Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart 9783486717945, 9783486716320

"Adelsbilder" - das sind die Bildwerke, die der Adel von sich erschaffen ließ. Das sind die Sozialbezüge, die

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Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart
 9783486717945, 9783486716320

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Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart

Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)

beiheft 58 herausgegeben von andreas fahrmeir und lothar gall

oldenbourg DOI 10.1524/9783486716320.fm

Peter Scholz, Johannes Süßmann (Hrsg.)

Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart

Oldenbourg Verlag München 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. © 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 143, D-81671 München Internet: oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Dieses Papier ist alterungsbeständig nach din / iso 9706. Gestaltung: Katja v. Ruville, Frankfurt a. M. Satz: Roland Schmid, mediaventa, München Druck und Bindung: Kösel, Krugzell isbn 978-3-486-71632-0 e-isbn 978-3-486-71794-5

Inhalt

Einführung // Peter Scholz und Johannes Süßmann

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Vom kouros zum togatus. Öffentliche Bildnisse griechischer Aristokraten, hellenistischer Herrscher und römischer Senatoren // Peter Scholz _____

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Adelige – Gruppen – Bilder. Eine Skizze zur zeichenhaften Verankerung von adeligem Herkommen und ritterlicher Leistung // Stephan Selzer

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Vom Ritter gegen Tod und Teufel über den Glaubensstreiter zum Kavalier. Zum Wandel der Adelsbilder in der Frühen Neuzeit // Johannes Süßmann

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Zwischen Bronzestatue und Aktionskunst: Bildhafte Inszenierungen adeliger Lebenswelten in England im 19. und 20. Jahrhundert // Andreas Fahrmeir Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart. Zusammenfassung und Ausblick // Walter Demel

Die Autoren

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Einführung von Peter Scholz und Johannes Süßmann

„Adelsbilder“ haben wir die Sektion des Konstanzer Historikertags 2006 genannt, die hier dokumentiert wird 1 – damit führen wir unseren Gegenstand als etwas ein, das eine Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln verlangt. Denn Adelsbilder, das sind zum ersten die Vorstellungen, die wir vom Adel hegen; die Vorurteile, mit denen wir ihm gegenübertreten; die Erwartungen, die wir an ihn richten; alles, was Betrachter für typisch adlig und dem Adel angemessen halten; letztlich das „Gedankenbild“ oder der Begriff, den Außenstehende sich vom Adel machen. 2 Adelsbilder, das sind zum zweiten aber auch die Selbstdarstellungen des Adels; die Vorstellungen, die er von sich pflegt; die Art und Weise, wie er sich gibt, um (seiner Meinung nach) angemessen wahrgenommen und anerkannt zu werden; man könnte dies als sein nach außen gekehrtes Selbstverständnis bezeichnen. Zum dritten sind Adelsbil-

1 Die Vorträge wurden im Frühjahr 2007 druckfertig gemacht. Nur noch die Einleitung fehlte, als die Lebensumstände der Beteiligten sich durch drei Berufungen so einschneidend änderten, dass an die geplante zügige Fertigstellung des Bandes nicht mehr zu denken war. Wenn die Beiträge nun auf Wunsch der Herausgeber unverändert vorgelegt werden, geschieht dies nicht allein, weil jede Überarbeitung den damaligen Diskussionszusammenhang verwischt hätte. Es liegt dieser Entscheidung auch die Überzeugung zugrunde, dass der vorgeschlagene Ansatz durch den Fortgang der Forschung bislang nicht überholt worden ist. – Die Herausgeber danken den Beiträgern für ihre Geduld, dem Verlag, den Verantwortlichen für die Reihe und der HZ-Redaktion für ihr so freundliches wie unerbittliches Drängen. Beides hat das Erscheinen erst möglich gemacht. 2 Der Ausdruck „Gedankenbild“ stammt von Droysen. Er bezeichnet damit das Ziel geschichtswissenschaftlicher Forschung: „die Forschung, das wahre ἱστορεῖν geht den entgegengesetzten Weg; sie ist sich bewusst, dass sie es mit einem Material zu tun hat, welches in der Gegenwart steht, und dass sie von diesem Punkt aus in die Vergangenheit zurückgeht; oder genauer zu sprechen, dass sie, diesen Punkt in der Gegenwart, dies Gewordene und Vorhandene analysierend und interpretierend, das Gedankenbild einer Vergangenheit zeichnet, die tot wäre und bliebe, wenn die Forschung nicht jenen Punkt gleichsam wieder erweckte und auseinander legte; wir dürfen sagen, das Wesen der Forschung ist, in dem Punkt der Gegenwart, den sie erfasst, die erloschenen Züge, die latenten Spuren wieder aufleben, einen Lichtkegel in die Nacht der Vergangenheit rückwärts strahlen zu lassen.“ Johann Gustav Droysen, Historik. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriss der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Textausgabe v. Peter Leyh. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, 9f.

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der, sofern man sie wörtlich nimmt, konkrete Gegenstände: bemalte Leinwände, bedrucktes oder belichtetes Papier, behauene Steine, die durch visuelle Zeichen die Bedeutung ‚Adel‘ erzeugen und sie mit bestimmten Attributen versehen. Jede dieser drei Dimensionen wird seit langem einzeln diskutiert. Welche neuen Einsichten man gewinnt, wenn man sie über die Epochen der europäischen Geschichte und Kultur hinweg aufeinander bezieht, soll der hier vorgelegte Band zeigen. 3 An ausgewählten visuellen Zeugnissen möchten wir vorführen, wie durch deren Analyse ein adliger Habitus freigelegt werden kann: eine bestimmte Haltung, ein Denk- und Handlungsstil, der starke gesellschaftliche Wirkung entfaltete und zu einer Modifikation herkömmlicher Vorstellungen vom Adel zwingt. Im Folgenden thematisieren wir zunächst die Bildhaftigkeit unserer Zeugnisse. Wir legen dar, welches Material wir für unsere Untersuchungen ausgewählt haben. Die Quellenkritik, die Historiker immer üben müssen, erfordert in diesem Fall, die Medialität visueller Zeugnisse, ihren Status und die dadurch erzeugte Kommunikationsweise zu bestimmen; dafür greifen wir auf Begriffe und Ergebnisse aktueller bildwissenschaftlicher Diskussionen zurück. 4 In einem zweiten Schritt wird erörtert, was wir den visuellen 3 Die thematische Beschränkung der Beiträge auf die europäische Kultur ist der pragmatischen Entscheidung geschuldet, die Referate der Sektion auf dem Konstanzer Historikertag als geschlossene Einheit zu dokumentieren. Die darin geleistete exemplarische Analyse verschiedener prominenter Adelsbilder aus den vier großen Epochen der europäischen Geschichte will und kann nicht mehr als einen Grundstein legen. Erst auf dessen Basis kann sinnvollerweise ein Vergleich mit anderen Kulturen gesucht werden, wie Walter Demel ihn im Ausblick unternimmt. 4 „Bildwissenschaft“ werden aktuelle Versuche genannt, die Kunsthistorie zu einer allgemeinen Theorie und Analyse visueller Kommunikation zu erweitern. Die Anstöße kamen zumeist aus der Philosophie, der Medienwissenschaft, der Kulturtheorie, während die Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker darüber streiten, ob sie dieser Nachfrage entsprechen oder auf der Besonderheit ihres Gegenstands beharren wollen, vgl. Andreas Schelske, Die kulturelle Bedeutung von Bildern. Soziologische und semiotische Überlegungen zur visuellen Kommunikation. Wiesbaden 1997; Klaus Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. 2., leicht verb.Aufl. Köln 2006; ders. (Hrsg.), Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt am Main 2005; Martin Schulz, Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft. München 2005; Horst Bredekamp, A Neglected Tradition? Art History as Bildwissenschaft, in: Critical Inquiry 29, 2003, 418–428; Herbert Burda/Christa Maar (Hrsg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Köln 2004; Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt am Main 2005; Birgit Mersmann/Martin Schulz (Hrsg.), Kulturen des Bildes. München 2006; Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007; Hans Belting (Hrsg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch. München 2007; Stefan Ritter, Alle Bilder führen nach Rom. Eine kurze Geschichte des Sehens. Stuttgart 2008, bes. 33–102. Im angelsächsischen Bereich werden vergleichbare Ansätze unter den Schlagworten pictorial turn und visual culture diskutiert, vgl. William J. Thomas Mitchell, The Pictorial Turn, in: Artforum 30, 1992, 89–94; ders., Picture Theory. Essays on

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Zeugnissen entnehmen können. Handelt es sich bloß um geschönte Darstellungen, Ideale, Normvorstellungen? Oder lässt sich darin etwas entdecken, das vielmehr den Charakter eines Faktums besitzt: eines Handelns, das tatsächlich stattfand und die gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmte? Im dritten Abschnitt wird es um unseren Adelsbegriff gehen und die Frage, wie universalisierbar er ist. Der vierte umreißt die verschiedenen Beiträge und wirft zuletzt die Frage nach unserem Erkenntnisinteresse und dem Gegenwartsbezug unserer Ergebnisse auf.

I. Visuelle Zeugnisse vom Adel: „Ikonen“ und „Bildakte“ Wer nach visuellen Zeugnissen sucht, die Adlige darstellen und etwas über Adel verraten, findet je nach Geschichtsepoche und Kultur anderes Material. Das ergibt sich schon aus der unterschiedlichen Überlieferungslage. Von der Malerei der Antike ist fast nichts auf uns gekommen, profane Gegenstände mittelalterlicher Malerei sind beinahe nur in Form von Miniaturen erhalten. Je weiter eine Epoche zurückliegt, umso häufiger haben nur öffentliche Bildnisse aus Marmor und anderem Stein – und schon weitaus weniger aus Erz – den Zahn der Zeit, die Wut der Bilderstürme oder die Missachtung der Nachgeborenen überstanden. 5 Ungleichartig erscheinen die auffindbaren Zeugnisse aber auch, weil jede Epoche andere Medien hervorbrachte oder die gleichen Medien anders gebrauchte als die

Verbal and Visual Representation. Chicago 1994; ders., Showing Seeing. A Critique of Visual Culture, in: Journal of Visual Culture 1, 2002, 165–181; ders., What do Pictures Want? The Lives and Loves of Images. Chicago/London 2005; Margarita Dikovitskaya, From Art History to Visual Culture. The Study of the Visual after the Cultural Turn. Cambridge, Mass. 2005; Nicholas Mirzoeff (Eds.), The Visual Culture Reader. London/New York 1998; ders., An Introduction to Visual Culture. London/New York 1999. Einen guten Überblick über mögliche Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft bietet Gerhard Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006, 7–36. 5 Zu untersuchen bleiben die Geschlechterordnungen, die der Produktion und Überlieferung des Materials wie auch dem heutigen Umgang damit zugrunde liegen. Dass uns aus Kulturen wie dem klassischen Griechenland ausschließlich Darstellungen männlicher Adliger vor Augen stehen, ist ebenso wenig Zufall wie die funktionale Aufgabenteilung, die den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellungen adliger Männer und Frauen zu entnehmen ist. Auch die Möglichkeiten von Frauen, als Stifterinnen und Auftraggeberinnen Adelsbilder mitzubestimmen oder sie selbst künstlerisch zu gestalten, müssten von Gesellschaft zu Gesellschaft erst einmal ausgelotet werden. Hier steht die Forschung noch vor enormen Aufgaben.

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vorangegangene und die nachfolgende. Die profanen Standbilder, die in der Antike den öffentlichen Raum der Plätze, Markthallen, Tempelbezirke, Ausfallstraßen beherrschten, haben im frühen und hohen Mittelalter keine Entsprechung 6, tauchten seit dem Spätmittelalter aber in verwandelter Form wieder auf, ehe die Nachkriegsmoderne sie abermals zurückdrängte. Die griechische Vasenmalerei fand keine Fortsetzung, die mittelalterliche Buchmalerei wurde durch den Druck modifiziert. Das Aufkommen mobiler Einzelbilder in Form von Drucken oder Gemälden bedeutet mediengeschichtlich einen vielleicht noch tieferen Einschnitt als die Erfindung der Photographie oder die elektronische Bildverarbeitung. Diese Geschichtlichkeit aller visuellen Medien lässt eine epochenübergreifende Einheitlichkeit des Materials nicht zu. Deshalb werden in diesem Band Statuen ebenso als Adelsbilder analysiert wie Fresken und Glasmalereien, Tafelgemälde und Drucke ebenso wie Photographien. Umso dringlicher stellt sich die Frage, was angesichts dieser Disparatheit der Bildträger und Medien das Auswahlkriterium war; woraus sich also das tertium comparationis unseres Materials ergibt. Der Inhalt der Bilder: dass sie Adlige darstellen, reicht nicht aus. Denn dann hätte man auch griechische Vasen oder mittelalterliche Stundenbücher heranziehen können, frühneuzeitliche Embleme oder private Schnappschüsse. Hinzukommen musste vielmehr ein doppelter Gesichtspunkt: Alle Bildzeugnisse sollten auf den ersten Blick als Adelsdarstellungen erkennbar, das heißt zumindest durch ihre Ikonographie in unserem Bildgedächtnis verankert sein, mithin eine memoriale Präsenz aufweisen. Und sie sollten – zum zweiten – alle dem gleichen Gebrauch gedient haben, nämlich der öffentlichen Sichtbar-Machung von Adel. Beides bedarf der Erläuterung. Wir alle haben Vorstellungen, wie bestimmte Adelsgruppen zu bestimmten Zeiten beschaffen waren. Diese Vorstellungen gerinnen zu Bildern, die eine Fülle von Einzelwissen (über Familienverhältnisse, Besitz, Ämterlaufbahnen, Herrschaftsaufgaben, Mentalität und Selbstverständnis) zusammenfassen und sie zum Zweck leichterer Erinnerung zu visuellen Einheiten verdichten. Ein abstraktes Konzept oder ein Begriff, bei Wissenschaftlern vielleicht eine ganze Theorie wird in ein Bild gefasst. 7 Häufig gehen diese inneren Bilder auf die Kenntnis äußerer Werke zurück

6 Das macht Ausnahmen wie die Naumburger Stifterfiguren so faszinierend. 7 Zur Erkenntniskritik dieses Vorgangs vgl. Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.), Bilder im Geiste. Zur kognitiven und erkenntnistheoretischen Funktion piktorialer Repräsentationen. (Philosophie & Repräsentation, Bd. 3.) Amsterdam 1995.

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– wenn beide sich nicht sogar ununterscheidbar ineinanderschieben. Dazu veranlassen schon unsere Schulbücher und Lexika, indem sie Textpassagen über den römischen Senat damit illustrieren, dass sie am Seitenrand die Statue eines Togaträgers abbilden. 8 Oder sie versinnbildlichen den mittelalterlichen Ritter durch Miniaturen aus der Manessischen Liederhandschrift, den frühneuzeitlichen Kavalier durch Porträts von Van Dyck. Zahllose Ausstellungspräsentationen wiederholen und verfestigen diese Überblendungen; in populären Geschichtsphantasien vom Denkmal über den Comic bis zum Historienfilm sind sie ein beliebtes Mittel der Beglaubigung. Das heißt: Es gibt einen von der Tradition geschaffenen Vorrat von Geschichts- und so auch von Adelsbildern, der auf reale Bildwerke zurückgeht, diese aber in einem übertragenen Sinn gebraucht, um damit ein Bündel von Vorstellungen, Klischees, Wissensbeständen zu evozieren, die darunter abgespeichert sind. Man könnte dies mit einem Begriff aus der Semiotik „ikonische“ Bildverwendung nennen. 9 Bestimmte Bildzeugnisse, die kanonisch geworden und fest im Bildgedächtnis der europäischen Kultur verankert sind, bestimmen stellvertretend unsere Erinnerung an adlige Herrschaftsausübung und -repräsentation. Vor einem solchen Gebrauch konkreter Darstellungen als Zeichen für umfassende Geschichtsvorstellungen haben die Bildwissenschaften große Warntafeln aufgestellt. Wegen der Ähnlichkeit zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten tendiere diese Verwendung dazu, das Zeichen (die Adelsdarstellung) als Abbild des Bezeichneten (der historischen Adelsgruppe) misszuverstehen. Die Bilder blieben nicht neutral. Keineswegs dienten sie bloß als Gedächtnisstütze, vielmehr präfigu8 Reiches Material aus Jugend-, Schul- und Lehrbüchern der Zeit vor dem 19.Jahrhundert findet sich in „Pictura Paedagogica Online“, dem Digitalen Bildarchiv zur Bildungsgeschichte, http://bbf.dipf.de/virtuellesbildarchiv/index.html (23.8.11). Eine Reflexion des gegenwärtigen Umgangs mit Bildern aus geschichtsdidaktischer Sicht unternehmen Michael Sauer, Bilder im Geschichtsunterricht. Typen, Interpretationsmethoden, Unterrichtsverfahren. 3.Aufl. Seelze-Velber 2007; Klaus Bergmann, „...so ist das Bild immer notwendig ein beschränktes“. Historisches Denken durch Bilder, in: Gerhard Schneider (Hrsg.), Die visuelle Dimension des Historischen. Hans-Jürgen Pandel zum 60. Geburtstag. (Forum Historisches Lernen.) Schwalbach 2004, 9–20; Christoph Hamann, Visual history und Geschichtsdidaktik. Beiträge zur Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung. Herbolzheim 2007. 9 Um das Verhältnis zwischen einem Zeichen und dem davon Bezeichneten zu analysieren, unterscheiden die Semiotiker seit Peirce den ikonischen Bezug, der auf äußerer Ähnlichkeit zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten beruht, von dem indexikalischen, der hinweisenden oder anzeigenden Charakter hat und dem symbolischen, der völlig arbiträr ist, vgl. Andreas Schelske, Bedeutung oder Bezeichnung, in: Klaus Sachs-Hombach/Klaus Rehkämper (Hrsg.), Vom Realismus der Bilder. Interdisziplinäre Forschung zur Semantik bildlicher Darstellungsformen. Magdeburg 2000, 147–158.

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rierten, ja manipulierten sie unsere Vorstellungen der historischen Wirklichkeit. Dass sie künstliche Arrangements sind: idealisiert, zweckgebunden, tendenziös, gerate aus dem Blick. Ja, man kann diese Bildkritik noch zuspitzen. Der ikonische Gebrauch von Adelsdarstellungen als Merkzeichen für Geschichtsvorstellungen verleiht den Bildern eine Macht, die sie in ihrer Entstehungszeit nie hatten. Denn der zeitgenössische Verwendungszusammenhang beschränkte ihre Aussage, auch gehörte noch zur lebendigen Erfahrung der Menschen, was die Bilder ausblenden. Als ikonische Zeichen dagegen verwenden wir die Bilder abgelöst von ihrem zeitgenössischen Kontext und Erfahrungshorizont – also ohne jegliches Korrektiv? Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat im Hinblick auf Denkmäler und Bilddarstellungen historischer Ereignisse den Begriff des Bildakts geprägt. 10 Analog zum Sprechakt 11 soll jener Begriff Bilder als Handlungen verstehbar machen, die „zur Welt der Ereignisse in einem gleichermaßen reagierenden wie gestaltenden Verhältnis“ stehen. „Sie geben Geschichte nicht nur passivisch wieder, sondern vermögen sie wie jede Handlung oder Handlungsanweisung zu prägen: als Bildakt, der Fakten schafft, indem er Bilder in die Welt setzt.“ Bredekamp konzentriert sich auf eine bestimmte Art von Bildern, nämlich auf solche, die mit dem Ziel geschaffen wurden, Geschichte darzustellen und zu deuten. Es sind aber nicht nur Historiendarstellungen, die ikonisch verwendet werden. Bilder können diese Wirkung auch erst nachträglich auf der Rezeptionsseite erlangen. Dann wäre es unser – unreflektierter? – Gebrauch, der sie zu historiographischen Bildakten macht. Sind die Geschichtsvorstellungen, die wir daran heften, also unvermerkte Wirkungen ästhetischer Suggestion? Lassen wir uns, wenn wir Adelsbilder ikonisch gebrauchen, davon in unseren Vorstellungen manipulieren? Oder haben wir wegen der „epitomatorische[n] Natur des Geistes“ 12 gar keine andere Mög-

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Horst Bredekamp, Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen.

1945 – Arena der Erinnerungen. [Katalog der Ausstellung] Deutsches Historisches Museum, Berlin, 2.Oktober 2004 bis 27.Februar 2005. Bd. 1. Mainz 2004, 29–66; die folgenden Zitate dort 29f. Neuerdings ders., Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Frankfurt am Main 2010. 11

John R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge 1969 u.ö. Deutsch un-

ter dem Titel: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Übers. v. Renate u. Rolf Wiggershaus. Frankfurt am Main 1971 u.ö. Vgl. Götz Hindelang, Einführung in die Sprechakttheorie. Tübingen 2000. 12

„In dieser Übertragung aber tritt sofort die epitomatorische Natur des Geistes ein; er kann nur in sich

aufnehmen, indem er das Viele und Verschiedene unter Gesichtspunkte, Kategorien, Zweckbestimmungen usw. zusammenfasst und, was dahin nicht gehört, fallenläßt. An die Stelle der äußeren Realitäten setzt er Namen, Begriffe, Urteile, Gedanken. Und nur so umgearbeitet kann das äußerlich Seiende erinnert, Er-

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lichkeit, als so zu verfahren? Sind solche Bilder möglicherweise eine Art von visuellen Begriffen, die wir für die Erkenntnis der Geschichte benötigen? Sofort wirft der geschichtswissenschaftliche Gebrauch von Bildern also grundsätzliche Erkenntnisfragen auf. Auch um diese Fragen zu reflektieren, haben wir die ikonische Verwendung oder zumindest Verwendbarkeit der Bilder zu unserem Auswahlkriterium gemacht, haben wir gezielt nach Bildwerken gegriffen, die sich im Bildgedächtnis der europäischen Kultur besonders tief eingeprägt haben und in ihrer verfestigten Form sogar als Leitikonen gelten können. Denn der unbewusst wirkenden Macht von Erinnerungsbildern entkommt nicht, wer den ikonischen Bildgebrauch zu vermeiden trachtet. Damit würde man sich nur von einem Leitmedium der europäischen Überlieferung abschneiden und vermutlich vergeblich gegen die Prinzipien der Erinnerung selbst anrennen. Stattdessen kommt es darauf an, darüber nachzudenken, was wir tun, wenn wir uns in Gedankenbildern bewegen, kommt es auf die Bewusstmachung und Reflexion der überkommenen Praxis an. Auch dazu leisten die hier versammelten Fallstudien einen Beitrag. Vom heutigen mnemotechnisch-ikonischen Gebrauch der Adelsbilder ist ihre zeitgenössische Verwendung zu unterscheiden. Hier kommen, wenn wir Bredekamps Begriff ausweiten, mehrere Arten von „Bildakten“ in den Blick. So werden verdiente Männer und Frauen durch die Aufstellung von Bildern im öffentlichen Raum geehrt und aus der Menge auch von übrigen politisch Berechtigten herausgehoben. Oder Familien wenden große Summen auf, um einzelne Mitglieder im Bild zu verewigen, sei es durch aufsehenerregende Porträts, sei es durch kostbare Medaillen oder aufwendige Grabmäler. Solche Bildwerke können Statuen sein oder Reliefs oder Bilder in Form von Fresken oder Tafeln. Sie können isoliert erscheinen, etwa als Denkmäler, oder eingebunden in multimediale Installationen wie z.B. Grabmäler, die häufig Bildwerke mit weiteren Medien wie Wappen und Inschriften kombinieren. All dies soll hier unter den Begriff der Adelsbilder fallen. Gemeinsam ist ihnen das Sichtbar-Halten von Menschen, die gegenüber dem Gemeinwesen in Anspruch nehmen, adlig, das heißt: wegen der eigenen Bedeutsamkeit öffentlich herausgehoben zu sein. Für jedermann sichtbare, stolz präsentierte An-Zeichen dieser herausragenden Stellung als „Beste“, als durch Tradition und Anerkennung legitimierte Leiter und Lenker eines Gemeinwesens, waren beispielsinnerung werden.“ Droysen, Historik (wie Anm.2), 8. Zwei Seiten weiter bezeichnet Droysen diese umgearbeiteten Geschichtsvorstellungen als „Gedankenbilder“.

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weise das Pferd ebenso wie Waffen und Panzerung, der Schild und sein Schmuck, der zum Wappen werden konnte, der ästhetisch verfeinerte Umgang mit Körper und Haar, extravagante, kostspielige Kleidung, eine in jeder Hinsicht unabhängige Haltung bzw. ein selbstbewusstes, freies Auftreten. Weitere solcher Rangzeichen ließen sich aufzählen. Für unsere Fragestellung genügt es festzuhalten, dass der Adel ein permanentes und grundsätzliches Interesse an visueller Kommunikation besaß. Adlige wollten selbst über das Lebensende hinaus sichtbar und wirksam sein, stets sollte ihrer erinnert und der Ruhm der eigenen Person und Familie an die nachkommenden Generationen weitergetragen werden – natürlich in Form prachtvoller Grabdenkmäler und elaborierter Grabinschriften, aber auch in Gestalt großer Bauvorhaben und sonstiger architektonisch ambitionierter Monumente, schließlich in Form zahlloser kleinerer oder größerer Stiftungen auf den unterschiedlichsten Feldern der Wohltätigkeit und des mäzenatischen Engagements. Alle diese Aktivitäten waren auf das Gemeinwesen bezogen und sollten wie ihre Auftraggeber im Licht der Öffentlichkeit stehen, von möglichst vielen an möglichst prominenten Orten gesehen werden. An diesen Bemühungen um möglichst große Sichtbarkeit der eigenen wie der familiären Verdienste tritt eine elementare Strukturbeziehung zwischen Adel und Visualität zutage, wie sie sonst wohl nur noch für den Kultus und die Oberhoheit von Gemeinwesen existiert: Adel bedurfte der steten Kommunikation mit der Gemeinschaft. Aus ihr bezog er seine Legitimation, weil er stellvertretend für die Gemeinschaft bestimmte Herrschaftsaufgaben im Interesse derselben wahrnahm und sich ihr gegenüber rechtfertigen musste. Die visuelle Kommunikation war ein konstitutives Element dieses ständigen Austauschs mit dem Gemeinwesen, die öffentliche Existenz Ausgangs- und Zielpunkt adligen Lebens. Der Adel suchte das Licht der Öffentlichkeit, während einige auf Diskretion und Verschwiegenheit bedachte heutige Funktionseliten oder verbrecherische Organisationen wie die Mafia es grundsätzlich scheuen, eine öffentliche Existenz zu führen, vor möglichst vielen aufzutreten, sichtbar Herrschaft auszuüben, vor aller Augen zu entscheiden und dabei die Blicke der Öffentlichkeit zu ertragen. Was jene öffentliche Existenz des Adels bedeutete, wird gleich genauer auszulegen sein. 13 Hier kommt es zunächst auf ihre Konsequenzen für die Bildzeugnisse an.

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Vgl. Abschnitt II.

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Aus der intrinsischen Beziehung zwischen Adel und Sichtbarkeit ergab sich, dass der Adel schon in der Kommunikation unter Anwesenden die visuelle Kommunikation kultivierte. Adlig sein hieß, das eigene Auftreten und die eigenen Attribute in Rangzeichen verwandeln zu können, hieß folglich, zum Experten in visueller Kommunikation zu werden. Dies setzte sich mit den Bildwerken fort. In ihnen wurde die adlige Sichtbarkeit auf Dauer gestellt. Die Bilder untermauerten den Anspruch des Adels und schrieben seinen Status fest. So verstanden, sind Adelsbilder Instrumente zur Herstellung gesellschaftlicher Distinktion. Sie zielten auf die Gesellschaft, sollten auf sie wirken, waren daher stets an eine Allgemeinheit adressiert, auch wenn nicht jedermann Zugang zu ihnen besaß. Unsere Auswahl hat sich an beidem orientiert: am zeitgenössisch-sichtbar-machenden wie am ikonisch-mnemotechnischen Gebrauch der Adelsbilder; an der Bedeutung für ihre jeweilige Gegenwart wie an ihrer Bedeutung für uns. Vorgenommen haben wir uns, die Bildwerke als Quellen eigenen Rechts zu interpretieren: so, dass wir darin etwas freilegen, was Textquellen so nicht zu entnehmen ist, was über sie hinausführt. Was aber ist in diesen Adelsbildern zu sehen?

II. Nicht bloß Normvorstellungen: Adelsbilder als Zeugnisse aristokratischer Haltung Was besagen die gewählten Quellen über den Adel einer Zeit? Laufen wir nicht Gefahr, einer idealisierten Selbstdarstellung auf den Leim zu gehen? Richtig ist: Solche Quellen inszenieren einen Auftritt. Sozial wie künstlerisch bleibt dabei nichts dem Zufall überlassen. Adelsbilder sind in der Tat künstlich (und oft auch künstlerisch) gemacht: Alles ist auf größtmögliche Wirkung berechnet. Insofern handelt es sich in der Tat um kalkulierte Selbstdarstellungen. Was wir auf diese Weise finden, ist zunächst das Vornehmheitsideal der Adelsformationen, die sich in den Bildwerken darstellen ließen. Wir sehen die Norm, auf die sie sich verpflichteten, den Maßstab, an dem sie gemessen zu werden beanspruchten. 14 Aber wir sehen noch mehr. Wir sehen etwas, das wir im Anschluss an einen so-

14 Inwieweit die dargestellten Adligen den visuell propagierten Normen auch entsprachen, können wir den bildlichen Quellen nicht entnehmen. Das ist eine andere Diskussion und bedarf (kollektiv-)biographischer Untersuchungen, die jenseits der Fragestellung dieses Sammelbandes liegen, hier weder geleistet

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ziologischen Begriff als „Habitus“ bezeichnen wollen: als eine ‚Haltung‘, in der Denken (Gesinnung, Selbstverständnis, Anspruch) und Handeln (Auftreten, Leisten, Wirken) zusammenfallen. Es ist hier nicht der Ort, um auf Herkunft und Nuancen dieses vielschichtigen – auch umstrittenen! – Begriffs einzugehen. 15 Es soll genügen, den Habitus im Anschluss an Pierre Bourdieu zu definieren als eine fest in den Individuen verankerte, kollektive Handlungspräferenz, die sich konkret in einer Haltung manifestiert: im Auftreten, Mienenspiel und Gebaren von Individuen, ihrer Kleidung etc., darüber hinaus aber den Menschen und ihrem Handeln in noch viel mehr Hinsichten gruppenspezifische Züge verleiht: ihren Einstellungen und Überzeugungen, Normvorstellungen und Idealen wie ihren Entscheidungen für oder gegen bestimmte Schulen, Laufbahnen, Ehepartner, religiöse und politische Optionen... Die „Haltung“, die der Habitus hervorbringt, ist mithin konkret, aber auch im übertragenen Sinn zu verstehen. Dabei kann das konkrete Auftreten als Indikator betrachtet werden. In ihm erschöpft der Habitus sich nicht. Vielmehr zeigt das Auftreten eine existenzielle Prägung an, die sich auf jeden Bereich der Lebenspraxis auswirkt. Als Handlungspräferenz ist der Habitus die Art, wie jemand sich auf andere bezieht, wie er oder sie sich äußerlich, sichtbar, verbindlich in einem sozialen Zusammenhang positioniert. Zugleich wirkt diese Präferenz auf den Einzelnen zurück, indem sie Denk- und Handlungsmuster erzeugt, die mit der sozialen Positionierung zusammenhängen. Das heißt, der Habitus liegt dem Selbstverständnis, den Prinzipien der eigenen Lebensführung, der bewussten Handlungssteuerung voraus, er bringt sie überhaupt erst hervor, formt und strukturiert sie, indem er Angemessenheitsurteile generiert. Dadurch ist der Habitus mehr als Norm und Prätention. Er ist immer schon gelebte Praxis. Er ist ein soziales Faktum, das als Verhältnisbestimmung in beide Richtungen weist: auf die Gruppe, die den jeweiligen Habitus zeigt, wie auf die Gesellschaft, in der die Gruppe sich damit positioniert. 16

werden sollen noch können. Gleichwohl gelangt der vorgeschlagene Ansatz, wie gleich zu zeigen sein wird, über die bloße Rekonstruktion von Normen hinaus 15

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Begriff, seiner Geschichte und seinen diversen Be-

deutungen bei Karl Mannheim, Erwin Panofsky und Pierre Bourdieu in Johannes Süßmann, Vergemeinschaftung durch Bauen. Würzburgs Aufbruch unter den Fürstbischöfen aus dem Hause Schönborn. (Historische Forschungen, Bd. 86.) Berlin 2007, 172–175; Peter Scholz, Den Vätern folgen. Sozialisation und Erziehung der republikanischen Senatsaristokratie. Berlin 2011, 19–22. 16

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Das hartnäckigste Missverständnis gegenüber dem Habitus-Begriff liegt in der Annahme, man könne

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Gewiss gehören zum Habitus auch Ideale – wie etwa das „Vornehmheitsideal“, von dem Max Weber bei seiner Bestimmung der Aristokratie spricht 17 –, Normen, das Ethos und das Selbstverständnis eines Menschen, aber all das erschöpft den Begriff nicht. Denn Ideale, Normen, das Ethos und Selbstverständnis sind notwendig bewusst und absichtsvoll; der Habitus hingegen schließt alle Präferenzen ein, die das Handeln einer Gruppe bestimmen, auch die unbewussten, unbeabsichtigten. Wer sich wie wir die Aufgabe stellt, den Habitus von Adligen freizulegen, bleibt also gerade nicht bei ihrem Selbstverständnis stehen. Er sucht vielmehr, ausgehend von dem manifesten Handeln und der manifesten Haltung, auf die zugrundeliegenden Handlungspräferenzen zu schließen. Bezogen auf diesen Ansatz können Adelsbilder nicht lügen. Denn unser Interesse gilt gerade dem Manifesten: Was in den Zeugnissen vornehm sein soll und warum dafür Herausgehobenheit beansprucht wird, lauten unsere Fragen. Wir möchten die visuellen Begründungen explizieren, die für die hergestellte Sichtbarkeit des Adels gegeben werden. So nehmen wir die Schauseite der Bilder ernst, nehmen wir sie bei dem, was sie zeigen und gehen dennoch darüber hinaus. Der Ansatz ist so gewählt, dass er die Zeugnisse zu Primärquellen macht. Dass wir uns von Inszenierungen blenden lassen, ist per definitionem ausgeschlossen – inszenierten Habitus gibt es nicht. 18 Nur ob uns die Darstellung überzeugt, ob die in den Bildern gezeigte Halsolche Haltung für sich allein einnehmen und dabei willkürlich nach den eigenen Präferenzen formen. Darauf lässt sich replizieren: Wer so denkt, möge es doch einmal versuchen! Schon das Gedankenexperiment zeigt, dass jeder Auftritt auf eine vorgängige Sozialität bezogen ist, die ihn, wenn er als unangemessen empfunden wird, unweigerlich sanktioniert. Daher kann jeder Habitus auch im Hinblick auf die sozialen Verhältnisbestimmungen analysiert werden, die er voraussetzt und damit zugleich dokumentiert. 17 Dazu mehr unten Abschnitt III. 18 An dieser Stelle zeigt sich, dass man den Begriff des Habitus streng von dem des Lebensstils unterscheiden muss – eine kategoriale Differenzierung, die selbst vielen Sozialwissenschaftlern fehlt, möglicherweise weil ihre Gegenwartserfahrung sie noch nicht dazu zwang. Lebensstile, so hat sich nämlich (erst?) seit den 1980er Jahren gezeigt, kann man wechseln wie eine Bezugsgruppe, Kleidung oder eine Wohnungseinrichtung. Inzwischen sind solche Häutungen (etwa vom Hippie oder Punk zum Lohas [Lifestyle of Health and Sustainability]) akzeptierter Bestandteil von Lebensläufen. Ganze Industrien leben vom Austausch der zugehörigen Accessoires. Soziologen prägten dafür die Formel „Pluralisierung der Lebensstile“ (z.B. Wolfgang Zapf, Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, in: Werner Weidenfeld/Hartmut Zimmermann [Hrsg.], Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949–1989. Bonn 1989, 99–124). Damit stellen sie klar: Lebensstile verdanken sich bewusster Wahl und Entscheidung. Sie bleiben transitorisch und damit äußerlich. Der Habitus hingegen ist Schicksal. Er ist die dauerhafte Prägung durch den sozialen Ort und das Milieu, in das man durch seine Geburt gestellt ist. Selbst wer dagegen aufbegehrt, entkommt seiner Prägung nicht und muss sich lebenslang damit auseinandersetzen. In der Re-

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tung aristokratisch, ihre Begründung gemeinwohlbezogen und universalistisch ist, bleibt zu erörtern. 19 Dieses Urteil aber können uns die Quellen ohnehin nicht abnehmen; das müssen stets wir selbst fällen. Was ist mit „aristokratischem“ Habitus gemeint? Unsere Überlegungen zum Adelsbegriff im folgenden Abschnitt vorwegnehmend, lassen sich zwei Gesichtspunkte nennen. Unter Aristokraten sind Männer und Frauen zu verstehen, die beanspruchten, bestimmte krisenträchtige Aufgaben im Gemeinwesen besser bewältigen zu können als alle anderen und diese Qualifikation mit ihrer Vornehmheit begründeten. Der deutsche Begriff „Adel“ entspricht in seiner Bedeutung den griechischen aristoi: Als ‚Edle‘, ‚Vornehme‘, ‚Beste‘ stachen die sich selbst so Verstehenden hervor. Ihre Vornehmheit konnte unterschiedliche Ausprägungen annehmen, entscheidend war, dass sie auf Unabhängigkeit beruhte. Aristokraten waren vornehm, sofern sie weder ökonomisch noch politisch auf Führungspositionen angewiesen waren, sondern diese aus freien Stücken und auf eigenes Risiko übernehmen konnten. Wenn auf Unabhängigkeit gegründete Vornehmheit als Qualifikationsnachweis galt, musste sie vorgeführt werden. Das heißt, Herausgehobenheit und Sichtbarkeit gehören integral zum Begriff der Aristokratie. Aristokraten mussten immer und überall so agieren, als seien alle Augen auf sie gerichtet, sie mussten den Anspruch auf permanente Herausgehobenheit in eine selbstverständliche Form ihrer Haltung verwandeln. Damit ist nicht gemeint, sich vor anderen zu produzieren und ihnen etwas vorzuspielen, ein Verhalten, an dem im Gegenteil die bloß „prätendierte Aristokratie“ im Sinne Max Webers zu erkennen wäre. Gemeint ist vielmehr, dass der Grund für die eigene Herausgehobenheit: das, was zur Führung qualifizierte, zur selbstverständlichen Haltung geworden war, zu einer zweiten Natur, die jederzeit die Blicke aller andern ertrug. Demnach waren es Aristokraten gewohnt, sich beständig in der Allgemeinheit aufzuhalten, diese auszuhalten und zu lenken. Aristokratisches Denken und Handeln bezog sich, mal insgeheim, mal ostentativ, auf diese Allgemeinheit; vor dieser mussten die Aristokraten sich verantworten, in ihrem Namen übten sie Herrschaftsaufgaben aus, an diese waren sie rückgebunden. Die eigene Vornehmheit bzw. Un-

gel wird die Prägung jedoch akzeptiert und zunächst durch Erziehung und Bildung, später durch das eigene Handeln zu eigen gemacht und entwickelt. Was sich inszenieren lässt, ist also immer nur ein Lebensstil, nicht der Habitus. 19 Mehr dazu unten Abschnitt III.

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abhängigkeit bewies sich an der Leistung, zu der sie befähigte, und den Ehren, die man im Gemeinwesen erwarb. Sie begründeten oder befestigten den persönlichen Ruhm und den der Familie. Für das Gemeinwesen drückten die Ehrungen den Willen aus, sich der besonderen Taten einzelner Mitglieder zu erinnern, um dadurch Einsatzbereitschaft und Hingabe für die Gemeinschaft zu stärken. Das permanente Leben in herausgehobener Stellung wurde zur festen Haltung, zur zweiten Natur der Adligen. Für diese war es selbstverständlich, in und vor, aber auch vor allem zugunsten der Allgemeinheit ihren Mann oder ihre Frau zu stehen. Entsprechend selbstverständlich war es für sie, auch im Medium der Bildnisse der Allgemeinheit entgegenzutreten und sich als Besondere zu zeigen, zumal diese Art sichtbar herausgehobener Präsenz den Vorteil bot, dass man in vervielfältigter Form an mehreren Orten zugleich auftreten und darüber die Erinnerung an die eigene Person dauerhaft wachzuhalten vermochte. Aus diesem Grund ist bei Adelsbildern, die einen aristokratischen Habitus darstellen, die Allgemeinheit stets mitgedacht, die Reaktion des Gemeinwesens vorweggenommen, manifestiert sich in allen Bildern ein- und dieselbe aristokratische Haltung – die Rückbindung an den öffentlichen Raum. Nach der Art, wie diese jeweils hergestellt wird, können wir die Bildzeugnisse folglich befragen. Das Interesse an der dargestellten Vornehmheit lässt sich dahin gehend konkretisieren, dass wir zum einen schauen wollen, wie die aristokratische Unabhängigkeit in den Bildwerken begründet wird, zum andern welche Leistungsmöglichkeiten für die Allgemeinheit damit in Aussicht gestellt oder als bereits erfolgt vorgeführt werden. Rekonstruierbar ist dies auch aus denjenigen Adelsbildern, die entweder nur einem eingeschränkten Kreis von Betrachtern zugänglich waren, etwa in den repräsentativ gestalteten Empfangsbereichen von Burgen oder Schlössern, in Festsälen und Ahnengalerien, oder umgekehrt für den Markt und damit für ein anonymes, potentiell unbegrenztes Publikum angefertigt wurden wie Graphiken oder publizierte Photographien. Denn entscheidend ist nicht die tatsächliche Verbreitung, sondern wie die Bildwerke sich auf ihre Betrachter beziehen. Sofern es sich um Adelsbilder in dem hier entwickelten Sinn handelt, richteten sie sich an eine spezifische Allgemeinheit, der die Aristokraten sich selbst verpflichtet sahen, und zwar so, als würden alle zusehen. Allerdings unterlag die Allgemeinheit ihrerseits dem historischen Wandel, variierten mit den Formen der Allgemeinheit auch die Medien, über die man sie erreich-

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te. Zudem wird die Auswahl der Quellen durch die Überlieferung mitbestimmt. Daher stehen in den Vorträgen über die Face-to-face-Gesellschaften der Antike und des Mittelalters Statuen im Mittelpunkt, die dauerhaft in öffentlichen Räumen aufgestellt waren und sich gut erhalten haben, wenn sie den Metallräubern und Kalkbrennern entgingen. In den Beiträgen zur Neuzeit rücken hingegen die beweglich gemachten, das heißt vielfältig verwendbaren Tafelgemälde und Druckmedien ins Zentrum, zumal sie wohl wegen ihrer Mobilität in der Moderne weit zahlreicher erhalten blieben als feste Installationen für den öffentlichen Raum. Insofern spiegelt die Ungleichartigkeit unseres Materials die Geschichte und Überlieferung unseres Gegenstands.

III. Adel in der Forschung Die geschichtswissenschaftliche Forschung hat sich mit dem Phänomen des Adels immer schwergetan. In ihrer bildungsbürgerlichen Entstehungszeit erschien ihr der Adel vorwiegend als hemmende Kraft: als stärkster Gegner der fürstlichen Staatsbildung, die als Vorbereitung der nationalen verstanden wurde; als wichtigster Nutznießer der zu überwindenden Ständegesellschaft; als schlimmster Vergeuder des ökonomischen Mehrwerts, der vom Dritten Stand mühsam erarbeitet wurde. Erst die massive Opposition, die sich in den Revolutionen des 20.Jahrhunderts gegen alles Bürgerliche formierte und damit auch gegen die bürgerlichen Geschichtsbilder, kehrte diese Wertungen um. 20 Wenn sie von rechts kam, sammelte sie sich unter der Fahne der Ungleichheit. Der Adel galt ihr als Gegenmodell zu dem, was man für die eigene Zeit als „Vermassung“ beklagte; als Vorbild einer Elite, deren Herrschaft auf Blutreinheit und Tugend gegründet war; als Identifikationsobjekt bei den Forderungen nach einem völkischen Ständestaat. Einflussreichster Protagonist der dadurch neu angestoßenen Forschung war im deutschen Sprachraum Otto Brunner 21; seine, durch die Erfahrung 20

Vgl. für die deutschsprachige Mittelalterforschung die ebenso luzide wie materialreiche Studie von

Werner Hechberger, Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 17.) Ostfildern 2005, für die Frühneuzeitforschung Süßmann, Vergemeinschaftung (wie Anm.15), 19–23. 21

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Zu nennen sind vor allem die Monographien Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der

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des Nationalsozialismus modifizierte Adelsdeutung bestimmt noch den Artikel „Adel, Aristokratie“, mit dem 1976 der erste Band der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ programmatisch eröffnet wurde. 22 Dagegen trat seit den 1960er Jahren eine neue Generation von Adelsforschern an. Das Tugendpathos, das über die völkisch-ständestaatlichen Implikationen gelegt worden war, sollte dem Adelsbegriff ausgetrieben werden. Vom Kopf eines als verlogen empfundenen Selbstverständnisses gedachte man ihn auf die Füße seiner materiellen Interessen zu stellen. Vor allem Wolfgang Reinhard hat mit seinem Konzept der Verflechtung die Bahn gebrochen, um diese betont nüchterne Sicht zu etablieren. 23 In der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen Forschung hat sie sich weithin durchgesetzt. Adel gilt seitdem als spezifische Ausprägung einer Herrschaftselite, die man strukturell mit anderen Herrschaftseliten vergleichen kann. 24 Adel wird also funktional verstanden: als Nutznießer von sozialer Ungleichheit und beschränktem Zugang zur Herrschaft. Das zeigt sich auch an den Forschungsfragen,

territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter. Brünn/Leipzig/Prag 1939; ders., Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612–1688. Salzburg 1949. Die Auseinandersetzung mit Brunner füllt inzwischen eigene Regale. Eine historisierende, nicht verurteilende Einführung bietet Reinhard Blänkner, Von der „Staatsbildung“ zur „Volkwerdung“. Otto Brunners Perspektivenwechsel für die Verfassungshistorie zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Alteuropa oder Frühe Moderne? Deutungsmuster für das 16. bis 18.Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft. (Zeitschrift für historische Forschung, Beih. 23.) Berlin 1999, 87– 135. 22 Werner Conze/Christian Meier, Art.„Adel, Aristokratie“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1976, 1–48. 23 Wolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen. „Verflechtung“ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600. (Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg, Bd. 14.) München 1979. Wieder in: ders., Ausgewählte Abhandlungen. (Historische Forschungen, Bd. 60.) Berlin 1997, 289–310. Reinhard hat diesen Ansatz später als „Mikrogeschichte“ bzw. „Mikropolitik“ bezeichnet und zu einer Art Universalschlüssel für die Erforschung des frühneuzeitlichen Adels erklärt, etwa in ders., Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese (1605–1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua. (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 107.) Tübingen 2004. 24 So beispielsweise bei Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Power Elites and State Building. The Origins of the Modern State in Europe 13th to 18th Century. Oxford 1996; kritisch dazu Ronald G. Asch, Staatsbildung und adlige Führungsschichten in der Frühen Neuzeit. Auf dem Weg zur Auflösung der ständischen Identität des Adels?, in: Geschichte und Gesellschaft 33, 2007, 375–397.

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die heute im Zentrum stehen. Fast immer sind das die „sozialen Strategien“, um „hochzukommen“ und „obenzubleiben“. 25 Vorausgesetzt wird in solchen Formulierungen, dass Hochkommen und Obenbleiben sich nicht von selbst ergeben, soll heißen, dass sie nicht Nebeneffekte sein könnten von Tätigkeiten, die anders motiviert sind. Durch die Rede von den „Strategien“ wird vielmehr unterstellt, dass es besonderer Anstrengung bedarf, um hochzukommen und obenzubleiben; dass diese Anstrengung gezielt verfolgt und zum Selbstzweck gemacht wird; dass dabei primär im Sinne eines technischen Interessenkalküls verfahren wird – zweckrational also. Die Annahme lässt sich wie folgt explizieren: Nach oben kommen will jede und jeder, und dieses Ziel verfolgt auch jede und jeder, nur einige verfahren dabei geschickter als andere. Deshalb braucht man sich mit der Frage nach den Handlungspräferenzen nicht aufzuhalten: Sie sind ohnedies bei allen die gleichen, man kann sich getrost auf die Mittel der Erfolgreichen konzentrieren. Durch diese Präsupposition wird Adel zum Ergebnis partikularer Interessenverfolgung erklärt. Wenn alle hochkommen wollen, aber nur wenige es schaffen, kann deren Aufstieg nur auf Kosten der anderen gelingen. Nur indem sie primär für die eigene Familie und die eigenen Assoziierten sorgen, sollen Adlige diesem Denken zufolge ihre Stellung erlangt und bewahrt haben. Dass in diesem Konzept dem Adel strukturelle Partikularität unterstellt wird, zeigt sich auch an der Illegitimität, die man Adelsherrschaft als Herrschaft von wenigen über viele prinzipiell zuschreibt. Denn warum sollte die Forschung sonst das Auftreten des Adels, Zeremoniell, Selbstdarstellung, Repräsentation, Kulturpatronage immer wieder allein daraufhin untersuchen, wie sie die Sonderstellung des Adels rechtfertigen? Vorwiegend als ästhetische Manipulation und Propaganda zur

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Am deutlichsten zeigt sich dies in der Forschung zum Adel in der Moderne, aber von dort hat es auf

die Arbeiten zu allen anderen Epochen ausgestrahlt, charakteristisch etwa Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 35.) Göttingen 1979; ders., Sozialgeschichte des deutschen Adels. Frankfurt am Main 1987; ders. (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland. 2 Bde. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 1–2.) Berlin 2000/01; HansUlrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750–1950. (Geschichte und Gesellschaft, Sonderh. 13.) Göttingen 1990; Eckart Conze/Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20.Jahrhundert. Köln 2004. Ein Beispiel für die Ausstrahlung in die Frühneuzeithistorie ist Michael Sikora, Der Adel in der Frühen Neuzeit. (Geschichte kompakt.) Darmstadt 2009, in die Antike etwa Hans Beck, Karriere und Hierarchie. Die römische Aristokratie und die Anfänge des cursus honorum in der mittleren Republik. (Klio Beiträge zur Alten Geschichte, NF., Bd. 10.) Berlin 2005.

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Verdeckung eines strukturellen Legitimitätsdefizits kommt die künstlerische Darstellung des Adels aufgrund der genannten Prämissen in den Blick. So weit dieser Ansatz trägt, es gibt Zeugnisse und Befunde, die er nicht aufzuschließen vermag, etwa aristokratische Formen kultivierter Kommunikation und des Umgangs selbst unter erbitterten politischen Gegenspielern. 26 Sie veranlassen uns, die Perspektive auf den Adel erneut zu modifizieren. Dafür greifen wir auf Überlegungen zurück, die Max Weber dem Aristokratie-Begriff gewidmet hat. 1917 in der politischen Gelegenheitsschrift „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“ formuliert 27, stellen sie, wie uns scheint, eine dezidiert liberale und demokratische Alternative zum Brunner‘schen Ansatz dar. Zwei Punkte scheinen uns daran relevant. Weber spricht nicht von „Adel“, sondern von „Aristokratie“. Das bezeichnet bei ihm: „eine Schicht – gleichviel, ob im Wesen feudal (‚Adel‘) oder bürgerlich (‚Patriziat‘)“, die sich „politisch nutzbar“ machen lässt (S.272). Webers Perspektive besteht also nicht darin, Adel als Usurpation von Herrschaft durch eine partikulare Elite aufzufassen. Vielmehr werden Aristokraten umgekehrt dadurch gekennzeichnet, dass sie „für den Staat leben können, nicht von ihm leben müssen“ (ebd., Hervorhebungen im Original). Der springende Punkt ist für Weber die Hingabe an die Politik, die Bereitschaft, sich in die Verantwortung nehmen zu lassen. Aristokraten sind ihm zu-

26 Beispiele aus verschiedenen Epochen dafür bei Peter Scholz, Die Kunst der Höflichkeit im spätrepublikanischen Rom. Humanitas als sozial distinguierender Verhaltensmodus der Senatsaristokratie, in: Gisela Engel/Brita Rang/Susanne Scholz/Johannes Süßmann (Hrsg.), Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit. (Zeitsprünge, Jg. 13, H.3/4.) Frankfurt am Main 2009, 249–273; Johannes Süßmann, Höflichkeit in den französischen Religionskriegen, in: ebd.497–509. Auch die neueste politikhistorische Überblicksdarstellung setzt andere Akzente: Ronald G. Asch, Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung. Köln 2008. Wichtige Impulse gehen derzeit von dichten Forschungen über einzelne Adelslandschaften aus, beispielsweise von Eckart Conze/Alexander Jendorff/Heide Wunder (Hrsg.), Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20.Jahrhundert. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 70.) Marburg 2010; Jan Harasimowicz/Matthias Weber (Hrsg.), Adel in Schlesien. Bd. 1: Herrschaft – Kultur – Selbstdarstellung. (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im Östlichen Europa, Bd. 36.) München 2010. 27 Max Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, in: Der deutsche Volksstaat. Schriften zur inneren Politik. H.2, Dez. 1917. Wieder in: ders., Gesammelte politische Schriften. Hrsg. v. Johannes Winckelmann. 5.Aufl. Tübingen 1988, 245–291 [nach dieser Ausgabe die Seitenangaben im Text]. Vgl. Andreas Franzmann, „Vornehmheitsideal“ und „Contenance“, „sturmfreie Existenz“ und „ökonomische Abkömmlichkeit“. Elemente einer impliziten Theorie der Aristokratie bei Max Weber. In: Hans Beck/Peter Scholz/ Uwe Walter (Hrsg.), Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ‚edler‘ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit. (Historische Zeitschrift, Beihefte, NF., Bd. 47.) München 2008, 343–365.

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folge Menschen, die Herrschaftsaufgaben übernehmen, ohne davon profitieren zu müssen, Menschen, die zumindest die eigene Amtstätigkeit, wenn nicht die Regierung insgesamt aus eigenen Mitteln finanzieren. Insofern ist Aristokratie für Weber, bezogen auf das Gemeinwesen, in dem sie Herrschaftsaufgaben übernimmt, per definitionem Dienstadel, setzt sie ein Pflichtethos voraus bzw., allgemeiner gesagt, ein „Vornehmheitsideal“, zu dem die Hingabe an die Politik gehört. 28 Schon diese erste Bestimmung macht deutlich, dass Weber keinen formalen oder funktionalen Aristokratie-Begriff entwirft, sondern einen qualitativen. Das zeigt sich auch daran, dass er von „echte[r] Aristokratie“ spricht (S.270) und damit die Möglichkeit vorsieht, es könne auch angemaßte, „angebliche“ Aristokratien geben. Eben eine solche möchte er in jener Schrift entlarven. Seine politische Pointe besteht in der Forderung, das Dreiklassenwahlrecht abzuschaffen, weil es weder durch Besitz zu rechtfertigen sei, noch durch eine Leistung, die der Herrenstand im Deutschland des beginnenden 20.Jahrhunderts erbringt. Einsatz für die Demokratisierung ist es also, dem Webers Aristokratie-Begriff entspringt! Weber entwickelt ihn als Maßstab, um die Legitimität faktisch in Anspruch genommener Privilegien zu bewerten. Der Begriff setzt daher ein Urteil voraus. Ihn zu verwenden, verpflichtet darauf zu klären, ob und inwiefern es sich bei einem Adel, den man untersucht, um eine „echte“ oder eine vorgebliche Aristokratie handelt. Was ist nun für Weber das Kennzeichen einer echten Aristokratie? „Es ist unzweifelhaft, dass eine echte Aristokratie recht wohl ein ganzes Volk im Sinn und in der Richtung ihres Vornehmheitsideals zu prägen vermag. Denn die plebejischen Schichten ahmen ihre ‚Geste‘ nach“ (S.270). Echte Aristokraten erkennt man nach Weber an der Universalisierbarkeit des Vornehmheitsideals, das sie vorleben. Sie stehen für etwas, das in einer bestimmten historischen Situation nur ständisch gebunden entwickelt werden konnte, was aber überständische Geltung besitzt und da-

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Das Beispiel in extremis stellt sicherlich die republikanische Senatsaristokratie dar. S.hierzu die präg-

nante Formulierung von Christian Meier, Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik. 3.Aufl. Frankfurt am Main 1997, 46f.: „Zu dieser Staatsbezogenheit gehörte es ferner, dass der gesamte senatorische Adel sich in der Erfüllung öffentlicher Aufgaben ständig und ohne Reserven erschöpfte. Noch in späterer Zeit galt es als selbstverständliche Pflicht der jungen nobiles und Senatorensöhne, sich der Politik zu widmen. Wer es nicht konnte, versagte sich diesem Anspruch nur mit schlechtem Gewissen. Die Politik war das einzige wesentliche Lebenselement, die einzige wirklich standesgemäße Beschäftigung [...] Wer Politik trieb, gehörte zum Adel, und wer zum Adel gehörte, trieb Politik“.

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her auf Dauer von den anderen Schichten übernommen wird. Mit der Nachahmung der aristokratischen Geste meint Weber nicht die Übernahme von Statussymbolen. Prägung des ganzen Volkes setzt vielmehr voraus, dass das universalisierbare Vornehmheitsideal von der Aristokratie authentisch – daher überzeugend! – vorgelebt wird und dass es sich als „Geste“ – also sinnlich vermittelt über körperlichen Ausdruck – mitteilt. Weber denkt an die Verkehrsformen der Franzosen und Italiener, entstanden aus der Prägung durch das Hofmannsideal der italienischen Renaissance bzw. das Ideal des Gentilhomme am französischen Hof; der englische Gentleman wäre zu ergänzen. Aristokraten sind für ihn, kurz gesagt, Protagonisten vornehmer Haltungen, in denen sich ein universalisierbares Ethos und eine universalisierbare Rationalität ausdrücken. Die Vorteile dieser Perspektive scheinen uns evident. Sie löst den Adelsbegriff aus gegenwartsbezogenen Vereinnahmungen, historisiert ihn, indem sie trennscharfe Kriterien bietet für die Unterscheidung zwischen Herrschaftseliten allgemein und dem Spezifischen von Aristokratien. Und sie verknüpft das äußere Erscheinungsbild einer Aristokratie präziser mit ihrem Daseinsgrund als die Vorstellung von der Verdeckung struktureller Legitimitätsdefizite. Für Weber ist die Herrschaft einer echten Aristokratie per definitionem legitim. Für ihn gibt es darin kein Rechtfertigungsproblem, ist die Rede von den „Legitimationsstrategien“ schon im Ansatz verfehlt. Vielmehr muss die Frage lauten, ob in einer dargestellten „Geste“ oder Haltung sich universalisierbare Gehalte ausdrücken und wenn ja welche.

IV. Die Beiträge im Einzelnen Im einleitenden Beitrag zu den antiken Adelsbildnissen („Vom kouros zum togatus. Öffentliche Bildnisse griechischer Aristokraten, hellenistischer Herrscher und römischer Senatoren“) arbeitet Peter Scholz anhand von vier öffentlich aufgestellten Statuen die zentralen Unterschiede in Repräsentation und Habitus der griechischen und römischen Führungsschicht heraus: In den archaischen Kouroi-Statuen dokumentiert sich der soziale wie auch ästhetische Führungsanspruch der griechischen Aristokraten – die aus Götterbildern entwickelten Bildnisse sind sinnfällige Beweise für die „Bestheit“ (arete) der Verstorbenen. In den hellenistischen Reiterstandbildern wird dieses aristokratische, Götternähe suggerierende Schönheitsideal fortentwickelt – die Könige treten in idealischen Posen auf, vor allem als siegende

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Krieger, die in keiner konkreten historischen oder zeitgenössischen Situation agieren: Sie sind als machtbewußte Einzelne in ihrer Sieghaftigkeit dargestellt. Demgegenüber präsentieren sich die römischen Ritter und Senatoren – eine Togastatue und ein Reiterstandbild werden hierzu beispielhaft vorgestellt – grundsätzlich als politische Autoritäten, die sich in ihren Bildnissen an Familie, Tradition und Bürgerschaft gebunden zeigen und nachdrücklich auf ihre bereits erbrachten militärischen und zivilen Leistungen zugunsten der Allgemeinheit, auf ihre persönlichen virtutes und die daraus resultierenden öffentlichen Ehren (honores) verweisen. Demgegenüber legt Stephan Selzer in seinem Beitrag zu den spätmittelalterlichen Adelsbildern („Adlige – Gruppen – Bilder. Eine Skizze zur zeichenhaften Verankerung von adeligem Herkommen und ritterlicher Leistung) dar, wie Adel und Rittertum am Ende des Mittelalters zu komplementären Begriffen wurden, ohne dass sie zu Beginn miteinander verbunden gewesen wären. Weil Adel und Rittertum unterschiedlich legitimiert waren, lief auch ihre Repräsentation auf jeweils spezifische Verbildlichungsformen hinaus. Wer adlige Qualität zu zeigen suchte, betonte das vornehme und weit zurückreichende familiäre Herkommen. Wer ritterliche Qualität beweisen wollte, betonte hingegen die individuellen kriegerischen Leistungen. Im Adelsbild des Spätmittelalters dürften, so die Ausgangsüberlegung des Beitrags, beide Elemente eingelagert gewesen sein. Und je nach Kontext, so steht weiter zu vermuten, konnte entweder der ritterliche oder der aristokratische Aspekt stärker hervortreten. Um diese Zusammenhänge am Bildmaterial zu überprüfen, ist es entscheidend, die soziale Schichtung innerhalb des mittelalterlichen Adels zu berücksichtigen. Der Beitrag differenziert daher nach hochadligen und niederadligen Familien. Gewählt wird dabei Beispielmaterial aus dem spätmittelalterlichen Reich. Die Aufnahme des ritterlichen Modells durch Hochadlige wird an Reitersiegeln erörtert. Eine Analyse von Bildquellen aus dem niederadligen Milieu zeigt deutlich, dass sich hier die Erinnerung an das familiäre Herkommen mit einem gruppengebundenen Gedächtnis kreuzte. Diese Gruppenbindung war für den Niederadel höchst bedeutsam und wurde erst nach 1500 immer stärker von der Betonung des familiären Herkommens überlagert. Abschließend werden die Überlegungen an demjenigen Zeichen vertieft, dem die Zeitgenossen in einer Phänomenologie des Adels im Reich stets die höchste Bedeutsamkeit zusprachen: dem Wappen. Dass die fortschreitende Etablierung neuzeitlicher Staatlichkeit den Adel unter Druck setzte, sich als Funktionselite in eine Anstalt einzuordnen, schildert der anschließende Beitrag von Johannes Süßmann („Vom Ritter gegen Tod und Teufel

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über den Glaubensstreiter zum Kavalier. Zum Wandel der Adelsbilder in der Frühen Neuzeit“). Er skizziert, wie der frühneuzeitliche Adel im Reich und in Westeuropa gegen diesen Druck Daseinszwecke eigenen Rechts behauptete. Hierzu werden von ihm ausgewählte Adelsrepräsentationen analysiert, die zu visuellen Ikonen geworden sind (Werke von Dürer, Tizian, van Dyck u.a.), weil sie – im Wortsinn – vorbildlich Adlige als Vorkämpfer universalistischer Prinzipien präsentieren, die von niemand anderem als dem Adel entwickelt werden konnten. Der rasche Wandel wie auch die Inhalte dieser Prinzipien zeugen allerdings ebenso von der steigenden Argumentationsnot. Im 19. und 20.Jahrhundert stellt sich angesichts des Funktionswandels des Adels durch seine „Abschließung“ in Republiken, der Explosion bildlicher Darstellungen im öffentlichen und privaten Raum und des spielerischeren Umgangs mit bildlichen Formen zunehmend die Frage, was als Adelsbilder identifizierbar ist und ob sich in ihnen noch ein verallgemeinerbarer Anspruch ausdrückt. Der Beitrag von Andreas Fahrmeir („Zwischen Bronzestatue und Aktionskunst: Bildhafte Inszenierungen adeliger Lebenswelten in England im 19. und 20.Jahrhundert“) diskutiert die Frage am Beispiel des britischen Adels ausgehend von der These von Peter Mandler, in den 1920er Jahren sei eine zunehmende Konvergenz zwischen Adelsbildern und Starbildern zu beobachten. Im Mittelpunkt stehen dabei die fallstudienartige Betrachtung der Repräsentation einzelner Familien (Curzon, Mitford) sowie die Erörterung der Rolle des Adels im Kontext der Suche nach Idealbildern im Kontext der Eugenik-Diskussion. Walter Demel beschließt den Band mit einer Erweiterung der Perspektive auf den außereuropäischen Raum. Von ihm werden schlaglichtartig die bis dahin dargebotenen europäischen Adelsbilder („Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart. Zusammenfassung und Ausblick“) mit öffentlichen Bildern anderer Kulturen verglichen: Die Statuen des Alten Ägypten repräsentieren freilich weniger das individuelle Ideal, als vielmehr das überzeitliche göttlicher Schönheit. Eine größere Affinität mit den europäischen Führungsschichten wies der Vergleich mit mittelalterlichen Eliten Japans auf, die vornehme Herkunft mit militärischer Schlagkraft vereinten. Eine größere Distanz lässt sich zu den „gesichtslosen Eliten“ der islamischen Welt beobachten, die allein als Funktionseliten auftreten, ansonsten nicht öffentlich in Erscheinung treten und – aufgrund des Bilderverbots durch den Koran und des Mangels an zentralen öffentlichen Plätzen – auch keine Bilder von sich ausstellen durften. Eine ähnliche ‚staatliche Indienstnahme‘ durch die monarchische Oberherr-

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schaft zeigt sich im Fall der chinesischen Führungsschicht seit der Songzeit: Auch hier vermochte sich nicht dauerhaft eine fest umrissene Adelsschicht zu etablieren und durch ihre Taten zugunsten der Allgemeinheit dauerhaft in die Erinnerung der Nachwelt einzuschreiben. Gerade der interkulturelle Vergleich verdeutlicht und belegt mittelbar wiederum die besondere Bedeutung der Sichtbarkeit der europäischen Aristokraten – als strukturbildendes und verbindendes Merkmal dieser aristokratischen Kultur, die eine Traditionslinie von der griechisch-römischen Antike bis zur Neuzeit bildete und auch die weitere historische Entwicklung des demokratisch verfassten Europa nachhaltig bestimmt hat und auch weiterhin bestimmen wird.

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Vom kouros zum togatus Öffentliche Bildnisse griechischer Aristokraten, hellenistischer Herrscher und römischer Senatoren von Peter Scholz

Der folgende Beitrag versteht sich als ein Versuch, die grundlegende Differenz in der Gestaltung öffentlicher Bildnisse, mit denen politische Autoritäten in der griechischen und römischen Kultur ausgezeichnet und geehrt wurden, herauszuarbeiten und auf die unterschiedliche Struktur der Gestaltungsprinzipien und damit auf die jeweils unterschiedlich ausgeprägte Grundhaltung hinzuweisen. Zu diesem Zweck wurden vier ausgewählte Bilder antiker Aristokraten, jeweils zwei Standbilder und zwei Reiterstatuen, aus vier Epochen des griechisch-römischen Altertums untersucht. Dabei bleibt die Analyse auf die Beantwortung der Frage beschränkt, welche Gestaltungsprinzipien den Bildern innewohnen und welche Auffassungen aristokratischer Repräsentation den beiden griechischen und den beiden römischen Statuen zugrunde liegen. 1

1 Die griechische Aristokratie entwickelte erst in der Auseinandersetzung mit der aufstrebenden Menge der Bürger (demos) Begriff und Vorstellung ihrer selbst: Emilio Gabba, La concezione antica di aristocrazia, in: Rendiconti della Classe di Scienze morali, storiche e filologiche dell’ Accademia die Lincei (= RAL) 6, 1995, 461–468. Zu den verschiedenen Formen griechischer Aristokratien: Michael Stahl, Gesellschaft und Staat bei den Griechen. Archaische Zeit. Paderborn 2003; ders., Aristokraten und Tyrannen im archaischen Athen. Untersuchungen zur Überlieferung, zur Sozialstruktur und zur Entstehung des Staates. Stuttgart 1987; Peter A. L. Greenhalgh, Aristocracy and its Advocates in Archaic Greece, in: Greece and Rome 19, 1972, 190–207; Michael T.W. Arnheim, Aristocracy in Greek Society. London 1977; Elke Stein-Hölkeskamp, Adelskultur und Polisgesellschaft. Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit. Stuttgart 1989; Nigel J. Nicholson, Aristocracy and Athletics in Archaic and Classical Greece. Cambridge 2005. Zu den aristokratischen Familien im klassischen Athen und den oligarchischen Verfassungsumstürzen: György Németh, Kritias und die Dreißig Tyrannen. Stuttgart 2006; Gustav A. Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen. Paderborn 1997. Zur verhältnismäßig gut dokumentierten athenischen Aristokratie in nachklassischer Zeit: Paul McKendrick, The Athenian Aristocracy 399 to 31 B. C. Cambridge, Mass. 1969. Zu den städtischen und höfischen Eliten in hellenistischer Zeit immer noch grundlegend: Christian Habicht, Die herrschende Gesellschaft in den hellenistischen Monarchien, in: Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte 45, 1958, 1–16. Speziell zur Hofgesellschaft: Rolf Strootman, De vrienden van de vorst: het koniklijk hof in de Hellenistische rijken, in: Lampas 38, 2005, 184–197; Gabriel Herman, The

oldenbourg DOI 10.1524/9783486716320.29

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An den griechischen Adelsbildern aus archaischer Zeit treten bereits besonders augenfällig die wichtigsten Prinzipien aristokratischer Selbstdarstellung hervor, nämlich die grundsätzlich öffentliche Präsentation und Prominenz des Aufstellungsortes, sodann die visuelle Mitteilung des sozialen wie auch ästhetischen Führungsanspruchs und schließlich der Hinweis auf die Überlegenheit der persönlichen physischen Kampfkraft und materiellen Mittel, auf die für jedermann sichtbare „Bestheit“ (arete) und damit auch auf die Nähe der Dargestellten zu den Göttern. χρήματα, χρήματ’ ἀνήρ – „Vermögen, Vermögen ist der Mann“ – so lautet ein Halbvers, in dem die Adligen im 7.Jahrhundert Klage über neureiche Männer führten und damit zugleich den eigenen Macht- und Bedeutungsverlust eingestanden. Im selben Tenor äußerte sich bekanntlich Theognis, der Dichter aus Megara, der beharrlich an der alten Adelswelt festhielt und bitter die anwachsende nivellierende Bedeutung des Geldes für den öffentlichen Rang eines Mannes kommentierte (Theogn. 1,149f.: Χρήματα μὲν δαίμων καὶ παγκάκωι ἀνδρὶ δίδωσιν, Κύρν᾿· ἀρετῆς δ᾿ ὀλίγοις᾿ ἀνδράσι μοῖρ´ ἕπεται): „Vermögen läßt das Glück auch einem ganz minderwertigen Manne zuteil werden; an der arete haben nur wenige Männer Anteil“. Arete, im Deutschen etwa wiederzugeben als „Vortrefflichkeit“ oder „Vorzüglichkeit“, wird hier nicht als eine individuelle Bewährung, sondern als ein akkumulier-

‚Friends‘ of the Early Hellenistic Rulers. Servants or Officials?, in: Talanta 12/13, 1980/81, 103–149. Speziell zur Führungsschicht in den griechischen Städten: Philippe Gauthier, Les cités grecques et leurs bienfaiteurs (IVe – Ier siècle av. J. C.). Contribution à l’histoire des institutions. Paris 1985; Friedemann Quaß, Die Honoratiorenschicht in den Städten des griechischen Ostens. Stuttgart 1993; vgl. auch Ivana Savalli Lestrade, Remarques sur les élites dans les poleis hellénistiques, in: Mireille Cébeillac Gervasoni/L. Lamoine (Eds.), Les élites et leurs facettes. Les élites locales dans le monde hellénistique et romain. Rom/Clermont Ferrand 2003, 51–64; Vivi Andreou, Remarques sur l’histoire des classes dirigeantes de Milet, in: Leon Mooren (Ed.), Politics, Administration and Society in the Hellenistic and Roman World. Löwen 2000, 1–13. Zur römischen Senatsaristokratie: Jochen Bleicken, Die Nobilität der römischen Republik, in: Gymnasium 88, 1981, 236–253 (= ders., Gesammelte Schriften. Bd. 1. Stuttgart 1998, 466–483). Die neueren Diskussionen hat jüngst zusammengefasst: Frank Goldmann, Nobilitas als Status und Gruppe. Überlegungen zum Nobilitätsbegriff der römischen Republik, in: Jörg Spielvogel (Hrsg.), Res publica reperta. Zur Verfassung und Gesellschaft der römischen Republik und des frühen Prinzipats. Festschrift für Jochen Bleicken zum 75. Geburtstag. Stuttgart 2002, 45–66 (mit der wichtigsten Literatur). Zur Umgestaltung der Senatsaristokratie unter Augustus: Ronald Syme, The Augustan Aristocracy. Oxford 1986. Zur Struktur der städtischen Führungsschicht in der römischen Welt: Mireille Cébeillac-Gervasoni (Ed.), Autocélébration des élites locales dans le monde romain: contextes, images, textes (IIe s. av. J. C. – IIIe s. ap. J. C.). Clermont-Ferrand 2004; dies. (Ed.), Les élites municipales de l’Italie péninsulaire de la mort de César à la mort de Domitien entre continuité et rupture: classes sociales dirigeantes et pouvoir central. Rom 2000; Mireille Cébeillac-Gervasoni, Les magistrats des cités italiennes de la seconde Guerre Punique à Auguste: le Latium et la Campanie. Rom 1998.

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tes Erbe der Väter, als ein fester Besitz eines seltenen Guts aufgefasst, über das andere nicht verfügen. Wer aufgestiegen war und zu den Vornehmen einer Stadt zählte, der war darauf aus, die eigene, frisch errungene privilegierte Stellung möglichst exklusiv zu halten und sich gegenüber den Gemeinen abzugrenzen, sich sozial und ideell von der „Menge“ abzusetzen, sich als „Edler“ (ἐσθλός) in physischer, moralischer und intellektueller Hinsicht den „Gemeinen“ (den κακοί) überlegen zu fühlen. 2 Seinen bildlichen Ausdruck fand diese Haltung seit dem 7.Jahrhundert v.Chr. in den sogenannten archaischen kouroi, die den aristokratischen Führungsanspruch, Habitus und Ethos wiedergeben (Abb.1). 1. Die kouroi, Statuen junger Männer, stellen eine Denkmälergattung dar, die seit etwa 650 v.Chr. als Grab- und Erinnerungsmal in der griechischen Welt allerorts anzutreffen war und einer eng umrissenen Typologie folgte. 3 In zahlreichen Fällen wurden nicht nur die Kouroi-Statuen selbst, sondern auch die Basen derselben erhalten. Auf ihnen wurden Inschriften gesetzt, die zwar die Stifter namentlich benennen, ohne dass ihnen jedoch die genauere soziale Stellung zu entnehmen wäre, da diese den lokalen zeitgenössischen Betrachtern ja ohnehin bekannt war. Auch wenn sich daher nur in wenigen Fällen mit Bestimmtheit sagen lässt, dass die Stifter der Figuren aristokratischen Familien angehörten 4, so wird gleichwohl in der plastischen Gattung der Kouroi-Statuen das aristokratische Werte- und Schönheitsideal sinnfällig, das einzelne Mitglieder anderer sozialer Gruppen bis hinunter zu reich gewordenen Kaufleuten und Handwerkern nachahmten. Als Beispiel für die Repräsentation griechischer Aristokraten soll die Grabstatue des Kroisos dienen, die im Süden Attikas bei Anavyssos gefunden wurde und sich heute im Athener Nationalmuseum befindet. 5 Diese zwischen 530 und 520 v.Chr. entstandene, leicht überlebensgroße (1,94m) Marmorstatue stand ur-

2 Vgl. Elke Stein-Hölkeskamp, Adel und Volk bei Theognis, in: Walter Eder/Karl-Joachim Hölkeskamp (Hrsg.), Volk und Verfassung im vorhellenistischen Griechenland. Stuttgart 1997, 21–35; Karl-Wilhelm Welwei, Adel und Demos in der frühen Polis, in: Gymnasium 88, 1981, 1–23. 3 Einführende Literatur zur Gattung der Kouroi: Werner Fuchs/Josef Floren, Die griechische Plastik. Bd. 1: Die geometrische und archaische Plastik. München 1987; Wolfram Martini, Die archaische Plastik der Griechen. Darmstadt 1990; Peter C. Bol (Hrsg.), Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst. Bd. 1: Frühgriechische Plastik. Mainz 2002. 4 Daß sich auch weniger herausgehobene Persönlichkeiten dieser traditionellen Form der aristokratischen Repräsentation bedienten, weist nach: Ingeborg Scheibler, Griechische Künstlervotive der archaischen Zeit, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 30, 1979, 7–30. 5 Gefunden in Anavyssos/Attika, heute im Athener Nationalmuseum, Inv.-Nr.3851. Vgl. Gisela M. A.

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sprünglich an einer Gräberstraße. Aufgestellt auf einer dreistufigen Basis bekrönte sie einen im Durchschnitt 28 Meter messenden, etwa 2 m hohen Grabhügel. Eine dreistufige, 0,75 m hohe Basis hob die Figur noch einmal zusätzlich aus der Umgebung heraus, so dass sie für jeden Benutzer der Straße schon von weitem sichtbar war. Die Inschrift auf der Basis, die mit einiger Wahrscheinlichkeit dem Kouros zuzuordnen ist und ihm den Namen gibt 6, spricht den Betrachter unmittelbar an: στε̑ θι καὶ οἴκτιρον Κροίσο παρὰ σε̑μα θανόντος ̔óν ποτ’ ἐνὶ προμάχοις ὄλεσε θο̑ ρος Ἄρες. „Bleib’ stehen und klage bei seinem Grabmal um den toten Kroisos, den einst bei den Vorkämpfern vernichtete der wilde Ares.“

Das Epigramm thematisiert sofort die öffentliche Herausgehobenheit des Dargestellten, die sich bereits in der prominenten Lage des Aufstellungsortes mitteilt: Energisch verlangt es die Aufmerksamkeit eines jeden Vorübergehenden. Nicht nur die Familienmitglieder, sondern jedermann soll innehalten, das Grabmal betrachten und sich dabei nicht nur still erinnern, sondern aktiv das Schicksal des Kroisos beklagen. Die wiederholte Klage soll das Vergessen verhindern: denn nur im Ruhm lebt der Tote bei den nachfolgenden Generationen fort. Es bleibt dabei unklar, weshalb man um diesen Mann trauern soll. Eine soziale oder politische Leistung irgendeiner Art, die den Betrachter betreffen könnte, wird nicht genannt. Der Vorübergehende wird somit darauf verwiesen, aus der Betrachtung des Standbildes die eigentliche Leistung bzw. den Grund zur Klage zu erschließen: nämlich die Schönheit und Kraft des Mannes. Zwar wird in der Inschrift eine militärische Bewährungstat genannt, sie Richter, Kouroi. Archaic Greek Youths – A Study of the Development of the Kouros Type in Greek Sculpture. 2.Aufl. London 1960, 118f. (Nr.136) Abb.395–398. 400f. 6 Zur Inschrift grundlegend: G. Phillips Stevens/Eugene Vanderpool, An Inscribed Kouros Base (with Supplementary Note by David M. Robinson), in: Hesperia Supplement 8, 1949 = Commemorative Studies in Honor of Theodore Leslie Shear, 361–364 mit Abb.48; Margrit Jacob-Felsch, Die Entwicklung griechischer Statuenbasen und die Aufstellung der Statuen. Waldsassen 1969, 116f. (Nr.13); Christoph W. Clairmont, Gravestone and Epigram. Greek Memorials from the Archaic and Classical Period. Mainz 1970, 3.9. 16f. (Nr.2) Taf. 2; vgl. Richter, Kouroi (wie Anm.5), 115f. (mit weiterer Forschungsliteratur zu dieser Frage und der Datierung). Sie neigt dazu, den Tod des Kroisos in Zusammenhang mit der Schlacht von Pallene, etwa zwischen 541 und 537 v.Chr., zu datieren. Demnach wäre Kroisos unter Umständen als ein aus Ionien stammender Gefolgsmann des Lygdamis von Naxos zu identifizieren. Der letztgenannte unterstützte Peisistratos in diesem Kampf gegen die Athener mit einem Truppenkontigent: Hdt. 1,61.

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spielt freilich bei der Darstellung keine Rolle. Der Einsatz im Kampf scheint indivividuell motiviert gewesen zu sein, da eigentümlicherweise nicht genau bezeichnet wird, ob es sich um Auseinandersetzungen zwischen Aristokraten oder um einen von der gesamten Bürgerschaft getragenen Kampf handelte, bei dem Kroisos zu Tode kam. 7 Betrachten wir die Statue genauer, betrachten wir vor allem die gewählte Darstellungsform: Was repräsentiert die Statue eigentlich? Wie ist der Aristokrat dargestellt? Durch die Schrittstellung tritt der Verstorbene aktiv auf den Betrachter zu, frontal bietet er sich ihm dar, ganz aufrecht und unbekleidet. Der Körper, genauer gesagt, der durch langjähriges regelmäßiges Training geformte Körper ist sein ihn auszeichnender Schmuck – in stark betonter und vollkommener Körperlichkeit, mit kraftstrotzenden Oberschenkeln und kräftigem Brustkorb. 8 Eine eigentümliche Spannung zwischen Stehen oder Innehalten und Schreiten, zwischen Anspannung – achten Sie nur auf die Hände – und dem statuarischen Grundmotiv ist gewählt. Daraus ergibt sich eine vollkommen unnatürliche, geradezu paradoxe Haltung, da das Prinzip gesammelter Energie und Entschlossenheit mit dem Prinzip der Ruhe vereint ist. Es ist kein Innehalten in einer bloß zufälligen natürlichen Bewegung, sondern in gänzlich künstlicher Weise ist die gezähmte Kraft und Schönheit des durchgebildeten Körpers dargestellt. Der Mann ist somit als ein physisches Ideal dargestellt, gewissermaßen wie ein Gott – man denke nur an viele Bildnisse des Apollon, die der Statue sehr ähneln. Die ästhetischen Möglichkeiten der plastischen Darstellung des menschlichen Körpers werden so weit wie möglich ausgeschöpft. Das ist so evident, dass die soziale und moralische Überlegenheit bzw. Autorität des Dargestellten gewissermaßen voraus-

7 Es lassen sich zahlreiche andere Belege für diese Vorstellung vom persönlichem heroischen Kriegsruhm durch den Einsatz im Kampf finden – ein weiteres Beispiel ist etwa das Grabmal des Arniádas in Korkyra. An dem Kalksteinpfeiler, der um 600 v.Chr. errichtet wurde (Sammlung der Griechischen Dialektinschriften 3189), kann man die Formelhaftigkeit bzw. die zeitlich und auch geographisch weite Verbreitung dieses Gedankens ersehen: „Das Grabmal ist das des Arniadas; es vernichtete ihn der grimmige Ares, als er im Kampf bei den Schiffen bei des Arathos Fluten sich sehr hervortat im Stöhnen bringenden Getümmel“. Allgemein zum Verhältnis von Hoplitenphalanx und aristokratischem Einzelkampf: Uwe Walter, Aristokraten und Hopliten im frühen Griechenland. Eine Interpretation der sogenannten ‚ChigiKanne‘, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43, 1992, 41–51. 8 Zur Gestaltung des Körpers beim Bildnis des Kroisos-Kouros: Ellen Schneider, Untersuchungen zum Körperbild attischer Kuroi. Möhnesee 1999, 80–90, 265–268.

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gesetzt ist, ja gleichsam außer Frage steht: Ganz augenscheinlich zählt er zu den schönsten und „Besten“, eben zu den aristoi. 9 Die Bildnisgattung der Kouroi versinnbildlicht somit den umfassenden Führungsanspruch der dargestellten Männer. Für alle sichtbar sind sie als Verstorbene herausgehoben – durch ihr selbstbewusstes Hervortreten, durch ihre Nacktheit und körperliche Schönheit und die damit verbundene Ähnlichkeit mit Götterbildern, die sie nur durch permanente Übungen in gymnasialer Muße, mithin nur durch Askese und Disziplin gewonnen haben können (Abb.2). In der aufwendigen Lockenfrisur signalisieren sie dem Betrachter zusätzlich ihre Überlegenheit in materieller und ästhetischer Hinsicht, besser gesagt, ihre Exzellenz oder „Bestheit“ – eben ihre arete. Allerdings verweisen sie in ihrer gesamten Erscheinung nicht auf eine konkrete Tat oder Leistung oder auf ein konkretes Ereignis, vielmehr stellen sie sich selbst mit ihrer ganzen Person als sinnfälligen Beweis ihrer „Bestheit“ aus: In ihrer makellosen körperlichen Erscheinung bilden sie einen in sich abgeschlossenen, vollkommenen, wohlgeordneten Kosmos. Die Kouroi-Statuen inszenieren sich somit als Kunstwerke, die keine unmittelbaren historischen oder politischen Bezüge aufweisen, so wie sich dies auch bei anderen Skulpturen dieser Epoche beobachten lässt. Vielmehr demonstrieren sie einen bestimmten Lebensstil, eine aristokratische Kultur der Muße, des Genusses und der Schönheit. Woran besteht das darin enthaltene Aristokratentum? Es liegt – zumindest vom Anspruch her – in der individuellen Selbstdisziplinierung zum Zweck der Vollendung der äußeren Formen, in der Hingabe nicht an die Politik, sondern an ein ästhetisches Ideal der körperlichen Schönheit: Sie verkörpern überragende Schönheit und geordnete Kräfte und stellen diese in der Öffentlichkeit auch dar. Darin weisen sie sich aus als Männer von Reichtum, Muße, sportlicher Geschicklichkeit, körperlicher Kraft und Schnelligkeit, von Maß, Beherrschung und kultiviertem Äußeren. Sie lassen sich bewundern und ehren für ihre Erscheinung, dadurch fallen sie auf und erringen Ehren durch sportliche Siege. Durch die Wahl dieser Darstellungsform geben sie sich dabei als Mitglieder einer überregional verbreiteten Standes-

9 Vgl. Adrian Stähli, Begehrenswerte Körper. Die ersten Männerstatuen der griechischen Antike, in: Julika Funk/Cornelia Brück (Hrsg.), Körper-Konzepte. Tübingen 1999, 83–110, bes. 89–92. Er legt meines Erachtens überzeugend dar, dass die Aufstellung von Statuen, insbesondere die der Kouroi, die Weihung von Greifenkesseln, die im 8. und 7.Jahrhundert v.Chr. bis dahin vorherrschende Form monumentaler Weihgeschenke, ablöste.

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gruppe zu erkennen: Was ihnen darstellenswert erscheint, ist die praktische Teilhabe an diesem exklusiven aristokratischen Ideal – die praktische Betätigung und Geselligkeit mit Männern, die sich alle gleichermaßen darum bemühten, sich sowohl in den Taten als auch in der Selbstdarstellung als der „Allerbeste“ zu erweisen: auf der Ebene der Bilder suchte man die Standesgenossen durch besondere Größe, durch besonders kostbares Material oder durch eine besonders qualitätvolle bildhauerische Gestaltung zu übertreffen, auf der Ebene der Taten durch kriegerische Erfolge und Sammlung von Reichtümern und persönlichem Ruhm. Dies begann sich freilich im Laufe des 6.Jahrhunderts v.Chr. zu wandeln: So weist etwa der milesische Dichter Phokylides in einem Fragment nachdrücklich auf die machtpolitisch bedeutsam gewordene Rolle der Volksmenge und auf die damit verbundene Notwendigkeit, die städtische Öffentlichkeit durch Reden und sonstige Debattenbeiträge zu führen, hin: „Dies sagt Phokylides auch: Was hat der von adliger Herkunft, / dem es durch Rede und Rat nicht glückt, das Volk zu gewinnen?“ 10 Auch wenn der ererbte familiäre Adel noch immer die dominierende Rolle für den Einfluss eines einzelnen Mannes oder einer Familie auf die Geschicke der Stadt haben mochte, so tritt doch deutlich hervor, dass vornehme Herkunft, militärische Verdienste der Familie und persönliche kriegerische Tüchtigkeit nicht länger hinreichend waren, um eine Führungsrolle in einer Stadt einzunehmen: Rhetorisches Talent und Geschick in der Wahrnehmung und Lenkung der Menge (bzw. der Mehrheit der Bürger) traten nunmehr in den Vordergrund, was die persönlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten der Mitglieder der politischen Führungsschicht in den griechischen Städten betraf. Trotz dieser starken Veränderung der sozialen und politischen Rahmenbedingungen wurde dieses aus der aristokratischen Kultur hervorgegangene Ideal der ab10 Phokylides Fr. 3 Franyo/Snell: Καὶ τόδε Φωκυλίδεω· τί πλέον, γένος εὐγενές εἶναι,/ οἶσ᾿ οὔτ᾿ ἐν μύθοισ᾿ ἕπεται χάρις οὔτ᾿ ἐνὶ βουλῆι; Damit waren freilich zu dieser Zeit noch keineswegs intellektuelle Fähigkeiten im Sinne theoretisch-methodischer Kenntnisse und Fertigkeiten gemeint. Die allgemeine Anerkennung und öffentliche Wertschätzung einer stark theoretisch bestimmten Lebensform setzte erst ab der zweiten Hälfte des 3.Jahrhunderts v.Chr. ein. Seinen äußeren Ausdruck fand dies in städtischen Ehrungen, die Philosophen und Gelehrten seit ca. 200 v.Chr. aufgrund ihrer wissenschaftlichen Unterrichtung der städtischen Jugend erhielten. Erst seitdem fanden intellektuell-theoretische Fähigkeiten Berücksichtigung in uns in Grabinschriften und -denkmälern fassbaren öffentlichen Bürgerbildern: Peter Scholz, Bios philosophikos. Soziale Bedingungen und institutionelle Voraussetzungen des Philosophierens in klassischer und hellenistischer Zeit, in: Christof Rapp/Tim Wagner (Hrsg.), Wissen und Bildung in der antiken Philosophie. Berlin 2006, 37–58.

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soluten „Bestheit“ von der athenischen Demokratie durchaus übernommen (Abb.3): Der berühmte Doryphoros, der „Speerträger“ Polyklets, verlegt in seiner heroischen Nacktheit die aristokratische Ästhetik und das damit verbundene Schönheitsideal ins Mythisch-Abstrakte. 11 Derartige Statuen standen vor allem in den Gymnasien. Auf den öffentlichen Plätzen Athens und anderer Städte hingegen dominierten neuartige Darstellungsformen, dort waren überwiegend Bilder „vorbildlicher Bürger“ zu finden. Das postume Bildnis des Demosthenes mag stellvertretend für derartige „neuartige“ Bürgerbildnisse stehen (Abb.4). 12 2. Das zweite Beispiel der bildlichen Repräsentation griechischer Herrschaftsträger ist eine Bronzestatuette Alexanders des Großen, der an der Spitze der makedonischen Adligen stand und als König auch diese repräsentierte. Die kleine Plastik soll zugleich stellvertretend für die Reiterstatuen stehen, mit denen die Heiligtümer und griechischen Städte den hellenistischen Herrschern ihren Dank abstatteten und ihre Loyalität bezeugten. Spätestens seit der Annahme des Königstitels im Jahr 306 v.Chr. verbreitete sich diese Form der Ehrung auf den Marktplätzen und in den heiligen Bezirken. Der götterähnliche Rang der Herrscher wurde durch den erhöhten Blick der Reiter sowie durch die häufig noch erhöhte Aufstellung dieser Statuen auf Pfeilermonumenten zum Ausdruck gebracht. Entsprechend blieb die Gattung der Reiterstatue als höchste Form der Ehrbezeugung auf die Monarchen beschränkt. 13 Bedauerlicherweise haben sich von diesen imposanten Reiterstatuen der Nachfolger Alexanders nur geringe Reste erhalten, in der Regel nicht mehr als

11

Gefunden in der sog. Samnitischen Palästra in Pompeii, heute im Museo Nazionale Neapel, Inv.-

Nr.6011; Hans von Steuben, Der Kanon des Polyklet. Doryphoros und Amazone. Tübingen 1973, 11–55 mit Taf. 15–32; Ernst Berger, Zum Kanon des Polyklet, in: Herbert Beck/Peter C. Bol/Maraike Bückling (Hrsg.), Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik. Ausstellung im Liebieghaus Museum Alter Plastik Frankfurt am Main. Mainz 1990, 156–184; Hans von Steuben, Der Doryphoros, in: ebd.185–198; vgl. auch German Hafner, Polyklet. Doryphoros – Revision eines Kunsturteils. Frankfurt am Main 1997. Zur Rezeption des Doryphoros in der antiken Kunst: Warren G. Moon, Polykleitos, the Doryphoros, and Tradition. Madison, Wis./London 1995; Paul Zanker, Klassizistische Statuen. Mainz 1974, 7–11 mit Abb.5,1. 12

Gefunden in Kampanien im 18.Jahrhundert, heute in der Ny Carlsberg Glyptotek Kopenhagen, Inv.-

Nr.2782; Gisela M. A. Richter, Portraits of the Greeks. Vol.2. London 1965, 219 Nr.32 Abb.1398–1402; Ralf von den Hoff, Die Bildnisstatue des Demosthenes als öffentliche Ehrung eines Bürgers in Athen, in: Christian Mann/Matthias Haake/Ralf von den Hoff (Hrsg.), Rollenbilder in der athenischen Demokratie. Medien, Gruppen, Räume im sozialen und politischen System. Wiesbaden 2010, 193–220. Zur Bürgerideologie im 4.Jahrhundert v.Chr. und in der nachfolgenden Zeit: Peter Scholz, Der gute Bürger bei Lykurg, in: ebd.182– 186. 13

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Heinrich B. Siedentopf, Das hellenistische Reiterdenkmal. München 1968, 15.

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die Basen, nur in wenigen Fällen mit Einlassungsspuren der Pferdehufe. 14 Die Statuette aus Herculaneum vermag immerhin einen ungefähren Eindruck von diesen Reiterbildern zu vermitteln, die zwei Grundformen kennt. Während die eine den Herrscher in ruhigem Stand- oder Schrittmotiv präsentiert, zeigt die andere Form den Reiter auf einem auf den Hinterhufen stehenden Pferd. Das Standbild des reitenden Alexanders gehört dieser zweiten Gruppe an. Es war Teil einer Gruppe, die

14 Allgemein zu den Standbildern hellenistischer Herrscher mit Sammlung und Diskussion der Quellenzeugnisse: Brigitte Hintzen-Bohlen, Herrscherrepräsentation im Hellenismus. Köln u.a. 1992; Haritini Kotsidu, Time kai doxa. Ehrungen für hellenistische Herrscher im griechischen Mutterland und in Kleinasien unter besonderer Berücksichtigung der archäologischen Denkmäler. Berlin 2000. Im letztgenannten Werk finden sich die folgenden Reiterstandbilder, zunächst die epigraphisch [E] und zugleich archäologisch [A] oder literarisch [L] bezeugten (in chronologischer Reihenfolge): in Athen: Reste einer vergoldeten Reiterstatue (Demetrios Poliorketes ?) im ruhigen Standmotiv auf der Agora, um die Wende vom 4. zum 3.Jahrhundert v.Chr. (= Kotsidu Nr.296 mit Abb.79–83); im Heiligtum von Oropos: Basis eines Reiterdenkmals, 250–200 v.Chr. (= Kotsidu Nr.315 [E + A]); in Epidauros: Philipp V. vor dem Epidoteion im Asklepieion, 217–215 v.Chr. (= Kotsidu Nr.57 [E + A]); in Olympia: Philipp II. und Alexander III., letztes Drittel des 4.Jahrhunderts v.Chr. (= Kotsidu Nr.64 [L]); Seleukos I., nach 306 v.Chr. (= Kotsidu Nr.72 [L]); Areus von Sparta zu Pferd vor der Südfront des Zeustempels, nach 280 v.Chr. (= Kotsidu Nr.74 [L]); Dropion, König von Paionien in der Nähe des Zeustempels, 279/78 v.Chr. (= Kotsidu Nr.75 [E + A]); in Delphi: Nicht identifizierbarer Herrscher aus dem 3.Jahrhundert v.Chr., vor der Westfront des Apollontempels (= Kotsidu Nr.88 [E + A]); Reiterpostament eines nicht identifizierbaren Herrschers aus dem 3.Jahrhundert v.Chr. an der Westecke der Polygonalmauer (= Kotsidu Nr.89 [A1]); Attalos I. auf einem Pfeilermonument vor der Attalosterrasse, 220–210 v.Chr. (= Kotsidu Nr.91 [E + A]); Eumenes II. auf einem Pfeilermonument, am Altar der Chier, nach 197/96 v.Chr. (= Kotsidu Nr.93 [E + A]); Prusias II. von Bithynien auf einem hohen Postament, 182–179 v.Chr., die Standplatte mit zwei Hufeinbettungen (= Kotsidu Nr.100 [E + A] mit Abb.96, vgl. Hintzen-Bohlen, Herrscherrepräsentation, 169, 200f.); Perseus, nach 174 v.Chr., unterhalb der Ostfront des Apollontempels (= Kotsidu 318 [L +A]); Attalos II. Philadelphos im ruhigen Standmotiv vor der Halle der Athener, vor 160 v.Chr. (= Kotsidu Nr.96 [E + A] mit Abb.94); zwei weitere Reiterdenkmäler im Umfeld des Apollontempels aus dem 3.Jahrhundert v.Chr. (= Kotsidu 319 + 320 [A]); zwei nicht näher bestimmbare pergamenische Könige (Eumenes II. und Attalos II.?) aus dem 2.Jahrhundert v.Chr., auf einem Pfeilermonument vor der Attalosterrasse (= Kotsidu Nr.98 [A] mit Abb.96); auf Delos: Reiterdenkmal im Dodekathon zwischen den Altären C und D und südlich des Altars D, vom Anfang des 3.Jahrhundert v.Chr. (= Kotsidu Nr.327 + 328 [A]); in Pergamon: Reiterstandbild zu Ehren des Attalos II. Philadelphos, nach 189 v.Chr. = Kotsidu Nr.218 [E + A]. Ausschließlich inschriftlich belegt sind zudem folgende Reiterstandbilder (in chronologischer Reihenfolge): in Athen: der karische Satrap Asandros, 314/13 v.Chr. (= Kotsidu Nr.41 [E]); Demetrios I. Poliorketes, 302 oder 294 v.Chr. (= Kotsidu Nr.11 [E]); Audoleon, König von Paionien, 284 v.Chr. (= Kotsidu Nr.40 [E]); nicht näher bestimmbarer Ptolemäer, um 150 v.Chr. (= Kotsidu Nr.297 [E]); im Heiligtum von Delphi: Eumenes II., 182/81 v.Chr. (= Kotsidu Nr.92 [E]); im Heiligtum von Didyma: Antiochos, Sohn des Seleukos I., 299 v.Chr. (= Kotsidu Nr.268 = Schenkungen Nr.281 [E]); im Asklepieion auf Kos: Ptolemaios IV. Philopator, um 200 v.Chr. (= Kotsidu Nr.161 [E]); in Ilion: Antiochos III. der Große, 197 v.Chr. (= Kotsidu Nr.212 [E]); in Pergamon: Attalos III. Philometor, 138–133 v.Chr. (= Kotsidu Nr.222 [E]).

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25 makedonische Gefährten (hetairoi) umfasste. 15 Diese Figurengruppe des berühmten Bildhauers Lysipp stellte den makedonischen Herrscher inmitten seiner gleichfalls berittenen, getreuen Alters- und Kampfgenossen in der Schlacht am Granikos (334 v.Chr.) dar und war ursprünglich zur Erinnerung an die damals gefallenen Freunde des Königs im makedonischen Dion aufgestellt, also an dem Ort, an dem sich das Heer gesammelt hatte und zu dem großen Eroberungsfeldzug gegen Persien aufgebrochen war. Von dort war die Reitergruppe dann von Q. Caecilius Metellus nach Rom verschleppt und 147 v.Chr. in der porticus Metelli aufgestellt und später in die porticus Octaviae überführt worden. 16 Seitdem war die Gruppe für die Allgemeinheit in der urbs sichtbar und vor allem die Figur des berühmten Eroberers bekannt. 17 Wie die hellenistischen Herrscher zuvor fanden auch die römischen Aristokraten gewiss Gefallen an dieser eindrucksvollen Verkörperung absoluten Herrschertums. Die hellenistischen und römischen Bewunderer konzentrierten sich einseitig auf die Darstellung der Hauptfigur, indem sie diese aus ihrem ursprünglichen Aufstellungszusammenhang lösten und sich Kopien des Alexanders zu Pferd als Einzelskulptur und in unterschiedlichen Formaten anfertigen ließen. 18 Ein Bei15

Barbara Schmidt-Dounas, Geschenke erhalten die Freundschaft. Politik und Selbstdarstellung im Spie-

gel der Monumente. Berlin 2000, 119f. (mit weiterer Literatur); Klaus Bringmann/Walter Ameling, Schenkungen hellenistischer Herrscher an griechische Städte und Heiligtümer. Bd. 1: Zeugnisse und Kommentar. Berlin 1998, Schenkungen Nr.112 mit Abb.I 69; Siedentopf, Reiterdenkmal (wie Anm.13), 46f. SchmidtDounas zweifelt mit guten Gründen daran, dass das Bild Alexanders des Großen tatsächlich ursprünglich zu dieser Gruppe der turma Alexandri gehörte. Sie vermutet, dass dessen Reiterstandbild erst später in Rom hinzugefügt wurde. 16

Vell. Pat. 1,11,3f.: „Hic est Metellus Macedonicus, qui porticus, quae fuerunt circumdatae duabus ae-

dibus sine inscriptione positis, quae nunc Octaviae porticibus ambiuntur, fecerat, quique hanc turmam statuarum equestrium, quae frontem aedium spectant, hodieque maximum ornamenturn eius loci, ex Macedonia detulit. Cuius turmae hanc causam referunt, Magnum Alexandrum impetrasse a Lysippo, singulari talium auctore operum, ut eorum equitum, qui ex ipsius turma apud Granicum flumen ceciderant, expressa similitudine figurarum faceret statuas et ipsius quoque iis interponeret.“ 17

Die Darstellung des kämpfenden Alexanders zu Pferd greift dabei zwar Vorbilder der griechischen

Skulptur des 5. und 4.Jahrhunderts v.Chr. auf – s. etwa das Grabrelief des 394/93 v.Chr. bei Korinth gefallenen jungen athenischen Reiters Dexileos –, variiert aber diese durch den Einsatz des Schwertes (statt der Lanze). Zum Grabmonument des Dexileos: John Boardman, Griechische Plastik. Die spätklassische Zeit und die Plastik in Kolonien und Sammlungen. Mainz 1998, Abb.120; Serena Ensoli, L’Heroon di Dexileos nel Ceramico di Atene. Problematica architettonica e artistica attica degli inzi del IV secolo a. C. (Memorie Accademia Nazonale dei Lincei, Classe di Scienzi morali, storiche e filologiche, Ser. 8, Vol.29/2.) Rom 1987, 156–329. 18

Vgl. die einschränkende Bemerkung von Siedentopf, Reiterdenkmal (wie Anm.13), 71: „Das bewegte

Standmotiv [...] ist bei rundplastischen Reiterbildnissen zuerst in der Alexanderzeit nachzuweisen und

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spiel derartiger Kopien stellt die stark verkleinerte bronzene Reiterstatue aus Pompeii dar, die heute im Museo Nazionale in Neapel aufbewahrt ist und den besten Eindruck vom Aussehen der Reiterstatue des Makedonenkönigs vermittelt (Abb.5) 19: Die Statuette zeigt Alexander auf einem sich aufbäumenden, auf den Hinterhufen stehenden Pferd. 20 Auf eine kritische Nahkampfsituation in der Schlacht wird angespielt, allerdings ist die Dramatik schon zurückgenommen, da das Pferd sich mit gemäßigter Kraft aufrichtet. Dargestellt ist eher ein angedeutetes Aufbäumen im Sinne einer Dressurübung: Es handelt sich mithin um eine elegante Selbstrepräsentation. Die Bewegung dient als Chiffre für den Kampf in der Schlacht, für die allgemeine Bewährtheit des Dargestellten im Kampf. Das Gleiche gilt für die Bewegung des Kämpfers: Er ist zwar in Panzer und Waffenrock dargestellt und als König erkenntlich am Diadem, aber die zum tödlichen Hieb ausholende Bewegung des rechten Arms bleibt ohne wirkliche Dynamik – er lässt keine wirkliche Anstrengung und Anspannung erkennen, belässt es bei der Darstellung weitgehend nur angedeuteter, nicht gänzlich ausgeübter Macht und Gewalt. Die Darstellung hebt so vor allem die göttergleiche, determinierte Sieghaftigkeit des Königs hervor (Abb.6 und 7). 21 Wie bei den Kouroi-Statuen wird auch bei den Reiterstatuen hellenistischer Herrscher, wenn die vorgestellte Alexanderstatuette als repräsentatives Beispiel dienen kann und aus deren Analyse eine verallgemeinernde Schlussfolgerung zu ziehen erlaubt ist, an kein bestimmtes Ereignis erinnert, kein eindeutiger historischer Bezug gesucht, sondern vielmehr die Sieghaftigkeit der Dargestellten herausgestellt. Ihr Aristokratentum – im Sinne einer auf begegnet unter den Reiterdenkmälern in keiner Zeit so häufig wie im Hellenismus. Trotzdem können wir es nicht als das eigentliche Charakteristikum unserer Denkmalsgattung betrachten.“ Näher zur Untersuchung des bewegten Standmotivs: Siedentopf, Reiterdenkmal, 65–68. 19 Museo Nazonale Napoli Inventarnr. 4996; Marion Bieber, Alexander the Great in Greek and Roman Art.Chicago 1964, 35f., Abb.19–21; Paolo Moreno, Alessandro Magno. Immagini come storia. Rom 2004, 151–161 mit Abb.237, 240, 441. 20 Vgl. zu Darstellungen von Pferden und Reitern: Erika Simon, Pferde in Mythos und Kunst der Antike. Mainz 2006, bes. Kap. 4 und 5. 21 Vgl. hiermit die Haltung des hellenistischen Königs Pyrrhos von Epiros zu Pferd, der auf einem Metopenrelief aus dem zwischen 275 und 250 v.Chr. entstandenen Grabnaiskos in der Via Umbria aus Tarent, einen am Boden liegenden Barbaren in Waffen besiegt (Museo Nazionale in Tarent) (= Paolo Moreno, Scultura ellenistica I. Rom 1994, 77 Abb.88 und 105 Abb.129; ders., Alessandro Magno [wie Anm.19], 153 Abb.238). Zu diesem Grabmonument: Brunilde Sismondo Ridgway, Hellenistic Sculpture. Vol.1. Bristol 1990, 181–184 mit Abb.27 (Rekonstruktion).

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Dauer angelegten öffentlichen Herausgehobenheit – besteht in der individuellen Kampfkraft, die hier gleichsam göttlicher, weil jugendlich leichter Natur ist. Das wird zusätzlich betont durch den Gegensatz zwischen der dramatisch-pathetischen Bewegung des Pferdes und der überirdisch unbewegten, eigentümlich teilnahmslos wirkenden Miene des Reiters sowie durch die völlige Mühelosigkeit, mit der der Schwerthieb ausgeführt wird. In den hellenistischen Reiterstandbildern wird also ein Götternähe suggerierendes Schönheitsideal fortgeführt – die Könige treten in idealischen Posen auf, vor allem als siegende Krieger, die in keiner konkreten historischen oder zeitgenössischen Situation agieren: Sie sind vielmehr als machtbewusste Einzelne in überzeitlicher Sieghaftigkeit isoliert dargestellt. Während die berühmte Gruppe Lysipps Alexander offensichtlich als primus inter pares in einem konkreten Schlachtgeschehen darstellt, überhöhen die Darstellungen seiner Nachfolger weitaus stärker die Person der Herrscher: Als selbsternannte neue Könige präsentieren sie sich der Öffentlichkeit in den griechischen Städten und Heiligtümern in siegender oder sieghafter Pose – in Gestalt des kämpfenden oder triumphierenden Reiters – oder in heroischer Pose – als stehender „nackter“ gottähnlicher Heros, der sich mit dem rechten erhobenen Arm auf einem Speer abstützt. 22 Von ganz anderer Art ist in der römischen Kultur die öffentliche Präsentation der persönlichen Herausgehobenheit: Der besseren Vergleichbarkeit wegen habe ich wiederum jeweils eine Statue und eine Reiterstatue ausgewählt. 3. Der Gattung der griechischen kouroi möchte ich diejenige der römischen TogaStatuen entgegenstellen. Als Beispiel für togati, die in einem öffentlichen Kontext dargestellt werden, soll der sogenannte Arringatore dienen, eine im Trasimenischen See gefundene und heute in Florenz befindliche Bronzestatue des Aulus Metellus 23, eines Mitglieds der umbrischen Munizipalaristokratie, der wahrscheinlich den Senatoren von Perugia (Perusia) angehörte. 24 Die 1,79 m hohe Statue wurde zwischen 22

Einige Beispiele etwa bei: R. R. R. Smith, Hellenistic Sculpture. A Handbook. London 1991, 19–32 mit

Abb.1–20; Lucilla Burn, Hellenistic Art.From Alexander the Great to Augustus. Los Angeles/London 2004, 62–66. 23

Allgemein zu dieser Statue: Tobias Dohrn, Der Arringatore in Florenz. Technische Beobachtungen, in:

Archäologischer Anzeiger 1965, 123–142; ders., Der Arringatore. Bronzestatue im Museo Archeologico von Florenz. Tübingen 1968; Götz Lahusen, Römische Bildnisse aus Bronze. München 2001, 26–30 (Nr.5) mit Abb 5,1–13; Giovanni Colonna, Il posto dell’Arringatore nell’arte etrusca di età ellenistica, in : Studi Etruschi 56, 1989/90, 99–122. 24

Die in der Forschung heftig diskutierte Frage nach der Identität des Dargestellten, also ob es sich um

einen römischen Senator, römischen Patrizier etruskischen Ursprungs handelte oder um einen Etrusker,

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130 und 60 v.Chr. aufgestellt, vermutlich in einem Heiligtum für den etruskischen Gott Tece Sans (Abb.8). 25 Metellus trägt eine Tunica, über die eine toga (exigua) gelegt ist. 26 Dass es sich bei ihm um einen herausragenden Bürger handelt, ist bereits am selbstbewussten Auftreten zu erkennen: Was die dargestellte Szene betrifft, so ist geschickt der Moment gewählt, der einer öffentlichen Rede unmittelbar vorangeht. Mit souveräner Selbstverständlichkeit erhebt er seinen rechten Arm und hält die geöffnete Hand seinem Publikum entgegen, um sich Ruhe zu verschaffen. Metellus ist ganz unverkennbar als Herr des Geschehens dargestellt, als Mann, der mittels seiner Redekraft die Menge lenkt und führt, als eine unumstrittene Autoritätsperson, die sich ohne ersichtliche Mühe Gehör zu verschaffen weiß (Abb.9 und 10). Die selbstsichere Haltung gründet nicht auf körperlicher Makellosigkeit, Kraft und Stärke – er ist eher von gedrungener Statur, hat eine Anlage zur Beleibtheit, ein deutlich von Falten geprägtes Gesicht, und auch die Stirnbogenfrisur weist auf ein

der zwar römischer Bürger war, aber als Mitglied der munizipalen Aristokratie zugleich seine etruskische Herkunft herausstreichen wollte, soll hier außer Acht bleiben, da die große Bedeutung der Statue für die Rekonstruktion der Entwicklung der etruskisch-römischen Plastik und der Geschichte der Toga-Statuen unbestritten bleibt: Tobias Dohrn, L’Arringatore nato etrusco, cittadino romano, in: Problemi di storia e archeologia dell’Umbria. Atti del I Convegno di studi umbri. Gubbio 26–31 maggio 1963. Perugia 1964, 197– 211; Klaus Fittschen, Der ‚Arringatore‘, ein römischer Bürger?, in: Rheinisches Museum 77, 1970, 177–184; Lahusen, Bildnisse (wie Anm.23), 26f. 25 Zur Datierung s. die prägnante Wiedergabe der Vorschläge bei: Lahusen, Bildnisse (wie Anm.23), 28, der aufgrund der später ungebräuchlichen Anbringung der Inschrift am Saum der Toga keinen klaren Anhaltspunkt ausmachen kann, warum die Statue erst nach 89 v.Chr. entstanden sein soll. Die auf der Statue befindliche Inschrift (aulesi metelis ve vesia clensi/cen fleres tece sansl tenine/tuthines chisvlics,) wird als Dedikation an die genannte Gottheit verstanden: Massimo Pallottino, Nota sull’iscrizione dell’Arringatore, in: Bollettino d’arte 49, 1964, 115–116; Adriano Maggiani, Iscrizioni iguvine e usi grafici nell’Etruria settentrionale, in: Aldo L. Prosdocimi, La tavole iguvine I. Florenz 1984, 217–237. In der lateinischen Übersetzung lautet sie folgendermaßen: Aulo Metellii Ve(lis) Vesiae filio / hoc simulacrum posuit Patris gratia / tutelae publicae („Dem Aulus, dem Sohn des Vel Metellius und der Vesia, hat diese Statue des Vaters aus Dankbarkeit errichtet für die öffentliche Sicherheit und den Schutz [den er gewährleistete]“). 26 Nach Livius (34,7) kam die toga praetexta den Magistraten der Municipien zu. Dazu passt die Nachricht, dass der ordo decurionum von Perugia sich ausdrücklich senatores nannte (App. Bell. Civ. 5,48). Auf der Basis dieser Belege vermuten Theodor Mommsen (Römisches Staatsrecht. Bd. 3/2. München 1887, 887) und Klaus Fitschen (Arringatore [wie Anm.24], 183f.), dass im Arringatore ein städtischer decurio mit senatorischen Abzeichen dargestellt sei. Zur Diskussion um die römische Kleidung der Statue: German Hafner, Etruskische Togati, in: Antike Plastik 9, 1969, 23–47; Hans R. Goette, Mulleus – Embas – Calceus. Ikonographische Studien zu römischem Schuhwerk, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 103, 1988, 449–464; ders., Studien zu römischen Togadarstellungen. Mainz 1989, 20–24.

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vorangeschrittenes Alter, aber zugleich auf reiche Erfahrung und Einsicht, Besonnenheit und Klugheit. 27 Das Selbstbewusstsein gründet auch nicht auf überragenden intellektuellen und physischen Eigenschaften oder überwältigendem Reichtum, Luxus und Prunk – zumindest wird keines dieser Mittel körperlicher, sozialer oder politischer Überlegenheit durch entsprechende Bildchiffren deutlich herausgestellt. Doch wenn nicht in individueller Denk- oder Kampfkraft, worin besteht dann seine Herausgehobenheit? Sie besteht wohl vor allem in seiner besonderen öffentlichen Stellung, in dem deutlich formulierten Anspruch auf Führung einer Bürgerschaft, der er in seinem öffentlichen Auftritt vor einer imaginierten Öffentlichkeit und womöglich mit einer Rede über seine Leistungen und Vorhaben Rechenschaft ablegt (Abb.11 und 12). So sehr er mit der Menge der Bürger verbunden ist, zu denen er sprechen wird, so sehr hebt er sich von ihnen bei näherer Betrachtung ab – zum einen natürlich dadurch, dass er in dieser Darstellung einen präzise wiedergegebenen breiten Saum am unteren Rand der Toga trägt, der dem sogenannten latus clavus ähnelt, sowie die den Senatoren und hochrangigen munizipalen Magistraten 28 vorbehaltenen Schnür27

Dohrn, Arringatore (wie Anm.23), 7, versteht die Haltung des ‚Arringatore‘ als „Verkörperung der Au-

torität, wenn er fast breitspurig vor uns hintritt, die Rechte gebieterisch erhebt und das aufgerichtete Haupt in diese Richtung wendet.“ Dohrn vergleicht dabei die Haltung des ‚Arringatore‘ mit der Statue des Augustus von Primaporta und wertet die der Ersteren stark ab: Der ‚Arringatore‘ wirke im direkten Vergleich sehr gezwungen und es fehle ihm an Natürlichkeit, die der Statue des Augustus scheinbar wie von selbst innewohne. Vgl. auch die allgemeinen Überlegungen von Stefan Ritter, Alle Bilder führen nach Rom. Eine kurze Geschichte des Sehens. Stuttgart 2008, 50: „Bei Staatsmännern [...] wurde gerade der ältere Politiker für geeignet gehalten, die Geschicke des Staates zu lenken. Die Altersmerkmale eines solchen Porträts dokumentieren durchweg schätzenswerte Eigenschaften: vollbrachte Leistungen, langjährige Bewährung und ein hohes, während einer langen Laufbahn erworbenes Prestige [...]. Dem Politiker [...] steht nur ein begrenztes Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung.“ Entsprechend ordnet er die Darstellung des ‚Arringatore‘ unter der Kategorie „amtliches Politikergesicht“ ein (53), in dem sich nach Möglichkeit Ernst und Verantwortungsbewusstsein widerspiegeln sollen. 28

S. das Beispiel der frühkaiserzeitlichen Panzerstatue des M. Holconius Rufus aus Pompeii (im Museo

Nazionale Neapel Inv.-Nr.6233), die calcei aufweist, ohne dass der Dargestellte nachweislich jemals dem römischen Senat angehört hätte. Als duovir iure dicundo, duovir quinquenalis, Priester des Augustus und Patron der colonia nahm er freilich in Pompeii eine herausragende, den Patriziern durchaus vergleichbare Stellung ein. Näheres hierzu: Paul Zanker, Das Bildnis des M. Holconius Rufus, in: Archäologischer Anzeiger 1981, 349–361. Allgemein zu den verschiedenen Aspekten der senatorischen Repräsentation: Peter Scholz, Zur öffentlichen Repräsentation römischer Senatoren und Magistrate. Einige Überlegungen zur (verlorenen) materiellen Kultur der republikanischen Senatsaristokratie, in: Tobias L. Kienlin (Hrsg.), Die Dinge als Zeichen: Kulturelles Wissen und materielle Kultur. (Universitätsforschungen zur Prähistorischen Archäologie, 127.) Bonn 2005, 409–431.

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stiefel, die calcei, und schließlich einen kostbaren, vermutlich goldenen Skarabäenring. Zum anderen ist er als einer der ersten Bürger dadurch erkennbar, dass er hier im Bild mit größter Selbstverständlichkeit die Pose des führenden Bürgers einnimmt, indem er sich mit der erhobenen rechten Hand Ruhe verschafft (Geste des silentium manu facere). 29 Dass diese exklusive Stellung und innere Haltung nicht ohne Anstrengung und Konzentration, abstrakt gesagt, nicht ohne Selbstdisziplinierung erworben sind – trotz aller sonstigen Selbstverständlichkeit im Auftreten und in der Haltung –, ist im Gesicht und in der Haltung der linken Hand angezeigt: In beiden Partien findet die innere Anspannung einen äußeren Ausdruck. Die Stirn ist stark zusammengezogen, der Mund nur ganz leicht geöffnet; sein linker Arm, um den elegant die toga geschlungen ist, hängt nicht entspannt herunter, sondern ist eng an den Körper geführt. 30 Dabei drückt der Zeigefinger leicht auf den nach vorne gestreckten Daumen – so dass der Eindruck von Sammlung und Konzentration entsteht. Neben Strenge und Selbstbeherrschung verkörpert Metellus somit unverkennbar eine Person, deren Autorität und Legitimität unbestritten ist und der die aristokratische Haltung, öffentliche Führungsaufgaben zu übernehmen, gleich ob auf religiösem oder politischem Feld, in Fleisch und Blut übergegangen ist (Abb.13). 31 4. Zum Schluss dieses eher schlaglichtartigen Überblicks über die visuelle Reprä-

29 Dohrn, Arringatore (wie Anm.23), 10; Johannes Bergemann, Römische Reiterstatuen. Ehrendenkmäler im öffentlichen Bereich. Mainz 1990, 6–8 (bes. 7: „Eine Durchsicht griechischer und römischer Monumente zeigt, daß der Gestus der erhobenen rechten Hand bei Figuren vorkommt, die auf der Bildfläche erscheinen, um aktiv und entscheidend in die Handlung einzugreifen“). Die Deutung, in ihm einen der führenden Bürger der Stadt zu sehen, wird darin bestätigt, dass die Redegeste des erhobenen rechten Arms von der Augustusstatue von Primaporta (Museo Vaticano in Rom, Braccio Nuovo, Inv.-Nr.2290) wiederholt wird: Heinz Kähler, Die Augustusstatue von Primaporta. Berlin 1959; Dieter Boschung, Die Bildnisse des Augustus. Das römische Herrscherbild. Bd. 1/2. Berlin 1993, 197ff. (Nr.171) Taf. 1,5; 69f. 82, 1; 148,1; 213. Die adlocutioGeste der erhobenen Rechten verweist auf mehrere Fähigkeiten der dargestellten Persönlichkeit und darf nicht einseitig im Sinne einer einzigen ausschließlich religiösen oder politischen Funktion gedeutet werden: In ihr wird gleichermaßen auf die forensische eloquentia wie auch auf die bittflehende pietas des Mannes verwiesen. 30 Dohrn, Arringatore (wie Anm.23), 12f., verweist darauf, dass zwar der Kopf des ‚Arringatore‘ eine große Nähe zur stadtrömischen Porträtkunst aufweist, jedoch, bezogen auf den Körper der Statue, auch durchaus etruskische Merkmale aufweist. Insgesamt lässt sie sich weitaus besser der römischen Kunstentwicklung zuweisen: Sybille Haynes, Kulturgeschichte der Etrusker. Mainz 2005, 469–473; ähnlich Friedhelm Prayon, Die Etrusker. Geschichte, Religion, Kunst. München 1996, 98. 31 Die Theorie der ‚touching statue‘ (Peter Stewart, Statues in Roman Society. Representation and Response. New York 2003, 261–299), dass es den Zeitgenossen durch Betrachtung und Berührung möglich wurde, den Verstorbenen wiederzuerwecken, ins Leben zu rufen und so auch über den Tod hinaus ein „powerful

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sentation griechischer und römischer Aristokraten und Herrscher soll eine in Herculaneum gefundene Reiterstatue zu Ehren des Marcus Nonius Balbus 32 betrachtet werden. Sie fungiert damit gewissermaßen als römisches Pendant zu der Reiterstatue Alexanders des Großen, welche den Stil der hellenistischen Herrscherdarstellung maßgeblich beeinflusste. Mit Reiterstatuen wurden nach Ausweis der Inschriften in der römischen Kultur Ritter und Militärs, vor allem aber Senatoren und Mitglieder der kaiserlichen Familie, jedoch bezeichnenderweise keine Freigelassenen und Augustalen geehrt. Sie blieben den Magistraten und Mitgliedern der politischen Gremien des Reiches und der Städte vorbehalten. In ihnen repräsentierte sich mithin die Führungsschicht, die stellvertretend für die gesamte Bürgerschaft öffentliche Herrschafts-, Beratungs- und Führungsaufgaben wahrnahm, entsprechend Leistungen und Verdienste zugunsten der Allgemeinheit vorzuweisen vermochte und angemessene öffentliche Ehrungen als Gegenleistung erwarten durfte. 33 Nonius Balbus ist ein Vertreter dieser römischen Oberschicht, der die römische Ämterlaufbahn (cursus honorum) durchlaufen und zugleich als lokaler Patron gewirkt hatte. Aus dem kampanischen Nuceria stammend war er als Volkstribun im Jahr 32 v.Chr. durch sein Veto zugunsten des Augustus hervorgetreten. Später war er Praetor und Prokonsul von Creta und Cyrene gewesen und vor allem reichster Bürger und größter Wohltäter Herculaneums, der nicht nur den Bau einer Basilika, sondern auch die Tore und die Ummauerung der Stadt finanzierte. Aufgrund dieser generösen Baustiftungen erhielt er nach seinem Tode heroische Ehren, darunter die heute im Nationalmuseum von Neapel aufbewahrte Reiterstatue, gestiftet von den Bürgern von Herkulaneum und aufgestellt auf dem Forum der Stadt (Abb.14 und 15). 34 Schon die gewählte Haltung des Pferdes steht in denkbar schärfstem Kontrast zu dem dramatischen Bewegungsmotiv der Alexander-Statuette: Eine beeindruckende Wirkung beim Betrachter wird hier nicht durch dynamische Bewegung erreicht,

image“ (261f.) zu besitzen, bleibt merkwürdig unbestimmt und letztlich historisch wertlos, da nicht hinreichend Bezug auf die aristokratische Lebensform genommen wird. 32 Leonhard Schumacher, Das Ehrendekret für M. Nonius Balbus aus Herculaneum (Année épigraphique 1947, 53), in: Chiron 6, 1976, 165–184, dem sich Bergemann, Reiterstatuen (wie Anm.29), 88f., anschließt. Die Statuen müssen demnach in die frühaugusteische Zeit datiert werden. Zu der Statue ausführlich: Bergemann, Reiterstatuen, 86–90 (Nr.P 32) (mit weiterer Forschungsliteratur). 33

Bergemann, Reiterstatuen (wie Anm.29), 14.

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CIL X 1433f. = Année Epigraphique 1947, 53. Die Statue entstammt nicht der porticus vor der sog. Basi-

lica von Herculaneum, wie Bergemann, Reiterstatuen (wie Anm.29), 86f., richtiggestellt hat.

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sondern durch das gemessene und ruhige Voranschreiten des Pferdes. Dessen linkes Vorderbein ist angehoben, der Kopf beigezäumt und leicht nach links gewendet, das Maul geöffnet. Das Zaumzeug ist fest angearbeitet, die Riemenkreuzungen sind durch runde, unverzierte Scheiben hervorgehoben. Dabei sitzt der Reiter betont aufrecht auf dem Pferd: Er hat seinen Arm erhoben und fasst mit der Hand eine auf dem Boden abgestützte Lanze, wie es auch aus der Darstellung republikanischer Reiterstatuen auf Münzbildern bekannt ist. Eng am Hals des Pferdes hält der Reiter mit dem Mittel- und Zeigefinger seiner linken Hand die Zügel. Die zurückgenommene Bewegung des Pferdes und die Haltung des Reiters verweist auf den nicht dargestellten, aber gedachten Kontext, dem das Motiv entnommen ist: nämlich auf eine Prozession, in deren Mittelpunkt etwa bei Triumphzügen die städtischen Magistrate standen, die in langsamem Ritt die Bürgermenge zu beiden Seiten durchmaßen. Ebenso wie beim Arringatore ist auch hier die Darstellungsform der politischen Praxis entnommen: dem festlichen Empfang eines herausragenden Bürgers. Balbus ist in militärischer Aufmachung als älterer, erfahrener Mann dargestellt (Abb.16). Die ursprüngliche Blickrichtung des Kopfes ist nicht mehr zu rekonstruieren, da der Hals modern und der Halsausschnitt gleichmäßig gerundet ist. Er trägt einen Muskelpanzer ohne Ledertaschen und Pteryges über der Tunika, die an den Seiten tief geschlitzt ist. Außerdem ist er mit einem doppelt um die Taille gelegten und vorne geknoteten Gürtel (cingulum) sowie einem Schwertgehänge ausgestattet. Schwert und Schwertscheide werden vom Mantel, dem paludamentum, verdeckt, der auf der linken Schulter mit einer Fibel gerafft, in einer Stoffschlaufe seitlich am Arm herunterfällt und Schulter und Rücken bedeckt. Unmissverständlich wird durch den Mantel die militärische Bewährung und Erfahrung des Dargestellten signalisiert. Balbus wird in diesem Bildnis als eine ruhige und besonnene, väterliche Autorität präsentiert, der inmitten des Volkes und durch die Übernahme vielfältiger Herrschaftsaufgaben zugleich weit über ihm steht. Indem er den Bürgern Schutz und Sicherheit gewährt, Frieden und Wohlstand verbürgt, nimmt er legitimerweise eine sichtbar herausgehobene Stellung ein. Der außerordentliche Rang wird dabei nicht nur durch das Reitmotiv deutlich angezeigt: Balbus trägt wie der Arringatore Senatorenschuhe mit vier Schuhriemen (corrigiae) sowie einen Ring an der linken Hand. Die Reiterstatue des Nonius Balbus lehnt sich damit deutlich an bekannte republikanische Vorbilder an, wie etwa an eine Reiterstatue eines nicht mehr identifizierbaren Aemiliers, deren ungefähres Aussehen nur durch die Darstellung auf der Rück-

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seite einer Denarprägung eines späteren Nachfahrens überliefert ist (Abb.17). 35 Dargestellt ist der berühmte Vorfahr als bewaffneter Reiter mit einem Brustpanzer und kurzem Waffenrock, der in der Linken die Zügel hält und in der Rechten eine bis auf den Boden reichende Lanze. Das Pferd steht dabei auf einem großen Monument, das sich als eine durch drei breite Bögen gekennzeichnete Brücke, Wasserleitung oder Ehrenbogen deuten lässt. Es verharrt in der herrschaftlichen Pose des ruhigen Standmotivs. Die Prägung hat vornehmlich die Funktion, an die Leistungen des berühmten Vorfahren zugunsten der res publica und die ihm dadurch zuteil gewordenen öffentlichen Ehrungen durch den populus Romanus zu erinnern. Der so in der Tradition, in den glorreichen Taten der Vorfahren begründete Anspruch der gens Aemilia, zu den führenden Familien Roms zu zählen, wird mit der Prägung aktualisiert und öffentlich propagiert: Die Quelle des „Adels“ bzw. des exklusiven Herrschafts- und Führungsanspruchs der Aemilier ist begründet in der kriegerischen, politischen und moralischen „Vortrefflichkeit“ ihrer Mitglieder (virtus). Diese besteht nicht nur in militärischen Bewährungstaten, worauf der bewaffnete Reiter verweist, sondern zugleich auch in zivilen Verdiensten zugunsten der Allgemeinheit wie etwa im Bau oder der Renovierung einer Tiberbrücke. Im Fall der Darstellung des Nonius Balbus ist die Frage nach der aristokratischen Haltung bzw. nach der „Vornehmheit“ ähnlich wie bei der Denardarstellung zu beantworten: Sie besteht bei dieser Reiterstatue wesentlich in der persönlichen, mehrfach und auf mehreren Feldern des öffentlichen Lebens unter Beweis gestellten „Tüchtigkeit“ im Sinne einer allgemeinen Vorzüglichkeit (virtus), die sowohl militä-

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Prägung eines unbekannten Münzmeisters aus der gens Aemilia aus dem Jahr 114/13 v.Chr.: RRC 291;

Bergemann, Reiterstatuen (wie Anm.29), M 5 Tf. 89d; Markus Sehlmeyer, Stadtrömische Ehrenstatuen der republikanischen Zeit. Stuttgart 1999, 182–184. Reiterstatuen waren in Rom lange Zeit eine große Seltenheit und sind nur aus Anlass außergewöhnlicher Siege seit der zweiten Hälfte des 4.Jahrhunderts v.Chr., so für die Konsuln C. Maenius und L. Furius Camillus (338 v.Chr.) sowie für Q. Marcius Tremulus (306 v.Chr., RRC 425,1) bezeugt: Sehlmeyer, Ehrenstatuen, 48–50, 57–60. Erst seit 200 v.Chr. sind Reiterstatuen häufiger

belegt, nicht zuletzt durch die Kenntnis und Rezeption der Reiterstatuen hellenistischer Herrscher in den griechischen Heiligtümern und Städten. M. Acilius Glabrio stellte 181 v.Chr. die erste vergoldete Reiterstatue zu Ehren seines Vaters beim Tempel der Pietas am Forum Holitorium auf (Sehlmeyer, Ehrenstatuen, 148– 151), da er im Fall einer Weihung in einem Heiligtum nur der Genehmigung durch den zuständigen Priester bedurfte. Die erste Reiterstatue auf dem Forum wurde erst Ende des Jahres 82 v.Chr. bei den Rostren zu Ehren Sullas, vermutlich noch vor Annahme der Diktatur, aufgestellt. Diese Ehrung erfolgte erstmals ohne eindeutige Bezugnahme auf eine aktuelle militärische Leistung oder ein für die Öffentlichkeit relevantes historisches Ereignis und letztlich wohl auf eigene Veranlassung: Sehlmeyer, Ehrenstatuen, 204–209.

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rische als auch zivile, also gleichermaßen politische und soziale Leistungen zugunsten der Allgemeinheit umfasst. Balbus wird nicht als jugendlicher Heros oder Krieger in der Blüte seiner Kraft gezeigt, sondern als älterer Mann, der am Ende seines politischen Wirkens steht: als städtischer Magistrat und Patron, dessen langjähriges Wirken zugunsten der Heimatstadt die höchsten Ehrungen rechtfertigt. Kampfkraft und Sieghaftigkeit werden nur angedeutet, nicht betont. Vielmehr wird in erster Linie politischer Rang und Autorität (auctoritas) dargestellt, oder abstrakter ausgedrückt, legitime Herrschaft, bei der die persönliche Vorrangstellung dem Herrschaftsträger zur selbstverständlichen Haltung geworden ist. Die auf das öffentliche Wohl bezogene, praktisch unter Beweis gestellte Tüchtigkeit und Vortrefflichkeit (virtus) war der Daseinsgrund der römischen Senatsaristokratie; entsprechend kultivierte sie ihn und verbreitete sich dieses Vornehmheitsideal in ganz Italien. Eben diese Haltung manifestiert sich auch in den öffentlichen Bildern der römischen Eliten. Dieser originär republikanische Habitus blieb bis in die Spätantike lebendig, wie beispielsweise noch die Diptychen der damaligen Konsuln ersehen lassen, die sie in einer öffentlich herausgehobenen Funktion als Ausrichter und Eröffner der Spiele zeigen: so etwa das beispielhaft ausgewählte Diptychon des Boetius (487 n.Chr.) bzw. Anicius Manlius Severinus (480–524) (Abb.18). 36 Demgegenüber sind die griechischen Bilder von Herrschaftsträgern von deutlich anderen Gestaltungsprinzipien bestimmt: Sie erheben weder das politische Wirken noch die Prinzipien ihrer Herrschaftsausübung zum Thema der Darstellung. Vielmehr verzichteten die griechischen Aristokraten und Herrscher in ihren Bildnissen auf solch originär politische Aussagen, weil sie partikulare Eigeninteressen verfolg-

36 Zu diesem neuen Medium der Selbstdarstellung der römischen Senatsaristokratie: Cecilia Olovsdotter, The Consular Image. An Iconological Study of the Consular Diptychs. (BAR International Series, 1376.) London 2005, bes. 179–217; Richard Delbrueck, Die Konsulardiptychen und verwandte Denkmäler. (Studien zur spätantiken Kunstgeschichte, 2.) Berlin 1929, 103–106, Nr.N 7 Taf. 7; Wolfgang F. Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters. (Kataloge Vor- und Frühgeschichtlicher Altertümer, 7.) Mainz 1976, 32 Nr.6 Taf. 3. Die vom Materialwert und von der künstlerischen Gestaltung her kostbaren Diptychen dienten als Einladungen zu den Feierlichkeiten anlässlich des Konsulatsantritts, die geraume Zeit vor dem Zeremoniell an prominente Persönlichkeiten verschickt wurden. Die Diptychen wie das des Boethius zeigen die jeweiligen neuen Konsuln in purpurnem, reich mit verschiedenen Mustern und figürlichen Darstellungen geschmückten Triumphalornat (toga/vestis palmata), auf der sella curulis sitzend, in der Linken ein elfenbeinernes Szepter (scipio) präsentierend, in der erhobenen Rechten eine mappa (circensis) haltend. Die öffentlichen Spiele wurden eröffnet, indem der vorsitzende Magistrat die mappa zu Boden warf: Olovsdotter, Consular Image, 28–30 (Nr.6) mit Abb.6.

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ten, die eben nicht allgemein geteilt wurden und deshalb auch nicht propagierungswürdig waren. Das ist der Grund dafür, dass die griechischen Aristokraten und Monarchen sich darauf beschränkten, idealische Schönheit oder persönliche Sieghaftigkeit besonders stark herauszustellen. So wird in ihren Bildern in erster Linie soziale Überlegenheit inszeniert und soziale Distinktion hergestellt. Ihre Statuen zeichnet vor allem aus, dass sie den Betrachtern deutlich zu verstehen geben, was diesen fehlt, um dem Kreis der ‚Edlen‘ anzugehören. Im visuellen Verweis auf die Überlegenheit ihrer Mittel und Kräfte verlangten die griechischen Aristokraten und Herrscher somit nicht nach Beifall und Zustimmung, sondern nach Distanz und Unterordnung. Die historische Entwicklung hat freilich bekanntlich gezeigt, dass sich die dargestellte Überlegenheit und Kampfkraft nicht universalisieren ließ, die gezeigten Vorzüge waren nicht hinreichend, um sich dauerhaft Legitimität und politische Autorität zu verschaffen – so lebte allein der von Muße geprägte Lebensstil der Aristokraten in der griechischen Stadt- und Bürgerkultur fort.

Resümee Anhand von vier öffentlich aufgestellten Statuen wurden die zentralen Unterschiede in Repräsentation und Habitus der griechischen und römischen Führungsschicht analysiert. In den archaischen Kouroi-Statuen dokumentiert sich der soziale wie ästhetische Führungsanspruch der griechischen Aristokraten: Die aus Götterbildern entwickelten Bildnisse sind sinnfällige Beweise für die „Bestheit“ (arete) der Verstorbenen. In den hellenistischen Reiterstandbildern wird dieses aristokratische, Götternähe suggerierende Schönheitsideal fortgeführt. Die Könige treten in idealischen Posen auf, vor allem als siegende Krieger, die in keiner konkreten historischen oder zeitgenössischen Situation agieren: Sie sind als machtbewußte Einzelne in ihrer Sieghaftigkeit dargestellt. Demgegenüber präsentieren sich die römischen Ritter und Senatoren – eine Toga-Statue und ein Reiterstandbild wurden hierzu beispielhaft vorgestellt – grundsätzlich als politische Autoritäten, die sich in ihren Bildnissen an Familie, Tradition und Bürgerschaft gebunden zeigen und nachdrücklich auf ihre bereits erbrachten Leistungen zugunsten der Allgemeinheit, auf ihre persönlichen virtutes und die daraus resultierenden öffentlichen Ehren (honores) verweisen.

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Abb.1: Marmorstatue des Kroisos, 530–520 v.Chr., gefunden in Anavyssos/Attika, heute im Athener Nationalmuseum, Inv.-Nr.3851, Höhe 1,94 m. Quelle: Photosammlung des Archäologischen Instituts der Universität Erlangen: PE-Abzug, Photokarte Hirmer 63926, 94/ Nr.5090,6.

Abb.2: Kopf der Marmorstatue des Kroisos. Quelle: Photosammlung des Archäologischen Instituts der Universität Erlangen: PE-Abzug, Photokarte Hirmer 63927, 94/ Nr.5090,7.

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Abb.3: Der sog. Doryphoros des Polyklet, um 440 v.Chr., Marmorkopie aus der sog. Samnitischen Palästra in Pompeii, 1.Jh. n.Chr., Museo Nazionale Neapel, Inv.-Nr.6011, Höhe 2,00 m. Quelle: Photosammlung des Archäologischen Instituts der Universität Erlangen: Albuminabzug, Photo: Alinari Nr.34250.

Abb.4: Ehrenstatue des Demosthenes von der Athener Agora, 280 v.Chr., Marmorkopie, gefunden in Kampanien, Ny Carlsberg Glyptotek Kopenhagen, Inv.-Nr.2782, Höhe 2,02 m. Quelle: Photosammlung des Archäologischen Instituts der Universität Erlangen: Albuminabzug, Anderson Nr.1358.

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Abb.5: Bronzestatuette Alexanders des Großen aus Herculaneum, 1.Jh. v.Chr., nach einem griechischen Original Lysipps von 336 v.Chr., Museo Archeologico Nazionale Neapel, Inv.-Nr.4996, Höhe 0,5 m. Quelle: Photosammlung des Archäologischen Instituts der Universität Erlangen, Albuminabzug Nr.5, 5618, Photo: Brogi.

Abb.6: Bronzestatuette Alexanders des Großen, Detailansicht (wie Abb. 5). Quelle: Photosammlung des Archäologischen Instituts der Universität Erlangen, Albuminabzug, Arndt Br. 480 und Arndt Br. 480, 788.

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Abb.7: Bronzestatuette Alexanders des Großen, Detailansicht (wie Abb. 5).

Abb.8: Bronzestatue des sog. Arringatore, 90–80 v. Chr, gefunden am Trasimenischen See, Museo Nazionale Florenz. Höhe 1,79 m. Quelle: Tobias Dohrn, Der Arringatore. Bronzestatue im Museo Archeologico von Florenz. Tübingen 1968.

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Abb.9: Bronzestatue des sog. Arringatore, Seitenansicht. Quelle: wie Abb.8.

Abb.10: Bronzestatue des sog. Arringatore, Gesicht. Quelle: wie Abb.8.

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Abb.11: Bronzestatuette des sog. Arringatore, Detailansicht („senatorischer“ Ring). Quelle: wie Abb. 8. 6

Abb.12: Bronzestatue des sog. Arringatore, Detailansicht („senatorische“ Stiefel). Quelle: wie Abb.8.

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Abb.13: Bronzestatue des sog. Arringatore, Seitenansicht. Quelle: wie Abb.8.

Abb.14: Seitenansicht der Marmorstatue des M. Nonius Balbus aus Herculaneum, um 20 v.Chr., aus der sog. Basilica, Marmor. Höhe 2,52 m. Quelle: K. Anger, Neg. D-DAI-ROM-87.851.

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Abb.15: Seitenansicht der Marmorstatue des M. Nonius Balbus (wie Abb.14). Quelle: K. Anger, Neg. D-DAIROM-87.853.

Abb.16: Detailansicht der Marmorstatue des M. Nonius Balbus (wie Abb.14). Quelle: C. Rossa, Neg. D-DAIROM 76.1129.

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Abb.17: Reiterstatue eines Aemiliers auf einem Monument, Denar, Prägung eines unbekannten Münzmeisters aus der gens Aemilia aus dem Jahr 114/13 v.Chr., RRC 291. Quelle: http://www.beastcoins.com/RomanRepublican/Z4917.jpg (29.3.2012).

Abb.18: Elfenbeindiptychon des Konsuls Boethius, 487 n.Chr., Brescia, Museo Romano, 35 x 12,6 cm. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:6061_-_Brescia_-_S._Giulia_-_Dittico_di_Boezio_-_ Foto_Giovanni_Dall%27Orto,_25_Giu_2011.jpg (29.3.2012).

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Adelige – Gruppen – Bilder Eine Skizze zur zeichenhaften Verankerung von adeligem Herkommen und ritterlicher Leistung von Stephan Selzer

I. Adelige Bilder: Eisenkleider Adel lässt sich definieren als Machtelite von erblich privilegierten Familien und damit verstehen als eine soziale Formation, die in unterschiedlicher Ausprägung in vielen vormodernen Gesellschaften zu beobachten ist. Daran erkennt die Forschung vereinbarungsgemäß Adel. 1 Doch woran erkannte man im Mittelalter einen Adeligen? Und weitergefragt: Hätten sich Adelige verschiedener vormoderner Gesellschaften als solche erkennen können? Beide Fragen sind weniger vordergründig, als man zunächst annehmen möchte. Denn mit erster Problemstellung ist eine Formenkunde des mittelalterlichen Adels gefordert, zu der als zweite Aufgabe die Suche nach zeit- und kulturübergreifenden Adelsmerkmalen hinzuzutreten hätte. Beides gibt es in überzeugender Form bisher nicht. 2 Schon diese Lücke muss man bedauern, weil die Problematik der Identifizier1 Zu gängigen Adelsdefinitionen siehe Otto Gerhard Oexle, Art.„Stand, Klasse (Antike und Mittelalter)“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6. Stuttgart 1990, 155–200; Karl Ferdinand Werner, Art.„Adel (Fränkisches Reich, Imperium, Frankreich)“, in: Lexikon des Mittelalters. Hrsg. v. RobertHenri Bautier u.a. Bd.1. München/Zürich 1980, Sp.119–128 (Ndr. in: ders., Vom Frankenreich zur Entfaltung Deutschlands und Frankreichs. Ursprünge, Strukturen, Beziehungen. Ausgewählte Beiträge. Sigmaringen 1984, 12–21); Philippe Contamine, La noblesse au royaume de France de Philippe le Bel à Louis XII. Essai de synthèse. Paris 1997, 17–20; Werner Hechberger, Adel, Ministerialität und Rittertum im Mittelalter. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 32.) München 2004, 2–4. Zum Adel allgemein und zeitübergreifend siehe Michael L. Bush, The European Nobility. Vol.1: Noble Privilege. Vol.2: Rich Noble, Poor Noble. Manchester/New York 1983/88; Jonathan Powis, Der Adel. Paderborn u.a. 1986 (erstmals 1984); Jonathan Dewald, The European Nobility 1400–1800. Cambridge 1996. 2 Aus der neueren mediävistischen Adelsliteratur sei hier vor allem auf solche Werke verwiesen, die räumlich und/oder zeitlich vergleichend ansetzen: Martin Aurell, La noblesse en Occident (Ve–XVe siècle). Paris 1996; Otto Gerhard Oexle/Werner Paravicini (Hrsg.), Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 133.) Göttingen 1997; Phi-

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oldenbourg DOI 10.1524/9783486716320.58

barkeit keine nachträglich an die adelige Welt des Mittelalters herangetragene Thematik ist. Vielmehr zeigt bereits ein Seitenblick auf die Werke der höfischen Literatur, dass in ihnen das Erkennen bzw. Nichterkennen von adeligen Helden ein motivischer Dauerbrenner ist. 3 In solche Problemlagen geriet indes ein mittelalterlicher Adeliger nicht nur beim Lesen und Hören höfischer Literatur, sondern sichtbar im Falle des Hegauers Martin von Friedingen auch im täglichen Leben: Im Konstanzer Münster, so berichtet die Zimmersche Chronik, sei er auf- und abgegangen, doch „von wegen der schlechten beklaidung“ als einer von Adel nicht erkannt worden. Erst, als er den Hut zog und einen goldenen Knopf an der Hutschnur vorwies, wurde sein Status ersichtlich. 4 Wie aber hätten seine Kleider beschaffen sein müssen, um an ihnen adeligen Rang kenntlich werden zu lassen? Eine Antwort darauf, wenn auch in polemischer Absicht, erhielt nach seinem eigenen Bericht Johannes Busch, Propst des hallischen Stifts Neuwerk und vielbeschäftigter Visitator. Als er im Jahre 1455 eine der von ihm zu visitierenden adeligen Nonnen im Kloster Wennigsen zu beruhigen wünschte und sie mit „Schwester“ ansprach, explodierte diese und antwortete ihm: „Ihr seid lippe Contamine, The European Nobility, in: The New Cambridge Medieval History. Vol.7: c. 1415–c.1500. Ed. by Christopher Allmand. Cambridge 1998, 89–105; Anne J. Duggan (Ed.), Nobles and Nobility in Medieval Europe. Concepts, Origins, Transformations. Woodbridge 2000; Kurt Andermann/Peter Johanek (Hrsg.), Zwischen Nicht-Adel und Adel. (Vorträge und Forschungen, Bd. 53.) Stuttgart 2001; Peter Niederhäuser (Hrsg.), Alter Adel – neuer Adel? Zürcher Adel zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit. Zürich 2003; Joseph Morsel, L’aristocratie médiévale. La domination sociale en Occident (Ve–XVe siècle). Paris 2004; Horst Carl/Sönke Lorenz (Hrsg.), Gelungene Anpassung? Adelige Antworten auf gesellschaftliche Wandlungsvorgänge vom 14. bis zum 16.Jahrhundert. (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 53.) Ostfildern 2005; Werner Hechberger, Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 17.) Ostfildern 2005; Werner Paravicini, Gab es eine einheitliche Adelskultur Europas im späten Mittelalter?, in: Rainer C. Schwinges/Christian Hesse/Peter Moraw (Hrsg.), Europa im späten Mittelalter. Politik, Gesellschaft, Kultur. (Historische Zeitschrift, Beihefte, NF., Bd. 40.) München 2006, 401–434. 3 Vgl. z.B. Horst Wenzel, Höfische Repräsentation. Symbolische Kommunikation und Literatur im Mittelalter. Darmstadt 2005, 159–180. 4 Hansmartin Decker-Hauff (Hrsg.), Die Chronik der Grafen von Zimmern. Handschriften 580 und 581 der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen. Bd. 2. Darmstadt 1967, 123. Zu dieser Episode siehe Andreas Ranft, Einer von Adel. Zu adligem Selbstverständnis und Krisenbewußtsein im 15.Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 263, 1996, 317–343, hier 317f. Eine ähnliche Funktion wie dieser Knopf dürften die Kleinodien von Turniergesellschaften besessen haben, die auf Porträts zuweilen an der Hutkrempe zu sehen sind. Siehe z.B. für die Gesellschaft Fisch und Falken, zu der auch die Familie von Friedingen gehörte, Holger Jacob-Friesen, Das Hausbuch der Herren von Hallwil, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 94, 1994, 29–74, hier 58.

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nicht mein Bruder. Warum nennt Ihr mich Schwester? Mein Bruder ist in Eisen gekleidet und Ihr in ein leinenes Kleid.“ 5 Für das Verständnis dieses Textes bedarf es keiner umfänglichen Erklärung. Die Episode lässt sich leicht illustrieren. Denn es ist dieses spätmittelalterliche Adelsbild, dem wir uns noch heute in Kathedralen, Kloster- und selbst in kleinen Dorfkirchen gegenübersehen: Ein Kämpfer, der in Eisen gerüstet und mit seinen Waffen in den Händen der Auferstehung harrt. 6 Das Epitaph des Ritters Ulrich von Rechberg

5 Karl Grube (Hrsg.), Des Augustinerpropstes Iohannes Busch Chronicon Windeshemense und Liber de reformatione monasteriorum. (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen, Bd. 19.) Halle 1886, 558: „Vos non estis frater meus, quare me sororem vocatis? Frater meus ferro est vestitus et vos linea veste.“ Die deutsche Übersetzung hier nach Hartmut Boockmann, Die Ritter und ihre Harnische, in: Gerhard Quaas (Hrsg.), Eisenkleider. Plattnerarbeiten aus drei Jahrhunderten aus der Sammlung des Deutschen Historischen Museums. Katalog der Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin 1992. (Bausteine, Bd. 7.) Berlin 1992, 9–24, hier 10. 6 Zu diesem seit 1300 für adelige Grabbilder typischen Bildprogramm siehe aus der reichen Literatur z.B. die historische und kunsthistorische Argumente abwägenden lokalen Fallstudien von Franz Machilek, Frömmigkeitsformen des spätmittelalterlichen Adels am Beispiel Frankens, in: Klaus Schreiner (Hrsg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 20.) München 1992, 157–189, hier 177–180; Helfried Valentinitsch, Grabinschriften und Grabmäler als Ausdruck sozialen Aufstiegs im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Walter Koch (Hrsg.), Epigraphik 1988. Fachtagung für Mittelalterliche und Neuzeitliche Epigraphik, Graz, 10.–14. Mai 1988. Wien 1990, 15–25; ders., Die Aussage des spätmittelalterlichen Grabmals für die adelige Sachkultur, in: Heinrich Appelt (Hrsg.), Adelige Sachkultur des Spätmittelalters. Internationaler Kongreß Krems an der Donau, 22. bis 25. September 1980. (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Bd. 400.) Wien 1982, 273–292; Anneliese Seeliger-Zeiss, Grabdenkmäler der Kraichgauer Ritterschaft. Ausgewählte Beispiele von der Spätgotik bis zum Frühbarock, in: Stefan Rhein (Hrsg.), Die Kraichgauer Ritterschaft in der frühen Neuzeit. (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, Bd. 3.) Sigmaringen 1993, 215–256; Joseph Morsel, La noblesse dans la mort. Sociogenèse funéraire du groupe nobiliaire en Franconie XIVe–XVe siècles, in: Olivier Dumoulin/Françoise Thelamon (Eds.), Autour des morts. Mémoire et identité. Actes du Ve Colloque International sur la Sociabilité, Rouen, 19–21 novembre 1998. (Publications de l’Université de Rouen, Vol. 296.) Rouen 2001, 387–408; Karl-Heinz Spieß, Liturgische Memoria und Herrschaftsrepräsentation im nichtfürstlichen Hochadel des Spätmittelalters, in: Werner Rösener (Hrsg.), Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. (Formen der Erinnerung, Bd. 8.) Göttingen 2000, 97– 123, hier 120; Carola Fey, Hochgrab und Wanddenkmal. Ausdrucksformen adliger Sepulkralkultur im Wandel, in: ebd. 125–143; dies., Spätmittelalterliche Adelsbegräbnisse im Zeichen von Individualisierung und Institutionalisierung, in: Werner Rösener (Hrsg.), Tradition und Erinnerung in Adelsherrschaft und bäuerlicher Gesellschaft. (Formen der Erinnerung, Bd. 17.) Göttingen 2003, 81–106; dies., Die Begräbnisse der Grafen von Sponheim. Untersuchungen zur Sepulkralkultur des mittelalterlichen Adels. (Quellen und Abhandelungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 107.) Mainz 2003; Andreas Hermenegild Zajic, „Zu ewiger gedächtnis aufgericht.“ Grabdenkmäler als Quelle für Memoria und Repräsentation von

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Abb. 1: Epitaph des Ritters Ulrich von Rechberg zu Hohenrechberg († 1458), Donzdorf, St. Martin. Aufnahme Doris Falkenberg.

zu Hohenrechberg († 1458) aus der Martinskirche zu Donzdorf rückt einen Mann in Eisenkleidern beispielhaft ins Bild (Abb. 1). 7 Stets zentral sind dabei Schutz- und Angriffswaffen, die auf Kriegsdienst und auf die Befähigung zur aktiven Gewaltausübung verweisen. Beides mag mit Blick auf den mittelalterlichen Adel ganz selbstverständlich erscheinen. Worüber man vergessen könnte, dass nicht jeder, der Herrschaft ausübt, selbst gewaltfähig zu sein braucht und gezwungen sein muss, sich als vorbildlicher Krieger auszuzeichnen. Um dies zu bedenken, kann man zunächst mit Karl Ferdinand Werner darauf verweisen, dass der mittelalterliche Adel stets eine „Mehrzweckelite“ war, also gerade nicht ausschließlich als Krieger diente. 8 Zudem mag man sich an Jacob Burckhardt erin-

Adel und Bürgertum im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Das Beispiel Niederösterreichs. (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsbd. 45.) Wien 2004. 7 Vgl. Harald Drös (Bearb.), Die Inschriften des Landkreises Göppingen. (Die deutschen Inschriften, Bd. 41.) Wiesbaden 1997, 51f. 8 Karl Ferdinand Werner, Adel – „Mehrzweck-Elite“ vor der Moderne?, in: Rainer Hudemann/GeorgesHenri Soutou (Hrsg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20.Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen. Bd. 1. München 1994, 17–32 (Ndr. in: ders., Einheit der Geschichte. Studien zur Historiographie. [Beihefte der Francia, Bd. 45.] Sigmaringen 1999, 120–135); ders., Naissance de la noblesse. L’essor des élites politiques en Europe. Paris 1998.

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Abb. 2: Togatus Barberini. Statue aus augusteischer Zeit, Rom, Kapitolinische Museen; Quelle: Anton Hekler, Greek and Roman Portraits. New York 1912, pl. 127a.

nern, der eindringlich auf die Geringschätzung des praktischen Kriegshandwerks durch die Eliten anderer Kulturen desselben Zeithorizonts verwiesen hat, indem er in seiner „Kultur der Renaissance in Italien“ durchaus mit einem gewissen Vergnügen ein Ereignis um den türkischen Prinz Djem/Zizim, der unter Papst Alexander VI. (1492–-1503) als Flüchtling in Rom weilte, folgendermaßen kommentierte: „Auch am Hofe Alexanders VI. kamen Turniere vor. Als Kardinal Ascanio Sforza den Türkenprinzen Dschem fragte, wie ihm dies Schauspiel gefalle, antwortete der Gefragte sehr weise: in seiner Heimat lasse man dergleichen durch Sklaven aufführen, um welche es, wenn sie fielen, nicht schade sei. Der Orientale stimmte hier unbewusst mit den alten Römern zusammen, gegenüber der Sitte des Mittelalters.“ 9 Schließlich erkennt man die Bedeutung des Zusammenhangs durch einen Seitenblick auf die antike Welt, denn eine Art von Gegenentwurf zum mittelalterlichen Adelsbild des gerüsteten Kriegers liefern Bildnisse und Porträtbüsten römischer Aristokraten. Blendet man beispielsweise den gerüsteten mittelalterlichen Krieger der ersten Abbildung mit der Darstellung eines römischen Aristokraten aus der Zeit des Augustus, dem sogenannten Togatus Barberini (Abb. 2), ineinander, so werden

9 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. (Kröners Taschenausgabe, Bd. 55.) Stuttgart 1958, 342f. Zu Person und Episode siehe Paravicini, Adelskultur (wie Anm.2), 421.

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vor allem die Unterschiede deutlich. Denn nicht als Krieger in Rüstung, sondern als politischer Akteur in Toga und ohne Schwert zeigt sich dieser römische Adelige. 10 Somit verweisen die Männer in Eisenkleidern auf ein Selbstbild mittelalterlicher Eliten, in dem die persönliche Gewaltausübung zentral ist. Die offensichtliche Militarisierung spätmittelalterlicher Grabbilder ist indes ohne eine Entwicklung nicht vorstellbar, in der seit der Spätantike eine fundamentale Verschiebung der kirchlichen Werthaltung dem Krieg gegenüber stattgefunden hat. Erst der Umstand, dass sich die Auffassung der Theologen von der Funktion des Krieges und der Krieger im Laufe des Früh- und Hochmittelalters gewandelt hatte, entriegelte für deren gerüstete Abbilder den Zugang zu christlichen Kulträumen. Das Angebot, mit dem die Kirche diesen Gewaltbereiten und Gewalterfahrenen einen Weg aufzeigte, auf dem sie bei Ausübung ihres blutigen Metiers nicht sofortiger Verdammnis verfallen mussten, sondern ihr Seelenheil zu retten imstande waren, doch dabei nicht nur eine Verpflichtung für sich selbst, sondern auch für andere hatten, war das Konzept des Rittertums. 11

II. Aristokratie und Rittertum In kunsthistorischen Beschreibungen solcher mittelalterlichen Grabsteine bleibt oftmals unpräzise und austauschbar, ob man einem Ritter oder einem Adeligen gegenübertritt. Daher scheint zu betonen nicht unnötig zu sein, dass Adel und Rittertum sich zwar am Ende des Mittelalters zu komplementären Begriffen („Ritteradel“) angenähert hatten, doch zunächst gerade nicht miteinander verkoppelt waren. 12

10 Zu dieser Abbildung siehe aus der reichen Literatur hier nur Egon Flaig, Politisierte Lebensführung und ästhetische Kultur. Eine semiotische Untersuchung am römischen Adel, in: Historische Anthropologie 1, 1993, 193–217. Vgl. auch den Beitrag von Peter Scholz zu antiken Adelsbildern in diesem Band. Auf den Kontrast verweist bereits Werner Paravicini, Rois et princes chevaliers (Allemagne, XIIe–XVIe siècles), in: Les princes et le pouvoir au Moyen Age. (Congrès de la Société des Historiens Médiévistes de l’Enseignement Supérieur Public, Vol.23.) Paris 1993, 9–34, hier 9f. 11 Diese Überlegung besonders prägnant bei Geoffroi de Charny: Richard W. Kaeuper/Elspeth Kennedy (Eds.), The Book of Chivalry of Geoffroi de Charny. Text, Context and Translation. Philadelphia 1996, 164. Vgl. auch Stephan Selzer, Die Zivilisierung der Krieger, in: Damals 35/4, 2003, 14–21. 12 Dazu grundlegend Maurice Keen, Das Rittertum. München/Zürich 1987 (engl. 1984); ders., Chivalry and Aristocracy, in: The New Cambridge Medieval History. Vol.6: c. 1300–c. 1415. Ed. by Michael Jones. Cambridge 2000, 209–221.

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Aus zwei unterschiedlichen sozialen Gruppen, der edelfreien Aristokratie und den unfreien Dienstmannen, war erst zwischen dem 11. und 13.Jahrhundert eine ritterliche Adelskultur entstanden. 13 Das Selbstverständnis der älteren Aristokratie war bestimmt durch ihre Herrschaftsfunktion. Ihre Legitimation war ihre freie Abstammung, die durch eine weit zurückreichende Generationenfolge qualitativ gesteigert wurde. 14 Als freier Adeliger wurde man geboren. Zum Ritter jedoch wurde man aufgrund individueller Taten gemacht, denn dem ritterlichen Ethos lag kein Erb-, sondern ein Leistungsprinzip zugrunde. Nicht jeder Adeliger wurde daher zum Ritter gegürtet oder geschlagen, und umgekehrt galten im Reich erst nach 1300 Ritter und Ritterbürtige als niederadelig. 15 Für diese zweifache Wurzel des spätmittelalterlichen Adels aus nobiles und milites, aus edelfreier Aristokratie und Rittertum, die im Reich in der deutlichen Stufung von Hoch- zu Nieder-/Ritteradel stets spürbar blieb 16, stehen in schriftlichen Quellen zwei Schlüsselbegriffe: Dem Herkommen durch Geburt 17 steht die Tugend

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Siehe aus den neueren deutschsprachigen Zusammenfassungen vor allem Werner Paravicini, Die rit-

terlich-höfische Kultur des Mittelalters. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 32.) München 1994, 3.Aufl. 2011; Josef Fleckenstein, Rittertum und ritterliche Welt. Unter Mitwirkung v. Thomas Zotz. Berlin 2002; Joachim Ehlers, Die Ritter. Geschichte und Kultur. München 2006; Johannes Laudage/Yvonne Leiverkus (Hrsg.), Rittertum und höfische Kultur der Stauferzeit. (Europäische Geschichtsdarstellungen, Bd. 12.) Köln/Weimar/Wien 2006. 14

Vgl. Otto Gerhard Oexle, Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit,

in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750–1950. (Geschichte und Gesellschaft, Sonderh. 13.) Göttingen 1990, 19–56; ders., Adel, Memoria und kulturelles Gedächtnis. Bemerkungen zur Memorial-Kapelle der Fugger in Augsburg, in: Chantal Grell/Werner Paravicini/Jürgen Voss (Eds.), Les princes et l’histoire du XIVe au XVIIIe siècle. Actes du colloque organisé par l’Université de Versailles-Saint-Quentin et l’Institut Historique Allemand, Paris/Versailles, 13–16 mars 1996. (Pariser Historische Studien, Bd. 47.) Bonn 1998, 339–357. 15

Vgl. Josef Fleckenstein (Hrsg.), Herrschaft und Stand. Untersuchungen zur Sozialgeschichte im

13.Jahrhundert. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 51.) 3.Aufl. Göttingen 1979; ders., Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters. Göttingen 1989; ders., Vom Rittertum im Mittelalter. (Bibliotheca eruditorum. Internationale Bibliothek der Wissenschaften, Bd. 19.) Goldbach 1997. 16

Vgl. Karl-Heinz Spieß, Ständische Abgrenzung und soziale Differenzierung zwischen Hochadel und

Ritteradel im Spätmittelalter, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 56, 1992, 181–205. 17

Aus diesem Zusammenhang erwächst die besondere Notwendigkeit einer adeligen Erinnerungskul-

tur. Vgl. Rösener (Hrsg.), Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen (wie Anm.6); ders. (Hrsg.), Tradition und Erinnerung in Adelsherrschaft und bäuerlicher Gesellschaft. (Formen der Erinnerung, Bd. 17.) Göttingen 2003, 81–106; ders., Aspekte der adeligen Erinnerungskultur im Mittelalter, in: Günter Oesterle (Hrsg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. (Formen der Erinnerung, Bd. 26.) Göttingen 2005, 405–426.

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gegenüber, die an individuellen Leistungen vornehmlich im militärischen Feld ablesbar wird. Weil Adel und Rittertum unterschiedlich legitimiert waren, lief ihre Repräsentation auf spezifische Bildformeln hinaus. Wer adelige Qualität zu beschreiben suchte, betonte das vornehme und weit zurückreichende familiäre Herkommen, aus dem sich die Herrschaftsposition des Einzelnen als Glied in einer familiären Kette ableitete. Wer ritterliche Qualität würdigen wollte, betonte hingegen die individuellen kriegerischen Taten, die unter Beachtung gruppeninterner Regeln vollbracht worden waren. 18 Beide Aspekte waren indes vermittelbar und kombinierbar, und dies gelang zumal in der Vorstellung, dass überhaupt nur Geblütsadel zu besonderen Leistungen befähige und seine Qualität durch diese erneuten Beweise stetig vergrößert werde. 19 Nicht nur in den Debatten um Tugend- und Geblütsadel, sondern auch in den Adelsbildern des Spätmittelalters dürften, so die Ausgangsüberlegung dieser Studie, beide Elemente eingelagert gewesen sein. Und je nach Kontext, so steht weiter zu vermuten, konnte entweder der ritterliche oder der adelige Aspekt stärker hervortreten. Es sei daher im Folgenden versucht, dies an Beispielen aus dem spätmittelalterlichen Reich zu überprüfen. 20

18 Zur Diskussion um Tugend- und Geblütsadel siehe Arjo Vanderjagt, „Qui sa vertu anoblist“. The Concepts of Noblesse and chose publicque in Burgundian Political Thought. Groningen 1981; Bernhard Sterchi, Über den Umgang mit Lob und Tadel. Normative Adelsliteratur und politische Kommunikation im burgundischen Hofadel 1430–1506. (Burgundica, Bd. 10.) Turnhout 2005; zusammenfassend: Contamine, Noblesse (wie Anm.1), 298–303. 19 Vgl. Fritz Peter Knapp, „Nobilitas Fortunae filia alienata“. Der Geblütsadel im Gelehrtenstreit vom 12. bis zum 15.Jahrhundert, in: Walter Haug u.a. (Hrsg.), Fortuna. (Fortuna vitrea, Bd. 15.) Tübingen 1995, 88– 109. 20 Ansätze zu einer systematischen Interpretation mittelalterlicher Adelsbilder im Reich finden sich bei Eberhard Schenk zu Schweinsberg, Die Wandlung des Adelsbildes in der Kunst, in: Hellmuth Rössler (Hrsg.), Deutscher Adel 1430–1555. (Büdinger Vorträge 1963.) Darmstadt 1965, 1–23; Volker Huth, Bildliche Darstellungen von Adligen in liturgischen und historiographischen Handschriften des hohen Mittelalters, in: Oexle/Paravicini (Hrsg.), Nobilitas (wie Anm.2), 101–176; Joseph Morsel, Geschlecht und Repräsentation. Beobachtungen zur Verwandtschaftskonstruktion im fränkischen Adel des späten Mittelalters, in: Otto Gerhard Oexle/Andrea von Hülsen-Esch (Hrsg.), Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 141.) Göttingen 1998, 259–325, hier 271– 290; ders., Aristocratie (wie Anm.2), 167–169, 220–222, 261–263. Gutes Bildmaterial findet sich bei Casimir Bumiller (Hrsg.), Adel im Wandel. Zweihundert Jahre Mediatisierung in Oberschwaben. Katalog zur Ausstellung in Sigmaringen vom 13.Mai bis 29.Oktober 2006. Ostfildern 2006. Vgl. auch David Crouch, The Image of Aristocracy in Britain 1000–1300. London 1992, 177–251.

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III. Herkommen und Ritterlichkeit Mitentscheidend für die Konstituierung der Ritterschaft war dabei, dass für die alte Reichsaristokratie das Angebot ritterlicher Legitimation spätestens ab dem 12.Jahrhundert so attraktiv geworden war, dass Fürsten und sogar Könige zu Rittern gemacht wurden und sich als solche zeigten und verstanden. 21 Sucht man diese Annäherung auf dauerhaften Adelsbildern nachzuvollziehen, zeigen sich im Reich interessante Brüche, wenn man Siegel und Grabmäler als Bildquellen heranzieht. Besonders eindrücklich ist die Verwendung des Reitersiegels. 22 Sein Bildprogramm entstand in Westeuropa, wo es die ritterliche Qualität des Siegelführers anzeigte, aber auch von Fürsten geführt wurde, die sich ritterlich ins Bild setzen lassen wollten. 23 Hingegen blieb im Reich nach neueren Untersuchungen das Führen eines Reitersiegels ein Privileg nicht von Rittern, sondern des Hochadels, wobei durch die Präsentation von Fahnenlanze oder Schwert in der Hand des auf dem Siegel abgebildeten Reiters die verfassungsrechtliche Stellung als Fürst und Graf visualisiert worden sein soll. 24 Doch was Fürsten sowohl in Westeuropa wie im Reich gemeinhin führten, wählte der König für sein öffentlichwirksames Siegelbild gerade nicht. 25 Die königlich-kaiserlichen Siegel des Mittelalters zeigen den Herrscher des

21

Vgl. Paravicni, Rois (wie Anm.10); Josef Fleckenstein, Der König als Ritter, in: ders., Rittertum (wie

Anm.15), 115–128. 22

Das Phänomen bedarf einer neuen nicht nur stilgeschichtlichen, sondern sozialgeschichtlichen Inter-

pretation. Als Materialüberblick siehe Erich Kittel, Siegel. Braunschweig 1970. Einen weiterführenden Ansatz verfolgt Brigitte Miriam Bedos-Rezak, Medieval Identity. A Sign and a Concept, in: American Historical Review 105, 2000, 1489–1533. 23

Vgl. Michel Pastoureau, Traité d’Héraldique. 2.Aufl. Paris 1993, 231.

24

Wilfried Schöntag, Das Reitersiegel als Rechtssymbol und Darstellung ritterlichen Selbstverständnis-

ses. Fahnenlanze, Banner und Schwert auf Reitersiegeln des 12. und 13.Jahrhunderts vor allem südwestdeutscher Adelsfamilien, in: Konrad Krimm/Herwig John (Hrsg.), Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum 65. Geburtstag. Sigmaringen 1997, 79– 124. Siehe am Beispiel der Habsburger Siegel auch Alexander Sauter, Fürstliche Herrschaftsrepräsentation. Die Habsburger im 14.Jahrhundert. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 12.) Ostfildern 2003, 88–97. Vgl. noch Lutz Fenske, Adel und Rittertum im Spiegel früher heraldischer Formen und deren Entwicklung, in: Josef Fleckenstein (Hrsg.), Das ritterliche Turnier im Mittelalter Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 80.) Göttingen 1985, 75–160, hier 83–87. 25

Dies lässt sich am Material bei Otto Posse (Hrsg.), Die Siegel der deutsche Kaiser und Könige von 751

bis 1806. Bd. 1: 751–1347, Bd. 2: 1347–1493. Dresden 1909/10, verfolgen, wo jeweils auch die vor der Königswahl geführten Reitersiegel abgebildet sind. Zum Verständnis eines Reitersiegels von Johann von Luxem-

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Abb. 3: Abdruck des Thronsiegels des (Gegen)Königs Günther von Schwarzburg, Urkunde von 1349. Quelle: Otto Posse, Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige. Bd. 2. Dresden 1910.

römisch-deutschen Reiches nicht als berittenen, schwer gerüsteten Reiter, sondern führen ihn thronend vor Augen (Abb. 3), benutzen also in einer Traditionslinie seit der Ottonenzeit die Repräsentationsform des Thronsiegels, das auf die Betonung der Majestas des Siegelführers abzielt. 26 Eine Aufgabe der zukünftigen Forschung wird es sein, nach der Zuwendung auch die fürstliche Abwendung vom Reitersiegel eingehender zu untersuchen, von der man etwa schon weiß, dass die Kurfürsten von Brandenburg im Jahre 1504 unter Kurfürst Joachim I. ein Majestätssiegel wählten. 27 Trotz des überwölbenden ritterlichen Gemeinschaftsbewusstseins blieben im Leben die hierarchischen Ränge der Aristokratie stets spürbar. An ihrer Spitze galt das auch im Tod. Denn im Reich besaß die Annäherung an das ritterliche Leitbild eine Grenze im Grabbild dort, wo nicht Fürsten, sondern der König ruhte. Während nach 1300 der Fürstenstand von der älteren Gewandfigur zur gerüsteten Grabfigur überging und überhaupt die ersten Beispiele für Totenbilder in Waffen aus diesem Mi-

burg, das er als böhmisches Königssiegel führte (ebd.Bd. 2, 26f., mit Tafeln 48/49), ist die böhmische Traditionslinie zu bedenken. Siehe zu ihr Jiří Kuthan, Premysl Ottokar II. König, Bauherr und Mäzen. Höfische Kunst im 13.Jahrhundert. Wien u.a. 1996, 112–129. 26 Vgl. Werner Goez, Zur Entstehung des Thronsiegels, in: Ulrich Schneider (Hrsg.), Festschrift für Gerhard Bott zum 60. Geburtstag. Nürnberg 1987, 211–221; Hagen Keller, Ottonische Herrschersiegel. Beobachtungen und Fragen zu Gestalt und Aussage und zur Funktion im historischen Kontext, in: Konrad Krimm/ Herwig John (Hrsg.), Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum 65. Geburtstag. Sigmaringen 1997, 3–51 (Ndr. in: ders., Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht. Darmstadt 2001, 131–166). 27 Kittel, Siegel (wie Anm.22), 249f.; Hermann Bier, Die Entwicklung der Siegeltypen der Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg, in: Erich Kittel (Hrsg.), Brandenburgische Siegel und Wappen. Festschrift des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg zur Feier des 100jährigen Bestehens 1837–1937. Berlin 1937, 14–33, hier 27–29.

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Abb. 4: Grab des Grafen Günther von Schwarzburg von 1352, Frankfurt, St. Bartholomäus; Aufnahme Stephan Selzer.

lieu stammen 28, wurden römisch-deutsche Könige und Kaiser des Spätmittelalters im Grabmal nicht als Ritter dargestellt 29. Diese Regel macht das Grab des Grafen Günther von Schwarzburg im Frankfurter Bartholomäusstift zu einer sprechenden Quelle (Abb. 4). Der Schwarzburger war 1349 von einigen Kurfürsten zum König erhoben worden, resignierte jedoch gegenüber Karl IV. noch im selben Jahr. Zu den Ergebnissen dieses Ausgleichs gehörte, dass ihm nach seinem Tod in der Frankfurter Wahlkirche der römisch-deutschen Könige im Jahre 1352 ein Grabdenkmal errichtet werden konnte. Doch dieser Stein zeigt ihn nicht als König, sondern erinnert ihn als Ritter. 30

28

Siehe für diese Übergangsphase Kurt Bauch, Das mittelalterliche Grabbild. Figürliche Grabmäler des

11. bis 15.Jahrhunderts in Europa. Berlin/New York 1976, 89–98; Fey, Sponheim (wie Anm.6), 338–342. 29

Zu den europäischen Königsgräbern siehe Bauch, Grabbild (wie Anm.28), 9, 40–43, 54–56, 96f., 118

und 215–228. Zu den deutschen Königsgräbern des Spätmittelalters siehe die nicht immer präzise Arbeit von Rudolf J. Meyer, Königs- und Kaiserbegräbnisse im Spätmittelalter. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Bd. 19.) Köln 2000. 30

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Vgl. Bauch, Grabbild (wie Anm.28), 244f.; Meyer, Königsbegräbnisse (wie Anm.29), 88–99.

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IV. Ritterlichkeit und Herkommen Der Hochadel konnte also in seinen Bildern sowohl das ältere aristokratische Prinzip von Herrschaft durch Herkommen hervorheben als auch die Berufung auf persönliche Ritterlichkeit herausstellen. Daher kann man umgekehrt erwarten, dass in der Bildproduktion des Ritteradels sich das Prinzip des Herkommens zeigen müsste, als sich dieser um 1300 als Stand der Ritterbürtigen abschloss. Geeignete Bildformeln, die dergleichen zu leisten vermochten, lassen sich im fürstlichen Milieu des spätmittelalterlichen Reichs gehäuft ausmachen. Galerien von Ahnenporträts sind zwar selbst unter Fürsten erst ein Phänomen der Zeit nach 1500. 31 Doch visuelle Hilfsmittel 32, um vornehme Abstammung vorzuweisen, kannte das Mittelalter durchaus und dies vor allem in Form von Ahnentafeln und Genealogien, die oftmals als Adaption von Darstellungen der Genealogie Christi als Wurzel Jesse ausgeführt waren. 33 Darüber und hinsichtlich des Selbstverständnisses und der Repräsentation 34 reichsfürstlicher Dynastien liegen aussagekräftige Studien vor, so beispiels-

31 Vgl. Birgit Studt, Symbole fürstlicher Politik. Stammtafeln, Wappenreihen und Ahnengalerien in Text und Bild, in: Rudolf Suntrup/Jan R. Veenstra, Anne Bollman (Eds.), The Mediation of Symbol in Late Medieval and Early Modern Times/Medien der Symbolik in Spätmittelalter und früher Neuzeit. (Medieval to Early Modern Culture, Vol.5.) Frankfurt am Main/Oxford 2005, 221–256. 32 Siehe dazu allgemein die grundlegende Studie von Otto Gerhard Oexle, Memoria und Memorialbild, in: Karl Schmid/Joachim Wollasch (Hrsg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 48.) München 1984, 384–440, hier bes. 412– 418. 33 Vgl. Gerd Melville, Geschichte in graphischer Gestalt. Beobachtungen zu einer spätmittelalterlichen Darstellungsweise, in: Hans Patze (Hrsg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. (Vorträge und Forschungen, Bd. 31.) Sigmaringen 1987, 57–154; ders., Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft, in: Peter-Johannes Schuler (Hrsg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband. Sigmaringen 1987, 203–309; Christiane Klapisch-Zuber, La genése de l’arbre généalogique, in: Michel Pastoureau (Ed.), L’arbre. Histoire naturelle et symbolique de l’arbre, du bois et du fruit au Moyen Age. (Les cahiers du Léopard d’Or, Vol.2.) Paris 1993, 41–81; Kilian Heck/Bernhard Jahn (Hrsg.), Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 80.) Tübingen 2000; Kilian Heck, Ahnentafel und Stammbau. Zwei genealogische Modelle und ihre mnemotechnische Aufrüstung bei frühneuzeitlichen Dynastien, in: Jörg Jochen Berns u.a. (Hrsg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. (FrühneuzeitStudien, NF., Bd. 2.) Wien/Köln/Weimar 2000, 563–584; ders., Genealogie als Monument und Argument. Der Beitrag dynastischer Wappen zur politischen Raumbildung der Neuzeit. (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 98.) München/Berlin 2002. 34 Vgl. Jean-Marie Moeglin, Dynastisches Bewußtsein und Geschichtsschreibung. Zum Selbstverständnis

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weise zu den Welfen 35, den Wittelsbachern 36, den Habsburgern 37, den mecklenburgischen Herzögen 38 und den pommerschen Greifen 39. Anders liegen die Verhältnisse beim spätmittelalterlichen Niederadel. Sucht man hier visuelle Belege für ein ins Bild gesetztes Vorfahrenbewusstsein, greift man fast gänzlich ins Leere. Im fränkischen Adel etwa wird die Darstellung der Familienstammbaums erst ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geläufiger. 40 Dieser Befund dürfte auf andere Adelslandschaften des Reichs, für die Untersuchungen

der Wittelsbacher, Habsburger und Hohenzollern im Spätmittelalter, in: HZ 256, 1993, 593–635; ders., Till l’Espiègle chez le landgrave des Hesse. Représentation génealogique et fondement symbolique du pouvoir à la fin du Moyen Age, in: Le Moyen Age 102, 1996, 289–310; ders., Memoria et conscience dynastique. La représentation monumentale de la génealogie princière dans le principautés allemandes (XIVe–XVe siècles), in: Bernard Andenmatten/Agostino Paravicini Bagliani/Annick Vadon (Eds.), Héraldique et emblematique de la Maison de Savoie (XIe–XVIe siècles). Lausanne 1994, 169–205; ders., Zur Entwicklung dynastischen Bewußtseins der Fürsten im Reich vom 13. zum 15.Jahrhundert, in: Bernd Schneidmüller (Hrsg.), Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, Bd. 7.) Wiesbaden 1995, 523–540. 35 Vgl. z.B. Otto Gerhard Oexle, Adliges Selbstverständnis und seine Verknüpfung mit dem liturgischen Gedanken – das Beispiel der Welfen, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 134, 1986, 47–75; ders., Lignage et parenté, politique et religion dans la noblesse du XIIe siècle. L’évangéliare de Henri le Lion, in: Cahiers de civilisation médiévale 36, 1993, 339–354; ders., Fama und Memoria Heinrichs des Löwen: Kunst im Kontext der Sozialgeschichte. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart, in: Joachim Ehlers/ Dietrich Kötzsche (Hrsg.), Der Welfenschatz und sein Umkreis. Mainz 1998, 1–26. 36

Vgl. Jean-Marie Moeglin, Les ancêtres du prince. Propaganda et naissance d’une histoire nationale en

Bavière au Moyen Age (1180–1500). (École Pratique des Hautes Études, IVe Section, Sciences Historiques et Philologiques, 5: Hautes études médiévales et modernes, 54.) Genf 1985; ders., Die Genealogie der Wittelsbacher. Politische Propaganda und Entstehung der territorialen Geschichtsschreibung in Bayern im Mittelalter, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 96, 1988, 33–54. 37

Vgl. Sauter, Herrschaftsrepräsentation (wie Anm.24).

38

Vgl. Andreas Pečar, Genealogie als Instrument fürstlicher Selbstdarstellung. Möglichkeiten genealogi-

scher Repräsentation am Beispiel Herzog Ulrichs von Mecklenburg, in: Zeitenblicke 4, 2005, Nr.2, http:// www.zeitenblicke.de/2005/2/Pecar/index_html; Ilka S.Minneker/Dietrich W. Poeck, Herkunft und Zukunft. Zu Repräsentation und Memoria der mecklenburgischen Herzöge in Doberan, in: Mecklenburgische Jahrbücher 114, 1999, 17–55. 39

Vgl. Dietrich W. Poeck, „Omnes stabimus ante tribunal Christi.“ Stiftung, Gedenken und Gemeinschaft

in Pommern, in: Werner Buchholz/Günter Mangelsdorf (Hrsg.), Land am Meer. Pommern im Spiegel seiner Geschichte. Roderich Schmidt zum 70. Geburtstag. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Rh.5, Bd. 29.) Köln u.a. 1995, 215–268, hier 221–227. 40

Morsel, Repräsentation (wie Anm.20), 285–290. Vgl. noch Georg Schmidt, Adeliges Selbstverständnis

und humanistische Geschichtsschreibung. Der Stammbaum des Reinhard von Gemmingen, in: Stefan Rhein (Hrsg.), Die Kraichgauer Ritterschaft in der frühen Neuzeit. (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, Bd. 3.) Sigmaringen 1993, 257–287.

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noch fehlen, dennoch zu übertragen sein. Ein sehr frühes Beispiel ist daher eine Stammtafel der väterlichen Vorfahren, die im Jahre 1515 zusammen mit einer Familienchronik vom niederbayerischen Erbmarschall und kursächsischen Kämmerer Degenhart von Pfeffingen aus Anlass seiner Hochzeit veranlasst wurde. 41 Nicht zufällig stammt dieses Zeugnis von der Spitze des Niederadels und ist ganz offensichtlich durch fürstliche Vorbilder angeregt worden. 42 Man könnte daher vermuten, dass sich das Familiengedächtnis im niederadeligen Milieu zunächst nicht in Bildern, sondern in schriftlicher Form niedergeschlagen haben wird. Doch trifft auch dies nicht zu. Vielmehr ist auch im Medium der Schrift für niederadelige Familien im Reich erst zum Ende des 15. Jahrhunderts (dann aber in einem kräftigen Schub) ein verstärktes Bemühen um die Speicherung der familiären Herkunft festzustellen. 43 Im zeitlichen Vergleich ist dabei auffällig, dass diese Verschriftlichung des Familiengedächtnisses dem Aufkommen von Familienbüchern im stadtadeligen Milieu des Reichs um rund einhundert Jahre hin-

41 Vgl. Klemens Stadler (Hrsg.), Wappen in Bayern. Katalog der Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München 1974. (Ausstellungskataloge der staatlichen Archive Bayerns, Bd. 8.) Neustadt a. d. Aisch 1974, 51f. Nr.60, 59f. Nr.70. 42 Zu seinen weiteren Gedächtnisprojekten siehe zuletzt Enno Bünz, Die Heiltumssammlung des Degenhart Pfeffinger, in: Andreas Tacke (Hrsg.), „Ich armer sundiger mensch“. Heiligen- und Reliquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter. (Schriftenreihe der Stiftung Moritzburg, Bd. 2.) Göttingen 2006, 125–169, mit der älteren Literatur. 43 Vgl. Andreas Ranft, Adelige Wappen-, Turnier-, Haus- und Familienbücher, in: Heinz-Dieter Heimann (Hrsg.), Adelige Welt und familiäre Beziehungen. Aspekte der „privaten Welt“ des Adels in böhmischen, polnischen und deutschen Beispielen vom 14. bis zum 16.Jahrhundert. Potsdam 2000, 115–139; Steffen Krieb, Schriftlichkeit, Erinnerung und ritterschaftliche Identität. Die Herren von Eyb im 15.Jahrhundert, in: Rösener (Hrsg), Erinnerungskulturen (wie Anm.17), 79–96; ders., Erinnerungskultur und adeliges Selbstverständnis im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 60, 2001, 59– 75, hier bes. 59–68; ders., „Unnd maihne, das das kheinem ritter nie wiederfahren sey, als mir.“ Die Briefe Friedrichs von Flersheim als Selbstzeugnisse, in: Heinz-Dieter Heimann/Pierre Monnet (Hrsg.), Kommunikation mit dem Ich. Signaturen der Selbstzeugnisforschung an europäischen Beispielen des 12. bis 16.Jahrhunderts. (Europa in der Geschichte, Bd. 7.) Bochum 2004, 135–146; ders., Vergangenheitsrekonstruktion zwischen Überlieferungsmangel und mündlicher Tradition. Die Familienchroniken der Landschaden von Steinach, in: Carl/Lorenz (Hrsg.), Anpassung (wie Anm.2), 83–102; Gerhard Wolf, Von der Chronik zum Weltbuch. Sinn und Anspruch südwestdeutscher Hauschroniken am Ausgang des Mittelalters. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 18.) Berlin/New York 2002; Joachim Schneider, Dynastische Historiographie und Totenmemoria beim Niederadel in sozialgeschichtlicher Sicht: Der Fall Ehenheim, in: ders./Hans-Peter Baum/Rainer Leng (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft, Mentalitäten im Mittelalter. Festschrift zum 75. Geburtstag von Rolf Sprandel. (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 107.) Stuttgart 2006, 307–334.

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terherhinkt. 44 Dort, wo im Adel indes schriftliche Aufzeichnungen fehlten, ist lückenhaftes Wissen um die eigenen Vorfahren gehäuft und immer dann festzustellen, wenn Angaben zu machen waren, die vor die Urgroßelterngeneration zurückreichen sollten. Diese Problematik konnte selbst im hochadeligen Milieu um 1500 noch bestehen. 45 Das gleichzeitige Aufkommen neuer Formen von Familien- und Herkommensbewusstsein in Bild und Schrift und damit die Vertiefung der Erinnerung sind bereits mehrfach bemerkt worden. 46 Unsicher bleibt jedoch, ob dies die Folge einer grundsätzlichen Umstrukturierung war, die erst aus vielen Adeligen den „Adel“ schuf 47, oder ob ein stets vorhandenes und gepflegtes Herkommensbewusstsein nur

44

Vgl. Thomas Zotz, La représentation de la noblesse urbaine en Allemagne médiévale: les tournois et les

premiers livres de famille, in: Claude Petitfrère (Ed.), Construction, reproduction et représentation des patriciats urbains de l’antiquité au XXe siècle. Tours 1999, 431–445; ders, Der Stadtadel im spätmittelalterlichen Deutschland und seine Erinnerungskultur, in: Rösener (Hrsg.), Erinnerungskulturen (wie Anm.17), 145–161. 45

Ein Extremfall bei Friedrich Lisch, Über des Herzogs Ulrich von Mecklenburg-Güstrow Bestrebungen

für Kunst und Wissenschaft, in: Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 35, 1870, 3–44, hier 33. Erstaunliche Unkenntnis über die Vorfahren konstatiert auch Vinzenz Czech, Legitimation und Repräsentation. Zum Selbstverständnis thüringisch-sächsischer Reichsgrafen in der frühen Neuzeit. (Schriften zur Residenzkultur, Bd. 2.) Berlin 2003, 52. Für spätmittelalterliche Grafen siehe Karl-Heinz Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters 13. bis Anfang des 16.Jahrhunderts. (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Bd. 111.) Stuttgart 1993, 489–493; ders., Memoria (wie Anm.6), 115f. 46

Vgl. Klaus Graf, Ursprung und Herkommen. Funktionen vormoderner Gründungserzählungen, in:

Hans-Joachim Gehrke (Hrsg.), Geschichtsbilder und Gründungsmythen. (Identitäten und Alteritäten, Bd. 7.) Würzburg 2001, 23–36; ders., Fürstliche Erinnerungskultur. Eine Skizze zum neuen Modell des Gedenkens in Deutschland im 15. und 16.Jahrhundert, in: Chantal Grell/Werner Paravicini/Jürgen Voss (Eds.), Les princes et l’histoire du XIVe au XVIIIe siècle. Actes du colloque organisé par l’Université de Versailles – Saint-Quentin et l’Institut Historique Allemand, Paris/Versailles, 13–16 mars 1996. (Pariser Historische Studien, Bd. 47.) Bonn 1998, 1–11; ders., Nachruhm. Überlegungen zur fürstlichen Erinnerungskultur im deutschen Spätmittelalter in: Cordula Nolte/Karl-Heinz Spieß/Ralf-Gunnar Werlich (Hrsg.), Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter. Interdisziplinäre Tagung des Lehrstuhls für allgemeine Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften in Greifswald in Verbindung mit der ResidenzenKommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen vom 15.–18.Juni 2000. (Residenzenforschung, Bd. 14.) Stuttgart 2002, 315–336. Vgl. auch Peter Schuster, Familien- und Geschlechterbewußtsein im spätmittelalterlichen Adel, in: Giuseppe Albertoni/Gustav Pfeifer (Hrsg.), Adelige Familienformen im Mittelalter/Strutture di famiglie nobilari. (Geschichte und Region, Bd. 11/2.) Bozen 2003, 13–26. 47

Vgl. Joseph Morsel, Die Erfindung des Adels. Zur Soziogenese des Adels am Ende des Mittelalters – das

Beispiel Frankens, in: Oexle/Paravicini (Hrsg.), Nobilitas (wie Anm.2), 312–375; ders., L’invention de la noblesse en Haute-Allemagne à la fin du Moyen Age. Contribution à l’étude de la sociogenèse de la noblesse

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an den Grenzen des rein kommunikativen, nicht schriftgestützten Gedächtnisses scheiterte. Trifft Letzteres zu, dann lag die zunehmende Alphabetisierung der Niederadeligen der Veränderung zugrunde. 48 Von den hier im Zentrum der Betrachtung stehenden Adelsbildern aus ist dies allerdings nicht zu entscheiden.

V. Das Wappen als Adelsbild Die kriegerische Leistungsfähigkeit wird in den mittelalterlichen Adelsgräbern deutlich präsentiert. Daher steht zu fragen, ob und wie sich auch das Herkommen in diese Bilder eingelagert findet. Der römische Aristokrat des antiken Gegenentwurfs präsentiert die imagines zweier Vorfahren, wobei die unterschiedliche Höhe beider Bilder darauf hindeutet, dass es sich um Vater und Großvater handelt, so dass eine patrilineare Porträtlinie über drei Generationen ins Bild gesetzt ist. Dergleichen sieht man auf dem mittelalterlichen Gegenbild zunächst nicht. Doch schaut man genauer hin, so findet sich ein Verweis auf das Herkommen nicht nur in der inschriftlichen Nennung des Familiennamens als lesbarer, sondern zudem als sichtbarer Hinweis dort, wo der Gerüstete seinen Schild mit Wappen und seinen Helm mit Zimier vorweist. 49 Das Wappen ist dabei eine grundsätzliche Innovation der mittelalterlichen Bild-

médiévale, in: Jacques Paviot/Jacques Verger (Hrsg.), Guerre, pouvoir et noblesse au Moyen Age. Mélanges en l’honneur de Philippe Contamine. (Cultures et civilisations médiévales, Vol.22.) Paris 2000, 533–545; ders., La construction sociale des identités dans l’aristocratie franconienne aux XIVe et XVe siècles. Individuation ou identification?, in: Brigitte Miriam Bedos-Rezak/Dominique Iogna-Prat (Eds.), L’individu au moyen Age. Individuation et individualisation avant la modernité. Paris 2005, 79–100. 48 Vgl. Karl-Heinz Spieß, Zum Gebrauch von Literatur im spätmittelalterlichen Adel, in: Ingrid Kasten/ Werner Paravicini/René Pérennec (Hrsg.), Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. (Beihefte der Francia, Bd. 43.) Sigmaringen 1998, 85–101; Gerhard Fouquet, „begehr nit doctor zu werden, und habs Gott seys gedanckt, nit im Sünn“. Bemerkungen zu Erziehungsprogrammen ritterschaftlicher Adliger in Südwestdeutschland (14.–17.Jahrhundert), in: Hans-Peter Becht/Jörg Schadt (Hrsg.), Wirtschaft – Gesellschaft – Städte. Festschrift für Bernhard Kirchgässner zum 75. Geburtstag. Ubstadt-Weiher 1998, 95–127; Christine Reinle, Auf Spurensuche. Recherchen zu Bibliotheken der Ritterschaft im Süden und Südwesten des Alten Reiches, in: Kurt Andermann (Hrsg.), Rittersitze. Facetten adligen Lebens im Alten Reich. (Kraichtaler Kolloquien, Bd. 3.) Tübingen 2002, 71–110. 49 Vgl. allgemein Nigel Llewellyn, Claims to Status through Visual Codes: Heraldry on post-Reformation Funeral Monuments, in: Sydney Anglo (Ed.), Chivalry in the Renaissance. Woodbridge 1990, 145–160.

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kultur 50, obwohl man das im Spätmittelalter nicht mehr wusste und etwa den angeführten Togatus Barberini, wäre er beispielsweise für Julius Cäsar gehalten worden, selbstverständlich mit einem Wappen dargestellt hätte. 51 Doch tatsächlich verbreiteten sich Wappen in Europa erst seit der Mitte des 12.Jahrhunderts. Sie fungierten zunächst als individuelle Zeichen, die in Kampf und Turnier die Identifizierung des einzelnen Ritters ermöglichen sollten. So fehlen folgerichtig Wappen noch in den Memorialbildern des 1166 entstandenen Codex Falkensteinensis, in denen sich das Familienbewusstsein einer gräflichen Familie spiegelt. 52 Wappen verweisen dadurch, dass sie als individuelle, auf einem Rüstungsbestandteil angebrachte Zeichen aus praktischen Gründen entstanden waren, auf kriegerische Gewaltfähigkeit und ritterlichen Status ihrer Träger. Zwei Entwicklungen verschoben indes nach einigen Generationen diese Zeichenfunktion. Erstens verbreitete sich die Wappenführung über die Gruppe der ritterlichen Kämpfer hinaus. Zunächst Frauen, dann Städte sowie weitere Institutionen und schließlich nichtadelige Personen führten, weil sie siegelfähig waren, zunächst ein Wappensiegel und dann einen Wappenschild. So wurde die exklusive Verbindung von Wappenfüh-

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Moderne heraldische Forschung wird im Gegensatz zu England und Frankreich im deutschsprachi-

gen Raum kaum betrieben. Siehe als Übersicht das Handbuch von Pastoureau, Traité (wie Anm.23), sowie Michel Popoff, Bibliographie héraldique internationale. Paris 2003. Vgl. zudem Werner Paravicini, Gruppe und Person. Repräsentation durch Wappen im späteren Mittelalter, in: Oexle/von Hülsen-Esch (Hrsg.), Repräsentation der Gruppen (wie Anm.20), 327–390; Peter Coss/Maurice Keen (Eds.), Heraldry, Pageantry and Social Display in Medieval England. Woodbridge 2002; Maurice Keen, Origins of the English Gentleman. Heraldry, Chivalry and Gentility in Medieval England, c. 1300 – c. 1500. Stroud 2005; Ludwig Biewer, Wappen als Träger der Kommunikation im Mittelalter: Einige ausgewählte Beispiele, in: Karl-Heinz Spieß (Hrsg.), Medien der Kommunikation im Mittelalter. (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 15.) Stuttgart 2003, 139–154; Wolfgang Achnitz (Hrsg.), Wappen als Zeichen. Mittelalterliche Heraldik aus kommunikations- und zeichentheoretischer Perspektive. (Das Mittelalter. Zeitschrift des Mediävistenverbandes, Bd. 11/2.) Berlin 2006. 51

Besonders prägnant ist dies am Zyklus der Neun Helden und Heldinnen zu beobachten. Siehe Wim

van Anrooij, Helden van weleer. De negen besten in de Nederlanden (1300–1700). Amsterdam 1997; Ingrid Sedlacek, Die Neuf Preuses. Heldinnen des Spätmittelalters. (Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte, Bd. 14.) Marburg 1997; Georg Scheibelreiter, Höfisches Geschichtsverständnis. Neuf Preux und Neuf Preuses als Sinnbilder adeliger Weltsicht, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 114, 2006, 251–288. 52

Elisabeth Noichl (Hrsg.), Codex Falkensteinensis. Die Rechtsaufzeichnungen der Grafen von Falken-

stein. (Quellen und Erörterungen zur Bayerischen Geschichte, NF., Bd. 29.) München 1978. Vgl. Werner Rösener, Codex Falkensteinensis. Zur Erinnerungskultur eines Adelsgeschlechts im Hochmittelalter, in: ders. (Hrsg), Erinnerungskulturen (wie Anm.17), 35–55, hier 46.

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rung und Kriegsdienst durchtrennt. 53 Zweitens wurden die Wappen erblich. Die Söhne übernahmen das väterliche Wappenbild. Überhaupt erst dadurch lagerte sich in das Wappen die familiäre Herkunftsdimension ein, woraus sich der Reflex erklärt, dass ein zufällig identisches Wappenbild an eine gemeinsame verwandtschaftliche Wurzel glauben ließ. 54 Dennoch wandelte sich das Wappen niemals völlig zum Stellvertreter einer Familie, sondern behielt im Spätmittelalter stets noch den Charakter eines persönlichen Zeichens. 55 Zudem suchte man die individuelle Ausprägung des Zeichens durch die Verwendung von Beizeichen (Brisuren), die sich im Adel des Reichs allerdings nur linksrheinisch gehäuft finden, oder durch die im gesamten Reich beliebte frei gewählte Helmzier zu stärken. 56 Wappen haben für die Frage nach öffentlichkeitswirksamen Adelsbildern deshalb eine besondere Bedeutung, weil sie im Gegensatz zu wandschmückenden Genealogien oder seitenstarken Familienchroniken nicht nur im adeligen Innenraum wirkten. Vielmehr waren sie ein öffentlich vorzeigbares, transportables und in unterschiedlichen Medien beliebig wiederholbares Zeichen. Anders, um ein letztes Mal den Vergleich zur Antike zu wagen, als der römische Klient, der dann, wenn er seinen Patron aufsuchte, im Atrium auf dessen sozialen und familiären Status durch die in einem Schrein verschlossenen Bilder der Ahnen hingewiesen wurde, deren

53 Vgl. Keen, Origins (wie Anm.50). 54 Ein Beispiel liefert der Verwandtschaftsglaube durch Wappengleichheit bei den Königen von Aragon und den Herren von Merode. Vgl. Paravicini, Ritterlich-höfische Kultur (wie Anm.13), 86–93; ders., Adelskultur (wie Anm.2), 423f. 55 Zur Repräsentanz von Wappen, Porträts und anderen Zeichen in der Vorstellung des Mittelalters siehe Valentin Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters. München 2004, bes. 30–47. Für die oft von der Forschung übersehene, im Spätmittelalter weiterhin vorhandene Vorstellung von Wappen als Zeichen einer Person zeugen etwa Wappengrabplatten, die als Memorialbilder in ihrer Funktion für die liturgische Memoria stets auf ein Individuum bezogen waren. Wichtig ist zudem die Beobachtung, dass spätmittelalterliche Wappenbücher, anders als solche der Neuzeit, die Wappen von Personen und nicht Familien darstellen wollen: Paravicini, Gruppe (wie Anm.50), 369. 56 Zur Verwendung von Helmzierden im Reich als Unterscheidungsmerkmal für Träger identischer Wappen siehe z.B. Walther P. Liesching, Die Nachkommen des Römischen Kaisers Kurio. Bemerkungen zur Heraldik in der Schwäbischen Chronik des Thomas Lirer, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 46, 1987, 87–115, hier 107; Dorothea A. Christ, Das Familienbuch der Herren von Eptingen. Kommentar und Transkription. (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Landeskunde des Kantons Basel-Landschaft, Bd. 41.) Liestal 1992, 151f. Die Bedeutung der Helmzier als individuelles Merkmal wird darin deutlich, dass bei der Zulassung von Turnierteilnehmern in einer Helmschau und nicht in einer Wappenschau über Individuen geurteilt wurde.

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Laufbahn und Taten er lesen konnte 57, begegnete der mittelalterliche Besucher eines Niederadelssitzes keiner gemalten Genealogie, keiner Ahnengalerie, sondern zumeist schon am Tor einem Wappen. Und diese visuelle Visitenkarte war nicht nur einmal, sondern mehrfach, und nicht nur an privaten Gebäuden zu sehen. Wo man Wappen finden konnte, hat im 16. Jahrhundert Cyriakus Spangenberg (1528–-1604) in seinem Adelstraktat nicht einmal vollständig aufgezählt, wenn er sie vorhanden weiß an Hauswänden, Fensterscheiben, Bildteppichen, Kästen, Bettpfosten, Tischen, Türen, Wirtshauswänden und in Kirchenräumen. 58 Ihre Funktion bezog er sowohl auf Herkunft als auch auf Leistung. Denn für ihn waren die heraldischen Figuren keine beliebige Wahl, sondern enthielten einen Verweis auf ehrenvolle Taten ihres ersten Trägers. Diesem Vorbild sollten sich die Erben des Wappens würdig erweisen, indem sie den Leistungen des Ahnen nacheiferten und ihrerseits die Ehre des Wappens mehrten. Für Spangenberg enthielt somit jedes Wappen die Erinnerung an die Vorfahren, diente aber gleichzeitig der Sichtbarmachung von individuellen Leistungen, die durch seinen gegenwärtigen Träger vollbracht wurden. 59

VI. Gruppenbilder Exklusiv gehandhabt hätte die Wappenführung ein untrügliches Zeichen für adeligen Status sein müssen. Aber ein adliges Privileg war der Wappenbesitz gerade nicht. Wegen dieser fehlenden Exklusivität ist es auffällig, dass die spätmittelalterlichen Experten in ihrer Phänomenologie des Adels dem Wappen stets einen besonders hohen Stellenwert beigemessen haben. 60 Auch im Leben erkannten sich Adeli-

57

Vgl. Egon Flaig, Die Pompa Funebris. Adlige Konkurrenz und annalistische Erinnerung in der Römi-

schen Republik, in: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Memoria als Kultur. (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Bd. 121.) Göttingen 1995, 115–148, hier 118f. 58

Cyriacus Spangenberg, Adels-Spiegel. Historischer ausführlicher Bericht was Adel sy und heisse ... 2

Bde. Schmalkalden 1591/94, hier Bd. 2, Bl. 334a. Zum Autor und Werk siehe Czech, Legitimation (wie Anm.45), 32–70; Bernhard Jahn, Genealogie und Kritik. Theologie und Philologie als Korrektive genealogischen Denkens in Cyriakus Spangenbergs historiographischen Werken, in: Heck/Jahn (Hrsg.), Genealogie (wie Anm.33), 69–85. 59

Spangenberg, Adels-Spiegel (wie Anm.58), Bl. 314a und 339b.

60

In der Schwäbischen Chronik des Thomas Lirer werden die Anfänge von adeligen Familien oder

Familienzweigen stets als Einsetzung in eine Burg und Vergabe von Name und Schild modelliert: Liesching, Nachkommen (wie Anm.56), 94 und 97. Die Chronik der Grafen von Zimmern kontrastiert den kriegeri-

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ge gegenseitig an ihren Wappen, sei es an den im Kampf geführten, sei es an den auf Reisen an markanten Orten hinterlassenen. 61 Doch durch die quantitative Ausweitung der Wappenberechtigten blieb das Wappen für die Adelsqualität zwar stets ein notwendiges, war aber niemals ein hinreichendes Kriterium. 62 Diese Uneindeutigkeit teilte es allerdings mit anderen Merkmalen, von denen Adelstraktate berichten 63 oder nach denen gefahndet wurde, wenn es darauf ankam, die Adelsqualität festzustellen, weil es etwa in Frankreich um die adelige Steuerfreiheit ging. 64 Wonach man in solchen Fällen suchte, waren Zeichen des adeligen Lebensstils, wie Pferd, Hund, Falke, Kleidung, Wappen und Kriegsdienst. Doch am sichersten erkannte man einen Adeligen dann, wenn er von anderen Edelleuten mit Vetter, Bru-

schen Mut eines nichtadeligen mit der Feigheit eines adeligen Kämpfers damit, dass ersterer durch Übernahme von Schild, Helm und Herkommen des Feiglings zum Adeligen hätte gemacht werden sollen: Decker-Hauff (Hrsg.), Chronik (wie Anm.4), Bd. 2, 67f. 61 Vgl. z.B. Werner Paravicini, Die Preußenreisen des europäischen Adels. (Beihefte der Francia, 17/1.) Sigmaringen 1989, 119f. und 311f.; Detlev Kraack, Monumentale Zeugnisse der spätmittelalterlichen Adelsreise. Inschriften und Graffiti des 14. bis 16.Jahrhunderts. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge, Bd. 224.) Göttingen 1997. 62 Paravicini, Gruppe (wie Anm.58), 346; ders., Adelskultur (wie Anm.2), 406f. Die Rechtsmeinung, die eine prinzipiell freie Annahme eines Wappens vertritt, findet sich besonders prominent bei Bartolo da Sassoferrato: Osvaldo Cavallar/Susanne Degenring/Julius Kirshner (Eds.), A Grammar of Signs. Bartolo da Sassoferrato’s Tract on Insignia and Coats of Arms. Berkeley 1994, 110 § 4. Bisher weniger beachtet wurde, dass es Unterschiede in der Wappenverwendung geben konnte. So macht der kastilische Adelige Diego de Valera in seinem Adelstraktat von 1441 die Beobachtung, dass vor allem in Frankreich und Deutschland auch viele Bürger ein Wappen annehmen. Doch dürften sie diese nur in ihren Häusern und in den Pfarrkirchen zeigen, während ein Adeliger das Recht besitze, sein Wappen überall – man wird ergänzen: im Turnier und im Krieg – zu zeigen: Contamine, Nobility (wie Anm.2), 90f. Siehe zu Person und Quelle: Vanderjagt, Concepts (wie Anm.18). 63 Siehe für das Reich die vor allem auf Felix Fabri gestützten Kriterienkataloge, die diskutiert werden bei Ulf Dirlmeier, Merkmale des sozialen Aufstiegs und der Zuordnung zur Führungsschicht in süddeutschen Städten des Spätmittelalters, in: Hans-Peter Becht (Hrsg.), Pforzheim im Mittelalter. Studien zur Geschichte einer landesherrlichen Stadt. (Pforzheimer Geschichtsblätter, Bd. 6.) Sigmaringen 1983, 77–106; Werner Rösener, Adelsherrschaft als kulturhistorisches Phänomen. Paternalismus, Herrschaftssymbolik und Adelskritik, in: HZ 268, 1999, 1–34, hier 26f.; Karl-Heinz Spieß, Aufstieg in den Adel und Kriterien der Adelszugehörigkeit im Spätmittelalter, in: Andermann/Johanek (Hrsg.), Nicht-Adel (wie Anm.2), 1–26. Besonders ausführlich behandelt das Wappen (neben Ämtern, Titeln, Kleidung, Grüßen, Bewaffnung, usw.) auch Spangenberg, Adels-Spiegel (wie Anm.58), Bd. 2, Bl. 302a–339b. 64 Für England und Frankreich siehe Françoise Autrand, L’image de la noblesse en France à la fin du Moyen Age, in: Comptes-rendus de l’Académie des l’inscriptions et Belles-Lettres 1979, 340–354; Contamine, Noblesse (wie Anm.1), bes. 38–45 und 230–233.

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der oder Schwager angeredet wurde und wenn er in adeliger Gemeinschaft tanzte, jagte, turnierte, auf Reisen ging und Hochzeiten feierte. 65 Damit stellt sich das eingangs formulierte Problem nach der Sichtbarmachung von Adeligkeit gewandelt dar. Denn nimmt man diesen zeitgenössischen Lösungsansatz ernst, dann war ein Niederadeliger als solcher mit letzter Sicherheit weder an seinem Herkommen zu erkennen, von dem er weniger wusste als heutige Genealogen, noch an seiner Rüstung, die jeder spätmittelalterliche Krieger, wenn er sie bezahlen konnte, zu seinem Schutz trug, und erst recht nicht an einem frei wählbaren Wappen. Woran man ihn indes eindeutig als Adeligen erkennen konnte, war die adelige Gemeinschaft, war das Gruppenbild. Gruppenzugehörigkeiten öffentlich zu demonstrieren, dazu dienten sowohl Einund Ausritte als auch Ein- und Auszüge von adeligen Gemeinschaften aus Anlass von Turnieren, Reichstagen, Hochzeiten oder Ordenskapiteln. 66 Existierte indes eine Möglichkeit, solche ephemeren Gruppenbilder dauerhaft zu dokumentieren? Sie bestand in der Tat, wenn auch unter mittelalterlichen Medienbedingungen, so dass man nicht im Sinne von späteren Erinnerungsbildern beispielsweise mit den Porträts der Gesandten eines Friedenskongresses rechnen darf. Was man indes nutzen und zusammenfügen konnte, waren die Wappen der Anwesenden. Wappenzyklen oder andere heraldische Ensembles ermöglichten nämlich nicht nur die Darstellung komplexerer politischer und historischer Ordnungen 67, sondern konnten auch die flüchtige Gemeinschaft von Turnierteilnehmern, Kriegern, Freunden, Angehörigen eines Hofordens oder Mitgliedern einer Adelsgesellschaft verewigen 68. Die Herolde, die auf dergleichen spezialisiert waren, verzeichneten die zu solchen Gelegenheiten anwesenden Personen auf Wappenrollen und in Wappenbüchern. 69 Daneben existierte eine heraldische Speicherung adliger Gruppenbilder im öffentlichen Raum, wenn Wappenfolgen in Kirchen und Palästen sichtbar hinterlassen

65

Vgl. Paravicini, Adelskultur (wie Anm.2).

66

Siehe z.B. Andreas Ranft, Adelsgesellschaften. Gruppenbildungen und Genossenschaft im spätmittel-

alterlichen Reich. (Kieler Historische Studien, Bd. 38.) Sigmaringen 1994. 67

Am bekanntesten dürfte die Darstellung des Reiches in der Wappenfolge der Quaternionen sein. Vgl.

Ernst Schubert, Die Quaternionen. Entstehung, Sinngehalt und Folgen einer spätmittelalterlichen Deutung der Reichsverfassung, in: Zeitschrift für historische Forschung 20, 1993, 1–63. 68

Siehe z.B. zur Praxis, die Gegenwart der Ordensmitglieder vom Goldenen Vlies nach den Kapitelsit-

zungen durch Wappenschilde gegenwärtig zu halten, Sterchi, Umgang (wie Anm.18), 399–402. 69

78

Vgl. Pastoureau, Traité (wie Anm.23), 223f.

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Abb. 5: Wappenfresko der Eselsgesellschaft (ca. 1422/1450), Heidelberg, Heiliggeistkirche. Quelle: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Heilig_Geist-Eselsgesellschaft4214.jpg&filetimestamp=20100128220645 (30.3.2012).

wurden. 70 Eine Sammlung dieser Zeugnisse fehlt. Vieles ist noch kaum bekannt, so wie der Wappenzyklus einer deutschen Söldnerkompanie in der Kirche San Giorgetto in Verona von 1354 71 oder die in vier Reihen angeordneten Vollwappen von Mitgliedern der Adelsgesellschaft „Vom Esel“ in der Heidelberger Heiliggeistkirche, die zwischen etwa 1422 und 1450 entstanden sind (Abb. 5). 72

70 Besonders eindrücklich für den fränkischen Adel sind die 248 Wappen, die außen am Chor der Marienkapelle Haßfurt zu sehen sind: Machilek, Frömmigkeitsformen (wie Anm.6), 188. 71 Zu diesen und weiteren Monumenten deutschsprachiger Söldner in Italien bereite ich eine Veröffentlichung vor. Vgl. einstweilen Stephan Selzer, Deutsche Söldner im Italien des Trecento. (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 98.) Tübingen 2001, 180–182. 72 Vgl. Ranft, Adelsgesellschaften (wie Anm.66), 122f.; Harald Drös, Heidelberger Wappenbuch. Wappen an Gebäuden und Grabmälern auf dem Heidelberger Schloß, in der Altstadt und in Handschuhsheim. Heidelberg 1991, 45–60 Nr.54–88.

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VII. Ritterliche Gruppen – Adelige Bilder Im niederadeligen Milieu des Reichs speicherten zur Dokumentation ritterlicher Gruppentaten angelegte Wappenfolgen und Namenlisten die Erinnerungen an Individuen offenbar beständiger als das schriftlose innerfamiliäre Gedächtnis. Denn als es um 1500 auch auf diesem sozialen Niveau zunehmend wichtiger wurde, über genaue Kenntnisse des familiären Herkommens zu verfügen, gelang die Ausweitung des Wissens oftmals nur, wenn Erinnerungsträger herangezogen werden konnten, die außerhalb der eigenen Familie bewahrt worden waren. 73 Neben Grabmalen und liturgischer Totenmemoria 74 scheinen dabei Bild- und Schriftquellen wichtig gewesen zu sein, die Familienmitglieder in gruppengebundenen Zusammenhängen dokumentieren. So nennt die Flersheimer Chronik etwa Bildteppiche als Belege für die Kriegs-, Turnier- und Jagdunternehmungen von Vorfahren. 75 Das Familienbuch der Herren von Eptingen stellt ebenfalls mit Turnieren, Adelsreisen, Kriegszügen, Jagden und der Krönung Maximilians I. gerade die Anlässe heraus, in denen in ritterlichen Gemeinschaften besondere Leistungen vollbracht worden waren. 76 Als Schlachtengedenken war solche bildgestützte Wissensbewahrung dabei an das Gebetsgedenken geknüpft. Das Beispiel der Wandmalereien im Kloster Königsfelden, auf denen die im Jahre 1386 mit Herzog Leopold von Österreich bei Sempach getöteten Kämpfer verbildlicht worden sind 77, ist dafür ein bekannteste Beispiel, stellt jedoch gerade keinen singulären Fall dar 78. Das Wissen um Gemeinschaften vorbildlicher Ritter vorangegangener und ge73

Die Beobachtung bereits bei Krieb, Erinnerungskultur (wie Anm.43), 68–75.

74

Siehe exemplarisch zum Rückgriff auf Gräber und liturgische Memoria Schneider, Historiographie

(wie Anm.43), 313f. und 325–327. 75

Otto Waltz (Hrsg.), Die Flersheimer Chronik. Zur Geschichte des XV. und XVI.Jahrhunderts. Leipzig

1874, 14 und 16. Vgl. Krieb, Flersheim (wie Anm.43), 143f. 76

Zum Material bei Christ, Eptingen (wie Anm.56), siehe auch Paravicini, Ritterlich-höfische Kultur (wie

Anm.13), 102–108. 77

Dazu zuletzt Steffen Krieb, Vom Totengedenken zum politischen Argument: Die Schlacht bei Sempach

(1386) im Gedächtnis des Hauses Habsburg und des südwestdeutschen Adels im 15.Jahrhundert, in: Horst Carl u.a. (Hrsg.), Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen. Berlin 2004, 69–88. 78

Das Material ist noch nicht gesammelt. Vgl. z.B. Klaus Graf, „Der adel dem purger tregt haß“. Feindbil-

der und Konflikte zwischen städtischem Bürgertum und landsässigem Adel im späten Mittelalter, in: Rösener (Hrsg.), Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen (wie Anm.6), 191–204, hier 199 (Fresko in der Göppinger Oberhofenkirchen); Oexle, Memorialbild (wie Anm.32), 403f. (Fresko in der St. Georgskapelle zu Hoflach).

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genwärtiger Generationen, denen man sich selbst zuordnen konnte, verlor indes im Verlauf des Spätmittelalters gegenüber dem familiären Herkommen an Bedeutung. Zeitgleich nahm nicht nur im Reich, sondern überall in Europa die Zahl derjenigen Personen ab, die überhaupt noch einen Ritterschlag erhielten. 79 Das Wissen um Leistungen ritterlicher Gruppen wurde daher häufig aus dem alten Bezugsrahmen entnommen und familiär gerastert. So wurden etwa im Familienbuch der Herren von Eptingen die toten Vorfahren von ihren ritterlichen Mitstreitern bei Sempach getrennt und familiär vergemeinschaftet. 80 Eine solche Umorganisation lässt sich auch an der Verwendung des Werkes „Anfang, Ursprung und Herkommen des Thurnirs in Teutscher Nation“ des Reichherolds Georg Rixner erkennen. 81 Die von Rixner gelieferte fiktive Abfolge der Reichsturniere seit ihrer imaginären Gründung durch König Heinrich I. läuft auf die von den Adelsgesellschaften organisierten Turniere der „Vier Lande“ der Jahre 1479 bis 1487 zu. 82 Die Turniertradition verschaffte also nicht einer einzelnen Familie, sondern dem Turnieradel als Gruppe eine legitimierende Herkunft. Beigegeben hatte Rixner den einzelnen Veranstaltungen umfangreiche Namenlisten der Teilnehmer, die zunächst erfunden sind, später aber auf Teilnehmerverzeichnissen beruhen. Die wiederholte Verwendung dieser Namenlisten in der Phase der niederadeligen Verschriftlichung familiärer Erinnerung ist recht bemerkenswert, denn nicht nur in der Zimmerschen Chronik wurde die Herkommenstiefe des eigenen und anderer Adelsgeschlechter durch einen Blick in dieses „Turnierbuch“ geklärt. 83 Ebenfalls auf diese Art informierte sich der Verfasser 79 Vgl. Paravicini, Adelskultur (wie Anm.2), 426; Contamine, Noblesse (wie Anm.1), 280–288; Selzer, Söldner (wie Anm.71), 197f. 80 Christ, Eptingen (wie Anm.56), 59, 197, 413. Vgl. Krieb, Totengedenken (wie Anm.77), 85f. 81 Georg Rixner, Turnierbuch. Reprint der Prachtausgabe Simmern 1530, eingel. v. Willi Wagner. (Bibliothek für Familienforscher, Bd. 2.) Solingen 1997. 82 Durch den Nachweis bei Klaus Arnold, Der fränkische Adel, die „Turnierchronik“ des Jörg Rugen (1494) und das Turnierbuch des Georg Rixner (1530), in: Erich Schneider (Hrsg.), Nachdenken über fränkische Geschichte. Vorträge aus Anlass des 100. Gründungsjubiläums der Gesellschaft für Fränkische Geschichte vom 16.–19.September 2004. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Rh.9: Darstellungen aus der fränkischen Geschichte, Bd. 50.) Würzburg 2005, 129–153, der zeigt, dass es sich bei dem Persevanten Jörg Rugen und dem Reichsherold Georg Rixner um dieselbe Person handelt, rückt der Beginn der Arbeit an dem Turnierbuch auch zeitlich an die große Turnierwelle der Vier Lande heran. Zu diesen Turnieren siehe Paravicini, Ritterlich-höfische Kultur (wie Anm.13), 93–102; Andreas Ranft, Die Turniere der vier Lande. Genossenschaftlicher Hof und Selbstbehauptung des niederen Adels, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 142, 1994, 83–102. 83 Decker-Hauff (Hrsg.), Chronik (wie Anm.4), z.B. Bd. 1, 56f.; Bd. 2, 153. Vgl. Wolf, Chronik (wie Anm.43), 189–194.

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der Flersheimer Chronik. 84 Im Hausbuch der Herren von Hallwil wurde eine Passage, die über ein sagenhaftes Zürcher Turnier von 1165 berichtet, nach dieser Vorlage gestaltet. 85 Und auch die eingangs genannte Hegauer Niederadelsfamilie von Friedingen wäre, hätte sie ihre Familiengeschichte zurückverfolgt, bei ihrer Ahnenforschung in den Turnierlisten von Rixner fündig geworden. 86 Diese Tendenz spätmittelalterlicher Identitätsbildung im Niederadel, die hin zur Betonung des familiären Herkommens und weg von der Bedeutung der ritterlichen Gruppenzugehörigkeit führte, schloss dabei eine zunehmende Demarkierung des Adels gegenüber Personen ein, die Anschluss an diese Gruppe suchten. Neben der skizzierten hochadeligen Bewegung des Hochmittelalters, die von oben in die Ritterschaft führte, gab es während des gesamten Spätmittelalters eine seitliche Bewegung in die Ritterschaft hinein, die weniger mit formalen Nobilitierungen als vielmehr damit zu tun hatte, dass sich alle mittelalterlichen Adelstheoretiker darüber einig waren, dass Kriegsdienst adelig machen könne und dies in der Praxis auch tat. 87 Diesen Weg zum Adelsstatus zu akzeptieren, war aber der Niederadel im Reich im Verlauf des 15. Jahrhunderts unter gewandelten politischen und militärischen Gegebenheiten immer weniger bereit. 88 Eine Gruppe, die bei Geltung eines ritterlichen Leistungsprinzips für vorbildliche Kämpfer hätte offenbleiben können, konnte durch die verstärkte Betonung des Herkunftsprinzips die Akzeptanz neuer Personen bis zur äußersten Rigidität verweigern. Erneut spiegeln die Gräber diese Zusammenhänge. Zwar blieb weiterhin der Kriegsdienst die Legitimationsbasis des Adels, weshalb sich auch für das 16. Jahrhundert keine Demilitarisierung des Grabbildes feststellen lässt. 89 Aber im Formu-

84

Waltz (Hrsg.), Flersheimer Chronik (wie Anm.75), 1 und 32. Vgl. Krieb, Erinnerungskultur (wie

Anm.43), 71. 85

Jacob-Friesen, Hallwil (wie Anm.4), 53 und 55.

86

Das 28. Turnier zu Würzburg verzeichnet unter den Teilnehmern der Gesellschaft „Fisch und Falken“

auch „Die von Fridingen“: Rixner, Turnierbuch (wie Anm.81), fol 315v. 87

Vgl. Spieß, Aufstieg (wie Anm.63), 3f. und 16; Selzer, Söldner (wie Anm.71), 191–198 und 221–228. Un-

ter der Vielzahl an Möglichkeiten, den adeligen Status zu erwerben, betont auch Spangenberg am Ende des 16.Jahrhunderts weiterhin den Kriegsdienst: Spangenberg, Adels-Spiegel (wie Anm.58), Bd. 1, 129–131 und Bd. 2, Bl. 199a–268a. 88

Hierzu passen durchaus die anders strukturierten und dokumentierten Beobachtungen von Morsel,

Erfindung (wie Anm.47); ders., L’invention (wie Anm.47). 89

Vgl. z.B. Sigrid Schmitt, Zwischen frommer Stiftung, adliger Selbstdarstellung und standesgemäßer

Versorgung. Sakralkultur im Umfeld von Rittersitzen, in: Andermann (Hrsg.), Rittersitze (wie Anm.48),

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Abb. 6: Grabplatte des Grafen Philipp II. von Nassau-Saarbrücken-Weilburg († 1458); Aufnahme Stephan Selzer.

lar der Grabinschriften gewannen die Bezeichnungen nobilis und edel seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts immer größere Bedeutung. 90 Zugleich vermehrte sich die Zahl der auf den Grabsteinen gezeigten Wappen, weil zusätzlich zu dem stets identischen Schild der väterlichen Vorfahren die in jeder Generation variierenden Wappen der mütterlichen Seite präsentiert wurden (Abb. 6). Dieses Phänomen findet sich verständlicherweise zuerst bei Adelssöhnen, die dem geistlichen Stand 11–44, hier 37–39; Thomas Winkelbauer/Tomáš Knoz, Geschlecht und Geschichte. Grablegen, Grabdenkmäler und Wappenzyklen als Quellen für das historisch-genealogische Denken des österreichischen Adels im 16. und 17.Jahrhundert, in: Joachim Bahlcke/Arno Strohmeyer (Hrsg,), Die Konstruktion der Vergangenheit. Geschichtsdenken, Traditionsbildung und Selbstdarstellung im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa. (Zeitschrift für historische Forschung, Beih. 29.) Berlin 2002, 129–177. Die Betonung des Dienstes für einen Fürsten scheint erst später in den Vordergrund zu treten. Vgl. Mark Hengerer, Zur symbolischen Dimension eines sozialen Phänomens. Adelsgräber in der Residenz (Wien im 17.Jahrhundert), in: Andreas Weigl (Hrsg.), Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung, Gesellschaft, Kultur, Konfession. Wien/Köln/ Weimar 2001, 250–352. 90 Vgl. Spieß, Memoria (wie Anm.6), 118; Sebastian Scholz, Totengedenken in mittelalterlichen Grabinschriften vom 5. bis zum 15.Jahrhundert, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 26, 1999, 37–59, hier 54.

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angehörten und die für die Aufnahme in eine geistliche Institution eine Ahnenprobe hatten beschwören müssen, wuchs aber auch bei weltlich gebliebenen Adeligen schon vor 1500 auf bis zu sechzehn Wappen an. 91 Adeliger Status, der aus einem so visualisierten, weit zurückreichenden und damit aus bestem Herkommen erwuchs, forderte zwar andauernde Anstrengungen, um die Erinnerung an die edle Herkunft wachzuhalten. Doch anders als ritterliche Qualitäten und Tugenden musste dergleichen gerade nicht in permanenter Bewährung immer wieder neu bewiesen werden. 92 Diese Basis adeliger Identität meinte der ungarische Romancier Sándor Marai (1900–1989), als er in seinem 1941/48 auf ungarisch erschienenen Roman „Wandlungen einer Ehe“ schrieb: „Der Bürgerliche muss sich bis zu seinem Lebensende bestätigen. Der Aristokrat hat sich schon bestätigt, als er zur Welt gekommen ist.“ 93 Doch so einfach beschaffen war das Adelsbild des Mittelalters gerade nicht; und man wird zu prüfen haben, ob ein Adel, der nur eine Frage der Abstammung und nicht auch eine Sache der Haltung war, wirklich die Neuzeit prägte. 94 Im mittelalterlichen Adelsbild jedenfalls war beides miteinander verbunden: Der Stolz auf edle Herkunft war wichtig, doch mischte dieser sich mit der Verpflichtung zur ritterlichen Leistung im Sinne des Leitmotivs, das der französische Adelige und vorbildliche Ritter Geoffrey de Charny im 14. Jahrhundert in seinem „Livre de chevalrie“ immer wieder umspielte: „qui plus fait, miex vault“ – wer mehr leistet, ist mehr wert. 95

91

Siehe dazu die wichtige Fallstudie zu Franken von Harald Drös, Zur Heraldik fränkischer Adelsgrab-

mäler, in: Peter Schiffer (Hrsg.), Zum ewigen Gedächtnis. (Forschungen aus Württembergisch Franken, Bd. 50.) Stuttgart 2003, 63–85. 92

Siehe dazu die Bemerkungen bei Georg Simmel, Exkurs über Adel, in: ders., Soziologie. Untersuchun-

gen über die Formen der Vergesellschaftung. Hrsg. v. Otthein Rammstedt. (Gesamtausgabe, Bd. 11.) Frankfurt am Main 1992, 816–832. 93

Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Sándor Marai, Wandlungen einer Ehe. München/Zürich 2003, 15.

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Siehe dazu die einschlägigen Aufsätze in diesem Band.

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Kaeuper/Kennedy (Eds.), Book of Chivalry (wie Anm.11), 86 und passim. Vgl. Philippe Contamine, Geoff-

roy de Charny, début du XIVe siècle – 1356, „Le plus prudhomme et le plaus vaillant de tous le autres“, in: Charles M. de LaRoncière u.a. (Eds.), Histoire et société. Mélanges offerts à Georges Duby. Vol.2. Aix-en-Provence 1992, 107–121.

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Vom Ritter gegen Tod und Teufel über den Glaubensstreiter zum Kavalier Zum Wandel der Adelsbilder in der Frühen Neuzeit von Johannes Süßmann

Wer von Adelsbildern in der Frühen Neuzeit handeln möchte, muss mit Fragen beginnen. Gab es in dieser Epoche (wenn es denn eine war) überhaupt eine Aristokratie in Max Webers Sinn, wie sie in diesem Band vorausgesetzt wird? 1 War das, was sich selbst als Adel bezeichnete, eine Schicht, die sich „politisch nutzbar“ machte? Die für das Gemeinwesen leben konnte, statt von ihm leben zu müssen? Die ihr Verständnis von Vornehmheit aus einem Einsatz für das Politische bezog, der auf politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher Unabhängigkeit beruhte und in stolzer Selbstverpflichtung bestand, statt auf einem Dienst, der aus störrisch verleugneter Abhängigkeit erwuchs? Die leitende Hinsicht auf die Frühe Neuzeit kennzeichnet sie als Zeitalter der Staatsbildung. 2 Das heißt Übergang vom Personenverbands- zum Anstaltsstaat; heißt Entpersonalisierung von Herrschaft und Institutionalisierung von Ämtern; heißt Auf- und Ausbau eines Regierungs- und Verwaltungsapparats; heißt Konzentration und Verdichtung hoheitlicher Gewalt. Für eine unabhängige Aristokratie war dabei im Prinzip kein Platz. Alle genannten Vorgänge liefen im Gegenteil darauf hinaus, auch den Adel für die Staatsbildung in den Dienst zu nehmen, also: ihn in eine Schicht von Funktionären zu verwandeln. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um zentralisierte Fürstenherrschaften handelte oder um ständisch dominierte Gemeinwesen: Auch was gegenwärtig unter dem Begriff des Republikanismus diskutiert wird, vermochte sich, schon aus Selbstbehauptungsgründen, der Tendenz 1 Vgl. die Einleitung der Herausgeber zu diesem Band. 2 So z.B. zuletzt Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3.Aufl. München 2002. Vgl. Johannes Süßmann, Vergemeinschaftung durch Bauen. Würzburgs Aufbruch unter den Fürstbischöfen aus dem Hause Schönborn. (Historische Forschungen, Bd. 86.) Berlin 2007, 19−23. – Nachweise bleiben hier mit Absicht auf das Notwendigste beschränkt. Die aktuelle Forschung zur Geschichte des Adels in der Frühen Neuzeit ist in der Einleitung zu diesem Band verzeichnet.

oldenbourg DOI 10.1524/9783486716320.85

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zur Staatsbildung nicht zu entziehen. In der Realität handelte es sich um einen komplizierten Prozess, der lange vor dem 16.Jahrhundert begonnen hatte und eigentlich nur aus Kompromissen und Übergängen zu bestehen schien, bis dann im 18. Jahrhundert das Ergebnis plötzlich vor aller Augen stand. Für den Adel hieß das: In irgendeiner Weise musste er sich zu diesem Fundamentalvorgang der Staatsbildung verhalten. Nicht nur seine politische, wirtschaftliche, rechtliche Unabhängigkeit wurde Zug um Zug davon eingeschränkt, auch sein Habitus, der auf solcher Unabhängigkeit beruhte, geriet grundsätzlich auf den Prüfstand. Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich die Frage, die hier an die Adelsbilder der Frühen Neuzeit gerichtet werden soll: Wenn wir sie als eine Form des visuellen Argumentierens begreifen, als Medium einer politischen Sprache, dann können wir sie daraufhin analysieren, ob und wie sie gegenüber dem Funktionalisierungsdruck der Staatsbildung für den Adel Daseinszwecke eigenen Rechts begründeten. Konkret: Wir können fragen, wie der Adel weiterhin Unabhängigkeit für sich in Anspruch nahm und was das über seine Handlungspräferenzen besagt. Als Quellen werden vier Bilder herangezogen, die untypisch und typisch zugleich sind. Untypisch sind sie, weil es sich ausnahmslos um Meisterwerke handelt. Ob und wofür sie andererseits vielleicht typisch sind, wird sich erweisen müssen. Begonnen sei mit Dürers Kupferstich „Der Reiter“ (Abb.1), auf dem Täfelchen unten links ins Jahr 1513 datiert. 3 Das 24 x 19 cm große Bild wird zu den Meisterstichen des Künstlers gezählt: Feinheit und Technik der Darstellung, Evokation von Licht und Schatten, von verschiedenartigen Oberflächen und Raumillusionen haben im Medium Kupferstich kaum ihresgleichen. Dennoch war der Stich für wenige Gulden auf dem Nürnberger Markt zu erwerben. Es handelt sich um ein zwar kostbares, durch die neue Drucktechnik dennoch erschwingliches, verbreitetes und insofern öffentliches Bild. Was als erstes ins Auge springt, ist die Darstellung eines Reiters im Harnisch. Das liegt nicht nur daran, dass sie den Vordergrund des Bildes einnimmt, der Rist des Pferdes und der aufgerichtete Körper des Reiters sind auch genau auf der waagrechten und senkrechten Mittelachse des Blatts platziert. Das heißt, es ist vom ersten Blick an die Haltung der Reiterfigur, die der dargestellten Welt eine Ordnung gibt.

3 Rainer Schoch/Matthias Mende/Anna Scherbaum (Bearb.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Bd. 1: Kupferstiche, Eisenradierungen und Kaltnadelblätter. München/London/New York 2001, Nr.69, S.169−173. Dort ein guter Forschungsbericht und weitere Literatur.

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Abb. 1: Albrecht Dürer: Der Reiter. Kupferstich auf Papier 1513, 24,4 x 18,8 cm; Digitalphotographie: ArteMIS Bilddatenbank des Instituts für Kunstgeschichte München, abgerufen über Prometheus: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/artemis-6b209bc86f95157b6ffab6a4688d0869b79b429e (15.01.13).

Die Spannung des Bildes beruht darauf, dass sein Mittelgrund der Ordnung entbehrt. Fast die gesamte Gestalt des Reiters wird von zerklüfteten Böschungen hinterfangen. Die Erde ist abgerutscht, in verschiedene Richtungen weisen die Bruchkanten, Wurzeln liegen frei. Die Pflanzen sind stachelig, abgebrochen, verdorrt. Am schlimmsten ist die Unordnung der beiden Gestalten, die aus dieser, von gegenstrebigen Kräften zerrissenen Naturkulisse hervortreten: vor dem Reiter auf einem verwahrlosten Klepper ein alter Mann mit eingefallenem, vertrockneten Gesicht, langen zotteligen Haaren und Bart, in denen sich Schlangen winden; hinter dem Reiter ein schielendes Vieh mit dem Kopf eines Wolfs, Hörnern und Ohren eines Widders, Rumpf einer Wölfin, Hufen eines Bocks und dem vom Hinterkopf aufragenden Horn eines Stiers. Die dargestellte Unordnung scheint sogar die Art der Darstellung zu erfassen. Denn im Verhältnis zur Breite des Weges, die man aus dem unteren

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Viertel des Blatts erschließen kann, ist zwischen Reiter und Böschung für die beiden Figuren zu wenig Platz. Halb durch den Reiter verdeckt, wirken sie eigentümlich irritierend. Mit Hilfe von Sanduhr und Krone lässt der Alte sich als Tod identifizieren, Bocksfüße, Horn und Wolfsnatur verraten den Teufel. Allein über dem Kopf des Reiters gibt ein Erdrutsch den Blick in den Bildhintergrund frei. Zu erkennen ist dort eine offene Straße, die zu einer stark befestigten Burg auf einem Berg führt. Seit Heinrich Wölfflin haben die Kunsthistoriker die Gegensätzlichkeit der drei Bildgründe zum Ausgangspunkt ihrer Interpretationen gemacht. 4 Darüber, was sie bedeutet, gehen die Meinungen allerdings weit auseinander. Unstrittig scheint allein, dass es sich um einen Ritter handelt. Darauf weisen das edle, sorgfältig aufgezäumte Pferd ebenso hin wie Helm, Schwert und Lanze sowie vor allem der kostbare Harnisch, der allerdings, wie die Experten sagen, für das Jahr 1513 altertümlich und zusammengestückt erscheint. 5 Eine Gruppe von Interpreten möchte den Ritter mit einer bestimmten Person identifizieren: Von dem Geleitreiter Philipp Rink, über den eine Nürnberger Lokalsage des 16.Jahrhunderts erzählt, er sei, im Wald verirrt, Tod und Teufel begegnet 6, bis zu Maximilian I., dem „letzten Ritter“, reichen die Vorschläge. Der Verfasser gesteht, dass ihn keiner überzeugt. Zu sorgfältig hat Dürer alles weggelassen, woran man Ritter zu identifizieren pflegte: Schild und Helmzier, Banner und sonstige heraldische Zeichen. Mit dem Wappen fehlt zugleich jeglicher Hinweis auf dynastische Vornehmheit. Was aber ist dann das Überpersönliche, für das dieser Ritter steht? Der Ritterstand, sagen einige. 7 Dürer übe Ständekritik. Er zeige, dass die Ritter den Bezug zur Gesellschaft verloren hätten; dass sie, kenntlich am Fuchsschwanz um die Lanze, als

4 Heinrich Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers [1905]. Mit einem Nachwort v. Peter Strieder. 9., durchges. Aufl. München 1984, 199−203. 5 Heinrich Theissing, Dürers Ritter, Tod und Teufel. Sinnbild und Bildsinn. Berlin 1978, 127f., betont hingegen die „überschaubar[e] graphisch[e] Ordnung“ des Harnischs über „wohlgerundeten Teilen“. 6 Die Rink-These hat zuletzt Rainer Schoch vertreten in: Matthias Mende/Anna Scherbaum/Rainer Schoch (Bearb.), Albrecht Dürer. 80 Meisterblätter. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung Otto Schäfer. München 2000, Nr.58. 7 So z.B. Sten Karling, Ritter, Tod und Teufel. Ein Beitrag zur Deutung von Dürers Stich, in: György Rózsa (Ed.), Évolution générale et dévéloppements régionaux en histoire de l’art. Actes du 22e congrés internationale d’histoire de l’art Budapest. Budapest 1972, 731−738, und Ursula Meyer, Politische Bezüge in Dürers ‚Ritter, Tod und Teufel‘, in: Kritische Berichte 6, 1978, 27−41. Englisch u. d. T.: Political Implications of Dürer’s Knight, Death and Devil, in: Print Collector’s Newsletter 9, 1978, 35−39.

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Raubritter in der Ödnis verselbständigter Gewaltausübung lebten; dass sie, wie der Reiter an Teufel, Tod und der ihm entgegengehaltenen Sanduhr vorbei sieht, stur ignorierten, wie schnell ihre Zeit ablaufe und in welchen Untergang ihr Weg führe. Keineswegs, sagen andere. 8 Der Reiter symbolisiere den christlichen Ritter, also den Christen schlechthin im Kampf gegen das Böse. Angetan mit der Rüstung Gottes und den Waffen der Tugenden: nämlich Ehre (die sich in der Gediegenheit von Pferd und Harnisch zeige), Zucht (die der Reiter durch sein Verhalten angesichts der Gefahr beweise), Maß (das aus seiner ganzen Haltung spreche) und Freude (die als lächelnde Hochgestimmtheit in bedrohlicher Lage zu erkennen sei), überwinde er Vergänglichkeit und Zerrissenheit der Natur und stifte die Soziabilität, die als Ausblick am Horizont zu erkennen sei. Dabei stimmt nicht, was beide Lager behaupten, dass der Reiter Gewalt übt oder kämpft! Sein Gesichtsschutz ist aufgeklappt, die Lanze auf die Schulter gelegt, das Schwert in der Scheide. Auch treibt er sein Pferd nicht an, sondern zügelt es zu einem hochkonzentrierten Schritt. Sein Blick ist, soweit erkennbar, auf nichts Äußeres gerichtet. Er wirkt nach innen gewandt: Möglicherweise sind Tod und Teufel ihm vor dem inneren Auge erschienen − das würde erklären, warum sie nur hinter dem Reiter zu sehen sind, ohne ausreichenden Raum. Die zerrissene Natur des mittleren Bildgrunds könnte dann als Seelenlandschaft gedeutet werden, der die gesammelte Haltung und perfekte Form des Vordergrunds abgerungen sind. Bezogen auf den Ritter wäre also die Überwindung von Verlorenheitsgefühlen und Todesangst das Thema, bezogen auf die künstlerische Darstellung die Läuterung von Naturformen und Fantasieprodukten zur Klassizität. Wenn man diesem Ansatz folgt, zeigt Dürer uns seinen Ritter in einer existentiellen Krise. Dass sie die soziale Krise des Ritterstands bezeichnen sollte, ist wegen der Wendung nach innen nicht einzusehen. Dass es sich um die Glaubensnot des christlichen Ritters handelt, vermag allerdings ebenso wenig zu überzeugen. Denn wie ist es mit der Christlichkeit dieses Ritters bestellt? Nicht eine der Tugenden, die seine Haltung bekundet: Ehre, Zucht, Maß, Freude, ist spezifisch christlich. Vom Glauben bleibt allein, dass er dem Teufel den Rücken zukehrt. Das kann aber auch als Wendung in eine Innerweltlichkeit gedeutet werden, die auf eine, nunmehr als Aberglaube empfundene Jenseitsangst antwortet. Hier sei vorgeschlagen, Dürers Ritter

8 Allen voran Theissing, Dürers Ritter, Tod und Teufel (wie Anm.5), 33−40.

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auf der Suche nach einer innerweltlichen, sagen wir ruhig: humanistischen Haltung gegenüber den Seelennöten zu sehen, die aus der Glaubenskrise um 1500 erwuchsen. Dafür spricht, dass die strenge, klare Profildarstellung und die statuarische Ausgewogenheit des Ritters an Medaillen denken lässt nach dem Vorbild der Reiterstandbilder, die Dürer auf seinen Reisen kennengelernt hatte: die des Gattamelata von Donatello in Padua und die des Colleoni von Verrocchio in Venedig. 9 Die Haltung, die Dürers Ritter gegenüber seiner Seelenpein annimmt, ist also die eines Condottiere oder Hofmanns im Sinne der Renaissance. Sie erscheint nicht standesgebunden, sondern wird durch Verinnerlichung universalisiert. Die Krise, in der Dürer den christlichen Ritter zeigt, ist bei Tizian überwunden: Sein Porträt „Kaiser Karl V. nach der Schlacht bei Mühlberg“ (Abb.2) kann als Antwort auf Dürers Kupferstich gelesen werden. 10 1548, ein Jahr nach dem Geschehen, im Auftrag des Kaisers gemalt, übersandte dieser es seiner Schwester Maria von Ungarn nach Brüssel. Als Karl gestorben war, ließ sein Sohn Philipp II. es nach Madrid kommen, wo es im Alcázar an prominenter Stelle aufgehängt wurde und größte Wertschätzung genoss. So mobil waren großformatige Bildwerke bis dahin nur als Tapisserien gewesen; das neue Medium des Ölgemäldes auf Leinwand ermöglichte die gleiche Transferierbarkeit zwischen unterschiedlichen höfischen Öffentlichkeiten bei viel leichterer Herstellung. Und groß ist dieses Bild von 3,3 x 2,8 m: Soweit dem Verfasser bekannt, handelt es sich um das erste gemalte Porträt eines berittenen Herrschers in Lebensgröße. 1532/ 33 hatte Tizian ein lebensgroßes Porträt Karls V. mit Dogge gemalt. 11 Jetzt überbot er 9 Zu Letzterem s. Dietrich Erben, Bartolomeo Colleoni. Die künstlerische Repräsentation eines Condottiere im Quattrocento. (Centro Tedesco di Studi Veneziani, Studi, Bd. 15.) Sigmaringen 1996. 10

Wolfgang Braunfels, Tizians Augsburger Kaiserbildnisse, in: ders. (Hrsg.), Kunstgeschichtliche Studien

für Hans Kauffmann. Berlin 1956, 192−207; Herbert von Einem, Karl V. und Tizian. Köln/Opladen 1960; ders., Karl V. und Tizian, in: Peter Rassow/Fritz Schalk (Hrsg.), Karl V. – der Kaiser und seine Zeit. Köln 1960, 67−93; Gunter Schweikhart, Tizian in Augsburg, in: Klaus Bergdolt/Jochen Brüning (Hrsg.), Kunst und ihre Auftraggeber im 16.Jahrhundert. Venedig und Augsburg im Vergleich. Berlin 1997, 21−42; Hugo Soly (Ed.), Charles V and his Time 1500−1558. Antwerpen 1999. Deutsch u. d. T.: Karl V. und seine Zeit 1500−1558. Köln 2000, Ndr. Köln 2003, 304, 436, 496f.; Fernando Checa/Miguel Falomir, La Restauración de El Emperador Carlos V a Caballo en Mühlberg de Tiziano. [Katalog der Ausstellung] Madrid, Museo Nacional del Prado, junio−septiembre 2001. Madrid 2001. 11

Umstritten ist, ob Tizian die Bildidee dieses Porträts entwickelt hat oder der Wiener Hofmaler Jakob

Seisenegger. Vgl. dazu Andreas Beyer, Macht und Ohnmacht der Kenner. Tizian gegen Seisenegger: Ein Bilderstreit in der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums Wien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr.219 v. 20. September 2000, N 6.

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Abb. 2: Tizian: Karl V. nach der Schlacht bei Mühlberg. Öl auf Leinwand. Prado, Madrid; https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Tizian_karl_v.jpg&filetimestamp =20110118131435 (7.3.2012).

dieses neue Format des Herrscherporträts noch einmal. Zugleich trat er damit als Maler in Konkurrenz zu den Reiterstandbildern der Bildhauer. Insofern ist der Triumph, der in diesem Bild das Thema ist, nicht nur ein politischer, sondern auch ein künstlerischer. Wie bei Dürer wird der Vordergrund des Bildes beherrscht von einer Reiterfigur, wie bei Dürer ist sie in das Kreuz der senkrechten und waagrechten Mittelachsen gerückt. Pferd, Harnisch, Helm und Lanze weisen die Figur als Ritter aus. Allerdings reitet sie von links nach rechts (in die Richtung, aus der Dürers Ritter herkommt, also), auch zeigen die Bewegtheit des sprengenden Pferdes und die eingelegte Lanze, dass Tizians Ritter sich im Kampf befindet. Wie bei Dürer ist der Ritter vor eine Landschaft gestellt. Allerdings handelt es sich um eine Ideallandschaft, die sich von dem hohen Baum links zu einer lieblichen Flussaue öffnet, um sich rechts in hügelige

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Fernen zu verlieren; mit der Bewegung nach rechts weitet sich der Landschaftsraum. Entscheidend für den Eindruck des Gemäldes ist die Farbigkeit: Die letzten Strahlen einer Abendsonne fallen mit dem Blick der Betrachter so ins Bild, dass zwischen Schatten, Wolken und Dämmerung der Ritter sowie Teile der Landschaft und des Himmels förmlich aufglühen. Für ein Gemälde, das einen historischen Schlachtensieg feiern soll, ist das kühn. Topographische Kennzeichen bleiben ebenso ausgespart wie Bundesgenossen oder Gegner: Wie bei Dürer erscheint der Ritter aus allen sozialen Bezügen herausgelöst, allegorisiert. Auch auf einen mythologischen Apparat hat Tizian verzichtet. In radikaler Selbstbeschränkung stiftet er Bedeutung allein durch die Ikonographie und die Farbe. Jörg Oberhaidacher hat gezeigt, dass die Rüstung, die eingelegte Lanze und das Bewegungsmotiv des Pferdes einer Darstellungskonvention entsprechen, die im 15. und 16.Jahrhundert für den hl. Georg entwickelt worden war. 12 Als Schutzheiliger der Ritter symbolisierte der hl. Georg den Kampf gegen den Drachen des Unglaubens; für die Habsburger war er eine Leitfigur ersten Ranges. 1469 hatte Friedrich III. einen St. Georg-Ritterorden zum Kampf gegen die Osmanen gegründet, Maximilian I. hatte ihn gefördert und sich ebenso wie der junge Karl V. als Georgsritter darstellen lassen. Auf diese Georgsikonographie spielt Tizian an, auch da der Sieg bei Mühlberg am Vorabend des Georgstags errungen wurde, aktualisiert sie aber durch Schärpe und Orden vom Goldenen Vlies: den einzigen heraldischen Zeichen auf dem Gemälde. Ist Karl damit schon ikonographisch als Glaubensstreiter ausgewiesen, sein Sieg über die deutschen Protestanten als Sieg des wahren christlichen Glaubens gedeutet, so hebt das überirdische Licht diesen Ritter vollends in die Transzendenz. Kühn riskiert Tizian Ambivalenzen, verweist sein Abendrot doch ebenso auf das vergossene Blut der Schlacht wie auf die Sterblichkeit des bejahrt dargestellten Kaisers (womit es die gleiche Funktion übernimmt wie bei Dürer die Sanduhr, die der Tod dem Ritter entgegenhält). Eine weitere Bedeutung aber ist, dass für diesen Glaubensstreiter der Himmel sich auftut; dass als Lohn für seinen Kampf die Ewigkeit winkt; ja, dass dieses Himmelslicht dem Ritter schon auf Erden Herrschaft über die Welt verleiht. Theodor Hetzer hat darauf hingewiesen, dass alle Farben, die zur Darstellung 12

Jörg Oberhaidacher, Zu Tizians Reiterbildnis Karls V. Eine Untersuchung seiner Beziehungen zum

Georgsthema, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 78, 1982, 69−90.

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von Landschaft, Pflanzen und Himmel verwendet werden, im Ritter gesteigert wieder auftauchen: Der Farbeffekt, der sich aus dem Abendrot ergibt, erklärt diesen Ritter zum Herrn der dargestellten Welt. 13 In ihrer Haltung gleichen sich die Ritter bei Dürer und bei Tizian; die Tugenden, die dadurch symbolisiert werden: Ehre, Zucht, Maß und Freude, entsprechen sich. Durch die Kontexte aber werden sie verschieden gewendet: Aus der Krise der Innerweltlichkeit, in die der Ritter bei Dürer geraten ist, wird er von Tizian durch die Anweisung auf blutiges Konfessionskämpfertum erlöst. Wie eine Entgegnung darauf liest sich ein Gemälde, in dem gleichfalls ein historischer Sieg in einem Glaubenskrieg dargestellt ist: „Die Übergabe von Breda“, auch „Die Lanzen“ genannt, von Velázquez (Abb.3). 14 Thema ist einer der großen spanischen Erfolge des Dreißigjährigen Kriegs: Nach neunmonatiger Belagerung mussten 1625 niederländische Truppen unter Justin von Nassau die Stadt Breda an die Spanier übergeben. Velázquez malte das 307 x 370 cm große Bild 1635, zehn Jahre nach dem Ereignis, für den Salón de los Reinos, den zentralen Repräsentationsraum des Buen Retiro-Schlosses bei Madrid. Mit elf weiteren Schlachtengemälden gleichen Formats sollte es dort die militärischen Erfolge König Philipps IV. glorifizieren. 15 Den Auftrag zu höfischer Propaganda verwandelte Velázquez in eine Summe seines Könnens. Historie, Porträt, Landschaft und Tierdarstellung zugleich, weist das Bild ihn als Meister aller Genres aus. Vor allem setzte er sich durch die Art der Darstellung über jegliche Instrumentalisierung hinweg. Zu sehen sind im Vordergrund zwei Gruppen von Männern. Beide drängen sich so am linken und rechten Bildrand, dass zwischen ihnen in der Bildmitte ein Freiraum entsteht. Wie magisch wird das Auge von diesem Zwischenraum angezogen, weil nur er einen Durchblick auf den lichter dargestellten Bildmittelgrund freigibt, der sich zu einem dritten, hinteren Bildgrund weitet: einer weiten Landschaft unter wolkig verhangenem Himmel. Beide Gruppen bestehen aus zahlreichen Figuren (sechs auf der linken Seite, vierzehn auf der rechten), die dicht gestaffelt stehen und sich zum Teil verdecken. Das lässt sie als kompakte Einheiten erscheinen. Gleichwohl bleiben einzelne Gestalten von un13 Theodor Hetzer, Tizian – Geschichte seiner Farbe [1935]. Hrsg. v. Gertrude Berthold. Mit einem Beitrag v. Robert Kudielka. (Schriften Theodor Hetzers, Bd. 7.) Stuttgart 1992, 9−304, hier 149f. 14 José López-Rey, Velázques. Maler der Maler. Werkverzeichnis. Deutsch v. Ursula Schmidt-Steinbach. 2 Bde. Köln 1996, Nr.73 (Bd. 2, 180−183; vgl. auch Bd. 1, 107−113). 15 Vgl. Jonathan Brown, Velázquez. Painter and Courtier. New Haven, London 1986, 107−123. Deutsch u. d. T.: Velázquez, Maler und Höfling. Aus dem Engl. v. Annemarie Seling. München 1988.

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Abb. 3: Diego Velázquez: Die Übergabe von Breda (Die Lanzen) (1634/35). Öl auf Leinwand. Prado, Madrid; https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Velazquez-The_Surrenderof_Breda.jpg&filetimestamp=20091010124507 (7.3.2012).

terschiedlicher Haltung und Bewegung erkennbar. Schon dadurch lenken sie die Aufmerksamkeit auf sich, dass mehrere von ihnen nicht die Szene in der Bildmitte, sondern die Bildbetrachter ansehen. So werden wir unmittelbar einbezogen, zum „Umstand“ des dargestellten Vorgangs gemacht. Kriegsgerät wie die spärlichen Hellebarden links, der Wald von Lanzen rechts, eine Muskete, das große Banner auf der rechten Seite weisen die Männer als Soldaten aus. Auch im Bildmittelgrund sieht man zwei Trupps von Soldaten, die sich unter verschiedenen Fahnen gegenüberstehen, links mit gesenkten, rechts mit erhobenen Lanzen. Ferner geben die Rauchschwaden, die von verschiedenen Bränden in der linken Bildhälfte aufsteigen, die Situation als eine kriegerische zu erkennen. Aus beiden Gruppen treten in der Bildmitte zwei Figuren hervor: halb noch Teil ihrer Lager, halb davon abgelöst und aufeinander bezogen. Beide tragen prachtvolle

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Harnische, auf deren Vergoldungen Lichtreflexe spielen, beiden ist jeweils ein Pferd zugeordnet, von dem sie jedoch abgestiegen sind. Wir erkennen unsere Ritter wieder bzw. das, was die militärische Entwicklung daraus gemacht hat. Die prachtvollen Krägen und seidenen Schärpen, die vor den dunklen Harnischen aufleuchten, geben sie ebenso als Anführer zu erkennen, wie die Gegenstände, die sie halten: ein großer Schlüssel der linke, ein Feldherrnstab der rechte. Man braucht nicht zu wissen, dass hier Justin von Nassau und Ambrogio Spinola gemeint sind: Die tiefe Neigung des linken, der im Begriff steht, das Knie zu beugen und der dargebotene Schlüssel machen die Szene klar. Zum Exempel wird sie durch die Haltung des rechten Truppenführers. Statt seinen Triumph auszukosten, hat er den Hut abgenommen, neigt er sich dem Unterlegenen entgegen; statt den Schlüssel anzunehmen, legt er ihm die rechte Hand auf die Schulter. Wir sind gleich, sagt er damit, wie ja das gesamte Bild die beiden Gruppen trotz subtiler Unterscheidungen parallelisiert. Uns verbindet etwas über die Scheidung durch Sieg und Niederlage hinweg, auch über die Konfessionsunterschiede; Letztere werden in dem Gemälde nicht thematisiert. Aus diesem Verbindenden könnte der Frieden wachsen, der das verheerte Land im Hintergrund wieder fruchtbar macht. Das heißt, das Gemälde zeigt nicht so sehr einen militärischen als einen moralischen Sieg. Es ist der Sieg über den Konformitätsdruck des eigenen Lagers und die Zwangsläufigkeit funktional determinierter Situationen − welches Erschrecken er auf Seiten der Spanier, welches Erstaunen er auf Seiten der Niederländer auslöst, ist unter den Umstehenden dargestellt. Es ist auch ein Sieg über die versuchte Konfessionalisierung des Adels. Rittertum besteht hier darin, sich von der fortgeschrittenen Funktionalisierung unabhängig zu machen, indem man sich im gleichrangigen Gegner selbst erkennt. Selbstverständlich ist das aristokratisch-elitär. In Velázquez’ Gemälde wird es aber zu einem politischen Prinzip verallgemeinert, von dessen Vorhandensein abhängt, ob die Weltlandschaft im Hintergrund verödet oder gedeiht. Wenden wir uns zuletzt noch einer anderen Haltung zu, durch die der Adel sich dem Anpassungsdruck der Staatlichkeit entzog. Entnommen werden kann sie van Dycks Porträt der Brüder John und Bernard Stuart (Abb.4), das wahrscheinlich um 1638 entstand, annähernd gleichzeitig also wie „Die Lanzen“ von Velázquez. 16 Mit 16 Erik Larsen, The Paintings of Anthony van Dyck. 2 Vols. Freren 1988, Nr.1009 (Vol.2, 395) mit Abb.400 (Vol.1, 364); Susan J. Barnes/Nora De Poorter/Oliver Millar/Horst Vey, Van Dyck. A Complete Catalogue of

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Abb 4: Anthonis van Dyck: Porträt der Brüder John und Bernard Stuart (vor 1638). Öl auf Leinwand. © The National Gallery, London.

237 cm Höhe und 146 cm Breite stellt das Gemälde die Porträtierten in voller Lebensgröße dar. Was im 16.Jahrhundert dem Herrscher vorbehalten war, beanspruchen die hier dargestellten Adligen für sich. Auch die Stufe und die Brüstung links, das Stück hell abgesetzter Wand rechts, das an eine Säule denken lässt, spielen auf Herrscherporträts an. Vor dieser Staffage sind zwei junge Männer dargestellt. Der eine, auf der Stufe und damit über dem andern stehend (wie über den Betrachtern!), hat den rechten Arm auf die Brüstung gelegt. Er könnte ein Gegenüber sein, wenn er nicht so in die Bilddiagonale gerückt wäre, dass sein Körper und Blick immer an uns vorbeisehen. Der

the Paintings. Published for the Paul Mellon Centre for Studies in British Art.New Haven/London 2004, Nr. IV.221, S.602f. Vgl. Christopher Brown/Hans Vlieghe, Van Dyck 1599−1641. [Katalog der Ausstellung] Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen 15.Mai bis 15.August 1999 und Royal Academy of Arts, London 11.September bis 10.Dezember 1999. München 1999, Nr.97, S.320f.

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andere, einen Fuß auf die Stufe gestellt, steht zwar mit dem rechten Bein auf der gleichen Ebene wie wir Betrachter und schaut uns auch an. Doch kehrt er uns dabei buchstäblich die kalte Schulter und den Ellbogen des in die Hüfte gestemmten linken Armes zu − ebenfalls eine unmissverständliche Distanzierung. Das heißt, die beiden Porträtierten nehmen eine Haltung ein, durch die sie die Betrachter in einen Wechsel von Kontaktaufnahme und Verweigerung verwickeln. Zugewandt sind sie, bis auf ihre Blicke, nur einander; aus dieser Eintracht, die durch die Ähnlichkeit der Gesichtszüge als eine dynastische gekennzeichnet wird, bleiben die Betrachter ausgeschlossen. Dem gleichen Prinzip von Attraktion und Abstoßung folgt die Darstellung der Kleidung. So metallisch schillern unter van Dycks Lichtregie die Seiden; so harmonisch sind das Gold und Karmesin, das Silber und Blau aufeinander abgestimmt und vom Weiß der Krägen, Hemden, Handschuhe abgesetzt; so fein erscheinen Spitzen und Litzen, Säume und Bordüren, dass sie unweigerlich Entzücken erregen. Zugleich düpieren sie, weil soviel Kostbarkeit und Raffinement unnachahmlich erscheinen. Systematisch reißt van Dycks Kunst zwischen Faszination und Frustration hin und her. Sie weckt Begehren für Dargestellte, die sie unerreichbar macht. Das verhindert jede gelassene Wahrnehmung, das lässt die Porträtierten selbst ambivalent erscheinen. Einerseits signalisieren ihre Blicke Konzentration, ihre Haltungen Selbstbeherrschung, andererseits demonstrieren ihre entspannten Hände Lässigkeit. Einerseits geben die langen, weichen Haare, die großen, mandelförmigen Augen, die vollen, roten Lippen diesen Jünglingen etwas Feminines, andererseits sind sie durch Hosen, Stiefel und den Degen an der Seite des zweiten Bruders als Männer ausgewiesen. Durch ihre Haltung entziehen sie sich nicht nur der Annäherung, die sie provozieren, sie verweigern auch das Festgelegt-Werden, sogar im Hinblick auf ihr Geschlecht. Die Kunsthistoriker haben gezeigt, dass die Pose des zweiten Bruders einem Gemälde von Correggio entlehnt ist, auf dem ein hl. Georg über die Schulter zu den Betrachtern blickt, während er mit dem linken Fuß den besiegten Drachen niederhält. Aber man braucht diesen ikonographischen Hinweis nicht, um an den sporenbesetzten Stiefeln den Reiter, an dem metallisch schimmernden Wams eine Erinnerung an den Harnisch, an der überlegenen Haltung den Adligen zu erkennen. Der Ritter hat sich in den Kavalier verwandelt. Seine Rüstung ist die Mode geworden. Er benutzt sie, um durch unerreichbare Eleganz Überlegenheit zu demonstrieren. Vor

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allem aber verausgabt er sich an Äußerlichkeiten, um einen Bezirk freizukämpfen, der allen erotischen, ständischen, politischen und damit auch konfessionellen Festschreibungen enthoben ist. Der À-la-mode-Kavalier wird zum Libertin, der beansprucht, die Ausnahme zu sein. Man kann sich gut vorstellen, welchen Hass er bei den Puritanern mit ihrem Bekenntniszwang und ihrer Knickerigkeit ausgelöst hat. Der mit dem Transzendenzverlust ringende Hofmann, der Konfessionskrieger, der ritterliche Soldat, der Kavalier – vier Typen schälen sich heraus, wenn man fragt, welche Haltungen der Adel in der Frühen Neuzeit gegenüber der Staatsbildung annahm. In diesem Beitrag wurden sie in eine zeitliche Reihenfolge gerückt. Das soll nicht heißen, dass sie nicht in verschiedenen Umgebungen auch gleichzeitig vorgekommen sein können. Dennoch liegt in den Unterschieden nach Meinung des Verfassers ihre historische Signatur. Bedeutung für uns haben sie alle. Denn wie auf universalisierbare Weise Unabhängigkeit gegenüber dem Leviathan zu erlangen ist, das bleibt eine brennende Frage.

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Zwischen Bronzestatue und Aktionskunst: Bildhafte Inszenierungen adeliger Lebenswelten in England im 19. und 20.Jahrhundert von Andreas Fahrmeir

Im „bürgerlichen Zeitalter“ wandelte sich die Funktion des Adels; gleichzeitig verschob sich die von Bildern, und beides hatte mit Prozessen der „Modernisierung“ zu tun. Für den Adel war das zentrale Problem das Ende eines Automatismus, der Funktionen an ständische Kategorien gekoppelt hatte. Die Vergabe von zentralen Positionen in Politik, Verwaltung und Militär erfolgte im 19. und 20.Jahrhundert zunehmend auf der Grundlage von (vermeintlich) meritokratischen Prüfungs- und Auswahlverfahren: Wer bei einer Prüfung die besten Ergebnisse erzielte oder wer im Zuge der Ausbildung die besten Noten erhalten hatte, sollte in aller Regel den Zuschlag bekommen, unabhängig davon, ob er aus einer adeligen, bürgerlichen oder unterbürgerlichen Familie stammte. Waren Vorstellungen von Adeligkeit im ancien régime noch weitgehend davon ausgegangen, dass besonders eklatante Abweichungen zwischen kollektiver adeliger Verhaltensnorm und individuellen Charakterzügen durch eine Verschiebung der Standesgrenzen ausgeglichen würden, so dass eine besondere (quasi adelige) Leistung zur Aufnahme in den Adelsstand führen müsse, so wurde im 19.Jahrhundert die Leistung des Adels im Vergleich zu anderen Wirtschafts- und Funktionseliten nicht nur messbar, sondern auch zum Gegenstand einer immer intensiveren (bürgerlichen, seltener unterbürgerlichen) Kritik, welche Müßiggang, Frivolität und Unbildung als adelige Eigenschaften identifizierte und aus diesem negativ gefärbten Adelsbild den Schluss zog, die Präsenz des Adels im Militär, im zivilen Staatsdienst und bei Hof müsse das Ergebnis der irrationalen Bevorzugung einer überlebten Kaste sein. 1 Im Rahmen dieser Diskussion wurde die Diffe-

1 Vgl. Karina Urbach, Adel versus Bürgertum. Überlebens- und Aufstiegsstrategien im deutsch-britischen Vergleich, in: Franz Bosbach/Keith Robbins/Karina Urbach (Hrsg.), Geburt oder Leistung? Elitenbildung im deutsch-britischen Vergleich. (Prinz-Albert Studien, 21.) München 2003, 25−42.

oldenbourg DOI 10.1524/9783486716320.99

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renzierung zwischen dem real existierenden Adel und ‚Adeligkeit‘ als Ausweis der Zugehörigkeit zu einer ‚echten‘ Elite, wie sie bei Max Weber begegnet, formuliert (und formulierbar). 2 Für Bilder war dagegen der Beginn eines Automatismus entscheidend. An die Stelle der bislang in mühevoller Handarbeit hergestellten Abbildungen von Personen durch Gemälde, Statuen, Büsten und Reliefs, die mittels Holzschnitten, Lithographien oder Kupferstichen (begrenzt) reproduzierbar waren und ihren bewussten Konstruktionscharakter kaum verheimlichten, traten automatische Verfahren der ‚realistischen‘, scheinbar unmittelbaren Abbildung von Personen, zunächst durch die Daguerrotypie, dann durch die Photographie. 3 Die Technisierung von Abbildungsprozessen machte die Bilder vieler Personen aus allen Ständen für öffentliche, private und wissenschaftliche Zwecke verfügbar, nutzbar und vergleichbar. Diesen doppelten Modernisierungsprozess nimmt dieser Aufsatz zum Anlass, zu fragen, was neu war am Adel (I.), was neu war an den Bildern (II.) und schließlich wie (bzw. ob) sich beide Innovationen in einem Land – England – zu neuen Adelsbildern zusammenfügten (III.).

I. Neuer Adel Die neue Adelsforschung hat die These vom Abstieg des Adels im 19. und 20.Jahrhundert radikal in Frage gestellt. 4 Sie greift dabei ältere Diskussionen über die Frage auf, warum die Kombination eines seit dem 17.Jahrhundert konstatierten stetigen Aufstiegs der Mittelschichten und eines ununterbrochen fortschreitenden

2 Vgl. hierzu die Einleitung von Peter Scholz und Johannes Süßmann, oben S. 23−25. 3 Überblicke bei Jens Jäger, Gesellschaft und Photographie. Formen und Funktionen der Photographie in Deutschland und England 1839−1860. Opladen 1996; ders., Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung. Tübingen 2000. 4 Beispielsweise David Cannadine, The Decline and Fall of the British Aristocracy. New Haven 1990; dagegen Arno J. Mayer, The Persistence of the Old Regime: Europe to the Great War. London 1981; Dominic Lieven, The Aristocracy of Europe. New York 1993; Peter Mandler, The Fall and Rise of the Stately Home. New Haven 1997; Heinz Reif, Adel und Bürgertum im 19. und 20.Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 55.) München 1999; ders. (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland. 2 Bde. Berlin 2000/01; Eckart Conze, Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert. Stuttgart 2000; Eckart Conze/Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20.Jahrhundert. Köln 2004.

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Abstiegs des Adels nicht rascher zu einem Tausch gesellschaftlicher Rollen führte. 5 Stattdessen drängt sich der Eindruck auf, dass die eine Gruppe nie oben, die andere nie unten ankam. (Nur am Rande sei hier angemerkt, dass die vielfach totgesagte Institution der Monarchie eine ähnliche Beharrungskraft bewiesen hat und sich einer ähnlichen wissenschaftlichen Renaissance erfreut. 6) Statt mit Hans-Ulrich Wehler von einer „Schlußphase“ der „Agonie“ des Adels im frühen 20.Jahrhundert auszugehen 7, hat die Adelsforschung demonstriert, was sich aus der Tatsache ergab, dass die Abschaffung des Adels als Stand mit besonderen Vorrechten bis 1945 in keinem west- oder mitteleuropäischen Land mit einem gravierenden Eingriff in dessen – nun ‚private‘ – Besitzverhältnisse verbunden war. Wo solche Eingriffe zunächst, wie im Frankreich der Revolution, stattfanden, wurden sie zumindest partiell rückgängig gemacht. 8 Privilegien, die sich aus Vermögen ergaben, das in der Klassengesellschaft des 19.Jahrhunderts erheblichen Einfluss auf individuelle Karrierechancen hatte, blieben somit bestehen – sofern adelige Familien in der Lage waren, mit ihrem Besitz zu haushalten und sich beizeiten an wirtschaftlichen Wandel anzupassen. Dieses Problem war freilich kein spezifisch adeliges, sondern betraf bürgerliche Familien ebenfalls; Familien aus dem Unternehmermilieu gelang es in der Praxis nur selten, einmal erworbenes Vermögen über mehrere Generationen der ‚schöpferischen Zerstörung‘ des Kapitalismus zu entziehen. 9 Ähnliches lässt sich für die Rolle in der (lokalen) Verwaltung konstatieren. Die Adelsprärogativen in der preußischen Lokalverwal-

5 J. H.Hexter, The Myth of the Middle Class in Tudor England, in: ders., Reappraisals in History. London 1961, 71−116, bes. 75. 6 Jeremy Paxman, On Royalty. London 2006; David Cannadine, From Biography to History. Writing the Modern British Monarchy, in: Historical Research 77, 2004, 289−312. 7 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914−1949. München 2003, 323. 8 Almut Franke-Postberg, Le milliard des émigrés. Die Entschädigung der Emigranten im Frankreich der Restauration (1814−1830). Bochum 1999. 9 Als literarische Muster des nachgerade zwangsläufigen relativen Niedergangs von bürgerlichen Familien kann man auf Thomas Manns Buddenbrooks, Emile Zolas Rougon Macquart oder John Galsworthys Forsyte Saga verweisen. Exemplarische ökonometrische Untersuchungen sind Julian Hoppitt, Risk and Failure in English Business, 1700−1800. Cambridge 1987; Margrit Schulte Beerbühl, Deutsche Kaufleute in London. Welthandel und Einbürgerung (1660−1800). München 2007, 347−400; W. D. Rubinstein, Men of Property. The Very Wealthy in Britain since the Industrial Revolution. London 1981, 135; René Schiller, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19.Jahrhundert. Berlin 2003.

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tung wurden erst 1926 entscheidend beschnitten 10; die Rolle von Adeligen als Notablen mit einem erheblichen Einfluss auf Wahlen und Lokalverwaltung blieb auch andernorts bestehen. In Großbritannien kam es gegen Ende des 19.Jahrhunderts sogar zu einer bemerkenswerten Rückkehr des ‚alten‘ Adels in ‚neue‘ Rathäuser. 11 Adelsprivilegien schließlich, die sich aus der Zugehörigkeit zu interpersonellen Netzwerken ergaben, überlebten den Übergang zur demonstrativen Meritokratie ebenso. Zwar waren Netzwerke durch die zunehmende Professionalisierung der staatlichen Verwaltung, des Militärs, der Landwirtschaft und der Wirtschaft prinzipiell permanent gefährdet – allerdings nur, wenn das in den kompetitiven Aufnahmeprüfungen für Fachschulen, Universitäten oder Berufszweige abgefragte Wissen tatsächlich die dort erforderlichen Kompetenzen erfasste und persönliche Verbindungen nicht Teil der Stellenbeschreibung waren. Genau dies war aber gerade in den Bereichen, in denen der Adel besonders erfolgreich war (etwa im Auswärtigen Dienst) der Fall – hier konnte ‚who you know‘ entscheidender sein als ‚what you know‘. 12 Es ist zumindest auffällig, dass der britische öffentliche Dienst nach dem Zweiten Weltkrieg teilweise von der Praxis kompetitiver Examina abrückte und Anwärter auf Spitzenposten wiederum auf informellen Rekrutierungswochenenden im Landhausambiente auswählte. 13 Das kann belegen, dass Meritokratie ein Ziel blieb, dessen Realisierung durch Verschwörungen unterschiedlichen Zuschnitts behindert wurde 14 – muss es aber nicht. Es könnte auch dokumentieren, dass eine in einem bestimmten, beispielsweise adeligen, Milieu verbrachte Kindheit und Jugend besondere Qualifikationen für Ämter vermittelte, bei denen ein gewisser Habitus, eine

10

Conze, Von deutschem Adel (wie Anm.4), 93−101.

11

David Cannadine, Lords and Landlords. The Aristocracy and the Towns 1774−1967. Leicester 1980, 241.

12

Vgl. Magnus Brechtken, Außenpolitik zwischen „alter“ und „neuer“ Diplomatie. Die Elite des britischen

außenpolitischen Dienstes vom 19.Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Bosbach/Robbins/Urbach (Hrsg.), Geburt oder Leistung (wie Anm.1), 129−158, 134−137; Magnus Brechtken, Scharnierzeit 1895−1907: Persönlichkeitsnetze und internationale Politik in den deutsch-britisch-amerikanischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg. Mainz 2006, 128−272. 13

Richard Chapman, Leadership in the British Civil Service: A Study of Sir Percival Waterfield and the

Creation of the Civil Service Selection Board. London 1984. 14

Etwa Walter Ellis, The Oxbridge Conspiracy: How the Old Universities Have Kept their Stranglehold

on the Establishment. London 1994.

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gewisse Weltsicht und ein breites Netz internationaler Verwandtschaftsbeziehungen entscheidende Vorteile boten. 15 Dass das „bürgerliche“ 19.Jahrhundert ebenso wenig wie das 20.Jahrhundert ein anti-adeliges Jahrhundert war, und dass es sich durchaus lohnt, einen Blick auf bislang vernachlässigte Bereiche wie den Adel und den ländlichen Raum zu lenken, hat die neuere Adelsforschung zur Genüge belegt, zumal gerade mit Blick auf die Zwischenkriegszeit von Stefan Malinowski, Karina Urbach oder Michael Mann die entscheidende Rolle der „alten“ Eliten für den Weg in oder das Zurückscheuen vor Faschismus und Nationalsozialismus betont worden ist. 16 Allerdings gilt es, trotz aller Kontinuitäten einen Wandel zu betonen: Im Laufe des 19.Jahrhunderts änderte sich die Zusammensetzung des Adels. Neuere und nicht mehr ganz so neue Forschungen zur Frühen Neuzeit belegen, dass Standesgrenzen nicht hermetisch waren, sondern ein – je nach Standpunkt des Betrachters – moderates oder erhebliches Maß an gesellschaftlicher Mobilität ermöglichten. Obgleich Ged Martins Darstellung des britischen Oberhauses des 18. und 19.Jahrhunderts als „life peerage“ avant la lettre die Dinge sehr zuspitzt 17: die ständische Gesellschaft war besonders im 18.Jahrhundert durch gesellschaftliche Mobilität nach unten wie nach oben geprägt. Solange man in den Adel hineinwachsen und aus ihm herausfallen konnte, konnten im Adel Geburtselite, Vermögenselite und Funktionseliten zusammenfallen, so dass die Vorstellung des Adels als homogene Abstammungselite überall eine Fiktion sein musste. 18 Das veränderte sich im Übergang vom 19. zum 20.Jahrhundert. Als Monarchien Republiken wichen und die Nobilitierungspraxis weniger die automatische Anpas-

15 Karina Urbach, Bismarck’s Favourite Englishman: Lord Odo Russell’s Mission to Berlin. London 1999, 5−22. 16 Stefan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. 3.Aufl. Berlin 2003; Karina Urbach, European Aristocracies and the Radical Right in the Interwar Years, in: German Historical Institute London, Bulletin 27/ 1, 2005, 133−140; Michael Mann, Fascists. Cambridge 2004. 17 Ged Martin, Bunyip Aristocracy. The New South Wales Constitution Debate of 1853 and Hereditary Institutions in the British Colonies. Sydney 1986, 6f. 18 Michael McCahill/Ellis Archer Wasson, The New Peerage: Recruitment to the House of Lords, 1704− 1847, in: Historical Journal 46, 2003, 1−38; W. D. Rubinstein, Wealth and Inequality in Britain. London 1986, 22, 32f. ; Luciano Allegra, Un modèle de mobilité sociale préindustrielle: Turin à l’époque napoléonienne, in: Annales. Histoire. Science Sociales 60, 2005, 443−474; Ronald Mousnier, Les institutions de la France sous la monarchie absolue. Vol.1: Société et Etat. Paris 1974, 104−109, 121, 139.

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sung des formalen Rangs an die eigentliche gesellschaftliche Funktion zum Gegenstand hatte, sondern gezielt individuelle Belohnungen zum Ausdruck bringen sollte, musste der Adel – bei allen nationalen, regionalen und lokalen Unterschieden der bis heute kontrovers diskutierten Nobilitierungspolitik 19 – seine Rolle als Funktionselite verlieren und zu einer sozialen Gruppe werden, die ihren Anspruch auf eine Sonderstellung primär historisch und allenfalls sekundär durch den Verweis auf aktuelle Leistungen begründen konnte. Dazu kam, dass die Mitgliedschaft im Adel mit dem Sturz der jeweiligen Monarchie (mithin in den USA 1776, in Frankreich 1848/ 71, in Deutschland 1918) in einer Weise festgeschrieben wurde, die es in dieser Exklusivität vorher nie gegeben hatte. Für das Nachdenken über Adelsbilder in der Moderne ergeben sich daraus zwei mögliche Konsequenzen: Man könnte, mit der Absicht, das Ausmaß des Wandels zu betonen, den Blick auf Länder richten, welche eine frühe Republikanisierung und das rasche Aufgehen des Adels in einer nur noch zum Teil formal adeligen Notablenschicht erlebten. Das würde bereits im frühen 19.Jahrhundert auf Frankreich oder Norditalien zutreffen. 20 Die hier gewählte Alternative ist, mit England ein Land in den Mittelpunkt zu stellen, in dem der Adel länger Züge einer Funktionselite behielt, in die besonders vermögende oder sonst bedeutende Männer automatisch integriert wurden. In diesem Fall kann man noch am ehesten vermuten, dass es Adelsbildern auch im späten 19. und 20.Jahrhundert gelingen könnte, Adeligkeit als universalisierbaren Anspruch zu projizieren, so dass ein Vergleich mit den vorherigen Studien eher möglich scheint.

II. Neue Bilder Bislang war in diesem Band die Rede von Epochen, in denen die Existenz großformatiger Abbildungen von mehr oder weniger deutlich identifizierbaren Individuen per se Zeichen herausgehobenen sozialen Status waren. Das ergab sich aus dem hohen Aufwand, der betrieben werden musste, um bildliche Darstellungen von Personen herzustellen; es hieß freilich nicht, dass die Verbreitung solcher Bilder begrenzt

19

Zuletzt mit weiterer Literatur Dieter Hertz-Eichenrode, Wilhelminischer Neuadel? Zur Praxis der Adels-

verleihung in Preußen vor 1914, in: Historische Zeitschrift 282, 2006, 645−680. 20

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Vgl. André Jardin/André-Jean Tudesq, La France des notables. 1: L’évolution générale. Paris 1973.

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war. Zumal im 18. und 19.Jahrhundert wurden zahlreiche Reproduktionen von Gemälden und Statuen hergestellt, um einen Hof, einen Künstler, eine Person oder eine soziale Schicht bekannt zu machen. Vor allem Monarchen und hohe Adelige waren daher landesweit zu erkennen, was sich beispielsweise für Ludwig XVI. bei seiner Flucht bitter rächen sollte. 21 In diesem Bereich war das 19.Jahrhundert eine Epoche rasanter Veränderung. Zwar wurden Photographien mit Hilfe von Studiomobiliar und Studiokostümen gestaltet und gestellt. Dennoch erlaubte die Photographie bei der Darstellung der Gesichtszüge ein neues Maß an Realismus bei dramatisch sinkenden Aufnahme- und Reproduktionskosten. Das erlaubte es 1914 sogar, es in weiten Teilen Europas jeder (mobilen) Person zur Pflicht zu machen, eine Photographie der eigenen Gesichtszüge in der Form eines Passbildes bei sich zu tragen. Zugleich machte es die Photographie – eben durch die Requisitenkammern der Photographenstudios – möglich, die ohnehin prekäre Grenze zwischen der bildlichen Repräsentation einer ‚echten‘ Persönlichkeit und der Aufnahme einer Verkleidung komplett in Frage zu stellen. Diese Grenze wurde durch wachsende Achtung vor der Fiktionalisierung von Realität – ablesbar beispielsweise am Aufstieg von Schauspielerinnen und Schauspielern zu bürgerlichen Künstlern oder am Siegeszug des Romans als nachgerade idealem Zugang zur Realität – ohnehin prekär. Auf einer Photographie, welche die Prüfung der Echtheit von Schmuck oder der Qualität von Gewändern beinahe noch weniger erlaubte als ein Portrait, war eine in künstlerischer Tradition als Kleopatra ‚verkleidete‘ Gräfin kaum von einer Schauspielerin in Arbeitskleidung zu unterscheiden, wenn man nicht in der Lage war, beide Personen zu identifizieren. 22 Die neuen Methoden der Bildproduktion und -reproduktion erlaubten so einen spielerischen Umgang mit bildlichen Darstellungen. In den als Sammlungsobjekten beliebten „cartes de visite“ des späten 19.Jahrhunderts – Visitenkarten mit ernsten und weniger ernsten Photographien – ließen sich die Inhaber im Porträt, in Denkerpose, aber auch in Verkleidung als Boxer, Fechter oder Schauspieler darstellen; derselbe ironische Umgang mit Posen kennzeichnete Aufnahmen von Insassinnen und

21 Timothy Tackett, When the King Took Flight. Cambridge, Mass. 2003. 22 Vgl. Peter Hamilton/Roger Hargreaves, The Beautiful and the Damned. The Creation of Identity in Nineteenth-Century Photography. Aldershot 2001, 8, 41.

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Insassen von Irrenhäusern oder Gefängnissen, die von Photographen dazu gebracht wurden, klassische Posen einzunehmen. 23 Zwar machte es die Photographie leichter, mit Posen und Klischees zu spielen, Klassengrenzen zu unterlaufen und Insider als Außenseiter erscheinen zu lassen (oder umgekehrt). Zugleich garantierte die Photographie nicht nur eine eindeutige Wiedererkennung von Gesichtszügen, sondern schien auch ein so realistisches Abbild der menschlichen Physiognomie wie des menschlichen Körpers insgesamt abzugeben, dass anhand von Photographien Reihenuntersuchungen möglich wurden. Photographie erlaubte die bildliche Feststellung von individueller Identität und die Suche nach dem physiognomischen Ausdruck kollektiver Identitäten. Bekanntlich fand der Aufstieg des bürgerlichen, aber auch adeligen Portraitphotos gleichzeitig mit dem Aufstieg des Polizeiphotos statt. (Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 wurde die Beziehung offenkundig, als Familienporträts auseinandergeschnitten werden mussten, um Passphotos zu erstellen. 24) Dabei handelte es sich nicht nur um die Anwendung einer Technik auf ganz unterschiedliche gesellschaftliche Lebensbereiche, sondern auch um Versuche der Feststellung der Ursprünge der Unterschiede zwischen beiden Welten. Bilder ‚großer Männer‘ (seltener: bedeutender Frauen), also von Wissenschaftlern, Entdeckern, Militärs oder auch den Angehörigen des Adels ließen sich mit Hilfe von Photos sammeln, zusammenstellen 25 und – vergleichen. Dabei ging es sowohl um die Identifikation individueller Eigenarten, welche die zweifelsfreie Identifikation bekannter Personen (etwa von Straftätern) anhand des Vergleichs des photographischen Abbilds mit dem Gesicht erlauben sollte, als auch um die Feststellung der kollektiven Züge der Unter- wie der Oberschichten. Den Versuchen, durch Bildvergleich oder Kompositbilder die Physiognomie des ‚anderen‘, des Verbrechers oder des Geisteskranken, zu enttarnen, die etwa Cesare Lombroso betrieb 26, entsprach das wesentlich breitere Programm von 23

Beispiele in ebd.30f., 83.

24

Martin Lloyd, The Passport: The History of Man’s Most Travelled Document. Stroud 2003, 104−107.

25

Z.B. Thompson Cooper, Men of Mark. A Gallery of Contemporary Portraits of Men Distinguished in the

Senate, the Church, in Science, Literature and Art, the Army, Navy, Law, Medicine, etc. Photographed from Life by Lock and Whitfield, with Brief Biographical Notices by Thompson Cooper. 7 Serien. London 1876− 1883; vgl. Hamilton/Hargreaves, Beautiful (wie Anm.22), 36−39. 26

Zu Identifikationstechniken und Kriminaltechnologie vgl. Simon A. Cole, Suspect Identities. A History

of Fingerprinting and Criminal Identification. Cambridge, Mass. 2001, bes. 73−92; allgemein Peter Becker, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19.Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002.

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Charles Darwins Cousin Francis Galton, mittels Kompositphotographien das Aussehen ‚typischer‘ oder ‚idealer‘ negativer wie positiver Beispiele von Menschen oder Pferden wissenschaftlich zu ermitteln. 27 Wie bei anderen gesellschaftlichen Gruppen wirft die Verfügbarkeit von Bildern aus öffentlichen, halböffentlichen und privaten Kontexten auch für den Adel die Frage auf, wo man vor diesem Hintergrund nach Adelsbildern suchen kann. Gerade die immer häufigeren Photos für den Familien- oder Freundeskreis, die eher privat ausgestellt und aufbewahrt als öffentlich präsentiert wurden, waren zumindest auf den ersten Blick kaum zur Projektion spezifischer Ansprüche des Adels intendiert, die über einen Bezug auf Familientradition und Familienmitglieder hinausgingen. (Dieser Bezug wurde übrigens auch von bürgerlichen Familien gepflegt, die meist ähnliche photographische Sammlungen anlegten.) Öffentliche Repräsentationen von Adeligkeit wurden dagegen seltener und in dem Maße schwerer zu identifizieren, als Portraits für bürgerliche Familien erschwinglich und üblich wurden und öffentliche Bilder weniger den Stand als eine spezifische Leistung oder Funktion in den Mittelpunkt stellten.

III. Neue Adelsbilder Da es quantitativ schwer möglich ist, einen umfassenden Überblick der Adelsbilder und ihrer Beziehung zu einem adeligen Projekt selbst in einem Land zu bieten, sollen im Folgenden anhand des Beispiels einer Familie, der Familie Curzon an der Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert, einige Thesen präsentiert werden, die gewiss durch die künftige Forschung und andere Fallstudien modifiziert werden dürften, dennoch für breitere Teile des englischen Adels in ähnlicher Form zutreffen könnten. George Nathaniel Curzon (1859−1925) ist allgemein bekannt: als Vizekönig von Indien um 1900, als Minister im Ersten Weltkrieg, als radikaler, wenn auch kompromissbereiter Gegner der irischen Autonomie und des Frauenwahlrechts oder als konservativer Außenminister, der eine seither als Curzon-Linie bekannte polnischsowjetische Grenze vorschlug. Feinschmecker mit archaischem Geschmack und

27 Hamilton/Hargreaves, Beautiful (wie Anm.22), 70.

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wenig Interesse an Artenschutz kennen seine Gattin, Lady Curzon, geborene Leiter, als Namensgeberin einer Variante der Schildkrötensuppe. 28 Curzon entstammte einer alteingesessenen Grundbesitzerfamilie in Derbyshire, der im 18.Jahrhundert – ähnlich wie der Familie Grosvenor, die zu den Herzögen von Westminister wurden – aufgrund steigenden Einkommens aus Grundbesitz und einer repräsentativen Lebensführung, die sich im Bau des „Landhauses“ Kedleston Hall niederschlug, der Aufstieg ins Oberhaus gelang. Bis zu George Nathaniels Geburt ging es mit der Familie dann sachte bergab. Das änderte nichts an der Ausbildung in Eton und Oxford, erschwerte aber den Beginn einer politischen Karriere im Unterhaus. Der bislang Curzons Familie verpflichtete Wahlkreis war nicht mehr zu gewinnen, seit die Wahlrechtsreform vom 1884 die Mehrheit der Stimmen an Fabrikarbeiter vergeben hatte; zugleich reichte das Familieneinkommen nicht aus, um in einem konservativen Wahlkreis als Anwärter auftreten zu können, der das notwendige Vermögen mitbrachte, um sich dem lokalen Auswahlkomitee, das entsprechende Zuwendungen erwartete, als Kandidat zu empfehlen. Curzons Selbstverständnis als Aristokrat war ambivalent. Seine Erwartung persönlicher Höchstleistungen ergab sich kaum aus der Familientradition, die er als eher wenig distinguiert ansah. Anders als die Cavendishs 29 (die Herzöge von Devonshire, direkte Konkurrenten der Curzons um politischen Einfluss in der Region 30) oder Russells 31 (die Herzöge von Bedford) zeichneten sich die Curzons bis ins 19.Jahrhundert kaum durch Spitzenleistungen in Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft aus. Auf diesem Gebiet betrat George Nathaniel, der in Oxford Bestnoten erzielte und zahlreiche Preise erwarb, Neuland. Das setzte sich fort: Nach dem Abschied von der Universität brach er zu ausgedehnten Reisen auf, die ihn unter anderem in bislang im Westen unbekannte Teile Zentralasiens führten und deren kommerzieller Erfolg in Form von Reiseberichten ihm den Beginn einer politischen Kar-

28

Die maßgebliche Biographie ist David Gilmour, Curzon. London 1994; die neueste Literatur findet sich

in ders., Art.„Curzon, George Nathaniel, Marquess Curzon of Kedleston (1859–1925)“, in: Oxford Dictionary of National Biography, Online Edition (künftig: ODNB) [http://www.oxforddnb.com/view/article/ 32680, 25. Mai 2007].

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29

Vgl. Christa Jungnickel/Russell McCormmach, Cavendish. The Experimental Life. Philadelphia 1999.

30

Gilmour, Curzon (wie Anm.28), 2.

31

Urbach, Englishman (wie Anm.15), 3−22.

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riere erlaubte. 32 Er heiratete auch außerhalb des englischen Adelsmilieus, denn Lady Curzon, geborene Leiter, war die Tochter eines amerikanischen Millionärs. 33 Allerdings war Curzon Tradition im abstrakteren Sinne überaus wichtig. Er kaufte eine Reihe von Landsitzen, deren Geschichte er akribisch aufarbeitete 34 und die er aufwendig restaurierte. Zudem ging er – was besonders während seiner Amtszeit in Indien deutlich wurde – von einem großen Abstand zwischen einer internationalen Aristokratie, der auch die indischen Oberschichten angehörten, und einer nach seinen Vorstellungen biederen und in der Tendenz rassistischen Mittelklasse aus. 35 Gerüchte besagten, er sei lange von einer biologischen Differenz zwischen englischen Ober- und Unterschichten ausgegangen, welche sich in der Hautfarbe äußere. 36 Das Programm der Bewahrung einer auf die Leistung einer ‚natürlichen‘ Aristokratie gegründeten Gesellschaft war die Botschaft der indischen Krönungsfeierlichkeiten für Eduard VII., dessen „Durbar“ Curzon als Vizekönig in Delhi um die Jahreswende 1902/03 organisierte. Diesem Verweis auf die Standesvergangenheit – die Curzon auch konkret begegnete, denn der Regierungssitz des Vizekönigs in Kalkutta war eine Nachbildung von Kedleston Hall – entsprachen die am weitesten verbreiteten Abbildungen Curzons, die ihn in prächtigen Gewändern oder in der Umgebung indischer Fürsten zeigen, in konventioneller und etwas starrer (durch ein Rückenleiden mitverursachten) Körperhaltung (Abb.1). Dieses in Photographien, Portraits und Statuen aufzufindende Bild zeigte den Adeligen als natürlichen und verdienten Träger von Herrschaft kraft Geburt (und Leistung). Dieses Adelsbild war bereits zu Curzons Zeiten umstritten. Es bot Anlass zu Spottgedichten 37 und Karikaturen. Der Versuch der Repräsentation einer hierarchischen

32 Vgl. etwa George Nathaniel Curzon, The Karun River and the Commercial Geography of South-West Persia. London 1890. 33 Valerie Bonham, Art.„Curzon, Mary Victoria, Lady Curzon of Kedleston (1870–1906)“, in: ODNB (wie Anm.28) [http://www.oxforddnb.com/view/article/57521, 25. Mai 2007]. 34 Zum Beispiel George N. Curzon, Walmer Castle and its Lords Warden. London 1927; vgl. Gilmour, Curzon (wie Anm.28), 176−181, 293, 397−399. 35 Gilmour, Curzon (wie Anm.28), bes. 147f., 171f., 204−207, 228f.; zur Verbreitung solcher Vorstellungen in der englischen Aristokratie vgl. David Cannadine, Ornamentalism: How the British Saw Their Empire. London 2002. 36 Margaret MacMillan, Paris 1919: Six Months that Changed the World. Toronto 2003, 438. 37 „My name is George Nathaniel Curzon / I’m a most superior person / My cheek is pink, my hair is sleek, / I dine at Blenheim once a week.“ − Als Autoren werden zwei Studienkollegen Curzons, J. D. Mackail und Cecil Spring Rice, vermutet, vgl. Gilmour, Curzon (wie Anm. 28), 30.

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Abb. 1: Raja Deen Dayal: Lord Curzon with Maharaja of Gwalior after a hunting sport. 1901. Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/ File:Lord_Curzon_Hunting_1901.jpg (30.3.2012).

Gesellschaft im Empire gilt nicht nur Historikern wie Niall Ferguson als „Tory-entalism“ 38; bereits die Zeitgenossen kritisierten die in Delhi vorgenommene „Curzonization“ Eduards VII. 39 Curzon selbst reagierte auf den Schock des Ersten Weltkrieges mit einem radikalen Wandel. Von ihm gestaltete öffentliche Repräsentationen – vor allem der Entwurf der Gedenkfeiern am Cenotaph in Whitehall – waren nun betont schlicht und ignorierten bewusst gesellschaftliche Hierarchien. 40 Während Curzon dieser Wandel leichtgefallen sein mag, denn von dem Übergang in eine reine Meritokratie hatte er persönlich ja nichts zu befürchten, war die Folge für Familienstrategien notwendigerweise komplexer. Im Falle Curzons kam hinzu, dass aus der Ehe mit Mary Leiter drei Töchter hervorgingen und die zweite Ehe kinderlos blieb. Daher gab es im Hause Curzon keinen männlichen Erben; allerdings war Männermangel nach dem Ersten Weltkrieg keine Seltenheit. Curzons älteste Tochter konnte zwar nach dem Zweiten Weltkrieg als eine der ersten Frauen ihren Sitz im Oberhaus einnehmen. Zudem war Frauen – zumal vermögenden Frauen – in Großbritannien seit dem Kriegsende politische Aktivität erlaubt. Dennoch brach die Tradition politischer Ämter in der Familie Curzon zunächst ab, so dass der Anlass für quasi-offizielle Individual- oder Familienportraits, aus denen der

110

38

Niall Ferguson, Empire: How Britain Made the Modern World. London 2004, 211.

39

Gilmour, Curzon (wie Anm.28), 239.

40

Ebd.499f.

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Adelsstatus hervorgegangen wäre, fehlte. Stattdessen gab es zahlreiche Bilder, welche die Curzon-Töchter bei Betätigungen zeigten, welche vornehmlich, aber nicht ausschließlich, Adelspraktiken waren: Jagd, Fernreisen oder das Baden in „Landhausschwimmbädern“. 41 Das verweist auf das – in Werken wie „Brideshead Revisited“ dargebotene und jüngst von Sonja Levsen sorgfältig auf seinen Realitätsgehalt befragte – Bild der Angehörigen des Adels und der ihm assimilierten Vermögenselite als Personen, deren hervorstechendes Merkmal „conspicuous consumption“ war: ein Lebensstil, der Landhausaufenthalte, Fernreisen, Luxuskreuzfahrten, Jagd, Sport und gesellschaftliche Ereignisse beinhaltete, mithin Müßiggang ohne besonderes Ziel und Ergebnis in den Mittelpunkt stellte. 42 Dieses Verhalten wurde Gegenstand eines wachsenden und in Großbritannien zunehmend positiven Medieninteresses. 43 Hatte im Krieg noch die Kritik an adeligem Luxusleben auch in der konservativen und liberalen Presse überwogen 44, so schilderte die Boulevardpresse nun den Lebensstil der jeunesse dorée beinahe als Ideal, auf alle Fälle aber als Möglichkeit zum stellvertretenden Erleben von Abenteuern unterschiedlichster Art. Allerdings ist es möglich, dass sich dieses Bild aus einem insgesamt uneinheitlichen Forschungsstand ergibt. Während Curzon senior in einer Reihe älterer und neuerer Studien behandelt wurde, gilt das für seine Töchter nicht. Die bislang einzige Kollektivbiographie, die ihnen gewidmet ist, steht selbst in der Tradition sensationeller und mitfühlender Lebensbeschreibungen und bricht bezeichnenderweise mit dem Ende der in dieser Hinsicht ergiebigen 1930er Jahre relativ abrupt ab. 45 Unklar ist zudem, wie sich dieser der Lebensstil und seine private wie mediale Repräsentation in ein Gesamtkonzept adeliger Aufgaben einordnen lässt. Eine der Töchter Curzons, Cynthia Blanche, heiratete den aus Kreisen des niederen Adels

41 Anne de Courcy, The Viceroy’s Daughters. The Lives of the Curzon Sisters. London 2000, bes. Abb.18− 20, 24. 42 Sonja Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg: Tübinger und Cambridger Studenten 1900−1929. Göttingen 2006, 36−44, 197−201; Evelyn Waugh, Brideshead Revisited. The Sacred and Profane Memories of Captain Charles Ryder. A Novel. London 1945. 43 Peter Mandler, The Fall and Rise of the British Aristocracy, in: Conze/Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne (wie Anm 4), 41−58, 47f. 44 Gilmour, Curzon (wie Anm.28), 470. 45 De Courcy, Viceroy’s Daughters (wie Anm.41).

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stammenden Sir Oswald Ernald Mosley. 46 Bekanntlich begann Mosleys politische Karriere standesgemäß in der konservativen Partei; auf der Suche nach einer raschen Karriere wechselte er Ende der 1920er Jahre zu Labour, bevor er sich, auch von Labour enttäuscht, daran machte, eine faschistische Massenbewegung ins Leben zu rufen. In Mosleys ‚linker‘ Phase erlangte seine Frau ebenfalls ein Parlamentsmandat. Auf dem Gruppenbild der weiblichen Labour-Abgeordneten des Jahres 1929 steht Cynthia Blanche ganz links und hebt sich allenfalls durch den Pelzkragen, die etwas heller glänzenden Schuhe und das etwas modischer geschnittene Gewand von ihren Kolleginnen ab – also durch Zeichen des Wohlstandes, nicht des Standes. 47 Die politische Rolle Cynthia Blanche Mosleys blieb, so argumentiert zumindest die gängige Darstellung, im Schatten ihres Mannes, dessen politischen Werdegang sie finanziell ermöglichte, aber wohl nicht entscheidend prägte, zumal sich Mosley in diesen Jahren Diana Guinness, geborene Mitford, zuwandte, die er nach dem Tod Cynthia Blanches 1936 heimlich in München heiratete. 48 Die sechs Schwestern Mitford 49 boten ein weiteres Beispiel dafür, wie adelige Frauen in der Zwischenkriegszeit erfolgreich darangingen, gesellschaftliches Aufsehen zu erzielen, wobei politische Aktivitäten eine mögliche Strategie waren. In diesem Fall reichte das politische Spektrum von der Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite durch Jessica Mitford bis zur fanatischen Begeisterung für Hitler auf Seiten Unity Mitfords, die ihren Höhepunkt in einem gescheiterten Selbstmordversuch im September 1939 erreichte. 50 Auf künstlerischer Ebene kam es vor allem bei Nancy Mitford zur Verarbeitung von Stoffen aus dem familiären Umfeld zu Erzäh-

46

Robert Skidelsky, Art.„Mosley, Sir Oswald Ernald, Sixth Baronet (1896–1980)“, in: ODNB (wie Anm.24),

http://www.oxforddnb.com/view/article/31477, 29. Mai 2007; Duncan Sutherland, Art.„Mosley, Lady Cynthia Blanche (1898–1933)“, in: ODNB (wie Anm.28), http://www.oxforddnb.com/view/article/50053, 29. Mai 2007; de Courcy, Viceroy’s Daughters (wie Anm.41), bes. 106−117, 126−166. 47

National Portrait Gallery London, Nr.X30000

48

Anne de Courcy, Diana Mosley. London 2003, 60−176.

49

Anne de Courcy, Art.„Mosley, Diana, Lady Mosley (1910–2003)“, in: ODNB (wie Anm.28), http://

www.oxforddnb.com/view/article/92691, 29. Mai 2007; Anne Chisholm, Art.„Mitford, Jessica Lucy Freeman (1917–1996)“, in: ODNB (wie Anm.28), http://www.oxforddnb.com/view/article/60652, 29. Mai 2007; de Courcy, Diana Mosley (wie Anm.48); Selina Hastings, Art.„Mitford, Nancy Freeman (1904–1973)“, in: ODNB (wie Anm.28), http://www.oxforddnb.com/view/article/31450, 29. Mai 2007; Richard Davenport-Hines, Art.„Mitford, Unity Valkyrie Freeman (1914–1948)“, in: ODNB (wie Anm.28), http://www.oxforddnb.com/ view/article/58824, 29. Mai 2007. 50

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De Courcy, Diana Mosley (wie Anm.48), 205f.

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lungen und Romanen, was wiederum den Sensationswert der „Mitford Girls“ verstärkte. 51 In beiden Familien verschob sich der Schwerpunkt des Adelsbildes bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges somit von der politischen Führungsrolle in den Bereich der Stilbildung, hin zu einer gesellschaftlich-mondänen Vorbildfunktion, die ihrer politischen Inhalte und sogar politischen Zurechnungsfähigkeit weitgehend beraubt war. Damit ist nicht gesagt, dass die Vorstellung von Adeligkeit als Verpflichtung zu besonderer Auszeichnung und besonderem Aktivismus in diesen Jahren gänzlich obsolet geworden wäre; dagegen sprechen die Karrieren von Bertrand Russell (aus der Familie der Herzöge von Bedford) oder Ottoline Morell (aus der Familie der Herzöge von Portland) ebenso wie die von Winston Churchill (aus der Familie der Herzöge von Marlborough). 52 Zudem blieb diese Phase auch für die hier untersuchten Familien in gewissem Sinne Episode. Die Curzons übernahmen in den 1940er Jahren wieder Aufgaben in Kriegsdienst und Bildungswesen. Das bedeutete in der bildlichen Darstellung freilich den endgültigen Verzicht auf Adelsdistinktionen. Alexandra Curzon beispielsweise trug im Krieg dieselbe Uniform der St. John’s Krankenschwestern wie ihre bürgerlichen und unterbürgerlichen Kolleginnen, wenn auch vielleicht nicht die gleiche Handtasche. 53 Für Irene Curzon brachte das Engagement in der Jugendarbeit in Rückgriff auf die Tradition, dass Leistung über Adeligkeit entschied, 1958 den Sitz im Oberhaus, den sie als älteste Tochter nicht hatte erben können. 54 Wenn die These stimmt, dass Adelsbilder im Großbritannien der Zwischenkriegszeit durch Jugendlichkeit, Weiblichkeit und eine Nähe zum sich entwickelnden Starkult geprägt waren, die so groß war, dass sie bis zur bewussten Inszenierung skandalösen Lebenswandels mit Blick auf seine öffentliche Wirkung gehen konnte,

51 Bes. Nancy Mitford, In Pursuit of Love. London 1945 u.ö. Ähnliche Familienkonstellationen wie bei Curzon und Mitford finden sich allerdings auch – dort ohne Verweis auf Adeligkeit – in der amerikanischen Populärkultur, z.B. in Rex Stout, Where There’s a Will. New York 1940. 52 Cannadine, Lords (wie Anm.11), 31f.; Ray Monk, Art.„Russell, Bertrand Arthur William, Third Earl Russell (1872–1970)“, in: ODNB (wie Anm.28), http://www.oxforddnb.com/view/article/35875, 4. Juni 2007; Miranda Seymour, Art.„Morrell, Lady Ottoline Violet Anne (1873–1938)“, in: ebd., http://www.oxforddnb.com/view/article/35111, 4. Juni 2007. 53 Vgl. de Courcy, Viceroy’s Daughters (wie Anm.41), Abb.49. 54 Anne de Courcy, Art.„Curzon, (Mary) Irene, suo jure Baroness Ravensdale, and Baroness Ravensdale of Kedleston (1896−1966)“, in: ODNB (wie Anm.28), http://www.oxforddnb.com/view/article/71591, 25. Mai 2007.

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stellt sich die Frage nach Erklärungen. Eine Möglichkeit ist der Verweis auf die Verlusterfahrungen durch Krieg, irische Unabhängigkeit und die Fernwirkungen der russischen Revolution, welche Nachholbedarf oder antizipatorischen Konsum erzeugten. Allerdings spricht viel dafür, dass diese Interpretation zu kurz greifen würde, denn zu dem (möglichen) Wandel persönlichen Verhaltens musste zugleich ein Wandel der Berichterstattung und der familiären Öffentlichkeitsarbeit treten. Peter Mandler sieht in den veränderten Praktiken eine rationale Antwort auf veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen, in denen sich der adelige Name auch zur Karriere machen ließ. 55 Trifft das zu, so wäre damit zugleich das Ende verallgemeinerbarer Adelsbilder zu konstatieren. Die zufällige persönliche Bekanntheit kraft Geburtsname ist gerade nicht mit einem allgemeinen Anspruch versehen. Im Gegenteil: In diesem Fall ist es das nicht Verallgemeinerbare, Exklusive am Adel, das anziehend und/oder abstoßend wirkt. Das bedeutet freilich nicht, dass andere Adelsbilder (etwa die aufopferungsvolle Übernahme politischer Führungspositionen) völlig in den Hintergrund traten; mit Winston Churchill erlebte dieses Adelsbild eine Renaissance. 56 Es ist charakteristisch, dass das populärste Adelsbild der Zeit, das immer noch in jedem Buchladen präsent ist, beide Modelle in einer Weise verbindet, wie sie in der Realität, wenn ich recht sehe, nicht anzutreffen war. Peter Wimsey, jüngerer Sohn aus der fiktiven Herzogsfamilie Denver, kombiniert den Topos des verletzten, heroischen adeligen Offiziers mit dem sympathisch-verschrobenen Genie, das sich aus zweifelhaften, da persönlichen, Motiven dennoch daran macht, in allgemeiner Absicht die Guten zu befreien und die Bösen zu bestrafen, was ihm mit gutem Erfolg, aber um den Preis persönlicher Opfer gelingt. 57 Aus größerer Distanz betrachtet, deuten die Adelsbilder im England des frühen 20.Jahrhunderts freilich in noch eine andere Richtung. Während sich Teile des deutschen Adels – wie Stephan Malinowski gezeigt hat – der Suche nach rassischer Homogenität verschrieben und durch aufrechten, normkonformen Lebenswandel eine Rückkehr an gesellschaftliche Machtpositionen anstrebten, welche den Aufbau einer neo-ständischen Gesellschaft ermöglichen sollten 58, verwies das Bild der einen

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55

Mandler, Fall and Rise (wie Anm.43), 47f.

56

Peter Alter, Winston Churchill (1874−1965). Leben und Überleben. Stuttgart 2006, bes. 97−128.

57

Bes. Dorothy L. Sayers, Busman’s Honeymoon. London 1937.

58

Malinowski, König (wie Anm.16).

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dezidiert unorthodoxen Lebensstil pflegenden, gelegentlich Orgien feiernden Curzon- oder Mitford-Schwestern vor allem auf einen Mangel an Homogenität, ein großes Maß an Individualität und die Abwesenheit der Artikulation eines Herrschaftsanspruchs, die so deutlich war, dass sie fast als bewusst zu werten ist. Eine solche Grundhaltung war aber mit einem Projekt der großflächigen Bevölkerungsplanung oder dem Anspruch einer notwendigen Verbindung zwischen Abstammung und gesellschaftlicher Rolle kaum zu vereinbaren. Trotz der persönlichen Netzwerke, welche Churchill, die Mitfords, die Curzons und – über Mosley – Eduard VIII., den Herzog von Windsor, verbanden: hier artikulierte sich ein Teil des Widerstandes gegen Pläne einer eugenischen Politik, welcher dafür sorgte, dass im Großbritannien der Zwischenkriegszeit Programme der Zwangssterilisation oder der Förderung einer ‚natürlichen‘ Elite keine Resonanz fanden. Dieser Widerstand beruhte zum Teil auf der Annahme, dass eine rationale Gesellschaft auch eine langweilige, geistig arme Gesellschaft sein würde 59 – denn wer konnte schon sagen, ob bei Anlegung strenger Maßstäbe der Bevölkerungsplaner 60 vom Schlage Galtons George Curzon angesichts seines Rückenleidens einen Tauglichkeitstest bestanden hätte, seine Töchter nicht als potentielle Gemeinschaftsfremde unter Beobachtung geraten oder der fiktive Wimsey in einer geschlossenen Klinik für psychisch belastete Veteranen gestorben wäre. Insofern war es ironischerweise gerade der Verzicht auf erhebende, verallgemeinerbare Adelsbilder, der Resultate hervorbrachte – freilich mittelfristig um den Preis der Fortdauer des Adels als Stand.

59 Vgl. bereits Geoffrey R. Searle, Eugenics and Politics in Britain, 1900−1914. Leyden 1976. 60 Amir Weiner (Ed.), Landscaping the Human Garden: Twentieth-Century Population Management in a Comparative Framework. Stanford 2003.

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Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart Zusammenfassung und Ausblick von Walter Demel

Bei der Initiierung der Sektion „Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart“ wurde „Adel“ definiert als eine „soziale Gruppe [...], die einen exklusiven, direkt oder indirekt familiär vermittelten Zugang zu Herrschaftsaufgaben besitzt“ 1 und die deshalb eine öffentlich herausgehobene und sichtbare Rolle zu spielen habe. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass sich das Selbstverständnis dieses Adels auf einen Grundgedanken zurückführen ließe, nämlich: Ein Adeliger soll, aufgrund seiner prinzipiellen ökonomischen und rechtlichen Unabhängigkeit wie auch seiner speziellen ererbten menschlichen Qualitäten, Herrschaftsaufgaben übernehmen, und zwar ohne dass er dazu genötigt wäre. Gerade seine Unabhängigkeit sollte dann – vergleichsweise optimal – sicherstellen, dass er sich bei der Ausübung seiner Herrschaft am Gemeinwohl (und nicht an einem Partikular- oder Eigeninteresse) orientierte. Dieses adelige Selbstverständnis müsse man – so der Gedanke – ernst nehmen. Die ältere Literatur sah die Herrschaft von Wenigen über Viele meist als grundsätzlich illegitim an und folgerte daraus, dass jede adelige Selbstdarstellung nur darauf angelegt gewesen sei, das strukturelle Legitimitätsdefizit durch ästhetisch-kommunikative Mittel auszugleichen. Demgegenüber ging die Sektion von der These aus, dass durch Bildwerke nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst der spezifisch aristokratische Habitus, sein Pflichtethos, zum Ausdruck gebracht werde. Öffentliche Adelsbilder dokumentierten mithin die Ansprüche des Adels nicht nur gegenüber anderen, sondern auch gegenüber sich selbst. Falls der Begriff des Adels Sichtbarkeit implizieren sollte, so müsste sich dies nicht nur anhand von zweieinhalb Jahrtausenden europäischer Adelsgeschichte, vom antiken Griechenland bis zum modernen Großbritannien, darstellen, sondern auch am Beispiel außereuropäischer Eliten verifizieren lassen, in dem Sinne nämlich, dass auch außerhalb der griechisch-römisch-europäischen Traditionslinie re-

1 Peter Scholz/Johannes Süßmann, Exposé für eine vergleichende Sektion „Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart“ im Rahmen des 46. Historikertages in Konstanz, 19.–22.September 2006, 2.

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oldenbourg DOI 10.1524/9783486716320.116

gelrechte Adelsstrukturen einen bildhaften Ausdruck finden müssten (im Gegensatz vielleicht zu reinen Funktionseliten, bei der dieser bildhafte Ausdruck möglicherweise nicht ausgeprägt wäre). Zudem könnte ein Blick über Europa hinaus die Kontinuität und Besonderheit der Tradition europäischer Adelsdarstellungen noch ein wenig verdeutlichen. Daher die Frage: Gab es „öffentliche Bilder“ zur Darstellung eines aristokratischen Habitus auch in außereuropäischen Kulturen? Die griechischen Aristokraten präsentierten sich als diejenigen, die als Gruppe die „Besten“ waren, die Ideale von jugendlicher Schönheit und Kraft als Resultate individueller Selbstdisziplinierung zu verkörpern, wobei „schön“ und „gut“ zusammen gedacht wurden. 2 Da es in der athenischen Demokratie verpönt war, sich als überragender Einzelner zu präsentieren, vermieden sie dabei alle konkreten (etwa politischen) Bezüge und ließen sich ausschließlich als vorbildliche Bürger darstellen. Im Hellenismus dagegen ragten die „Besten“ – Einzelpersönlichkeiten, die sich zu Königen ernannten und ihre kriegerischen Tugenden in den Vordergrund rückten – weit aus der Polis heraus. Die römischen Senatoren und Ritter wiederum präsentierten sich mit ihren (streng reglementierten) Statussymbolen und Ehrenzeichen grundsätzlich als politische Autoritäten, die verschiedene Bewährungsstufen genommen und sich ihre Führungspositionen und honores durch virtutes und entsprechende Leistungen für die Allgemeinheit verdient hatten. Wenn dabei den „Vornehmsten“ auch ihre familiären Verbindungen halfen, so erscheinen Herkunft und persönliche Leistung doch nur als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Allen diesen Eliten ist jedenfalls gemeinsam, dass sie, gemäß ihrer Selbstdarstellung, ihre öffentlich dokumentierte Vortrefflichkeit nicht vorrangig zu ihren eigenen Gunsten, etwa zur Vermehrung ihres Privatvermögens, einsetzten, sondern zugunsten der Allgemeinheit. Dass darüber hinaus Leistungen für die Polis bzw. das Reich mit vornehmer Herkunft – und damit zumindest mit der Anlage zum Edlen, Guten – in Verbindung gesetzt, Hoheitssymbolik und ideales Menschentum letztlich mit einander verknüpft wurden, scheint mir die weitere europäische Entwicklung geprägt zu haben. Vergleichen wir dies mit der Situation im Alten Ägypten! 3 Bekannt sind die teilweise riesigen Herrscherstatuen. Doch daneben gab es in oder vor vielen Tempeln

2 Dies betont Nigel Spivey, Understanding Greek Sculpture. Ancient Meaning, Modern Readings. London 1996, 38f. 3 Für die folgenden Anmerkungen verweise ich nur pauschal auf die dort genannten Ausstellungskata-

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Abb. 1: Schreiberfigur des Henka. Halbprofil, Kalkstein, 5. Dynastie. Lt. Inventar 40 cm. Original: Ägyptisches Museum und Papyrussammlung, Staatliche Museen zu Berlin / ÄM 7334. Quelle: Aufnahme Margarete Büsing. © bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte.

durchaus auch – kleinere – Statuen von Beamten und Priestern als Angehörigen einer Herrschaftselite, die zumindest großenteils erblich, also „adelig“ gewesen zu sein scheint. 4 Ihre Vornehmheit drückte sich dadurch aus, dass sie als Herren über die Schrift und damit die Reichsverwaltung dargestellt wurden (Abb.1). Denkmäler,

loge und kunsthistorischen Werke sowie auf Bildbände wie vom Time-Life-Verlag die Reihe „Zeitalter der Menschheit“, vom Ebeling-Verlag „Monumente Großer Kulturen“ oder die „Reader’s Digest Illustrierte Geschichte der Welt“. 4 Schon 1962 vermutete der russische Ägyptologe Michail A. Korostovtsev (Korostovcev), der Schreiberberuf sei ausschließlich bestimmten sozialen Klassen vorbehalten gewesen. Da er dafür keine weiteren Belege anführte, bezeichnete Patrizia Piacentini, nach deren Eindruck der Schreibertitel nur den Einstieg in eine aufgefächerte und hierarchisierte Administration symbolisierte, diese These als spekulativ (dies., Les scribes dans la société égyptienne de l’Ancien Empire. Vol.1: Les premières dynasties. Les nécropoles memphites. Paris 2002, 18f.). Der geplante zweite Band dieses allerdings auf das Alte Reich beschränkten Werks, der die eigenen Schlussfolgerungen aus den Forschungen der Verfasserin ziehen soll, ist noch nicht erschienen. Jedoch registriert Adelheid Schlott schon für das Alte Reich eine ständig „steigende Bedeutung des Schreiberstandes“, und sie erwähnt, dass zu dieser Zeit manche „Schreiber-Lehrlinge“ – auch zu Ehren ihrer Eltern! – zusammen mit den Königskindern erzogen wurden. Zu späterer Zeit, am Beginn der 12. Dynastie, also im 20.Jahrhundert v.Chr., existierte „in der Hauptstadt eine Beamtenberufsschule, in der normalerweise die Kinder aus Beamtenfamilien unterrichtet wurden, die aber offenbar auch für Söhne niedrigerer Herkunft zugänglich war“. Die Kluft zwischen Schreibern und der übrigen Bevölkerung blieb

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die Herrscher oder Beamte samt Familienangehörigen zeigen, sind dagegen eher der Grabkunst zuzuordnen, dienten also dem Totenkult, nicht der öffentlichen Repräsentation. Die „öffentlichen Bilder“ symbolisierten aber allemal etwas Überzeitliches, Göttliches. Die Kunst hatte „ein für die Ewigkeit bestimmtes Abbild einer nur scheinbar vergänglichen Welt zu sein“, wie Wilfried Seipel sagte, strebte aber niemals an, die Illusion eines belebten Körpers zu vermitteln. 5 Hier ging schon die griechische Kunst einen anderen Weg, und wenn ein römischer Künstler einen betagten Senator mit individuellen Zügen darstellte, so bedeutete dies eine Verschiebung der Gewichte: Autorität beruhte nicht mehr in erster Linie auf der Übertragung der Macht durch die Götter, sondern auf den besonderen Fähigkeiten und Erfahrungen eines individuellen Menschen, der freilich durch seine Herkunft für ein Amt prädestiniert sein mochte. Ähnliches galt offenbar für den spätmittelalterlichen Adel, wo zwei unterschiedliche Eliten zunächst jeweils andere Qualitäten in den Vordergrund stellten: Die „Edelfreien“ beriefen sich auf ihre alte Familientradition und damit auf die langanhaltende Kontinuität ihrer Herrschaft seit irgend einem besonders ausgezeichneten indes beträchtlich, und Thutmosis III. (ca. 1490–1436 v.Chr.) übertrug die höchste Verantwortung für die Innenpolitik einem gewissen Rechmire, der aus einer alten und angesehenen Beamtenfamilie stammte. „Durch diese Herkunft“, so Schlott, „bot Rechmire die beste Gewähr, von der übrigen Beamtenschaft anerkannt zu sein und dort für Stabilität und Kontinuität sorgen zu können“. Neu sei unter Thutmosis allerdings gewesen, dass „jetzt auch Menschen zu Ansehen und sogar in sehr hohe Positionen aufrücken konnten, die nicht aus Beamtenfamilien stammten, sofern sie hohe Leistungen auf militärischem Gebiet vorzuweisen hatten“ (dies., Schrift und Schreiber im Alten Ägypten. München 1989, 125–229, Zitate 129, 204, 228, 229). Aber noch in der römischen Kaiserzeit wurden die sogenannten Königlichen Schreiber in aller Regel „aus der Spitzengruppe der einheimischen gräko-ägyptischen Elite Alexandrias und der Gaumetropolen rekrutiert“ – so Thomas Kruse, Untersuchungen zur Verwaltungsgeschichte Ägyptens in der Zeit von Augustus bis Philippus Arabs (30 v.Chr. – 245 n.Chr.). Bd. 1. (Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete, Beih. 11/1.) Leipzig 2002, 1. 5 Wilfried Seipel, Die Voraussetzungen der ägyptischen Kunst und ihr Regelsystem, in: ders. (Hrsg.), Gott – Mensch – Pharao. Viertausend Jahre Menschenbild in der Skulptur des Alten Ägypten. [Ausstellungskatalog] Wien 1992, 33–41, Zitat 40; ders., Zur ägyptischen Rundplastik, in: ebd.41–47. Beispiel für eine Schreiber-Statue (Abb.1: Schreiber-Statue des Henka; um 2400 v.Chr.) ebd.121, für die Darstellung eines königlichen Vertrauten mit seiner Ehefrau ebd.125. Vgl. Jan Assmann, Totenglaube und Menschenbild im Alten Ägypten. Leipzig 2001, 27, wonach die altägyptische „Nichtunterscheidung zwischen Gott und Welt“ ein „symbiotisches“ Weltverhältnis begründet habe, aus dem sich in den monotheistischen Religionen einerseits das Göttliche als eine gegenüber der Welt eigenständige Größe emanzipiert habe und andererseits der Mensch in seiner Partnerschaft zu Gott zum autonomen Individuum geworden sei. Zum „nichtlinearen“ Zeitverständnis Altägyptens: ders., Ägypten. Eine Sinngeschichte. München/Wien 1996, 32–38, vgl. auch 27.

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Abb. 2: Toyotomi Hideyoshi. Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Toyotomi_Hideyoshi.jpg

„Stammvater“ bzw. „Spitzenahnen“: Aeneas, Karl den Großen oder wen auch immer. Demgegenüber betonten die Ritter ihre militärischen Tugenden und Leistungen, etwa im erfolgreichen Kampf gegen die Ungläubigen. Das langsame Zusammenwachsen beider Gruppierungen fand schließlich seine sozusagen symbolpublizistische Entsprechung in einer partiellen Übernahme von Fäden des jeweils anderen „Legitimationsstranges“, letztlich in der Zusammenführung beider Seiten im Rahmen gemeinsamer Wappenreihen. Gibt es auf anderen Kontinenten etwas Vergleichbares? In Japan ließ sich nicht erst Tokugawa Ieyasu (1542–1616), der Begründer des neuen Shôgunats, in Hofkleidung darstellen, sondern schon Toyotomi Hideyoshi (1537–1598), der zweite der drei „Einiger“ Japans (Abb.2). Dieser hatte sich dank seiner militärischen Fähigkeiten vom Bauern- und Soldatensohn und einfachen Krieger über den Kleinfürsten zum mit Abstand mächtigsten Mann des Landes emporgearbeitet. Eigentlich war er nur ein bushi (im Westen meist bezeichnet als Samurai), ein Ritter. Wenn er dann aber die offizielle Tracht des Kaiserhofes trug, so deshalb, weil er inzwischen einen Hofrang und sogar den Titel eines Kaiserlichen Regenten erwor-

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ben hatte. 6 Obwohl der alte japanische Hofadel und der neue, von Hideyoshi privilegierte Ritteradel der Samurai kaum so relativ weitgehend verschmolzen wie der alte Hochadel mit aufgestiegenen, ursprünglich niederadeligen Geschlechtern in vielen europäischen Ländern, so mag ein derartiges, wohl „halböffentliches“ Bild doch dafür stehen, dass die faktische und die symbolpublizistische Annäherung verschiedener Eliten nicht nur in Europa deutliche Parallelen aufwies. 7 Elitentransformationen standen oft, nicht nur in Japan, im Zusammenhang mit Staatsbildungsprozessen. Die zahlreichen Veränderungen der Zeit um 1500 stürzten den christlichen Ritter in Seelennöte. Man konnte versuchen, ihn daraus als Condottiere oder Cortegiano mittels Verinnerlichung zu befreien oder ihn als Glaubensstreiter im konfessionellen Sinn zu reaktivieren und zu transzendieren. Aber auch der Einzelkämpfer hoch zu Ross hatte gegen den Leviathan letztlich keine Chance. Was blieb für den Adeligen? Eine Position als Grund- und Gerichtsherr, letztlich als unterstes Organ der Staatsgewalt, als über Konfessionsgrenzen hinweg standesbewusster Offizier oder Beamter, als Kavalier von gutem Geschmack, geradezu unerreichbar elegant, weltgewandt und vielleicht sogar aufklärerisch gebildet. Adelige standen unter dem Druck, sich immer wieder wandelnden, aber dennoch als universal geltenden Idealen der „Vornehmheit“ anpassen zu müssen. Immerhin gelang dies erstaunlich gut – und immer neu kreierte „öffentliche Bilder“ könnten dem europäischen Adel dabei sehr geholfen haben. Geradezu gegensätzlich dazu stellt sich die Situation nämlich in der islamischen Welt dar. Nicht nur die Darstellung Gottes, auch die eines besonders verehrten Men6 Wolfgang Schwentker, Die Samurai. 2.Aufl. München 2004, 59f., vgl. auch 83; John Whitney Hall, Das Japanische Kaiserreich. (Fischer Weltgeschichte, Bd. 20.) Frankfurt am Main 1968, 150; Danielle Elisseeff, Hideyoshi. Bâtisseur du Japon moderne. Paris 1986, bes. 20f., 29f., 133, 136f. Demnach erfolgte zunächst Hideyoshis Investitur als „Innenminister“, 1585 als kanpaku, das heißt seine Erhebung in den höchsten Hofrang. Daraufhin nahm er einen neuen Namen an (Toyotomi = „Minister voller Großzügigkeit“) und ließ sich von einem Nachkommen der hochadeligen und altehrwürdigen Familie Fujiwara adoptieren. Ein ähnliches Bild Hideyoshis (Abb.2) findet sich in Jonathan Norton Leonard, Das Alte Japan. O. O. 1970, 136 (dieser Band gehört zu der in Anm.3 erwähnten Reihe „Zeitalter der Menschheit“, die ohne Bandzählung auskommt). 7 Der japanische Hofadel und seine Beziehungen zum „Schwertadel“ sind neuerdings intensiver erforscht worden: Eva-Maria Meyer, Japans Kaiserhof in der Edo-Zeit. Unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1846 bis 1867. (Klaus Antoni/Hilaria Gössmann/Thomas Heberer/Hanns W. Maull/Karl-Heinz Pohl [Hrsg.], Ostasien – Pazifik, Bd. 12.) München 1999; Sven-Ohle Holst, Die Beziehungen zwischen dem kaiserlichen Hof und der Bevölkerung im Japan der Frühneuzeit. Phil. Diss. FU Berlin 2001; Lee Butler, Emperor and Aristocracy in Japan 1467–1680. Resilience and Renewal. Cambridge, Mass./London 2002.

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schen geriet und gerät dort schnell in den Verdacht des Götzendienstes, wie 2001 die Sprengung der großen Buddha-Statue von Bamiyan, eines Produkts der hellenistisch beeinflussten Gandhara-Kultur, bewies. 8 Dementsprechend war es in der traditionellen islamischen Welt undenkbar, einer hochgestellten Persönlichkeit, selbst einem Herrscher, ein öffentliches Monument zu errichten 9, wofür im Übrigen auch nicht leicht ein geeigneter Ort zu finden gewesen wäre, denn außerhalb der Moscheenvorhöfe existierten üblicherweise in orientalischen Städten keine großen Foren. Allenfalls kennen wir Abbildungen derartiger Personen aus der für den Hofgebrauch geschaffenen Miniaturmalerei, etwa in Form von Darstellungen der Sultane der Osmanendynastie (Abb.3). Gerade zur Blütezeit des Osmanischen Reiches aber kann man etwa von einem Adel im europäischen Sinn nicht sprechen. Wohl hätte ein europäischer Adeliger eine hochrangige Persönlichkeit eines islamischen Landes an dessen prächtiger Kleidung wahrscheinlich als solche erkennen können. Aber wenn Eliteangehörige eines solchen Reiches zur Darstellung gelangten, erscheinen sie selten auf Einzel-, noch weniger auf Gruppenporträts – etwa einer Ständeversammlung, die es außerhalb Europas nirgends gegeben hat –, sondern ledig-

8 Gesprengt wurde daneben auch eine zweite, kleinere Statue. Zur Tradition des (nur zum Teil islamischen) Ikonoklasmus – bezogen auf Indien: R[atan] L[al] Mishra, The Mortuary Monuments in Ancient and Medieval India. Delhi 1991, 63, 74f., 112. 9 Dazu – freilich nicht ohne antiislamische Vorurteile – Christian Beutler, Statua. Die Entstehung der nachantiken Statue und der europäische Individualismus. München 1982, 264–266. Zum sogenannten islamischen Bilderverbot die Beiträge von Rudi Paret, gesammelt in: ders., Schriften zum Islam. Volksroman – Frauenfrage – Bilderverbot. Hrsg. v. Josef van Ess. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1981, 213–271. Vgl. folgende Sammelbände: The Sultan’s Portrait. Picturing the House of Osman. [Ausstellungskatalog] Istanbul 2000 (ebd.36, zeigt die folgende Abb.3: Gruppenporträt von 13 Osmanensultanen, ca. 1600; verwiesen sei besonders auf die in diesem Katalog abgedruckten Beiträge von Julien Raby und Gülru Necipoğlu); Art turc/ Turkish Art.10th International Congress of Turkish Art/10e Congrès international d’art turc. Genf 1999 (besonders die Beiträge von Maria Pia Pedani Fabris sowie – zu den osmanischen Kostümalben – von Leslie Meral Schick); Alexandre Papadopoulo, Islamische Kunst. Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1977 (franz. Originalausgabe: L’Islam et l’art musulman. Paris 1976), besonders den Artikel: ders., Das Werden der islamischen Ästhetik, in: ebd.50–62. Demnach gab es in der Omayyadenzeit in den Palais der Kalifen und Fürsten noch zahlreiche Mosaiken, Wandmalereien und sogar Statuen. Doch schon damals fand sich in den Moscheen keinerlei und „auch im allgemeinen sehr wenig figürliche Kunst“ (ebd.52). Besonders Statuen waren bald verpönt, versuchten sie doch in besonderer Weise lebende Wesen nachzuahmen und warfen dabei sogar – als dreidimensionale Gebilde – einen Schatten! Denn es galt: „Verboten war das Porträt, die Nachahmung des konkreten, wirklichen, lebenden Individuums. [...] Was dagegen darzustellen erlaubt ist, ist das Konzept, die allgemeine Art und vielleicht noch deren verschiedene Typen, die aber allgemeingültig bleiben müssen“ (ebd.58).

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Abb. 3: Anonymus, Dreizehn osmanische Sultane, ca. 1600, Istanbul Topkapi Sarayi Müzesi, B. 373, fol. 387r. Quelle: Filiz Cagman u. a. (Eds.), The Sultan’s Portrait. Picturing the House of Osman. [Ausstellungskatalog] Istanbul 2000, 287.

lich als Mitglieder einer Hofgesellschaft oder in der Begleitung ihres Herrschers (Abb.4). Das heißt, sie gehörten zwar zu einer „politisch nutzbaren“ Gruppe, waren aber sozusagen schon voll „verstaatlicht“. Sie waren aristoi, Beste, hervorgehoben dadurch, dass sie, oft hervorgegangen aus der „Knabenlese“ bzw. sogar dem Sklavenstand, die Vornehmsten in der Umgebung des Herrschers waren, was auf den Bildern als ihr „Vornehmheitsideal“ zum Ausdruck kam. Aber sie bildeten bestenfalls ansatzweise einen Adel im Sinne einer Machtelite erblich privilegierter Familien. Und so fehlten ihnen dementsprechend auch – anders als etwa den japanischen Fürsten – so etwas wie Wappen oder Siegel, die auf eine vornehme Familientradition hätten verweisen können. 10 Was war im 19. und 20.Jahrhundert angesichts des Funktionswandels des Adels und der explosionsartigen Zunahme bildlicher Darstellungen im öffentlichen und 10 Vgl. Walter Demel, Die Spezifika des europäischen Adels. Erste Überlegungen zu einem globalhistorischen Thema, in: Zeitenblicke 4, 2005, Nr.3, (13.12.2005), http://www.zeitenblicke.de/2005/3/Demel/index_html, URN: urn:nbn:de:0009–9-2440. Abb.4: Shah Abbas II. empfängt den Mogulgesandten (Isfahan ca. 1663), stammt aus: The Sultan’s Portrait (wie Anm.9), 53.

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Abb. 4: Shah Abbas II. empfängt den Mogulgesandten (Isfahan ca. 1663). Quelle: Filiz Cagman u. a. (Eds.), The Sultan’s Portrait. Picturing the House of Osman. [Ausstellungskatalog] Istanbul 2000, 53.

privaten Raum überhaupt noch als „Adelsbild“ identifizierbar? Und kam dann in solchen Bildern ein übergreifender Anspruch zum Ausdruck? Wenngleich zumindest im „langen 19.Jahrhundert“ gerade in Großbritannien viele adelige Einflussmöglichkeiten erhalten blieben, verlor der Adel doch zunehmend seine Rolle als „multifunktionale Elite“ 11, während gleichzeitig eine „Demokratisierung des Porträts“ erfolgte, die ihm das frühere (weitgehende) Monopol auf Selbstdarstellung raubte. Ist zudem eine soziale Gruppe, die sich nur noch teilweise als solche empfindet, als Ganzes überhaupt „medienfähig“? Mehr denn je gilt zwar: Medienpräsenz und Autorität – gerade auch politischer Art – hängen oft eng zusammen, aber doch nicht immer. Teile des europäischen Hochadels – eben auch nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz des gesamten europäischen Adels – sind bekanntlich in der so11

Vgl. Karl-Ferdinand Werner, Adel – eine „Mehrzweck-Elite“ vor der Moderne?, in: Rainer Hudemann/

Georges-Henri Soutou (Hrsg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20.Jahrhundert. München 1994, 17–32.

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genannten Regenbogenpresse höchst präsent. Weiterhin repräsentieren sie anscheinend vor allem für zahlreiche weibliche Leser, wie die Kouroi-Statuen, die Ideale von Schönheit und Kraft (allerdings eher ökonomischer als physischer Potenz), von Luxus und Abenteuer. Noch mehr spiegeln sie aber wohl die Erkenntnis wider, dass es auch in den traditionsreichsten Familien persönliche Krisen, Fehlhandlungen und Unglücksfälle gibt. Als die „Besten“ scheinen diese zeitgenössischen Aristokraten jedenfalls kaum mehr empfunden zu werden. Die zunehmende Dynamik neuzeitlicher Entwicklung hat offenbar das europäische Adelsbild zunehmend „verschwimmen“ lassen – wie sie ja auch den Adel als Stand letztlich aufgelöst hat. 12 Die sogenannte chinesische Gentry erlebte einen ähnlichen Erosionsprozess. 13 Dabei war dieser „Adel“, wenigstens seit der Song-Zeit, praktisch kein „Stand“ mehr mit irgendwelchen erblichen Privilegien rechtlicher, geschweige denn politischer Art.Monumente wurden ausschließlich für herausragende individuelle Leistungen, etwa anlässlich der zentralen Beamtenprüfungen, errichtet (Abb.5). Auch ein verdienter Beamter mochte eine Stele oder einen Triumphbogen erhalten, aber keine Porträtstatue. Selbst in den Tempeln des Konfuzius – dessen Nachkommen, abgese-

12 Dazu, hauptsächlich bezogen auf Deutschland, sehr schön: Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne. Göttingen 2006, 134, 159f. 13 Zum Folgenden: Wolfram Eberhard, Geschichte Chinas. Stuttgart 1971, bes. 48, 276–278, 308–310, 331– 334, 338f.; Dieter Kuhn, Status und Ritus. Das China der Aristokraten von den Anfängen bis zum 10.Jahrhundert nach Chr. Heidelberg 1991, 17, 611f. (der sich allerdings ebd.481 gegen Eberhards These von der Kontinuität der Gentry seit der Han-Zeit stellt); Helwig Schmidt-Glintzer, Der Literatenbeamte und seine Gemeinde oder Der Charakter der Aristokratie im chinesischen Mittelalter, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 139, 1989, 397–425; Charles O. Hucker, Ming Government, in: Denis Twitchett/John K. Fairbank (Eds.), The Cambridge History of China [im Folgenden abgekürzt: CHC]. Vol.8: The Ming Dynasty 1368–1644, Part 2. Ed. by Denis Twitchett, Frederick W. Mote. Cambridge/New York/ Melbourne 1998, 9–105, hier 9, 28–32; Martin Heijdra, The Socio-Economic Development of Rural China during the Ming, in: ebd. 417–578, hier 552–564; Timothy Brook, Communication and Commerce, in: ebd.579– 707, hier 646f.; Jerry Dennerline, The Shun-chih Reign, in: CHC, Vol.9, Part 1: The Ch’ing Empire to 1800. Ed. by William J. Peterson. Cambridge/New York/Melbourne 2002, 73–119, hier 115f.; Benjamin A. Elman, The Social Roles of Literati in Early to Mid-Ch’ing, in: ebd.360–427, bes. 382–389; William T.Rowe, Social Stability and Social Change, in: ebd.473–562, hier 488–492; John K. Fairbank, Introduction: the Old Order, in: CHC, Vol.10: Late Ch’ing, 1800–1911, Part 1. Ed. by John K. Fairbank. London/New York/Melbourne 1978, 1–34, hier 11–14, 21f.; Marianne Bastid-Bruguière, Currents of Social Change, in: CHC, Vol.11: Late Ch’ing, 1800– 1911, Part 2. Ed. by John K. Fairbank, Kwang-Ching Liu. Cambridge/New York/Melbourne 1980, 535–602, hier 535–539; Timothy Brook, Praying for Power. Buddhism and the Formation of Gentry Society in LateMing China. Cambridge, Mass./London 1993; Chung-li Chang, The Chinese Gentry. Studies on Their Role in Nineteenth-Century Chinese Society. Seattle, Wash. 1955.

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Abb. 5: Stelenwald; Aufnahme Jutta Thinesse-Demel.

hen vom Mandschu-Adel nach 1644, fast als einzige über so etwas wie erbliche Vorrechte verfügten – erinnerte lange Zeit nur eine Kalligraphie an den großen Denker. 14 Wenn sich aber Mandschu-Adelige porträtieren ließen, taten sie dies in der Tradition chinesischer Porträtkunst, die durch die „Entrücktheit“ ihrer Figuren zeigt, dass sie den Bezug zum Ahnenkult nie verloren hat 15 – anders als die griechisch-römische, und dann, nach erneuter „Sakralisierung“ des Porträts im Frühmit14

Die Konfuzius-Statue, die heute vor dem (nicht im!) Konfuzius-Tempel in Peking steht, wurde erst in

der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts geschaffen. Abb.5 zeigt ein in Peking aufgenommenes Foto aus dem beim Tempel errichteten „Stelenwald“. Auf den Stelen sind die jeweils Besten der zentralen Staatsprüfungen mit Namen und Herkunftsprovinz aufgeführt. 15

Auch zum Folgenden: Jan Stuart/Evelyn S.Rawski, Worshipping the Ancestors. Chinese Commemo-

rative Portraits. Washington, D. C./Stanford, Cal. 2001, 35–75 (Abb.6: Mandschurisches Adelspaar, 18.Jahrhundert, findet sich ebd.73). Vgl. für Japan: Birgit Mayr, Das japanische Malerporträt in der späten Edo-Zeit (ca. 1750–1868). Frankfurt am Main 1998, bes. 7–9, 16–36, 233–245, die (zum Teil auch Gruppen-)Porträts japanischer Hof- bzw. Schwertadeliger ebenfalls anspricht. Wenngleich manche dieser Porträts zu Lebzeiten des Porträtierten von diesem selbst oder im Auftrag von dessen Verwandten, Freunden oder Verehrern angefertigt wurden, dienten sie doch primär, nach dessen Ableben, dem Totenkult. Dass es in den älteren Zeiten der chinesischen Kunst gleichfalls Kollektivporträts von Höflingen – als Repräsentanten unter-

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Abb. 6: Mandschu Ahnenportrait eines Militärbeamten 1sten Rangs und seiner Frau. Pigment auf Seide, Qing Dynastie, 18. Jahrhundert. © Royal Ontario Museum.

telalter, nach antikem Vorbild die europäische Kunst seit dem Spätmittelalter (Abb.6). 16 Auf eine „Öffentlichkeit“ war damit in China nicht gezielt: Selbst Kaiser ließen sich niemals auf Münzen abbilden, obwohl dieses fernwestliche Phänomen schon seit der Han-Zeit bekannt war. Sicherlich resultierte die Sonderstellung der Literatenbeamten aus ihrem „Dienst für die Gemeinschaft“, verbunden mit einem entsprechenden „aristokratischen Habitus“. Aber die soziale Mobilität war, dank des Prüfungswesens, bei den hohen Würdenträgern im China des 2. Jahrtausends – und

schiedlicher menschlicher Qualitäten – gab, zeigt Audrey Spiro, Contemplating the Ancients. Aesthetic and Social Issues in Early Chinese Portraiture. Berkeley/Los Angeles/Oxford 1990, 168–177. 16 Gemeint sind die Heiligen- und Stifterfiguren bzw. die von Stephan Selzer angesprochenen „militarisierten“ Grabdenkmäler in oder an Kirchen. Vgl. Xavier Barral i Altet, L’art courtois (1280–1400), in: Georges Duby/Xavier Barral i Altet/Sophie Guillot de Suduiraut (Eds.), Le grand art du Moyen Âge du Ve au XVe siècle. Genf 1989, 158–230, hier bes. 178–180; Heike Frosien-Leinz, Die Entstehung des Standbildes im Cinquecento. Duisburg 2000. In Byzanz verschwanden die figürlichen Darstellungen im Lauf der Zeit praktisch völlig. Vgl. Lyn Rodley, Byzantine Art and Architecture. Cambridge 1994, bes. 26, 32–34, 56, 74–77, 125–127, 150.

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erst recht in den Reichen der Osmanen, Moguln und Zaren – doch deutlich größer als in Europa. Diese Eliten entwickelten sich allenfalls ansatzweise zu erblichen „Adelsgesellschaften“, sie blieben Dienstadelige. Mag das nicht auch damit zusammenhängen, dass sie zu wenig „sichtbar“ waren, weil kein Würdenträger ein figürliches Denkmal bekam, das seine Verdienste verewigte und damit auf seine Nachkommen ausstrahlte? Inwieweit vermochten diese außereuropäischen Eliten dennoch ihren Habitus auf andere Schichten zu übertragen? Wirkten sie antidemokratisch, weil ihre Dienstgesinnung ausgeprägte Loyalität zum absoluten Monarchen implizierte? Das wäre, mit Blick auf das alternative stete Bemühen des europäischen Adels um Unabhängigkeit von der Herrschermacht bzw. um deren Kontrolle, immerhin denkbar. Wenn andererseits heute der schulische Druck in Ostasien eher noch höher erscheint als in Europa – ist das nicht eine Folge der jahrhundertealten Einübung des konfuzianischen Prinzips, dass nur Bildung zu Führungsaufgaben qualifiziert? Und wenn reiche japanische Kaufleute um 1850 für viel Geld verarmte Samurai adoptierten – glaubten sie nicht, damit etwas von den Idealen der ritterlichen Gesinnung, des Bushidô, zu erwerben, der in mancher Hinsicht bis in die Gegenwart die japanische Unternehmenskultur prägt? 17 Ein aristokratischer Habitus, so lautet daher die Schlussfolgerung, lässt sich wohl nicht nur durch „Adelsbilder“ universalisieren, aber diese können ein Medium sein, und sie stärken wahrscheinlich die Stabilität einer Aristokratie auf dem Weg zu einer Machtelite erblich privilegierter Familien.

17

Schwentker, Samurai (wie Anm.6), 97, 122–124. Dazu die – sicherlich nicht unproblematische – klas-

sische Darstellung von Inazo Nitobe, Bushido. The Soul of Japan. An Exposition of Japanese Thought. 12.Aufl. Rutland, Vm./Tokyo 1977 (1. engl. Tuttle-Edition 1969; japan. Original 1905). Dieses Buch hat mir 1980 mein 2006 verstorbener Freund Prof. Takuro Wada (Osaka) geschenkt.

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Die Autoren

Walter Demel (geb. 1953) ist seit 1989 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität der Bundeswehr München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt neben der Adels- und Elitengeschichte (erneut) die Frühgeschichte der Rassentheorien, zu der 2013 ein gemeinsam mit Rotem Kowner herausgegebener Sammelband zum Thema „Race and Racism in East Asia. Western and Eastern Constructions“ erscheint. Außerdem publizierte er Überblicksdarstellungen zur deutschen und europäischen Geschichte sowie Beiträge zu Band IV und V der von ihm mitherausgegebenen „WBG Weltgeschichte“. Wichtige Veröffentlichungen: Wie die Chinesen gelb wurden. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Rassentheorien, in: Historische Zeitschrift 255, 1992, 625–666; Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München 2011; Europäische Geschichte des 18.Jahrhunderts. Ständische Gesellschaft und europäisches Mächtesystem im beschleunigten Wandel (1689/1700–1789/1800). Stuttgart 2000; Reich, Reformen und sozialer Wandel 1763–1806. (Gebhardt-Handbuch der deutschen Geschichte, 10.Aufl., Bd. 12.) Stuttgart 2005; Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 23.) 2.Aufl. München 2010; (als Mithrsg.) WBG Weltgeschichte. Eine globale Geschichte von den Anfängen bis ins 20. Jahr-

hundert. 6 Bde. Darmstadt 2009/10. Andreas Fahrmeir (geb. 1969) ist Professor für Neuere Geschichte (Schwerpunkt 19.Jahrhundert) an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsinteressen umfassen – neben der Geschichte europäischer Eliten – die Entwicklung von Staatsangehörigkeits- und Migrationspolitik sowie die allgemeine Politik- und Sozialgeschichte des 19.Jahrhunderts. Wichtige Veröffentlichungen: Revolutionen und Reformen. Europa 1789–1850. München 2010; Europa zwischen Restauration, Reform und Revolution 1815–1850. München 2012; Citizenship. The Rise and Fall of a Modern Concept. New Haven 2007; Ehrbare Spekulanten. Stadt-

oldenbourg DOI 10.1524/9783486716320.bm

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verfassung, Wirtschaft und Politik in der City of London 1688–1900. München 2003. Peter Scholz (geb. 1965) ist seit 2008 Professor für Antike Geschichte und Kultur an der Universität Stuttgart. Seine Forschungsinteressen gelten der griechischen Sozial- und Kulturgeschichte, insbesondere der hellenistischen Zeit, der römischen Republik, der antiken politischen Theorie sowie der Kindheit, Jugend, Erziehung und Bildung in der Antike. Er studierte in Frankfurt am Main und Marburg Alte Geschichte, Griechische Philologie und Klassische Archäologie. 1996 wurde er mit der Arbeit „Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie und Politik im 4. und 3.Jh. v.Chr.“ (Stuttgart 1998) promoviert. Von 1999 bis 2006 war er Mitarbeiter am Frankfurter Forschungskolleg/SFB 435 „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“. Während dieser Zeit erhielt er das Junior Fellowship am Harvard Center for Hellenic Studies in Washington D. C. sowie das Förderstipendium des Historischen Kollegs in München. 2005 habilitierte er sich mit der Untersuchung „Den Vätern folgen. Sozialisation und Erziehung der republikanischen Senatsaristokratie“ (Berlin 2011). Wichtige Veröffentlichungen: (mit Daniel Kah), Das hellenistische Gymnasion. Berlin 2004; (mit Alexander Becker), Dissoi Logoi. Zweierlei Ansichten. Text, Übersetzung, Kommentar. Berlin 2004; (mit Hans Beck, Uwe Walter), Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ‚edler‘ Lebensstil in der Antike und Frühen Neuzeit. München 2008. Stephan Selzer (geb. 1968) ist seit 2008 Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Er studierte und forschte seit 1989 an den Universitäten von Kiel, Greifswald und Halle sowie in Italien. Seine Forschungsschwerpunkte werden bezeichnet durch die Themen Höfische Kultur, Krieg und Gesellschaft im Mittelalter sowie Geschichte der Hanse. Wichtige Veröffentlichungen: Artushöfe im Ostseeraum. Ritterlich-Höfische Kultur in den Städten des Preußenlandes im 14. und 15.Jahrhundert. Frankfurt am Main 1996; Deutsche Söldner im Italien des Trecento. Tübingen 2001; Die mittelalterliche Hanse. Darmstadt 2010; Blau: Ökonomie einer Farbe im spätmittelalterlichen Reich. Stuttgart 2010. Johannes Süßmann (geb. 1964) ist seit 2009 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Paderborn. Seine Forschungen gelten der politischen Be-

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deutung und dem Erkenntniswert ästhetischer Gestaltungen, etwa im Städtebau und der Geschichte des öffentlichen Raums; in der Lebensform und Selbstdarstellung des frühneuzeitlichen Adels; in der Historiographie und Geschichte der Geschichtswissenschaft. Wichtige Veröffentlichungen: Vergemeinschaftung durch Bauen. Würzburgs Aufbruch unter den Fürstbischöfen aus dem Hause Schönborn. Stuttgart 2007; Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824). Berlin 2000; (als Hrsg. mit Gisela Engel, Brita Rang und Susanne Scholz), Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2009; (mit Gisela Engel und Susanne Scholz), Fallstudien. Geschichte – Theorie – Methode. Berlin 2007; (mit Ulrich Oevermann und Christine Tauber), Die Kunst der Mächtigen und die Macht der Kunst. Untersuchungen zu Mäzenatentum und Kulturpatronage. Berlin 2007; (mit Renate Dürr und Gisela Engel), Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs. München 2003; (mit Johannes Fried), Revolutionen des Wissens. Von der Steinzeit bis zur Moderne. München 2001.

DIE AUTOREN

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