehirngefäßen im Mittel schwerer sein. Wenn man diese Individuen aus der Liste Huschkes streicht und die übrig gebliebenen gesunden Germanenhirne mit denen der Franzosen vergleicht, so ergibt sich nach den anerkannt präzisen Berechnungen Brocas sogar „eine leichte Differenz zu Gunsten des französischen Gehirns“ (Broca in Bulletin de la Soc. d’Anthrop. II. p 442). Was aber die ungewöhnlich hohen Angaben über das Hirngewicht von Lord Byron, Cromwell und Cuvier betrifft, wurden diese sehr bald durch den Göttinger Anatomen Rudoph Wagner (1805 – 1864) einer kritischen
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Analyse unterworfen. Sie erwiesen sich nach seiner genauen Recherche als völlig unzuverlässlich. Denn sie beruhten zumeist auf Fehlern und Missverständnissen der damals üblichen Gewichtsmaße. So stammten die phantastischen Angaben über Cromwells Gehirn, das 6 und 1 Viertel Pfund gewogen haben soll, ursprünglich aus einer politisch-religiösen Streitschrift, deren Titel schon ihren polemischen Charakter zeigt: ›Der verschmitzte Welt-Mann und scheinheilige Tyrann in Engelland Olivier Cromwell‹. Offenbar sollte hier Cromwell als physiologisches Monstrum dargestellt werden. Das abnorm große Hirngewicht Lord Byrons dagegen könnte nach Wagners Meinung durch einen Fehler in der Umrechnung der alten Maße in Gramm entstanden sein. Es könnte aber auch durch die Todesursache zu erklären sein. Denn Lord Byron starb während der griechischen Freiheitskämpfe im April 1824 in Missollunghi an einer Hirnentzündung. Sein Leichnam wurde von dort an die griechische Küste nach Zante und dann erst nach England gebracht. Das Gewicht seines Gehirn wurde im Sektionsbericht aus dem Jahre 1825 (The medico-chirurgical Review. New Serie. Vol II, S. 164) mit 6 Medizinal-Pfunden (Six medicinal-pounds) angegeben. Bei diesen Angaben fragt sich jedoch Wagner, was für ein Medizinal-Pfund gemeint sei – abgesehen davon, dass die runde Summe von 6 Pfund bezweifeln lässt, ob die Wägung genau war. Wenn die Sektion, über deren Ort in dem Sektionsbericht keine Angaben gemacht wurden, in Missolunghi oder an der griechischen Küste stattgefunden hat, so ist anzunehmen, dass nicht das englische Medizinal-Pfund (wonach das Gehirn 2239 Gramm gewogen haben würde), sondern das venezianische angewendet wurde. Nach diesem würde dann das Gehirn Byrons zwar immer noch 1807 Gramm wiegen, aber doch nicht so abnorm hoch sein. Hinzu kommt, dass beim Tode Byrons das Gehirn wegen der starken Hirnentzündung sicher hyperämisch, d. h. überreichlich mit Blut gefüllt war. Es war auch im Sektionsbericht von einer Menge blutiger Flüssigkeit in den Gehirnhöhlen die Rede. Auf diese Weise wird dann auch dieses noch immer bedeutende Gewicht erklärlich. Am glaubwürdigsten sind noch die Angaben über Cuviers Gehirn, das laut dem Originalbericht der Sektion von E. Rousseau (Note sur la maladie et la mort de G. Cuvier. In: Archives générales de Médicine Mai 1831, S. 144) 1861 Gramm gewogen haben soll. Allerdings wurde bereits von Pierre Gratiolet (1815 – 1865) der Verdacht auf Wasserkopf ausgesprochen, indem dieser darauf hinwies, „daß Cuvier in seiner Jugend etwas hydrozephalisch gewesen und daß fast alle seine Kinder hydrozephalisch gestorben seien“ (Wagner 1860, 1. Abh., S. 95). Gratiolet war es auch, der versuchte, die versäumte Schädelmessung an Cuviers Leiche dadurch nachzuholen, dass er
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den noch vorhandenen Hut Cuviers untersuchte und dessen Ausmaß mit einer Liste der üblichen Kopfmaße, der in Paris bestellten und verkäuflichen Hüte verglich. Aus diesem Vergleich ergab sich, dass die größte Kopfweite der Hüte, die zumindest von 30 Prozent der Kunden gekauft wurden, sogar um eine Kleinigkeit größer war als die des Hutes von Cuvier. Wagner führt in diesem Zusammenhang eine Anekdote an, die zeigen soll, dass „wenigstens bei deutschen Frauen einzelne Köpfe vorkommen, die selbst bei einer so großen Hutpraxis, wie in Paris für unglaublich gehalten werden“ (Wagner 1862, 2. Abh., S. 102). Einer seiner Freunde, „ein vortrefflicher naturwissenschaftlich gebildeter Arzt“, erzählte ihm, dass er für seine Frau, an der er selbst die Kopfmaße abgenommen hatte, bei einer Modistin in Paris einen Hut bestellen wollte. Diese aber rief bei der Überprüfung des Maßes erstaunt aus: „Mais Monsieur, cette tête est impossible !“ Mit dieser Anekdote wollte Wagner jedoch nicht das bedenkliche Thema zu Gunsten der größeren Schädelkapazität bei den Deutschen im Gegensatz zu den romanischen Völkern wieder aufnehmen, sondern vielmehr zeigen, dass man bei diesen Untersuchungen sehr bald in die „unexakten Methoden der Phrenologie“ geraten kann. Vor allem aber warnt Wagner davor, die Gehirngewichte und Schädelmaße mit dem Geistesvermögen in Beziehung zu setzen. Denn gerade die den Bewohnern der Stromgebiete des Indus und Ganges zugeschriebenen geringen Hirngewichte beweisen das Gegenteil. Diese Völker hatten schon vor mehreren tausend Jahren eine hohe Kultur entwickelt, wunderbare Bauten errichtet und eine Buchstabenschrift erfunden und doch sollen sie eine viel geringere Hirnkapazität besitzen als die kulturlosen Nomaden Asiens, wie die Kalmücken und Tungusen. Aus all diesen Angaben schließt Wagner, dass zwar eine gewisse Schädelkapazität, die einem Gehirngewicht von 1100 bis 1500 Gramm entspricht, unbedingt erforderlich ist, um Geisteskräfte zu entfalten, welche das höhere Kulturleben eines Volkes und bedeutende Leistungen der Individuen ermöglicht, dass aber innerhalb dieser Zahlen liegende Schwankungen keine Bedeutung für die psychische Entwicklung der Individuen haben (Wagner 1862, 2. Abh., S. 103 f.).
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Die Gehirnwindungen des Mathematikers Gauß: Rudolph Wagners Physiologie des menschlichen Gehirns als Seelenorgan Nachdem Rudolph Wagner mit seiner kritischen Untersuchung über die Hirngewichte bedeutender Männer einen allzu leichtfertig akzeptierten populären Lehrsatz über das Verhältnis von Hirngewicht und Intelligenz widerlegt hatte, wandte er sich der zweiten Annahme zu, die selbst von den besonnensten Physiologen dieser Zeit vertreten wurden, welche die, wie Wagner es ausdrückt, „extravaganten Ansichten“ Galls und der Phrenologen im Bezug auf die Lokalisation einzelner Seelenvermögen auf bestimmte „insulare Provinzen“ des großen Gehirns, nicht teilten. Dieser zweite Lehrsatz bezieht sich darauf, „daß man gefunden zu haben glaubte, es zeichnete sich bei sehr intelligenten Männern die Oberfläche der Hemisphären des großen Gehirns durch zahlreiche Windungen und tiefere Furchen zwischen denselben vor anderen gewöhnlichen Gehirnen aus“ (Wagner 1862, 1. Abh., S. 3). Die erste Gelegenheit zu einer strengen und sorgfältigen Prüfung dieser Annahme ergab sich mit dem Tode seines berühmten Kollegen an der Universität Göttingen, des großen Mathematikers und Astronomen Carl Friedrich Gauß, im Jahre 1855. Gauß hatte schon als Kind eine ungewöhnliche mathematische Begabung aufgewiesen. Er selbst pflegte scherzhaft zu sagen, er habe „früher rechnen als sprechen“ können. Als Dreijähriger soll er schon seinen Vater bei der Lohnabrechnung korrigiert haben und als Zehnjähriger berechnete er die Summe der Zahlen von 1 bis 100 nach dem Gesetz der arithmetischen Reihe, das ihm vorher niemand beigebracht hatte. Den Ausschlag zu seiner Entscheidung Mathematik zu studieren gab jedoch seine Entdeckung der Konstruktion des regulären Siebenecks mit Zirkel und Lineal, die er als Achtzehnjähriger im ›Intelligenzblatt‹ vom 1. 6. 1796 veröffentlichte. Mit 30 Jahren nahm er einen Ruf als Professor der Astronomie an der Universität Göttingen an und blieb dort, auch wenn er in den späteren Jahren ehrenvolle Berufungen nach Berlin, Wien, Paris und Petersburg erhielt. Nach seinem Tode ließ der König von Hannover eine Gedenkmünze mit einem Bildnis von Gauß und der Inschrift „Fürst der Mathematiker“ prägen. Sowohl der Arzt, der Gauß bis zu seinem Lebensende behandelt hatte, als auch der Sohn von Gauß gaben Wagner „die Erlaubnis zu einer sorgfältigen Zergliederung des Gehirns und zu einer weiteren Benutzung und Bekanntmachung, wenn dies im Interesse der Wissenschaft liegen sollte“ (Wagner 1860, 1. Abh., S. 4). Wagner selbst betonte ausdrücklich, dass er in einer Verwertung einer so seltenen Gelegenheit, das Gehirn eines der größten Denker und Forscher aller Zeiten genauer zu zergliedern und die Ergebnisse in
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wissenschaftlicher Form darüber bekannt zu machen, keine Verletzung einer Pietät nach irgend einer Seite sehen könne. Auch wollte er mit dieser „streng wissenschaftlichen Form“ seiner Mitteilung sich von „einer falschen Popularisierung und dilettantenhaften Behandlung, wie sie der Gall’schen Schule in diesem Gebiet eigentümlich ist“, abgrenzen. Diese verantwortungsvolle Haltung verschaffte Wagner noch weitere Untersuchungsobjekte, sowohl durch Todesfälle innerhalb als auch außerhalb seiner Universität. Auf diese Weise konnte er auch Vergleiche zwischen verschieden begabten Wissenschaftlern wie den Mathematikern Gauß und Dirichlet, einem ungenannt gebliebenen berühmten Naturforscher, dem Altertumsforscher C. F. Hermann und einem einfachen Handarbeiter namens Krebs anstellen. Sein Ziel war, eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Beziehung von Hirnwindungsreichtum und Intelligenz zu erlangen. Um diese Frage beantworten zu können, waren jedoch grundsätzliche Überlegungen zur Struktur und Funktion der Großhirnrinde nötig. Alles, was man bisher aus Experimenten an Tieren und aus pathologischen Erfahrungen beim Menschen wusste, führte zur Auffassung, dass in der grauen Rindenschicht der Windungen der Großhirnhemisphären, die wichtigsten psychischen Prozesse stattfinden und daher auch die Annahme einer Beziehung der Masse der Rindensubstanz und der Intelligenz nahe liegend ist. Die Masse dieser grauen Rindenschicht kann durch eine Vergrößerung der Oberfläche vermehrt werden, die durch eine Faltung erreicht wird. Wenn bei gleich großer Schädelkapazität, gleichem Gehirnvolumen und gleicher Dicke der Rindenschicht bei zwei Menschen oder zwei Tieren in einem von beiden eine größere Anzahl von Falten und eine größere Tiefe der Windungen vorhanden ist, so kann man dies als eine Vermehrung der Elemente der Rindensubstanz betrachten, die, wie allgemein angenommen wurde, der Ort der höheren psychischen Funktionen ist. Solche Überlegungen hatte bereits Erasistratos, wie Wagner weiß, vor 2000 Jahren angestellt, wenn er behauptet hat, dass beim Menschen ein stärker gewundenes großes und kleines Gehirn als bei anderen Tieren deshalb vorhanden ist, weil die Menschen die übrigen Tiere an geistigen Eigenschaften übertreffen. Aber, so argumentiert Wagner, man müsse bei diesen Aussagen dieselbe Vorsicht walten lasen, wie Galen, der gegen Erasistratos anführte, dass auch die dummen Esel ein mit vielen Windungen versehenes Gehirn besitzen. Umgekehrt hat man aber auch festgestellt, dass alle Vögel, so verschieden sie in ihren psychischen Begabungen sein mögen, glatte oder windungslose Hemisphären haben, während bei den Delphinen und Walfischen ein großer Windungsreichtum der Großhirnhemisphären vorhanden ist, der sogar den der Katzen, Hunde und höheren Affen übertrifft.
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Eine genaue Bestimmung der Lage und Strukturen der Hirnwindungen war jedoch zu dieser Zeit nicht möglich. Bis in die jüngste Zeit vor den Untersuchungen Wagners fanden auch die geübtesten Anatomen die Hirnwindungen so chaotisch, dass nur völlig unzureichende Abbildungen der Oberfläche des menschlichen Gehirns erschienen sind: „Man glaubte einen Haufen Gedärme vor sich zu haben, deren einzelne Lagen mehr zufällig seien“ (Wagner 1860, 1. Abh., S. 11). Eine von Wagner nicht bemerkte Ausnahme bildete jedoch der bereits erwähnte italienische Rivale von Flourens Luigi Rolando, der mit seiner 1829 erschienenen Schrift ›Della Struttura degli emesferi cerebrali‹ den ersten wirklichen Fortschritt brachte, indem er die später nach ihm benannte vordere und hintere Zentralwindung als konstante Struktur erkannte, die sich jedoch bereits auf der Abbildung von Gall aus dem Jahre 1810 finden lassen, jedoch ohne Benennung und Beschreibung. Den Ariadnefaden durch das Labyrinth der Hirnwindungen fanden jedoch die beiden französischen Forscher Fr. Leuret und P. Gratiolet mit Hilfe der vergleichenden anatomischen Methode. In ihrem dreibändigen Werk von 1839 – 1857 ›Anatomie comparée du système nerveux‹ kamen sie zu dem Ergebnis, dass sich bei Säugetieren und Menschen drei oder vier halbkreisförmige Längswindungen als konstant erweisen. Beim Elefanten, dem Affen und Menschen werden diese sonst durchgehenden Windungen von den querlaufenden vorderen und hinteren Rolando’schen Zentralwindungen unterbrochen. Gratiolet, der nach dem frühen Tode von Leuret, das Werk allein fortsetzte, lieferte auch im zweiten Band jene bis heute gültige Lappeneinteilung der Großhirnhemisphären (vgl. Grünthal 1957, S. 111), an der sich auch Huschke und Wagner orientierten. Wichtiger als die Methode der vergleichenden Anatomie war jedoch für Wagner die ontogenetische Methode, welche die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns vom ungeborenen Fötus bis zum Erwachsenen zu Hilfe nimmt, um die konstant bleibenden Hauptfurchen und Hauptwindungen der Großhirnrinde festzustellen und sie von den kleineren untergeordneten Furchen und Windungen zu unterscheiden, die zahlreiche individuelle und wie es scheint auch geschlechtliche Verschiedenheiten aufweisen. Von besonderer Bedeutung für die Frage nach der Beziehung von Hirnwindungen und Intelligenz waren für Wagner die Stirnlappenwindungen, die bei den einzelnen Individuen eine große Verschiedenheit aufwiesen. Als Hauptergebnis seiner Untersuchungen und Vergleiche der von ihm sorgfältig präparierten, in Weingeist gehärteten Gehirne konnte Wagner zunächst festhalten, dass sich einzelne Gehirne großer Denker (Gauß, Dirichlet) durch reiche Windungen auszeichnen. Aber auch bei geistig sehr tätig gewesenen Männern kommen in Bezug auf Komplikation der Hirn-
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windungen minder reich entwickelte Gehirne vor, wie z. B. bei dem Altertumsforscher Hermann oder bei dem langjährigen Sekretär der Göttinger Akademie der Wissenschaften, dem Mineralogen Hausmann, der überdies noch das geringe Hirngewicht von nur 1226 Gramm aufwies, sodass man sich mehrfach von Seiten der Pariser Société d’Anthropologie besorgt nach dem Wert seiner Arbeiten erkundigte und sich erst beruhigte, als man angeben konnte, dass er Korrespondent der Académie des sciences gewesen sei. Besonders aufschlussreich war jedoch der Vergleich zwischen den Gehirnen von Gauß und dem Handarbeiter Krebs, den Wagner als „einfachen, schlichten aber verständigen Mann aus der unteren Volksklasse“ bezeichnet. Bei dem Gehirn des Handarbeiters sind die Stirnlappenwindungen einfache geschlängelte Wülste, während sie bei Gauß dünn und fein sind und sich sowohl durch besonderen Windungsreichtum als auch durch eine Asymmetrie in ihrer Anordnung in den beiden Hemisphären auszeichnen. Auch die Hinterhauptslappen sind besonders reich gegliedert. Das Gleiche lässt sich von dem Gehirn des Nachfolgers auf dem Lehrstuhl von Gauß Lejeune Dirichlet (1805 – 1859) sagen, der nur vier Jahre nach seiner Berufung starb und gleich nach seinem Tode von Wagner seziert worden ist. Auch sein Gehirn zeichnet sich durch besonders starke und tiefe Furchen und geschlängelte Windungen aus: Vor allem die auf beiden Seiten asymmetrisch angeordneten ersten Stirnlappenwindungen. Dagegen weist das Gehirn des Altertumsforschers viel mehr Übereinstimmungen mit dem des einfachen Handarbeiters auf. Die Stirnlappenwindungen sind zwar etwas mehr gegliedert als bei dem Gehirn von Krebs aber wesentlich einfacher gestaltet als bei den beiden Mathematikern. Gerade aus diesem Vergleich wird für Wagner auch deutlich, dass die Frage, ob bei sehr begabten und geistig tätigen Individuen die Windungen der Großhirnhemisphären ungewöhnlich reich und kompliziert entwickelt sind, „noch nicht spruchreif ist“ (Wagner 1860, 1. Abh., S. 90). Das entscheidende Hindernis für eine genauere Antwort war vor allem der Mangel an genauen Messmethoden. Bei den großen Schwierigkeiten, die Vielzahl, Richtung und Tiefe der Hirnwindungen festzustellen, ohne das Gehirn selbst zu zerstören, war an eine auch nur annähernde Exaktheit nicht zu denken. Aber die einfachen Vergleiche und Betrachtungen der Hirnwindungen und ungefähre Schätzungen ihrer Abmessungen waren für Wagner ausreichend genug um zu einer positiven Beantwortung seiner Fragestellung zu kommen. Während er die Ergebnisse aus den Messungen der Gehirngewichte und deren angebliche Beziehung zu den Geistesvermögen für unsicher, zweifelhaft oder sogar als irrig bezeichnet, die sich jedoch bedauerlicherweise noch weiter in der Wissenschaft fortschleppten, glaubt er nach seinen eigenen
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Untersuchungen, eine Bestätigung des früher noch als unsicher angenommenen Lehrsatzes zu sehen, dass „größere Furchenbildung, Zerklüftungen oder reichere Windungsbildung der Hirnoberfläche bei größerer Intelligenz gefunden wird“. Er verkennt aber weder das Vage in dieser Ausdrucksweise noch das Unsichere, das in der so geringen Zahl der Fälle liegt, und verweist darauf hin, dass man in diesem schwierigen Untersuchungsgebiet „auch mit kleinen Aussichten zufrieden sein muß, die in ferner Zeit nach mühsamen und zahlreichen Untersuchungen sich erwarten lassen“ (Wagner 1862, 2. Abh., S. 24).
Elitegehirne und mikrozephale Idioten Tatsächlich lösten diese Untersuchungen Wagners eine Flut von weiteren Untersuchungen über die sog. „Elitegehirne“ aus, die bis zu den heutigen Tagen reicht. Sie ist mit der Kopfjägerei zu Galls Zeiten durchaus vergleichbar und führte ebenfalls zu sehr fragwürdigen Resultaten und Angaben. So weist Wagner selbst darauf hin, dass die öfters vorkommenden Angaben bei Sektionen geistig bedeutender Männer von besonders reich entwickelten Gehirnen ohne nähere Vergleichung anderer Gehirne wertlos ist. Als Beispiel führt er den Wiener Obduktionsbericht der Leiche von Beethoven an, der besagte, dass die Windungen dieses Gehirns, „nochmals so tief und zahlreicher als gewöhnlich“ waren. Außerdem wurde trotz der Kritik Wagners an dem Mythos der großen Gehirne und auch noch weiterhin an der Beziehung von Hirngewicht und geistigen Vermögen festgehalten und mit der seiner Meinung nach zumindest vage bestätigten Hypothese von der Beziehung zwischen Gehirnwindungen und Intelligenz vermengt. Insbesondere waren es die von Wagner selbst wenig beachteten Unterschiede der Hirngewichte verschiedener Völker, deren Untersuchung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wahre Blütezeit erlebte. Zunächst wurden die Vergleiche zwischen den europäischen Völkern fortgesetzt. Zu den viel diskutierten aber fragwürdigen und zum Teil einander widersprechenden Resultaten über Vergleiche zwischen den Gewichten von französischen und deutschen Gehirnen kamen Untersuchungen über das mittlere Hirngewicht von Engländern und Schotten hinzu. Aus all diesen Angaben berechnete man schließlich das mittlere Hirngewicht des männlichen Europäers mit 1390 Gramm oder 49 Unzen (vgl. Bastian 1882, 2. Teil, S. 27). Der Vergleich dieses mittleren europäischen Hirngewichts mit dem der Völker Afrikas und Asiens weist aber bereits deutliche Züge eines damals
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durchaus üblichen Rassismus auf. So ergab eine Wägung von nur zwölf männlichen Negergehirnen ein mittleres Hirngewicht von 1255 Gramm. Daraus schloss man voreilig, dass „der Einfluß der Rasse auf das Gehirngewicht kaum zu bezweifeln ist und mit Bestimmtheit zu erwarten ist, daß die direkte Beobachtung der Gehirne anderer niederer Rassen zu ähnlichen Ergebnis führen wird. Die Gehirne der Hindus, Hottentotten, Buschmänner und Australneger haben wahrscheinlich ein noch geringeres Gewicht als das Gehirn der Neger“ (vgl. Bastian 1882, S. 28). Obwohl immer wieder betont wurde, dass bei all diesen Gehirnwägungen auch die Körpergröße berücksichtigt werden sollte, kamen dann doch solch unkritische Bemerkungen vor, wie die Aussage, „daß das Gehirngewicht des männlichen Negers mit dem des weiblichen Europäers übereinstimmt“ (a. a. O.). Während sich auf diese Weise auch die weitergehende Vermutung, dass das geringste Gehirngewicht sich bei den Buschleuten Afrikas vorfinden müsse, durch die bereits von Gratiolet untersuchte sog. „hottentottische Venus“, die außerdem noch eine bemerkenswert einfache und symmetrische Struktur der Hirnwindungen aufwies, scheinbar bestätigte, sollte man bei den Völkern Asiens eine Überraschung erleben. So wurden bei der Vermessung von sechzehn Gehirnen von Chinesen, die im Jahre 1874 einem großen Taifun in Hongkong zum Opfer fielen und die alle mit einer Ausnahme der niedrigsten Stufe der chinesischen Gesellschaft, den Kulis, zugehörten, erstaunlich hohe Hirngewichte gefunden, die sogar das europäische Mittelmaß übertrafen. Während man diese Tatsache noch mit der alten und sehr hohen Kultur der Chinesen erklären konnte, die sich auch auf die Hirngröße der Kulis ausgewirkt haben soll, ergaben weitere Untersuchungen, dass selbst die als „niederste“ Völker eingestuften Ureinwohner Australiens in ihrer Hirngröße keineswegs von denen der Europäer abweichen. Das Resultat lautete vielmehr: „Es ist absolut unmöglich, ein Gehirn als zu einer bestimmten Rasse gehörig zu erkennen oder mit anderen Worten, wir können nicht einsehen, wann ein gewisses Gehirn einem Australier angehört hat und warum es nicht ebenso gut in den Schädel eines Europäers passen würde“ (Kohlbrugge in: Kahn 1929, Bd. IV, S. 210). Und von den Feuerländern wurde gesagt, dass ihr Hirngewicht relativ zu ihrer Körpergröße sogar noch günstiger ist als bei den Europäern, während sie im bezug auf den Windungstyp ebenfalls auf der gleichen Höhe stehen wie die Europäer. Und als man durch neue Methoden das Flächenmaß der grauen Hirnrinde bestimmen konnte, stellte man zur großen Überraschung fest, dass nicht die Europäer, sondern die Hottentotten die ausgedehnteste Rinde besitzen. Auch die weiteren Untersuchungen über Gewicht und Hirnwindungsty-
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pus von bedeutenden Menschen ergaben widersprüchliche und seltsame Resultate, die demonstrieren, dass die dabei verwendeten Methoden des Vergleichs und der Messung der Gehirne viel zu grobschlächtig sind, um die individuelle Funktion und Leistung des „Seelenorgans“ zu bestimmen. So rühmte man das besonders kleine Gehirn des französischen Dichters Anatole France als eine „wahre Goldschmiedearbeit“ vergleichbar einem Uhrwerk, das von außen sehr schön ziseliert und von innen eine vollkommene Mechanik aufweist. Andererseits muss man feststellen, dass die „Viel-Windigkeit“ (Poly-Gyrie) eine nicht selten angetroffene Anomalie des Idiotengehirns ist. Besonderheiten der Großhirnoberfläche von bedeutenden Gelehrten, wie sie Helmholtz besaß, die man mit der genialen Vielseitigkeit ihres Trägers in Zusammenhang brachte, fand man später auch an einem Affengehirn. Derartige Spekulationen über Windungsreichtum und Größe individueller Gehirne führten noch zu einem weiteren Untersuchungsobjekt der Hirnforschung, das sozusagen die Gegenseite der Elitegehirne darstellt. Bereits in seiner ersten Abhandlung über die Hirnbildung besonders intelligenter Männer hatte Rudolph Wagner davon gesprochen, wie wünschenswert es sei, Gehirne von hirnarmen Individuen, von sog. Mikrozephalen, auf die gleiche Weise wie die der intelligenten Männer auf ihre Gewichtsverhältnisse und Oberflächenstruktur zu untersuchen. Nach vergeblichen öffentlichen Aufrufen erhielt er von einem alten Freund und Studiengenossen, der selbst ein Professor der Anatomie und praktizierender Arzt war, den frischen Kopf eines 26-jährigen Mikrozephalus, dessen Gehirn er mit den gleichen Methoden wie das Gehirn von Gauß präparierte. Neue Mitteilungen von Gratiolet über Mikrozephalie und verschiedene detaillierte Beschreibungen englischer Naturforscher von frischen Gehirnen von Orang-Utan und Schimpanse ermunterten Wagner zu weiteren Vergleichen, die ihn schließlich auch mit den vor kurzem erschienenen Aufsehen erregenden Ansichten Darwins (1859) über die Veränderung der Arten der Lebewesen konfrontierten. Auch hier kam ihm, wie im Fall des Todes von Gauß, der Zufall zur Hilfe. Er konnte sich zwar kein frisches Schimpansengehirn verschaffen, aber in einer durch Göttingen durchreisenden Menagerie starb zu rechten Zeit ein altes männliches Individuum des gewöhnlichen grünen Affen (Cercopithecus sabaeus), dessen Gehirn er ebenfalls nach seiner Methode der Härtung mit Weingeist präparieren konnte. Hinzu kamen noch ein männliches und weibliches Gehirn. Das männliche stammte von dem Göttinger Kliniker C. H. Fuchs, eines intelligenten Mannes, der im 51. Lebensjahr starb, während das weibliche Gehirn einer 29jährigen Frau „von gewöhnlichem Schlage“ gehörte. Auf diese Weise hatte
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Wagner vier Untersuchungsobjekte in der Hand, die auf gleiche Weise präpariert, zusammen mit dem bereits aus der Literatur bekannten Material ihm weitreichende Schlüsse über den Unterschied der Geschlechter und Arten im Bezug sowohl auf Größe und Struktur des Gehirns als auch auf den damit verbundenen Grad der Intelligenz erlaubten. Denn es ging ihm ja, wie der Gesamttitel seines Werkes angibt, um das „menschliche Gehirn als Seelenorgan.“ Die Vergleiche mit diesen Untersuchungsobjekten ergänzt durch Abbildungen von Gehirnen menschlicher Föten und höheren Affen, wie Gibbon (Hylobates) und Schimpanse (Troglodytes) ergab eine Stufenfolge von den höheren Affen bis zum menschlichen Weib und „bis zur vollkommensten Form des männlichen Gehirns und ihr parallel die Ausbildung im Fötus des Menschen“. Dieses Ergebnis wäre auch nach der Meinung Wagners ein Beleg für einen alten Satz der tierischen Morphologie, der früher aufgestellt, oft verworfen aber wenigstens vielfach modifiziert worden ist, „daß der menschliche Embryo in seinen Metamorphosen die bleibenden Tierstufen durchlaufe“ (Wagner 1862, S. 29). Zugleich wäre aber auch der Darwinschen Evolutionstheorie ein Argument aus der Hirnforschung geliefert. Denn wenn die wesentliche Anordnung der Windungen beim erwachsenen Menschen und den höheren Affen dieselbe ist, dann gibt es auch kein hinreichendes Motiv zur Trennung des Menschen von den Tieren und man kann die bloß graduelle Verschiedenheit der Hirnstrukturen auch als eine phylogenetische Entwicklungsreihe auffassen, die durch die embryonale ontogenetische Entwicklung des menschlichen Gehirns eine zusätzliche Stütze gewinnt. Außerdem lässt sich dann auch die Mikrozephalie als eine Entwicklungshemmung des menschlichen Gehirns erklären, das auf einer niedrigeren Stufe der Evolution stehen geblieben ist. Gerade aber diesen Hinweis auf diese bereits von K. E. von Baer und später von Haeckel vertretene Parallele von Ontogenese und Phylogenese des Menschenhirns leugnet Wagner und beruft sich in diesem Zusammenhang auf Gratiolet, der nach seinen Forschungen der Entwicklungsstadien des Menschen- und Affenhirns den Satz aufgestellt hat, „daß das Gehirn des Menschen umso mehr von dem des Affen abweicht, je weniger es entwickelt ist“ (Mémoires de la Societé d’Anthropologie de Paris 1860; vgl. Wagner 1860, 1. Abh., S. 88). Im Gehirne der Affen sollen nämlich zuerst die Windungen im Schläfenlappen und zuletzt im Stirnlappen auftreten. Beim Menschen dagegen erscheinen zuerst die Windungen der Stirnlappen und zuletzt die des Schläfenlappen. Daraus zieht Wagner die Konsequenz, dass Mikrozephalie keine Entwicklungshemmung ist, die den Menschen auf eine frühere Stufe der Evolution zurückfallen lässt. Vielmehr behalten seiner Meinung nach alle Variationen des menschlichen Gehirns – Gehirne verschiedener
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Rassen, Geschlechter, Individuen, normale und pathologische Gehirne – den menschlichen Grundtypus bei und schlagen nicht in den Affentypus um. Ebenso zeigen auch alle Affengehirne unter sich die größte morphologische Verwandtschaft. Sie können voneinander abgeleitet werden, weil sie Metamorphosen des Typus einer Gattung sind, der aber streng geschieden ist von dem Typus z. B. der Katzen, der Hunde, oder der Wiederkäuer. Wagners Untersuchungen des Gehirns des mikrozephalen Idioten bestätigten ihn auch in dieser Auffassung von einem spezifischen menschlichen Grundtypus des Gehirnbaues, der sich sogar noch in diesen pathologischen Erscheinungsformen zeigt. Denn aus ihnen geht hervor, dass Mikrozephalenund Affengehirne im Ganzen durch diese Verkümmerung des Menschengehirns nicht ähnlicher, sondern vielmehr unähnlicher werden, vor allem durch die Verkümmerung des Hinterhauptslappens bei den Mikrozephalen, der nicht mehr wie bei den anthropoiden Affen das Kleinhirn bedecken kann. Auch die affenähnlichen Bewegungsformen der Mikrozephalen, die einen schwankenden trippelnden Gang am Boden aufweisen, aber hurtig und behände beim Klettern sind, bestätigt viel mehr die Annahme, dass das Kleinhirn, das bei den Mikrozephalen in viel geringerem Maß oder gar nicht verkümmert ist, nicht bei der Intelligenz, wohl aber bei den Körperbewegungen beteiligt ist (Wagner 1862, 2. Abh., S. 85). Die Vorstellung aber, dass die sog. primitiven Völker durch Degeneration aus einer Mikrozephalen-Familie entstanden sein könnten, die sich in der Wildnis eine Zeit lang erhalten und zu einen eigenen Stamm oder Volk entwickelt hätten, wie z. B. die Buschmänner oder Feuerländer, lehnt Wagner strikte ab: „Denn dieselbe Ordnung im Haushalt der Natur, welche die Bastarde und Mischlinge der Tiere nicht aufkommen läßt, wird auch verhindern, dass eine Idiotenfamilie eine historische Existenz erlangt. Weder Feuerländer noch Buschmänner sind Idioten“ (Wagner 1862, 2. Abh., S. 82). Die Mikrozephalen sind vielmehr Glieder einer pathologischen Entwicklungsreihe des Menschen. Sie stellen keinen Rückfall in den Affentypus oder eine Verähnlichung mit diesem dar, sondern sind als Zwischenstufe zwischen den unglücklichen Geschöpfen, die von Geburt an kein Großhirn besitzen, den sog. „Anenzephalen“, und den „Wasserköpfen“ oder sog. „Hydrozephalen“ zu betrachten. Obwohl Wagner aus den bereits von Gratiolet hervorgehobenen entwicklungsgeschichtlichen Gründen, die der embryonalen Entwicklung des Menschenhirns eine Sonderstellung einräumen, der Darwinschen Theorie nicht beipflichtet, kommt er doch in der Frage nach der Vererbbarkeit der Intelligenz zur Auffassung eines, wie man heute sagen würde, genetischen Determinismus, der sogar die der Anhänger Darwins übertrifft: „Idioten
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und Genies werden geboren, wie die Entwicklungsgeschichte ihres Gehirns zeigt“ (Wagner 1862, 2. Abh., S. 85). Die genaue Analyse der Oberfläche der Großhirnhemisphären brachte zwar keine Entscheidung in der Streitfrage Lokalisation oder Äquipotenz ihrer Funktionen, sie lieferte jedoch gegenüber den höchst willkürlichen Anordnungsversuchen psychischer Fähigkeiten in Galls Organologie oder Schädellehre durch die Feststellung konstanter Furchen und Windungszüge ein Fundament für die Neuentstehung der Lokalisationstheorie. Sie ließ aber die Frage nach der in allen physiologischen Experimenten vorausgesetzten Ähnlichkeiten der Funktionen der Großhirnrinde bei Tier und Mensch ungeklärt. Die Antwort darauf konnte nur die Evolutionstheorie geben, deren materialistische Interpretation jedoch wiederum in den von Wagner streng vermiedenen Rassismus führte.
Die evolutionäre Begründung des Tier-MenschVergleichs in der Hirnforschung: Darwin, Huxley und die Folgen So unterschiedlich, ja konträr die Meinungen von Gall und Flourens im Bezug auf die Frage Lokalisation oder Äquipotenz der Großhirnrinde waren, beide benutzen den Tier-Mensch-Vergleich für die Hirnforschung. Sowohl die Verhaltensbeobachtungen von Gall als auch die grausamen Experimente von Flourens gingen von der Voraussetzung aus, dass die Gehirne von Tieren und Menschen grundsätzlich eine ähnliche Struktur besitzen und daher auch ähnliche Funktionen vorhanden sein müssen, vor allem, was die Steuerung der lebenswichtigen Funktionen Atmung und Herztätigkeit und die sensorischen und motorischen Funktionen betrifft. Aber keiner von beiden führte diese Ähnlichkeiten von Struktur und Funktion des Gehirns von Tieren und Menschen auf Verwandtschaft zurück, die Kluft zwischen Mensch und Tier war für beide unüberbrückbar. Diese Auffassung sollte sich mit dem Auftreten der Evolutionstheorie Darwins radikal ändern. Darwin führt als eine der Tatsachen, welche für die Abstammung des Menschen von einer niederen Form zeugen, an, dass auch das Gehirn des Menschen „denselben Bildungsgesetzen“ wie das der anderen Säugetiere gehorcht. Wie alle Knochen seines Skelettes mit den entsprechenden Knochen eines Affen oder einer Fledermaus oder Robbe verglichen werden können, ebenso die Muskeln, Nerven Blutgefäße und Eingeweide, so kann auch das „bedeutungsvollste aller seiner Organe“, das Gehirn, mit dem Gehirn eines Schimpansen und Orang verglichen werden.
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Entgegen den mit eigentümlicher Zähigkeit immer wieder aufgestellten Behauptungen, dass die Gehirne aller Affen, selbst der höchsten, von dem des Menschen abweichen, weil bei ihnen so auffällige Gebilde des menschlichen Gehirns, wie der hintere Lappen der Großhirnhemisphären mit dem hinteren Horn der Seitenventrikel und des darin enthaltenen Hippocampus minor, fehlen sollen, haben bereits zeitgenössische Gegner der Evolutionstheorie Darwins unter den Hirnanatomen zugeben müssen, dass diese Organe im Gehirn aller Affen mit Ausnahme der Lemuren ebenso gut wenn nicht besser entwickelt sind. Auch haben die lange Reihe der anatomischen Untersuchungen, die auf die Anordnungen der komplizierten Furchen und Windungen auf der Oberfläche der Großhirnhemisphären beim Menschen und den höheren Affen gerichtet waren, eindeutig die große Ähnlichkeit, ja sogar grundsätzliche Gleichheit gezeigt: „Jede Hauptwindung und jede Hauptfurche eines Schimpansengehirns ist in dem Gehirn eines Menschen deutlich vertreten, so daß die für den einen Fall angewandte Terminologie auch auf den anderen paßt“ (Huxley in Darwin, Bd. 1 1875, S. 261). Sogar der von Darwin und seinem Mitstreiter Thomas Henry Huxley als Gegner bezeichnete deutsche Anatomieprofessor Bischoff stellte in einer Abhandlung, die noch vor Darwins ›Abstammung des Menschen‹ (1871) erschienen ist, fest: „Daß die Affen und namentlich Orang, Schimpanse und Gorilla dem Menschen in ihrer ganzen Organisation sehr nahe stehen, viel näher als irgend ein anderes Tier, ist eine altbekannte, von niemand bezweifelte Tatsache. Von dem Gesichtspunkt der Organisation allein aufgefaßt würde wohl niemand jemals der Ansicht Linnés entgegengetreten sein, den Menschen nur als eine besondere Art an die Spitze der Säugetiere und jener Affen zu stellen. Beide zeigen in allen ihren Organen eine so nahe Verwandtschaft, daß es ja der genauesten anatomischen Untersuchungen bedarf, um alle dennoch vorhandenen Unterschiede nachzuweisen. So steht es auch mit den Gehirnen. Die Gehirne des Menschen, Orang, Schimpansen, Gorilla stehen sich trotz aller vorhandenen wichtigen Verschiedenheiten doch sehr nahe“ (Bischoff 1870, S. 491). Eine völlige Übereinstimmung konnte man auch nach Darwins Meinung nicht erwarten, „denn sonst würden ihre geistigen Fähigkeiten dieselben gewesen sein“ (Darwin 1875, S. 8 f). Die Behauptung Bischoffs, dass sich die einzelnen ontogenetischen Entwicklungsphasen des Menschenhirns und des Affenhirns fundamental unterscheiden, die schon früher von dem französischen Hirnanatomen Gratiolet vertreten worden ist, wurde dagegen durch weitere Entdeckungen, von denen Huxley berichtet, widerlegt. Aus diesen Untersuchungen ging hervor, „daß die Reihenfolge des Auftretens der Furchen und Windungen im fötalen menschlichen Gehirn in vollkom-
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mener Harmonie mit der Entwicklungslehre (= Evolutionstheorie) und mit der Ansicht steht, daß sich der Mensch aus irgend einer affenähnlichen Form entwickelt hat, obschon darüber kein Zweifel sein kann, daß diese Form in vielen Beziehungen von allen Gliedern der jetzt lebenden Ordnung der Primaten verschieden war“ (Huxley in Darwin 1875, S. 267). Und Huxley zweifelte in keinem Augenblick daran, dass der damals bereits verstorbene Gratiolet, den er als den Verfasser eines der wichtigsten Beiträge zum richtigen Verständnis des Säugetierhirns bezeichnet, selbst der Erste gewesen wäre, der das Unzureichende seiner Angaben zugegeben hätte, wenn er die Resultate dieser fortgeschrittenen Untersuchungen noch erlebt hätte. Im Bezug auf all diese Untersuchungen weist Huxley auf die große Variabilität innerhalb einer Art hin. So ist ermittelt worden, dass bei den Individuen der Buschmannrasse, welche bis zu dieser Zeit untersucht worden sind, die Windungen und Furchen der beiden Hemisphären beträchtlich weniger kompliziert und symmetrischer sind als im Europäergehirn, während bei manchen Individuen der Schimpansen eine auffällige Komplexität und Asymmetrie festzustellen ist. Huxley kann sich dabei auf die von Broca gelieferte Abbildung des Gehirns eines jungen männlichen Schimpansen stützen. Was aber die Frage der absoluten Größe betrifft, so haben die damaligen Untersuchungen gezeigt, dass die Verschiedenheit zwischen dem größten und kleinsten gesunden menschlichen Gehirn beträchtlicher ist als der Unterschied zwischen dem kleinsten gesunden menschlichen Gehirn und dem größten Schimpansen- oder Orang-Gehirn. Damit war das klassische Quantitätsargument für die Sonderstellung des Menschenhirns, wie er vor allem in der Enzyklopädie von 1751 mit dem Satz: „Der Mensch, das klügste Lebewesen, hat das größte Gehirn“ formuliert worden ist, für Huxley endgültig widerlegt; während er seinen im Jahre 1873 ausgesprochenen Pithecometra-Satz durch diese Vergleichsuntersuchungen dagegen als bestätigt ansah: „Was also den Bau des Gehirns anbelangt, so ist klar, daß der Mensch weniger von Schimpansen und Orang verschieden ist, als diese selbst von den (niederen) Affen, und daß der Unterschied zwischen den Gehirnen des Schimpansen und des Menschen fast bedeutungslos ist, wenn man ihn mit dem zwischen dem Gehirn des Schimpansen und eines Lemurs vergleicht“ (Huxley in Darwin 1875, S. 263). Der große anatomische Sprung in der Formenreihe der Primatengehirne liegt daher nicht zwischen den Gehirnen des Menschen und des Orang oder Schimpansen, wie Bischoff behauptet, sondern nach Huxleys empirisch gut gestützter Meinung zwischen den niedrigeren Affen der alten und neuen Welt und den niedrigsten Affen, den Lemuren. Denn, während bei den Lemuren die Hinterlappen des Großhirns nur rudimentär ausgebildet sind,
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sodass das Kleinhirn von oben her noch sichtbar ist, bedecken sowohl bei den amerikanischen Affen als auch bei den Affen der alten Welt die Großhirnlappen völlig das Kleinhirn. Was jedoch unwiderlegt geblieben ist, war die Vermehrung des menschlichen Hirngewichts während der Entwicklung im ersten Lebensjahr. Angaben darüber findet man in den zeitgenössischen Physiologielehrbüchern. So heißt es in den ›Grundzügen der Physiologie‹ von Karl Reclam aus dem Jahre 1874: „Das Gehirn des Kindes ist noch nicht völlig entwickelt bei der Geburt. Dem entsprechen auch die äußerst geringen geistigen Fähigkeiten des neugeborenen Kindes. Erst im Verlauf des ersten Jahres entwickelt sich das Gehirn und vermehrt sich in so bedeutender Weise, daß seine Masse mehr als verdoppelt wird. Wenn das Hirn eines neugeborenen Kindes 500 Gramm wiegt, so hat es im Verlaufe eines Jahres durch Wachstum so an Menge zugenommen, daß es am Schluß des Jahres 1500 Gramm wiegt“ (Reclam 1874, S. 423). Eine derartige Vergrößerung des Hirnvolumens ist bei keinem Tier festzustellen – auch nicht beim Affen, dessen Gehirn bei der Geburt schon wesentlich ausgebildeter ist und dessen Verhaltensweise daher auch eine viel größere Selbständigkeit aufweist, als es beim neugeborenen Menschenkind der Fall ist. Nachdem aber Gratiolets Behauptung von dem fundamentalen Unterschied in den ontogenetischen Entwicklungsphasen von Menschenund Affenhirnen widerlegt worden war, konnte nicht nur die Ansicht vertreten werden, dass sich mit der Entwicklung des Großhirns die geistigen Fähigkeiten der Tiere den geistigen Fähigkeiten des Menschen nähern, sondern dass auch bei einer Entwicklungshemmung das dem Tierhirn ähnliche Menschenhirn den Menschen tierähnlich macht. Mehr als hundert Jahre später scheint sich also de La Mettries Vision von der prinzipiellen Gleichheit von Mensch und Tier zu bestätigen und seine prophetischen Worte „daß der Ursprung des Menschen vollkommen demjenigen der Tiere gleicht“ erfährt durch die Evolutionstheorie eine gewisse Rechtfertigung. Denn Huxley weist auf C. E. von Baer hin, der das später von Haeckel propagierte biogenetische Grundgesetz vorwegnehmend gelehrt hat, dass der jeweilige Entwicklungszustand eines höheren Tieres zwar nicht genau, aber doch in seinen fundamentalen Merkmalen den Entwicklungsstufen der erwachsenen niederen Tiere gleicht. Wie es daher korrekt ist, zu sagen, dass ein Frosch den Zustand eines Fisches durchläuft, insofern er in einer Periode seines Lebens als Kaulquappe alle Merkmale eines Fisches hat, so kann man nach Huxley ganz richtig sagen, dass das Gehirn eines menschlichen Fötus im fünften Monat dem Gehirn eines niederen Affen ähnlich sei. Die Tatsache, dass das fötale Gehirn des Menschen charak-
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teristische Merkmale darbietet, welche nur in der niedersten Gruppe der Primaten zu finden sind, passt aber nach Huxley genau dazu, was nach Darwins Evolutionstheorie zu erwarten ist, wenn der Mensch aus einer stufenweisen Modifikation der gleichen Form hervorgegangen ist, von der auch die übrigen Primaten abstammen. Eine verhängnisvolle Wende der evolutionstheoretisch begründeten vergleichenden Hirnanatomie setzt jedoch dann ein, als im Fahrwasser des französischen Materialismus Ludwig Büchner die Theorie Darwins mit der Rassenlehre des Menschen verband. Ansätze dazu lieferte bereits Spencer mit seiner Aussage, dass der Unterschied zwischen Laplace und einem Hottentotten größer ist als zwischen einem Hottentotten und einem Affen. Büchner beruft sich auf Huxley, der gezeigt haben soll, dass der Größenunterschied zwischen dem niedrigsten Menschen- und dem höchsten Gorillaschädel zwar immer noch ein sehr bedeutender ist, aber doch nicht so bedeutend, wie der Größenabstand unter den einzelnen Menschenrassen selbst. Er zieht darüber hinaus die quantitativen Angaben der Schädelmessungen von Morton heran, der Unterschiede zwischen den von ihm gemessenen Menschenschädeln von 114 bis 63 Kubikzoll festgestellt haben soll und berichtet davon, dass man sogar menschliche Hinduschädel angetroffen habe, die bis zu 46 Kubikzoll hinunterreichen sollen. Diese fragwürdigen Schädelmessungen und die Aussagen von europäischen Reisenden über die „niedersten Kasten der Menschen in Ostindien“ und über die „Waldmenschen in Brasilien“, die wie verwunschene zweihändige Affen aussehen und sich auch so benehmen, sieht Büchner als Beweis dafür an, dass „die niedersten und niederen Menschenrassen, welche im Allgemeinen der Tierwelt weit näher stehen, als dem von Bischoff aufgestellten Ideal der Menschheit, der Kultur nicht nur unzugänglich sind, sondern an derselben zugrunde gehen“ (Büchner 1872, S. 199). Bereits an diesen Aussagen Büchners, die auf sehr große und einfache Weise an die rein quantitativen Verhältnisse der Gehirngewichte geknüpft sind, wird der Unterschied zwischen der auf Grundlage der Darwinschen Evolutionstheorie betriebenen vergleichenden Hirnanatomie und dem Vulgärmaterialismus deutlich.
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Sprachstörungen: Die Anfänge der Aphasieforschung Die Entdeckung des motorischen Sprachzentrums: Bouillaud, Dax und Broca Eine erste Unterstützung bekam die Gall’sche Lokalisationstheorie der Großhirnrinde aus dem klinischen Bereich. Es war der von Gall formulierte Sprachsinn (sens du langage de parole), der durch die Untersuchung von Sprachstörungen bei Hirnverletzten als einzige der fundamentalen seelischen Funktionen eine Bestätigung erfuhr. Bestätigt wurde zwar nicht der von Gall selbst angenommene Sitz des Sprachsinns in den Stirnlappen, sondern zunächst überhaupt seine Existenz an einer bestimmten Stelle des Menschenhirns. Den Anfang dieser Untersuchungen macht ein Schüler Magendies, Jean Baptiste Bouillaud (1796 – 1881), der an die Tradition der Experimentalphysiologie anschließend ebenfalls in den Hirnerkrankungen eine Art von Vivisektion sah, welche die Natur selbst mit dem Menschen anstellt. Doch im Gegensatz zu Magendie und Flourens folgte er der Auffassung Galls von der Lokalisation der Sprachfähigkeit an einem bestimmten Ort der Großhirnrinde. An einer Reihe von genau dokumentierten Fällen von Patienten mit Sprachstörungen, deren Leichen nach dem Tode einer Autopsie unterworfen wurden, stellte er immer wieder eine Schädigung der vorderen Hirnlappen fest. Doch gab es auch einige Fälle, bei denen trotz dieser Schädigungen weder Sprachstörungen noch Verlust der Sprache eingetreten war. Gegen die Lokalisation des Gallschen Sprachsinns und des Wortgedächtnisses sprachen auch die Untersuchungen anderer Chirurgen und Ärzte, die feststellten, dass es Läsionen in der vorderen Hirnregion ohne Sprachverlust geben kann, dass aber andererseits Sprachstörungen auch nach Verletzung jeder anderen Hirnregion auftreten können. Trotzdem war Bouillaud, der weiterhin über viele Jahre hinweg mehr als 50 Fälle von Sprachstörungen sammelte, davon überzeugt, dass der Sitz der Sprachfähigkeit in den vorderen Hirnlappen festzustellen sei. Gleich zu Beginn seiner Untersuchungen kam er auch zu einer folgenreichen Differenzierung. Durch die genaue Analyse der Krankheitsgeschichten seiner Patienten veranlasst, unterschied er eine „innere Sprache“ und eine „äußere Sprache“ (Bouillaud 1825, in: Hécaen u. Dubois o. J., S. 30). Er stellte nämlich fest, dass Kranke, die keine Wörter mehr hervorbringen konnten, trotzdem fähig waren, sich durch Gesten zu verständigen. Das aber bedeutet, dass zwischen der Fähigkeit, Wörter als Zeichen von Ideen
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einen Inhalt zu geben und Wörter artikuliert zum Ausdruck zu bringen ein Unterschied vorhanden sein muss. Obwohl Bouillaud in den meisten Fällen nur eine Schädigung der linken Großhirnhemisphäre feststellen konnte, nahm er genauso wie Gall eine Symmetrie der Funktionen in beiden Hemisphären an, um die Konsequenz einer Verdoppelung der Seele zu vermeiden. Die Lokalisation der Sprachfunktion in der linken Großhirnhemisphäre wurde jedoch bereits zehn Jahre später im Jahre 1836 von dem praktischen Arzt Marc Dax (1771 – 1837) auf dem Congrès Méridional de Montpellier festgestellt. Der Anlass zu seinen Untersuchungen war der Fall eines Kavallerieoffiziers, der im Jahre 1800 in einer Schlacht durch einen Säbelhieb eine Kopfverletzung erhielt, die eine große Verschlechterung seines Wortgedächtnisses zur Folge hatte. Aus der verletzten Stelle im Zentrum des linken Scheitelbeins und an drei weiteren Fällen, bei denen ebenfalls eine Läsion der linken Hemisphäre durch einen Tumor und durch ein Geschwür, das nach einem Schlaganfall entstanden war, festgestellt worden ist, zog Marc Dax den Schluss, dass eine Zerstörung der linken Hemisphäre zu einem anhaltenden Schwund des Wortgedächtnisses führt, ohne dass dabei eine Schädigung der rechten Hemisphäre vorhanden sein muss. Die bis heute gültige Einsicht in die Lateralisierung der Sprachfunktion, geriet jedoch in Vergessenheit, weil das Manuskript dieses Vortrages nicht veröffentlicht worden ist und fast 30 Jahre lang im Archiv der medizinischen Fakultät von Montpellier verschollen blieb, bis es anlässlich der immer weiter fortschreitenden Diskussion um die Lokalisierung des Sprachzentrums von dem Sohn von Marc Dax, Gustav Dax, veröffentlicht wurde. In dem zweiten von ihm selbst stammenden Teil dieser Abhandlung versuchte Gustav Dax die alte, von Bouillaud noch immer vertretene Ansicht von der Lokalisation des Sprachzentrums in den Stirnlappen beider Hemisphären zu widerlegen und die These seines Vaters von der Lateralisierung zu beweisen, indem er von 371 ihm bekannten Hirnverletzungen 140 auswählte, die mit Sprachstörungen verbunden waren. Davon waren wiederum 87 Verletzungen der linken Hemisphäre und nur 53 Verletzungen der rechten Hemisphäre. Allein schon die 10 bereits von Bonnet beschriebenen Fälle erlaubten Gustav Dax eine Lokalisation des Sprachzentrums in einem genau begrenzten Teil der Großhirnrinde, der sich „vorne außen am mittleren linken Hirnlappen“ (Antérieure externe du lobe moyen gauche) befindet. Das von Gall angenommene „Organ der Sprache“ war damit nach seiner Meinung gefunden. Den eigentlichen Durchbruch in der Entdeckung des Sprachzentrums schaffte jedoch erst der Chirurg Paul Broca (1824 – 1880). Den konkreten
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Anlass dazu gab ein Patient namens Leborgne, der später unter dem Namen „Tan“ berühmt wurde. Es handelt sich dabei um einen 51-jährigen Mann, der schon lange wegen einer Epilepsie in Behandlung war. Seit dem Jahr 1840 hatte er die Sprache fast gänzlich verloren, bis auf den Gebrauch der einzelnen Silbe „tan“. Broca, der mit dem Problem der Lokalisation der Sprache durch den Schwiegersohn Bouillauds, Alexander Ernest Aubertin (1815 – 1865), vertraut war, lud diesen ein, den bereits im Sterben liegenden Patienten als Testfall zu untersuchen. Am 17. April 1861, sechs Tage nach der Einlieferung in die Abteilung des Krankenhauses, in dem Broca arbeitete, starb der Patient. Die Autopsie seines Leichnams zeigte deutlich eine linksseitige Schädigung der vorderen Hirnlappen (Broca 1861a). Noch genauer eingegrenzt war diese Schädigung bei einem zweiten Patienten, der ebenfalls an den gleichen Symptomen einer Sprachstörung litt. Die Läsion war bei diesem Patienten deutlich auf die dritte vordere Hirnwindung der linken Hemisphäre beschränkt (Broca 1861 b). Bereits bei seinen ersten Patienten, der außerdem noch eine rechtsseitige Lähmung aufwies, erkannte Broca, dass dieser sich mit den Gesten der linken Hand ohne Worte auszusprechen, verständigen konnte. Daraus schloss Broca ähnlich wie Bouillaud vor ihm, dass es sich bei dieser Störung der Sprache um eine Störung der Artikulation, d. h. der motorischen Fähigkeit einer eng umgrenzten Stelle der Großhirnrinde handelt. Die fast allgemeine Akzeptanz, die Brocas Entdeckung des motorischen Sprachzentrums erfuhr, während seine Vorläufer, die er selbst anerkennend erwähnt, trotz umfangreichen Beweismaterials immer wieder durch gegenteilige Fallstudien zu widerlegen versucht wurden, ist darauf zurückzuführen, dass Broca ein unabhängiger Denker und Wissenschaftler war, während Bouillaud, der zwar einflussreicher als der unbekannte Marc Dax war, als Mitbegründer der Phrenologischen Gesellschaft in Frankreich von vornherein von den Anhängern der Äquipotenztheorie abgelehnt wurde. Außerdem hatte Broca seine Fallstudien mit größerer Präzision und mehr Detailangaben als seine Vorgänger geliefert. Den Namen, den er der von ihm entdeckten und lokalisierten Sprachstörung gab – „Aphemie“ (Sprachlosigkeit im Sinne von Aussprache: „je parle, je prononce“) – setzte sich jedoch nicht durch. Erst Armand Trousseau (1801 – 1867), der zwar gegen Broca 135 Fälle aufweisen konnte, bei denen der Sprachverlust nicht mit einer Läsion der Vorderlappen verbunden war, führte den Begriff „Aphasie“ ein.
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Die Entdeckung des sensorischen Sprachzentrums: Meynert und Wernicke Während Brocas Patienten gesprochene Worte verstehen, aber selbst nicht sprechen konnten, beschrieb nur wenige Jahre später (1866) der damals noch unbekannte Leiter der Prosektur der Wiener Landesirrenanstalt, Theodor Meynert (1833 – 1892), einen Fall von Sprachstörung, der durch den Verlust des Sprachverständnisses gekennzeichnet war. Dieser Patient konnte zwar sprechen aber gesprochene Worte nicht verstehen. Die anatomische Untersuchung ergab eine Läsion im hinteren Teil der oberen Schläfenwindung. Damit war bereits die Existenz eines eigenen sensorischen Sprachzentrums festgestellt, das heute mit dem Namen Wernickes verbunden ist und dem Broca’schen Zentrum an die Seite gestellt wird (vgl. Seitelberger 1996, S. 47). Carl Wernicke (1848–1904), der ebenso wie Sigmund Freud bei Meynert in Wien studiert hatte, veröffentlichte im Jahre 1874 im Alter von 26 Jahren eine Arbeit mit dem Titel ›Der aphasische Symptomkomplex. Eine psychologische Studie auf anatomischer Grundlage‹. Gleich zu Beginn der Arbeit betont er, dass es sich hierbei um einen Versuch handelt, „die Meynert’sche Gehirn-Anatomie praktisch zu verwerten, und zwar für ein Gebiet, in welchem derartige Grundlagen am meisten Bedürfnis sein sollten, in der Tat aber bisher am wenigsten benützt worden sind.“ Er betont auch ausdrücklich, dass „alles, was von Verdienst in der vorliegenden Arbeit gefunden werden sollte, schließlich auf Meynert zurückfällt, denn aus dem Studium seiner Schriften und Präparate ergibt sich die hier vertretene Auffassung von selbst“ (Wernicke 1874, S. 3). Tatsächlich hatte zur Zeit der Veröffentlichung von Wernickes klassischer Beschreibung des Syndroms der sensorischen Aphasie Theodor Meynert bereits seine bedeutendsten neuromorphologischen Entdeckungen über den Bau und die Leistungen der Großhirnrinde (1867 / 68) publiziert und mit seiner neuen Präparationstechnik erst die Möglichkeit einer exakten Erkenntnis der Hirnstrukturen und ihrer Funktionen eröffnet – und zwar zu einer Zeit, als noch der Ausspruch seines Lehrers, des Wiener Anatomen J. Hyrtl, galt: „Obscura textura, obscuriores morbi, obscurissimae functiones“ (vgl. Seitelberger 1996, S. 24). Zu diesen neuen Methoden gehörten die Härtung des Gehirngewebes, das Ausschälen von tieferen Hirnteilen, die Abfaserung von bemarkten Faserzügen und das Festlegen von Schnittebenen, die eine optimale Orientierung in der inneren Topographie des Organs ermöglichten. Histologische Schnitte an den mit Alkohol gehärteten Gewebsblöcken stellte er mit dem Rasiermesser und einem
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simplen Präparathalter her. Auf diese Weise gelang ihm auch die fundamentale Entdeckung des Fünf-Schichten-Baus der Großhirnrinde sowie die Festlegung der regionalen Unterschiede ihrer Feinstruktur, die er seinem Konzept einer neuen „Organologie“ der Großhirnrinde zugrunde legte. Fasst man diese Organologie Meynerts, die er im Gegensatz zu Gall als eine mechanistische Lokalisationstheorie konzipiert, in wenigen Worten zusammen, so kommt man zu folgendem Bild: Die Großhirnrinde besitzt die Fähigkeit, von der gesamten Sinnesperipherie mit Hilfe der zentripetal leitenden Empfangsbahnen Sinneseindrücke zu empfangen und durch die zentrifugal leitenden Bewegungsbahnen der Muskulatur motorische Impulse zu erteilen. Die sensorischen Rezeptoren und motorischen Effektoren sind dabei nach dem Grundsatz der isolierten Leitung gewissermaßen auf die Hirnrinde projiziert. Zwischen diesen Projektionsfeldern werden Verbindungen durch „Assoziationsfasern“ hergestellt, die dadurch auch die Verknüpfungen von Wahrnehmungen und Vorstellungen ermöglichen und auf diese Weise die Ordnung des Denkens und der bewussten koordinierten Bewegungen oder Handlungen herstellen. Die anatomische Struktur und die Funktion des Gehirns weist nach dieser Theorie eine eindeutige Entsprechung auf: „Der Bau des Organs enthält die Bedingung seiner Leistung“ (Meynert 1892, S. 11). Die Projektionsfelder der Großhirnrinde tragen aber nach Meynerts Auffassung nicht schon in sich ausreichend erkennbare strukturelle Unterschiede, es sind vielmehr „die verschiedenen Sinne, die verschiedenartige Samen der Vorstellungen nicht auf die gleichen Gebiete streuen und verschieden bebaute Felder der inneren Vorgänge schaffen“ (a. a. O., S. 9). So entsteht auch das „Klangfeld“ mit seinen Klangbildern, den Worten. Genau dieses Konzept einer Lokalisationstheorie psychischer Funktionen, die alle als Resultate einer Verknüpfung und Verarbeitung von Sinnesreizen anzusehen sind, die selbst wiederum Resultate von neuroanatomisch identifizierbaren Nervenverbindungen sind, wird von Wernicke übernommen, um den normalen Sprachvorgang und die unter dem Namen Aphasie bekannten Störungen zu erklären, wenn er sagt: „Alles was über die einfachsten Funktionen hinausgeht, die Verknüpfung verschiedener Eindrücke zu einem Begriff, das Denken, das Bewußtsein, ist eine Leistung der Fasermassen, welche die verschiedenen Stellen der Großhirnrinde untereinander verknüpfen, der von Meynert sogenannten Assoziationssysteme“ (Wernicke 1874, S. 4). Damit war für Wernicke eine anatomische Grundlage geschaffen, mit der er die ihm bereits bekannte Broca’sche Theorie des Sprachzentrums erweitern konnte. Er beruft sich auch hier auf Meynert, der jener anderen bereits
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erwähnten Stelle der Großhirnrinde den Namen eines „Klangfeldes“ gegeben hatte. Die allermeisten Fälle von Aphasie, in welchen die Broca’sche Stelle nicht verändert gefunden wurde, hatten, wie Wernicke selbst feststellt, Veränderungen in dem von Meynert in Anspruch genommenen Gebiet aufzuweisen. Dass die Zerstörung der Broca’schen Stelle Aphasie bedingt, stand für Wernicke nach den bereits vorliegenden Fällen außer Zweifel. Ebenso wenig aber zweifelte er nicht an dem übereinstimmenden Ergebnis der Erfahrung anderer „gewissenhafter und sachverständiger Beobachter“, dass die Broca’sche Stelle nicht die einzige ist, welche als Sprachzentrum fungiert. Daraus zog Wernicke den Schluss, dass das Sprachzentrum in zwei verschieden Zentren, die verschiedene Stellen der Großhirnrinde einnehmen, zerlegt werden muss. Diese Zerlegung in eine motorisches und in ein sensorisches Zentrum, die beide miteinander durch Nervenfaserbahnen verbunden sind, beseitigt nicht nur die meisten Widersprüche, die sowohl in den Beobachtungen eines Forschers als auch zwischen den Ansichten verschiedener Beobachter hervorgetreten sind, sondern lieferte auch eine adäquate Erklärung für den gesamten, so vielfältigen aphasischen Symptomkomplex durch eine einheitliche, anatomisch begründete Theorie der Lokalisation der Sprachfunktionen, die er durch ein einfaches Diagramm illustriert: „Das ganze Gebiet der ersten, die Fossa Sylvii umkreisenden Windung im Verein mit der Inselrinde dient als Sprechcentrum; und zwar ist die erste Stirnwindung, weil motorisch, das Centrum der Bewegungsvorstellungen, die erste Schläfewindung, weil sensorisch, das Centrum für die Klangbilder, die in der Inselrinde confluirenden Fibrae propriae bilden den vermittelnden psychischen Reflexboden. Die erste Schläfewindung würde sonach als centrales Ende des Acusticus, die erste Stirnwindung (die Broca’sche Stelle mit inbegriffen) als das centrale Ende der betreffenden Sprachmuskelnerven zu betrachten sein“ (Wernicke 1874, S. 18 f.; Abb. 10). Aphasie kann nach dieser in ihren Grundzügen noch heute gültigen Theorie entweder durch Zerstörung der Sprachzentren oder der Leitungsbahnen bedingt sein, wobei sich jeweils unterschiedliche Formen der Sprachstörung ergeben: Bei einer rein motorischen Aphasie bei der, wie bereits Broca nachgewiesen hat, das motorische Sprachzentrum zerstört ist, kann der Patient die Worte noch verstehen aber nicht sprechen. Umgekehrt verhält es sich bei der rein sensorischen Aphasie, wenn das sensorische Sprachzentrum zerstört ist: Der Patient kann Worte selbst aussprechen aber keine, sogar nicht die eigenen, verstehen. Denn die „Klangbilder“ der Benennungen aller möglichen Gegenstände sind durch die Zerstörung des sensorischen
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Abb. 10: Wernickes Diagramm zu Darstellung des sensorischen (a1) und motorischen Sprachzentrums (b) und der Leitungsbahnen (1874)
Sprachzentrums aus der Erinnerung ausgelöscht. Ist aber die Leitung zwischen dem sensorischen und dem motorischen Sprachzentrum unterbrochen, dann ist der Kranke weder fähig das Wort nachzusagen noch das gesprochene Wort zu verstehen. Bei allen diesen Sprachstörungen sind jedoch keine Intelligenzstörungen nachzuweisen. Die Patienten sind vielmehr durchaus fähig, sich durch Zeichen und Gebärden verständlich zu machen oder auf Zeichen sinnvoll zu reagieren. Wernicke ist sich zwar durchaus bewusst, dass er mit seiner Erklärung keineswegs völlig neue Ansichten über das Wesen der Aphasie ausgesprochen hat. Denn ähnliche psychologische und philosophische Überlegungen über Aphasie begegnet man zu dieser Zeit bei den meisten bedeutenderen Autoren. Aber es ist für ihn eine bedeutender Unterschied, theoretisch Zentren zu fingieren und dabei von anatomischen Grundlagen gänzlich abzusehen, angeblich, weil die durchaus unbekannten Funktionen des Gehirns zurzeit noch nicht zu anatomischen Schlüssen berechtigen, oder wie er es selbst unternommen hatte, nach eingehendem Studium der Gehirnanatomie die anatomischen Daten in psychologische umzusetzen und erst aus derartigem Material eine Theorie zu konstruieren (a. a. O., S. 68). Die Beschreibung von einzelnen Krankheitsfällen der Aphasie, so reichhaltig sie auch sein mögen, ist jedoch für Wernicke zur Unterstützung seiner anatomisch begründeten Theorie sehr wenig verwertbar. Das liegt einerseits an der subjektiven Darstellungsweise der einzelnen Beobachter, die bestimmte, für sie wichtige Symptome hervorheben und andere vernachlässigen, andererseits an der Mangelhaftigkeit der meisten Sektionsbefunde,
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die das Material für die kausale Erklärung der Sprachstörungen liefern sollten. Deshalb beschränkt sich Wernicke auf die wenigen von ihm selbst beobachteten Fälle, die ihm als Beweis dienen sollten, dass die ganze Mannigfaltigkeit der klinischen Bilder der Aphasie sich zwischen zwei Extremen, der rein motorischen und der rein sensorischen Aphasie bewegt. Während die rein motorische Aphasie in der Literatur seit Broca häufig anzutreffen ist, kann Wernicke selbst zumindest einen klinischen Fall von rein sensorischer Aphasie vorlegen, bei dem nach dem Tode die entsprechende Läsion festgestellt werden konnte. Es handelte sich dabei um eine 75-jährige Frau, die am 7. Oktober 1873 ins Allerheiligen-Hospital zu Breslau, in dem Wernicke als Assistenzarzt tätig war, eingeliefert wurde und dort zwei Monate später verstarb. Ihr körperlicher Zustand war schlecht und durch allgemeine Schwäche und Schwindelgefühl gekennzeichnet. Im Bett lag sie meist jammernd, tief in die Decken eingewickelt. Sie antwortete völlig verkehrt auf alle an sie gerichteten Fragen und führte auch die gegebenen Aufträge gar nicht oder verkehrt aus. Die Wärterin glaubte, wegen ihres Mangels an Verständnis, dass sie taub wäre. Erkannt wurde die sensorische Aphasie an dem Verwechseln und Entstellen der Wörter, welche sie gebrauchte. Den Arzt, den sie einmal einen „guten Herren“ bezeichnete, nannte sie bald darauf „mein Töchtel“ oder „mein Sohnel“. Die Sektion nach dem Tode ergab, dass die ganze linke erste Schläfenwindung „in einen weißgelben Brei verwandelt“ war. Damit war sichergestellt, dass nur die Erweichung dieser genau umschriebenen Stelle „das durch den ganzen Verlauf andauernde Herdsymptom der Aphasie hervorbringen konnte“, während die zusätzlich festgestellte allgemeine Atrophie der Hirnwindungen entweder als eine Alterserscheinung oder bei weitem wahrscheinlicher als eine Folge dieser Herderkrankung anzusehen war. Wernicke konnte sich bei dieser Interpretation der Sektionsbefunde auf den festen Grundsatz der Gehirnpathologie berufen, dass die einfache Atrophie nie einen Ausfall der Funktionen oder eine Herderscheinung hervorruft: „Nur der Erweichungsherd verspricht uns Aufschlüsse über die lokalisierten Funktionen des Gehirns“ (a. a. O., S. 67). Ein weiterer Fall einer rein sensorischen Aphasie, der in seinen Einzelheiten noch viel besser dokumentiert ist, hat jedoch Wernicke den Vorwurf einer „hypothetischen Läsion“ eingetragen, da sich der Zustand dieser wesentlich jüngeren Patientin verbesserte, sodass mit den damaligen Mitteln keine Gewissheit über den Zustand ihrer Hirnschäden erlangt werden konnte. Von den acht weiteren Fällen, die von Wernicke zumeist als „Leitungsaphasien“ charakterisiert wurden, gelangten ebenfalls nur die Hälfte zur Autopsie, während sich die anderen erholten und auch weitgehend von
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ihren aphasischen Symptomen befreit wurden. Das brachte Wernicke zur Auffassung, dass zur richtigen Diagnose der Aphasie nur eine ganz bestimmte Epoche des Krankheitsverlaufes zu benützen ist. Es müssen nämlich einerseits die Allgemeinerscheinungen, die den Eintritt der Aphasie wie der meisten Herderkrankungen des Gehirns begleiten, wieder verschwunden sein. Andererseits aber darf der Zustand noch nicht solange gedauert haben, dass bereits die Möglichkeit des Ersatzes durch die andere Hemisphäre vorliegt. Glücklicherweise, sagt Wernicke, schließen sich aber diese beiden Quellen des Irrtums gegenseitig aus. Denn die Aphasie der Stirngegend, die mit schwersten Allgemeinerscheinungen verbunden ist, wird nach seinen Erfahrungen erst in später Zeit durch die andere Hemisphäre ausgeglichen, während die sensorische Aphasie, die sehr bald ausgeglichen wird, bei ihrem Entstehen nur geringe Allgemeinstörungen verursacht. Am Schluss seiner Abhandlung weist Wernicke noch darauf hin, dass Eduard Hitzig auf gänzlich verschiedenem Weg zu Ansichten über die Bedeutung der Großhirnoberfläche und sogar über die Aphasie gekommen ist, die mit den seinigen fast vollkommen identisch sind. Diese Übereinstimmung ist für Wernicke der Beweis, dass „die Anatomie und das physiologische Experiment in ihrer Bedeutung für die Kenntnis des Gehirns sich mindestens ebenbürtig gegenüberstehen“ (a. a. O., S. 71).
Aphasieforschung in England: Bastians Organ des Geistes Auch in England entwickelte sich im Anschluss an Broca eine Aphasiologie, die bereits deutlicher als Broca selbst den komplexen Bereich der Sprachstörungen durch genauere Differenzierungen der Symptome erfassen konnte. Es war der Anatom am University-College in London, Henry Charlton Bastian (1837 – 1915), der bereits im Jahre 1869 in einem Artikel in der ›British and Foreign Medical-Chirurgical Review‹ verschiedene Formen der Sprachstörungen bei Gehirnerkrankungen unterschied und durch genaue Angaben der Orte der Hirnläsionen die gegenseitigen Beziehungen von „geistigen und neurologischen Vorgängen“ darstellen wollte. Dabei kam er zu Differenzierungen des aphasischen Symptomkomplexes, die weit über Brocas einfachen Unterscheidungen hinausgingen und bereits die Entdeckung des sensorischen Sprachzentrums durch Meynert und Wernicke vorwegnahmen. Unglücklicherweise wurden seine Ansichten erst viel später durch sein 1880 erschienenes umfangreiches Werk ›Das Gehirn als Organ des Geistes‹ bekannt.
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Ausgangspunkt seiner Darstellungen über ›Sprechen, Lesen und Schreiben als physiologische und geistige Prozesse‹, war die These, dass das Denken in all seinen höheren Formen nicht ohne Hilfe der Sprache möglich ist (Bastian 1882, 2. Teil, S. 277). Die Sprache, sowohl die gesprochene als auch die geschriebene Sprache, sind für Bastian die für den Menschen charakteristischen Äußerungen geistiger Vorgänge. Ähnlich wie sich die Untersuchung geistiger Vorgänge bei den Tieren auf ihre Bewegungen, Verhaltensweisen und Gebärden als Ausdruck ihrer Gemütserregungen stützen muss, so sind es beim Menschen, die durch Generationen hindurch angehäuften Ergebnisse der Bewegungen des Sprechens und Schreibens, die Auskunft über seine Geisteszustände geben. Dass alle diese Fähigkeiten auf Vorgängen im Gehirn beruhen, kann Bastian an vielen Fällen von Sprachstörungen bei Verletzungen und Erkrankungen verschiedener Teile des Gehirns zeigen. Die hauptsächlichsten Störungen werden von ihm in zwei große Gruppen geteilt, in denen man den Unterschied von sensorischen und motorischen Defekten erkennen kann: – Störungen des Wortgedächtnisses, d. h. Störungen in den Assoziationen vorgestellter Dinge oder Begriffe mit vorgestellten Worten, die sog. „Wortamnesie“, – Störungen in der Assoziation vorgestellter Worte mit den Bewegungen des Sprechens und Schreibens. Dazu gehören „Aphasie“ und „Agraphie“. Die Grundlage für diese Einteilung der Sprachstörungen liefert Bastian mit der streng lokalisationstheoretischen Auffassung, dass das Gehirn als Organ des Geistes aus zahlreichen mehr oder weniger zerstreuten Zell- und Fasermechanismen besteht, die untereinander durch spezifische sensorische oder motorische Leitungsbahnen verbunden sind. Obwohl er die Aufteilung des Gehirns in einzelne Organe, wie sie die alte Phrenologie von Gall und Spurzheim aufgestellt hat, ablehnt, da keine scharfe topographische Begrenzung möglich ist, durch die die einzelnen angenommenen Organe voneinander unterschieden werden könnten, akzeptiert er für die „zerstreuten aber funktionell einheitlichen Nervennetzwerke“ (a. a. O., S. 264 f.) die Bezeichnung als „Zentren“. So nimmt er für die fünf Sinne eigene sensorische Wahrnehmungszentren an und unterscheidet sie von den motorischen Zentren, die keine subjektive Seite besitzen, d. h., in denen nie Reproduktionen von Vorstellungen stattfinden, sondern nur zentrifugale Molekularbewegungen, die durch motorische Gehirn- und Rückenmarksnerven zu den Muskeln übergehen. Die zerebralen Substrate des Geistes umfassen daher nach Bastians Ansicht keineswegs diejenigen Vorgänge, die in den motorischen Zentren des
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Gehirns stattfinden, sondern nur die sensorischen Zentren, wie das Gehörund das Gesichtszentrum. Dazu kommt noch das von Bastian sog. kinästhetische Zentrum, das früher bei einigen Autoren in einer wesentlich eingeschränkteren Bedeutung als „Muskelsinn“ bezeichnet worden ist. Von der Tätigkeit dieser drei Zentren und ihrer regelmäßigen Wechselwirkung sind unsere Vorstellungen von Worten, d. h. den Symbolen, mit denen unsere Gedanken untrennbar verflochten sind, vollkommen abhängig. Bastian nimmt sogar an, dass es vermutlich räumlich gesonderte Teile dieser drei Zentren gibt, die sich auf die Sprache beziehen. So spricht er von „Wortzentren für Gehöreindrücke“, „Wortzentren für Gesichtseindrücke“ und schließlich von den „doppelten kinästhetischen Wortzentren (für die Sprech- und Schreibbewegungen)“ (a. a. O., S. 292). Daher ist es möglich, dass bei Verletzung oder Erkrankung dieser besonderen Hirnteile oder deren Verbindungsbahnen gesprochene Wörter nicht, wohl aber andere Töne verstanden werden. Ebenso können geschriebene oder gedruckte Zeichen unverständlich sein, während gewöhnliche Gegenstände leicht durch Gesichtseindrücke erkannt werden. Während Bastian mit einer Reihe von sorgfältig ausgewählten klinischen Fallbeispielen seine Lokalisationstheorie der geistigen Funktionen zu bestätigen versuchte, warnte sein Zeitgenosse und Landsmann John Hughlings Jackson (1835 – 1911) davor, die Lokalisation von Symptomen mit der Lokalisation von Funktionen gleichzusetzen. Bereits frühzeitig wies er darauf hin, dass die Lokalisation einer Verletzung, die zu Sprachstörungen führt und die Lokalisation der Sprache selbst zwei verschiedene Dinge sind (Finger 1994, S. 279). Er vertrat vielmehr einen strikten Parallelismus zwischen Bewusstseins- und Nervenzuständen im Sinn eines gleichzeitigen Zusammenbestehens (Concomitance) ohne jede Wechselwirkung. Er glaubte weder daran, dass es überhaupt eine eigene Fähigkeit für Sprache gibt noch, dass dafür eng abgegrenzte Teile der Hirnrinde vorhanden sind. Die Behauptung des Psychologen Alexander Bain (1818 – 1903), auf die sich Hughlings Jackson stützt, dass „die Vorstellungen von Worten überhaupt nur eine unterdrückte Artikulation“ seien, hält Bastian für völlig falsch, da er selbst den motorischen Zentren keine Fähigkeit der Reproduktion von Vorstellungen zuspricht. Nach seiner Ansicht zeigt vielmehr gerade die Lokalisation der Sprachstörungen „daß jeder höhere Verstandes- und Geistesprozess ebenso gut wie jeder niedrigere Empfindungs- und Wahrnehmungsprozeß, die Tätigkeit gewisser Zell- und Fasernetze der Gehirnrinde voraussetzt und von der die Tätigkeit dieser Netze unbedingt abhängig ist“ (a. a. O., S. 366). Trotzdem sind wir nach seiner Auffassung nicht berechtigt uns für bloße Automaten zu halten. Denn es würden sonst „alle
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Begriffe von freiem Willen, Pflicht und sittlicher Notwendigkeit zusammen mit den ihnen zugrundeliegenden Fähigkeiten der Selbsterziehung und Selbstbeherrschung in ein gemeinsames Grab sinken“ (a. a. O., S. 368). Wie aber das Bewusstsein in seinem natürlichen Ursprung aus den materiellen Bewegungen im Nervengewebe entsteht und dort weiterwirkt, ist ein Problem, dessen Lösung Bastian für immer unmöglich hält. Diese Ansicht teilt Bastian mit dem Begründer der modernen Elektrophysiologie du BoisReymond, dessen „Ignorabimus“ noch heute die Differenz zweier Beschreibungsebenen angibt, denen jede Definition des Gehirns als „Seelenorgan“ oder „Organ des Geistes“ ausgeliefert ist.
Die Wiederentdeckung der tierischen Elektrizität und die Anfänge der Elektrophysiologie: du Bois-Reymond „Es ist mir, wenn mich nicht alles täuscht, gelungen, jenen hundertjährigen Traum der Physiker und Physiologen von der Einerleiheit des Nervenwesens und der Elektrizität, wenn auch in etwas abgeänderter Gestalt, zu lebensvoller Wirklichkeit zu erwecken“ (du Bois-Reymond 1848, S. XV). Mit diesen Worten leitete der erst 30-jährige Berliner Physiker Emil du Bois-Reymond (1818 – 1896) eine neue Phase der Untersuchungen über die bereits von Alessandro Volta totgesagte „tierische Elektrizität“ ein, die zur Begründung einer für die moderne Hirnforschung unentbehrlichen neuen wissenschaftlichen Disziplin führte: der experimentellen Elektrophysiologie. Ausgangspunkt seiner Untersuchungen war, wie er selbst sagt, „eine Hypothese, welche von all diesen und vielen anderen Erscheinungen, die der Zitterfische mit inbegriffen, einfache Rechenschaft abzulegen scheint in dem Sinne, daß die hier nach Außen bemerkbar werdenden elektrischen Veränderungen nicht bloß gleichgültige Begleitzeichen, sondern die wesentliche Ursache sind für die inneren Bewegungen, aus denen sich der Vorgang in den Nerven bei der Innervation, in den Muskeln bei ihrer Tätigkeit zusammensetzt.“ (du Bois-Reymond ebd.). Bei der Wiedereinführung der tierischen Elektrizität knüpfte jedoch du Bois-Reymond nicht an die Versuche des letzten Verteidigers des Galvanismus Aldini an, den er als Plagiator Galvanis verachtete, sondern an die neueren Froschversuche des italienischen Physiologen Leopoldo Nobili (1784 – 1835), die mit einem wesentlich verbesserten Anzeigegerät durchgeführt wurden, das auf Ørsteds glänzender Entdeckung des Zusammenhangs zwischen Elektrizität und Magnetismus beruhte. Nobili gelang mit einem
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solchen elektromagnetischen Multiplikator der wirkliche Nachweis von Zuckungen eines Frosches ohne Beisein von Metallen, während Aldini nach du Bois-Reymonds Ansicht mit seinen Versuchen nur Verwirrung angestiftet hat, „um für sich selbst desto leichter im Trüben zu fischen“ (du Bois-Reymond 1848, S. 96). Ein von Nobili nach Galvanis Vorschrift zugerichteter Frosch, der mit beiden Füßen in zwei Gefäßen mit Wasser oder Salzlösung getaucht wurde, zuckte, wenn zwischen diesen Gefäßen mit einem Baumwollfaden eine Schließung stattfand. Das Gerät zeigte an, dass ein elektrischer Strom stets von den Füßen zum Kopf, d. h. also von den Muskeln zu den Nerven gerichtet war. Dieser sog. „Froschstrom“ war jedoch, wie Nobili ebenfalls nachweisen konnte, nicht bloß im Augenblick der Schließung, sondern dauernd vorhanden. Die Theorie, die Nobili über den physikalischen Vorgang aufstellte, der dem Froschstrom zugrunde liegen sollte, beruhte jedoch auf dem falschen Vorurteil eines thermoelektrischen Ursprungs dieses Stromes. Ganz willkürlich ohne weitere Untersuchung nahm er an, dass die Nerven, deren kleinere Masse schneller abkühlt als die größere Masse der Muskeln, als der positive und die Muskeln als der negative Pol anzusehen seien. Mit dieser falschen Erklärung machte er jedoch den Wert seiner Entdeckung völlig zunichte. Erst Carlo Matteucci, der diese Theorie vom thermoelektrischen Ursprung des Froschstroms durch mehrere Versuche widerlegen konnte, erkannte die eigenständige Bedeutung dieses Phänomens der tierischen Elektrizität. Es gelang ihm der Nachweis, dass der elektromotorische Vorgang, auf dem der Froschstrom beruht, von der Berührung von Muskel- und Nervengewebe außerhalb der Glieder oder ihrer Schließung zum Kreise unabhängig ist. Die Ursache dieses Stromes aber ist jedoch nach seiner Ansicht uns schlechterdings unbekannt. Das Einzige, was zu tun übrig bliebe, bestehe darin, dass man sie mit der gleichfalls unbekannten Ursache der Elektrizität der Zitterrochen zusammenstellen solle. Darüber hinaus stellte Matteucci fest, dass diese beiden Tiere, der Frosch und der Zitterrochen, nicht die einzigen sind, die Spuren elektrischer Wirkungen zeigen. Versuche an anderen frisch getöteten Tieren ließen erkennen, dass es sich hier um eine „sämtlichen organischen Wesen gemeinsame Fähigkeit“ handelt (Matteucci, 1838, S. 104 – 106; 1840, S. 74 – 85). An diesem Punkt setzten nach seinen eigenen Angaben die Untersuchungen von du Bois-Reymond ein, der von Johannes Müller das 1840 erschienene Buch von Matteucci zur Nachprüfung erhalten hatte. Er erkannte schnell, dass jede weitere Untersuchung der tierischen Elektrizität von einer Verbesserung der Messinstrumente abhing. So begann er schon im sel-
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ben Jahr mit der Planung und Herstellung von elektromagnetischen Messgeräten mit hohen Windungszahlen und veröffentlichte bereits 1843 in überstürzter Weise die ersten Ergebnisse seiner Untersuchungen, weil er um die Priorität seiner Entdeckungen fürchtete. Während Matteucci annahm, dass der Gegensatz des Muskelinneren gegen das Äußere muskelstromerzeugend wirkt, erkannte du Bois-Reymond, dass sich das Innere jeder Muskelfaser negativ zur Oberfläche dieser Faser verhält. Die Sehnen sind gewissermaßen tote Leiter zum Faserinnern. Der sich kontrahierende Muskel zeigt eine Verminderung des Stromes zwischen Außenfläche und Sehne, die von du Bois-Reymond „negative Schwankung“ genannt wird (1843 Nr. 32, Untersuchungen II 1. 3, 1849). Der schwierige Nachweis dieser elektrischen Stromschwankungen bei Muskelkontraktionen gelang du Bois-Reymond durch seine sinnreiche Versuchsanordnung (vgl. Abb. 11), die sowohl den methodischen Einfallsreichtum als auch den physikalischen Scharfsinn des großen Experimentators zeigt. Ähnlich wie bei den Froschversuchen wird zunächst auch der lebende menschliche Körper in den Multiplikatorkreis eingeführt, indem der Zeigefinger beider Hände in je ein mit Salzlösung gefülltes Gefäß getaucht wird, welches die Ableitungselektroden enthält, die zu dem hoch empfindlichen Strom-Messgerät des Multiplikators führen. Um eine gleichmäßige Tiefe der eingetauchten Finger zu gewährleisten ist ein drehbarer Stab mit Zwingschrauben an dem Versuchstisch befestigt: Von dieser Position aus kann man nun auf bequeme Art und Weise die verschiedenen Muskelgruppen des Armes in Spannung versetzen, wobei jeweils sofort ein genau messbarer Ausschlag der Nadel des Messinstrumentes entsteht. Noch einen weiteren grundsätzlichen Fortschritt konnte du Bois-Reymond für sich in Anspruch nehmen. Im Unterschied zu Matteucci, der zwar die Existenz eines Eigenstroms (courant propre) annahm, ihn aber von jenem Strom unterschied, der zwischen einer verletzten Stelle eines Muskels und seiner unverletzten Oberfläche fließt (courant musculaire) kam du Bois-Reymond zu der richtigen Auffassung, dass alle elektrischen Phänomene in Muskeln und Nerven mit oder ohne Verletzung auf eine einheitliche Ursache zurückzuführen sind. Seine rein physikalische Theorie der elektromagnetischen Molekel hat sich zwar als unzulänglich erwiesen und auch er selbst hielt noch eine zweite Hypothese, die der chemischen Erregungsübertragung, für denkbar, aber ohne seine methodisch-technischen Erfindungen, mit denen er das ganze Rüstzeug der Elektrophysiologie lieferte, wären die weiteren Fortschritte in der Hirnforschung nicht möglich gewesen. Während Nobili und Matteucci mit der Leistungsfähigkeit ihrer damali-
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Abb. 11: Experiment zum Nachweis der elektrischen Ströme bei willkürlichen Muskelkontraktionen (du Bois-Reymond 1849)
gen Messinstrumente mit ca. 2500 Windungen zur Elektrophysiologie der Nerven kaum etwas beitragen konnten, gelang schließlich du Bois-Reymond mit einem Gerät mit 24 160 Windungen (du Bois-Reymond 1849, II. Bd. , S. 177) der Nachweis des Nervenstroms. Auf diese Weise konnte er auch als Erster die Veränderung des Nervenruhestroms beim Durchgang von Nervenimpulsen feststellen. Als er einen Nerven elektrisch reizte, fand er dabei eine „negative Schwankung“ des Ruhestromes. Dadurch gewann er die berechtigte Überzeugung, dass er die elektrische Natur des Nervenfluidums endgültig entdeckt habe: „Es wird demnach gerechtfertigt erschei-
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nen, wenn wir die negative Schwankung fortan als das äußere Anzeichen der inneren Bewegungen im Nerven betrachten, aus welchen sich jener Vorgang zusammensetzt, gerade wie wir die negative Schwankung des Muskelstromes als das Merkmal der inneren Bewegungen im Muskel betrachten, welche die Zusammenziehung zur Folge haben.“ (Unters. II / 1, S. 563, 1849). Mit dieser Methode der elektrischen Reizung des Nervengewebes, die eine genau messbare Schwankung des nervösen Eigenstroms hervorruft, hat du Bois-Reymond nicht nur die Elektrophysiologie der Nerven begründet, sondern auch das methodisch-technische Werkzeug zu jenen Versuchen in der Hirnforschung geliefert, die zur experimentellen Neubegründung der Lokalisationstheorie führten.
Die elektrische Erregbarkeit des Großhirns: Fritsch und Hitzig Die meisten Physiologen waren seit Anfang des 19. Jahrhunderts der festen Überzeugung, dass die Hemisphären des Großhirns absolut unerregbar seien. Zwar hatten Haller und Zinn bereits festgestellt, dass bei Verletzungen des Gehirn- und Rückenmarks „über den ganzen Körper schreckliche Zuckungen entstehen“ (vgl. oben S. 79), doch fanden diese Angaben später keinen Glauben. Dagegen wurde Hallers Behauptung von Unempfindlichkeit der grauen Hirnrinde von den erfahrensten Vivisektoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheinbar bestätigt. Nicht ein einziger Beobachter sah nach erfolgter Reizung des Großhirns Bewegungen der willkürlichen Muskeln. So konnte Moritz Schiff (1823 – 1896) in seinem ›Lehrbuch der Physiologie des Menschen‹ (Schiff 1858 / 59) noch im Jahre 1858 sagen: „Daß Reizung der Hirnlappen, der Streifenhügel und des kleinen Gehirns keine Spur von Zuckung in allen freien Körpermuskeln hervorruft, kann ich nach der Angabe vieler Forscher bestätigen“ (a. a. O. Bd. I., S. 362). Das war der Stand der wissenschaftlichen Forschung als Eduard Hitzig (1838 – 1907), ein auf Elektrotherapie spezialisierter Arzt an seinen Patienten die Beobachtung machte, „daß man bei Durchleitung konstanter galvanischer Ströme durch den hinteren Teil des Kopfes mit Leichtigkeit Bewegungen der Augen erhält, die ihrer Natur nach nur durch direkte Reizung zerebraler Zentren ausgelöst sein können“ (Fritsch und Hitzig 1870, S. 308). Sollte sich daher herausstellen, dass „das Großhirn im Widerspruch mit der allgemeinen Ansicht doch elektrische Erregbarkeit besäße“, dann wäre damit ein Weg zur Erforschung der „Werkzeuge der Seele“ eröffnet, der bisher völlig verschlossen war.
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Zusammen mit dem Anatomen Gustav Fritsch (1838 – 1927) ging daher Hitzig daran, sich durch Vivisektionen an Hunden Klarheit über diese Frage zu verschaffen. Die ersten Versuche wurden an nicht narkotisierten Tieren vorgenommen. Dazu wurde zunächst mit einer Trepankrone der Schädel an einer Stelle geöffnet und entweder die ganze Hälfte des Schädeldaches oder nur jener Teil entfernt, der die beiden Vorderlappen des Großhirns bedeckt. Bei der Abtragung der harten Hirnhaut „äußerten die Hunde durch Schreien und charakteristische Reflexbewegungen lebhaften Schmerz“ (a. a. O., S. 309). Fritsch und Hitzig geben daher die Empfehlung „hurtig zu operieren, weil anderenfalls das Versuchstier, selbst wenn es festgebunden ist, durch die gewaltigsten Sprünge die Schonung der Hirnsubstanz bei Abtragung dieser Membran sehr erschwert“ (a. a. O., S. 321). Das Ergebnis einer sehr großen Zahl bis in die kleinsten Einzelheiten übereinstimmender Versuche war die Erkenntnis, dass der vordere Teil des Großhirns des Hundes motorisch ist. Durch elektrische Reizung dieses motorischen Teils der Großhirnrinde erhält man kombinierte Muskelkontraktionen der gegenüberliegenden Körperhälfte. Diese Muskelkontraktionen ließen sich bei der Anwendung der sehr schwachen elektrischen Ströme auf bestimmte, eng begrenzte Muskelgruppen lokalisieren. Allerdings war die Möglichkeit isolierter Erregung bestimmter Muskelgruppen auf sehr kleine Stellen der motorischen Großhirnrinde begrenzt. Schon eine ganz geringe Verschiebung der Elektroden setzte zwar in der Regel noch die gleiche Extremität in Bewegung, aber die Art der Bewegung veränderte sich. Wenn z. B. zuerst Streckung eines Gliedes erfolgte, ergab die Verschiebung Beugung oder Rotation. Die kleinen eng umschriebenen Stellen wurden von Fritsch und Hitzig „Centra“ genannt. Die zwischen den Zentren liegenden Teile der Hirnoberfläche blieben, jedenfalls mit den minimalen Stromstärken, die Fritsch und Hitzig verwendeten, unerregbar. Die Zentren für einzelne bestimmte Muskelgruppen, wie vor allem die der Vorder- und Hinterbeine, weniger dagegen die Nacken-, Rücken-, Schwanz- und Bauchmuskeln, erwiesen sich beim Hundegehirn bei Wiederholungen als sehr konstant. Die zur genauen Feststellung dieser Tatsache angewendete Methode bestand darin, dass zunächst die Stelle auf der Hirnoberfläche ausgesucht wurde, die bei der geringsten noch erregenden Stromstärke die stärkste Zuckung der betreffenden Muskelgruppe ergab. Dann wurde eine Stecknadel zwischen den beiden Elektroden in das Gehirn des noch lebenden Tieres eingesenkt. Nach der Tötung wurde das Gehirn herausgenommen und die einzelnen so markierten Punkte mit denen der Spirituspräparate früherer Versuche verglichen. Das Resultat dieser streng methodischen Vorgangsweise war jene
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berühmte Darstellung der motorischen Zentren des Hundegehirns, mit dem die Geschichte der modernen Lokalisationstheorie beginnt (vgl. Abb. 12). Nach diesem eindeutigen Resultat experimenteller Forschung erhebt sich nun für Fritsch und Hitzig die Frage, wie es denn kam, dass „so viele frühere Forscher, darunter die glänzendsten Namen“, die Meinung von der Unerregbarkeit der Großhirnrinde vertraten. Die Antwort darauf lautet: „Die Methode schafft die Resultate“ (Fritsch und Hitzig 1870, S. 322). Gerade weil man von der irrigen Ansicht der Gleichwertigkeit aller Felder der Hirnoberfläche ausging, versäumte man es, wenn man zufällig bei einer Operation auf eine unerregbare Stelle gestoßen war, auch noch andere Stellen zu unAbb. 12: Darstellung der motorischen tersuchen. Hätte man an eine LokaliZentren der Nackenmuskeln und der sation der seelischen Funktionen Muskeln des Vorder- und Hinterbeins auch nur gedacht, so würde man keiam vorderen Teil der Großhirnrinde nen Teil der Großhirnrinde ununterdes Hundes (aus Fritsch u. Hitzig 1870) sucht gelassen haben. Aber nur wenige Hirnanatomen, unter denen von Fritsch und Hitzig namentlich nur Meynert ausdrücklich genannt wird, hatten sich bisher, allerdings in anderer Weise als Gall, für eine strenge Lokalisation der einzelnen psychischen Eigenschaften ausgesprochen. Was Fritsch und Hitzig nach ihren Versuchen als sichergestellt annehmen durften, war „die Tatsache, daß ein beträchtlicher Teil der die großen Hemisphären zusammensetzenden Nervenmassen, man kann sagen, fast ihre eine Hälfte, in unmittelbarer Beziehung zur Muskelbewegung steht, während ein anderer Teil offenbar wenigstens direkt nichts damit zu schaffen hat“ (a. a. O., S. 325). Selbst bei dieser zurückhaltenden Aussage über die Summe der Ergebnisse ihrer Versuche geht daraus doch eindeutig hervor, dass „keineswegs wie Flourens und die Meisten nach ihm meinten, die Seele eine Art Gesamtfunktion der Gesamtheit des Großhirns ist, deren
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Ausdruck man wohl im Ganzen aber nicht in seinen einzelnen Teilen durch mechanische Mittel aufzuheben vermag, sondern daß vielmehr sicher einzelne seelische Funktionen, wahrscheinlich alle, zu ihrem Eintritt in die Materie oder zur Entstehung aus derselben auf zirkumskripte Centra der Großhirnrinde angewiesen sind“ (Fritsch und Hitzig 1870, S. 332). Was jedoch bei dieser Methode unbeantwortet blieb, war die Frage, ob organische Reize genau dieselben Bewegungsäußerungen hervorbringen, wie die in den Experimenten angewendeten elektrischen Reize. Denn damit ist das Problem verbunden, warum gerade die Nervenzellen einer eng umschriebenen Stelle der Großhirnrinde und keine anderen zur Produktion organischer Reize für jene Nervenfasern bestimmt sind, welche die entsprechenden Muskelbewegungen auslösen. Zur Beantwortung dieser Frage nach der funktionalen Bedeutung der einzelnen Teile der Rinde gibt es nur einen experimentellen Weg: „Es ist die Exstirpation zirkumskripter und genau bekannter Teile derselben“ (a. a. O., S. 328). Mit dieser Antwort beginnt eine neue Phase des langwierigen und blutigen Weges der Gehirnabtragung an höheren Säugetieren, vor allem an Hunden, der sowohl an Anzahl der geopferten Tiere als auch an der Grausamkeit des Vorgehens alles bisherige in der Geschichte der Hirnforschung seit der Antike übertreffen sollte. Zunächst war es Hitzig selbst, der seine elektrischen Reizversuche fortsetzte, wobei er aber im Unterschied von seinen früheren Versuchen die Versuchstiere narkotisierte. Dies geschah weniger aus Mitleid als vielmehr deswegen, weil die Versuche „wegen der willkürlichen Bewegungen und der stoßweisen unregelmäßigen Respiration der Hunde außerordentlich beschwerlich“ waren. Dabei stellte sich heraus, das weder die Äther- noch die Morphium-Narkose einen wesentlichen Einfluss auf das Gelingen der Versuche hatte. Von der Anwendung des Chloroforms musste dagegen abgegangen werden, nachdem mehrere Hunde bereits bei Beginn der Inhalation zu Tode kamen. Auch bei der Anwendung von Äther und Morphium gab es Unterschiede. Schmerzhafte Eingriffe wurden bei gut durch Morphium narkotisierten Tieren nur selten mit Schreien und Versuchen sich loszureißen beantwortet. Doch blieb der reflektorische Lidschluss stets ungestört und auch die Extremitäten wurden auf schmerzhafte Eingriffe in der Regel zurückgezogen. Die mit Morphium betäubten Hunde verhielten sich also ähnlich wie die Tiere, denen Flourens das Großhirn genommen hatte. Bei einer Narkotisierung mit Äther ergab sich dagegen eine vorübergehende Lähmung. Ein Vergleich dieser Reizversuche mit den am Menschen gesammelten Erfahrungen über den unterschiedlichen Einfluss dieser beiden Narkosemittel auf das Fortbestehen der Vorstellungen zeigt eine grundsätzliche Übereinstimmung: „Der Ätherschlaf führt eine absolute Pause in den
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psychischen Tätigkeiten herbei. Die Morphiumnarkose kann hingegen von Träumen belebt sein, die eine hinreichende Intensität gewinnen, um Erinnerungsbilder zurückzulassen“ (Hitzig 1874, S. 39). Aus diesen elektrischen Reizversuchen an narkotisierten Hunden ergab sich auch, dass die Großhirnzentren schwerer und ungleichmäßiger unempfindlich werden, als die tiefer liegenden eigentlichen Reflexzentren. Denn die Zentralapparate der bewussten willkürlichen Bewegungen pflegen bei der Narkotisierung mit Äther oder Chloroform schon vor den Reflexapparaten ihre Funktion einzustellen. Die Exstirpationsversuche, die Hitzig zur Lokalisierung der motorischen Zentren mehrfach wiederholte und modifizierte, bestätigten seine Theorie von den eng begrenzten Zentren für bestimmte Muskelbewegungen. Die Verletzung war in dem von ihm so genannten Zentrum für die rechte Vorderextremität angebracht worden. Der Erfolg war, dass die Tiere diese Extremität zwar noch gebrauchten, dass sie diese aber unzweckmäßig aufsetzten, was darauf hinwies, dass sie „nur noch ein mangelndes Bewußtsein von ihren Zuständen besaßen“ (Hitzig, 1874, S. 55). Gegen diese Interpretation wurden jedoch sofort Bedenken angemeldet. Carl Wilhelm Nothnagel (1841 – 1905) unterwarf – von der gleichen Idee wie Hitzig ausgehend – die gleiche Region der Großhirnrinde aber mit anderen Methoden einer lokalisierten Verletzung, wobei nicht nur die Vorderextremität, sondern auch die entsprechende Hinterextremität mitbetroffen war. Er kam daher zu dem Schluss, „daß eine strenge Lokalisation der geistigen Funktionen auf bestimmte Zentren der Großhirnrinde nicht vorhanden ist“ (Nothnagel 1873, vgl. Hitzig 1874, S. 50). Dieser Schluss wurde jedoch von Hitzig nicht akzeptiert, wenn damit eine Rückkehr zur Äquipotenztheorie von Flourens gemeint sein sollte. Denn die Äquipotenztheorie setzt voraus, „daß wir heute Ganglien und Fasermassen zum Gehen gebrauchen können, die uns gestern nicht zum Gehen, sondern vielleicht zum Hören oder Riechen, jedenfalls zu anderen Zwekken gedient haben“ (Hitzig 1874, S. 57). Diese Ansicht aber widerspricht allen sonstigen Erfahrungen von den Funktionen dieser und besser bekannter Teile des Nervensystems. Das einzige von Nothnagel erbrachte Gegenargument gegen die strenge Lokalisation ist nach Hitzigs Meinung der allerdings auch ihm selbst bekannte Umstand, dass die durch die Hirnverletzungen hervorgerufenen Symptome sich allmählich verlieren. Dies lässt sich aber nach Hitzig dadurch erklären, dass nur ein Teil des Zentrums zerstört worden ist und dass der Rest zur Erfüllung der Funktion hinreicht. Mit diesen Argumenten und Gegenargumenten für oder gegen eine strenge Lokalisation der höheren Hirnfunktionen war bereits ein Streit vorprogrammiert, der bis in die heutige Hirnforschung reicht.
Vergleichende Hirnphysiologie
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Vergleichende Hirnphysiologie als Grundlage der Lokalisationstheorie der höheren Hirnfunktionen: David Ferrier Einer der Ersten, der sowohl die Methode der elektrischen Reizung als auch die Methode der Zerstörung oder Abtragung von bestimmten eng umschriebenen Teilen der Großhirnrinde von Fritsch und Hitzig übernahm, war der englische Physiologe David Ferrier (1843 – 1928). Auch er war der Meinung, dass die Methode der elektrischen Reizung zwar den großen Vorteil hat, nicht zu schweren und irreparablen Schädigungen des Gehirns zu führen, aber für eine genaue Lokalisation der Funktionen nicht ausreichend ist. Die Tatsache allein, dass auf die Reizung einer Stelle eine Bewegung erfolgt, gibt uns nach Ferrier, noch nicht das Recht, ein motorisches Zentrum anzunehmen. Zur eigentlichen Bestimmung eines solchen Zentrums ist noch die Zerstörung jener Rindenabschnitte erforderlich, auf deren Reizung hin eben die bestimmten motorischen Erscheinungen erfolgt sind. Denn nur so, durch den bleibenden, nicht kompensierbaren Ausfall einer Fähigkeit, in diesem Fall eine motorische Lähmung, kann das entsprechende Zentrum sicher festgestellt werden. Außerdem musste Ferrier erkennen, dass in vielen Bereichen der Großhirnrinde auf elektrische Reizungen keine deutlichen Reaktionen erfolgen. Daher blieb die Zerstörung und Abtragung ganzer Teile des Großhirns im Tierversuch weiterhin die dominierende Methode. Unter passenden Bedingungen ausgeführt, die der Experimentator nach Belieben verändern und auswählen kann, liefert sie nach Ferriers Meinung allein präzise Tatsachen zu korrekten Schlüssen über die Leistungen des Gehirnes und seiner Teile (Ferrier 1879, S. XIV). Sie haben daher für ihn den Vorrang gegenüber den klinischen und pathologischen Erfahrungen. Denn diese Experimente, welche die Natur, wie er sagt, „in den Krankheiten des Nervensystems für uns anstellt, bleiben selten lokalisiert oder frei von Komplikationen, so daß ihre Analyse und die Erkenntnis von Ursache und Wirkung äußerst schwierig, in manchen Fällen sogar vollständig unmöglich werden“ (a. a. O., S. XIV). Beide Wege, sowohl die Tierversuche als auch die klinischen Erfahrungen am Menschen, lassen sich jedoch durch die vergleichende Hirnphysiologie vereinigen. Die biologische Evolutionstheorie bietet dazu eine Grundlage und Rechtfertigung, wie sie vor Darwin noch nicht gegeben war. Denn erst durch die phylogenetische Verwandtschaft aller Lebewesen können die Ähnlichkeiten von Struktur und Funktion des Gehirns verschiedener Tierarten, die in der experimentellen Hirnphysiologie seit jeher vorausgesetzt wurden, erklärt werden. Im Sinne einer solchen, durch die Evolutionstheorie gerechtfertigten vergleichenden experimentellen Hirnphysiologie war
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das Forschungsprogramm Ferriers aufgebaut: Er untersuchte in aufsteigender Linie sowohl die niederen und höheren Funktionen des Nervensystems, beginnend mit den Reflexfunktionen des Rückenmarks bis zu den kognitiven Funktionen der Großhirnrinde, als auch in aufsteigender Linie die Gehirne einzelner Tierarten von Fischen und Fröschen angefangen, über Tauben, Ratten und Kaninchen bis zu Hunden und Affen, indem er sie zum Teil sehr grausamen Versuchen unterwarf, bzw. das bereits vorhandene Material von anderen Experimentatoren, insbesondere von Goltz heranzog. Friedrich Goltz (1834 – 1902) war zwar ein Anhänger der Äquipotenztheorie von Flourens, lieferte aber zunächst durch seine Untersuchungen über die Funktionen der Nervenzentren des Frosches (1869) für Ferrier entscheidende Resultate und Argumente zur Lokalisationstheorie, indem er den „Sitz der Seele des Frosches“ zu bestimmen versuchte und zu dem Ergebnis kam „daß das Gehirn das ausschließliche Organ der Seele zu sein scheint“ (Goltz 1869, S. 126). Denn die Frösche, denen Goltz das Großhirn entfernte, waren reine Reflexautomaten.
Das Rückenmark als Reflexzentrum Als Beweis für die Reflexfunktion des Rückenmarks führt Ferrier Versuche sowohl an Kaltblütern wie an Warmblütern an: Durchschneidet man das Rückenmark, so können trotzdem Muskelreaktionen hervorgerufen werden, wenn auf erregbare Teile hinter dem Schnitt ein Reiz einwirkt: Wird z. B. ein Fuß gereizt, so geraten die Muskeln des dazugehörigen Beines in Aktion. Den Körper eines Frosches kann man sogar quer auseinander schneiden und derartige Reizversuche an der hinteren Hälfte, die noch eine beträchtliche Zeit hindurch ihre Lebensfähigkeit erhält, durchführen. Einen gleichwertigen Beweis für die reine Reflexaktion des Rückenmarks liefern pathologische Zustände beim Menschen. Ist das Rückenmark durch Erkrankung oder Verletzung an einer Stelle unterbrochen, so erfolgt eine Lähmung an allen Körperteilen, die ihre Nerven von der unterhalb der Läsion gelegenen Stellen des Rückenmarks beziehen. Kitzelt man aber die Fußsohlen, dann gerät das Bein ohne Wissen und Willen des Individuums in Zuckungen. Alle diese Phänomene zeigen, dass das Bewusstsein keine notwendige Bedingung für das Auftreten der Reflexaktionen ist. Das lässt sich auch dann zeigen, wenn die Verbindung zwischen Gehirn und Rückenmark intakt ist. Im wachen Zustand wird zwar die Reflexaktion eine Wahrnehmung hervorrufen, aber diese Wahrnehmung ist kein wesentlicher Faktor im Re-
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flexprozess. Trotz dieser weitgehenden Autonomie des Rückenmarks als Reflexzentrum übt aber das Gehirn einen starken Einfluss auf das Zustandekommen der Reflexphänomene aus. Denn die Reflexaktionen des Rückenmarks können vom Gehirn gehemmt oder sogar völlig unterdrückt werden. So können willensstarke Personen die reflektorischen Bewegungen des Beines unterdrücken und auch an Tierversuchen lässt sich dieser hemmende Einfluss des Gehirns feststellen. Ferrier führt in diesem Zusammenhang folgendes Experiment an: „Man hing einen Frosch in der Weise beim Kopfe auf, daß seine Beine in ein Gefäß mit verdünnter Säure tauchten. Nach einer gewissen Zeit zog er in Folge der andauernden Reizung durch die Säure die Beine zurück. Durch wiederholte Versuche wurde die mittlere Zeitdauer bis zum Eintritt dieser Muskelbewegung bestimmt. Denselben Versuch stellte man nun mit einem Frosche an, dessen Rückenmark hinter der Medulla oblongata quer durchschnitten war. Das Intervall, das jetzt zwischen dem Kontakt mit der Säure und dem Zurückziehen der Füße verfloß, war in diesem Falle ein bedeutend kürzeres und zugleich die ganze Aktion auffallend energischer“ (Ferrier 1879, S. 20). Bereits diese Versuche zeigen, dass Reflexbewegungen nicht einfach Muskelkontraktionen ohne Zweck und Bedeutung sind, sondern sie dienen meistens zum Schutz oder zur Verteidigung des Individuums und sind durchaus der jeweiligen Situation angepasst, wie ein weiteres Experiment an Fröschen zeigt: „Wenn ein Tropfen Essigsäure auf den Schenkel eines dekapitierten Frosches gebracht wird, so macht das Tier Versuche, mit dem Fuße derselben Seite den Tropfen wegzuwischen. Wird dieser Fuß amputiert und die Essigsäure wie früher appliziert, so macht das Tier anfangs ähnliche Versuche wie vorhin; da es aber mit dem Stumpfe die gereizte Stelle nicht erreichen kann, so erhebt es nach einigen Momenten deutlicher Unschlüssigkeit und Unruhe den anderen Fuß und versucht mit diesem den Reiz zu entfernen“ (a. a. O., S. 22). Allein schon die verräterische Wortwahl, die bei der Beschreibung dieses Experimentes gewählt wurde, macht deutlich, dass es, wie Ferrier zugeben muss, kaum ein schwierigeres Problem in der Physiologie der Nervenzentren gibt als die Frage, wo eine „sichere Grenze zwischen den Phänomenen von rein reflektorischem Charakter und solchen Erscheinungen zu ziehen ist, bei denen Bewußtsein, Wahrnehmung, Intelligenz mit in Betracht kommen“ (a. a. O., S. 23). Einen schlagenden Beweis gegen die Annahme einer „seelischen Leistung des Rückenmarks“ lieferte Goltz (1869): „Er nahm zwei Frösche, von denen der eine dekapitiert wurde, während er den anderen blendete, um Willensbewegungen in Folge von Gesichtseindrücken auszuschließen. Beide setzte er
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in ein Gefäß mit Wasser, dessen Temperatur er nach und nach erhöhte. Bis die Temperatur 25 °C erreicht hatte blieben beide Frösche ruhig; dann aber begann derjenige, dessen Gehirn unverletzt war, Zeichen von Unbehagen zu zeigen, er versuchte bei steigender Temperatur zu entwischen, bis er endlich bei 42 °C infolge der Hitze unter tetanischen Krämpfen starb. Mittlerweile saß der geköpfte Frosch starr und regungslos ohne Zeichen von Unbehagen oder Schmerz in seinem Bade. Pinselte er aber dem Tiere ein wenig Essigsäure auf eine Stelle der Rückenhaut, welche aus dem Wasser hervorragte, so führte es die bekannten reflektorischen Wischbewegungen korrekt aus. Außerdem aber blieb es gänzlich ruhig und starb bei 56 °C, seine Muskeln waren im Zustand der Wärmestarre“ (Ferrier 1879, S. 24). Damit war für Ferrier „ein Beweis, so exakt als wir ihn nur immer wünschen können“, gegeben, dass ein Frosch ohne Gehirn, die Reflexaktionen vollkommen gut ausführen kann, obwohl er gänzlich unempfindlich gegen Eindrücke ist, welche im normalen Zustand Schmerz erregen. Ferrier geht dabei allerdings von der von allen Tierexperimentatoren geteilten Auffassung aus, dass zwar äußere Zeichen von Schmerz, wie Schreien, nicht mit Sicherheit das Bestehen einer bewussten Schmerzempfindung anzeigen, dass aber andererseits die Abwesenheit von Schmerzäußerungen den Mangel an bewusster Schmerzempfindung beweist. Noch schwieriger wird das Problem, wenn man das „verlängerte Rückenmark“ (Medulla oblongata) untersucht, also jenes Organ, das für die zur Erhaltung des Lebens wichtigsten Reflexaktionen der Herztätigkeit und Atmung verantwortlich ist. Entfernt man einer jungen Ratte das ganze Gehirn bis zu dieser Medulla oblongata und zwickt sie an einer Zehe, dann wird dadurch nicht nur eine Reflexbewegung hervorgerufen, sondern das Tier stößt auch einen Schmerzensschrei aus. Dieser Schrei bleibt aus, wenn man die Medulla oblongata selbst zerstört. Trotzdem ist auch hier Ferrier der Meinung, dass es sich bei diesem Schrei nicht um eine bewusste Schmerzempfindung, sondern um ein bloßes Reflexphänomen handelt. Denn der Schrei ist nichts anders als ein heftiges Ausatmen und die Atmung selbst nur eine reflektorische Leistung, die von der Medulla oblongata gesteuert wird, ebenso wie andere Modifikationen der Respirationstätigkeit wie Husten und Niesen. Wie es für Ferrier kein „Rückenmarksbewußtsein“ gibt, so gibt es für ihn auch kein Bewusstsein im komplizierteren Reflexzentrum der Atmung und Herztätigkeit: „Das Leben kann erhalten bleiben, wenn alle über der Medulla oblongata befindlichen Teile des Zentralnervensystem entfernt wurden; die Respirationen erfolgen in ihrem gewohnten Rhythmus, das Herz schlägt weiter, die Zirkulation persistiert; das Tier schluckt, wenn ihm die
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Nahrung in den Schlund gebracht wird, es reagiert auf Reizung seiner sensorischen Nerven, zieht, wenn es gezwickt wird, die Glieder zurück oder führt einen unregelmäßigen Sprung aus, ja es stößt vielleicht einen Schmerzensschrei aus – allein es bleibt nur noch eine nicht fühlende, nicht denkende Reflexmaschine“ (a. a. O., S. 35 f.).
Die Funktionen des Klein- und Mittelhirns War es schon schwierig die rein reflektorische Funktion des Rückenmarks und des verlängerten Rückenmarks zu beweisen, so stößt man nach Ferrier bei der experimentellen Untersuchung der Funktionen jener Teile des Gehirns, die zwischen dem verlängerten Rückenmark und dem Großhirn liegen, auf noch größere Schwierigkeiten. Denn hier stellt sich noch viel dringlicher die Frage, ob es sich bei diesen Funktionen um bewusste oder nur reflektorische Tätigkeiten handelt. Dass die Zweckmäßigkeit einer Verhaltensweise noch kein sicherer Beweis für das Vorhandensein von Bewusstsein ist, haben bereits die Experimente am verlängerten Rückenmark gezeigt. Denn es kann der komplizierte zweckmäßige Mechanismus des verlängerten Rückenmarks einfach das Resultat der zusammenwirkenden zu- und abführenden Nerven sein. So können aber auch die Mittelhirnund Kleinhirnzentren als Reflexzentren aufgefasst werden, die „in ähnlicher Weise tätig sind wie eine Maschine, welche die Fähigkeit der Selbstregulierung besitzt“ (Ferrier 1879, S. 48). Dem widerspricht jedoch die Tatsache, dass wirbellose Tiere – die ja keine wirklichen Großhirnhemisphären haben, sondern nur eine Reihe, dem Mittelhirn der Wirbeltiere entsprechende Ganglien – im Stande sind, spontane Handlungen auszuführen, die ohne Bewusstsein gar nicht denkbar sind; wie die Fähigkeit, das Angenehme aufzusuchen und das Lästige zu vermeiden. Daher nahmen auch einige Hirnforscher wie Carpenter und Longet an, dass das Mittelhirn die Bedeutung eines Sensorium commune hat, d. h. der Sitz der gemeinsamen Sinnesempfindung ist, während Ferrier selbst daraus lieber den Schluss zieht, dass die Ganglien der Wirbellosen dem Mittelhirn der Wirbeltiere nicht ganz analog sind, sondern auch Nervenzellen enthalten, welche die Bewusstseinsfunktionen des Großhirns der Wirbeltiere, freilich in einem weit geringerem Maß vertreten. Daher bleibt für ihn auch die Frage nach den Beziehungen des Bewusstseins zur Tätigkeit des Mittelhirns, wenn man sich auf Experimente an niederen Tieren beschränkt, ungelöst. Leichter beantwortbar wird diese Fragestellung, wenn man auf patholo-
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gische Befunde beim Menschen zurückgreift. Denn es gibt Beispiele von Krankheiten, bei denen die Großhirnhemisphären von ihrer Verbindung mit dem Mittelhirn abgeschnitten sind. In solchen Fällen bleibt zwar das Denken und Sprechen intakt, aber es ist kein Bewusstsein von den taktilen Reizen vorhanden, die auf den Körper einwirken, wie sehr sich auch der so Erkrankte anstrengt, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten. Derartige klinische Erfahrungen zeigen nach Ferrier, dass im Mittelhirn die sensorischen Eindrücke nicht ins Bewusstsein treten. Daher muss man seiner Meinung nach annehmen, dass die bewusste Wahrnehmung eine Funktion der höheren Zentren der Großhirnhemisphären ist. Nachdem auf diese allgemeine Weise sowohl die Funktionen von Mittelund Kleinhirn als auch ihre terminologischen Bezeichnungen von denen der Großhirnfunktionen abgegrenzt sind, zerlegt Ferrier die Funktionen von Klein- und Mittelhirn in die Erhaltung des Körpergleichgewichts und Koordination der Körperbewegungen. Wie die Experimente zeigen, lassen sich jedoch diese beiden Leistungen, die eng miteinander verbunden sind, nicht getrennt untersuchen. Beide Bereiche zusammen können aber dadurch erfasst und lokalisiert werden, wenn man die Großhirnhemisphären zur Gänze abträgt. Die Folgen einer vollständigen Entfernung der Großhirnhemisphären sind jedoch bei den einzelnen Tierklassen verschieden. Beim Fisch, Frosch und bei der Taube wird dadurch die Fortbewegung und das Aufrechtstehen in kaum merkbarer Weise beeinträchtigt, Unter dem Einfluss äußerer Reize können diese Tiere schwimmen, springen oder fliegen und zwar mit derselben Kraft und Präzision wie früher. Auch beim Kaninchen hebt die Entfernung der Großhirnhemisphären die Fähigkeit des Aufrechtstehens und der koordinierten Vorwärtsbewegung nicht ganz auf, obwohl die Beweglichkeit der Vorderbeine dadurch geschwächt wird. Beim Hund dagegen, stellt Ferrier fest, wird nach einer solchen Operation das Stehen und die Fortbewegung vollständig unmöglich. Ob diese Fähigkeiten mit der Zeit wenigstens bis zu einem gewissen Grad wieder erworben werden können, hält Ferrier zwar für sehr wahrscheinlich, für ihn war jedoch die Beantwortung dieser Frage experimentell nicht zu lösen, da die so operierten Hunde immer bald nach dem Eingriff starben. Was zunächst mit der Abtragung der Großhirnhemisphären erreicht wird, ist die Lokalisation bestimmter Funktionen im Klein- und Mittelgehirn. Zu den wichtigsten Erscheinungen gehört die Funktion des Gleichgewichts. Ohne Großhirnhemisphären bleibt der Frosch in seiner normalen Stellung und setzt allen Versuchen, ihn aus der Gleichgewichtslage zu bringen, Widerstand entgegen. Legt man ihn auf den Rücken, so kehrt er sofort wieder in seine frühere Lage zurück und bleibt auf den Füßen stehen. Im
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Prinzip lässt sich ein gleiches Verhalten bei einem großhirnlosen Fisch feststellen. Da er seine Gleichgewichtslage im Wasser nur durch Schwimmen halten kann, wird er im Unterschied zum Frosch, der ruhig sitzt, unaufhörlich bis zur völligen Erschöpfung nach vorwärts schwimmen. Er wird jedoch nicht gegen ein Hindernis anrennen, ebenso wenig wie der großhirnlose Frosch, wenn man ihn zwickt, gegen ein Hindernis springt. Im Unterschied zu einem Frosch, der nur sein Rückenmark und das verlängerte Rückenmark besitzt, wird der großhirnlose Frosch sich nicht in einem Gefäß mit Wasser, dessen Temperatur man nach und nach erhöht, ruhig sieden lassen, sondern sobald das Bad für ihn eine unangenehme Hitze erreicht hat, herausspringen. Aber der wesentliche Unterschied zu einem unverletzten Frosch, der in vollem Besitz seiner Fähigkeiten ist, besteht darin, dass der großhirnlose Frosch, wenn er nicht durch äußere Reize gestört wird, immer an demselben Fleck ruhig sitzen bleibt, solange bis er endlich zu einer Mumie vertrocknet ist: „Umgeben von Überfluß wird er an Mangel zu Grunde gehen, aber ihn quälen nicht wie Tantalus: Hunger und Durst. Kein Wunsch und kein Verlangen, seine physischen Bedürfnisse zu erfüllen, lebt in ihm“ (Ferrier 1879, S. 39). Auch der großhirnlose Fisch geht wie der Frosch zu Grunde, selbst wenn er umgeben von Futter ist, im Gegensatz zu anderen Fischen, welche hin und her schwimmen, dies beriechend und jenes benagend, setzt der so verstümmelte Fisch von einem unwiderstehlichen Impuls getrieben seinen Weg in gerader Linie bis zur völligen Ermüdung fort. Die Resultate der Entfernung der Großhirnhemisphären bei Tauben sind vor allem von Flourens beschrieben worden. Ferrier gibt von diesen und anderen Versuchen eine Zusammenfassung der hauptsächlichen Erscheinungen, die er auch an seinen eigenen Versuchen mit solchen Tieren feststellen konnte: Eine enthirnte Taube ist ebenfalls noch imstande, ihr Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Auch sie gelangt wieder auf die Füße, wenn man sie auf den Rücken gelegt hat. In die Luft geworfen, fliegt sie mit aller notwendigen Präzision und Koordination. Aber sich selbst überlassen scheint sie in tiefen Schlaf versunken. Wenn eine Pistole nahe vor ihrem Kopf abgeschossen wird, fährt sie zusammen und öffnet weit die Augen, kehrt aber dann sofort in den Zustand der Ruhe zurück. Sie macht keine spontanen Bewegungen, Gedächtnis und Wille scheinen aufgehoben. Um sie zu füttern, muss man ihren Schnabel gewaltsam öffnen. Dann schlingt sie wie gewöhnlich die Nahrung hinunter und kann auf diese Weise monatelang am Leben erhalten werden. Sich selbst überlassen, stirbt sie aber wie der Fisch und Frosch an Nahrungsmangel. Während sich die reflektorischen Verhaltensweisen von Fröschen, Fi-
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schen und Vögeln, denen man das Großhirn entfernt hat, kaum von denen der normalen Tiere dieser Arten unterscheiden, ergeben sich bei großhirnlosen Säugetieren wesentliche Unterschiede, je nach Alter und der Klasse, zu welcher diese Tiere gehören. Werden die Hemisphären einem Kaninchen entfernt, so ist das Tier nicht nur zunächst äußerst schwach, sondern es kann sich nur schwankend im Gleichgewicht halten, wobei es vor allem die Vorderbeine in ungeschickter und unregelmäßiger Weise gebraucht. Wenn es aus dem Gleichgewicht gebracht wird, kann es sich nicht mehr wieder aufrichten. Es ist auch nicht mehr fähig einem Hindernis auszuweichen, sondern setzt seinen Weg blindlings fort, bis es mit dem Kopf daran anstößt. Bei Hunden und Katzen ist nach der vollständigen Abtragung der Großhirnhemisphären der Verlust der motorischen Kraft so bedeutend, dass die unabhängige Leistungsfähigkeit der niedrigen Zentren, soweit sie sich auf die Erhaltung des Gleichgewichts und der koordinierten Bewegungen beziehen, verloren geht. Umgekehrt zeigt sich auch an klinischen Fällen beim Menschen, dass bei Erkrankungen des Kleinhirns oder sogar bei dessen gänzlichen Fehlen noch immer das Gleichgewicht und koordinierte Bewegungen erhalten bleiben. Als schlagendes Beispiel und Gegenbeweis für die Theorie von Flourens, nach der das Kleinhirn das Koordinationsorgan sein soll, wird immer wieder, auch von Ferrier der Fall eines jungen Mädchens mit vollständigen Mangel des Kleinhirns angeführt (Combette, Revue médicale, 1881; vgl. Ferrier 1879, S. 99). Die Kranke war bis kurz vor ihrem Tode im Stande zu stehen und zu gehen, und das einzige hier bemerkenswerte Symptom war, dass sie leicht niederfiel. Auch ein weiterer Fall einer schweren Erkrankung des Kleinhirns, führte nicht wie in den meisten anderen Fällen zu so großen Koordinationsstörungen der Bewegungen, dass ein Gehen unmöglich war. Der Kranke, dessen Kleinhirn sich nach seinem Tode bei der Sektion als völlig zerstört erwies, konnte trotzdem, wenn auch schwankend, gehen. Daraus ergibt sich für Ferrier eine wichtige Schlussfolgerung: „Obschon wir es als eine allgemeine Regel bei unseren Untersuchungen gelten lassen können, daß Nervenzentren, welche nach demselben Typus gebaut sind, auch analoge Funktionen besitzen, so dürfen wir gleichwohl nicht vergessen, daß, je weiter wir in der Tierreihe hinaufsteigen, die einzelnen Teile der Zerebrospinalachse mehr und mehr untereinander verbunden und in ihrer Tätigkeit assoziiert sind. Die Trennung der einzelnen Teile voneinander wird daher derartige funktionelle Störungen des Ganzen hervorrufen müssen, da wir nur in seltenen Fällen im Stande sind, die Erscheinungen, welche von dem direkt verletzten Teil ausgehen, rein und unabhängig zu erhalten“ (Ferrier 1879, S. 42 f.).
Der Ausdruck der Gemütsbewegungen
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Die Hypothese vom reflektorischen Charakter des Ausdrucks der Gemütsbewegungen Eine besondere Stellung in Ferriers Untersuchungen über die Funktionen des Gehirns nimmt jedoch die Theorie vom reflektorischen Charakter des Ausdrucks der Gemütsbewegungen ein. Während sie bei Darwin die enge Verwandtschaft zwischen menschlichen und tierischen Emotionen zeigen sollte, hatte sie bei Ferrier eher den Charakter einer Beruhigungsphilosophie, welche die grausamen Experimente an lebenden Tieren entschuldigen sollte. Denn er macht in diesem Zusammenhang folgende Bemerkung: „Die gewöhnlichen Gefühlsäußerungen, welche wir nach periphären, sensorischen Reizen an unseren Versuchstieren beobachten, bestehen hauptsächlich in verschiedenartigem Geschrei, als Zeichen von Schmerz oder Wohlgefühl, oder in gewissen Körperbewegungen, welche Bestürzung oder Furcht ausdrücken“ (Ferrier 1879, S. 76). Dass solche Gefühlsäußerungen auch bei großhirnlosen Tieren vorkommen, haben Versuche von Goltz, Vulpian und Ferrier selbst gezeigt. Vulpian hat vor allem auf den Schmerzensschrei großhirnloser Kaninchen aufmerksam gemacht, der ganz anders klingt, als derjenige, der als bloß modifizierte Ausatmung angesehen werden kann und den man auf die Tätigkeit des verlängerten Rückenmarks zurückgeführt hat. Goltz dagegen hat mit großhirnlosen Fröschen Quakversuche durchgeführt. Die Frösche pflegen ihr Wohlbefinden und Behagen durch Quaken auszudrücken. Wenn an warmen Sommerabenden dieser Chor der Frösche ertönt, kann man annehmen, dass sich diese Sumpfbewohner in der lauwarmen Flut wohlfühlen. Aber auch ein großhirnloser Frosch kann quaken, wenn man seinen Rücken leicht streichelt. Werden jedoch die Rückennerven durchschnitten oder die Haut entfernt so hört das Quaken auf und kann auch nicht mehr hervorgerufen werden. Das weist darauf hin, dass das Quaken eine reine Reflexaktion ist. Der deutsche Physiologe E. Hecker, auf den Ferrier verweist, geht so weit, dass er auch das Lachen des Menschen als eine zwar zweckmäßige aber letzten Endes bloße Reflexbewegung erklärt, die auf Grund von Druckschwankungen im Gehirn zustande kommt, welche dann durch entsprechende Drucksteigerung beim heftigen Ausatmen ausgeglichen werden. Auch die häufig beobachtbare Tatsache, dass der Ausdruck solcher Gemütsbewegungen nicht bewusst und willentlich verhindert werden kann, weist nach Ferrier darauf hin, dass das Zentrum für die Äußerungen unserer Gemütszustände unterhalb der Zentren des bewussten Vorstellungslebens liegt.
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Die Bedingungen, unter denen Ferrier seine physiologischen Experimente an Tieren ausgeführt hat, waren jedoch meist nur geeignet Zeichen für schmerzhafte Zustände zum Ausdruck zu bringen. Denn die großhirnlosen Tiere wurden hauptsächlich am Fuß, an den Ohren und am Schwanz gezwickt oder gestochen, was zu „wiederholtem anhaltenden Schreien von klagendem Charakter“ führte, das vollkommen dem Schreien gleicht, das nicht großhirnamputierte normale Tiere bei schmerzhaften Wahrnehmungen ausstoßen. Da aber nach der Lokalisationstheorie Ferriers das Mittelhirn von den Bewusstseinsvorgängen ausgeschlossen ist, sieht er diese Erscheinungen des Schmerzgefühls bei großhirnlosen Tieren als bloß „reflektorisch angeregte Tätigkeiten“ an, so sehr sie auch den bewussten Schmerzäußerungen ähnlich sind. Und er vergleicht das großhirnlose Tier mit einem unter Einfluss von Chloroform stehenden Menschen, bei dem die Erregbarkeit des Großhirns vernichtet und daher die Bewusstseinstätigkeit unterdrückt ist, während die Mittelhirnzentren noch lange Zeit hindurch erregbar bleiben: „Sensorische Eindrücke, welche unter normalen Verhältnissen eine schmerzhafte Wahrnehmung erzeugen und Stöhnen, Schreien u. dgl. verursachen, werden bei diesem Grade der Anästhesie also lediglich reflektorische Schmerzäußerungen ohne Bewußtwerden des Schmerzes hervorrufen“ (a. a. O., S. 77). Diese reflektorische Schmerzäußerungen beweisen daher für Ferrier ebenso wenig bewusstes Schmerzempfinden, wie die durch Anschlagen der Klaviertasten hervorgebrachten Töne der Ausdruck eines freudigen oder schmerzlichen Gefühls des Instrumentes sind. Es überträgt sich also nach seiner Meinung der sensorische Reiz direkt auf die motorischen Bahnen, ebenso, wie das Anschlagen der Taste unmittelbar die Schwingungen der Seite verursacht. Mit diesem Vergleich, den Ferrier von Crichton Browne übernimmt, ist eine rein mechanistische Erklärung des akustischen Ausdrucks der Gemütsbewegungen erreicht worden, die noch durch andere Ausdrucksformen verstärkt wird, die rein reflektorisch durch Reizung bestimmter Teile des Mittelhirns, der sog. „Vierhügel“, entstehen sollen, wie z. B. die Erweiterung der Pupillen und die Öffnung der Augen, das Schließen der Kinnbacken, das Zurücklegen der Ohren – alles Symptome, die normalerweise für Gefühle der Angst und des Schreckens charakteristisch sind, aber in diesem experimentellen Fall nach Ferrier als reine Reflexaktionen ohne Bewusstsein angesehen werden müssen.
Die Funktionen des Großhirns
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Die Funktionen des Großhirns Durch Zerstörung oder Abtragung der Großhirnhemisphären wurden auch nach Ferriers Meinung zunächst nur negativ, d. h. durch den Ausfall der Leistungen, die besonderen Funktionen dieses Hirnteils erkannt. Denn eine derartige Operation macht das Tier zu einer komplizierten Reflexmaschine, bei der bewusste Wahrnehmung, Vorstellung, Wille und Intelligenz völlig verloren gegangen ist. Diese große Lokalisation der sog. „höheren Hirnfunktionen“ bedurfte jedoch noch einer genaueren Differenzierung. Erst an diesem Punkt tritt der viel diskutierte Gegensatz von Lokalisation und Äquipotenz auf. Denn dieser Gegensatz von einer eindeutigen Zuordnung bestimmter Funktionen zu einer eng umgrenzten Stelle im Gehirn und der funktionellen Gleichwertigkeit der Hirnteile bezieht sich nur auf die Großhirnrinde. Auch die Vertreter der Äquipotenztheorie, allen voran ihr eigentlicher Begründer Flourens, waren sich über die Aufteilung der „niederen Hirnfunktionen“, die der Lebenserhaltung dienen, wie Atmung, Herzschlag, Empfindung und Bewegung, im verlängerten Rückenmark bzw. Klein- und Mittelhirn einerseits und der „höheren Hirnfunktionen“, die das Wesen von Bewusstsein und Geist ausmachen, im Großhirn andererseits völlig einig. Die Frage, die sich nun Ferrier stellte, war daher, ob das Großhirn als ein Ganzes und an jeder Stelle gleichmäßig die Fähigkeit zu geistigen Leistungen jeder Art besitzt, oder ob gewissen Teilen der Hemisphären bestimmte Funktionen zukommen (Ferrier 1879, S. 136). In der Beantwortung dieser Frage konnte sich Ferrier bereits auf die Versuche von Fritsch und Hitzig stützen, deren „Verdienst, die Tatsache einer bestimmten Lokalisation zuerst experimentell nachgewiesen zu haben“, er völlig anerkannte. Über die Ausdehnung dieser Lokalisation und über die Bedeutung der Ergebnisse der Versuche gab es jedoch wesentliche Differenzen. Während Hitzig unerregbare Zonen annahm, fand Ferrier fast das ganze Großhirn erregbar: Außerdem gab er für die gleichen Muskelgruppen mehrere, gelegentlich weit auseinander liegende Zentren an. Hitzig dagegen fand jedoch für jede Muskelgruppe immer nur ein Zentrum. Diese Differenzen waren zum großen Teil auch eine Folge der unterschiedlichen Stärke der angewandten elektrischen Ströme (vgl. Hitzig 1874, S. 73f.). Im Prinzip waren sich jedoch die Vertreter der Lokalisationstheorie einig, dass die vergleichende Physiologie die Grundlage für die Übertragung der Ergebnisse der Tierversuche auf das menschliche Gehirn ist. So sagt auch Hitzig: „Inmitten der bisher rätselvollen Windungsfelder des Menschenhirns wäre ähnlich wie am Hundehirn ein Gebiet abgegrenzt, das sich durch eine
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ihm eigentümliche Funktion von den Nachbargebieten unterscheidet“ (Hitzig 1874, S. 126). Doch müssen bei aller entwicklungsgeschichtlich bedingten Äquivalenz der Regionen im Gehirn von Tier und Mensch auch die Unterschiede in der Stufenfolge der „Seelentätigkeiten“ berücksichtigt werden, die auch in der Struktur des Gehirns ihren Ausdruck finden. Die Zielsetzung von Hitzig wie Ferrier war es daher, die Reizversuche auch auf Affen auszudehnen und mit den pathologischen Befunden bei Menschen zu vergleichen. Während sich Hitzig zunächst lediglich auf Versuche mit einem Affen beschränken musste, den er vom Berliner Zoo bekam, konnte Ferrier in weit größerem Maß sowohl Reizversuche als auch Vivisektionen an Affen durchführen. Ferriers Affenversuche waren zunächst auf die Lokalisation der motorischen und sensorischen Funktionen gerichtet. Es gelang ihm auf diese Weise für eine Reihe von Abschnitten der Großhirnrinde, die durch bestimmte konstante Gehirnwindungen gekennzeichnet sind, sowohl sensorische als auch motorische Funktionen nachzuweisen. So gab er den Ort des Sehzentrums, des Hörzentrums, des Geschmackszentrums, des Geruchszentrums und Tastzentrums an und legte auf detaillierte Weise die Zentren für die willkürliche Bewegung fest. Darüber hinaus entdeckte er in den Hinterhauptslappen das Zentrum für das Hungergefühl und in den Stirnlappen das Zentrum für Intelligenz und Aufmerksamkeit. Diese am Affenhirn gewonnene Karte „homologisierte“ Ferrier dann mit dem Menschengehirn. Homologisierung bedeutet nicht Gleichsetzung, sondern nur eine Annäherung, die sich aus der von der Evolutionstheorie nachgewiesenen gleichen Entwicklungsgeschichte ergibt. Eine vollständige Übereinstimmung wird man aber auch nach Ferrier insbesondere bei den detaillierten Angaben über die motorischen Zentren kaum erwarten können, umso weniger als einerseits beim Menschen die Bewegungen des Armes und der Hand viel komplizierter und feiner organisiert sind als beim Affen, und andererseits dem Menschen die Greifbewegungen des Fußes und die Schwanzbewegungen fehlen. Trotz dieser Einschränkung überträgt aber Ferrier die in seinen Experimenten an Affen gewonnenen Lokalisationen der sensorischen und motorischen Funktionen direkt auf das Menschengehirn (Abb. 13). Dabei geht er jedoch davon aus, dass die verschiedenen Tierarten in ihren Mittelhirnzentren von Geburt an mit einer in verschiedenem Grade ausgebildeten organischen Anlage für das Lokomotions-, d. h. Fortbewegungsvermögen ausgestattet sind. Je mehr die Kontrolle über die Glieder von einer bewussten Willenstätigkeit abhängt, umso stärker wird die Bewegungslähmung nach Zerstörung der Rindenzentren sein. Sie ist beim Hund weniger
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Abb. 13: Homologisierung von Affenhirn (unten) und Menschenhirn (oben) (Ferrier 1879)
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stark ausgeprägt als beim Affen. Ein seiner motorischen Rindenzentren beraubter Hund wird zwar jene Bewegungen ungestört durchführen können, die bereits automatisiert sind. So wird er mit anscheinend gleicher Sicherheit wie früher gehen können, aber ungewohnte noch nicht automatisch gewordene Bewegungen werden ihm unmöglich sein. Ebenso werden auch einem Affen die vielfältigen und komplizierten Bewegungen von Arm und Hand nach der gleichen Läsion unmöglich werden. Beim Hund ist nach Ferriers Ansicht das Band zwischen Sinneseindruck und motorischer Leistung so eng verknüpft, dass die Bewegung zu einer außerhalb der Bewusstseinssphäre vor sich gehenden Reflexaktion werden kann. Der Verbindungsweg zwischen den tieferliegenden sensorischen und motorischen Zentren ist in diesem Fall kürzer, denn er braucht nicht durch die sensorischen und motorischen Rindenzentren führen. Beim Menschen dagegen scheint diese kürzere Bahn nicht genügend zu sein. Denn die Unterbrechung des weiteren Weges durch die Hirnrinde bei Läsionen der motorischen Rindenzentren führt zur vollständigen andauernden Lähmung. Was aber Ferrier keinesfalls annehmen will, ist eine funktionelle Substitution oder Kompensation des einen Rindenzentrums durch ein anderes. Obwohl Ferrier aufgrund seiner immer noch groben Operationstechnik nur wenig über die zeitliche Dauer der motorischen Lähmung bei Affen sagen konnte, weil die so verstümmelten Tiere nicht lange am Leben erhalten werden konnten, war zumindest während der kurzen Überlebenszeit nach der Operation „kein Zeichen von Wiederkehr oder Kompensation der Funktion zu beobachten“ (Ferrier 1879, S. 225). Darüber hinaus konnte Ferrier sich auf die Pathologie des Menschen berufen. Denn zahlreiche klinische Beobachtungen zeigten, dass in solchen Fällen, bei denen die entsprechenden motorischen Rindenzentren durch Erkrankung beim Menschen zerstört waren, andauernde Lähmung der willentlichen Bewegungen erfolgte.
Das Gehirn als Organ des Geistes „Daß das Gehirn das Organ des Geistes ist, und daß geistige Vorgänge nur in und durch das Gehirn möglich sind“, ist für Ferrier eine so allgemeine und feststehende Tatsache, dass er sie ohne weitere Frage zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen über die Beziehungen zwischen den physiologischen und psychologischen Gehirnfunktionen macht, „wie sie sich der Betrachtung des Arztes und des medizinischen Psychologen darbieten“ (Ferrier 1879, S. 285). Er stützt sich dabei vor allem auf die Auffassung von Alexander Bain (1818 – 1903), der diese Beziehung als eine „Einheit mit
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zwei Gesichtern“ oder „zwei Klassen von Eigenschaften“ ansah und einen strikten Parallelismus vertrat. In Übereinstimmung mit dieser Annahme zieht Ferrier aus seinen eigenen experimentellen Ergebnissen den Schluss, dass geistige Operationen in letzter Instanz nichts Anderes sein können, als die subjektive Seite von sensorischen und motorischen Substraten. Er folgt damit auch Hughlings Jackson, mit dessen physiologischen und psychologischen Folgerungen aus klinischen und pathologischen Daten er ebenfalls übereinstimmt. Doch ist er sich andererseits völlig darüber im Klaren, dass „keine rein physiologische Untersuchung die Erscheinungen des Bewußtseins vollständig zu erklären vermag“ (Ferrier 1879, S. 285). Das physiologische Experiment kann lediglich dazu dienen, uns die anatomischen Grundlagen des Bewusstseins in ihrer Bedeutung verständlich zu machen, die für Ferrier zunächst in dem durch die Sinnesempfindungen hervorgerufenen Veränderungen der Zellen in den sensorischen Zentren der Großhirnrinde liegen. Insofern bestätigt sich der alte philosophische Satz: „Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu.“ Aber er ist für Ferrier nur teilweise wahr. Denn es müssen seiner Meinung nach auch die motorischen Fähigkeiten berücksichtigt werden, die einen integrierenden Bestandteil der gesamten Geistestätigkeit bilden. Daher sieht er erst in der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Zusammenhänge zwischen den organischen Zuständen der sensorischen und motorischen Zentren der Großhirnhemisphären die eigentliche Grundlage aller intellektuellen und willentlichen Fähigkeiten. Sind diese Zentren oder ihre Verbindungen verletzt oder erkrankt, so tritt, wie die Aphasien zeigen, auch eine Störung der psychischen und intellektuellen Leistungen ein. Dass die Aphasie im Wesentlichen nur die Folge einer zeitweiligen oder dauernden Zerstörung der Zentren der Erregung und organischen Registrierung von Artikulationsvorgängen darstellt, ist für Ferrier allein schon ein sehr deutlicher Beweis für die Tatsache, dass zwischen den physiologischen und psychologischen Gehirnfunktionen keine Lücke besteht und dass das Objektive und das Subjektive nicht durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt sind (a. a. O., S. 315). Die Verbindung von sensorischen und motorischen Fähigkeiten, die physiologisch gesehen auf bestimmten Assoziationsbahnen erfolgt und je nach Art und Gattung des Organismus auf einem tiefen oder höheren Bewusstseinsniveau stattfindet, erklärt jedoch nicht alle psychischen und intellektuellen Fähigkeiten. „Es gibt Vögel“, sagt Ferrier im Sinne seiner Studien zur vergleichenden Physiologie, „welche schon vollständig ausgerüstet aus dem Ei kommen, wie Athene aus dem Kopf des Zeus“. Solche Tiere sind für ihn in gewissem Grad lediglich „bewußte Automaten“. Sie brauchen daher
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auch nicht aus Erfahrung zu lernen und müssen ihre Fähigkeiten nicht üben. Anders verhält es sich bei Katzen, Hunden und Affen, bei denen in gesteigerter Form die Entwicklung und Ausbildung psychischer Fähigkeiten immer länger dauert und die Zerstörung der entsprechenden Zentren immer mit der Aufhebung der speziellen angeeigneten Fähigkeiten und willkürlicher Bewegungsformen einhergeht. Beim Menschen dauert die Aneignung motorischer Fähigkeiten am längsten. Diese angeeigneten motorischen Fähigkeiten verschaffen nicht nur die Bedingungen und die Möglichkeit vielfacher und verschiedener willkürlicher Bewegungen, wobei diese als motorische oder mechanische Errungenschaften gleichsam organisch deponiert werden, sondern erweitern auch das Feld der Sinneserfahrung in großem Umfang und komplizieren deren Resultate: „Durch Kopf- und Augenbewegung dehnen wir das Gesichtsfeld bedeutend aus und vervielfältigen die Gesichtswahrnehmungen, und durch die Bewegungen der Glieder wird die Reihe der Tastempfindungen tausendfach vermehrt“ (a. a. O., S. 299). Für Ferrier gibt es überhaupt nur wenige Gegenstände des Wissens, welche uns lediglich durch sinnliche Merkmale oder Eindrücke bekannt sind: „Die weitaus größte Menge der Erfahrungen wird vielmehr bedingt durch die gemeinsame Tätigkeit unserer Sinnes- und motorischen Fähigkeiten: Unsere Vorstellungen sind demnach fast immer eine gemischte Wiederbelebung von vorgestellten Bewegungen und Sensationen in ihrem wechselseitigen assoziierten Zusammenhange“ (a. a. O., S. 299 f.). Darüber hinaus haben wir die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Vorstellung zu konzentrieren mit Ausschluss aller anderen. Wir können auf diese Art den Ablauf der Vorstellungsreihen ändern und beherrschen sowie bis zu einem bestimmten Grad willkürlich gewisse Vorstellungen und Assoziationen hervorrufen und im Bewusstsein zurückhalten. Auf welcher physiologischen Basis allerdings diese psychologische Fähigkeit beruht, ist eingestandenermaßen auch für Ferrier „eine außerordentlich schwierige Frage und kaum der experimentellen Behandlung zugänglich“ (a. a. O., S. 319). Die weiteren Betrachtungen über das Gehirn als Organ des Geistes sind „deshalb mehr Ansichten als Schlüsse aus experimentellen Ergebnissen“ (a. a. O., S. 320). Aber diese Ansichten können durch eine bereits in Ansätzen entwickelte physiologische Psychologie gestützt werden. Ferrier beruft sich in diesem Zusammenhang nicht nur auf Alexander Bain, sondern auch auf Wilhelm Wundt (1832 – 1920), dessen 1874 veröffentlichte „Grundzüge der physiologischen Psychologie“ die Ergebnisse der zeitgenössischen Hirnforschung, insbesondere die funktionale Neuroanatomie Meynerts, bereits einzubezie-
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hen versuchten. Nach Wundts Auffassung ruft irgendeine vorhandene Sinnesreizung im zentralen Nervensystem andere hervor, die mit ihr verwandt sind oder mit denen sie oft verbunden gewesen ist. Diese Wirkung entspricht genauso einem Vorgang, wie wenn er durch äußere Sinneseindrücke hervorgerufen wäre. Da aber alle diese direkten oder indirekten assoziativen Sinnesreize zunächst außerordentlich schwach sind, müssen sie, bevor sie überhaupt als deutliches Erinnerungsbild ins Bewusstsein eintreten können, durch eine „willkürliche Innervation“ verstärkt werden (Wundt 1874, S. 793, vgl. Ferrier 1879, S. 320). Auch für Bain kommt das Festhalten einer Vorstellung im Geiste durch willkürliche Muskelbetätigung zustande. So besteht das Vorstellen eines Kreises in dem Wiederherstellen jener Erregungen, welche das Auge um einen ideellen Kreis herumbewegen würde (Bain 1874, S. 378; vgl. Ferrier 1879, S. 320). An diese psychologischen Überlegungen knüpft nun Ferrier seine physiologischen Ansichten: „Wenn wir eine Vorstellung hervorrufen oder mit einer oder mehreren Vorstellungen aufmerksam beschäftigt sind, so trachten wir in der Tat – aber allerdings nur in gehemmter, unterdrückter Weise – jene Bewegungen zu verwirklichen, mit welchen die sensorischen Faktoren dieser Vorstellungskette in organischem Zusammenhang verbunden sind“ (Ferrier 1879, S. 321). Ferrier überträgt diese Ansicht von der Vorstellung als einer gehemmten Bewegung auch auf die Reproduktion abstrakter Ideen. Im Unterschied zu konkreten Vorstellungen bestehen abstrakte Eigenschaften und Beziehungen allein durch Worte. Wir rufen uns daher einen solchen abstrakten Gegenstand dadurch in unserer Vorstellung wach, dass wir in unterdrückter Weise seinen Namen aussprechen. Nach Ferrier denken wir also und leiten unseren Vorstellungsablauf größtenteils durch „inneres Sprechen“ (a. a. O., S. 321). Als Konsequenz ergibt sich daraus, dass ein Mensch, der an einer motorischen Aphasie leidet, unfähig ist, abstrakt zu denken. Er denkt nur in Einzelheiten und seine Gedanken werden hauptsächlich durch momentane Sinneseindrücke bedingt. Da auf diese Weise die Reproduktion einer Vorstellung augenscheinlich von einer Erregung der mit ihr verbundenen motorischen Elemente abhängt, ist daher auch die Fähigkeit der Aufmerksamkeit und der konzentrierten Bewusstseinstätigkeit von der Hemmung abhängig. Für das Zustandekommen dieser Hemmung nimmt Ferrier eigene Hemmungszentren an, die die organische Grundlage aller höheren intellektuellen Fähigkeiten bilden. Aus der experimentell erwiesenen Tatsache, dass die elektrische Reizung der vorderen Stirnlappen keine motorischen Erscheinungen zur Folge hat, schließt Ferrier, dass diese Hirnteile, wenn schon nicht tätige Motoren, so
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doch Hemmungsmotoren sein können, und lokalisiert daher dort die Hemmungszentren. Ein weiterer experimenteller Hinweis für die Lokalisierung der Hemmungszentren in den Stirnlappen besteht darin, dass die Entfernung dieser Hirnteile zu keiner Lähmung der Motorik führt, sondern nur zu einer geistigen Degradation, die sich in letzter Instanz auf den Verlust der Aufmerksamkeit zurückführen lässt. Außerdem zeigt sich, dass das Vermögen der Aufmerksamkeit und Gedankenkonzentration bei Idioten mit mangelnder Entwicklung der Frontallappen nur gering und unvollkommen ausgebildet ist. Daher hatten nach Ferriers Meinung auch die Phrenologen guten Grund, die intellektuellen Fähigkeiten in die Stirngegend zu verlegen. Auf diese Weise war auch ein direkter Anschluss der neuen Lokalisationstheorie an die alten Bemühungen von Gall gewonnen, der in England zu einer neuen wissenschaftlichen Phrenologie oder „Neophrenologie“ führte. Es war daher auch ein Anhänger der Äquipotenztheorie der Großhirnrinde von Flourens, nämlich der bereits erwähnte Friedrich Goltz, der sich gegen diese neue Lokalisationstheorie wendete.
Der Hund ohne Großhirn: Friedrich Goltz’ Experimente Während Flourens seine, wie auch Goltz zugibt, „kühne Hypothese“ von der absoluten Gleichwertigkeit aller Teile der Großhirnrinde fast nur durch Experimente an Tauben und anderen niedrig stehenden Tieren gestützt hatte, verwendete Goltz Hunde für seine Experimente. Sein Ziel war in erster Linie die Lösung der sog. „Restitutionsfrage“. Das heißt, es ging ihm um eine Antwort auf die Frage, warum trotz erheblichen Verletzungen und Verlusten an Hirnmasse keine dauernden Störungen zurückbleiben, sondern nach Ablauf einer gewissen Zeit nach der Zerstörung von Hirnteilen die Funktionen wiederhergestellt werden. Die Theorie von Flourens, nach der die ganze Masse des Großhirns in allen Teilen denselben Funktionen dient, bietet von vornherein eine einfache Lösung an. Denn sie hat die Konsequenz, dass nach Ausfall eines Teils der Hirnrinde, dessen Funktionen sehr wohl von denjenigen Abschnitten stellvertretend übernommen werden können, welche unversehrt geblieben sind. Die Nachfolger dieser Theorie schränkten sie zwar ein, doch diese Einschränkungen waren widersprüchlich. Während die einen annahmen, dass für jeden beliebigen Abschnitt einer Hirnhälfte jeder andere Abschnitt aber nur derselben Hirnhälfte eintreten kann, vertraten die anderen genau umgekehrt die Auffassung, dass nach Substanzverlust auf einer Seite nur der symmetrische Abschnitt der entgegengesetzten Seite Ersatz leisten kann.
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Für Goltz sind daher solche widersprüchlichen Erklärungsversuche unbefriedigend. Noch weniger brauchbar ist für ihn die Annahme von Hitzig, dass in solchen Fällen die Wiederherstellung der Funktionen nur dadurch zustande kommt, dass die betreffenden räumlich umgrenzten Zentren von bestimmten Funktionen nicht vollständig, sondern nur teilweise zerstört seien. Da es sich bei all diesen Verstümmelungen des Großhirns, bei denen die Versuchstiere überlebten, in der Regel nur um die Entfernung verhältnismäßig kleiner Stücke handelte, während bei größeren Zerstörungen des Großhirns durch die furchtbare Blutung oder die schnell eintretende Entzündung die Versuchstiere sehr bald starben, schlug Goltz einen neuen, wie er glaubte, Erfolg versprechenden Weg im Versuchsverfahren ein. Aus der Zeit seiner Tätigkeit als Prosektor in Königsberg war ihm eine Methode in Erinnerung geblieben, mit der man die Arterien des Gehirns freipräparieren konnte ohne sie zu beschädigen. Diese Methode bestand darin, dass man mit einer einfachen Spritzflasche die halbfaulen Massen des Gehirns mit einem Wasserstrahl abspülte und auf diese Weise die mit erstarrender Masse ausgefüllten Arterien freilegte. Goltz beschloss nun diese Methode anzuwenden, um auch Teile der lebenden Gehirnmasse in ähnlicher Weise herauszuspülen. Dazu löste er bei dem Versuchstier die Kopfhaut auf der einen Seite ab und legte je nach der Absicht, die er im speziellen Versuchsfall verfolgte, ein, zwei oder noch mehr Trepanlöcher an. Nach Spaltung der harten Hirnhaut wurde dann zur Ausspülung der Hirnmasse geschritten. Als Flüssigkeit wählte Goltz gewöhnliches Brunnenwasser, das ungefähr auf Blutwärme gebracht oder manchmal auch bedeutend kälter angewendet wurde, wenn es galt, einer Blutung Herr zu werden. Die weitere Vorgehensweise war dann Folgende: Sobald das Wasser durch eine Druckpumpe getrieben in regelmäßigem Strahl hervordringt, wird die Spitze der Kanüle, die an dem Wasserschlauch befestigt ist, in die graue Substanz des bloßgelegten Gehirns eingebohrt. Ist nur ein Trepanloch vorhanden, dann quillt die Gehirnmasse durch den Wasserdruck gehoben wie ein Pilz aus dem Loch hervor und wird in Fetzen gerissen, die durch fortwährende Drehung der Kanüle vollständig losgespült werden. Dadurch entsteht an der Oberfläche der Hirnrinde eine kreisrunde kraterförmige Vertiefung. Ausgedehnter werden die Zerstörungen, wenn man mehrere Trepanlöcher anlegt und die Durchspülung des Gehirns von einem Loch zum anderen vornimmt. Auf diese Weise kann man dann „die ganze Oberfläche des Gehirns beliebig durchfurchen und in Fetzen und Flocken herausspülen“ (Goltz 1881, S. 5). Obwohl er sich durch diese jahrelang durchgeführten Versuche von Flou-
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rens’ Auffassung überzeugt hatte, „daß die wichtigsten Funktionen des Großhirns, die Handlungen, aus welchen wir auf Intelligenz, Gemütsbewegungen, Leidenschaften und Naturtriebe schließen, nicht von begrenzten Abschnitten des Großhirns abhängen“, war Goltz im Unterschied zu Flourens jedoch nicht der Meinung, dass große Verluste an den Hälften des Großhirns ohne bleibende Schäden überstanden werden. Außerdem stellte er noch einen weiteren Irrtum von Flourens fest, der ja behauptet hat, dass alle Sinnesfunktionen gleichmäßig verschwinden, wenn die Verstümmelung des Großhirns zu weit getrieben wird. Seine Versuche zeigten dagegen, dass das Sehvermögen sehr viel leichter gestört werden kann als das Gehör. Beide Irrtümer von Flourens beruhten auf dem viel zu geringen Beobachtungsmaterial an Säugern, deren komplexes und größer ausgebildetes Großhirn durch Zerstörungen großer Teile andauernder und differenzierter in seinen Funktionen beeinträchtigt wird. In diesem Punkt stimmte Goltz durchaus mit den Ergebnissen der vergleichenden Hirnphysiologie, wie sie Ferrier praktizierte, überein. Denn auch dieser stellte mit häufiger Berufung auf die frühen Untersuchungen von Goltz an Fröschen fest, dass in aufsteigender Linie seiner Versuchstiere die Verletzungen der Großhirnrinde stärkere und länger andauernde Auswirkungen auf das Verhalten hatten. Während jedoch Ferrier diese Unterschiede auf die immer differenzierter werdende Lokalisation der höheren Funktionen zurückführte, entwickelte Goltz auf Grundlage der von ihm revidierten Ansichten von Flourens eine eigene Theorie. Die Störungen, die Hitzig und Ferrier als echte Ausfallserscheinungen ansahen, wie z. B. Lähmungen, waren für ihn größtenteils nur vorübergehende „Hemmungserscheinungen“ (Goltz 1881, S. 42): „Sie sind nicht durch Vernichtung von zentraler Nervensubstanz bedingt, sondern sie sind lediglich der Ausdruck einer zeitweisen Einstellung der Funktionen von Nervenzentren, die noch vorhanden sind“ (Goltz 1881, S. 73). Bloß auf diese vorübergehenden Störungen hatten sich nach seiner Meinung Hitzig und Ferrier konzentriert, ohne sie als solche zu erkennen, weil ihre Versuchstiere zu schnell verstarben und die Wiederherstellung der Funktion nicht mehr erleben konnten. Er selbst dagegen wollte gleich zu Beginn seiner Experimente mit seiner groben Durchspülungsmethode einen großen Substanzverlust an Hirnmasse erzeugen, um dadurch jene bleibenden Verhaltensstörungen besser untersuchen zu können. Überzeugt von der durchgreifenden Analogie zwischen den Funktionen des Rückenmarks und Gehirns bei höheren und niederen Tieren, stellte er sich die Aufgabe, auch an Hunden ähnliche Versuche durchzuführen, wie er sie bereits an Fröschen angestellt hatte, denen er die Großhirnhemisphären abgetragen hatte.
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Während sich bei niederen Tieren wie den Fröschen die Hemmungserscheinungen viel schneller verlieren als bei höheren Tieren und dadurch die echten bleibenden Ausfallserscheinungen leichter zu erkennen sind, muss man um die Hemmungserscheinungen loszuwerden diese Tiere möglichst lange am Leben erhalten. Als ihm das gelang, konnte Goltz feststellen, dass sich seine Hunde mit stark verringerten oder völlig abgetragenen Großhirn ähnlich verhielten wie die großhirnlosen Frösche. Sie waren nichts anderes als „fressende verwickelte Reflexmaschinen“ (a. a. O., S. 82), die weder ihrer Sinnesempfindungen gänzlich beraubt noch gelähmt waren, sich aber völlig „blödsinnig“ verhielten und „im Kampf ums Dasein“ total versagten. Sie konnten zwar stehen, gehen, laufen und springen, aber ihre Bewegungen waren unbeholfen und eigentümlich automatenhaft. Sie gingen meist geradeaus. Die Pfoten wurden in der Weise des „Hahnentritts“ beim Gehen seltsam hochgehoben, sodass die Vorderpfote bei manchen Hunden am Anfang „schallend gegen den Unterkiefer schlug“. Sie wichen beim Geradeausgehen anderen Hunden nicht aus, sondern schritten viel lieber unter dem Bauch des im Wege stehenden Hundes hindurch, indem sie diesen mit ihrem Nacken emporhoben. Die Fütterung ist schwierig, weil oft die Futterschale nicht entdeckt wird. Und selbst dann, wenn ihre Schnauze mitten in die Schale geführt wird, fallen ihnen die Fleischstücke zu beiden Seiten des Maules wieder heraus. Werden diese hirnverstümmelten Hunde mit anderen unversehrten Hunden zusammengesperrt, so unterliegen sie überall und jederzeit selbst den kleinsten und schwächsten der gesunden Rivalen, die jedes Fleischstück und jeden Knochen wegschnappen. Wachsamkeit, Aufmerksamkeit und Gedächtnis schwinden umso mehr, je mehr an Hirnsubstanz verloren gegangen ist. Aus all diesen, über viele Jahre fortgesetzten Versuchen ging für Goltz hervor, dass die Großhirnrinde zwar der Sitz der Funktionen ist, die zur willentlichen Bewegungssteuerung und zur Verarbeitung der Sinnesempfindungen dienen, jedoch nicht an eng umschriebene Zentren gebunden sind, obwohl er auch nicht die völlige Gleichwertigkeit aller Teile annimmt. Seine Versuche, die Lokalisationstheorie von Hitzig und Ferrier durch die Vorführung seiner großhirnlosen Hunde zu widerlegen, sind jedoch gescheitert. Ausschlaggebend war ein Kongress in London im Jahre 1881, auf dem Ferrier zwei Affen vorführte, von denen der eine nach Entfernung des Hörzentrums auf beiden Hirnhälften taub war, und der andere nach Zerstörung des motorischen Zentrums der linken Hirnhälfte halbseitig rechts gelähmt war. Die Entscheidung in dieser Konfrontation brachte schließlich die bald nach der Vorführung durchgeführte Obduktion der getöteten Versuchstiere. Ein internationales Komitee, bestehend aus anerkannten Experten (W. Kelin,
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1883) stellte fest, dass die Zerstörungen des Großhirns des Hundes weit geringer waren, als Goltz selbst angenommen hatte, während die Läsionen an den Gehirnen der beiden Affen genau denen entsprachen, die Ferrier und sein Mitarbeiter Gerald Yeo angegeben hatten. Nach dieser gelungenen Demonstration der experimentellen Ergebnisse Ferriers hielt Goltz es doch für möglich, dass die Großhirnrinde „nicht überall gleichwertig ist“ (Goltz 1881, S. 163), sondern aus gewissermaßen „verwaschenen Zentren“ besteht. Was er an den Vertretern der Lokalisationstheorie kritisiert, ist jedoch ihre Uneinigkeit im Bezug auf den Ort und die Ausdehnung der Zentren oder Sphären. Alle diese Hypothesen werden seiner Meinung nach durch die von ihm erbrachten experimentellen Resultate widerlegt, die beweisen, dass die Störungen der Funktionen sich von selbst wieder ausgleichen, selbst wenn diese betreffenden Zentren bis in die größte Tiefe hinein zerstört sind. Die Widerlegungsversuche der experimentellen Bestätigungen der eng umschriebenen Zentren waren daher von Goltz alle auf den Einwand aufgebaut, dass die durch die Vernichtung großer Hirnteile hervorgerufenen Störungen nur vorübergehend sind. Den von allen Vertretern der Lokalisationstheorie wiederholte Einwand, dass bei den groben Eingriffen mit der Durchspülungsmethode noch Überreste der Zentren übrig geblieben sind, die die verloren gegangenen Funktionen ersetzen können, beantwortete Goltz nur mit polemischen Äußerungen über die angeblich am Rande des Zerstörungsgebietes noch übrig gebliebenen angeblichen Zentrenreste, „die sich dort so ungemütlich zusammendrängen mußten wie die Fische in einem ausgetrockneten Tümpel oder sich vor den verwundenden Messer mit staunenswerter Eile in andere Hirnteile flüchten“. Goltz rechtfertigte seine Polemik damit, dass er den Vorwurf, trotz der ausgedehntesten und tiefsten Zerstörungen noch immer Reste von allen Zentren übrig gelassen zu haben, so oft gelesen habe, dass man ihm „diese höhnische Zurückweisung nicht übel nehmen wird“ (Goltz 1892, S. 604). Wenngleich Goltz zugeben muss, dass ihm wie auch anderen Experimentatoren eine große Anzahl von Tieren gestorben sind, kann er doch schließlich stolz behaupten, dass „bisher niemand imstande gewesen ist, so ausgedehnte Zerstörungen des Großhirns bei Erhaltung des Lebens zu erzielen“, wie er selbst. Sein größter Triumph war jedoch jener wirklich „großhirnlose Hund“, dem er, zwar nicht mit der vielkritisierten groben Spülmethode, sondern mit dem Messer in drei Sitzungen zuerst die linke und dann die rechte Halbkugel des Großhirns entfernte und der trotz dieser fürchterlichen Operationen in diesem Zustand 18 Monate lebte und am Ende dieser Zeit „bei voller Gesundheit“ getötet wurde. Dieser Hund ohne Großhirn war für Goltz sowohl der lebende Beweis für seine Restitutionstheorie als
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auch die lebende Widerlegung der „modernen Lehre von kleinen eng umschriebenen Zentren“ wie sie Hitzig und Ferrier angenommen hatten.
Seelenblindheit und Rindenblindheit: Hermann Munk Während sich Goltz mit seinen Versuchen an großhirngeschädigten Hunden hauptsächlich gegen Hitzig und Ferriers Ansichten richtete, wollte er mit seinem am vollkommensten von allen Teilen des Großhirns beraubten Hund auch einen Gegenbeweis für eine neue Lokalisationstheorie liefern, die von dem Berliner Physiologen Hermann Munk (1839 – 1912) stammt. Dieser hatte nicht nur Ferrier scharf kritisiert, sondern auch Goltz angegriffen. Die Vorwürfe die Munk gegen Ferrier richtete waren im Prinzip die gleichen wie sie bereits von Goltz erhoben worden sind. Nur ein einziges Mal war es bei Ferriers Versuchen zur Verheilung der Wunde gekommen. Sonst hatten die Tiere bloß einige Stunden oder höchstens einige Tage die Operation überlebt. Auch war von einer eigentlichen Untersuchung oder Kontrollierung der Resultate gar keine Rede gewesen. „Roh war operiert, roh beobachtet, roh geschlossen“ (Munk 1890, S. 5). Aber auch mit den Untersuchungen und Schlüssen von Goltz war Munk nicht zufrieden. Denn diese zeigten für ihn nur, dass nach erheblichen Verstümmelungen des Großhirns gewisse Störungen für immer zurückbleiben. Aber zur Lösung der Frage, ob und welche Leistungen den einzelnen Abteilungen des Großhirns zukommen, war die Methode der Ausspülung der Gehirnmasse mit Brunnenwasser nach Munks Auffassung völlig ungeeignet. Deshalb entschloss sich Munk nach der Beendigung der Einrichtung des physiologischen Labors an der Berliner Tierärztlichen Hochschule im Jahre 1876 „selbst an die schwebenden Großhirn-Fragen mit eigenen Versuchen heranzutreten“ (a. a. O., S. 7). Ausgehend von dem bereits von Hitzig und Fritsch entdeckten motorischen Abschnitt des vorderen Teils der Hirnrinde wendet sich Munk zunächst dem hinteren Teil zu, der durch eine scharfe Linie abgegrenzt ist. Exstirpationen vor dieser Linie führen immer zu Bewegungsstörungen, während solche hinter dieser Linie nie, auch nicht spurenweise Bewegungsstörungen zur Folge haben. Trifft aber die Exstirpation den Hinterhauptslappen nahe seiner hinteren oberen Spitze (Stelle A1 in Abb. 14) dann tritt volle Blindheit ein, trifft sie den Schläfenlappen nahe seiner unteren Spitze (Stelle B1) dann tritt Taubheit ein. Diese Art von Blindheit und Taubheit bezeichnet Munk als „Seelenblindheit“ und „Seelentaubheit“, weil sie einen Verlust der Erinnerungsbilder der Gesichtsempfindungen bzw. der Ge-
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hörsempfindungen darstellen. Der Seelenblindheit entspricht auf der Stelle des deutlichsten Sehens der Netzhaut des Auges eine Aufhebung der Gesichtswahrnehmung, die Munk „Rindenblindheit“ nennt (vgl. Munk 1890, S. 27). „Seelenblindheit“ und „Rindenblindheit“ sind also auf dieselbe Hirnverletzung zurückzuführen, die sowohl psychische als auch physische Auswirkungen hat. „Rindenblindheit“ bedeutet, dass keine Gesichtswahrnehmung zustande kommt, obwohl das Sinnesorgan, Auge bzw. Netzhaut, intakt ist. Das Gleiche trifft auch für die sog. „Rindentaubheit“ zu, die ein Verlust der Gehörwahrnehmung bedeutet und der Seelentaubheit entspricht. Das von Goltz so sehr betonte Problem der Restitution der Funktionen wird von Munk dadurch gelöst, dass er um die Zentren der Seelenblindheit und Seelentaubheit eine größere Seh- und Hörsphäre (A und B in Abb. 14) annimmt, von denen aus die Wiederherstellung der Sehvorstellungen und Hörvorstellungen erfolgen kann. Denn auch bei voller Seelenblindheit beschränkt sich die Rindenblindheit nur auf die Stelle des deutlichsten Sehens, während die Gesichtswahrnehmung an den anderen Stellen der Netzhaut erhalten bleibt und sich dadurch die durch die Exstirpation verloren gegangenen Gesichtsvorstellungen von neuem bilden können. Nur wenn die gesamte Sehsphäre bzw. die ganze Rinde des Hinterhauptlappens vernichtet ist, haben alle Gesichtswahrnehmungen und alle Gesichtsvorstellungen für immer aufgehört und es ist volle Rindenblindheit für immer eingetreten. Genauso entsteht totale Rindentaubheit, wenn nach beidseitiger Exstirpation der zentralen Stelle B1 die Hörsphäre durch Entzündung funktionsunfähig wird oder auf beiden Seiten die Schläfenlappen entfernt werden. Dann findet man den so verstümmelten Hund „nicht bloß seelentaub, sondern ganz rindentaub, indem er auf kein Geräusch, es sei noch so nahe oder noch so laut, selbst nur durch das leiseste Spitzen der Ohren reagiert“ (Munk 1890, S. 31). Nachdem Munk auf diese Weise den hinteren Abschnitt der beiden Großhirnhemisphären in eine Hör- und Sehsphäre eingeteilt hatte, wendete er sich jenen vorderen Abschnitten der Großhirnrinde des Hundes zu, den Fritsch und Hitzig als den Bereich der motorischen Zentren erkannt hatten und der seit diesen ersten Untersuchungen von Ferrier, Goltz und anderen immer wieder behandelt worden ist, ohne zu voller Klarheit seiner Funktionen zu kommen. Diesen Rindenabschnitt (CDE in Abb. 14) nennt Munk die Fühlsphäre des Hundes. Wie die Rinde im Hinterhauptslappen zum Gesichtssinn und im Schläfenlappen zum Gehörsinn, so steht dieser Rindenabschnitt im Scheitellappen in Beziehung zum Gefühlssinn. Unter der Bezeichnung „Gefühlssinn“ versteht Munk nicht nur den Gefühlssinn der
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Abb. 14: Darstellung der Sehsphäre (A), Hörsphäre (B) und Fühlsphäre (CDE) (aus Munk 1890)
Haut allein, sondern den „Gefühlssinn des Körpers“ und knüpft an diese Bezeichnung eine bemerkenswerte Theorie, die bereits die kortikalen Repräsentationen des menschlichen Körpers, wie sie im 20. Jahrhundert entdeckt und ausgearbeitet wurden, vorausahnen lässt. Die Hautempfindungen führen nach Munk zu Druck- oder Berührungswahrnehmungen und Temperaturwahrnehmungen oder, wie man auf diesem Gebiet es auch bezeichnet, zu Berührungs- und Temperaturgefühlen. Die Temperaturgefühle lassen sich im Tierversuch kaum untersuchen. Aber aus den Berührungs- oder Druckgefühlen gehen ähnlich wie aus den Gesichts- und Gehörwahrnehmungen Berührungs- und Druckvorstellungen hervor, die Vorstellungen über die Existenz und Lage der die Haut berührenden Objekte sind, und zwar Vorstellungen über die Ausdehnung und die Kraft, mit welcher die Objekte auf die Haut wirken. Dazu kommen noch die Muskelgefühle, die Selbstwahrnehmungen vom Zustand der Muskel, ihrer Kontraktion, Dehnung, Spannung usw. sind. Diese Muskelgefühle können zwar allein keine Vorstellungen erzeugen, aber zusammen mit den Berührungs- und Druckvorstellungen liefern beide Gefühle vereint scharfe und genaue Vorstellungen über die jeweilige Lage der Körperteile wie über deren Lageveränderungen bei passiver Bewegung. Bei aktiver Bewegung tritt dann noch die letzte Gruppe von Gefühlen auf, die von Munk „Innervati-
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onsgefühle“ genannt werden. Das sind die Wahrnehmungen der Bewegungsanregung bei der aktiven Bewegung der Körperteile, die nie isoliert, sondern immer nur in Verbindung mit Druck- und Muskelgefühlen vorkommen. Daher sind für Munk diese „Innervationsgefühle“ von dem völlig verschieden, was sonst vielfach auch „Innervationsgefühle“ genannt worden ist, z. B. von Wundt und von Helmholtz, worunter aber die „Wahrnehmung der Intensität der Willensanstrengung bei der willkürlichen Bewegung gemeint“ ist, deren Existenz gerade Munk leugnet. Denn für ihn kommt die sog. willkürliche Bewegung durch eine Bewegungsvorstellung von einer gewissen Größe zustande und zwar, wie er mit einem Verweis auf Meynert und Wernicke sagt, in ihrem Entstehen auf dem Wege der Assoziation und nicht durch ein diese Bewegungsvorstellung konstituierendes Gefühl. Auf den Untersuchungen von Fritsch und Hitzig aufbauend zerfällt auch für Munk die von ihm so genannte Fühlsphäre in mehrere Regionen. Sieht man von allen feineren Unterscheidungen ab, so kann man im Bereich CDE von einer Kopfregion E, einer Vorderbeinregion D und einer Hinterbeinregion C sprechen, weil Verletzungen an diesen Stellen der Hirnrinde zu Störungen in den entsprechenden Körperteilen führen, die auf diese Weise auf der Hirnrinde abgebildet oder „repräsentiert“ werden, wie man heutzutage sagt. Im Unterschied zu Fritsch und Hitzig entdeckt aber Munk ganz entsprechend seiner Theorie, dass es sich bei diesen Störungen nicht nur um Störungen der Mobilität, sondern auch um Störungen der Sensibilität handelt. An dem Beispiel eines Hundes, dem er die Vorderbeinregion der linken Hemisphärenrinde exzerpierte, konnte er sowohl den Verlust der Berührungs- oder Druckvorstellungen, der Lagevorstellungen und der Bewegungsvorstellungen des Vorderbeins als auch der Tastvorstellungen nachweisen. Er bezeichnete daher diese Störungen analog zur Seelenblindheit und Seelentaubheit als „Seelenbewegungs- und Seelengefühllosigkeit“ (a. a. O., S. 39). Auch hier ist eine Restitution möglich, solange noch Reste der Fühlsphäre vorhanden sind. Die völlige Zerstörung der Fühlsphäre eines Körperteils aber führt zum bleibenden Verlust aller Gefühle und Gefühlsvorstellungen, was dann Munk „Rindenlähmung“ oder „Rindenbewegungs- und Rindengefühllosigkeit“ nennt. Da Munk sich mit dieser Theorie zwischen die Fronten der Vertreter der strengen Lokalisationstheorie Hitzig und Ferrier einerseits und des Anhängers der modifizierten Äquipotenztheorie bzw. Restitutionstheorie Goltz andererseits stellte, indem er eng begrenzte Zentren innerhalb größerer Sphären annahm, wurde er auch von beiden Seiten kritisiert. Zunächst war
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es Hitzig, der sich schon aus Prioritätsgründen gegen das „Umtaufen“ seiner „motorischen Region“ in „Fühlsphäre“ wehrte und seine Entdeckung des Sehzentrums im Hinterhauptlappen verteidigte. Ebenso lehnte auch Ferrier die Bezeichnung „Fühlsphäre“ ab, weil er in seinen Versuchen nach der Zerstörung der motorischen Rindengebiete „noch mit Leichtigkeit Schmerzäußerungen hervorrufen konnte“. Er verwies in diesem Zusammenhang auch auf seine klinischen Erfahrungen, die zeigten, dass „bei der vollständigsten kortikalen Lähmung die Sensibilität gänzlich intakt bleiben kann“ (Ferrier 1879, S. 263). Am schärfsten jedoch war die Ablehnung von Munks Theorie der „Seelenblindheit“ durch Goltz. Auch er meldete Prioritätsansprüche an, indem er darauf hinwies, dass er die von Munk als „Seelenblindheit“ bezeichneten Erscheinungen schon längst zuvor so eindeutig geschildert hatte, „daß für Herrn Munk nur übrig blieb, mein Kind zu taufen“ (Goltz 1881, S. 174). Auf diesen Vorwurf antwortete Munk, dass diese Beobachtungen bereits von Flourens und seinen unmittelbaren Nachfolgern gemacht worden sind. Die darauf folgende Rechtfertigung von Goltz, dass er diese Erscheinungen als Erster zumindest bei Hunden entdeckt habe, wird von Munk mit einer Aussage von Bouillaud aus dem Jahre 1830 widerlegt, wo dieser von einem Hund berichtet, der „keinen der Gegenstände erkennt, die er sieht und nur die dargebotenen Nahrungsmittel ißt, weil ihm ihr Geruch ihr Vorhandensein anzeigt“ (Journ. de Physiologie, par Magendie, T.10. 1830; vgl. Munk 1890, S. 212). Wichtiger als diese Prioritätsstreitigkeiten, die nur die Langwierigkeit und Verschlungenheit der Entdeckungswege im Labyrinth der organischen Strukturen und Funktionen des Gehirns anzeigen, sind die theoretischen Erklärungsalternativen. Denn Goltz denkt nicht daran, eine begrenzte Sehsphäre anzunehmen. Deshalb nennt er die „Seelenblindheit“ Munks bloß „Hirnsehschwäche“, die keinesfalls nur allein durch die Abtragung der Hinterhauptlappen zustande kommt. Denn auch die Wegnahme der Scheitellappen oder andere ausgedehnte Zerstörungen der Hirnrinde führt beim Hund zu dem gleichen Ergebnis: „Derselbe Napf mit Fleisch, welchen er an seinem Platz im Käfig leicht zu finden weiß, wird ihm in den Weg gestellt. Er geht achtlos neben oder wohl gar über das ihm wohl bekannte Gefäß hinweg und irrt hungrig im Zimmer umher“ (Goltz 1881, S. 172). Außerdem ist keiner von diesen Hunden wirklich vollständig blind: „Sie wissen noch Hindernissen auszubiegen, verraten unter Umständen Abneigung gegen grelle Beleuchtung“. Auch der Hund, dessen Großhirn völlig abgetragen war, war weder seelentaub noch völlig rindentaub, sondern konnte durch den Ton eines kleinen Nebelhorns geweckt werden. Ebenso wenig war er stockblind,
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denn er schloss die Augen, wenn man, während er im Finstern saß, plötzlich das grelle Licht einer Blendlaterne auf ihn richtete. Dieser Argumentation von Goltz hält Munk entgegen, dass weder bei Vögeln noch bei Hunden und Affen, welche durch Abtragung der Sehsphäre rindenblind geworden sind, ebenso wenig bei Menschen, die durch Erkrankung des Hinterhauptlappens keine Spur von Sehempfindung mehr besaßen, jemals auf grelle Beleuchtung ein Blinzeln hervorgerufen werden konnte. Das Schließen der Augen, das Goltz bei seinem großhirnlosen Hund beobachten konnte, führt daher Munk darauf zurück, dass diese, wie Goltz selbst sagt, „unangenehme Blendung“, zu einer Schmerzreaktion geführt hat, bei der die Augen zum Schutz und zur Abwehr geschlossen wurden. Dieser Blendungsreflex, den alle Lehrbücher mit Niesen, Husten, Schlingen usw. in eine Linie stellen, hat daher nichts mit dem eigentlichen Sehen zu tun. Nach Munks Überzeugung war daher der Goltz’sche Hund ohne Großhirn, wie es nach seinen Untersuchungen über die Sehsphäre zu erwarten war „blind, vollkommen blind“. Ganz ähnlich verhielt es sich mit den Hörsphären, die Munk in den Schläfenlappen des Großhirns lokalisierte. Der großhirnlose Hund konnte zwar durch den abscheulichen Ton eines Nebelhorns geweckt werden und beantwortete im wachen Zustand anhaltendes Blasen mit dem Nebelhorn mit einem Schütteln des Kopfes und fuhr sich auch gelegentlich mit der Vorderpfote gegen das Ohr, aber sonst gingen Töne und Geräusche wirkungslos an ihm vorüber. Auch hier handelt es sich nach Munks Auffassung um eine von den Schallwellen hervorgerufene Schmerzreaktion. Hätte es sich wirklich um ein Hören gehandelt, dann wären die charakteristischen Bewegungen, die das Hören beim Hund unmittelbar hervorruft – Spitzen der Ohren, Wenden des Kopfes nach der Geräuschquelle – nicht ausgeblieben. Daher konnte Munk lapidar feststellen: „Was Hr. Goltz an Bewegungen infolge des Schalles sah, hatte also mit einem Hören nichts zu schaffen, und der Hund ohne Großhirn war vollkommen taub, wie es nach meinen Ermittlungen über die Hörsphären sich voraussehen ließ“ (Munk 1909, S. 147). Ebenso will Munk nicht von einer Wiederherstellung des Tastsinnes sprechen, die Goltz als sicher bei seinem großhirnlosen Hund annahm. Denn für Munk ist der Tastsinn immer mit dem Ortssinn verbunden, wenn die dazugehörige Bewegung nicht nur einen unwillkürlichen Reflex darstellt. Wenn der großhirnlose Hund dagegen auf Zerren oder Drücken einer Hautstelle zubiss, traf er nur selten die Hand seines Peinigers, sondern streifte sie nur mit den Zähnen oder biss vollständig in die Luft. Für Munk bedeutet auch dieses Verhalten wiederum nur, dass „jene schützenden gemeinen Reflexbewegungen, deren Reflexzentren im Zentralnervensystem unterhalb des
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Großhirns gelegen sind, am großhirnlosen Hund erhalten geblieben sind“ (a. a. O., S. 159). So kann er abschließend feststellen: „Gerade umgekehrt hat der großhirnlose Hund, indem infolge von Sinnesreizen keine anderen Bewegungen an ihm auftraten als jene schützenden gemeinen Reflexe, aufs schönste bestätigt, was zuerst die partiellen Exstirpationen der Großhirnrinde am Hunde gelehrt und entsprechende pathologische Erfahrungen am Menschen ergeben hatten, daß auch die elementaren Sinnesempfindungen, die Lichtempfindungen, die Schallempfindungen usw. an das Großhirn gebunden sind“ (a. a. O., S. 153). Einig waren sich Goltz und Munk jedoch in der Frage nach der Lokalisation der Intelligenz. Für beide hat die Intelligenz überall im Großhirn ihren Sitz und an keiner besonderen Stelle. Denn als der wichtigste Ausfall, welcher nach Entfernung des Großhirns zu beobachten ist, hat sich nach Goltz der Wegfall aller der Äußerungen erwiesen, aus denen wir auf Verstand, Gedächtnis, Überlegung und Intelligenz des Tieres schließen. Und für Munk war die Intelligenz nichts anderes als der Inbegriff und die Resultierende aller aus den Sinneswahrnehmungen stammenden Vorstellungen. Er ließ daher die verschiedenen Sinnessphären nahtlos aneinandergrenzen. Dieses Vorgehen brachte ihm aber von dem Leipziger Psychiater Paul Flechsig den schweren Vorwurf ein, „durch das Bestreben, überall Sinnessphären finden zu wollen, auf Abwege geraten zu sein“. Denn für Flechsig droht eine solche „Theorie der Zusammensetzung der Hirnoberfläche ausschließlich aus Sinnessphären der Wissenschaft mit denselben Gefahren wie seinerzeit die Lehre vom punktförmigen Seelensitz und der Unteilbarkeit der Seele“ (Flechsig, Neurolg. Zentralbl. 1898, Nr. 21. 1996). Erst die myelogenetische (entwicklungsgeschichtliche) Untersuchungsmethode der Hirnoberfläche machte den Weg frei zur Entdeckung der sog. „Assoziationszentren“, in denen auch die höheren geistigen Funktionen Platz finden konnten.
Die Entdeckung der Assoziationszentren: Paul Flechsig Im Gegensatz zu Munks Aufteilung der gesamten Hirnoberfläche in Sinnessphären hat nicht nur Ferrier, wie bereits gezeigt, dem Stirnhirn eine besondere Beziehung zur Intelligenz zugesprochen, sondern es war von Anfang an Hitzig, der sich in seinen vergleichenden Studien über äquivalente Regionen am Gehirn von Hunden, Affen und Menschen dazu bekannt hat, indem er auch auf die lange Tradition dieser Ansicht hinwies: „Die Intelli-
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genz im höheren Sinn ist von Alters her in den Stirnlappen verlegt worden, und stets wurde mit dieser Vorstellung die Idee mächtiger Entwicklung der Stirn und der unmittelbar von ihr bedeckten Organgruppen verknüpft“ (Hitzig 1874, S. 127). Nachdem er selbst die motorischen Funktionen in der vorderen Hälfte des Gehirns und die sinnlichen Wahrnehmungen in die hinteren Regionen verlegt hatte, blieb für die „höheren psychischen Tätigkeiten nur das Stirnhirn übrig“. Für diese Lokalisation sprachen auch die pathologischen Erfahrungen über die Aphasie, die nahe legten, dass die den Menschen besonders auszeichnende intellektuelle Fähigkeit der selbständigen Sprachbildung ihr Organ im Stirnhirn besitzt. Den stärksten Hinweis auf die besondere Rolle des Stirnhirns liefert aber die vergleichende Anatomie, die in aufsteigender Linie von Katzen über Hunde bis zu der Stufenleiter von niederen und höheren Affen eine fortwährende Zunahme an Masse und Gliederung der Frontallappen zeigt. Eine weitere Stütze für die Ansicht, dass das Stirnhirn der Sitz der höheren psychischen Tätigkeiten ist, fand Hitzig darin, dass Verletzungen und Abtragungen der Frontallappen in der Stirnregion weder zu motorischen noch zu sensorischen Störungen führten. Dass intellektuelle Störungen nicht bemerkt wurden, führte Hitzig darauf zurück, dass solche Störungen beim Hund nur schwer festzustellen sind. Ferrier dagegen bemerkte nach der Abtragung beider Stirnlappen an Affen eine ausgesprochene Schädigung der Intelligenz und der Fähigkeit zu aufmerksamer Beobachtung. Statt sich wie zuvor für ihre Umgebung lebhaft zu interessieren und neugierig alles, was ihnen unterkam, zu betrachten, blieben sie nun apathisch, stumpf oder schlaftrunken und antworteten nur auf neue frische Reize, oder aber sie vertauschten diese Gleichgültigkeit mit Ruhelosigkeit und zwecklosen Hin- und Hergehen (Ferrier 1879, S. 257 f.). Auch der bis zum heutigen Tag immer wieder rekonstruierte Fall (vgl. Damasio 1996), der sog. Crow-bar-case, bei dem einem jungen Mann eine Eisenstange durch das Stirnhirn drang, wies darauf hin, dass es in dieser Hirnregion zu keinen sensorischen oder motorischen, sondern nur zu psychischen Störungen kommt, die in diesem Fall zu einer völligen Charakteränderung führten. Der sonst durch seine besonnene Wesensart und Mäßigung ausgezeichnete Mann erschien nach seiner Genesung „wechselnd in seiner Stimmung, rücksichtslos und eigensinnig, häufig widerspenstig und in vielen Beziehungen einem ungezogenen Kind ähnlich“ (Ferrier 1879, S. 137). Munk dagegen sah weder in der vergleichenden Anatomie noch in den pathologischen Fällen einer Stirnhirnverletzung oder Erkrankung ein Argument für die besonderen intellektuellen oder emotionalen Funktionen
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der Stirnhirnlappen. Seine eigenen sorgfältigen Abtragungsversuche der Frontallappen bei Hunden und Affen zeigten vielmehr Bewegungsstörungen des Rumpfes (beim Hund) sowie des Nackens und des Rumpfes (beim Affen); und nur auf dieser Grundlage boten sich ihm intellektuelle Störungen dar, die er auch bei der Verstümmelung anderer Großhirnlappen festzustellen glaubte. Diese Ergebnisse bestärkten ihn nicht nur in der Auffassung von der Intelligenz als der kombinierten Leistung aller Sinnessphären der Großhirnrinde, sondern führten ihn auch dazu, die Fühlsphäre von den Scheitellappen aus auch auf die Stirnlappen auszudehnen. Die Stirnlappenrinde war daher für ihn jener Teil der Fühlspähre, die jenen Körperteilen zugeordnet sind, welche nicht durch die Scheitellappenrinde vertreten sind: nämlich Rumpf und Nacken. Den pathologischen Erfahrungen, auf die auch Wilhelm Wundt (1847 – 1929) vom Standpunkt seiner „physiologischen Psychologie“ (1880) hingewiesen hatte, nach denen Verletzungen der Stirngegend ohne alle Störungen vonseiten der Bewegungs- und Sinnesorgane verliefen, aber bleibende Störungen der geistigen Fähigkeiten und Eigenschaften mit sich brachten, hält Munk seine eher fragwürdigen Kenntnisse aus der pathologischen Literatur entgegen, nach denen Idioten, Mikrozephale und Stirnhirnverletzte manchmal einen „krummen Rücken, vornüber geneigte Haltung, auch die Unfähigkeit zu normalem Stehen und Gehen“ besitzen sollen, was wiederum nach seiner Meinung die Stirnlappen als einen Teil der Fühlsphäre, die den Rumpf repräsentiert, ausweist. Wenn er aber abschließend sagt, dass „bessere pathologische Ergebnisse nicht ausbleiben, nach dem der alte Aberglaube von den höheren Seelentätigkeiten im Stirnhirn durch die Erkenntnis von dessen Leistungen beseitigt ist“, so sollten gerade diese besseren pathologischen Resultate im Gegenteil zeigen, dass die Lokalisation höherer psychischer Funktionen im Stirnhirn kein Aberglaube, sondern vielmehr als eine anatomische wie physiologische Realität zu betrachten ist, die durch zahlreiche klinische Fälle gestützt wird. Denn es war der bereits erwähnte Psychiater Paul Flechsig, der gegenüber der ausschließlich nur Sinnessphären auf der Großhirnrinde zulassenden Theorie Munks kritisch eingestellt war und der in der Stirnlappenregion eines der Zentren nachwies, die er „Assoziationszentren“ nannte. „Im Aufbau unseres Geistes, in den großen beharrenden Zügen seiner Gliederung spiegelt sich klar und deutlich die Architektur unseres Gehirns wider“ (Flechsig 1896, S. 3). Dieser Satz drückt am deutlichsten das heuristische Prinzip seiner Theorie von der Lokalisation der geistigen Vorgänge aus, das Flechsig an den Anfang seiner Untersuchungen stellt. Im Unterschied zu seinen Vorgängern wollte er sich jedoch ausschließlich mit dem Menschen beschäftigen und die Besonderheiten des menschlichen Gehirns
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Abb. 15: Die Assoziationszentren nach Flechsig (aus Clarke u. Dewhurst 1974). Die punktierten Felder stellen Assoziationszentren dar. Die Zahlen beziehen sich auf die Reihenfolge des Ablaufs der Markscheidenreifung in den einzelnen Hirnteilen.
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an diesem selbst durch direkte Untersuchungen feststellen. Eine der Hauptaufgaben der Anatomie im Bezug auf die Lokalisation der Hirnfunktionen war für ihn „die völlig lückenlose Darlegung der Sinnesleitungen von ihrem Eintritt in das Zentralorgan bis zu ihren Endstätten in der Hirnrinde“ (a. a. O., S. 13). Denn nur so lassen sich die einzelnen Rindengebiete nach ihrer Funktion unterscheiden. Um den genauen Verlauf dieser Sinnesleitungen und die Rindenbezirke, mit denen sie in Verbindung treten, überschauen zu können, gibt es für Flechsig keine andere Methode, welche dies auch nur annähernd gleich vollkommen leisten könnte, als die Untersuchung des Gehirns des Fötus und Neugeborenen. Denn die Sinnesleitungen, die von allen Faserzügen des Großhirns zuerst erscheinen und reifen, liegen beim Fötus und Neugeborenen noch völlig isoliert von ihren Umhüllungen, den sog. Markscheiden, vor Augen und können auf diese Weise leicht in ihrem Verlauf verfolgt werden. Die sukzessive Markscheidenreifung (Myelinisierung) liefert Flechsig auch eine Erklärung für die unterschiedliche Funktion der Leitungsbahnen: Gleichzeitig myelenisierende Fasern sind funktionell gleichartig, ungleichzeitige sind funktionell ungleich. Durch dieses entwicklungsgeschichtliche Ordnungsprinzip lassen sich zunächst Sehsphäre, Hörsphäre, Riechsphäre und die von Munk zuerst benannte „Körperfühlsphäre“ unterscheiden – eine Bezeichnung, die auch für Flechsig durchaus zweckmäßig ist, da sie eine Summe verschiedenartiger sensibler Zentren darstellt, die ein ungemein ausgebreitetes Rindengebiet einnehmen. Diese Körperfühlsphäre enthält aber auch nach Flechsigs Untersuchungen nicht nur sensorische, sondern auch motorische Regionen, d. h. genau jene Bereiche, die Fritsch und Hitzig zuerst entdeckten. Doch ist sie, wie auch alle anderen Sinnessphären beträchtlich kleiner als von Munk angenommen, sodass große Reste oder Zwischenstücke von Rindengebieten übrig bleiben. Alle diese Rindengebiete entwickeln sich beträchtlich später als die Sinneszentren, sodass sie noch bei dreimonatigen Kindern sehr genau erkennbar sind. Verfolgt man nun die Markentwicklung in diesen Zwischenstücken näher, so ergibt sich für Flechsig, dass die von Meynert so benannten Projektionsfasern oder sensorischen Nervenbahnen darin kaum oder gar nicht auftreten. Wohl aber wachsen aus den benachbarten Sinneszentren zahllose „Assoziationsfasern“ (im Sinne des Ausdrucks von Meynert) in sie hinein, wie auch aus diesen Rindenzwischenstücken ganze Bündel oder „Assoziationssysteme“ hervorgehen und zu näheren und entfernteren Rindenbezirken in Beziehung treten. Insbesondere konnte Flechsig auch ungemein viele Balkenfasern, also Assoziationsfasern, welche die Rinde beider Hemisphären miteinander verbinden, in diesen Zwischengebieten nachweisen.
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Deswegen nannte er diese ausgedehnten Zwischengebiete „Assoziationszentren“ und kam zu dem Schluss, dass „deren Tätigkeit im Wesentlichen darin besteht, die Erregungszustände verschiedenartiger Sinnessphären zu assoziieren“(a. a. O., S. 60). Mit dieser im Prinzip noch heute gültigen Auffassung wich er nicht nur von Munk ab, der alle Sinnessphären direkt aneinander grenzen ließ, sondern auch von Meynert, der annahm, dass die Sinneszentren verschiedener Qualität miteinander direkt ohne Zwischenschaltung eigener ausgedehnter Rindengebiete durch zahlreiche Assoziationsfasern verbunden sind. Obwohl sich Flechsigs Entdeckung der Assoziationszentren in erster Linie auf anatomische Befunde stützte, konnte er bereits auch auf klinische Beobachtungen hinweisen, durch die er in seinen Anschauungen bestätigt wurde. Dies gilt vor allem für jenes große Gebiet zwischen der Seh-, Hörund Körperfühlsphäre, das hintere große Assoziationszentrum, dessen Verletzung oder Zerstörung alle jene klinischen Erscheinungen hervorbringt, die mit den Begriffen Munks wie „Seelenblindheit“, „Seelentaubheit“, „Seelengefühllosigkeit“ oder mit dem Begriff Freuds als „Agnosie“ (Erkennungsstörung) bezeichnet wurden. Dazu gehören auch jene meist der linken Hemisphäre zugerechneten Störungen der die Sprache vermittelnden Fähigkeiten, wie optische Alexie und Aphasie und andere aus dem Symptomkomplex der Aphasie stammenden Störungen, die ein Gemisch von Gedächtnis- und Assoziationsdefekten darstellen. Auf Grund dieser klinischen Erfahrungen ergibt sich auch für Flechsig ein positives Bild von der Tätigkeit dieses Assoziationszentrums: Es ist verantwortlich für das Sammeln von Vorstellungen äußerer Objekte, von Wortklangbildern und ihren Verknüpfungen untereinander, die Vorbereitung der gesprochenen Rede nach Gedankeninhalt und sprachlicher Formung und dergleichen mehr. Kurz gesagt, es enthält die wesentlichen Bestandteile dessen, was man generell als „Geist“ bezeichnet. Über die Funktionen des frontalen Assoziationszentrums kann sich jedoch Flechsig weniger genau äußern. Insofern aber eine Zerstörung des Stirnhirns zu einer Herabsetzung aller willentlichen Betätigungen oder eventuell zu einer vollständigen Interessenlosigkeit, zum Verlust der aktiven Aufmerksamkeit und zu eigenartigen Charakterveränderungen führt, nimmt Flechsig an, dass das frontale Assoziationszentrum in hervorragender Weise an dem die „Gefühle und Willensakte“ aus sich heraus bewirkendem „Ich“ beteiligt ist. Aber aus all dem bisher Gesagten kann es für Flechsig keinen Zweifel geben, dass die Gliederung, die wir im Gefüge des „Geistes“ introspektiv wahrzunehmen vermögen, in deutlicher Beziehung zu den für das anatomi-
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sche Verständnis durchaus zugänglichen Bauverhältnissen des Gehirns steht, aus denen das seelische Geschehen weitgehend rekonstruiert und objektiv abgeleitet werden kann. Und er gibt seiner Überzeugung Ausdruck, dass dieser durchgehende Parallelismus umso deutlicher hervortreten wird, „je weiter wir in den Bau des Seelenorgans eindringen“ (a. a. O., S. 64). Diese Hoffnung sollte sich aber nicht erfüllen. Denn das weitere Eindringen in den zellulären Feinbau, in die Zytoarchitektonik des Gehirns führte zu immer komplexeren Strukturen, die im Bezug auf ihre Funktionen immer mehr Rätsel aufgaben.
6. Hirnforschung und Neurowissenschaft im 20. Jahrhundert Die elementaren Bausteine des Gehirns: Neuronen- und Synapsentheorie Mit der Entdeckung der Nervenzelle und der neuen daraus resultierenden Doktrin vom neuronalen Aufbau des Gehirns tritt eine für die Hirnforschung des 20. Jahrhunderts charakteristische Wende ein. Bisher hatte man das Gehirn und Rückenmark als die beiden zentralen Bereiche des Nervensystems angesehen, zu denen alle sensorischen Einwirkungen der Außenwelt führen und von denen aus alle Bewegungen und Verhaltensweisen gesteuert werden. Die Erkenntnis, dass das gesamte Gehirn mit seinen funktionell unterscheidbaren Bereichen aus einzelnen aktiven sich selbst verändernden und entwickelnden Elementen aufgebaut ist, verleiht aber nun dem Gehirn einen dynamischen Prozesscharakter, der mit der bisher üblichen Vorstellung eines mechanischen Apparates nicht mehr zu vereinen war und die volle Aufmerksamkeit auf das komplizierteste Organ des Menschen lenkte.
Die Entdeckung der Nervenzellen Bereits 1833 entdeckte Christian Ehrenburg „Ganglienkugeln“ im Fasergeflecht des Nervengewebes, das er als einen kontinuierlichen Filz im Gehirn, Rückenmark und den periphären Nerven ansah. Nur wenige Jahre später konnte Purkinje 1837 mit einem achromatischen Mikroskop die großen nach ihm benannten Nervenzellen im Kleinhirn entdecken und als runde Gebilde mit sich verzweigenden Schwänzen darstellen. Ein Jahr zuvor hatte auch Gabriel Valentin (1810 – 1883) kleine Kugeln im zentralen Nervengewebe festgestellt und sie im Unterschied zu den passiven Leitern der Nervenfasern als die Repräsentanten des aktiven höheren Prinzips angesehen. Nachdem es Theodor Schwann im Jahre 1839 in Zusammenarbeit mit Matthias Schleiden gelungen war, die Zelle als die elementare Einheit des
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pflanzlichen und tierischen Gewebes zu erfassen, konnten auch die Ganglienkugeln als Ganglien- oder Nervenzellen betrachtet werden. Und im Jahre 1844 wurde von Robert Remak (1815 – 1865), einem Schüler von Johannes Müller, an Präparaten des Rückenmarks von Ochsen gezeigt, dass die Nervenfasern Auswüchse dieser Nervenzellen sind. Auf diesen und anderen Entdeckungen aufbauend konnte Rudolf Wagner 1846 dann das erste Reflexschema für ein Wirbeltier formulieren, nach welchem die Reize der sensorischen Nervenfasern zu den Ganglienzellen im Rückenmark geführt und von deren zentralen Ausläufern auf andere Ganglienzellen und von dort aus über deren Ausläufer oder Fortsätze auf die motorischen Nervenfasern übertragen werden. Darüber hinaus gelang ihm auch schon im Rahmen seiner anatomischen Untersuchung des Gehirns des Zitterrochens die Entdeckung eines bestimmten Fortsatzes des Zellkörpers, der sich früher und stärker entwickelt als die anderen. Diese Unterscheidung von „Axonen“ und „Dendriten“, wie sie heute genannt werden, wurde auch in klarer Weise von dem früh verstorbenen Otto Friedrich Karl Deiters (1834 – 1864) vorgenommen, der von einem „Achsenzylinder“ und „protoplasmischen Fortsätzen“ sprach, eine Terminologie, die noch lange in den Lehrbüchern der Physiologie des 19. Jahrhunderts verwendet wurde. In der umstrittenen Frage nach der Beziehung von Ganglienzellen und ihren Fortsätzen zu dem gesamten Geflecht der Nervenfasern brachte Albert Koelliker (1817 – 1905) eine erste Entscheidung mit seiner Vermutung, dass „die Fortsätze der Ganglienkugeln die Anfänge dieser Nervenfasern sind“. Über eine netzartige Verbindung der Nervenzellen untereinander äußerte er sich jedoch sehr vorsichtig und wies darauf hin, dass die Technik in keiner Weise so weit fortgeschritten sei, um diese wichtige Frage eindeutig beantworten zu können (vgl. Buess in Rothschuh 1964, S. 195). Der Erlanger Anatom Joseph von Gerlach (1820 – 1896) dagegen nahm als sicher an, dass die „protoplasmischen Fortsätze“ der Ganglienzellen, die sich im Rückenmark immer weiter verzweigen, schließlich ein feines Geflecht miteinander verbundener Faserstrukturen bilden, die mit den Endzweigen der Fortsätze der anderen Ganglienzellen direkt durch lange fadenförmige Ausläufer zusammengewachsen sind. Diese feinsten Fasernetze stellen daher eine kontinuierliche Verbindung der Nervenzellen untereinander dar. Bestärkt wurde die Vorstellung von einem kontinuierlichen Nervennetzwerk zunächst durch die Färbetechnik Camillo Golgis (1844 – 1926), der auf Grund von dünnen Gewebeschnitten, in denen die Nervenzellen und Nervenfasern schwarz gefärbt sichtbar wurden, annahm, dass die Endverzweigungen der Achsenzylinder jeder Nervenzelle mit denen der anderen Nervenzellen zu einem Retikulum, einem netzartigen Geflecht, verschmelzen.
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Vom Nervennetz zur Neuronentheorie: His, Forel und Ramón y Cajal Gegen diese Vorstellung von einem kontinuierlichen Netzwerk wendete sich zuerst der Basler Anatom Wilhelm His, der bereits erkannte, dass es eine überwiegend große Anzahl von Endvorrichtungen gibt, „bei denen die Nervenfasern als solche frei auslaufen“ (His 1886, S. 511). Ein Jahr später meldete auch der Züricher Anatom und Psychiater Auguste Forel, der unter anderem auch bei Theodor Meynert in Wien studiert hatte, Bedenken gegenüber Golgis kontinuierlichem Nervennetzwerk an. Bei den kolossalen Verästelungen der Elemente, wie sie Golgis Methode erkennen lässt, muss ihr Zusammentreffen, auch wenn sie kein wirkliches Netz bilden, zu einem „fürchterlichen filzartigen Gewirr“ führen, das nach seiner Meinung auch nur ein „Scheinnetz“ sein kann. Abgesehen davon, dass sich diese allerfeinsten zahllosen Auswüchse ursprünglich untereinander nicht verbundener Zellen alle mit ihren freien Enden genau begegnen müssten, wird diese Vorstellung noch unwahrscheinlicher, wenn man bedenkt, dass sich dieses Netz während der ersten Lebensjahre des Individuums noch weiter entwikkeln muss, „was bei einer wirklichen Verwachsung nicht so leicht denkbar wäre“ (Forel 1897, S. 166). Deshalb sah Forel auch immer weniger ein, warum eine wirkliche, kontinuierliche Verbindung der feinsten Ästchen der Nervenelemente ein physiologisches Postulat sein muss. In diesem Zusammenhang verweist er auf die Elektrizität, bei der es zahllose Beispiele von Übertragungen ohne direkte Kontinuität gibt. Zu den ersten Begründern der Neuronentheorie gehört auch der durch seine Entdeckungsreise mit der „Fram“ berühmt gewordene norwegische Polarfahrer Fridtjof Nansen (1861 – 1930), der völlig unabhängig von His und Forel in seiner Doktordissertation über die ›Struktur und Verbindung der histologischen Elemente des zentralen Nervensystems‹ vom Jahre 1887 zu dem Schluss kam, dass es „keine direkte Verbindung zwischen den Ganglienzellen durch die protoplasmischen Fortsätze gibt“ (Nansen 1887, S. 164). Nansen hatte sich im Jahr zuvor bei einem Aufenthalt bei Golgi in Pavia mit dessen Färbemethode vertraut gemacht und diese Kenntnisse in seinem Heimatort Bergen als Erster auf die Untersuchung des Nervensystems der Wirbellosen angewendet. Obwohl er sich von Golgis Vorstellung eines kontinuierlichen Nervennetzes löste, übernahm er dennoch dessen Irrtümer in Bezug auf die Funktion der Nervenzellenfortsätze, denen er wie Golgi nur die Aufgabe der Ernährung zubilligte. Den entscheidenden Fortschritt brachte der spanische Histologe und Anatom Santiago Ramón y Cajal (1852 – 1934), der auf den Erkenntnissen von His und Forel aufbauend bereits in seiner ersten Publikation im Jahr
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1888 zu der eindeutigen Feststellung kam, dass jedes Element des Nervensystems einen absolut autonomen Bezirk darstellt, der niemals mit den anderen Elementen ein Netzwerk bildet. Wie der Kontakt und die Übertragung der Erregung zwischen den Elementen stattfinden soll, ist für ihn ein schwieriges Problem, das er zu lösen noch nicht im Stande war. Er verweist in diesem Zusammenhang auf eine Art von elektrischer Übertragung. Inzwischen hatte sich auch eine neue Terminologie für die Neuronentheorie zu entwickeln begonnen. His führte 1889 den Begriff „Dendrit“ an Stelle des vorher gebrauchten „protoplasmischen Fortsatzes“ ein und der Berliner Anatom Wilhelm von Waldeyer bezeichnete in einem Übersichtsartikel vom Jahre 1891 in der ›Deutschen medicinischen Wochenschrift‹ zum ersten Mal die Einheit von Nervenzelle, Dendriten und Achsenzylinder als „Neuron“. Schließlich wurde von Koelliker 1896 auch der Begriff „Achsenzylinder“ durch die Bezeichnung „Axon“ ersetzt. Damit waren die drei Grundbegriffe der Neuronentheorie festgelegt, deren endgültige Durchsetzung erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgte, als es die technischen Möglichkeiten erlaubten, die Kontaktstellen als anatomische Realität nachzuweisen. Bis zu diesem Zeitpunkt aber blieb die Frage: kontinuierliches Nervennetz oder unabhängige Neuronen offen. Bedeutende Histologen wie Koelliker und Arthur van Gehuchten (1861 – 1914) unterstützten zwar die Ansichten Cajals, aber noch bei der Verleihung des Nobelpreises an Golgi und Cajal im Dezember 1906 prallten die beiden gegensätzlichen Positionen in nicht zu überbietender Härte aufeinander. Golgi benützte seine öffentliche Nobelpreisrede zu einer schweren Attacke gegen die Neuronentheorie. Unter dem Titel ›La doctrine du neurone, théorie et faits‹ versuchte er die drei Grundideen des Neurons als embryologische Einheit, als Einheit in Form einer erwachsenen Zelle und als physiologische Einheit im Einzelnen zu widerlegen. Unter der Bezeichnung „embryologische Einheit“ verstand Golgi die von den Vertretern der Neuronentheorie vertretene Ansicht, dass das Neuron aus einer Art Vorläuferzelle (Neuroblast) entsteht, aus der sich dann die Nervenfaser (Axon) und die Nervenfortsätze (Dendriten) entwickeln. Nach seiner Auffassung und seinen Laborstudien hält er es dagegen für erwiesen, dass die Nervenfasern immer aus bereits vorhandenen Nervenfasern entstehen. Die erwachsenen Zellen sind für ihn nicht voneinander unabhängige Einheiten, sondern bilden vielmehr ein Netzwerk von direkten und indirekten Verbindungen, das er nicht bloß als Hypothese, sondern als „durchaus eindeutige anatomische Einheit“ ansieht, deren Existenz er in allen wichtigen Teilen des Nervensystems nachgewiesen zu haben glaubte. Logischerweise kann dann Golgi auch die dritte These vom Neuron als
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physiologische, d. h. funktional unabhängige Einheit, nicht akzeptierten. Er sieht zurecht darin eine Unterstützung der Ansicht von scharf umgrenzten funktionalen Bereichen in der Großhirnrinde, wie sie im Rahmen der strikten Lokalisationstheorie von Hitzig und Fritsch und vor allem von Ferrier vertreten worden ist. Im Gegensatz dazu vertritt er die Idee, dass spezielle Funktionen nicht mit bestimmtem Merkmalen von Gehirnzentren, sondern mit der Besonderheit peripherer Organe zusammenhängen, die Impulse empfangen und ans Gehirn weiterleiten. Damit kommt er auf die Vorstellungen von Meynert zurück, der zwar Projektionsfasern und Projektionsfelder aber keine Assoziationsfelder, sondern nur Assoziationsfasern annahm, die sich über die gesamte Großhirnrinde erstrecken und an keiner bestimmten Stelle lokalisiert sind. Abschließend stellt Golgi fest, dass für ihn kein Argument spricht, das für die anatomische und entwicklungsgeschichtliche Individualität und physiologisch-funktionelle Unabhängigkeit der Neuronen spricht. Stattdessen weisen alle seine anatomisch-histologischen Untersuchungen in eine andere Richtung und zwar auf sein eigenes von Anfang an vertretenes Konzept eines verteilten Nervennetzwerkes, in dem auch physiologisch gesehen die einzelnen Nervenzellen nicht individuell, sondern nur zusammen tätig sind und durch dieses Zusammenwirken in einer Gruppe einen kumulativen Effekt erzeugen. Daher ist für ihn das Netzwerk selbst und nicht die Einzelaktionen der Nervenzellen das Organ, das unterschiedliche Wirkungen in den verschiedenen Teilen des Nervensystems erzeugt. Ebenso scharf wie Golgis Attacke gegen die Neuronentheorie fiel die Antwort aus, die Ramón y Cajal am darauf folgenden Tag in seiner Nobelpreisrede gab. Er verurteile die von Golgi zu Schau gestellte Selbstverherrlichung seiner Person, die sich hermetisch abgeschlossen hat und undurchdringlich für die in der geistigen Umgebung unaufhörlich stattfindenden Veränderung geworden ist. Seine eigene Theorie dagegen habe sich auf Golgis Methode aufbauend 25 Jahre lang durch Untersuchungen an fast allen Organen des Nervensystems bewährt. Keine einzige von ihm beobachtete Tatsache habe gegen die Annahme gesprochen, dass die von Waldeyer als „Neuron“ benannte morphologische Entität eine unabhängige Einheit ist, auf die folgende drei physiologische Postulate zutreffen: 1. Die Nervenströme in den komplizierten Systemen von den aus den Zellen entstandenen Verzweigungen werden von dem einem Element zum anderen durch eine Art von Induktion oder Einfluss aus der Entfernung übertragen. 2. Sowohl der Zellkörper als auch die Dendriten sind auf die gleiche Weise wie der Achsenzylinder oder „Axon“ leitende Vorrichtungen. 3. Die Nervenfortsätze spielen nicht nur die Rolle von Leitungen, son-
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dern die Nervenströme sind in diesen Fortsätzen zur Zelle oder zu dem Axon gerichtet, während sie in den Axonen von der Zelle weggerichtet sind. Dieses Verhältnis, das von van Gehuchten entdeckt worden ist, wird die „dynamische Polarisation der Neurone“ genannt. Den letzten Teil seines Vortrages ist der Verteidigung der Neurogenesis des 1904 gestorbenen His gewidmet, dessen Ansicht von der Entwicklung der Nervenfaser aus der primitiven Zelle (Neuroblast) er im Gegensatz zu anderen jungen Experimentatoren durch seine Untersuchungen bestätigt findet. His war es auch, der als Erster festgestellt hat, dass die Enden der Fasern „frei auslaufende Stümpfe“ sind.
Die Entdeckung der Synapsen als Kontaktstellen zwischen den Neuronen: Sherrington Während sich der Streit zwischen den Vertretern der Neuronentheorie und den „Reticularisten“ im Rahmen der Anatomie und Histologie noch weiter fortsetzte, hatte sich in der Physiologie die Hypothese von der Übertragung der neuronalen Erregung durch Kontakt bereits durchgesetzt. Ramón y Cajal hatte selbst in einer seiner frühen Schriften aus dem Jahre 1889 (›Conexión general de los elementos nerviosos‹, in: ›La Medicina Practica‹) darauf hingewiesen, dass besser als jede andere Disziplin die Physiologie in der Untersuchung der dynamischen Beziehung zwischen den Elementen des Nervensystems nützlich sein kann. Tatsächlich war es auch der englische Physiologe Charles Scott Sherrington (1857 – 1952), der bereits im Jahre 1897 in einem Kapitel der 7. Auflage des ›Handbuch der Physiologie‹ von Michael Foster dieser hypothetischen Kontaktstelle den Namen gab: „Soweit unser gegenwärtiges Wissen reicht, sind wir zu dem Gedanken geführt, daß die Spitze eines Zweiges der baumartigen Verzweigung nicht in kontinuierlicher Verbindung, sondern vielmehr nur in Kontakt mit der Substanz des Dendriten oder des Zellkörpers steht, an dem sie angreift. Eine derartige spezielle Verbindung einer Nervenzelle mit einer anderen könnte man eine Synapse nennen“ (Sherrington, in Foster 1897). Es sollte zwar noch mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen, bis die Synapse auch als eine anatomische Realität nachzuweisen war. Aber mit diesem Begriff der Synapse war im Prinzip das noch heutig gültige Fundament der Neuronentheorie von physiologischer Seite aus vollendet und der Ausgangspunkt einer neuen wesentlich differenzierteren dynamischen Auffassung von der Lokalisation der höheren Hirnfunktion gegeben – ein Weg den Ramón y Cajal selbst konsequent beschritten hat.
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Die Theorie von den drei Arten der Gehirnrindenzentren: Ramón y Cajal Obwohl Ramón y Cajal es bei dem damaligen Stand des Wissens nicht für möglich hielt „eine definitive Theorie von der architektonischen und dynamischen Anlage des Gehirns aufzustellen“, wagte er doch eine „vorläufige anatomisch-dynamische Synthese“ der empirischen Daten, wie sie das physiologische Experiment, die Histologie und die pathologisch-anatomische Forschung bisher geliefert haben. Dort wo exakte anatomisch-physiologische Tatsachen fehlen, möchte er, um einige Lücken zu füllen, auf die Lehren der damaligen Psychologie zurückgreifen, da die Phänomene des Bewusstseins damals besser bekannt waren als der komplizierte Bau des Gehirns. Außerdem hatte er die Absicht, auch zwischen den damaligen theoretischen Ansichten eine Verständigung zu erzielen. Ausgangspunkt seiner eignen Theorie ist die nach seiner Meinung „vorläufig annehmbarste Hypothese“ des „berühmten Leipziger Neurologen“ Flechsig, für den die Hirnrinde keine homogene Masse ist, sondern, wie bereits gezeigt, sich aus topographisch, histologisch und physiologisch getrennten Zentren zusammensetzt, die er in Projektions- oder Perzeptionssphären und in Assoziations- oder Intellektualsphären einteilt. Nach Cajals Meinung entsprechen die Projektionszentren Flechsigs den sensorischen und motorischen Sphären, wie sie von Hitzig und Ferrier entdeckt worden sind. Ihre Textur ist von derjenigen der Assoziationssphären verschieden, aber auch die einzelnen Projektionszentren besitzen eine voneinander abweichende Struktur. Ramón y Cajal, der wie alle Vertreter der Lokalisationstheorie von der „organischen Pluralität des Gehirns“ überzeugt ist, will daher die damit notwendig verbundene Verschiedenheit der Struktur bis in deren elementare Komponenten, die Nervenzellen, aufklären. Nur so kann die grobe Lokalisation der Physiologen genauer präzisiert werden. Die Erforschung der Gehirntätigkeit kann seiner Meinung nach erst dann Erfolg haben, „wenn sich die Organphysiologie in eine Gewebephysiologie umgewandelt hat“ (Ramón y Cajal 1900, 2. Heft, S. 2). Entsprechend diesem Programm untersucht Cajal zunächst die sensomotorischen Zentren, d. h. die Sehrinde, die Bewegungsrinde, die Hörrinde und die Riechrinde, wobei er besonders auf die menschliche Hirnrinde eingeht. Diese Bevorzugung des Menschenhirns hat für ihn auch einen methodologischen Grund: „Sofern es sich um die Erforschung des Grundrisses des Gehirns handelt, ist es notwendig, auf kleine Tiere und auf frühe Entwicklungsstadien zurückzugreifen; aber von dem Moment an, wo wir die Strukturverschiedenheiten der Rinde studieren wollen, müssen wir die menschli-
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che Gehirnrinde dazu verwerten, bei welcher die topographischen Differenzierungen den höchsten Grad erreicht haben“ (a. a. O., S. 3). Nach einer, wie er selbst sagt, „ausführlichen und mühevollen Analyse“ der verschiedenen, bereits von Meynert und anderen Anatomen und Histologen festgestellten Schichten der Großhirnrinde kommt Ramón y Cajal zu dem Resultat, dass nicht nur die Sehrinde sondern auch die übrigen Sinnessphären Eigentümlichkeiten aufweisen, die an den Chromsilberpräparaten auf den ersten Blick erkennbar sind: So ist die Sehrinde durch das Vorhandensein von Sternzellen mit langem absteigenden Achsenzylinder und einem direkten Geflecht von Opticusfasern gekennzeichnet, das mit diesen Zellen in Kontakt steht. Die Hörrinde erkennt man an der Existenz großer horizontaler Spindel- und Triangelzellen, an der außerordentlich großen Zahl von doppelt gebüschelten Zellen und an der Zartheit der sensorischen Fasern; die Bewegungsrinde ist durch ihre große Breite gekennzeichnet – und durch eine außerordentlich Menge von mittelgroßen Pyramidenzellen und Riesenpyramiden, außerdem sind hier die Markfasern des sensoriellen Geflechts sehr kräftig. Ebenso weist auch die Riechrinde bestimmte Eigentümlichkeiten im Bau und der Verteilung der Nervenzellen auf. Während sich durch diese Untersuchung der Feinstruktur der Gehirnrinde die Projektions- oder Sinnessphären Flechsigs bestätigt haben, kann jedoch Ramón y Cajal die Assoziationszentren Flechsigs nicht ohne Modifikation übernehmen. Denn zu schwerwiegend waren bereits die Einwände gegen den funktionellen Dualismus der Gehirnrinde geworden, wie ihn Flechsig in strikter Weise nach dem Prinzip der Markreifung vorgenommen hatte. So sieht Jules-Joseph Déjerine (1849 – 1917) einen Mangel an Logik darin, das Vorhandensein von Projektionsbahnen in der Assoziationsrinde allein deshalb zu verneinen, weil sie sich in den ersten Monaten nach der Geburt nicht entwickeln; sie könnten ja später auftreten. Tatsächlich wurden auch Projektionsfasern in den Assoziationszentren nachgewiesen, was auch Flechsig selbst anerkannt hat. Nach Monakow sind fast alle von Flechsig für Assoziationszentren gehaltenen Sphären durch Projektionsfasern mit unteren subkortikalen Zentren verbunden. Und auch Ferrier hat solche auf- und absteigende Projektionsfasern in der Okzipitalrinde des Affen gefunden. Trotzdem führte diese Kritik an Flechsigs Assoziationszentrum nicht zur Aufgabe der Ansicht von der funktionalen Pluralität der menschlichen Gehirnrinde. So nimmt auch Monakow an, dass neben den Projektionssphären, die phylogenetisch die ältesten sind, noch andere jüngere, nur den Säugetieren eigentümliche Rindenbezirke existieren. Diese neu hinzukommenden Rindenbezirke besitzen zwar ebenfalls zentrifugale und zentripetale Projek-
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Abb. 16: Schema zur Darstellung der drei Arten von Zentren der Gehirnrinde, entsprechend den Sinnesfunktionen (aus Ramón y Cajal 1906); V1, perzeptives Sehzentrum; Co1, optisches Erinnerungsfeld erster Ordnung; Co2, Erinnerungsfeld zweiter Ordnung, in welchem sich Elemente verschiedener Sinneskategorien vereinigen; AC, perzeptives Hörzentrum; OL, perzeptives Riechzentrum; a, Projektionsfasern des optischen Perzeptionszentrums; c, Projektionsfasern des optischen Erinnerungsfeldes; b, vordere Kommissur.
tionsfasern. Aber diese werden von den assoziativen Fasern in den Hintergrund gedrängt, die der Verbindung der verschiedenen anderen Hirngebiete untereinander dienen. Auf diese Weise näherten sich die Theorien der Kritiker wieder der ursprünglichen Auffassung von Flechsig, und Ramón y Cajal konnte zu einer Synthese dieser Ansichten auf Grund seiner eigenen Theorie schreiten, die eine mindestens dreifache Einteilung der Gehirnzentren und das Vorhandensein von zentrifugalen Projektionsfasern in allen diesen Bereichen annahm. Vor allem die dem Menschen eigentümlichen Sprachzentren sind für ihn keine Perzeptionssphären, sondern solche der Erinnerung und der Wiedererkennung von Bildern, die er „kommemorative Zentren“ nennt und als optische, akustische und sensitiv-motorische von den entsprechenden Per-
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zeptionszentren vollständig getrennt sind und auch, wie er nachweisen konnte, histologisch eine spezifische Textur besitzen. Über diese kommemorativen Zentren erster Ordnung hinaus, in denen die einfachen Erinnerungen und Vorstellungen repräsentiert werden, unterscheidet Ramón y Cajal noch „kommemorative Zentren“ oder „Erinnerungsfelder“ zweiter Ordnung, wo nicht nur die Residuen der einfachen Objektwahrnehmungen abgelagert sind, sondern vielmehr die Residuen von diesen einfachen Residuen und vielleicht die kombinierten Erinnerungsbilder. Es sind dies neue, von der äußeren Wirklichkeit völlig abgelösten Vorstellungen, die gänzlich ihren projektiven oder abbildhaften räumlichen Charakter verloren haben und dem entsprechen, was die Philosophen traditionellerweise „Ideen“ nennen. In diesen Zentren oder vielleicht in anderen noch höheren Zentren können sich nach Cajals Meinung die Erzeugnisse der wissenschaftlichen konstruktiven Gedankenarbeit und die Schöpfungen der schriftstellerischen Phantasie, d. h. alle jenen komplizierten und systematischen Gedankengebilde ablagern, die sich auf Überlegung, Forschung und Erfahrung aufbauen. Da für die unmittelbare Wahrnehmung und für die Vorstellung dieser Wahrnehmung Zentren existieren, so ist es zufolge des Prinzips der Arbeitsteilung für Cajal ganz natürlich, solche Felder auch für die Ideen oder kombinierten Sinnesvorstellungen anzunehmen. Nach demselben Prinzip der Arbeitsteilung ist es für ihn wahrscheinlich, dass auch diese unterschiedliche Tätigkeit von einer „anderen Kategorie von Neuronen“ durchgeführt wird. Der Dualismus von primären und sekundären kommemorativen Zentren weist eine gewisse Entsprechung mit den Vorstellungen von Theodor Meynert über ein primäres und sekundäres Ich auf. Denn unter dem „primären Ich“ hatte Meynert ebenfalls „die Sphäre der Sinneseindrücke und deren Erinnerungsbilder“ verstanden. Dieses primäre Ich, demgemäß der eigene Leib sich im Bewusstsein von der übrigen Außenwelt als Individualität abgrenzt, erweitert sich zu einem „sekundären Ich“, das als höhere Hirnfunktion in den Assoziationsbahnen der gesamten Großhirnrinde lokalisiert bzw. verteilt ist. Ohne die Evolutionstheorie Darwins zu leugnen, sieht Meynert den Unterschied von Mensch und Tier in dem „Umfange des sekundären Ichs“ (Meynert 1892, S. 170). Es ist der artspezifische Hirnmechanismus des Menschen, der die grenzenlose Erweiterung des sekundären Ichs während seiner ontogenetischen Entwicklung ermöglicht. Diesen Unterschied von Mensch und Tier sieht jedoch Ramón y Cajal, der ebenfalls wie Meynert auf dem Boden der Darwinschen Evolutionstheorie steht, konsequenterweise in einer besonderen Art von Nervenzellen: die in der menschlichen Großhirnrinde in außerordentlich großer Zahl auftreten: „Es
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ist für mich daher über jeden Zweifel erhaben, daß die Zellen mit kurzem Achsenzylinder und besonders die häufiger vorkommenden, d. h. die doppeltgebüschelten, bei der Entstehung psychischer Vorgänge eine wichtige Rolle spielen, wenn sich auch für heute die letztere nicht genau bezeichnen läßt“ (Ramón y Cajal 1902, 3. Heft: Die Hörrinde., S. 52). An die Theorie der drei unterschiedlichen Arten von Gehirnrindenzentren schließt Ramón y Cajal eine Theorie der Entwicklung der interneuronalen Verbindung an. Um das Phänomen der Vervollkommnung gewisser psychischer Akte durch Übung, sowie die Originalität und Verschiedenheit der menschlichen Talente, und die Wiederherstellung von Funktionen nach Verletzungen und Krankheiten erklären zu können, muss man annehmen, dass neben der bloßen Verstärkung der bereits vorhandenen Bahnen andere, neue auftauchen und zwar durch Verzweigung und progressivem Wachstum der Dendriten und Nervenendfasern. Diese Hypothese würde nach seiner Meinung „auch das logische Gedächtnis erklären, d. h. jene geordnete Verkettung und Einreihung der erworbenen Eindrücke, die sich nur mit vielem Aufwand von Aufmerksamkeit und Nachdenken und mittelst einer neuen Organisation der kommemorativen Zentren vollzieht; ebenso die Schöpfung architektonischer Systeme von Ideen oder komplizierter logischer Konstruktionen (philosophische, religiöse und politische Systeme und Bekenntnisse)“ (Cajal 1906, S. 77). Eine Stütze für diese Hypothese sieht Cajal in seinen jahrelangen anatomisch-histologischen Untersuchungen und Entwicklungsstudien, die gezeigt haben, dass während der embryonalen Entwicklung die Dendriten und Nervenäste sich progressiv verbreiten und verzweigen und mit einer immer größeren Zahl von Neuronen in Kontakt treten (Kap. XXI, Vol. I, Textur des Nervensystems). Außerdem steht nach diesen Untersuchungen fest, dass der Zustand dieser Verbindung erst nach einigen Entwürfen definitiv wird. Bevor die Fortsätze ihre eigentliche Bestimmung erreichen und feste Verbindungen schaffen, schwinden zahlreiche Nebenäste, die eine Art „Probeverbindung“ darstellen, deren Existenz auf die anfängliche besondere Dynamik und Veränderlichkeit der Zellverzweigungen hinweist. Auch beim Erwachsenen bleibt diese Entwicklung der interneuronalen Verbindung nicht stehen. Vielmehr ist als wahrscheinlich anzunehmen, dass diese Entwicklung in gewissen Zentren durch Übung sich steigert, während sie in nicht betätigten Rindengebieten stillsteht und rückschreitet. Damit löst sich nun auch für Ramón y Cajal das unter den Lokalisationstheoretikern so vielfach diskutierte Problem der Restitution, d. h. der Wiederherstellung der Funktionen nach Verletzungen und Krankheiten: „Die Rückkehr zur Norm nach Zerstörung der Nervenfasern ist nur verständlich bei
Schichtenstruktur und Zellaufbau der Großhirnrinde
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der Annahme, daß im Gehirn, wie an durchschnittenen Nerven das gesunde Ende des Achsenzylinders befähigt ist zu wachsen und neue Verzweigungen auszusenden, welche durch die kranken Partien ihren Lauf nehmen und die Verbindung mit den gelösten Neuronen wiederherstellen. Sind letzte zerstört, so dürften die neu gebildeten Äste anderen Nervenzellen zustreben und ihnen eine neue funktionelle Aufgabe zuweisen“ (a. a. O., S. 78). Nicht nur diese positiven Entwicklungsphänomene sind durch Cajals Theorie erklärbar, sondern auch die Degenerations- und Alterserscheinungen werden auf diese Weise verständlich. Wie die Fähigkeiten der Anpassung und Variation der Vorstellungen auch beim Erwachsenen auf der Wachstums- und Verbindungsfähigkeit der Neurone beruht, so führt auch umgekehrt die Aufhebung dieser Tätigkeiten im Alter oder die mangelnde geistige Übung zu einem gewissen Grad der Starrheit der Überzeugungen zur Unangepasstheit des Verhaltens. Wenn aber aus mehr oder weniger pathologischen Gründen eine Lockerung der Neuronenverbindungen, Atrophie und Verkürzung der Fortsätze eintritt, so ist dann das Resultat Gedächtnisschwund, geistige Untätigkeit und in schweren Fällen auch Schwachsinn oder Wahnsinn. Und die Tatsache, dass vor allem im Alter die früheren Erinnerungen dauerhafter sind als die neuen, lässt sich dadurch erklären, dass die ursprünglich geschaffenen Verbindungen eine besonders große Festigkeit erreichten, weil ihre Bildung in die Zeit fällt, in der die „plastische Energie“ der Neuronen am stärksten ist (a. a. O., S. 79).
Schichtenstruktur und Zellaufbau der Großhirnrinde als Grundlage der Lokalisationstheorie Seit Theodor Meynerts anatomisch-morphologische Untersuchungen, aber auch schon früher, wusste man, dass die Großhirnrinde an ihrer Oberfläche nicht nur unterschiedliche Funktionsfelder besitzt, sondern auch eine nach dem Zellaufbau unterschiedliche Schichtenstruktur. Noch vor den Entdeckungen von Fritsch und Hitzig nahm Meynert auf Grund dieses unterschiedlichen Baues der einzelnen Stellen der Hirnrinde an, dass diese gleichsam in viele einzelne Organe zerfallen, denen ihrem Bau entsprechend auch jeweils eine verschiedene Funktion zukommen dürfte. So schloss er aus dem Zellaufbau eines bestimmten Rindengebietes, das eine gewisse Ähnlichkeit mit der Retina, der Netzhaut des Auges, hatte, dass es sich dabei um eine rezeptorische, sensible Rindenstelle handeln muss. Und der russische Histologe Vladimir Alexandrovich Betz (1834 – 1894) konnte nach der Entdeckung von Fritsch und Hitzig nachweisen, dass die von ihm
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entdeckten Riesenzellen bei Mensch und Tier bloß in der elektromotorisch primär erregbaren Zone vorkommen.
Die Hirnkarten von Brodmann und Economo Von diesen beiden grundsätzlichen Einsichten konnte dann die ganze spätere Lehre der architektonischen Rindenareale, wie sie vor allem von Korbinian Brodmann (1868 – 1928) und Constantin von Economo (1876 – 1931) erstellt wurde, ihren Ausgang nehmen. Brodmanns Zielsetzung war es, eine „Darstellung der örtlichen Verschiedenheiten des Rindenbaues und eine darauf gegründete topographische Lokalisation der Großhirnrinde“ zu geben. Gleich zu Beginn seiner vergleichenden Untersuchungen der Säugetiergehirne weist er auf das problematische Chaos in der Benennung der Rindentypen und Felder und der Schichtenbezeichnungen hin. So wurden einerseits die einzelnen Felder oder Areale nach ihrer zellhistologischen Eigenart, d. h. nach den in ihnen hauptsächlich vorhandenen Zelltypen benannt, oder nach faserhistologischen Gesichtspunkten, sodass unter Umständen doppelte Namen für die gleichen Felder zustande kamen. Andererseits wurde auch eine topographische Nomenklatur verwendet, die sich nach den Regionen der klassischen Einteilung des Großhirns in Stirn-, Schläfen- oder Hinterhauptlappen richtete, aber wiederum mit physiologischen Bezeichnungen wie „motorisches Feld“, „sensorisches Sehfeld“ usw. vermischt wurde. Brodmann hält die rein topologischen Bezeichnungen am unbedenklichsten, solange über die funktionelle Bedeutung der einzelnen anatomischen Areale nichts Sicheres bekannt ist und entschließt sich selbst dazu, die einzelnen nach verschiedenem Zellaufbau charakterisierten Areale mit fortlaufenden Nummern zu bezeichnen. So entstand dann jene „Hirnkarte“ der menschlichen Großhirnrinde, die auch heute noch im Prinzip gültig ist (vgl. Abb. 17). Sie zeigt in übersichtlicher Form Lage, Ausdehnung und räumliche Gestaltung der Rindenfelder und ihre gegenseitige Anordnung, vernachlässigt aber die Tiefenstruktur der Rinde und ihrer Furchen. Außerdem weist Brodmann darauf hin, dass die Abgrenzung benachbarter Areale sich nie so linear scharf vollzieht, wie dies in der Zeichnung dargestellt werden muss. Was nun die Tiefenstruktur des Schichtenbaus der Hirnrinde betrifft, findet Brodmann auch hier ein terminologisches Chaos und eine große Uneinigkeit unter den Hirnforschern vor: Der eine bezeichnet die Großhirnrinde als fünf-, der andere als sechsschichtig, während ein dritter sieben und acht oder gar neun Schichten zählt und nirgendwo in den verschiedenen Arbei-
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Abb. 17: Die zytoarchitektonische Hirnkarte von Brodmann (1906)
ten gleichnamige Schichten miteinander übereinstimmen. Auch hier bringt Brodmann Ordnung in das Chaos der Schichtenbezeichnung, indem er eine aus der Entwicklungsgeschichte und vergleichenden Anatomie abgeleitete sechsschichtige Struktur annimmt: „Ich habe Serien fötaler und neugeborener Gehirne von verschiedenen Säugetierordnungen, namentlich Karnivoren, Insektivoren, Rodentiern, Chiropteren, Ungulaten (Katze, Kaninchen, Igel, Pteropus, Schwein) untersucht und überall konnte ich, selbstverständlich mit zeitlichen Verschiedenheiten, eine mehr oder weniger der menschlichen ähnlichen Sechsschichtung des Cortex nachweisen“ (Brodmann 1906, S. 280). Dieser sechsschichtige Grundplan des Gehirns lässt sich zwar bei allen Säugetieren nachweisen, er ist aber in seiner Entwicklung bei den einzelnen Tierarten und auch beim Menschen in den verschiedenen Gebieten der Hirnrinde gewissen Variationen unterworfen. So zeigen manche Rindengebiete bereits eine deutliche Sechsschichtung, während andere noch auf einer primitiveren tektonischen Entwicklungsstufe stehen. Man hat also nach Brodmann sowohl mit einer verzögerten als auch einer beschleunigten Ent-
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wicklung einzelner Rindengebiete zu rechnen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass manche Organe eine „zusammengezogene Entwicklung“ durchmachen können, indem gewisse Durchgangsstadien geradezu übersprungen werden. Speziell vom menschlichen Stirnhirn versuchte Brodmann zu zeigen, dass hier ein solcher stark verkürzter bzw. zusammengezogener Entwicklungszusammenhang vorliegt. Nimmt man nun auch die seit Flechsigs Untersuchungen bekannten Reifungsstadien der die Nervenfasern umhüllenden Markscheiden hinzu und die bereits von Ramón y Cajal festgestellte, je nach Beanspruchung bestimmter Rindengebiete, Vermehrung oder Verminderung der Neuronen untereinander, so wird mit diesen neuen Entdeckungen immer deutlicher, dass trotz des einheitlichen Grundbauplanes des Gehirns eine sowohl artspezifische wie auch individuelle Variationsmöglichkeit von großer Dynamik und Komplexität vorliegt. Daher ist es auch verständlich, dass auf Grund dieser Einsichten in die „Zytoarchitektur“ des Gehirns die individualisierende Lokalisationstheorie wieder neue Nahrung bekam. In diese Richtung gingen auch die neurobiologischen Arbeiten von Oskar und Cécile Vogt. Während sich Brodmann noch sehr zurückhaltend gegenüber einer physiologisch-psychologischen Interpretation der durch einen bestimmten Zellaufbau charakterisierten Rindenareale verhielt, sah Vogt in der Analyse des Feinbaus der Großhirnrinde nach Zahl, Größe und Morphologie der Nervenzellen einen neuen Weg zu einer individuellen Charakteristik des menschlichen Gehirns und der damit verbundenen psychischen Eigenschaften und Funktionen. In einer programmatischen Abhandlung aus dem Jahre 1912 über die ›Bedeutung, Ziele und Wege der Hirnforschung‹ betont er die von den meisten Hirnforschern dieser Zeit vertretene Ansicht, dass die gesamte kulturelle und soziale Entwicklung des Menschen auf die Ausbildung und Funktion des Gehirns zurückzuführen ist und daher die Hirnforschung den Mittelpunkt bildet, „um den sich alle anderen Wissenschaften zu gruppieren haben“ (vgl. Hagner 1999). Allerdings reicht für dieses interdisziplinäre Programm der Hirnforschung die Anatomie nicht aus. Denn anatomische Untersuchungen können nicht am lebenden Menschen durchgeführt werden. Die Zerlegung des menschlichen Gehirns in Zehntausenden von einzelnen Schnitten, wie sie auf Einladung der sowjetischen Regierung von Oskar Vogt an Lenins Hirn vorgenommen wurde, zeigt bereits deutlich die Grenzen der Hirnanatomie, die nach Vogts Auffassung einer Unterstützung durch die „individualpsychologische Methode“ bedarf. Weniger vorsichtig als Brodmann knüpften die Vogts an ältere Vorstellungen des 19. Jahrhunderts an und führten Untersuchungen nicht nur an extrem und einseitig Be-
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gabten durch, sondern auch an Geisteskranken, Idioten und Verbrechern. In Verbindung mit einem genetischen Determinismus, der bereits durch Lombrosos „geborenen Verbrecher“ populär geworden war, geriet auch hier die Hirnforschung in die abseitigen Forderungen nach „willkürlicher Zuchtwahl“ und „Rassenhygiene“, die eine sonst „schicksalsmäßige“ Entwicklung zum Geisteskranken oder zum Verbrecher verhindern sollte. Von diesen Abwegen und politischen Vereinnahmungen der Hirnforschung sind dagegen die Untersuchungen des Wiener Neurologen und Psychiaters Constantin von Economo (1876 – 1931) freigeblieben, der nicht nur die Anzahl der von Vogt übertrieben angenommenen Rindenfelder, sondern auch dessen physiologische und psychologische Ansprüche auf ein vernünftiges Maß reduzierte. Auch er sieht zwar eine Unzahl von Problemstellungen wie „Altersunterschiede, Rassenunterschiede, Elitehirne und Talente, Defekthirne, Blindgeborene, Taubstumme und pathologische Hirne“, zu deren Lösung die Architektonik des Gehirns ganz neue Wege anbietet, aber die eigentliche Bedeutung des architektonischen Studiums der Hirnrinde besteht für ihn in der „Entdeckung der an ihrem bloßen Bau erkennbaren sensorischen und auch der effektorischen Rinde“ (Economo 1927, S. 145). Einen ersten Schritt zur Verbindung der Architektonik der Hirnrinde mit der Lokalisation von Hirnfunktionen war bereits 1890 dem schwedischen Hirnforscher Salomon Henschen (1847 – 1930) gelungen, der an den Gehirnen von sehgestörten Menschen die bei Munk noch sehr weit ausgedehnte Sehrinde auf ein kleines Feld begrenzen konnte, das durch einem schon mit bloßem Auge sichtbaren weißen Markstreifen gekennzeichnet ist und daher als „Area striata“ bezeichnet worden ist. Economo, der die sechs Markschichten mit den sechs Zellschichten der Hirnrinde in Übereinstimmung brachte (vgl. Abb. 18), konnte dann nachweisen, dass an dieser Stelle der Hirnrinde eine extreme Änderung des gewöhnlichen sechsschichtigen Baues vorhanden ist. An dieser Stelle der Area striata findet nämlich eine extreme „Verkörnerung“ des Zellbestandes statt. Das heißt, die Anzahl der Körnerzellen verdoppelt sich. Dagegen konnte Economo an einer anderen Stelle eine ganz andere extreme Änderung des gewöhnlichen Aufbaues feststellen, die durch das gänzliche Fehlen der Körnerschicht und das Auftreten von Pyramidenzellen gekennzeichnet ist. Diese Stelle einer Umwandlung der Körnerzellen in Pyramidenzellen ist genau jene Stelle der vorderen Zentralwindung, die seit Fritsch und Hitzig als die efferente motorische Rinde erkannt worden ist. Drei Jahre vor seinem Tod gab Economo in seiner Vorlesung über den „Zellaufbau der Großhirnrinde des Menschen“ der Hoffnung Ausdruck, dass die „Erkenntnis der Bedeutung ande-
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Abb. 18: Die Übereinstimmung der 6 Zellschichten und der sechs Markschichten der Großhirnrinde (aus Economo 1927)
rer Bautypen – vielleicht eines commemorativen, assoziativen usw. – nicht mehr lange auf sich warten lassen wird“ (Economo 1927, S. 145). Dass die histologische Analyse und Einteilung der Großhirnrinde in architektonische Areale nicht nur eine Bestätigung und Präzisierung der physiologischen Lokalisation zur Folge hat, sondern auch eine wesentliche Korrektur bedeuten kann, hat Brodmann selbst am Beispiel der Munkschen Sehsphäre gezeigt. Gegen diese Lokalisation konnte er nämlich anführen, dass sich die Stelle A beim Hundehirn weder beim Affen noch bei der Katze mit der histologischen Sehsphäre der Area striata deckt. Und gerade die Stelle A1, die Munk als die kortikale Projektion der Stelle des schärfsten
Lokalisation der Hirnfunktionen auf architektonischer Grundlage
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Sehens der Netzhaut des Auges erkennt, liegt fast ganz außerhalb des optischen Rindenfeldes (Brodmann 1906, S. 338).
Lokalisation der Hirnfunktionen auf architektonischer Grundlage Nachdem die Analyse des architektonischen Aufbaues der Großhirnrinde weitgehend abgeschlossen war und auch Economo davor warnte, „die Kraft auf die kleinliche Arbeit neuer Einteilungen, Unterteilungen und Umbenennungen von längst bekannten zu verlieren“, setzte sowohl von Seiten der Physiologen als auch der Pathologen ein neues Interesse für die Lokalisation der Funktionen des Großhirns ein. Vor allem boten dazu die beiden Weltkriege ein reichhaltiges klinisches Beobachtungsmaterial. An Hirnverletzten dieser beiden mörderischen Kriege konnten zunächst die von der Sehrinde, dem architektonischen Feld 17 nach Brodmann, und von der weiteren Sehsphäre (Brodmanns Felder 18 und 19) ausgehenden Störungen in verschieden geartete und verschieden lokalisierte Seh- und Erkennungs-, aber auch Denk- und Bewegungsstörungen aufgegliedert werden. So wurden Erkennungsstörungen, sog. Agnosien, für Dinge, Farben und Gesichter festgestellt, die in der oberen Hälfte der erweiterten Sehsphäre lokalisiert wurden und räumliche Agnosien, wie Ortsblindheit und Ortsgedächtnis, aufgewiesen, die in die unteren Hälfte eingeordnet wurden; eine Lokalisation, die sich auch in den architektonischen Verschiedenheiten dieser beiden Teile widerspiegelt. Außerdem wurde auch eine Lähmung der Blickbewegungen (optische Ataxie) und die bereits bekannte Störung beim Erkennen von Schriftzeichen (Alexie) in diesen Rindengebieten lokalisiert. Auch im Bereich der sensomotorischen Funktionen gab es weitere Differenzierungen. Bereits um die Jahrhundertwende (Liepmann 1900) wurde eine seltsame Form von Störungen beobachtet, die keine einfachen Störungen von Bewegungen wie Lähmungen oder Zielunsicherheit waren, sondern Störungen im geordneten Ablauf von Handlungen. So fasst z. B. ein Kranker dieser Art eine Zahnbürste wie einen Federhalter oder Bleistift an oder steckt sie wie eine Zigarre mit dem Stiel in den Mund. Sehr viele Handlungen sind aber nicht Einzelhandlungen, sondern sinnvoll geordnete Handlungsfolgen, die nach einer gedächtnismäßig gefestigten Formel unter der ständigen Mitwirkung von Bewegungs-, Tast- und Sehempfindungen ablaufen. Dass es sich hier um selbständige Vorgänge handelt, die sich in einem „besonderen Hirnorgan“, d. h. einem bestimmten architektonischen Areal der Hirnrinde abspielen, vermutete man deswegen, weil eine Störung dieser Art zwar zu einem Durcheinander der Handlungsglieder führt, aber
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keineswegs die Einzelhandlungen selbst zu beeinträchtigen braucht. So ergreift ein Kranker, der sich eine Zigarre anzünden will, zwar richtig ein Zündholz, steckt es aber statt der Zigarre in den Mund und reibt dann die Zigarre an der Zündholzschachtel und so fort (Pick 1905). Da das Handeln, wie die Sprache ein „Doppelwesen aus aufnehmenden und ausführenden Leistungen“ (Kleist 1959) ist, lässt sich auch eine sensorische und motorische Apraxie unterscheiden und an unterschiedlichen Stellen der Hirnrinde lokalisieren. Eigentlich hatte Broca mit der motorischen Aphasie zugleich schon die motorische Apraxie entdeckt. Denn die Unfähigkeit, Sprachlaute hervorzubringen, ist nichts anderes als die Störung einer Handlungsabfolge von einzelnen Bewegungen der Lippen, der Wangen, der Zunge, des Gaumens und Rachens, der Stimmbänder und des Zwerchfells. Die motorische Sprachstörung oder Aphasie Brocas geht jedoch über diese motorische Apraxie oder Störung der Lautgebung hinaus und stellt auch eine Störung der Wortbildung dar.
Der sensomotorische „Homunculus“: Penfield und Rasmussen Dass Lautbildung und Wortbildung auch getrennt gestört sein können und auch von verschiedenen Hirnstellen ausgehen, zeigten neue elektrische Reizversuche von Wilder Penfield und Th. Rasmussen (The Cerebral Cortex of Man, New York 1950). Diese Reizversuche entstanden ebenfalls aus dem klinischen Bereich und zwar bei Operationen an Epileptikern. Vor solchen Operationen wurden die kritischen Hirnrindenbereiche mit Hilfe von Reizelektroden untersucht. Da bei diesen Operationen am schmerzunempfindlichen freigelegten Hirn keine Vollnarkose nötig war, konnten die Patienten selbst über ihre Eindrücke und Empfindungen während der Operation Auskunft geben. Außer diesen Reizversuchen kam es aber auch zu Abtragungen jener Hirnteile, die für die heftigen Krampfanfälle verantwortlich waren, sodass auf diese Weise eine vollständige Parallele zu den klassischen Reiz- und Hirnabtragungsversuchen entstand, wie sie von den Physiologen zur Lokalisation der Hirnfunktionen an Tieren durchgeführt wurden. Aus den durch diese Eingriffe entstandenen Ausfallserscheinungen konnten dann ebenfalls konkrete Aussagen über die Leistungen der betroffenen Hirnabschnitte, aber diesmal direkt am Menschenhirn, gewonnen werden. Auf diese Weise konnten Penfield und Rasmussen sowohl für das sensorische als auch motorische Feld der Großhirnrinde ein Körperschema konstruieren, das die einzelnen Körperteile in ihrer Zuordnung zu bestimmten
Der sensomotorische „Homunculus“
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Abb. 19: Der „Homunculus“ von Penfield und Rasmussen (1950): Repräsentation des Körpers auf der somatosensorischen Region der Großhirnrinde
Rindenfeldern darstellt. Das Ergebnis ist jener „Homunculus“ der ein verzerrtes Bild des menschlichen Körpers wiedergibt, wie er auf den einzelnen Feldern der Hirnrinde im sensomotorischen Bereich projiziert ist (Abb. 19). Die Verzerrungen der Größenverhältnisse der einzelnen Teile kommen dadurch zustande, dass die Größe des Rindenfeldes, das einem Körperteil zugeordnet ist, nicht der Größe dieses Körperteils entspricht, sondern der Präzision, mit der er gesteuert werden muss.
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Abb. 20: Lokalisation der Funktionen an der Großhirnrinde auf architektonischer Grundlage (aus Kleist 1959)
Die übertriebene Lokalisation: K. Kleist Aus all diesen Einsichten und Entdeckungen spezieller an bestimmten Arealen des Großhirns gebundenen Funktionen und aus eigenen an den Hirnverletzten beider Weltkriege gewonnenen Erkenntnissen über bestimmte Formen von Störungen der Handlungsfolgen (konstruktive Apraxie) und Sonderformen der Sprachstörungen wie Verkürzungen und Vergröberung oder Verwirrungen von Sätzen (Agrammatismus und Paragrammatismus) konstruierte der Frankfurter Neurologe Karl Kleist (1879 – 1960), der als Kliniker in der Tradition seines Lehrers Wernicke stand, eine bis in die kleinsten Details ausgearbeitete Hirnkarte der lokalisierten Funktionen auf architektonischer Grundlage (Abb. 20). Diese Funktionskarte ist in vielen Grundzügen zwar noch heute gültig, aber hinsichtlich einiger Details und vor allem auch hinsichtlich der genau umschriebenen Lokalisation komplexer Funktionen übertrieben. In ihr ist die von allen Vertretern der strikten Lokalisationstheorie angenommene
Die übertriebene Lokalisation: K. Kleist
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Hypothese, dass die Struktur des menschlichen Geistes sowie der menschlichen individuellen Persönlichkeit in der Anatomie des Gehirns niedergelegt sei, am konsequentesten durchgeführt worden. So sucht Kleist nicht nur die einfachen und zusammengesetzen Funktionen in allen Einzelheiten zu lokalisieren, sondern auch die höheren komplexen psychischen Funktionen und Leistungen in bestimmten architektonischen Feldern unterzubringen, wie z. B. „optische Gedanken“, „Sinnverständnis für Geräusche und Musik“, „tätige Gedanken“ und schließlich auch verschiedene „Ich“, wie das „Körper-Ich“, dem Gefühle und Triebe, Regungen und Strebungen nahe stehen, und das „Selbst- und Gemeinschafts-Ich“, das aus „Gesinnungen und Wollungen“ aufgebaut ist und den Charakter eines Menschen ausmacht, der im Verein mit den von außen kommenden Erfahrungen und den ihnen begegnenden Begabungen die „Persönlichkeit“ bilden soll (Kleist 1934). Wie ein Geograph, der auf Grund seiner Entdeckungen die weißen Felder auf seiner Landkarte auszufüllen versucht, fragt auch Kleist nach dem Ort dieser höheren integrativen seelischen Erscheinungen: „Wo ist denn noch Platz, wo sind noch stumme Regionen, weiße Felder auf der Hirnkarte ?“ Und er findet diese weißen Felder schließlich nur mehr an zwei „versteckten Stellen“: in der an der Innenseite der Hemisphäre den Balken umziehenden Windung und in der zwischen dem Stirn- und Scheitellappen liegenden sog. „Insel“. Bestätigt sieht Kleist sich in der Lokalisation durch eine klinische Beobachtung von Ferdinand Hoff, der bei einer Kranken mit einem Balkentumor, der die besagte Windung durchwachsen hatte, eine eigentümliche Störung feststellte: „Die Kranke hielt sich zu einer Zeit, in der sie sich noch in ganz guter körperlicher Verfassung befand, für tot, für verfault, für ein Nichts und verlangte fortgeschafft zu werden“ (Kleist 1959, S. 403). An diesem Punkt einer extrem übertriebenen Lokalisation von Leistungen und Funktionen höherer Integrationsstufen setzte auch die Kritik an der „klassischen Lokalisationstheorie“ ein. Die Tatsache, dass gewisse Funktionen in der Großhirnrinde lokalisiert werden können, war zwar nach den vielen Fallstudien an Kriegsverletzten nicht zu leugnen. Waren es in früheren Zeiten vor allem Säbelhiebe und Stichverletzungen am Kopf, die ein reichhaltiges Beobachtungsmaterial lieferten, so waren es im 20. Jahrhundert Kopfschüsse und Granatsplitterverletzungen, die zu einer mehr oder weniger genauen Lokalisierung der verletzten Hirnstelle und der damit verbundenen Störungen oder Ausfallserscheinungen führten. Aber nur selten hielten sich diese Verletzungen an die Einteilung der zytoarchitektonischen Felder. Meist drangen mehrere Gra-
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natsplitter durch den Kopf und auch bei Kopfschüssen gab die Verbindungslinie zwischen Einschussöffnung am Schädel und dem Geschoss nicht immer den genauen Weg der Verletzung an. Solche Geschosse konnten im Innern des Schädels abprallen und einen neuen Weg einschlagen. Auch die von den Vertretern der Lokalisationstheorie angeführten Beispiele von Gehirntumoren lassen eine strenge Zuordnung zu bestimmten „Feldern“ nicht zu, weil sie entweder durch Druck oder Zerstörung der Faserverbindungen Störungen hervorrufen, die nicht lokalisierbar sind. Trotz dieser Einwände und der Seltenheit von isolierten Störungen an genau und eng umgrenzten lokalisierten Hirnfeldern, lässt sich doch statistisch eine Häufung bestimmter Symptome bei Verletzungen und Zerstörungen an bestimmten Mark- und Rindengebieten angeben. Am eindeutigsten für eine funktionale Gliederung der Hirnrindengebiete sprechen jedoch die an einer Stelle des Gehirns beginnenden epileptischen Anfälle, die sich dann weiter ausbreiten: Rhythmische Zuckungen beginnen in einem Mundwinkel, ergreifen das Gesicht, die drei ersten Finger der gleichseitigen Hand, dann die ganze Hand, schließlich den Arm. Die epileptische Erregung schreitet also stufenweise fort und enthüllt dadurch eine funktionelle Gliederung der Großhirnrinde. Das gilt auch für die Sprachfunktion: Ein rechtshändiger Mensch kann nicht sprechen, wenn der Krampf in der rechten Gesichtshälfte beginnt. Er leidet zumindest kurzfristig während des epileptischen Anfalls, der die linke Gehirnhälfte betrifft, welche die Motorik der rechten Körperhälfte kontrolliert, an einer motorischen Aphasie. Auf Grund all dieser Beobachtungen und Erfahrungen kann zwar die Funktionskarte von Kleist auch heute noch in ihren Grundzügen als gültig angesehen werden, sie wurde jedoch wegen ihrer zahlreichen Details und vor allem auch hinsichtlich der genau umschriebenen Lokalisation komplexer Funktionen sehr bald als übertrieben erkannt. Auch nach Creutzfeld ist in dieser Hirnkarte die Hypothese, dass die Struktur des menschlichen Geistes sowie der menschlichen Persönlichkeit in der Anatomie des Nervensystems niedergelegt sei, konsequent durchgeführt worden; gleichzeitig zeigt sie, dass die Annahme eines komplexen Isomorphismus von Geist, Persönlichkeit und Gehirnstrukturen zwar hinsichtlich einfacher Funktionszusammenhänge möglich ist, sich in voller Konsequenz allerdings rasch ad absurdum führt (1986, S. 30). Eine feldförmige, wenn auch nicht genau abgegrenzte Lokalisation für die sog. primären Rindenfelder, die an die Stelle der alten eng umschriebenen Zentren der klassischen Lokalisationstheorie getreten sind, lässt sich jedenfalls auch heute noch aufrecht erhalten. Je weiter jedoch ein Rinden-
Der Holismus und die Rückkehr der Äquipotenztheorie
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bereich von diesen Primärgebieten entfernt ist, desto mehr stößt die Lokalisationsforschung auf Schwierigkeiten. Dies gilt umso mehr für die höheren integrativen Leistungen.
Ganzheit und Teilbarkeit des Gehirns. Der Holismus und die Rückkehr der Äquipotenztheorie: Head, Goldstein und Lashley Auch innerhalb der klassischen Lokalisationstheorie wurde von Anfang an die vollständige Isolation höherer kognitiver Funktionen bezweifelt. So musste bereits der Urheber der Theorie der eng umschriebenen Zentren Hitzig im Jahre 1874 feststellen: „Es ist nicht anzunehmen, daß es in allen Fällen gelingt, das Sprachvermögen aus den psychischen Funktionen in der Weise zu eliminieren, wie wir einen Mauerstein aus einer Wand entfernen können“ (vgl. Linke, 1981, S. 81). Dass sich die höheren kognitiven Funktionen überhaupt lokalisieren lassen, hat schon am Beginn des 20. Jahrhundert Jacques Loeb (1859 – 1924), der ursprünglich als Assistent bei Goltz in Straßburg tätig war, in Frage gestellt: „Bei den Assoziationsprozessen sind die beiden Großhirnhemisphären als Ganzes tätig, und nicht als ein Mosaik einer Anzahl von unabhängigen Teilen“ (Loeb 1902, S. 262). Eine ähnliche Argumentation lieferte der bereits erwähnte Züricher Neurologe Constantin von Monakow (1853 – 1930), der die Lokalisation des assoziativen Gedächtnisses an einem bestimmten Areal der Großhirnrinde ablehnte. Der britische Neurologe Henry Head sah zwar die Großhirnrinde als ein Mosaik an, das aus mehreren Zentren zusammengesetzt ist, aber er wehrte sich gegen die Ansicht, dass das verletzte Gehirn nichts anderes ist als das alte System minus dem bestimmten beschädigten Teil. Für ihn ist das verletzte Gehirn vielmehr ein neues System, das unter neuen ganzheitlichen Bedingungen tätig ist (Head 1920, S. 498) und er verspottete die WernickeSchüler als „diagram makers“, die aus Punkt und Strichzeichnungen (Zentrum und Assoziationsbahnen) die funktionelle Architektur des Gehirns rekonstruieren wollten. Von der deutschen Gestaltpsychologie beeinflusst, aber neurologisch orientiert waren die ganzheitlichen gestaltneurologischen Vorstellungen von Kurt Goldstein, der jedoch kein strikter Gegner der Lokalisationstheorie war, sondern eher einen „Lokalisationismus mit ganzheitlicher Einbettung“ vertrat. Er war der Ansicht, dass eine umschriebene Hirnläsion Veränderungen im gesamten Organismus hervorruft, dass es aber nicht bedeutungslos ist, an welcher Stelle des Gehirns die Verletzung liegt (vgl. Linke 1981, S. 82).
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Am einflussreichsten von all diesen Vertretern einer ganzheitlichen Auffassung von den Funktionen des Gehirns und der schärfste Kritiker der klassischen statisch-strukturellen Lokalisationstheorie war jedoch Karl Lashley (1890 – 1958), der als Psychologieprofessor an der Harvard University die experimentellen Untersuchungen von Flourens fortführte. Die „ideale“ architektonische Karte hielt er für „fast wertlos“ und die Unterteilung in Areale nicht nur für anatomisch bedeutungslos, sondern, was die funktionelle Unterteilung der Großhirnrinde anbelangt, für „irreführend“ (Lashley u. Clark 1946, S. 298). Obwohl er wie alle Gegner der extremen Lokalisationstheorie eine Lokalisation der einfachen sensorischen und motorischen Funktionen nicht ablehnen konnte, richtete sich seine Kritik gegen die standardisierten Karten, die individuelle Unterschiede, die sich bereits bei den Gehirnen innerhalb einer biologischen Art ergeben, völlig ignorieren. Diese Unterschiede sind aber viel zu groß, als dass man von ihnen abstrahieren könnte. Eine genaue Abgrenzung selbst der einfachen primären sensorischen und motorischen Areale, wie sie die zytoarchitektonischen Karten nahe legten, hielt Lashley schon aus physiologischen Gründen für unmöglich. Die Erregungszustände in den sensorischen Arealen lassen zwar eine gewisse Zentrierung erkennen, verteilen sich aber dann sehr schnell über weite Rindengebiete. Noch mehr gilt das für die komplexeren höheren Funktionen wie Lernen und Gedächtnis oder andere assoziative Prozesse. Sie sind für Lashley eine Funktion der dynamischen Organisation des ganzen ungeteilten Gehirns. In diesem Zusammenhang führt er auch wieder das Prinzip der funktionalen Gleichwertigkeit oder „Äquipotentialität“ der Großhirnrinde ein. Im Unterschied zu Flourens ist für ihn diese Gleichwertigkeit nicht absolut, sondern bezieht sich nur auf die Assoziationsareale und auf Funktionen, die komplexer sind als die einfachen sensomotorischen Koordinationen. Diese Äquipotentialität jener Areale, die für eine Komponenten nicht mehr spezialisiert sind als für eine andere, kommt durch das „Gesetz der Massenaktion“ zustande, nach dem sich Wirkung und Leistung einer ganzheitlichen Funktion je nach der Ausdehnung der Hirnverletzung reduziert (Lashley 1963, S. 24). Gewonnen und unterstützt wurden diese theoretischen Überlegungen durch Experimente, mit denen Lashley die Lern- und Gedächtnisleistungen vor und nach der Abtragung und Zerstörung von Hirnteilen untersuchte. Zu diesem Zweck ließ er unter anderem Ratten durch ein Labyrinth laufen, die nach Futter suchen sollten. Diese Versuche zeigten, dass Gedächtnisleistungen und Lernprozesse weniger vom Ort der Hirnverletzung als vom Ausmaß des zerstörten Gewebes abhängen. Damit schien bestätigt zu sein,
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dass verschiedene Rindenbereiche gleichermaßen für das Lernen geeignet seien und sich wechselseitig vertreten können. Gegen diese Art der Bestätigung der Äquipotentialitätsthese wurde jedoch der Einwand erhoben, dass die Futtersuche im Labyrinth über verschiedene Sinneskanäle gelöst werden kann. Denn die Ratten können sich durch Sehen, Riechen und durch das Gehör orientieren, sodass nach Zerstörung einer Hirnregion eine andere noch ausreichend ist, um die Aufgabe zu bewältigen. Das aber widerlegt noch nicht die Lokalisierung des Gedächtnisses, sondern weist vielmehr darauf hin, dass es nicht nur ein einziges Gedächtniszentrum gibt, sondern mehrere. Wobei es nicht nur auf den anatomischen Ort, sondern auch auf die Art und Weise wie die unterschiedlichen Gedächtnisinhalte repräsentiert werden, ankommt. Die Frage war daher nicht, ob überhaupt Funktionen lokalisierbar sind, sondern vielmehr „wie“ und „in welchem Umfang“ kann „was“ lokalisiert werden. Das gilt auch für die sog. Hemisphärenspezialisation.
Linkes Hirn und rechtes Hirn: Die funktionale Asymmetrie der Großhirnhemisphären Vor der Entdeckung der Sprachzentren in der linken Hemisphäre des Großhirns war man davon überzeugt, dass die beiden Hirnhälften nicht nur von der Struktur, sondern auch von der Funktion her gesehen völlig identisch sind. Der radikalste Vertreter dieser Ansicht war François Xavier Bichat (1771 – 1802), der von einer völligen Symmetrie der beiden Hirnhälften ausging und Krankheiten als eine Störung dieser Symmetrie betrachtete. Er ging sogar so weit, dass er behauptete, dass ein zweiseitiger Hirnschaden besser sei als ein einseitiger und empfahl sogar bei einseitiger Hirnverletzung einen Schlag auf die gesunde Seite des Kopfes als therapeutisches Mittel (Bichat 1805, S. 32). Diese Ansichten von der strukturellen Identität und funktionalen Gleichwertigkeit der beiden Gehirnhälften war jedoch mit der Erkenntnis, dass eine Schädigung der linken Gehirnhälfte zum Verlust der Sprache führt, widerlegt. Der Erste, der daraus die allgemeine Folgerung der sog. „Hemisphärendominanz“ zog, die einer der beiden Gehirnhälften die Führungsrolle zusprach, war John Hughlings Jackson (1835 – 1911), der bereits im Jahre 1868 folgende These aufstellte: „Die beiden Gehirnhälften können nicht nur bloß Duplikate sein, wenn die Schädigung nur einer der beiden einen Menschen sprachlos werden läßt. Für diese sprachlichen Prozesse, von denen keine höheren existieren, muß es gewiß eine Seite geben, die führt“ (vgl.
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Springer und Deutsch, 1998, S. 11). Seiner Meinung nach ist bei den meisten Menschen die linke Seite des Gehirns die führende Seite, die auch die „Seite des sog. Willens“ ist und die rechte die automatische. Er war aber nicht der Meinung, dass die linke Gehirnhälfte allein eine absolute Führungsrolle besitzt und kehrte später sogar dieses Verhältnis um, indem er die rechten Gehirnhälfte als die führende Seite und die linke als die automatische bezeichnete, weil er an Untersuchungen seiner Patienten zu erkennen glaubte, dass der rechte Hinterhauptlappen der Sitz der visuellen Vorstellung sowie des bildlichen Denkens sei (vgl. ebd.). Hughlings Jackson war jedoch mit seinen Ansichten über die Hemisphärenspezialisation seiner Zeit weit voraus. Von den Vertretern der sich erneut durchsetzenden Äquipotentialtheorie wurde sie überhaupt ignoriert und geriet auch bei den Lokalisationisten, die sich in dem Entwerfen ihrer Hirnkarten ausschließlich auf die linke Hemisphäre konzentrierten, in Vergessenheit. Man bildete nur die sog. dominante Hemisphäre ab, weil es auf der nichtdominanten Hemisphäre „leere“ Stellen oder „stumme“ Hirnregionen gab – besonders an jenen Stellen, die bei der linken Hemisphäre die Sprachzentren darstellen, d. h. vor allem am rechten Schläfenlappen. Da Hughlings Jackson seine Einsicht über die funktionale Asymmetrie der beiden Hirnhälften vor allem durch die Beobachtung epileptischer Anfälle gewonnen hatte, lag es nahe, epileptische Reaktionen als Folge von Schläfenlappenerkrankungen auszunutzen, um etwas über diese „stumme“ Region zu erfahren. Werden bei einem Rechtshänder die hinteren Gebiete des linken Schläfenlappens vor einem solchen epileptischen Prozess befallen, dann treten Sprachstörungen sensorisch-auditiver Art auf. Eine gleichlokalisierte Störung der rechten Schläfenlappen ruft solche Symptome nicht hervor, vielmehr ergeben sich allgemeine Persönlichkeitsveränderungen wie Zähflüssigkeit der Gedanken, Pedanterie und Fehleinschätzungen der eigenen intellektuellen Leistungsfähigkeit. Außerdem geht die epileptische Erregung im linken Schläfenlappen nur selten in einen „großen“ generalisierten epileptischen Anfall über. Bei Prozessen im rechten Schläfenlappen ist die Generalisierungstendenz dagegen viel größer. Aber erst klinische Beobachtungen an Epileptikern, denen man jene Hirnbereiche entfernte, in denen die anomale elektrische Aktivität beginnt, vor allem jene Operationen, die das Übergreifen des epileptischen Anfalls auf die andere Hemisphäre verhindern sollten, brachten die entscheidenden Entdeckungen über die Hemisphärenspezialisation. Bereits sehr früh hatte man beobachtet, dass manche Epileptiker nach einer Schädigung des Balkens (Corpus callosum), der die eine Gehirnhälfte mit der anderen verbindet, weniger Anfälle erlitten (vgl. Bogen 1995). Daraus ergab sich eine
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neuartige Behandlung von Epilepsieformen, die auf andere Weise nicht zu beherrschen waren: die sog. Split-Brain-Operation oder Kommissurotomie, bei der einige der Nervenfaserbündel, die die beiden Hirnhälften verbinden, vor allem der Balken, durchtrennt wurden. Versuche dieser Art wurden zuerst bei Katzen und Affen durchgeführt, welche ergaben, dass die Ausbreitung epileptischer Anfälle weitgehend oder ausschließlich über das größte Nervenfaserbündel, das die beiden Hirnhälften verbindet, also den Balken, erfolgt. Da sich nach diesen Operationen keine deutlich wahrnehmbaren Verhaltensänderungen oder Funktionsstörungen ergaben, ging man dazu über, diese Operationstechnik auch auf den Menschen anzuwenden. Bei einer Reihe von Patienten mit hartnäckigen epileptischen Anfällen wurde eine vollständige Balkentrennung durchgeführt, die zu einer deutlichen Reduktion der Krampfanfälle führte. Durch diese Operation schien zunächst weder die Persönlichkeit, noch die Intelligenz, noch das allgemeine Verhalten der Patienten beeinträchtigt zu sein. Erst umfassende und raffiniert ausgedachte Tests, bei denen man immer nur der einen Hirnhälfte Reize anbot und Aufgaben stellte, enthüllten den wahren und sehr komplexen Sachverhalt. Roger Sperry, der für diese Entdeckungen 1981 den Nobelpreis erhalten hat, weil er „einen Einblick in die inneren Zusammenhänge des Gehirns gewährt hat, die bis dahin fast völlig im dunkeln gelegen hatten“, schildert die Resultate dieser SplitBrain-Experimente auf folgende Weise: „Man hat herausgefunden, daß die linke und die rechte Hirnhälfte beide ihre ganz spezielle Form von Intellekt besitzen. Die linke ist verbal und mathematisch äußerst begabt und arbeitet mit einer analytisch-symbolischen, computerähnlichen, sequentiellen Logik. Die rechte dagegen ist raumorientiert, stumm und arbeitet mit einer synthetischen, auf Raumwahrnehmung ausgerichteten, mechanischen Art von Informationsverarbeitung, die man noch nicht auf Computern simulieren kann. Bei Patienten mit chirurgisch getrennten Hirnhälften ist es sehr eindrucksvoll und überwältigend zu beobachten, wie dieselbe Person (manche behaupten, es seien zwei Personen in einer) dasselbe Problem angeht, durcharbeitet und auf ausnahmslos verschiedenen Wegen mit völlig verschiedenen Strategien zu einer Lösung kommt, je nachdem, welche Hirnhälfte der Patient benutzt“ (Sperry 1985, S. 78 f.). Während man jedoch früher jahrzehntelang vermutet hatte, dass sich das menschliche Gehirn durch eine stark einseitige geistige Dominanz auf der linken Seite auszeichnet, stellt Sperry bei den Tests, die er an seinen operierten Patienten vornahm, zu seinem eigenen Erstaunen fest, dass die rechte Hirnhälfte unter diesen Bedingungen keineswegs „worttaub“ oder „wortblind“ war. Die Split-brain-Patienten konnten mit ihrer abgetrennten rech-
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ten Hirnhälfte, die man bisher als die „untergeordnete“ ansah, sehr gut gedruckte Wörter lesen, die allein dem mit der rechten Hirnhälfte verbundenen linken Gesichtsfeld in Form von Blitzreizen dargeboten wurden. Obwohl diese Patienten diese dargebotenen Wörter nicht aussprechen konnten, konnte man erkennen, dass sie diese Wörter gelesen und verstanden hatten, weil sie die entsprechenden Gegenstände, die mit diesen Wörtern benannt wurden, unter einem abgedeckten Fach mit der Hand heraussuchen konnten. Bei weiteren Tests, die sich auf ganzheitlich räumliche Vorstellungen bezogen, erwies sich sogar die bisher sog. „subdominante“ oder „untergeordnete“ Hemisphäre als der kognitiv überlegenere Teil. Die Versuchspersonen mussten zum Beispiel Gesichter erkennen, Zeichnungen kopieren, Figuren in vorgegebene Formen einfügen, taktil und visuell wahrgenommene Gegenstände unterscheiden und wieder erkennen usw. Alles, was über Jahre hinweg bei diesen Tests beobachtet worden ist, erhärtete für Sperry den Schluss, „daß das innere, bewußte Erleben der abgetrennten stummen Hirnhälfte auf genau derselben Stufe steht, wie das der Sprachhemisphäre, obwohl es sich in seiner Eigenart natürlich davon unterscheidet. Die rechte Hemisphäre kann offensichtlich wahrnehmen, denken, lernen und sich erinnern, und alles auf einem sehr menschlichen Niveau. Sie kann auch nichtverbal folgern, wohl überlegte Entscheidungen treffen und unerwartete, willkürliche Handlungen und komplizierte, erlernte Bewegungen ausführen“ (Sperry 1985, S. 82). Aus diesen experimentell gewonnenen Einsichten ergibt sich ein gründlich revidiertes und aufgewertetes Bild der rechten Hemisphäre und ihrer Funktionsmöglichkeiten. An die Stelle der klassischen neurologischen Doktrin von der einseitigen Dominanz mit einer über- und untergeordneten Hemisphäre ist die Vorstellung von einer beidseitigen komplementären Spezialisierung getreten. Diese Vorstellung stimmt auch mit jenem neuen dynamischen Erklärungsansatz überein, der auf Grundlage der Neuronentheorie möglich wurde.
Die verteilten Hirnfunktionen: Neuronale Netze Dass die Neuronentheorie die Grundlage zu einer neuen „physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen“ bildet, war von Beginn ihrer Entstehung an behauptet worden. Der erste Entwurf zu einem solchen Versuch stammt von dem Wiener Physiologen Siegmund Exner (1846 – 1926), der unter diesem Titel die Ideen Ramón y Cajals direkt aufgreifend bereits im Jahre 1894 Schemata neuronaler Schaltungen entwarf, die den
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modernen Konzepten der sog. „neuronalen Netze“ erstaunlich ähnlich sind. Auf Grundlage der neuroanatomischen Schichtung des Nervengewebes versucht Exner alle Erscheinungen der Qualitäten und Quantitäten von bewussten Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen auf quantitativ veränderbare Koppelung von Neuronen durch verschiedene Nervenbahnen zurückzuführen, wobei er aber noch nicht an elektrische Verschaltungen dachte, sondern noch an dem alten Konzept der spezifischen Sinnesenergien festhielt. Dieser frühe Entwurf einer formalen Darstellung eines neuronalen Netzwerkes wurde aber kaum beachtet. Größeren Einfluss hatte jedoch das Konzept von der „Mechanik des Geisteslebens“, das einer der ersten Anhänger der Neuronentheorie in Deutschland, Max Verworn, entwarf. Auch er folgte den Grundideen Ramón y Cajals und verband damit auch die Vorstellung von einer dynamischen Lokalisationstheorie. Ausgehend von der im Rahmen dieser Theorie vertretenen Ansicht, dass der aus der Nervenzelle hervorgehende Nervenfaden eine Erregung fortpflanzt, stellt er sich die Frage, auf welchen Bahnen und Stationen diese Erregungsimpulse bei den verschiedenen Bewusstseinsvorgängen ablaufen. Als Stoffwechselphysiologe hatte Verworn bereits eine differenzierte Vorstellung von der von den Nervenzellenfäden übertragenen Erregung, die auch ihr Gegenteil, die Hemmung, mit einschließt. Er knüpfte in dieser Hinsicht an eine Unterscheidung des als Nachfolger von Purkinje in Prag lehrenden Physiologen Ewald Hering an, der die aus der Pflanzenphysiologie bekannten Begriffe der Assimilation und Dissimilation, die den energiespeichernden Aufbau und den energiefreisetzenden Abbau einer Pflanze charakterisieren, bereits zur Erklärung der Erregungs- und Hemmungsvorgänge der Nervenzellen in der Netzhaut des Auges verwendet hatte. Damit ist Verworn bereits jenem komplizierten chemo-elektrischen Mechanismus von Erregung und Hemmung näher gekommen, als es selbst der Begründer der Synapsentheorie Sherrington vermochte, der noch um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von den miteinander kommunizierenden Nervenzellen sagen musste: „Eine Zeitlang meinte man, sie könnten sich loslassen und dann wieder berühren, je nach Bedarf sich verbinden und trennen. Diese Ansicht entstand, als die alte anatomische Vorstellung von den festen Gehirnbahnen erschüttert wurde durch den Begriff der Synapse, einem Zellkontakt, der einen vorübergehenden Wechsel ermöglicht. Das Loslassen, die zeitweise Zurückziehung des Kontaktes sollte den Wechsel von Leitung zu Blockierung an der Synapse erklären. Aber die Zurückziehung wurde nie beobachtet“ (Sherrington 1953, S. 289). Beide Vorstellungen von der Tätigkeitsweise des Nervensystems, die che-
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mische von Verworn und die elektrische, wurden in der weiteren Entwicklung der Neurophysiologie bestätigt. 1902 formulierte Bernstein die sog. Membrantheorie, welche dann die Grundlage der Ionentheorie der Erregung von Hodgkin und Huxley bildete. Der Grundgedanke dieser Theorie ist, dass der Erregungszustand einer Zelle an einen Ungleichgewichtszustand gebunden ist, der wiederum Folge eines Pumpmechanismus ist, bei dem Kaliumionen in das Neuron, Natriumionen aus dem Neuron gefördert werden, wobei die Durchlässigkeit der Zellmembrane sich mit dem Erregungszustand ändert. Als Beispiel für seine Ansicht von der Übertragung der Nervenerregung wählte Verworn wie viele Hirnforscher vor ihm den Sehvorgang und konstruiert ein einfaches Schema der seriellen Erregungsübertragung zwischen Neuronen verschiedener Bereiche des Nervensystems: Der Vorgang beginnt in den Nervenzellen des Auges. Von dort aus wird die dissimilatorische Erregung zu gewissen Nervenzellen des Zwischenhirns fortgepflanzt und weiter zu denen der Sehsphäre im Hinterhauptslappen der Großhirnrinde geleitet. Die Gesichtsempfindung ist dann nichts anders als die Endsumme dieser Vorgänge, die in den Neuronen der Sehsphäre die entsprechende Erregung hervorgerufen haben. Schwindet der Lichtreiz, der diese Erregung hervorgerufen hat, entweder dadurch dass wir die Augen schließen oder dass sich der Gegenstand aus dem Gesichtsfeld entfernt, dann verschwindet auch der Gesichtseindruck. Gewöhnlich ist aber dieser momentane Gesichtseindruck als einfache vorübergehende Empfindung mit einer entsprechenden Vorstellung verknüpft, die ein „anderer Typus geistiger Vorgänge“ ist. Verworn definiert die Vorstellungen als „Erinnerungsbilder“ von Empfindungen: „Sie unterscheiden sich von den Empfindungen nur dadurch, daß es, nachdem sie einmal durch eine Sinnesempfindung hervorgerufen worden sind, später zu ihrer Auslösung des spezifischen Sinnesreizes und Sinnesorgans nicht mehr bedarf, während die Empfindung immer nur erzeugt wird durch einen Reiz, der auf das Sinnesorgan einwirkt“ (a. a. O., S. 57). Die Frage ist nun, ob das Zustandekommen einer Vorstellung an dieselben Bereiche der Großhirnrinde gebunden ist, die zur Entstehung der Empfindung nötig sind, in diesem Fall an die Sehsphäre, oder ob andere Rindengebiete in Betracht kommen. Zunächst ist es nahe liegend, dass Vorstellungen an dieselben Teile der Großhirnrinde gebunden sind wie die Empfindungen. Denn der Reiz, der die Erregungsvorgänge in den Zellen der Sehsphäre hervorgerufen hat, könnte in diesen Zellen eine Nachwirkung hinterlassen haben. Die Erfahrungen der Psychiater, vor allem von Flechsig, deuten aber darauf hin, dass das Gebiet der Vorstellungen vom
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Gebiet der Empfindungen getrennt ist, dass also die Erregung der Sehsphäre in die Assoziationszentren weitergeleitet wird. Verworn beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf Munks Begriff der Seelenblindheit, die dann eintritt, wenn die Nervenfaserbahnen zwischen der Sehsphäre und dem Assoziationsgebiet zerstört sind. Die Assoziationszentren sind daher für Verworn „Vorstellungszentren im weitesten Sinn“, in denen auch die Vorgänge der logischen Verbindung dieser Vorstellungen zu geordnetem Denken stattfinden. Alle diese geistigen Vorgänge wie Vorstellungen, Erinnerungen, Denken, aber auch Affekte, Gefühle und Stimmungen sind durch Erregungsvorgänge in den Elementen der Großhirnrinde bedingt, die verstärkt und abgeschwächt werden können. Die Verstärkung erfolgt nach Verworn, genau wie es sich auch Ramón y Cajal vorgestellt hatte, durch wiederholte funktionelle Beanspruchung, die auch anatomisch zu einer Vermehrung der Masse der einzelnen Zelle und der Zellfortsätze und dadurch zu einer Verbesserung der Leistung führt. Denn eine stärker entwickelte Zelle wird auch einen stärkeren nervösen Impuls produzieren, ihn auf die ebenfalls verstärkten Nervenbahnen weiterschicken und in anderen Nervenzellen eine stärkere Erregung hervorrufen usw. Während eine schwächer entwickelte Nervenzelle einen schwächeren Impuls entsendet, der schon bei der nächsten Station erlöschen kann. Dass diese Ansicht vom Ablauf der Sehwahrnehmung nicht nur eine theoretische Spekulation ist, sondern auch experimentell bestätigt werden kann, zeigt Verworn durch folgendes Beispiel: Bei neugeborenen Hunden desselben Wurfes wurden der Hälfte der Tiere die Augen zugenäht, während die andere Hälfte mit offenen Augen herumlaufen konnten. Nach Ablauf mehrerer Monate wurden die Tiere getötet und ihre Gehirne mikroskopisch untersucht. Bei den Tieren, die keine Gesichtseindrücke hatten, waren die Neuronen in ihrem embryonalen Zustand geblieben, während die gleichen Neuronen bei den Tieren, die mit offenen Augen herumgelaufen waren, völlig ausgereift waren. Dasselbe Prinzip der Verstärkung oder Abschwächung der einzelnen Neurone und Neuronenverbindungen durch Gebrauch und Nichtgebrauch beherrscht auch nach Verworn die Bildung abstrakter Vorstellungen und Begriffe. Dem entspricht physiologisch die stärkere Entwicklung derjenigen Neurone, welche die gemeinsamen und immer wiederkehrenden Merkmale vermitteln, während die anderen Neurone, die für die unterschiedlichen individuellen Merkmale verantwortlich sind, zurückgebildet werden oder ganz wegfallen. Aber weder beim einfachen Sehvorgang und noch weniger beim Vorstellen und abstrakten Denken ist nur eine einzelne Kette
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von Neuronen beteiligt, sonder sehr viele. Diese Ketten bilden ein kompliziertes Netz, von dem Verworn schließlich sagen kann: „Wie auf einer Zündschnur der Funke, so läuft die dissimilatorische (energiefreisetzende) Erregung auf dem fein geordneten Netz von Bahnen und Stationen dahin, an der einen Station wiederum eine Erregung, an der anderen eine Hemmung erzeugend. So entsteht das subtile und höchst verwickelte Getriebe unseres Empfindens und Vorstellens, unseres Denkens und Überlegens, unseres Handelns und Fühlens“ (Verworn 1919, S. 70).
Die Entdeckung der Modularität: Zellverbände und neuronale Gruppen Wie Verworn berief sich auch ein Anhänger der Äquipotentialtheorie Lashleys Donald Hebb auf Ramón y Cajal und formulierte eine bis zum heutigen Tag einflussreiche Theorie der Zellverbände, mit der er eine Vielzahl psychologischer Phänomene mit Hilfe der Neuroanatomie und Neurophysiologie erklären konnte. Nach dieser Theorie werden Ansammlungen von Nervenzellen nach einer bestimmten Regel, die von Einzelneuron zu Einzelneuron die Stärke der Synapsen bestimmt, zu Verbänden zusammengefasst. In dieser abstrakten Form war diese heute so genannte Hebbsche Regel aber nicht neurophysiologisch durch Experimente überprüfbar, sondern lieferte vielmehr einen bahnbrechenden Ansatz zur Konstruktion künstlicher neuronaler Systeme in Form von konnektionistischen Netzwerkmodellierungen im Rahmen einer „computational neuroscience“ oder „Neuroinformatik“. Diese konnektionistischen Netzwerke orientieren sich im Unterschied zu den symbolverarbeitenden Programmen der künstlichen Intelligenzforschung viel stärker an der Realität wirklicher, d. h. natürlicher neuronaler Netzwerke. Denn die von Hebb postulierten Synapsen haben ein veränderliches, aktivitätsabhängiges Gewicht. Das aber heißt, dass das gesamte Netz nicht nach einem festen Programm arbeitet, sondern dass ein Programm entsteht, während und weil die Neurone aktiv sind (Flohr 1996, S. 438). An die Stelle der Auffassung vom Gehirn als einer Maschine mit vorgeschriebenen Programmen ist damit der Prozesscharakter des Gehirns in den Vordergrund gerückt (Oeser u. Seitelberger 1988 / 1995). Dem entspricht auch Ramón y Cajals als Konsequenz der Neuronentheorie sich ergebende Auffassung, dass ein Mensch der ein Problem gelöst hat, ein anderer ist, als er zuvor war. Denn sein Gehirn hat sich bis in die elementaren molekularen Strukturen verändert.
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Eine Grundidee dieser Vorstellung von neuronalen Netzwerken mit sich selbst anregenden und verstärkenden Zellverbänden ist es, dass dadurch eine Repräsentation der Außenwelt ohne Instruktion von außen entstehen kann: Eine Gruppe von Neuronen, die koordiniert zusammenarbeiten, repräsentieren das Auftreten einer bestimmten Erregungskonfiguration innerhalb des Nervensystems. Wenn diese Erregungskonfiguration durch ein strukturiertes äußeres Ereignis hervorgerufen wird, dann werden die relationalen Eigenschaften der Merkmale äußerer Ereignisse in relationale Eigenschaften der Elemente des Netzwerkes umgesetzt. Aber erst häufige Interaktionen mit der Umwelt geben den internen neuronalen Prozessen eine nach assoziativen Gesetzen erarbeitete Ordnung, die der in der Außenwelt vorhandenen zumindest so entspricht, dass der Träger des Gehirns das richtige Verhalten produzieren kann. Das entscheidende an dieser Idee ist, dass ein bestimmter Mechanismus der Verstärkung der Synapsen zur Selbstorganisation einer Netzwerkstruktur führt, die kognitive Kapazitäten besitzt (Flohr 1996, S. 440). Bereits Sherrington hatte darauf hingewiesen, dass die Zellen einiger zusammenhängender Teile im Großhirn „Selbstanreger“ sind: „Zusammenhängende Gruppen von ihnen feuern zusammen“ (Sherrington 1953, S. 240). Unter Vermeidung von Lashleys Vorstellung der Äquipotentialität und nicht von einer globalen psychologischen Theorie, sondern von dem realen schichtenförmigen Zellaufbau der Großhirnrinde ausgehend wurde dann auch von Vernon Mountcastle und Gerald Edelmann eine Theorie der neuronalen Gruppen vorgeschlagen. Das erste Beispiel für eine solche Gruppierung fand Mountcastle im somatosensorischen Cortex. Er stellte fest, dass innerhalb einer säulenförmigen Anordnung Neurone in allen Schichten auf gleichartige Weise in bestimmter Richtung erregt werden. Diese säulenartige Anordnung stellt nach heutiger Auffassung ein grundlegendes Strukturprinzip der gesamten Großhirnrinde dar (vgl. Kandel et al. 1996). Es waren David Hubel und Torsten Wiesel, die bei ihrer Untersuchung des visuellen Systems in den sechziger Jahren herausfanden, dass auch im primären visuellen Cortex, der dem Areal 17 von Brodmann entspricht, Nervenzellen mit gleichen Antworteigenschaften auf Reize in Säulen oder Kolumnen angeordnet sind. Diese Säulen, die von der Rindenoberfläche durch alle sechs Schichten reichen, vollbringen je nach der Art und Arbeitsweise ihrer Zellen unterschiedliche Leistungen. So gibt es „Orientierungssäulen“, deren senkrecht aufeinanderliegende Zellen in der Orientierung des Lichtreizes übereinstimmen, und „Augendominanzsäulen“ für das rechte und das linke Auge. Die Zellen des primären Sehfeldes reagieren
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demnach gruppenweise auf unterschiedliche Reize. Das Gleiche gilt für das sensomotorische Rindenfeld: Die eine Zellgruppe bzw. ein ganzer Verbund von Zellkolumnen oder Hyperkolumnen sprechen an, wenn ein Gelenk bewegt wird oder auf eine Stelle der Haut ein Druck ausgeübt wird. Fragt man aber, was für eine Wahrnehmung im primären Sehfeld durch diese Orientierungsleistungen entsteht, so muss man feststellen, dass wir allein mit der sog. Area 17 nur ein Gewimmel von Lichtpunkten und Strichen sehen könnten, nichts von licht- und farbmodulierten Gestalten in verschiedener Entfernung und Bewegung, nichts vom Raum. Auf dieser Verarbeitungsebene konstituieren diese nervösen Prozesse noch kein Sehobjekt. Zu einer gegenständlichen Wahrnehmung kommt es erst durch weitere Verarbeitungsschritte in den benachbarten Arealen, in die das Erregungsgeschehen des primären Sehfeldes projiziert wird. Eine solche Projektion oder Übertragung geschieht dadurch, dass die einzelnen Nervenzellen der funktionalen Einheit einer Säule nicht nur vertikal sondern auch horizontal miteinander verknüpft sind und zwar nicht nur in dem Areal des primären Sehfeldes sondern auch in und mit den anderen Arealen. In diesen sekundären Sehrindengebieten findet durch andere hochkomplexe oder hyperkomplexe Zellen eine Weiterverarbeitung des übertragenen Erregungsmusters statt, die sich nicht nur auf die linearen Kontrastgrenzen beschränkt, sondern bereits komplexere Eigenschaften und Gestaltqualitäten erfassen kann. So gibt es Zellen, die nur auf Reize aus bestimmter Entfernung ansprechen, als Distanzdetektoren entsprechen. Denn bevor überhaupt eine Gestaltwahrnehmung möglich wird, muss das räumliche Sehen geleistet werden, das nicht schon in der Netzhaut des Auges, sondern erst in der Gehirnrinde zustande kommt und sowohl durch genetische Vorgaben als auch durch selbstorganisatorische Lernprozesse in der individuellen Entwicklung bedingt ist (vgl. Oeser u. Seitelberger 1995, S. 62 f.). Gerade an diesem immer wieder untersuchten Beispiel des Sehvorganges zeigt sich deutlich, welche Veränderung sich durch die Neuronentheorie in der Frage Äquipotenz oder Lokalisation der Funktionen in der Großhirnrinde ergeben hat: Es geht nicht mehr um eine Alternative zwischen zwei sich ausschließenden Positionen, sondern um eine notwendige Integration zweier einander ergänzenden Aspekte. Das hat bereits Sherrington festgestellt, der zwar selbst in dem Streit zwischen Goltz und Ferrier an der Begutachtung mitbeteiligt war, die zu einer Unterstützung der Lokalisationstheorie geführt hat; der dennoch eine strikte statische Lokalisation der Funktionen in eng umschriebenen Zentren für ein „schweres Missverständnis hinsichtlich des Ausmaßes der Zusammenarbeit im Gehirn“ hielt. Aber auch der durch Lashley hervorgerufene Umschwung, der die entge-
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gengesetzte Ansicht, d. h. die „Äquipotentialität“ der Funktionen der Großhirnrinde nach dem Massengesetz betont, geht für Sherrington dann zu weit, wenn angenommen wird, dass „eine Reizung des Systems an jedem beliebigen Punkt es ganz und gar berührt“. Eine solche allgemeine Aktivierung würde nach Sherrington allem widersprechen, was die Tätigkeit und Struktur des Nervensystems uns über seine Arbeitsweise sagt. Wenn die Funktion des Nervensystems Verhalten sein soll, so würde eine diffuse Tätigkeit nicht dazu passen. Sie würde Verhalten nicht bewirken. Vielmehr würde Chaos entstehen. Die Präzision, die Feinheit und die Wirksamkeit des Systems liegt vielmehr in einer Vorkehrung dafür, dass die eine Art von Reaktion nicht notwendigerweise bestimmte andere gleichzeitige Reaktionen stören muss. Das System ist befähigt, eine interne Störung zu begrenzen: „Der Blick des Schützen, der dem Vogel folgt, wird nicht abgelenkt durch sein Hantieren mit dem Gewehr, um das Ziel zu finden“ (Sherrington 1953, S 239). Das Verhalten wurzelt nach Sherrington in der Integration. Die strukturierte Natur der Gehirntätigkeiten drückt Integration durch ihre Strukturierung aus. Obwohl der Grundplan dieser strukturierten, funktionalen Einheiten von Neuronengruppen oder Modulen überall der gleiche ist und somit auch die Arbeitsweise der Großhirnrinde an jeder Stelle prinzipiell gleichartig ist, unterscheiden sich die einzelnen Rindengebiete durch die lokale Organisation des Eintretens und Austretens des Erregungsflusses und der dort stattfindenden primären oder endgültigen Operationen. Einzelne lokale Regionen im Gehirn führen nur elementare Operationen durch. So stellt die primäre Sehrinde nur die Eingangstufe eines weit verzweigten Verarbeitungsprozesses dar. Das Gleiche gilt für andere Hirnregionen der klassischen Lokalisationstheorie. Sie sind nicht der Sitz komplexerer Funktionen oder geistiger Fähigkeiten. Diese werden erst durch die seriellen und parallelen Verknüpfungen verschiedener Gehirnregionen ermöglicht. Dadurch dass der primäre Erregungszustand einer solchen lokalen Nervenzellengruppe in vielfacher Verzweigung an andere Gruppen weitergegeben wird, von denen er nach erfolgtem Arbeitsgang entsprechend modifiziert wieder vielfach verteilt und auch wieder an die Primärgruppe zurückgegeben wird, um dort neuerlich bearbeitet zu werden, ergibt sich eine ungeheuer breite und dichte Verteilung der Erregungszustände und eine Vielfalt von parallelen und wiederholten Verarbeitungsmöglichkeiten. Daher führen auch Verletzungen trotz der Lokalisation bestimmter Fähigkeiten und Leistungen in bestimmten Regionen der Gehirnrinde nicht zum völligen Verlust dieser Fähigkeiten, wie früher die Vertreter einer strengen und statisch aufgefassten Lokalisationstheorie angenommen hatten. Auch
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dann, wenn diese Fähigkeiten anfänglich verschwinden, können sie mit der Zeit durch Übung wieder zurückkehren, weil andere unverletzte Hirnteile diese verloren gegangenen Funktionen übernehmen können. Mit einer solchen dynamisch verstandenen Lokalisationstheorie wird zwar das alte Restitutionsproblem gelöst, das einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen den Vertretern der klassischen Lokalisationstheorie der eng umschriebenen Zentren und den Vertretern der funktionalen Gleichwertigkeit der Großhirnrinde hervorgerufen hatte, aber die grundsätzliche erkenntnistheoretische Frage, wie das menschliche Gehirn, das operational, das heißt in seiner Tätigkeit oder Arbeitsweise, ein geschlossenes System von Aktionen und Interaktionen von Nervenzellen darstellt, zu Wahrnehmungen der Außenwelt und dadurch zu einem adäquaten Verhalten kommt, bleibt weiterhin noch offen. Diese Frage ist für die moderne Neuronentheorie nicht ohne Rückgriff auf die Evolutionstheorie zu lösen, was auch ihr hervorragendster Begründer Ramón y Cajal deutlich erkannt und klar ausgesprochen hat: „Die lebende Materie hat nach unendlicher Evolution einen Apparat entwickelt, der durch seine Komplexität und die transzendendierenden Funktionen, mit denen er ausgestattet ist, Ausdruck der höchsten tierischen Organisation zu sein scheint. Dieser Apparat ist das Nervensystem. Es hat dem Organismus auf der Stufe der zoologischen Reihe solche hervorragenden Steuerinstrumente der vitalen Integrität gegeben wie Empfindung, Denken und Willen.“ (Ramón y Cajal, 1899, zit. nach Creutzfeldt 1986, S. 7). Demnach enthält das menschliche Gehirn bereits von vornherein im Sinne eines „genetischen Apriori“ eine über Jahrmillionen bewährte „Theorie“ derjenigen Umwelt, in die es hineingeboren ist. Zu dieser Umwelt des Gehirns gehört nicht nur die eigentliche Außenwelt, sondern auch der eigene Körper. Darauf hat bereits Sherrington eindringlich hingewiesen, wenn er sagt: „Als ein System steht das Gehirn dem gleichzeitigen Spiel von zwei Welten gegenüber, die sich überschneidend auf es einwirken, nämlich der des Körpers selbst und der, die den Körper umgibt.“ (Sherrington 1953, S. 236). Zum eigenen Körper hat das Gehirn dadurch eine direkten Kontakt, dass sich die sensorischen und motorischen Nervenbahnen in alle seine Teile wie Fühler erstrecken. Dieser direkte Kontakt des gesamten Nervensystems mit dem eigenen Körper macht auch den einzigen Unterscheidungsgrund zwischen diesen beiden Umwelten des Gehirns aus. Grob gesagt gehört alles, was sensomotorisch rückgekoppelt ist, zum Körper; was ohne Rückkoppelung nur zu sensorischen Erregungen führt, gehört dagegen zur Außenwelt. Und das Gehirn hat die seit Millionen von Jahren immer differenzierter
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gewordene Aufgabe des Verhaltens des Körpers in dieser Welt auf immer effektiver werdende Weise zu kontrollieren und zu steuern. Es hat daher auch keine Abbildfunktion der Außenwelt im Sinne einer naiven Abbildtheorie der menschlichen Erkenntnis. Denn zum Überleben sind nicht die richtigen „Bilder“ der Wirklichkeit, sondern nur die richtigen Reaktionen auf Umweltverhältnisse oder Umweltereignisse nötig (Oeser 1987, S. 15). Wie aber die bewusste Wahrnehmung dieser Außenwelt oder überhaupt das Bewusstsein oder der menschliche Geist entsteht, ist eine Frage, die bereits Darwin als „hoffnungslos“ bezeichnet hat und in deren Beantwortung auch die rein naturwissenschaftliche Hirnforschung seit jeher an ihre Grenzen gestoßen ist. Diese Grenzen wurden zwar in der Geschichte der Hirnforschung immer wieder durch eine duale Sprechweise überschritten, die am deutlichsten in der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verwendeten Bezeichnung des Gehirns als „Seelenorgan“ oder als „Organ des Geistes“ ausgedrückt worden ist. Mit der immer tiefer bis in die molekularen Strukturen gehenden Entdeckungen der physiko-chemischen Mechanismen in den unterschiedlichen Regionen des Gehirns wurden zwar immer differenzierter die notwendigen physischen Bedingungen, unter denen Bewusstseinsvorgänge qualitativer Art zustandekommen können, erfasst, warum aber schließlich im Hinterhauptlappen Gegenstände der Außenwelt gesehen, und im Scheitellappen gefühlt und Töne und Geräusche im Schläfenlappen gehört werden, bleibt dabei unerklärt: „Die Tatsache, daß diese Regionen ja mit Auge, Hautsinnen oder Ohr verbunden seien, ist zwar notwendig für die Funktionen, aber natürlich nicht hinreichend zur Erklärung“ (Creutzfeldt 1986, S. 21). Noch weniger erklärt ist dadurch die introspektiv unbezweifelbare Existenz des Selbstbewusstseins und die damit untrennbar zusammenhängende Fähigkeit der Sprache, die man seit jeher als das artspezifische Kennzeichen des Menschen angesehen hat. Auch hier reicht die Entdeckung und grobe Lokalisation eines motorischen und sensorischen Sprachzentrums nicht aus, um das „Wunder der Sprache“ zu erklären, das darin besteht, dass wir durch Erzeugung von Geräuschen oder optisch wahrnehmbaren Zeichen mit unglaublicher Präzision Vorgänge im Gehirn anderer Menschen beeinflussen können und selbst ebenfalls auf diese Weise bestimmt werden. Angesichts der enormen Komplexität sprachlicher Phänomene, die auf eine noch viel größere Komplexität der Prozesse im Gehirn hinweist, hat man sich mit Recht gefragt, ob man die neuralen Mechanismen, die dies alles leisten, überhaupt jemals verstehen wird (Damasio 1994). Diese und andere Überlegungen haben zunächst nach einer mehr als zweitausendjährigen Beschäftigung mit dem Gehirn als „Organ des Gei-
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stes“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer fast totalen Abstinenz der Hirnforschung gegenüber allen Fragestellungen geführt, die sich auf das Bewusstsein bezogen. Denn gerade durch die empirischen Untersuchungen und Entdeckungen, die im Rahmen der modernen Neuronen- und Synapsentheorie zustandegekommen sind, ist, wie es einer ihrer Begründer, nämlich Sherrington, ausgedrückt hat, klar geworden, dass „nach allem, was sich wahrnehmungsmäßig über das Bewußtsein ausmachen läßt, es demnach in unserer räumlichen Welt gespenstischer als ein Gespenst einhergeht. Unsichtbar, ungreifbar ist es ein Ding ohne jeglichen Umriß, es ist überhaupt kein ‚Ding‘. Es bleibt unbestätigt durch die Sinne und bleibt es so für immer“ (Sherrington 1940, 1964). Und noch 1963 konnte der Nobelpreisträger Sperry sagen, dass „die dogmatische Ablehnung des Bewußtseins oder geistiger Kräfte als Erklärungsmodelle in der Naturwissenschaft während der fünfziger und bis in die frühen sechziger Jahre hinein so stark gewesen war, daß sich schon der Lächerlichkeit preisgab, wer bei einer ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Zusammenkunft Wörter wie ‚bewußt‘ oder ‚geistig‘ auch nur in den Mund nahm“ (Sperry 1985). In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat sich jedoch auf Grund neuer technischer Möglichkeiten ein integrativer Ansatz herausgebildet, der die engen Grenzen der rein naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise überschreitet. Es ist die Idee einer „kognitiven Neurowissenschaft“, mit der man heute das alte Postulat des Hippokrates, dass die Erforschung des Geistes mit einer Analyse des Gehirns beginnen muss, auf interdisziplinäre Weise zu realisieren versucht.
Kognitive Neurowissenschaft: Der integrative Ansatz Historisch gesehen hat es diese Integrationsversuche von Anfang der Entwicklung der Hirnforschung an gegeben, seit man vom Gehirn als Organ der Seele oder des Geistes gesprochen hat. Kein einziger der großen Hirnforscher der Vergangenheit, von Alkmaion von Kroton angefangen bis zu den Physiologen und Anatomen der Neuzeit, hat sich nur auf die Untersuchung der organischen Strukturen und Funktionen des Gehirns beschränkt, sondern jeder von ihnen hat immer wieder versucht, auch über den Ort und die Tätigkeitsweise der sog. höheren kognitiven Funktionen wie Denken, Sprache, Gedächtnis und Lernen Aussagen zu machen, wobei man sich nicht immer bewusst war, dass es sich hierbei um zwei kategorial verschiedene Beschreibungsebenen handelt, die jedoch aus praktischen Gründen notwendigerweise miteinander in Beziehung gebracht werden
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müssen. Denn die Hirnforschung ist nicht nur ein Teil der Biologie, sondern, gerade wenn sie sich primär mit dem menschlichen Gehirn beschäftigt, auch ein Teil der Medizin. Es waren daher seit Anfang der mehr als zweitausendjährigen Geschichte der Hirnforschung die Ärzte, die immer wieder die Grenzen des bloß somatischen biologischen Bereichs überschritten haben. Diese Grenzüberschreitungen ergeben sich notwendigerweise aus der praktischen Zielsetzung jeder medizinischen Forschung, die nicht bloß der theoretischen Neugier, sondern der Heilung des Kranken dient, in diesem Fall des psychisch Kranken, der Störungen seiner kognitiven und emotionalen Fähigkeiten aufweist, deren organische Grundlage man in Verletzung oder Erkrankungen des Gehirns vermutet. Es war und ist daher eine große und unverzeihliche Gedankenlosigkeit, in einer reinen „Philosophie des Geistes“ jeden Bezug zum Hirngeschehen mit dem Einwand zu verbieten, dass es sich hierbei immer nur um eine materialistische Vergegenständlichung des Geistes handelt. Dagegen hat sich schon Kant im Unterschied zu seinen Nachfolgern gewehrt, von denen einer ihrer populärsten Vertreter gerade zur Zeit der Entdeckung der Assoziationszentren behauptete, dass Gedanken nicht im Gehirn sind, man könne ebenso gut sagen, „sie seien im Magen oder im Monde“ (Paulsen 1893, S. 137). Daher ist auch die grobe Zurückweisung dieser Bemerkung durch Flechsig verständlich, der dazu feststellte: „Daß das Denken im Gehirn vor sich geht, ist die Überzeugung zahlreicher geisteskräftiger, um die Mehrung menschlichen Wissens hochverdienter Männer – während ich bisher in Wirklichkeit nur von Verrückten und Blödsinnigen die Äußerung vernommen habe, daß ihre Seele in den Magen, auf den Mond – oder auf den Sirius geraten sei“ (Flechsig 1896, S. 37). Nicht viel besser war zu dieser Zeit der Zustand der Psychologie, soweit sie gezwungen war, unabhängig von der Hirnforschung ihre Grundbegriffe zu bilden. Von ihr konnte damals Flechsig mit Recht behaupten: „Dank der wahrhaft naiven Voraussetzung, daß man die Funktionslehre eines Organs wie das Gehirn entwickeln könne, ohne das Organ selbst zu kennen, ist sie zum Tummelplatz für allerhand seltsame Einfälle geworden, dagegen außerordentlich arm geblieben an wirklich fruchtbaren Gesichtspunkten“ (Flechsig 1896, S. 7). Auch die experimentelle Psychologie konnte zunächst keine Verbindung zur Hirnforschung herstellen. In ihrem Bestreben nach objektiv überprüfbaren Ergebnissen beschränkte sie sich mehr und mehr auf die Messung beobachtbarer Antworten auf kontrollierte Reize oder Stimuli. In der extremen Form eines rigorosen Empirismus wie ihn der sog. „Behaviorismus“ vertrat, sah man alle Prozesse zwischen dem Stimulus-Input und den Verhaltens-Output als irrelevant für die wissenschaftliche Er-
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forschung des Verhaltens an. Daher blieben auch alle nichtbeobachtbaren konstruktiven geistigen Prozesse außerhalb der Betrachtung. Radikale Behavioristen hielten eine Beschäftigung mit den Phänomenen Bewusstsein, Wahrnehmung, Denken und Gedächtnis oder Motivationen und Gefühle für unwissenschaftlich und unnötig. Mit der sog. „kognitiven Wende“ der Psychologie, die eng mit Sprachwissenschaft und den Simulationstechniken der Computer Science oder Informatik verbunden war, änderte sich jedoch die Situation. Seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es immer wieder Integrationsversuche zwischen diesen Gebieten. Es waren vor allem die auf die menschliche Sprache bezogenen Ansichten Lashleys vom Nervensystem als eines ständig aktiven Systems, das auf einem Zusammenwirken vieler interagierender Systemkomponenten beruht. Diese wiesen ganz offensichtliche Übereinstimmungen mit den Vorstellungen über mentale Repräsentation des Sprachwissenschaftlers Noam Chomsky auf. Chomsky war aber andererseits wieder streng lokalisationistisch der Überzeugung, dass das menschliche Gehirn ein eigenes „Sprachorgan“ besitzen muss, das einen endlichen Vorrat an Wörtern zu einer unendlichen Anzahl von Sätzen kombinieren kann. Diese Fähigkeit muss nach Chomsky angeboren und nicht erlernt sein, weil Kinder neue Wortkombinationen sowohl selbst erzeugen als auch verstehen können. Daher muss das menschliche Gehirn von Geburt an nicht nur eine Universalgrammatik eingebaut haben, welche die Grundlage der Grammatiken aller natürlicher Sprachen ist, sondern es müssen auch spezielle neurale Mechanismen für den Spracherwerb existieren. Ob diese neuralen Mechanismen nur für die Sprache angelegt sind oder ob es sich nicht eher um generelle kognitive Regeln handelt, war eine Streitfrage zwischen Sprachwissenschaftlern und Psychologen, die für die Hirnforschung eine große Herausforderung darstellte und zu einer wesentlich differenzierteren Ansicht von den neurobiologischen Grundlagen der menschlichen Sprache führte, als sie die klassische Lokalisationstheorie geboten hatte.
Sprachverarbeitung im Gehirn Die Untersuchung der Sprachverarbeitung im Gehirn ist überhaupt eines der treffendsten Beispiele dafür, wie die klinische Neurobiologie zusammen mit anderen Disziplinen, von der Anthropologie bis hin zur Entwicklungsbiologie, Kognitionspsychologie und Sprachwissenschaft dazu beitragen kann, uns zu einem Verständnis sogar der komplexesten Formen menschlichen Verhaltens zu verhelfen (vgl. Kandel et al., S. 648).
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Auf diese Weise konnte auch das klassische von Broca und Wernicke stammende Modell des motorischen und sensorischen Sprachzentrums von Norman Geschwind modifiziert werden. Dieses heute sog. „Wernicke-Geschwind-Modell“ der Sprachverarbeitung betont vor allem die Bedeutung des Broca- und des Wernicke-Areals für die Produktion und die Wahrnehmung der Sprache und kommt durch die genaue Verfolgung der daran beteiligten Nervenbahnen, die über andere von Brodmann zytoarchitektonisch festgelegte Areale führen, zu klinisch sehr nützlichen Vorhersagen von unterschiedlichen Sprachstörungen. Doch auch dieses Modell hat sich inzwischen als zu einfach erwiesen. Heute weiß man, dass auch subkortikale Strukturen, also Strukturen unterhalb der Gehirnrinde, wie z. B. der linke Thalamus u. a. für die Sprachfunktion von Bedeutung sind, weiterhin, dass die Repräsentation eines geschriebenen und gelesenen Wortes nicht in das Wernicke-Areal verschaltet wird, sondern direkt vom visuellen Assoziationscortex zum motorischen BrocaAreal gelangt. Das bedeutet, dass gelesene Wörter nicht in auditorische Repräsentation umgewandelt werden. Lesen und auch Denken ist daher nicht notwendigerweise ein gleichsam leises oder lautloses Sprechen, wie man früher glaubte. Visuelle und auditorische Wahrnehmungen eines Wortes werden offenbar unabhängig voneinander in modalitätsspezifischen Bahnen verarbeitet, die jeweils einen eigenen Zugang zum Broca-Areal und zu den höheren Verarbeitungsebenen besitzen, in denen Bedeutung und Ausdruck der Sprache analysiert werden. Im Rahmen der kognitiven Neurowissenschaft, die ja eine Verbindung zwischen der medizinisch-biologischen Hirnforschung und der psychologisch-geisteswissenschaftlichen Sprachforschung herstellen will, lassen sich daher folgende grundsätzliche Ergebnisse feststellen: Die erste und vielleicht wichtigste Einsicht ist, dass die Sprachfähigkeiten hauptsächlich in einer der beiden Großhirnhemisphären lokalisiert sind. Da die für das Entstehen der Sprache letztlich verantwortliche funktionale Asymmetrie der beiden Hemisphären sehr früh in der Evolution des Menschen entstanden ist, nimmt man an, dass die so lokalisierte Sprachfähigkeit wohl von Geburt an vorhanden ist und die Grundlage für die allen Sprachen gemeinsamen universellen Eigenschaften bildet. Vom neurobiologischen Standpunkt her stellt aber dieses Sprachvermögen des Menschen keine einheitliche Fähigkeit dar, sondern besteht aus einem ganzen Komplex von Fähigkeiten. Zwei davon, das Sprachverständnis und die Sprachproduktion, sind in unterschiedlichen Regionen der einen, meist der linken Hemisphäre lokalisiert. Sowohl die Zerstörung einer dieser Regionen als auch die Trennung der Verbindung zwischen ihnen führt zu speziellen Sprachstörungen, zu der
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Broca-Aphasie, der sensorischen Wernicke-Aphasie und der sog. Leitungsaphasie. Die erfolgreiche Zuordnung diverser Sprachkomponenten, wie das Bilden und Kombinieren von Wörtern und Sätzen, die Betonungsmuster und Tonhöhenverläufe, zu bestimmten Hirnregionen, hat dann zur Entwicklung eines weiteren Sprachmodells geführt, das, obwohl für die klinische Praxis sehr nützlich, doch immer noch allzu sehr vereinfacht ist. Viele Fragen sind daher noch offen geblieben vor allem auch die Frage, wie und wo Begriffe, Wörter und sprachliche Formen und Regeln im Gehirn gespeichert oder aufbewahrt werden. Denn Lernen und Gedächtnis sind eine unentbehrliche Voraussetzung der menschlichen Sprachfähigkeit.
Lernen und Gedächtnis Die Funktionen des Gedächtnisses und des Lernens bilden daher einen weiteren fundamentalen Problembereich der kognitiven Neurowissenschaft, der eine lange Tradition in der Geschichte der Hirnforschung hat. Die aristotelisch-scholastische Ventrikellehre siedelte das Gedächtnis in eine der Gehirnhöhlen an. In der Neuzeit nahm Descartes an, dass die Fasern des Gehirns durch den Grad der Verbiegung eine Art von Gedächtnisspur erzeugen, wobei er sich vorstellte, dass diese „Gedächtnisfasern“ dünnen Bleiröhrchen gleichen, die nach dem Verbiegen ihre neue Gestalt beibehalten (vgl. Florey 1993, S. 173). Willis vermutete dagegen, dass das Gedächtnis als Aufbewahrungsort der Vorstellungen sich in den Falten der Großhirnrinde befindet. Aber von Anfang an hatte man erkannt, dass es mindestens zwei Arten von Gedächtnis gibt: ein körperliches Gedächtnis und ein geistiges Gedächtnis. Während man dem „körperlichen Gedächtnis“, das die Erinnerung an die körperlichen Dinge enthält und auch den Tieren zugesprochen werden kann, als eine Funktion des Gehirns angesehen hatte, war es immer fraglich geblieben, ob auch das „höhere“ Gedächtnis des Menschen, das die „Verstandesdinge“ enthält, auf irgendwelchen Spuren oder Eindrücken materieller Art im Gehirn zurückzuführen ist. Ob nun diese Spuren auf Bewegungen des Nervenfluidums oder auf Schwingungen der Nervenfasern zurückzuführen sind, deren Weiterbestehen im Gehirn Erinnerung und deren Abklingen Vergessen bedeutet, in jedem Fall setzten sich diese Erklärungsversuche bis ins 20. Jahrhundert als eine Suche nach den „Engrammen“, wie diese Gedächtnisspuren von dem deutschen Zoologen Richard Semon (1858 – 1918) genannt wurden, fort. Nach einer 30 Jahre langen Bemühung musste jedoch Lashley in seinem
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berühmt gewordenen Aufsatz aus dem Jahre 1950 resigniert feststellen, dass diese Suche nach dem Ort und der wahren Natur der Engramme ergebnislos war. Während dieses ergebnislose Bemühen Lashley zu einer Wiederbelebung der Äquipotenztheorie führte, verzichteten die Vertreter der klassischen Lokalisationstheorie auf eine Festlegung eines bestimmten Ortes des Gedächtnisses im Gehirn. Die meisten von ihnen hielten das Gedächtnis nicht für eine eigene geistige Funktion, die unabhängig von Bewegung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit oder Sprache ist, deren Zuordnung zu bestimmten Hirngebieten schon gelungen war. Erst die Entdeckung von Wilder Penfield, der im Rahmen seiner Voruntersuchungen zu den Operationen an Epileptikern feststellte, dass bei der Abtastung der Oberflächenbereiche der Hirnrinde der elektrische Reiz bei dem Patienten Erinnerungen an frühere Erlebnisse hervorrief, und zwar ausnahmslos nur dann, wenn die Schläfenlappen gereizt worden sind, brachte die entscheidende Wende in der Gedächtnisforschung. Weitere Untersuchungen an Epilepsiepatienten, die nach erfolgreicher Operation an den Schläfenlappen zwar eine erhebliche Verbesserung ihrer Krankheit erfuhren, aber zugleich von einer verheerenden Gedächtnisstörung betroffen wurden, führten zu grundsätzlichen Differenzierungen unterschiedlicher Lern- und Gedächtnisarten. Denn es stellte sich heraus, dass die Ausfälle bei Schädigungen der Schläfenlappen nur jene Lern- und Gedächtnisformen betreffen, die bewusstes Registrieren eines Sachverhaltes erfordern. So konnte sich ein an den Schläfenlappen operierter Patient neue Bewegungsabläufe durchaus normal aneignen, während er die Fähigkeit verloren hatte, irgendetwas Neues, das er mit dem Bewusstsein aufnahm, länger zu behalten. Aus solchen Befunden ließ sich schließen, dass es offensichtlich zwei grundsätzlich verschiedene Formen des Wissenserwerbs gibt: das bewusste Registrieren von Sachverhalten und Ereignissen, das als „deklaratives“ oder „explizites“ Lernen bezeichnet wurde und das sog. „implizite“ Lernen, das bei den an den Stirnlappen operierten Epileptikern erstaunlicherweise völlig intakt geblieben war. Dieses implizite Lernen, das sich nicht auf Bewusstseinsinhalte sondern auf Bewegungen und sonstige sensomotorischen Fähigkeiten und Aufgabenstellungen bezieht, läuft im Unterschied zum expliziten Lernen langsam ab und erfordert viele Wiederholungen. Man vermutet, dass für diese Art des Lernens die durch die jeweilige Lernsituation aktivierten sensorischen und motorischen Systeme im Gehirn selbst zuständig sind. Deswegen findet impliziertes Lernen auch bei vielen Lebewesen statt, deren Nervensystem auf ziemlich einfachen Entwicklungsstufen liegt und die Frage war, ob sich nicht dazu auch eine Entsprechung auf der zellulären Ebene finden lässt. Eines der am besten unter-
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suchten Organismen, was die neuronalen Grundlagen des Lernens betrifft, ist die Meeresschnecke Aplysia, deren einfaches Zentralnervensystem nur aus ca. 20 000 Neuronen besteht, die zudem noch außerordentlich groß sind. So seltsam es auch klingen mag, die Untersuchungsergebnisse über den Kiemenrückziehreflex dieses einfachen Organismus sind zur Grundlage der neurobiologischen Ansichten über die Natur auch des menschlichen Gedächtnisses geworden. Denn auf der zellulären Ebene der Neuronen und Synapsen sind die grundlegenden Mechanismen die gleichen. Diesen Untersuchungen auf der zellulären Ebene sind Verhaltensexperimente vorausgegangen, bei denen es um einen Lerntyp ging, der die einfachste Art des assoziativen Lernens darstellt, die sog. „Konditionierung“. Sie stammen von dem russischen Physiologen Iwan Pawlow. Bei dieser „klassischen Konditionierung“ wird ein Reiz, der normalerweise eine bestimmte Reaktion nicht auslöst mehrmals zusammen mit einem Reiz präsentiert, der diese Reaktion immer und leicht hervorbringt und deswegen als „unbedingter Reiz“ bezeichnet wird. Nach einigen Versuchen löst auch dann der vorher unwirksame Reiz allein die Reaktion aus. Es hat „Konditionierung“, d. h. ein Lernen einfachster Art, stattgefunden, der früher unwirksame Reiz ist zu einem „bedingten“ Reiz geworden. So löst ein Glockenton, der zugleich mit Futter dargeboten wurde, beim Hund den Speichelfluss aus, auch dann, wenn das Futter noch nicht vorhanden ist. Oder ein Ton, der mit einem Schmerzreiz am Bein verbunden wird, führt nach mehrmaliger Wiederholung zu einem Zurückzucken des Beines auch dann, wenn der Schmerzreiz nicht mehr stattfindet. Damit eine Konditionierung dieser Art zustande kommt, muss allerdings der bedingte Reiz dem unbedingten jedes Mal um eine bestimmte Zeitspanne vorausgehen. Das Versuchstier lernt dann einen zeitlichen Zusammenhang zwischen den beiden Reizen herzustellen: Wird der eine verspürt, ist der andere auch gleich zu erwarten. Mit den Versuchen an der Meeresschnecke, wollten der Neurophysiologe und Psychiater Eric R. Kandel und seine Mitarbeiter herausfinden, wie dieser Lernmechanismus auf der zellulären Ebene funktioniert. Dazu war die vergleichsweise geringe Anzahl der Neuronen des Nervensystems dieses Tieres sehr gut geeignet. Unter den einfachen Reaktionen, die dieses Tier aufwies, wurde besonders gründlich ein Reflex untersucht: Die Meeresschnecke zieht ihr Atmungsorgan, die am Rücken befindlichen Kiemen, zurück, wenn der Rand des die Kiemen schützenden Mantels oder die Atemröhre berührt wird. Koppelt man nun einen dieser Berührungen mit einem heftigen Schmerzreiz, etwa einem Elektroschock am Schwanz des Tieres, dann wird nach einigen Versuchen die Reaktion auf den zuvor mit dem Schmerzreiz verkoppelten Reiz, auch wenn er allein dargeboten wird, we-
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sentlich stärker. Das Tier führt einen Abwehr- oder Schutzreflex auf diesen Reiz heftiger als zuvor aus. Es ist sensibilisiert, d. h., es hat etwas dazugelernt und im Gedächtnis behalten. Wie bei der klassischen Konditionierung bei Hunden erweist sich auch hier der Zeitfaktor als wichtige Einflussgröße. Beim Kiemenrückziehreflex der Meeresschnecke muss die Berührung am Mantelrand oder Atemrohr um etwa eine halbe Sekunde dem Schmerzreiz vorausgehen, damit diese Konditionierung oder Sensibilisierung gelingt. Auf der neuronalen Ebene ergab sich dadurch die Entdeckung eines zweiten von der Hebb’schen Lernregel unterschiedlichen Lernmechanismus: Es zeigte sich nämlich, dass sich die synaptische Verbindung zwischen zwei Neuronen verstärken lässt, ohne dass die nachgeschaltete Zelle aktiv ist, vielmehr muss dafür ein drittes Neuron, ein sog. „modulatorisches“ Neuron, auf die präsynaptische Zelle verschaltet sein und feuern. Im Fall des Kiemenrückziehreflexes der Meeresschnecke werden diese modulatorischen Neurone durch den Schmerzreiz am Schwanz aktiviert, die mit den Sinnesnervenzellen des Mantelrandes verschaltet sind. Sie erzeugen durch ihre Aktivität eine sog. präsynaptische Bahnung die dann zu dem Rückziehreflex der Kiemen führt. Die Frage ist nun aber, ob man diese zellulär und molekular definierbaren Vorgänge der Sensitivierung mit dem bewussten Erkennen, Wiedererkennen oder mit der unseren komplexen Handlungen zugrunde liegenden Erfahrung vergleichen oder gar gleichsetzen kann. Denn, wie auch bereits vonseiten der Neurophysiologie betont wurde, ist es „wahrhaftig ein großer Sprung vom Kiemenrückzugreflex einer Meeresschnecke zum menschlichen Gedächtnis !“ (Florey 1993, S. 183). Aber auch in diesem Bereich des expliziten, d. h. mit Bewusstsein vollzogenen Lernens, das ein weitaus differenzierteres und auf viel höherer Entwicklungsstufe stehendes zentrales Nervensystem erfordert, ist man bereits zu weitreichenden Entdeckungen gekommen. So erkannte man, dass der Hippocampus, der halbmondförmig gekrümmte Wulst am inneren Rand der nach unten eingerollten Schläfenlappen, die für das bewusste Lernen und Gedächtnis des Menschen unentbehrlich sind, eine wichtige Rolle spielt. Denn Verletzungen an diesem Hirnteil beeinträchtigen zwar nicht das bereits vorhandene Gedächtnis sondern lediglich das Abspeichern neuer Gedächtnisinhalte. Man vermutet daher, dass der Hippocampus eine Art von Zwischenspeicher ist, der die neu erworbenen Informationen lediglich einige Wochen oder Monate bewahrt und sie dann in die für dauerhaftes Abspeichern zuständigen Areale der Großhirnrinde überführt. Wo dieses eigentliche Gedächtnis, das sog. „Langzeitgedächtnis“, in der
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Großhirnrinde lokalisiert ist, lässt sich jedoch nicht mehr im Sinne der klassischen Lokalisationstheorie beantworten. Nach heutiger Auffassung baut es sich aus vielen Komponenten eines weitreichenden Nervennetzes auf. Dieses so verteilt gespeicherte Wissen wäre aber nutzlos, wenn sich beim Denken und Handeln nicht darauf zurückgreifen ließe. Deswegen nimmt man auch ein sog. „Arbeitsgedächtnis“ an, das das vorhandene Wissen zum Einsatz bringt. Aus den Auswirkungen von Hirnverletzungen, bei denen die Betroffenen große Schwierigkeiten hatten, in alltäglichen Situation ihr Wissen einzusetzen, schloss man, dass dieses Arbeitsgedächtnis in den vorderen Stirnlappen lokalisiert sein muss. Weitere Hinweise zu dieser Lokalisation ergaben Experimente mit Affen, denen man die präfrontalen Regionen des Gehirns abgetragen hatte und die dann ähnliche Störungen aufwiesen. In zunehmenden Maß ermöglichten aber auch nichtinvasive, d. h. keinen operativen Eingriff erfordernde Techniken, Aktivierungsmuster im Gehirn zu beobachten, die über die sog. „höheren“ kognitiven Funktionen des bewussten Lernens und symbolischen Denkens Aufschluss geben können. Schon in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnte der deutsche Neurologe Hans Berger (1873 – 1941) mit Hilfe besonders empfindlicher Registriergeräte und mit Elektroden, die außen auf der Kopfhaut aufgesetzt wurden, Hirnströme nachweisen, deren Veränderungen er durch das (von ihm so benannte) „Elektroenzephalogramm“ (EEG) aufzeichnen konnte. Das EEG wird auch heutzutage noch zu Diagnosezwecken verwendet. Beim Gesunden weist es ein typisches Wellenmuster auf, das jedoch bei Hirnfunktionsstörungen Abweichungen erfährt. So ergeben organische Veränderungen des Gehirns, die durch Tumore und Vergiftungen hervorgerufen worden sind, Verschiebungen in der Verteilung der Hirnströme. Die Epilepsie weist ein besonders charakteristisches EEG mit besonders großen Spitzen- und Wogenformationen auf. Berger gelang es aber auch in seinen Registrierungen Erregungsmuster aufzuzeigen, die beim Öffnen der Augen, bei Schmerzen oder lauten Geräuschen auftreten. Dabei wird der für die Ruhetätigkeit des Gehirns typische langsame Rhythmus, der sog. Alpha-Rhythmus, verändert und durch schnellere Wellen abgelöst. Daher glaubte man auch, in diesen unterschiedlichen Wellenzügen der elektrischen Hirnströme das materielle Korrelat zur gedanklichen Verarbeitung der Sinneswahrnehmungen entdeckt und mit Hilfe des Elektroenzephalogramms sichtbar gemacht zu haben. Die heute am häufigsten in diesem Rahmen geübte Technik zur Untersuchung von funktionellen Verbindungen im Gehirn ist die der sog. „evozierten Potentiale“: Es werden verschiedene „Eingänge“ ins Gehirn, vor allem die Sinnesorgane oder die in die Großhirnrinde führenden Nervenbahnen, mit
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einem elektrischen Impuls gereizt und dann die elektrischen Antworten an verschiedenen Stellen des Gehirns durch Elektroden festgestellt, wobei es bereits verschiedene Schichten der Verfeinerung dieser Technik vom Makro-EEG über das Mikro-EEG bis auf die zelluläre Ebene gibt. Ein entscheidender Fortschritt in der Entwicklung nichtinvasiver Methoden stellen auch gegenüber diesen Weiterentwicklungen des EEG die neuen sog. „bildgebenden“ Verfahren dar. Man unterscheidet bei diesen Verfahren „strukturelle“ und „funktionelle“ Abbildungstechniken. Die strukturellen bildgebenden Verfahren, wie die Magnetresonanztomographie, stellen die anatomischen Gehirnstrukturen dar und sehen so aus, als ob man das lebende Gehirn in einzelne Schnitte zerlegt und anschließend fotografiert hätte. Sie bilden sozusagen einen Ersatz für die Gehirnschnittpräparate und die alten anatomischen Zeichnungen, nur mit dem bedeutenden Unterschied, dass sie das lebende Gehirn darstellen können. Noch wichtiger für die Untersuchung des lebenden Gehirns des Menschen sind die funktionellen bildgebenden Verfahren wie PET (Positronenemissionstomographie) und SPECT (Single-Photon-Emmissionscomputertomographie), die Prozesse im Gehirn darstellen können, wie z. B. die Durchblutung und den Gehirnstoffwechsel (Glukose, Sauerstoff) oder einen im Lichtwellenbereich liegender Strahlungsvorgang, der vom Gehirn selbst produziert wird. Auf diese Weise kann man die Aktivitätsmuster des Gehirns feststellen, während die Versuchsperson bestimmte Aufgaben lösen oder andere geistige Aktivitäten durchführen, d. h., man kann sozusagen dem Geist bei der Arbeit zuschauen, ohne das Gehirn wie früher in den Tierversuchen mit den brutalen Verstümmelungs- und Abtragungsmethoden zu zerstören. Die frühen Erfolge, die bei der Anwendung solcher bildgebenden Verfahren dazu führten, dass man genau jene Hirnregionen am Bildschirm aufleuchten sah, die hundert und mehr Jahre zuvor von den Lokalisationstheoretikern angenommen worden sind, erweckten jedoch übertriebene Erwartungen und Befürchtungen. Weder ist es möglich, auf diese Weise die Gedanken der Versuchsperson zu lesen, noch gibt überhaupt der so angezeigte Durchblutungsgrad oder regionale Stoffwechsel wirklich Auskunft über den eigentlichen physiologischen Prozess, der den untersuchten geistigen Funktionen zugrunde liegt. Aber mit diesen bildgebenden Verfahren, zu denen auch die technisch weiterentwickelten Elektroenzephalogramme gehören, ist zum ersten Mal ein konkreter Brückenschlag zwischen den zwei unterschiedlichen Beschreibungsebenen der mentalen und neuralen Prozesse und Strukturen gelungen, die sowohl von großem klinischen Wert für die Erkennung und Behandlung von psychischen und geistigen Störungen, als auch von eminenter Bedeutung für das menschliche Selbstverständnis sind.
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6. Neurowissenschaft im 20. Jahrhundert
Besonderheiten des weiblichen Gehirns 6. Besonderheiten Neurowissenschaft des weiblichen im 20. Jahrhundert Gehirns 260
Die neuen Methoden der Gehirnforschung haben sich auch auf die Untersuchungen der grundlegenden neurologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen ausgewirkt. Während früher die Untersuchung solcher Unterschiede vernachlässigt wurde, abgesehen davon, dass sie nur an Leichen oder an Menschen mit Gehirnschäden möglich waren, haben sich heute mit den bildgebenden Verfahren im Gehirn von Männern und Frauen eine erstaunliche Vielzahl struktureller, chemischer, genetischer, hormoneller und funktioneller Unterschiede nachweisen lassen (vgl. Brizendine 2007). Die Gehirnzentren für Sprache und Hören beispielsweise enthalten bei Frauen elf Prozent mehr Neuronen als bei Männern. Das Zentrum für die Entstehung von Gefühlen und Erinnerungen – der Hippocampus – ist im weiblichen Gehirn ebenfalls größer, und das Gleiche gilt für die Schaltkreise, die der Sprache und dem Beobachten von Emotionen bei anderen dienen. Das bedeutet, dass Frauen in der Regel besser als Männer in der Lage sind, Gefühle auszudrücken und sich an emotionale Ereignisse in allen Einzelheiten zu erinnern. Bei Männern dagegen ist dem Sexualtrieb im Gehirn zweieinhalb Mal mehr Raum gewidmet, und auch die Gehirnzentren für Aktivität und Aggression sind größer. Zur Lösung von Problemen, zur Verarbeitung von Sprache sowie zum Empfinden und Speichern starker Gefühle dienen unterschiedliche Gehirnbereiche und Schaltkreise. Frauen erinnern sich häufig in allen Einzelheiten an ihre ersten Männerbekanntschaften und Streitigkeiten, während ihre Männer kaum noch wissen, dass diese überhaupt stattgefunden haben. Die Gründe für all das liegen in der Struktur und den chemischen Besonderheiten des jeweiligen Gehirns. Besonderheiten weist auch die ontogenetische Entwicklung des weiblichen Gehirns auf, das im Laufe des Lebens verschiedene Veränderungen erfährt. Wie groß diese Veränderungen sind, wurde eingehend von der amerikanischen Neurobiologin Louann Brizendine dargestellt. Sie hat während einer zwanzigjährigen klinische Praxis Tausende von Frauen kennen gelernt und dadurch sowohl das Gehirn junger Mädchen und ihre Verhaltensweisen als auch das Gehirn von Müttern und deren Verhaltensweisen und schließlich auch das Gehirn von reifen Frauen nach den Wechseljahren analysiert. Alle diese Phasen bedeuten nach Brizendine einen drastischen Wandel in der Realitätswahrnehmung der Frau, in ihren Wertvorstellungen und im Setzen von Prioritäten. Geprägt werden diese Phasen ebenfalls durch chemische und hormonelle Vorgänge im Gehirn. Dass solche Untersuchungen über die Unterschiede in der Struktur und Funktionsweise von weiblichen und männlichen Gehirnen lange Zeit ver-
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nachlässigt worden sind und deren Ergebnisse zum Teil auch heute noch verdrängt werden, hat nach Meinung von Brizendine Gründe, die außerhalb der wissenschaftlichen Forschung liegen. Noch heute wird die Ansicht vertreten, Frauen könnten nur dann Gleichberechtigung erlangen, wenn alle Unterschiede eingeebnet würden. Aus Angst vor einer auf Unterschiede gegründeten Diskriminierung wurden viele Jahre lang alle Vermutungen über gehirnbedingte Geschlechtsunterschiede wissenschaftlich nicht überprüft, weil man befürchtete, Frauen könnten dann keinen Anspruch mehr auf Gleichberechtigung mit Männern erheben (vgl. Brizendine 2007, S. 243).
Die Entdeckung des Bereitschaftspotentials Die Entdeckung des Bereitschaftspotentials 261
Von den nichtinvasiven Methoden haben das EEG und das später entwickelte Magnetoenzephalogramm (MEG) gegenüber den bildgebenden Verfahren (PET, SPECT, fMRT) den Vorteil, eine gute zeitliche Auflösung mit einer ebenso guten räumlichen Auflösung zu verbinden. Dagegen ist die zeitliche Auflösung der bildgebenden Verfahren wesentlich geringer. Sie liegt im Sekundenbereich und ist daher nicht geeignet, die blitzschnelle Dynamik des Gehirns, „das flinke An- und Abschalten der Aktivität bestimmter Hirnareale, das schnelle Springen des corticalen Fokus der Aktivität von einem Schauplatz des Interesses zum anderen“ (Deecke 2008, S. 136), zu erfassen Mit Hilfe des EEG konnten bereits im Jahre 1964 Grey Walter einerseits und Kornhuber und Deecke andererseits zwei grundsätzlich verschiedene ereignisbezogene elektrische Hirnpotentiale unterscheiden, die vor einer Bewegung oder Handlung auftreten: einerseits die „Erwartungswelle“ oder CNV (Contingent Negative Variation) und andererseits das „Bereitschaftspotential“ (BP). Die Unterschiede zwischen diesen beiden Hirnpotentialen beruhen auf zwei unterschiedlichen Ursachen von aktiven motorischen Bewegungen. Einmal können Bewegungen als Antwort auf einen Außenreiz durchgeführt werden. Zum anderen können aber auch Bewegungen aus eigener Initiative ausgeführt werden. Die Untersuchung der Gehirnvorgänge bei diesen beiden Kategorien von Bewegungen bedarf einer ganz unterschiedlichen Versuchsanordnung. Bei den durch Außenreiz initiierten Bewegungen besteht die Aufgabe der Versuchsperson darin, die nach einem akustischen Signal eintretende Serie von Blitzreizen so rasch wie möglich abzustellen. Dabei bildet sich eine Erwartungswelle aus, die sich im EEG als eine langsam ansteigende negative Schwankung des kortikalen Gleichspannungspotentials äußert (Walter
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1964). Selbst-initiierte Bewegungen benötigen eine andere Versuchsanordnung, um den zu Grunde liegenden Hirnpotentialen auf die Spur zu kommen. Hier dürfen überhaupt keine Außenreize vorhanden sein, sondern die Versuchsperson muss die Bewegung selbst starten und dafür auch den Augenblick für den Start der Bewegung selbst bestimmen. Dann erscheint ebenfalls eine langsame Verschiebung des kortikalen Bestandspotentials, das im Unterschied zur „Erwartungswelle“ von Kornhuber und Deecke „Bereitschaftspotential“ (Kornhuber, H. H. & Deecke, L. 1965) genannt wurde. Dass es ausgerechnet das Bereitschaftspotential war, das dazu benutzt wurde, um die Willensfreiheit des Menschen zu leugnen und einen Determinismus zu propagieren, ist für die Entdecker des Bereitschaftspotentials „paradox und nicht ohne Ironie“ (Deecke 2008, S. 154). Denn sie wollten im Gegensatz zu der damaligen weltweiten Forschung, die das Gehirn lediglich als passives System auffasste, das auf äußere Reize reagiert, gerade die aus freiem Willen heraus „endogen“ entstehenden Bewegungen, Handlungen und Tätigkeiten auf ihre hirnphysiologischen Korrelate untersuchen. Ausgelöst wurde die Diskussion um den freien Willen erst durch die Experimente des amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet, der sich die Aufgabe gestellt hat, zu untersuchen, wie die „Zeit der bewussten Intention zu handeln im Verhältnis zum Beginn zerebraler Aktivität (Bereitschaftspotential)“ steht. Die Versuchsperson hatte die Instruktion, aus einem entspannten Ruhezustand heraus den „Drang zu handeln (in diesem Fall einen Finger zu krümmen), von alleine und zu jeder Zeit auftauchen zu lassen, ohne vorauszuplanen oder sich auf die Handlung zu konzentrieren“ (Libet et al. 1983, S. 625). Nach wiederholten Versuchen zeigte sich, dass sich das Bewusstsein der Handlungsabsicht, d. h. der Willensentschluss, um eine halbe Sekunde im Vergleich zum Beginn der Hirnrindenaktivität verspätet. Um das herauszufinden, musste die Versuchsperson auf eine Uhr mit rotierenden Zeigern blicken und sich den Zeigerstand genau merken, an dem sie sich entschlossen hatte, eine kleine Bewegung durchzuführen. Die entsprechende Uhrzeit wurde von den Versuchspersonen später nach Beendigung des Versuches berichtet. Verglichen mit dem Zeitpunkt des Auftretens des durch das Elektroenzephalogramm registrierten Bereitschaftspotentials im supplementären motorischen Areal der Gehirnrinde konnte Libet dann genau feststellen, dass der Willensentschluss weder vor noch zur gleichen Zeit, sondern erst nach dem Starten des Bereitschaftspotentials auftrat. Der Willensentschluss konnte daher nach seiner Meinung nicht die Ursache der Bewegung sein, die schon zuvor durch das Bereitschaftspotential eingeleitet worden ist. Das Gefühl, diese Handlung selbst bewusst gewollt zu haben, 262
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also Ursache der Bewegung zu sein, tritt nur deswegen auf, weil diese Feststellung im Bewusstsein zurückdatiert und vor dem Beginn der Bewegung angesiedelt wird. Libet spricht jedoch dem Bewusstsein wenigstens eine „Vetorolle“ zu: „Prozesse, die mit individueller Verantwortung und Willensfreiheit verbunden sind, ,operieren‘ vermutlich nicht in der Weise, dass sie eine willentliche Handlung initiieren, sondern indem sie willensbestimmte Ergebnisse selektieren und unter ihre Kontrolle stellen“ (Libet 1985, S. 528). Der Grund für die Annahme einer solchen Kontrollfunktion besteht darin, dass der bewusste Wille, obwohl er dem vorausgehenden Bereitschaftspotential folgt, etwa 150 ms vor der Aktivation des Muskels auftritt, der die Bewegung durchführt. Für den bewussten Willen würde daher noch genügend Zeit zur Verfügung stehen, um den Prozess, der zur Bewegung führen soll, aufzuhalten oder überhaupt zu verbieten. Gegen diese Interpretation des zwar auch für die Entdecker des BP interessanten und korrekt durchgeführten Experimentes von Libet hat Deecke zu Recht eingewendet, dass Libet den Fehler macht, von vornherein zu unterstellen, „der freie Wille müsse unbedingt bewusst sein oder umgekehrt, dass alles was unbewusst ist, kein freier Wille sein könne“ (Deecke 2008, S. 147). Ohne Bewusstsein oder Selbstbewusstsein gibt es zwar ex definitione keinen freien Willen, aber das Bewusstsein kann nur funktionieren, wenn es das Meiste an unbewusste Routinen delegiert. Nur so kann es auch von vielen Zufallsschwankungen der Neuronenaktivität ungestört und vor manchem falschen Alarm durch Vorschalten von Schwellen und Filtern geschützt werden (Deecke 2008, S. 147). Das gilt auch für die Willkürbewegung. Nicht nur die eigentliche Durchführung einer Bewegung ist dem nichtbewussten Können des Gehirns überlassen, sondern auch der Beginn des wirklichen Bewegungsablaufes, der einer nichtbewussten Vorbereitung bedarf, durch die der Gesamtorganismus in die für das Gelingen des Bewegungsplans günstigste Ausgangsposition gebracht wird, ehe die Endbewegung in gewünschter Form ihr Ziel erreicht (Seitelberger in Oeser und Seitelberger 1995, S. 57 f.; vgl. Oeser 2006, S. 170). Über dieses Vermögen des kognitiven Nichtbewussten zu verfügen ist eine unerlässliche Voraussetzung jeder bewussten willkürlichen Handlung. So gesehen ist das Vorhandensein eines nichtbewussten Bereitschaftspotentials nichts Ungewöhnliches. Es weist nur darauf hin, dass der Ursprungszeitpunkt einer gewollten Bewegung mit der subjektiven Erfahrung des Bewegungsentschlusses nicht zusammenfällt, kann aber keinesfalls als eine Determination des menschlichen Willens durch vorauseilende Gehirnvorgänge verstanden werden. Vielmehr taucht die bewusste Erfahrung, eine Entscheidung für die Durchführung einer Bewegung getroffen zu haben, erst dann auf, wenn die 263
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motorischen Schleifen durchlaufen worden sind und die neuronalen Prozesse im motorischen Cortex eingetroffen sind (vgl. Deecke 2008, S. 151). Auch die einfachsten Willkürbewegungen, wie sie experimentell immer wieder im Labor untersucht wurden, wie das Krümmen eines Fingers, Beugen des Handgelenkes, Heben des Armes usw. entstehen nicht aus dem Nichts. Davor steht immer eine Zielsetzung, auch wenn sie nicht immer bewusst reflektiert sein mag und in ihrer primären Form nur der Erhaltung und Sicherung des Überlebens dient.
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Die Hirnforschung hat in ihrer mehr als zweitausendjährigen Geschichte nicht nur zur Erkenntnis geführt, dass die geistige Entwicklung des Menschen von der frühesten Kindheit bis zum hohen Alter von den Funktionen des Gehirns abhängig sind, sondern sie hat auch einen grundlegenden Beitrag zur Bestimmung des Zeitpunktes des Todes geliefert (vgl. Seitelberger 1995). Noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Frage nach dem Todeszeitpunkt im Sinne des traditionellen Konzeptes des Herztodes beantwortet: Ein Mensch war tot, wenn sein Herz zu schlagen aufgehört hat und die Atmung zum Stillstand gekommen ist, denn dann mussten auch alle anderen Lebensvorgänge erliegen und somit auch die Gehirntätigkeit und das Bewusstsein für immer erlöschen. Der Übergang eines lebenden Körpers in den Zustand einer Leiche ist jedoch für die verschiedenen Organe entsprechend den jeweiligen Stoffwechselbedingungen verschieden lange. Beim natürlichen Tod, der meistens nicht als momentanes Ereignis mit totaler Aufhebung des Lebens erfolgt, gibt es eine Art von Absterbeordnung der Organe: So beträgt die Überlebenszeit des Gehirns 4 bis 6 Minuten, die des Herzens 10 bis 40 Minuten und die der Niere 1 bis 2 Stunden. Bei einem gewaltsamen Tod, wie etwa der Enthauptung, hatte man, wie bereits erwähnt, schon in früheren Zeiten Bedenken, ob dabei wirklich schlagartig das Bewusstsein erlöscht. Diese Bedenken waren keineswegs unbegründet. Denn auch aus der Sicht der modernen Medizin ist der Mensch bei den meisten Exekutionsarten nicht im Augenblick der Exekution tot: „Wenn das Fallbeil der Guillotine fällt, ist zwar der Kopf vom Rumpf abgetrennt, das Gehirn ist aber noch intakt und kann sogar für Sekunden noch bei Bewußtsein bleiben. Der Moment, in welchem der Kopf in der Korb purzelt, kann von diesem also noch wahrgenommen werden. Falls im Korb genügend Sägemehl liegt (welches das Blut aufsaugen soll), das einen sanften Fall ermöglicht, würde nicht einmal eine
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Gehirnerschütterung auftreten, die eine Bewußtlosigkeit herbeiführen könnte. Einige Sekunden könnte solch ein Kopf die Stelle seiner Abtrennung vom Rumpf betrachten, bevor er in den Zerfallprozeß eingehen würde“ (Linke 1993, S. 83). Mit dem Einsetzen der Intensivmedizin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnten die natürlichen Überlebensfristen der einzelnen Organe beträchtlich verlängert werden. Auf diese Weise wurde zwar die Komplexität des Sterbens durchschaubarer, aber es wurde auch durch die künstliche Aufrechtherhaltung des Stoffwechsels einzelner Organe die natürliche Absterbeordnung verzerrt: „Der Tod des Individuums und der Tod des Körpers verloren damit ihre scheinbare Einheit“ (Seitelberger 1995, S. 115). Durch Reanimationsmethoden konnte man auch das Herz wieder zum Schlagen bringen und einen Patienten aus der Zone des Sterbens wieder in ein normales Leben zurückholen. Damit verlor aber auch das traditionelle Herztod-Konzept eine Bedeutung und an seine Stelle trat das Hirntod-Konzept. Das Hirntod-Konzept war jedoch nicht das Resultat von rein theoretischen Überlegungen, sondern das Ergebnis eines unerwarteten klinischen Befundes. Bei der Wiederbelebung von herztoten Patienten, deren Blutkreislauf im Gesamtkörper und die Lungenatmung künstlich aufrechterhalten wurde, kam es vor, dass das Gehirn keine Lebenszeichen mehr bot. Das Gehirn war in solchen Fällen so schwer beschädigt, dass die Bewusstseinsfähigkeit und alle integrativen physiologischen Leistungen ohne Aussicht auf ihre Wiederherstellung vernichtet waren. Als klinische Einheit wurde dieses Phänomen des Hirntodes erstmals im Jahre 1959 erkannt und setzte sich dann auch als juristisches Konzept des Todes durch. Die Gründe dafür waren: „In jedem Fall von Hirntod war auch bei intensivster Reanimation kein Zeichen von Erholung der vitalen Hirnfunktionen zu beobachten, die spontane Herztätigkeit kam zum Stillstand und der Verfall der Körperorgane gemäß ihrer Absterbeordnung trat ein. Daher erschien es sinnlos, die Herztätigkeit – für Stunden oder bestenfalls wenige Tage – artifiziell aufrechtzuerhalten, um mit hohem Kosten- und Arbeitsaufwand die traditionelle kardiozentrische Lebensdefinition zu demonstrieren“ (a. a. O., S. 115). Auch beim Herztod ist das entscheidende Ereignis, das den unabdingbaren Tod bestimmt, nicht der Herzstillstand selbst, sondern die irreversible Schädigung des Gehirns, die in diesem Fall nur wenige Minuten nach dem Herzstillstand eintritt. Eine solche irreversible Schädigung des ganzen Gehirns ist jedoch sorgfältig von jenen schweren Schädigungen zu unterscheiden, die nur Teile des Gehirns wie das Großhirn oder die Großhirnrinde 265
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oder die Verbindungen zu den tieferen Anteilen des zentralen Nervensystems betreffen. Auch der Zustand unerweckbarer Bewusstlosigkeit, als permanentes Koma bezeichnet, der auch durch Drogen oder Vergiftungen hervorgerufen werden kann, darf nicht mit dem Hirntod verwechselt werden. Solange das verschonte Stammhirn die lebensnotwendigen Funktionen von Herz und Kreislauf, Atmung und Stoffwechsel spontan aufrechterhalten kann, besteht Leben. Daher ist auch die für diese Zustände eingeführte Bezeichnung „Teilhirntod“ nicht zutreffend oder sogar irreführend. Um diese Zustände vom eigentlichen Hirntod zu unterscheiden sind strenge Diagnosekriterien entwickelt worden, die für diese Feststellung des Hirntodes den Nachweis sowohl des Ausfalls sämtlicher Hirnfunktionen als auch der Irreversibilität dieses Zustandes erfordern. Dazu gehören vor allem die Ausfälle der Hirnstammreflexe, wie Hustenreflex und Hornhautreflex. Die starren Pupillen dürfen keine Lichtreaktionen aufweisen und es dürfen auch keine Reflexe bei einer Eiswasserspülung des Ohres auftreten, wie überhaupt keine Verhaltens- oder Reflexantwort oberhalb der Höhe des Hinterhauptloches des Schädels zustande kommen darf. Solche Kriterien waren bei Patienten notwendig geworden, deren Kreislauf künstlich mit Hilfe der Herz-Lungen-Maschine aufrecht erhalten wurde. Durch diese technische Möglichkeiten, mit denen das Absterben und der sonst unvermeidliche Verfall der Körperorgane aufgehalten wurde, trat aber ein bisher in der Geschichte des Menschheit unbekannter Zustand ein, bei dem das Schicksal des Körpers von dem des Gehirns abgekoppelt ist: der sog. „dissoziierte Hirntod“. Der durch technische Mittel künstlich wieder belebte „reanimierte“ Hirntote, auf den dieser Zustand zutrifft, stellt daher für das übliche Verständnis vom Leben und Tod ein unbegreifliches und unheimliches, aber dennoch reales Faktum einer lebenden Leiche dar. Denn es ist nur schwer vorstellbar, dass wir es beim dissoziierten Hirntod nicht mit einem lebenden Organismus zu tun haben. Solche Hirntote sehen nicht nur wie Schlafende aus, sondern ihr Körper ist noch warm und sie dürfen nach den heute üblichen Diagnosekriterien Rückenmarkreflexe aufweisen. Es können sogar noch komplizierte Bewegungen ablaufen, wozu nicht nur das Wegziehen eins Beines bei einem Schmerzreiz, sondern auch – in seltenen Fällen – reflexartige Umarmungen der Krankenschwester beim Aufbetten des Kopfkissens gehören können. Das Auftreten komplexer Bewegungen der Arme, die bei einem Fall eines Hirntoten mit laufähnlichen Bewegungen der Beine kombiniert waren, wurde in neurologischen und neurochirurgischen Fachzeitschriften als „Lazarus-Syndrom“ beschrieben. Der Überlebenswille des Menschen hat also mit diesen Techniken der reanimierten Hirntoten 266
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ein unheimliches Reich zwischen Leben und Tod geschaffen, das in seiner bizarren Wirklichkeit alle Einfälle unserer Phantasie übertrifft (vgl. Linke 1993, S. 155 ff.). Trotzdem ist die Hirntoddiagnose mit den heute erarbeiteten Kriterien völlig sicher: „Niemand braucht zu befürchten, bei einer Hirntoddiagnose nicht wirklich hirntod zu sein. Ob er beim Hirntod aber auch tot ist, das ist eine andere Frage und hängt davon ab, was für einen Todesbegriff man ansetzt“ (a. a. O., S. 124). An diesem Punkt ist man an der Grenze der rein naturwissenschaftlichen medizinisch-biologischen Argumentation angekommen und es zeigt sich die Berechtigung eines normativen Todesbegriffes. Dieser normative Todesbegriff ist mit dem Begriff der menschlichen Person, der zum unabdingbaren Bestand der geltenden Rechtssprechung wie auch der traditionellen ärztlichen Ethik gehört, untrennbar verbunden (Seitelberger 1995, S. 121). In jeder fachübergreifenden philosophisch-ethischen Diskussion geht es daher in diesem Zusammenhang letzten Endes immer um den Nachweis der Konvergenz des neurobiologischen Hirntodkonzepts mit dem normativen Begriff des personalen Todes. Die gesamte Geschichte der Hirnforschung mit der ihr von Anfang an immanenten philosophischen Grundkonzeption des Gehirns als Organ des Geistes ist ein Beleg für diese Übereinstimmung des normativen Todesbegriffes mit dem Hirntodkonzept. Denn sehr bald hatte man schon in der Antike die kardiozentrische These aufgegeben, die das Herz als Zentralorgan der menschlichen Person betrachtete und die lange Suche nach dem „Sitz“ der Seele hat in der „großen“ dynamischen Lokalisation im ganzen Hirn ein Ende gefunden. Und es ist die seit den frühesten Anfängen der Hirnforschung von Alkmaion von Kroton und Hippokrates entdeckte Führungsrolle des Gehirns, die das personale Sein des Menschen, d. h. seine Vernunft und Entscheidungsfreiheit, erst ermöglicht. Beim Tod des Gehirns geht diese, nicht nur die einzelnen Organe des Leibes, sondern auch die Leib und Seele integrierende Systemfunktion unwiederbringlich verloren. Der in Teilen noch überlebende Körper wird zur Leiche und verfällt, auch wenn er unter Intensivbehandlung wie lebend aussehen sollte, zwar verlangsamt, aber unaufhaltsam. Der Tod des Gehirns ist der Tod der menschlichen Person. Er tritt dann ein, wenn die Einzelorgane und Teilsysteme des menschlichen Organismus nicht mehr in lebendiger Einheit verbunden sind und in ihren Funktionen nicht mehr vom Gehirn gelenkt werden. Die Diskussion um das Hirntodkonzept wäre nicht so heftig und dramatisch von Gegnern und Befürwortern geführt worden, wenn sie nicht auch in den medizinischen Vorhaben hoffnungslos kranken Mitmenschen mittels 267
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Transplantation, d. h. Organverpflanzung, das Leben zu retten, einen pragmatischen Hintergrund hätte. Der Erfolg einer solchen Transplantation von Körperorganen hängt wesentlich von ihrem Vitalitätsgrad ab, mit dem sie im lebenden Organismus des Empfängers ihre spezielle Organfunktion wieder voll entfalten können. Der beste Grad an Vitalität der Körperorgane ist natürlich bei einem reanimierten Hirntoten gegeben, dessen „lebender Leichnam“ auf diese Weise zu einer Organbank wird, solange er an der Herz-Lungen-Maschine angeschlossen bleibt. Diese nun seit 30 Jahren praktizierte Organentnahme bei einem Hirntoten hat zu einer heftigen und noch immer nicht verstummten Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern des Hirntod-Konzeptes geführt. Einerseits war von einem „Eingriff in das Sterben“, von „Tötung“ und sogar von „Vivisektion“ die Rede, während andererseits Befürworter des „Teilhirntodes“ bereits die Zerstörung von ausgewählten Hirnzentren, die für die höheren Funktionen des Bewusstseins verantwortlich sind oder gar das Versagen der linken Hirnhälfte (Linke 1993, S. 114) als hinreichende Voraussetzung für die Organentnahme betrachteten. All diese Diskussionen um Recht oder Unrecht der Organverpflanzung werden jedoch übertroffen von der Problematik der Hirngewebeverpflanzung, die in Tierversuchen erstmals bereits vor mehr als hundert Jahren stattgefunden hat und seit fast zwanzig Jahren auch an Menschen durchgeführt wird (vgl. Linke 1993, S. 110 ff.). Gehirnschädigungen gehören zu den grausamsten Krankheiten, weil sie den Kern der menschlichen Person betreffen und sein Verhalten bis zur Unkenntlichkeit verändern können. Epilepsie, Schizophrenie, Parkinson, Schlaganfall, Alzheimer, aber auch das gewöhnliche Altern, das meist mit zunehmendem geistigen Abbau verbunden ist, bereitet seit jeher der Menschheit die schlimmsten Ängste, vor denen niemand sicher ist. Die Hoffnung, solchen Krankheiten durch Gehirngewebeverpflanzung entrinnen zu können, wird daher nicht zu Unrecht als ein Menschheitsereignis angesehen. So ist es bereits gelungen, den Zustand von Parkinson-Patienten, die an der gefürchteten Schüttellähmung leiden, und deren medikamentöse Behandlung keinen durchschlagenden Erfolg gebracht hatte, durch Einpflanzung von fremdem Gehirngewebe wesentlich zu verbessern. Gelungen scheint auch eine Operation an einem Schizophrenie-Patienten zu sein, bei dem zum ersten Mal eine Störung personaler Identität durch Austausch ihrer zellulären Grundlagen versucht worden ist (vgl. Linke 1993, S. 50). Die bei solchen Hirngewebeverpflanzungen verwendete Operationstechnik ist keineswegs aufwendiger als bei andern Eingriffen ins Gehirn, die etwa der Entfernung von Tumoren dienen. Denn es ist nicht 268
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notwendig, das Gehirn auf breiter Fläche zu eröffnen. Man kann nämlich das fremde Hirngewebe über ein kleines Bohrloch mit einer Hohlnadel an die gewünschte Stelle des Empfängerhirns bringen. Da das Gehirn selbst schmerzunempfindlich ist, kann diese Operation sogar bei vollem Bewusstsein durchgeführt werden. Es muss in solch einem Fall nur eine örtliche Betäubung an der Kopfschwarte durchgeführt werden. Das eigentliche Problem bei der Hirnverpflanzung ist nicht so sehr der Empfänger, sondern der Spender des Hirngewebes. Denn jede Hirngewebetransplantation kommt mit dem Hirntod-Konzept in Konflikt: „Wenn die Entscheidung über Tod und Leben eines Menschen aber nur am Gehirn oder gar am Großhirn festgemacht wird, dann müßte es doch ein vollkommenes Tabu sein, aus dem Großhirn, dem Träger der Personalität also, Hirngewebe zu entnehmen, um es anderen Personen einzupflanzen“ (a. a. O., S. 127). Denn der Hirntod liegt nicht vor, wenn lebendes Hirngewebe verpflanzt werden kann. Der ethisch zwar auch nicht ganz unbedenkliche Ausweg an Stelle menschlichen Hirngewebes tierisches zu verwenden wurde von Anfang an mit Recht als riskant angesehen. Denn es gab Todesfälle durch Transplantation von Schaf- und Schweinehirnzellen und Hirntrockenzellen des Kalbes (Jellinger und Seitelberger 1958), die allerdings noch nicht in das Gehirn der Patienten sondern in ihr Bauchfell eingepflanzt wurden, aber dann zu einer tödlichen Entzündung der Nervenwurzeln führten (vgl. Linke 1993, S. 36). Dass tatsächlich lebendes menschliches Hirngewebe zur Transplantation benützt wird, ohne mit dem Hirntod-Konzept in Widerspruch zu geraten, liegt daran, dass dieses Hirngewebe im Regelfall von menschlichen Feten oder Embryonen stammen, die abgetrieben worden sind. Denn der Hirntod ist für den Embryo und Fetus nicht definiert, da zwischen Rückenmarkreflexen und Reaktionen des Gehirns, anders als beim Erwachsenen, nicht unterschieden werden kann. Die Lebendigkeit der abgetriebenen Leibesfrüchte stellt daher, wenn nicht eine zerstückelnde Technik eingesetzt worden ist, ein eigenes Problem dar. Bisher wurde jedoch von den zuständigen Ethikkommissionen keine Bedenken erhoben. Sie machten nur zur Auflage, dass Abtreibungen nicht zum Zweck der Hirngewebegewinnung durchgeführt werden dürfen. Eine weitere, diesmal positive Eigenart der Hirngewebeverpflanzung unterscheidet sie von allen anderen Organtransplantationen. Während man bei Herz- und Nierenverpflanzung auf Medikamente, welche die Abwehrreaktionen gegen fremdes Gewebe unterdrücken, nicht verzichten kann, scheint die direkte Einpflanzung von fremden Hirngewebe beim Empfänger zu keinen ausgeprägten Abstoßreaktionen zu führen. 269
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Es stellt sich dabei jedoch ein anderes Problem auf einer sozusagen höheren Ebene ein. Denn die Abstoßreaktionen sind der Ausdruck für die Unterscheidung von Eigenem und Fremden. Das Gehirn als Organ des Geistes ist daher auch die materielle Grundlage für die Identität der menschlichen Person. So hat schon im 18. Jahrhundert Charles Bonnet festgestellt: „Wenn die Seele eines Huronen das Gehirn Montesquieus hätte erben können, dann würde Montesquieu noch weiter schöpferisch tätig sein“ (Bonnet 1782, S. 258). Und die alten Geschichten von den vertauschten Köpfen sind zumindest im Tierversuch mit der Transplantation von Hundeköpfen zur grausamen Wirklichkeit geworden. Nicht ohne Grund wird daher auch bei der derzeit praktizierten Verpflanzung von Hirngewebe ernsthaft die Frage gestellt: „Könnte es nicht sein, daß das Gehirn eines Fetus sich im Schädel des Empfängers durchsetzt und dort doch noch seine eigene Geburt verwirklicht?“ (Linke 1993, S. 33). Unter der Voraussetzung, dass der menschliche Geist mit seinem Gehirn in diesem Leben eine duale Einheit bildet, die ihre Grundlage in der lebenslangen Identität der Nervenzellen hat, eröffnet die bisher noch nicht als undurchführbar erwiesene Möglichkeit der Transplantation auch artfremden Hirngewebes ebenso phantastische und unheimliche Perspektiven, sodass auch die bisher nur spekulative philosophische Frage: Wie ist es eine Fledermaus zu sein? (Nagel 1981), beantwortbar wäre. Doch diese Antwort wäre in jedem Fall mit dem Verlust der eigenen Identität erkauft. Der alte Traum von der Unsterblichkeit bekommt daher auch durch die Transplantation von immer neuen fremden Hirngewebe keine Realität. Die Hirnforschung stößt hier an ihre Grenzen. Was übrig bleibt und jedem vernünftigen Menschen zu denken geben sollte, ist die niedere Abkunft und die ungeheure Verletzbarkeit unseres menschlichen Gehirns, das uns zum Herrn dieser Erde gemacht hat. 270
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Namen Ackermann, J. F. 119 Adanson, Michel 93, 95 Aldini, Giovanni 97 ff., 168 f. Alkmaion 19 f., 25, 33, 35, 250, 267 Arrantius, Julius Cäsar 44 Aristoteles 11, 25, 27 ff., 68, 105, 138 f. Arnauld, Antoine 55 Asaf 36 Aubertin, Alexandre Ernest 159 Augustinus 28 Averroes 29 Avicenna 39 f. Bacon, Francis 86 Baer, Carl Ernst von 150, 155 Baglivi, Giorgio 48 f., 76, 80 ff. Bain, Alexander 167, 190, 192 f. Bastian, Henry Charlton 147 f., 165 ff. Beethoven, Ludwig van 147 Bell, Charles 136 ff. Benedum, J. 20, 36 Berger, Hans 258 Bernay, J. 28 Bernstein, J. 242 Betz, Vladimir Alexandrovich 223 Beucke 127 Bichat, François Xavier 237 Bischoff, T. L. W. von 153 f., 156 Blumenbach, Johann Friedrich 85, 119 f.
Register 283
Boerhaave, Hermann 76, 81, 86 Bogen, J. E. 238 Bohn 70 Bonnet, Charles 79, 101, 104, 110, 114, 120, 158, 270 Borelli, Giovanni 48 f., 51, 91 Bouillaud, Jean Baptiste 157 f., 203 Boyle, Robert 87, 91 Brazier, M. A. B. 58, 98 Brehm, Alfred Edmund 96 f. Breidbach, O. 107 Brentano, Clemens 126 Brizendine, L. 260 Broca, Paul 140, 154, 157 ff., 161 f., 164 f., 230, 253 Brodmann, Korbinian 224 ff., 228 f., 245 Broussais, Joseph Victor 130 Browne, James Crichton 186 Büchner, Ludwig 81, 156 Bulwer Lytton, Edward 126 Byron, George Gordon (Lord) 16, 101, 140 f. Caldini, Leopoldo 90 f. Camper, Pieter 119 Cappele, W. 19 ff. Carpenter, William Benjamin 181 Carus, Carl Gustav 127 Celsus, Aurelius Cornelius 35 Changeux, J. P. 17 Chirac, Pierre 71
284
Register
Chladni, Ernst 106 Chomsky, Noam 252 Clark, G. 236 Clarke, Edwin 40, 42, 93, 122, 130 Clossius, Carl Fr. 100 Combe, George 121 f., 124, 127 Condillac, Etienne 130 Creutzfeld, O. 234, 248 f. Cromwell, Oliver 140 f. Cuvier, George 12, 130, 139 ff. Damasio, A. R. 206 Dannemann, Fr. 94, 97 Darwin, Charles 149 ff., 177, 158, 221 Dax, Gustav 158 Dax, Marc 157 ff. Deecke, L. 261 ff. Deiters, Otto Friedrich Karl 213 Déjerine, Jules-Joseph 219 Demokrit 21 Descartes, René 21, 52 ff., 59, 64, 66 f., 87 f., 104, 106, 254 Deutsch, G. 238 Deville, Anthony 125 Dewhurst, Kenneth 40, 42, 208 Diogenes von Apollonia 19 ff., 33 Diokles von Karystos 34 Dirichlet, Lejeune 144 ff. Drelincourt 104 Dubois, J. 157 du Bois-Reymond, Emil 47, 168 ff. Economo, Constantin von 227 ff. Edelmann, Gerald 245 Ehrenburg, Christian 212 Empedokles 33, 47 Erasistratos 34 ff., 144 Eustachius, Bartholomäus 44 f. Exner, Siegmund 240 f. Fernel, Jean 47 f. Ferrier, David 132 ff., 177 f., 196 ff., 199 f., 202 f., 205 f., 216, 218 f., 246
284
Finger, S. 98 Flechsig, Paul Emil 205 ff., 218 ff., 226, 242, 251 Flohr, H. 244 f. Florey, E. 254, 257 Flourens, Pierre 12, 130 ff., 145, 152, 157, 174 ff., 178, 183 f., 187, 194 ff., 203, 236 Fontana, Felice 90 f. Forel, August 214 Forge, Louis de la 52 Forster, Thomas Ignatius Maria 121 Foster, Michael 217 Fowler, Lorenzo Niles 122, 125 Fowler, Orson Squire 122, 125 Fracastoro, Gerolamo 50 France, Anatole 149 Franklin, Benjamin 92 Fraunberger, F. 92, 99 Freud, Sigmund 160 Fritsch, Gustav 172 ff., 177, 187, 199 ff., 202, 209, 216, 223, 227 Fuchs, C. H. 149 Galen, Claudius 34, 36 ff., 39, 43, 47, 58, 144 Galilei, Galileo 48 f. Gall, Franz Joseph 109 ff., 130, 132 ff., 135 f., 139, 143 f., 152, 157, 174 Galvani, Luigi 93 f., 100, 168 Gassendi, Pierre 55 ff., 67 Gauß, Carl Friedrich 143 ff., 149 Gehuchten, Arthur van 215, 217 Gerlach, Joseph von 213 Geschwind, Norman 253 Glisson, Francis 58 Goethe, Johann Wolfgang 119 f., 124, 127 Goldstein, Kurt 235 Golgi, Camillo 213 ff. Goltz, Friedrich 178, 185, 194 ff., 199 f., 202 ff., 235, 246
Namen Gratiolet, Pierre 141, 145, 148 ff., 153 ff. Grünthal, E. 39 f., 44 f., 61 Guillotin, Joseph Ignaz 98 Gutschoven, Gerard van 52 Haeckel, Ernst 150, 155 Hagner, M. 98 ff., 107, 138 Hall, Marshall 82, 138 Haller, Albrecht von 69, 74 ff., 86, 88 ff., 104, 106, 131, 172 Harvey, William 47 ff., 52 f., 58, 68 Hausmann, J. F. L. 146 Head, Henry 235 Hebb, Donald O. 244 Hécean, H. 157 Hecker, E. 185 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 125 ff. Heine, Heinrich 126 Helmholtz, Hermann von 149, 202 Helmont, Johann Baptist van 59 Henschen, Salomon 227 Herder, Johann Gottfried 125 ff. Hering, Ewald 241 Hermann, C. F. 144, 146 Herophilos 34 ff. Hippokrates 22 ff., 25, 33, 58, 73, 75, 250, 267 Hirschberg, J. 19 His, Wilhelm 214 f., 217 Hitzig, Eduard 165, 172 ff., 176 f., 187, 195 ff., 199 ff., 202 f., 205 f., 209, 216, 218, 223, 227, 235 Hodgkin, A. L. 242 Hoff, Ferdinand 233 Hoffmann, E. T. A. 126 Homer 74 Hufeland, Christoph Wilhelm 99, 119 Humboldt, Alexander von 94 ff. Hunter, John 96 Huschke, Emil 138, 140, 145 Huxley, A. F. 242
285
285
Huxley, Thomas Henry 152 ff. Hyrtl, Jószev 160 Isler, Hansruedi 59 f., 65 f., 68 Jackson, John Hughlings 167, 237 f. Jacyna, L. S. 93, 122, 130 Jean Paul 126 Jellinger, K. 269 Kaau, Abraham 71 Kahn, F. 184 Kandel, Eric R. 17, 252, 256 Kant, Immanuel 11, 101, 105 ff., 251 Kästner, Abraham Gotthelf 77 Kelin, W. 197 Kleist, Karl 230, 232 ff. Koelliker, Albert 213, 215 Kornhuber, H. H. 261 f. Kotzebue, August von 126 Krebs 144, 146 La Mettrie, J. O. de 13, 21, 55, 85 ff., 101, 155 Lancisi, Giovanni Maria 72 Lange, Friedrich Albert 86 La Peyronie, F. G. de 72, 104 Laplace, Pierre Simon de 156 Lashley, Karl 235 f., 244 ff., 252, 254 f. Leborgne (Tan) 159 Leeuwenhoek Anton van 80 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 86 Lenin, Wladimir Iljitsch 226 Leonardo da Vinci 41 ff., 44 Lesky, E. 109, 112, 114, 117, 126 f. Leukipp 21 Leuret, François 145 Libet, B. 262 f. Liepmann, Hugo 229 Linke, D. 235, 265, 267, 268 ff. Linné, Carl von 99, 153 Livius 16 Loder, Justus Christian 118 f.
286
Register
Loeb, Jacques 235 Lombroso, Cesare 227 Longet, François Achille 181 Lorry, Antoine Charles de 72, 74 Magendie, François 134, 136 f., 157, 203 Malebranche, Nicole 86 Marat, Jean 99 Masieri, Filippo 46 Matteucci, Carlo 169 f. Meckel, Philipp Friedrich 81, 84 Mersenne, Marin 52 Metrodoros 36 Meynert, Theodor 160 ff., 165, 174, 202, 209, 214, 216, 221, 223 Mieg 104 Monakow, Constantin von 219, 235 Morton, Samuel George 156 Mountcastle, Vernon 245 Müller, Johannes von 138, 169, 213 Munk, Hermann 199 ff., 206 f., 209, 227 ff. Musschenbroek, Pieter van 91 Nagel, Th. 266 Nansen, Fridtjof 214 Napoleon 126 Neuburger, Max 70 ff., 94, 98, 101, 136 f. Newton, Isaac 60, 80, 87 Nobili, Leopoldo 168 ff. Nollet, J. A. 92 f. Nothnagel, Carl Wilhelm 176 Oehler-Klein, S. 120, 124, 126 Oeser, E. 32, 244, 246, 249 Ørsted, Hans Christian 168 Paracelsus 59 Paulsen, Friedrich 251 Pawlow, Iwan 256 Penfield, Wilder 230 f., 255 Perault, Claude 70, 88
286
Philoponos 31 Pick, A. 230 Piso, Carolus 65 Platon 25 ff. Plutarch 16 Poe, Edgar Allen 126 Pourfour du Petit, François 70, 73, 78 Proxagoras von Kos 34 Purkinje, Jan Evangelista 212, 241 Quanter, R. 98 Ramón y Cajal, Santiago 214 ff., 241 f., 244 Rasmussen, Th. 230 f. Réaumur, R. A. F. de 92 Reclam, Karl 155 Reil, Johann Christian 108, 119 Remak, Robert 213 Retzer 117 Rhazes 36 Ridley, Humphrey 70 Rolando, Luigi 131 f., 134 f., 145 Rose, F. C. 10 Rothschuh, K. E. 53, 213 Rousseau, E. 141 Rudolph, G. 77 Rush, Benjamin 121 Scheidler 127 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 126 f. Scheve, Gustav 111 f., 121 ff., 127 Schiff, Moritz 172 Schleiden, Matthias 212 Schwanitz, H. J. 99 Schwann, Theodor 212 Schweikhart, J. 15 f., 100 Seitelberger, F. 10, 160, 244, 246, 264 f. Semon, Richard 254 Shaw, John 137 Sheldon, Gilbert 66 Shelley, Mary 101
Sachen Sherrington, Charles Scott 11, 28, 31, 217, 214, 245 ff. Soemmering, Samuel Theodor 81, 84, 101 ff., 110, 119, 134 Solmsen, F. 25, 33, 35 f. Spencer, Herbert 156 Sperry, Roger 13, 239 ff., 250 Springer, S. P. 238 Spurzheim, Johann Caspar 119 ff., 139 Stahl, Georg Ernst 76 Steno (= Niels Stensen) 69 f., 72, 80 Struve, Gustav von 122 Sydenham, Thomas 65 Sylvius 61 Teichmann, J. 92, 99 Tertullian, Q. S. F. 35 Thales von Milet 105 Theophrast 21, 36 Tiedemann, Friedrich 138 ff. Trousseau, Armand 159
287
Wellmann, M. 19 Wells, Samuel 125 Wepfer, Johann Jakob 61 Wernicke, Carl 160 ff., 165, 202, 232, 235, 253 Whewell, William 136 Wieland, Christoph Martin 117 Wiesel, Torsten 245 Wilhelm, G. T. 97 Willis, Thomas 32, 58 ff., 79, 88, 90, 104 f., 106 Winkler, E. 15 f., 100 Wolff, Christian 86 Wren, Christopher 60 f. Wrisberg, H. A. 104 Wundt, Wilhelm 192 ff., 202, 207 Yeo, Gerald 198 Zimmermann, Johann Georg 77, 89 f. Zinn, Johann Gottfried 77, 89 f., 127
Valentin, Gabriel 212 Varolio, Constantino 44 Vaucanson, Jacques de 101 Verworn, Max 241 ff. Vesalius, Andreas 44, 51, 59, 105, 107, 119 Vesling, Johann 45 Vicq d’Azyr, Félix 85 Vieussens, Raymond 70 f. Vogt, Carl 81 Vogt, Cécile 226 Vogt, Oskar 226 Volta, Alessandro 97, 99, 168 Vulpian, Edmé Félix Alfred 185 Wagner, Rudolf 140 ff., 213 Waldeyer, Wilhelm von 215 Wale, Jan de 51 Walsh, John 95 f. Walther, Philipp Franz von 114 Weinhold, C. A. 100
287
Sachen Sachen
Aale, elektrische 97 Abbildtheorie, naive 82, 249 Abbildungstechniken 259 Absterbeordnung der Organe 264 f. Abstoßreaktion 269 f. Abtragung des Gehirns 132 ff., 177 –, schichtenweise 133 Achsensylinder 213 Affen 149 ff., 188 ff., 197 –, höhere 150, 153 ff. –, niedere 154 f. Affengehirn 149 ff., 188 f. Agnosie 210, 229 Agrammatismus 232 Agraphie 166 Alexie 229 –, optische 210
288
Register
Anatomie, pathologische 73 –, vergleichende 66, 102, 114 Anenzephale 151 Anima brutorum 60, 67 – rationalis 60, 67 – sensitiva 29, 60 – vegetativa 29, 60 – vitalis 60 Aphasie 159, 163, 166, 191, 210, 254 –, motorische 162, 164, 193, 230 –, sensorische 162, 164 f. Aphasiologie 165 Aphemie 159 Aplysia 256 Apraxie 230, 232 Apriori, genetisches 248 Äquipotentialität 236 f., 244, 247 Äquipotentialtheorie 238, 244 Äquipotenz der Großhirnrinde 134, 187, 246 Äquipotenztheorie 75, 79, 130 ff., 176, 178, 187, 194, 202, 235, 255 Arbeitsgedächtnis 258 Area striata 227 Arterien 50 f. Artikulation 159, 167, 191 Assimilation 241 Assoziation 202 Assoziationsareale 236 Assoziationsfasern 129, 161, 209 f., 216 Assoziationsfelder 216 Assoziationssphären 218 Assoziationssysteme 161, 209 Assoziationszentren 205, 207 f., 210, 219, 243 Asymmetrie, funktionale 237 f. Ataxie, optische 229 Ätherschlaf 175 Atome 21, 47 Atrophie 164, 223 Augendominanzsäulen 245 Australopithecinen 15
288
Automat 52 Axon 213, 215 Balken 45, 72 f., 89, 233, 238 f. Ballonisten 80 Batterien, elektrische 100 Bell-Magendie-Gesetz 136 ff. Bereitschaftspotential (BP) 261 ff. Bewegungssteuerung 132 Bewegungsstörungen 17, 229 Bewegungsvorstellung 202 Bewusstsein 181, 191 ff., 218, 249 f., 264 Biomechanik 49 Blut 21, 25 f., 33, 49 ff. Blutkreislauf 49 ff., 58 Broca-Areal 253 Caudatum 64 Cercopithecus sabaeus 149 Cerebral-System 108 Chiasma opticum 20 Chinesen 148 Corpus callosum 68, 79, 89, 128, 238 Craniologie 122 Crow-bar-case 206 Dendriten 213, 215 ff., 222 Denken 19 ff., 24 f., 30 ff. Denkstörungen 229 Determinismus, genetischer 151 Dissimilation 241 Distanzdetektoren 246 Dualismus 55, 59, 67, 219, 221 Dura mater 78 Durchspülungsmethode 195 f., 198 Eigenstrom 170, 172 Einbildungskraft 30 ff., 39, 68, 83 –, produktive 31 f., 68 –, reproduktive 31 f., 68 Elektrizität 91 ff., 168, 214 –, atmosphärische 94 –, medizinische 99
Sachen –, tierische 91 ff., 101, 168 ff. Elektroden 179 Elektroenzephalogramm (EEG) 258 f. Elektrophysiologie 168, 170 ff. –, experimentelle 168 Elektrotherapie 99, 172 Elementenlehre 47 Elitegehirne 147, 227 Embryo 23, 150, 265 Empfindung 33, 35, 83, 104, 242 Energie, plastische, der Neuronen 223 Engramme 254 f. Enthauptung 98 f. Entwicklung, ontogenetische 150, 221 –, phylogenetische 150 Entwicklungshemmung 150, 155 Enzephalisations-Quotient 85 Epilepsie 23, 64 f., 234, 258 –, primär generalisierte 23, 238 –, sekundäre 23 Epileptiker 230, 238 f., 255 Erinnerung 32 Erinnerungsbilder 242 Erkennungsstörung 229 Erregbarkeit, elektrische 172 ff. Erwartungswelle (CNV) 261 Evolutionstheorie 150, 152 ff., 177, 221, 248 Experimente, galvanische 98 ff. Exstirpation 176, 199, 205 Fähigkeiten, geistige 114, 155, 207 –, psychische 114, 117 Fakultäten 48, 66 f., 113 f., 117, 135 Färbemethode 213 Fermentation 59 Fetus 269 f. Fische 183 Fledermaus 270 Flüssigkeiten, hypothetische 81 Formatio reticularis 40 Fortsatz, protoplasmischer 213 ff. Föten, menschliche 150, 155, 209
289
289
Frankenstein 101 Frosch 43, 86, 90, 93 f., 168 f., 178 ff. –, geköpfter 90 –, großhirnloser 183 Froschstrom 169 Fühlsphäre 200, 202 f., 207 Funktion, höhere 11, 129, 196, 236, 250, 258 Funktionsstörungen 198 Galle 47, 58 Galvanismus 93 ff., 101 Ganglien 128, 176 Ganglienkugeln 212 f. Ganglien-System 108 Ganglienzellen 213 f. Gedächtnis 19, 30 f., 222, 236 f., 254 ff. –, assoziatives 235 –, körperliches 254 Gefühlssinn 200 f. Gehirngewicht 84 f. Gehirnhöhle 101 Gehirnmark 79 Gehirnmasse 85 Gehirnorgane 115 Gehirnphysiologie, experimentelle 130 ff. Gehirnrindenzentren 218 ff. Gehirntumore 234 Gehirnventrikel 36, 41 ff. Gehirnwindungen 17, 37, 143 ff. Geist 11 f., 58, 87, 126, 207, 210, 234, 249 Geister, animalische 51, 58, 69, 80 Geistes, Organ des 12, 190 ff., 249, 267, 270 Geistseele 29 Gemütsbewegungen 185 Geruchszentrum 188 Geschmackszentrum 188 Gesichtssinn 43 Gestaltpsychologie 235 Gestaltwahrnehmung 246
290
Register
Gladiatorenkämpfe 37 Gleichgewicht 182 ff. –, gestörtes 133 Gleichwertigkeit der Hirnteile 89 f. Großhirn 45, 47, 72, 132, 174, 195 ff., 205 Großhirnhemisphäre 129, 131 f., 133 f., 144, 153, 182 f. –, linke 158 Großhirnrinde 73, 129, 161 ff., 173 ff., 177, 219, 224 ff. –, Abtragung der 134, 177, 187 –, Unerregbarkeit der 172, 174 Großhirnwindungen 36 f., 47 Grundfakultäten 116, 122 Grundgesetz, biogenetisches 155 Gruppen, neuronale 245 Guillotine 98 f., 264 Gymnotes electricus 95 f. Handlungsabfolge, Störung der 232 Hebbsche Regel 244 Hemisphäre 24, 134, 158 f., 165, 237 ff. –, untergeordnete 240 –, windungslose 144 Hemisphärendominanz 237 Hemisphärenspezialisation 237 f. Hemmung 241 Hemmungszentren 193 f. Herz 11, 25, 37, 49 ff., 76 f., 79 f., 86 f. Herzkammer 50, 52 Herznerven 71, 90 Herztätigkeit 50, 52, 76, 79, 90 f. Herztod 264 Hippocampus 257 Hirnendigungen der Nerven 102 Hirngewebeverpflanzung 268 f. Hirngewicht 138 ff. –, europäisches 147 –, und Intelligenz 139, 143 –, Vermehrung des 155 Hirnhöhlenfeuchtigkeit 102 ff.
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Hirnhöhlenwassersucht 103 Hirnkarte 224 f., 232 Hirnphysiologie, vergleichende 177 ff. Hirnsehschwäche 203 Hirnstammreflexe 266 Hirntod 264 ff. –, dissoziierter 266 Hirntransplantation 264, 268 ff. Hirnwindungen 44 ff., 84, 145 Hirnwindungsreichtum 144 Holismus 235 Hominidenevolution 15 Homologisierung 188 f. Homunculus, sensomotorischer 230 f. Hörrinde 219 Hörsphäre 200 f., 204 Hörzentrum 188, 197 Hottentotten 148, 156 Hund 27, 51, 56 f., 66, 70 f., 78, 89 f., 112 f., 173 ff., 182, 190, 194 ff., 197 ff., 203, 243, 256 f. –, großhirnloser 194 ff., 198 –, narkotisierter 175 f. Hundeköpfe(n), Transplantation von 270 Hydrozephale 104, 151 Hyperkolumnen 246 Hysterie 64 f. Iatromechanik 49, 76, 80 f. Ich 210, 233 –, primäres 221 –, sekundäres 221 Ideen 221 Idiot, mikrozephaler 147, 151, 207 Idiotismus 139 Ignorabimus 168 Individuationsprinzip 29 Informationsübertragung 82 Innervation, kontralaterale 73 Innervationsgefühle 201 f. Intelligenz 37, 85, 144 ff., 188, 205 ff. Ionentheorie der Erregung 242
Sachen Irritabilität 76 f., 88, 90 Irritabilitätslehre 76 ff. Kaninchen 184 Kannibalismus 15 kardiozentrische These 28, 37 Katze 100 –, elektrisierende 92 Kiemenrückziehreflex 256 f. Klangbilder 161 Klangfeld 161 f. Kleinhirn 34 ff., 45, 47, 62 f., 70 f., 79, 90, 131 ff., 151, 155, 181 ff., 184 Kolumnen 245 Koma, permanentes 261 Kommissurotomie 239 Konditionierung, klassische 256 f. Kontaktelektrizität 97 Koordinationsstörungen Kopf 25 ff. –, abgeschlagener 98 –, phrenologischer 123 Kopfjägerei 117 f. Kopfsäge 127 Kopfschüsse 233 f. Kopfverletzung 17 Körnerschicht 227 Körperbewegungen, Koordination der 182 Körperfühlsphäre 209 Körper-Ich 233 Körperschema 230 Körperseele 60, 67 Krämpfe 33, 65 Kranioskopie 121 Krankheit, heilige 22 ff. Lähmung 73 –, motorische 177, 190 Langzeitgedächtnis 257 Lappeneinteilung der Großhirnhemisphären 145 Lateralisierung 158
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Lazarus-Syndrom 266 Leiche, lebende 266 Leitungsaphasie 164 Leitungsbahnen 162 f., 166, 209 Lernen 236 f., 254 –, explizites und implizites 255 Leydener Flasche 91 ff., 97 Lokalisation 167, 174 f., 187, 198, 209, 236, 246 –, dynamische 217, 267 –, physiologische 228 –, übertriebene 232 ff. Lokalisationstheorie 79, 129, 174, 216, 234, 246 –, dynamische 241, 248 –, extreme 236 –, individualisierende 110 ff., 226 –, klassische 110, 235, 247 –, mechanistische 161 Luft 20 f., 24, 33, 36 Magnetresonanztomographie 259 Makro-EEG 259 Markscheidenreifung 208 f. Markschichten 227 f. Marksubstanz 62, 128 Maschinenmensch 13, 85 Maschinentheorie 55, 85 Massenaktion, Gesetz der 236, 247 Materialimus 60, 119 f. –, französischer 156 Medulla oblongata 179 f. Meeresschnecke 256 Melancholie 69 Membrantheorie 242 Memoria 30 f. Menschen- und Tierseele 58 Menschenhirn 52, 79 ff., 218 f., 230 Metaphysik und Physiologie 108, 130 Methode 131, 174, 195 –, anatomische 119 f. –, experimentelle 132
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Register
–, ontogenetische 145 –, tranzendentale 108 Mikro-EEG 259 Mikrozephale 149 ff. Missgeburten, gehirnlose 71 Mittelhirn 181 f. Modularität 84, 244 Module 247 Molekel, elektromagnetische 170 Mordsinn 114, 122, 124 Morphiumnarkose 175 f. Multiplikator, elektromagnetischer 169 f. Muskelbewegung 174 ff. Muskelgefühle 201 Muskelkontraktion 170 ff.,173, 179 Muskelsinn 167 Myelinisierung 209 Neandertaler 15 Negergehirne 139 Neophrenologie 194 Nerven 34 ff., 78, 80 ff. –, fasrige Struktur der 182 –, Masse der 85 –, motorische und sensorische 34 ff., 82, 136 –, Schwingungsformen der 105 f. –, Ursprung der 36 Nervenagens und Elektrizität 94, 100 Nervenfasern 80 ff., 128, 213 –, Kreuzung der 73 Nervenfluidum 171 Nervengeister 80, 82 Nervengewebe 80 Nervennetzwerk 166, 214, 216 Nervenröhre 53, 81 Nervenruhestrom 171 Nervensaft 58, 80 f. –, ätherischer 82 Nervenzelle 212 f. Nervus opticus 20, 45 Netze, neuronale 241 ff.
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Netzhaut 200, 223, 246 Netzwerke, konnektionistische 244 –, neuronale 245 Neuroblast 215 f. Neuroepistemologie 10 Neuroinformatik 244 Neuron 34, 78, 215 ff., 243 f. –, modulatorisches 257 Neuronengruppen 247 Neuronentheorie 212, 215 ff., 240 f., 244 Neurophilosophie 10 Neurowissenschaft, kognitive 250 ff. Objektkonstanz 57 Organ der Sprache 158 –, elektrisches 91, 93 ff., 97 Organologie 113, 116 ff. Ortsblindheit 229 Ortsinn 115 Paragrammatismus 232 Parallelismus 167, 191, 211 Parkinson 268 Pathologie 134, 190 Persönlichkeit 233 f. Perzeptionssphären 218 Phantasie 30 f., 39, 68 Phantasma 31 f. Phrenologie 117, 121, 125 ff., 130, 194 Physiognomik 121, 125 Physiologie 47, 217 –, experimentelle 134 –, vergleichende 67 Pithecometra-Satz 145 Pneuma 19, 33 ff., 37 f., 106 Poly-Gyrie 149 Poroi 19, 33, 35 Positronenemissionstomographie (PET) 259 Potentiale, evozierte 258 Präexistenz 27 Präparationstechnik 160
Sachen Projektionsfasern 129, 209, 216, 219 –, zentrifugale und zentripetale 219 Projektionsfelder 161, 216 Projektionssphären 218 Psychologie 218, 251 f. –, physiologische 207 Pyramidenzellen 227
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–, Reflexfunktion des 178 ff. –, verlängertes 64, 71, 74, 180 f. Rückenmarkdurchschneidungen 75, 178 Rückenmarksbewusstsein 180 Rückenmarksnerven 136 ff. Rückenmarksphysiologie 69, 75 Rückenmarksverletzungen 74 f.
Quakversuche 185 Qualitätenlehre 47
Säulen 245 f. Schädelkult 15 f. Schädellehre 116 ff., 121, 126 Schädelmaße 142 Schädelmessung 141, 156 Scheinnetz 214 Schichtenbezeichnung 224 f. Schimpanse 153 ff. Schinderhannes-Bande 99 Schizophrenie 69 Schlaf 21, 29, 40 Schmerzäußerungen 77, 180 –, bewusste 186 –, reflektorische 186 Schmerzensschrei 180, 185 f. Schmerzreaktion 204 Schwankung, negative 170 ff. Seele 11, 17, 25 ff., 29, 32 ff., 38, 59 ff., 83, 174, 250 –, denkende 54 –, doppelte des Menschen 67 –, Dreiteilung der 11, 60 –, dynamische Gegenwart der 107 f. –, Immaterialität der 85 –, Materialisierung der 87 –, materielle Grundstoffe der 59 –, Organ der 11, 101 f., 178, 250 –, rationale 38 –, Schichtenlehre der 32 –, sensitive 66 f. –, Sitz der 11, 39, 44, 72, 79 f., 90, 101, 104, 108, 158, 267 –, sterbliche 26 f. –, vernunftbegabte 54 f.
Rabe, großhirnloser 132 Rassismus 148 Ratten 236 ff. Raufsinn 124 Reanimation 265 Reflexautomat 178 Reflexbewegung 204 Reflexmaschine 181 Reflexzentrum 178, 204 Reiz, unbedingter 256 Reizversuche, elektrische 175, 177 Renaissancephysiologie 47 ff. Repräsentationen, kortikale 231 Res cogitans und Res extensa 54, 95, 67 Respirationszentrum, spinales 74 Restitution 194, 222, 248 Restitutionstheorie 198, 202 Rete mirabile 37 Retikulum 213 Retina 223 Rezeptoren, sensorische 161 Riechrinde 219 Rindenbewegungslosigkeit 202 Rindenblindheit 200 Rindenfelder, primäre 234 Rindengefühllosigkeit 202 Rindenlähmung 202 Rindensubstanz 128, 144 Rindentaubheit 200 Rückenmark 43, 74, 120, 128, 178 ff., 213
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Register
–, vitale 67 –, Werkzeuge der 48, 172 Seelenatome 21 Seelenbewegungslosigkeit 202 Seelenblindheit 199 f., 203, 210 Seelengefühllosigkeit 202, 210 Seelenlehre, medizinische 84 Seelenlosigkeit der Tiere 55, 57 Seelenorgan 94, 101 ff., 143, 149 f., 168, 211, 249 Seelentaubheit 199 f. Seelenteile 25 f., 32 Seelenüberrest 88 Seeräuber, etruskische 27 Sehfeld, primäres 245 f. Sehnen 34, 78 Sehnerven 35, 54 Sehrinde 219, 227, 229 Sehsphäre 200 f., 204, 242 Sehstörungen 229 Sehvorgang 25 f., 53 ff., 242, 246 Sehzentrum 188, 203 Sektionen 19 f., 37 f., 41 Sektionstechniken 38 Selbstanreger 245 Selbstbewusstsein 29, 249 Selbstorganisation 245 Selbstregulierung 181 Sensibilität 76 ff., 90 Sensorium, gemeinschaftliches 80 Sensorium commune 81, 101 f., 104 f., 107, 181 Sensus communis 10, 30 f., 39, 41, 64, 80 f. Sezierzeug 127 Silurus electricus 93 Sinneswahrnehmung, adäquate 31 Single-Photon-Emmissionscomputertomographie (SPECT) 259 Spiritus 37, 48, 58 f., 62 – animalis 33, 37, 39, 44, 48, 51, 53, 62 ff., 68, 81 f., 106 – audiendi 48
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–, chemische Theorie der 64, 68 –, Explosionstheorie der 64 – naturalis 37, 48, 53 – vitalis 37, 48, 53 Split-Brain-Experimente 239 f. Sprache 17, 57, 166, 249 –, äußere und innere 157 –, Lokalisation der 129, 159, 167 Sprachfähigkeit 253 f. Sprachorgan 158 Sprachsinn 123 f., 157 Sprachstörung 17, 157 ff., 160, 165 f. Sprachverarbeitung 252 ff. Sprachzentrum 157 ff. –, Lokalisation des 158 –, motorisches 159, 162, 249 –, sensorisches 160 ff., 249 Stirnhirn 205 ff. Stirnhirnlappen 145 f., 157, 206 Stromstärke 173, 187 Stufenleiter der Lebewesen 110, 114, 120 Substanz, graue und weiße 81, 84, 128 Synapse 217, 241, 244, 256 Synapsentheorie 212, 250 Taube 50, 72, 133 ff., 183 Teilhirntod 265, 268 Tiere 27, 56 ff. –, höhere 197 Tierexperimente 50 f., 75, 134 Tierhetze 114 Tierhirn und Menschenhirn 32 Tier-Mensch-Vergleich 120, 152 ff. Tierpsychologie 113 f. Tierseele 60 Tod 29 Todesbegriff, normativer 263 Todesmetaphysik, platonische 27 Torpedo 94 f. Transplantation 268 Trepan 96, 131 Trepanation 15 f. Trepankrone 173
Sachen Trepanloch 195 Troikart 71, 131 Umwelt des Gehirns 248 Universalgrammatik 252 Unsterblichkeit 29 Vagusnerven 66 Venen 51 Ventrikel 35, 39 ff., 44 ff. Ventrikellehre 39 ff., 101 ff. Ventrikelsystem 102 Venus, hottentottische 148 Verbindung, interneuronale 222 f. Verbrecher, enthauptete 12 Verfahren, bildgebende 259 Verhaltensforschung 113 ff. Vernunft 29 Vernunftseele 26 f., 56 f., 67 f. Verstand 20, 32 Vestigia 83 Vibrationsbewegung 80 Viersäftelehre 47 Vis cogitativa 39 Vis imaginativa 39 Vis memorativa 39 Vis pulsifica 48 Vitalfunktionen, Sitz der 74 Vitalitätsgrad 268 Vivisektion 12, 35, 37, 49, 55, 66, 69 ff., 73, 77, 134, 136 f., 157, 173 ff. – am Menschen 12, 35 – an Affen 38, 188 – an Verbrechern 35, 99 –, natürliche 13 Vorstellung 19, 68, 105, 193 Vulgärmaterialismus 156
Wahnsinn 223 Wahrnehmung 19 f., 30 ff., 83, 182 Wahrnehmungsorgan 41 ff. Wasserköpfe 105, 141, 151 Wernicke-Geschwind-Modell 253 Willensfreiheit 262 ff. Windungen der Großhirnrinde 84 Windungsreichtum 138, 144 Wirbeltheorie des Schädels 120 Wortamnesie 166 Wortgedächtnis 157 f. Wortzentren für Gehöreindrücke 167 Würgsinn 122, 124 Zelle 212 Zellschichten 227 f. Zellverbände, Theorie der 244 f. Zentralwindung, Rolandosche 145 Zentren 172 ff., 218 –, eng umschriebene 175, 197 ff. –, kommemorative 220 ff. –, motorische 166, 174, 176, 197 –, sensomotorische 218 –, subkortikale 219 Zentrenreste 198 zephalozentrische These 25, 37 Zerebrospinalaxe 184 Zerstörungssinn 122, 124 Ziegen 22 f. Zirbeldrüse 45, 53 f. Zitteraal 94 ff. Zitterfisch 93, 168 Zitterrochen 93 ff., 97, 169 Zitterwels 93 f. Zytoarchitektur 226
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