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German Pages 461 [464] Year 2013
Jenseits der Geltung
Jenseits der Geltung Konkurrierende Transzendenzbehauptungen von der Antike bis zur Gegenwart
Im Auftrag des Sonderforschungsbereichs 804 herausgegeben von Stephan Dreischer, Christoph Lundgreen, Sylka Scholz und Daniel Schulz
Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ an der TU Dresden.
ISBN 978-3-11-030300-1 e-ISBN 978-3-11-030309-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Der Band „Jenseits der Geltung“ fügt sich mit seiner Fragestellung nach den konkurrierenden Transzendenzvorstellungen in das Arbeitsprogramm des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2009 geförderten Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ an der Technischen Universität Dresden ein. Der SFB – bestehend aus 21 Teilprojekten aus den Geistes-, Sozialund Ingenieurwissenschaften und mit internationalen Kooperationspartnern – untersucht in interdisziplinärer Perspektive, wie sich soziale und politische Ordnungen durch den Verweis auf unverfügbare, sakrale Geltungsressourcen legitimieren und verstetigen. Damit wird auch an die zunehmende gegenwärtige Relevanz der Frage nach der Religion angeschlossen, wenngleich die Schwerpunktsetzung eine besondere ist: Der Leitbegriff der Transzendenz wird nicht auf religiöse Transzendenzen reduziert, sondern kulturwissenschaftlich verallgemeinernd, als Unverfügbarkeitsbehauptung verstanden, mit der ein politischer oder sozialer Geltungsanspruch der Hinterfragbarkeit entzogen werden soll. Damit wird, wie auch der vorliegende Band dokumentiert, ein innovativer Blick auf die Frage nach den Entstehungs- und den Verstetigungsbedingungen sozialer und politischer Ordnungsmuster ermöglicht. Das Buch korrespondiert dabei sowohl von seinen Entstehungsbedingungen als auch in Thema und Problemstellung mit einem weiteren Band, der die Arbeit des SFB 804 in seiner ersten Förderperiode dokumentiert und der Beiträge der Teilprojektleiterinnen und Teilprojektleiter versammelt: „Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen“. In beiden Bänden wird der analytische Leitbegriff des Forschungsprogramms in grundlegenden, historisch-vergleichenden und systematischen Untersuchungen der beteiligten Forschungsdisziplinen an sozialen und politischen Ordnungsformationen von der Antike bis zur Gegenwart entfaltet. In dem hier vorliegenden Band stehen Transzendenzkonkurrenzen im Fokus, der andere Band zeigt die vielfältigen Formen von Transzendierungen und die in ihnen zum Vorschein kommenden Transzendenzvorstellungen im Konstitutionsprozess sozialer und politischer Ordnungen auf. Beide Bände arbeiten an einer kulturwissenschaftlich erweiterten Perspektive der Geistes- und Sozialwissenschaften, um die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede der Ordnungsbegründung in unterschiedlichen historischen Kontexten und Geltungsbereichen offenzulegen. Dieser Band ist auf Initiative der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des SFB 804 entstanden und von einem Herausgeberkreis aus ihrer Mitte realisiert worden. Er belegt, wie intensiv auf allen Ebenen des SFB, innerhalb der Teilprojekte und zwischen ihnen, vor allem auch innerhalb der Gruppe der Nachwuchs-
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Vorwort
wissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler Ansatz, Konzepte und Projekte des Forschungsprogramms des SFB diskutiert und vorangetrieben werden. Der Herausgeberin und den Herausgebern sowie den Beiträgerinnen und Beiträgern gilt der Dank des gesamten Sonderforschungsbereichs „Transzendenz und Gemeinsinn“. Das Erscheinen hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft durch einen beträchtlichen Druckkostenzuschuss ermöglicht. Dresden, im November 2012
Hans Vorländer Sprecher des SFB 804
Inhaltsverzeichnis Stephan Dreischer, Christoph Lundgreen, Sylka Scholz, Daniel Schulz Transzendenz und Konkurrenz: eine Einführung 1 Geltendes bestreiten – Transzendenz herausfordern Christoph Lundgreen Beim Staate hört die Freundschaft auf! Ciceros amicitia als konkurrierende Transzendenzbehauptung Antje Junghanß, Katharina Walther Du sollst nicht töten? Zum Tötungsrecht in der römischen Antike
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Nathanael Lüke, Daniel Pauling Teufels Braten Opferfleisch in der paganen und frühchristlichen Antike
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Alexander Kästner, Annette Scherer „die heiliege dreyfaltigkeit, salva reverentia, angeschießenn“ Wahrnehmung und Deutung gotteslästerlicher Worte in Leipzig im 17. Jahrhundert 85 Jessica Buskirk, Bertram Kaschek Kanon und Kritik Konkurrierende Körperbilder in Italien und den Niederlanden
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Katja Schröck Die polychrome Ausgestaltung des Prager Veitsdoms im 19. Jahrhundert Religiöse Praxis und Kunstreligion im Konflikt 127 Angelo Maiolino Politische Kultur und Hegemonie
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Stephan Dreischer, Sebastian Heer, Katharina Kern Politische Ordnungsdiskurse im Vergleich: Gesamtdeutschland, Ostdeutschland und die Europäische Union 158
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Inhaltsverzeichnis
Geltendes balancieren – Transzendenz amalgamieren Nele Schneidereit Der Streit um Gleichheit Konkurrierende Werte in der normativen Sozialphilosophie der Gegenwart 179 Katja Lasch, Denise Theßeling Freundschaft, triuwe und êre – Leitsemantiken und konkurrierende Verpflichtungen im Engelhard und im Prosalancelot 197 Kai Hering, Tobias Tanneberger Unglaubliche Geschichten? Zur Plausibilisierung von Transzendenzbehauptungen
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Stefan Dornheim, Swen Steinberg Die lange Schicht von Ehrenfriedersdorf Konkurrierende Transzendenzbezüge in der Lebens- und Arbeitswelt des erzgebirgischen Bergbaus zwischen Reformation und Romantik 233 Rut-Maria Gollan, Kai Krauskopf Gottes Abschied? Die Frankfurter Paulskirche und die Dresdner Frauenkirche
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Katharina Neumeister, Peggy Renger-Berka Das Atom im Reagenzglas Die Kerntechnik als Legitimationsressource im öffentlichen BiotechnikDiskurs 272 Dietrich Herrmann Vor und über der Verfassung Außerkonstitutionelle Begründungsmuster in höchstrichterlichen Entscheidungen 288 Geltendes transformieren – Transzendenz (neu) begründen Irene Schulmeister, Johanna Rautenberg Tora oder Wort Gottes? Legitimierung von Gemeinschaftsmodellen im nachexilischen Israel (Deuteronomium 23, 2–9, Nehemia 13,1–3, Jesaja 56,1–8) 313
Inhaltsverzeichnis
Gernot Kamecke Die Ordnung der Literatur und das Paradigma der Metaphysik Eine Betrachtung der Säkularisierungsthese aus der Perspektive der spanischen Aufklärung 330 Marzia Ponso Die Sakralisierung der Nation in der Ikonographie des Risorgimento 345 Maik Herold, Jan Röder Die Präambel des Grundgesetzes zwischen Sachlichkeit und Numinosität 370 Katrin Pittius, Sylka Scholz Von Natur aus ungleich? Der Diskurs um das Gleichberechtigungsgesetz in der Bundesrepublik Deutschland 388 Uwe Fraunholz, Detlev Fritsche, Anke Woschech Grenzen der Technikgläubigkeit? Konkurrierende Deutungen von Atomkraft im Übergang von der Technokratischen Hochmoderne zur Reflexiven Moderne 406 Paul Kaiser Gemeinsinn-Suggestion und Status-Überschreitung Akteurskonzepte und Strukturwandel im Kunstsystem der Gegenwart 426 Über die Autorinnen und Autoren
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Transzendenz und Konkurrenz: eine Einführung 1 Thema und Fragestellung Kulturwissenschaftliche Ansätze gebrauchen den Begriff der Geltung als Leitkategorie, um die Frage nach der Entstehung, der dauerhaften Stabilisierung und auch der Destabilisierung von politischen und sozialen Ordnungen zu beschreiben. Ordnungen können Geltung insoweit beanspruchen, als es ihnen gelingt, symbolisch Sinn zu generieren und damit explizite oder implizite Akzeptanz dauerhaft zu stiften. Die Geltung unterschiedlicher Ordnungen kann sich an so divergenten Phänomenen wie der Frage des christlichen Opfer- oder Tötungsverbotes in der Antike festmachen, sie kann am Problem der Devianz von frühneuzeitlichen, rechtlichen und sozialen Normen bemessen werden, sie kann sich in mittelalterlichen Herrschaftsgenealogien manifestieren oder an der Bedeutung der Dresdner Frauenkirche, sie wird in der Verfassung und ihrer Auslegung relevant und auch in Kunst oder Architektur stellen sich die Fragen nach der Geltung spezifischer Ordnungsvorstellungen. Kann es aber innerhalb eines solchen kulturwissenschaftlichen Ansatzes, der Ordnungen von metaphysischen Wahrheitsbegriffen entkoppelt hat und als symbolische Geltungskonstruktionen von sozialen Praktiken und Diskursen begreift, überhaupt ein ‚Jenseits‘ der Geltung geben? Die Frage will der vorliegende Band beantworten, indem auf die kulturellen, politischen und sozialen Produktionsbedingungen verwiesen wird, die der Geltung vorausgehen, sie generieren, stützen und auch bestreiten. Die Geltung einer Ordnung beruht so auf ganz bestimmten Voraussetzungen – auf unhinterfragten Annahmen, verdeckten Bedingungen, kurz: auf kulturellen Hintergrundleistungen und Stabilisierungsmechanismen, die in der jeweiligen Ordnung selbst möglicherweise nicht sichtbar werden, sondern die sie überschreiten und damit erst jenseits ihrer selbst zu finden sind. Wie also begründen und stabilisieren soziale und politische Ordnungen ihre Geltung? Folgt man den Einsichten der kulturwissenschaftlichen Theorie institutioneller Ordnungen, so geschieht dies durch Diskurse und Praktiken, die in ihren Mechanismen in einem historisch übergreifenden Vergleich analysiert werden können. Damit sind die antiken Gemeinwesen ebenso wie die moderne Staatlichkeit, das nachexilische Israel ebenso wie die spät- oder gar postmodernen Ordnungen der Technik, der Religion, der Politik etc. unter einer gemein-
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samen, begrifflich-theoretisch gestifteten Perspektive zugänglich, die nach den Mustern der Begründung und der Stabilisierung fragt. Im Anschluss an den Dresdner Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ untersuchen wir Phänomene der Ordnungsbegründung und -legitimierung durch konkurrierende Behauptungen von Transzendenz.¹ Unter ‚Transzendenz‘ soll dabei, entgegen der naheliegenden religiösen Engführung, in allgemeiner Hinsicht ein kulturell-symbolisch verfasster Prozess verstanden werden: Durch den Verweis auf ‚Unverfügbares‘ sowie durch die Produktion eines überschießenden symbolischen Potentials, so die Vermutung, lassen sich Ordnungszusammenhänge auf Dauer stabilisieren, indem sie sich einer Hinterfragbarkeit entziehen und durch Sinnstiftung ihre eigene Grundlage sichern. In dieser Dimension schließen wir an die Vorarbeiten aus dem Dresdner Sonderforschungsbereich 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ an und greifen insbesondere den kulturwissenschaftlichen Ansatz von Karl-Siegbert Rehberg auf.² Für uns entscheidend ist dabei neben der Dimension der Unverfügbarkeitsbehauptung der enge Zusammenhang von Symbolisierung und Transzendierung. Dabei leben die untersuchten Ordnungen allem Anschein nach von einer Paradoxie: Während sie in ihrer Selbstdarstellung zumeist einen zentralen Wert, ein oberstes Prinzip, eine Form der letzten Begründung oder eine apriorische Leitidee postulieren, so scheinen sie doch in den konkreten Diskursen und Praktiken stets in eine Vielfalt von teils konkurrierenden, teils miteinander amalgamierten Geltungsansprüchen und transzendierenden Sinnverweisen eingebettet. Im Mittelpunkt soll daher genau diese Frage nach den konkurrierenden und den amalgamierten Transzendenzbehauptungen in unterschiedlichen historischen Kontexten und in ihrer symbolischen Formenvielfalt stehen. Während das Phänomen miteinander im Konflikt stehender Transzendenzbehauptungen gerade für die Spät- oder Postmoderne als spezifisches Epochenkennzeichen behauptet wurde,³ so kann die historisch-empirisch vergleichende
1 Vgl. grundlegend zum Forschungsprogramm Vorländer 2011. 2 Die zentrale Prämisse dieser anthropologisch-phänomenologisch fundierten Kulturtheorie lautet, dass der Weltzugang dem Individuum nur symbolisch möglich ist: „Symbole sind die Medien, durch die allein wir Wirklichkeit ‚haben‘ können. […] Symbole repräsentieren nicht nur eine Welt, sondern schaffen sie, sind insofern zugleich Voraussetzung ihrer Umschaffung“, Rehberg 1994, S. 58. 3 Thomas Kuhn 1967 hat die Differenz zwischen verschieden Wissensparadigmen noch diachron verstanden, während Jean-François Lyotard 1986 bereits von einer synchronen Existenz in sich geschlossener, miteinander konkurrierender Wissensordnungen innerhalb postmoderner Gesellschaften ausgeht. Dieser Aspekt von sich einander jeweils unverfügbar gegenüberstehenden gesellschaftlichen Teilsysteme bildet eine der zentralen Annahmen der
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Perspektive aufzeigen, dass es sich hierbei keineswegs um ein modernespezifisches Phänomen handelt, sondern auch in anderen Ordnungskontexten das Problem des Ausschlusses von konkurrierenden Alternativen über den Verweis auf Unverfügbares operierte – mit dem Unterschied freilich, dass gerade die Pluralität der konkurrierenden Geltungsansprüche in antiken, mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Gemeinwesen kaum einen analogen Ort der Reflexion besaß, wie ihn für die Moderne die wissenschaftliche Diskussion oder auch kulturelle Inszenierungsformen bieten. Die Konkurrenz transzendierender Ansprüche wurde also selbst symbolisch verdeckt. Im Folgenden wird nun zunächst der zentrale Leitbegriff der Transzendenz präzisiert und in einen Bezug zu institutioneller Ordnung und zu Religion gesetzt (1). Dann folgt eine Formulierung der übergreifenden Fragestellung (2). Im Anschluss daran wird diese Fragestellung durch drei analytische Dimensionen methodisch operationalisiert. Transzendenzbehauptungen können so über ihre diskursive und praktische Dimension, über ihre symbolische Dimension und ihre geschichtliche Dimension entschlüsselt werden: Diskurse und Praktiken sind die Fundorte konkurrierender Transzendenzbehauptungen, sie liefern das empirische Untersuchungsmaterial (3.1). Da es sich um Geltungsbehauptungen, also um Fragen des sozialen Sinns handelt, sind diese zudem immer symbolisch verfasst – die Beiträge setzen daher an der symbolischen Dimension sozialer Wirklichkeit in ihrer bildlichen, textlichen oder metaphorischen Ausprägung an (3.2). Schließlich sind Transzendenzbehauptungen als diskursive und praktische Symbolisierungen nicht nur immer in besonderen historischen Kontexten verortet, sondern greifen zur Steigerung ihrer eigenen Evidenz auch auf historische Narrative zurück (3.3). Am Ende der Einleitung findet sich zudem eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Beiträge (4).
1.1 Transzendenzbegriff Was aber ist nun genau mit dem Begriff der Transzendenz gemeint und warum eignet er sich als Analysekonzept für soziale und politische Ordnungen in ganz unterschiedlichen Epochen der europäischen Geschichte? Hier sind zunächst wichtige Abgrenzungen und Unterscheidungen zu treffen: Im Rahmen unserer
Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann 1984: Teilsysteme sind aufgrund verschiedener Operationscodes einander entzogen, nur als Umwelt wahrnehmbar. Gleichwohl reserviert Luhmann den Transzendenzbegriff als Gegenbegriff der Immanenz noch für die Religion, vgl. Luhmann 2002.
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interdisziplinären, durch einen gemeinsamen kulturwissenschaftlichen Hintergrund zusammengehaltenen Perspektive wird Transzendenz nicht auf das Phänomen religiöser Transzendenz verkürzt. Vielmehr wird das Konzept als ein offener Suchbegriff eingesetzt, dessen Inhalt sich nicht vom historisch-empirischen Untersuchungsmaterial abtrennen ließe – etwa in Form einer abstrakt-universalen Theorie der Religion oder der Gesellschaft –, ohne seine besondere Pointe zu verlieren. Das Konzept der Transzendenz dient also als heuristisch-analytisches Werkzeug, das in ganz unterschiedlichen historischen Kontexten angewendet wird und das kontextübergreifende Vergleichsmöglichkeiten und Analogien hervorheben soll. Damit dient das Material nicht lediglich als Leiter auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie des Transzendenten, der man sich nach Erreichen des Ziels problemlos und der besseren Systematisierbarkeit halber entledigen könnte. Der Begriff dient im Gegenteil dazu, Analogien, Gemeinsamkeiten, Varianten und Differenzen im Material selbst erscheinen zu lassen und durch eine dritte Ebene – die Ebene der Theoriebildung – eben Ähnliches und Divergierendes überhaupt erst sichtbar machen zu können. Grundsätzlich lassen sich einige Aspekte festhalten, die für den Gebrauch des Transzendenzbegriffs in diesem Band leitend sind: Zunächst handelt es sich um einen Prozessbegriff, nicht um einen Substanzbegriff. Damit wird die konstruktivistische Dimension unseres Ansatzes unterstrichen, der in seinen Untersuchungen immer die Frage nach den Behauptungen von und den Ansprüchen auf Transzendenz herausarbeitet. Damit dürfte auch geklärt sein, dass es sich nicht um die Suche nach der einen oder wahren Transzendenz handelt, ebenso wenig wird in normativer Hinsicht eine metaphysische Grundlage politischer oder sozialer Ordnungen angemahnt.⁴ Vielmehr soll empirisch gezeigt werden, wie sich Ordnungsarrangements durch den symbolischen Verweis auf Unverfügbares dem verändernden Zugriff entziehen – oder wie sie genau umgekehrt durch den Verweis auf eine alternative, konkurrierende Transzendenz delegitimiert und damit verfügbar gemacht werden sollen. Mit Verweis auf die Prozesskategorie wird auch deutlich, dass es sich stets um ein bewegliches Ordnungsgefüge handelt, das sich – abhängig vom historischen Kontext mehr oder weniger dynamisch – immer wieder neu behaupten und den eigenen Geltungsanspruch gegen konkurrierende Transzendenzansprüche verteidigen muss – sei es durch Abwehr, sei es durch Integration des jeweiligen Anspruches. Der Begriff ‚der Transzendenz‘ kann also als Kurzformel für ein analytisches Instrumentarium verstanden werden: Gemeint ist damit nicht das Unverfügbare oder das Heilige als solches.
4 Darin unterscheidet sich der Ansatz von den traditionellen Positionen der „Politischen Theologie“ im Gefolge von Carl Schmitt 1922.
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Vielmehr sind es immer die Behauptungen und die Konstruktionsmechanismen von Unverfügbarkeit und Sakralität, sowie die Erfahrungen von und der Umgang mit Transzendenz. Damit kann die zentrale analytische Doppelfunktion unseres Leitbegriffs genauer benannt werden: Erstens verstehen wir unter ‚Transzendenz‘ zunächst den diskursiven und praktischen Bezug auf Unverfügbarkeit. Hierbei handelt es sich nicht notwendig um eine absolute Kategorie: Wenngleich der existenzialontologisch-philosophische Begriff der Unverfügbarkeit die Möglichkeit einer Herstellung gerade ausschließt,⁵ so kann die Analyse diskursiver und praktischer Bezüge auf das als unverfügbar Gedeutete doch durchaus die Konflikte darüber untersuchen, was genau nun als transzendent gelten solle. Ob der damit erhobene Geltungsanspruch in den Diskursen und Praktiken der jeweiligen Ordnungen auch tatsächlich eingelöst wurde, ist darum eine empirisch zu analysierende Frage. Daher erscheint es uns auch naheliegend, die Unverfügbarkeitsbehauptungen immer mit ihrem Gegenstück der Verfügbarmachung zu korrelieren und die Beziehung dieser widerstreitenden Diskurse und Praktiken als ein zentrales Spannungsverhältnis zu verstehen. In diesem Sinne lassen sich also Formen der Tabuisierung, der Entzogenheit, der Verdeckung, der Universalisierung, der Entzeitlichung, der Unberührbarkeit, der Unsagbarkeit als Behauptungen der Transzendenz verstehen – einer Transzendenz also, die nicht allein für die grundlegenden Bedingungsverhältnisse menschlichen Seins gilt,⁶ sondern die ebenso unter dem Aspekt der symbolisch-kulturellen Mechanismen der Ordnungsbehauptung analysiert werden kann, ohne hierfür über eine schwache anthropologische Annahme zur Bedeutung symbolischer Formen hinaus die gleichen ontologischen Prämissen in Anspruch zu nehmen. Zweitens lassen sich in diesem Sinne mit unserer Begrifflichkeit ebenso die Phänomene des ‚Transzendierens‘ in den Blick nehmen. Im genauen Wortsinne also ist hier das symbolische Überschreiten als ein sinn- und bedeutungsstiftender Prozess gemeint, der als transzendierender Mechanismus analysiert werden kann. Der Begriff des ‚Mechanismus‘ ist dabei in seiner metaphorischen Bedeutung zu nehmen und zeigt an, dass es uns nicht allein um akteursbezogenes Handeln zu tun ist, bei dem Transzendenzbehauptungen strategisch eingesetzt werden. Dies kann in spezifischen Fällen zwar durchaus der Fall sein, aber auch
5 In dieser Hinsicht einer philosophischen Anthropologie grundlegend die Überlegungen von Rentsch 2003, zur Unverfügbarkeit vgl. besonders S. 461ff., sowie ders. 2010; daran anschließend in diesem Band Kamecke; in sozialethischer Perspektive zur Frage der Unverfügbarkeit der Person in der Gen- und Biotechnologie auch Habermas 2005. 6 Vgl. Rentsch 2010.
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dann muss das ‚Eigengewicht‘ der symbolischen Ebene von Transzendenz analytisch berücksichtigt werden. Transzendenz entzieht sich daher einer reinen Instrumentalisierung, ihre überschießenden, mehrdeutigen und offenen Sinngehalte sperren sich gegen abschließende Domestizierungsversuche. Transzendenzbehauptungen sind aus diesem Grunde immer ‚Kippfiguren‘ und können durchaus etwas anderes kommunizieren, als es in der Intention der sprechenden und handelnden Akteure liegt. Daher müssen in der Analyse von Transzendenzbehauptungen nicht nur die Autoren, sondern auch die Adressaten und die Interpreten solcher Kommunikation untersucht werden. Somit gewinnt der Transzendenzbegriff Anschluss an die Phänomene der Auratisierung, der Heiligung, der Selbstüberschreitung und Identitätsbildung.⁷ Hier greift auch der bereits erwähnte enge Zusammenhang von Symbolisierung und Transzendierung. Während allerdings die verschiedenen Symboltheoretiker wie Karl Jaspers, Alfred Schütz oder Mircea Eliade Symbole von ihrer vermeintlichen Außeralltäglichkeit, von den „großen Transzendenzen“⁸ her bestimmt haben, kann mit Rehberg über diese implizit religiöse Fundierung der Symboltheorien hinausgewiesen werden: Der Prozess des Transzendierens ist gerade nicht nur auf das Außeralltägliche bezogen, sondern kann ebenso im Alltäglichen analytisch offengelegt werden. Das Symbolische wiederum hat damit selbst einen transzendenten Charakter. Es ist eine „Transzendierung des Lebens im Sinne einer überpersönlichen Geltung“,⁹ die mit einer Situations- und Zeitüberschreitung verbunden ist. Symbole strukturieren den Alltag und produzieren Sinn. Gerade die Transzendierungsmöglichkeiten des Alltäglichen fungieren als ein Medium der Ordnungsstabilisierung. Gleichwohl sind sowohl Institutionen als auch soziale Ordnungen jeglicher Art auf „Transzendierungsleistungen“¹⁰ angewiesen, um sich auf Dauer zu stellen und Kontinuität und Stabilität zu sichern. Beide Dimensionen der Transzendenz – der Bezug auf Unverfügbarkeit sowie die Erzeugung eines symbolischen Sinn- und Geltungsüberschusses – müssen jedoch, wie schon die Nähe der jeweils assoziierten Unterbegriffe anzeigt, stets zusammen gedacht werden, um die Funktion der Ordnungsstiftung und -legitimierung angemessen beschreiben zu können. Ein begriffliches Bindeglied besteht dabei im Konzept der Heiligung, der Sakralisierung. Wenngleich dieser Begriff
7 Vgl. zum Phänomen der symbolischen Selbsttranszendierung Luckmann 1991, sowie daran anschließend Joas 2004. Beide interpretieren diese Selbsttranszendenz jedoch ausschließlich als Phänomen des Religiösen. 8 Vgl. dazu Luckmann 2002. 9 Rehberg 1994, S. 58. 10 Rehberg 1994, S. 64.
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seine enge Verbindung mit der Religionsthematik nicht verleugnen kann, so ist es doch möglich, im analytischen Sinne solche Formen der Sakralisierung auch dort zu entdecken, wo ein explizit religiöser Bezug im Verständnis der handelnden Akteure gerade nicht gegeben ist. Darunter können insbesondere die Phänomene der Unberührbarkeit und der Unantastbarkeit von Ordnungsarrangements gefasst werden, die sich neben der Religion eben auch in der Politik, im Recht, in der Kunst oder auch der Technik auffinden lassen, ohne dass diesen zugleich eine verdeckte religiöse Affizierung untergeschoben würde. Das Konzept der Sakralisierung kann also eine Verbindung zwischen den symbolisch überschießenden, gleichsam ‚efferveszenten‘ Formen der umfassenden, quasi-offenbarten Sinngebung zum einen und der Unverfügbarkeit dieser sinnhaft vorgestellten Konstellation zum anderen liefern, wenngleich die alltagssprachliche Assoziation mit religiösen Phänomenen hier durchaus zur methodischen Vorsicht mahnt.
1.2 Transzendenz und Ordnung Aus den vorangehenden Überlegungen zum Transzendenzbegriff ergibt sich eine enge Beziehung zur Frage nach sozialen und politischen Ordnungen. Ebenso wie die Transzendenz gilt auch für ‚Ordnung‘ – verstanden als politische und soziale Ordnung –, dass darunter jeweils keine vorgegebene oder normativ erst herbeizuführende Einheit verstanden wird. Auch ist ‚Stabilität‘ von Ordnung nicht unhinterfragt erwünschtes Ziel, sondern erklärungsbedürftiges Phänomen. Es handelt sich also auch hier um einen analytisch offenen Begriff, der sich in erster Linie mit den Behauptungen oder dem Bestreiten von Ordnung auseinandersetzt.¹¹ Damit sind es in erster Linie die symbolischen Geltungsansprüche, über die sich eine institutionelle Formation Dauer zu verleihen sucht. An dieser Stelle der Legitimitäts- und Geltungsbehauptungen verkoppeln sich Ordnungs- und Transzendenzbegriff. In den Beiträgen des Bandes spiegelt sich zudem die Pluralität des Ordnungsbegriffs, der sich nicht auf eine fundamentale Ordnung reduzieren lässt. Die Spannbreite der untersuchten Ordnungen reicht so von der konstitutionell verfassten Ordnung des Politischen, über frühneuzeitliche Rechtsordnungen, die sozio-moralische Familienordnung, die räumliche Ordnung des Heiligen, die
11 Einen engen Bezug besitzt unser Ansatz daher zu der Theorie institutioneller Ordnung, die aus dem ehemaligen Sonderforschungsbereich „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ hervorgegangen ist. Dazu Rehberg 1994 sowie Melville 2001, Melville/Vorländer 2002, Melville 2005.
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visuelle bzw. sozio-ökonomische Ordnung der Kunst bis hin zu literarischen Ordnungen. Die Frage nach der Ordnung zielt also jeweils auf die Frage nach den in den Transzendenzbehauptungen implizit oder explizit verhandelten Geltungskontexten, auf den Bezug zu den historischen, gesellschaftlichen, politischen Erfahrungsräumen ebenso wie auf die Frage nach den jeweiligen Adressaten der Transzendenzbehauptungen. In diesem Zusammenhang spielt auch die Frage des Gemeinsinns eine wichtige Rolle. Als Konstituens sozialer und politischer Ordnungen bildet Gemeinsinn eine fundamentale Voraussetzung für die Stabilisierung von Bindungs- und Verpflichtungszusammenhängen. Zugleich stiften Ordnungen durch Transzendierungsformen umgekehrt einen Raum der Gemeinsamkeit, in denen gemeinsinniges Handeln auf Dauer ermöglicht wird. Beispiele dafür sind wiederum die Verfassung, aber auch die religiöse Legitimierung von Gemeinschaft, die Freundschaft als gemeinsinnige Ressource der Republik oder die Kunst als Gegenstand von Gemeinsinns-Suggestionen.
1.3 Transzendenz und Religion Diese theoretisch-begrifflichen Vorbemerkungen weisen nun auf eine entscheidende Differenzierung, die bereits oben angedeutet wurde: Transzendenz im Verständnis unseres Ansatzes ist nicht identisch mit Religion. Anders als es das von einer synonymen Verwendung geprägte Alltagsverständnis vermuten ließe, verstellt die enge Beziehung zwischen beiden Begriffen eine entscheidende Analyseperspektive: Mit der begrifflichen Trennung von Religion und Transzendenz eröffnet sich der Blick auf jene Phänomene der Unverfügbarkeit, der Sakralisierung, der bedeutungsstiftenden Überschreitung, die bislang mangels konzeptueller Alternativen vorschnell unter dem Religionsbegriff bzw. als religiöse Transzendenz subsumiert wurden. Dies gelang jedoch zumeist nur unter der Zuhilfenahme einer problematischen Zusatzkonstruktion von der ‚verborgenen‘ oder der ‚unsichtbaren‘ Religion, der versteckten Sakralität, die entgegen den uneingestandenen Selbstbeschreibungen der Akteure gewissermaßen hinter deren Rücken als die eigentlich sinnstiftende und formgebende Kraft wirkte. Ihre ganze Problematik entfaltete diese Amalgamierung in der normativen Aufladung durch die Säkularisierungstheorien und noch verschärft in der Politischen Theologie.¹² Hier wird ein normatives Gefälle zugunsten der sichtbaren und institutionalisierten Religion angenommen, welche gegen eine Vielzahl von vermeintlich
12 Vgl. im Kontext der Ritter-Schule in unterschiedlichen Variationen Lübbe 1986; Koselleck 1959; Böckenförde 1992 u.a.
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verdeckter, uneingestandener und verleugneter Religiosität ausgespielt wird, die zwar in weltlichem Gewand daherkommt, die aber ihre Geltung nach wie vor aus den Quellen religiöser Transzendenz beziehe.¹³ Ein kulturwissenschaftlich gewendeter Transzendenzbegriff kann gegen einen solchen Monismus religiöser Geltungsansprüche zeigen, dass die in religiösem Kontext jeweils auch zu findenden Geltungsmechanismen nicht exklusiv mit einem religiösen Geltungsanspruch verbunden sind. Vielmehr sind die Mechanismen der Unverfügbarstellung, der Heiligung, der Tabuisierung etc. selbst indifferent gegenüber den in ihnen kommunizierten und der Verfügbarkeit entzogenen Geltungsansprüchen, wie gerade aus der empirischen Untersuchung unterschiedlicher Transzendenzdiskurse belegt werden kann: Damit scheint hier die Vielzahl möglicher Geltungsbehauptungen und ihrer Begründungen auf, die abhängig vom jeweiligen historischen und institutionellen Kontext verfügbar sind – eine Vielfalt, die jedoch nicht als normative Pluralisierungstheorie behauptet wird, sondern die sich empirisch in den jeweiligen Diskursen und Praktiken nachweisen lässt. Untersuchungsgegenstand der in diesem Band versammelten Arbeiten ist damit die Vielfalt der transzendierenden Mechanismen in ihren Spannungen, Konflikten und Konkurrenzen: Diese Vielfalt lässt sich nicht ohne weiteres nach dem Vorbild Hegels zu geschichtlich gestaffelten Großdiskursen wie Mythos, Religion, Kunst und Philosophie arrangieren.¹⁴ Sehr viel besser lässt sich die Vielfalt des Transzendierens veranschaulichen, wenn eine solche Perspektive korrigierend erweitert oder vielmehr substituiert wird durch ein Interesse an den medialen Formen und an den Diskursen und Praktiken, in denen sie in ganz unterschiedlicher Weise eingesetzt werden. Der Befund aus den einzelnen Untersuchungsfeldern zeigt eine gleichzeitige Überlagerung, Amalgamierung sowie Konkurrenz von solchen religiösen, mythischen, philosophisch-rationalen, aber auch politischen, historischen und künstlerischen Transzendenzbehauptungen. Medial sind es zudem sowohl Texte als auch jegliche Formen der Visualisierung, von Gemälden über Architektur bis hin zu Fotomontagen, in denen die Pluralität von symbolischem Überschuss und Verweisen auf Unverfügbares zum Ausdruck kommt.
13 So auch die Totalitarismustheorie im Anschluss an Voegelin 1959, siehe u.a. Maier 2007. 14 So aber beispielsweise die Säkularisierungstheorie nach Löwith 1953.
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2 Konkurrenz und Koalition von Transzendenzbehauptungen Nachdem der leitende Zentralbegriff näher beschrieben wurde, kann nun die Fragestellung nach der Konkurrenz von Transzendenzbehauptungen noch einmal konkretisiert werden. Hinter dieser Frage verbirgt sich die Annahme, dass gerade in Konfliktsituationen die (jeder Transzendenzbehauptung inhärente) absolute Geltung bestritten wird. Im Konflikt wird Geltung in Frage gestellt und in ihrer kontingenten Form – analytisch, aber womöglich auch für die betreffenden Akteure – sichtbar, sie erscheint wandelbar statt notwendig. Damit stellt eine offene Konfliktsituation für jede Transzendenzbehauptung eine Form der Krise dar. Ein besonderes Augenmerk gilt daher den unterschiedlichen Deutungs- und Bearbeitungsmodi, mit denen auf solche Konfliktsituationen reagiert wird – sei es ein erhöhter Rechtfertigungsbedarf, sei es der Versuch einer symbolischen Konflikt- bzw. Kontingenzverdeckung oder auch eine macht- oder gewaltförmige Konfliktauflösung. Untersucht werden aber nicht nur die zahlreichen Konflikte zwischen divergenten Unverfügbarkeitsbehauptungen, sondern auch die damit einhergehenden Formen der Amalgamierung, der Synthetisierung verschiedener Transzendenzformen. Beispiele solcher Amalgamierungen finden sich – neben anderen – in hybriden Transzendenzbehauptungen wie der Frankfurter Paulskirche (Gollan/ Krauskopf) ebenso wie in den sozialphilosophischen Debatten um Freiheit und Gleichheit (Schneidereit).¹⁵ Jeweils widerstreitende Leitideen werden zu einer Einheit zusammengebunden – fraglich bleibt, wie die Spannungen und Widersprüche innerhalb einer solchen Synthese bearbeitet werden. Welche Gestalt also nehmen konfligierende Transzendenzbehauptungen in unterschiedlichen Kontexten an? Welche Rückwirkung hat das Auftauchen von konkurrierenden Transzendenzbehauptungen auf die jeweils untersuchte Unverfügbarkeitsbehauptung? Wie kann ein Spannungsfeld mehrerer Transzendenzen innerhalb einer Ordnung existieren? Angesichts der zahlreichen Vermittlungsformen und Amalgamierungen kann festgehalten werden, dass die gewaltsame Austragung konkurrierender Transzendenzbehauptungen keineswegs die Regel, sondern eher die Ausnahme darzustellen scheint – wenngleich sich die Relevanz der Fra-
15 Autorennamen ohne Jahreszahl verweisen auf Beiträge in diesem Band.
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gestellung nicht zuletzt aus dieser letzten Eskalationsmöglichkeit speist, die hier jedoch nicht explizit thematisiert wird.¹⁶ Der Topos von den konkurrierenden und amalgamierenden Behauptungen von Transzendenz kann dabei im Zusammenhang von drei Aspekten gedacht werden: Diskurse und Praktiken, Symbolik, Geschichtlichkeit. Unabhängig von ihren diskursiven und praktischen Fundorten, ihrer (visuellen und metaphorischen) Symbolik und ihrer temporal-narrativen Dimension lassen sich die Konkurrenzen und die Amalgame kaum untersuchen. An dieser Stelle soll jedoch zunächst die mögliche Form und Funktion dieser beiden Aspekte – Konkurrenz (Konflikt, Differenz) und Synthese (Amalgam, Analogie, Äquivalenz, Koalition) – vertieft werden. Die Bedeutung von Konkurrenz und Konflikten einerseits sowie von Amalgamierung andererseits ist aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu einer zentralen Analysedimension erhoben worden: Exemplarisch können hier die Untersuchungen der Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks oder auch die postmarxistische Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe genannt werden.¹⁷ Solche ‚Differenztheorien‘¹⁸ changieren zwischen einer analytischen Betrachtung und einer normativen Bewertung von Konflikt und Konkurrenz. In den Untersuchungen des Sammelbandes geht es jedoch vornehmlich um die erste Dimension. Transzendenzbehauptungen beruhen so auf einer spannungsreichen Doppelbewegung zwischen Konkurrenz und Amalgam: Zum einen setzen sie eine Abgrenzung als absolut, als unverfügbar; zum anderen mobilisieren sie eine weite Kette von Äquivalenzen, um genau dadurch die eigene Abgrenzung zu untermauern. Für die Zwecke unseres Sammelbandes gilt jedoch auch hier die generelle Maxime, keine apriorische Theorie der Transzendenz zu entwerfen, an der sich die empirischen Untersuchungen in den einzelnen Feldern messen lassen müssten. Genau umgekehrt sollen die analytischen Begriffe auch hier so offen gehalten werden, dass sie sich in den verschiedenen empirischen und
16 Vgl. in diesem Zusammenhang nur die kontroversen Thesen von Jan Assmann 2002 und 2007 zum Konflikt- und Gewaltpotential monotheistischer Transzendenzansprüche oder die Transzendenzdynamik der Kriegsdebatte in der Französischen Revolution bei Schulz 2013. 17 Hingewiesen sei aber auch auf die gesellschaftlichen Konflikttheorien von Dahrendorf 1992 sowie auf die demokratietheoretische Konflikttheorie bei Claude Lefort 1986. Vgl. zudem die ‚asymmetrischen Gegenbegriffe‘ bei Koselleck 1995 [1975], sowie die Analyse von ‚Kollektivsingularen‘ am Beispiel der Verfassung bei Koselleck 2006 [1981], S. 377; zur Diskurstheorie Laclau/Mouffe 2000 [1985] und Laclau 2010. 18 Reckwitz 2006.
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historischen Kontexten sinnvoll einsetzen lassen. Im Folgenden werden daher zunächst die drei leitenden methodischen Perspektiven des Bandes genauer diskutiert: Zunächst gilt eine nähere Betrachtung den methodischen Leitbegriffen der ‚Diskurse und Praktiken‘, anschließend wird die Bedeutung der symbolischmedialen Formen für die Untersuchung genauer beleuchtet, um schließlich die für alle Beiträge einschlägige geschichtliche Dimension des Untersuchungsmaterials zu betonen.
3 Dimensionen der Transzendenz 3.1 Diskurse und Praktiken Diskurse und Praktiken, die allen hier untersuchten Fällen in unterschiedlicher Ausformung als empirisches Referenzmaterial zugrunde liegen, sind als Fundorte von Transzendenzbezügen zu begreifen. In ihnen werden soziale und politische Ordnungen im Rekurs auf die Konstruktion von Unverfügbarkeiten begründet.¹⁹ Dabei lassen die praktisch-empirischen Zwecke dieses Bandes diskurstheoretische Zugänge gegenüber den eher methodischen Aspekten eines diskursanalytischen Vorgehens in den Hintergrund rücken.²⁰ Ganz allgemein werden in diesem Band Diskurse als jene Ressourcen verstanden, die weiterer Ordnungsbegründung sowie der Herstellung von Sinn-, Wissens- und Wichtigkeitsordnungen, aber auch der Geltungssicherung als angemessen betrachteter Praxen zum Umgang mit diesen Ordnungen dienen. In den in diesem Band vertretenen Wissenschaftsdisziplinen ist die Analyse von Diskursen dabei an sehr unterschiedliche Bedingungen geknüpft, was sich in stark differierenden Arten des Zugangs
19 Vorländer 2011, S. 9. 20 Siehe zu den diskurstheoretischen Entwicklung etwa Louis Althusser 2005 [1970]; ders. 1972; Michel Pêcheux 1975 sowie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe 2000 [1985]. Der ‚geistige Urheber‘ vieler diskursanalytischer Unternehmungen ist jedoch Michel Foucault, der nahezu allen diskursanalytisch arbeitenden Forschern – gleich welcher Provenienz – in irgendeiner Weise als Referenz dient (zur Bedeutung Foucaults für die Diskursanalyse siehe exemplarisch Diaz-Bone et al. 2007); unter der Vielzahl von Werken Foucaults, die zur Grundlegung seines diskursanalytischen Ansatzes dienen, sei exemplarisch nur auf „Archäologie des Wissens“ (Foucault 1969) sowie „Die Ordnung des Diskurses“ (Foucault 1974) verwiesen.
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und vor allem der Verfügbarkeit des Materials zeigt.²¹ Die Folgewirkungen sind offensichtlich: Textkorpora und Diskursstränge, -positionen und -ebenen²² sind in Umfang und Breite ebenso verschieden wie die jeweils interessierenden Sinneinheiten und reichen von der Mikroebene (siehe Rautenberg/Schulmeister oder auch Kästner/Scherer) bis hin zur Analyse von Großerzählungen (vgl. Hering/ Tanneberger). Aufgrund der Heterogenität der Untersuchungsgegenstände ist es also notwendig, mit einer recht breit angelegten Definition von Diskurs zu operieren, die zweierlei erfasst: einesteils das Sprachliche in Form von Texten und deren Kontext, wie es einem Großteil der Untersuchungsgegenstände dieses Bandes von der Antike bis zur Moderne zugrunde liegt; andernteils aber auch die symbolischen, gestalterischen oder situativen Inszenierungen dieser Texte und die Institutionalisierungen all dessen (vgl. dazu etwa Hering/Tanneberger). Alle Formen von Diskursen stehen stets mit Praktiken, die gleichermaßen geltungsbegründenden Charakter haben können, in einem engen Wechselverhältnis: Einesteils ist das Diskursive selbst mit allerlei Praktiken verbunden, etwa in Form der Inszenierung und Darstellung innerhalb eines Diskurses, andernteils wirken auch solche Praktiken, die – wie etwa ganz konkretes Bauen oder Entwerfen (vgl. etwa Gollan/Krauskopf sowie Schröck) – vordergründig rein handlungspraktische Bedeutung haben, aufgrund ihrer darin vorgenommenen Transzendenzrekurse ebenso ordnungsbegründend. Folglich dürfen Diskurse und Praktiken nicht in der Art als Trennungsbegriffe verstanden werden, dass es entweder nach Diskursen oder nach Praktiken der Konkurrenz und Amalgamierung von Transzendenz zu suchen gelte. Vielmehr wäre eine solche Trennung künstlich; denn es ist in der Alltagswirklichkeit eine Vielzahl von diskursiven Praktiken erkennbar, die allenthalben in sowohl Sprach- als auch Symbolzusammenhänge eingebunden sind. Ohnehin sind Diskurse und Praktiken, in denen auf Unverfügbares Bezug genommen wird, gleichermaßen zur Generierung, Aufrechterhaltung oder Transformation von Ordnungsfigurationen wichtig. Folglich nehmen einige Texte dieses Bandes ihren Ausgang bei den diskursbezogenen Praktiken der Bezugnahmen auf Unverfügbares, wobei sie sich auf vollkommen unterschiedliche Formen der Medialisierung dieser Rekurse konzentrieren. Die Fundorte solcher Bezugnahmen sind dementsprechend heterogen und reichen von symbolisierten Leitbildern oder Leitideen (vgl. etwa Kaiser) über Feste, verschiedene Formen gesellschaftlicher Praktiken
21 Für die historische Diskursforschung siehe einführend Landwehr 2008, für die sprach- und literaturwissenschaftliche vgl. etwa Link 1983 sowie Jäger 1994 und für die sozialwissenschaftliche siehe u.a. Keller 2005; 2006. 22 Siehe zu dieser strukturellen Einteilung von Diskursen Jäger 2006, S. 98ff.
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und Rituale bis hin zu Inszenierungen, Bildkompositionen und den ohnehin vielfältigen Modi der Ordnungssymbolisierungen (vgl. dazu bspw. Buskirk/Kaschek). Andere nehmen ihren Ausgang direkt im Sprachlichen oder Textlichen, also den Diskursen im engeren Sinne, und suchen darin die Bezugnahmen auf Unverfügbares. Auf diese Weise wird auch leicht ablesbar, wo Konkurrenz und Amalgamierung von Transzendenzbezügen empirisch zu verorten sind. Ganz konkret findet man sie dort, wo eben durch Sprache oder im Kontext von Sprache und deren Inszenierung durch einzelne Akteure (Sprecher, Schreiber, Künstler, Architekten) offenkundig Rekurse auf Unverfügbares stattfinden.
3.2 Symbolisierung Bereits deutlich geworden sein dürfte, dass Transzendenz symbolisiert werden muss. Die Symbolisierung erfolgt meist auf der sprachlich-diskursiven Ebene, gilt doch die Sprache als wichtigstes Symbolsystem. Oft sind Symbolisierungen jedoch auch visuell. Dies reicht von der Drucklegung von Texten wie der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die so zum geschriebenen Wort wird, das eine numinose Dimension enthält (Herold/Röder), über die antiken Statuen am päpstlichen Hof um 1500, welche die Kontingenz der individuellen Existenz transzendieren und deren Besitz zugleich die Macht des Papstes symbolisiert (Buskirk/Kaschek) bis zur Paulskirche in Frankfurt am Main, die in ihrer baulichen Gestalt nicht nur sakral-religiöse Transzendenzverweise enthält, sondern auch die deutsche Demokratiegeschichte symbolisiert (Gollan/Krauskopf). Die Beispiele zeigen, dass die Begriffe Symbolisierung und Visualisierung nicht trennscharf sind, vielmehr stehen sie für unterschiedliche Forschungstraditionen, die Überschneidungen aufweisen, jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur locker miteinander verbunden sind. Theorien der Symbolizität rekurrieren darauf, dass alle Modalitäten und Formen des menschlichen Lebens von zeichenhaften Verweissystemen abhängen – der menschliche Weltbezug ist somit grundlegend mittelbar und künstlich. Aus anthropologischer Perspektive, so die bekannte Formulierung von Arnold Gehlen, ist der Mensch „von Natur aus ein Kulturwesen“, er lebt in einer künstlichen Sphäre, einer „zweiten Natur“.²³ Daher ist die von den Menschen wahrgenommene und von ihnen geschaffene soziale Welt stets symbolisch vermittelt. Auf den engen Zusammenhang zwischen Symbolizität und Transzendenz wurde bereits oben verwiesen: Der Mensch ist darauf angewiesen, „jede Situation, in
23 Gehlen 1993 [1940], S. 88.
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der er lebt, zu deuten und zugleich das Hier und Jetzt zu überschreiten“.²⁴ Für die Struktur der symbolischen Verfügung über die Welt ist die Sprache zentral. Sie ist ein Symbolsystem, das jedoch nicht nur auf einem konventionellen Zeichensystem beruht, sondern in enger Relation zu Bildern steht. Die Wahrnehmung der Welt erfolgt prinzipiell bildhaft, worauf Alltagsbegriffe wie ‚Einsicht‘ oder ‚Anschauung‘ verweisen – und auch anthropologisch betrachtet steht die Sprache in enger Relation zu Bildern und Gefühlen. Gerade durch diese Verbindung mit allen menschlichen Sinn- und Wahrnehmungsstrukturen enthält die Sprache eine „strukturelle Offenheit“,²⁵ die erlaubt, Transzendenzbehauptungen zu formulieren, aber auch in Konkurrenz zueinander zu setzen, neu zu kombinieren, zu reformulieren etc. Theorien der Visualität beschäftigen sich mit dem Gesamtbereich der optischen Wahrnehmung, Auffassung und Vorstellung. Drei Aspekte stehen im Vordergrund, wenn man von Visualität spricht: Dies sind die Prozesse des Sehens selbst, gerade der Augensinn gilt als besonders stark historisch-kulturell geprägt und sozial überformt. In enger Verbindung mit der historischen Medialisierung und Industrialisierung des Sehens steht die Frage nach der Bildhaftigkeit von Wissen und der Wissenskonstitution durch Bilder. An dieser Stelle lassen sich Überschneidungen zwischen den Forschungstraditionen feststellen, rekurrieren doch beide auf die anthropologischen Studien von Gehlen und Plessner zur Bildhaftigkeit von Sprache und Wahrnehmung. Weitergehend wird aber gefragt, was wir unter einem Bild verstehen, was genau der Unterschied zwischen Bild und Sprache oder, anders formuliert, zwischen Bild und Text ist. Übergreifend lassen sich in den vielschichtigen Debatten²⁶ drei Charakteristika von Bildern bestimmen: Synchronizität, Simultanität und Polysemie. Aus dieser Komplexität des Bildes resultiert die eigentümliche „Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen“,²⁷ die dazu führen kann, dass konkurrierende Transzendenzbehauptungen in einem einzelnen Bild symbolisiert werden können – wie beispielsweise in den einzelnen Titelbildern der Sachbuchreihe für Kinder „Was ist was“ zum Thema Atomenergie deutlich wird (Fraunholz/Fritsche/Woschech). Mit Rekurs auf die Vorarbeiten des Dresdner Sonderforschungsbereich 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ lassen sich nun verschiedene Dimensi-
24 Rehberg 2001, S. 5. 25 Rehberg 2001, S. 6. 26 Vgl. u.a. Breckner 2010; Bohnsack 2009; Boehm 1994; Friebertshäuser/Felden/Schäffer 2007; Hieber/Schrage 2007; Maar/Burda 2004 oder Raab 2008. 27 Imdahl 1996, S. 107.
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onen des Symbolischen differenzieren.²⁸ Da sind zunächst die ‚klassischen‘ TextSymbole zu nennen, aber auch die räumlich-dinglichen, die leiblichen und die zeitlichen Symbole. Mit Rückgriff auf die Bildtheorien lassen sich davon bildliche Symbole abgrenzen. Erweiternd verstehen wir als verbindendes Element zwischen bildlichen und sprachlichen Symbolen Metaphern.²⁹ Gerade bei einem so abstrakten Begriff wie Transzendenz fungieren Metaphern als Schnittstellen zwischen Begriff und Anschauung. In dieser Hinsicht kann mit Hans Blumenberg³⁰ von einer Anlehnungsbedürftigkeit theoretischer Begriffe an imaginäre Orientierungen ausgegangen werden. Dies gilt nicht nur für die in den empirischen Materialien auffindbaren Metaphern, sondern auch für die Wissenschaft selbst, wenn etwa die Transzendenzbezüge der Atom- und der Gentechnik in der Metapher vom „Atom im Reagenzglas“ zusammengefasst werden (Neumeister/Renger-Berka). Insgesamt unterscheiden wir hinsichtlich der symbolischen Verfasstheit von Transzendenzbehauptungen also zwischen sprachlichen, metaphorischen, bildlichen, leiblichen und räumlich-dinglichen Symbolisierungen. Die aktuell weitgehend nebeneinander stehenden Theorienangebote zur Symbolizität, Metaphorik und Visualität ergänzen die Diskursanalyse damit durch eine visuell-symbolische Forschungsperspektive, um die Frage nach der Konstruktionslogik und ‚materiellen‘ Verfasstheit von Transzendenzbehauptungen zu beantworten.
3.3 Geschichtlichkeit Die dritte Dimension liegt in der Geschichtlichkeit der jeweiligen Untersuchungsphänomene. Dabei ist primär zunächst schlicht und einfach an die historische Dimension der – wie oben ausgeführt – in Diskursen und Symbolisierungen beschriebenen bzw. zu findenden Amalgamierungen und Konkurrenzen zu denken, die eben immer ‚in der Geschichte‘ stattgefunden haben oder stattfinden und dementsprechend zu kontextualisieren sind. Aber neben Transzendenzbehauptungen in der Geschichte gibt es auch spezifische Argumentationsfiguren aus und Rechtfertigungen mit der Geschichte. Eine solche ‚Verfügung über Geschichte‘ kann sowohl durch das Postulieren ‚des Ziels‘ (in) der Geschichte als auch das Rekurrieren auf ‚den Ursprung‘ erfolgen. Dabei wird zum Teil die Trennlinie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überschritten, schon wenn aus
28 Vgl. als Überblick Melville 2001; Müller et al. 2002. 29 Grundlegend Lakoff/Johnson 2008; ein aktueller Überblick zum theoretischen und empirischen Forschungsstand findet sich in Kruse et al. 2011. 30 Blumenberg 1979; 1998.
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der Vergangenheit heraus die Gegenwart erklärt und die Zukunft geformt werden soll, noch mehr, wenn eine ganze Geltungsgeschichte konstruiert wird. Die erste Argumentations- und Denkfigur steht im Hintergrund, wenn von einer zu erreichenden Etappe, einem zu erfüllenden Ziel der Geschichte, von dem Fortschritt der Menschheit gesprochen wird. Dies kann schon für einzelne Handlungen in Anschlag gebracht werden, die in bestimmten Entscheidungssituationen als alternativlos für das Fortbestehen bestimmter Systeme postuliert werden (Maiolino). Dabei kann in beide Richtungen argumentiert werden, auch dass Handlungen gerade zu unterlassen seien, deren Effekte – gleich dem einmaligen Öffnen von Pandoras Büchse – als irreversibel und damit für weitere Menschen als nicht mehr verfügbar angesehen werden; zu denken ist hier an Debatten über Gen- und Kerntechnik (Neumeister/Renger-Berka). Während dort der Bereich vieler Generationen gleichsam nach vorne, in Richtung der Zukunft überschritten wird, funktioniert die Figur genauso auch in die andere Richtung, wenn auf einen Urzustand oder eine mythische Vorzeit rekurriert wird. Auch dies kann stabilisierendes wie kritisches Potential haben, es kann das Immer-sogewesen-Sein des Status quo ebenso in den Vordergrund treten wie eine Rückkehr zum richtigen Weg. Die Blickrichtung solcher Argumentationen ändert sich also auch nur vordergründig, denn wieder stehen Gegenwart und Zukunft im Mittelpunkt, nicht die Vergangenheit als solche. So dient die Rückführung einer Dynastie bis auf die Trojaner keinen genuin antiquarischen Interessen, sondern hat handfeste politische und vor allem ‚aktuelle‘ Gründe (Hering/Tanneberger), getreu dem Motto: Herrschaft braucht Herkunft.³¹ Die Konstruktion von Kontinuität und nachträgliche Umdeutung kontingenter Ereignisse als Glieder einer Kette ist jedenfalls ebenso eine Verfügung über die Geschichte wie das Postulat ihres Sinns und Ziels.³² Eine spezifische Form solcher Verfügung von einzelnen Akteuren oder Institutionen über Geschichte, in der die genannten Argumentationsmöglichkeiten einzeln oder kombiniert auftreten, ist die Ausformung oder Behauptung einer Eigengeschichte, ein Konzept, welches bereits im Sonderforschungsbereich 537
31 Vgl. nur Assmann 1992, S. 71; siehe ebenfalls dort S. 78–86 für fundierende wie auch kontrapräsentische Funktionen einer Mythomotorik, wenn die Gegenwart mit einem goldenen Zeitalter kontrastiert wird. Für Veränderungen können beide Varianten benutzt werden, wenn neue Ordnungen „als in Wahrheit von jeher geltend und nur noch nicht richtig erkannt oder zeitweise verdunkelt und nunmehr wiederentdeckt behandelt“ werden, wie es Max Weber 1964 [1922], S. 26f. für traditionale Gesellschaften ausgeführt hat. 32 Vgl. für eine solche „Verfügbarkeit über die Geschichte“ den gleichnamigen Artikel von Koselleck 1995 [1977].
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eine größere Rolle gespielt hat.³³ Hier soll nur interessieren, dass ein Grundelement der verschiedenen möglichen Definitionen und Konzepte von Institutionalisierung auf der einen Seite die „Dauerhaftigkeit von sozialen Gefügen im vergänglichen Fluß der Zeit“ ist und auf der anderen Seite Institutionen gerade diese „Dauerhaftigkeit deshalb produzieren, weil sie sinnbezogene und ordnungsstiftende Determinierungen von sozialen Interaktionen sind“.³⁴ Während der letzte Aspekt auf normative Strukturen zurückweist, die von Menschen sowohl konstruiert werden als ihnen auch vorgängig sind, ist für uns der Aspekt der Stabilisierung und Auf-Dauer-Stellung mit Hilfe institutioneller Mechanismen interessant, zu dem eben auch Eigenzeit und Eigengeschichte gehören.³⁵ Unter Eigenzeit versteht Karl-Siegbert Rehberg dabei sowohl eigene Zeitrechnungen von Kirchen, Staaten oder Dynastien als auch Versuche, die Trennung von Vergangenheit und Gegenwart zu überschreiten, wie bei der Wandlung der Hostie in der römischkatholischen Kirche. Eigengeschichte steht für die bereits erwähnte legitimatorische Wirkung von Kontinuität, die historische Kontingenz durch innere Notwendigkeit ersetzt. Wenn in einer Eigenzeit die Zeit überschritten und in einer Eigengeschichte die Unverfügbarkeit des jeweiligen Status quo behauptet wird, so sind dies Argumente mit Geschichte. Daneben treten dann in historischer Variation verschiedene weitere Transzendenzbehauptungen, gleichsam in der Geschichte. Alle Geltungsgeschichten unterliegen aber, unabhängig von ihrem Selbstverständnis oder Anspruch, in ihrer jeweiligen historischen Form einer eben nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich begrenzten Reichweite. Spannend ist dann das Zusammentreffen verschiedener, prinzipiell in Konkurrenz stehender Transzendenzbehauptungen, weshalb gerade hier ein Feld für friedliche Koexistenzen, aufbrechende Konkurrenzen und Formen der Amalgamierungen zu sehen ist. Dabei gilt: Nicht nur in der, sondern auch mit der Geschichte lässt sich Geltendes bestreiten, balancieren und transformieren, lässt sich Transzendenz herausfordern, amalgamieren und (neu) begründen.
33 Vgl. neben den weiteren Ausführungen im Text vor allem Melville/Vorländer 2002. 34 Melville 1992, S. 4 und S. 7. 35 Vgl., auch für das Folgende, Rehberg 1998, bes. S. 400–402.
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4 Zusammenfassung der Beiträge in diesem Band* Der erste Teil des Bandes vereint eine Reihe von Beiträgen, in welchen es immer wieder darum geht, wie eine geltende Ordnung bestritten und ihre Transzendenzbehauptung(en) herausgefordert werden – und zwar nicht im Sinne von heimlicher Abweichung, sondern im Gestus offener Devianz und mit der Verve alternierender, ebenfalls unverfügbarer Geltungsbehauptung. So kann Lundgreen für die späte römische Republik zeigen, wie Cicero mit seiner Konzeption von Freundschaft von den Vorstellungen seiner Zeitgenossen radikal abweicht, sein Modell aber nicht als möglich vorschlägt, sondern als unverfügbar behauptet. Da Cicero die Freundschaft weiter mit dem Vorrang des Staates verknüpft, erhalten seine vorgeblich philosophischen Äußerungen auch politische Sprengkraft. Konkurrierende Transzendenzen können zudem auch in Prozessen religiösen Wandels beobachtet werden. Das Aufkommen des Christentums mit seinen zur paganen Antike konkurrierenden Wertvorstellungen bietet dafür exemplarische Muster: Junghanß/Walther untersuchen den Konflikt des christlichen Tötungsverbots mit den verschiedenen Formen der Kindes- und Selbsttötung, die in der antiken Praxis teilweise erlaubt, mitunter sogar geboten waren. Lüke/Pauling zeichnen Konfliktlinien zwischen Christen und Heiden in der antiken Polis sowie innerhalb der christlichen Gemeinden am Beispiel des Verkaufs und Genusses von Opferfleisch nach – eine Praxis, welche integraler Bestandteil der sozialen Ordnung war, die von den Christen jedoch durch ihre Verweigerung herausgefordert wurde. Mit der Aufrechterhaltung und Herausforderung gottgewollter Ordnung innerhalb religiöser Gemeinschaften beschäftigen sich auch drei weitere Texte: Kästner/Scherer demonstrieren am Beispiel der Stadt Leipzig im 17. Jahrhundert, dass die Spannbreite der Reaktionen auf religiöse Devianz in der lebensweltlichen Praxis von Toleranz durch Ignoranz bis hin zu juristischer Sanktion reichte. Im Beitrag von Buskirk/Kaschek wird sodann am Beispiel von Körperbildern in der Kunst der Reformationszeit demonstriert, wie diese religiös kanonisiert und verbreitet, in der Verbreitung verändert und schließlich in der Veränderung – etwa mittels der Ironisierung – bestritten werden. Bei Schröck schließlich ist zu sehen, dass im Konflikt zwischen Bischof und Dombauverein um die Ausgestaltung des Prager Veitsdoms, also in einer Situation, in welcher sich der Konflikt allein um die Frage der angemessenen Symbolisierung des Transzendenten dreht, sich am Ende der Bischof aufgrund sanktionsbewehrter Machtmittel durchsetzt.
* Wir danken Carola Klinkert für die umsichtige Korrektur aller Beiträge dieses Bandes.
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Die Durchsetzung von Geltungsansprüchen ist jedoch nicht allein eine Frage der Verfügungsmacht, sondern auch und vor allem der hegemonialen Deutungsmacht. Dieser Frage widmen sich die letzten Beiträge des ersten Teils. Zunächst zeigt Maiolino entlang Gramscis Hegemonialisierungstheorie, wie politische Kultur, verstanden als ein Kanon gemeinsam geteilter Deutungsmuster einer Gesellschaft, in Geltung gebracht und gehalten wird. Um Dissens in der konkreten Ausgestaltung politischer Ordnung geht es dann im Beitrag von Dreischer/ Heer/Kern. Anhand der Beispiele Ost- und Westdeutschlands sowie Europas wird untersucht, wie es zur diskursiv herbeigeführten Durchsetzung alternativer Transzendenzrekurse kommen kann, die ihrerseits andere Situationsdefinitionen und Handlungen hervorbringen. Eine andere Figur liegt vor, wenn Transzendenzbehauptungen amalgamiert werden und damit konkurrierende Geltung balanciert wird. Der zweite Teil des Bandes beginnt mit Beiträgen, in denen das Problem konkurrierender, gleichwohl aber für sich genommen unbestrittener Werte behandelt wird. Schneidereit rekonstruiert den sozialphilosophischen Streit um Gleichheit. Es zeigt sich, dass nur einige ultra-liberale Positionen (wie bspw. Robert Nozick) die Gleichheit der Freiheit wirklich unterordnen und letztere absolut setzen, während selbst die Kritiker eines Egalitarismus (wie Ronald Dworkin oder Joseph Raz) die Gleichheit der Freiheit zwar nachordnen (was auch zu konkreten politischen Konsequenzen führt), ihr dennoch aber für das übergeordnete Ziel des Gemeinwohls einen wichtigen Rang nicht bestreiten. Dagegen geht es bei Lasch/Theßeling um den für sich genommen unbestrittenen Wert von Freundschaft, welche aber absolut gesetzt Gemeinschaft zerstören kann. Anhand der mittelalterlichen Literatur des ‚Engelhard‘ von Konrad von Würzburg und des Prosalancelots können sie demonstrieren, dass Freundschaft grundsätzlich mit der vasallitischen triuweVorstellung kongruiert und so stabilisierend wirkt. Setzt man aber eine freundschaftlich-intime Zweiergemeinschaft über die Adelsgemeinschaft, so entfaltet sie ihr destabilisierendes Potential. Hering/Tanneberger zeigen am Beispiel zweier zunächst disparat erscheinender mittelalterlicher Chroniken des staufischen Hofkapellans Gottfried von Viterbo aus dem 12. Jahrhundert und der Fürstenabfolge Brabants aus dem 15. Jahrhundert auf, wie die Konstruktion dynastischer Kontinuität und damit die Legitimierung von Herrschaft klaren Spielregeln folgte. Ungeachtet einer modernen Bewertung als Fiktion oder Erfindung arbeitet der Beitrag heraus, wie die Chronisten ihre Genealogie plausibilisieren und damit Herrschaft transzendent durch geschichtliche Abstammung begründen. Einen ähnlichen Längsschnitt unternehmen Dornheim/Steinberg: Ihr Beitrag rekonstruiert die Erzähl- und Deutungsstränge, die sich um den 1568 im sächsischen Ehrenfriedersdorf verschütteten Bergmann Oswald Barthel ranken, dessen Leichnam sechzig Jahre später gut
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erhalten wiederentdeckt wurde. In der durch dieses Ereignis gestifteten Literatur konkurrieren und überlagern sich zunächst volksreligiöse und amtskirchlichtheologische Deutungen, dann naturwissenschaftliche Erklärungen und romantische Literarisierungen sowie schließlich bergmännische Memoria in den 1920er Jahren und verschiedene politische Vereinnahmungen im 20. Jahrhundert. Gegenstand sich wandelnder, paralleler und amalgamierender Transzendenzbehauptungen können auch Bauwerke sein: Gollan/Krauskopf demonstrieren am Beispiel der Dresdner Frauenkirche und der Frankfurter Paulskirche, wie deren jeweiliger Wiederaufbau nach der Zerstörung auch eine komplexe Synthese widerstrebender Deutungen hervorgebracht hat: Protestantische Motive und nationale Identitätsstiftung gehen hier unterschiedliche Verbindungen ein, in denen aber das religiöse Heilsversprechen gleichermaßen in den Dienst einer zivilgesellschaftlichen Vergangenheitsbewältigung gestellt wird. Besonders deutlich zeigt sich diese Amalgamierung auch, wenn ein Transzendenzdiskurs als Folie für einen anderen dient. Neumeister/Renger-Berka untersuchen, wie im öffentlichen Biotechnik-Diskurs Risiken vorwiegend im Lichte der Kerntechnik interpretiert und beurteilt wurden. Die Debatten werden fusioniert, um Gefahren aufzuzeigen und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Mitsprache einzufordern – als verbindendes Element dient jeweils der Eingriff in die natürliche Schöpfung. Der Rekurs auf die Natur spielt auch in der Jurisprudenz des Bundesverfassungsgerichts eine fundamentale Rolle. Herrmann untersucht die Bedeutung von außerkonstitutionellen Begründungsmustern in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik. Er hebt die vom Bundesverfassungsgericht in den 1950er Jahren vertretenen Figur der ‚objektiven Wertordnung‘ hervor und zeigt, wie die Geltung der Verfassung durch den richterlichen Verweis auf Geltungsressourcen jenseits ihrer selbst stabilisiert werden sollte. Der dritte und letzte Teil des Bandes fragt nun, was mit Geltungsbehauptungen in Zeiten gesellschaftlicher Krisensituationen geschieht: Wie werden soziale und politische Ordnungen in gesellschaftlichen Umbruchsituationen stabilisiert? Wie legitimieren sich mögliche Alternativen? Die einzelnen Beiträge untersuchen hier, wie Geltendes transformiert und Transzendenz (neu) begründet wird. Schulmeister/Rautenberg etwa setzen sich anhand alttestamentlicher Texte mit der Frage auseinander, wie in der nachexilisch-persischen Zeit die Zugehörigkeit zu Israel neu bestimmt wurde. Sie stellen einen konkurrierenden Rekurs auf Transzendenzressourcen zwischen Nehemia (13,1–3) und Jesaja (56,1–8) fest, die sich beide auf Deuteronomium 23,2–9 als Basistext der Tora beziehen und ihn jeweils neu deuten. Während in Nehemia enge Grenzen der Zugehörigkeit bestimmt werden, die mit einer spezifischen Toraauslegung legitimiert werden, wird in Jesaja hingegen die Heilgemeinschaft geöffnet und mit dem ‚direkten Gotteswillen‘ begründet.
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Im Kontext einer grundlegenden konzeptuellen Bestimmung untersucht Kamecke die Umbrüche in der Ordnung der Literatur im Kontext der spanischen Aufklärung. Verbunden mit einer Reflexion auf die philosophische Verankerung des Transzendenzbegriffs in der metaphysisch-scholastischen Tradition beschreibt der Beitrag, wie der Rekurs auf ein unverfügbares und unaussprechliches Grundprinzip im Zuge der literarischen Aufklärung in ein Konkurrenzgefüge säkularisierter Transzendenz übersetzt wird und welche Folgen sich daraus für die Rede von unbegründbaren Geltungsressourcen moderner Ordnung ergeben. Die folgenden Beiträge wenden sich den gesellschaftlichen Umbrüchen im 19. und 20. Jahrhundert zu. Ponsos Beitrag macht sichtbar, wie sich in der italienischen Nationalbewegung des Risorgimento eine politische Bildsprache aus dem christlich-religiösen Fundus speist, die dann über einen begrenzten Zeitraum auch in eine ikonologische Synthese aus politischen und religiösen Motiven mündet. Sowohl Herold/Röder als auch Pittius/Scholz untersuchen, wie sich die bundesdeutsche Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg als eine demokratische Gesellschaft gründete und legitimierte. Zur Herstellung der politischen Ordnung kommt dabei, so Herold/Röder, der Verfassungspräambel eine zentrale Bedeutung zu, enthält sie doch ein Bekenntnis zu den zentralen Geltungs- und Legitimationsressourcen eines politischen Gemeinwesens. Mit Blick auf die Entstehung der Präambel des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat zeigen die Autoren, wie mit der Idee eines ‚Pathos der Sachlichkeit‘ versucht wurde, das Spannungsverhältnis zwischen angestrebter Nüchternheit und für notwendig befundener Numinosität aufzulösen. Pittius/Scholz setzen sich mit den Verhandlungen um den Gleichstellungsartikel im Grundgesetz auseinander, auch ihre Untersuchung nimmt beim Parlamentarischen Rat ihren Ausgangspunkt und reicht bis zur Implementierung des Gleichberechtigungsgesetzes im Jahr 1957. Sie zeichnen den Kampf um die Neubegründung der bundesdeutschen Familienund Geschlechterordnung nach, deren Gegner sich auf die Transzendenzressourcen der ‚Natürlichkeit‘ und der ‚Gottgewolltheit‘ der patriarchalen Geschlechterordnung beriefen und somit eine Transformation hin zur Gleichstellung der Geschlechter vorerst beschränken konnten. Mit der Infragestellung des technischen Fortschrittsoptimismus als zentraler Transzendenzkonstruktion der Hochmoderne setzen sich Fraunholz/Fritsche/Woschech auseinander. Hatte der ‚Glaube‘ an den technischen Fortschritt seit den 1880er Jahren eine übergreifende Sinnordnung konstituiert, die selbst politische Zäsuren überdauerte, geriet er ab den 1970er Jahren zunehmend in die Kritik und wurde insbesondere durch die Anti-AKW-Bewegung herausgefordert, die neue Geltungsbehauptungen, wie die prinzipielle Unverfügbarkeit der natürlichen Lebensgrundlagen, ins Spiel brachte. Es konstituierte sich ein weitaus
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bescheideneres Fortschrittsparadigma, das den Diskurs um die ‚Grenzen des Wachstums‘ integriert. Den aktuellen Umbruch im Kunstsystem veranschaulicht abschließend der Beitrag von Kaiser. Er diagnostiziert durch die enorme Kapitalisierung im globalen Maßstab einen strukturellen Wandel im künstlerischen und kulturwirtschaftlichen Feld. Die neue Erbengeneration zelebriert demonstrativ Kunstkonsum, die Werke werden im Gegensatz zum modernen Sammlerethos des öffentlichen Zeigens ‚eingebunkert‘ und nur einer Elite von Gleichgesinnten zugänglich gemacht. Der exklusive Besitz von Kunst konstituiert eine lebensweltliche Transzendenzressource, welche dem ‚neuen‘ Bürgertum eine unverbrauchte Sinnordnung zur Verfügung stellt, die freilich an feudale Praktiken anknüpft.
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Geltendes bestreiten – Transzendenz herausfordern
Christoph Lundgreen
Beim Staate hört die Freundschaft auf! Ciceros amicitia als konkurrierende Transzendenzbehauptung*
1 Grenzenlose Freundschaft? „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt.“ Diese Liedzeile von Robert Gilbert, bekannt geworden vor allem durch den Film „Die Drei von der Tankstelle“,¹ hätte der römische Philosoph und Politiker Marcus Tullius Cicero wohl laut mitgesungen, hat er der Freundschaft doch eine ganze Schrift gewidmet und dort am Ende eben jene als höchstes Gut überhaupt gepriesen. Diese Abhandlung, die später de amicitia (über die Freundschaft) und ursprünglich nach einem Protagonisten des Dialogs „Laelius“ betitelt wurde,² soll am Anfang dieser Ausführungen stehen (Punkt 2). Zu fragen ist, was genau man unter Freundschaft verstehen soll und ob Freundschaft, das „Schönste, was es gibt auf der Welt“, wirklich das allerhöchste Gut ist. Diese Frage stellt sich umso mehr, als Freundschaften innerhalb einer Gemeinschaft sowohl gemeinschaftsstabilisierend als auch -zersetzend wirken können, stellt sich bei Dissens einer Gruppe oder auch nur zweier Personen doch sofort die Frage, ob und wie die Freunde der Betroffenen in den Konflikt eingreifen oder hineingezogen werden. Zusammen mit den Fällen direkter Konkurrenz zwischen Freunden, wie zum
* Dieser Artikel hat viel von zwei gemeinsamen Sitzungen der Projekte B1, B2 und S über Freundschaft profitiert, allen Teilnehmern sei für die Diskussion herzlich gedankt, für ergänzende Kommentare zu Seneca und Ciceros Freundschaftsbegriff besonders Antje Junghanß. 1 Die Drei von der Tankstelle, eine Operette von Franz Schulz und Paul Frank; Regie: Wilhelm Thiele; Premiere am 15. September 1930 in Berlin (am 1. Oktober 1937 wurde der Film verboten). Die Musik stammt von Werner Richard Heymann, die Liedtexte von Robert Gilbert. Im Film wird das Lied hauptsächlich von Willy (Willy Fritsch), Kurt (Oskar Karlweiss) und Hans (Heinz Rühmann) gesungen. Der vollständige Refrain lautet: „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Ein Freund bleibt immer Freund und wenn die ganze Welt zusammenfällt. Drum sei auch nie betrübt, wenn dein Schatz dich nicht mehr liebt. Ein Freund, ein guter Freund, das ist der größte Schatz, den’s gibt.“ Die Freundschaft hält die Liebe aller drei Freunde zu Lilian Kossmann (Lilian Harvey) aus – trotz einer Prügelei in der 37. Minute um die Ehre ebenjener und der Hochzeit am Ende zwischen Willy und Lilian. 2 Zum Titel der Schrift vgl. Fürst 1996, S. 145, sowie (ausführlich) Neuhausen 1981–1992, S. 25–47; der spätere Zusatztitel de amicitia taucht bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. bei Aulus Gellius auf (Gell. 17,5,1).
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Beispiel im genannten Film, in dem sich alle drei Protagonisten in dieselbe Frau verlieben, kann das Problem möglicher Grenzen von Freundschaft bis hin zum Extremfall des Bürgerkriegs durchgespielt werden, wenn Freunde auf beiden Seiten Loyalität einfordern und Neutralität keine Option mehr ist. Hierauf gibt auch Cicero eine Antwort, die, so wird zu zeigen sein (Punkt 3), erstens neuartig ist, zweitens politisch brisant ausfällt sowie sich drittens schön mit der Formel einer Transzendenzbehauptung fassen lässt: Ciceros amicitia fordert Absolutheit ein, kann sie aber nicht bedeuten, sie hat wirkmächtige Konsequenzen genauso wie Gegner und Verweigerer und mit ihr versucht Cicero den Konflikt um das Gemeinwesen auf einer semantischen Ebene zu lösen, wodurch dieser aber noch verschärft wird.
2 Ciceros Laelius Wie bei anderen philosophischen Schriften auch, hat Cicero den Ausführungen das ‚Setting‘ eines in der Vergangenheit geführten Gesprächs gegeben.³ Hauptperson ist der namensgebende Laelius, Konsul des Jahres 140 v. Chr. und, das ist entscheidend, enger Freund des berühmten Scipio Aemilianus. Laelius äußert sich auf Bitten seiner jüngeren Gesprächspartner (oder besser: Zuhörer) also als Fachmann, der die zu behandelnde Freundschaft selbst erlebt hat. Von Anfang an sind seine Ausführungen über die Freundschaft mit Vorstellungen von Tugend (virtus) verbunden. Dies beginnt schon damit, dass sich aus einer Freundschaft
3 Zutreffend wird dies von Gotter 1996a, S. 346, als „stilistisches Ornament“ gekennzeichnet, das den normativen Charakter der Schrift betont, vgl. auch die weitere Argumentation. Einen Überblick über Inhalt und Aufbau des Werkes bieten Lee Singh 1989, Fürst 1996, S. 144–182, oder Neuhausen 1981–1992 (unvollendeter Kommentar) sowie die Ausgabe von Combès 1993 (Budé). Da es sich eher um einen diskursiven als einen narrativen Text handelt, werden im Folgenden bewusst die Vorstellungen des Erzählers Laelius dem Autor Cicero zugerechnet. Die Übersetzung folgt dabei M. Faltner (Tusculum). Auf griechische Grundlagen und Vorbilder Ciceros wie etwa die Nikomachische Ethik des Aristoteles oder die verlorene Schrift „über die Freundschaft“ von dessen Schüler Theophrast kann hier nicht eingegangen werden, vgl. dazu Gotter 1996a, S. 353–357 und Fürst 1996, S. 176–180. Hinzuweisen ist aber in diesem Zusammenhang auf die These von Konstan 1994, S. 7f., 13f. und 1997, S. 132f., dass sich überhaupt erst seit jenem Theophrast und der Entstehungszeit hellenistischer Staaten eine Dichotomie zwischen persönlich/privater und öffentlich/allgemeiner Verpflichtung ergeben haben könne. Vorher, in der Polis-Gemeinschaft des klassischen Griechenlands und noch bei Aristoteles, sei dagegen ein Konflikt zwischen Freundschaft zu einer Person und Loyalität zum Gemeinwesen undenkbar gewesen; hieraus ergebe sich auch ein entsprechender Kontrast zwischen Aristoteles und (dem stark Theophrast folgenden) Cicero.
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zwar auch Vorteile und gegenseitige Unterstützung ergeben können, diese aber nie primäre Ziele sein sollen (30, 50f., 80). Wahre Freundschaft entspringt nicht einer Notlage, sondern der Natur der Menschen (27), amicitia leitet sich von amor ab (26). Dies führt weiter dazu, dass durch eine Freundschaft Tugenden gefördert werden sollen (83), und endet schließlich darin, dass es wahre Freundschaft nur zwischen Guten und Tugendhaften geben kann (18, 82, 100).⁴ Am Ende der Schrift wird dem Leser und Hörer ins Stammbuch geschrieben: vos autem hortor, ut ita virtutem locetis, sine qua amicitia esse non potest, ut ea excepta nihil amicitia praestabilius putetis – „Euch aber lege ich ans Herz, die Tugend, ohne die Freundschaft nicht möglich ist, so hochzuhalten, dass es – von ihr allein abgesehen – für euch kein höheres Gut geben kann als die Freundschaft“ (104). Während die Schrift bis hierhin ähnlich auch im griechischen Kontext hätte geschrieben werden können, kommt – noch vor der später zu diskutierenden Vorstellung vom Vorrang des Staates – eine genuin römische, eher praktisch orientierte Perspektive ins Spiel, wenn Cicero auch Wege der Auflösung einer Freundschaft diskutiert. Es wird durchaus realistisch von Interessenkonflikten ausgegangen, die Freundschaften verändern oder beenden können. Das liegt schon daran, dass Cicero neben einer idealen Freundschaft zwischen Weisen auch noch eine eher realistische Variante tatsächlicher Freundschaft beschreibt (sowie noch eine dritte Variante bloßer Alltagsfreundschaft, die hier aber nicht weiter verfolgt wird).⁵ Zwar besteht auch diese zwischen Guten und Tugendhaften (nisi in bonis amicitiam esse non posse [18]), doch ist sie von Kompromissen und Hindernissen gekennzeichnet. Zunächst ist es interessant zu sehen, wo in einem möglichen Konflikt zwischen Moral und Freundschaft nach Cicero die Freundschaft vorgeht. So gehört es zur Freundschaft, neben Unterstützung und Hilfe sowie dem klassischen Topos der Selbstaufopferung für den Freund, eben auch, „einmal vom Wege abzuweichen“ und „weniger berechtigte Wünsche der Freunde zu unterstützen“ (61). Vorrang genießt Freundschaft vor eigenen Überzeugungen beispielsweise vor Gericht; Heldmann hat zu Recht in diesem Zusammenhang auf Passagen aus de officiis hingewiesen, wo, wie auch im Laelius, „die der Antike so geläufige Auffassung zugrunde liegt, daß der Anwalt innerhalb gewisser Grenzen
4 Solche Gedanken finden sich beispielsweise auch bei Seneca, wenn zwar von Liebe, aber noch nicht von Freundschaft gesprochen werden kann, da letztere eben nur unter den boni möglich sei (Sen. ep. 35). Vgl. auch Cic. leg. 1,49, wo Cicero von der heiligen Freundschaft (sancta amicitia) als Grundlage von Gesellschaft, Angemessenheit und Gerechtigkeit (societas, aequitas, iustitia) spricht. 5 Für die Unschärfen und damit verbundenen Widersprüche zwischen den drei Kategorien vgl. Heldmann 1976, S. 88.
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bedenkenlos auch einen fragwürdigen Fall übernehmen darf, unter Umständen sogar muß, um den Forderungen der Gesellschaft genüge zu leisten.“⁶ Bevor nun diese Umstände, und damit mögliche Grenzen der Freundschaft in den Blick genommen werden, ist noch einmal zu unterstreichen, dass Freundschaften damit einerseits gewisse Konzessionen verlangen, andererseits offensichtlich in Abwägung, in Konkurrenz zu anderen Werten stehen bzw. schlicht nur bis zu einem gewissen Grad halten. Das Ende von Freundschaften wird in der Tat im Laelius genauso thematisiert wie ein möglicher Beginn, für beides gibt es gleichsam Rezepte, wie es besonders gut zu bewerkstelligen sei. Überraschend realistisch und deutlich finden sich auch Hinweise darauf, dass gerade im Bereich der Politik bzw. der politischen Karriere Freundschaften gewissen Belastungsproben, vor allem konkurrierendem Ehrgeiz ausgesetzt sind: „So ist es zu erklären, daß man bei denen, die ehrenvolle Stellungen im Staatsleben einnehmen, kaum wahre Freundschaft antreffen kann. Denn wo findet sich wohl der Mann, der die Ehre des Freundes über seine eigene stellt?“ (64).⁷ Im Feld der Politik, immerhin Hauptbeschäftigung der römischen Oberschicht, können amicitia und honor also in einen Konflikt geraten. In solchen Fällen sollen dann, so erforderlich, die Bande der Freundschaft vorsichtig aufgeknüpft, aber nicht aufgerissen, soll die Freundschaft auslaufen, nicht abrupt beendet werden (76–78). Aus Freundschaft soll nicht gleich Feindschaft werden, sondern sie soll zu einem neutralen Verhältnis abkühlen. Besser ist es noch, solche Konflikte und ein Auseinanderentwickeln der Beziehung zu minimieren, was bedeutet, Freundschaften nur weise und vorsichtig zu schließen: „Es gilt, Männer von fester, unverwandelbarer und unerschütterlicher Wesensart zu wählen“ – sunt igitur firmi et stabiles et constantes eligendi (62). Dabei wird die Schwierigkeit bei der Umsetzung eines solchen allgemeinen Ratschlags gesehen: „Sich ein Urteil zu bilden ist natürlich ohne vorherige Prüfung nicht leicht“ (62). Man fühlt sich erinnert an Schillers Mahnung, „Drum prüfe,
6 Heldmann 1976, S. 83f.; dies bezieht sich besonders auf off. 2,51: „genauso ist es für unbedenklich zu halten, einmal einen Schuldigen, wenn er nur nicht verbrecherisch und gottlos ist, zu verteidigen. Das will die Menge, die Tradition lässt es zu, die Menschheit duldet es. Aufgabe des Richters ist es, immer in Rechtsfällen der Wahrheit nachzugehen, des Anwalts, manchmal das Wahrscheinliche, auch wenn es nicht recht wahr ist, zu verteidigen.“ Dass dies für modernes Empfinden ein erstaunlicher Satz sein soll, wie Heldmann anmerkt, erschließt sich mir dabei in keiner Weise. Zu Bezügen zwischen dem Laelius und de officiis siehe weiter Fürst 1996, S. 167f., zu Ciceros Freundschaftskonzeption in de officiis, wo sich letztlich auch ein Vorrang der res publica findet, vgl. Junghanß i.E. 7 Itaque verae amicitiae difficillime reperiuntur in iis, qui in honoribus reque publica versantur; ubi enim istum invenias, qui honorem amici anteponat suo?
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wer sich ewig bindet.“⁸ Doch ist von ‚ewig‘ bei Cicero keine Rede, im Gegenteil: „Diese [Prüfung, C.L.] aber kann erst in der Freundschaft selbst erfolgen“ (62). Und weiter: „Und es passiert nicht selten, daß wichtige Umstände eintreten, die eine Trennung der Freunde notwendig machen“ (75). Schließlich heißt es: „Und so muss man in jedem einzelnen Fall überlegen, was man vom Freund verlangen kann und was man sich selbst abverlangen lassen will“ (76).⁹ Anstelle ewiger Bindung wie beim Dichter also konstante Überprüfung beim Römer? Dass ‚wahre‘ Freundschaft davon nicht betroffen ist, liegt jedenfalls bei Cicero nur daran, dass Tugendhafte eben nichts Unrechtmäßiges voneinander fordern. In genau solchen „unrechtmäßigen Forderungen“ sieht Cicero nämlich klar die Grenzen der Freundschaft, ja die Grenzen der Liebe in der Freundschaft (quatenus amor in amicitia progredi debeat, [36]). Denn trotz der erlaubten und teilweise erwünschten Konzessionen für die Freundschaft „dürfen sich dabei nicht die allerschandbarsten (summa turpido) Folgen ergeben“ (61). Gemeint sind Vergehen gegen den Staat, gegen die res publica; und damit kommen wir zu der für unsere Fragestellung zentralen Passage des Laelius: Haec igitur lex in amicitia sanciatur, ut neque rogemus res turpes nec faciamus rogati; turpis enim excusatio est et minime accipienda cum in ceteris peccatis, tum si quis contra rem publicam se amici causa fecisse fateatur – „Das soll also unverbrüchliches Gesetz der Freundschaft sein: Forderungen gegen das Sittengesetz weder zu stellen noch zu erfüllen, wenn sie gestellt werden. Denn verwerflich und in keinem Falle annehmbar ist die Entschuldigung, man habe dem Freund zuliebe so gehandelt – schlechthin in allen Verfehlungen, ganz besonders aber, wenn sie gegen den Staat gerichtet sind.“¹⁰ Damit wird dem vermeintlich höchsten Gut der Freundschaft ein noch höheres gegenübergestellt. Doch während man allgemein hier Freundschaft im Konflikt mit anderen Werten sehen könnte, liegt für Cicero diese Konkurrenz nur scheinbar vor. Zum einen hebt er sie formal durch die klare Rangfolge beider Werte auf, was einen potentiellen Konflikt löst oder entschärft. Zum anderen aber ist bei Cicero schon die Entstehung eines wirklich starken Konflikts ein eher theoretisches Problem, welches in der Praxis unter Freuden gar nicht aufkommen kann. Vergehen gegen den Staat sind für Cicero nur das Beispiel, eigentlicher ‚Gegenpol‘ zur Freund-
8 Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke, Vers 91 (Schiller 2004, S. 432); ähnlich lautet Senecas Mahnung: post amicitiam credendum est, ante amicitiam iudicando – „Nach dem Freundschaftsbunde gilt’s zu vertrauen, vorher aber zu prüfen“ (Sen. ep. 3,2; Übersetzung G. Fink). 9 Et saepe incidunt magnae res, ut discedendum sit ab amicis […] atque in omni re considerandum est, et quid postules ab amico et quid patiare a te inpetrari. 10 Cic. Lael. 40; vgl. fast wortgleich auch 44, siehe dazu Heldmann 1976, S. 92.
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schaft ist das Sittengesetz. Nur genau gegen dieses wollen wahre Freunde eben nicht verstoßen, ist doch Tugend selbst auch die Grundlage jeder Freundschaft. Einen klassischen Gegenbegriff oder ein Spannungsverhältnis kann man also bei Cicero selbst gar nicht ausmachen, hängen doch amicitia und virtus gleichsam konstitutiv zusammen, was eine Gegenüberstellung im Sinne einer eventuell auszuhaltenden Spannung unmöglich macht.¹¹ Warum aber dann diese Passagen? Warum sogar kurz darauf eine explizite Warnung, „allen guten Staatsbürgern einzuschärfen, sie sollten sich, falls sie durch irgendeinen Zufall ahnungslos in eine derartige Freundschaft hineingezogen werden, keinesfalls so gebunden fühlen, daß sie sich von den Freunden nicht lossagen dürften, wenn diese einen schweren Frevel gegen den Staat begehen“ (42)?¹² Der folgende Punkt wird zeigen, dass Cicero keinesfalls einer PalmströmLogik anhing, das nicht sein kann, was nicht sein darf, sondern sehr wohl sah, dass das, was eigentlich nicht sein sollte, durchaus auftreten konnte.¹³ Dabei hat die Forschung lange Zeit die dargestellten Unebenheiten und vorgeblichen Widersprüche vor allem textimmanent durch Überarbeitungen erklärt und anhand philologischer Untersuchungen über die Möglichkeit eines später erfolgten Einschubs gerade der zuletzt zitierten Passagen über den Vorrang des Staates diskutiert.¹⁴ Es ist das Verdienst Ulrich Gotters, dagegen den eminent politischen
11 Zu dieser Aufhebung des Konflikts bei Cicero vgl. Heldmann 1976, S. 89–92. Regeltheoretisch handelt es sich in Ciceros Vorstellung damit um die Verletzung konstitutiver Regeln, deren Befolgung überhaupt erst den Gegenstand hervorbringt: Zieht man einen Bauern immer diagonal, spielt man nicht ‚falsch‘ Schach, sondern ‚kein‘ Schach; weicht die Größe eines Blattes Papier ab, ist es kein ‚zu großes‘ oder ‚zu kleines‘ DIN A4 Blatt, sondern ‚kein‘ DIN A 4 Blatt, vgl. hierzu m.w.V. Lundgreen 2011, S. 42 Anm. 67. 12 Praecipiendum est igitur bonis, ut, si in eius modi amicitias ignari casu aliquo inciderint, ne existiment ita se adligatos, ut ab amicis in magna aliqua re publica peccantibus non discedant. 13 Palmström-Logik bezieht sich auf das Gedicht „Die unmögliche Tatsache“ von Christian Morgenstern, dessen letzte Strophe über den Protagonisten Palmström lautet: „Und er kommt zu dem Ergebnis / Nur ein Traum war das Erlebnis / Weil, so schließt er messerscharf / nicht sein k a n n , was nicht sein d a r f “; (Morgenstern 2003, S. 79, Hervorhebung im Original). Transzendenzbehauptungen, die nur von ‚außen‘ als Konstruktion aufgefasst werden und nach ‚innen‘ ihren konstruktiven Charakter erfolgreich verschleiert haben, funktionieren nach einem ähnlichen Muster. Zwar sind alle Normen kulturgebunden und damit prinzipiell hinterfragbar und reversibel, doch ändert eine solche Außenperspektive allein noch nichts an ihrer sozialen Wirksamkeit, vgl. in diesem Zusammenhang Lundgreen 2011, S. 29–37. Die Figur der Transzendenzbehauptung erlaubt es weiter, vermeintliche Widersprüche im ciceronischen Œuvre als Konsequenzen verschiedener, konkurrierender Freundschaftsauffassungen zu erklären, vgl. weiter im Text. 14 Zum Aufbau des Textes sowie zu Problemen der Gliederung vgl. hier Büchner 1952, den (zu Recht) eine „unerträgliche Wiederholung derselben Vorstellungen, Gedanken und
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Charakter der Schrift betont zu haben; er hat aufgezeigt „in welch bewußter Spannung Ciceros Konstruktion der Freundschaft zur sozialen Realität seiner Zeit steht.“¹⁵ Diese These wird hier aufgenommen und mit Hilfe der Formel einer konkurrierenden Transzendenzbehauptung zugespitzt, für welche umgekehrt Ciceros Freundschaftskonzeption aus dem Laelius ein schönes Beispiel dafür abgibt, wie die Neubesetzung eines Begriffes auf der einen Seite argumentativ als unverfügbar behauptet werden kann und auf der anderen Seite dennoch umstritten bleibt. Dies gilt umso mehr, wenn man sich den unmittelbaren historischen Kontext vergegenwärtigt. Cicero schreibt seinen Text im Jahre 44 v. Chr. und damit nach der Ermordung Caesars und während des beginnenden (Macht-)Kampfes zwischen und unter den Caesar-Mördern Cassius und Brutus und den Caesarianern Lepidus, Antonius und Oktavian, also zu einer Zeit, in der das Wohl der res publica von allen unterschiedlich definiert und freundschaftliche Verbindungen zu verschiedenen oder allen der genannten Akteuren zwar schwierig, politisch kaum konsistent, aber vielleicht lebensrettend waren.¹⁶
Gedankenzüge“ gestört hat (S. 88). Die hier wichtigen Passagen über den Vorrang des Staates vor der Freundschaft weichen nach Büchner im Aufbau und in der Sprache so stark vom Rest ab, dass er von einer nachträglichen Einarbeitung der Abschnitte 26–43 ausgeht (S. 100f.), Heldmann 1976, S. 99–103 spricht immerhin von einem Exkurs. Anders Combès 1993, S. XXX f., der „l’origine de l’amitié (§§ 25–32)“ und „la conservation de l’amitié (§§ 33–100)“ trennt, gefolgt von Fürst 1996, S. 159–167; differierend bezüglich der Abschnitte meint Neuhausen 1981–1992, S. 88, „daß Lälius zwei aufeinander folgende selbständige Reden über dasselbe Thema hält (§§ 17–24 und 26–104).“ Gegen verschiedene Arbeitsphasen im Text auch Gotter 1996a, S. 340 Anm. 2. Inhaltlich fallen die Passagen klar auf, die Widersprüche lassen sich aber schlicht aus dem breiten Bedeutungsspektrum von amicitia erklären, vgl. dazu weiter im Text. Die aus der ersten Variante folgende Frage der Datierung (vgl. Dahlmann 1938, S. 237–239 für nach August 44, als Erwiderung auf den Brief des Matius; Büchner 1952, S. 105f. mit Bezug auf Att. 16,3,1 auf den 16. Juli 44; Kytzler 1960b, S. 62 für Oktober 44; zustimmend Heuss 1962; Neuhausen 1981, S. 20 für September 44) braucht hier nicht entschieden zu werden, vgl. aber Anm. 30. 15 Gotter 1996a, S. 341. 16 Siehe für die Zeit nach Caesars Ermordung Gotter 1996b oder Dahlheim 2010, S. 15–79.
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3 Amicitia als konkurrierende Transzendenzbehauptung 3.1 Ciceros Neudefinition von amicitia Um Ciceros Ausführungen einschätzen zu können, muss man sie vor die Folie allgemeiner römischer Freundschaftskonzeptionen halten. Legt man die Forschungen von Peter A. Brunt zu Grunde, ist die Bandbreite des Begriffes amicitia viel größer, als es Cicero im Laelius glauben machen will.¹⁷ Zwar kann genau die geschilderte Form von aufrichtiger Zuneigung und innerer Verbundenheit, von gemeinsamen Überzeugungen und geteilten Werten gemeint sein, die bei Cicero im Vordergrund steht. Doch der Begriff changiert. Amicus ist auch bloße Höflichkeitsformel, die ohne weitere Implikationen großzügig verwendet wird. Dies gilt umso mehr bei Wahlen und bei anderen politischen oder materiellen Gefälligkeiten, die jeweils gegenseitige Verpflichtungen zur Folge hatten.¹⁸ Strukturell verwandt ist dieser relationale und reziproke Aspekt des Begriffs mit dem der Patronage, doch geht es bei der amicitia um die Kommunikation unter prinzipiell Gleich(rangig)en.¹⁹ Dies heißt nun gerade nicht, unter amicitia feste
17 Vgl. – auch für das Folgende – vor allem Brunt 1988. Siehe in seiner Folge weiter Spielvogel 1993, S. 5–19 und Gotter 1996a, grundlegend bleibt Hellegouarc’h 1972. Für die ökonomische Komponente der Freundschaft neben der politischen siehe Verboven 2002; für strukturelle Ähnlichkeiten sowie (große) Unterschiede zwischen Freundschaft und Verwandtschaft in Rom siehe Harders 2009. Zu Freundschaft in der Antike generell, von Homer bis zum Christentum, siehe Konstan 1997; für Freundschaft in internationalen Beziehungen siehe Burton 2011. 18 So wird Cicero im commentariolum petitionis für seinen Wahlkampf zum Konsulat gerade empfohlen, sich um Freunde zu bemühen, wobei sich hier der Freundschaftsbegriff weiter erstrecke als im normalen Leben: „Wer auch immer es nämlich ist, der dir irgendeine Zuneigung zeigt, der dich achtet, der dein Haus immer wieder aufsucht, der muss einfach zu den Freunden gezählt werden“ (comm. pet. 16; Übersetzung G. Laser). Spielvogel 1993, S. 175 zufolge ist Cicero für seine Wahl zum Konsul u.a. auf die Klienten des Pompeius angewiesen und versucht daher, diese durch die gratia des Pompeius auf Grund seiner Befürwortung des mithridatischen Kommandos zu gewinnen. Es wäre ein eigenes Thema, die unterschiedlichen Betrachtungen Ciceros zur Freundschaft insgesamt genauer zu untersuchen, der an anderen Stellen (vgl. bspw. inv. 2,166f.) durchaus den Nutzen der Freundschaft stärker betont als im Laelius, wobei dort der Nutzen auch nur als primäres Motiv, nicht als ‚Surplus-Effekt‘ kritisiert wird; anders z.B. aber wieder in nat. deor. 1,122, wo die echte Freundschaft als uneigennützig und unentgeltlich charakterisiert wird. Siehe hierzu Konstan 1997, S. 124–131. 19 Dies wird auch von Cicero im Laelius gesehen und erklärt gerade seine Ausführungen, dass sich ein höher gestellter Freund dem niedrigeren gleichstellt (69) und damit diesen gleichsam emporhebt (72). Für eine Matrix der Begriffe liberalitas (benignitas), beneficia (officia), gratia,
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Interessengruppen (sog. Faktionen) der römischen Politik ausmachen zu können, wie Brunt zu Recht betont hat.²⁰ Unterschiedliche Auffassungen im Senat, Konkurrenz um Ämter oder Interessenkonflikte vor Gericht lagen meistens noch im Rahmen von amicitia. Ja es gehörte unter politischen Konkurrenten zum guten Ton, eine gewisse Form der amicitia zu behaupten; der Begriff kennzeichnet nach Spielvogel schlicht Regierungspraxis und Umgangsform der nobiles.²¹ Gotter hat dies zugespitzt und davon gesprochen, dass es offene Gegnerschaft, also inimicitia, kaum je gegeben habe, denn dies hätte bedeutet, soziale Beziehungen abzubrechen und statt eines momentanen Sachkonflikts einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Personen auszuhalten, was angesichts des personalen Charakters der Politik nicht leicht war und daher im Fall der Fälle schnell zu Versöhnungsaktionen führte.²² Vor der Folie eines derart changierenden Freundschaftsbegriffs der römischen Aristokratie kann man die Abweichung Ciceros erkennen, der eine neue, nicht unbedingt der Sicht seiner Mitmenschen entsprechende Sicht auf die amicitia entwirft oder zumindest vertritt.²³ Das Kriterium der Nützlichkeit, was an anderen Stellen von Cicero nicht nur gesehen, sondern auch benutzt wird, wird hier verworfen, der Begriff der Freundschaft so verengt und aufgeladen: verengt auf die wahre Zuneigung und Seelenverwandtschaft, aufgeladen mit dem in sich unklaren, nur durch Cicero selbst zu definierenden Begriff der Tugend. Während
fides, benevolentia (amor) und amicitia sowie die fließenden Grenzen und unklare Abgrenzung zur Patronage siehe jetzt Verboven 2002, S. 35–62, letzteres wird besonders deutlich bei der Einteilung von ‚Freunden‘ in verschiedene Kategorien beim morgendlichen Empfang (Sen. benef. 6,34); für eine klare Trennung von Freund und Klient siehe dagegen Konstan 1995. Siehe auch für diese Diskussion Hellegouarc’h 1972, der für die eben genannten Begriffe eine „tres grande imprécision“ konstatiert: „Certes les mots qui expriment la situation sociale ou politique d’un personnage peuvent être définis avec certaine exactitude; mais les Romains semblent peu soucieux de s’y conformer dans l’usage qu’ils en font. Ils les classent dans une catégorie générale du vocabulaire à l’intérieur de laquelle les contours de chaque terme restent flous et incertains. Il en résulte de multiples interférences entre des termes sémantiquement voisins“ (S. 569). 20 Brunt 1988 wendet sich damit gegen ältere Vorstellungen von Syme, Taylor oder Badian, die ausgehend von den prosopographischen Forschungen Friedrich Münzers relativ feste politische ‚Faktionen‘ erkennen wollten, vgl. hierzu den forschungsgeschichtlichen Überblick von Jehne 2006 oder Hölkeskamp 2004, S. 9–48. 21 Spielvogel 1993, S. 14: „Das charakteristische Kennzeichen der sozialen Interaktion ist gerade für die aus mehreren Personen bestehende römische Herrschaftsspitze die persönliche Kommunikation untereinander. […] Innerhalb des Patriziats bzw. der Nobilität stand der Begriff amicitia stellvertretend für diese Praxis.“ 22 Gotter 1996a, S. 345. 23 Zu möglichen griechischen Vorbildern vgl. oben Anm. 3.
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die auf wahre Freundschaft reduzierte Vorstellung von amicitia auch in anderen Werken von Cicero auftaucht, ist das neue Element im Laelius diese politische Dimension.
3.2 Versuch der Unverfügbarmachung An dieser Stelle stellt sich die Frage, was an der Neukonstruktion des Freundschaftsbegriffs im Laelius transzendent sein soll. Gemeint ist damit, inwiefern Cicero versucht, eine mögliche Hinterfragbarkeit seiner Thesen auszuschließen und diese als universell gültig darzustellen. Man kann dies schon sprachlich an der Form ciceronischer Begründung festmachen, wenn zum Beispiel „kein höheres Gut“ (104) als Freundschaft existieren soll. Mehr noch gelingt es durch die Verbindung mit der Tugend des guten Mannes (virtus boni viri) insgesamt als fester Spitze eines Wertekanons. Vor allem aber erfolgt die Transzendierung durch einen Rückgriff auf die Natur des Menschen. Dies geschieht zum einen direkt, wenn (81) bei Tieren neben dem Selbsterhaltungstrieb auch der natürliche Drang zum Anschluss an Artgenossen festgestellt und dann eine Linie zum Menschen gezogen wird, der gleichermaßen eine Wesensvereinigung mit einem Mitmenschen erstrebt: et alterum anquirit, cuius animum ita cum suo misceat, ut efficiat paene unum ex duobus. Eine ähnliche Richtung wird zum anderen indirekt eingeschlagen, wenn die Wertschätzung von Freundschaft universalisiert und als gemeinsamer Nenner und Proprium der Menschen genannt wird (86): „Freundschaft ist nämlich auf Erden das einzige, von dessen Nutzen alle einmütig überzeugt sind“ – una est enim amicitia in rebus humanis, de cuius utilitate omnes uno ore consentiunt.²⁴ Man kann diese rhetorische Figur in unserem Zusammenhang
24 Vgl. weiter: „Über die Freundschaft aber denken alle ohne Ausnahme gleich“ – de amicitia omnes ad unum idem sentiunt, und: „Alle diese Leute sind sich einig, daß ein Leben ohne Freundschaft kein Leben ist, wenn man nur einigermaßen anständig leben möchte“ – qui se totos tradiderunt, sine amicitia vitam esse nullam, si modo velint aliqua ex parte liberaliter vivere (ebf. 86), sowie: „Tatsächlich durchzieht die Freundschaft, ich weiß nicht wie, das Leben aller Menschen“ – Serpit enim nescio quo modo per omnium vitas amicitia (87). Schon zu Beginn der Schrift (32) heißt es: „Wir wollen vielmehr begreifen lernen, daß ein Gefühl der Hochschätzung und liebevolle Zuneigung unserem angeborenen Wesen entspringen, sobald sich bei irgend jemand eine anständige Gesinnung zu ergeben hat“ – quam ob rem hos quidem ab hoc sermone removeamus, ipsi autem intellegamus natura gigni sensum diligendi et benevolentiae caritatem facta significatione probitatis. Vgl. zu dem Rückgriff auf natura auch Fürst 1996, S. 150f.
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als Transzendierung durch Naturalisierung oder Unverfügbarmachung durch Universalisierung beschreiben.
3.3 Konkurrierende Elemente Dass Ciceros neue Sicht nicht nur trotz ihres vermeintlich unhintergehbaren Status, sondern gerade wegen des inhärenten politischen Geltungsanspruchs nicht nur nicht universal verbindlich war, sondern auch auf expliziten Widerspruch stieß, zeigt sein berühmter Briefwechsel mit Gaius Matius.²⁵ Matius war sowohl Freund Ciceros gewesen als auch Caesars, zeitweise hatte er sogar zwischen beiden Männern vermitteln können. Doch spätestens mit der Übernahme der unbefristeten Diktatur, der sog. dictatura perpetua, hatte Caesar aus Ciceros Sicht jede gemeinsame Grundlage römischer Staatsordnung und republikanischer Wertvorstellung verraten.²⁶ Folglich begrüßte Cicero die Ermordung Caesars und sah nach dem Tod des Diktators nun die Möglichkeit, die res publica wiederherzustellen. Anders Matius. Er betrauerte den ermordeten Freund, dessen Tod er darüber hinaus für politisch fatal hielt, suchte die Nähe zu den Caesarianern Antonius und Oktavian und führte im Auftrag des Letzteren sogar Spiele zu Ehren Caesars durch. Dies alles rief die Kritik Ciceros hervor, was wiederum Matius nicht verborgen blieb und worin er einen Verstoß gegen die alte Freundschaft zwischen ihm und Cicero erblickte. Gegen solche Vorwürfe versucht sich Cicero im ersten Brief an Matius (fam. 11,27) zu verteidigen. Dabei zählt er vor allem die vielen Freundschaftsbeweise des Matius’ ihm gegenüber auf und fragt dann, rhetorisch raffiniert, wieso Matius denn bei solch großen eigenen Verdiensten glaube, er, Cicero, könne sich nicht als dankbar erweisen (11,27,6). Es folgt die Chronologie der Freundschaft, die gleich beim ersten Treffen aus Sympathie heraus entstanden sei, bevor Matius ihm viele Gefallen getan habe; die utilitas ergibt sich also beiläufig und ist in keinem Fall der Anlass – ganz dem theoretischen Programm des Laelius entsprechend. Auch das Befolgen weiterer Maximen des Laelius kann beobachtet werden. So ist Cicero durchaus bereit, Matius in der Öffentlichkeit zu verteidigen (11,27,7–8), also Konzessionen für einen Freund zu machen (Lael. 61).
25 Cic. fam. 11,27 und 11,28; siehe für detaillierte Interpretationen dazu u.a. Dahlmann 1938 (mit Sympathie für Matius’ Freundschaftsverständnis), Heuss 1956 (mit Kritik am mangelnden geistigen Differenzierungsvermögen Matius’), Kytzler 1960a (mit Lob für die Argumentation beider, deren Freundschaft keinen Schaden genommen habe), Kytzler 1960b (mit der Datierung der Briefe auf Oktober 44), Heuss 1962 (scharfe Kritik an Kytzler 1960a) sowie aus jüngerer Zeit vor allem Fürst 1996. 26 Zum systemwidrigen Aspekt der dictatura perpetua siehe nur Jehne 2004 [1997], S. 114.
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Dagegen vermeidet Cicero ein deutliches Thematisieren der Differenzen, nur leicht deutet er an, dass Matius doch wissen müsse, dass, so man Caesar als Tyrann betrachte, was er, Cicero, auch tue, man über Matius’ Dienst (officium) geteilter Meinung sein könne (11,27,8). Welche Variante Cicero von seinen beiden im Anschluss genannten Alternativen, Treue zum Freund (fidem et humanitatem tuam) oder Freiheit des Vaterlandes (libertatem patriae) bevorzugt, ist vom Kontext her eindeutig. Und dennoch bleibt der Brief an dieser Stelle vage; positiv formuliert versucht Cicero, seine Meinung darzutun, ohne Matius vor den Kopf zu stoßen – wohl auch entsprechend seiner Idee, eine Freundschaft im Falle des Falles nicht gleich in offene Feindschaft umschlagen, sondern lieber langsam auslaufen zu lassen (Lael. 78).²⁷ Diese Alternative – und auch: Konkurrenz – zwischen Treue zum Freund und Freiheit des Vaterlandes lässt sich noch viel deutlicher aus der Antwort des Matius (fam. 11,28) herausdestillieren. Ebenfalls freundlich im Tonfall, grenzt sich Matius doch klar gegen Ciceros Vorstellungen ab.²⁸ Zum einen bringt er seine Zuneigung zu Caesar immer wieder und deutlich zum Ausdruck, der inhaltliche Dissens zu Cicero bleibt also bestehen. Zum anderen aber steht dahinter eine völlig andere Konzeption von Freundschaft, die auch formal der ciceronischen nicht entspricht. Denn Matius betont gerade, dem Freund gefolgt zu sein, obwohl ihm die Sache (der Bürgerkrieg) missfallen habe. Er verweist sogar auf die Rechte von Sklaven, die zumindest frei seien, sich zu freuen, ängstlich zu sein oder aber
27 Vgl. Heuss 1956, S. 57: „Es lag ihm [Cicero] also daran, es nicht zum offenen Bruch kommen zu lassen. Deshalb verfährt er äußerst konziliant und behandelt die Kontroverse auf die denkbar liebenswürdige Weise.“ Nach Kytzler 1960a, S. 109 wird weiter durch „die Umformung des brennenden Tagesproblems zu einem philosophischen Satz, den man so oder so betrachten kann“, der Auseinandersetzung die Schärfe genommen. Es bleiben aber rhetorische, keine inhaltlichen Konzessionen. Man könnte sagen, dass Cicero sich in der Form seines Briefes der ‚alten‘ oder ‚normalen‘ Freundschaftssemantik der römischen Republik bedient, um einen Streit zu vermeiden. Aus Sicht der amicitia-Konzeption im Laelius dagegen können Matius und Cicero keine Freunde mehr sein, vgl. Steinmetz 1967, S. 73 und weiter die Argumentation im Text. Dies geht contra Kytzler 1960a, S. 104f., der den fundamentalen Konflikt völlig verkennt. Sein Hinweis, dass auch die Zugehörigkeit zu verschiedenen philosophischen Schulen eine Freundschaft nicht verhindere (S. 110), übersieht weiter den elementaren Unterschied zwischen philosophischen und politischen Differenzen innerhalb von Freundschaften, vgl. dazu auch Anm. 31. Weiter muss, wie ausgeführt, von zwei verschiedenen Freundschaftsbegriffen ausgegangen werden, so im Ergebnis auch Fürst 1996, S. 168–170, der zwischen absoluten und relativen Grenzen für wahre und normale Freundschaft unterscheidet, und Gotter 1996a, S. 320 Anm. 2, der von einem „ständigen und gleichsam programmatischen Oszillieren des Dialogs zwischen Normensetzung und politischer Anwendung“ spricht. 28 Heuss 1956, S. 61 spricht von „rigoristische[r] Ehrlichkeit.“
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eben zu trauern (11,28,3). Hier bekommt die Freundschaft eine persönliche und innere Form, die der politisch aufgeladenen im Laelius, mit dem Vorbehalt von Tugend und res publica, entgegenläuft. Die Ausrichtung der Spiele zu Ehren Caesars als „privaten Freundschaftsdienst“ – privatum officium zu bezeichnen, käme Cicero jedenfalls nicht in den Sinn. Matius dagegen kann voller Überzeugung gleich zu Beginn seines Briefes verkünden: „Ich war mir aber auch bewußt, nichts verbrochen zu haben, was bei anständigen Leuten Anstoß erregen könnte.“²⁹ Matius beruft sich hier implizit auf das alte römische Verständnis von amicitia, was letztlich asozial und partikular den Vorrang einer Gruppe vor der Gemeinschaft impliziert. Cicero, der als Politiker teilweise ähnlich gehandelt hat, versucht als Philosoph dieser zentripetalen Tendenz sein Ideal vom Vorrang der Gemeinschaft gegenüberzustellen, verkörpert im Handeln der boni. Schlägt man von Matius’ Brief wieder den Bogen zum Laelius, wird die Konfliktlinie noch deutlicher. In einem der wenigen Rückgriffe auf exempla aus der römischen Geschichte führt Cicero als Negativbeispiel die Freundschaft zwischen Tiberius Gracchus und einem Gaius Blossius aus Cumae an. Letzterer hatte auf die rhetorische Frage, was er getan hätte, so Gracchus ihn gebeten hätte, das Capitol anzuzünden, geantwortet: „Das hätte Gracchus niemals gewollt; aber wenn, dann hätte ich ihm gehorcht“ (Lael. 37). Mag der direkte Vergleich zwischen Blossius und dem eher abwartenden und ‚unpolitischen‘ Matius auch hinken, wirkt die Passage von Cicero dennoch eher auf die Gegenwart, und damit auf das Verhältnis zwischen Caesar und Matius, als auf die Zeit der Gracchen bezogen.³⁰ Auf Vergangenheit wie Gegenwart gemünzt ist in jedem Fall Ciceros Entgegnung vom bedingungslosen Vorrang des Staates. Festzuhalten ist damit, dass Ciceros vorgestellte Freundschaftskonzeptionen mitnichten von allen geteilt wurden, er also eine neue und zugespitzte Position vertrat, die mit der herkömmlichen Form eines breiteren und flexibleren Konzepts römischer amicitia in Kon-
29 Fam. 11,30,1: Conscius autem mihi eram nihil a me commissum esse, quod boni cuiusquam offenderet animum (Übersetzung H. Kasten). 30 Vgl. vor allem die, da posthum erschienen nur noch angedeutete, Linie bei Strasburger 1990, S. 68 und S. 88: „Zweifellos denkt er [Cicero] (mindestens auch) an Caesar, wenn er die Freunde eines Usurpators von der moralischen Pflicht freispricht, ihm contra patriam zu folgen.“ Dahlmann 1938, S. 238 hat in der Passage des Laelius auch chronologisch eine Erwiderung Ciceros auf den Matius Brief gesehen; ob dies letztlich stimmt, ist für die Argumentation irrelevant. Skeptisch ist beispielsweise Gotter 1996a, S. 341 Anm. 2, der aber konzediert, dass sich ähnliche Argumente im Jahre 44 v. Chr. in verschiedenen Schriften niedergeschlagen haben. Im Laelius auch den Matius-Briefwechsel reflektiert zu sehen, bleibt wahrscheinlich, vgl. Steinmetz 1967, S. 76. Siehe zu Blossius und Ti. Gracchus auch Val. Max. 4,7,1.
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kurrenz trat und treten musste. Die ‚griechische Komponente‘ des Laelius, also die idealistische Vorstellung von wahrer Freundschaft zwischen Weisen, hätte als Transzendenzbehauptung wohl mit der römischen amicitia-Vorstellung friedlich koexistieren können, in einem Nebeneinander von philosophischen und politischen Maximen und Welten. Durch den politischen Charakter aber, und durch die unmissverständlichen Implikationen im politischen Leben nach Caesars Ermordung, wird aus dem potentiellen friedlichen Nebeneinander ein pointiertes Gegeneinander.³¹
4 Kampf um den Begriff – Kampf um die res publica Der Streit zwischen Matius und Cicero entzündet sich an keiner Stelle an der Frage, ob Freundschaft wichtig ist oder nicht, sondern an derjenigen, welche unterschiedlichen politischen Einstellungen noch von der Klammer einer Freundschaft zusammengehalten werden können. Es geht also um den Fall einer umstrittenen Definition eines Begriffes, nicht den Konflikt zweier Werte oder die Frage des Vorrangs verschiedener, jeweils akzeptierter Prinzipien. Dass amicitia wichtig war, wurde von Keinem bestritten. Was amicitia sein sollte, war dagegen offen. Gleiches gilt für die res publica und ihr Wohlergehen. Niemand hat (und hätte) den Untergang der res publica herbeiführen wollen. Selbst Caesar
31 Insofern teile ich Strasburgers Beobachtung, der in Ciceros philosophischem Spätwerk eine Kritik an Caesar sieht: „Die eigentliche Bedeutung dieses Materials sehe ich […] in dem kühnen Unterfangen, das Phänomen Caesar vor der damals erreichbaren objektivsten Urteilsinstanz für politische und menschliche Wertmaßstäbe zu prüfen, der griechischen Staats- und Sittenlehre nämlich“ (Strasburger 1990, S. 3). Anders als Strasburger aber sehe ich in diesem Unterfangen Ciceros, der damit verschiedene Diskursebenen und Geltungssphären unzulässig vermischt, eine ungeheure Sprengkraft für die res publica. Siehe dazu den nächsten Punkt und vgl. Gotter 1996c, S. 557f., der mit Bezug auf die Umdefinition der römischen Vorstellung von lex als Beschluss des Volkes durch eine ciceronische Klausel von ausschließlich ‚gerechten‘ Gesetzen im ersten Buch von de legibus festhält, was ebenso für die hier konstatierte neue Form der Freundschaft gelten kann: „Die Einbürgerung derartiger Philosopheme in die römische Politik markiert auf geistigem Gebiet ebenso das Ende der Republik wie die Errichtung einer Militärmonarchie auf faktischem.“ Vergleichbar, wenn auch in der Bewertung anders, schreibt Petrarca fast vorwurfsvoll an Cicero: Ah quanto satius fuerat philosopho presertim in tranquillo rure senisse – „Ach, wie viel ziemlicher wäre es doch – zumal für einen Philosophen – gewesen, auf dem ruhigen Land alt zu werden“ (Epist. fam. 24,2,7 [= Petrarca 1999, S. 56f., Übersetzung F. Neumann], für eine Einordnung dieser Kritik siehe Schmidt 2000, S. 278f.).
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nicht. Die Frage aber, wie die res publica aussehen sollte, war eine ganz andere, an der Konflikte entstehen konnten und sich auch tatsächlich entzündeten – bis hin zum Bürgerkrieg, als aus Freunden Feinde wurden. Hier ist nun spannend, dass Ciceros Versuch, mit dem Wohl der res publica im Speziellen und der Tugend im Allgemeinen die potentiell (strukturell?) partikulare Form von amicitia auf ein gemeinsames Wohl hin auszurichten, nicht nur scheitert, sondern auch zu einer Radikalisierung führt, die an Carl Schmitt denken lässt. Dabei ist dessen berühmte Freund-Feind-Unterscheidung gerade auf Völker oder Staaten gemünzt, also primär außenpolitisch zu verstehen. Der Feind ist bei ihm nicht der innenpolitische Konkurrent oder private Gegner: „Feind ist hostis, nicht inimicus im weiteren Sinn; πολέμιος nicht ἐχθρός.“³² Erst bei einem völligen Vorrang der Innenpolitik verschiebt sich die zum Politischen gehörende Möglichkeit des Kampfes hin zum Bürgerkrieg.³³ Dies lässt sich nun gut auf Rom ab dem Jahr 44 v. Chr. beziehen, im Kampf um die Macht spitzte sich alles auf die Frage der politischen Position zu. Die Ermordung Caesars zumal forderte ein Bekenntnis für oder gegen die (illusionäre) res publica in Ciceros Sinne, man konnte aus seiner Sicht diese Tat nicht betrauern, auch nicht ‚privat‘. Wenn sich Freundschaft und Tugend durchdringen, Handlungen gegen ein vermeintliches Interesse der res publica ausgeschlossen werden, stehen den wahren amici bald nicht mehr inimici, sondern hostes gegenüber.³⁴
32 Schmitt 1963 [1932], S. 29. Schmitt will die Freund-Feind-Unterscheidung von ästhetischen, moralischen oder ökonomischen Erwägungen trennen, ein moralisch böser Mensch oder ein wirtschaftlicher Konkurrent muss kein Feind sein, jedenfalls nicht automatisch. Entschieden wird eine solche Feindschaft nur untereinander, die Möglichkeit, Interessenkonflikte durch einen Schiedsspruch einer übergeordneten Instanz zu schlichten, besteht nicht: „Den extremen Konfliktfall können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; namentlich kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren“ (S. 27). 33 Vgl. Schmitt 1963 [1932], S. 32. 34 Dass Cicero seine Gedanken aus dem Laelius ernst nahm, dokumentieren nicht nur die genannten Briefe, sondern zeigt auch sein Kampf gegen Antonius, welcher uns in den berühmten Philippika erhalten geblieben ist, in denen Cicero zwar am Anfang (1,11) Antonius noch als amicus bezeichnet, dann aber durch seine Vorwürfe erreicht, dass dieser vom Senat offiziell zum hostis erklärt wird. Zu Antonius vgl. Matijević 2006; grundlegend zur hostisErklärung in der römischen Republik ist Ungern-Sternberg 1970, für Bezüge zu modernen Vorstellungen eines Feindstrafrechts siehe Lundgreen 2012, bes. S. 47–50.
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5 Zusammenfassung Der Aufsatz hat, ausgehend von den Ergebnissen Ulrich Gotters, in Ciceros Laelius eine neue Form von Freundschaftsdefinition ausgemacht, dies aber mit dem Konzept einer konkurrierenden Transzendenzbehauptung noch weiter zugespitzt. Cicero weicht nicht nur von römischen Vorstellungen ab, sondern versucht, seine Neudefinition von Freundschaft mit dem Rückgriff auf die Natur des Menschen als unhintergehbar aufzustellen. Da Cicero dies aber noch kombiniert mit Vorstellungen von Tugend und dem Vorrang der res publica, erscheint der Freundschaftsbegriff zugleich limitiert und politisiert. Dass dieser neue Begriff für andere nicht selbstverständlich war, wie schon der Briefwechsel mit Matius zeigt, führt wohl gerade dazu, dass Cicero den Laelius überhaupt schreibt. Für ihn selbst waren dabei die Grenzen der Freundschaft völlig selbstverständlich, im Sinne eines „what goes without saying.“³⁵ Wäre Cicero also bei der Abfassung seiner Schrift von den drei Freunden von der Tankstelle unterbrochen worden, hätte er wohl lautstark in das Lied mit eingestimmt. Er wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass einer der drei von ihm danach hätte verlangen können, etwas gegen die res publica zu unternehmen. Ein Freund, ein wahrer Freund, war zwar vielleicht auch für Cicero das Schönste, was es gibt auf der Welt, aber das Wohlergehen der res publica war für ihn noch wichtiger, nicht abwägbar und völlig unhintergehbar, mit anderen Worten: konkurrenzlos transzendent.
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Antje Junghanß, Katharina Walther
Du sollst nicht töten? Zum Tötungsrecht in der römischen Antike
1 Einleitung Ein zentrales Gebot christlicher Ethik ist das kompromisslose Tötungsverbot. Die Begründung hierfür erfolgt im Verweis auf Gott, der im anderen Menschen, dem Bruder im Geiste, zugleich mit verehrt wird. Die Entscheidung über Leben und Tod kommt allein Gott zu und ist für den Menschen zunächst unverfügbar. Dieses Verbot führte in der Spätantike zu Konflikten mit traditionell römischen Vorstellungen, nach denen unter bestimmten Bedingungen das Töten zur verfügbaren Größe wurde.¹ Ein Vergleich paganer und christlicher Texte zum Thema zeigt zunächst, dass der Argumentation unterschiedliche Auffassungen vom Wert menschlichen Lebens zugrunde liegen, teilweise aber formal dieselben Begründungsmuster in Anschlag gebracht werden. Die begriffliche und argumentative Kontinuität verschleiert auf den ersten Blick die christliche Neusemantisierung römischer Werte; das heißt, in der christlichen Kritik an paganen Praktiken wird auch der Kampf um die Hoheit über das römische Wertesystem ausgetragen. Die Christen nehmen die althergebrachte Terminologie für ihre eigene Ordnung in Anspruch,² füllen sie aber mit anderen Bedeutungen. Dies wollen wir an zwei Fallbeispielen verdeutlichen: Einerseits stand das Tötungsverbot in deutlichem Konflikt zu den römischen Praktiken der Aussetzung bzw. Tötung Neugeborener aus rationalen und auch
1 Vgl. u.a. Lact. inst. 6,10. ‚Zunächst unverfügbar‘ meint, dass es, wie wir auch in diesem Text sehen werden, für Christen durchaus Situationen gibt, in denen sie selbst über Leben und Tod entscheiden. ‚Unverfügbar‘ steht dabei synonym für ‚transzendent‘. Bei Transzendenzen handelt es sich um Kippfiguren, deren Geltungskraft je nach Perspektive außer Frage steht bzw. infrage gestellt werden kann. 2 Unter Ordnung verstehen wir den (beanspruchten) Bezugsrahmen des eigenen Denkens und Handelns. Sowohl der pagane als auch der christliche Bezugsrahmen beanspruchen politische, räumliche und soziomoralische Geltung; der Konflikt um die Semantik der Werte bringt dies zum Ausdruck. Hier werden auch die Begriffe ‚Institution‘ und ‚Symbol‘ wichtig: „Institutionen erbringen symbolische Ordnungsleistungen, genauer gesagt: das Institutionelle an einer Ordnung ist die symbolische Verkörperung ihrer Geltungsansprüche“, Rehberg 1994, S. 57. Zur Transzendenz von Symbolen: ebd., S. 60–62.
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kultischen Gründen, nach denen missgebildete Kinder unter bestimmten Bedingungen als böses Vorzeichen gedeutet wurden. Es ist zu beobachten, dass die Mehrzahl der paganen Autoren Kindstötung, -abtreibung und -aussetzung in keiner Weise infrage stellten, die frühen Kirchenväter sich jedoch entschieden gegen diese Verfahren wandten.³ Während in diesem Fall das Tötungsverbot absolute Geltung besaß, brachte die Unbedingtheit der Maxime die frühen Christen in einer anderen Frage in Rechtfertigungsnot: in der des Umgangs mit Selbstmördern. Bereits in paganer Zeit existierten hierüber verschiedene Auffassungen nebeneinander. Während in den theoretischen Abhandlungen teils kritisch Stellung bezogen wurde, teils große Toleranz herrschte, zeigte die aus Rechtstexten und Literatur evidente Praxis vor allem in römischer Zeit eine affirmative Einstellung zum Freitod. Die frühen Christen hingegen verurteilten den Suizid, mussten aber gleichzeitig den Märtyrertod, der bisweilen in eindeutige Nähe zum Selbstmord rückte, lobend herausstellen. Im vorliegenden Aufsatz fragen wir danach, wie pagane bzw. christliche Autoren ihre Überzeugungen legitimieren.⁴ Es zeigt sich, dass sie dabei immanente und transzendente Geltungsgründe in Anschlag bringen. Zudem ist zu beobachten, dass insbesondere in der christlichen Kritik an paganen Vorstellungen exklusive Deutungshoheit über traditionelle Wertvorstellungen beansprucht wird, die mit rigoroser Ablehnung heidnischer Auffassungen einhergeht.
2 Zum Umgang mit Neugeborenen in der römischen Antike 2.1 Pagane Praktiken „Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß das griechische und das römische Altertum nur sehr wenig Ehrfurcht vor dem keimenden und neugeborenen Menschenleben hatte“, schreibt Bernhard Schöpf in seiner Abhandlung über
3 Wie zu zeigen sein wird, gibt es auch pagane Stimmen gegen die Aussetzung und Tötung Neugeborener. 4 „Im Zentrum institutioneller Machtordnungen steht also das Problem der Legitimität“, Rehberg 1994, S. 72. Beim hier skizzierten Konflikt handelt es sich, um wiederum mit Rehberg zu sprechen, um eine institutionelle Konkurrenz; das heißt: eigene Machtansprüche werden durch eine Infragestellung des Wertekomplexes der anderen Seite begründet.
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das Tötungsrecht bei den frühchristlichen Schriftstellern.⁵ Ein Hauptmotiv für Kindstötung und -aussetzung im alten Rom waren in allen Bevölkerungsschichten zunächst wirtschaftliche Überlegungen.⁶ Daneben zog man aus ‚praktischen‘ Erwägungen auch behinderte und kranke Kinder in der Regel nicht auf. Außerdem wurden ungewollte oder illegitime Kinder abgetrieben, getötet oder ausgesetzt.⁷ Entscheidender als die biologische Geburt war letztlich die soziale, bei der dem pater familias kraft des ius vitae necisque die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des Neugeborenen zukam.⁸ Unter bestimmten Bedingungen war der Vater verpflichtet, das Kind zu töten bzw. auszusetzen, wie ein Erlass aus dem Zwölftafelgesetz zeigt: „Ein auffallend missgestaltes Kind ist unverzüglich
5 Schöpf 1958, S. 112. 6 Bennett 1924, S. 351. Humbert 1969, S. 930ff.: In allen Bevölkerungsschichten hätten Überlegungen zu der Frage, ob man – bei Armen – noch einen Esser mehr durchbringen oder – bei Reicheren – das Erbe auf noch mehr Nachkommen verteilen sollte, mitunter zu der Entscheidung geführt, ein neugeborenes Kind auszusetzen. Bennett 1924, S. 346, verweist auf die Schwierigkeit, im Einzelfall Griechisches vom Römischen zu scheiden; er warnt davor, etwa von den häufig auf einer Kindesaussetzung basierenden Komödien des Plautus und des Terenz auf römische Praktiken zu schließen, denn die Gesellschaft, die in den Stücken dargestellt werde, sei doch eher die der griechischen Vorlagen. Unserer Ansicht nach ist diese Mahnung zum vorsichtigen Urteil berechtigt, doch wie wir sehen werden, geben einige Quellen Hinweise auf konkret römisches Handeln. 7 Radin 1924/25, S. 342. In der griechischen Antike waren die Gründe in der Regel ähnlich: Plat. Lyc. 16; Plat. Tht. 160e–161a; Aristoph. Nub. 531–532. Zum rechtlichen Unterschied zwischen Tötung und Aussetzung: Thomas 1984, S. 544. 8 Beim ius vitae necisque handelt es sich um das Recht des pater familias, über Leben und Tod aller Angehörigen zu bestimmen. Etwa Cic. dom. 77; inv. 2,52; Gell. 5,19,9. Wegweisend zum Thema: Thomas 1984, der nach eigener Aussage nicht in erster Linie Praktiken beschreibt, sondern die Kategorie der patria potestas zu verstehen versucht, ebd., S. 545. Die gesellschaftliche, nicht die biologische Lebensfähigkeit eines Kindes stand damit im Mittelpunkt. Vgl. Tuor-Kurth 2003, S. 267f. Die soziale Anerkennung eines Kindes ist in der Wendung infantem tollere, wörtlich: „das Kind aufheben“, zusammengefasst. In der Forschung wird nach wie vor kontrovers diskutiert, ob es sich dabei um einen symbolischen Akt handelte und, wenn ja, wie man sich diesen vorzustellen hat, vgl. Köves-Zulauf 1990, passim. Shaw 2001, passim, ist der Ansicht, dass es einen entsprechenden Akt im römischen Reich nie gegeben habe. Er zieht eine Passage bei Seneca (benef. 3,11) heran, in der die Formulierung liberos tollere mehrfach vorkommt, und versucht nachzuweisen, dass damit stets nicht mehr als das Aufziehen von Kindern gemeint sei. Doch selbst wenn tatsächlich kein solches Ritual existiert haben sollte, ist doch festzuhalten, dass das Kind darauf angewiesen war, von seiner Familie angenommen zu werden. Thomas 1984, S. 543f., schreibt, dass dieser Akt sich auf Jungen beschränkte; bei neugeborenen Mädchen galt das Nähren als Annahme, die Verweigerung von Nahrung als Ablehnung des Kindes.
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zu töten.“⁹ Bei Seneca findet sich eine Stelle, in der er ganz selbstverständlich argumentiert, es sei schlicht vernünftig, Unnützes vom Gesunden zu trennen: Ebenso wie kranke Tiere getötet werden, würden auch schwache und missgebildete Kinder ertränkt. Bemerkenswerterweise sieht Seneca hier keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier.¹⁰ Seneca argumentiert zunächst im Rekurs auf die ratio, die Vernunft. Auffällig ist jedoch, dass er die entsprechenden Kinder portentosi sowie monstrosi nennt. Dieser Wortgebrauch deutet auf einen weiteren Grund für die Nichtannahme von Neugeborenen hin: Missgestaltete Kinder wurden aus religiösen Gründen abgelehnt; sie galten als monstra, portenta oder prodigia, die beseitigt werden mussten, um drohendes Unheil von der Gemeinschaft abzuwenden.¹¹ Dieser Verweis geht über rationale Erwägungen vor dem Horizont des eigenen bzw. familiären Schicksals, also über immanente Begründungsstrategien hinaus und nimmt mit der religio, dem sorgfältigen Befolgen göttlicher Zeichen zum Wohl der Gemeinschaft, eine transzendente Größe in den Blick.¹² Eine Passage bei Livius schildert einen konkreten Fall einer Tötung aus religiösen Gründen:¹³ Er berichtet, dass in Frusino ein ungewöhnlich großes Kind geboren worden sei, einem Vierjährigen gleich, das ebenso wie ein anderes, zwittriges, das zwei Jahre
9 Die Übersetzungen lateinischer Begriffe oder Zitate stammen von den Autorinnen. Cito necatus insignis ad deformitatem puer esto, Tabula IV,1, Crawford 1996, S. 630. Der Wortlaut wurde vorrangig aus Cic. leg. 3,19 rekonstruiert, bleibt aber umstritten, ebd. Der Vater musste das entsprechende Kind fünf Nachbarn zeigen; bestätigten sie, dass das Kind missgestaltet war, musste er es töten (Dion. 2,15,27). 10 Sen. ira 1,15,2: Rabidos effligimus canes et trucem atque immansuetum bovem occidimus et morbidis pecoribus ne gregem polluant ferrum demittimus; portentosos fetus exstinguimus, liberos quoque, si debiles monstrosique editi sunt, mergimus; nec ira sed ratio est a sanis inutilia secernere. (Tollwütige Hunde bringen wir um, einen wilden und trotzigen Stier schlagen wir nieder, kranke Schafe töten wir, damit sie die Herde nicht infizieren; missgebildete Junge löschen wir aus. Wenn Kinder schwach und missgestaltet zur Welt kommen, ertränken wir auch sie; und es zeugt nicht von Zorn, sondern von Vernunft, Nutzloses vom Gesunden zu scheiden.) 11 Die drei Begriffe meinen in ähnlicher Weise ein Wunderzeichen, in der Regel ein negatives, also Unglück verheißendes, ein Ungeheuer, das als widernatürlich empfunden wurde. 12 Religio ist nicht mit dem deutschen Begriff ‚Religion‘ gleichzusetzen. Nach paganem Verständnis bezeichnet er in erster Linie eine fromme Scheu gegenüber dem Walten der Götter sowie eine gewissenhafte Kultausübung, um die Götter gnädig zu stimmen. Vgl. Cic. nat. deor. 1,117; 2,8. Vgl. außerdem Linke 2000 und Włosok 1970. 13 Auch bei Plin. nat. 7,33 und Gellius, 10,2,2 wird von ungewöhnlichen Geburten berichtet: In beiden Fällen handelt es sich um Mehrlinge (Vier- bzw. Fünflinge), die als schlechtes Omen angesehen wurden. Tac. ann. 12,64 schildert, dass am Vorabend vom Tod des Kaisers Claudius im Jahr 54 n. Chr. die Geburt eines Hermaphroditen unheilvolle Entwicklungen für den Staat angezeigt habe.
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zuvor in Sinuessa zur Welt gekommen war, auf Anweisung herbeigerufener Seher weit weg vom römischen Festland in einer Truhe im Meer versenkt worden sei, weil es als foedum ac turpe prodigium galt.¹⁴ Tötung und Kindesaussetzung waren in diesen Fällen also Akte der pietas bzw. religio,¹⁵ galten als angemessene, ja notwendige Reaktion auf ein Zeichen der Götter.¹⁶
2.2 Pagane Kritik Schon zu paganer Zeit finden sich Texte, in denen kritisch zur vor- und nachgeburtlichen Kindstötung bzw. zur Aussetzung¹⁷ Stellung bezogen wird.¹⁸ Bei
14 Ein abscheuliches, hässliches Vorzeichen (Liv. 27,37,5f). 15 Pietas und religio hängen eng zusammen. Während religio, wie bereits erwähnt, in der paganen Verwendung die regelgemäße Ausübung vorgeschriebener Kulte meint, bezeichnet pietas die innere Grundeinstellung, die für ein solches Verhalten notwendig ist, nämlich das Pflichtgefühl gegenüber den Göttern. 16 Livius schildert eine ganze Reihe schlechter Vorzeichen, auf die durch entsprechende Riten geantwortet wurde, welche den Menschen die Angst vor göttlichem Unheil genommen hätten (liberatas religione mentes). Diese Furcht sei durch das Prodigium des übergroßen Neugeborenen zurückgekehrt. Bei Sueton ist überliefert, dass am Todestag des Germanicus (19 n. Chr.) die öffentliche Trauer groß gewesen sei; Menschen hätten Steine gegen die Tempel geworfen, in Rom gewütet; Kinder, die an diesem Tag geboren wurden, seien ausgesetzt worden (Suet. Cal. 5). Auch hier scheinen uns noch vor Trauer und Wut pietas und religio die den Aussetzungen zugrundeliegenden Motive zu sein; der Todestag des Germanicus wurde als Unglückstag empfunden; unter einem solchen Stern geborenen Kindern war von den Göttern kein Glück beschieden. Bei minder schweren Missbildungen musste das Kind nicht zwangsläufig getötet werden, da genügte eine Opferzeremonie, wie Liv. 41,9 anzeigt. Weiterhin ist festzustellen, dass die Sensibilität für Wunderzeichen im Laufe der Zeit nachließ; Plin. nat. 7,34 berichtet von zwittrigen Kindern, die in alter Zeit als prodigia hätten getötet werden müssen, in seiner Zeit jedoch als Kuriositäten am Leben bleiben durften. 17 Evans Grubbs 2010, S. 305, vertritt die Überzeugung, dass Aussetzung und Kindstötung nicht dasselbe seien; im ersteren Fall hätten die Eltern darauf spekuliert, dass das Baby gefunden und aufgezogen würde. In der Tat gab es Plätze, an denen man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen konnte, dass ein dort abgelegtes Kind rechtzeitig entdeckt würde, doch das Schicksal, dass ihm dann in der Regel bevorstand, war hart; es landete zumeist in der Sklaverei oder im Bordell. 18 Dass die in den Texten formulierte Kritik an der Praxis nichts änderte, ist für unsere Belange hier zweitrangig. In der Kaiserzeit nahmen die Kindstötungen, Aussetzungen und Abtreibungen überhand, sodass dagegen eingeschritten wurde. Ab wann genau die Sanktionen wirksam waren, ist nicht zu sagen (Kleinfeller 1968, Sp. 1540). Abtreibungen wurden von Antoninus Pius und Septimius Severus als crimen extraordinarium streng bestraft, Hartmann 1958,
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Cicero gibt es eine Passage, in der Abtreibung oder Kindesaussetzung als strafbares Verbrechen angesehen werden. Doch die Stelle passt nur auf den ersten Blick in unseren Kontext, denn Cicero schränkt seine Aussage insofern ein, als es sich dann um Verbrechen handelt, wenn die Mutter hierüber entscheidet und nicht der pater familias. Das heißt, er argumentiert nicht mit den Rechten des Kindes, sondern denen des Vaters, dem allein die Verfügungsgewalt über Leben und Tod der Nachkommen zustand,¹⁹ sowie denen der Gemeinschaft, die auf Bürger angewiesen war.²⁰ Ovid ist vermutlich der erste römische Autor, der in seiner Argumentation das ungeborene Kind als Lebewesen in den Blick nimmt: Für ihn sind Abtreibungen grausamer Mord.²¹ Auf diese Weise beruft er sich, wenngleich ohne den Hintergrund der gemeinsamen göttlichen Abstammung, ebenso auf die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens, wie die christlichen Autoren dies später tun. Kritisch äußert sich auch Tacitus, wenn er seinen römischen Lesern das Vorbild der Germanen und Juden vor Augen hält, die alle ihre Kinder zur Welt brächten und aufzögen.²² Im Verweis auf die Germanen liegt der Schwerpunkt allerdings anders; Tacitus argumentiert mit deren boni mores, den guten Sitten, die im Gegensatz zur römischen Dekadenz stünden. Bemerkenswert ist, dass Gellius in seiner Verurteilung der Abtreibung die Bezeichnung prodigium, die, wie wir gesehen haben, für ein missgebildetes Kind verwendet wurde und Akte der religio legitimierte, in adjektivischer Form auf die Frauen münzt, die sich zu solchem Frevel hinreißen lassen: pleraeque istae prodigiosae mulieres fontem illum sanctissimum corporis […] arefacere et exstinguere […] laborant.²³
Sp. 108; erschwert wurde die Durchsetzung entsprechender Erlasse allerdings dadurch, dass es keine sicheren Anhaltspunkte gab, um einer Frau eine Schwangerschaft im Frühstadium nachzuweisen und einen Abbruch als solchen zu erkennen. Vgl. auch Hirt 2004, S. 283. 19 Cic. Cluent. 11,32. 20 Vgl. Dig. XLVIII, 9,1: Kindstötung durch die Mutter galt als Verbrechen, als parricidium; Hartmann 1958, Sp. 108; Hirt 2004, S. 282f. 21 In am. 2,14 beschreibt Ovid, wie ein junger Mann von der Abtreibung seiner Geliebten erfährt, ihr heftige Vorwürfe macht und die Beziehung schließlich beendet. Gauly 1990, S. 97, wendet ein, dass Ovid keine Abhandlung zum Umgang mit Abtreibung an sich verfasst habe, sondern lediglich die emotionale Reaktion eines Liebenden wiedergebe. Das schmälert unserem Eindruck nach jedoch nicht das Fortschrittliche im Inhalt seiner Vorwürfe. Vgl. auch Ov. fast. 1,623. 22 Tac. Germ. 19; hist. 5,5. Im Judentum wurden in wirtschaftlich ausgesprochen prekärer Lage selten auch Kinder verkauft; diese Praxis galt als grenzwertig, vgl. Tuor-Kurth 2003, S. 269. 23 Jene ungeheuerlichen Frauen mühen sich zum großen Teil, den heiligen Quell ihres Körpers auszutrocknen und auszudörren (Gell. 12,1,8).
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2.3 Christliche Kritik Die frühchristlichen Autoren beziehen eindeutig Stellung gegen Kindstötung und -aussetzung. Bereits in der Didache²⁴ finden sich folgende Anweisungen: Man solle nicht töten, nicht ehebrechen, sein Kind nicht abtreiben und auch Neugeborene nicht töten.²⁵ Philo von Alexandrien beruft sich in seiner Begründung explizit auf das fünfte Gebot; wer Kinder aussetze oder töte, sei ein Mörder und müsse bestraft werden.²⁶ Ähnlich äußert sich auch Athenagoras.²⁷ Minucius Felix formuliert seine Kritik als Replik auf den häufigen Vorwurf, Christen feierten Orgien mit thyesteischen Mahlzeiten. Es sei doch vielmehr so, dass die Heiden ihre Kinder wilden Tieren zum Fraß vorwürfen, erdrosselten oder vor der Geburt abtrieben, während unter den Christen solche Praktiken nicht vorkämen.²⁸ Ganz ähnlich stellt Tertullian die Sachlage dar: Die Heiden ertränkten oder erwürgten ihre Kinder sacro an arbitrio, als Opfer oder nach eigenem Gutdünken. Den Christen sei die Tötung von Nachkommen, auch der ungeborenen, in jedem Fall verboten.²⁹ Tertullian setzt sich in seiner Argumentation ausführlich mit der Frage auseinander, ab wann ein Embryo als unverletzlich zu gelten habe. Anders als in Dig. 35,2,9,1, wo gesagt wird, ein noch nicht geborenes Wesen sei noch kein Mensch, hält er entschieden fest: Homo est et qui est futurus, auch das keimende Leben sei bereits ein Mensch.³⁰ In derselben Weise schreibt Laktanz, es sei grundsätzlich verbrecherisch, einen Menschen zu töten; es dürfe keine Ausnahmefälle geben. In seiner Begründung findet sich ein klarer, christlicher Transzendenzbezug: Die Tötung un- bzw.
24 Bei der Didache handelt es sich um die erste christliche Kirchenordnung (2. Jh. n. Chr.), die von mehreren unbekannten Autoren verfasst wurde. 25 Didache 2,2. 26 Philo, De spec. legibus 3,114f. 27 Vgl. Athenag. suppl. 35,2. 28 Min. Fel. Oct. 30,1–2. Nach der Sage wurden dem mykenischen König Thyestes seine eigenen Söhne zum Mahl vorgesetzt. 29 Tert. apol. 9,6. 30 Tert. apol. 9,6. In an. 7 bricht Tertullian mit der klassischen Vorstellung, dass ein Embryo erst nach 40 bzw. 90 Tagen beseelt sei; seiner Ansicht nach geht die Seele bereits bei der Zeugung in den Menschen ein, und daher sei es ein ebenso großes Verbrechen, eine gerade im Werden begriffene Seele zu töten wie eine bereits ausgebildete, geborene. Zur traditionellen Sichtweise vgl. Aristot. hist. an. 7,3 (40 Tage für einen Jungen, 90 für ein Mädchen). In an. 37 kehrt Tertullian möglicherweise zur traditionellen Sichtweise zurück, vgl. Schöpf 1958, 130f.; die Formulierung ist unserer Ansicht nach aber nicht eindeutig. Kapparis 2002, 39f., verweist darauf, dass lange vor den Christen schon die Pythagoräer der Ansicht gewesen seien, dass ein ungeborenes Kind bereits ab der Empfängnis als Mensch zu gelten habe.
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neugeborener Kinder sei größte impietas, weil sie gegen Gottes Plan verstoße: Ad vitam enim deus inspirat animas, non ad mortem.³¹ Einem Menschen stehe es grundsätzlich nicht zu, einem anderen Gottes Gabe, nämlich das Leben, zu entreißen. Laktanz brandmarkt Aussetzungen als ebenso frevelhaft und sogar als noch grausamer, denn auch wenn die Eltern nicht persönlich Hand anlegten an ihr Kind, schickten sie es doch ins Verderben. Das Mitgefühl, das sie von der Tötung abhält, verurteilt Laktanz als falsa pietas.³²
2.4 Kritik und Geltungsanspruch Wie wir gesehen haben, galt der heidnischen Antike das ungeborene Leben nicht als Mensch, und auch dem Neugeborenen gestand man nicht automatisch ein Recht auf Leben zu,³³ sondern knüpfte dieses an bestimmte Bedingungen. Dabei berufen sich die Autoren zunächst auf immanente Gründe, indem sie Kosten und Nutzen gegeneinander aufrechnen. Das Aufziehen behinderter Kinder galt als Bürde; von einem solchen Nachkommen konnten sich Familie und Gemeinschaft keinen Ertrag erwarten, im Gegenteil. Die christlichen Autoren berufen sich in ihrer Entgegnung auf eine transzendente Größe, nämlich die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens.³⁴ Der zweite wichtige Beweggrund, der zumindest für die heidnisch-römische Antike eine Rolle spielte, wurzelt in einer großen Scheu der Römer vor als widernatürlich empfundenen Ereignissen. Im Kult der Römer spielten monstra (hier neutral im Sinne von Wunderzeichen) eine große Rolle; es ging darum, sie als Zeichen der Götter richtig zu deuten und angemessen zu reagieren. Die Religiosität der Römer ist einem Pakt vergleichbar: Tat man den Göttern Genüge, hielten sie ihre schützende Hand über das Reich.³⁵ Das heißt, die Tötung bzw. Aussetzung abnormer Kinder war – mit Blick auf das Gemeinwohl – eine unbedingte Pflicht, basierend auf der religio. Eine umfassende Auseinandersetzung mit der Aussetzung aus kultischen bzw. religiösen Gründen findet sich bei den frühchristlichen Schriftstellern nicht; doch es ist sicher kein Zufall, dass Laktanz in der eben besprochenen Passage
31 Gott haucht dem Menschen Atem ein zum Leben, nicht zum Tod, Lact. inst. 6,20,18. 32 Lact. 6,20,21. 33 Hirt 2004, passim, zeichnet in ihrem Aufsatz sorgfältig nach, dass un- bzw. neugeborene Kinder zwar gewisse Rechte hatten, diese sich aber einzig und allein auf ihre spätere Rolle als Bürger oder Erbe bezogen. Um ihrer selbst willen wurden sie nicht gesetzlich geschützt. 34 Lact. inst. 6,10. 35 Latte 1960, S. 39f.
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kurz hintereinander von impietas und falsa pietas spricht, um heidnische Praktiken zu verurteilen. Er wählt bewusst einen der wichtigsten Wertbegriffe der römischen Antike und deutet ihn um; pietas sei es, den Einen und Wahren Gott zu verehren; die pietas der paganen Römer wird als Fehlhaltung dargestellt.³⁶ Die Ungeheuerlichkeit der heidnischen Praktiken wird also mit genau demselben Begriff begründet, mit dem diese Verfahren auch Legitimation gefunden hatten. Auch den Begriff der religio deutet er im christlichen Kontext neu und verwirft das traditionelle Begriffsverständnis. Pagane religio sei nichts als Aberglaube, wahre religio hingegen komme ohne blutige Opfer aus und zeige sich in einer von Herzen kommenden Verehrung Gottes, die zugleich eine unbedingte Achtung vor dem Mitmenschen sein müsse.³⁷ Auch die patria potestas wird von Laktanz in einen christlichen Begründungszusammenhang gestellt: Nur der dürfe Vater genannt werden, der auf Ewigkeit die Macht über Leben und Tod habe.³⁸ Auf diese Weise vereinnahmt er Zentralbegriffe der paganen Ordnung für exklusiv christliche Inhalte und Transzendenzbezüge; gleichzeitig verwirft er die traditionellen Vorstellungen als leeren Aberglauben und entzieht ihnen die legitimatorische Grundlage.³⁹
36 Lact. inst. 5,10. 37 Insbesondere Lact. inst. 5,19. 38 Solus pater vocandus est, qui habet vitae ac necis veram et perpetuam potestatem, Lact. inst. 4,4,11. Auch Seneca hatte in De clementia bereits davon gesprochen, dass die Aufgabe, über Leben und Tod zu entscheiden, den Göttern zukomme. Da er aber an anderer Stelle, wie wir gesehen haben, Kindstötungen eindeutig befürwortete und aus der Bemerkung in clem. 1,21,2 nicht klar hervorgeht, dass sie gegen die traditionelle Auffassung der patria potestas gerichtet ist, kann sie nicht eindeutig als Umdeutung des Konzeptes gelten. Zur Neusemantisierung des pater-familias-Konzeptes bei Laktanz: Włosok 1960, S. 241–246. 39 Walter 2006, passim, setzt sich in sehr überzeugender Weise mit der Beobachtung auseinander, dass in den Divinae Institutiones heidnische Leser bald durch scheinbar ähnliche Wertekonzepte vereinnahmt, bald entschieden ausgegrenzt werden. Er zeichnet außerdem nach, dass die Umdeutungen paganer Wertvorstellungen teils implizit, teils explizit vorgenommen werden.
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3 Selbstmord und Tötungsverbot in der römischen Antike 3.1 Beurteilung des Suizids in der paganen Antike Ein etwas anderes Bild zeigt der Blick auf eine zweite Form der Tötung, auf die Selbsttötung. Die Frage, ob die Entscheidung über das eigene Leben einer transzendenten Macht vorbehalten und damit unverfügbar war oder aber vom Menschen selbst getroffen werden konnte, wurde bereits in der griechischen Antike diskutiert. Insgesamt war jedoch eine tolerante Einstellung vorherrschend, und der Selbstmord wurde nirgends absolut und umfassend verboten.⁴⁰ Im römischen Denken wurde der Suizid schließlich nicht nur toleriert, sondern galt als ein Ausdruck moralischer Größe und gewann eine ganz eigene, von unseren heutigen Vorstellungen abweichende soziale Funktion.⁴¹ „Der Selbstmord war für die Römer viel mehr als für die Griechen ein Ereignis des öffentlichen Lebens […], ein Ereignis, in dem die dignitas Romana sich darzustellen liebte.“⁴² Vor allem in aristokratischen Kreisen konnte er dazu dienen, den sozialen Rang und die Tugendhaftigkeit auch in Notzeiten zu behaupten. War ein standesgemäßes Leben nicht möglich, dann lag es in der Verfügungsgewalt des Einzelnen, durch Suizid die Würde zu bewahren und ein Aufbegehren gegen
40 Man schwankte zwischen einer absoluten Bejahung des Suizids als vernunftgemäße Verwirklichung der menschlichen Natur in Notsituationen und einer Verurteilung desselben als gegen göttliches Gesetz oder das Gemeinwesen gerichtet. Auch die Selbstmordkritiker gestanden jedoch den Suizid in Notlagen zu. Die Selbstmordbejahung findet ihre vollkommenste Ausprägung bei den Stoikern: Diog. 7,130; Sen. epist. 82,9–11. Vgl. zum Selbstmord in der Stoa ausführlicher Benz 1929. Ihre Anfänge hat diese Einstellung bereits im 6. Jh. v. Chr. bei den Vorsokratikern und den frühen Elegikern: Stob. Floril. 128,20; Prodikos von Keos: Hdt. 6,75; 7,46. Theognis geht soweit, dass er erstmalig explizit zum Selbstmord auffordert: Theogn. 173f. Kritischer äußern sich Plato (Phaid. 61f.; Leg. 854 und 873) und Aristoteles (NE 5,11,1–4; 9,4,7–9; EE 3,1,20–33), später die Neuplatoniker: vgl. Plat. Phaid. 61f. Die Selbstmordablehnung findet sich aber auch schon im 6. und 5. Jh. v. Chr. bei den Orphikern und den Pythagoreern: vgl. dazu Plat. Krat. 400; Plat. Phaid. 62; Iambl. Protr. 8, p. 53; Cic. Cato 72f.; Tusc. 1,30; Clem. Al. Strom. 3,17. Vgl. zu den zahlreichen Ausnahmen in Notsituationen bes. Plat. Phaid. 61f.; Leg. 854 und 873. Geurteilt wird nach den Umständen und Motiven der Tat, der Selbstmord wird also nicht per se als moralisch verwerfliche Tat verurteilt. Vgl. dazu Geiger 1888, S. 32–46. 41 Vgl. Hill 2004, S. 7–17, der den „highly social character of Roman self-killing“ (S. 12) und die Rolle des Suizids für den sozialen Status (S. 10) betont. 42 Hirzel 1907/8, S. 451.
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widrige Umstände und gegen die Einschränkung der eigenen Persönlichkeit und Naturanlage zu demonstrieren.⁴³ Im römischen Rechtssystem manifestierte sich schon früh diese positive Einstellung zur Selbsttötung. In der Republik wurde Suizid nicht als Verbrechen geahndet. Selbstmörder konnten durch ihre Tat sogar einer Bestrafung für andere Vergehen entgehen. Dies führte in der frühen Kaiserzeit zu einer regelrechten ‚Selbstmordkonjunktur‘, die unter Hadrian eine Gesetzesänderung nach sich zog. Fortan wurde der Suizid als Geständnis des vorgeworfenen Vergehens betrachtet – allerdings nur, sofern nicht andere Motive nachgewiesen werden konnten. Die Tat an sich galt weiterhin nicht als Verbrechen. Noch die iustinianische Rechtsprechung behandelt den Suizid als erlaubte, wenn auch als unsittlich empfundene Handlung.⁴⁴ Die theoretischen Betrachtungen zum Selbstmord wirken ähnlich tolerant.⁴⁵ Die ersten umfangreichen Äußerungen finden sich bei Cicero, der zwar generell auf einem Verharren im Leben bestand, die Entscheidung zum Tode dem Weisen jedoch auf göttlichen Wink hin verfügbar stellte. Die zahlreiche Verwendung von Selbstmord-exempla in seinen Werken macht deutlich, dass der Suizid in einem solchen Falle sogar als ruhmvoll und nachahmenswert beurteilt wurde.⁴⁶ Auch nach Einrichtung des Prinzipats blieb die Einstellung zum Selbstmord tolerant bis affirmativ, man beurteilte ihn als Rettung der Tugend in der Not und als vernunftgemäße Handlung.⁴⁷ In der Kaiserzeit setzte sich vor allem die stoische Auffassung durch. Seneca propagierte den Selbstmord als potenziell legitimen Ausweg aus dem Leben, der dem Menschen – im Gegensatz zu vernunftlosen Tieren – von einer fürsorglichen Gottheit gewährt worden sei. Er könne gewählt werden, wenn eine vernunftgemäße Lebensführung nicht mehr möglich sei, aber auch vorsorglich schon in Voraussicht auf eine solche Situation.⁴⁸ Senecas Ausführungen hatten maßgeblichen Einfluss auf die folgenden Generationen von
43 Vgl. die Darstellungen zu zentralen römischen Autoren bei Hill 2004. 44 Belegstellen finden sich bei Grisé 1982, S. 247–281 und Hofmann 2007, S. 65–74, die detailliertere Ausführungen zur Rechtslage des Suizids in Rom machen. Vgl. auch Geiger 1888, S. 63–76, Lüdke 1992, S. 41f. und Zeddies 1994, S. 61–63. 45 Vgl. hierzu: Geiger 1888, Hirzel 1907/8, Alvarez 1980 und Grisé 1982 sowie insbesondere Hill 2004. 46 Cic. Tusc. Disp. 1,30.39.48; Cato 75; Cic. rep. 6,14. Für weitere Belegstellen siehe Geiger 1888, S. 25–26. 47 Plin. nat. hist. 25,7,24; Plin. ep. 1,12; 1,22; 3,7; 6,24. Für weitere Belegstellen siehe Geiger 1888, S. 26–28. 48 Sen. epist. 4; 12; 24; 26; 30; 36; 37,3; 49; 54; 58,29–36; 60; 61; 70; 75; 77; 78; 82; 93; 98; 108; 117,21; Consol. ad Marc. 19,5–20,6; De ira 3,15,3; De provid. 6,6.
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Verteidigern des Suizids.⁴⁹ Weniger eindeutig äußerten sich die Neuplatoniker, die den Selbstmord zwar per se verurteilten, aber zahlreiche Fälle aufführten, in denen er statthaft bzw. sogar notwendig und vernünftig sei.⁵⁰ Die starke Suizidtoleranz zeigt sich ferner in dem Katalog von exempla, der sich in der Republik etabliert hatte. Das Festhalten an moralischen Grundsätzen und der Einsatz für römische Werte äußerten sich bei vielen dieser Vorbildfiguren im Suizid. Die Entscheidung für den Tod wird dargestellt als eine verfügbare Größe, die zum Ausdruck römischer pietas, fides und dignitas wird. Die Tatsache etwa, dass sich Lucretia aus Schuldgefühlen für eine ihr angetane Vergewaltigung selbst tötet, um nicht in Schande leben zu müssen und dabei anderen Frauen ein schlechtes Vorbild zu sein, wird durchweg positiv gedeutet als ein Zeichen der pudicitia, die sich für eine gute Römerin ziemt.⁵¹ Die Selbstaufopferung der Decii, des Horatius Cocles und vieler anderer wird gelobt als ein Verhalten, welches das Wohl des Vaterlandes über das des eigenen Lebens stellt.⁵² Der Selbstmord Catos wird gar zum Inbegriff des Festhaltens an politischen und moralischen Idealen.⁵³ Allein die Erwähnung der Namen solcher Figuren genügte, um ein tugendhaftes Vorbild zu evozieren. Selbst die frühchristlichen Schriftsteller waren in dieser Tradition noch so verhaftet, dass sie sich durchweg mit den exempla auseinandersetzen mussten.⁵⁴ Einige von ihnen zogen diese trotz der aus christlicher Perspektive verurteilungswürdigen Todesart nicht in Zweifel, sondern maßen vielmehr ihre eigenen Vorbildfiguren daran.⁵⁵
49 Lucan Pharsal. 3,238–243; 4,474–485; 516–520; Epiktet Diss. 1,9,10ff.; 1,24,20; 1,25,21; 2,15,4ff.; 2,16,39f.; 3,13,14; 3,24,95ff.; Marc Aurel 2,12; 3,1.5; 5,29; 8,47; 10,8.32. 50 Plot. 1,9; Porph. abst. 1,47; 2,47; Porph. Marc. 34f.; Macr. somn. 1,13. 51 Liv. 1,57–59; Ov. Fast. 2,787–848; Val. Max. 6,1,1; Flor. 1,7,11; Eutr. 1,8. Vgl. Fögen 2002, S. 21–23; 39f. 52 Decii: Cic. Cato. 75; fin. 2,61; off. 1,61 Tusc. 1,89; Liv. 7,34–37; Horatius Cocles: Cic. off. 1,61; Liv. 2,10–13. 53 Lucan. Phars. 2,380–383; App. It. 2,98f.; Val. Max. 3,2,14. 54 Vgl. zum Umgang der frühchristlichen Autoren mit den paganen exempla Hofmann 2007, S. 83–118. 55 Hier ist insbesondere zu denken an Tertullian und Hieronymus. Vgl. zum Umgang der frühchristlichen Autoren mit den paganen Selbstmord-exempla ausführlicher Hofmann 2007, S. 83–118.
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3.2 Beurteilung des Suizids im frühen Christentum Die christlichen Autoren waren sich über die Transzendenz von Leben und Tod und die damit verbundende Illegitimität der Selbsttötung weitgehend einig.⁵⁶ Die Definitionen von Selbstmord, die Argumentationen und Begründungen seines Verbotes, wie auch die Vehemenz, mit der man das Verbot durchzusetzen versuchte, variierten jedoch stark. Die Prägung durch pagane Traditionen führte dazu, dass gerade in den ersten Jahrhunderten in den Märtyrern das Ideal des freiwilligen Sterbens für einen höheren Zweck weiterlebte. Ab dem 3. Jahrhundert entwickelte sich hingegen eine vollkommene Ablehnung des Suizids als gegen die göttlichen Gebote gerichtet,⁵⁷ die auch mit einem freiwilligen Sterben für Gott nur schwer vereinbar war. Das älteste Zeugnis einer Reflexion über Selbstmord und autonome Todesbereitschaft liefert Justinus Martyr, der in seiner Apologie den Selbstmord mit der Begründung ablehnt, dass die Menschen zur Freude Gottes geschaffen seien.⁵⁸ Bereits eine Generation später spricht Clemens Alexandrinus ein explizites Suizidverbot aus und verurteilt Selbstmörder in einem Zuge mit anderen Mördern. Er formuliert dabei erstmals einen Gegensatz zwischen Martyrium und Suizid.⁵⁹ Eine affirmativere Einstellung zeigt sein Zeitgenosse Tertullian. Nirgendwo verbietet er ausdrücklich die Selbsttötung. Vielmehr betont er wiederholt die mit dem Märtyrertod verbundene Heilserwartung. Auch wenn Leben und Tod selbst in der Hand Gottes lägen und damit unverfügbar seien, so dürfe man durchaus auch aktiv den Bekennertod herausfordern, müsse es sogar und solle sein Leben nicht durch Flucht schützen.⁶⁰ Diese Einstellung findet sich weniger drastisch bei Origenes, der die freiwilligen Märtyrer lobpreist, jedoch gleichzeitig den Selbstmord an sich verwirft.⁶¹ Cyprian zeigt sich kritischer und betont, man dürfe sich nicht selbst ausliefern, sondern müsse eine Festnahme abwarten.⁶²
56 Vgl. u.a. Just. Mart. apol. 2,4; Clem. Strom. 4,18,106,2; Orig. c. Cels. 5,27; Cypr. ep. 1,5; 7; 8; 81,4; Lact. Div. Inst. 3,18; 6,17,25; epit. 59,5; Ambr. Virg. 3,7,32; bon. mort. 2,7; Aug. civ. 1,16–26. Siehe auch die Überblicke bei Schöpf 1958, S. 45–63; Zeddies 1994, S. 63–69; Lüdke 1992, S. 46–50; Hofmann 2007, S. 42–64. 57 Dies äußern explizit erstmals Laktanz und Augustin, eine Selbstmordablehnung findet sich aber schon früher. 58 Just. Mart. apol. 2,4. 59 Clem. Strom. 4,18,106,2. Vgl. auch Clem. Strom. 4,4,17; 4,6,41,1f.; 4,10,76,1–77,1. 60 Tert. De fuga; Tert. Scorp. 61 Orig. exh. Mart. 22 und 47; dagegen Orig. c. Cels. 5,27. 62 Cypr. ep. 1,5; 7; 8; 81,4.
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Bei Laktanz findet sich dann erstmalig eine vollständige Verurteilung des Selbstmordes als nicht mit der christlichen Lehre vereinbar. In seinen Divinae Institutiones nennt er den Suizid sceleratum ac nefarium. Er fasst ihn als eine besonders schlimme Form des Mordes auf und setzt ihn in Opposition zum christlichen Tötungsverbot, das die Verfügungsgewalt über das menschliche Leben völlig in die Hand Gottes legt.⁶³ Auch Ambrosius formuliert explizit, dass es die heilige Schrift verbiete, sich selbst Gewalt anzutun. Er bezeichnet in sokratischplatonischer Manier das Leben als einen Posten, den zu verlassen nur der Gottesbefehl ermöglicht. Die Entscheidung zum Tode ist somit unverfügbar und völlig von der transzendenten Macht Gottes abhängig.⁶⁴ Absolut und für die folgenden Jahrhunderte maßgeblich verbietet schließlich Augustin den Selbstmord. Er sieht darin eine Form des Mordes, die er direkt zum biblischen Tötungsverbot in Bezug setzt und so klar vom Martyrium abgrenzt. Ausnahmen lässt er nur zu, wenn der Selbstmord durch göttlichen Befehl erfolgt sei, das heißt, wenn ein göttlicher Befehl oder eine Eingebung den Tod gleichsam verfügbar stellt.⁶⁵
3.3 Umgang mit frühchristlichen Suiziden: Selbstmord für die Keuschheit Auch wenn mit den Synoden des 4. bis 7. Jahrhunderts der Selbstmord schrittweise allgemein verbindlich verboten worden war⁶⁶ und das Toleranzedikt von 311 dem Märtyrertod gläubiger Christen ein Ende gesetzt hatte, so blieb doch der Tatbestand, dass in der Verfolgungszeit viele Christen bereitwillig in den Tod gegangen waren, einige von ihnen diesen sogar provoziert oder eigenmächtig hervorgerufen hatten.⁶⁷ Die Kirchenväter waren vor die Aufgabe gestellt, das Verhalten dieser Vorbildfiguren mit den damit konkurrierenden christlichen Grundsätzen in Einklang zu bringen. Wie dies geschehen konnte, soll anhand der Problematik des Selbstmordes zum Schutze der Keuschheit gezeigt werden, konkret mittels einer exemplarischen Betrachtung des Selbsttötungsfalles der Jungfrau
63 Lact. inst. 3,18; 6,17,25; epit. 59,5. 64 Ambr. Virg. 3,7,32; bon. mort. 2,7. 65 Aug. civ. 1,16–26; c. mend. 9,13; enchir. 9,30. 66 Vgl. Lüdke 1992, S. 49f. und Hofmann 2007, S. 74–78. 67 Vor allem die Märtyrerberichte, die weiterhin in liturgischem Gebrauch waren, hielten die Tatsache präsent. Vgl. insbesondere Germanicus in Mart.Pol. 3 oder Perpetua in Pass. Perp. 21,9f. als Beispiele für ein Nachhelfen bei der Tötung; Saturus in Pass.Perp. 4,5 oder Euplus in Acta Eupli 1 als Selbstauslieferer; Pelagia sowie Domnina, Berenice und Prosdoce als Märtyrer durch Selbstmord.
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Pelagia.⁶⁸ Während Eusebius den Tod der Pelagia nur kurz, jedoch ohne kritische Stellungnahme erwähnt, finden sich ausführliche Darstellungen bei Ambrosius und Johannes Chrysostomos.⁶⁹ Ambrosius stellt seinen Ausführungen explizit das Problem konkurrierender Bezugsnormen voran, indem er fragt, ob es für eine Christin trotz des Tötungsverbots der Heiligen Schrift erlaubt sei, sich Gewalt anzutun. Er bejaht dies für Jungfrauen, die in Notsituationen geraten sind und so zwischen dem Wert ihres Lebens und dem ihrer Keuschheit wählen müssen.⁷⁰ Sodann führt er als Beispiel den Freitod Pelagias an, wobei die Tötung selbst zwar nicht ausdrücklich beschrieben, sondern elliptisch ausgespart,⁷¹ in Pelagias Monolog jedoch konkret angekündigt wird. Die Keuschheit der Selbstmörderin wird von Anfang an durch die Häufung des Begriffs virgo hervorgehoben. Gleich zu Beginn definiert Ambrosius zudem die Notlage aufgrund der Verfolgungssituation. An späterer Stelle veranschaulicht er dies noch durch den Vergleich der Pelagia mit einer Beute, die vor Jägern entfliehen muss. So schafft er die Voraussetzung für eine Interpretation des Selbstmordes als Martyrium. Ambrosius erklärt ferner, dass Pelagia gotterfüllt, Deo plenior, sei, was impliziert, dass auch ihr Handeln von Gott gelenkt wird. Der eigentlich transzendente, in der Hand Gottes liegende Tod wird für Pelagia durch die Immanenz Gottes verfügbar. Dabei macht der Autor in einem Monolog der Jungfrau deutlich, dass diese durchaus bewusst handelt, rational das Für und Wider einer Selbsttötung abwägt und auf diese Weise zu einer vernunftgemäßen Entscheidung gelangt. Auch die Nützlichkeit ihres Todes nicht nur als remedium, sondern auch als Handlung gegen den Götzendienst findet Erwähnung. Der an sich verbotene Selbstmord wird so zusätzlich gerechtfertigt durch die traditionelle Vorstellung von einem höheren Zweck, der hier in der Abkehr von den mit dem christlichen Glauben in Konkurrenz stehenden gottlosen Kulten besteht. Ambrosius kombiniert in seiner Darstellung die Vorstellung einer von Gott ausgehenden Verfügbarmachung des Todes mit verschiedenen paganen Argumentationsmustern, insbesondere des Platonismus und der Stoa. Auf diese Weise rechtfertigt er die den christlichen Normen widersprechende Selbsttötung durch traditionelle Begründungen, ohne das christliche Tötungsverbot an sich außer Kraft zu setzen.
68 Vgl. zur Jungfrauenproblematik Hofmann 2007, S. 124–136. 69 Eusebius Hist. eccl. 8,12,2–4; 8,14,17; Ambr. 3,7,32–36; Joh. Chrys. paneg. Pelag. Ant. (hom. 40). Vgl. auch Hier. adv. Jovin. 1,41. 70 Ambr. 3,7,32. 71 Hierin lässt sich ein klarer Unterschied zu den paganen Selbstmord-exempla erkennen, bei denen die Handlung, die zum Tode führt, explizit und rühmend beschrieben wird.
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Etwas anders geht Johannes mit der Problematik um, seine Ausführungen wirken apologetischer. So betont er gleich zu Beginn die Unmöglichkeit der gleichzeitigen Bewahrung von Keuschheit und Leben und verweist darauf, dass Pelagia diesen Weg gewählt hätte, sofern er möglich gewesen wäre. Der häufige Verweis auf Pelagias pudicitia und die sanctitas ihres Körpers verdeutlicht den hohen Stellenwert der Keuschheit und macht so eine Entscheidung für diese und gegen das Leben nachvollziehbar. Der Vergleich Pelagias mit einer Hirschkuh, die den Jägern zu entkommen versucht, untermalt, ähnlich wie bei Ambrosius, die Ausweglosigkeit ihrer Lage. Johannes umgeht es dennoch, den Selbstmord direkt zu benennen, sondern beschreibt ihn stattdessen durch Metaphern und Euphemismen. Ferner betont er durchgängig, dass Gott der eigentliche Urheber der Tat sei. Er sei verantwortlich, dass die Jungfrau in den Tod ging, dass der Selbstmordversuch erfolgreich war, dass die Soldaten von Pelagia getäuscht werden konnten.⁷² Die Jungfrau handelt also nicht eigenmächtig, sondern auf göttlichen Befehl.⁷³ Der Tod bleibt auf diese Weise unverfügbar und kann nur durch die Macht Gottes erfolgen. Nur an einer Stelle lässt sich an eine Vernunftentscheidung der Pelagia denken, wenn Johannes sie bemerken lässt, dass ein anderes Handeln als das von ihr gewählte von extrema dementia gezeugt hätte. Johannes beurteilt Pelagias Handeln als Resultat herausragender Seelengröße und versucht durch den Vergleich mit normalen Martyrien zu zeigen, dass gerade ein Tod bei unversehrtem Körper ein besonders großes Opfer für Gott darstelle. Da hier der Tod keine Erlösung von Qualen bringe, wird das Selbstmordmartyrium gegenüber dem gewöhnlichen Bekennertod aufgewertet. Die Darstellungen zeigen, dass Ambrosius und Johannes die Unvereinbarkeit von Selbstmord für die Keuschheit und biblischem Tötungsverbot reflektierten. Die bewusste Entscheidung für den Tod, d.h. seine Verfügbarmachung einerseits und die alleinige göttliche Macht über den Tod, d.h. seine Unverfügbarkeit andererseits standen zwangsläufig in Konkurrenz. Dennoch mussten beide Vorstellungen in Einklang gebracht werden, damit die Märtyrerinnen, die noch nach paganen Mustern gehandelt hatten, als christliche Vorbildfiguren Wirkmächtigkeit behielten. Um die Differenz aufzulösen, wurde der Suizid zu einer Form des Martyriums abgeschwächt. Zudem übernahm man einzelne pagane Argumenta-
72 Schon zu Beginn wird Gott dafür gelobt, dass Jungfrauen freiwillig (ultro) in den Tod gingen, was ein Wirken seinerseits impliziert. Deutlicher wird dies noch in den Formulierungen: Dei maiorem partem conferentis auxilio; divino subsidio; Dei praesidium atque opem (2); Dei opera (3); divina providentia; Dei iussionem (4). Auch die zweimalige Aufzählung von erfolglosen Selbstmordversuchen im Kontrast zu dem von Gott begünstigten der Pelagia unterstreicht dies. 73 Diese Vorstellung vom göttlichen Befehl zum Selbstmord geht auf Platon zurück. Vgl. Anm. 40.
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tionsmuster und deutete sie mit christlichem Anspruch um: das Argument der Vernunftentscheidung und des Nutzens für einen höheren Zweck, insbesondere aber die Vorstellung eines Handelns durch Gott oder zumindest nach Gottes Befehl, wie es selbst der große Selbstmordkritiker Augustin zuzustehen bereit war.⁷⁴ Gerade dieses letzte Argument ermöglichte es, die Unverfügbarkeit der Entscheidung über Leben und Tod zu bewahren, indem die scheinbare Verfügbarkeit des eigenen Todes sich in Wirklichkeit als überindividuelle, göttlich inspirierte, transzendente Entscheidung erwies. Auf diese Weise gelang es den Autoren, den Suizid der Märtyrerin im Rahmen der christlichen Gebote zu rechtfertigen.
4 Fazit Die Darstellungen zum Umgang antiker Autoren mit Kindstötung und Suizid haben gezeigt, dass pagane Praktiken und Normen häufig im Konflikt standen zu christlichen Moralvorstellungen. Die spezifisch christliche Vorstellung, dass die Macht über Leben und Tod in Gottes Hand liegt und dem Menschen damit unverfügbar ist, musste evident gemacht, eine Abgrenzung von paganen Praktiken und Idealen vollzogen werden, ohne vollständig mit den noch im Bildungsgut und in der Lebenspraxis verankerten paganen Traditionen zu brechen. Im Hinblick auf den Umgang mit dem un- und neugeborenen Leben fiel es den frühen Christen vergleichsweise leicht, sich unter Berufung auf die Transzendenzbehauptung von der Unantastbarkeit der Schöpfung radikal gegen Tötung und Aussetzung zu wenden. In der Auseinandersetzung mit dem Selbstmord war die eigene Positionierung ungleich schwerer: zwar konnten sich die Kirchenväter von der paganen Suizidverherrlichung abgrenzen, wollten aber doch die Martyrien, die bisweilen mit einem Selbstmord verknüpft waren, als exemplarisch herausstellen. Durch die Beschreibung des Suizids als von Gott gewollt bzw. als eigentlich von Gott hervorgerufen gelang es auch hier, den Tod als nur scheinbar immanente, realiter hingegen transzendente Größe zu definieren. In beiden Fällen wurden für die Begründung der spezifisch christlichen Vorstellung von einer göttlichen Transzendenz, die über Leben und Tod entscheidet, und der daraus resultierenden Regeln menschlichen Handelns gerade traditionelle Argumentationsmuster bzw. Wertbegriffe nutzbar gemacht. Diese unterzogen die Apologeten einer christlichen Neusemantisierung, verbunden mit dem Anspruch exklusiver Deutungshoheit, sichtbar in der ständigen im- sowie teil-
74 Aug. civ. 1,26; c. Gaud. 1,31,39.
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weise auch expliziten Aussage, dass die Heiden den wahren Inhalt der Werte nie erkannt hätten. Auf diese Weise versuchte man, die Überlegenheit der neuen Ordnung über die alte klar herauszustellen und gleichzeitig Verhaltensweisen, die noch paganen Traditionen verhaftet waren, zu rechtfertigen und mit den christlichen Normen in Einklang zu bringen.
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Nathanael Lüke, Daniel Pauling
Teufels Braten Opferfleisch in der paganen und frühchristlichen Antike
1 Einleitung Der römische Statthalter Plinius berichtete im Jahre 112/113 n. Chr. dem Kaiser Trajan von den Problemen mit Christen in seiner Provinz Bithynien und Pontos. Nach der Schilderung seiner Verhörmethoden schreibt er Folgendes: „Denn viele Menschen jedes Alters, jedes Standes und auch beider Geschlechter geraten in Gefahr und werden in Gefahr geraten. Und nicht nur über die Städte, sondern auch über die Dörfer und die ländlichen Gebiete hat sich der üble Einfluss dieses Aberglaubens ausgebreitet. Dieser kann – so scheint es – eingedämmt und in Ordnung gebracht werden. Hinreichend sicher ist wenigstens, dass die beinahe schon verödeten Tempel sich zu füllen beginnen, die lange ausgesetzten feierlichen Opfer wiederaufgenommen werden und Opferfleisch verkauft wird, für das sich bisher höchst selten ein Käufer fand.“¹
Der „üble Einfluss des Aberglaubens“ wird in dem zitierten Text als Ursache ökonomischen und religiösen Verfalls dargestellt. Die Christen haben durch ihren Verzicht auf die Teilnahme an Opferfeiern und die Konsumverweigerung von Opferfleisch (victimarum caro) für Unruhe gesorgt. Dass dies nicht nur ein ökonomisches und religiöses Problem für die römischen Behörden war, sondern auch ein politisches – und dass diese drei Sphären eine unauflösliche Einheit bildeten – zeigt das von Plinius entworfene Verfahren gegen Christen. Wenn ein mutmaßlicher Christ sich des Christseins als nicht schuldig bezeichnete, gereichte es dem Angeklagten zum Erweis der Unschuld, wenn er das Bildnis des Kaisers und anderer Götter betend anrief und dem Kaiser mit „Weihrauch und Wein“ (ture ac vino) huldigte.² Wir gehen der Frage nach, welche Bedeutung das Opferfleisch für die Konstituierung und Konsolidierung der paganen Polisgemeinschaft bzw. des Imperium Romanum hatte, welche Positionen sich im frühen Christentum zum Opferfleisch herausbildeten und wie dies mit der Verortung der frühchristlichen Gemeinden
1 Plin. ep. X,96,9f. Die Übersetzungen der Quellen stammen von den Autoren, soweit nicht anders angegeben. 2 Plin. ep. X,96,5.
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in ihrem sozialen Umfeld zusammenhing. Dazu wird zunächst exemplarisch dargestellt, in welchen lebensweltlichen Kontexten der griechisch-römischen Antike Opferfleisch eine Rolle spielte und welche sozialen Bedeutungen ihm dabei zuwuchsen, um das Konfliktpotential des Opferfleischverzichts zu verdeutlichen. Danach werden vor diesem Hintergrund die Positionen des Paulus (Erster Korintherbrief) und die des Propheten Johannes (Apokalypse) zum Umgang mit den sozialen Praktiken, die mit dem Opferfleisch zusammenhängen, analysiert. Die Begrifflichkeit von ‚Transzendenz und Gemeinsinn‘ ermöglicht es, die paganen und christlichen Leitideen, die hinter dem jeweiligen Umgang mit Opferfleisch stehen, im (auch innerchristlichen) Konflikt präzise fassen und vergleichen zu können.
2 Opferfleisch und seine soziale Bedeutung im antiken Alltag Opferfleisch stellte in der griechisch-römischen Antike einen zentralen Bestandteil der paganen Kultpraxis dar. Nahezu jede Spezies domestizierter Tiere wurde der Opferung in den zahlreichen Tempelkulten zugeführt. Doch hier soll nicht die Fleischsorte im Fokus stehen. Wichtiger in vielerlei Hinsicht ist demgegenüber die sich an das Opfer anschließende Verteilung des im Griechischen so genannten hieróthyton,³ des Opferfleisches. Die Opferung eines Tieres umfasste zunächst dessen rituelle Tötung an einem Altar durch ausgebildete Tempeldiener. Im Anschluss daran wurden Teile des Tieres im Altarfeuer verbrannt und damit der im jeweiligen Kult verehrten Gottheit symbolisch dargebracht. Zugleich wurde jedoch der Großteil des verwertbaren Fleisches auf verschiedene Arten an die Menschen verteilt. Grundlegend lassen sich zwei Bereiche der Opferfleischverteilung abgrenzen: Entweder wurde das Fleisch direkt im Rahmen öffentlicher Bankette im unmittelbaren Zusammenhang mit der Opferhandlung an alle anwesenden Kultteilnehmer ostentativ verteilt und anschließend gemeinsam verzehrt, oder aber das Fleisch gelangte über Fleischmärkte in den freien Handel
3 Τὸ ἱερόθυτον (wörtl. ‚das heilige Geopferte‘) war die landläufige Bezeichnung des Opferfleisches, während der Fachterminus im Tempelkult τὸ θεόθυτον (wörtl. ‚das Gottgeopferte‘) lautete; vgl. Phryn. soph. praep. s. v. ϴεόθυτα: „was der Pöbel (οἱ πολλοί) als ἱερόθυτον bezeichnet“. Im christlichen Kontext wird dagegen von εἰδωλόθυτον gesprochen, dem ‚Götzengeopferten‘, worin sich die Ablehnung aller Götter außer dem Einen abzeichnet; vgl. hierfür v. a. 1Kor 10,19. Diese Begriffe konnten im weiten Sinne alle Gaben für die Götter bezeichnen, wurden v. a. aber für das Opferfleisch benutzt.
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und somit auch als Speise auf den Tisch bei privaten Gastmählern. Keiner dieser beiden Wege kann im Hinblick auf seine soziale Relevanz überschätzt werden. Betrachten wir zunächst den privaten Verzehr von Opferfleisch, um anschließend ins Innere der paganen Tempelkulte vorzudringen.
2.1 Opferfleisch jenseits der Tempelmauern Der Weg zum privaten Konsumenten führte über spezialisierte Händler (macellarii) vom Tempel über den Fleischmarkt, das sogenannte macellum.⁴ Diese abgegrenzten Märkte bildeten in vielen antiken Städten einen zentralen Ort, der häufig prunkvoll ausgestattet war und damit vom Prestige der dort versammelten Händler zeugte. Ein bekanntes Beispiel ist das macellum von Pompeji, welches einen großen, rechteckigen Platz direkt neben dem Forum einnimmt und an dessen Stirnseite sich ein kleiner Tempel mit Altar befand, welcher der Vesta oder sogar dem Kaiser geweiht war und zur rituellen Schlachtung von Vieh vor Ort diente.⁵ Ähnliches gilt auch für Korinth, obgleich in der Forschung die Lokalisierung und Ausstattung des dortigen macellum umstritten ist.⁶ Auf einen solchen Markt bezieht sich also Paulus im Ersten Korintherbrief, wenn er sagt: „Alles im macellum Verkaufte esst, ohne wegen des Gewissens nachzufragen (scil. ob es sich um Opferfleisch handelt)“.⁷ Viel diskutiert wurde in der Forschung die Frage, ob sich das Opferfleisch auf diesen Märkten überhaupt vom Fleisch nichtgeopferter Tiere unterscheiden ließ. Allein die Aussage des Paulus,
4 Zum mediterranen Fleischhandel zur Zeit des Imperium Romanum vgl. Frayn 1996, S. 108– 110. 5 Vgl. de Ruyt 1983, S. 141–149, die sich für Vesta ausspricht. Es muss betont werden, dass das macellum von Pompeji das einzige mit einer nachgewiesenen Schlachteinrichtung ist. Dazu und zur Identifizierung als Kaiserkulttempel mit Schlachtraum vgl. Koch 1999, S. 200–203 u. S. 212f. 6 Zur Lokalisierung des korinthischen macellum in der sog. Nordagora vgl. de Ruyt 1983, S. 56–61; Koch 1999, S. 209f.; Cadbury 1934, S. 139, zieht zwei weitere Möglichkeiten zur Verortung des Fleischmarktes in Betracht. Doch ein Inschriftenfund der Stifter eines macellum (Q. Cornelius und seine Frau Maecia; zuerst ediert von West 1931, Nr. 124; mithilfe weiterer Fragmentfunde erweitert ediert bei Kent 1966, Nr. 321) in der Nähe des berühmten Brunnenhauses der Peirenequelle deutet auch hier auf eine zentrale Lage direkt an der Hauptzugangsstraße der Stadt hin und spricht u. E. stark für eine Lokalisierung im sog. Peribolos des Apollon. Wie dem auch sei: Alle in Erwägung gezogenen Örtlichkeiten liegen unmittelbar an der Lechaion-Straße, dem Hauptzugang zur Stadt, und kurz vor dem Forum, dem zentralen öffentlichen Platz des römischen Korinth. 7 1Kor 10,25.
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dass man über die Herkunft des Fleisches keine Erkundigungen einholen solle, impliziert natürlich, dass es möglich war, derartige Informationen zu bekommen. Doch viel aufschlussreicher ist in diesem Zusammenhang eine Quellenstelle aus der fragmentarisch überlieferten Vita Aesopi, die bereits von Isenberg und McDonough zur Untersuchung des paulinischen Umgangs mit Opferfleisch herangezogen wurde.⁸ Der Sklave Aesop wird von seinem Herrn beauftragt, eine besondere Speise zuzubereiten. So geht er ins macellum und kauft dort Schweinezungen – allerdings nicht irgendwelche, sondern explizit die von geopferten Schweinen.⁹ Dies belegt zweierlei: Zum einen, dass es durchaus möglich gewesen sein muss, im macellum gezielt Fleisch von Opfertieren zu kaufen; zum anderen, dass dieses Opferfleisch als eine besondere Delikatesse galt, weswegen man die macella als „Feinkostläden“ bezeichnen kann.¹⁰ Und bedenkt man die besondere Qualität dieses Fleisches, wird man annehmen können, dass diese sich auch auf den Preis auswirkte.¹¹ Dies beleuchtet bereits einen zentralen Punkt, der im Brief des Plinius an den Kaiser Trajan thematisiert wird, wenn er berichtet, dass aufgrund der Christenprozesse wieder mehr Opferfleisch verkauft wurde.¹² Nach Plinius’ Aussage zu schließen, war der Fleischabsatz der Märkte und somit auch der Tempel stark eingebrochen. Der Verzicht der Christen in Bithynia und Pontos auf Fleisch von Opfertieren hatte somit nicht nur einen ideologischen Effekt, sondern bedeutete für die Heiligtümer auch empfindliche finanzielle Einbußen. Dies war offenbar ein nicht unbedeutender Anlass für den Statthalter, gegen die Praktiken der Christen vorzugehen, und bringt uns zur Untersuchung der Rolle, die Opferfleisch innerhalb der Tempelmauern spielte.
8 Vgl. Isenberg 1975, S. 271–273; McDonough 2004, S. 71f. 9 Vgl. die W-Handschrift der Vita Aesopi 51–54 (ed. Perry). Die Geschichte geht noch weiter: Aesop soll am folgenden Tag eine ganz gewöhnliche Speise zubereiten und geht wiederum auf den Fleischmarkt, um Schweinezungen zu kaufen – diesmal jedoch die von nichtgeopferten Tieren. Die Gäste seines Herren sind über diese Distinktion entzückt. In der Edition der G-Handschrift dagegen kauft Aesop an beiden Tagen die Zungen von Opferschweinen – gezielt danach fragen musste er aber auch in dieser Version der Vita Aesopi. 10 So Koch 1999, S. 198f., bes. Anm. 20. 11 McDonough 2004, S. 74f. untermauert die auch preislich herausgehobene Qualität von Opferfleisch mithilfe eines zuvor nicht beachteten Beleges bei Servius. 12 Plin. ep. X,96,10.
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2.3 Tempelkult, Fleischverteilung und soziale Ordnung Das Opferfleisch gelangte nicht nur bei privaten Gastmählern auf den Tisch und stellte somit durch den bloßen Verkauf für die Tempel eine wichtige Einnahmequelle zur Finanzierung des Kultbetriebes dar, welcher ja einen integralen Bestandteil der paganen Gemeinschaften bildete. Sondern dies galt umso mehr für Tempel, die über ausgedehnte Räumlichkeiten zur Abhaltung von Banketten verfügten. Viele Heiligtümer besaßen eine Reihe von Speiseräumen im Perimeter ihres Temenos (dem heiligen Bezirk).¹³ Diese konnten von Vereinen oder anderen Privatgemeinschaften – beispielsweise Hochzeitsgesellschaften – angemietet werden,¹⁴ was wiederum eine wichtige Einnahmequelle der Tempel darstellte und den Bürgern die Möglichkeit zur Durchführung größerer Feierlichkeiten bot. Viele Heiligtümer waren für die Bewirtung von zahlreichen Speisenden ausgestattet, weshalb diese Räumlichkeiten heute gelegentlich als „Tempelrestaurants“¹⁵ bezeichnet werden. Jenseits solch privater Nutzung durch eingemietete Personengruppen dienten die Bankettsäle der Tempelbezirke aber vor allem den mit dem eigentlichen Tempelkult verbundenen Feierlichkeiten. Die unmittelbare Verbindung zu der im jeweiligen Tempel verehrten Gottheit führte zur Bezeichnung der dabei versammelten Mahlgemeinschaften als ‚Speisetafeln‘ des jeweiligen Gottes. Bekannt ist beispielsweise die „Kline des Serapis“¹⁶ oder der von Paulus dafür geprägte diffamierende Ausdruck der „Tische der Dämonen“.¹⁷ Die Vorstellung, dass die Teilnehmer von Opferfeiern unmittelbar mit dem Gott gemeinsam speisten, stellte in der Antike nichts Ungewöhnliches dar. Ein Beleg dafür sind die römischen lectisternia.¹⁸ Eine besondere Form ihres Ablaufs ist aufschlussreich für unsere Zwecke: Im kapitolinischen Jupitertempel versammelten sich einmal
13 Bekannt ist aufgrund seines guten Erhaltungszustandes das Asklepiosheiligtum von Korinth; vgl. dazu Klinghardt 1996, S. 69–74. Speisesäle weiterer Tempelbezirke finden sich in der Darstellung von Frickenhaus 1917 und neuerdings bei Leypold 2008. Solche Räumlichkeiten werden häufig als ἑστιατόριον bezeichnet. 14 Wiederum für den Fall des Asklepieions von Korinth vgl. Fotopoulos 2003, S. 69f.; allgemein Koch 1999, S. 216. Vgl. auch Leypold 2008, S. 198f., mit weiteren Belegen aus Korinth und Kos. 15 Zuerst Conzelmann 1981, S. 184. 16 Vgl. dazu Gilliam 1976, S. 315–324. 17 1Kor 10,21. 18 Vgl. Wissowa 1924, Sp. 1108–1115. Wissowa betont den griechischen Ursprung des Brauches besonderer Kultgemeinschaften wie bspw. der delphischen Theoxenien, in speziellen Riten gemeinsam mit den Göttern zu speisen. Zu dieser Vorstellung des Speisens mit den Göttern vgl. allgemein auch Klauck 1982, S. 40–42.
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im Jahr – im Rahmen der jährlich stattfindenden plebejischen Spiele – die Senatoren, um Bankette abzuhalten, die sogenannten epulones Iovis.¹⁹ Zu diesem exklusiven Gastmahl lagen gemeinsam mit den Senatoren auch die Abbilder der kapitolinischen Gottheiten dort zu Tische – sie speisten quasi mit den Senatoren! Die symbolische Aufladung der Szenerie ist überdeutlich: Die politische Elite präsentiert sich im persönlichen Kontakt zu den Gottheiten; sie steht in den Augen der Römer im direkten Kontakt mit der das alltägliche Leben bestimmenden numinosen Transzendenz. Durch dieses Gemeinschaftsmahl der Senatoren mit den Göttern musste jedem Bewohner Roms deutlich vor Augen geführt werden, dass die politische Elite auch deshalb ihre Legitimation beanspruchen konnte, da sie im persönlichen Umgang mit dem Pantheon stand. Diese exklusive Stellung ist eine anschauliche symbolische Inszenierung der sozialen Hierarchie, in der die Senatoren augenfällig an oberster Stelle rangierten. Entscheidend dabei war die zyklisch-rituelle Wiederholbarkeit dieses Aktes, der schließlich jedes Jahr stattfand. Damit geht nicht nur die augenfällige Verbindung der sozialen Elite zur göttlichen Sphäre einher, sondern darüber hinaus findet eine Transzendierung der sozialen Hierarchie statt, indem die Senatoren eben durch jenen inszenierten Akt ihre Position an der Spitze des Gemeinwesens einerseits reklamierten, sie zugleich aber auch legitimierten. Die Stetigkeit des Geschehens verstetigt auch die soziale Ordnung, die damit unhinterfragbar und – in der Begrifflichkeit des SFB 804 – transzendiert wird. In diesem Prozess der Perpetuierung spielt die regelmäßige Wiederholbarkeit des legitimierenden, rituellen Aktes eine entscheidende Rolle. Noch deutlicher wird diese Verkörperung sozialer Hierarchie und deren zyklische Rekapitulation, wenn bei öffentlichen Kultfeiern das Opferfleisch verteilt wird. Bestes Beispiel hierfür sind die Festspiele der jährlich stattfindenden kleinen Panathenäen in Athen. Ihr ritueller Ablauf ist in einer Inschrift aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. erhalten.²⁰ Darin wird minutiös festgelegt, wie das Fleisch der Opfertiere im Anschluss an deren rituelle Schlachtung zu verteilen sei. Es lohnt, sich diesen Ablauf plastisch vorzustellen: Das athenische Volk versammelte sich nach einem Festzug auf der Akropolis, wo auf dem Altar eines
19 Vgl. Liv. XXX,39,8; Gell. XII,8,2; Val. Max. II,1,2; dazu Wissowa 1924, Sp. 1113f. 20 IG II2,334 (= SIG3 II,271). Man mag einwenden, dass das 4. Jh. weit vor der Zeit des Paulus zurückliegt. Doch ist dem zu entgegnen, dass gerade das Alter der Inschrift und deren öffentliche Aufstellung davon künden, dass die Kultpraxis über Jahrhunderte hinweg Geltung hatte. Und was könnte besser von einer auf Dauer gestellten sozialen Ordnung zeugen als ihre öffentlich sichtbaren uralten Statuten? Es kann kein begründbarer Zweifel daran bestehen, dass die kleinen Panathenäen zur Zeit des Paulus ebenso abliefen, wie in dieser Inschrift festgelegt.
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Athene-Tempels zahlreiche Tiere geschlachtet und die hierfür bestimmten Teile der Göttin im Feuer dargebracht wurden. Im Anschluss wurden die verwertbaren Fleischstücke in Portionen zerlegt und an die anwesenden Bürger verteilt. Dies geschah vor aller Augen – doch nicht zu gleichen Teilen.²¹ Die Inschrift legt fest, dass die Prytanen (die Ratsherren) je fünf, die Archonten (die Jahresbeamten des athenischen Gemeinwesens) jeweils drei Portionen des Opferfleisches erhalten. Im Anschluss erhalten die Priester je eine Portion, die Strategen Athens jeweils drei. Und erst danach empfangen die übrigen anwesenden Athener ihre einfachen Anteile, bevor der Rest hinab in die Stadt zur Verteilung an die restliche Bevölkerung gebracht wird. Die Verteilung des Fleisches ist es also, die unmittelbar und für jeden sichtbar die aktuelle soziale Hierarchie und die gesellschaftliche Einheit Athens abbildete und beides durch die kultische Anwesenheit der Göttin aus dem Bereich des Transzendenten heraus legitimierte. Dieser stabilisierende Bezug zur sozialen Ordnung bestand auch und umso mehr bei jenen Kulten, die den Kaisern gewidmet waren. Inschriften aus Ankyra in der Provinz Galatia belegen die zahlreichen Hekatomben (Opferungen von einhundert Tieren), die von wohlhabenden Privatpersonen im Zusammenhang mit großen Festessen gestiftet wurden.²² Auch bei jenen Spielen, welche zuerst in Pergamon dem Kult der Dea Roma und des Augustus gewidmet worden waren, und die sich unter Hadrian zu insgesamt 120 Tage andauernden Festlichkeiten in Smyrna, Ephesos und Pergamon ausgeweitet hatten, wurden große Opfer und Gemeinschaftsmähler durchgeführt.²³ Die Kaiserkulte wurden oft erst auf Bitten der provinzialen Städte von diesen selbst eingerichtet, so zuerst in Pergamon im Jahre 29 v. Chr.²⁴ Sie stellten einen integralen und durch ihre Tempel weithin sichtbaren Bestandteil des öffentlichen Lebens dar.²⁵ Bezogen auf das soziopolitische Ordnungsgefüge spiegelt sich in ihnen eine weitere Dimension wider: die der politischen Unterordnung der Provinzen unter die kaiserliche Verwaltung und unter den Kaiser selbst. Dies wird auch bei der Prozession im Zusammenhang mit den Kaiserfestspielen in Pergamon deutlich symbolisiert, indem der Kaiserpriester voranschritt und ihm die Vertreter der einzelnen Städte der Asia
21 Die Regelungen sind in IG II2,334, Z. 11–16 festgelegt. 22 Vgl. Herz 2011, S. 68–70, mit den Quellenangaben. Hier wird auch deutlich, welch gigantischer Umsatz für alle Wirtschaftzweige – vom Floristen über den Gastwirt bis zum Viehgroßhändler – mit dem Kaiserkult verbunden war. 23 Vgl. Ameling 2011, S. 36f., mit weiteren Belegen und aktueller, weiterführender Literatur. 24 Vgl. ebd., S. 33. Dazu Dio 51,20,6f., der den Antrag des κοινὸν τῆς Ἀσίας zur Einrichtung eines Kultes für Augustus zusammen mit der römischen Genehmigung erwähnt. 25 Vgl. dazu und zur lokal unterschiedlichen Durchführung der Kultfeiern Ameling 2011, S. 28–32.
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folgten – mit dem Abbild des Kaisers in einer besonders exponierten Position.²⁶ Wie die Opferfleischverteilung während dieser Spiele aussah, ist nicht überliefert; aber das Fleisch der Hekatomben wird ähnliche Distributionswege gegangen sein wie bei anderen Kulten. Zusammenfassend kann man für die pagane Antike festhalten, dass das überschießende symbolische Potential des hieróthyton, erzeugt durch den rituellen Akt der Schlachtung und Verteilung des Opferfleisches, die gesellschaftlichen Ordnungszusammenhänge eines jeden Gemeinwesens in der griechisch-römischen Antike konstituierte und stabilisierte. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Verzicht auf Opferfleisch als Gefährdung der sozialen Ordnung wahrgenommen wurde – wie nicht nur der Brief des Plinius an Trajan veranschaulicht.²⁷ Die fest etablierte soziale Praxis der Verortung des Individuums wie auch der provinzialen Gemeinschaft im gesellschaftlichen Raum des Imperium Romanum stellte besonders für die Heidenchristen ein Problem dar, wenn sie sich von diesem für sie gewohnten Habitus distanzieren sollten. Die mit dem Glauben an den Einen Gott der christlichen Gemeinschaften widerstreitenden Leitideen der paganen Umwelt haben im frühen Christentum zu verschiedenen Stellungnahmen geführt, die im Neuen Testament nebeneinander gestellt wurden und die im Folgenden untersucht werden.
3 Götzenopferfleisch im Neuen Testament Wir sprachen bisher von ‚Opferfleisch‘, übernehmen aber nun die Perspektive der christlichen Autoren und verwenden den Terminus ‚Götzenopferfleisch‘. Zwei Texte des Neuen Testaments setzen sich direkt mit dem Verzehr von Götzenopferfleisch und der damit zusammenhängenden Verortung der christlichen Gemeinden in der paganen Mehrheitsgesellschaft auseinander: der Erste Brief des Paulus an die Korinther (1Kor) und die Apokalypse des Johannes (Apk).²⁸ Paulus und
26 Vgl. ebd., S. 37. 27 Vegetarismus galt schon in vorchristlicher Zeit als verdächtig. Dies belegt eindrucksvoll ein Brief Senecas. Von der Lehre der Pythagoreer inspiriert, wurde er während einer Phase seiner Jugend zum Vegetarier und machte sich dadurch der Anhängerschaft an einem verrufenen Kult verdächtig, bis sein Vater ihn argumentativ zur Rückkehr zum Fleischgenuss überredete; vgl. Sen. ep. CVIII,22. 28 Auch in der Apostelgeschichte des Lukas wird der Umgang mit Götzenopferfleisch thematisiert, dort aber in innerchristlicher Perspektive, weswegen dieser Text hier nicht untersucht wird (Act 15,1–29; 21,25). Weitere Vorkommen des Terminus εἰδωλόθυτον in
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Johannes geben an ihre Gemeinden Handlungsanweisungen zum Umgang mit der Problematik des Götzenopferfleischverzehrs, liegen aber zeitlich und theologisch weit auseinander. Paulus schreibt in der Mitte der 50er Jahre des 1. Jahrhunderts, Johannes verfasst seine Apokalypse etwa 70 bis 80 Jahre später;²⁹ laut Paulus hat das römische Imperium seine Macht von Gott verliehen bekommen, laut Johannes vom Satan; Paulus will seine Gemeinden aufbauen, Johannes will seine Gemeinden rein halten. Die Nebeneinanderstellung dieser divergierenden theologischen Entwürfe und Gemeindekonzeptionen im Neuen Testament ist aber keiner historischen Kontingenz, sondern einer gezielten Publikation in der Mitte des zweiten Jahrhunderts zu verdanken:³⁰ Beide Konzepte werden in die Schriftgrundlage der entstehenden Großkirche integriert, dadurch als je legitime Positionen ausgezeichnet und können – in der Großkirche – nicht mehr zur innerchristlichen Abgrenzung dienen.³¹ Im Folgenden geht es allerdings um die konfligierenden Entwürfe von Christentum und nicht um deren Ausgleich im Neuen Testament.
3.1 Der Erste Korintherbrief Paulus behandelt vor allem zwei Themengebiete in seinen Briefen an die von ihm gegründete Gemeinde in Korinth: Wie soll eine vorwiegend heidenchristliche Gemeinde funktionieren, und wie kann Paulus seine Autorität als Apostel und Gemeindegründer behaupten? Das Thema des Götzenopferfleischverzehrs ist ein virulentes Thema, schließlich wird die Verortung der christlichen Gemeinde im gesellschaftlichen, kultischen und ökonomischen Umfeld zwischen paganer Mehrheitsgesellschaft, jüdischen Gemeinschaften und neuen christlichen Gemeinden lebenspraktisch relevant. Paulus möchte nicht, dass sich die christliche Gemeinde wie toraobservante jüdische Gemeinden von der Gesellschaft abkapselt,³² die Christen in Korinth sollen nicht aus ihren sozialen und familiären Gefügen gerissen werden („nicht aus der Welt gehen“, 1Kor 5,10). Die Stellung zu den Behörden des Imperium Romanum ist zu dieser Zeit noch nicht gespannt;
außerneutestamentlichen Schriften bis zur Mitte des 2. Jh.: 4Makk 5,2; Did 6,3; Justin dial. 34,8; 35,1. 29 Wir schließen uns Witulski 2007 in der Datierung der Apk in die Zeit Hadrians (117–138 n. Chr.) an. 30 Im Anschluss an die Endredaktionstheorie von Trobisch 1996. 31 Zum innerchristlichen Ausgleich hinsichtlich Götzenopferfleisch und Mahlgemeinschaft vgl. Klinghardt 2011, bes. S. 106–110. 32 Zur rabbinischen Diskussion um Mahlgemeinschaft mit Nichtjuden vgl. Bill III 421f.
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für Paulus ist jegliche Staatsgewalt von Gott eingesetzt (vgl. Röm 13,1–7). Paulus bespricht in 1Kor vier Situationen, in welchen die Korinther wie jeder Polisbewohner mit Götzenopferfleisch in Berührung kommen bzw. kommen könnten.³³ Zuerst diskutiert Paulus das Speisen im ‚Tempelrestaurant‘ (1Kor 8,10)³⁴ und nutzt dieses Beispiel, um grundlegende Verhaltensnormen zu entwickeln. Es folgt die mit einer schriftgelehrten Argumentation versehene Auseinandersetzung mit der Teilnahme an einem paganen Opfermahl (10,14–22). Danach bespricht er den Einkauf im macellum (10,25) und eine Einladung zum Mahl in das Privathaus eines Heiden (10,27f.), wobei er die ethische Richtlinie, die er in 1Kor 8f. entworfen hat, wiederum anwendet. Den Argumentationsgang beginnt Paulus, indem er eine vorangegangene Anfrage der Korinther mit einer captatio benevolentiae aufgreift: „Was das Götzenopferfleisch betrifft, wissen wir: Wir alle haben Erkenntnis“, schränkt die Nützlichkeit dieser Erkenntnis aber sofort wieder ein: „Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber baut auf“ (1Kor 8,1). Die mit der Nächstenliebe (agápe) verbundene ‚Erbauung‘ (oikodomé) der Gemeinde ist für Paulus das oberste Kriterium, anhand dessen im Folgenden die Schlagworte Erkenntnis, Freiheit und Verzicht durchdekliniert werden. Die Erkenntnis besteht darin, dass – obwohl es viele sogenannte Götter und Herren gibt – die Götzen und Götter ‚Nichtse‘ sind bis auf den einen Gott und den einen Herrn, den Paulus und die Korinther anerkennen (1Kor 8,4–6).³⁵ Allerdings hat diese Erkenntnis noch nicht jeder: „Einige, die bis jetzt an den Götzen gewohnt waren, essen es wie Götzenopferfleisch, und ihr Gewissen wird befleckt, weil es schwach ist“ (V. 7). Die Speise als solche³⁶ hat für Paulus nichts mit dem Heil des Menschen zu tun, weder das Essen noch das Nichtessen; dies gehört zur Erkenntnis, die die ‚Schwachen‘ noch nicht haben.³⁷ Diese Freiheit der Erkenntnishabenden soll laut Paulus dort enden, wo sie dem ‚schwa-
33 Im Unterschied zu einer judenchristlichen Gemeinde, die sich an das jüdische Gesetz hält, das nur koscher geschlachtetes Fleisch vorsieht – welches man nur beim jüdischen Fleischer kaufen kann – und das eine Mahlgemeinschaft mit Nichtjuden verbietet und so gar nicht erst die Möglichkeit in Betracht zieht, dass ein Jude mit Götzenopferfleisch in Berührung kommen könnte, ist die von Paulus gegründete Gemeinde in Korinth vorwiegend heidenchristlich (vgl. 1Kor 12,2). 34 Wörtlich: im Götzentempel (εἰδωλεῖον), s. u. 35 Zu den „sogenannten Göttern“, die nicht ontisch existieren sondern nur durch Verehrung, vgl. Woyke 2005, S. 158–214. 36 Zur unterschiedlichen Bewertung von Substanz und Situation hinsichtlich des Götzenopferfleischverzehrs vgl. Koch 1999, S. 217–219. 37 Die übertriebene Beachtung religiöser Traditionen und die in Angst begründete Unfähigkeit zum (antiken) Atheismus konnten in der Antike als ‚Schwäche‘ ausgelegt werden; siehe Hor. sat. IX 67–72 und Plut. superst. 4.11.
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chen‘ Mitchristen schadet. Dies ist der Fall, wenn der Schwache den Erkenntnishabenden im Götzentempel zu Tische liegen sieht, das heißt im ‚Tempelrestaurant‘ dinierend.³⁸ Ein ‚schwaches‘ Gemeindemitglied, das erst kürzlich zum christlichen Glauben konvertiert ist, könne laut Paulus durch die Vorbildwirkung eines Erkenntnisbesitzenden dazu gebracht werden, auch Götzenopferfleisch zu essen.³⁹ Dies wird allerdings vom schwachen Gewissen⁴⁰ als Anerkennung der heidnischen Götter beurteilt, was der betreffenden Person zur Sünde gereicht. Dafür ist der Erkenntnishabende, der den Esser dazu verleitet, mitverantwortlich (1Kor 8,12): Das Gewissen des anderen soll unantastbar sein. Lieber würde Paulus Vegetarier, als dass er einen Mitchristen, für den Christus auch gestorben ist, zur Sünde verführte (V. 13).⁴¹ Der Argumentationsgang Erkenntnis – Freiheit – Selbstbeschränkung wird in 1Kor 10,1–13 durch eine typologische Schriftauslegung weitergeführt. Paulus stellt den Korinthern das in der Wüste wandernde Israel als Warnung vor Begierde, Götzendienst und Unzucht vor Augen. „Darum, meine Lieben, flieht vor dem Götzendienst!“ (V. 14). Die Teilnahme an der christlichen Gemeindeversammlung schließt die Teilnahme an paganen Opferfeiern aus. Dem naheliegenden Schluss, dass man, wie die Teilnehmer eines christlichen Herrenmahls und einer jüdischen Opferfeier eine Gemeinschaft zu Gott aufbauen, so auch durch Teilnahme an einem paganen Göttermahl in Gemeinschaft mit den Götzen trete, wird sofort entgegnet: Weder ist der Götze etwas noch das Götzenopferfleisch (V. 19), allerdings verschafft die Teilnahme am „Tisch der Dämonen“ die Gemeinschaft mit diesen durch die Anrufung im Libationsgebet: „Ihr könnt nicht den Kelch des Herrn trinken und den Kelch der Dämonen, ihr könnt nicht am Tisch des Herrn teilhaben und am Tisch der Dämonen“ (V. 21). Dabei ist ein Dämon für Paulus keine an sich existierende Macht, sondern ein „Nichts“;⁴² er existiert nur in der
38 Das ist unabhängig von einer Opferfeier möglich (s. o.), ansonsten würde Paulus dies wohl im Zusammenhang mit dem Argument des Götzendienstes (vgl. 1Kor 10,14–22) verbieten. Daher ist die Argumentation auch nicht inkonsequent (mit Koch 1999, S. 216 u. 218). 39 Zur „Gewöhnung“ der Schwachen und „Erkenntnis“ der anderen siehe Woyke 2005, S. 200–211. 40 Das Gewissen ist für Paulus eine an gelernten Normen die Taten der eigenen Person prüfende Instanz, die der heutigen Sprechweise vom ‚schlechten Gewissen‘ nahekommt (vgl. Röm 2,15; 9,1; 13,5; 2Kor 1,12; 4,2; 5,11). 41 In 1Kor 9 legt Paulus einen Exkurs ein, in welchem er über sein Apostolatsverständnis und seine Lebensweise Rechenschaft ablegt und welcher in der Argumentation als exemplum fungiert. Er führt sich selbst als nachahmenswertes Beispiel für die Selbstbeschränkung der eigenen Freiheit an, die dem Ziel der Rettung so vieler wie möglich untergeordnet wird (V. 19). 42 Woyke 2005, S. 256; vgl. zum Thema S. 215–257. Wir schließen uns Woykes Interpretation an und lesen οὐδέν als Prädikatsnomen zu εἴδωλον und nicht als Attribut.
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Anerkennung des Opfermahlteilnehmers und wird dadurch zu etwas Widergöttlichem; mit anderen Worten wird man für Paulus nicht durch Verzehr der Opfer, sondern durch die Anrufung der Götter zum Götzendiener. Das impliziert auch die Ablehnung des Opfermahles im Rahmen des Kaiserkultes – schließlich wird dem numen des Kaisers geopfert –, aber Paulus behandelt diesen Punkt nicht: Der Kaiserkult ist in seiner Zeit noch kein Thema. Paulus wendet sich wieder dem Umgang mit Opferfleisch abseits von Opferfeiern zu und greift einen Wahlspruch der Korinther auf: „Alles ist erlaubt“, ergänzt ihn jedoch sofort „aber nicht alles nützt; alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf“ (1Kor 10,23). Nicht an sich selbst solle man sich ausrichten, sondern daran, was die Gemeinde aufbaut; der Sinn des Einzelnen für das Gemeinsame bildet das Kriterium für die praktische Umsetzung des Erlaubten.⁴³ So kann Paulus den Korinthern zugestehen, im macellum unbesorgt einkaufen zu gehen und sich nicht darum zu kümmern, woher das Fleisch stammt: „Alles auf dem Fleischmarkt Verkaufte esst, und forscht nicht nach wegen des Gewissens“ (V. 25). Die folgende Situation betrifft die Fragen der Geselligkeit im privaten Rahmen: Wenn die Korinther zu einem Gastmahl eines Heiden (wörtlich: „jemand von den Ungläubigen“) eingeladen werden, können sie die Einladung annehmen und brauchen keine Nachforschungen anzustellen, woher das Fleisch stammt, wieder mit der Begründung, dass sie nicht wegen des Gewissens fragen sollen (1Kor 10,27). Hier erfolgt aber eine Einschränkung: „Wenn aber irgendeiner euch sagt, dies ist Opferfleisch, esst nicht wegen jenes Anzeigers und des Gewissens“ (V. 28), wobei Paulus sofort nachschiebt, wessen Gewissen er meint: „Ich spreche aber nicht vom eigenen Gewissen, sondern von dem des anderen“ (V. 29). Die Wahl des Ausdrucks „Opferfleisch“ (hieróthyton) anstelle des in jüdisch-christlichen Schriften gebräuchlichen „Götzenopferfleischs“ (eidolóthyton) lässt darauf schließen, dass der Anzeigende ein Heide ist.⁴⁴ Bei dieser Lesart bleiben zwei Fragen offen: Wie kann es das Gewissen eines Heiden belasten, wenn ein Christ Opferfleisch isst, und wieso braucht sich ein Christ eigentlich um das Gewissen eines Außenstehenden zu kümmern? Die zweite Frage lässt sich leicht beantworten: Paulus verzichtet auf die Ausübung seiner Freiheit, akkommodiert sich an die jeweiligen Bezugsgruppen – seien es toraobservante oder gesetzesliberale Juden oder Heiden –, um so viele wie möglich für Christus zu gewinnen (1Kor 9,19–23; 10,32f.). Inwiefern das Gewissen eines Heiden vom Verzehr des Götzenopferfleisches durch einen Christen affiziert wird, kann hier nur knapp beant-
43 Vgl. Zeller 2010, S. 344. 44 Das „irgendeiner“ lässt offen, ob es der Gastgeber oder ein weiterer Symposiast ist, der auf die Herkunft des Fleisches aufmerksam macht.
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wortet werden: Das Gewissen ist eine von den erlernten Normen abhängige Kontrollinstanz, die aus dem Essen des Opferfleisches durch einen Christen falsche Schlüsse zieht. Es wird nicht ein ‚religiöses Gewissen‘ verletzt, sondern das Gewissen des Heiden wird zur Fehlinterpretation verleitet, dass der essende Christ die Heiligkeit der Speise und somit die Götter anerkennt.⁴⁵ Die Ausführungen zum Götzenopferfleisch schließt Paulus mit der Paränese: „Ob ihr nun esst oder trinkt oder irgendetwas tut, tut alles zur Ehre Gottes. Gebt Juden und Griechen und der Gemeinde Gottes keinen Anstoß, wie auch ich allen in allem gefällig bin, indem ich nicht meinen Vorteil suche, sondern den der vielen, damit sie gerettet werden“ (1Kor 10,31–33). Den Juden wird kein Anstoß gegeben, weil auf das Verbot des Götzendienstes geachtet wird, den Heiden, indem das Leben im sozialen Gefüge beibehalten werden kann, solange nicht an Opfermählern teilgenommen wird, und der Gemeinde Gottes, indem auf die verschiedenen Erkenntnisgrade geachtet wird.⁴⁶ Dieser ethische Grundsatz erfährt eine Letztbegründung: „Werdet meine Nachahmer, wie auch ich Christi (scil. Nachahmer bin)!“ (1Kor 11,1). Die Lebensführung des selbstgewählten Freiheitsverzichts wird am exemplum Jesu Christi festgemacht, welches Paulus auch bei sich verwirklicht sieht. In diese Sukzession der Selbstbeschränkung sollen die Korinther nun eintreten. Dieser argumentativ differenzierende Umgang mit dem Götzenopferfleisch, der Substanz und Situation unterscheidet, setzt sich im frühen Christentum jedoch nicht durch.
3.2 Apokalypse des Johannes Die Leitidee des Argumentationsganges bei Paulus ist die Erbauung der Gemeinde; für den Verfasser der Johannesapokalypse hingegen ist es die Reinheit der Gemeinde, weswegen er jeglichen Umgang mit Götzenopferfleisch kategorisch als Götzendienst ablehnt. Johannes konstatiert, wo Paulus ausführlich argumentiert. Die Untersuchung der Apokalypse fällt deswegen auch kürzer aus. Johannes verfasst einen Visions- und Himmelsreisebericht in Form eines Rundschreibens an sieben Gemeinden in der Asia: Ephesos, Smyrna, Pergamon, Thyateira, Sardeis, Philadelpheia und Laodikeia (Apk 1–3). Ein Prolog geht dem Briefgruß voraus: Gott hat Christus eine Offenbarung gegeben, die durch einen Engel dem Verfasser Johannes kundgetan wurde (Apk 1,1). In unserer Terminologie ist dies eine Unverfügbarkeitsbehauptung, weil sie dem Offenbarungsbericht einen gött-
45 Vgl. Merklein 2000, S. 278–281. 46 Vgl. Koch 2008, S. 158–164.
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lichen Ursprung zuschreibt. Eine weitere Unverfügbarstellung des Textes erfolgt durch ein Diktum Christi, dass dem Buch nichts mehr hinzugefügt oder aus ihm gestrichen werden dürfe (Apk 22,18f.), womit die Wahrheit des Berichteten abgesichert und die unveränderte Weitergabe des Textes gefordert wird. Die Sendschreiben bekommt Johannes direkt von Christus diktiert, und jedes beginnt mit: „Dem Engel der Gemeinde in (scil. der betreffenden Stadt) schreibe“ (2,1.8.12.18; 3,1.7.14). Nach der Niederschrift des Diktats wird Johannes durch eine Tür in den Himmel geführt (4,1), wo ihm die Geschehnisse der Endzeit offenbart werden. Im Gegensatz zur paulinischen Gemeindekonzeption fordert Johannes eine Integrationsverweigerung der christlichen Gemeinden in der Provinz Asia gegenüber der heidnischen Umwelt; Mission wird nicht einmal thematisiert. Der Bedrohung von außen durch die Verführung zur Akkommodation an die Gesellschaft, die von den Verfolgungen des Satans und der Behörden begleitet wird, korrespondiert die Bedrohung von innen durch Falschlehrer, die letztendlich zu einer Anpassung an die Gesellschaft führen würde (eine Haltung, die den Erkenntnishabenden in 1Kor entspricht).⁴⁷ Das Imperium Romanum ist für Johannes eine widergöttliche Macht: „Der Drache gab (scil. dem Tier aus dem Meer, d. h. dem Kaiser) seine Kraft und seinen Thron und Vollmacht“ (Apk 13,2). Der Bedrängnis durch die Behörden sollen die angeschriebenen Gemeinden unter allen Umständen widerstehen (vgl. z. B. Apk 2,10). Die Reinheit der Gemeinde muss unter allen Umständen bewahrt werden. Dies drückt er mit der Metapher der „weißen Kleider“ aus (z. B. Apk 3,4f.; 6,11; 7,9.13f.; 19,8). Johannes verurteilt die Kompromissbereitschaft einiger seiner Gemeinden, die sich in den Städten Pergamon und Thyateira auch darin äußert, dass Götzenopferfleisch gegessen wird: Man besudelt sich durch Götzendienst. Im Schreiben an die Gemeinde in Pergamon (Apk 2,12–17) wird ihre Stadt als der Ort des Thrones Satans bezeichnet (Apk 2,13).⁴⁸ Dort gibt es eine christliche Gruppe der Nikolaiten, deren Lehre mit Rekurs auf eine alttestamentliche Figur als „Lehre Bileams“ von Johannes verunglimpft wird: Für ihn ist diese Gruppe nicht christlich, er grenzt sich scharf von diesen „Verführern“ ab. Bileam verleitete damals die Israeliten wie die Nikolaiten
47 Vgl. Satake 2008, S. 50. 48 Was dieser Thron genau war, kann nicht mehr mit Sicherheit festgestellt werden. In Frage kommen der Große Altar (zu sehen im Pergamonmuseum zu Berlin), Zeustempel (bzw. ab 129 der Trajanstempel), Asklepiostempel, Augustus-Dea-Roma-Tempel, oder die Polis selbst (vgl. Witulski 2007, S. 250–278, welcher den dem Zeus Philios und Kaiser Trajan geweihten Tempel präferiert). Weil die Apk sich vor allem mit dem Kaiserkult auseinandersetzt und die Macht des Kaisers an Satan rückbindet, liegt eine Identifizierung des „Thrones Satans“ mit dem Trajaneum nahe, in welchem Statuen von Zeus, Trajan und Hadrian aufgestellt waren (vgl. Radt 1999, S. 210–212).
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jetzt die Gemeinde in Pergamon dazu, Götzenopfer zu essen und Unzucht zu treiben.⁴⁹ Die gleichen Vorwürfe finden wir im Sendschreiben an die Gemeinde von Thyateira (V. 18–29), in welchem die Gemeinde gerügt wird zuzulassen, dass eine Prophetin, der Johannes die Chiffre Isebel⁵⁰ verpasst, die Gemeinde belehren und verführen kann, Unzucht zu treiben und Götzenopferfleisch zu essen (V. 20).⁵¹ Wo Paulus die Ausrichtung des Einzelnen am Mitchristen fordert, also an den Sinn des Einzelnen für die Gemeinschaft appelliert, insistiert Johannes auf den gemeinsamen Sinn aller für das Eigene, der sich in Abgrenzung zur paganen Gesellschaft wie auch zu jüdischen und anderen christlichen Gruppen ausdrückt. Johannes macht unmissverständlich klar, dass für ihn jegliche Form des Kaiserkultes, sei es die direkte Teilnahme an Opferfeiern, der Verzehr von Götzenopferfleisch generell oder eine wirtschaftliche Betätigung im Umfeld der Festlichkeiten (vgl. Apk 18), ein Teufelswerk ist. Das soziale, ökonomische und politische Gefüge sei widergöttlich und werde von Gott vernichtet werden. Die johanneischen Gemeinden sollen sich von diesen gesellschaftlichen Prozessen fernhalten – und sich zugleich von den akkommodierten christlichen Gruppen und Gemeindegliedern wie den Nikolaiten und „Isebel“ abgrenzen –, damit sie ihre Reinheit bis zum jüngsten Gericht bewahren. Ein solches Verhalten steht im diametralen Gegensatz zum religiösen und politischen Mainstream in den römischen Provinzen. Die Christen werden aufgefordert, sich von den gemeinschaftsbildenden und herrschaftsstabilisierenden Praktiken fernzuhalten, die sich vor allem in der Institution des Kaiserkultes mit seinen vielfältigen Verflechtungen
49 Vgl. Num 31,16. 50 Fremdländische Frau des israelitischen Königs Ahab (1Kön 16,29–33). 51 Ob Götzenopfer essen und Unzucht treiben ein Hendiadyoin für Götzendienst ist, oder Unzucht sexuelle Betätigung im Zuge von kultischen Feiern meint, oder aber eheliche Verbindungen zwischen dem Johannes unpassend erscheinenden Partnern bezeichnet – hier könnte es z. B. die Heirat zwischen Judenchristen und Heidenchristen meinen – lässt sich nicht sicher entscheiden. Allerdings macht eine Erzählung des rabbinischen Judentums sinnfällig, wie Unzucht und Götzendienst zusammenhängen können (flapsig formuliert: wie man durch Tischgemeinschaft zum Teufelsbraten wird): „Sie (scil. eine Moabiterin) sagte zu ihm (scil. einem Israeliten): ‚Möchtest Du (vielleicht) etwas Wein trinken?‘ Und er trank. Und der Wein brannte in ihm, und (so) sagte er zu ihr: ‚Sei mir zu Willen!‘ Da holte sie ein Bild des Peor aus ihrem Mieder hervor und sagte zu ihm: ‚Rabbi! Wenn du willst, daß ich dir zu Willen sein soll, erweise diesem kultische Verehrung!‘ Er aber sagte zu ihr: ‚Ich sollte einem Götzenbild kultische Verehrung erweisen?‘ Da sagte sie zu ihm: ‚Du sollst dich ja nur vor ihm entblößen!‘ Und er entblößte sich vor ihm! […] In ihm aber brannte der Wein und er sagte (nochmals) zu ihr: ‚Sei mir zu Willen!‘ Sie aber sagte zu ihm: ‚Wenn du willst, daß ich dir zu Willen sein soll, so sage dich los von der Tora Moses!‘ Und er sagte sich los!“ (SifBam § 131, Übersetzung von Karl Georg Kuhn). Zu diesem Midrasch vgl. Rosenblum 2010, S. 95f.
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mit Wirtschaft, Politik und Gesellschaft symbolisch und lebenspraktisch ausdrücken.
4 Zusammenfassung In vorkonstantinischer Zeit war der symbolisch-rituelle Akt der Verteilung des Opferfleisches ein integraler Bestandteil für die soziale Ordnung auf der lokalen Ebene des antiken Stadtstaates wie auch für das überregionale gesellschaftliche Gefüge des Imperium Romanum. In der Fleischverteilung wurden die Hierarchie und die Einheit einer Polis im kultischen Kontext hergestellt, abgebildet und transzendiert. Die traditionellen Rituale stabilisierten die gesellschaftliche Ordnung auf kultischer, ökonomischer und politischer Ebene, die untrennbar miteinander verknüpft waren. Das Problem, welches die von diesem Brauch Abstand nehmenden Christen für den Statthalter Plinius erzeugten, wird verständlich. Auch wenn Plinius mit den ökonomischen Folgen wahrscheinlich übertreibt: Durch den Verzicht auf das Opferfleisch aus den Tempelkulten brachten die Christen die Gesellschaftsstruktur ins Wanken; sie distanzierten sich ostentativ von der althergebrachten Ordnung in der Provinz Bithynia und Pontos, in welcher sie anscheinend einen bedeutenden Teil der Bevölkerung darstellten. Der damit einhergehende ökonomische Niedergang des Tempelbetriebs und die darin symbolisierte Aufhebung der sozialen Ordnung führten zu institutionalisierten Kapitalgerichtsverfahren gegen Christen als dem Versuch, diese Infragestellung der Ordnung zu vermeiden. Der Umgang mit dem Opferfleisch führte nicht nur zu Konflikten zwischen christlichen Gemeinden und paganem Umfeld, sondern auch zu innerchristlichen Problemen. Paulus steht am Anfang der schriftlich überlieferten Auseinandersetzung um den Umgang der Christen mit Opferfleisch und versucht argumentativ, den Heidenchristen in Korinth Anleitung zu einer grundsätzlich erlaubten Verortung innerhalb des sozialen Gefüges zu geben. Dabei ist die Leitidee der Aufbau der Gemeinde. Die Teilnahme an paganen Opferfeiern überschreitet das Erlaubte; das bewusste Essen von Götzenopferfleisch wird anhand des Gewissens des Anderen (Mitchristen und auch Heiden) beurteilt: Die Praktizierung der eigenen Freiheit soll sich dem Gemeinsinn unterordnen. Die übrigen Möglichkeiten, mit Götzenopferfleisch in Berührung zu kommen, behandelt Paulus großzügig. Johannes hingegen lehnt den Verzehr von Götzenopferfleisch als Götzenopferdienst und damit als Verlust der Reinheit der Gemeinde kategorisch ab, ohne situativ zu differenzieren. Die Praktiken der Akkommodation an das gesellschaftliche Umfeld werden unter Bezugnahme auf jüdische Traditionen und mit
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literarischen Unverfügbarstellungen als widergöttlich bekämpft: Anpassung an das teuflische Imperium ist Abfall von Gott. Eine Assimilation an die Gesellschaft drückt sich für Johannes vor allem im Kaiserkult aus, der eine überaus wichtige soziale, ökonomische und politische Funktion in der Provinz Asia eingenommen hatte. Die paulinische Differenzierung zwischen Substanz und Situation setzte sich nicht durch; die Konsumverweigerung des Götzenopferfleisches gehörte zum Selbstverständnis der Mehrheit der Christen.
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„die heiliege dreyfaltigkeit, salva reverentia, angeschießenn“ Wahrnehmung und Deutung gotteslästerlicher Worte in Leipzig im 17. Jahrhundert
1 Problemaufriss und Erkenntnisinteresse Im Jahr 1637, als in Leipzig die Pest grassierte, eröffnete der Rat der Stadt seine Pestverordnung mit dem Hinweis auf den gerechten göttlichen Zorn und die strenge Strafe Gottes, die die Stadt nun in Form der Pest wegen der vielen Sünden und Übertretungen der Leipziger treffen würde.¹ Diese Idee vom gerechten göttlichen Zorn, der dem ganzen Gemeinwesen beispielsweise in Form von Seuchen oder Kriegen drohen und es als Kollektivstrafe bei ausbleibender Strafe für Vergehen Einzelner treffen konnte, war in der Frühen Neuzeit eine gängige und überkonfessionell greifbare Vorstellung.² Sie verweist auf die damalige enge Verknüpfung von Religion und Gesellschaft und auf das Selbstverständnis von Gemeinschaften als Sakralgemeinschaften. Diese Verknüpfung schlug sich auch in der bereits vorreformatorischen Kriminalisierung als unchristlich gesehener Verhaltensweisen nieder. Jedwede Form religiöser Abweichung konnte eben auch als Angriff auf die religiöse Legitimation der sozialen und politischen Ordnung frühneuzeitlicher Gemeinschaften bzw. als deren Überschreiten und Infragestellen ihres absoluten Geltungsanspruchs verstanden werden. Brüche und Frakturen der Religiosität, das heißt konfessionelle Abweichungen oder Vergehen gegen religiös begründete sittliche und rechtliche Verhaltensnormen, offenbarten für die Zeitgenossen eine Form gottloser Uneinigkeit, die den lebensweltlichen Grundwert der Einigkeit einer christlichen Gemeinschaft und damit diese selbst bedrohten.³ Wenig überraschend erscheint vor diesem Hintergrund, dass die Gotteslästerung aus Sicht vormoderner Rechtsnormen als eines der schwersten Delikte überhaupt galt, denn wer Gott öffentlich lästerte, schändete die Ehre Gottes in Wort
1 StadtAL Ratsstube, Titelakten LX, B, Nr. 12, fol. 258–265, hier fol. 259. 2 Schwerhoff 2005, S. 190–195; Schmidt 1995, S. 3–11, jeweils mit weiterführender Literatur. 3 Rublack 1982, S. 21, mit Blick auf die frühneuzeitliche Reichsstadt.
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und Tat⁴ und stellte damit die transzendente Legitimation der Ordnung direkt infrage. Verschiedene Verordnungen bestätigen die Bedeutsamkeit, die dem Delikt der Gotteslästerung von obrigkeitlicher Seite beigemessen wurde, schon durch dessen Voranstellung im Katalog der Straftatbestände. So listete beispielsweise die erneuerte kursächsische Policey- und Gerichtsordnung von 1555 gleich als erste, peinlich zu ahndende Vergehen die Gotteslästerung und das Fluchen auf. Genauso findet es sich in den kursächsischen Konstitutionen von 1572.⁵ Der vergeltungstheologische Deutungshorizont sowie die zeittypische Verzahnung von Sündenzucht und Strafrecht lassen ein rigoroses Vorgehen frühneuzeitlicher Gemeinschaften gegen religiöse Abweichung folgerichtig und erwartbar erscheinen.⁶ Der Strafzweck entsprechender Sanktionen bestand schließlich auch darin, die Geltung der bestehenden Ordnung zu bekräftigen, sie gegebenenfalls wiederherzustellen und schließlich ein sonst drohendes Strafgericht Gottes zu verhindern. Dies drückte sich auch in der Schwere der Strafen aus, mit denen man der disruptiven Kraft insbesondere von Gotteslästerungen begegnete und die göttlich gestiftete Ordnung wiederherzustellen versuchte. So drohten Gotteslästerern entweder die Todesstrafe oder das Abschneiden der Zunge bzw. alternativ die ewige Landesverweisung. Fluchern drohte immerhin die ehrenrührige öffentliche Zurschaustellung in Eisen bzw. am Pranger, in manchen Territorien auch eine öffentliche Kirchenbuße, die jedoch in ihren Ausformungen und in der lebensweltlichen Wahrnehmung kaum von weltlichen Ehrenstrafen zu unterscheiden war.⁷ Bereits die obrigkeitlichen Normen boten also ein breites Feld möglicher Strafen, die in der Praxis flexibel zugemessen werden konnten. Dabei orientierte sich die Strafzumessung an kriminalpolitischen Erwägungen, an den jeweiligen Umständen des Einzelfalls sowie am Täterprofil. Überdies ist davon auszugehen, dass die zu sanktionierenden Lästerworte in der Praxis nicht immer eindeutig zu
4 Carpzov, Benedict (1635), Practica Nova Imperialis Saxonica Rerum Criminalium […], Wittenberg, P. I, Qu. XLV, n. 26: „Blasphemia sit omne id, qvod in contumeliam creatoris profertur.“ Zeitgenössische Übersicht über die Reichsgesetze sowie über die insbesondere in Kursachsen geltenden Normen ebd., P. I, Qu. XLV, insbesondere n. 5–10. Dazu umfassend Schwerhoff 2005, S. 115–180. 5 Lünig, Johann Christian (1724), Codex Augusteus, oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici […], 3 Teile, Leipzig, Sp. 47, Sp. 117. 6 Härter 2000, S. 184; Schmidt 2009, S. 13. Klassische Diskussion dazu bei Schilling 1986. 7 Dazu jetzt ausführlich Schmidt 2009. Siehe zudem Carpzov 1635, Practica, P. I, Qu. XLV, n. 21, wonach in Kursachsen das Abschneiden der Zunge oder Teile dieser in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht mehr üblich war. Vielmehr würde in schweren Gotteslästerungsfällen ein längerer oder ewiger Landesverweis ausgesprochen werden.
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unterscheiden und zu bewerten waren.⁸ Zudem stand die Anklage gotteslästerlicher Äußerungen des Öfteren im Kontext anderer Vergehen, was sich gleichsam auf das Strafmaß niederschlug.⁹ Wichtig für die Strafverfolgung gotteslästerlicher Aussprüche, die als flüchtige Verbaldelikte ohne direkten Geschädigten den obrigkeitlichen Instanzen potenziell leichter als andere Delikte (insbesondere Eigentumsdelikte, Körperverletzung, Tötungsdelikte) entgehen konnten, war jedoch das Denunziationsverhalten der Bevölkerung. Deswegen soll der Blick im folgenden Beitrag insbesondere auf die Reaktionen der Ohrenzeugen und des sozialen Umfelds auf vermeintliche Gotteslästerer sowie auf deren Eigenperspektiven gerichtet werden. Ziel ist es, die verschiedenen Sichtweisen aufzuschlüsseln und die den gotteslästerlichen Äußerungen von den beteiligten Zeitgenossen beigemessenen Konsequenzen genauer zu betrachten. Wie gingen also die konkret Beteiligten mit möglichen verbalen Überschreitungen der sozialen und politischen Ordnung und mit den Herausforderungen der Ehre Gottes um? War beispielsweise die in den obrigkeitlichen Normen zu Tage tretende vergeltungstheologische Idee auch für die Anzeige des Delikts handlungsrelevant? Und wie wurden die vermeintlichen Verbaldelikte und die Reaktionen darauf von den einzelnen Beteiligten vor Gericht verhandelt? Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass abweichendes Verhalten nicht per se, sondern in erster Linie als (jedoch nicht beliebiges) gesellschaftliches Konstrukt existiert.¹⁰ Daher wird der Blick insbesondere auf die im Kommunikationsraum Gericht ablaufenden, zum Teil retrospektiven und damit dem Gerichtsverfahren unter Umständen vorgängigen Zuschreibungsprozesse und unterschiedlichen Sichtweisen gerichtet.
8 Loetz 2002, S. 180–183. Zur Strafzumessung Härter 1999. Zu den Ausprägungen blasphemischer Reden Schwerhoff 2005, S. 196–254. In den Leipziger Fällen finden sich ebenfalls kombinierte Strafen: Öffentliches Zurschaustellen oder Prangerstrafen in StadtAL Richterstube, Strafakten Nr. 95, Nr. 116 (kombiniert mit Haftstrafe), Nr. 127 (kombiniert mit Haftstrafe), Nr. 167, Nr. 205 (kombiniert mit zeitweiligem Landesverweis), Nr. 306 (kombiniert mit zeitweiligem Landesverweis), Nr. 386, StadtAL Ratsstube, Titelakten VII, B, 13a (kombiniert mit Haftstrafe). Haftstrafe (unter Anrechnung der Untersuchungshaft) in StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 474. Arbeit als Strafe in StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 562. Todesstrafe ebd., Nr. 496. 9 So z.B. in StadtAL Richterstube, Akten Teil 1, Nr. 61; StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 154, Nr. 167, Nr. 196, Nr. 306, Nr. 334, Nr. 386, StadtAL Ratsstube, Titelakten VII, B, 13a. 10 Siehe hierzu die Diskussion um den labeling approach. Vorstellung der Positionen und Vertreter bei Lamnek 1977, S. 70–90, sowie ebd., passim, zur kritischen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen sowie methodologischen Reflexion des Ansatzes. Knappe Zusammenfassungen in Schwerhoff 2011, S. 35–37.
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2 Raum und Zeit der Untersuchung Für die Untersuchung wurden gezielt solche Fälle ausgewählt, an denen sich einerseits verschiedene Zuschreibungsprozesse durch einzelne Beteiligte nachvollziehen lassen und für die andererseits der lokale und institutionelle Rahmen der Strafverfolgung gleich war. Die bezüglich religiöser Devianz bisher kaum erforschte lutherisch-kursächsische Landstadt Leipzig bot sich aufgrund der ausgezeichneten Quellenlage als Untersuchungsraum an.¹¹ Die aus den Jahren 1558 bis 1810 überlieferten über 1.000 Leipziger Strafakten bieten eine große Auswahl an möglichen Fallbeispielen. Der Zeitraum der Untersuchung wurde auf die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts eingeschränkt, weil hier die Strafakten erstmals in hinreichender Dichte überliefert sind und die neuere Forschung quantitative Einordnungen und Vergleiche erlaubt. Als Messe- und Handelszentrum zog die Stadt bereits im 15. Jahrhundert zahlreiche Menschen an und zählte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts teils über 17.000 Einwohner. Die rechtliche, wirtschaftliche, soziale und religiöse Situation ist im gewählten Zeitraum also als heterogen zu bezeichnen, was ohnehin eine Herausforderung der städtischen Ordnung bedeuten konnte, die durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges noch verstärkt wurde. Die im Folgenden beschriebenen Fälle ereigneten sich überwiegend in den Vorstädten Leipzigs, die wiederum in Nachbarschaften unterteilt waren. Die einzelnen Gassen bildeten jeweils Nachbarschaften, die von ein bis zwei Gassenmeistern, welche von den Nachbarschaften gewählt und vom Rat bestätigt wurden und unter anderem die Polizeigewalt ausübten, beaufsichtigt wurden.¹² Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Formen substädtischer Vergemeinschaftung erscheint die Frage, wie man mit der übergreifenden Bedrohung religiöser Abweichung umging, besonders interessant, weil untersucht werden kann, auf welche Ebenen von Gemeinschaft und unverfügbar scheinenden Ordnungsvorstellungen in der Kommunikation vor Gericht Bezug genommen wurde.¹³
11 Forschungsüberblick bei Döring 2009. Ferner Rüdiger 2001; Rüdiger/Hommel 2007; Rüdiger 2007. 12 Rachel 1902, S. 12, S. 154–156. Zu den Leipziger Nachbarschaften ferner Czok 1978; Kriese 1989. Zur Bedeutung von Nachbarschaften als substädtische Gemeinschaften sowie zum Forschungsstand grundlegend Piltz 2010. 13 Zur Bedeutung unterschiedlicher Ebenen von Gemeinschaft für die Prozesse der Konstruktion und Exklusion von Außenseitern bereits Scribner 1997, S. 30–36.
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3 Fluchen und Lästern – Darstellungen gottlosen Verhaltens vor Gericht Bereits ein erster Blick in die Akten verschiedener Leipziger Straffälle lässt vermuten, dass ein Bruch der Normen bezüglich der Gotteslästerung und des Fluchens trotz der behaupteten Brisanz der Delikte, geforderter Normkenntnisse und möglicher Strafen für unterlassene Denunziation tatsächlich nicht immer auch sozial (und damit zusammenhängend auch nicht immer gerichtlich) sanktioniert wurde. Warum? Die neuere Forschung hat festgestellt, dass Flüche, Schwüre und andere lästerliche Worte den Alltag der Zeitgenossen prägten.¹⁴ Die empirischen Befunde für Zürich weisen beispielsweise darauf hin, dass Nachbarn fluchende Personen in ihrer Umgebung oft eine lange Zeit tolerierten, eventuell weil sie die Flüche eher als Beleidigungen oder asoziales Gebärden, denn als bedrohliche Gotteslästerungen wahrnahmen.¹⁵ Überdies sei, so Gerd Schwerhoff, in unterschiedlichen Kontexten, etwa im Glücksspiel oder in Ehrenhändeln in „der Bedeutung [lästerlicher Sprechakte; d. Verf.] als theatralische Selbstinszenierung ein zentraler Kern des kommunikativen Codes der Gotteslästerung in alteuropäischen Gesellschaften“ auszumachen.¹⁶ Damit resultierte die Problematik von Normverstößen auch aus einer latenten Gegenläufigkeit von lebensweltlichen Praktiken und Grenzmarkierungen unterschiedlicher, hier vor allem herrschaftlicher Ordnungsansprüche in bestimmten Handlungskontexten. Wann aber wurden als gotteslästerlich wahrgenommene Äußerungen im frühneuzeitlichen Leipzig nicht mehr überhört und auf welche Weise vom sozialen Umfeld als nicht (länger) hinnehmbares abweichendes Verhalten beschrieben? Der Fall des Martin Muelbach liefert hierzu erste Anhaltspunkte. Im April 1608 wurde der Maurergeselle Martin Muelbach von Nicell Beyer, einem Hausgenossen seiner Braut, angezeigt.¹⁷ Angeblich hatte Muelbach ihn in seiner Küche verbal und tätlich angegriffen, ihm gedroht und darüber hinaus noch bei den Sakramenten geflucht. Muelbach selbst leugnete im Verhör die ihm vorgeworfenen schweren Flüche, räumte aber ein, im Affekt bei Gott geflucht zu haben. Hinsichtlich der Handgreiflichkeiten erklärte er, sich lediglich gegen tätliche und verbale Attacken in angemessener Weise gewehrt zu haben. Da Muelbach nur bedingt geständig sein wollte, wurden vier weitere zufällige Zeugen befragt. Die ersten beiden Zeugen bestätigten nicht nur die Vorwürfe und gaben darüber
14 Bspw. Loetz 2002, S. 329; Schwerhoff 1998, S. 110. 15 Loetz 2002, S. 327–328. 16 Schwerhoff 2005, S. 281. 17 Zum Fall Muelbach auch im Folgenden StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 167.
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hinaus an, dass Muelbach derlei Untaten nicht zum ersten Mal begangen habe, sondern verwiesen auch auf die drohende Strafe Gottes für die gesamte Nachbarschaft wegen seines gottlosen Fluchens und Wesens. Die Zeuginnen Christina Schmitt und Katharina Korman beschrieben das Fluchen Muelbachs, das drei Stunden gedauert habe, als so arg, dass es nicht verwunderlich gewesen wäre, wenn Gott ein Zeichen auf der Gasse getan bzw. sich gleich der Erdboden aufgetan hätte. Christina Schmitt erklärte zudem, Muelbach schon oft fluchen gehört zu haben, jedoch nie so heftig und andauernd wie am besagten Tag. Aus den Aussagen der Befragten, die Muelbach als notorischen Flucher beschrieben, ihn aber scheinbar zuvor nie angezeigt hatten, lässt sich ableiten, dass ein als gotteslästerlich wahrgenommener Ausspruch, trotz der behaupteten gemeinschaftlichen und strafrechtlichen Brisanz, nicht in jedem Fall gerügt oder zur Anzeige gebracht, bis zu einem gewissen Punkt womöglich als alltäglich empfunden und toleriert wurde. Auch Muelbachs Verteidigungsstrategie, er habe mehr oder weniger unabsichtlich im Affekt einen einzigen Fluch ausgestoßen, aber sicherlich nicht heftig geflucht, lässt dies vermuten. Gleichzeitig zeigt sich, warum die Grenze des Tolerierbaren – nämlich durch die Heftigkeit und Dauer der Äußerungen bedingt – im Fall Muelbach schließlich überschritten war. Vergleicht man mit anderen Leipziger Fällen, so lassen sich ähnliche Beschreibungen dazu finden, was die jeweiligen Zeugen zur sozialen Reaktion auf die (vielleicht sonst ignorierbaren) Normverstöße bewog, wobei insbesondere auch der Öffentlichkeit der Äußerungen eine gewichtige Bedeutung zugeschrieben wurde. So sagten einzelne Beteiligte im Fall des Maurers Veit Schilling, der angeblich am Pfingstabend des Jahres 1602 volltrunken die Wirtsleute und deren Magd beleidigt und angegriffen und dabei bei den Sakramenten geflucht hatte, aus, er habe in Beisein von fast hundert Leuten über eine Stunde geflucht. Zudem geht aus den Artikeln, auf die die Zeugen befragt wurden, hervor, dass dem Fluchen am „heiligen“ Pfingsttag eine besondere Schwere zugeschrieben wurde.¹⁸ Auch als 1601 gegen Urban Lipman wegen Gotteslästerung ermittelt wurde – es hieß, er habe alkoholisiert nach einer Auseinandersetzung auf der Straße bei den Sakramenten und den Wunden Gottes geflucht, die Nachbarn beleidigt und bedroht – gaben zwei der Zeugen die mehrstündige Dauer des Fluchens an.¹⁹ Ähnlich verhielt es sich 1596, als der Schuster Hans Strieger (auch Hans von Penigk) in volltrunkenem Zustand auf dem Markt mit dem Marktmeister in Streit geriet und sich derart in Rage redete, dass er vor einer größeren Menge an Zeugen Gott auf eine abscheuliche Art lästerte, die ärger nicht hätte sein
18 Zum Fall Schilling auch im Folgenden StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 127. 19 Zum Fall Lipman auch im Folgenden StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 116.
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können, wie ein Zeuge angab, indem Strieger mehrfach bei den Sakramenten und den Wunden Christi fluchte. Grundsätzlich unterschied sich dieser Fall von den anderen genannten aber dadurch, dass das Handwerk der Schuster geschlossen zugunsten des Delinquenten auftrat und diesem einen sonst frommen und friedfertigen Lebenswandel bescheinigte.²⁰ Vergleicht man diesen Umstand mit den anderen genannten Untersuchungsverfahren, fällt auf, dass sowohl Muelbach, Schilling als auch Lipman durch einzelne Befragte als notorische Flucher, gottlos oder anders auffällig charakterisiert wurden. Insbesondere im Fall Muelbach scheinen die Zeugen ein Bild vom Angeklagten zu konstruieren, das durch vorherige Verfehlungen gekennzeichnet war. Aber auch einer der Zeugen im Fall Schilling bestätigte die Frage des Gerichts, ob Schilling auch sonst fast täglich fluche. Und im Fall Lipman erscheint die Aussage des Zeugen Kerner als interessant, der angab, dass nach einiger Zeit auch Lipmans Eltern am Ort des Geschehens erschienen seien und der Vater, der in der Erziehung des Sohns eher nachgiebig sei, noch schlimmer als Lipman selbst geflucht und ebenfalls die Nachbarn beschimpft habe. Außerdem belastete Kerner Lipman, dieser habe ihm bei späteren Begegnungen erneut gedroht und geschworen, alle Teufel sollten ihn holen. Sowohl der Vater als auch Lipman selbst werden hier über die zu verhandelnde Tat hinaus als auffällig beschrieben, dem Vater die Vorbildfunktion abgesprochen, eine gewisse innerfamiliäre Neigung zu inakzeptablem Verhalten behauptet und die Tat des Sohns keineswegs als eine nur im Affekt geschehene dargestellt. Die Darstellung Lipmans als Wiederholungstäter deckt sich in diesem Fall im Übrigen mit den behördlichen Aufzeichnungen. So geht aus Vermerken am Anfang der Strafakte hervor, dass Lipman schon zuvor strafrechtlich auffällig geworden war.²¹ Ausgehend von diesen Beobachtungen bestätigt sich zum einen, dass deviantes Verhalten weniger als Ergebnis eines bestimmten Ereignisses zu verstehen ist, sondern eher als Produkt eines Prozesses, der die Reaktionen der anderen mit umfasst. Auffällig ist zum anderen, dass die Vergehen, die den Beschuldigten im Nachhinein durch die Zeugen zusätzlich zugeschrieben wurden, von diesen nicht schon vorher angezeigt, sondern augenscheinlich über einen längeren Zeitraum toleriert worden waren. Hier wurden Normabweichungen konstruiert, die vorher eventuell gar nicht als solche registriert bzw. dargestellt wurden. Interessant erscheint dies insbesondere, da die Zeugen sich über die Nennung weiterer
20 Zum Fall Strieger auch im Folgenden StadtAL Ratsstube, Titelakten VII, B, 13a. 21 Loetz 2002, S. 326, gibt an, dass Gotteslästerung sowohl Individuen als auch Familien in ihrer Generationenabfolge als Verhaltensstil zur Stigmatisierung als Außenseiter zugeschrieben wurde.
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bisher nicht angezeigter Flüche eigentlich selbst der strafbewehrten vernachlässigten Denunziation bezichtigten. Dies mag für eine zumindest von den Befragten angenommene legitime Akzeptanz bestimmter potenziell lästerlicher Worte sprechen. Solche Beschreibungen ließen sich aber auch als zeitgenössisches Devianz-Stereotyp lesen, das hier auf die Angeklagten infolge der bereits erfolgten negativen sozialen Reaktion auf ihr Verhalten angewendet wurde. Die neuere Forschung hat darauf hingewiesen, dass gotteslästerlich sowohl als Attribut des Verhaltens ganzer Gruppen galt als auch als sinnfälliger Verweis auf ein ganzes Bündel negativer Eigenschaften und Verhaltensweisen.²² Damit kann der notorische Gotteslästerer als eine Konstruktion einer gerichtsrelevanten, jederzeit plausiblen Typisierung verstanden werden, die auf überindividuelle, gemeinschaftsbedrohliche Eigenschaften verwies. Dagegen beschrieben sich die Zeugen in ihren oder über ihre Aussagen als normkonform – sie erklärten, wie erschrocken sie gewesen seien und dass sie die gotteslästerlichen Worte gleich gerügt hätten.²³ Im Fall Lipman riefen die hinzugekommenen Nachbarn, als die Versuche, die Situation selbst zu schlichten, misslangen, schließlich den Gassenmeister als polizeiliche Instanz zu Hilfe, damit er, wie ein Zeuge sagte, Frieden schaffen solle. Interessant ist die Beobachtung, dass auch vonseiten der Zeugen auf das Gefährdungspotenzial der gehörten Äußerungen verwiesen wurde. Der Verweis auf die göttliche Kollektivstrafe, und damit auf den Begründungszusammenhang normativer Ordnungs- und Strafpolitik, taucht fast in allen der hier näher geschilderten Fälle auf. So wird zum Beispiel im Fall Muelbach die als möglich erachtete gemeinschaftsbezogene Brisanz des Delikts des Fluchens anhand der Bewertungen der Tat durch die Befragten erkennbar, wenn auf den Zorn Gottes verwiesen wird. Als Bezugsgröße wurde hierbei zumeist die Nachbarschaft gedacht, deren enge Verknüpfung zur Stadt zum Beispiel in der Nachbarschaftsordnung von 1550 mitgedacht wurde.²⁴ Für das heftige Fluchen Muelbachs wäre, einzelnen Zeugenaussagen zufolge, sogar eine sofortige Reaktion Gottes nicht verwunderlich gewesen, wie sie in einem anderen Fall den Zeugen erschien. Im Oktober 1649 kam es zwischen zwei Männern zum nächtlichen Streit auf dem Barfüßerkirchhof. Dabei sollen die Kontrahenten heftig miteinander gezankt, also eine wortreiche Auseinandersetzung
22 Siehe hierzu etwa Loetz 2002, S. 183, S. 326; Schwerhoff 1998, S. 112. 23 StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 116, fol. 3v–5r; Nr. 127, fol. 1v–2r; Nr. 167, fol. 2r. Für vergleichbare Fälle in Zürich Loetz 2002, S. 223–237. Das normkonforme Erschrecken muss allerdings nicht als bloße Gerichtsstrategie gesehen werden. Dülmen 1994, S. 35, wertet das Entsetzen bei schwerer Gotteslästerung durchaus als echt, wenn auch im Zusammenhang mit der Person des Täters stehend, und nicht nur als Schutzmechanismus für die Gerichte. 24 StadtAL Ratsstube, Titelakten XXXIX, Nr. 1, fol. 1r.
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geführt haben, bei der sie dann auch geflucht und Verwünschungen ausgesprochen sowie „gottgelästert“ haben sollen. Daraufhin hätte sich unmittelbar der Himmel geöffnet und eine Lichterscheinung hätte wie „lauter fewer“ die Nachbarn heftig erschreckt.²⁵
4 Alltag ohne Gott? Ausgehend vom Fall des Wollkämmers Gregor Voigt, der 1620 von seinen beiden Nachbarinnen wegen einer angeblichen Gotteslästerung denunziert und schließlich aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde, lassen sich Fragen nach zeitgenössischen Stereotypen von Devianz, nach strafverschärfenden Momenten und positiven Selbstdarstellungen noch einmal vertiefend betrachten. Hierzu wird dieser Fall mit dem von Andreas Meister kontrastiert, dessen mutmaßliche ‚Ketzerei‘ und offene Absonderung unter anderem die Infragestellung christlicher Glaubensfundamente umfasste. In beiden Fällen rangen Kläger und Beschuldigte jeweils um die Deutung ihrer eigenen Person; sie bieten Einblicke in die Darstellung und Bewertung gotteslästerlicher Äußerungen vor Gericht, die sich von den in den bisherigen Fällen beschriebenen Flüchen deutlich abheben. Die Ermittlungen gegen den Wollkämmer Voigt wurden ausgelöst durch ein Schreiben der Witwe Anna Maria Durschedel an das Stadtgericht, in welchem sie sich über grundlose, an ihre Ehre tastende Beleidigungen, die Voigt ihr entgegengebracht habe, beklagte. Darüber hinaus bezeichnete sie Voigt als einen gottlosen Menschen, der den Angaben seiner eigenen Frau nach seit fünf Jahren keine Kirche betreten oder das Abendmahl empfangen habe. Sie berichtete von einer sechs Wochen zurückliegenden schlimmen Lästerung der göttlichen Dreifaltigkeit, die sie nebst ihrer Wirtin von ihrer Kammer aus gehört habe: Volltrunken habe Voigt beim Zubettgehen drei Darmwinde nacheinander damit kommentiert, sie seien Gott der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, er habe sie nun alle drei angeschissen. Ähnlich lästerliche Reden seien, wie Anna Maria formulierte, sein tägliches Gebet. Würde Gott Feuer vom Himmel schicken, einen solchen Gotteslästerer zu verzehren, so wäre es wenig verwunderlich, fügte sie hinzu.²⁶ Das Anbringen der angeblichen Gotteslästerung, die nicht in direktem Zusammenhang mit dem Vorwurf der ursprünglich angezeigten Beleidigung stand, sowie die Beschreibung Voigts als notorischer Gotteslästerer und abseits der Gemeinschaft
25 StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 562, fol. 1r. 26 StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 315, fol. 1–2r.
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stehender Abendmahlsverweigerer, wirken hier – ohne dass dies den Wahrheitsgehalt der Schilderungen mindern müsste – strategisch angebracht. Voigt selbst mutmaßte, Anna Maria Durschedel wolle sich mittels einer unwahren Anzeige an ihm rächen.²⁷ Vielleicht erhoffte sie sich aber auch, über den Vorwurf einer weiteren, von Amts wegen zu verfolgenden Straftat und durch die Diffamierung des Angezeigten als Person die Chance auf Verfolgung der Angelegenheit wahrscheinlicher zu machen. Auffällig erscheint darüber hinaus, dass Voigt über die Aussage, er sei dem Abendmahl fern geblieben, auch als fern der sozialen und der Heilsgemeinschaft, für die das Abendmahl konstituierende Bedeutung hatte, gezeichnet wird. Im Vergleich zu den oben beschriebenen Fällen fällt zudem auf, dass nach Ansicht Anna Marias nur der Gotteslästerer selbst, nicht die ganze Gemeinschaft mit göttlicher Strafe zu rechnen hatte. Hier wurde von der Klägerin vielleicht schlicht an den Wunsch nach göttlicher wie weltlicher Bestrafung Voigts gedacht. Gleichzeitig fügt sich die Bemerkung aber passend in den Kontext der geschilderten Gotteslästerung, die als fern der Öffentlichkeit geschehen und wie eine Art Spottgebet beschrieben wird. Dies und der Vorwurf, Gotteslästerung sei Voigts tägliches Gebet, stellten dessen Verhältnis zu Gott grundsätzlich infrage. Anna Maria Durschedel und ihre Wirtin Elisabeth Nebel wurden im Laufe des folgenden Prozesses drei Mal vor Gericht befragt. Hierbei warfen sie Voigt zusätzlich vor, vor einiger Zeit drei Stunden so schlimm geflucht zu haben, dass der Erdboden sich hätte auftun mögen, und dass er sie selbst wie auch durch andere dazu bringen wollte, nicht gegen ihn auszusagen. Zudem habe Voigt nach der angezeigten Gotteslästerung laut gelacht. Als Tatabend wurde von beiden der Sonntag vor Neujahr benannt. Die Schilderung der Tatumstände ähnelt denen in den Fällen Muelbach, Schilling und Lipman. Geht man von einer fälschlichen Denunziation Voigts aus, so lässt sich feststellen, dass die Frauen in ihren Anschuldigungen, den bisherigen Beobachtungen nach, sozial (und gerichtlich) gängige taterschwerende Momente, wie die lange Dauer des Fluchens oder den Feiertag als Tatzeit, aufgriffen.²⁸ Anna Maria Durschedel und Elisabeth Nebel waren mit ihren Beschuldigungen zunächst erfolgreich. So wurde Voigt in Untersuchungshaft genommen und bezüglich seines Kirchgangs, seiner Abendmahlteilnahme und der vermeintlichen Gotteslästerung befragt. Bis zum Prozessende verblieb er zudem in Haft. Voigt wies in der Befragung den Vorwurf der Gotteslästerung zurück, erklärte Ostern zuletzt beim Abendmahl und Neujahr zuletzt in der Kirche gewesen zu
27 StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 315, fol. 29–31, 32–34r, 38–45r. 28 StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 315, fol. 3, 6v–15r, 65v–66r.
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sein. Davon, dass er geflucht habe, gab er vor, nichts zu wissen, und dass es, wenn es stimme, nur im Zorn könne geschehen sein. Das Gericht ließ darauf weitere Zeugen vorladen bzw. befragen. Die meisten Aussagen trugen nichts Wesentliches oder Neues zum Fall bei und bezogen sich oft auf Hörensagen. Aus den Aussagen wird jedoch ersichtlich, dass sich die Gerüchte über Voigts Gotteslästerung und seinen mäßigen Abendmahl- und Kirchenbesuch, wohl ausgehend von den beiden Klägerinnen, bereits weiter verbreitet hatten.²⁹ Unterdessen kämpfte Voigt mithilfe seines hinzugezogenen Rechtsbeistands um seine Freilassung und seinen guten Ruf. So richtete er gleich drei Verteidigungsschreiben an das Stadtgericht und übersandte mit letzterem auch 71 Verteidigungsartikel.³⁰ Voigt beschrieb sich selbst dem Gericht als Zeit seines Lebens ehrlich, friedlich, gottesfürchtig und fleißig, der er sich aller Schwüre, Flüche, Gotteslästerungen, Völlereien und Trinkereien stets enthalten und täglich (so im Übrigen auch am vermeintlichen Tatabend) gern die Bibel und andere geistliche Bücher gelesen habe. Er diffamierte zum anderen die beiden Hauptzeuginnen als wenig friedliebend, anstößig, faul und leichtfertig, rachsüchtig und ihm gegenüber missgünstig; Anna Maria Durschedel bezichtigte er zudem, ohne Aufenthaltserlaubnis des Rats oder der Nachbarschaft bei Elisabeth Nebel zu wohnen. Schließlich bezog er sich auf die Beschaffenheit der Örtlichkeiten, die ein Mithören einer eventuellen Gotteslästerung von der benachbarten Kammer aus gar nicht gestatten würden, und wies auf angebliche Unstimmigkeiten in den Aussagen der beiden Frauen hin. Voigt entwarf hier also ein Gegenbild zu den von den Klägerinnen vorgebrachten Charakterisierungen seiner Person. Gleichzeitig bemühte er sich, die beiden Frauen als unglaubwürdig erscheinen zu lassen; Anna Maria Durschedel rückte er nun seinerseits an den Rand der Gemeinschaft und stellte die beiden Frauen als unzüchtig und zanksüchtig dar. Möglicherweise verweist dies auch auf geschlechterspezifische Formen der Etikettierung. Aus den jeweiligen Charakterisierungen lassen sich ferner gewisse moralische Werte ableiten. So stellt hier neben dem unbescholtenen Lebenswandel vor allem die eigene Erwerbstätigkeit einen wichtigen Aspekt positiver Selbstbeschreibung bzw. in gegengesetzter Form negativer Fremdzuschreibung dar. Insgesamt bewegen sich die Beschreibungen im Rahmen der durch obrigkeitliche Normen und pastorale Testierpraktiken implementierten Deutungsmuster für ein frommes und tüchti-
29 StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 315, fol. 3–6, 15v–28, 35–36r. Zur Relevanz von Affekthandlungen bzw. Zornesausbrüchen Loetz 2002, S. 334–337. 30 StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 315, fol. 48–50r, 54v–78r; zum Folgenden ebd., fol. 29–31, 32–34r, 38–45r.
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ges Leben einerseits und ein gottloses Leben andererseits, Deutungen, die sich mithin auf einer prinzipiellen Ebene wechselseitig ausschlossen. Geradezu der Prototyp eines gemeingefährlichen gottlosen Menschen soll der Denunziation zufolge der Essigkramer Andreas Meister gewesen sein, „ein ertzketzer vndt gottesvergeßner mann“.³¹ Bereits das Zustandekommen der Anzeige lässt aufhorchen: Der Bürger und Fischer Zacharias Fischer verfasste nach eigenem Vorgeben im Namen etlicher Nachbarn vor dem Ranstedter Tor ein systematisch in zwölf Punkte gegliedertes Denunziationsschreiben, in dem aus Angst vor Racheakten des Beschuldigten gefordert wird, die Anzeige verschwiegen zu behandeln und vonseiten des Gerichts vorzugeben, einige einquartierte Reiter hätten Meister denunziert. Der erste Punkt fasste im Wesentlichen die Vorwürfe zusammen: Meister hätte nicht nur bei Zusammenkünften der Nachbarn, sondern auch gegenüber einigen einquartierten kurfürstlichen Reitern Gott und die Bibel gelästert und geschändet, sowie die Leipziger Geistlichkeit geschmäht.³² Letzterer Vorwurf wurde so formuliert, als hätte Meister das kurfürstliche Konsistorium, also die vor Ort höchste landeskirchliche Institution (und damit den Landesherrn) direkt angegriffen. Dem Nachbar Kalwitz gegenüber hätte er gesagt, alle Pfarrer seien Schelme, womit Meister eines der gravierendsten Schmähworte gegenüber der tief in der Leipziger Stadtgemeinschaft verankerten Pfarrerschaft benutzt hätte.³³ Einem Fischerknecht gegenüber habe er die Auferstehung der Toten geleugnet und behauptet, da wo das Vieh hinkomme, kämen auch die Menschen hin. Diese Aussage war durchaus keine ungewöhnliche Infragestellung christlicher Glaubensgrundsätze, die in diesem wie auch anderen Fällen an individuelle Bibellektüre (hier Pred. Sal. III. 18–22) gebunden war und von Meister auch wiederholt wurde.³⁴ Zugleich erklärt das Denunziationsschreiben, dass Meister solche Behauptungen bereits seit mehr als 18 Monaten unablässig und mitunter nach seinen Besuchen des Gottesdienstes wiederholt hätte. Hierüber wäre einer der Nachbarn ganz melancholisch worden. Aus zeitgenössischer Sicht galt er damit als suizidgefährdet; ein deutlicher Appell an die Obrigkeit einzugreifen, da Meister mit seinen Umtrieben eine konkrete Gefahr für das Seelenheil Dritter
31 StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 474, fol. 1r. Der Fall ist bereits kurz erwähnt bei Rüdiger 2001, S. 630, der aus nicht ersichtlichen Gründen davon ausgeht, dass das Konsistorium Leipzig in den Fall eingeschaltet worden wäre. Vielmehr wurde zur Urteilsverkündung, wohl weil das Ministerium durch mutmaßliche Schmähungen mitbetroffen war, ein Vertreter desselben hinzugezogen. 32 StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 474, fol. 1r. Dort auch zum Folgenden. 33 Zur Einbettung der Pfarrer in die städtische Gemeinschaft Leipzigs bspw. Kevorkian 2000. 34 StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 474, fol. 4v. Hierzu Schwerhoff 2005, S. 297–298.
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darstellte.³⁵ Die offenkundige Sünde Meisters steckte also nicht einfach nur an – sie gefährdete ganz unmittelbar die Heilsgemeinschaft. Grundsätzlich ist die Rhetorik des Denunziationsschreibens höchst interessant, denn die oben bereits beschriebene Typisierung und Argumentationsfigur des notorischen Gotteslästerers erfährt im Fall Andreas Meister eine signifikante Steigerung. Insgesamt zehn Mal wird Meister in dem Schreiben als Ketzer bezeichnet, zweimal als Bösewicht und einmal als Erzlügner, der teuflische Lehren verbreite.³⁶ Die Bezeichnung ‚verteufelter Bösewicht‘ fällt bezeichnenderweise das erste Mal im Zusammenhang mit dem Vorwurf, Meister hätte die Gültigkeit verschiedener Sittengebote negiert und behauptet, der Ehebruch sei eine lässliche Sünde, die allein deswegen von der Obrigkeit bestraft werde, damit sie nicht überhandnehme – womit Meister im Übrigen auf eine übliche Begründungsformel von Strafgesetzen rekurriert hätte. Schließlich befürchtete die Nachbarschaft, Meister könne aus Rache Brandstiftung begehen. Damit spielte die Denunziation vor dem Hintergrund der schweren Verheerungen insbesondere der Leipziger Vorstädte 1631 während des Dreißigjährigen Krieges auf einen zeitlich nahen, lebensweltlichen Erfahrungshintergrund aller Beteiligten an. Dass die Selbstdarstellung des literaten und gebildeten Meisters völlig konträr ausfiel, verwundert wenig. In einer vielleicht sogar eigenhändig verfassten Defensionsschrift beschrieb sich der Angeklagte als gottesfürchtig und gläubig und belegte seine Aussagen auch mit Verweisen auf die Heilige Schrift. Das ist hier nicht im Einzelnen wiederzugeben, aber insofern wichtig, als er dadurch zu beglaubigen versuchte, dass er die Bibel keineswegs ketzerisch ausgelegt hatte. Meister referierte noch einmal ausführlich alle Vorwürfe gegen ihn und setzte diesen entgegen, nicht er habe die Ehre Gottes angegriffen, vielmehr habe die Denunziation zu Unrecht seine eigene Ehre verletzt. Entgegen der Vorwürfe seiner Nachbarn, sehe er in Hurerei und Ehebruch schwere Vergehen gegen Sittenmoral und christliche Gebote, schließlich halte er seit über 30 Jahren gute Ehe. Selbstverständlich glaube er an Himmel und Hölle – überhaupt wäre das ewige Leben sein Trost in dieser schweren und betrübten Zeit. Die Schmähung der Geistlichkeit wäre schließlich ein großes Missverständnis. Er habe durchaus gegen einige Geistliche gesprochen, aber doch dabei jene katholischen Mönche und Jesuitenpriester gemeint, die ihn vor vielen Jahren, als er noch in Prag gearbeitet hatte, zur Konversion verleiten wollten.
35 Zum Kontext und zur Bestrafung von ‚Selbstmördern‘ in Kursachsen im 17. Jahrhundert siehe Kästner 2012, hier insbesondere S. 162–179, S. 192–218. 36 StadtAL Richterstube, Strafakten, Nr. 474, fol. 1. Zum Folgenden ebd., fol. 3–4, 8r–9r, 17v, 19, 22r.
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Das Urteil lautete schließlich auf achttägige Verlängerung der Untersuchungshaft, die wie üblich auf das Strafmaß angerechnet wurde, und stellte so klar, dass Meisters Verhalten keineswegs gebilligt oder seinen Aussagen voller Glauben geschenkt wurde. Gegen letzteres sprach wohl, dass alle Zeugen nachdrücklich (auch in der Konfrontation) auf den überaus schweren Vorwürfen beharrten. Gegen eine härtere Bestrafung Meisters sprachen in erster Linie die Aussagen des Gassenmeisters, des offiziellen, von der städtischen Obrigkeit approbierten Vertreters der Nachbarschaft. Der Gassenmeister hatte bemerkenswerterweise die Aussagen Meisters bestätigt. Aus seiner Sicht war es nicht zu gotteslästerlichen, wenngleich aber zu einigen missverständlichen Aussagen gekommen. Die Aussagen des Gassenmeisters legen überdies nahe, dass Andreas Meister religiöse Zweifel bekommen haben könnte, die er im Gespräch mit nicht namentlich genannten Pfarrern zu zerstreuen gesucht hatte. Allerdings befand sich der Gassenmeister selbst in einer brenzligen Situation, hatte doch Zacharias Fischer den Vorwurf erhoben, der Gassenmeister hätte trotz seiner Ohrenzeugenschaft und gegen den Willen der Nachbarschaft die Anzeige vor Gericht verweigert. Als man am 10. Februar 1640 Zacharias Fischer als den Urheber der Anzeige befragte, zeigte sich unfreiwillig, dass die Deutung der Aussagen Andreas Meisters keineswegs einem einheitlichen Konsens verpflichtet war. Als der Denunzierte vor kurzer Zeit mit Fischer und zwei Reitern zusammengesessen hatte, soll er wiederum die Auferstehung geleugnet haben, woraufhin einer der Reiter dies spielerisch aufgriff und geantwortet haben soll, wohin denn die Reichen kommen würden, wenn es keine Hölle gäbe. Bemerkenswert ist zudem, dass der Denunziant zu einem Zeitpunkt, zu dem laut eigener Anzeige das ketzerische Treiben Andreas Meisters längst bekannt gewesen sein soll, mit diesem vermeintlichen Erzketzer in geselliger Runde beisammen gesessen hatte. Vielleicht lassen sich diese Situation und die durch die Anzeige bezeugten Gesprächssituationen mit dem Status der von Erving Goffman beschriebenen ‚In-group-Abweichler‘ vergleichen, der von einer ambivalenten Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und gerade nicht von sozialer Isolation und ausschließender Diskriminierung geprägt ist.³⁷ In der Retrospektive ist nicht über die Richtigkeit einer der beiden „konkurrierenden Wahrheiten“ (Andrea Griesebner) zu entscheiden. Von Interesse ist vielmehr, dass beide Versionen in dem Punkt konvergieren, dass Andreas Meister aus insgesamt nicht ganz ersichtlichen Gründen mit Nachbarn und Auswärtigen über Grundfragen des christlichen Glaubens und seine persönliche Abneigung gegenüber den Prager Jesuiten diskutiert hatte. Die Aussagen Meisters erschienen einigen Beteiligten als durchaus im Rahmen des Zulässigen, während sie
37 Goffman 1975, S. 172–180, hier insbesondere S. 174.
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Andere – in erster Linie Zacharias Fischer – vor Gericht als höchst brisant und ketzerisch einstuften. Letztere Wahrnehmung bedingte, dass Andreas Meister als ‚Erzketzer‘ tituliert wurde, um eine gerichtliche Verhandlung des Falles zu erzwingen. Gerade aber das Verfahren vor Gericht zeigt die unterschiedlichen Möglichkeiten, um die Deutungshoheit zu ringen, Möglichkeiten, die insbesondere Meister zu nutzen wusste.
5 Fazit Eingangs wurde beschrieben, wie frühneuzeitliche Rechtsnormen Gotteslästerung als ein Delikt konstruierten, welches die gegebene Ordnung überschritt und sowohl deren transzendente Fundierung als auch die Gemeinschaft – als Rechtsverband und als Heilsgemeinschaft in ihrem Verhältnis zu Gott – angriff. Allerdings zeigt sich, dass in der Praxis nicht alle lästerlichen Worte gleich wahrgenommen, bewertet und gerichtlich verhandelt wurden. Der Beginn der gerichtlichen Verfahren kann als eine zunächst offene Konfliktsituation und damit als eine Herausforderung für Transzendenzbehauptungen verstanden werden. In dieser Situation ging es erst einmal darum, den Sachverhalt, also den genauen Wortlaut der vermeintlichen Lästerworte und deren Intention, aufzuklären. Im Weiteren rückten dann konkurrierende, stereotypisierte Selbst- und Fremdzuschreibungen in das Zentrum der Analyse. Diese verwiesen auf das eingeforderte Nicht-Zu-Hinterfragen der sozialen und politischen Ordnung im Sinne der Vorstellung, dass Gott (und die Obrigkeit) die Frommen und Getreuen (hier die Denunzianten) ‚belohnen‘, die Sünder jedoch und jene, die nicht gegen die Sünder vorgingen, bestrafen werde. Diese Stereotypisierungen wurden in diesem Beitrag als Fundament von kommunikativen Strategien der Kriminalisierung abweichenden Verhaltens vor Gericht beschrieben. Diese Strategien basierten unter anderem darauf, abweichende Identitätsmerkmale zu markieren. Grundsätzlich sind auffällige Parallelen zu Stigmatisierungsvorgängen zu erkennen: Dem gleichzeitigen, wenngleich variablen Auftreten von Zuschreibungen, Stereotypisierungen, Absonderungen, Statusverlust und Diskriminierung in den Erzählungen vor Gericht folgt jedoch noch eine weitere klare Differenzmarkierung, die den Angezeigten den Status delinquent und gottlos auf der einen und auf der anderen Seite den Anzeigenden den Status normkonform und fromm zuschrieb. Gerade im Fall des Andreas Meister zeigte sich, wie unterschiedlich die Deutungen der und Bedeutungszumessungen an die vermeintlichen Lästerworte durch die einzelnen Akteure sein konnten. Deutlich wird an diesem Fall auch, dass die Verteidigungsstrategie des Beklagten gleichsam das persönliche Ver-
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hältnis zu Gott ins Zentrum stellte, wenn Meister sich als gottesfürchtigen und gläubigen Menschen schilderte. Ähnliches lässt sich zwar auch im Fall des Gregor Voigt beobachten, der seine Unschuld unter anderem auch dadurch zu belegen suchte, dass er sich selbst als gottesfürchtig, an geistlicher Lektüre interessiert, am Gottesdienst und am Abendmahl teilnehmend und stets fern aller Schwüre, Flüche und Gotteslästerungen beschrieb. In seinen vorgelegten Verteidigungsartikeln führte er aber noch als erste Argumente vor seiner vermeintlichen Gottesfurcht an, er habe sich jederzeit schiedlich und friedlich gezeigt. Diese auch von anderen mutmaßlichen Gotteslästerern angeführten Argumente verweisen ihrerseits auf die zentrale und unmittelbar gegeben scheinende Ordnungsvorstellung der friedlichen und einigen Gemeinschaft – hier sowohl der Nachbarschaft als auch der Stadtgemeinschaft. Dem entspricht auf einer anderen Ebene, dass in nahezu allen hier ausführlicher besprochenen Fällen von einzelnen Zeugen auf die normativ verankerte Idee einer göttlichen Kollektivstrafe verwiesen wurde. Die gemeinschaftsbezogene Brisanz der lästerlichen Worte wurde also auch durch die Ohrenzeugen gesehen und vor Gericht betont. Im Fall Meister stellte sich die Bedrohung durch die angebliche Gotteslästerung über den Verweis auf die Suizidgefährdung eines Nachbarn noch einmal anders dar. Hier wie auch in Bezug auf das Argument der Bedrohung durch die göttliche Strafe wurde als Bezugsgröße interessanterweise oft die Nachbarschaft genannt. Daraus lässt sich ableiten, dass ein besonderes Gemeinschaftsgefühl auf dieser substädtischen Ebene bestand, ohne dass hier aber ein prinzipieller Unterschied zum Gemeinschaftsverständnis der Stadt behauptet wurde. Für die Kommunikation der vergeltungstheologisch begründeten Bedrohung für die Gemeinschaften der Nachbarschaft und der Stadt vor Gericht war entscheidend, dass die Angeklagten als notorische Gotteslästerer beschrieben wurden – nicht weil das Notorische am Verhalten das eigentlich Bedrohliche war, sondern weil es eine Situation, die dazu führte, dass die Gotteslästerung vor Gericht verhandelt wurde, als extreme Steigerung des sonstigen Verhaltens definierte, das erst ex post facto kriminalisiert wurde. Der notorisch Lästernde schien (aus dieser Sicht) für sich im Alltag die Abweichung akzeptiert und dauerhaft gelebt zu haben. Er legte so – der Logik des Vorwurfs folgend – ein Verhalten an den Tag, dass sonst Häretikern zugeschrieben wurde. Diese Vorstellung fand dann auch tatsächlich eine ultimative Steigerung in der Charakterisierung Andreas Meisters als Erzketzer. Dessen Verhalten wurde ebenso wie das Gregor Voigts als intentionaler Widerstandsakt gegen Gott und die gottgewollte Ordnung konstruiert. Und entsprechend dieser Dopplung des devianten Aktes wurde der Vorwurf der Gotteslästerung auch von Zeugen und Beklagten auf zwei unterschiedlichen, wenngleich ineinander verwobenen Ebenen verhandelt. Es wurde
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nicht nur das Verhältnis der Angeklagten zu Gott thematisiert, sondern auch deren Verhältnis zu einer transzendent fundierten Gemeinschaft. Diese sah im individuellen Überschreiten transzendenter Ordnungsvorstellungen dann ein kollektives Bedrohungsszenario, wenn jenes zugleich den weiten Rahmen konkurrierender sozialer Normen sprengte.
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Jessica Buskirk, Bertram Kaschek
Kanon und Kritik Konkurrierende Körperbilder in Italien und den Niederlanden Die Kultur der Frühen Neuzeit war eine Kultur der Konkurrenz.¹ Nach Georg Simmel handelt es sich beim Phänomen der Konkurrenz um einen indirekten Wettkampf, in dem die jeweiligen Parteien sich parallel um denselben Kampfpreis bemühen.² Diese Parallelität der Bemühungen unterscheidet demnach ein Konkurrenzverhältnis im vollen Wortsinn von der wetteifernden Nachahmung (aemulatio) vergangener Vorbilder: Ein gegenwärtiges Publikum muss von der Überlegenheit eines aktuellen Produktes über andere aktuelle Produkte überzeugt werden. Nicht zuletzt aufgrund dieser Ausrichtung auf eine kritische Öffentlichkeit schreibt Simmel der Konkurrenz eine „ungeheure vergesellschaftende Wirkung“ zu.³ Ihre „synthetische Kraft“ sieht er in dem Umstand begründet, dass „die Konkurrenz in der Gesellschaft doch Konkurrenz um den Menschen ist, ein Ringen um Beifall und Aufwendung“.⁴ Wenn wir im Folgenden konkurrierende Körperbilder in der Kunst des 16. Jahrhunderts zum Thema machen, dann geschieht dies insofern im Sinne Simmels, als es uns um parallel-synchrone Anstrengungen von Künstlern geht, den Körper auf eine bestimmte Weise ins Bild zu setzen. Die konkurrierenden Parteien sind – so unsere These – darum bemüht, einem zeitgenössischen Publikum im Medium des Bildes vor Augen zu führen, welche Rolle der Körper ihrer Auffassung nach in der Kunst, aber auch in der religiösen Kultur der Gegenwart spielen sollte. Da die Auffassungen hierüber weit auseinandergehen, ist der Wettstreit, der uns hier interessiert, keiner um die bessere, die gelungenere, die schönere Darstellung des Körpers. Vielmehr wollen wir zwei konkurrierende Kunst- und Körpermodelle aneinander konturieren, um nicht nur ihre fundamentale Differenz, sondern auch ihren geradezu kämpferischen Antagonismus sichtbar zu machen. Es handelt sich dabei zum einen um jene Kunstwerke, die seit etwa 1500 am päpstlichen Hof gesammelt und produziert wurden und die innerhalb weniger Jahre europaweit kanonischen Rang erlangten. Die Genese dieses Kanons in Rom soll im ersten Abschnitt des Aufsatzes vorgestellt werden, bevor im zweiten
1 Vgl. Müller/Pfisterer 2011; Prochno 2006. 2 Vgl. Simmel 1995, S. 222. Vgl. hierzu auch Prochno 2006, S. 15ff. 3 Simmel 1995, S. 226. 4 Ebd., S. 227.
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Abschnitt seine weitgehend erfolgreiche Verbreitung in den Niederlanden skizziert werden soll. Abschließend soll im dritten Abschnitt das kritische Gegenmodell an einem Beispiel erörtert werden. Dieses Gegenmodell fand seinen Anlass in dem Umstand, dass der klassische Körper-Kanon nicht allein ein unschuldiges Schönheitsideal darstellte, sondern für einen römisch-italienischen HegemonieAnspruch einstand, der neben der ästhetisch-künstlerischen Dimension auch mit theologischen und religionspolitischen Konnotationen verbunden war.⁵ Bei alledem geht es uns vor allem um eine Analyse der Strategien, mit denen der nackte menschliche Körper als herausgehobener Gegenstand der Kunst sowie als Medium des Heils entweder behauptet oder bestritten wurde. Die Konkurrenz der vorgestellten Modelle scheint keineswegs auf eine einträchtige Vergesellschaftung, sondern auf eine Spaltung des Publikums in zwei feindliche Lager hinauszulaufen. Innerhalb dieser Lager jedoch wird die ‚synthetische Kraft‘ der Konkurrenz durchaus zu spüren gewesen sein.
1 Der Kanon entsteht In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts fand in Rom eine Gruppe von Kunstwerken zusammen, die für die folgenden Jahrhunderte Vorbildcharakter haben sollte. Diese Gruppe, die vor allem der Kunst- und Sammelleidenschaft von Papst Julius II. zu verdanken ist, verfügt über jene zwei Charakteristika, die – nach Jan Assmann – jeden Kanon kennzeichnen: „Die Begriffsgeschichte von Kanon stellt sich uns dar als ein Palimpsest, in dem griechisch-römische von jüdisch-christlicher Kultur überlagert ist und beide zu einer unlöslichen Einheit verschmolzen sind.“⁶ Laut Assmann ist die beherrschende Metapher des antiken Kanon-Konzepts der „Maßstab“, während die jüdisch-christliche Idee des Kanons an die Heilige Schrift gebunden ist. Beide Kanon-Begriffe verweisen uns auf ein Ideal, doch nutzen sie jeweils andere Mittel und verfolgen andere Ziele.⁷ Der antike „Maßstab“ möchte die Frage beantworten: „Wonach sollen wir uns richten?“, indem er ein Instrument zur Verfügung stellt, das der Künstler zur Erschaffung neuer Werke verwenden kann.⁸ Der jüdisch-christliche Kanon hat dagegen eine abgrenzende und ausschließende Funktion: Mit der Edition der Vulgata im vierten Jahrhundert erklärte die römische Kirche eine Gruppe
5 Vgl. hierzu zahlreiche Aufsätze von Jürgen Müller: u.a. ders. 2005, ders. 2007, ders. 2011. 6 Assmann 1997, S. 121. 7 Ebd., S. 107, S. 114. 8 Ebd., S. 123.
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heiliger Texte für verbindlich, die mit weltlicher Macht und Gewalt gegen jede Abweichung verteidigt wurde. Und so sollte man auch im Hinblick auf die Kunstsammlung des Vatikans nicht vergessen, dass die dort versammelten Werke nicht nur zahllosen Künstlern als Vorbild und ästhetischer ‚Maßstab‘ dienten, sondern darüber hinaus auch mit einem ideologischen Gehalt besetzt waren, den es im Sinne der römischen Kurie in ganz Europa durchzusetzen galt. Bei der Ausbildung des Kunstkanons der italienischen Renaissance spielt die Sammlung antiker Skulpturen, die Julius II. für den Garten der Belvedere-Villa zusammentragen ließ, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Julius hatte mit dem Sammeln von Antiken bereits begonnen, als er noch als Kardinal Giuliano della Rovere bekannt war. Auf seinem Grundstück war nicht zuletzt jene Skulptur gefunden worden, die heute als Apoll von Belvedere weltberühmt ist.⁹ Am Ende seines Pontifikats (1513) umfasste seine Belvedere-Sammlung neben dem Apoll so bedeutende Werke wie die Laokoon-Gruppe, die Venus Felix, den Hercules Commodus, die Hercules und Antaeus-Gruppe, die sogenannte Cleopatra und den Flussgott Tiber.¹⁰ Der berühmte Torso Belvedere kam erst um 1527 in die Sammlung.¹¹ Bereits zu Julius’ Lebzeiten wurden diese Skulpturen als bedeutende Kunstwerke gefeiert und darüber hinaus unmittelbar mit ihrem Besitzer assoziiert. Castiglione etwa verfasste ein Gedicht über die Cleopatra, in dem er den Papst mit Caesar verglich, während der Apoll ein Gedicht inspirierte, das Julius mit Augustus gleichstellte.¹² Um die Mitte des 16. Jahrhunderts waren die Skulpturen bereits zu Synonymen künstlerischer Vollkommenheit geworden. Im Vorwort zur dritten Sektion seiner Vite, die den Künstlern der Gegenwart gewidmet ist, schreibt Giorgio Vasari, dass die Künstler der vorangegangenen Epochen noch nicht in der Lage waren, ihren anatomisch durchaus korrekten Darstellungen des menschlichen Körpers Anmut und Lebendigkeit zu verleihen. Dies sei erst von jenen späteren Künstlern erreicht worden, die sich am Beispiel der wiederentdeckten Antiken schulen konnten:
9 Bober/Rubinstein 2010, S. 76. 10 Die Geschichte des Statuenhofs im 16. Jahrhundert referiert Brummer 1970. Die Kleopatra wurde damals für eine Ariadne gehalten; vgl. ebd., S. 19–42. 11 Ebd., S. 144. 12 Ebd., S. 221–226. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet hier die Venus Felix, die Gianfrancesco Pico della Mirandola in einem Brief von 1512 als heidnisches Idol verdammt und deshalb ihre Entfernung aus dem päpstlichen Garten fordert. Für den Wortlaut des Briefes vgl. ebd., S. 273f.
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„Gut erging es jenen, die ihnen nachfolgten, denn sie konnten mitansehen, wie einige der berühmtesten, von Plinius beschriebenen Kunstwerke der Antike ausgegraben, wurden: der Laokoon, der Herkules und der große Torso von Belvedere; ebenso die Venus, die Kleopatra, der Apollo und unendlich viele mehr, die man nun sowohl in ihrem Liebreiz wie auch ihrer Strenge sah, mit Körpern, die den größten lebenden Schönheiten nachgebildet sind […]. Diese Statuen gaben Anlaß, jenen spröden, groben und schneidenden Stil zu überwinden […].“¹³
Von den hier genannten Skulpturen wird zwar nur der Laokoon in Plinius’ Naturgeschichte erwähnt, doch waren sie zu Vasaris Zeit allesamt im Belvedere zu sehen.¹⁴ Es ist gewiss kein Zufall, dass eine Gruppe antiker Skulpturen zum frühneuzeitlichen Maßstab der Beurteilung aller Darstellungen des menschlichen Körpers werden sollte. Denn ursprünglich bezeichnete der Begriff ‚Kanon‘ ein System perfekter menschlicher Proportionen, das vom griechischen Bildhauer Polyklet entworfen worden war. Polyklets Ideal ist uns heute lediglich in Form seines Doryphoros (Speerträger) erhalten, der gewissermaßen ein bildhauerisches Traktat über menschliche Proportionen darstellt und einen Athleten in lässigem Kontrapost zeigt.¹⁵ Die Figur befindet sich in harmonischem Ausgleich zwischen Ruhe und Bewegung und verkörpert das Ideal klassischer Schönheit: weder jung noch alt, weder schwächlich noch übermäßig muskulös.¹⁶ In dieser überaus diskreten und zurückhaltenden Gestaltung unterscheidet sich der Doryphoros auf signifikante Weise von den hellenistischen Skulpturen des Belvederes, wobei die Betrachter des 16. Jahrhunderts sich der Differenz zwischen dem zurückhaltenden griechischen Ideal und dem dramatischen Erscheinungsbild späterer Skulpturen noch nicht bewusst sein konnten, da sie nicht wussten wie der Doryphoros aussah. Zwar wird der Polykletsche Kanon bei Plinius und Quintilian erwähnt, doch römische Kopien der Skulptur selbst sind erst seit dem 19. Jahrhundert bekannt.¹⁷ Nichts-
13 Zit. nach: Vasari, Giorgio (2004), Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien. Neu übersetzt von Victoria Lorini, hg., eingeleitet u. kommentiert v. Matteo Burioni u. Sabine Feser, Berlin, S. 96–97. 14 Vgl. Barkan 1999, S. 109f. 15 Vgl. Steuben 1990. 16 Zum pythagoräischen Kontext, in dem Polyklet sein Ideal entwickelte vgl. Stewart 1990, S. 160f. 17 Vgl. C. Plinius Secundus d.Ä. (1989), Naturkunde. Lateinisch-Deutsch. Buch XXXIV, hg. u. übers. v. Roderich König in Zusammenarbeit mit Karl Bayer, Darmstadt, S. 47: „Auch fertigte er eine Statue, welche die Künstler als Kanon bezeichnen; und aus diesem Kanon leiten sie die Grundregeln der Kunst wie aus einer Art Gesetz ab; er allein ist es unter den Menschen, dem zuerkannt wird, die Kunst als solche durch ein Kunstwerk offenbart zu haben.“ Zur
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destoweniger teilen die Werke des Belvedere mit Polyklets Kanon auffällige Merkmale, die für die Kunst des 16. Jahrhunderts maßgeblich wurden. Von tierischer Behaarung restlos befreit, führen sie das Potential der – zumeist männlichen – Anatomie vor Augen, alle Effekte der Muskeltätigkeit sichtbar zu machen, um so einen zu großen Taten fähigen Körper zu beschreiben. Ihre makellose Marmoroberfläche suggeriert zudem eine Körperlichkeit, die von biologischen Prozessen wie Altern, Stoffwechsel oder Sexualität unberührt scheint.¹⁸ So bietet der Kanon nicht nur Modelle, an denen sich andere Künstler schulen können, sondern er etabliert darüber hinaus eine Vorstellung vom menschlichen Körper, in der die Kontingenz individueller Existenz transzendiert wird. Es ist schwer zu beurteilen, inwieweit der Belvedere-Kanon von Julius II. und seinen Nachfolgern gezielt und programmatisch verbreitet wurde. Ganz zweifellos jedoch war Julius II. darum bemüht, seinen Namen mit großer Kunst verbunden zu wissen. Seine hohen Gebote für frisch ausgegrabene Statuen wie den Hercules Commodus und sein Engagement namhafter Künstler wie Raffael und Michelangelo zur künstlerischen Dekoration des Vatikans lassen keinen anderen Schluss zu.¹⁹ Und auch Leo X., Hadrian VI., Clemens VII. und Paul III. trafen Entscheidungen, die gewiss zur Verbreitung der antiken Vision vom idealen menschlichen Körper in ganz Europa beitrugen. Als der Kanon Nordeuropa erreichte, sollte sich seine Autorität jedoch nicht allein aus dem Ort seiner Aufstellung – dem päpstlichen Belvedere – speisen, sondern auch aus der Aufwertung, die er im Prozess seiner künstlerischen Rezeption wie auch seiner medialen Reproduktion erfahren hatte. Anfänglich wurde der päpstliche Kanon nur einem engen Kreis von Künstlern und Herrschern bekannt gemacht. So wurden gleich nach der Aufstellung der
Identifizierung mehrerer kaiserzeitlicher Kopien mit dem Doryphoros durch den Archäologen Karl Friedrich im Jahr 1862, vgl. Schneider 1990, S. 480. 18 Vgl. diesbezüglich Bachtin 1987, S. 79, der hier v.a. einen Gegensatz zur grotesken Körperkonzeption der Volkskultur erkennt: „Die neuen Kanons sehen den Körper völlig anders, in anderen Aspekten seines Lebens und in völlig anderer Beziehung zur äußeren (außerkörperlichen) Welt. Für sie ist der Körper vor allem streng abgeschlossen und fertig, er ist ein einsamer, einzelner, von anderen abgegrenzter und geschlossener Körper. Daher sind alle Kennzeichen von Unfertigkeit, Wachstum und Vermehrung entfernt: Auswüchse und Verzweigungen verschwinden, Wölbungen (die an Triebe und Knospen erinnern) werden geglättet, alle Öffnungen verstopft. Die ewige Unfertigkeit des Körpers wird quasi verheimlicht, Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt und Todeskampf kommen in der Regel nicht vor. Das bevorzugte Alter ist das am weitesten von Mutterleib und Grab, also von den Grenzen individuellen Lebens, entfernte. Der Akzent liegt auf der vollständigen, autonomen Individualität des Körpers.“ 19 Haskell/Penny 2010, S. 188f.
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ersten Skulpturen im Hof des Belvederes einige Werke in Bronze gegossen und als Geschenke an Freunde des Papstes übergeben.²⁰ Studienblätter von Künstlern wie Amico Aspertini, Nicoletto da Modena, Leonardo da Vinci (Codex Atlanticus), Giulio Romano, Giovanni Antonio da Brescia, Andrea del Sarto, Baccio Bandinelli, Parmigianino und Tommaso da’ Cavalieri belegen zudem, dass das Zeichnen vor den Antiken des Belvederes in Rom offenbar eine verbreitete Übung darstellte – wenngleich uns heute die meisten Blätter wohl verloren sind.²¹ Neben den Zeichnungen und Skizzenbüchern waren es im 16. Jahrhundert dann vor allem druckgraphische Reproduktionen, die das Belvedere-Ideal über die Grenzen Roms hinaustrugen: Marcantonio Raimondi, Agostino Veneziano und Marco Dente fertigten zahlreiche Stiche nach den Meisterwerken der Sammlung.²² Alle drei Stecher waren zudem eng mit der Raffael-Werkstatt verbunden und führten darüber hinaus auch Stiche nach den Werken Michelangelos aus. Mit den Reproduktionsstichen ging zwar die privilegierte und exklusive Intimität der Verbreitung verloren, doch wurde dafür ein viel größeres Publikum für die Werke gewonnen, da die Blätter Raimondis, Venezianos und Dentes in ganz Europa erhältlich waren. Und mitunter – wie im Laokoon-Stich Marco Dentes (Abb. 1) – wird sogar durch eine Inschrift der Aufstellungsort der Skulpturengruppe benannt: „ROMAE. IN PALATIO. PONT. IN. LOCO. QVI. VVLGO. DICITVR. BELVEDERE.“²³ Eine weitere Form der Verbreitung des Kanons erfolgte eher indirekt, dafür aber umso erfolgreicher und nachhaltiger: durch das Werk Michelangelos. Michelangelo, der bekanntermaßen bei der spektakulären Ausgrabung der Laokoon-Gruppe im Jahre 1506 anwesend war, zeigte sich von der Formensprache der hellenistischen Skulptur zutiefst beeindruckt und adaptierte deren anatomisches Vokabular angespannter Muskulatur für die Entwicklung seiner eigenen künstlerischen Handschrift.²⁴ Über Jahrzehnte hinweg sollte sich Michelangelo bei der Ausführung päpstlicher Monumentalkunst – sei es das Grabmal für Julius II., die Decke der Sixtinischen Kapelle oder das Jüngste Gericht – direkt und indi-
20 Vgl. hierzu Brummer 1970, S. 58f., 102, 127f., 141, 149, 151f. König Franz I. von Frankreich, der jahrelang vergeblich auf eine Kopie der Laokoon-Gruppe gewartet hatte, ließ im Jahre 1540 seinen Hofkünstler Francesco Primaticcio Gipsabgüsse der Skulpturen des Belvederes und anderer römischer Sammlungen anfertigen, um damit sein Schloss in Fontainebleau zu dekorieren. Vgl. hierzu Haskell/Penny 2010, S. 2 21 Bober/Rubinstein 2010, S. 67, 77, 113f., 126, 166ff., 181, 183, 188. Reproduktionen einiger dieser Zeichnungen finden sich in Brummer 1970. 22 Zu diesen drei Stechern vgl. Shoemaker 1981. 23 Ebd., Nr. 66, S. 192f. 24 Vgl. Barkan 1999, S. 15.
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Abb. 1: Marco Dente, Laokoon-Gruppe, Kupferstich, um 1510.
rekt immer wieder auf den Laokoon und die übrigen Skulpturen des Belvedere beziehen. So machte er die päpstlichen Antiken zum Maßstab auch für andere Künstler, die sich an seinem Vorbild zu schulen gedachten. Auch dies geschah zum einen vor Ort in Rom, wo Künstler die Sixtinische Kapelle zum Studium der Fresken Michelangelos aufsuchten, und zum anderen mittels Reproduktionsgrafiken, die von etwa 1508 an von den meisten Werken Michelangelos angefertigt wurden.²⁵ Bereits unter den ersten Stichen, die Marcantonio Raimondi um 1510 nach Motiven Michelangelos fertigte, sind auch einige Figuren aus den im Entstehen begriffenen Deckenfresken der Sixtina.²⁶ Doch erst nach der Fertigstellung
25 Vgl. Barnes 2010. Auch wenn Michelangelo sich – anders als etwa Raffael – nicht persönlich um die druckgraphische Vervielfältigung seiner Werke bemühte, fanden doch die meisten seiner Werke in Form von Reproduktionsstichen weite Verbreitung. 26 Barnes 2010, S. 21f.
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des Jüngsten Gerichts im Jahr 1541 kam es zu einer wahren Welle druckgraphischer Reproduktionen nach Michelangelos Bildprogramm der Papstkapelle – inklusive der Deckenbemalung.²⁷ Vor allem jedoch das Gerichtsfresko selbst wurde seit Mitte der 1540er Jahre immer wieder in großen Mehrplattendrucken sowie in Einblattdrucken vervielfältigt.²⁸ Und auf den meisten dieser Stiche ist der Hinweis auf den Bildautor verbunden mit dem Hinweis auf den ursprünglichen Ort der Bilder: „Michael Angelus pinxit In Vaticano“.²⁹ Wer immer sich also im Europa des 16. Jahrhunderts anhand von Druckgraphik ein Bild von der Kunst Michelangelos machen wollte, kam nicht umhin, diese als die Kunst des Papstes wahrzunehmen.
2 Der Kanon wandert Der Belvederesche Kanon und die Figuren Michelangelos wurden in den Niederlanden zunächst begeistert aufgenommen. Bereits im Werk Jan Gossaerts, des ersten Italienfahrers unter den niederländischen Künstlern des 16. Jahrhunderts, lassen sich etliche Spuren der vatikanischen Werke ausmachen. Gossaert war 1508/09 im Gefolge Philipps von Burgund nach Rom gereist und hatte dort im Auftrag seines Dienstherrn architektonische Monumente und Bildwerke der Antike zeichnerisch festgehalten.³⁰ Der zweite Niederländer, der aktiv den Import italienischer Körperbilder in die Niederlande betrieb, war Jan van Scorel.³¹ Karel van Mander bezeichnet ihn in seinem Schilder-Boeck von 1604 deshalb als „Lichtbringer und Wegebauer der Malerei in den Niederlanden“.³² Scorel war 1519 über Nürnberg und Venedig nach Jerusalem gepilgert und im Anschluss daran nach Rom gereist. Dort wurde
27 Ebd., S. 29ff. 28 Ebd., S. 99ff. 29 So – exemplarisch – die Inschrift auf Giulio Bonasones Stich nach Michelangelos Darstellung von Judith und Holofernes in einem der Deckenzwickel. Abb. bei Barnes 2010, S. 31. 30 Vgl. hierzu Schrader 2010. Vgl. auch Mensger 2002, S. 149ff. (zu Gossaerts Auseinandersetzung mit dem Torso Belvedere). 31 Eine aktuelle Monographie zu Jan van Scorel steht aus. Die unpublizierte Dissertation von Molly Faries aus dem Jahr 1972 war uns bei der Abfassung leider nicht zugänglich. Ihre wichtigsten Ergebnisse hat Faries jedoch im Rahmen des folgenden Ausstellungskatalogs veröffentlicht: Filedt Kok 1986, S. 179–190. 32 Van Mander, Carel (2000), Das Leben der niederländischen und deutschen Maler (von 1400 bis ca. 1615). Übersetzung nach der Ausgabe von 1617 u. Anmerkungen v. Hanns Floerke, Wiesbaden, S. 158.
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er 1522 vom soeben neugewählten Papst, seinem niederländischen Landsmann Hadrian VI., zum Konservator der vatikanischen Kunstsammlungen ernannt – eine Position, die zuvor Raffael innegehabt hatte. Scorel war also unmittelbar für die Verwaltung des päpstlichen Kanons zuständig und logierte auch in päpstlichen Gemächern.³³ Dass er – wie van Mander erwähnt – neben den Antiken des Belvederes in Rom auch die Werke Raffaels und Michelangelos aufmerksam studiert hat, versteht sich gewissermaßen von selbst.³⁴ Vermutlich war es der frühe Tod Hadrians im September 1523, der Scorel dazu veranlasste, bereits im Sommer des Folgejahres in seine Heimatstadt Utrecht zurückzukehren, wo er als Kanoniker in das Kathedralkapitel eintrat, dem er bis zu seinem Lebensende (1562) angehören sollte.³⁵
Abb. 2: Jan van Scorel, Taufe Christi im Jordan, um 1530, Öl auf Holz, Frans Hals Museum, Haarlem.
33 Vgl. De Meyere 1981, S. 12. 34 Van Mander 2000, S. 162. 35 Faries 1970, S. 3–24.
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Der nachhaltige Eindruck, den die Kunst des Vatikans auf ihn ausübte, ist bereits in den ersten Werken nach seiner Rückkehr auszumachen. Zunächst ist ein AltarTriptychon zu nennen, das er um 1526 im Auftrag von Herman van Lokhorst, seines Zeichens Dekan des Utrechter Doms, gemalt hat.³⁶ Dessen Sohn Willem hatte in Rom zeitgleich mit Scorel in päpstlichen Diensten gestanden, und vermutlich sind die beiden gemeinsam nach Utrecht zurückgereist. Die Mitteltafel des Triptychons, das wohl für das Familiengrab der Lokhorsts im Utrechter Dom bestimmt war, zeigt den Einzug Christi nach Jerusalem und ist in der kompositionellen Anlage des Bildraums unverkennbar an Michelangelos Sintflut-Fresko aus der Sixtinischen Kapelle sowie an Raffaels Landschaften aus den Loggien orientiert – eine Reminiszenz, die sein Auftraggeber, der wie sein Sohn selbst ebenfalls in Italien gewesen war, sicher zu schätzen wusste. Ein weiteres wichtiges Werk dieser Jahre ist die Taufe Christi im Jordan (Abb. 2), die zwischen 1527 und 1530 während Scorels Aufenthalt in Haarlem entstanden ist.³⁷ In Auftrag gegeben wurde sie vermutlich von Symon Saen, dem Vorsteher der örtlichen Johanniter-Bruderschaft, die vor allem der Jerusalem-Wallfahrt gewidmet war. Auch bei dieser Tafel hat Scorel systematisch und programmatisch auf italienische Vorbilder zurückgegriffen. So lassen sich die Posen einiger Täuflinge auf Michelangelos Cascinaschlacht sowie auf den antiken Typus der Venus Anadyomene zurückführen, während Christus selbst mit seinem muskulösen Oberkörper in leicht gebeugter Sitzhaltung an den Torso Belvedere erinnert.³⁸ Scorel ist ganz offenkundig bemüht, seine römischen Kunsterfahrungen für die Bildformate seiner niederländischen Heimat fruchtbar zu machen und etwa Aktdarstellungen in eine weite Landschaft zu integrieren. Zudem hat er es scheinbar auf eine bildliche Heiligung des ursprünglich heidnischen Figurenrepertoires abgesehen. Das Sujet der Taufe ist insofern nicht nur als Huldigung an den Patron des Johanniter-Ordens zu begreifen, sondern auch als Medium einer spirituellen Transformation der antikischen Aktdarstellung: aus einstmals paganen Götterstatuen werden getaufte, christliche Leiber. Hatte sich der Import des Belvedere-Kanons bei Gossaert noch im Rahmen eines habsburgisch-höfischen Kontexts vollzogen, so bilden bei Scorel in erster Linie klerikale Institutionen den Rahmen für seine programmatische Aneignung
36 Filedt Kok 1986, Nr. 61, S. 180ff.; De Meyere 1981, S. 41ff. 37 Filedt Kok 1986, Nr. 62, S. 183f. 38 Den Bezug zur Cascina-Schlacht stellt bereits Faries heraus, Filedt Kok 1986, S. 183f. Statt der Venus Anadyomene schlägt sie die Figur der Kauernden Venus vor, doch fehlt bei dieser das Auswringen/Kämmen des Haars, wie es etwa im Stich Raimondis von 1506 gezeigt ist. Vgl. Shoemaker 1981, Nr. 9, S. 68f.
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vatikanischer Formvorgaben: Gerade seine in Jerusalem und Rom geknüpften Netzwerke waren es, die ihm nach seiner Heimkehr die wichtigsten Aufträge verschafften. Das italienisch-antikische Idiom wurde demnach keineswegs als neutrale neue Darstellungsform in die Niederlande eingeführt, sondern unter dezidiert katholisch-päpstlichen Vorzeichen. Und es wurde – wie gerade das Beispiel von Scorels Taufe Christi zeigt – nicht zuletzt dafür genutzt, der in der reformatorischen Kritik bisweilen bestrittenen Körperlichkeit kirchlicher Rituale eine neue ästhetische Evidenz zu verschaffen. Diese Tendenz ist auch bei Jan van Hemessen und Maarten van Heemskerck festzustellen, die sich beide intensiv mit den päpstlichen Antiken – vor allem mit dem Laokoon und dem Torso Belvedere – auseinandersetzten und deren Formpotential für Themen der christlichen Ikonographie zu nutzen wussten.³⁹ In den hier genannten Fällen der Anverwandlung kanonischer Vorbilder kommt es jeweils zu einer gegenseitigen Nobilitierung von Sujet und Idiom. Denn es ist keineswegs so, dass das demonstrative Zitat gegenüber dem Erzählinhalt des Bildes einen gänzlich autonomen Eigenwert für sich beanspruchen würde. Vielmehr steht es – auch und gerade in seiner forcierten Kunsthaftigkeit – im Dienste des dargestellten Themas, sodass beide eine unauflösliche Einheit zu beiderseitigem Vorteil bilden: Nicht nur die klassischen Körper profitieren von der Heiligkeit des jeweils dargestellten Ereignisses, sondern dieses selbst zehrt in seiner sakralen Würde ganz wesentlich von der Dignität der gewählten Vorbilder. Genau in dieser Reziprozität sakraler und künstlerischer Beglaubigung zeigt sich die gelingende Kanonbildung: Wenn das Vorbild die Nobilität des Sujets steigert, kann dieses schließlich umso glanzvoller auf jenes zurückstrahlen. Begünstigt wird diese Reziprozität durch den Umstand, dass der künstlerische Kanon selbst einen – wenn auch fingierten – sakralen Ursprung hat: Nur dadurch, dass der Papst sich die bedeutendsten Antiken einverleibt hatte, konnte der Belvedere-Kanon so erfolgreich und unmissverständlich als „heiligendes Prinzip“ (J. Assmann) klassizistischer und orthodox-katholischer Kunstpraxis dienen. Dabei ist hervorzuheben, dass die Kanonisierung keineswegs nur „die Erfüllung oder Einlösung einer im Werk selbst durch Formstrenge und Regelbindung angelegten Potenz“⁴⁰ darstellt. Vielmehr dürfte deutlich geworden sein, dass die
39 Heemskerck hielt sich von 1532 bis 1536 in Rom auf und zeichnete dort mit offenkundiger Begeisterung die antiken Skultpturen und Monumente. Vgl. Hülsen 1913–1916. Für Hemessen lässt sich eine Italienreise nicht nachweisen, doch hat er sich gewiss an den in den Niederlanden kursierenden Zeichnungen und Stichen nach den Belvedere-Statuen geschult. Vgl. hierzu Walllen 1983, v.a. S. 37–45. 40 Assmann 1997, S. 108.
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Statuen des Belvedere – jenseits ihrer Formqualitäten – durch eine ganze Reihe institutioneller Maßnahmen als maßgebliche Kunstwerke propagiert und durchgesetzt wurden. Die Autorität des Belvedere-Kanons ist nicht allein ästhetisch fundiert, sondern vor allem auch auf kirchliche Macht gegründet.
3 Der Kanon in der Kritik Es ist davon auszugehen, dass den niederländischen Zeitgenossen – namentlich den Künstlern und den Kennern – die religionspolitische Aufladung des neuen Körperbildes bewusst war. Und zugleich ist anzunehmen, dass keineswegs alle niederländischen Künstler mit dem römischen Kunstdiktat einverstanden waren. Wie Jürgen Müller zeigen konnte, hatte bereits Dürer sein Tanzendes Bauernpaar von 1514 als spöttischen Bildkommentar zur Laokoon-Gruppe konzipiert.⁴¹ Und seit Dürers Besuch in Antwerpen (1520) lässt sich eine solche ironisch-subversive Auseinandersetzung mit berühmten italienischen und antiken Vorbildern auch unter niederländischen Künstlern nachweisen.⁴² Dass seit den frühen 1520er Jahren in den Niederlanden auch reformatorisches Gedankengut weite Verbreitung fand, dürfte die Skepsis gegenüber Produkten aus dem Vatikan zusätzlich befeuert haben.⁴³ Gespeist aus dem Widerstand gegen die kulturelle und religiöse Hegemonie Italiens, konnte sich innerhalb weniger Jahre ein ironischer Bilddiskurs ausbilden, dem es vor allem darum zu tun war, gerade die kanonischen Werke des Vatikans und der vatikanischen Hauptkünstler in ein kritisches Licht zu setzen.⁴⁴ Und so dürfte auch die Hinwendung zahlreicher niederländischer Künstler zu ‚niederen‘ Themen wie Landschaften, Bauern-, Bettler- und Bordelldarstellungen oder Markt- und Küchenstücken nicht nur als Effekt eines sich langsam ausdifferenzierenden Kunstmarktes zu verstehen sein, sondern darüber hinaus auch im Sinne der Formierung eines bildlichen Gegendiskurses zur offiziellen päpstlichen Kunstoffensive, die bereits vor dem Tridentinum die ästhe-
41 Müller 2011, S. 393f. Müller weist auch darauf hin, welch üblen Ruf Julius II. in Nordeuropa hatte: Er galt als machtbesessener, blutrünstiger Heide, der sich wie ein römischer Imperator und nicht wie das spirituelle Haupt der Christenheit in Szene setzte. 42 Ebd., S. 396ff. (Dirck Vellert), 405f. (Jan van Amstel), 407ff. (Pieter Bruegel); vgl. auch Müller 2005. 43 Vgl. Decavele 1986. 44 Müller 2011, S. 400f., weist darauf hin, dass bereits Luther in seinem Adelsbrief von 1520 darüber klagt, dass das Ablassgeld deutscher Christen vom Papst u.a. für den Aufbau der Kunstsammlung des Belvedere missbraucht würde.
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tische Macht der Bilder trefflich zu nutzen wusste. All die genannten ‚niederen‘ Themen zeichnen sich nämlich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie ein antagonistisches Verhältnis zur idealisierenden Aktdarstellung einnehmen. Hier wird der Körper marginalisiert (Landschaftsmalerei – meist mit religiöser Staffage), verunstaltet (Bettlerdarstellungen) oder in seiner kruden Kreatürlichkeit (Bauerndarstellungen) wie in seiner fleischlichen Begierlichkeit (Markt-, Küchen- und Bordellszenen) präsentiert. Vermieden wird in diesen Bildern – wenn auch meist nur implizit – die idealisierende, dem antiken Kanon verpflichtete Aktdarstellung. Mitunter kommt es jedoch – wie etwa bei Dürers Tanzendem Bauernpaar – zu verkehrenden Motivübernahmen, die sich ganz explizit mit einem konkreten und benennbaren klassischen Modell in kritischer Absicht auseinandersetzen. Einem solchen Fall wollen wir uns nun zuwenden.
Abb. 3: Pieter van der Heyden nach Pieter Bruegel d.Ä.: Aestas/Der Sommer, 1570, Kupferstich.
Der Kupferstich mit dem Titel Aestas (Sommer), den Pieter van der Heyden 1570 nach einer Zeichnung Pieter Bruegels d.Ä. aus dem Jahr 1568 angefertigt hat, mag zunächst als simple Bauernszene erscheinen (Abb. 3), gibt sich jedoch bei näherer Betrachtung als überaus kritische Auseinandersetzung mit Michelangelos Jüngs-
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tem Gericht zu erkennen.⁴⁵ Das Blatt zeigt eine sommerliche Erntelandschaft, die im Vordergrund von zwei monumentalen Bauernfiguren beherrscht wird. Besonders mächtig wirkt der muskulöse Schnitter rechts, der sich zum Trinken in die Hocke begeben bzw. auf einen Ährenbündel gesetzt hat. Mit in den Nacken geworfenem Kopf stürzt er sich aus einem großen runden Tonkrug das Wasser steil in seinen Rachen. Sein vorgestrecktes Bein dringt kraftvoll in den Betrachterraum vor – eine Läsion der ästhetischen Grenze, die vom scharfen Sensenblatt in ihrer Aggressivität nochmals unterstrichen wird. Im gespreizten Schritt des Mannes prangt denn auch eine massive Schamkapsel, die an phallischer Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Doch so vulgär dieser Bauer auch im ersten Moment wirken mag – er lässt sich durchaus auf ein klassisches Vorbild zurückführen. Karl von Tolnai sah in ihm eine „sehr kuriose Karikatur des LaokoonMotives“,⁴⁶ und Carl Gustaf Stridbeck erkannte den Einfluss Michelangelos, obgleich er ein direktes Vorbild für „nicht nachweisbar“ hielt.⁴⁷ So wurde bislang übersehen, dass die Figur auf einen berühmten Auferstandenen aus dem Jüngsten Gericht (Abb. 4) zurückgeht. Dies zeigt sich vor allem an Oberkörper und Armhaltung wie auch am in den Nacken gelegten Kopf und dem daraus resultierenden Verschwinden des Gesichts hinter den zugleich erhobenen und eingewinkelten Armen. Dass es sich hierbei keineswegs um eine zufällige formale Koinzidenz, sondern um ein gezieltes Zitat handelt, belegt der arbeitende Schnitter am linken Bildrand, der ebenfalls dem Jüngsten Gericht (Abb. 5) entlehnt ist, wobei diesmal die Rückenfigur des Hl. Andreas, links neben der Muttergottes, das Vorbild ist. Wie der Heilige macht auch der Sensenmann einen Schritt nach vorn und lässt dabei das rechte Bein locker nach hinten ausschwingen. Zudem haben beide Figuren in gleicher Weise die linke Schulter nach vorne gedreht, so dass ihr rechter Ellbogen nach hinten stößt. Die Bezugnahme auf Michelangelo ist somit nicht von der Hand zu weisen. Allerdings hat Bruegel signifikante Veränderungen vorgenommen und aus dem Hl. Andreas einen fleißigen wie aus
45 Das Blatt ist Teil eines von Bruegel nicht vollendeten graphischen Jahreszeiten-Zyklus. 1565 zeichnete er den Frühling und 1568 den Sommer. Herbst und Winter wurden 1569, vermutlich nach Bruegels Tod, von Hans Bol entworfen, und 1570 wurde die ganze Serie schließlich von Hieronymus Cock in den Druck gegeben. Vgl. Kaulbach/Schleier 1997, S. 120ff. Hier wird Bruegels Bildkonzept überzeugend als „geradezu ein Konkurrenzmodell“ (S. 120) zu einem allegorischen Jahreszeiten-Zyklus Maarten van Heemskercks gedeutet, in dem zwei der jeweiligen Personifikationen der Jahreszeiten den Apoll von Belvedere zitieren. Zu diesem Aspekt des Bruegelschen Blattes vgl. auch Kaschek 2012, S. 91–98. Zu Bruegels ästhetischer Opposition zum Romanismus vgl. Kaschek 2009. 46 Tolnai 1934, S. 129. 47 Stridbeck 1957, S. 287.
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Abb. 4: Michelangelo: Auferstandener, Detail aus dem Jüngsten Gericht, 1541, Fresko, Sixtinische Kapelle, Vatikan.
dem Himmelsaspiranten einen durstigen Landarbeiter gemacht. Vor allem in letzterem Fall ist die Verkehrung besonders krass: Das Ringen um den Aufstieg in himmlische Gefilde hat sich hier in eine äußerst robuste Haltung zur Befriedigung irdischer Bedürfnisse verwandelt. So darf man annehmen, dass es Bruegel nicht um die formale Adelung seiner Landarbeiter zu tun ist, sondern um die Infragestellung des michelangelesken Figurenideals. Schließlich wird hier eine bildliche Würdeformel durch einen ihr nicht entsprechenden Erzählinhalt tendenziell entwertet.⁴⁸
48 Zu dieser Verfahrensweise vgl. Müller 1999, S. 82–89.
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Abb. 5: Michelangelo: Hl. Andreas, Detail aus dem Jüngsten Gericht, 1541, Fresko, Sixtinische Kapelle, Vatikan.
Es stellt sich nun die Frage, wie dieses inverse Zitat genauer zu verstehen ist. Warum hat Bruegel hierfür das Jüngste Gericht gewählt? Und warum genau jene Figur des in den Himmel Auffahrenden? Wie zuvor erwähnt, führte die öffentliche Enthüllung von Michelangelos Jüngstem Gericht am 31. Oktober 1541 in den Folgejahren zu einer Vielzahl druckgraphischer Reproduktionen, die das Werk europaweit berühmt machen sollten. Bereits Asciano Condivi vermerkt in seiner Michelangelo-Vita von 1553, es sei nicht nötig, die Komposition lange zu beschreiben, „da davon so viele Zeichnungen gedruckt und überall hingeschickt worden sind.“⁴⁹ Der Hinweis auf den Ort des Freskos ist bei diesen Stichen nahezu obligatorisch, wie sich bereits am ersten Blatt, auf dem die gesamte Komposition zu
49 Condivi, Asciano (1970 [1874]), Das Leben des Michelangelo Buonarroti, hg. u. übers. v. Rudolph Valdek, Osnabrück [Wien], S. 69.
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sehen ist, zeigt: Giulio Bonasones um 1546 zu datierender Kupferstich trägt ein päpstliches Privileg sowie den Schriftzug „[…] Michaelis Angeli pictura quae est in Vaticano […]“.⁵⁰ Doch auch genuin literarische Reaktionen trugen zum Ruhm des Werkes wie auch zum Bewusstsein seiner Anbringung in der päpstlichen Kapelle bei. Zum einen entfachte das Jüngste Gericht in Italien eine kontroverse Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen religiöser Malerei im Kirchenraum, in der vor allem die exzessive Nacktheit des Himmelspersonals kritisiert wurde, was im Zuge des Konzils von Trient schließlich zur Übermalung zahlreicher vermeintlich anstößiger Details (v.a. Geschlechtsteile) durch den „braghettone“ (Höschenmaler) Daniele da Volterra im Jahre 1564 führen sollte.⁵¹ Zum anderen jedoch wurde das Werk von einflussreichen Kunstschriftstellern wie Condivi und vor allem Vasari als Höhepunkt der abendländischen Kunstgeschichte geradezu in den Himmel geschrieben. In der ersten Ausgabe von Vasaris berühmten Vite (1550), der sogenannten Torrentiniana, bildet nicht nur die Vita des Michelangelo den Abschluss der gesamten Vitensammlung, sondern dessen Lebensbeschreibung selbst mündet abschließend in eine emphatische Würdigung des Jüngsten Gerichts, das damit in geradezu eschatologischer Manier zum End- und Zielpunkt der Kunstgeschichte stilisiert wird.⁵² Vasari behauptet dort, Michelangelo habe mit seinem Fresko nicht nur alle vorherigen Meister, sondern auch sich selbst übertroffen, „indem er die Schrecknisse jener Tage versinnlichte“.⁵³ Dabei habe er „mannigfaltige und schwierige Bewegungen“ ⁵⁴ mit Leichtigkeit dargestellt und in der Menge der Figuren „alle möglichen menschlichen Leidenschaften bewunderungswürdig […] ausgedrückt“.⁵⁵ So empfiehlt Vasari das Jüngste Gericht allen nachfolgenden Künstlern zur Nachahmung und lässt seinen Lobpreis schließlich in folgendem Ausruf kulminieren:
50 Vgl. Barnes 2010, S. 106ff. 51 Einen Abriss der Debatte mit zahlreichen Quellen bietet Chastel 1983, S. 188–207. Vgl. auch Barnes 1998. 52 Vgl. Blum 2010. 53 Vasari, Giorgio (1996): Das Leben von Lionardo da Vinci, Raffael von Urbino und Michelagnolo Buonarroti, hg. v. Roland Kanz, Stuttgart, S. 184. Wir zitieren die MichelangeloVita hier nach dieser leicht zugänglichen Reclam-Ausgabe, die der ersten deutschen Gesamtübersetzung der Vite von Adeline Seebeck in der Ausgabe von Ludwig Schorn und Ernst Förster (1832–49) folgt. Hier ist die Lebensbeschreibung Michelangelos freilich in der Fassung von 1568 wiedergegeben, doch haben wir nur jene Passagen zitiert, die auch in der Torrentiniana von 1550 enthalten sind. Einen hilfreichen kritischen Apparat bietet die Ausgabe im Wagenbach Verlag, vgl. Vasari 2009. 54 Vasari 1996, S. 184f. 55 Ebd., S. 186.
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„Dies Werk ist für unsere Kunst das Zeugnis, das Gott den Menschen gegeben hat, damit sie sehen wie das Schicksal wirkt, wenn Geister erster Größe auf die Erde herab kommen und Anmut und göttliches Wissen als ihnen einwohnend mitbringen. […] Glückselig und gesegnet bist Du o dritter Paul, da Gott zugelassen hat, daß unter Deinem Schutze der Ruhm sich verbreitete, welchen die Federn der Schriftsteller Dir und ihm bewahren werden! Wie sehr sind Deine Verdienste durch seine Kunst erhöht worden.“⁵⁶
Die Zitate machen deutlich, welche Herausforderung, aber auch welches Provokationspotential Michelangelos Jüngstes Gericht nach der Jahrhundertmitte für die niederländische Künstlerschaft verkörpert haben muss. Vor allem der explizite Hinweis auf die Verherrlichung des Papstes dürfte Anstoß erregt haben. Aber auch das implizite Kunstideal bot Reibungspunkte. Nach Vasari kommt die Kunst im Jüngsten Gericht gewissermaßen zu sich selbst, da sich hier ihre wahre Bestimmung – nämlich die Verklärung des menschlichen Körpers – in der Darstellung der letzten Dinge ganz erfüllt. Erneut konvergiert also der künstlerische mit dem doktrinären Gehalt des Werkes. Dass die Verklärung der Körper auf gestalterischer Ebene durch ihre Überformung nach Maßgabe des Belvedere-Kanons bewerkstelligt wird, bleibt an dieser Stelle unausgesprochen, ist aber visuell evident und Vasari vollauf bewusst: Wie bereits bei der Ausmalung der Sixtinischen Decke (1508–12) ist auch das Figurenideal des Jüngsten Gerichts an der muskulösen Erhabenheit des Laokoon ausgerichtet.⁵⁷ So vollzieht sich mit dem Fresko an der Kopfwand der Sixtinischen Kapelle, die zu diesem Zeitpunkt das liturgische Zentrum der Christenheit bildete,⁵⁸ die Apotheose des päpstlichen Kanons. Wie wir aus einem Brief des Humanisten Domenicus Lampsonius wissen, wurde Vasari in den 1560er Jahren in den Niederlanden aufmerksam gelesen, und in den dortigen Künstlerkreisen wurden seine Thesen sicher auch lebhaft diskutiert.⁵⁹ Wir dürfen also davon ausgehen, dass Bruegel sich mit seinem SommerBlatt nicht allein auf das Jüngste Gericht selbst, sondern auch auf dessen literarischen Nachruhm bezieht und kritisch auf Vasaris Thesen reagiert. Womöglich ist seine Vorzeichnung sogar aus Anlass der Neuauflage der Vite (1568) entstanden, in der Vasari noch deutlicher die Darstellung des nackten menschlichen Körpers in einer „großen Manier“ zur „Hauptaufgabe“ der Kunst erklärt und zudem an
56 Ebd., S. 187. 57 Die zentrale Figur des richtenden Christus ist gewissermaßen als laokoonesker Apoll gestaltet, was von Zeitgenossen durchaus wahrgenommen wurde. So hat etwa der Literat Anton Francesco Doni das Fresko ausdrücklich durch den Vergleich mit dem Laokoon und dem Apoll von Belvedere gegen Kritiker zu verteidigen gesucht. Vgl. hierzu Vasari 2009, S. 353. 58 Vgl. Rohlmann 2000, S. 224. 59 Vgl. Melion 1991, S. 130.
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anderer Stelle vermerkt, bei Michelangelo finde man vermutlich deshalb keine Landschaften, „weil sein hoher Geist sich nicht zu solchen Dingen herablassen wollte.“⁶⁰ Bruegels Sommer ist eine indirekte, aber harsche Kampfansage an Michelangelos und Vasaris päpstliche Kunstmetaphysik. Anstelle eines singulären eschatologischen Großereignisses wird die alljährlich wiederkehrende Kornernte vergegenwärtigt. Die Körper dürfen nicht in himmlische Sphären entschweben, sondern sie bleiben erdenschwer an die diesseitige Welt der Jahreszeiten gebunden. So sind die Figuren in all ihrer Monumentalität letztlich der Landschaft untergeordnet. Folglich werden auch keine Akte gezeigt, deren kunstvolle Posen die Würde des menschlichen Körpers vorführen könnten, sondern Leiber in Aktion, deren mitunter unvorteilhafte Verkürzungen aus gewöhnlichen Arbeitsabläufen resultieren. In geradezu emblematischer Verdichtung führt schließlich der trinkende Schnitter vor Augen, dass selbst die erhabenste Körperhaltung dem einfachsten körperlichen Bedürfnis entspringen kann – womit jene Stoffwechselprozesse in den Blick geraten, die in der idealistischen Ästhetik des Kanons ja gerade ausgeblendet oder zumindest sublimiert werden sollten. In diesem Zusammenhang ist auch auf die prominent präsentierte Schamkapsel des Schnitters hinzuweisen, in der man durchaus eine scherzhafte Anspielung auf die Debatte um die Unziemlichkeit von Michelangelos Fresko erkennen kann. So zitiert etwa Vasari in der zweiten Ausgabe der Vite den Zeremonienmeister Biagio von Cesena, der meinte, es sei „wider alle Schicklichkeit, an einem heiligen Ort so viele nackte Gestalten zu malen, die aufs unanständigste ihre Blößen zeigten, und daß das kein Werk für die Kapelle des Papstes, sondern für eine Badestube oder Kneipe sei“.⁶¹ Mit der Schamkapsel, die das Geschlecht zwar verdeckt, aber zugleich auch ungemein hervorhebt, setzt Bruegel dieser Diskussion ein ironisches Sahnehäubchen auf. Dass Bruegel diese Zote nun ausgerechnet mit der Figur des Aufschwebenden reißt, ist vielleicht durch deren besonderen Erfolg in den Niederlanden bedingt. Aus der Werkstatt Jan van Scorels stammt ein Heiliger Sebastian (Abb. 6) in einer römischen Ruinenlandschaft, der 1542 datiert ist und dessen nackter Leib geradezu ‚wörtlich‘ genau die Figur zitiert, die Bruegel auch für seinen trinkenden
60 Vasari 1996, S. 182 und 189. Michelangelos Geringschätzung flämischer Landschaftsdarstellungen wird auch in den von Francisco de Hollanda aufgezeichneten Gesprächen kolportiert. Eine leicht zugängliche deutsche Übersetzung findet sich in: Herpel, Fritz (1964), Michelangelo: Von Kunst und Leben. Aus Briefen und Gesprächen, hg. v. dems., Berlin, S. 153–174, hier v.a.: S. 156f. 61 Vasari 1996, S. 183.
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Abb. 6: Jan van Scorel, Werkstatt: Hl. Sebastian, 1542, Öl auf Holz, Museum Boymansvan Beuningen, Rotterdam.
Schnitter verwendet hat.⁶² Bemerkenswert an diesem Zitat ist vor allem sein frühes Datum: nur ein Jahr nach der Enthüllung des Jüngsten Gerichts. Da die ersten bekannten Stiche nach Michelangelos Komposition in die Mitte der 1540er Jahre datieren, muss Scorel exklusiven Zugang zu einer schnell in die Niederlande gebrachten Zeichnung gehabt haben: Auch zwei Jahrzehnte nach seinem Rom-Aufenthalt scheint der Künstler-Kanoniker noch gute Verbindungen in den Vatikan gehabt zu haben. Scorels Entlehnung des Entschwebenden erscheint dem Sujet überaus angemessen, denn schließlich wird auch Sebastian am Ende seines irdischen Leidens in den Kreis der Heiligen des Himmelreiches aufgenommen werden. Zudem ist kaum zu übersehen, wie sehr Michelangelos Figur dem Laokoon verpflichtet ist,
62 Filedt Kok 1986, Nr. 117, S. 237f. Vgl. auch Lammertse 1994, Nr. 74, S. 322–325, mit Angaben zu weiteren niederländischen Applikationen der Figur.
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der zu diesem Zeitpunkt bereits als exemplum doloris, das heißt als besonders nachahmenswertes Modell der Schmerzdarstellung, galt.⁶³ Programmatisch setzt Scorel das Vorbild für eine Martyriumsszene ein, in welcher der Körper des Heiligen in fast skulpturaler Manier dargeboten wird. Damit erweist er sowohl Michelangelo als auch dem antiken Prototyp seine Reverenz. Und wie schon bei der Taufe Christi, so betreibt Scorel auch hier ganz gezielt die Verwandlung ursprünglich heidnischen Formenguts in christlich-katholische Bildsprache, was sich wiederum im Sujet des Bildes nachvollziehen lässt. Denn hier verbürgt ein einstmals heidnischer Soldat seinen wahren Glauben durch das Martyrium, das seinen Körper letztlich in den eines Heiligen transformieren wird. Eine besondere Pointe liegt wohl in dem Umstand, dass es sich beim Heiligen Sebastian um einen radikalen Gegner des heidnischen Götzendienstes handelt, der – folgt man der Legenda aurea – eigenhändig mehr als zweihundert Götzenbilder zerstört hatte und nicht zuletzt deshalb das Martyrium auf sich nehmen musste.⁶⁴ Dass Scorel ausgerechnet diesem Heiligen das körperliche Gepräge der antiken Priesterstatue verpasst, macht nochmals überdeutlich, wie sehr es ihm hier um eine Integration antikischer Formen in katholische Bildkonzepte zu tun ist. Pars pro toto reflektiert er damit nochmals das Gesamtprogramm des Jüngsten Gerichts, das mittels einer monumentalen Feier des antikisch-nackten Körpers zugleich die Auferstehung des Fleisches, die Seligkeit der christlichen Märtyrer und damit auch die Leibgebundenheit kirchlicher Heilsvermittlung beschwört.⁶⁵ Im Vergleich mit Scorels Motivübernahme, bei der das Vorbild nahezu unberührt zu bleiben scheint, wird nochmals deutlich, wie pietätlos Bruegel mit Michelangelo umspringt. Zugleich zeigt sich aber auch Bruegels meisterhafte dissimulatio, vermöge derer die Bezugnahme auf das Jüngste Gericht zunächst verborgen bleiben muss und nur von einem bildlich hinreichend informierten Betrachter erkannt werden kann.⁶⁶ So überbietet Bruegel gewissermaßen die orthodoxen Verehrer Michelangelos durch eine überaus kreative, wenn auch ätzend-kritische Anverwandlung von dessen Figurenideal. Die Konkurrenz der unterschiedlichen Körperbilder artikuliert sich hier im Widerspiel von autoritati-
63 Vgl. Ettlinger 1961. 64 Vgl. de Voragine, Jacobus (1988), Legenda aurea. Lateinisch/Deutsch. Ausgewählt, hg. u. übers. v. Rainer Nickel, Stuttgart, S. 126–139. 65 Wie sehr das Bildprogramm des Jüngsten Gerichts an orthodox-katholischen Vorstellungen ausgerichtet war, um nicht zuletzt auch ein kämpferisches Signal an das reformatorisch gesinnte Nordeuropa zu senden, hat jüngst sehr detailgenau und überzeugend Rolf Quednau dargelegt. Vgl. Quednau 2008. 66 Zum Verfahren des inversen bzw. ironischen Zitierens im Sinne der dissimulatio vgl. Müller 2011.
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ver Setzung (Michelangelo, Scorel) und subversiver Kritik (Bruegel). Während die eine Partei den nackten Körper zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Bild- und Heilskonzepte macht, bestreitet die andere dessen diesbezügliche Relevanz. In dieser idealtypisch präparierten Anordnung ist die erste Partei zweifelsohne als katholisch zu kennzeichnen; die zweite hingegen kann nach dem Gang der von uns vorgetragenen Argumentation nicht ohne weiteres konfessionell festgelegt werden.⁶⁷ So mag es hier genügen, sie als tendenziell reformatorisch zu bezeichnen, womit vor allem die Skepsis gegenüber der orthodox-katholischen Position einer körperlichen, also letztlich sakramentalen Heilsvermittlung gemeint ist. Denn wie sich gezeigt hat, diente der Belvedere-Kanon im 16. Jahrhundert nicht nur der Repräsentation päpstlicher Macht und Würde, sondern auch einer neuen, ästhetischen Beglaubigung der leibgebundenen katholischen Erlösungslehre – ein Anspruch, der von reformatorischer Seite nicht unwidersprochen bleiben konnte. Hatte der päpstliche Kanon eigentlich die Aufgabe, den verklärten Leib als Zielpunkt des kirchlichen Heilsweges und als unverfügbares Kunstideal festzuschreiben, wird ebendieser kanonische Idealkörper im Bruegelschen Gegenmodell aus seiner entrückten Sphäre gerissen und auf unsanfte Weise der Spottlust des Betrachters freigegeben, der in ihm kaum mehr das privilegierte Medium des Heils erkennen kann, sondern gerade seine unaufhebbare Verstrickung ins irdische Triebleben erblicken muss. Künstlerische Konkurrenz mündet so in einen Wettstreit um den rechten Bezug zur Transzendenz.
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67 Für Versuche, die religiöse Identität Bruegels und seiner Bildkonzepte genauer zu bestimmen vgl. Müller 1999 sowie Kaschek 2012.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Marco Dente, Laokoon-Gruppe, Kupferstich, um 1510. Abb. 2: Jan van Scorel, Taufe Christi im Jordan, um 1530, Öl auf Holz, Frans Hals Museum, Haarlem. Abb. 3: Pieter van der Heyden nach Pieter Bruegel d.Ä.: Aestas/Der Sommer, 1570, Kupferstich. Abb. 4: Michelangelo: Auferstandener, Detail aus dem Jüngsten Gericht, 1541, Fresko, Sixtinische Kapelle, Vatikan. Abb. 5: Michelangelo: Hl. Andreas, Detail aus dem Jüngsten Gericht, 1541, Fresko, Sixtinische Kapelle, Vatikan. Abb. 6: Jan van Scorel, Werkstatt: Hl. Sebastian, 1542, Öl auf Holz, Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam.
Katja Schröck
Die polychrome Ausgestaltung des Prager Veitsdoms im 19. Jahrhundert Religiöse Praxis und Kunstreligion im Konflikt
1 Leitgedanken „Wir legen den Grundstein zu einem großartigen Unternehmen, das für unser Vaterland durch eine lange Reihe von Jahren segensreiche Folgen habe soll! – Sie haben gesehen, wie viele der in meinem Berichte erwähnten Herren den Tag, den sie vorbereiten halfen [konstituierende Sitzung des Dombauvereins; K.S.], nicht mehr erlebten; auch wir dürfen nicht darauf rechnen, das hohe Ziel, das uns vorschwebt, noch mit eigenen Augen zu erblicken. Es ist aber eben nur eine schwächliche, echten Gemeinsinnes entbehrende Zeit, die bloß an sich denkt, bloß für sich sorgt, und die Früchte der Bäume, die sie pflanzt, auch schon selbst ernten will. Eine solche wird gewiß nichts Großartiges ins Dasein rufen. Wir aber wollen für unsere Nachkommen sorgen und wirken, wie unsere Vorfahren für uns gesorgt und gewirkt haben! – Böhmens treue Söhne, so empfänglich für alles Große, Gute und Schöne, so ausgezeichnet durch selbstthätiges aufopferndes Zusammenwirken für gemeinsame Zwecke, werden den Beweis abgeben, daß ihnen die nur zu lange vernachlässigten Reliquien einer großen Vorzeit nicht nur heilig sind, nein, daß sie auch den Muth haben, das Vermächtniß derselben anzutreten und zu vollenden, und es kommenden Generationen in neuem vermehrten Glanze zu überliefern!“¹
Mit diesen Worten warb der Präsident des Dombauvereines Franz Graf von ThunHohenstein auf der ersten ordentlichen Generalversammlung des Vereines im Jahre 1859 für die Restaurierung und angestrebte Fertigstellung des böhmischen Nationalheiligtums – des Prager Veitsdoms. Der gotische Veitsdom erfuhr einen raschen Baufortschritt von seiner Grundsteinlegung im Jahre 1344 bis zu Beginn des 15. Jahrhunderts, doch spätestens durch die Unruhen der Hussitenkriege kam der Bau zum Erliegen. In den folgenden Jahrhunderten gab es immer wieder Bestrebungen zum Weiterbau, doch keine war von Bestand. Erst im 19. Jahrhundert gelang nach erheblichen Anlaufschwierigkeiten die Gründung eines Dombauvereins, der sich den Erhalt und die Vollendung des Doms zur Aufgabe machte. Im Folgenden soll näher erörtert werden, wie und welche Probleme bei der Konstituierung des Vereins auftraten, sowie die Rolle desselben bei Entschei-
1 Kalender 1861, S. 41.
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dungsfindungen zu angemessenen Bauformen und Gestaltung des Inventars. Dies wird am Beispiel der angestrebten Polychromierung des Innenraumes, Ende der 1860er und Beginn der 1870er Jahre, aufgezeigt, wobei sich anhand gerade dieses Exempels zeigen wird, mittels welcher Mechanismen konkurrierende Vorstellungen über das Zur-Geltung-Bringen von Transzendenzbehauptungen aufgelöst werden können.
2 Genese eines Konflikts Der Prager Dombauverein fungierte als säkularer Verein. Er benötigte zu seiner Gründung die Zustimmung des Staatsoberhauptes, jedoch nicht explizit die Genehmigung der Geistlichkeit, obschon er den sakralen Oberhäuptern sehr wohl positiv gegenüber treten wollte. Dies zeigte sich vor allem in der Zusammensetzung des Direktoriums, da das Metropolitan-Domkapitel einen Sitz im Vorstand vergeben durfte. Außerdem war der Erzbischof zu Prag, laut den Statuten, automatisch Protector des Vereins und daher unmittelbar involviert. Schon zu Beginn verschrieb sich der Verein gemeinsinnigem Handeln, denn es sei „nur eine schwächliche, echten Gemeinsinnes entbehrende Zeit, die bloß an sich denkt, bloß für sich sorgt, und die Früchte der Bäume, die sie pflanzt, auch schon ernten will.“ Und so postulierte der Präses Graf Franz von ThunHohenstein, dass nicht eigennützige Interessen, sondern der Wunsch „durch selbstthätiges aufopferndes Zusammenwirken für gemeinsame Zwecke“ Großes, Gutes und Schönes für die Nachkommen und das Land Böhmen zu schaffen, hinter dem Handeln stünden.² In diese Zeit fallen auch die tschechische Nationalbewegung und die damit einhergehende Formierung einer Nation, die sich neu zu begründen hatte. Von Anbeginn der Kirchengründung auf dem Hradschin stand die Prager Dombauhütte in Abhängigkeit zum böhmischen Herrscherhaus, wodurch die Partizipationsmöglichkeiten des Klerus und des Volkes erheblich eingeschränkt waren. Während sich im 14. Jahrhundert unter Karl IV. die Hütte voll entfalten konnte³ und erhebliche finanzielle Mittel von ihm zur Verfügung gestellt bekam, glichen die späteren Versuche der Bauvollendung nur kleinen Strohfeuern, sei es angesichts fehlender finanzieller Mittel oder mangelnden Interesses am Residenzstandort. Erst durch eine Initiative der Bevölkerung – weniger des Klerus –, sich für die Kathedrale einzusetzen und sie als Sinnbild der
2 Kalender 1861, S. 41. 3 Vgl. dazu Schock-Werner 2005, S. 267–288.
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ganzen Nation zu verstehen, wurde der Dom vollendet. Dadurch, dass der Zugriff auf die Kathedrale sich von einer herrschaftlichen zu einer bürgerlichen Ebene verschoben hatte, gewann man neuen Handlungsspielraum.
Abb. 1: Schema zur Anlage der Vorgängerbauten.
Um den Stellenwert des Prager Veitsdoms in Gänze begreifen zu können, ist es notwendig, einen Exkurs einzufügen, der die historischen Begebenheiten kurz umreißt. Die heutige Kathedrale St. Veit ist nunmehr der dritte Sakralbau, welcher auf dem Burgberg an dieser Stelle errichtet wurde. Bereits im 10. Jahrhundert ließ der přemyslidische Herzog Wenzel, der spätere Heilige Wenzel, hier eine Kirche errichten. Anlässlich der Schenkung eines Armreliquiars des Heiligen Veit war diese wohl in Form einer Rotunde erbaut worden (Abb. 1). Das Reliquiar erhielt Wenzel von Kaiser Heinrich I. im Anschluss an seine Lehnshuldigung.⁴ Die Kirche gewann mit der Gründung des Bistums Prag im Jahre 973 erheblich an Bedeutung. Fürst Spytihněv II. veranlasste 1060, ein Jahr vor seinem Tod, die Errichtung einer dreischiffigen Basilika mit Ost- und Westchor. Die Rotunde trug man bis auf die Südapsis ab. Die Apsis wurde in den Neubau integriert, da sie das Grab des Heiligen Wenzel beherbergte. Unter den beiden Chören befanden sich gewölbte Krypten und die Westseite flankierten zwei Türme. Ein Kreuzgang mit verschiedenen Annexbauten gliederte sich an die nördliche Kathedralseite an.⁵ Nach der Chronik des Prager Domherren Benesch von Weitmühl legte am 21. November 1344 der böhmische König Johann mit seinen beiden Söhnen, Karl und Johann Heinrich, in Anwesenheit des Prager Erzbischofs Ernst von Pardubice
4 Kuthan/Royt 2011, S. 31–37; Merhautová 1994, S. 13–24; Schurr 2003, S. 53. 5 Kuthan/Royt 2011, S. 31–37; Chotěbor 1999, S. 14.
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Abb. 2: Baufortschritt der Kathedrale unter Matthias von Arras.
den Grundstein für den neuen gotischen Veitsdom.⁶ Matthias von Arras konnte den jungen Kronprinz Karl als ersten Dombaumeister gewinnen. Der Vorgängerbau war bis Mitte des 14. Jahrhunderts noch vollständig in Gebrauch. Die Aushebung der Fundamente wurde weit im Osten begonnen, mit erheblichem Abstand zum romanischen Bau, um diesen so lange wie möglich nutzen zu können (Abb. 2). Bis zum Tode Arras’ 1352 waren neun Chorpfeiler bis zur Höhe des Triforiums, ein Teil des Chorumgangs mit den Gewölben und acht Chorkapellen fertiggestellt worden. Als der 23-jährige Peter Parler⁷ seinen Dienst als Dombaumeister vier Jahre später antrat, stand aller Wahrscheinlichkeit nach noch der romanische Vorgängerbau.⁸ Parler vollendete die Sakristei auf der Nordseite, ließ die Strebepfeiler des Chores errichten, begann das innovative Südportal und wölbte den Chor ein; spätestens mit seinen Gewölbefigurationen gewann er Weltruhm. Nach Parlers Tod blieb die Oberaufsicht über den Bau in
6 Von Weitmühl 1884, S. 459–548; Kuthan/Royt 2011, S. 79; Schurr 2003, S. 52. 7 Parler stammte aus einer großen Werkmeisterdynastie; bereits sein Vater Heinrich arbeitete am Kölner Dombau. 8 Kuthan/Royt 2011, S. 93–98; Schurr 2003, S. 53–55.
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Abb. 3: Grundriss der Kathedrale; Schraffur: Matthias von Arras, Schwarze Markierung: Peter Parler.
seiner Familie.⁹ Der Parlerstil wurde in ganz Europa rezipiert und erlangte bis zum heutigen Tage höchstes Ansehen. Durch die Hussitenkriege verzögerte sich jedoch der Baufortschritt¹⁰ in Prag und nachdem das letzte Mitglied der Parler Bauhütte um 1454¹¹ verstarb, blieb der Bau im Wesentlichen unvollendet und über vier Jahrhunderte unangetastet (Abb. 3). Der Chorbereich wurde noch vor der Vierung mit einer provisorischen Mauer abgeschlossen. Im Süden standen der Hohe Turm, die berühmte Wenzelskapelle und die Goldene Pforte. Von Zeit zu Zeit flammten Ideen zum Weiterbau bzw. zur Vollendung auf, welche jedoch nie von Bestand waren und schlussendlich keinen großen Fortschritt erbrachten.¹² Umfassende Restaurierungsarbeiten mussten nach dem Siebenjährigen Krieg in Angriff genommen werden, um einen Einsturz zu verhindern. Sie sicherten jedoch nur den vorhandenen Baubestand.
3 Konkurrierende Vollendungspläne Erst in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden die Pläne einer Domvollendung wieder konkret aufgenommen: Wenzel Pešina Ritter von Čechorod hegte schon als schlichter Landpfarrer den Wunsch, den Dom nicht nur vor dem Zerfall zu retten, sondern ihn auch vollendet zu sehen.¹³ Als er 1832 zum Domkapitu-
9 Schurr 2003, S. 68–70. 10 Genauer dazu: Kuthan/Royt 2011, S. 381–391. 11 Kostílková/Petrasová 1999, S. 187. 12 Genauer dazu: Schurr 2003, S. 70–71; Kuthan/Royt 2011, S. 393–497. 13 Ausschlaggebend waren seiner Behauptung nach Träume von der Vollendung des Domes in drei nacheinander folgenden Nächten. Vgl. Ambros 1858, S. 341.
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lar und Domcustus ins Prager Metropolitan-Domkapitel berufen wurde, konnte er seine Idee in weiten Kreisen verbreiten und Anhänger für dieses Unterfangen gewinnen.¹⁴ Nachdem der spätere, erste Präsident des Dombauvereins Franz Graf von Thun-Hohenstein die „Spitze der Dombau-Interessenten“¹⁵ bildete, bekam der diffuse Wunsch ein konkretes Gesicht und gewann an Bedeutung. Ohne die Gründung eines Vereines wäre der Dom nie zur Vollendung gekommen. Das Bürgertum hatte sich durch formale Organisation konstituieren können;¹⁶ ein bekanntes Gesicht musste an seiner Spitze stehen, um publikumswirksam Mitglieder zu gewinnen und Gelder für das Bauvorhaben einzuwerben. Außerdem schien es vonnöten, bautechnische und gestalterische Belange in Expertengruppen zu diskutieren, ohne der geschmacklichen Willkür eines Einzelnen ausgesetzt zu sein. Der erste Schritt zur Bewilligung der Gründung des Dombauvereins verlangte die Abfassung und Unterzeichnung eines Majestätsgesuchs. 1843 wurde eine Zusammenkunft des Landtages zur Stimmensammlung genutzt. Das Schreiben wurde vom Fürsten Karl Anselm von Thurn und Taxis weitergeleitet und von der Kaiserin Mutter eigenhändig seiner Majestät Kaiser Ferdinand I. zur Absegnung vorgelegt und am 27. Juli 1844 unterzeichnet. Die Bewilligung war jedoch mit Auflagen verbunden: So sollten ein „Entwurf der Statuten, der generelle Bauplan, die approximativen Kostenüberschläge und das Programm über die Modalitäten der Ausführung und die Verwaltung der Baugelder“¹⁷ vorgelegt werden. Die Bewältigung dieser Auflagen hätte aber eigentlich bereits ein funktionierendes Dombaugremium vorausgesetzt. Am 21. November 1844 fand die konstituierende Sitzung des Dombauvereines statt.¹⁸ Der Tag war bewusst gewählt, denn die Grundsteinlegung des Domes jährte sich zum fünfhundertsten Male; so knüpfte man an diesen Ursprungsmoment an und schuf die Grundlage für die Domvollendung, wobei schon im Rekurs auf die Geschichte im Gründungsakt genau jene genealogische Tradition hervorgehoben wurde, in welcher sich der Dombauverein gleichsam als ‚Hüter des Doms‘ selbst wohl verstanden wissen wollte. Bereits im Januar 1845 wurden die Statuten mit der Bitte um die endgültige Genehmigung des Vereins und dem gleichzeitigen Gesuch, die anderen Bedingungen vorläufig zu entheben, eingereicht. Die Übersetzung der Statuten in die böhmische Sprache legte man sogar dem tschechischen Patrioten Josef
14 Kalender 1861, S. 29. 15 Ebd., S. 30. 16 So auch in Köln, vgl. dazu Pilger 2004. 17 Kalender 1861, S. 31. 18 Ebd., S. 13 und 32.
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Jungmann, einer der führenden Persönlichkeiten der tschechischen Nationalbewegung, vor. Die Eingabe wurde am 15. Mai 1846 abgelehnt, da der geforderte Bauplan und der Kostenvoranschlag fehlten.¹⁹ Die Forderungen waren auch im Jahr 1850 noch nicht erfüllt, als der Minister für Cultus und Unterricht, Graf Leo von Thun, Kaiser Franz Josef I. erneut das Gesuch der definitiven Konstituierung des Vereins vorlegte.²⁰ Am 10. August 1850 traten die Dombauinteressenten abermals zusammen. Pešina selbst machte jedoch den Vorschlag, die Arbeiten des Vereins ruhen zu lassen, zumindest so lange, bis die Finanzierung der Karolinenthaler Kirche gewährleistet war, da die Vollendung des Veitsdoms nicht als Konkurrenzprojekt angesehen werden sollte. Das Bauprojekt der Karolinenthaler Kirche wurde zu Ehren der Slavenapostel Cyrill und Method errichtet und stand unter dem Protektorat des neuernannten Prager Fürsterzbischofs Kardinal Friedrich zu Schwarzenberg.²¹ Dem Präses des Dombauvereins war die Konkurrenzstellung durchaus bewusst und er wollte eine Kollision mit den Bestrebungen des Katholikenvereins, der dezidiert vom Bischof gefördert wurde, vermeiden.²² Wenn auch der Dombauverein säkularer Natur war, so wäre es wohl keine gute Idee gewesen, sich gegen den Erzbischof zu stellen, der gewissermaßen Hausherr der Kathedrale war. Erst nachdem die Finanzierung der Karolinenthaler Kirche gesichert war, sprach sich Schwarzenberg für die Konstituierung des Dombauvereins aus.
19 Kalender 1861, S. 32. Decret vom 15. Mai 1846, Z. 23636. 20 Kalender 1861, S. 34. Statthaltereierlaß vom 28. Februar 1850, Z. 7426; Decret vom 29. Januar 1850, Z. 178. 21 „Aus der freiheitlichen Bewegung des Jahres 1848 entwuchs in Prag u. A. auch ein ‚Katholikenverein‘, der jedoch bald aus der anfänglich religiösen Färbung in die tschechischnationale überschlug. Schon mit dieser angethan, entschied sich der Verein für den Bau einer Kirche zu Ehren der Slavenapostel Cyrill und Method in der Vorstadt Karolinenthal.“ Müller 1883, S. 37. Der spätere, erste Baumeister des Prager Doms Joseph Kranner wurde durch den Katholikenverein zu einem Entwurf aufgefordert. Das zunächst hochgelobte Projekt, wurde später mit der Begründung, es sei zu „germanisch“, abgeschmettert. 22 „Es war […] Pešina selbst, der uns damals aufmerksam machte, […] daß überdieß der Prager Katholikenverein gerade die Sammlungen für den Bau der Karolinenthaler Kirche begonnen habe, und daß es wohl ebenso unzweckmäßig sein dürfte, die Wirksamkeit für den Prager Dom zu beginnen, ohne sich vorher so einflußreichen und unentbehrlichen Unterstützung der höchsten kirchlichen Autorität [Schwarzenberg; K. S.] des Landes versichert zu haben, als sich dem Schein auszusetzen, als sei man nicht bereit, mit aller Sorgfalt die Möglichkeit einer Collision mit den Bestrebungen eines Vereines zu vermeiden, der seiner Zeit gewiß auch den Dombauverein kräftig zu stützen und zu fördern vorzugsweise berufen und geneigt sein werde.“ Kalender 1861, S. 34.
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Ab 1852 galt ein neues Vereinsgesetz in Österreich, was dazu führte, dass das erneute Gesuch der Dombauinteressenten zur Gründung des Vereins vom Polizeidirektor Leopold Sacher-Masoch aus Kronenthal abschlägig beschieden wurde.²³ Im Jahre 1857 hatte nun Kardinal Schwarzenberg selbst den Dombauverein aufgefordert, seine Tätigkeit wieder aufzunehmen. Am 13. September desselben Jahres wurde ein „Aufruf zur Constituirung des Prager Dombau-Vereines“²⁴ mit dem Entwurf der Statuten und einer kurzen Zusammenfassung des langwierigen Werdegangs veröffentlicht. Die endgültige konstituierende Generalversammlung des Prager Dombauvereins fand am 22. Mai 1859 im Sitzungssaal des Altstädter Rathauses statt.²⁵ Um die Strukturen des Vereins zu verdeutlichen, ist es notwendig, dessen Aufstellung kurz zu erläutern: „Der Zweck dieses Vereins ist der allmählige Ausbau und die innere und äußere Vollendung der Domkirche zum h. Veit in Prag im Style und Geiste der ursprünglichen Anlage.“²⁶ Die Organe des Vereins setzten sich aus dem Ehrenkurator,²⁷ dem Vereinsdirektorium, welches aus dem Präses, also dem Vorsitzenden und den Ausschüssen bestand, sowie der Prüfungskommission zusammen. Der Ausschuss unterteilte sich in drei Sektionen: Die Sektion der Allgemeinen Geschäftsführung, die Sektion der Vermögensverwaltung und die Kunstsektion.²⁸ Letztgenannte musste aus mindestens vier Personen bestehen, diese wurden durch das Direktorium, welches von der Generalversammlung
23 Kostílková/Petrasová 1999, S. 9 und 188. 24 Pešina et al. 1857. 25 Kalender 1861, S. 23. 26 Pešina et al. 1857. 27 Im Entwurf der Statuten war die Rede von einem Ehrenkurator, später berief man zwei Ehrenkuratoren und einen Protektor. „§ 12 Protector des Vereines ist der jedesmalige Fürsterzbischof von Prag; Ehrenkuratoren sind der jedesmalige Chef der k.k. Landesregierung und der jedesmalige Oberstlandmarschall von Böhmen. § 13 Der Präses wird von der Generalversammlung auf drei Jahre gewählt. Er hat den Vorsitz in den Generalversammlungen, in den Sitzungen des Direktoriums und der Sektionen. Er stimmt jederzeit mit, und seine Stimme entscheidet bei Stimmengleichheit; er ernennt seinen Stellvertreter von Fall zu Fall aus den Ausschußmitgliedern; ist befugt, außerordentliche Sitzungen des Direktoriums zu bestimmen, in dringenden Fällen durch Rollarbeschlüsse und in unaufschiebbaren Angelegenheiten mit Zuziehung zweier Mitglieder des Ausschußes provisorisch zu verfügen.“ Auszug aus den Statuten des Prager Dombau-Vereines, in: Jahrbuch des Prager DombauVereines (1869–1870) 1871, S. 116–121, hier S. 117–118. 28 „§ 18 Die Kunstsektion veranlaßt die Aufnahme des Domes und die Entwerfung des Planes, bringt dem Direktorium die hierzu tauglichen Personen und seinerzeit den Dombaumeister in Vorschlag. Sie beurtheilen alle Kunstfragen, referirt über dieselben, bereitet die in ihrem Bereiche liegenden Gegenstände zu den Sitzungen des Direktoriums vor, stellt die geeigneten Anträge, entscheidet in den ihr vom Direktorium zur Entscheidung überlassenen Fällen, und
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gewählt wurde, bestimmt. Um als Mitglied in der Kunstsektion agieren zu können, war es unabdingbar, Künstler oder Architekt zu sein. Die Anzahl der Kunstsektionsmitglieder konnte nach Bedarf erhöht werden, jedoch war das Mitwirken dreier Architekten obligatorisch.²⁹ Dadurch hoffte man, sich die gewünschte Qualität des auszuführenden Projektes zu sichern. Nachdem der Dombauverein sich nun endlich aufgestellt hatte, begann die Arbeit der Bauaufnahme und gründlichen Restaurierung des über die Jahrhunderte stark in Mitleidenschaft gezogenen Bauwerks. Dabei wurde jedoch nicht nur restauriert, was beschädigt war, sondern es wurden auch Ausstattungen entfernt, die nicht dem Geschmack der Zeit entsprachen. Mit dem Entwurf eines neuen Hochaltars im Stile der Neugotik durch den ersten Dombaumeister Josef Kranner ging auch der Wunsch einer stilgerechten (Wieder-)Herstellung des Innenraums einher. Die Wahl des gotischen Stils rekurrierte dabei auf die große Zeit unter Karl IV. und den hohen Stellenwert des böhmischen Volkes – beides weithin akzeptierte Legitimationsgrundlagen für die Ausgestaltung des Doms. Folglich kann der Wunsch nach einer stilgerechten Ausgestaltung, die durch perfekt historisierend gestaltete Kunstwerke und deren Positionierung geprägt war, als eine Form des Transzendenzrekurses durch Anknüpfung an jene glorreiche Zeit interpretiert werden: Ein Sakralbau, der im Dienste Gottes steht, wird zu einem Nationalheiligtum und dadurch zu einem großen Symbol für die Gesellschaft umcodiert. Die zur damaligen Zeit gottesverbundene Herrschaft hatte die Macht über und zugleich die Verantwortung für den Bauprozess. Genau hier entspinnt sich nun der Konflikt zwischen Dombauverein und verantwortlicher Herrschaft. Beide Seiten eint zwar das Ziel einer ‚angemessenen‘ Gestaltung, doch sind die als angemessen betrachteten Praxen, wie sich im Folgenden zeigen wird, durchaus unterschiedlich. So nimmt es nicht wunder, dass der Dombauverein den Versuch einer ‚Entzeitlichung‘ unternahm, indem er die Strahlkraft und Bedeutung des Domes – durch die Einsetzung und Inszenierung Karl IV. als Hauptakteur – über die Zeit zu retten und an dessen hochgelobte Tradition nahtlos anzuschließen versuchte. Dadurch wurden sowohl der verdienstvolle Herrscher als auch der von ihm maßgeblich beeinflusste Bau als Teil einer ‚nationalen Erzählung‘ der Dispositionsfreiheit Einzelner ein Stück weit entzogen und konnten als diskursiv nutzbare Legitimationsgrundlage zeitgenössischen Handelns dienen.
überwacht die Kunstarbeiten.“ Auszug aus den Statuten des Prager Dombau-Vereines, in: Jahrbuch des Prager Dombau-Vereines (1869–1870) 1871, S. 119. 29 Vgl. Statuten des Prager Dombau-Vereins, in: Ebd., § 14, S. 118.
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Um eine derart angestrebte, adäquate Stilreinheit zu gewährleisten, gehörten auch die Planung und Umsetzung einer polychromen, das heißt farbigen Ausgestaltung des Innenraumes zu den Aufgaben des Dombauvereins, welche in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre konkrete Züge annahmen. Hatte man sich in den Jahren vor 1868 noch für eine kostengünstige und minimalistische Variante ausgesprochen, so forderte man im Geschäftsbericht des Dombauvereins vom 1. Mai 1868 bis 30. April 1869 eine zweite umfangreichere Projektierung. Der vom Dombaumeister Kranner vorgelegte Entwurf beschränkte sich auf die farbige Ausgestaltung einiger konstruktiver Glieder. Darunter versteht man beispielsweise eine der Wand oder dem Pfeiler vorgelegte schlanke Halbsäule (Dienst). Der Vorschlag wurde, angesichts der sich im Rahmen haltenden Kosten, seitens des Direktoriums als „vorzüglich“ bewertet, obschon es einen zweiten Entwurf wünschte, der auf das gesamte Dominnere ausgedehnt sein sollte.³⁰ Der Architekt Anton Barvitius, welcher gerade erst von einer Studienreise aus Italien zurückgekehrt und daher in den Augen des Direktoriums für die Aufgabe besonders prädestiniert war, stellte sich zur Verfügung. Die Polychromierung sollte sich vorläufig auf jenen Teil des Domes beschränken, „in welchem sie zu dessen Wiederübergabe an den Gottesdienst und nach der hierzu erforderlichen Beseitigung der Gerüste eben als unumgänglich nothwendig sich herausstellen wird, d.h. auf den den Hochaltar umgebenden, eigentlichen Chor und die zunächst an denselben stoßenden Travée des Hauptschiffes.“³¹ Mit dieser Einschränkung hoffte man, den Kostenaufwand gering zu halten und den Beginn des Ausbaus nicht zu verzögern. Die bereits gestellten Gerüste für die Restaurierung sollten für die polychrome Ausgestaltung effektiv genutzt werden und nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt unter erheblichem finanziellem Aufwand neu errichtet werden müssen. Für die Ausführung der Farbfassung veranschlagte das Direktorium mindestens zwei Jahre, so dass die Aufstellung eines zweijährigen, anstatt wie bisher eines einjährigen Bauplanes notwendig wurde. Doch schon zu diesem Zeitpunkt war dem Vorstand sehr wohl bewusst, dass eine Genehmigung des Erzbischofs unabdingbar sei,³² da er die Deutungshoheit über seine Kirche hatte. Im folgenden Jahr wurde in der Generalversammlung erneut das Problem der Polychromierung angesprochen. Es herrschte Konsens darüber, dass das
30 Jahrbuch des Prager Dombau-Vereines (1868–1869) 1870, S. 30. 31 Ebd., S. 30. 32 „Jedenfalls gedenken wir die Durchführung der Polychromirung nach dem hierfür etwa anzunehmenden Projekte, – die Genehmigung dieses Projektes durch Se. Eminenz den Kardinal Fürst=Erzbischof natürlich vorausgesetzt – […].“ Ebd., S. 30.
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Innere des Domes zumindest eine einheitliche steinfarbene Tünche unter weißer Markierung der Stoßfugen erhalten müsse, um die Andersfarbigkeit der ausgewechselten Steine auszugleichen.³³ Auf Vorschlag der Kunstsektion, des Dombaumeisters und weiterer Fachleute sprach sich das Direktorium einstimmig für eine „stylmäßige“ und damit aufwendigere Farbgestaltung aus. Man entschied sich nicht nur der Kosten wegen für eine unmittelbare Ausführung der Polychromierung. Ein weiteres Argument war die Sehgewohnheit der Gläubigen, da diese an eine Bemalung, wenn auch „ganz geschmacklos und stylwidrig“, gewöhnt waren und die „kahlen, eintönigen Wände sicherlich nur sehr ungern acceptiren“ würden.³⁴ Aber auch das Zusammenspiel der neuen stark farbigen Fenster mit dem neogotischen Hochaltar könne erst durch eine Polychromierung des gesamten Dominneren in absoluten Einklang gebracht werden.³⁵ Die Kosten für die Ausgestaltung des Mittelschiffs, der beiden Seitenschiffe und des Chorumgangs wurden durch Berechnungen auf ungefähr 15.600 fl. veranschlagt. Die Arbeiten sollten binnen eines Jahres umgesetzt werden. Die zusätzliche Ausgestaltung der Kapellen war nicht Teil des ersten Planes, da sich die Kosten dann auf 30.000 fl. erhöht hätten. Außerdem hegte man die Hoffnung, Stifter für die Polychromierung der Kapellen zu finden. Das Direktorium sprach sich am 28. Juni 1870 mit einer Gegenstimme für die sofortige Polychromierung aus.³⁶ Auf der Generalversammlung wurde vom Vorsitzenden noch angemerkt, „daß vor dem wirklichen Beginne der Polychromirung noch die Einwilligung Sr. Eminenz hiezu eingeholt und voraussichtlich auch ertheilt werden wird.“³⁷ Um die „stylmäßige“ Polychromierung zu gewährleisten, kontaktierte das Direktorium Experten (Kunsthistoriker und Architekten), „deren Autorität eine anerkannte und deren Stimme maßgebend ist, um Mittheilung ihrer Meinung über diesen Punkt brieflich zu ersuchen.“³⁸ Zu ihnen zählten der Kunsthistoriker Karl Schnaase sowie der königlich preußische Appellationsgerichtsrat August Reichensperger, welcher Gründungmitglied des Zentral-Dombau-Vereins zu Köln war. Während man bei den Planungen in Prag nicht auf historische Pläne oder Zeichnungen zurückgreifen konnte, deren Konzeption eine unhinterfragbare Instanz für die Realisierung hätte darstellen können, sondern ansässige Künstler und Architekten heranziehen musste, stellte sich die Situation am Kölner
33 Jahrbuch des Prager Dombau-Vereines (1869–1870) 1871, S. 5. 34 Ebd., S. 8. 35 Ebd., S. 6. 36 Ebd., S. 7. 37 Ebd., S. 8. Der Erzbischof war zuvor schon an Terminen vor Ort zugegen gewesen. 38 Ebd., S. 17.
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Dom anders dar. Auch dieser, als Vorgänger Prags gehandelte Bau wurde erst im 19. Jahrhundert vollendet und so standen die Kölner Kollegen vor ganz ähnlichen bautechnischen Problemen. Der dort wiedergefundene ‚Riss F‘ trug jedoch zu einer erheblichen Vereinfachung bei, was den Entwurf und die Legitimation der Bauformen anbelangte. Bei der stilgerechten Projektierung war es in Prag von außerordentlicher Wichtigkeit, den Zweck im Auge zu behalten, dass die Farbe die Form zu beleben und die architektonischen Bauglieder hervorzuheben hatte und sie keineswegs die Glieder verdecken oder gar unklar machen solle.³⁹ So wurde die farbige Ausgestaltung sowohl der Ste. Chapelle als auch der Kirche St. Eustache in Paris durchaus kritisch betrachtet und „keineswegs als mustergiltig angesehen.“⁴⁰ Der führende französische Restaurator Eugène Viollet-le Duc wollte während einer Studienreise nach Prag kommen, um sich den Dombau genauer anzuschauen, dieses Vorhaben wurde jedoch durch den Deutsch-Französischen Krieg vereitelt.⁴¹ Das Direktorium konnte aber zwei Fachleute für eine Besichtigung vor Ort gewinnen: Den Oberbaurat Friedrich Schmidt aus Wien und den Architekten August Ottmar Essenwein, Direktor des Germanischen Nationalmuseums. Sie verfassten daraufhin im Juni 1871 ein Gutachten zur Polychromiefrage.⁴² Beide Gutachter sprachen sich für die Polychromierung aus und betonten deren Bedeutung für den gesamten Bau. Dieser Expertenmeinung folgte man auf der Generalversammlung vom 5. Juli 1871. Hierin wurde die Farbfassung als wichtigste und dringendste Aufgabe der Restaurierung des Kirchenraumes angesehen. Da der Dombaumeister Josef Kranner im selben Jahr über der Anfertigung der reicheren Polychromierungsentwürfe verstarb, wurden auf Antrag der Kunstsektion der Architekt Josef Schulz, den figuralen Teil betreffend der Maler Franz Sequens, beauftragt.⁴³ Der Kostenaufwand der Arbeiten würde sich für die ornamentale und figurale Ausstattung einschließlich des Honorars für die Leitung jedoch auf 38.000 fl. erhöhen. Angesichts der zur Verfügung stehenden Mittel befürchtete das Direktorium eine erhebliche Einschränkung des Fortbaus und entschloss sich, damit die Farbigkeit nicht völlig aus den Augen verloren ging, im Jahr 1873 zumindest die Gewölbe nach dem vorgelegten Plan auszumalen. Dafür wurden 4.000 fl. veranschlagt,
39 Jahrbuch des Prager Dombau-Vereines (1869–1870) 1871, S. 6. 40 Ebd., S. 8–9. 41 Ebd., S. 18. 42 Die mehrmals in den Jahrbüchern erwähnte Farbprobeachse im Inneren des Domes ist noch nicht genau zu lokalisieren. 43 Jahrbuch des Prager Dombau-Vereines (1871–1873) 1874, S. 6–7.
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welche bereits durch Spenden, die speziell der Polychromierung des Domes zukommen sollten, abgedeckt waren.⁴⁴ Während der Dombauverein mit seiner Idee der polychromen und damit stilgerechten Ausgestaltung der Kirche, finanziert durch die Mitgliedsgelder und Spenden der Bevölkerung, für ‚Volkes Willen‘, dem böhmischen Volke größtmögliche Ehre über alle Grenzen hinaus bereiten wollte, artikulierte der Bischof in einem Schreiben seine Ablehnung: In der Rede an das Direktorium stellte er zwar nicht die Wichtigkeit der Polychromierung für die innere Ausstattung des Domes infrage; die Zustimmung wollte er jedoch nicht erteilen, da er die Jubelfeier des 900-jährigen Bestehens der Prager Diözese gestört sah, falls die Arbeiten noch bis in den Herbst angedauert und damit die Gerüste den Blick versperrt hätten.⁴⁵ Die Feier sei „Behufs […] ihrer Natur nach unaufschiebbar“ und eine „gebieterische“, also gottgewollte Notwendigkeit.⁴⁶ Der Dombauverein versuchte die Interessen der christlichen Gemeinde, gleichbedeutend der tschechischen Nation und ihrer Tradition, zu befördern, wohingegen der Erzbischof seine Ablehnung mit der Gefährdung eines Rituals, das die römisch-katholische Kirche und die Christenheit im Allgemeinen in ihrer Tradition und in ihrem Fortbestand legitimiert, somit stabilisiert und konstituiert, begründete. Der Erzbischof jedoch hatte die Deutungshoheit und zeigte sich gänzlich unbeeindruckt ob der bereits teilweise erfolgten Finanzierung – ohne jeden Zuschuss der katholischen Kirche – und der langwierigen Planung, von welcher er Kenntnis hatte, sei es durch die Versammlungsberichte oder durch aktive Teilnahme an den Sitzungen. Als Vertreter Gottes auf Erden war sein Wort für den Dombauverein bindend, gleichsam ein Gesetz; nur Papst oder Kaiser hätten diese Entscheidung revidieren können. Da jedoch hinter deren Entscheidungen stets die gottgewollte Ordnung stand, die sie nur kraft ihres jeweils ausgeübten Amtes umzusetzen hatten, kam diesen Beschlüssen eine nicht mehr zu hinterfragende Geltung zu. Die Institution Kirche entwarf eine religiöse Ordnung, eine sich auf Gott berufende Hierarchie, die den weltlichen Akteuren entzogen ist. In diesem Sinne war die Ablehnung des Bischofs für den Dombauverein und die christlichen Gemeinde unanfechtbar. Denn die Worte des Bischofs waren indes wohl gewählt: „Die Wiedereröffnung des Domes zu gottesdienstlichem Gebrauche am 15. August d. J. Behufs der ihrer Natur nach unaufschiebbaren, bereits kundgemachten und vom heil. Stuhle mit Abläßen begnadigten Feier des
44 Jahrbuch des Prager Dombau-Vereines (1871–1873) 1874, S. 8. Insgesamt belief sich das Ergebnis der Effektenlotterie auf 8.114 fl. ö.W. 45 Ebd., S. 22. 46 Ebd., S. 9.
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900jährigen Bestandes der Prager Diözese ist eine gebieterische Nothwendigkeit und sie kann gegenwärtig nicht mehr auch nur in Frage gestellt werden.“⁴⁷ Der Bischof bezog sich hier auf die höchste geistliche Instanz – den Papst, Gottes Vertreter auf Erden. Sein Urteil, so wird deutlich, ist nicht durch Menschen verhandelbar – es ist unverfügbar. Der Bischof setzte sein Anliegen durch sanktionsbewehrte Machtmittel unvermittelt durch. Das Direktorium beschloss, die wichtige Frage der Farbigkeit weiterhin zu verfolgen, auch wenn diese zum damaligen Zeitpunkt nicht ausgeführt werden konnte. Während der Brief des Bischofs in einer Generalversammlung vorgetragen wurde, meldete sich im Anschluss das wirkliche Vereinsmitglied Stadtrat Josef Dietrich, der von Beginn an der farbigen Ausgestaltung kritisch gegenüber stand, zu Wort. Die niederschmetternde Absage an den Vorstand kommentierte er positiv, da der Aufschub von großem Nutzen sei, um weitere gewinnbringende Erfahrungen zu sammeln. Kritik übte er jedoch an dem Versäumnis, die
47 Erst diese Beschlüsse des Direktoriums, welche in der Sitzung vom 14. Februar 1873 N.E. 126 § 1 gefasst wurden, legte man mit der Bitte um die erforderliche Genehmigung dem Erzbischof vor. Das Gesuch wurde am 23. Februar 1873 wie folgt beantwortet: „Löbliches Direktorium des Prager Dombauvereines! So sehr ich die Motive zu würdigen weiß, welche dem mir ddto. 18. Februar d. J. mitgetheilten Majoritätsbeschluße des geehrten Direktoriums vom 14. Feber d. J. zu grunde liegen und so wenig ich darin das Bestreben verkenne, die Polychromirung des Domes mit den hiefür zu Gebote stehenden Mitteln und der für deren Beginn noch erübrigenden Zeit in Einklang bringen, bin ich doch nicht in der Lage, zu der Durchführung jenes Beschlußes meine Zustimmung zu ertheilen. Die Wiedereröffnung des Domes zu gottesdienstlichem Gebrauche am 15. August d. J. Behufs der ihrer Natur nach unaufschiebbaren, bereits kundgemachten und vom heil. Stuhle mit Abläßen begnadigten Feier des 900jährigen Bestandes der Prager Diözese ist eine gebieterische Nothwedigkeit und sie kann gegenwärtig nicht mehr auch nur in Frage gestellt werden. Zu dem kommt, daß die Bevölkerung bereits dringend die Wiedereröffnung des Domes verlangt und diese im Interesse des Besuches des Domes wie der Theilnahme am Dombauverein nicht länger verschoben werden kann. Die von dem löblichen Direktorium zum festgesetzten Termin versprochene Durchführung der beantragten theilweisen Polychromirung ist doch von zu vielen Zufälligkeiten abhängig, als daß dieselbe ganz verläßlich verbürgt und mit voller Sicherheit darauf gezählt werden könnte; auch hindert sie die rechtzeitige Inangriffnahme anderer Arbeiten, welche unbedingt vollendet sein müßen, ehe der Dom dem Gottesdienste wieder eröffnet werden kann. Deßhalb erübrigt mir nur, das löbliche Direktorium unter dankbarster Anerkennung dessen, was es für den Ausbau des Domes bisher geleistet, dringend zu ersuchen, seine Aufmerksamkeit und Fürsorge letzgenannten Arbeiten zuzuwenden und die Polychromirung des Domes einer späteren Zeit vorzubehalten, in welcher sie, wenn beschlossen, nicht mehr bloß theilweise, sondern vollständig in derselben Zeit nach einem einheitlichen Plane und in vollkommener Harmonie der Theile und des Ganzen wird zur Ausführung gelangen können.“ Das Domkapitel war ähnlicher Meinung. Jahrbuch des Prager Dombau-Vereines (1871–1873) 1874, S. 9.
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Farbprobeachsen beim Abbau der Gerüste nicht entfernt zu haben, was bei dem Betrachter für Verwirrung sorgen könnte.⁴⁸ Nach jahrelanger Planung und nicht unerheblichem finanziellem Aufwand sollte das Projekt der polychromen Ausgestaltung des Dominneren nicht zur Ausführung kommen.
4 Fazit Die Frage der Polychromierung des Veitsdoms generierte einen Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Transzendenzbehauptungen, nämlich zwischen dem Narrativ der ‚nationalen Tradition‘ und der ‚Ausübung gottgewollter Praktiken‘. Beides ist gleichermaßen der Dispositionsfreiheit des Einzelnen entzogen, wobei es nicht von sich aus konfliktiv ist, sondern nur aufgrund eines spezifischen Ereignisses miteinander in Widerstreit gerät. Beide Anliegen sind gleichermaßen legitimationsstiftend zur Aufrechterhaltung der jeweiligen Ordnung. Doch in der konkreten Situation musste eine Ordnung durchgesetzt werden, wobei in diesem Falle der Bischof aufgrund sanktionsbewehrter Machtmittel natürlich über die durchschlagskräftigeren Ressourcen verfügte. Am 15. August 1873 wurde der St. Veitsdom zu Prag ohne Baugerüst und ohne polychrome Ausgestaltung, aber im Beisein des Bischofs feierlich eröffnet. Anhand dieses Beispiels zeigt sich einmal mehr, dass: „[i]n der Geschichte der Kathedrale […] sich die Stellung der katholischen Kirche im tschechischen Staat, aber auch die Wandlung der tschechischen Gesellschaft wider[spiegelt].“⁴⁹
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48 Jahrbuch des Prager Dombau-Vereines (1871–1873) 1874, S. 17–18. Was die genaue Projektierung und die verschiedenen Entwürfe anbelangt, so ist dies noch genau zu verfolgen und stellt Teil meines Dissertationsvorhabens dar. 49 Kostílková 1999, S. 45.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Schema zur Anlage der Vorgängerbauten. (Ljuba Horáková, Die Kathedrale von St. Veit. Zum 650. Gründungstag der Kathedrale von St. Veit in Ehrfurcht und Bewunderung vor dem Werk unserer Väter, Bd. 1, S. 76) Abb. 2: Baufortschritt der Kathedrale unter Matthias von Arras. (Jiři Kuthan/Jan Royt, Katedrála Sv. Víta, Václava a Vojtěcha. Svatyně Českych patronů a králů, Praha 2011, S. 80) Abb. 3: Grundriss der Kathedrale; Schraffur: Matthias von Arras, Schwarze Markierung: Peter Parler. (Jiři Kuthan/Jan Royt, Katedrála Sv. Víta, Václava a Vojtěcha. Svatyně Českych patronů a králů, Praha 2011, S. 131)
Angelo Maiolino
Politische Kultur und Hegemonie Politische Kultur wird gemeinhin als die Summe der subjektiven Einstellungen, Orientierungen und Überzeugungen einer Bevölkerung gegenüber ihrem politischen System verstanden und bezeichnet in dieser Auslegung eine Kategorie der politikwissenschaftlichen Analyse, bei welcher es um die Stabilität von politischen Systemen und um die Wechselwirkung zwischen politischer Struktur und Kultur geht. Der Begriff der Hegemonie hingegen, so wie er vom italienischen Marxisten Antonio Gramsci herausgearbeitet wurde, ist in einem Analysefeld beheimatet, in dem es um Macht, Herrschaft und Deutungshoheit geht. Diese zwei Begriffe scheinen auf den ersten Blick kaum Schnittstellen aufzuweisen. Die Gemeinsamkeiten werden aber bei näherem Hinschauen sichtbar. Sofern nämlich politische Kultur das kulturelle Fundament von politischen Ordnungen bezeichnet, auf dem diese beruhen und aus welcher sie ihre Legitimität beziehen, dann ist die Frage zu stellen, wie dieses Fundament entsteht, reproduziert und stabilisiert wird. Ein, wenn nicht das zentrale Merkmal von politischer Kultur ist ja gerade, dass in ihr gesellschaftliche Selbstverständnisse und politische Selbstgewissheiten gespeichert sind und unhinterfragt über die Zeit tradiert werden können. Damit ist im politisch-kulturellen Setting immer auch ein Moment von Unverfügbarkeit und Transzendenz, aber auch von Unverfügbarstellung enthalten. Politisch-kulturelle Überzeugungen und Wertorientierungen erhalten nämlich dann den Status des Selbstverständlichen und nicht mehr Hinterfragungswürdigen, wenn sie unverfügbar gemacht, wenn sie also in ihrer Kontingenz und Konstruiertheit nicht zur Debatte gestellt werden. Sie müssen aber nicht immer dem jeweiligen Aufmerksamkeitshorizont ihrer Träger und Akteure entrückt sein, sie können auch jederzeit durch konkurrierende gesellschaftliche und politische Selbstverständigungsdiskurse, die ebenfalls auf Unverfügbarkeiten, wenn auch anders kodierte, aufbauen können, herausgefordert werden. Aus diesem Verständnis heraus erweist sich politische Kultur als durch und durch hegemonial strukturiert. Das heißt, dass sie als kollektiv geteiltes Reservoir von Transzendenzressourcen, die in Form von unhintergehbaren Werten, Überzeugungen, Orientierungen und Normalitätsdiskursen daherkommen, und die das politische und soziale Handeln, Verhalten und Denken erst als ‚richtiges‘ oder ‚falsches‘ erkennbar und im alltäglichen Vollzug reproduzierbar machen, nach dem hegemonialen Modus von Konsens und Zwang funktionieren müssen, sollen die in ihr gespeicherten Deutungen und die diese strukturierenden Transzendenzbezüge auch weiterhin auf Geltung stossen. Entsprechend wird hier unter Zuhilfenahme von Antonio Gramscis Hegemonietheorie die These vertreten,
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dass politische Kultur das Sediment hegemonialer Deutungen ist. Diese These impliziert aber nicht nur, dass die Formierung, Gestaltung und Reproduktion von politisch-kulturellen Orientierungen einem hegemonialen Prozess gleichkommt, sondern auch, dass das Konzept der politischen Kultur und ihrer hegemonialen Struktur ohne Berücksichtigung der ökonomischen Verhältnissen, in denen die Menschen ihr Dasein fristen, nicht verstanden werden kann. Im Folgenden wird (1.) das Konzept der politischen Kultur näher beleuchtet und (2.) in eine hegemonietheoretische Perspektive gerückt.
1 Politische Kultur Wie bereits erwähnt lässt sich politische Kultur als das Ensemble der Einstellungen, Orientierungen und Überzeugungen verstehen, die in einer Bevölkerung in relevantem Maße für die Beibehaltung oder Veränderung des politischen Systems verantwortlich sind. Politische Ordnungen und vor allem solche, die sich demokratisch konstituieren, müssen, damit sie über längere Zeit stabil bleiben können, auf die Zustimmung ihrer Bürger stoßen. Dieser Legitimationsprozess beruht auf einer mehrheitlich getragenen politischen Kultur, in welcher die gespeicherten Wertvorstellungen gegenüber dem politischen System mit diesem zumindest einigermaßen in Einklang stehen. Finden das politische System, seine Institutionen und Akteure keine Responsivität mit den mehrheitlich geteilten politischkulturellen Inhalten, kommt es früher oder später zu einer Veränderung des politischen Systems oder aber der politischen Kultur. In der politischen Kultur sind also Deutungen über die ‚richtige‘ und ‚gute‘ Ordnung gespeichert, mit denen das politische System von den Bürgern erschlossen und entsprechend auch legitimiert oder kritisiert wird. Dieser Zusammenhang lässt sich problemlos vor Augen führen. Über Wahlen wirken politisch-kulturelle Haltungen und Einstellungen auf die Prozeduren der Entscheidungsfindung, auf die politischen Inhalte und auf die Art und Weise, wie der politische Streit geführt wird. Zudem begrenzen politisch-kulturelle Muster, die in einer Bevölkerung mehrheitlich unterstützt und so dominant gehalten werden, die Sag- und Machbarkeiten in einem politischen Kollektiv, setzen die Grenzen für die konkrete Politikgestaltung und ermöglichen so über die Zeit die Identifikation der Bevölkerung mit ihrer politischen und sozialen Ordnung. Mittels Einstellungen, Wertorientierungen und Überzeugungen, die öffentlich vermittelt, im praktischen Vollzug erfahren und in der kollektiven Erinnerung wach gehalten, damit im kollektiven Bewusstsein gespeichert werden und hier bis zu ihrer Infragestellung sedimentiert bleiben, versichert sich ein Gemeinwesen seiner politischen und sozialen Eigenarten, seiner Herkunft und Identität
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und letztlich auch der unausgesprochenen Tabus, die die bestehende Ordnung mit dem Vertrauen verknüpfen, dass es sie in dieser Form auch in Zukunft noch geben wird. Mit anderen Worten ließe sich somit sagen, dass politische Kultur die Funktion eines ‚Transzendenzspeichers‘ einnimmt, zumal in ihr, als politische und ordnungsrelevante Dimension der allgemeinen Kultur, die unverfügbaren Elemente der politischen Ordnung festgeschrieben sind. Dieses Unverfügbare, das in der politischen Kultur gespeichert ist und der politischen Ordnung Legitimität zuspricht, hat die Form von unhinterfragbaren Leitideen des gesellschaftlichen Zusammenseins, die, damit sie auch tatsächlich unhinterfragt bleiben, den Konsens für diese Unhinterfragbarkeit stabilisieren und damit paradoxerweise permanent diskursiv, symbolisch und praktisch reproduziert werden müssen. Politisch-kulturelle Orientierungen können somit nur dann stabilisierend auf das politische System einwirken, wenn sie kollektiv geteilt werden und damit auch vom Kollektiv mit Geltung versehen werden. Politische Kultur gibt in diesem Sinne Aufschluss darüber, wie man in einem Sozialwesen zu denken, öffentlich zu reden und zu handeln hat, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. Sie grenzt aber nicht nur den Raum des Mach- und Sagbaren ab, sondern ist auch die Deutungsschablone dessen, was in diesen Räumen gerecht- oder ungerechtfertigterweise geschehen darf. „Um an den Kern von politischer Kultur heranzukommen, müsste man deshalb wissen, welche Tabus in einem sozialen Verband existieren, wie die Beweislastregeln funktionieren, also was ‚man‘ eigens begründen und rechtfertigen muss und welche Argumente und Handlungen wie selbstverständlich ohne Begründung durchgehen.“¹ Politische Kultur erweist sich in dieser von Karl Rohe ausgeführten Eingrenzung des Konzepts als die Eigenschaft eines Kollektivs und als ein soziales Phänomen, das die ‚richtige‘ und ‚konforme‘ Lebensund Denkweise ihrer Mitglieder sanktioniert. Insofern scheint politische Kultur so etwas wie eine kollektiv geteilte, historisch gewachsene und in Kontingenz verankerte Deutungsschablone der Lebenswelt zu sein, die dem Individuum als Kompass für seine Stellung in einem politisch verfassten Gemeinwesen dient. Sie ist aber nicht nur etwas, das als innerer Kompass dient, sondern bedarf zu ihrer eigenen Stabilisierung der öffentlichen Artikulation, der Institutionalisierung und der immer wiederkehrenden Erinnerung an die in ihr gespeicherten Grundannahmen. Diese Grundannahmen über das politische System, die einen mehrheitlichen Konsens finden und sich symbolisch manifestieren, fundieren und stabilisieren demnach politische Kultur. Sie sind „auf zeichenhafte Verdeutlichung angewiesen“ und müssen „immer wieder durch Wort, Schrift, Bild und Tat in Erinnerung gerufen werden. Das kann in sehr unterschiedlicher Weise gesche-
1 Rohe 1996, S. 4.
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hen, über historische Mythen, über Standbilder, Rituale, Fahnen und Feiern. Im Grunde kann alles zu einem politischen Symbol werden. Auch pragmatisches Alltagshandeln kann eine Zeichenfunktion übernehmen. Ein Musterbeispiel dafür ist das englische queuing, das ja nicht nur eine pragmatische, sondern stets auch eine demonstrative und symbolische Funktion besitzt, weil es auf grundlegende Ordnungsprinzipien einer zivilen Gesellschaft verweist.“² Politische Kultur ist also nicht nur ein Phänomen, das einen inneren gesellschaftlichen Charakter birgt, der die Handlungen und Sprechweisen der Akteure diszipliniert, sondern ein Phänomen, das auch auf öffentliche Wahrnehmbarkeit angewiesen ist. Kulturelle Regeln und Prinzipien bedürfen nämlich einer öffentlichen Artikulation, damit sie ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen können. Die gemeinsam geteilten Grundannahmen über das Selbst und die Welt, diese „shared beliefs“ wie Stephen Welch³ sie nennt, benötigen also eine stetige kommunikative Performanz, die sie im Gedächtnis wachhält und als normativ wünschenswert deklariert. Politische Kultur erlaubt somit die Erschließung der umliegenden Lebenswelt, und zwar mittels einer kognitiv-normativen Orientierung an gemeinsam geteilten Deutungsmustern der sozialen und politischen Landschaft. Dadurch gewinnt sie die Konnotation einer semiotischen Institution. Sie hat nicht nur mit Kommunikation zu tun, sondern wird auch öffentlich und zeichenhaft konstituiert und perpetuiert. Als Phänomen des Öffentlichen ist politische Kultur also diejenige Sphäre gesellschaftlicher Interaktion, in der Deutungen der Welt und des Selbst in der öffentlichen Auseinandersetzung umkämpft werden, mit dem Ziel, bestimmte exklusive Selbst- und Weltverständnisse zumindest bis zu ihrer erneuten Infragestellung mit Geltung zu behaften und so die politische Karte und Ordnung eines Gemeinwesens nach Maßgabe dieser dominanten Deutungen zu gestalten und zu stabilisieren. Damit werden konkurrierende Deutungsangebote am Maßstab der geltenden Deutungsmuster gemessen, im Sinnrahmen der dominanten politisch-kulturellen Selbstverständigungs- und Selbstvergewisserungsdiskurse interpretiert und entweder diskursiv einverleibt – sofern starke Gemeinsamkeiten bestehen – oder diskreditiert. In der Öffentlichkeit werden die sedimentierten Denk- und Handlungsweisen, die eine dominante politische Kultur über die Zeit transportiert, also nicht nur als Ideen formuliert und bestenfalls kritisiert, sondern hier finden sie auch ihren materiellen Niederschlag in sozialen Praktiken, die als Entsprechungen dieser Ideen und nach Maßgabe ihrer Bedeutungen öffentlich beurteil- und legitimierbar werden.
2 Rohe 1996, S. 7. 3 Welch 1993, S. 14ff.
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Ideen und Handlungsweisen müssen somit in der Öffentlichkeit auf Konsens stoßen, damit sie Legitimität, Gefolgsbereitschaft oder zumindest Akzeptanz erheischen können. Ein Konsens aber, der sich in Form von kollektiv geteilten und so auch stabil gehaltenen Verhaltens- und Denkweisen formiert und der sich durch die ihnen zugrundeliegenden Deutungsmuster der Welt und des Selbst eben auch als Zwang ausweist, zumal er deviantes Sprechen oder Handeln hörund sichtbar und somit eben auch sanktionierbar werden lässt. Es handelt sich somit um ein Konsensmodus, der proportional am Grad der Unverfügbarstellung seiner politisch-kulturellen Inhalte wächst, und so seine Kehrseite des Zwangs mit umso größerer Legitimität durchsetzen kann. Politische Kultur als Raum des Sag- und Machbaren strukturiert sich also über das in der Öffentlichkeit festgelegte und mit Anspruch auf ‚Richtigkeit‘ stabilisierte Wissen über das, was in einem sozialen Verband gesagt und getan werden darf. Insofern erweist sich politische Kultur als eine ideologische Verknüpfung verschiedener Werthaltungen, Sinnhorizonte und Deutungsmuster, die – öffentlich und kollektiv generiert – das Handeln und Denken des Einzelnen nach Maßgabe ihrer Richtlinien eichen. Hier werden also Wertinhalte, Deutungsmuster und Sinnhorizonte mit Konsens und Zwang legitimiert und gefestigt. Das bedeutet nicht, dass ein Ausbrechen aus diesen kollektiv hergestellten konsensuellen Zwangsmechanismen unmöglich ist – dass also die politisch-kulturellen Transzendenzbehauptungen tatsächlich komplett unverfügbar wären –, sondern bloß, dass politische Kultur immer auch ein ideologisches Raster vorlegt, in welchem sich der Einzelne befindet, sozialisiert wird und in welchem er mit anderen interagiert, das er aber, sobald andere ideologische Momente mit anderen Deutungsinhalten der Welt und des Selbst in der Öffentlichkeit den majoritären Konsens erheischen, auch durchbrechen kann und so neue, anders kodierte Deutungsweisen durchgesetzt werden können. Die Welt und das Selbst erhalten ja erst dann Sinn, wenn sie durch Sprache, Praxis und Gedächtnis mit Bedeutung gefüllt werden können – eine Praxis der Bedeutungsgebung, die jedoch umkämpft ist, da ein Phänomen immer auch unterschiedlich signifiziert werden kann. Bedeutung benötigt also Konsens, aber indem sie einmal festgelegt wurde, erweist sie sich, solange der Konsens aufrechterhalten bleibt, als ein unsichtbarer Zwangsmechanismus, der die Kommunikation mit den dadurch tradierten und fixierten Bedeutungsangeboten sinnvoll und verständlich macht. Dies ist genau die Art und Weise, wie Hegemonie funktioniert. Dominante Deutungen und die damit einhergehenden Legitimationsmuster für die politische und soziale Ordnung sind nicht ein für alle mal gültig. Sie können anhand von anderen Narrationen über die ‚richtige‘ und ‚gute‘ Ordnung, die sich an andere Werte, Überzeugungen, Symbole, Erinnerungsorte oder Mythen anlehnen – sofern diese auf einen genügend großen Konsens in der Bevölkerung stoßen – herausgefordert und so neu beschrieben
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werden. Das Unverfügbare, das in einem politisch-kulturellen Dispositiv mitschwingt, kann mithin verfügbar gemacht werden. So konnten sich beispielsweise Legitimationsmuster für politische, soziale und wirtschaftliche Ordnungen, wie etwa für das Nationalstaatenprinzip, für das Wohlfahrtsstaatsprinzip oder als aktuellstes Beispiel, für das neoliberale Projekt, die alle, bevor sie realisiert werden konnten, einst sehr umstritten waren, durchsetzen und frühere Legitimationsmuster zur Seite drängen. Politische Ordnungen und die damit etablierten sozialen und wirtschaftlichen Sphären der gesellschaftlichen Interaktion beruhen demnach auf eine sie stützende und legitimierende politische Kultur, deren kollektiv geteilten Deutungen hegemonial gegen konkurrierende Ansprüche durchgesetzt und reproduziert werden. Politische Kultur ist also ein ideologisch umkämpftes Feld von Bedeutungen, die primär zwar das politische System betreffen, sekundär und damit zusammenhängend aber eben auch die soziale, ökonomische und identitätsrelevante Lebenswelt eines Gemeinwesens bis zu seinen einzelnen Mitgliedern hegemonial einkreisen und so neben der politischen auch alle anderen Sphären des sozialen Handelns nach Maßgabe der dominant gewordenen Deutungsraster der Welt und des Selbst, die die politische und soziale Ordnung mit Sinnhaftigkeit unterfüttern, kodiert.
2 Hegemonie Versteht man nun das Denken und Handeln der Menschen als etwas, das von den materiellen Bedingungen, in denen sie sich befinden, beeinflusst ist, dann muss sich eine Untersuchung zum Konzept der politischen Kultur auch solchen Analysen öffnen, die die ökonomischen Strukturen einer Gesellschaft für nicht unwesentlich bei der Formierung von Selbst- und Weltdeutungen halten. Und das bedeutet unter den gegenwärtigen globalen Bedingungen, die kapitalistische Produktionsweise in das bisherige Untersuchungsraster einzubeziehen, damit einerseits das Denken und Handeln der Akteure im Zusammenhang mit den politisch legitimierten und sozial reproduzierten wirtschaftlichen Produktionsverhältnissen zu erfassen und andererseits das Konzept der politischen Kultur mit dem bislang unterbelichteten menschlichen Interaktionsfeld des wirtschaftlichen Austausches in Verbindung bringen zu können. Mit Antonio Gramscis Konzept der Hegemonie lassen sich diese Zusammenhänge fassen. Unter dem Begriff der Hegemonie verstand Gramsci eine Herrschaftsform, die mittels Konsens und Zwang nicht nur eine politische und wirtschaftliche, sondern eben auch eine kulturelle Ordnung implementiert, und damit auch ihr entsprechende politisch-kulturelle Selbstverständnisse hervorbringt. Hegemonie
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ist in diesem Sinne eine kontingente Machtkonstellation, die zur ideologischen Durchdringung der zivilen und politischen Gesellschaft mit ihren jeweiligen Institutionen – neben den klassischen politischen Institutionen gehören dazu die zivilgesellschaftlichen wie Bildungsstätten, Religionshäuser, Kulturräume, Organe der öffentlichen Kommunikation etc. – auf Konsens und Zwang aufbauen muss. Ihre Auswirkungen zeichnen sich in Politik, Kultur sowie auf der Ebene des individuellen Bewusstseins ab. Für Gramsci ist politische Herrschaft also nicht die Herrschaft einer bestimmten Klasse, sondern vielmehr ein Amalgam verschiedener sozialer Interessen und Positionen, das als gemeinsames Kompromissgleichgewicht und mit dem damit erzeugten Kollektivwillen der Perpetuierung der ökonomischen Verhältnisse, der Stabilisierung der politischen Macht und der Festigung der politisch-kulturellen oder eben ideologischen Deutungsmuster der gegebenen Ordnung dient. In einer hegemonialen Konstellation sind also nicht nur die ‚Herrschenden‘ sondern eben auch die ‚Beherrschten‘ eingeschlossen. Darin sind die ‚Führenden‘ sowie die ‚Geführten‘, die Repräsentanten wie auch die Repräsentierten integriert. Kurz: mit dem Begriff der Hegemonie macht Gramsci deutlich, wie alle Gesellschaftsmitglieder tagtäglich an der Reproduktion von Herrschaft beteiligt sind – eine Reproduktion, die sich insbesondere im praktischen Handeln manifestiert und hier zugleich mit den hegemonialen ideellen Kodierungen rechtfertigt wird. Hegemonie kann also nicht einfach repressiv im offenen Konflikt mit einer Gegenmacht aufgezwungen werden, sondern bedarf der Zustimmung der hiervon Betroffenen, damit ihre Inhalte mit legitimem Zwang durchgesetzt werden können. Sie ist somit auch Ergebnis und Verfestigung gerade jener Diskurse, die die Deutungshoheit mittels Konsens und Zwang etablieren, dadurch ihre Sagund Machbarkeiten als unhinterfragbar darstellen möchten und so auf Transzendenzbezüge und Unverfügbarstellungen rekurrieren. Hegemonie wird auch nicht von oben nach unten durchgesetzt, sondern formt sich in der Zivilgesellschaft: In ihren Institutionen, in Vereinen und Clubs, in der Gliederung des gesamten Bildungssystems, im Zeitungs- und Zeitschriftenwesen in seiner Gesamtheit, in der Philosophie und den Wissenschaften, im Musik- und Theaterleben, in Literatur und Sprache, Verlagswesen, Bibliotheken und Strassennamen, Folklore und Alltagsgewohnheiten, Religionen, Kirchen und Sekten wird Hegemonie praktiziert.⁴ Hier vermengen sich die unzähligen Diskurse von Politikern, Richtern, Lehrern, Psychiatern, Journalisten, Wissenschaftlern etc. und hier, in den zivilgesellschaftlichen Institutionen, wird auch ein spezifisches Wissen produziert, mittels Konsens hegemonial gesetzt und zwangsförmig institutionalisiert – ein
4 Demirovic 2007, S. 25.
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Wissen, das normiert und definiert, welche Diskurse, welche Sag- und Machbarkeiten als legitim anerkannt werden dürfen und welche nicht. Es sind Diskurse, die in ihrer hegemonialen Kodierung eine Ordnung der Sag- und Machbarkeiten durchsetzen, zugleich spezifische Öffentlichkeiten konstituieren, und die, indem sie von den Massenmedien aufgenommen, wiederholt, bestätigt und so ins kollektive Bewusstsein gedrängt werden, gleichzeitig auch gesellschaftliche Konformität erzeugen. In diesem Sinne stellen die zivilgesellschaftlichen Apparate – die Gramsci auch Hegemonialapparate nennt – ein komplexes Ensemble von Institutionen, Praxen und Ideologien dar, in welchem gesellschaftlicher Konsens nicht bloß weitergereicht wird, sondern zu allererst erkämpft und immer wieder reproduziert und so auch gleichzeitig mit sichtbarem oder unsichtbarem Zwang gefestigt werden muss. In den zivilgesellschaftlichen Apparaten werden somit auch Selbst- und Weltverständnisse und damit einhergehend die ‚richtigen‘ politischkulturellen Deutungen immer wieder mit der hegemonial gefestigten ‚Wahrheit‘ verschränkt, öffentlich kommuniziert und kollektiv reproduziert. Gramsci zeigt dies am Beispiel des damals aufkommenden Fordismus. Mit seinen Produktionstechniken, die insbesondere mit der neuen Fließbandmontage die Beschleunigung der Produktion ermöglichten, hängen auch die „neuen Arbeitsmethoden untrennbar mit einer bestimmten Weise zusammen […], zu leben, zu denken und das Leben zu empfinden.“⁵ Er weist also darauf hin, dass mit dem Aufkommen neuer Produktionsweisen nicht nur ökonomische, sondern auch politische, kulturelle und individuelle Veränderungen eingehen. Die roaring twenties in den USA, die Gramsci vor Augen hat, wenn er diese Zeilen schreibt, manifestierten sich gerade in einer tiefgreifenden Veränderung der traditionellen Sozialmilieus, der Familienstrukturen und der Subsistenzformen. Die neuen Möglichkeiten der Produktion, die damit einhergehende Akkumulation von Kapital und die zunehmende Mobilität für Waren und Menschen, die in immer größeren Massen in die Städte strömen, eröffnen auch neue Freiheitsfelder, die viele Menschen dazu verleiten, ihren Lohn für Alkohol, Vergnügungen, Libertinage und Mode auszugeben. Eine Entwicklung aber, die ihre Leistungsfähigkeit in den Fabriken schmälerte, weshalb es aus Sicht der Industriellen und der konservativen Gruppen notwendig wurde, den Arbeiter wieder arbeitstüchtig zu machen, so dass er sein Geld „rational“ verwendet, „um seine muskulär-nervliche Leistungsfähigkeit zu erneuern“.⁶ Dieser Vorgang findet nach hegemonialem Muster statt. Auf der einen Seite werden mit dem Puritanismus und dem Prohibitionismus neue Formen privater Lebensführung durchgesetzt, die auf staatlichen Zwang, aber
5 Gramsci 1991–2002, Band 9, Heft 22, S. 2086. 6 Gramsci 1991–2002, Band 3, Heft 4, S. 530.
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auch und damit eng verflochten auf einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung aufbauen, die über zivilgesellschaftliche und staatliche Moralkampagnen in Vereinen, Schulen, Partei- und Gewerkschaftsversammlungen sowie durch mediale Resonanz gewonnen wird. „Der arbeitende Mensch“, so das Ziel dieser hegemonialen Politik, dürfe „seine Nervenkräfte nicht bei der krampfhaften und ungeordneten Suche nach sexueller Befriedigung verschwenden“.⁷ Auf der anderen Seite wird mit dem Aufbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates und mit der Einführung kollektiver sozialer Sicherungssysteme zur Abdeckung der individuellen Risiken, die mit der neuen Produktionsweise einhergehen, auch die tatkräftige Unterstützung der arbeitenden Massen gewonnen. Ein hegemoniales Projekt bedarf demnach der aktiven Zustimmung seitens seiner Unterworfenen, respektive seitens der Subalternen, wie sie Gramsci nennt, und entspricht somit einer „passiven Revolution“. Mit dem Begriff der „passiven Revolution“ möchte Gramsci auf einen Mechanismus der Herrschaftsausübung aufmerksam machen, in welchem die bestehenden Machtverhältnisse und ökonomischen Produktionsbedingungen dadurch legitimiert werden, dass sie den Konsens derjenigen gewinnen, die von diesen Interessen nicht direkt profitieren. Die bestehende Ordnung der Dinge perpetuiert sich somit passiv, das heißt, ohne zu ihrer Stabilisierung ausschließlich repressive oder gar gewalttätige Methoden anwenden zu müssen. Sie beruht zudem auch nicht auf bloßer (Selbst-)Täuschung oder auf gewaltsam aufgezwungenen Weltvorstellungen. Mithin müssen jene, die politische Ordnung konstituierenden Transzendenzbezüge nicht immer mit machtbewährten Sanktionen durchgesetzt werden, sondern können auch das Produkt schleichender Einhegung und Herausbildung sein. Mit dem Begriff der „passiven Revolution“ ist also vielmehr ein Prozess der Verallgemeinerung von Interessen in einem stabilen Kompromissgleichgewicht gemeint, in welchem ideologische Inhalte dadurch hegemonial und dominant werden, dass sie auch von den Subalternen unterstützt werden. Diese haben reale Vorteile ihrer Zustimmung vor Augen und entwickeln ein echtes Interesse an der Beibehaltung der bestehenden Ordnung, weil sie sich eigene Vorteile davon erhoffen. Die jeweils dominante ökonomische Produktionsweise ist somit abhängig „von einer bestimmten politischen, moralischen, juristischen Superstruktur“,⁸ in welcher diejenigen Deutungen, die dem Produktionsprozess entsprechen und diesen als wünschenswerten plausibilisieren, mittels Konsens und Zwang durchgesetzt werden. Der Ort, an dem dies geschieht, ist für Gramsci die Zivilgesellschaft. Hier wird der Konsens erzeugt, der einer bestimmten Deutung der
7 Gramsci 1991–2002, Band 3, Heft 4, S. 531. 8 Gramsci 1991–2002, Band 6, Heft 11, S. 1465.
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politischen Welt, der ökonomischen Produktionsprozesse, der moralischen Lebensformen und der individuellen Verhaltensweisen zum Durchbruch verhilft und sich in den sozialen Praktiken niederschlägt und reproduziert. Politisch-kulturelle Deutungen, die mehrheitlich in einer Bevölkerung geteilt werden und so das politische System stützen, formieren sich also nicht unabhängig von ökonomischen Verhältnissen, in denen die Menschen ihr Dasein fristen, sondern sind vielmehr von den hegemonialen Interpretationen in der Zivilgesellschaft und den staatlichen Politiken abhängig, mit denen das bestehende ökonomische System legitimiert, stabilisiert und so auch reproduziert wird. Ein Sprung in die Gegenwart vermag diesen Zusammenhang schärfer zu konturieren. Das was in den letzten dreißig Jahren unter dem diffusen Titel ‚Neoliberalismus‘ durchgesetzt wurde, war und ist weiterhin ein politisches Projekt, das im Namen freier Märkte, die als einzige Freiheit, Prosperität und Wohlstand garantieren könnten, die Privatisierung öffentlicher Dienste, die Deregulierung des Finanz- und Arbeitsmarktes, die Privilegierung der Finanzwirtschaft und das Primat der Geldpolitik anstrebt. Die marktradikalen Dogmen – wie die Selbstheilungskraft des Marktes und die Glorifizierung des ökonomischen Nutzenkalküls – die das neoliberale Projekt erfolgreich durchsetzt, sind es nun, an denen sich Staaten, zivilgesellschaftliche Institutionen und auch das Individuum zu orientieren haben. Diese Politiken wurden politisch mehrheitsfähig und fanden in gramscianischen Termini ausgedrückt einen hegemonialen Konsens. Die einzelnen Bürger erhofften sich nämlich von der Entmantelung des Sozialstaates und der damit versprochenen „Steuersenkungen für alle“ finanzielle Vorteile, von der Deregulierung des Arbeits- und Finanzmarktes neue Lebens-, Einkommens- und Arbeitschancen und nicht zuletzt effizientere, weil nun privat geführte Dienste im öffentlichen Sektor. Die staatlichen Politiken, die diese neoliberalen Dogmen als Wegweiser für die Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung verwenden, greifen unweigerlich in die Zivilgesellschaft ein und formen hier die Institutionen nach marktspezifischen Kriterien um. Entsprechend müssen sich auch die Menschen, wollen sie in dieser neuen kapitalistischen Konstellation bestehen, an die Gegebenheiten der ökonomischen Verhältnisse anpassen. In diesem Sinne übt der Staat also Druck aus, um, wie es Gramsci formulierte, einen bestimmten Typus von Zivilisation zum Verschwinden zu bringen und andere Gewohnheiten und Verhaltensweisen zu schaffen und zu erhalten, die eine bestimmte Lebensweise, einen bestimmten Kollektivmenschen ermöglichen.⁹
9 Gramsci 1991–2002, Band 7, Heft 13, S. 1544, 1548.
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Gerade seine Intervention in die Zivilgesellschaft, dort also, wo sich die kulturelle Hegemonie formiert und die Macht des Staates gestützt wird, bildet für Gramsci die privilegierte Taktik des modernen kapitalistischen Staates, um sich diejenigen Subjekte zu erziehen, die seiner Macht dienlich sind. Grundlegend hierbei sind für ihn nicht allein die faktischen wirtschaftlichen Kreisläufe, die unterschiedliche Macht- und Privilegienpositionen erzeugen, die wiederum umkämpft oder in einer hegemonialen Ordnung stabilisiert werden können, sondern vor allem die dominanten Interpretationen dieser Markt- und Machtverhältnisse, die Deutungen also, denen es gelingt, das Bestehende als einzig mögliche Form des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interagierens zu plausibilisieren. Die in der Zivilgesellschaft vorherrschenden Interpretationen des ökonomischen Kreislaufes prägen ihre Institutionen – wie Schulen, Universitäten, Medien etc. – und formen so auch eine Kultur, die der dominanten Weltsicht entspricht. Aber auch in anderen Institutionen – wie Familie, Freundeskreis, Kirche oder Sportverein – reproduzieren sich die hegemonialen Welt- und Selbstdeutungen in der alltäglichen Praxis und in der Kommunikation. Hier wird ‚richtiges‘ von ‚falschem‘ Handeln anhand des Alltagsverstandes, der sich im gemeinsamen, selbstverständlichen Normmaßstab der Anderen widerspiegelt, geschieden und so im individuellen, aber auch kollektiven Bewusstsein verankert. Hier werden Aussagen erst in Anlehnung an den Alltagsverstand zu ‚unsinnigen‘ oder ‚sinnvollen‘ gemacht. Hier also reproduzieren sich hinter dem Rücken der Akteure sozusagen die geltenden, hegemonialen Deutungen der Welt und des Selbst und transzendieren somit seine Lebenswelt. Über zivilgesellschaftliche Institutionen – wie Medien, Parteien oder Bildungseinrichtungen – werden solche dominanten Deutungen der Welt und des Selbst wieder aufgenommen, wiederholt und gleichsam mit einer Aura der Autorität gefestigt. Sie sind alle nicht direkt mit der wirtschaftlichen Produktion an sich verbunden, üben aber nichtsdestoweniger die zentrale Funktion aus, Arbeit, Leben, Denken und Fühlen durch bestimmte Formen der Moral und Kultur zu kultivieren und zwar nach Maßgabe der dominanten wirtschaftspolitischen Doktrin. In den zivilgesellschaftlichen Hegemonialapparaten werden somit die technischen, intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten zur Arbeit, die eine entwickelte kapitalistische Produktion verlangt, reproduziert. Hier wird jene Arbeitskraft kultiviert, die politisch sowie moralisch fähig und willig ist, sich der Disziplin, der Logik, der Kultur und den – sichtbaren wie unsichtbaren – Zwängen der kapitalistischen Produktionsweise in jedem Stadium zu unterwerfen, den jene erreicht hat. Gegenwärtig ist die Taktik der neoliberalen Hegemonie eine Regierungspraxis, die weiterhin auf Konsens und Zwang beruht – wenn auch, angesichts der weltweit zunehmenden Proteste, die nicht selten mit repressiven und polizeilichen Mitteln zu beenden versucht werden, heute der Moment des Zwangs auf dem Vormarsch ist –, mit ihrer Rheto-
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rik der Alternativlosigkeit gegenüber den Forderungen der Finanzmärkte und mit ihrer Gesamtstrategie der Ökonomisierung des Sozialen die Vereinnahmung aller möglichen zivilgesellschaftlichen Felder und Akteure durch das ökonomische, eigennutzenorientierte Kalkül vollzieht. Der Neoliberalismus, der als wirtschaftliches Projekt unweigerlich auf seine politische Durchsetzung zählen muss und deshalb tiefgreifend in den Bereich des Sozialen eindringt, formt somit nicht nur die Soziokultur, also die Welt der zwischenmenschlichen Begegnungen und Interaktionen nach eigenen Maßgaben, sondern und ungleich machtvoller auch die Deutungskultur, mit welcher ebendiese Welt und ihre Regeln als einzig mögliche und alternativlose plausibilisiert werden. Fern davon, politische Kultur zu erodieren oder zu zerstören, erschafft der Neoliberalismus seine eigene politische Kultur, die ihre Selbst- und Weltverständnisse an der transzendenten Welt der seligmachenden, unbefleckten Märkte ausrichtet und die ihm auch dazu dient, diejenigen Deutungen der Welt und des Selbst zu generieren, im Alltagsverstand zu festigen und in der sozialen Praxis mittels Konsens und Zwang manifest zu machen, die seiner politischen Durchsetzung und Stabilisierung das legitimatorische Fundament bereitstellen. Als Sediment hegemonialer Deutungen und Praktiken, speichert politische Kultur somit die dominant gewordenen, im praktischen Alltag und durch strukturelle Zwänge einer nach Marktradikalität ausgerichteten Arbeits- und Konsumwelt auch habituell reproduzierten ‚Normalitäten‘ und ‚Wahrheiten‘ im Alltagsverstand und kreiert so ein dominantes Deutungsraster der politischen, ökonomischen und sozialen Welt nach Maßgabe der herrschenden Hegemonie. Sinn- und Wertvorstellungen, Orientierungen, aber auch Erwartungen an das politische System werden damit im Rahmen der neoliberalen Hegemonie neu ausgerichtet und im Register des Marktspiels neu kodiert. Der Bürger verwandelt sich dadurch zum Marktsubjekt und erschließt sich die Welt zunehmend aus dieser Perspektive. Begriffe wie ‚Solidarität‘, ‚Gemeinwohl‘ oder ‚politisches Engagement‘ scheinen ihm nur noch dann geboten zu sein, wenn es um die Verteidigung des eigenen Wohlstandes und des noch verbliebenen Sozialstaates gegen fremde Eindringlinge oder angeblich faule Mitbürger geht.
3 Schlusswort Hegemonie zu erlangen, bedeutet somit nach Gramsci, eine moralische, politische und intellektuelle Führung im gesellschaftlichen Leben zu etablieren, indem eine bestimmte ‚Weltanschauung‘ im ganzen Gewebe der Gesellschaft mittels der
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Hegemonialapparate verbreitet wird und so die partikularen Interessen einer Klasse oder Gruppe mit denen der ganzen Gesellschaft gleichgesetzt werden. Für Gramsci sind es also nicht die kruden ökonomischen Bedingungen, die das politische Handeln determinieren, sondern vielmehr die Interpretationen derselben. Diese hegemonial gewordenen Interpretationen der ökonomischen Prozesse und der Akteursrollen, die den Menschen darin zugeschrieben werden, sind konstitutiv für die Herausbildung politisch-kultureller Sinn-, Wert- und Ordnungsvorstellungen. Damit wird auch das Konzept der politischen Kultur von einer engen Anlehnung an das traditionelle politische System – mit seinen Institutionen der Regierung, des Parlaments und des Rechts – losgelöst und in einen erweiterten Kontext gestellt, in dem der gesamte soziale Prozess mit seinen zivilgesellschaftlichen Institutionen und den darin stattfindenden sozialen Praktiken eingeschlossen ist. Damit werden, entgegen der überkommenen Konzeption von Politik, auch solche Handlungen, Praktiken und Symbole, aber vor allem auch die sozialen Räume, in denen diese Interaktionen und Zeichen sprachlich vermittelt, mit Bedeutung versetzt und im praktischen Vollzug stabilisiert und plausibilisiert werden, als politische verstanden. Die politische Dimension der politischen Kultur manifestiert sich somit nicht nur in ihrer Stabilisierungsfunktion für ein politisches System, sondern liegt vielmehr schon im kommunikativen, symbolischen und praktischen Konstitutionsprozess verborgen, in welchem sich die Deutungs-, Sinn- und Orientierungsmuster für ein Kollektiv mittels Konsens und Zwang herauskristallisieren und so eine Sedimentierung im kollektiven Bewusstsein, in den alltäglichen sozialen Praktiken und ‚Sprachen‘ finden. Es ist nämlich schon die verwendete Sprache selbst, mit welcher wir über Transformationen im politischen, ökonomischen und sozialen Leben informiert werden, die dazu tendiert, die hegemoniale Deutungshoheit und ihre Auswirkungen im alltäglichen Denken und Handeln zu reproduzieren. Begriffe, Ideen, Terminologien, Kategorien, aber auch Bilder und Symbole erlauben uns, einen bestimmten Aspekt des gesellschaftlichen Prozesses oder Ordnungssystems im Denken zu erfassen und ermöglichen uns damit, uns und anderen sich vorzustellen, wie diese Prozesse oder das System arbeiten, funktionieren und wie sie auf uns einwirken. Mittels Sprache erklären wir etwas, stellen es uns in Gedanken vor und formen es zugleich in seinem Bedeutungsinhalt, was wiederum die praktischen Tätigkeiten prägt, die abermals durch eine sprachlich vermittelte hegemoniale Deutung beurteilt werden. Sprache dient hierbei der Festigung der hegemonialen Kodierung, indem sie gesellschaftliche Phänomene aus der Perspektive des hegemonialen Bedeutungsreservoirs artikuliert und so von Beginn an die kommunikative Auseinandersetzung vorspurt. Damit wird auch eine privilegierte, weil hegemonial sanktionierte Lesart der sozialen Interaktion und der Begriffe, die zur Erläuterung dieser dienen, im kollektiven und subjek-
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tiven Bewusstsein sedimentiert. Das bedeutet nicht, dass keine anders kodierte Lesart möglich ist, sondern bloß, dass jede Lesart immer schon vorgespurt ist und mittels Konsens und Zwang ihre Kodes im alltäglichen Sprachgebrauch und in der alltäglichen Praxis repetiert, ritualisiert und so eben auch im Alltagsverstand sedimentiert. Sie wird zur privilegierten Lesart, nicht weil es keine anders kodierten Deutungsmuster gäbe, sondern weil in ihr und durch sie die plausibelsten, da mit dem Alltagsverstand konform gehenden Bedeutungen der Welt und des Selbst dechiffriert werden können. Dadurch werden andere Lesarten nicht etwa von Beginn an ausgeschaltet oder verunmöglicht, aber sehr wohl marginalisiert. Sobald eine Lesart hegemonialen Status erreicht hat, zumal ihre Kodes mittels Konsens und Zwang in der Kommunikation als legitime anerkannt und in der sozialen Praxis habituell reproduziert werden und so im Alltagsverstand sedimentieren, bleibt diese konforme Deutung der Welt und des Selbst nicht immun, aber resistent gegenüber anderen Lesarten. Sobald also hegemoniale Deutungen eine Sedimentierung im kollektiven Bewusstsein erfahren und so auch das subjektive Denken und Handeln nach Maßgabe ihrer Kodes hör- und sichtbar werden lassen, schreiben sie den dadurch hervorgebrachten Selbst- und Weltverständnissen den Status des ‚Normalen‘ und ‚Wahren‘ zu. Damit werden Letztere zugleich mit dem Moment der Unhinterfragbarkeit und somit auch der Unverfügbarkeit verknüpft – so als wären sie immun gegenüber dem historischen und machtdurchsetzten Prozess ihrer Entstehung. Politische Kultur verstanden als Sediment, welches hegemoniale Deutungen speichert, weist gerade auf diesen Verflechtungs- und Reflexivitätsvorgang zwischen sprachlich vermittelter und umkämpfter Bedeutung und ihr entsprechender und sie reproduzierender Praxis hin, womit eben eine bestimmte hegemoniale Formation der Selbst- und Weltdeutung im Alltagsverstand sedimentiert, so eine bestimmte Vorstellung von politischer Ordnung bevorzugt und zugleich andere Deutungsangebote und -muster verdrängt. Sedimentierung ist ja, wie Edmund Husserl betonte, gerade der Name für die Routinisierung und das Vergessen von Ursprüngen.¹⁰ Es ist ein Prozess, der aufzutreten beginnt, sobald ein bestimmtes Ensemble von Sinnvorstellungen über die politischen, ökonomischen und sozialen Begebenheiten einer Gesellschaft zu einem hegemonialen Erfolg führt. Sofern ein solcher Institutionsakt, wie Ernesto Laclau dies nennt, von Erfolg gekrönt ist, „kommt es zu einem tendenziellen ‚Vergessen der Ursprünge‘, das System möglicher Alternativen beginnt zu verschwinden und die Spuren der originären Kontingenz verwischen. Auf diese Weise tendiert das Instituierte dazu, die Form reiner objektiver Präsenz anzunehmen. Dies
10 Marchart 2010, S. 204.
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ist das Moment der Sedimentierung.“¹¹ Wenn also die bestehenden politischkulturellen Deutungsmuster und die hiervon mit dem Prädikat des ‚Richtigen‘ oder ‚Falschen‘ taxierten sozialen Praktiken unhinterfragt übernommen und im habitualisierten alltäglichen Handeln reproduziert werden, ‚versteinern‘ sie im kollektiven Bewusstsein und verwischen dadurch die historischen und machtdurchsetzten Spuren, denen sie ihr Bestehen verdanken. Sie werden also – kurz gesagt – durch die Verdeckung sozialer Deutungskonkurrenzen unverfügbar gestellt und transzendieren so die lebensweltlichen Koordinaten ihrer Träger. Es ist ein Prozess, der mit Gramsci als hegemonialer verstanden werden kann, weil der Kampf um das ‚Vergessen‘ dieser Spuren in den zivilgesellschaftlichen Apparaten stattfindet, wo in den routinisierten Praktiken und Diskursen der Akteure ein habitualisierter Modus der Interaktion, der sprachlichen Bedeutungsgebung und somit auch des Verständnisses für die eigene und kollektive Lebensführung und -ausrichtung, die hierfür konstitutiven ideologischen Formen, politischen Kämpfe und ökonomischen Zwänge zunehmend ins Vergessen drängt. Hegemonial ist er auch deshalb, weil gerade Gramscis Überlegungen zur Art und Weise, wie eine hegemoniale Macht funktioniert, die Tür weisen, aus welcher ein Austritt, um einen neuen Eintritt ins Geschehen zu vollziehen, möglich ist.
Literaturverzeichnis Demirovic, Alex (2007), Politische Gesellschaft – zivile Gesellschaft. Zur Theorie des integralen Staates bei Antonio Gramsci, in: Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis, hg. v. Sonja Buckel/Andreas FischerLescano, Baden-Baden, S. 21–41. Gramsci, Antonio (1991–2002), Gefängnishefte, hg. v. Klaus Bochmann/Wolfgang Haug, Hamburg. Marchart, Oliver (2010), Die politische Differenz, Frankfurt a.M. Rohe, Karl (1996), Politische Kultur. Zum Verständnis eines theoretischen Konzeptes, in: Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland, hg. v. Oskar Niedermeyer/Klaus von Beyme, Opladen, S. 1–21. Welch, Stephen (1993), The Concept of Political Culture, New York.
11 Ernesto Laclau zitiert in: Marchart 2010, S. 204.
Stephan Dreischer, Sebastian Heer, Katharina Kern
Politische Ordnungsdiskurse im Vergleich: Gesamtdeutschland, Ostdeutschland und die Europäische Union 1 Leitgedanken der Analyse Die Frage nach Konkurrenz und Amalgamierung von Transzendenz ist eine jener Grundfragen, die bei der Analyse politischer Systeme fast zwangsläufig auftauchen. Das gilt zumindest dann, wenn man sich der erkenntnisleitenden Hypothese nicht verschließt, dass politische Ordnungen, verstanden als die Gesamtheit der politischen Strukturen, Prozesse und Inhalte, durch zunächst situationsdefinierende und sodann handlungsanleitende, diskursive Rekurse auf Transzendentes und Gemeinsinniges konstruiert, stabilisiert oder auch transformiert werden. Dieser Text konzentriert sich auf den Aspekt konkurrierender Transzendenz, wobei Transzendenz als Unverfügbares, also der Dispositionsfreiheit des Einzelnen Entzogenes,¹ gefasst wird. Die Entstehung konkurrierender Unverfügbarkeiten ist in freiheitlich-demokratischen Systemen nichts Ungewöhnliches, weil sich in pluralistischen Systemen unterschiedliche Transzendenzrekurse, die vollkommen unverbunden oder in einem Ergänzungs-, aber auch in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander stehen können,² ‚natürlicherweise‘ entwickeln. Freiheit und Gleichheit, Souveränität und Menschenrechte oder Frieden und Sicherheit sind diesbezüglich nicht ganz unplausible Beispiele. Häufig steht ein recht vielfältiges Angebot möglicher Transzendenzrekurse bereit, die in Diskursen zur Ordnungskonstruktion eingesetzt werden können, wobei diese aufgrund der Notwendigkeit ihrer ‚Passung‘ zum jeweiligen Kontext nicht alle zu jeder Zeit gleichermaßen handlungsanleitende Situationsdefinitionen hervorrufen. Auch gibt es derlei nicht bloß in vollständig institutionalisierten oder in freiheitlichdemokratischen Ordnungen. Vielmehr kommt es auch in ‚unfertigen‘ sowie autoritären oder totalitären Systemen zur Umstrittenheit von Unverfügbarem. So können etwa Freiheit und Gleichheit auch dort diskursiv in Konflikt geraten, wo deren Geltungskraft a priori, im Fall der DDR beispielsweise durch das Primat der SED, festgelegt ist. Wenn in Phasen des Umbruchs dann neue diskursive
1 Vorländer 2011, S. 10. 2 Siehe dazu im Einleitungskapitel dieses Bandes den Abschnitt 1.
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Freiheitsgrade erschlossen werden, ist zu beobachten, dass sich die Konkurrenz von Unverfügbarem Bahn bricht und vielleicht tatsächlich durch Diskurse solche Situationsdefinitionen geschaffen werden, die alternative Handlungsanleitungen generieren und neue Praxen hervorrufen. Ob von solchen Diskursen ordnungsgenerierende Wirkung ausgeht, hängt dabei ganz wesentlich von den jeweils wirksam werdenden Kontextfaktoren ab. Die gemeinsamen Fragestellungen dieses Beitrags lassen sich wie folgt zuspitzen: Welche Konkurrenzen – oder besser: Kollisionen und Konflikte – zwischen Unverfügbarem lassen sich in den politischen Ordnungsdiskursen Ostund Gesamtdeutschlands sowie Europas erkennen? Wie kommt es zum diskursiv durchgesetzten Obsiegen oder Unterliegen von Rekursen auf bestimmte Unverfügbarkeiten, und wie werden derlei Konflikte ‚aufgelöst‘? Die Beantwortung dieser Fragen zeigt, welche Strategien im Falle des Konflikts erfolgversprechend sind, aber auch welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten es beim Umgang mit solchen Kollisionen und Konflikten in verschiedenen politischen Systemen und in divergierenden Aggregatzuständen politischer Ordnungskonstitution gibt. Dazu eignen sich die drei Untersuchungsfälle besonders gut, weil es zum einen um Ordnungsfiktionen einer Gesellschaft in der Phase des Umbruchs (Ostdeutschland), zum anderen um die Veränderungen im Falle bereits etablierter (Gesamtdeutschland) sowie noch immer im Aufbau befindlicher Ordnungen (Europäische Union) geht. Im Folgenden werden Ausschnitte politischer Wirklichkeitskonstruktion präsentiert, die anhand von Sekundärliteratur, aber auch mittels Inhaltsanalysen von Dokumenten und Reden exemplarische Einblicke in den Umgang mit konkurrierenden Transzendenzbehauptungen liefern.
2 Fallbeispiele kollidierender Transzendenzrekurse 2.1 Staatliche Souveränität versus Acquis communautaire Auf europäischer Ebene lassen sich kollidierende Transzendenzrekurse am Beispiel der im Sommer 2010 erfolgten ‚Abschiebung‘ von Roma aus Frankreich nach Bulgarien und Rumänien zeigen. Der Fall nahm seinen Ausgang von einer Rede Nicolas Sarkozys, der in Grenoble, nachdem es zum Angriff auf eine Gendarmerie-Station in Saint-Aignan gekommen war, verkündete, dass den Roma härtere Zeiten bevorstünden. Er sagte, er habe
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„[…] den Innenminister darum gebeten, den wilden Lageransiedlungen der Roma ein Ende zu bereiten. Diese rechtsfreien Räume dürfen wir in Frankreich nicht tolerieren. Es geht aber keinesfalls um die Stigmatisierung der Roma. Wir haben seit dem Gesetz Besson große Fortschritte in der Einrichtung von Freiflächen für sie gemacht.“³
Durch den Verweis auf Éric Besson wurde das Rundschreiben „Lutte contre les campements illicites“ vom 24. Juni 2010 weithin bekannt, das dieser gemeinsam mit dem französischen Innenminister Brice Hortefeux unterzeichnet hatte und welches Maßnahmen zur Auflösung illegaler Lager enthielt. Diesem Dokument folgte am 5. August 2010 das zweite Rundschreiben, das in manchen Passagen tatsächlich gezielt die Räumung der Roma-Lager forderte: „300 illegale Lager und Siedlungen, bevorzugt der Roma, sollen spätestens in drei Monaten geräumt sein. […] Es erfordert also das engagierte und systematische Vorgehen der Präfekten bei der Räumung bevorzugt der Roma-Lager. […] Darüber hinaus gilt es selbstverständlich, jeden neuerlichen Versuch der Roma zur Errichtung von Lagern zu verhindern.“⁴
Begründet wurden die Maßnahmen damit, dass es die Aufgabe des Staates sei, seine Autorität aufrechtzuerhalten, also seine Souveränitätsrechte auszuüben. Dieses und ein drittes Rundschreiben blieben der Öffentlichkeit zunächst verborgen, gleichwohl entstanden – sich später auch als wahr erweisende – Gerüchte über die Existenz der Schreiben und eine gezielte Kampagne gegen die Roma. Darauf reagierte die für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft zuständige Vizepräsidentin der EU-Kommission Viviane Reding mit folgender Stellungnahme: „On the one hand, I fully acknowledge that it is the sole responsibility of the Member States to ensure public order and the safety of their citizens on their national territory. On the other hand, I expect that all Member States respect the commonly agreed EU rules on free movement, non-discrimination and the common values of the European Union, notably the respect for fundamental rights, including the rights of people belonging to minorities.“⁵
Die Äußerung unterstreicht die potentielle Konflikthaftigkeit zweier im Grunde unverfügbarer Elemente; denn Reding nennt das – durch die europäischen Gemeinschaftsverträge keineswegs aufgehobene – Souveränitätsprinzip⁶ der Mitgliedstaaten, stellt diesem aber gleichwohl einige Teile des Acquis commu-
3 Sarkozy 2010. 4 Rundschreiben II „Évacuation des campements illicites“, S. 1f. 5 Reding 2010a, S. 2. 6 Souveränität ist hier sehr allgemein als Unabhängigkeit nach außen und Selbstbestimmtheit nach innen gefasst.
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nautaire, also des gemeinsamen europäischen Rechtsbestands gegenüber. Die Geltungsbehauptung beider Prinzipien bleibt nun solange unkritisch, bis es aufgrund eines diskursiven Ereignisses⁷ zur gleichzeitigen Bezugnahme auf unterschiedliche Transzendenzbehauptungen mit der Erwartung kommt, eine der beiden besitze eine höhere situationsdefinierende und damit geltungsbegründende Kraft. Offener Streitausbruch ist dabei als Indikator für zwei Dinge zu werten: Es misslingt, im Vorfeld einer Krise – basierend auf gemeinsamer Sozialisation und Enkulturation sowie aufgrund eingeübter, routinemäßiger Verhaltensweisen – die Eskalation abzuwenden; und es scheitern die Versuche, gegenseitig unterschiedliche Perspektivität und Selektivität mit der Annahme zu unterstellen, man spreche im Grunde über dasselbe und habe nur eine andere Sicht auf die Dinge. Kurzzeitigen Erfolg verheißt zwar die gegenteilige Strategie, nämlich anzunehmen, man spreche einfach über Verschiedenes, und solch eine Brücke zur Deeskalation findet sich auch in der Reding-Stellungnahme, wenn jene schreibt: „It is clear that those who break the law need to face the consequences. It is equally clear that nobody should face expulsion just for being Roma.“⁸ Problematisch ist aber, dass die Wirkung dieser diskursiven Obstruktionspraxis nur so lange anhält, bis den Konflikt auslösende Devianzen wieder sichtbar werden.⁹ Dazu kam es schließlich durch eine Pressekonferenz des französischen Innenministers, bei der es eine explizite Erwähnung der Roma im Zusammenhang mit den Räumungen illegaler Lager gab.¹⁰ Zwar waren zu diesem Zeitpunkt die beiden diskriminierenden Rundschreiben noch immer nicht öffentlich, und folglich blieb vorerst auch verborgen, dass Pierre Lellouche und Éric Besson in einem – auf die Pressekonferenz folgenden – Gespräch mit der EU-Kommission durch Leugnung dieses Umstands gelogen hatten; trotzdem waren die Äußerungen der diskursive Anlass zum offenen Streitausbruch. Dabei zeigt sich, dass die Konfliktverschärfung von veränderten Diskursstrategien begleitet wurde, bei denen es nicht mehr um gegenseitiges Einhegen, sondern vielmehr um die Stigmatisierung und Ausgrenzung der jeweils anderen Positionen als unrichtig oder fehlgeleitet ging: Auf der einen Seite standen dabei die Äußerungen eines Teiles der Europaparlamentarier sowie der EU-Kommissarin Reding, auf der anderen Seite Aussagen vor allem französischer Politiker. Deutlich wird darin, dass zunehmend Versuche unterblieben, die gleichzeitige und amalgamierende Geltungskraft alternativer Transzendenzbehauptungen anzuerkennen. Exem-
7 Siehe Keller 2011, S. 205ff. 8 Reding 2010a, S. 1. 9 Siehe zu solchen Methoden umfassend Patzelt 1987, S. 118ff. 10 Hortefeux 2010.
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plarisch kann das an Äußerungen, wie etwa jener des französischen Abgeordneten Jean-Pierre Audy gezeigt werden, der formulierte, dass sich das französische Volk für Sicherheit und öffentlichen Frieden entschieden habe, hinter denen die Freizügigkeit zurückzustehen habe.¹¹ Demgegenüber argumentierten andere Abgeordnete im Europäischen Parlament gerade mit der Bezugnahme auf die von Audy als zweitrangig erklärte Freizügigkeit sowie mit Rekursen auf in der Grundrechtecharta verankerte Rechte.¹² Hier zeigt sich eine für pluralistische Systeme recht typische Konstellation, bei der das Gegeneinander von Transzendenzrekursen sich nur schwer auflösen lässt. Wohl auch deshalb bemühte Reding eine Transzendenzressource, der kaum mehr etwas entgegenzusetzen war, indem sie sagte: „I personally have been appalled by a situation which gave the impression that people are being removed from a member state of the European Union just because they belong to a certain ethnic minority. This is a situation I had thought Europe would not have to witness again after the Second World War.“¹³
Durch den geschichtlichen Bezug auf die Vertreibungen während der NS-Zeit provoziert Reding eine gedankliche Linie zwischen dem französischen Vorgehen und dem Holocaust. Implizit mitgedacht werden muss dann nur noch, dass es zum gemeinsamen Wissensbestand aller Europäer gehört, dass sich derlei nicht wiederholen dürfe. Allein der Hinweis darauf, dass das Verhalten geeignet sei, genau diese europaweit geteilte Hintergrunderwartung¹⁴ zu diskreditieren, markiert den Übergang zur Ausgrenzungspraxis. Als völlig untauglich, die Geltungskraft der eigenen Transzendenzressource wiederherzustellen, erwies sich dann auch die Äußerung Lellouches: „Frankreich ist ein großes souveränes Land. Wir sind nicht in der Schule, wir wenden unsere Gesetze an.“¹⁵ Auch misslang – aufgrund umgehender Dementi – der in dieselbe Richtung zielende Versuch Sarkozys, andere Staaten, darunter Deutschland, diskursiv durch die Unterstellung ähnli-
11 Siehe den Redebeitrag Jean-Pierre Audys in der Debatte des Europäischen Parlaments vom 7. September 2010 (http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc. do?type=CRE&reference=20100907 &secondRef=ITEM-011&language=EN&ring=P7RC-2010-0493, Zugriff am: 12.12.2011). 12 Siehe ebd. beispielhaft die Redebeiträge von Gerard Batten, Sarah Ludford oder Timothy Kirkhope. 13 Reding 2010b, S. 2. 14 Zum Konzept der Hintergrunderwartung siehe kurz zusammenfassend Abels 2009, S. 102. 15 Zitiert nach Gammelin/Ulrich 2010, S. 1.
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cher Absichten in Bezug auf die Roma einzuhegen.¹⁶ Weitere Eskalationsstufen, wie ein zunächst geplantes Vertragsverletzungsverfahren¹⁷ gegen Frankreich, fanden ein recht abruptes Ende, weil die französische Regierung der Kommission Unterlagen vorlegte, die eine Stigmatisierung der Roma nicht zweifelsfrei erkennen ließen. Letztlich bewahrheitet sich hier, was Nikolas Busse in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wie folgt formulierte: „In Wirklichkeit geht es […] um die Frage, wer in Europa eigentlich das Sagen hat – die nationalen Regierungen oder die Institutionen in Brüssel.“¹⁸ Das Beispiel lehrt, dass es ‚Transzendenzkonflikte‘ schon deshalb gibt, weil nationale und supranationale Transzendenzrekurse ohnehin miteinander konkurrieren, da beide Ordnungsgefüge in einem Spannungs- und Verflechtungsverhältnis stehen.¹⁹ Es zeigt sich aber auch, dass der Rekurs auf die nationale Souveränität untauglich war, weil sich damit Verstöße gegen das auf beiden Ebenen gleichermaßen geltende Rechtsstaatsprinzip nicht rechtfertigen ließen. Und letztlich kann hier abgelesen werden, dass sich die Konkurrenz zweier Transzendenzrekurse durch weitere Transzendenzrekurse mit einer über den aktuellen raum-zeitlichen Kontext hinausreichenden höheren Geltungskraft auflösen lässt. Anders gelagert ist der nachfolgende Fall, bei dem es nicht zum offenen Konfliktausbruch kam, sondern die Kollision im Verborgenen ablief.
2.2 Einigkeit und Recht und D-Mark? Die Euro-Einführung als Ergebnis der Kollision zweier deutscher Transzendenzressourcen Was bedeutete die Einführung der europäischen Gemeinschaftswährung Euro für Deutschland in Hinblick auf die im Prozess gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion verwendeten Transzendenzbezüge? Bei der Klärung dieser Frage wird alsbald deutlich, dass es sich nicht nur um eine finanzpolitische Maßnahme handelte, sondern um das Ergebnis der Kollision zweier transzendenter Geltungsbezüge der deutschen Politik, von denen einer infolge dieser Kollision dekonstruiert wurde. Wenngleich die Euroeinführung erst 2001/2002 praktisch vollzogen
16 Siehe etwa Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18. September 2010, S. 1f., sowie Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21. September 2010, S. 4. 17 Art. 258 AEUV gestattet der Kommission die Einleitung eines Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof, wenn Mitgliedstaaten der Aufforderung zur Stellungnahme innerhalb einer bestimmten Frist nicht nachkommen. 18 Busse 2010. 19 Siehe dazu exemplarisch Scharpf 1994.
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wurde, so beruhte dieser weitreichende fiskal- und wirtschaftspolitische Eingriff auf dem 1992 geschlossenen Vertrag von Maastricht, in dessen Rahmen die Verankerung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Auflage vereinbart wurde, bis spätestens 1999 die neue Gemeinschaftswährung einzuführen.²⁰ Für die Bundesrepublik bedeutete dies die Abschaffung der D-Mark zugunsten des Euros, doch gerade für die Deutschen handelte es sich um weit mehr als nur eine Währung.²¹ Die Beziehung der Westdeutschen zur D-Mark war über vierzig Jahre hinweg gewachsen und hatte diese zu einem Sinnbild des Wirtschaftswunders und identitätsstiftenden Symbol der Bundesrepublik werden lassen, zum Referenzpunkt des westdeutschen Aufstiegs und Selbstbilds nach dem Krieg.²² Dabei war es bei näherer Betrachtung weniger die D-Mark selbst als vielmehr der bundesrepublikanische Gründungsmythos des Wirtschaftswunders,²³ als dessen ikonische Verdichtung die D-Mark zum Inbegriff des Aufstiegs überhöht wurde und auf den letztlich vermittels der Währung diskursiv Bezug genommen wurde. Somit verdankte sich auch die hochgradig symbolisch aufgeladene wirklichkeitskonstruktive Strahlkraft der D-Mark ihrer engen Assoziation mit dem westdeutschen Wirtschaftswunder der 1950er Jahre, welches anfänglich als eine der zentralen transzendenten Legitimationsressourcen des noch jungen bundesrepublikanischen Staatsgefüges diente. Solchermaßen interpretiert, hat man es bei der D-Mark mit einem abgeleiteten Sinnbild des Transzendenzbezuges ‚Wirtschaftswundermythos‘ zu tun, welches aufgrund dieser engen Anbindung in diskursiven Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion letztlich selbst als transzendente Geltungsressource herangezogen wurde. Keinen geringeren, wenngleich leicht anders akzentuierten Sinngehalt besaß die D-Mark für die Ostdeutschen.²⁴ Bereits zu DDR-Zeiten als inoffizielle Parallelwährung im kollektiven Bewusstsein präsent, avancierte sie nicht erst nach der politischen Wende zum Symbol eines Lebens in Wohlstand und Stabilität. Was diese Assoziation anbelangt, so ähnelt sie jener Zuschreibung, welche die Westdeutschen ihrer Währung beimaßen, denn für alle Deutschen – egal ob 1948 oder 1990 – bedeutete die D-Mark einen klaren Schnitt zur Vergangenheit, ein Zeichen des Aufschwungs sowie einer neuen Identität.²⁵ Somit verknüpfte sich
20 Für einen Überblick zu Vorgeschichte und diskutierten Beitrittsmodi vgl. Hagen 1998. 21 Belegt durch zahlreiche ‚emotionalisierende‘ Veröffentlichungen, siehe stellvertretend Müller-Peters 2001. 22 Vgl. Roeper 1978; Pohl 2001, S. 7ff. 23 Ausführlich dargelegt in Heer 2013, S. 127 ff.; ferner Hacke 2009. 24 Vgl. Rueden 1991; ebenso Schöne 1998, S. 137ff. 25 Siehe Münkler 2009, S. 464.
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mit der D-Mark für die Ostdeutschen weniger ein Ausweis des Erreichten als vielmehr eine Zielbestimmung des zu Erreichenden, wie Demonstrationslosungen dieser Zeit signifikant vor Augen führen: „Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr“. Bei Lichte betrachtet brachte diese Maxime pointiert die Erwartungen auf den Punkt, drückte sich in ihr doch einerseits das Streben nach wirtschaftlich abgesichertem, stabilem Wohlergehen sowie andererseits die Überzeugung aus, ein solches mit der D-Mark erlangen zu können. Weil freilich keine Währung für sich besehen derlei leisten kann, offenbart sich genau in diesem Punkt, dass hinter der diskursiv-verkürzten Konzentration auf die D-Mark mehr stand. Denn im Grunde verbarg sich hinter der Forderung nach deren Einführung die indirekte Bezugnahme auf den bundesrepublikanischen Gründungsmythos des Wirtschaftswunders, als dessen ikonische Verdichtung und evidentes Symbol die D-Mark im Westen seit Jahrzehnten galt.²⁶ Der Ruf nach der D-Mark als politische Forderung im Prozess ostdeutscher politischer Ordnungskonstruktion jener Tage zitierte somit die mythisch aufbereitete Geschichte der raschen wirtschaftlichen Gesundung einer am Boden liegenden Gesellschaft in prosperierende Höhen: „Helmut nimm’ uns an die Hand, zeig’ uns den Weg ins Wirtschaftswunderland“.²⁷ Die Hoffnung auf die baldige Ankunft in einem solchen wurde dabei von westdeutschen Politikern gezielt genährt, indem sie den natürlich auch in der DDR gegenwärtigen bundesrepublikanischen Gründungsmythos reproduzierten, ihn auf die Formel der D-Mark verdichteten und auf die ostdeutsche Gesellschaft applizierten. Somit nahm der Verweis auf die D-Mark in ostdeutschen gesellschaftlichen Diskursen ebenso wie für die Westdeutschen den Stellenwert einer Geltungsressource ein, auf die man sich bezog, um über darüber ausgelöste Assoziationsschleifen zum transzendenten Wirtschaftswundermythos wirklichkeitskonstruktives Potential zur Abstützung politischer Absichten nutzbar zu machen. Warum also gaben die Deutschen diese ihnen wichtige D-Mark, die für sie weit mehr bedeutete als ein bloßes Zahlungsmittel, dann auf? Zur Klärung dieser Frage ist es nötig, zurückzublenden in die Periode um 1989/90, in der die dann in Maastricht in Vertragsform gegossenen Bestimmungen ausgehandelt wurden. In beiden deutschen Staaten stand zu dieser Zeit ein Thema ganz oben auf der politischen Agenda: die Überwindung der deutschen Teilung. Für die Bundesrepublik geht man sicher nicht zu weit, die Wiederherstellung der deutschen Einheit als eine weitere transzendente diskursive Ressource der Politik einzustufen, welche
26 Dazu Heer 2013. 27 So eine weitere populäre Losung der Demonstrationen im späteren Verlauf der Friedlichen Revolution.
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seit Jahrzehnten – wenngleich in unterschiedlicher Intensität – zum Tragen kam. Hatte Adenauer mit seiner konsequenten Westintegration die bundesrepublikanische Verhandlungsbasis für die Zukunft markiert, so bekam die Frage der Wiedervereinigung spätestens seit der Tauwetterphase der 1970er Jahre erneut Konjunktur. Doch nicht nur Sozial-, auch Christdemokraten betonten regelmäßig die Einheit Deutschlands, die herzustellen ein – obschon zuweilen symbolisch vorgeblendetes – nicht verhandelbares und folglich unverfügbar gestelltes Ziel bundesrepublikanischer Politik bleiben müsse. In Ostdeutschland gelangte die Frage der deutschen Einheit freilich erst im Zuge der Friedlichen Revolution ernsthaft ins öffentliche Bewusstsein, und so geriet die Wiedervereinigung spätestens im Winter 1989/1990 auch in der DDR zur transzendenten Ordnungsressource des politischen Diskurses. Eine in dieser Hinsicht untrügliche Sprache sprechen dabei die beobachtbaren sukzessiven Verschiebungen der Plakatlosungen bei den Massendemonstrationen, die ihren Ausgang nahmen bei dem auf eine Reform der DDR abzielenden „Wir sind das Volk“, welches sich innerhalb weniger Wochen weiterentwickelte zu „Wir sind ein Volk“. Damit hatten sich mit wenigen Ausnahmen und ungeachtet unterschiedlicher Vorstellungen über deren konkrete Herbeiführung sämtliche einflussreicheren politischen Kräfte der DDR auf die deutsche Einheit als politisches Ziel festgelegt. Nachdem die Wiederherstellung der deutschen Einheit 1989/90 sowohl in der DDR als auch der BRD als transzendente, diskursive Ressource der politischen Wirklichkeitskonstruktion diente, drängte die ‚deutsche Frage‘ kraft des Momentums der Ereignisse auch auf die Agenda der internationalen Politik. Jene wiederum geriet zum Nadelöhr in der Lösung der Angelegenheit, da diese eingebettet war in die Beendigung des Kalten Krieges; zudem haftete ihr angesichts des Gewichts eines vereinigten Deutschlands ebenso eine europapolitisch-strategische Relevanz an. In dieser Problematik ohne souveräne Handlungsfreiheit, versuchten die deutschen Verhandlungspartner, die Zustimmung der ehemaligen Siegermächte zu erlangen und begaben sich in einen schwierigen Aushandlungsprozess der Bedingungen, die ein vereinigtes Deutschland zu erfüllen hätte – und an eben diesem Punkt kam der Euro ins Spiel. Denn wie einer breiteren Öffentlichkeit rund zwei Jahrzehnte nach diesen Verhandlungen bekannt wurde,²⁸ sollte die europäische Gemeinschaftswährung eine erst auf den zweiten Blick erkennbare Verknüpfung zwischen der deutschen Einheit sowie der D-Mark etablieren und diese lange Zeit weithin unsichtbar miteinander verweben. Demnach bedeutete die Forderung nach Aufgabe der D-Mark zugunsten einer europäischen Gemeinschaftswährung im Rahmen der bereits in groben Zügen beschlossenen
28 Siehe Marsh 2009; ebenso Paul 2010.
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europäischen Währungsunion die für die hier geführte Diskussion wichtigste Bedingung für eine deutsche Wiedervereinigung. Angesichts dieses ‚package deals‘ gehört es „zur historischen Wahrheit, dass es ohne den Euro die Wiedervereinigung so nicht gegeben hätte“²⁹ – und umgekehrt. So sah sich insbesondere die französische Seite unter François Mitterrand³⁰ zu einer Einwilligung zur deutschen Einheit nur dann bereit, wenn die Deutschen im Gegenzug ihre Währung – die man auch international als Sinnbild (west-)deutscher Wirtschaftskraft empfand – aufgaben. Letztlich schien den Franzosen die Akzeptanz eines größeren, stärkeren und dann souveränen Deutschland in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft als vertretbarer Preis dafür, „den Deutschen die D-Mark und damit die monetäre Herrschaft über Europa entwunden zu haben“.³¹ Weil jede der vier Siegermächte über ein Vetorecht zur deutschen Einheit verfügte, konnte man die französische Forderung durchaus als eine conditio sine qua non begreifen: Ohne Euro keine Wiedervereinigung.³² Mit einer derartigen Verknüpfung von Deutscher Einheit und Deutscher Mark in einer sich ausschließenden Weise sahen sich die politisch Verantwortlichen vor eine schwierige Situation gestellt, in der ganz offenbar zwei hochbebürdete transzendente Geltungsressourcen der politischen Wirklichkeitskonstruktion – durch äußere Einflüsse befördert – miteinander in Kollision zu geraten drohten. Eine solche Kollision beruhte auf dem 1989/90 in beiden deutschen Gesellschaften geteilten Wunsch nach Wiedervereinigung einerseits sowie andererseits auf dem ausgesprochen hohen und zugleich tief verwurzelten Symbolgehalt der D-Mark. Diese wiederum diente gleichsam als Projektionsfläche vielfältiger Interpretation in Ost und West: Während sie im Westen als identitätsstiftendes Sinnbild des Selbstverständnisses, des Aufstiegs, der Stabilität und der wiedererlangten Geltung angesehen wurde, begegnete man ihr in Ostdeutschland als Zeichen einer – ebenso wie anfangs im Westen – vom Wirtschaftswundermythos getragenen Vorstellung eines Lebens in Wohlstand sowie einer gewissen Form der (konsum-)gesellschaftlichen Teilhabe. Aus diesem Grunde kollidierte in der als Bedingung formulierten Euro-Einführung der transzendente Geltungsbezug
29 So Fleischhauer 2011; ebenso jüngst bestätigt vom heutigen Weltbankchef und damaligen US-Unterhändler der „2+4“-Verhandlungen Robert Zoellick auf einer Veranstaltung der Asia Society in Sydney im August 2011. 30 Welche machtpolitisch-symbolische Bedeutung der D-Mark auch im Ausland beigemessen wurde, verdeutlicht ein Ausspruch Mitterrands: „Was für uns die Atombombe ist, ist für die Deutschen die D-Mark.“ Zitiert nach Sauga/Simons/Wiegrefe 2010, S. 36. Ferner Mayer 1996, S. 166ff., 235ff. 31 Ebd. 32 Siehe Attali 1995; sowie Der Spiegel vom 25.09.2010.
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‚Wirtschaftswunder‘ im Gewand seiner ikonischen Verdichtung D-Mark mit der ebenfalls unverfügbar gestellten Geltungsressource ‚Wiederherstellung der deutschen Einheit‘.
2.3 Grundgesetz versus soziale Gleichheit und Gerechtigkeit In den zeitlichen Kontext der Wiedervereinigung fügt sich auch das letzte Beispiel, an welchem sich erneut demonstrieren lässt, dass es zu kollidierenden Transzendenzrekursen kommen kann, wenn verschiedene – auch durch unterschiedliche Enkulturation und Sozialisation bedingte – Erwartungen in einem Ordnungsdiskurs aufeinandertreffen. „Bazillus gegen das Grundgesetz? Der Einigungsvertrag schreibt es vor, die Bonner Koalition will es verhindern – eine Überarbeitung des Grundgesetzes als Folge der Deutschen Einheit wird es wohl kaum geben. Zu unterschiedlich sind die Ansichten einstiger DDR-Bürgerrechtler und herrschender Konservativer, die im Verfassungsausschuss das Sagen haben.“³³ Doch sollten sich die neuen Bundesbürger nicht in der nunmehr gemeinsamen politischen Ordnung mit ihren Erfahrungen, die sie vor und während der friedlichen Revolution gesammelt hatten, wiederfinden können?³⁴ So lautete zumindest das Versprechen des Einigungsvertrages, welcher hierfür die Gründung einer Kommission verlangte, die sich „mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes“³⁵ befassen sollte. Dass sich im Kontext der dort abgebildeten, wirklichkeitskonstruktiv folgenreichen (Verfassungs-)Diskurse Bezugnahmen auf Unverfügbares finden lassen, wird nicht weiter überraschen, denn Ordnungsgefüge werden mittels jener wichtigen diskursiven Ressourcen (re-)stabilisiert. Vielmehr interessiert hier allerdings die Frage, welche Letztbegründungen in diesem Spannungsmoment konkurrierten und auf welche Weise versucht wurde, die absolute Geltungskraft einer Transzendenzbehauptung zu hinterfragen, um schließlich der konkurrierenden Transzendenzbehauptung eine höhere Geltungskraft zu verleihen. Zunächst liegt die Vermutung nahe, dass in vierzig Jahren getrennt voneinander ablaufender Konstruktionsprozesse politischer Wirklichkeit – einerseits in einem freiheitlich-pluralistischen, zum anderen in einem gesellschaftliche Auto-
33 Der Spiegel, 2/1992, S. 18. 34 Vgl. Evers 1994, S. 51. 35 So der Wortlaut von Art. 5 des Einigungsvertrages; siehe Der Einigungsvertrag 1990, S. 878.
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poiesis unterbindenden,³⁶ autoritären System mit einer exklusiven Staats- und Gesellschaftsvorstellung – auch unterschiedliche kulturelle Muster unverfügbar und somit der Dispositionsfreiheit des Einzelnen entzogen waren. Ohnehin ist die inhaltliche Füllung von Transzendenzen und deren geltungsbegründende Kraft stets an die je konkrete raum-zeitliche Situation angepasst. Prägend für jene Ordnungsvorstellungen, die nun in den Diskursen um die Ausgestaltung der wiedervereinigten Bundesrepublik verhandelt wurden, waren für die ostdeutschen Akteure freilich insbesondere ihre Erfahrungen aus der Arbeit in Bürgerrechtsgruppen, die Massendemonstrationen sowie der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, welcher „Ordnungsmodell für die […] Übergangszeit und Positionsbestimmung für die Verhandlungen mit der BRD über die zukünftige Gestalt Deutschlands“³⁷ sein sollte. Gruppen wie „Demokratie Jetzt“ oder „Neues Forum“ forderten in der ersten freien Wahl zur Volkskammer der DDR, dass „aus der Vereinigung […] ein neues Deutschland mit einer neuen Verfassung hervorgehen“³⁸ müsse; allein über den Weg des Grundgesetzartikels 146³⁹ könnten die Interessen der einstigen DDR-Bürger gewahrt und ihnen die Chance zur Beteiligung an der Gestaltung der politischen Ordnung gegeben werden. Doch die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung so betitelte „Drohung des Artikels 146“⁴⁰ blieb vorerst eine ‚Drohung‘, und die deutsche Einheit wurde – oft begründet mit dem Zeitargument – über Artikel 23, der den Beitritt ermöglichte, sowie das Instrument des Einigungsvertrages vollzogen. Der Diskurs darüber, in welchem Maße „auch die Erfahrungen der Landsleute, die das zweite totalitäre System überwunden haben, in der Verfassung Niederschlag finden müssen“⁴¹, hielt jedoch an. Es vergingen beinahe zwei Jahre, bis sich eine aus 64 Bundestags- und Bundesratsmitgliedern bestehende Gemeinsame Verfassungskommission (GVK) – wie vom Einigungsvertrag gefordert – über die Grundlagen des vereinigten Deutschlands verständigen sollte. Auf der Agenda standen Fragen nach der Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz oder der Anwendung des Artikels 146 mit anschließender Volksabstimmung.⁴² Spezifisch „ostdeutsche Interessen“⁴³ an
36 Vgl. Patzelt 1998, S. 247. 37 Hacke 2009, S. 74. 38 Schröder 2005, S. 38. 39 Nach dem Sinn des Grundgesetzartikels 146 sollte eine neue Verfassung von einem gesamtdeutschen Verfassungsgeber ausgearbeitet werden; diese hätte dann dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden sollen. 40 Hefty 1990, S. 1. 41 Werner Schulz, Mitbegründer des Neuen Forums, zit. in: Der Spiegel, 2/1992, S. 18. 42 Vgl. Bundestags-Drucksache, 12/6000, S. 5. 43 Bremers 1996, S. 425.
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konkreten Verfassungsänderungen fanden sich – so eine Befragung unter den ostdeutschen GVK-Mitgliedern aller Parteien – insbesondere bei den Themengebieten ‚soziale Staatsziele‘, welche von 86 Prozent der Befragten als änderungsbedürftiger Bereich angegeben wurden, gefolgt von ‚direkter Demokratie‘, ‚Gleichberechtigung‘ und ‚Umweltschutz‘.⁴⁴ Auch die Sitzungsprotokolle der GVK zeigen, dass gerade im Kontext jener Themen „die meisten Diskussionen auch unter ostdeutschen Vorzeichen geführt wurden“.⁴⁵ Doch auf welche Transzendenzbezüge wurde im exemplarisch dargelegten Beratungskomplex „Staatsziele und Grundrechte“ argumentativ zurückgegriffen, um ostdeutschen Ordnungsvorstellungen eine ‚höhere Weihe‘ zu verleihen?⁴⁶ Im eingangs gewählten Zitat wird deutlich, dass dementgegen jedenfalls die ‚Immunisierung‘ des Grundgesetzes stand. Bereits anlässlich der konstituierenden Sitzung der GVK im Januar 1992 mahnte Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth: „[Es] steht uns allen vor Augen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland seit 42 Jahren ein Grundgesetz haben, das sich […] bewährt hat, was auch unseren Bürgern und Bürgerinnen sehr bewußt ist.“⁴⁷ Auch der GVK-Vorsitzende, Rupert Scholz, forderte Zurückhaltung: „Unser Grundgesetz gehört zu den wirklichen Glücksfällen unserer Geschichte. Es hat die erste stabile Demokratie in Deutschland begründet“⁴⁸ und sich darüber hinaus „zukunftsträchtig bewährt“,⁴⁹ weshalb kein Änderungsbedarf bestehe. Von Staatszielbestimmungen haben die Grundgesetzgeber, so der CDU-Abgeordnete Bertold Reinartz, aufgrund der deutschen Geschichte bewusst sparsam Gebrauch gemacht; dies sei zu respektieren.⁵⁰ Die Wiedervereinigung sei nun kein Argument für die Aufnahme solcher Bestimmungen in das Grundgesetz; dieses dürfe nicht zu einem „Wunschkatalog verkommen“.⁵¹ In den Verhandlungen zeigte sich, dass das Grundgesetz diskursiv mit einer ‚unantastbaren Aura‘ versehen wurde. Um dieser Transzendenzbehauptung eine höhere Geltungskraft zu verleihen, verwiesen die Bewahrer der bestehenden Ordnung auf dessen Ursprungsgeschichte als einen der Dispositi-
44 Vgl. Bremers 1996, S. 429. 45 Bremers 1996, S. 430. 46 Zu den Beratungen über Staatsziele und Grundrechte siehe: Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einigung – Bd. 1 (nachfolgend: GVK-Protokoll), 1. Sitzung (16.01.1992), S. 1ff.; ebd., 6. Sitzung (14.05.1992), S. 23ff.; ebd., 12. Sitzung (12.11.1992), S. 1ff. 47 Rita Süssmuth, GVK-Protokoll, 1. Sitzung (16.01.1992), S. 1. 48 Rupert Scholz, GVK-Protokoll, 1. Sitzung (16.01.1992), S. 5. 49 Rupert Scholz, GVK-Protokoll, 6. Sitzung (14.05.1992), S. 47. 50 Vgl. Bertold Reinartz, GVK-Protokoll, 6. Sitzung (14.05.1992), S. 34f. 51 Bertold Reinartz, GVK-Protokoll, 6. Sitzung (14.05.1992), S. 51.
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onsfreiheit des Einzelnen entzogenen Begründungshorizont: Das Grundgesetz sei Ausfluss der „durch Krieg, Diktatur, Konzentrationslager und Exil [geprägten]“⁵² Erfahrungen der „Schöpfer des Grundgesetzes“,⁵³ denen man verpflichtet sei. Die Konstruktionsmechanismen dieser Transzendenzbehauptung zeigen sich überdies, indem mit Blick auf die gescheiterte Weimarer Republik Ängste gegen die „vermehrte Aufnahme von Staatszielen“ kultiviert wurden: „Ich warte jetzt eigentlich noch auf den Antrag auf ein Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten. Das kann alles noch auf uns zukommen.“⁵⁴ Die Gründungsgeschichte der politischen Ordnung und der Wille der Gründungsväter wurden so zu „transzendenten Ankerpunkt[en]“,⁵⁵ auf welche zu verweisen jene ‚unantastbare Aura‘ des Grundgesetzes bestärkte und es dem ändernden Zugriff entziehen sollte. Irgendwelchen Experimenten – unter welche freilich die Aufnahme sozialer Grundrechte oder Staatsziele zur Arbeits- und Wohnraumförderung gefasst wurden – erteilte man durch den Verweis auf jenen transzendenten Anfangspunkt, der nicht hintergangen werden kann,⁵⁶ zumal nicht von denjenigen, die dieser etablierten Ordnung neu beitreten, eine Absage. Um dessen „überzeitliche Vernunft“⁵⁷ zu unterstreichen, bediente man sich zudem argumentativer Verweise auf die ungebrochene Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes und verband diese diskursiv mit den Attributen „Stabilität“ und „Verläßlichkeit“,⁵⁸ für die das „Markenzeichen dieser Republik“⁵⁹ stehe. Diese historische Rechtfertigung sollte, ebenso wie Verweise auf weitere Letztbegründungskraft besitzende „Grundwerte, die unser Grundgesetz auszeichnen: Demokratie, Freiheit, Menschenrechte, Selbstbestimmung, Rechts- und Sozialstaatlichkeit“,⁶⁰ die höhere, geltungsbegründende Kraft der konstitutionellen Transzendenz sichern – was auch solange funktionierte, bis „dem Grundgesetz […] paradoxerweise gerade von der Einheit des Deutschen Volkes Gefahr [drohte]“.⁶¹ Dieses diskursive Ereignis erschütterte jene Selbstverständlichkeiten, die bisher unhinterfragt galten. Doch allein durch Hinweise darauf, dass „unsere Demokratie nun nicht mehr dort [steht], wo sie
52 Franz-Herrmann Kappes, GVK-Protokoll, 6. Sitzung (14.05.1992), S. 39. 53 Horst Eylmann, GVK-Protokoll, 12. Sitzung (12.11.1992), S. 10. 54 Horst Eylmann, GVK-Protokoll, 12. Sitzung (12.11.1992), S. 12. 55 Vorländer 2002, S. 245. 56 Vgl. zur Gründung einer politischen Ordnung auch Vorländer 2002, S. 246. 57 Wolfgang Thierse, GVK-Protokoll, 6. Sitzung (14.05.1992), S. 5. 58 So bspw. der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble, zit. in: Der Spiegel, 2/1992, S. 19. 59 Peter Caesar, GVK-Protokoll, 6. Sitzung (14.05.1992), S. 38. 60 Rupert Scholz, GVK-Protokoll, 1. Sitzung (16.01.1992), S. 5. 61 Hefty 1990, S. 1.
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einmal im Jahr 1949 gestanden hat“,⁶² konnte diese Transzendenzbehauptung kaum verfügbar gemacht werden. Es wurde vielmehr versucht, deren absolute Geltungskraft mittels Bezugnahmen auf einen weiteren überwölbenden Kontext zu bestreiten und gleichsam gegensätzliche Positionen zu begründen. So verwies der ostdeutsche Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann darauf, dass „wir uns bei diesen Ergänzungen und Präzisierungen in einem Kontext bewegen, der durch die UNO-Charta der sozialen Menschenrechte gegeben ist, die ja ein Recht auf Wohnen und Arbeit enthält, aber auch in Richtung der europäischen Sozialcharta, […] auf deren Boden wir uns aber doch bewegen, und auch in der Richtung dessen, was im Vertrag von Maastricht unter dem Titel VII steht.“⁶³ Konrad Elmer betonte, dass es hier gerade für die ostdeutschen Bürger freilich um mehr als eine Sachentscheidung gehe: „Das Gefühl, daß darin ein moralisches Problem liegt, beschäftigt uns jedenfalls stärker […].“⁶⁴ Verweise auf alternative Letztbegründungen, wie „Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn“, eine „gerechte Sozialordnung“ und „soziale Gleichheit“,⁶⁵ sollten die Aufnahme von Staatszielbestimmungen legitimieren, damit sich die „ostdeutschen Landsleute mit diesem Staat und auch dem Grundgesetz identifizieren können“.⁶⁶ Tatsächlich fanden – gemessen an der Vielzahl der Änderungsvorschläge – bei den Verhandlungen über die im Einigungsvertrag unter „insbesondere“ genannten Staatsziele nur wenige Alternativentwürfe überhaupt den Weg in den Empfehlungskatalog,⁶⁷ weshalb das „kostbare Erbe der friedlichen Revolution nicht durch Verfassungsänderungen im Grundgesetz verankert wurde“.⁶⁸ Die Konkurrenz verschiedener Transzendenzbehauptungen wurde im Rahmen der GVK durch das Primat jener Vertreter der alten Bonner Republik aufgelöst, die in der GVK eine wesentliche Mehrheit stellten und jene Themen, denen die Kommission ursprünglich ihre Entstehung verdankte, „just […] vom Tisch gestimmt“.⁶⁹ Dennoch hängt ein Dauer beanspruchendes Ordnungsgefüge, Zustimmungsbereitschaft und Handlungsmotivation von der Anerkennung der Transzendenzbehauptungen ab,⁷⁰
62 Wolfgang Ullmann, GVK-Protokoll, 1. Sitzung (16.01.1992), S. 17. 63 Wolfgang Ullmann, GVK-Protokoll, 6. Sitzung (14.05.1992), S. 28. 64 Konrad Elmer, GVK-Protokoll, 12. Sitzung (12.11.1992), S. 28. 65 Siehe hierzu: Uwe-Jens Heuer, GVK-Protokoll, 6. Sitzung (14.05.1992), S. 32f.; Jürgen Schmude, GVK-Protokoll, 6. Sitzung (14.05.1992), S. 26. 66 Hans Otto Bräutigam, GVK-Protokoll, 6. Sitzung (14.05.1992), S. 40. 67 Hierzu Hennis 1993, S. 30. 68 Bremers 1996, S. 423. In der 21. Sitzung stellte Ullmann seine Arbeit in der GVK aufgrund enttäuschter verfassungspolitischer Erwartungen ein. 69 Evers 1994, S. 51. 70 Vgl. hierzu Rehberg 1994, S. 57.
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weshalb trotz der beschriebenen machtpolitischen Entscheidung „die ungelösten Probleme unterschiedlicher Erfahrungen und Einstellungen [bleiben], die langfristig gleichfalls ihre Macht des Faktischen entfalten“.⁷¹
3 Schlussfolgerungen Die drei Beispiele zeigen, dass die Koexistenz von Transzendenzbehauptungen solange unproblematisch bleibt, bis bei einem konkreten diskursiven Ereignis durch kollidierende Transzendenzbehauptungen jeweils solche Situationsdefinitionen begründet werden, die alternative Anschlusshandlungen hervorrufen. Dabei wird deutlich, dass Transzendenzkollisionen beispielsweise auch im Verborgenen ablaufen und trotzdem eine hohe Prägekraft für Prozesse politischer Wirklichkeitskonstruktion entfalten können. Das heißt, das Vorliegen in solchen Kollisionsfällen zwar oft üblicher öffentlich ausgetragener diskursiver Begleitprozesse ist keine Bedingung für wirklichkeitskonstruktive Relevanz: ‚Folgenreich kollidiert wird auch im Stillen‘. Der Weg der Auflösung des Umstrittenen ist stark vom jeweiligen Diskurskontext abhängig, und die ‚Auflösungsstrategien‘ können höchst unterschiedlich sein, müssen aber nicht zwingend im Obsiegen des einen gegenüber dem anderen Transzendenzrekurs bestehen, sondern können auch dadurch aufgelöst werden, dass es zu einer Weitung des Bezugskontextes kommt; oder aber es gelingt eine konstruktive Auflösung durch die Etablierung einer neuen Transzendenzressource. Offensichtlich ist jedoch, dass Machtaspekte, hier vor allem in Form von Durchsetzungsmacht, eine nicht unwesentliche Rolle spielen. In keinem der Diskurse kann von einem freien Deliberieren oder herrschaftsfreien Diskurs gesprochen werden, sondern stets sind die Machtressourcen ungleich verteilt. Machtkonstellationen und die Existenz von ‚Veto-Spielern‘ haben somit erheblichen Einfluss auf den Ausgang einer Transzendenzkollision. Am Fall EuroEinführung – auch am Fall Grundgesetz – lässt sich ablesen, dass klassische Machtressourcen angewandt werden, um nicht nur diskursive Macht zu entwickeln, sondern auch um rechtliche Rahmenbedingungen oder etwa die Verfahrensregeln zu bestimmen, innerhalb derer bzw. nach denen der Konflikt ausgetragen wird. Somit führt allein die Berufung auf Transzendentes nicht schon notwendigerweise zur Aufweichung von Machtstrukturen und zur Chance, alternative Ordnungsvorstellungen durchzusetzen. All das ist überaus folgenreich,
71 Evers 1994, S. 56.
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denn zumindest in pluralistischen Systemen müssen sich die (durchgesetzten) Transzendenzrekurse immer auch unter sich verändernden Bedingungen beweisen, da sie – einmal in die Welt gesetzt – keine immerwährende Geltungskraft in sich tragen. Die ‚Verfügbarmachung‘ der unterlegenen Transzendenzressourcen und deren Delegitimierung kann auch dazu führen, dass diese gerade fiktionale Ordnungsvorstellungen, wie eine Rückkehr zur D-Mark, einen starken Nationalstaat oder den vermeintlich sicheren Sozialstaat DDR, hervorrufen.
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Geltendes balancieren – Transzendenz amalgamieren
Nele Schneidereit
Der Streit um Gleichheit Konkurrierende Werte in der normativen Sozialphilosophie der Gegenwart Ein Beispiel für die Amalgamierung von Transzendenzbehauptungen ist wie in der Einleitung zu diesem Band erwähnt die Trias Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Während die Brüderlichkeit es zu keiner steilen Karriere bringen konnte, firmieren Freiheit und Gleichheit als zentrale Werte der Demokratietheorie. Freiheit und Gleichheit entwickelten sich „als Eckpfeiler der Naturrechtslehre“ der Neuzeit zu einem „festen Wortpaar“, das sich einerseits auf die Natur des Menschen, andererseits auf seine Stellung in der (politischen) Gemeinschaft bezieht.¹ Sie bestimmen unser politisches Koordinatensystem und dienen so unserer politischen und sozialen Orientierung. Die normative Sozialphilosophie befasst sich mit Vorstellungen von sozialer und politischer Ordnung entlang eines oder mehrerer Werte; Freiheit und Gleichheit gehören unbestritten zum begrifflichen Kerninventar der politischen Philosophie der Moderne. Freiheit und Gleichheit als fundierende Werte politischer Gemeinwesen sind diesen Gemeinwesen selbst transzendent – sie liegen an ihrem Grunde, regulieren idealiter ihre Ordnung und sind gerade deshalb dem unmittelbaren Zugriff durch Mitglieder des Gemeinwesens entzogen. Unverfügbare Werte wie Freiheit, Gleichheit, Würde sind daher im Grundgesetz explizit unverfügbar (unantastbar) ‚gestellt‘. Daran rüttelt auch die Theoriebildung nicht, um die es hier gehen soll. Was gleichwohl immer wieder zur Debatte steht, sind die binnenhierarchischen Verhältnisse zwischen diesen unverfügbaren Werten der Demokratie, wenn sie einander möglicherweise bedrohen: Muss Freiheit vor Gleichheit gesichert sein oder hat die Gleichheit Vorrang vor der Freiheit? Beide werden zumeist wiederum auf den Begriff der Gerechtigkeit als letzten Legitimationsgrund politischer Ordnung zurückbezogen. Im Folgenden soll es um die Auseinandersetzung mit dem Status des Kernbegriffs der Gleichheit in der Theoriebildung der normativen Sozialphilosophie und der politischen Philosophie der Gegenwart gehen. Die Debatte um den Gleichheitsbegriff kann als Debatte um die Frage seiner unbedingten Geltung für politische Gemeinwesen reformuliert werden, die stets in Absetzung von einem oder mehreren anderen Begriffen geschieht. Dabei werden verschiedene Strategien der Bestreitung der unbedingten Geltung erkennbar, deren hauptsäch-
1 Vgl. Greive 1969, S. 746.
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liche die der Hierarchisierung (meist Freiheit vor Gleichheit) und der Ersetzung (Gleichheit durch einen anderen Wert x, z.B. Anerkennung) sind. Es handelt sich hierbei um Strategien von Delegitimation und/oder Devaluierung, durch die der je andere Begriff (Freiheit/anderer Wert x) unbedingte Geltung erhalten, der Verfügung entzogen werden soll. Die Konkurrenz der jeweiligen Transzendenzbehauptung dient also der Zuweisung von Unbedingtheit zu dem je anderen Wert, von dem Gleichheit abgesetzt wird. Bevor ich auf die Debatte eingehe, möchte ich den Begriff Gleichheit selbst knapp erläutern und skizzieren, inwiefern er aufgrund seines undeutlichen und ambivalenten Charakters besonders geeignet für die Hervorhebung anderer Werte ist.
1 Begriff der Gleichheit Sowohl Freiheit als auch Gleichheit weisen mehrere begriffliche Dimensionen auf. So lassen sich natürliche (physische), individuelle, moralische (Autonomie), bürgerliche und politische Freiheit unterscheiden.² Auch innerhalb des Begriffs kommt es zu unterschiedlichen Geltungsbehauptungen – so erzeugt etwa Thomas Hobbes’ Bestimmung von Freiheit als dem Fehlen physischer Widerstände bei der Ausübung unseres Willens Unwohlsein, weil unsere kulturelle Umgebung Freiheit eher mit Willensfreiheit, also mit Autonomie verbindet. Auch sind weite Teile der Moralphilosophie vom Streit der natürlichen mit der moralischen Freiheit bestimmt. Der Gleichheitsbegriff hat soziale, politische, rechtliche und ökonomische Aspekte. Herlinde Pauer-Studer differenziert außerdem nach unterschiedlichen Prinzipien des Begriffs: „[D]as Prinzip formaler Gleichbehandlung, das Prinzip universeller Achtung und Anerkennung, das Prinzip distributiver Gleichheit, die Idee strikter Gleichheit und das Prinzip der Chancengleichheit.“³ Gleichheit verstanden als Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, also im Sinne einer notwen-
2 Ich beziehe mich bei den folgenden begrifflichen Differenzierungen auf Pauer-Studer 2003 und Greive 1969. 3 Pauer-Studer 2003, S. 256. Diese korrespondieren den Sphären der Gleichheit: Chancengleichheit entspricht dem Bereich ökonomischer Gleichheit. Für soziale Gleichheit im Sinne der Abwesenheit von Diskriminierung ist die Idee strikter Gleichheit konstitutiv. Rechtliche Gleichheit bleibt mit dem Prinzip strikter Gleichheit assoziiert und politische Gleichheit mit Chancengleichheit (im Zugang zu Ämtern) und strikter Gleichheit (im Anspruch auf politische Rechte). Das Prinzip gleicher Achtung und Rücksichtnahme ist ein übergeordnetes Prinzip der Anerkennung, das den verschiedenen Bereichen der Gleichheit zugrunde liegt, für sich genommen aber kein genuines Prinzip darstellt, vgl. ebd.
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digen Entpersonalisierung, um unparteiisch Recht zu sprechen, ist ein ebenso wenig bestrittenes Prinzip wie Freiheit in der politischen Theorie. Ebenso verhält es sich bei allen Sätzen, die universelle Geltung haben sollen, zum Beispiel der Moralphilosophie. Niemand soll aufgrund bestimmter Vorrechte von der Geltung ausgeschlossen sein – alle Menschen sind mit Blick auf diese Geltung gleich, sie haben also ein Recht darauf als Gleiche (nicht: gleich!) behandelt zu werden.⁴ Die Kritik am Wert der Gleichheit setzt schon früh nach der Französischen Revolution ein, da der Ruf nach Gleichheit den jakobinischen terreur vermeintlich legitimiert hatte. Die Gleichheitsforderung schürt Ängste vor Entindividualisierung und Gleichmacherei, weshalb Kritik an ihr auch immer wieder im anti-sozialistischen Reflex begegnet. Innerhalb des Begriffsamalgams Freiheit und Gleichheit hat Gleichheit immer wieder zur Absetzung und Aufwertung des Freiheitsbegriffs geführt. Im Hintergrund steht, dass eher liberale mit eher sozial(istisch)en Modellen ihren Streit um die richtige Ordnung von politischen Gemeinwesen entlang der Begriffe Freiheit und Gleichheit als letzten Grund austragen. Dabei ist zu beachten, dass der Vorrang von Gleichheit meist im instrumentellen Sinne verstanden wird – um frei sein zu können, müssen Parameter der Gleichheit gewährleistet sein.
2 Egalitarismus Als Egalitaristen kann man jemanden bezeichnen, der Gleichheit für eine wesentliche Bestimmung einer gerechten Gesellschaft, also für eine unbedingte und transzendente Voraussetzung gelingender Gemeinwesen hält. Dabei ist zu beachten, dass die wenigsten egalitaristischen Positionen Gleichheit als einziges Prinzip ihrer Überlegungen zu sozialer Gerechtigkeit ansehen, sondern als ein wesentliches, das neben anderen realisiert sein muss, um Gerechtigkeit zu realisieren. Die Konkurrenz von Transzendenzbehauptungen ist hier in gewissem Sinne aufgehoben, es handelt sich aber auch nicht um ein vollständiges Amalgam – eher um ein Netz miteinander verbundener, einander bedingender Werte. Der Egalitarismus kann entsprechend nicht im engeren Sinne als eigene Position innerhalb der politischen Philosophie und Theorie bezeichnet werden. Eher handelt es sich um eine Attribut-Strömung: Eine bestimmte Position ist egalitär; beispielsweise vertritt Ronald Dworkin einen egalitären Liberalismus. Darunter versteht er eine Haltung, die „against legal enforcement of private morality“ und „for greater sexual, poli-
4 Diese Unterscheidung geht auf Ronald Dworkin zurück, vgl. dazu Gosepath 2007, S. 7f.
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tical and economic equality“⁵ ist. Zentral ist bei diesen in der Regel normativen sozialphilosophischen Positionen, dass sie annehmen, Gleichheit sei ein intrinsischer moralischer Wert, der um seiner selbst willen verfolgt werden sollte, weshalb Ungleichheit immer rechtfertigungsbedürftig ist. Der unbedingte Wert von Gleichheit gilt also immer nur im Verbund mit anderen, ebenso unverzichtbaren Werten. Ein Hauptangriff auf den Egalitarismus ist der Vorwurf, Gleichheit sei ein rein formaler und leerer Begriff.⁶ Um diesem Vorwurf zu begegnen, muss der Egalitarismus Fragen nach dem Wer, dem Was, dem Wofür und dem Warum der Gleichheit beantworten können. Grundsätzlich geht es um das Handeln einer überpersönlichen Instanz wie eines Staates, der als Handelnder oder Unterlassender auftritt. Egalitäre Fragen betreffen einerseits die Behandlung der Mitglieder einer Gruppe bzw. der Bürger eines Staates, andererseits die Verteilung der innerhalb der Gruppe bestehenden Ressourcen bzw. Güter und Lasten. Erstere sind zum Besipiel Fragen der Rechtsgleichheit, letztere solche der Ressourcengleichheit. Während Rechtsgleichheit unbestritten essentiell für einen gerechten Staat ist, steht bei der Verteilungsgleichheit infrage, ob es um die gleiche Verteilung der Ressourcen im Sinne der gleichen Ausstattung der Individuen geht oder um die äquivalente Ausstattung der Personen hinsichtlich der gleichen Lebensziele (z.B. Wohlergehen).⁷ Unabhängig davon, welche Gleichheit (Verteilung/Rechtsgeltung) als Grundwert veranschlagt wird, spielt in den egalitaristischen Theorien eine Rolle, welcher Zielvorstellung die Erfüllung des Wertes dienen soll und auf Grundlage welches Prinzips der Wert als unbedingt geltend ausgezeichnet
5 Dworkin 1983, S. 205. 6 In diesem Sinne befasst Joseph Raz sich bei seiner Widerlegung des Egalitarismus zunächst mit der Frage, inwiefern „Gleichheitsprinzipien nicht formal und leer“ sind, Raz 2000, S. 50. Stephan Gosepath weist darauf hin, dass Egalitarier selbst die Bedeutung dieser Konkretisierung betonen; „the claim that persons are owed equality becomes informative only when one is told – what kind of equality they are owed“, Gosepath 2007, S. 6. 7 Dass es sich hier um unterschiedliche Prinzipien der Verteilung handelt, erhellt daraus, dass ein gleich verteiltes Gut unterschiedliche Resultate bei unterschiedlichen Personen zeitigt, aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausgangslagen: A und B erhalten beide einen gleichen Anteil x von einem Gut n. A hat aber ein Defizit (y), das dazu führt, dass er nur über x-y (n) verfügt, während B x (n) hat. Wenn also angestrebt wird, dass A und B gleich viel haben, muss A für y kompensiert werden, also x+y (n) erhalten – diese Art kompensatorischen Handelns beruht auf dem Prinzip proportionaler Gleichheit, und entsprechend dem Beispiel ist sie egalitärer als die formale Gleichheit gleicher Anteile. Es ist klar, dass die Schwierigkeiten bereits damit beginnen, die Menge der n zu bestimmen – welche Güter und Lasten können und sollen verteilt werden? Die nächste Schwierigkeit ist, die Menge der zu kompensierenden y und das Maß ihrer Kompensation zu finden. Welche individuellen Beeinträchtigungen müssen von der Gesellschaft ausgeglichen werden?
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wird. Die Frage der Zielvorstellung wird meist mit dem wiederum nicht weiter begründbaren Begriff der Gerechtigkeit beantwortet. Ist es aber gerecht, wenn alle verhältnismäßig gleich viel haben bzw. die faire Chance haben, diesen Anteil zu bekommen, oder ist es gerechter, wenn es allen gut (wohl) geht bzw. sie die Chance haben, zu Wohlergehen zu kommen? Mit Blick auf die Begründung des unbedingten Werts der Gleichheit verweist der Egalitarismus auf den natürlichen Standard der Gleichverteilung (presumption of equality), so dass Abweichungen durch Verdienst, besondere Bedürfnisse oder ähnliches begründet werden müssen.⁸ Zudem sind die Relation der verteilten Mengen sowie die Bezugsgröße relevant. Hat einer drei Viertel eines Kuchens, während andere sich das restliche Viertel teilen, so wollen wir wissen, welchen Grund es für diese Verteilung gegeben hat (z.B. Hunger):⁹ „The presumption of equality is a prima facie principle of equal distribution for all goods politically suited for the process of public distribution. In the domain of political justice, all members of a given community, taken together as a collective body, have to decide centrally on the fair distribution of social goods, as well as on the distribution’s fair realization.“¹⁰
Ein weiteres Problem egalitaristischer Positionen ist, sich gegen den Vorwurf zu wehren, ihre Forderung nach strikter Gleichverteilung sei ungerecht. Der Egalitarismus hat indessen so gut wie nie Gleichheit im Sinne strikt gleicher ökonomischer Verteilung gefordert, sondern Überlegungen zu einer gerechteren Verteilung angestellt, die die natürliche oder ererbte ungleiche Verteilung von Eigenschaften kompensieren soll (proportionale Gleichheit). Um nicht mit striktem Egalitarismus identifiziert zu werden, wird zudem ein Verantwortlichkeitsprinzip eingebaut: „human beings are themselves responsible for certain inequalities resulting from their free decisions; aside from minimum aid in emergencies, they deserve no recompense for such inequalities.“¹¹ Es geht also nur um Ungleichheiten, für die man nichts kann: Geschlecht, Aussehen, Intelligenz, Krankheit, gesellschaftlicher Status bei Geburt, unverschuldetes Pech etc.¹²
8 In der Theoriebildung der Vertragstheorie stellt die naturgegebene Anspruchslosigkeit bzw. Gleichheit der Ansprüche auf alles eines der Probleme dar, die zum Verlassen des Naturzustandes zwingen. Bei John Locke entsteht bereits im Naturzustand Besitz an einem Gut durch dessen Anreicherung mit Arbeitsleistung (z.B. das Auflesen eines herumliegenden Apfels, an dessen Entstehen niemand z.B. durch Pflanzung oder Pflege Anteil hat). 9 Pauer-Studer 2003, S. 269. 10 Gosepath 2007. S. 8. 11 Ebd., S. 13. 12 Egalitarismuskritiker argumentieren hier, dass selbstverschuldetes Unglück nicht kompensiert werde. Der daraus resultierenden Inhumanität entgehe der Egalitarismus nur
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Es ist nicht ganz einfach zu bestimmen, welche Theorieströmungen unter dem Titel Egalitarismus gebündelt werden. Grundsätzlich kann man sagen, dass es sich um solche Positionen handelt, die sich mit proportionaler Gleichheit in der skizzierten Weise als zentralem Wert für eine Theorie der Gerechtigkeit befassen und von der presumption of equality ausgehen. Die Globalität dieser Charakterisierung führt dazu, dass es wenige Autoren gibt, die ganz klar als Egalitaristen gelten; dazu zählen John Rawls mit seiner Idee der Chancengleichheit, Ronald Dworkin mit dem Ideal der Neidfreiheit der idealen Ressourcenverteilung und Philippe van Parijs mit seiner Forderung eines bedingungslosen Grundeinkommens.¹³ Autoren wie Bernard Williams, Michael Walzer oder Richard Arneson hingegen werden einerseits als Egalitarier, andererseits als Anti-Egalitarier bezeichnet.¹⁴ Bevor ich auf die Strategien der Egalitarismuskritik eingehe, möchte ich mit Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit von 1971 wenigstens eine egalitaristische Position knapp skizzieren, um zu verdeutlichen, wie die genannten Parameter ausgeprägt sein können.
2.1 Zum Beispiel: Rawls’ Unterschiedsprinzip Gegenstand von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1971) ist die Grundstruktur der Gesellschaft.¹⁵ Die Arbeitsdefinition von Gesellschaft ist dabei denkbar schmal: Gesellschaft ist „eine mehr oder weniger in sich abgeschlossene Vereinigung von
durch „Einführung von Minimalstandards“, damit stehe er aber „schon mit einem Fuß in der Tür zum Nonegalitarismus“, so Krebs 2000, S. 22. 13 Dworkin veröffentlichte in den 1980er Jahren einen vierteiligen Artikel mit dem Titel What is Equality?, in dem er die Themen Ressourcen, Freiheit und politische Gleichheit behandelt (dt. Was ist Gleichheit?, Frankfurt a.M. 2011). In diesem Artikel habe ich mich auf die kürzeren Ausführungen Dworkins in A Matter of Principle von 1983 bezogen. Van Parijs’ hat seine Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens dargestellt in Real Freedom for All. What (if Anything) can Justify Capitalism? Oxford 1995. Diskutiert werden seine und ähnliche Ideen bereits in dem von ihm edierten Band Arguing for Basic Income. Ethical Foundations for a Radical Reform, New York 1992. 14 Angelika Krebs (2000) versteht Walzer als Anti-Egalitaristen, weshalb er mit einem Beitrag in ihrem egalitarismuskritischen Sammelband mit dem suggestiven Titel Gleichheit oder Gerechtigkeit vertreten ist. Walzers Theorie komplexer Gleichheit könnte man jedoch durchaus als Position eines pluralen Egalitarismus auffassen. Williams hingegen wird von Krebs als Anti-Egalitarier, von Robert Nozick als Egalitarier verstanden. Verkompliziert wird die Diskussion dadurch, dass sie quer zu den Positionen der ungleich ‚lautstärkeren‘ Kommunitarismusdebatte steht. 15 Vgl. Rawls 1979, S. 19.
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Menschen, die für ihre gegenseitigen Beziehungen gewisse Verhaltensregeln als bindend anerkennen und sich meist auch danach richten“.¹⁶ Die Regeln beschreiben ein „System der Zusammenarbeit“, das dem Gemeinwohl diene. Dieses Unternehmen sei auf Harmonie ausgerichtet, begründe aber zugleich Konflikt, da keine prinzipielle Einigkeit darüber bestehe, wie die zusammen erzeugten Güter verteilt werden sollen.¹⁷ Distributive Gerechtigkeit sei die „erste Tugend sozialer Institutionen“,¹⁸ so Rawls. Welches aber ist die gerechte Verteilung der gesellschaftlichen Lasten und Güter? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, fragt Rawls, welche Grundsätze die gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung einer wohlgeordneten Gesellschaft hätte. Rawls bedient sich in der Tradition des Kontraktualismus stehend eines Gedankenexperiments: Man versetzt sich in einen Urzustand, in dem alle Teilnehmer unter einem Schleier des Nichtwissens voreinander und sogar vor sich selbst verdeckt sind. Die Menschen im Urzustand sind frei und gleich, also entindividualisierte, moralische Subjekte. Sie wissen lediglich, dass die Anwendungsverhältnisse von Gerechtigkeit herrschen, also dass Zusammenarbeit und eine Einigung über die Verteilung von Gütern notwendig sind¹⁹ und dass sie „eigene Lebenspläne oder Vorstellungen von ihrem Wohl“ haben.²⁰ Die Inhalte dieser Pläne und Vorstellungen kennen die Menschen im Urzustand aber ebensowenig, wie sie wissen, ob sie reich oder arm sind, ob sie religiös oder nicht sind, ob sie einer verfolgten Minderheit angehören oder nicht, etc. Rawls nimmt für einen solchen fiktiven Urzustand an, dass folgende zwei Grundsätze gewählt würden: „1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen.“²¹
Diese Grundsätze sind sowohl für die Rechte und Pflichten von Institutionen als auch für Verteilungsfragen maßgeblich. Entsprechend hat jeder Mensch zwei Positionen inne: Er ist als Bürger Subjekt gleicher Bürgerrechte, und er nimmt
16 Ebd., S. 20. 17 Vgl. ebd. 18 Ebd., S. 19. 19 Vgl. ebd., S. 149. 20 Ebd., S. 150. 21 Ebd., S. 81.
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einen Platz innerhalb einer bestimmten Einkommens- und Vermögensverteilung ein.²² Die Grundfreiheiten (und reziprok resultierende Pflichten) sind „politische Freiheit“, „Rede- und Versammlungsfreiheit“, „Gewissens- und Gedankenfreiheit“, „persönliche Freiheit“, „Recht auf persönliches Eigentum“, „Schutz vor willkürlicher Festnahme und Haft“; sie werden durch Gesetze gewährleistet, die „für jeden gleich sind“. Gleichheit figuriert hier als formale Universalität, die dem Wert des Rechts auf Freiheit bestimmend anhängt. Der erste Grundsatz kann also als Grundsatz der Rechtsgleichheit in Bezug auf den Grundwert Freiheit verstanden werden. Der zweite Grundsatz hingegen fordert, dass die Verteilung von Ungleichheiten zwar nicht gleich, aber doch gerecht („zu jedermanns Vorteil“) sei und dass mit Macht und Einfluss ausgestattete gesellschaftliche Positionen allen zugänglich sind („jedem offenstehen“), dass also Chancengleichheit herrscht.²³ Der zweite Grundsatz ist also einer der Verteilungsgleichheit, die als Chancengleichheit mit Bezug auf nicht weiter bestimmte Vorteile definiert ist. Egalitär ist der zweite Grundsatz (Unterschiedsprinzip), indem er davon ausgeht, dass unter Bedingungen der Chancengleichheit eine gleiche Verteilung gesellschaftlicher Grundgüter²⁴ immer besser ist als eine ungleiche, es sei denn, eine bestimmte Ungleichverteilung nützt auch den am schlechtesten Gestellten. Die natürliche Verteilung ist im Gegensatz zur institutionell geregelten weder gerecht noch ungerecht, da diese Bezeichnungen auf menschliches Verhalten, also auf den Umgang mit diesen Ungleichheiten der Verteilung abzielen. Auch Dworkin ist der Ansicht, dass eine egalitäre Theorie der Gerechtigkeit zwar einerseits das Prinzip des Verdienstes innerhalb einer Gemeinschaft in Anschlag bringen müsse, andererseits
22 Ebd., S. 116. 23 Vgl. ebd., S. 82. 24 Unter gesellschaftlichen Grundgütern versteht Rawls im Gegensatz zu natürlichen Grundgütern wie Gesundheit, Aussehen etc. „Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen“, ebd., S. 83. Aufgrund dieser Güter haben wir bestimmte Aussichten auf Wohlergehen, so dass diese Aussichten sich verbessern oder verschlechtern mit der Verteilungsstruktur der Grundgüter. Egalisiert werden soll nun nicht die Verteilung, sondern die Aussichten, so dass jede Ungleichheit dann zulässig ist, die die Aussichten der am schlechtesten gestellten (repräsentativen) Person verbessert. Die Kompensation für natürliche Unterschiede soll „die willkürlichen Wirkungen der natürlichen Lotterie milder[n]“, ebd., S. 94. Die wesentlichen Prinzipien seines egalitären Liberalismus beziehen sich sowohl auf die ökonomische als auch die soziale Dimension. Nicht gemeint ist „what is often called ‚equality of result‘, that is, that citizens must each have the same wealth at every moment of their lives“, Dworkin 1983, S. 206, sondern die Überzeugung, dass der Markt als Methode der Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen schlecht geeignet ist. Chancengleichheit muss in einer Marktwirtschaft erst geschaffen werden, und das erfordert politische Maßnahmen, die nicht marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten folgen.
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aber schlechtere Ausgangsbedingungen kompensieren sollte. Dieses Kompensationsprinzip „requires that people not have different amounts of wealth just because they have different inherent capacities to produce what others want, or are differently favored by chance“.²⁵ Dworkin fordert zu diesem Zwecke Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums zum Beispiel durch Steuern. Rawls’ Theorie ist also egalitär mit Blick auf das Wer (alle Teilnehmer der Grundstruktur einer Gesellschaft, in der die Anwendungsverhältnisse von Gerechtigkeit herrschen), das Was (Rechtsgleichheit in Bezug auf Freiheitsrechte und -pflichten und Verteilung von Ungleichheiten), das Wozu (Gerechtigkeit) und das Warum (Ungleichheiten müssen legitimiert werden, presumption of equality unter dem Schleier des Nichtwissens). Die Verhältnisbestimmung zu anderen Werten innerhalb der Theorie erfolgt als Hierarchisierung in Erfüllungsstufen: Gleichheit ist im Sinne einer materiellen Bestimmung hier der nachgeordnete Wert, denn die beiden genannten Grundsätze stehen in ‚lexikalischer Ordnung‘, das heißt, dass Grundsatz 2 nicht auf Kosten von Grundsatz 1 realisiert werden darf. Die Realisierung von Freiheitsrechten hat also Vorrang vor Fragen der Verteilung von Lasten und Gütern, Gleichheit ist also ein zentraler, aber der Freiheit nachgeordneter Wert. Im Großen und Ganzen ist diese Verhältnisbestimmung in der politischen Philosophie Konsens. Gleichheit wird damit in ein Begriffsnetz eingelassen;²⁶ als Rechtsgleichheit ist sie Bedingung der Realisierung von Freiheit, als Verteilungsgleichheit ist sie im Sinne des Grundwertes Gerechtigkeit nur in Abhängigkeit von der Erhaltung der Freiheit gültig. Schließlich markiert Rawls das egalitäre Unterschiedsprinzip als ein Ausgleichsprinzip, das neben der Gleichheit anderen Gesichtspunkten der Gerechtigkeit ebenso großes Gewicht gewährt wie zum Beispiel dem der „Verbesserung des durchschnittlichen Lebensstandards oder der Förderung des Gemeinwohls“.²⁷
25 Ebd., S. 207. 26 Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit entsprechen bei Rawls den Elementen der beiden Grundsätze der Gerechtigkeit wie folgt: „der Freiheit entspricht der erste Grundsatz, der Gleichheit entspricht die Gleichheit im ersten Grundsatz zusammen mit der fairen Chancengleichheit, und der Brüderlichkeit entspricht das Unterschiedsprinzip“, Rawls 1979, S. 127. Der ausgleichende, egalitäre Zug des Unterschiedsprinzips ermöglicht die Realisierung der Chancengleichheit. In diesem Sinne ist der zweite Grundsatz der Gerechtigkeit egalitär. 27 Ebd., S. 121f.
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3 Egalitarismuskritik Die Egalitarismusdebatte ist gewissermaßen ein Nebenschauplatz oder eine Nachwehe der abgeklungenen Kommunitarismusdebatte der 1970er bis 1990er Jahre, die die politische und normative Sozialphilosophie der Gegenwart bestimmt. Der Diskussionszusammenhang der Debatte um den Egalitarismus bestimmt den Begriff Gleichheit als zentralen auf der einen oder auf der anderen Seite eben gerade marginalen Wert unserer politischen, sozialen und rechtlichen Orientierung. Nur in ihrer Frühform in den 1970er Jahren nimmt die Debatte – als Streit zwischen ‚Libertariern‘ wie John Rawls oder Ronald Dworkin und Liberalen wie Robert Nozick – eine Form an, in der die Werte Freiheit und Gleichheit gegeneinander aufgeboten werden. In ihrer ausdifferenzierteren Hauptphase in den 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre geht es eher um die Ersetzung oder Ergänzung von Gleichheit durch oder mit anderen Werten wie Anerkennung oder Achtung. Historisch kontextualisiert werden muss die Debatte um die Gleichheit durch den Zusammenbruch des Ostblocks in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ein seltsamer Befund, denn eigentlich hätte dieser Niedergang eher die Verteidiger als die Kritiker des Egalitarismus auf den Plan rufen müssen. Horst Heimann vermutet entsprechend, dass es die wachsenden nicht leistungsbezogenen Ungleichheiten sind, die Gleichheit und Solidarität in den Grundsatzfragen politischer Parteien und in der Theoriebildung virulent sein lassen.²⁸ Die Kritik am Egalitarismus wendet vor allem drei (meist vermengte) Strategien an, um den Begriff der Gleichheit zu delegitimieren oder zu entwerten: a) Die Gleichheitsforderung ist unbegründbar (begriffskritische Strategie). b) Die Gleichheitsforderung ist ungerecht (normative Strategie). c) Gleichheit ist nur ein marginaler Wert (hierarchisierende Strategie). Unverzichtbar für diese Strategien ist die Hervorhebung eines anderen Wertes x, der entweder untergeschoben wird (eigentlich hat der Egalitarier y mit Gleichheit doch einen anderen Wert x gemeint) oder als besserer Wert in Hinsicht auf die normativen Ziele dargestellt wird (das von Egalitarier y angestrebte Ziel Gerechtigkeit ist durch einen anderen Wert x erreichbar). Das heißt, es wird gegen die Behauptung eines fundamentalen Wertes ein anderer aufgeboten, der durch die Delegitimierung von Gleichheit als grundlegender ausgewiesen wird. Möglich ist ein solches Vorgehen überhaupt nur für den vergleichsweise undeutlichen
28 Vgl. Heimann 2001.
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Begriff der Gleichheit, da sein Geschwister Freiheit zu Recht als sine qua non demokratischer Gemeinwesen gilt. Ich will nun an egalitarismuskritischen Positionen zeigen, wie diese Strategien angewendet werden. Während im ersten Fall mit Robert Nozick eine Position dargestellt wird, die den Wert der Gleichheit rundheraus als Wert bestreitet, kommen mit Harry Frankfurt und Joseph Raz zwei gemäßigte Ansätze zu Wort, die um eine Abstufung innerhalb der Geltungsansprüche von Gleichheit und anderen Werten bemüht sind. In allen Fällen gilt Gleichheit jedoch nicht als unbedingter Wert am Grunde demokratischer Gemeinwesen, also nicht als ihre unverfügbare Geltungsgrundlage, sondern als neben anderen bedeutender Wert ihrer angemessenen Verwaltung.
3.1 Nozicks Liberalismus – Kritik an der presumption of equality Nozick entwirft in seinem Anarchie, Staat, Utopia aus dem Jahr 1974 die Vision eines Minimalstaates, die direkt gegen die egalitaristische Theorie der Gerechtigkeit von Rawls gerichtet ist. Dieser Minimalstaat dient einzig zum Schutz der Grundfreiheiten und -rechte, die der Mensch bereits im Naturzustand hat.²⁹ Im Zentrum der Theorie stehen keine entpersonalisierten Gruppen oder repräsentative Personen wie bei Rawls, sondern reale Individuen, die mit bestimmten Eigentümern ausgestattet sind. Der Staat soll neutral und unparteiisch sein, Rechte dürfen nur zum Schutz der Freiheiten eingeschränkt werden. Nozick lehnt Sozialstaatlichkeit insgesamt ab und ist der Ansicht, dass Umverteilung erstens niemandem nütze, zweitens aber der Gerechtigkeit widerspreche. Die von Nozick entwickelte entitlement theory of justice folgt der Frage, wer ein historisch entstandenes Anrecht auf welchen Anteil habe, das heißt wer sich sich einen Anteil durch freiwilligen Austausch (z.B. von Arbeit gegen Lohn) verdient hat oder ihn durch rechtmäßiges Erbe besitzt. Staatliche Maßnahmen, die in die historisch entstandene Verteilung gesellschaftlichen Reichtums eingreifen, widersprechen der Freiheit des Individuums auf Eigentum.
29 Nozick entfaltet seine Theorie klassisch kontraktualistisch von einem Naturzustand aus. Entsprechend seiner Minimalkonzeption ist dabei nicht Hobbes’ Naturzustand im Leviathan (1651) das Vorbild, in dem es außer dem Recht, das eigene Leben zu erhalten, keine Rechte gibt, so dass alle Rechte erst durch einen starken Staat entstehen. Sondern er orientiert sich an Lockes Darstellung des Naturzustandes in dessen Zwei Abhandlungen von der Regierung (1690), in dem der Mensch natürliche Rechte auf Freiheit, Leben und Eigentum hat, zu deren Sicherung ein Staat eingeführt werden muss.
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Im 7. und 8. Kapitel setzt Nozick sich mit Überlegungen dazu auseinander, inwiefern eine Staatskonzeption über den Freiheit sichernden Minimalstaat hinaus gerechtfertigt werden kann. In diesem Zusammenhang kritisiert er Gleichheit als Ziel normativer Vorstellungen über staatliches Handeln. Nozick konstatiert, dass der Blick auf extrem ungleiche Besitzverhältnisse oft reflexartig die Forderung nach Umverteilung nach sich zöge, dass diese Forderung jedoch in keiner Weise begründet sei. Seine „Anspruchstheorie der Gerechtigkeit bei Besitztümern gibt der Gleichheit oder irgendeinem anderen (strukturellen) Gesamtzusammenhang keinen Vorzug. Man kann nicht einfach voraussetzen, die Gleichheit müsse in jede Theorie der Gerechtigkeit eingebaut sein“.³⁰ Er lehnt die presumption of equality rundheraus ab,³¹ indem er von bereits etablierten Verhältnissen statt von einer abstrakten Null-Situation ausgeht; man könne aus dem „Verteilungsprofil“ innerhalb einer Gemeinschaft nicht entscheiden, ob umverteilt werden müsse, ohne sich anzusehen, „wie die Verteilung zustande gekommen ist“ und ob es bereits berechtigte Ansprüche auf die zu verteilenden Dinge oder Handlungen gebe.³² Die aus dieser Position folgende Ablehnung von sowohl bedürfnis- als auch chancengleichheitsorientierten Begründungen von Umverteilung sei hier beiseite gestellt, um den Blick auf das Argument gegen Gleichheit zu richten. Nozick lehnt die presumption of equality als unbegründet ab, indem er seine Anspruchstheorie dagegen setzt: „Der Haupteinwand dagegen, daß man jedem ein durchsetzbares Recht auf verschiedene Dinge wie Chancengleichheit, Leben usw. zuschreibt, ist der, daß diese ‚Rechte‘ eine tragende Struktur von Gegenständen und Handlungen erfordern, auf die andere Menschen Rechte und Ansprüche haben können. Niemand hat ein Recht auf etwas, zu dessen Verwirklichung man bestimmte Gegenstände und Handlungen in Anspruch nehmen muß, auf die andre Menschen Rechte und Ansprüche haben können.“³³
30 Nozick 2006, S. 306. 31 Die Grundannahme der Rechtfertigungsbedürftigkeit von Ungleichverteilung eines gegebenen Gutes (presumption of equality) wird auch von neueren Egalitarismuskritikern oft als unbegründet angegriffen. Ihre Begründung sei aber, so Gosepath, möglich über das „principle of equal respect together with the requirement of universal and reciprocal justification“, das erfordert, dass alle gleichermaßen bei Rechtfertigung und Verteilung berücksichtigt werden (Gosepath 2007, S. 9). Harry Frankfurt lässt diese Rechtfertigung jedoch nicht mehr als egalitaristisch gelten, da sie auf den universellen Wert der Achtung und Unparteilichkeit bezogen sei, vgl. Frankfurt 2000. 32 Nozick 2006, S. 306, vgl. auch S. 309. 33 Ebd., S. 313.
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Nozick setzt also Verdienst als Recht über Bedürfnisse oder das Recht auf Ausgleich für schlechtere Chancen. Gerechtigkeit wird dabei ebenso als Wert veranschlagt wie bei Rawls, es ist damit aber etwas anderes gemeint. Bezieht sich Gerechtigkeit bei Rawls auf die Grundstruktur der Gesellschaft mit dem Ziel, eine (Verteilungs-)Struktur zu erhalten, die alle Mitglieder wählen würden, ist bei Nozick Gerechtigkeit allein auf das historische Individuum bezogen, das gefragt wird, ob es die auf es gekommenen Besitztümer berechtigterweise habe oder nicht. Aufgrund der Bedürfnislage anderer abgeben zu müssen, wäre bei Nozick die unrechtmäßige Beraubung des Individuums; ein Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte auf rechtmäßig durch Verdienst oder Erbe erworbenes Eigentum. Nozick lässt Gleichheit also allein in der formalen Bestimmung von Rechtsgleichheit gelten, nicht aber als bestimmten Wert einer gerechten Gesellschaft. Die zugrundeliegende Annahme ist dabei, dass die presumption of equality in einer geschichtlichen Welt einfach nicht gilt. Wir befinden uns eben nicht in einem Naturzustand, sondern in einer bereits aufgeteilten Welt. Dass die Geschichte eine Geschichte oft unrechtmäßiger Aneignung (nicht selten im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen) ist, kommt dabei nicht in Betracht. Die Gleichheitsforderung ist also unbegründet und ihre Durchsetzung ist ungerecht, weil sie das Freiheitsrecht auf Eigentum einschränkt, dem unbedingte Geltung bei Nozick zukommt. Werte wie Wohlergehen oder Fairness spielen dabei keine Rolle. Nozick setzt also einen unbedingten Wert (Freiheitsrecht auf Eigentum) und ein Prinzip (rechtmäßige Aneignung durch Verdienst und Erbe) zur Verteidigung der unbedingten Geltung einer historisch entstanden Verteilung ein. Gleichheit kommt nur als formale Rechtsgleichheit vor, Handeln im Namen von Gleichheit ist ungerecht.
3.2 Die neue Egalitarismuskritik – Devaluation von Gleichheit Die neueren Egalitarismuskritiker sind meistenteils gemäßigter als Nozicks radikal-liberale Position; eine Reihe von ihnen erhofft sich sogar egalisierende Effekte ihrer normativen Vorstellungen, ist aber der Ansicht, dass Gleichheit selbst dabei keine Rolle spielt oder spielen darf. Oben wurden neben Nozicks Kritik der Unbegründbarkeit der Gleichheitsforderung zwei weitere Argumentationsstrategien gegen den Egalitarismus genannt: Erstens gehe es beim Egalitarismus nie um Gleichheit selbst, sondern um einen anderen Wert x (x sei Wohlergehen, Achtung o. ä.), zweitens sei der Egalitarismus ungerecht (bzw. sogar inhuman, da er nur nichtselbstverschuldete Mängel kompensiere, um Chancengleichheit bzw. gleiches Wohlergehen zu erreichen). Diese beiden Aspekte fasst Angelika Krebs unter dem Nebenaspekt-Einwand und unter dem Stichwort Inhumanität. Darun-
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ter versteht sie Stigmatisierung und Entmündigung sowie die Idee, Egalitaristen würden nur nicht selbstverschuldeten Mangel kompensieren wollen. Weiterhin führt sie an, der Egalitarismus verkenne die Komplexität der Gerechtigkeitskultur, und er sei nicht realisierbar. Ich will mich hier mit Frankfurt und Raz auf den Nebenaspekt-Einwand konzentrieren, da es dabei um die Rangordnung geht, die dem bei beiden im Prinzip unbestrittenen Wert der Gleichheit zukommt. Frankfurt wendet sich nicht gegen Gleichheit überhaupt, sondern gegen die Annahme, ihr komme ein unabgeleiteter und inhärenter moralischer Wert zu.³⁴ Der Appell an Gleichheit habe zwar starke emotionale Wirkung, verdecke aber, dass es eigentlich um absolute Standards gehe, wenn Ungleichheit als ungerecht verstanden werde. Nicht ob andere mehr haben, sondern ob ich genug habe, um ein unter vernünftigen Gesichtspunkten gutes Leben zu führen, ist relevant für Fragen der Gerechtigkeit. Frankfurt gesteht zu, dass es bestimmte Dinge gibt, auf die alle Menschen dieselben Ansprüche haben; das sei aber ihrem Menschsein geschuldet und nicht dem Prinzip, dass alles zunächst gleich zu verteilen sei. Dass wir uns in einer Situation übervorteilt fühlen, in der wir uns mit noch jemandem ein kleines Stück Kuchen teilen müssen, während ein anderer den Rest für sich alleine hat, entstehe, weil wir uns nicht geachtet fühlen, so Frankfurt. Er nimmt an, dass ungerechte Verteilung ein Nebenaspekt der umfassenderen Handlung ist, einige Personen nicht unparteiisch zu behandeln und dadurch nicht zu achten.³⁵ Die Forderung nach (Verteilungs-)Gleichheit kaschiere oft, dass es eigentlich an Achtung mangelt. Zudem werde durch sie aber suggeriert, Ungleichheit sei per se ungerecht, wodurch Menschen sich nicht mit dem zufrieden geben, was sie haben, also neidisch werden. Folgende Elemente hat Frankfurts Kritik: 1. Gleichheit ist kein in sich selbst begründeter Wert; 2. Gleichheit ist kein als Selbstzweck zu verfolgender Wert; 3. die Gleichheitsforderung verdeckt die Forderung nach wichtigeren Werten (i. e. Achtung); sowie 4. die Gleichheitsforderung hat entfremdende und dissoziative Wirkung (Neid). Gleichheit wird von Frankfurt nicht als eigener Wert anerkannt, zudem kritisiert er, dass die Konzentration auf den bloß marginalen Wert der Gleichheit von wichtigeren sozialpolitischen Belangen ablenke.
34 „Ungleichheit ist eine rein formale Eigenschaft. Aus dieser formalen Eigenschaft einer Beziehung zwischen zwei Dingen folgt überhaupt nichts bezüglich der Wünschbarkeit oder des Wertes eines dieser Dinge. Sicherlich sind es nicht formale, sondern substantielle Bestimmungen, die genuin moralische Bedeutung haben. Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht“, Frankfurt 2000, S. 41. 35 Vgl. ebd. 46.
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Ganz ähnliche Argumente hat Joseph Raz gegen den Egalitarismus, wobei er der rhetorischen Funktion der Gleichheitsforderung keine entfremdende Wirkung zuschreibt, sondern die, die oft zutreffende Qualifikation zur Berechtigung auf ein Recht oder Gut zu stützen. Dass man sich im Rahmen der humanistischen Tradition rein rhetorisch auf Gleichheit beruft, findet er insofern nicht so problematisch, wenngleich er wie Frankfurt der Ansicht ist, dass sie bloßer Ausdruck der Sorge um soziale Verbesserung sei, die der Gleichheitsforderung nicht bedürfe. Kern seiner Ablehnung des Egalitarismus ist daher, dass es sich, sofern der Egalitarismus nicht leer und formal sein soll, um eine nicht konsistente Position handelt, die zu absurden Konsequenzen führen würde. Das innerste Prinzip des Egalitarismus sei: „Alle Fs, die G nicht haben, haben ein Recht auf G, wenn einige Fs G haben“.³⁶ Dieses Prinzip könne jedoch nicht unterscheiden, ob überhaupt alle Fs aufgrund ihres F-Seins G benötigen oder haben wollen (das wäre bei Nahrung der Fall, bei den fünf verbliebenen, materiell wertlosen Fotos einer den meisten unbekannten alten Dame nicht). Es könne außerdem nicht unterscheiden, ob dieses Prinzip dazu führe, dass die G-Besitzer den Teil abgeben müssen, den andere nicht haben (z.B. alle Einäugigen ihr eines Auge, wenn die anderen blind sind), oder ob mehr G an die Nichtbesitzenden verteilt werde. Zudem geht es Raz wie Frankfurt um absolute Güter.³⁷ Gleichheit spielt hier eine Rolle aufgrund des immanenten Wertes des zu verteilenden Gutes, dessen Verteilung durch das Prinzip der Gleichheit (meist in dem schwachen Sinne, dass Ungleichverteilung allen nützen muss) regiert wird. Diese Qualität der zu verteilenden Güter hängt mit einer weiteren Überlegung Raz’ zusammen; nur solche Berechtigungsprinzipien (alle F haben ein Recht auf G) seien gültig, die erfüllbar und abnehmend sind (z.B. Alle Menschen haben ein Recht auf Nahrung, nicht aber Alle Menschen haben ein Recht auf Freude), da die offenen und nichtabnehmenden zu Problemen der Kommensurabilität führen. Bei abnehmenden Prinzipien sei es aber sinnlos, auf egalitäre Prinzipien zurückzugreifen, weil es eben der „Hunger der Hungrigen“ und nicht die Ungleichheit der Nahrungsverteilung sei, die unser moralisch-politisches Empfinden und Handeln bestimme.³⁸ Anders als Nozick ist
36 Raz 2000, S. 59. 37 Keine Nahrung zu haben sei nicht deshalb ein Problem, weil andere welche haben, sondern weil Hunger für sich genommen ein Problem ist. Die Verteilung von Nahrungsmitteln habe zwar Gleichheit zur Folge, diese „Gleichheit ist aber nur ein Nebenprodukt ihrer Sorge um die Linderung von Hunger und nicht die Widerspieglung einer Sorge um Gleichheit“, ebd., S. 75. 38 Vgl. ebd., S. 74ff. Derek Parfit qualifiziert die Orientierung an absoluten Standards bei Frankfurt und Raz dahingehend, dass er überlegt, wer in einer fraglichen Verteilungssituation das absolut betrachtet größte Bedürfnis nach einem zu verteilenden Gut hat, unabhängig von der Position der anderen (Vorrangposition), vgl. Parfit 2000.
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Raz durchaus der Meinung, dass staatliches Handeln sich um die Befriedigung solcher essentiellen Bedürfnisse wie Nahrung und Wohnung kümmern sollte. Er begründet dieses Handeln nur nicht mit der Forderung nach mehr Gleichheit. Raz’ Argumentation hat folgende Elemente: 1. Der Egalitarismus ist inkonsistent; 2. der Egalitarismus würde zu absurden Konsequenzen führen; 3. der Gleichheitsforderung liegt die berechtigte Sorge um soziale Verhältnisse zugrunde und bekräftigt diese mit den Mitteln der Rhetorik; sowie 4. die Forderung der Gleichverteilung ist ein Nebenprodukt der Sorge um absolute Werte. Anders als Nozick erkennen die neueren Antiegalitaristen Gleichheit als anzustrebenden Wert durchaus an, sie sind aber der Ansicht, dass eine Theorie, die Gleichheit als intrinsischen Wert versteht, dieses Ziel nicht erreichen können. Autoren wie Parfit, Raz oder Frankfurt wenden nichts gegen egalisierende Effekte normativer Vorstellungen ein, begründen sie aber mit absoluten Ansprüchen („non-relational entitlement theory of justice“).³⁹ Der Egalitarismus ist also wesentlich relational, während der neuere Anti-Egalitarismus essentialistisch mit bestimmten universellen Grundbedürfnissen argumentiert. Zudem versteht der Antiegalitarismus Gleichheit nicht als intrinsischen Wert an sich selbst, sondern sieht auf Grundlage der Theorie absoluter Güter andere Werte als konstitutiv für eine Theorie der Gerechtigkeit an. Der Antiegalitarismus argumentiert dabei grundsätzlich eher individualistisch und essentialistisch (bzw. bei Nozick geradezu umgekehrt historistisch) als der Egalitarismus, der gruppenbezogen und konstruktivistisch aufgebaut ist. Es hängt also wesentlich von solchen Grundbestimmungen einer Sozialtheorie ab, welche normativen Konsequenzen sie hat. Dass eine eher auf das Individuum bezogene Theorie den relationalen Wert Gleichheit eher nicht anerkennt, eine eher auf Sozialzusammenhänge bezogene Theorie hingegen (proportionale) Gleichheit als konstitutiv versteht, ist jeweils folgerichtig.
4 Fazit: Streit um Geltung für politische Praxis Die Frage, welcher Wert und Status der Gleichheit für demokratische Gemeinwesen zukommt, wird in non-egalitären Positionen durch Methoden der Delegitimierung und Ent- bzw. Abwertung entschieden. Interessant ist, dass nur ultraliberale Positionen wie die Robert Nozicks wirklich anti-egalitär sind, während Raz und Frankfurt wie viele neuere Egalitarismuskritiker durchaus egalisierende
39 Gosepath 2007, S. 26.
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Effekte ihrer Ansätze erhoffen, aber der Ansicht sind, dass diese nicht durch die schlichte Forderung von Verteilungsgleichheit zu erreichen sind. Während die gemäßigte Egalitarismuskritik und egalitäre Ansätze wie die von Rawls oder Dworkin unter einer gerechten Gesellschaft verstehen, dass neben individueller Freiheit allgemeine Wohlfahrt (im Sinne der Chancen auf Verbesserung der Aussichten aller) herrscht, lehnt Nozick auch dieses Ziel ab. Bei letzterem dient die Delegitimierung von Gleichheit dem Hervorheben des alleinigen Werts der Freiheit. Sie allein liege dem Rechtsstaat als Prinzip zugrunde. Weil Freiheit vor allem als Freiheit des Privateigentums verstanden wird, muss jeder egalisierende Eingriff als Einschränkung dieser Freiheit begriffen werden. Von der politischen Praxis her betrachtet heißt das nichts weiter als: Steuern sind Unrecht. Um dieses Argument zu begründen, muss der Begriff Freiheit unbedingte Geltung erhalten, wohingegen Gleichheit in irgendeinem mehr als rechtlich-formalen Sinne keinerlei Geltung haben kann, weil sie die Unbedingtheit von Freiheit in Nozicks Sinn bedroht. Anders verhält es sich bei der neueren Egalitarismuskritik; hier wird Gleichheit in ein Netz von Werten integriert, in dem sie stets der Freiheit nachgeordnet ist und ihr höchstens instrumenteller Wert mit Blick auf die Realisierung von Freiheit, Achtung, Anerkennung etc. zukommt.⁴⁰ Grundsätzlich wird Gemeinwohl als Ziel politischen Handelns ausgezeichnet, so dass nicht allein das Individuum und seine Freiheitsrechte, sondern das Gemeinwesen in den Blick kommen. Nicht Besteuerung an sich wird (in den meisten Fällen jedenfalls) als ungerecht betrachtet, sondern die Begründung dieses Verfahrens, das als fehlgeleitet und inkonsistent dargestellt wird. Gleichheit ihren unbedingten Wert für politische Gemeinwesen zu bestreiten, hat gleichwohl enorme Konsequenzen für die politische Praxis, steht doch in Frage, ob Verteilung überhaupt ein Gesichtspunkt dabei sein sollte. Aus unterschiedlichen Gründen (z.B. weil sie der Meinung sind, dass Eingriffe in den Markt weder rechtmäßig noch sinnvoll sind) sind die Egalitarismuskritiker der Ansicht, dass das nicht der Fall sein sollte, und wenden
40 Pauer-Studer schlägt vor, Gleichheit als instrumentellen Wert für die Erreichung von Freiheit (ein Wert an sich selbst) zu verstehen, die jedoch beide auf den intrinsischen (in sich selbst begründeten) Wert an sich selbst der universalen Achtung und Anerkennung verweisen. Gemeint ist damit, dass bestimmte Mindeststandards der Verteilung gewährleistet sein müssen, damit die Bürger eines Staates zu politischer Partizipation fähig und motiviert sind. Dworkin nimmt außerdem an, dass Umverteilung zu stärkerer Identifikation mit der politischen Gemeinschaft führe, also integrative Kraft habe: „Treating people as equals requires a more active conception of membership. If people are asked to sacrifice for their community, they must be offered some reason why the community which benefits from that sacrifice is their community“, Dworkin 1983, S. 211. Ein ähnliches Argument habe ich mit G. W. F. Hegel gemacht, vgl. Schneidereit 2011.
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aus diesen Gründen die dargestellten Verfahren der Delegitimation und Devaluierung von Gleichheit als Wert für demokratische Gemeinwesen an. Die theoretische Konkurrenz von Freiheit und Gleichheit ist gar nicht ablösbar von ganz konkreten Fragen politischer Praxis – gleichwohl wird sie in der Theoriedebatte begrifflich entschieden; Gleichheit ist im Gegensatz zu Freiheit kein unbedingter Begriff, gehört nicht in unbedingter Weise in den Begründungszusammenhang politischer Gemeinwesen.
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Katja Lasch, Denise Theßeling
Freundschaft, triuwe und êre – Leitsemantiken und konkurrierende Verpflichtungen im Engelhard und im Prosalancelot 1 triuwe und êre als höfische Leitsemantiken Verwandtschaft, Liebe, aber auch herrschaftliche Bindungen, Kameradschaft im Kampf sowie individuelle Beziehungen einander Nahestehender – all diese verschiedenen Sozialbeziehungen umfasst Freundschaft in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft. Freundschaft bildet so als soziale Praktik eine der Strategien, die Sozialität erzeugen und gesellschaftlich erwartete Verhaltensweisen zwischen Individuen strukturieren und ordnen kann.¹ Personelle Bindungen funktionieren in der mittelalterlichen stratifikatorischen Gesellschaft² generell über die allgemeine Formel „von Rechts wegen“ mit dem Ziel der Garantie eines Raumes friedfertigen Verhaltens in einer prinzipiell friedlosen Gesellschaft.³ Die mittelalterliche Konstruktion von Freundschaft basiert auf der Reziprozität des vasallitischen triuwe-Begriffs im Sinne einer rechtlich-institutionalisierten Treueverpflichtung sowie auf dem durch Sichtbarkeit und öffentliche Repräsentation geprägten Begriff der êre. Freundschaft soll hier als Kommunikationsmedium⁴ betrachtet werden, das Interaktionen regeln muss, die nicht mehr als gegebene „interpretierbare Verläßlichkeiten“⁵ angesehen werden können. Verbale und non-verbale Kommunikation wird mit Codierungen aufgeladen, die Verhalten und Handlungen erwartbar machen. Um Interaktion unter Gleichen zu ordnen, nimmt Freundschaft als Kommunikationsmedium die Verbindlichkeit von triuwe und êre als Kernbegriffe des ritterlich-höfischen Wertekanons in seinen Code auf. Dadurch erhöht sich die kommunikative Wahrscheinlichkeit, dass die damit verbundenen verbindlichen Interaktionsregelungen befolgt
1 Zur semantischen Entwicklung des Begriffs Freundschaft vgl. Plangg 1995 sowie Nolte 1990. 2 Zum Begriff der stratifikatorischen Gesellschaft vgl. Luhmann 1997. 3 Vgl. Althoff 1990, S. 2ff. 4 Der Begriff des Kommunikationsmediums bezieht sich auf die Theorie sozialer Systeme nach Niklas Luhmann. Da Luhmann der Freundschaft keine eigene Abhandlung innerhalb seines Gesamtwerkes gewidmet hat vgl. zu Freundschaft als Kommunikationsmedium Luhmann 1994. 5 Luhmann 1994, S. 114.
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werden. Handlungen und Kommunikation ist demnach ein spezifischer Code inhärent, der die Beziehung der Freunde untereinander festigt und damit eine Gruppe von Wenigen als festen Bestandteil einer höfischen Gesamtheit integriert. triuwe strukturiert als ethische Verhaltensmaxime mit dem Vertragscharakter einer „gegenseitigen festen Abmachung“ im Sinne von Zuverlässigkeit, Loyalität und Aufrichtigkeit⁶ die soziale Interaktion im gesamten höfischen System. triuweBeziehungen verfügen aufgrund festgelegter mimischer und gestischer Codes (Kuss, Kniefall etc.) insgesamt über das Potential, die soziale Ordnung zu festigen, sie zu strukturieren und sorgen damit für die Konstanz des adelig-feudalen Wertekanons. Adelige Freundschaft zielt auf Repräsentation, indem sich der Beste mit dem Besten verbindet, um sich innerhalb des auf Visibilität angelegten Sozialsystems Hof zu präsentieren und zu zeigen. triuwe und êre sind Handlungsnormen, die sich in der höfischen Öffentlichkeit entfalten und es vermögen, Sozialbeziehungen in dem Sinne zu strukturieren, dass ihre Funktionsweise keiner Letztbegründung bedarf. Sie können als Geltungsbehauptungen verstanden werden, als Transzendenzsemantiken,⁷ deren Geltung für die gesamte adelig-feudale Gemeinschaft beansprucht wird. Dennoch kann das ordnungsstiftende Potential dieser Leitsemantiken im Sinne verpflichtender sozialer Normen dahingehend aufgebrochen werden, dass Freundschaft in einer auf Öffentlichkeit und Sichtbarkeit angelegten Gesellschaft⁸ als soziale Praktik zum Problem wird. Das vasallitische Prinzip von Leistung und Gegenleistung kann seine Gültigkeit verlieren, wenn Freundschaft ihren eigenen Wert höher stellt als den des adeligen Kollektivs. triuwe inhäriert ist auch das Potential, die Beziehung der Freunde untereinander zu strukturieren, sie kann nach innen wirken. êre hingegen ist auf Visibilität und öffentliche Inszenierung angelegt und zielt als soziales Ansehen des Einzelnen stets auf das gesamte adelige Kollektiv, sie kann nur nach außen wirken. Zieht sich Freundschaft zurück in ein ‚außerhalb‘ der höfischen Repräsentation, dann wird êre als Verhaltensregulativ, das auf die Teilhabe anderer angewiesen ist, obsolet. Das gemeinschaftsstabilisierende Potential von triuwe und êre wird in der Weise irritiert, dass die Verpflichtung gegenüber dem Freund und die Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft konfligieren. Forciert die intime Praxis der
6 Zum Begriff der triuwe vgl. Schultz-Balluff 2009. 7 Der Begriff der Transzendenz soll hier als Unverfügbarkeit verstanden werden, der Begriff der Transzendenzsemantik wird im Sinne von Geltungsbehauptung benutzt. Vgl. hierzu die Einleitung dieses Sammelbandes. 8 Zur Thematik der Repräsentation vgl. Wenzel 1998; ders. 2004; ders. 2005.
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Freundschaft den Ausschluss aus der Inklusionsgemeinschaft des Adels, wird Freundschaft zu einem Sonderhorizont erhoben, der seine eigene Ordnung unabhängig von höfischen Verpflichtungen postuliert. Diese Art eines personalen Freundschaftsentwurfes, der das Freundespaar nicht als Teil einer Gemeinschaft integriert, sondern es als Sonderdyade aus dieser Gemeinschaft herauslöst, findet sich in der mittelalterlichen Literatur in unterschiedlicher Wertung im Engelhard Konrads von Würzburg sowie im Prosalancelot. Anhand dieser Beispiele lässt sich die Verwendung der Leitsemantiken triuwe und êre aus dem Code der sozial-ethischen Norm nachzeichnen, der die Freunde integriert, aber auch ihre Verwendung innerhalb einer Sonderdyade beobachten. Diese Form der Freundschaft kann das konkurrenzlose Nebeneinander von Freund und Gemeinschaft nicht mehr gewährleisten – es kommt zu konfligierenden Verpflichtungen.
2 Aporie der triuwe-Verpflichtungen im Engelhard Bereits der Prolog des Engelhard⁹ Konrads von Würzburg stellt die Geschichte als Exemplum und Lehre für triuwe heraus und benennt so triuwe als Leitsemantik für alle Lebensbereiche der Protagonisten. Die Verpflichtung zwischen den Freunden basiert zwar immer noch auf der vasallitisch geprägten triuwe, steigert sich jedoch zu einer unerklärlichen, zu einer nicht-begründbaren Verpflichtung, die bis zum Riskieren des Lebens, ja sogar bis zur Tötung der eigenen Kinder reicht. Zu beobachten ist hier insbesondere, dass die Semantik der triuwe durch die Einbindung der Protagonisten in mehrere Typen sozialer Beziehungen – Liebe, Verwandtschaft, Freundschaft, Herrschaft – unterschiedliche Reichweiten der Geltung entfaltet. Der Prolog beschreibt triuwe als zentrale Tugend im Leben der Adeligen, betont explizit ihren positiven Wert für die Beziehung der minne (V. 49–56), der friunde (V. 57–64) und der sippeschefte (V. 65–72).¹⁰ triuwe bildet damit den Deutungshorizont für die Erzählung, deren Programm lautet: von hôhen triuwen |
9 Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert: Konrad von Würzburg, Engelhard, hg. v. Ingo Reiffenstein, 3., neubearbeitete Auflage der Ausgabe von Paul Gereke, Tübingen 1982 (Niemeyer, Altdeutsche Textbibliothek 17). 10 Die Aporie der konkurrierenden triuwe-Verpflichtungen ist damit bereits im Prolog angelegt.
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ein wârez maere [zu] erniuwen (V. 153f.),¹¹ um triuwe damit als zentralen gesellschaftlichen Wert zu reinstallieren. triuwe als Leitsemantik und Transzendenzbehauptung erhebt hier den Anspruch, ubiquitär gültiger Wert und zentrale höfische Tugend für die adelige Gemeinschaft zu sein. Auffällig dabei ist, dass der Prolog die Gestalt der frou Triuwe (V. 129) in ihrer wunderschönen Vergangenheit und elenden Gegenwart schildert, ohne überhaupt eine klare Struktur ihrer Funktion zu entwickeln. Ihre allgemeine Geltung als wichtigste aller Tugenden wird beansprucht,¹² ihre Wirkweise aber bleibt genau wie die Begründung dieses Anspruchs unverfügbar. triuwe führt zur Gesamtheit höfischer Tugenden,¹³ sie ist beschrieben als allumfassende, unbegründbare Geltungsbehauptung. Dass für den Protagonisten Engelhart die Leitsemantik der triuwe gelten wird, darauf weist der Erzähler hin, noch bevor er dessen Namen nennt: er hæte ûf triuwe sich gewent | nâch sîner väterlichen art (V. 258f.).¹⁴ Auf Anraten des Vaters sucht Engelhart sich auf der Reise zu König Fruote von Tenemark mittels einer Apfelprobe einen Gesellen. Nur wer den angebotenen Apfel mit ihm teilt, kann tugenthaft genug sein, um sein Gefährte zu werden. Nach zwei gescheiterten Versuchen trifft Engelhart auf Dietrich. Noch bevor er ihn mit dem Apfel testen kann, werden beide als ideale Abbilder voneinander an Aussehen, Gebärde und innerer Haltung beschrieben. Vor ihrem ersten Kontakt steht im Grunde genommen schon fest, dass Gott sie füreinander bestimmt hat (V. 487). Dietrich bezeichnet Engelhart sogleich als trûtgeselle (V. 520) und Engelhart bietet ihm schon brüederlîche triuwe (V. 541) an. Hier wird die Semantik der verwandtschaftlichen Beziehung in das Kommunikationsmedium Freundschaft aufgenommen, um die Bindung der Freunde von Beginn an als stabil auszuweisen. Dass Dietrich den Apfel dann mit ihm teilt und auf höfische Art sogar schält, scheint nur noch Vervollständigung des Erzählmusters zu sein. Denn bereits vorher stehen Gleichheit und untrennbare Zusammengehörigkeit der beiden fest und werden vom Erzähler nicht weiter erläutert oder legitimiert.¹⁵ So wird die Entstehung der Beziehung der Freunde einer Erklärung entzogen, also unverfügbar gestellt. Die Freundschaftsverpflichtung wird in Form eines Eides besiegelt. Der allerdings findet ohne Zeugen statt und wird lediglich vom Erzähler erwähnt (V. 626f.). Dass die
11 „Eine wahre Geschichte von großer triuwe [zu] erneuern.“ Neuhochdeutsche Übersetzungen des ‚Engelhard‘ hier und im Folgenden von Katja Lasch. 12 Vgl. V. 29: Triuw ist an tugenden veste. 13 Vgl. V. 35: ze wâren dingen. 14 „Er hatte sich der triuwe zugewandt, nach der Art seines Vaters.“ 15 Der standesmäßige Unterschied zwischen Engelhart und Dietrich wird übergangen, indem er an dieser Stelle keine Erwähnung findet. Die Freundschaft setzt sich aber auch im weiteren Verlauf über die Standesgrenze hinweg.
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Schwurfreundschaft als rechtliche Institution ihre Gültigkeit erst durch Zeugen gewinnt,¹⁶ gilt für Engelhart und Dietrich gerade nicht. Ihre triuwe-Verpflichtung bewegt sich aus dem Rahmen institutionalisierter Freundschaft mit Vertragscharakter und festem Kanon von Rechten und Pflichten heraus.¹⁷ Die Frage nach der Rechtsgültigkeit ihrer versprochenen Verpflichtung spielt im Engelhard keine Rolle, denn die Freunde sind wie selbstverständlich untrennbar emotional aneinander gebunden. Dazu wird Freundschaft als Kommunikationsmedium mit der Minnesemantik verknüpft: Si wâren zallen stunde | zesamene gebunden | mit hôher minnen stricke (V. 805ff.).¹⁸ Wie im Prolog angedeutet, sind die Freunde im Verlauf der Erzählung in ein Netz von triuwe-Verpflichtungen eingebunden, für welche die Leitsemantik der triuwe als Code sozial-ethischer Normen angenommen werden kann. Starker rechtlicher Charakter kann der triuwe-Beziehung der Freunde zu ihrem Dienstherren König Fruote zugesprochen werden. Nachdem dieser die Bitte um Aufnahme an seinem Hof angenommen hat, werden die Freunde in des küneges hof geschriben (V. 738), ihr Dienst ist hervorragend (V. 1255ff.). Ihre Leistungen werden beispielsweise in der kurzwîle sichtbar, die sie dem Hof verschaffen. Fruotes Gegenleistung wird mehrmals in der Erwähnung seiner milte deutlich. Wie stark sich Engelhart dem König als Dienstherrn verpflichtet fühlt, zeigt sich an seiner Ablehnung von Dietrichs Angebot, mit ihm nach Brabant zu kommen, als dieser die Nachfolge seines Vaters als König antreten muss. Hier entscheidet sich Engelhart nicht für die Freundschaft, sondern zugunsten der herrschaftlichen triuwe-Bindung. Dies bezeichnet er als Ehrensache (V. 1550ff.), worin die Transzendenzsemantik der triuwe deutlich wird. Fruote vertraut ihm innerhalb des triuwe-Verhältnisses dann sogar seine Tochter Engeltrut zur Obhut an, indem er Engelhart zu ihrem kamerære (V. 1843) macht. Daraus entwickelt sich jedoch eine heimliche minne zwischen Engelhart und Engeltrut. Auch dieser Beziehung, bei der es zur Vereinigung im heimlichen minnen spil (V. 2963) im Baumgarten kommt, ist die triuwe-Bindung der Partner inhärent, wie schon im Prolog angedeutet wurde. Engelharts minne-Verpflichtung gerät in Konkurrenz zur triuwe gegenüber dem König, die er zugunsten der minne missachtet und bricht.¹⁹ Der ebenfalls heimliche Beobachter der
16 Vgl. Nolte 1990, S. 137. 17 Vgl. Althoff 1995, S. 577. 18 „Sie waren jederzeit aneinander gebunden mit dem Band der minne.“ 19 Nach Rüdiger Schnell kann ein unerlaubtes Liebesverhältnis zur Tochter des Lehensherrn generell in der mittelalterlichen Dichtung als Verletzung der Treuepflicht aufgefasst werden. Vgl. Schnell 1984, S. 31.
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minne-Vereinigung Ritschier formuliert Engelharts triuwe-Bruch: iuwer friunt, her Engelhart, | hât iuwer êre niht bewahrt (V. 3517f.).²⁰ Auch die Liebenden sind sich des Treuebruchs bewusst, entscheiden sich aber zur Lüge, um Engeltruts êre und Engelharts Leben zu retten. Die Freunde sind zwar während der gesamten Erzählung in das Netz der sozialen Normen herrschaftlicher und familiärer triuwe-Verpflichtungen eingebunden, suspendieren diese Normen aber zeitweilig, um die stärkere Freundesverpflichtung zu erfüllen.²¹ Deutlich wird dies besonders an zwei Episoden: dem Identitätentausch im Gottesurteilskampf und der Aussatzheilung. Eine Entscheidung im Konflikt der Verpflichtungen wird durch die alle Beziehungen umfassende Geltungsbehauptung der triuwe notwendig. Freundesverpflichtung und andere gesellschaftliche triuwe-Verpflichtungen müssen zwangsläufig in Konflikt geraten. Die Konkurrenz der triuwe-Verpflichtungen wird zeitweise zugunsten der Freundesverpflichtung aufgelöst, triuwe wird damit zur Transzendenzsemantik interpersoneller Freundschaft. Mit Gerichtskampf und Gottesurteil geht es für Engelhart um die Einhaltung der triuwe gegenüber Fruote und Gott.²² Der Gerichtskampf soll Fruote die Wahrheit der Aussagen Ritschiers oder Engelharts beweisen. Engelhart ist schuldig, da er die entgegengebrachte triuwe des Königs bewusst verletzt hat. Darüber kann auch der Erzähler nicht hinwegtäuschen, der Engelhart entgegen Ritschier als aus richtiger Motivation Handelnden darzustellen versucht.²³ Um die Norm der Herrschafts-triuwe erfüllen zu können, muss Engelhart sie zeitweise hinter die Freundschafts-triuwe anstellen. Deswegen reist er nach Brabant zu Dietrich. Ihr Treffen findet heimlich, außerhalb der Burg und im Dunkel der Nacht statt, es wird „als Überschreitung des Geltenden inszeniert“.²⁴ Freundschaft entzieht sich hierbei der höfischen Öffentlichkeit. Dietrich bietet sich selbstlos²⁵ für eine List an, kämpft und gewinnt statt Engelhart im Gerichtskampf und erwirbt dadurch Engeltrut als Ehefrau für seinen Freund. Der Betrug des Identitätentauschs ist als Transgression²⁶ zu verstehen. Die Höfe Brabants und Tenemarks werden
20 „Euer Freund, Herr Engelhart, hat eure Ehre nicht bewahrt.“ 21 Zum Begriff der Normsuspension vgl. Münkler 2008. 22 Auf die Bedeutung der triuwe in der Beziehung des Menschen zu Gott wird ebenfalls im Prolog hingewiesen. Vgl. V. 69f., V. 73–88 und V. 116–123. Dass die List der Freunde im Ordal nicht als Betrug an Gott zu verstehen sei, wurde in der Forschung diskutiert. Vgl. dazu vor allem Karner 2010, S. 115–146; Schnell 1984. 23 Vgl. Karner 2010, S. 133. 24 Von Bloh 1998, S. 329. 25 Zur Selbstlosigkeit von Dietrichs Handeln vgl. Witthöft 2005, S. 395f. 26 Zur Transgression im Sinne des Verletzens einer Norm vgl. Hahn 2002.
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vollständig hintergangen, auch die Ehefrauen erfahren nichts vom Tausch. In den Verstrickungen der triuwe-Verpflichtungen entscheiden sich die Freunde für die vermeintlich einzige Lösung, Engelharts Leben zu retten²⁷ und damit für die Freundesnorm. Am Beispiel des Identitätentauschs wird deutlich, dass die Freundes-triuwe alle anderen triuwe-Verpflichtungen überragt, was aber nicht bedeutet, dass sie die anderen grundsätzlich außer Kraft setzt: Geltung verliert die Leit- und Transzendenzsemantik für keinen der genannten Bereiche. Dietrich erkrankt nach dem Rücktausch an Aussatz und leidet sehr an seiner räumlichen und sozialen Isolierung. Indem der Erzähler auf Dietrich fokalisiert, macht er deutlich, dass dieser die Aussicht auf Heilung aufgibt, weil er das Blut von Engelharts Kindern, das ein Engel ihm im Traum als Heilmittel eingegeben hat, nicht einfordern möchte. Bevor er Engelhart um Aufnahme an seinen Hof bittet, wägt er genau ab: er war im Gottesurteilkampf mit triuwen sîn geselle (V. 5657), die Gegenleistung Engelharts kann seiner Überzeugung nach aber nicht das Blut seiner Kinder sein, wohl aber kann er verlangen, dass er ihn bei sich aufnimmt und pflegt.²⁸ Dietrich verschweigt seinem Freund das einzige Heilmittel wohl auch aus Sorge, Engelhart würde ihm zuliebe tatsächlich seine Kinder umbringen (V. 5512f.). Er ist sich der möglichen Transgression bewusst, Engelhart würde das Unmögliche für ihn tun. Erst als Engelhart droht, die Freundschaft zu beenden, gesteht Dietrich das Heilmittel. In der Fokalisierung auf Engelhart wird in dessen Abwägen der Entscheidung, ob er seine Kinder töten oder Dietrich retten soll, der Konflikt zwischen Familenbund und Freundesbund sichtbar: Engelhart sieht es als zerbrechen [der] geselleschaft (V. 6131), würde er Dietrich nicht helfen. Er würde aber seine familiären Bande zerstören, wenn er seine Kinder töte. Die Entscheidung gegen seine Kinder begründet er zum einen mit der Berufung auf Gott, der Dietrich keinen Engel geschickt hätte, wenn er nicht den Tod der Kinder wünsche, zum anderen in der Feststellung, erneut Kinder bekommen zu können, einen so guten Freund aber nie wieder zu finden (V. 6184ff.). Schließlich bestätigt sich für Engelhart die Legitimität seiner Entscheidung auch damit, dass Dietrich Leben und Ehre für ihn aufs Spiel gesetzt hat, das Kinderblut also die angemessene Gegenleistung sei. Er handle damit als die getriuwen [tun] (V. 6200ff.). Im Konflikt zwischen Familien- und Freundesverpflichtung siegt hier die Freundestriuwe, deren Geltung weiter reicht. Die triuwe-Verpflichtung ist so stark, dass sie den Tod der eigenen Kinder rechtfertigt. Allein die triuwe zu Dietrich zwingt Engelhart zur Tat: Dietrich wird durch das Blut der Kinder wieder gesund.
27 Dietrich nennt nur eine entscheidende Begründung: dâ mite ich sol enbinden | ûz dirre nôt das leben din (V. 4472f.). 28 Vgl. V. 5490–5549 und V. 5623–5666. Zum Begriff der Fokalisierung vgl. Genette 1998.
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Ist der Konflikt zwischen unverfügbaren Verpflichtungen hier auf die Spitze getrieben, so wird er anschließend wieder aufgelöst: Durch ein göttliches Wunder werden die Kinder wieder zum Leben erweckt. Das Wunder wird eingesetzt, um die absolute Einhaltung der triuwe-Verpflichtung der Freunde trotz Lügen, triuweBruch am König und Missachtung der familiären Bindungen und Verpflichtungen durch die Freunde zu legitimieren: got liez in beiden werden | sêl unde lîp behalten | durch ir manicvalten | triuwe und umbe ir stæten art (V. 6462ff.).²⁹ An dieser Stelle könnte der Engelhard als Hinweis gelesen werden, dass die triuwe zweier emotional verbundener Menschen und die daraus erwachsende absolute individuelle Verpflichtung mehr gilt als vasallitische und familiäre Bindungen, die auf gesellschaftsbezogener triuwe basieren.³⁰ Auffallen muss aber auch, dass allein das göttliche Wunder die Aporie der triuwe-Verpflichtungen aufzulösen vermag, denn an ihm zeigt sich Gott als höhere Norm, die die Reichweiten der Geltungsbehauptung triuwe im gewissen Sinne wieder aufhebt. Die im Prolog angesprochene absolute Geltung der triuwe für alle Lebensbereiche der Menschen bringt das Freundespaar in eine Verwirrung der konfligierenden Verpflichtungen, die durch eine zeitweise Verabsolutierung der Freundschafts-triuwe zur Suspendierung der Normverpflichtungen im Bereich der Herrschaft, Familie und Minne aufgelöst wird und am Ende einer Klärung durch Gott als Letztinstanz bedarf.
3 Die Unvereinbarkeit von êre und Freundschaft im Prosalancelot Das Überragend-Sein im Sinne körperlicher Vorzüge, der Mut und die Kampfkraft eines Ritters, sie werden im Prosalancelot³¹ zum Motivationsmodus für Freundschaft. Idealität fungiert hier als Selektionskriterium, ausgedrückt in einem überragenden kämpferischen Können, das Galahot auf Lancelot aufmerksam werden lässt. Die Bildung einer Freundschaft verbleibt an dieser Stelle durchaus noch innerhalb der höfischen Normgebung, indem was schön ist, begehrt wird. Freundschaft soll die êre der Freunde mehren und vor aller Augen demonstrieren, dass
29 „Gott ließ beide Edle wegen ihrer vielfältigen triuwe und Beständigkeit Seele und Leib behalten.“ 30 Vgl. Oettli 1993, S. 376. Vgl. auch von Bloh 1998, S. 329 sowie Koch 1999, S. 217. 31 Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert: Lancelot und Ginover. Prosalancelot. 2. Bd, hg., übersetzt und kommentiert v. Hans-Hugo Steinhoff, Leipzig 2005. Neuhochdeutsche Übersetzungen des Prosalancelot folgen ebenfalls dieser Ausgabe.
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der Beste sich mit dem Besten verbunden hat. So häuft der Text bereits vor der ersten Begegnung zwischen Lancelot und Galahot Superlative an, die die Schönheit Lancelots über die aller anderen erhebt (PL I S. 364,27ff., S. 595,25ff.). Auf der anderen Seite steht Galahot, der best ritter (PL I S. 612,8),³² er hett me gewunen dann keyn man in synen ziten (PL I S. 614,6f.),³³ der nach der Eroberung der Welt und des Artusreiches strebt. Der beste aller Ritter trifft damit auf den mächtigsten aller Herrscher. Zunächst scheint das Begehren Galahots durchaus im Einklang mit seiner Identität als Herrscher zu stehen und sich innerhalb der höfischen Werte zu erschöpfen – die Idealität des anderen wird begehrt, um die eigene êre aufzuwerten und mit der triuwe zum Freund gleichzeitig die Loyalität zum adeligen System zu bekräftigen. Als er Lancelot auf dem Schlachtfeld kämpfen sieht, ist er überwältigt. Galahot will diesen besten aller Ritter für sich gewinnen. Galahots Bemühen um Lancelots Freundschaft steht damit zu Beginn durchaus noch im Einklang mit seiner Absicht, das Artusreich zu unterwerfen. Diese muss er jedoch aufgeben, denn das ist der Preis, den Lancelot für seine Freundschaft verlangt und für diese Freundschaft ist Galahot bereit, alles zu opfern: ich wolt vil me durch uwern willen thun dann irselb wenent. […] Darumb bitt ich uch das irs thúnt und herbergent mit mir, uff solche rede das ich thú wes ir mir bittent (PL I S. 742,26ff.).³⁴ Der Einspruch seiner Ritter (PL I, S. 746,32f.) zeigt die Brisanz des Blanko-Versprechens, all das zu akzeptieren, was Lancelot verlangt. Damit handelt Galahot konträr zu seiner ursprünglichen Intention. Lancelot fordert als Preis für seine Gesellschaft von Galahot, sich Artus im Moment des eigenen Sieges zu unterwerfen (PL I, S. 752,3ff.) und damit auf seine Eroberungspläne zu verzichten. Bereits in den Umständen ihrer Entstehung zeigt die Freundschaft im Prosalancelot eine Bedingungslosigkeit, in der sich das vasallitische Reziprozitätsverhältnis der triuwe auflöst. Durch diese Verzichtserklärung auf den Sieg begibt sich Galahot in eine Abhängigkeit von Lancelot, die für die Verbindung der beiden programmatisch wird. Der Anspruch auf Macht und Herrschaft wird der Neigung nach Freundschaft eines Einzelnen untergeordnet, das politische Element tritt hinter dem persönlichen zurück. Die interpersonale Anziehung tritt in den Vordergrund, anders lässt sich Galahots Verzicht auf Herrschaft und damit auf seine eigene adelige Identität nicht erklären. Die in der Verbindung mit dem Besten gewonnene êre wird durch die Aufgabe der Eroberungspläne Galahots negiert. Sein Begehren geht über die Grenzen der höfischen Werte hinaus, indem
32 „Der beste Ritter.“ 33 „Er hat mehr Länder erobert als jemals einer in seinem Alter.“ 34 „Ich würde viel mehr für Euch tun, als Ihr glaubt. […] Deshalb bitte ich Euch, einzuwilligen und bei mir Unterkunft zu nehmen; dafür werde ich alles tun, worum Ihr mich bittet.“
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es diese als zweitrangig klassifiziert, wann als ein man einen getruwen frunt hatt, den er fur alle frunde erkorn hat, und er den verluset, den schaden mag er nymer erkobern noch mag sin nymer vergeßsen (PL II, S. 16,22ff.).³⁵ Galahot kennt Lancelot nur als schwarzen Ritter. Er verzichtet um der Freundschaft Willen auch auf die Nennung seines richtigen Namens (PL I, S. 762,6f.). Er unterwirft sich nicht einer genealogischen Zugehörigkeit und damit einer adeligen Ordnung, sondern einer namenlosen Aura, deren Vorhandensein jegliches Machtstreben kompensiert. Was ir gebietent das muß geschehen, ich han iuch lieber dann alle die ere die mir off ertrich geschehen mag (PL I, S. 762,3ff.).³⁶ êre als höfische Leitsemantik wird für Galahot zweitrangig. An erster Stelle stehen die Bedürfnisse seines Freundes Lancelot, die zu erfüllen zur Prämisse seines Handelns wird. Als Lancelot in die Tafelrunde aufgenommen werden soll, sieht Galahot in diesem öffentlichen symbolischen Akt der Zugehörigkeit eine Gefahr für die Freundschaft – bindet sich Lancelot an den Artushof, heißt das Verzicht auf dessen Gegenwart. Die Freundschaft beansprucht, zumindest von Galahot her betrachtet, Ausschließlichkeit: wolt ir das er mit uch blib, so enthaltet mich mit im, anders ich stirbe! (PL I, S. 1288,8f.).³⁷ Um auf die Anwesenheit des geliebten Freundes nicht verzichten zu müssen, bittet Galahot ebenfalls um Aufnahme in die Tafelrunde. Er begehrt nicht von selbst die Aufnahme in die Artusrunde als höchste ritterliche Auszeichnung, er bittet nur um Lancelots Willen darum – der repräsentative Wert dieser Aufnahme zählt nur in Verbindung mit Freundschaft. êre als soziales Ansehen ist für Galahot ohne Freundschaft zu Lancelot wertlos. Die adelige Normerfüllung durch Perfektion, Idealität und den vasallitischen triuwe-Gedanken bezogen auf eine Gemeinschaft wird nach und nach nivelliert – Freundschaft überschreitet als personale Freundschaft die Grenze des Höfischen und der Hof als Ort der Freundschaft, die das Gegenüber des Freundes höher schätzt als die höfische êre, wird untauglich. Erweist sich doch die ideale Welt der höfischen Repräsentation als „beanspruchte Totalintegration […] sie hält keine Alternativen aus, sie verträgt nicht das Hereinbrechen des anderen oder sein Aufbrechen im Innern, nicht einmal das Wissen von dessen Möglichkeit.“³⁸ Freundschaft wird hier mit einer bewussten räumlichen
35 „Aber wenn jemand einen treuen Freund besitzt, den er sich mehr als alle anderen zum Freund erwählt hat und den verliert, den Verlust kann er nie wieder gutmachen und auch nicht vergessen.“ 36 „Was Ihr befehlt, wird geschehen. Ich liebe Euch mehr als alle Ehre, die mir auf Erden zuteilwerden könnte.“ 37 „Wenn Ihr wollt, daß er der Eure wird, müßt Ihr mich mit ihm aufnehmen, sonst werde ich sterben.“ 38 Strohschneider 2000, S. 38.
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Ab- und Ausgrenzung konfrontiert, die das Prinzip der êre auflöst, da sie sich aus dem politisch höfischen Bereich zurückzieht und Selbstzweck wird. An diesem Punkt, der sich als eine Stufe des forcierten Selbstausschlusses aus einer Inklusionsgemeinschaft des Sichtbaren lesen lässt, geraten Verpflichtungen gegenüber dem Artus-Kollektiv und Verpflichtungen gegenüber dem Freund in Konkurrenz miteinander, da Freundschaft zu einem Sonderhorizont erhoben wird, der seine eigene Ordnung postuliert, unabhängig von höfischer Verpflichtung. Topologisch inszeniert wird diese Abspaltung vom höfischen Regelkanon in der Episode in Sorolois. Sie lässt sich auch als räumliche Abwendung von der höfischen Inklusionsgemeinschaft lesen – Sorolois wird zum Gegen-Ort des Artushofes. Galahot, Sohn einer Riesin, ist bereits in seiner Genealogie auf das ‚Andere‘ hin angelegt. In seiner riesenhaften Gestalt zeigt sich schon äußerlich das Hereinbrechen ‚eines Außerhalb‘ in die Artuswelt. Galahot bricht mit Lancelot in sein Reich Sorolois auf, das was ußermaßen veste an allen syten (PL I, S. 820,18f.),³⁹ und er [Galahot; D. T.] ist aber so heimlich da das yn keyn fremd ritter gesehen mag (PL I, S. 1088,6).⁴⁰ An diesem Ort des schönen Scheins eines paradiesischen Freundschafts-Idylls gibt es keine ritterlichen Verpflichtungen. Die sich selbst genügenden Freunde treten an die Stelle der sich vor aller Augen im Turnier bestätigenden Freundschaft. Als wäre Sorolois nicht schon weit genug aus der ritterlich-höfischen Welt entrückt, zieht sich Galahot mit Lancelot auf eine Insel zurück, sie was genant der Verlorn Werd darumb das er so ferre in dem waßer lag und ferre von luten (PL I, S. 1200,24f.).⁴¹ In dieser entlegenen Welt soll sich Freundschaft in einem gemeinsamen Leben erschöpfen, denn hier ist der Ort der Freundschaft, ein Ort ohne höfische Ordnung, damit aber auch ein Ort, der Lancelot all seiner identitätsstiftenden Konstituenten im Sinne eines öffentlich anerkannten und klar durch die Verhaltensmuster der adeligen Gesellschaft definierten ritterlich-höfischen Habitus beraubt. Das Zusammensein mit Galahot stellt diesen Habitus durch die Forderung nach unbedingtem Verzicht auf Kampf in Frage (PL I, S. 1200,28f.). Lancelot wird an diesem Ort, abseits des höfischen Normenkanons und damit hinter der höfischen Grenze, zur Figur, die diese konfligierenden Verpflichtungen in sich vereint. Freundschaft bestätigt sich hier nicht über Turniere, über öffentliche Taten und ehrverheißende Kämpfe. Sie lehnt genau das ab, Freundschaft
39 „Es war von allen Seiten schwer zugänglich.“ 40 „Er [Galahot; D.T.] hält sich dort aber so verborgen, daß ihn kein fahrender Ritter finden kann.“ 41 „Und weil sie so weit im Wasser und so fern von Menschen lag, hieß sie die verlorene Insel.“
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wird von der ritterlichen Bewährung und vom Kampf getrennt. Galahot versucht, eine ideal funktionierende Männerfreundschaft aufzubauen, doch sie zerbricht an der asymmetrischen Begehrens- und Emotionsstruktur der beiden Figuren. Lancelot, der sich gefangen (PL I, S. 1200,14) fühlt, sehnt sich nach einem Kampf mit einem tapferen Ritter, wir verliesen unser zitt hie und unser leben, wir wissen selbst nit wie (PL I, S. 1200,16f.),⁴² während Galahot ein gemahelich leben (PL I, S. 1200,19) genügt. Die gemeinsame Zeit mit dem Freund ersetzt für ihn die Heldentaten – die höfische êre gerät in Konflikt mit dem Absolutheitsanspruch der Freundschaft. Galahots Bedürfnis rekurriert auf Werte, die antagonistisch zur höfischen Sozialität und damit auch zur Figur Lancelots stehen, das wird an der Kontrastierung zu Lancelots Bedürfnissen deutlich. Galahot genügt die Abgeschiedenheit mit dem Freund. Seine Identität gründet sich in erster Linie auf dem persönlichen Potential der Freundschaft und erst in zweiter Linie auf seiner Rolle als Herrscher. Gerade weil hier verschiedene Bedürfnisstrukturen thematisiert werden sowie durch topologische Abgeschiedenheit und Verzicht auf öffentliche Bestätigung der Freundschaftsbeziehung, lässt sich diese Freundschaft als Konkurrenz zur höfischen Ordnung lesen. êre als Leitsemantik der höfischen Ordnung wird negiert und findet mit ihrem unbedingten Verlangen nach Zeugenschaft keinen Raum mehr in einer sich selbst genügenden Freundschaft. Sie wird nun neben allen anderen Qualitäten, die sie zur Sicherung der eigenen Stellung in der Gesellschaft mitbringt, mit dem Drang konfrontiert, emotionale Erfüllung im Gegenüber zu finden und nicht mehr die adelige Gemeinschaft zu stabilisieren. Abgeschiedenheit, exklusive Zweisamkeit, Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Rahmen werden zu kennzeichnenden Begriffen dieser Beziehung. Nicht mehr nur die idealisierte Außenwirkung wird bedeutsam, sondern mehr und mehr die persönlichen Eigenschaften, sodass die adelige Normerfüllung durch Perfektion nach und nach nivelliert wird. Lancelot aber vermag nicht ohne öffentliche Präsentation und êre zu leben. Er kehrt an den Artushof zurück. Der Prosalancelot zeigt so den beginnenden Aufbruch institutionalisierter Bindungen und die Auflösung gesicherter sozialer Kontexte.⁴³ In der Freundschaft zwischen Lancelot und Galahot wird die politisch stabilisierende Komponente von Freundschaft verdrängt und durch ein gegen diese Werte arbeitendes persönliches Element ersetzt, „damit verlagert die Sozialität ihren Kulminationspunkt aus dem Öffentlichen ins Private.“⁴⁴ Freundschaft wird zu etwas Besonderem, etwas Rarem und durch ihre Abwendung von der öffentlichen Sphäre zu etwas
42 „Wir vertun hier unsere Zeit und unser Leben und wissen selbst nicht wie.“ 43 Vgl. Ortega 1997, S. 224. 44 Luhmann 1993, S. 228.
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Unbeobachtbarem, ebenso wird sie durch den Ausschluss aus der politischen Sphäre von der Last, stabilisierender und ordnender Faktor zu sein, befreit. Doch je mehr Freundschaft in Konflikt mit der höfischen Ordnung gerät, beginnt sie sich von öffentlicher Inszenierung und symbolischer Kommunikation zu lösen und desto weiter wird sie aus dem Text eliminiert. Galahot bleibt, trotz des abgeschiedenen Lebens mit dem Freund, einsam. Ist er doch der eigentliche „loving jailer“.⁴⁵ Denn das, was er begehrt hat, ist nicht bereit, die Erfüllung in dieser Art von Freundschaft zu finden. Galahot muss sterben, denn Freundschaft hat keinen Platz in diesem höfischen Text, weil sie einengt und verabsolutiert, weil sie den Menschen aus der Gemeinschaft isoliert. Der Text inszeniert ein Scheitern von Freundschaft und negiert damit ihren eigenen textinternen Anspruch auf eine solche Intensivform durch die Forderung nach der Bildung eines Innenraums „des irgendwie Unzugänglichen, Unverfügbaren, Uneinsehbaren, Entzogenen“.⁴⁶
4 Schlussbetrachtungen Für beide untersuchten Werke konnte jeweils die Aufnahme der adelig-feudalen Leitsemantiken triuwe und êre in das Kommunikationsmedium Freundschaft mit dem Ziel der Herstellung anschlussfähiger Kommunikation gezeigt werden. Im Engelhard negiert Freundschaft als personale Bindung mit Absolutheitsanspruch zeitweise die adelig-feudale Ordnung. Der in triuwe als Transzendenzsemantik beinhaltete universelle Geltungsanspruch wird durch die Konkurrenz der verschiedenen Verpflichtungsverhältnisse, in denen sich die Freunde befinden, in Frage gestellt. Durch die zeitweise Absolutsetzung der Freundschafts-triuwe zeigt sich aber auch eine zeitweise Destabilisierung der gemeinschaftlichen Ordnung, sodass Freundschaft in einen Rechtfertigungsdruck gerät. Freundschaft als irritierender Faktor muss im Engelhard so letztlich durch Gott legitimiert werden. Im Prosalancelot wird Freundschaft zu etwas in der höfischen Welt Unbeobachtbarem. Sie wird vom Hof entfernt und ihre Sichtbarkeit damit aufgelöst. Es haftet ihr etwas Entzogenes an, das der Stabilität der sozialen Ordnung entgegenläuft. Die Transzendenzsemantik der êre wird von Freundschaft als Transzendenzformel – einer Transzendenzformel, die im Gegensatz zur höchsten höfischen Kategorie der êre keine Rückbindung mehr an Gemeinsinn erlaubt – aufgelöst.
45 Hyatte 1994, S. 117. 46 Strohschneider 2000, S. 32.
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Die Konkurrenzen, die sich in beiden Werken durch das Herauslösen der Freunde als Sonderdyade aus der adelig-feudalen Gemeinschaft ergeben, werden unterschiedlich aufgelöst: im Engelhard zugunsten der Freundschaft, im Prosalancelot zugunsten des Artuskollektivs.
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Kai Hering, Tobias Tanneberger
Unglaubliche Geschichten? Zur Plausibilisierung von Transzendenzbehauptungen
1 Einführende Bemerkungen Nicht nur der Bestand von Herrschaftsverhältnissen, sondern die Dauerhaftigkeit von institutionellen Ordnungen im Allgemeinen ist entscheidend an die Geltendmachung von Normen und Werten gekoppelt, die sehr häufig in historischen Narrationen vermittelt und in die Zukunft weitergetragen wurden.¹ Das legitimatorische und affirmative Moment solcher Eigen- oder Geltungsgeschichten ist dabei nicht zu übersehen.² Im Kontext der mittelalterlichen Königs- und Adelsherrschaft besaß die Vergewisserung der dynastischen Anfänge einen besonderen Stellenwert: Genealogisch-dynastische Kontinuität im Herrscheramt ebenso wie eine spezifische Verknüpfung von Land, Volk und Dynastie stellten in Begründungsdiskursen politischer Ordnung entscheidende Referenzpunkte der Argumentation dar.³ Mit Blick auf die evidente Zeitgebundenheit historiographischer Texte liegt es daher nahe zu vermuten, dass Konkurrenzsituationen zwischen Herrscherhäusern vorrangig in solchen Werken zutage treten, die sich mit der Geschichte einer dynastischen Herrschaft befassen. Im Fokus des vorliegenden Beitrags stehen Geschichtsentwürfe des hohen und späten Mittelalters, welche einem jeweils zeitgenössischen Herrschaftsträger die unverfügbare Vergangenheit als Transzendenzressource verfügbar machen sollten – was gleichzeitig eine Unverfügbarstellung für konkurrierende, sich gleichfalls der Historie bedienender Ansprüche bedeutete. Wenn nachfolgend von Transzendenz gesprochen wird, so geschieht dies also nicht primär in religiösen Bezügen, obwohl gerade die christliche Gesellschaft des Mittelalters sich wesenhaft über ihr Verhältnis zur Transzendenz Gottes definierte. Vielmehr sind Behauptungen von Unverfügbarkeit gemeint, durch die bestimmte Ordnungsfor-
1 Vgl. hierzu besonders die Beiträge in dem von Gert Melville und Hans Vorländer herausgegebenen Band Geltungsgeschichten 2002. 2 Dazu Rehberg 2004, S. 3–18. 3 So lautet eine der Grundannahmen des Teilprojekts C „Dynastie, Idoneität und Transzendenz. Vergleichende Untersuchungen zum hohen und späten Mittelalter“ im Dresdener Sonderforschungsbereich 804: „Transzendenz und Gemeinsinn“.
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mationen begründet und der Anfechtbarkeit entzogen werden sollten.⁴ Konkret geht es bei diesen Ordnungen um adlige Herrschaften, die ab dem Hochmittelalter zunehmend in dynastischen Strukturen organisiert waren. Vor dem Hintergrund einer europaweiten ‚Dynastisierung‘ von Adel und Herrschaft stellt sich die Frage, wie der Vorrang einzelner Geschlechter herausgestellt und den politisch relevanten Schichten überzeugend vermittelt werden konnte. Damit ist zum einen die Konstruktion von Transzendenzbehauptungen und zum anderen die Notwendigkeit der Plausibilisierung solcher Konstruktionen angesprochen, um diese gemeinsinnig werden zu lassen, das heißt ihren spezifischen Geltungsanspruch in den allgemein anerkannten Sinn- und Wertehorizont zu integrieren. Im hier thematisierten Zusammenhang ist die Geschichtsschreibung der Ort, an dem gegenwärtige Befindlichkeiten auf übergeordnete Sinn- und Deutungsmuster hin transzendiert werden. Den Verfassern historiographischer Entwürfe kam es in den meisten Fällen darauf an, einem bestimmten Herrscher durch den Nachweis des hohen Alters und der Kontinuität seiner Dynastie ein noch höheres Ansehen zu sichern; zu diesem Zweck wurden oftmals weit in die Vergangenheit zurückreichende Ahnenreihen aufgestellt. Aus heutiger Sicht handelt es sich bei diesen Entwürfen um historisch-genealogische Fiktionen oder Fälschungen,⁵ die gleichwohl nicht völlig frei konstruiert wurden, sondern im Gegenteil höchst rationalen Gestaltungsprinzipien folgten und die sich um ihrer Plausibilität willen immer an im kulturellen Gedächtnis ihrer Rezipienten verankerten Wissensbeständen orientierten.⁶ Aus der Fülle der historiographischen Produktion des Hoch- und Spätmittelalters, in deren Zentrum das genealogische ‚Herkommen‘ einer adligen Herrscherdynastie stand,⁷ seien im folgenden zwei Geschichtsdarstellungen herausgegriffen, um an ihnen exemplarisch die genannten Aspekte zu verdeutlichen: Dabei handelt es sich um die Schriften des staufischen Hofkapellans Gottfried von Viterbo aus dem späten 12. Jahrhundert sowie um ein anonymes und titelloses Werk, das sich heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana befindet und die Abfolge der Fürsten von Brabant bis ins ausgehende 15. Jahrhundert schildert. Es wird deutlich werden, dass sich trotz der räumlich und zeitlich weit auseinander liegenden Herkunft dieser Texte weder grundlegende Unterschiede in den Spiel-
4 Vgl. die Bemerkungen der Herausgeber in der Einleitung zu diesem Band. 5 Althoff 2003, S. 25–51. 6 Umfassend zu den Gestaltungsprinzipien von mittelalterlichen Genealogien vgl. Melville 1987a, S. 203–309, und komplementär Melville 1987b, S. 57–154, zu Formen graphischer Vermittlung von Bluts- und Sukzessionslinien. 7 Siehe dazu Graf 2001, S. 23–36.
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regeln der Plausibilisierung von Transzendenzbehauptungen noch in der Art, wie ganz konkret eine rechtmäßige Herrschaft plausibel gemacht werden soll, konstatieren lassen.
2 Geschichtswissen und genealogische Fiktion bei Gottfried von Viterbo Die Geschichtswerke des an den Höfen von Konrad III. (1138–1152), Friedrich I. Barbarossa (1152/55–1190) und Heinrich VI. (1169/90–1197) als Kapellan und Kanzleinotar tätigen Klerikers Gottfried von Viterbo⁸ stellen interessante, da verhältnismäßig frühe Beispiele für den Versuch genealogisch-dynastischer Legitimierung dar. Hierfür standen Gottfried in erster Linie die tradierten Modelle und Konzepte universaler Geschichtsschreibung zur Verfügung, wie sie in den sogenannten Weltchroniken angewandt worden waren.⁹ Eine umfassende, heute besonders ob ihrer theologisch-philosophischen Durchdringung zu den Höhepunkten mittelalterlicher Chronistik gezählte Darstellung des Geschichtsverlaufs von der Erschaffung des Menschen bis zur Gegenwart und mit einem Ausblick auf das Weltende hatte Bischof Otto von Freising († 1158) verfasst. Die Auswirkungen der Kirchenreform im Reich und die als krisenhaft empfundenen Jahre der Herrschaft Konrads III. gaben Otto, der über seine Mutter Agnes ein Halbbruder des staufischen Königs war, Anlass zu einer weitausgreifenden Standortbestimmung der Christenheit im Ablauf der Weltgeschichte. Sein achtbändiges Werk, die nicht nur dem Titel nach von Augustinus († 430) inspirierte Historia de duabus civitatibus,¹⁰ gelangte rund zehn Jahre nach ihrer Fertigstellung an den staufischen Hof, als sich der Neffe und Amtsnachfolger Konrads, Kaiser Friedrich Barbarossa, eine Abschrift erbat. Am Kaiserhof dürfte Gottfried von Viterbo die Weltchronik Ottos ebenso bekannt und zugänglich geworden sein wie die Gesta Friderici imperatoris, ein Bericht über die Geschehnisse der ersten Regierungsjahre Barbarossas, den der Kaiser zur Verherrlichung seiner Taten ca. 1157 beim
8 Als Geburtsjahr Gottfrieds wurde 1125 ermittelt, während sein genaues Sterbedatum unbekannt ist. Er scheint nach 1191 gestorben zu sein, womöglich sogar erst um 1202, wenn die (umstrittene) Zuschreibung der Gesta Heinrici VI. an Gottfried von Viterbo berechtigt ist; vgl. die unten in Anm. 12 genannten Arbeiten. 9 Grundlegend zur Entwicklung der Weltchronistik bis ins 12. Jahrhundert: von den Brincken 1957. 10 Zitiert nach der lateinisch-deutschen Ausgabe Otto Bischof von Freising, Chronik 1990.
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Bischof von Freising in Auftrag gegeben hatte.¹¹ Mit Ausnahme des der Apokalypse gewidmeten Schlussteils dienten die Bücher der Historia de duabus civitatibus und auch Teile der Gesta Friderici dem Hofkapellan Gottfried vielfach wortgetreu als Vorlage für seine eigenen historiographischen Schriften: In dem Jahrzehnt zwischen 1180 und 1190 nahm Gottfried in seiner Heimatstadt Viterbo gleich mehrere Beschreibungen der Weltgeschichte in Angriff; nacheinander entstanden durch fortwährende Überarbeitung die Memoria seculorum, der Liber universalis und als Hauptwerk schließlich das in drei Redaktionsstufen überlieferte Pantheon.¹² Die zahlreich erhaltenen Handschriften aus dem 13.–15. Jahrhundert sprechen für die früh einsetzende Rezeption von Gottfrieds Werken und ihre ungebrochen große Popularität in den folgenden Jahrhunderten.¹³ Am Anfang seines Schaffens steht jedoch ein bemerkenswerter Text, welcher außer dem universalhistorischen Horizont nur wenig mit der Chronik des Bischofs von Freising gemein hat: Zu Beginn der 1180er Jahre, einer Konsolidierungsphase der staufischen Herrschaft nach der Krise des Papstschismas (1159–1177), schrieb Gottfried eine – wohl unvollendet gebliebene – Weltchronik in Versen, der er den Titel Speculum regum gab und die er dem römisch-deutschen König Heinrich VI. widmete.¹⁴ Der Adressat, ältester Sohn des Kaisers, war schon als Vierjähriger 1169 in Aachen gekrönt worden und dazu bestimmt, das imperiale Erbe seines Vaters anzutreten, weshalb Barbarossa mit Papst Lucius III. (1181–1185) über eine Erhebung Heinrichs zum Mitkaiser verhandelte.¹⁵ In das zeitliche Umfeld des Speculum regum gehören ferner auch der glanzvolle Pfingsthoftag in Mainz 1184, auf dem Heinrich VI. die Ritterwürde empfing, und die noch im selben Jahr geschlossene Verlobung des staufischen Thronfolgers mit der Königstochter Konstanze von Sizilien († 1198).¹⁶
11 Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs 1965. Das von Otto selbst angeregte Werk war bei dessen Tod im September 1158 noch unvollendet und wurde von seinem Kapellan Rahewin bis 1160 weitergeführt, der es danach an den kaiserlichen Hof sandte; vgl. dazu Deutinger 1999. 12 Monographische Untersuchungen zum Leben und Werk des Autors liegen u.a. von Boockmann 1992; Weber 1993; Dorninger 1997 und Killgus 2001 vor, jeweils mit weiterführenden Literaturangaben. 13 Vgl. speziell zur Überlieferung des Pantheon Weber 1993, S. 255–388. 14 Zitiert wird nach der Edition Gotifredi Viterbiensis opera, Speculum regum 1872, S. 21–93. 15 Baaken 1972, S. 219–297. Einer singulären Quellennachricht zufolge soll Friedrich Barbarossa bereits nach der Krönung Heinrichs VI. im Jahre 1169 ein päpstlich sanktioniertes Mitkaisertum für seinen Sohn angestrebt haben, vgl. Tounta 2010, S. 166ff. 16 Zum Hoffest in Mainz zuletzt Lubich 2010, S. 277–293, mit der dort verzeichneten Literatur; vgl. zur staufisch-sizilischen Eheverbindung neben Baaken 1972 auch Weller 2004, S. 116ff.
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Wenden wir uns aber dem ‚Königsspiegel‘ selbst zu: Geschichte wird hier im Wesentlichen als successio erzählt, als kontinuierliche Abfolge von Herrschaftsträgern, die Gottfried wegen der realen oder fingierten verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Subjekten als genealogia regum et imperatorum kennzeichnet. Dem jungen Stauferkönig will Gottfried zur Belehrung „über Zukünftiges und Vergangenes“¹⁷ die Abkunft aller Monarchen von der Zeit der Sintflut bis in die Gegenwart des ausgehenden 12. Jahrhunderts vorführen. Im Mittelpunkt des didaktisch-paränetischen Vorhabens steht dabei der „Stammbaum aller Könige und Kaiser der Trojaner, Römer und Deutschen“, da sich das Herkommen der römischen und deutschen Herrscher – in deren Nachfolge der Staufer Heinrich als rex Romanorum et Theutonicorum steht – auf eben jenes Königsgeschlecht der Trojaner zurückführe.¹⁸ Gezielt setzt Gottfried bereits mit den drei Söhnen Noahs ein, beginnt mit ihnen doch die Geschichte der nachsintflutlichen Welt, und ihre Erwähnung verankert die weiteren Darlegungen im Rahmen der biblischen Heilsgeschichte. In dieser Vorzeit schon habe Gott die ersten Herrscher berufen, damit sie in seinem Auftrag die Menschheit zur Befolgung der göttlichen Gebote anhielten.¹⁹ An den Anfang aller Geschichte gesetzt, wird die Entstehung der – aktuell von Friedrich Barbarossa und Heinrich VI. verkörperten – Herrschaftsordnung mit der Weltordnung parallelisiert und an den unverfügbaren Willen des Schöpfergottes gebunden. Der den irdischen Königen erteilte Heilsauftrag ging von den Söhnen Noahs auf Nimrod über, einen im Liber Genesis genannten Machthaber. Nach der biblischen Vorlage ein Enkelsohn des Ham, dessen Nachkommen von Noah zur Knechtschaft verdammt worden waren, wird Nimrod in den Überarbeitungen des ‚Königsspiegels‘ dem Geschlecht des ältesten Noah-Sohnes Sem zugeschlagen, was die Staufer in die Nähe der sakralen Genealogia Christi rückt.²⁰ Die Geschlechterreihen der Bibel sind an diesem Punkt, bei den Söhnen und Enkeln von König Nimrod, genealogisch mit dem antik-paganen Götterkosmos verknüpft. Zur Plausibilisierung der staufischen Abstammung von göttlichen Gestalten wie Celius, Saturn und Jupiter, den Nachfahren von Nimrod, bediente Gottfried von
17 Gottfried betont in diesem Zusammenhang den Nutzen schriftlich fixierter Geschichtsüberlieferung für die Gegenwart, vgl. Gotifredi Viterbiensis opera, Speculum regum (wie Anm. 11), S. 21 (Incipit): „Denn die Menschen der Gegenwart kennen nur gegenwärtige Dinge, der Inhalt der Bücher aber bietet den Lesenden alles Geschehen von früheren Jahrhunderten an und wird dich über Zukünftiges und Vergangenes erkennen lassen, was alle jetzt lebenden Menschen nicht lehren können.“ 18 Ebd., S. 21. 19 Vgl. ebd., lib. I, S. 30, Vers 10ff. 20 Dazu Boockmann 1992, S. 185.
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Viterbo sich der als Euhemerismus bezeichneten „Theorie von der Entstehung des Götterglaubens aus der Verehrung vergöttlichter Menschen“:²¹ Weder Götter noch Dämonen waren die Protagonisten der antiken Mythologie aus dieser Sichtweise, sondern in Wahrheit gewöhnliche Menschen, jedoch von einer überragenden Schaffenskraft, die ihnen die Anbetung der primitiven Bevölkerung zuteilwerden ließ. Jupiter etwa, der „an Fähigkeiten und Verdiensten sondersgleichen“ war,²² habe als erster König von Athen neben der Gesetzgebung auch die sieben freien Künste in Griechenland eingeführt. Da es in den Tagen Saturns und Jupiters üblich gewesen sei, die herausragenden Herrscher wie Götter zu verehren, hatte der Kapellan Heinrichs VI. keine Bedenken, den staufischen Jupiter-Spross im Speculum als „Gott aus einem Geschlecht von Göttern“ (deus es de prole deorum) zu glorifizieren.²³ Die vollständige Historisierung der mythischen Figuren in der Tradition des Euhemerismus wird, um die genealogische Erzählung noch glaubhafter werden zu lassen, stellenweise von Gottfried durch den Verweis auf synchrones Geschehen der historia sacra abgestützt und auf diese Weise in den geschichtlichen Wissenshorizont seiner Rezipienten integriert. Ebenfalls dem historischen Traditionsgut des Mittelalters zugehörig waren die Mythenstoffe um die Stadt Troja in Kleinasien, auf die Gottfried zurückgriff. Die spätantiken lateinischen Texte von Dares Phrygius und Dictys Cretensis galten nachfolgenden Generationen als authentische Zeugnisse über das Geschehen; an der Existenz Trojas und dem folgenreichen Untergang der Stadt wurde bereits wegen der Tradierung entsprechender Berichte in Literatur und Historiographie nicht gezweifelt.²⁴ Im 12. Jahrhundert waren Kenntnisse von Troja, dessen Zerstörung gewissermaßen den Beginn der nicht-biblischen Weltgeschichte markierte, fester Bestandteil des historischen Wissens – auch und gerade der laienadligen Kreise. Die zugrundeliegenden Überlieferungsstränge reichen bis in die Merowingerzeit zurück und lassen das Bestreben erkennen, den Franken und ihren damaligen Königen eine eigenständige, mit der legendären Gründung des Römischen Reiches durch Eneas konkurrierende Herkunft aus Troja zuzuschreiben. Als traditionsbildend kann in diesem Zusammenhang die um 650/60 in der Weltchronik des sogenannten Fredegar geschilderte origo Francorum gelten, die Priamus von Troja als den ersten König und seinen späteren Nachfolger Francio als Namens-
21 Von See 1989, Sp. 86–91; Zitat Sp. 86. 22 Gotifredi Viterbiensis opera, Speculum regum (wie Anm. 11), lib. I, S. 37, Vers 138–141: Rite deus potuit Iuppiter ipse coli. | Rex homo cum fuerit, potuit deus ipse vocari, | Regibus et populis solus potuit dominari, | Viribus et meritis Iuppiter absque pari. 23 Ebd., lib. I, S. 39, Vers 196–198. 24 Ausführlicher dazu Jung 2001, S. 10–34 und Kellner 2004, bes. S. 131–294.
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geber der Franken (per quem Franci vocantur) ausweist.²⁵ Diese vom Chronisten meist nur angedeuteten, in einer erweiterten Version bis zum ersten ‚Merowinger‘ Meroveus und dessen Nachfahren geführten genealogischen Linien²⁶ bildeten auch das Grundgerüst für die Darstellung der fränkischen Frühgeschichte im Liber historiae Francorum, wurden von seinem anonymen Verfasser jedoch weiter ausgestaltet und aktualisiert.²⁷ Im Rezeptionsgang des Liber und der FredegarChronik verlagerte sich das Interesse am historischen Stoff von der Entstehung des Frankenvolkes zunehmend auf die Herkunft und Geschichte seiner merowingischen, dann karolingischen Herrscher; stets ging es dabei um die Verknüpfung der Könige Trojas mit der aktuellen Herrscherdynastie. Der Zerfall des Karolingerreiches seit der Mitte des 9. Jahrhunderts hatte nicht nur eine weitere Auffächerung der Trojanermythen zur Folge, sondern führte auch dazu, dass insbesondere für die westfränkisch-französischen Könige als Erben Karls des Großen († 814) eine dynastische Kontinuität in der Herrschaft von Priamus bis zu den regierenden Kapetingern postuliert wurde.²⁸ Begünstigt wurde die Etablierung der TrojaHerkunft im Hochmittelalter zudem durch das Aufblühen einer adlig-höfischen Kultur, die in hohem Maße vergangenheitsorientiert war und sich über Vorbilder aus der Geschichte legitimierte.²⁹ Trojanische Wurzeln beanspruchen zu können, war für das Königtum und die gesellschaftliche Elite des Adels bedeutsam, denn neben hohem Alter implizierte der genealogische Rekurs auf Troja zugleich die Anbindung einer Adelsdynastie an das welt- und heilsgeschichtlich bedeutsame Imperium Romanum: Troja und das Römische Reich waren nach allgemeiner Vorstellung über die Gestalt des Eneas miteinander verbunden, der als Überlebender des Trojanischen Krieges in Italien gelandet war und dort mit der Tochter von König Latinus das künftige Geschlecht der Kaiser von Rom zeugte. Insofern ergab
25 Fredegarii et aliorum Chronica 1888, S. 45f.; zur trojanischen Herkunft der Franken bei Fredegar und in anderen Geschichtswerken siehe Kellner 2004, S. 261ff. und Plassmann 2006, hier bes. S. 147ff. 26 Ob Meroveus – nach dem die Frankenkönige Merohingii genannt worden seien – ein Sohn von König Chlodeo war oder aus der Verbindung seiner Mutter mit einem mythischen Seeungeheuer (bistea Neptuni Quinotauri) entstammte, lässt der Autor der Fredegar-Chronik bewusst offen: Fredegarii et aliorum Chronica 1888, S. 94f. Die etymologische Ableitung der Merohingii von Meroveus ist im Übrigen nicht konsistent, sondern setzt eigentlich einen Mero als ersten Namensträger voraus, worauf Ewig 1998, S. 14, aufmerksam macht. 27 Der Liber historiae Francorum entstand im ersten Drittel des 8. Jahrhunderts und ist bezüglich der trojanischen Abstammung der Franken unabhängig von Fredegar; vgl. hierzu Plassmann 2006, S. 174–190. 28 Vgl. hier und im folgenden Klippel 1936; Melville 1987c, S. 415–432; Graus 1989, S. 25–43; Kellner 2004, S. 131–294. 29 Siehe zu dieser Thematik etwa die Beiträge in dem Sammelwerk: Fey/Krieb/Rösner 2007.
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sich für Gottfried von Viterbo, der aus vielfältigen historiographischen Quellen schöpfte, mit dem Aufgreifen des beliebten Trojastoffes und dessen genealogischer Verarbeitung ein geeigneter, da anerkannter Bezugspunkt für die Begründung der staufischen Herrschaft im Nachfolgereich des antiken Imperiums. Die dynastische Linie wird im Speculum regum dementsprechend vom göttlichen Jupiter zu den Königen Trojas weitergezogen, wobei Gottfried rasch auf den Ausbruch des Konflikts mit den Griechen zu sprechen kommt. Nach der Zerstörung der Stadt im Trojanischen Krieg, die – auch dies eine Plausibilitätsbehauptung – zu Lebzeiten des biblischen rex et propheta David stattgefunden haben soll,³⁰ ließen sich die Überlebenden einesteils unter der Führung von Eneas in Italien nieder, wo der Trojaner durch Heirat zum Spitzenahn³¹ des römischen Volkes und seiner Herrscher aufstieg. Andernteils drang die Flüchtlingsgruppe um einen fiktiven Neffen des Königs Priamus gleichen Namens über die Zwischenstation Sicambria nach Germanien vor und verschmolz mit der dort lebenden Bevölkerung zum Volk der Deutschen bzw. Franken.³² Durch friedliche Herrschaftsübernahme (Italia) oder gewaltsame Eroberung (Germania) begründeten die Trojaner somit neue Völker, Reiche und Dynastien im westlichen Europa. Gemeinsamer Spross und legitimer Erbe dieser Geschlechterreihen ist in Gottfrieds Geschichtskonstruktion der fränkische Kaiser Karl der Große, da sich in ihm die beiden Linien wieder vereinigten: Die Mutter des Frankenherrschers, Berta genannt, soll eine Enkeltochter des oströmischen Kaisers Heraklius († 641) und daher blutsverwandt mit dem Trojaner Eneas gewesen sein, dem mythischen Ahnherrn der antiken und christlichen Imperatoren.³³ Mütterlicherseits ein
30 Vgl. die Glossierungen zur Strophe 13 (De David) in Gotifredi Viterbiensis opera, Speculum regum (wie Anm. 11), S. 44f. 31 Als ‚Spitzenahn‘ wird von der Forschung gemeinhin der Begründer oder die Begründerin einer bestimmten genealogischen Linie bezeichnet; Karl Hauck prägte diesen Begriff in Anwendung auf Friedrich I. von Schwaben († 1105) als Stammvater der staufischen Dynastie – vgl. Hauck 1954, S. 126. 32 Die Ethnogenese der Deutschen/Franken und ihrer Herrscher wird am Beginn des 2. Buches dargestellt, das „über das Geschlecht der deutschen oder fränkischen Könige“ handelt und davon, „wie sie aus Troja kamen und von Priamus dem Jüngeren und Antenor herstammen“ (de progenie regum Teotonicorum [sic!] seu Francorum, qualiter a Troia venerunt et de Priamo iuniore Antenore nati sunt); Gotifredi Viterbiensis opera, Speculum regum (wie Anm. 11), lib. II, S. 61 (Incipit). 33 Ebd., lib. I, S. 92, Vers 1439–1441: „Braut dieses Königs war Berta mit dem großen Fuß: | Kommt aus Ungarn, doch von griechischer Mutter geboren, | Tochter des Caesaren Heraklius war sie nämlich.“ Vgl. auch das Incipit, S. 21f.: „In Karl nämlich laufen beide Abstammungslinien zusammen. Denn seine Mutter Berta war, da sie eine Tochter der Tochter des Kaisers Heraklius war, aus dem Geschlecht der römischen und griechischen Kaiser, Pippin
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‚Römer‘, gehörte Karl durch seinen Vater Pippin († 768) zum fränkisch-deutschen Adel, dessen Herkunft auf den gleichnamigen Neffen von König Priamus zurückgeführt wird – „von dem jüngeren Priamus aber, einem Neffen des großen Priamus über dessen Schwester, leitet sich ganz offenkundig der gesamte Adel der Deutschen bis zu demselben Karl ab“.³⁴ Dem aus Viterbo stammenden Dichter, der nach seiner Erziehung an der Bamberger Domschule viele Jahre im Stauferreich nördlich der Alpen gelebt hat, sich in dieser Zeit wegen der politischen Interessen des Kaisers aber auch häufig in Italien aufhielt und hier im Alter seine Schriften verfasste, waren unzweifelhaft die beiden wesentlichen Überlieferungsstränge der Trojasage vertraut. Diese bemühte er sich in seinem Erstlingswerk dahingehend zu harmonisieren, dass eine Verwandtschaft von Italienern/Römern und Deutschen/Franken aufgrund der gemeinsamen Abstammung ihrer Gründerheroen Eneas und Priamus vom trojanischen Königsgeschlecht behauptet wird.³⁵ Zugleich ließen sich dem historisch interessierten Laienpublikum bei Hofe die Vorstellungen von der Abfolge der vier Weltreiche³⁶ oder der Übertragung der Kaiserwürde von Ostrom auf das Reich der Franken in den dargelegten genealogischen Zusammenhängen womöglich einprägsam und glaubwürdig vermitteln. Wo das Speculum regum mit dem Ausblick auf die zweifache trojanische Herkunft Karls des Großen endet, setzen Gottfrieds nachfolgende Chronikwerke – die durch die Aufnahme zusätzlicher Stoffgebiete in Gestalt und Umfang den Charakter von historischen Enzyklopädien gewinnen³⁷ – an und entwickeln den Leitgedanken dynastischer Kontinuität des Herrschertums zu einer weltumspannenden Genealogie, die bei dem Stammvater Adam beginnt, über Noah und Sem zu
aber, sein Vater, der König der Deutschen, stammte vom trojanischen Geschlecht. Es war daher Karl der Große vom Vater her Deutscher und von der Mutter her Römer.“ 34 Ebd., S. 21 (a Priamo autem iuniore, nepote magni Priami ex sorore, universa Theutonicorum nobilitas usque ad eundem Karolum patenter emanat) und lib. I, S. 93, Vers 1432–1450. 35 Schon der Verfasser der Fredegar-Chronik hatte Eneas und Frigas, den König der späteren Franken, zu Brüdern erklärt, sich ansonsten aber auf die trojanische Landnahme in Germanien konzentriert. Eine Möglichkeit zur Verknüpfung der pagan-römischen mit der nachantikfränkischen Überlieferungstradition der Troja-Herkunft war hier folglich bereits angelegt; vgl. Anton 2008, S. 617ff. 36 Zur mittelalterlichen Theorie der historischen Abfolge von vier Großreichen mit dem römischen Imperium als Endpunkt siehe Goez 1954. 37 So die treffende Charakterisierung von Gottfrieds späteren Geschichtswerken durch Johanek 1992, S. 675: „Sie erweisen sich als historische Enzyklopädien, als Wissensspeicher, deren Kenntnis es dem Herrscher wie seinen Beratern aus dem Laienstande ermöglichten, historische Argumentationsgänge der Hofkleriker nachzuvollziehen, zu beurteilen, ja mitzugestalten.“
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den biblischen und trojanischen Herrschern führt und die Sukzessionslinien der Troja-Exilanten in der Reihe der mittelalterlichen Kaiser bis zu den Staufern aufgehen lässt. Entscheidendes Bindeglied in diesem genealogischen Gefüge ist Karl der Große, und zwar in doppelter Hinsicht: Durch seine Herkunft laufen in Karl der italisch-römische und der fränkisch-deutsche Strang der Trojaner zusammen; überdies wird der Karolinger – nicht nur von Gottfried – als Ahnherr der Salier und Staufer behandelt: Gisela, die Gemahlin Kaiser Konrads II. (1024/27–1039), soll dem Geschlecht der ‚Heinriche von Waiblingen‘³⁸ karolingisches Blut zugeführt haben, heißt es bei Otto von Freising, der selbst ein Ur-Urenkel von Kaiserin Gisela war.³⁹ In der Herrschaft ihres Sohnes Heinrich III. (1039/46–1056) konnten die späteren dynastischen Geschichtsschreiber daher eine Rückkehr der dignitas imperialis an das Geschlecht Karls des Großen feiern.⁴⁰ Wiederum durch eine Frau wurde das Karolingerblut in der übernächsten Generation von den Saliern an die staufische Dynastie vererbt: Die Großmutter Friedrich Barbarossas, Agnes, war die Tochter Heinrichs IV. (1056/84–1105), der sie dem Grafen Friedrich in die Ehe gab, nachdem dieser im Jahre 1079 das umkämpfte Herzogtum Schwaben aus der Hand des Königs empfangen hatte. Friedrichs Erhebung in den Herzogsrang und die verwandtschaftliche Nähe zur stirps regia markieren den Beginn des
38 Als ‚Heinriche von Waiblingen‘ werden die Vertreter der Salierdynastie und ihre staufischen Nachkommen im 12. Jahrhundert von Otto von Freising bezeichnet: „Es gab im römischen Reich im Gebiet von Gallien und Germanien bisher zwei berühmte Familien; die eine war die der Heinriche von Waiblingen, die andre die der Welfen von Altdorf, die eine pflegte Kaiser, die andre große Herzöge hervorzubringen.“ – Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs (wie Anm. 9), lib. II, cap. 2, S. 284f. Vgl. zu diesem historisch-politischen Konstrukt Schmid 1976, S. 63–73. 39 Otto Bischof von Freising, Chronik (wie Anm. 8), lib. VI, cap. 28, S. 472f. mit dem Verweis auf eine Bemerkung in der Gesta Chuonradi II imperatoris Wipos: „Er stammte väterlicherseits von Herzog Konrad von Worms ab […], von mütterlicher Seite von den bedeutendsten gallischen Fürsten, die dem alten Stamme der Trojaner entsprossen und vom seligen Remigius getauft worden waren; seine Gemahlin Gisela stammte aus dem alten, ruhmreichen Blute der Karolinger, wie folgende Verse bezeugen: ‚Wenn man zur zehnten Generation vier weitere zuzählt, | Karl der Große ist dann der klugen Gisela Ahnherr‘.“ 40 Ebd., lib. VI, cap. 32, S. 480f.: „Mit ihm kam die kaiserliche Würde, die schon lange keinem Karolinger mehr zugefallen war, wieder an das alte, edle Geschlecht Karls.“ – Die Geburt des französischen Thronfolgers Ludwig VIII. (1223–1226) im September 1187 bildete, da man in Ludwigs Mutter Elisabeth von Hennegau († 1190) eine entfernte Nachfahrin Karl des Großen sah, den Ausgangspunkt der in Frankreich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts populären Vorstellung des Reditus regni Francorum ad stirpem Karoli Magni; zu den Anfängen der ReditusTheorie um 1200 vgl. noch immer Werner 1952, S. 203–225.
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politischen Aufstiegs der Staufer im späteren 11. Jahrhundert und waren mithin tragende Elemente des staufischen Herkunftsbewusstseins.⁴¹ Die Betonung der Kontinuität karolingischen Geblüts legitimierte der Intention nach nicht nur die Königs- und Kaiserherrschaft der Stauferfamilie, sondern sicherte desweiteren auch die Verbindung ihrer Ahnenreihe zur Sphäre der religiösen Transzendenz, war Karl der Große doch kurz nach der Geburt des Barbarossa-Sohnes Heinrich 1165 in Aachen kanonisiert worden – nicht zuletzt, um die infolge der Kirchenspaltung ins Wanken geratene Stellung Kaiser Friedrichs I. symbolisch zu festigen.⁴² Mit der Vereinnahmung des neuen Heiligen als Gründervater der herrschenden Dynastie ließ sich nach zeittypischem Denken die Sakralität der staufischen Genealogie behaupten; die Vorstellung, dass mit dem Blut gegebenenfalls auch heiligmäßige Qualitäten weitergegeben wurden und das Ansehen eines Geschlechterverbands steigerten,⁴³ bildet jedenfalls ein zentrales Motiv der häufig in Fürstengenealogien vorgenommenen Ansippung an Heilige. Mythische Vorfahren wie Eneas (als Sohn der Venus), Jupiter und Saturn konnten, so darf vermutet werden, trotz ihrer konkreten euhemeristischen Umdeutung ebenfalls dazu beitragen, die Stauferdynastie in die Nähe des Göttlichen zu rücken. Gerade die Göttermythologie des Altertums stellte im 12. Jahrhundert ein für genealogische Herkunftskonstruktionen offenbar noch weithin unerschlossenes Feld dar, wohingegen die Herleitung aus Troja längst kein Alleinstellungsmerkmal eines einzelnen Adelsgeschlechts mehr war. Lücken und Brüche, die sich bei derartiger Verkettung mythischer, biblischer und realhistorischer Ahnenreihen ergaben, überspielte Gottfried von Viterbo mit dem suggestiven Hinweis, dass die Herrscherwürde im Laufe der Geschichte stets wieder an das erste Königsgeschlecht gelangt und damit innerhalb einer parentela verblieben sei.⁴⁴ Begründet und erklärt wurde die bestehende politische Ordnung folglich mit der behaupteten historisch-genealogischen Kontinuität einer einzigen, von Gott gesetzten Herrscherdynastie, die seit biblischen Zeiten existierte und in Gottfrieds eigener Gegenwart, am Ausgang des 12. Jahrhunderts, von Friedrich I. Barbarossa und seinem Sohn Heinrich VI. verkörpert wurde.
41 Vgl. Schmid 1976, S. 63–73. 42 Zur Heiligsprechung Karls des Großen am 29. Dezember 1165, an der Kaiser Friedrich Barbarossa persönlich mit seiner Familie teilnahm, siehe Petersohn 1994, S. 108ff. sowie – bezogen auf die stauferzeitlichen Tendenzen der ‚Heiligung‘ von Herrschertum und Reich – Weinfurter 2005, S. 380ff. 43 Vgl. grundlegend zum adligen Geblütsheil die Studie von Hauck 1950, S. 187–240. 44 Hierzu Engels 1992, S. 327–345.
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3 Der Umgang mit konkurrierenden Geschichtskonstruktionen im Spiegel der Genealogia principum Tungro-Brabantinorum Im zweiten Beispiel steht eine anonyme, unikal überlieferte Genealogie der brabantischen Herzöge im Zentrum.⁴⁵ Der Text entstand im späten 15. Jahrhundert in Brabant, wo man sich nach dem Tode Karls des Kühnen († 1477) und seiner Tochter Maria († 1482) in einer unglücklichen Lage befand: Die ehemals machtvolle Stellung Brabants als zentrales und vor allem wirtschaftlich prosperierendes Gebiet innerhalb der ausgedehnten Besitzungen der Herzöge von Burgund war durch den Zerfall des im 14. und 15. Jahrhundert zwischen römisch-deutschem Imperium und Frankreich geschaffenen Machtbereiches der Herzöge in Gefahr. Das hier zu behandelnde Werk entstand im Spannungsfeld zwischen der Befürchtung eines Identitätsverlustes durch die Machtübernahme des als Fremder wahrgenommenen Maximilian von Habsburg, der als überlebender Ehemann der Maria Thronansprüche geltend machen konnte, und der Bedrohung einer Invasion durch die französischen Truppen Ludwigs XI. Die Hoffnungen ruhten in dieser Situation auf Philipp dem Schönen, dem 1478 in Brabant geborenen, jedoch noch sehr jungen Sohn von Maria und Maximilian. Im Folgenden sollen etablierte genealogisch-historiographische Konstruktionen zu der in der Genealogia principum Tungro-Brabantinorum⁴⁶ gezogenen Abstammungslinie, die von Adam und Eva bis hin zu Philipp dem Schönen von Burgund (1478–1506) reicht, in Bezug gesetzt werden. Die Heilige Schrift und die ‚Jüdischen Altertümer‘ des Flavius Josephus⁴⁷ († nach 100) sind die einzigen Quellen für die Anfangszeit der Welt. Sie sind in einem mittelalterlich-christlich geprägten Kulturkreis unantastbar. Dennoch wird in genealogischen Arbeiten die „Lücke“ entdeckt und genutzt. Phrasen wie „und er zeugte Söhne und Töchter“, die allein in den 32 Versen des biblischen Geschlechterregisters von Adam bis Noah⁴⁸ neun Mal vorkommt, bieten willkommene Ansatzpunkte. Besonders bemerkenswert ist, dass sogar Noah, Vater der Besiedler der drei bekannten Kontinente, bereits seit dem 6. Jahrhundert in
45 Biblioteca Apostolica Vaticana, cod. Reg. lat. 947. Eine erste Beschreibung der Handschrift bietet Melville (1987a), S. 229ff., auf den auch die Bezeichnung des titellos überlieferten Werkes als Genealogia principum Tungro-Brabantinorum zurückgeht (vgl. ebd., S. 246). Siehe auch die jüngst erschienene Monographie: Tanneberger 2012. 46 Im Folgenden Genealogia genannt. 47 Flavius Josephus, Jüdische Altertümer 1998. 48 Gen. 5,1–32. In Gen. 11 steht die Formel sieben Mal und auch sonst ist sie recht häufig.
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einigen Quellen einen vierten Sohn namens Jonitus hat.⁴⁹ Weit bedeutender für den europäischen Adel ist jedoch Javan, Sohn Japhets und Enkel Noahs. Bereits bei Flavius Josephus⁵⁰ und auch in den sehr wirkmächtigen Etymologien Isidors von Sevilla († 636) ist er der Urvater der Griechen⁵¹ und über seinen nicht in der Bibel bezeugten Sohn Janus auch Vorfahre der Römer.⁵² Nach der Abhandlung der biblischen und damit unhinterfragbaren Frühgeschichte stößt der mittelalterliche Geschichtsforscher auf den problematischen Sachverhalt, dass sich die Heilige Schrift der Darstellung der Geschichte Asiens und nicht der Europas zuwendet. Ab etwa 2400 vor Christus verliert die Bibel also ihren Wert als chronologischer Leitfaden, an dem man sich orientieren konnte. Die chronologisch nächste verbürgte Information zum Herkommen der großen europäischen Fürstenhäuser bezieht sich auf den Fall Trojas etwa 1200 vor Christus. Es sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die trojanische Abkunft weiter Teile des Hochadels im Mittelalter gleichermaßen gesichertes Wissen darstellte wie die biblische Geschichte.⁵³ Es klaffte also eine beträchtliche Lücke in der bekannten und akzeptierten Vergangenheit zwischen der Aufteilung der Welt unter Noahs Söhnen und dem Untergang von Troja. Diese fehlenden 1200 Jahre konnten jedoch – aus Sicht des Verfassers der Genealogia – ab einem gewissen Wissensstandard sowie Genauigkeits- und Geltungsanspruch der adligen Rezipienten nicht mehr übergangen werden. Als Stoff wurde, wie auch schon im vorangegangenen Beispiel, die griechische Götterwelt gewählt. Als direkte Vorlage der Darstellung in der Genealogia diente Giovanni Boccaccios († 1375) Genealogia deorum gentilium,⁵⁴ wobei die heidnischen Götter zum einen als sterbliche Menschen dargestellt und zum anderen in einer Art angeordnet sind, die deutlich den Willen zur geradlinigen sowie zweckmäßigen und damit plausibleren Darlegung von Abstammung und Herrschaftssukzession
49 Speziell zu den von Petrus Comestor kolportierten Informationen: Feldmann 1996, S. 345; www.leidenuniv.nl/fsw/verduin/jonitus/jonitus.htm (Zugriff am: 04.01.2011) bietet umfassende Informationen und weitere wichtige Quellenangaben zu Jonitus. 50 Flavius Josephus, Jüdische Altertümer 1998, I. 124. 51 Etymologiae IX.2.28, Lindsay 1911: Iavan, a quo Iones, qui et Graeci. 52 Genealogia, fol. 3v. In anderen Geschichtswerken wird Janus auch zum direkten Sohn des Noah (vgl. Martini Oppaviensis chronicon pontificum et imperatorum 1872, S. 400) oder gar als mit mit ihm identisch (ob beneficium inuentae uitis et uini dignatus est cognomento Iano quod Arameis sonat uitifer et uinifer – Annius von Viterbo: Antiquitates, zitiert nach Asher 1993, S. 200) erklärt. 53 Vgl. Anm. 20. 54 Boccaccio, Genealogie 1951.
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zeigt.⁵⁵ Während sich in der Genealogia sonst häufig wörtliche, teilweise umfangreiche Zitate finden lassen, bleiben Diskussionen über verschiedene Sichtweisen der Verwandtschaftsbeziehungen und Bewertungen von Quellen, wie Boccaccio sie oft anführt, ausgespart.⁵⁶ Stattdessen wird besonderer Wert auf Datierungen gelegt: Hec Eletra filia Athlantis et Pleyonis fuit et a Jove 2o oppressa filium suum primogenitum Dardanum peperit anno 3e etatis seculi IIIIc 75 et circa annum quinquagesimum etatis Moysi. Qui Moyses natus est anno 3e etatis seculi IIIIc 25.⁵⁷
Auch die Geschichte Trojas und seinen Untergang betreffend bleibt unser Text sehr eng an der Darstellung Boccaccios, welche weiterhin durch biblisch belegte Ereignisse in Israel flankiert, eingeordnet, datiert und damit glaubhafter gemacht werden soll. Auch die Historia destructionis Troiae des Guido delle Colonne aus dem frühen 13. Jahrhundert oder eine Bearbeitung dieses Werkes wurde benutzt.⁵⁸ Wirklich interessant wird es ab dem Fall Trojas,⁵⁹ denn im Gegensatz zur bisher dargestellten Geschichte existieren am Ende des 15. Jahrhunderts bereits eine ganze Reihe von Werken mit literarischem oder historiographischem und auch ausdrücklich genealogisch-historisch-argumentativem Anspruch. Für unsere Fragestellung reicht es jedoch aus, die in den burgundischen Niederlanden etablierten Versionen zu erwähnen. Die klassisch-römische Tradition, die im Hoch- und Spätmittelalter viele regionale Ableger (z.B. Brutus für Britannien, Turcus für die Türken etc.) entwickelt, verläuft über Eneas (einen Prinzen einer trojanischen Nebenlinie) zu den Gründern und Königen Roms bis zum Geschlecht der Julier. Die Eneas-Sage, wie auch die Brutussage und wahrscheinlich auch weitere Ableger sind wohl als im untersuchten Zeitraum allgemein bekannt zu betrachten.⁶⁰
55 Vgl. Genealogia, fol. 3v–20r. 56 Vgl. exemplarisch die Abschnitte zu den Hyaden und Plejaden (speziell zu Eletra und ihrem Gemahl Corithus) bei Boccaccio, Genealogie 1951, IV, 33f. sowie VI, 1 und die entsprechenden Texte in der Genealogia auf fol. 11r f. 57 Genealogia, fol. 11v; „Diese Eletra war die Tochter des Atlas und der Pleione. Nachdem sie von Jupiter II. überfallen worden war, hat sie im Jahre 475 des dritten Weltzeitalters und um das Jahr 50 des Zeitalters des Moses seinen erstgeborenen Sohn Dardanus zur Welt gebracht. Dieser Moses ist im Jahr 425 des dritten Weltzeitalters geboren.“ (Übersetzung TT). 58 Guido de Columnis, Historia destructionis Troiae 1936, vgl. z.B. dort S. 87 und Genealogia, fol. 17vb die Bemerkungen zu Andromata/Andromacha. 59 Genealogia, fol. 17ff. 60 Melville 1987c, S. 415–432.
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Im niederländisch-belgischen Raum scheint jedoch die von der FredegarChronik⁶¹ aus dem siebten Jahrhundert ausgehende fränkisch-französische Abstammungslinie, die vor allem durch Edmunt de Dynter im 15. Jahrhundert noch einmal einen lokalen Aufwärtstrend in ihrer Verbreitung erlebte, am bedeutendsten gewesen zu sein.⁶² Sie geht davon aus, dass es zwischen dem heros eponymos Francio – der ein Herzog unter den Trojaflüchtlingen war – und seinem Nachkommen im 4. nachchristlichen Jahrhundert: Marcomir – dem Großvater von Frankenkönig Chlodwig – keine gesicherten Angaben zur Herrscherfolge gibt.⁶³ Über die Merowinger und Karolinger wird der Strang dann lückenlos bis ins späte Mittelalter und zu den französischen Königen bzw. den burgundischen Herzögen gezogen. Jakob Mennel, einer der Hofgenealogen Kaiser Maximilians († 1519), beanspruchte den Beginn dieser Linie mit Marcomir in einigen Entwürfen auch für die Habsburger, ging aber nach dem Merowinger Chlothar I. († 560/61) mit Odoperth, dem Vater des ersten Grafen von Habsburg, einen eigenen habsburgisch-deutschen Weg.⁶⁴ Die Genealogia bietet ihrerseits einen speziell auf Brabant fokussierten Entwurf. Ausgangspunkt für die Entwicklung der ausgeführten Linie ist wahrscheinlich die Schwanenrittersage, die – wenn man Jan Frederik David Blöte⁶⁵ folgt – zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Brabant etabliert wurde. In Konrad von Würzburgs Versepos „Der Schwanritter“– also in der Mitte des 13. Jahrhunderts – ist die Sage, die vorher schon in ganz Europa fassbar ist, jedenfalls fest in Nijmegen verortet. In der Genealogia fließen in den brabantischen Herrschern der Zeitenwende gleich drei trojanische Linien zusammen.⁶⁶ Zwei dieser Linien gehen von Hector, dem Sohn des trojanischen Königs Priamus, aus. In allen Gliedern elaboriert wird aber nur die Ahnenreihe von Francion, der hier ein Sohn Hectors ist. Sie verläuft zunächst über einige Cycambrische Fürsten und Könige bis hin zu Torgotus,⁶⁷ der die Stadt Tungris/Tongeren gründet, die er nach seinem Sohn und Nachfolger benennt.
61 Fredegarii et aliorum Chronica 1888, S. 1–193, hier konkret S. 46. 62 Dynter, Chronica 1854–1860. 63 Ebd., Bd. I, Kap. I–III. Vgl. zu den Herrschern im ersten Kapitel auch Hugo von Fleury, Historia regum francorum 1851, S. 395–406, hier besonders S. 395 und Bd. I, Kap. XXV. Vgl. auch Anm. 23. 64 Vgl. dazu und zu weiteren, abweichenden Versionen die Übersichten bei Lhotsky 1971, S. 92f. 65 Blöte 1967, S. 124. 66 Genealogia, fol. 26ff. 67 Ebd., fol. 21r.
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Ab diesem Punkt, also viel früher als in der römischen oder fränkischen Variante, ist die Dynastie bereits in ihrem späteren Herrschaftsgebiet angekommen. Der Namensstifter Brabants, Bracbon I., ist ein Onkel des Stadtgründers Tongerens und jüngster Sohn Hectors, des Königs von Cycambrien, der seinerseits ein Urenkel Francions ist.⁶⁸ Von seinen Nachkommen erfährt man freilich nur, dass sie hervorragende Herzöge in Cycambrien gewesen seien und alle den Leitnamen Bracbon getragen haben. Diesem Strang wendet sich der Text erst wieder mit Bracbon XX. (!), dem Großvater des Schwanenritters Silvius Bracbon zu,⁶⁹ der durch seine von Julius Caesar besiegelte Heirat mit Swana die beiden spezifisch brabantischen Linien wieder vereint. Hinzu kommt der Zusatz der Ansippung an das Geschlecht der Julier und damit der Eneaslinie, da Swana die Nichte Caesars ist. In der Folge bleibt die Geschichte der Herzöge von Brabant eng mit der der römischen Kaiser verbunden. Eine direkte Vorlage für diesen Teil der Darstellung bis zu den karolingischen Hausmeiern im siebten nachchristlichen Jahrhundert konnte bisher noch nicht ausfindig gemacht werden. Die Annalen des Jacques de Guyse⁷⁰ († 1399) haben zwar, wie erste Textproben zeigen, das Grundgerüst gebildet. Um die autonome Stellung Brabants zu verdeutlichen, wurde allerdings vermieden, den Brabantern übergeordnete Herrscher, wie zum Beispiel die Könige der Gallier und Belger, in den Mittelpunkt des Geschehens zu rücken. Die Ausnahme bilden hier die römischen Kaiser, welche konsequent Erwähnung finden. Folgt man der textlichen Argumentation, der graphischen Anlage der Genealogia und besonders den Weichenstellungen bzw. Abgrenzungen zu anderen genealogischen Entwürfen, so wird uns Philipp der Schöne, Sohn des Habsburgers Maximilian und der Maria von Burgund, weder als burgundisch-französischer noch als habsburgischer Dynast vorgestellt. Er ist in erster Linie Brabanter und Abkömmling einer Linie, die sich was ihr Alter und damit ihre Würde betrifft, weder den französischen Königen noch den römisch-deutschen Kaisern unterlegen fühlen muss. Das gleiche gilt übrigens für die Tugendhaftigkeit der Vorfahren, die hier nicht thematisiert wurde. Was die Bindung an Land und Volk und nicht zuletzt, was den beanspruchten trojanischen Spitzenahn⁷¹ angeht, so sind die Bracbonen ihren französischen und habsburgischen Konkurrenten sogar überlegen.
68 Vgl. fol. 20v, 21rb. Die Wiederaufnahme trojanischer Herrschernamen kann im Sinne adliger Leitnamen innerhalb einer Dynastie als weiteres plausibilisierendes Argument aufgefasst werden. Siehe dazu auch Tanneberger 2012, S. 90 ff. 69 Genealogia, fol. 26v. 70 Iacobi de Guisia annales historiae 1896, S. 44–334. 71 Zum Begriff des Spitzenahnen siehe oben Anm. 29.
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4 Schlussbetrachtung Für die Herstellung von Akzeptanz und Geltung genealogischer Geschichtskonstruktionen, die auf die Transzendenzressource alten, unhinterfragbaren Rechts zugriffen und sich in ihrer Argumentation auf die von Anbeginn herrschende Ordnung der Welt beriefen, musste ein Historiograph im Mittelalter die Authentizität seiner Darstellung auf vielfältige Weise belegen. Der spezielle bzw. neue geschichtliche Stoff musste sich nachvollziehbar oder sogar rechnerisch überprüfbar in die bereits bekannte Weltgeschichte einfügen.⁷² Wie in den beiden Beispielen gezeigt wurde, konnte dies etwa durch Querverweise auf synchrone biblische Ereignisse der Heilsgeschichte oder andere als gesichert akzeptierte Begebenheiten geschehen. Eine auch dem modernen Menschen vertraute Methode stellt die Verortung von zentralen Schlüsselfiguren und -ereignissen in Datierungssystemen dar.⁷³ Mittelalterliche Chronisten bezogen ihre Zeitangaben unter anderem auf die Erschaffung der Welt (annus mundi), Stadtgründungen wie diejenige von Rom (ab urbe condita) oder die Zerstörung Trojas (anno a destructione Troye), aber auch auf die Geburt Jesu Christi sowie Herrschafts- bzw. Pontifikatsjahre oder die in der Spätantike eingeführten Indiktionsjahre. Mögen die einzelnen Ereignisse und Personen für sich betrachtet als noch so nebulös, mystisch oder schlicht unglaubwürdig erscheinen, so ist doch der Umgang mit ihnen durch eine hohe Rationalität geprägt,⁷⁴ wodurch sich ihre Glaubhaftigkeit erhöht. Auf textimmanenter Ebene lassen sich weitere Plausibilisierungstechniken ermitteln; neben etymologischen Argumentationen und Euhemerisierungen sind es vor allem typologische Verweise auf Spitzenahnen, die den argumentativen Kern einer Genealogie ausmachen. Durch die Konstanz der guten Eigenschaften der Ahnen ließ sich nämlich deren Verwandtschaft untereinander und mit dem aktuellen Herrscher gemäß zeitgenössischer Vererbungslehre ‚beweisen‘ oder zumindest plausibel machen. Ob dieses Vorgehen dem Wissen und den Überzeugungen des Genealogen oder aber seiner manipulativen Ambition geschuldet war, bleibt vorerst fraglich. Ein Anliegen dieser genealogischen Werke war es, Transzendenzbehauptungen und damit Herrschaftslegitimität bestimmter Dynastien zu plausibilisieren und somit auch gemeinsinnig zu machen. Diese aus dem Unverfügbaren schöpfende Folgerichtigkeit (einer Herrschaft) konnte jedoch nur mit allgemein akzeptierten Mitteln kreiert werden, welche wiederum auch
72 Vgl. grundlegend dazu Melville 1988, S. 133–153. 73 Siehe dazu von den Brincken 1983, S. 192–211, besonders S. 208–210. 74 Dazu v.a. die oben in Anm. 6 genannte Literatur.
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den jeweiligen Konkurrenten zur Verfügung standen. Aus diesem Spannungsfeld resultiert die Lebendigkeit der genealogischen Argumentationen und konkret der Bedarf an Weiterentwicklungen und Aktualisierungen der einzelnen Genealogie.
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Stefan Dornheim, Swen Steinberg
Die lange Schicht von Ehrenfriedersdorf Konkurrierende Transzendenzbezüge in der Lebens- und Arbeitswelt des erzgebirgischen Bergbaus zwischen Reformation und Romantik Dass sich im sächsischen Erzgebirge im Laufe der vergangenen Jahrhunderte eine ganz eigene kulturelle Identität entwickelte, ist durchaus bekannt. Nicht zuletzt war es das Label der „Erzgebirgischen Volkskunst“, welches die Region spätestens im 20. Jahrhundert weit über Deutschlands Grenzen hinaus zu einem populären Begriff werden ließ, der offenbar die besondere Kraft besitzt, in der dunklen Jahreszeit Portemonnaies und Herzen zu öffnen. Eine handgefertigte Gegenwelt von Figuren und Schnitzereien scheint in einer vermeintlich durchrationalisierten Moderne allweihnachtlich auf die Sehnsüchte nach Weihnachtszauber und Winterwunder zu antworten. Weitaus weniger bekannt ist aber, dass die in den Figuren vielfach dargestellte Beziehung zwischen Bergmann und Engel in der Lebenswelt des erzgebirgischen Bergbaues über Jahrhunderte von existentieller Bedeutung war und dass sich die harte und gefahrvolle Arbeitswelt der Bergleute durch eine ganz eigene und intensive Frömmigkeit auszeichnete, die durch vielfältige Transzendenzbezüge gekennzeichnet war. Es ist dies ein Aspekt der Kultur des Erzgebirges, der zumindest noch im kollektiven Gedächtnis der Region selbst bewahrt wird, frühzeitig allerdings auch das Interesse der kulturwissenschaftlichen Forschung weckte.¹ Die Glaubenswelt des erzgebirgischen Bergbaues kannte bis weit in das 18. Jahrhundert hinein eine Vielzahl von Naturgeistern, Engelwesen und anderen Vermittlern zur Unterwelt und zu den ‚himmlischen Mächten‘, die lange mit christlichen, konfessionell-amtskirchlichen oder aufklärerischen Deutungsmustern konkurrierten und nur mühevoll synthetisiert oder ersetzt werden konnten.² Auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen, ideologischen und politischen Erklärungsmustern erwiesen sich die religiösen Frömmigkeitstraditionen der Bergbauregion als konfliktbeladen, zugleich aber auch als widerstands- und anpassungsfähig.
1 Die volkskundliche Forschung beschäftigt sich seit dem 19. Jahrhundert intensiv mit dem Erzgebirge. Vgl. neuere Befunde bei: Löden 2003; Friedreich 2005, S. 225–232; Ders. 2010, S. 129–162, besonders S. 147–150. 2 Heilfurth 1967.
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Im Folgenden wird diesen konkurrierenden Ansprüchen um transzendierende Sinnverweise in historisch-empirischer Langzeitperspektive nachgegangen. Im Zentrum steht dabei eine merkwürdige Begebenheit des Jahres 1568, deren Erzählung bis in die Gegenwart in ungebrochener Popularität tradiert wird: Die Geschichte der „Langen Schicht von Ehrenfriedersdorf“³ zieht sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte, verblasst zuweilen, wird wieder aufgegriffen und neu gedeutet. Anhand der jeweiligen zeitgenössischen Aktualisierungen dieses Narratives wird bis in die Zeit der Romantik nach dem langfristigen Wandel transzendierender Sinnverweise gefragt werden, und nach deren Bedeutung für die Gemeinschaftskultur der Bergleute und ihrer Stadt. Gemeinschaft stiftende Praktiken werden dabei nicht ohne Weiteres mit Gemeinsinn gleichgesetzt, standen doch oftmals kohäsionsstiftende Prozesse kollektiver Identitätsbildung im Zentrum einer stets modifizierten Erinnerung an den verschütteten und wiederaufgefundenen Bergmann Oswald Barthel und eben dessen Lange Schicht. Dennoch sei darauf hinwiesen, dass die Grenzziehung zwischen Gemeinschaftsund Gemeinsinnsstiftung gerade im Falle Oswald Barthels fließend war und sich der Aspekt der Identitätspflege selten vom Sinn für das ‚große Ganze‘ der Gemeinschaft trennen lässt. Insofern verstehen die Autoren, dem Thema des Bandes folgend, ihren Aufsatz mit Blick auf das Forschungsprogramm des SFB 804 vor allem als einen Beitrag zur historisch-empirischen Erfassung von Transzendenzphänomenen mit deren Kontinuitäten, Wandlungen und Konflikten. Der vorliegende Beitrag zeigt, wie um das Ereignis seit dem 16. Jahrhundert zunächst volksreligiöse und amtskirchlich-theologische Deutungen konkurrierten, wie seit dem 18. Jahrhundert naturwissenschaftliche Erklärungen das Geschehen entzauberten und wie mit der romantischen Literarisierung des Stoffes im 19. Jahrhundert individualisierende Deutungen der entmythisierten Geschichte einen neuen Sinnhorizont erschlossen. In einem abschließenden Ausblick werden zudem jene neuen Konkurrenzen angedeutet, die mit den gesellschaftlichen und vor allem politisch-ideologischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts einhergingen.
3 Die Bezeichnung „Lange Schicht“ erklärt sich aus einer Abwandlung vom Begriff der „Letzten Schicht“, welcher in der bergmännischen Sprache für das feierliche Begräbnis eines Bergmannes steht, das in der Regel von den örtlichen Berggrabebrüderschaften ausgerichtet wurde. Vgl. Wilsdorf/Brock 1994.
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1 Die Lange Schicht: Ein Ereignis und seine Deutungen Am 20. September 1568 stießen im sächsischen Ehrenfriedersdorf Bergleute bei ihrer Arbeit in Brünlers Fundgrube im Sauberg auf den nahezu vollständig erhaltenen Leichnam eines jungen Mannes, der von zwei greisen Bergmännern des Ortes als ihr einstiger Kollege Oswald Barthel identifiziert werden konnte, der 1508 in der Zinngrube verschüttet worden war und „60. Jahr/9 Wochen/3 Tage/im Sauberge unter Berg und Wasser gelegen“.⁴ Über sechs Jahrzehnte nach seinem Tod erhielt der altgläubig getaufte Bergmann ein Aufsehen erregendes, nunmehr aber lutherisches Begräbnis durch die örtliche Bergbruderschaft. Der merkwürdige Tote wurde nach dem Begräbnis von Pfarrer Georg Raudte (1537–1612)⁵ in das Totenregister des Pfarramtes⁶ und die Begebenheit in Anwesenheit eines Geschworenen und der beiden alten Bergleute, die Barthel identifiziert hatten, vom Bergmeister im Bergbuch des zuständigen Bergamtes verzeichnet. Der Fundbericht sollte der Nachwelt, wie es hieß, als „Zeugniß“ der Wahrheit, „Beglaubigung“ und „Nachricht“ dienen.⁷ Das sonderbare Geschehen erregte als göttlicher Fingerzeig (Prodigium) unter den Zeitgenossen in den erzgebirgischen Bergbaugebieten große Anteilnahme und fand bald auch überregionale Aufmerksamkeit und Verbreitung. Medium der amtskirchlichen Deutung war die Leichenpredigt des zuständigen Pfarrers Georg Raudte, welche zunächst mündlich wirkte und erst 1588, im 20. Jahr nach der Beerdigung und vermutlich unter dem Eindruck zunehmenden Verschwindens der Erlebnisgeneration, „auff begeren gutherziger Christen zur Lehr und Trost für Christliche Bergkleute“ und „zum gedechtnüß“ in Druck gegeben wurde.⁸ Die Leichenpredigt deutet die zufällige Wiederentdeckung des unversehrten Körpers,
4 So der Fundbericht vom 28.09.1568 im Bergbuch zu Ehrenfriedersdorf, welches 1543 begonnen wurde und heute als verschollen gilt. Eine Abschrift findet sich bei Lehmann 1699, S. 936–937. 5 Vgl. das Biogramm zu Raudte bei: Grünberg 1940, S. 717. 6 Pfarrarchiv Ehrenfriedersdorf, Totenregister 1555–1625, Jahr 1568, Nr. 36, fol. 10r. 7 Lehmann 1699, S. 937. 8 Raudte 1588. Raudtes Predigt erschien unter dem Titel „Eine Leichpredigt Bey dem Begrebnues Oßwaldt Barthels eines Bergkmans Welcher im Jahr 1507. zu Ehrenfriedßdorff im Berg der Saewbergk genandt verfallen und unvorsehens im 1568. Jahr den 20. Septemb: noch gantz wider funden Und von der Erbarn Knabschafft daselbst Christlicher weiß zur Erden bestattet worden“ und erhielt drei Neuauflagen: 1599, 1608, 1868. Die Jahreszahlen der letzten beiden Auflagen verweisen auf jubiläumsrhythisch stattfindende Gedenkaktivitäten an runden Todes- und Begräbnistagen Barthels. Vgl. auch Petzoldt 2011.
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welche „vernünfftiger weiß“ nicht erklärbar sei, als ein göttliches Wunder. Gottes heilige Engel seien es, die den Bergleuten als „himmliche Steygerlein“ in der Grube Schutz und Beistand leisteten und noch nach dem Tode die Gräber bewachten und bis zum Jüngsten Tag die „Beinlein und steublein fein zusammen halten und bewahren“.⁹ Plötzlicher Unfalltod, so Raudte, sei nicht immer als Strafe für mangelnde Gottesfurcht oder Undank gegenüber schützenden Engeln aufzufassen, sondern oft auch als lehrhaftes Beispiel und Zeichen für die hinterbliebene Gemeinschaft, sich der Macht des Göttlichen neu bewusst zu werden und Denken und Tun danach auszurichten. Raudte deutete das Geschehen um Oswald Barthel als Zeichen christlicher Auferstehungshoffnung. Vor dem Hintergrund einer in der Region grassierenden „Pestilenzischen Seuche“ zeige dieses Wunder, dass Gott auch inmitten einer „betrübten und gefehrlichen zeit“ noch „den Todt und alles Unglück in seinen Henden und gewalt hat“.¹⁰ Das wundersame Geschehen diente dem Seelsorger also auch dazu, sein von Krankheit bedrohtes und von Todesangst bedrücktes Gemeinwesen geistlich zu stärken und durch Trost aufzurichten. Zugleich mochte die amtskirchliche Predigt den Versuch dargestellt haben, gegenüber volksgläubigen¹¹ Interpretationen die Deutungshoheit über das seltsame Ereignis zu erlangen. Dafür spricht der Umstand, dass weder – wie in Leichenpredigten sonst üblich – auf die Familie, noch auf die Person des Toten selbst näher eingegangen wurde, sondern vielmehr die theologische Deutung der wunderbaren Elemente des Ereignisses im Mittelpunkt standen. Dabei wurden plötzlicher Unfalltod, unverhofftes Wiederfinden, lange Dauer und die unerklärliche Unversehrtheit des toten Körpers allein nach dem reformatorischen Schriftprinzip, das heißt im Verweis auf biblische Parallelen¹² gedeutet. Die Konkurrenz volksreligiöser und amtskirchlicher Transzendenzbezüge wird in der Predigt allerdings
9 Raudte 1588, S. 2–4; Raudte verweist dabei auf Psalm 34: „Der HERR bewaret die gebeine dere die Ihn fürchten, dass dere nicht eines zubrochen oder verlohren werden“. 10 Ebd. S. 5–6. 11 Die typisierenden Begriffe ‚Volksfrömmigkeit‘, ‚Volksreligion‘ und ‚Volksglauben‘ werden im Folgenden im Sinne einer traditionalen, restheidnischen Basisreligiosität der breiten Bevölkerung verwendet, die sich von den theologischen Setzungen der konfessionellen Eliten (Pfarrer, gelehrte Oberschichten) ebenso unterschied, wie von rationalen Weltdeutungen aufgeklärter Gelehrter. Zudem gilt es den wertenden Begriff ‚Aberglauben‘ zu umgehen. Dass eine allgemeine Verwendung des Begriffes ‚Volksfrömmigkeit‘ ohne direkte Eingrenzung auf bestimmte Konfliktkonstellationen und Akteure für die Religiositätsgeschichte der Frühen Neuzeit und Neuzeit zu pauschalisierend und wertend ist, darin stimmt der Aufsatz mit der Problematisierung des Begriffes durch Holzem 2002, S. 260 und Hoheisel 2003, S. 214–218, überein. 12 So u.a. die Psalmen 34, 39, 90 und 118; Lukas 13; Johannes 14.
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nicht offen ausgetragen. Vielmehr spiegelt sie sich bei genauerem Hinsehen im Versuch einer Synthese dieser Vorstellungen. Aus frühneuzeitlichen Chroniken, Sagen- und Exempelsammlungen der Region¹³ wie auch religionsethnologischen Forschungen zu Volksglaube und Brauchtum der erzgebirgischen Bergbauregionen ist für das 16. und 17. Jahrhundert im Bergbau von einem allgemein verbreiteten Glauben an vielfältige, gefährliche und nützliche Dämonen, Natur-, Berg- und Bergwerksgeister auszugehen. Die Leichenpredigt Raudtes kleidete die bergmännische Vorstellung der Existenz von Berggeistern, die zugleich nützliche als auch schädliche Züge trugen, in das theologisch handhabbare Modell einer Dualität von Engeln und Bergteufeln.¹⁴ Dabei tauchte die Vokabel „Bergteufel“ erstmals im Spätmittelalter auf. Im Zuge der Reformation wurde bald eine zunehmende Diabolisierung tradierter Berggeistvorstellungen betrieben.¹⁵ Dahinter stand der Versuch, ursprünglich pagane Transzendenzbezüge in christliche zu inkorporieren. Plötzliches Fundglück und glückliche Erhaltung in gefahrvollen Situationen, aber auch Unglücks- und Todesfälle wurden im Glauben der Bergleute hingegen auf die Gewogenheit oder Missgunst des Berggeistes zurückgeführt, der als Herr des Bergsegens belohnte, strafte und neben kleinen Opfern strenge Verhaltensregeln unter Tage einforderte, die letztlich auch der Sicherheit, der Moral und dem gemeinsinnigen Zusammenhalt der unter Tage arbeitenden Gruppe dienten.¹⁶ Der Fund im Sauberg war bei all seiner Außergewöhnlichkeit doch nicht ohne mythisierte Vorbilder, die in Sagen und im Volksglauben überliefert wurden und sich im Bild des „Bergschlafes“ verdichteten. Die Imagination der Entführung Lebender durch göttliche oder dämonische Mächte in eine Unterwelt, in der irdische Gesetze wie das Vergehen der Zeit aufgehoben schienen, war den Zeitgenossen nicht nur in den Bergbaugebieten bekannt. Die Vorstellung einer Entrückung von Göttern und Menschen ins Innere der Berge verband sich bereits mit dem Unsterblichkeitsglauben der alten Kulturen Griechenlands, des Orients und Mexikos. In der Legende vom Martyrium der Sieben Schläfer von Ephesus fand
13 Agricola 1549; Ders. 1657, S. 704b; Lehmann 1699; Meltzer 1716; Ders. 1690; Roth 1932, S. 57–64; Wrubel 1883; Heilfurth 1967. 14 Vgl. Raudte 1588, S. 1–3. 15 Vgl. Heilfurth 1967, Bd. 1, S. 115–117: „Die bewusste Diabolisierung des Berggeistes gehört in den vielschichtigen Prozeß der Einbeziehung der archaischen Geisterwelt in den Vorstellungskreis des Christentums und ist insbesondere im Zuge der Reformation, im Gefolge der Anschauungen Luthers, zu einem vielerörtertem Problem geworden. Luther selbst, dessen realistischer Teufelsglaube noch ganz in seiner Zeit wurzelt, schreibt alle Präsentation des Bösen in der Erlebniswelt des Bergbaus dem Wirken Satans zu.“ 16 Vgl. die Artikel ‚Bergwerk‘, Sp. 1084–1087 und ‚Berggeister‘, Sp. 1071–1083, in: HoffmannKrayer/Bächtold-Stäubli 1987.
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das vermutlich auf altgriechische und hinduistische Vorbilder¹⁷ zurückgehende Motiv der Zeit- und Bergentrückung seit dem 5. Jahrhundert auch Eingang in den Koran,¹⁸ in die christlichen Heiligenkalender des Mittelalters und in das sich an sie knüpfende Brauchtum.¹⁹ Besondere Verbreitung fand der Topos des Bergschlafes in den Mythen der germanischen Völker. Sagen, wie etwa die vom Tannhäuser im Venusberg oder von Herrscherfiguren wie Karl dem Großen, Barbarossa und dessen Enkel Friedrich, welche in Bergen schliefen, um eines Tages zurückzukehren und ihr Volk zu erretten, gehörten zum populären Erzählgut des deutschen Sprachraumes und können als ein Nachklang germanischer Vorstellungen angesehen werden.²⁰ Im Zusammenhang mit dem Bergbau hatte es auch neben Oswald Barthel mehrfach Funde von verschütteten und unverwesten Körpern gegeben, die ihrerseits wiederum eine breite Sagenbildung anregten und die Vorstellung vom Stillstand der Zeit unter Tage weiter nährten.²¹ Der Pfarrer und erzgebirgische Chronist Christian Lehmann (1611–1688)²² interpretierte die Begebenheit um Barthel noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als eine Tat „der Wunderhand Gottes“, die damit „unvergleichlich mehr“ bewirkt habe, als die Versuche der „Alten“, welche „große Kosten gemacht, durch Balsamierung Mumien zubereiten und der Verwesung zu widerstehen“.²³ Theologische Deutungsversuche des Bergschlafes verbanden sich bereits im Mittelalter mit dem Bibelwort, dass vor dem Herren „tausend Jahre wie ein Tag“ seien.²⁴ Auch Pfarrer Raudte schloss in seiner Leichenpredigt auf Barthel an diese Ausle-
17 Vgl. Rohde 1980, Bd. 1, S. 111–145. 18 Koran, 18. Sura, Vers 9–26, „Die Höhle“. 19 Die sog. Siebenschläferlegende berichtet, wie sich sieben junge Männer während einer Glaubensverfolgung in eine Höhle flüchten und dort unter Gottes Schutz mehrere hundert Jahre schlafen, bei ihrer Wiederentdeckung erwachen, von Gottes Wundern Zeugnis ablegen und kurze Zeit darauf sterben. Vgl. Koch 1883, S. 24–50. 20 Vgl. Art.: ‚Bergentrückt‘, in: Hoffmann-Krayer 1987, Sp. 1056–1071; Ziolkowski 1992, S. 48–50. 21 So etwa 1573 und 1616 im Salzberg am Dürrenberg bei Berchtesgaden, ferner finden sich Berichte aus dem Salzkammergut, dem Isergebirge, Oberschlesien, dem thüringischen Lichte und anderen Gebieten. Eine Zusammenstellung von Beispielen findet sich bei Heilfurth 1967, S. 528–534. 22 Rüger 1977. 23 Lehmann 1699, Kap. XXI, Von seltsamen Zufällen an Leichen der Verstorbenen, S. 936. 24 Psalm 90,4 „Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache“ sowie 2. Petrus 3,8 „Eines aber sei euch unverhalten, ihr Lieben, daß ein Tag vor dem HERRN ist wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag“, zit. n. Lutherbibel 1545; Vgl. auch Art.: ‚Entrückung‘ in: Beitl 1974, S. 176–177.
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gungstradition an und reflektierte ausführlich über die Begrenztheit menschlicher Zeitvorstellungen und die göttliche Ewigkeit.²⁵ Die Ausrufung des wiederentdeckten toten Bergmannes als göttliches Wunder und die damit verbundene überregionale Aufmerksamkeit der Gläubigen auf das Bergstädtchen Ehrenfriedersdorf deutet zugleich auf eine weitere Form konkurrierender Transzendenzverweise. Seit der Gründung der benachbarten Stadt Annaberg und deren reicher Ausstattung mit kirchlichen Rechten, geistlichen Einrichtungen, Messen und Reliquien war Ehrenfriedersdorf, welches sich bisher als wichtiger Wallfahrts- und Heilsort der Region verstand,²⁶ zunehmend ins Hintertreffen geraten und versuchte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts neu zu profilieren. Die Entscheidung zur Anschaffung eines außergewöhnlich aufwändigen und teuren Schnitzaltars mit Reliquieneinlagen im Jahr 1507 lässt sich für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts noch als Konkurrenz um einen Heilsort interpretieren. Die Ausrufung der Auffindung Barthels im Jahr 1568 als „Mirabilis DOMINUS“²⁷ und die Stiftung einer sich dauerhaft damit verbindenden Gedenkkultur, welche die Memoria an das Ereignis nicht mehr an das Medium einer Reliquie, eines sakralen Raumes oder einer kunstvollen Altarstiftung band, sondern an das Medium des gepredigten und gedruckten Wortes, verweist in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hingegen auf die Konkurrenz verschiedener theologischer Bekenntnisse und ihrer kulturellen Ausformungen. So gesehen hatten die Inszenierung eines lutherischen Begräbnisses und die Leichenpredigt auf Barthel einen lehrhaft exemplarischen Charakter und sollten in Abgrenzung gegenüber altgläubigen Ritualen und Memorialformen neue heilsstiftende Formate des Erinnerns vorführen und etablieren. Das dauerhafte Gedenken an die wundersame und zugleich historisch belegbare Exempelgeschichte um Oswald Barthel nahm damit einen wichtigen Platz ein, der mit der protestantischen Ablehnung der Heiligenverehrung, konkret der Schutzpatrone des Bergbaus,²⁸ seit Einführung
25 Raudte 1588, S. 9–10. Verwiesen sei in diesem Kontext auch auf die Einleitung des vorliegenden Bandes. 26 Anlässlich des ersten Jubeljahres der Römischen Kirche erhielt die St. Niklaskirche in Ehrenfriedersdorf am 11. September des Jahres 1300 einen päpstlichen Ablass und wurde zum Wallfahrtsort erklärt. Vgl. Ehrenfriedersdorf 2000, S. 2; Zu Baugeschichte und Ausstattung der Annaberger St. Annen Kirche vgl. die Arbeiten von Stefan Bürger im Teilprojekt D des SFB 804 in Dresden. 27 Raudte 1588, S. 4. 28 Die kunstvolle Figur der St. Barbara hatte im neuen Hochaltar von 1507 noch einmal einen exponierten Platz in der Ehrenfriedersdorfer St. Niklaskirche erhalten.
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der Reformation 1539 zumindest aus Sicht der amtierenden Pfarrer frei geworden war.²⁹ In historisch belegbaren Überlieferungen erblickten die lutherischen Theologen einen authentischeren Wahrheitsgehalt als in tradierten Heiligenlegenden und beförderten eine Hinwendung zum vermeintlich faktischen Geschehen. Im realen Verlauf der Geschichte, „in den facta memorabilia, im denkwürdigen, das heißt fingerweisenden Geschehen, da wo sich die ewigen Wahrheiten offenbaren“, sollte nun der indirekten Offenbarung Gottes nachgespürt und in „praxisorientierte Anwendung für das tätige Leben“ umgesetzt werden.³⁰ Solch ewig gültige Wahrheiten hatte Gott durch das Ereignis um Barthel aus protestantischer Sicht der Gemeinschaft der Bergleute durch einen Fingerzeig anvertraut. Die nun einsetzende bergmännische Erinnerungspflege an diese Begebenheit und an Barthel als stellvertretender toter Bergmann aus den eigenen Reihen, wie auch als Identifikationsfigur bergmännischen Lebens und Schicksals, war durchaus geeignet, den Kult um die Heilige Barbara als Schutzpatronin des Bergbaues in der Region zu ersetzen.
2 Naturwissenschaft und romantische Literarisierungen Begannen sich die vorgestellten konfessionskulturellen Deutungskonflikte im 18. Jahrhundert zunehmend zu entspannen, so kündigten sich mit dem Aufkommen naturwissenschaftlich-empirischer Erklärungsmodelle bald neue Konkurrenzen an. In Lehmanns gelehrtem Verweis auf antike Kenntnisse zur künstlichen Herstellung von Mumien durch Einbalsamierung klingt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erstmals die Möglichkeit an, dass Barthels Konservierung auch durch chemische Prozesse bedingt gewesen sein könnte.³¹ Ein analoger Fall, der sich 1715 in einer Eisengrube im schwedischen Falun zugetragen hatte, rief inzwischen nicht mehr allein die theologischen Deutungsautoritäten auf den Plan, wie 1568 noch in Ehrenfriedersdorf geschehen. Erstmals befassten sich auch naturwissenschaftliche Experten mit dem Fall, die den konservierten Leichnam eines dort über 50 Jahre im Stollen verschütteten Bergmannes für 500 Taler erwarben, an der Universität Stockholm wissenschaftlichen Analysen unterzogen und unter
29 Vgl. Dingel 2004, S. 9–35; Heilfurth 1967, S. 85–88; Dornheim 2008, S. 140–147. 30 Vgl. Brückner 1974, S. 34–38. 31 Vgl. Lehmann 1699, S. 936.
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einem Glaskasten zu Studienzwecken ausstellten. Bei den Untersuchungen hatte man festgestellt, dass der Körper in sogenanntem Vitriolwasser³² gelegen hatte, mit dessen konservierender Wirkung man diesen und eine Reihe ähnlicher Fälle fortan erklären konnte – ohne mehr die Wirkung göttlicher Hand oder anderer numinoser Kräfte in Betracht zu ziehen. Jene Geschichte sollte schnell einen größeren Wirkungskreis erreichen, bereits 1722 wurde sie in deutscher Sprache veröffentlicht. Die gedruckten erzgebirgischen Chroniken des 17. Jahrhunderts,³³ als mediale Träger der Barthel-Geschichte und als Sammlungen vielfältiger anderer, als denkwürdige ‚göttliche Fingerzeige‘ verstandener Ereignisse der Region, fielen im Laufe des 18. Jahrhunderts von Seiten der Aufklärung unter den Generalverdacht unvernünftigen Aberglaubens und gerieten nach ihrer Diskreditierung zunehmend in Vergessenheit.³⁴ Der unter den Bergleuten zäh sich haltende Glaube an Berggeister und andere übersinnliche Vorgänge in der Unterwelt der Bergwerke wurde in den gebildeten Schichten zunehmend auf rational erklärbare Phänomene, etwa die Wirkung von Grubengasen oder Alkoholgenuss, zurückgeführt. Auch aus den Kirchengesangbüchern der Bergleute wurden Passagen, die Schutz vor „Bergteufeln“ erbaten, entfernt.³⁵ Die Konkurrenz naturwissenschaftlicher Erklärungen aufgeklärter Skeptiker mit volksreligiös tradierten Deutungsmustern, die sich unter den einfachen Bergleuten bis weit ins 19. Jahrhundert beharrlich hielten, spiegelte sich mitunter auch im gelehrten Diskurs der Aufklärer selbst. So mahnte 1699 etwa Stanislaus Reinhard Acxtelmeier (1649–ca. 1715) noch an, „die tägliche Erfahrung der Berg-Leuten, die in den tieffen Ertz-Gruben arbeiten, solche Männlein oft sehen und hören“ durchaus ernst zu nehmen und entsprechende Berichte nicht vorschnell als „Fabel“ abzutun.³⁶ Stand Acxtelmeier als früher Vertreter einer eher gemäßigten Aufklärung einem radikalen Skeptizismus in einem konservativen Sinne kritisch gegenüber, so versuchte sich der Arzt, Naturforscher und Naturphilosoph Gotthilf Heinrich Schubert (1780–1860) gut 100 Jahre später an einer grundlegenden Überwindung des Konfliktes zwischen empirischer Naturwissenschaft und Christentum. In einer Art Universalwissenschaft sollten nach Anregungen Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) verschiedenste Wissenschaftszweige miteinander verknüpft
32 Der Begriff Vitriol bezeichnete kristallwasserhaltige Sulfate (Salze der Schwefelsäure) von zweiwertigen Metallen wie Zink, Kupfer und Eisen. 33 So etwa Moeller 1653; Meltzer 1684; Lehmann 1699. 34 Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Roth 1932, S. 35–39. 35 Vgl. Heilfurth 1967, S. 165–170. 36 Acxtelmeier 1699/1700, S. 54. Vgl. auch Heilfurth 1967, S. 156–157.
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und die Dimensionen Natur und Geist neu zusammengedacht werden.³⁷ Der Abstieg ins Innere der Erde konnte von den Anhängern einer solchen Naturphilosophie somit auch als ein Abstieg in die Geschichte der Erde wahrgenommen werden, die in Mineralien, Metallen und Steinformationen auf ihre Entzifferung wartete, sodass viele Romantiker weniger der astrologische Blick in den Himmel, sondern zunehmend der geologische Blick ins Innere der Erde faszinierte. Diesem Interesse folgten viele Künstler der Romantik nicht nur literarisch, sondern auch in ihrer Studienwahl und Berufsausübung. Der Abstieg ins Bergwerk wurde zudem als poetische Metapher für den Abstieg in die Tiefen des Unbewussten der menschlichen Psyche, des Religiösen und der Sexualität verwandt.³⁸ Im Sinne eines erwecklichen Christentums galt es für Schubert, das Göttliche in der Natur wieder neu zu erkennen. Schubert ließ seine vielbeachteten Vorträge auf Anraten Heinrich von Kleists (1777–1811) im Jahr 1808 in Dresden unter dem Titel „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften“ publizieren, die insbesondere in den Kreisen der Dresdner Romantiker vielfach rezipiert und literarisch verarbeitet wurden. Besondere Beachtung fand dabei die von Schubert berührte Falun-Geschichte, die als Stoff geradezu prädestiniert schien, Elemente romantischer Naturphilosophie literarisch zu gestalten.³⁹ Die künstlerischen Bearbeitungen⁴⁰ reichten von Novalis (1772–1801), E. T. A. Hoffmann (1776–1822), Friedrich Hebbel (1813–1863), August Friedrich Ernst Langbein (1757–1835), Friedrich Rückert (1788–1866) bis zu Johann Peter Hebel (1760–1826), dessen Kalendergeschichte „Unverhofftes Wiedersehen“⁴¹ von Ernst Bloch (1885–1977) später als eine der „ergreifendsten Geschichten der Welt“⁴² geehrt wurde.⁴³ Unter dem Eindruck einer so breiten Popularisierung des Falun-Stoffes erlangte auch die analoge Geschichte um Oswald Barthel erneut überregionale Popularität zurück, fand Eingang in die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden
37 Wenige Jahre zuvor hatte bereits Schelling seine „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ (1797) auf die bekannte Formel gebracht: „Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn“. Vgl. Keller 1990, S. 232–233; Rosenau 2000, S. 105–106; Schelling 1797, Bd. 2, S. 39. 38 Vgl. Ziolkowski 1992, S. 47–64. 39 Vgl. Eicher 1996. 40 Novalis (1800), Heinrich von Ofterdingen; Hoffmann, E. T. A. (1819), Das Bergwerk zu Falun; Rückert, Friedrich (1817), Die Goldene Hochzeit; Arnim, Achim von (1810), Gräfin Dolores; Hebbel, Friedrich (1828), Treue Liebe; Langbein August Friedrich Ernst (1817), Liebestreue; Kind, Friedrich (1817), Die Bergknappen; Trinius, Bernhard (1820), Die Bergmannsleiche. 41 Hebel, Johann Peter (1811), Unverhofftes Wiedersehen, in: Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes, S. 293–294; Weiterführend: Pietzcker 1996, S. 263–299; Steiger 1998. 42 Bloch zit. nach Knopf 1973, S. 75. 43 Vgl. Lauterbach 1990, S. 90–91; Heilfurth 1967, S. 89–91; Ziolkowski 1992, S. 40–64.
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Sagensammlungen⁴⁴ und erreichte nicht zuletzt auch wieder gesteigerte Wertschätzung im Rahmen der Traditionspflege vor Ort.⁴⁵ Zudem hatte die bizarre wie sagenumwobene Felsformation der Greifensteine Ehrenfriedersdorf zu einem Ziel romantischer Künstler werden lassen.⁴⁶ Die erzählerische Ausgestaltung und schließlich auch die Deutung der Geschichte erfuhr seit dieser Zeit allerdings eine grundlegende Veränderung: Nach der naturwissenschaftlichen Entzauberung des Geschehens blieb von der einst als wundersam geltenden Geschichte wenig mehr als ein nüchtern erklärbarer Tatsachenbericht. Eine Wiederaufladung der Geschichte mit ethischer Bedeutung geschah fortan durch die Verwendung des Motivs der romantischen Liebe und Treue, wie es sich in der Szene des unverhofften Wiedersehens der inzwischen greisen Verlobten mit dem toten, aber noch jugendschönen Bergmann ereignete. Die Szene, welche für das Ereignis von Falun durchaus nachweisbar ist und das Interesse der Literaten der Romantik auf sich zog, fand in die Ehrenfriedersdorfer Erzählung nun erst nachträglichen Eingang.⁴⁷ So standen seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht mehr die alten Bergmänner, die ihren verlorenen Berufskameraden wiedersahen und vor der verwunderten Gemeinschaft identifizierten, im Mittelpunkt des Narratives, sondern die treue Verlobte Anna, die ihren Geliebten nach über 60 Jahren wieder in die Arme schloss. Die Geschichte bewegte sich damit weg vom göttlichen Wunderzeichen für das Gemeinwesen der Bergstadt und hin zu den Subjekten, deren individuelle Züge und Innenwelt nun psychologisierend nachempfunden und moralisch-ethisch verstanden werden sollten.
3 Schlussbemerkung mit Ausblick Die transzendente Dimension der Geschichte um Oswald Barthel verschob sich demnach zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert ausgehend vom Wirken numi-
44 Dietrich/Textor 1822–24; Ziehnert 1838–39; Grässe 1854. 45 So wurde etwa 1822 auf Kosten der Kirchgemeinde Ehrenfriedersdorf wieder ein Originaldruck der Leichenpredigt auf Barthel von Georg Raudte aus dem Jahr 1588 für die Pfarrbibliothek angeschafft und aufwändig mit einigen anderen prominenten Predigten auf den Landesherren und lokalansässige Grundherren zusammengebunden. Auf dem Vorblatt des Bandes findet sich die Geschichte um Barthel handschriftlich knapp zusammengefasst (Pfarramt Ehrenfriedersdorf, Pfarrbücherei Nr. 15). 46 So etwa durch Maler wie Ernst Ferdinand Oehme („Die Greifensteine“, 1840) oder Carl Vogel von Vogelstein („Die Lange Schicht“, o. J.). 47 Vgl. Lauterbach 1990, S. 85–92.
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noser Naturgeister über den wunderbaren Fingerzeig des christlichen Gottes hin zur romantischen Liebe.⁴⁸ Eine weitere, grundlegende Verschiebung lässt sich zudem seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Erinnerungsgemeinschaft beobachten: Durch die zunehmende Literarisierung des Barthel-Stoffes entstand neben der die Erinnerung aktiv pflegenden Ritualgemeinschaft der Ehrenfriedersdorfer Berggrabebrüderschaft zunehmend ein passiv die Geschichte rezipierendes überregionales Publikum, dessen Aufmerksamkeit wenige Jahrzehnte später für den Fremdenverkehr der Gegend von Interesse werden sollte.⁴⁹ Die Darstellung und Rezeption der Langen Schicht des Ehrenfriedersdorfer Bergmannes war dabei über den gesamten geschilderten Zeitraum durch Konkurrenz und die Verdeutlichung von Unterschieden in der Deutung geprägt. Trug das Ereignis der ‚wundersamen Auffindung‘ ohnehin den Gegensatz zwischen katholischem und evangelischem Bekenntnis in sich, kam mit Blick auf die (erzgebirgische) Bergbaukultur noch die dritte Ebene volksgläubiger Traditionen hinzu. Konnten diese divergierenden Deutungsmuster noch vergleichsweise plausibel und konfliktfrei ausgeräumt werden, so brachte die Aufklärung und die damit verbundene Verwissenschaftlichung eine Sinnstiftung ex negativo mit sich: Schließlich wurde die Geschichte in der Diktion des göttlichen Fingerzeiges als unvernünftiger Aberglaube abgetan, die Anerkennung der naturwissenschaftlichen Erklärung des vermeintlichen Wunders geriet zum Integrationsmoment ‚modernen‘ Bewusstseins. Die Tradierung der damit gewissermaßen entzauberten Geschichte beendete deren Wirkung indes nicht, wenngleich sie dadurch neu erfunden werden musste: Durch die Integration des Motivs der treuen Liebe in die Geschichte der Auffindung Barthels wurde ein lebensweltlich fassbares Element gefunden, welches die das Erzgebirge erwandernden Romantiker mit Hilfe des belletristischen Buchmarktes verbreiteten. Zudem fand sie über die entstehende Volkskunde Eingang in die populären Sagensammlungen dieser Zeit. War das 19. Jahrhundert zwar gerade im Erzgebirge von einem aufkommenden Traditionalismus geprägt, der auch die Pflege des Brauchtums des im Niedergang befindlichen Bergbaus berücksichtigte,⁵⁰ so kehrte die Geschichte Oswald Barthels erst in der Mitte der 1920er Jahre wieder ins Zentrum lokaler und regionaler Erinnerungskultur zurück: Am 26. August 1928 wurde auf dem
48 An dieser Stelle sei auf die Arbeit des Projektes O am SFB 804 verwiesen, welches Transzendenz und Gemeinsinn in privaten Lebensformen aus kultursoziologischer Perspektive untersucht. 49 Vgl. Martin 2003, S. 100–106; Schäfer 2010, S. 105; Friedreich 2010, S. 154–161. 50 Vgl. hierzu Just 2007 sowie die weiterführenden Beiträge in Seifert 2010.
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Sauberg der sogenannte Oswald-Barthel-Gedenk-Turm geweiht, der jährlich zum Anziehungspunkt bergmännischer Memoria, aber auch gemeinschaftsstiftender Volksfeste wurde.⁵¹ 1936 änderten sich die Rahmenbedingungen dieses Traditionalismus dann aber noch einmal grundlegend, wurde doch im Rahmen des nationalsozialistischen Vierjahrplans und den damit verbundenen Bestrebungen um Aufrüstung und Autarkie⁵² der Bergbau auch in Ehrenfriedersdorf wieder aufgenommen.⁵³ Für die Geschichte um Oswald Barthel ergab sich daraus die Möglichkeit, an den Topos des stellvertretenden Toten aufzuknüpfen: Das Ereignis erhielt zunehmend jene transzendente, mithin ideologisch auf die Gemeinschaft gerichtete Aufladung des nicht ‚wegen‘, sondern ‚für‘ etwas sterben.⁵⁴ Und auch wenn sich diese Traditionslinie über den Systemwechsel 1945/49 nicht bruchlos fortsetzte, so konnten gerade die mit dem Bergbau in Verbindung stehenden erzgebirgischen Vereine – auch die Ehrenfriedersdorfer Berggrabebrüderschaft – ihre Arbeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weiterführen. Allerdings wohnten dem neue Erzählperspektiven inne, die ‚staatssozialistische Säkularisierung‘ des bergmännischen Traditionalismus machte auch vor Oswald Barthel nicht halt. Zwar ließ sich die Verehrung eines Bergmannes leicht in die ‚Meistererzählung‘ des Arbeiter- und Bauernstaates integrieren. Insbesondere die Ehrenfriedersdorfer Geschichte wies aber eine religiöse Dimension auf. Und hier war die DDR-Führung und das in diesem Kontext ausführende Organ Kulturbund spätestens in den 1960er Jahren bemüht, die „Traditionshandlungen“ stärker zu steuern – „unerwünscht waren christliche, religiöse Brauchtumsausübungen“.⁵⁵ Integration und Konkurrenz blieben demnach für die Rezeption der Geschichte Oswald Barthels bestimmend, bis sich 1989/90 erneut die Rahmenbedingungen hierfür änderten. Die vorstehenden Zeilen verdeutlichen, dass die Einordnung der Erinnerungskultur um Oswald Barthel als bloßen Regionaltraditionalismus zu kurz greifen würde und die geschilderten Deutungen, wie auch die Konkurrenzen in denselben, kaum erklären könnte. Vielmehr bot die Barthel-Geschichte einerseits zahlreiche Anknüpfungspunkte an bekannte Erzählmodelle der Vormoderne (griechische Mythologie, Volkssagen, religiöse Erzählungen) und ließ sich andererseits mit geistesgeschichtlichen Strömungen der Neuzeit verknüpfen (Aufklä-
51 Tageblatt Annaberger Wochenblatt, 201, 1928. 52 Vgl. hierzu Petzina 1968. 53 Greame 1938, S. 151. 54 Vgl. hierzu die Projektskizze des Teilprojektes M in Vorländer 2010, S. 94–99. 55 Stadtarchiv Ehrenfriedersdorf, Ordner Geschichte der Berggrabebrüderschaft Ehrenfriedersdorf, Manuskript Über die Geschichte der Berggrabebrüderschaft Ehrenfriedersdorf.
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rung, Romantik, Historismus, politische Ideologien). Der Fall des ‚merkwürdigen Fundes‘ brachte eine Geschichte hervor, zu der nahezu jede Generation einen Zugang finden konnte – in der Reformationszeit bestand dieser in der konfessionellen Selbstbestätigung, in der Romantik war es das Ethos der treuen Liebe und in der Zeit der DDR die Inszenierung einer Arbeitergemeinschaft, die sich über ein 500 Jahre zurückliegendes und damit im geschichtlichen Sinn unverfügbares Ereignis traditionell definierte. Gerade diese Vielseitigkeit der Interpretationsebenen ist vermutlich auch der Grund dafür, dass die Geschichte ‚durch die Zeiten ging‘ und bis heute lebendig ist.
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Rut-Maria Gollan, Kai Krauskopf
Gottes Abschied? Die Frankfurter Paulskirche und die Dresdner Frauenkirche Die Paulskirche in Frankfurt am Main und die Frauenkirche in Dresden werden als Zentralbauten und Marksteine des protestantischen Kirchenbaus in Deutschland, aber auch als nationale (politische) Symbole im Fokus der Betrachtung stehen. Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb man beiden Bauwerken im Spannungsfeld zwischen sakralen und profanen Deutungsebenen immer wieder unterschiedliche Sinndimensionen zu, so dass sie als gebaute Verheißung Gegenstand sich wandelnder, paralleler und konkurrierender Transzendenzbehauptungen wurden. Die zugrunde liegenden Mechanismen und Prozesse der Sinnzuschreibung sowie die Inszenierung der Kirchengebäude im hierarchischen Ringen zwischen Religion, Politik und Zivilgesellschaft sollen im Folgenden anhand der jeweiligen Rezeptionsgeschichte gegenüber gestellt werden. Schließlich sind beide Bauwerke in ihrer heutigen Form Zeugnisse gesamtdeutscher Umbrüche und werden in den ihnen zugeschriebenen Bedeutungen im Verweis auf historische Ereignisse zum Baustein nationaler Geschichte. Beispielsweise war die Paulskirche 1848/49 Schauplatz der ersten deutschen Nationalversammlung, während die Frauenkirche gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Idealtyp protestantischen Kirchenbaus verhandelt wurde. Der besondere Fokus unserer Analyse liegt aber auf den Konsequenzen der Zerstörung beider Kirchen im Zweiten Weltkrieg. Die Ruinen zum Ausgangspunkt nehmend, betrachten wir konkurrierende Transzendenzbehauptungen und Inszenierungs- sowie Bewältigungsstrategien zu deren Umsetzung und Visualisierung, die wir vergleichend gegenüberstellen.
1 Die Paulskirche: wegweisendes Scheitern 1.1 Paulskirche und Nationalversammlung Die alte Kaiserstadt Frankfurt am Main war seit dem Wiener Kongress Sitz des Deutschen Bundestages. Als 1848 die Anfrage an den Gemeindevorstand her-
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Abb. 1: Innenraum Paulskirche um 1830.
angetragen wurde, die erste deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche abzuhalten, zeigte sich dieser ohne Ausnahme „mit Freuden einverstanden.“¹ Schon in der Planungs- und Bauphase der Paulskirche (1782–1833) als evangelische Hauptkirche und Nachfolgegebäude der baufälligen Barfüßerkirche zeichneten sich nicht allein sakral-religiöse Transzendenzverweise ab: Beeinflusst durch den protestantischen Pragmatismus, klassizistische Ästhetik und politische Ideale wurde ein ovaler Zentralbau mit über 2000 Sitzplätzen realisiert. Dieser knüpft einerseits an protestantische Vorgängerbauten wie die Frauenkirche in Dresden an, andererseits wurde die amphitheatralische Sitzordnung spätestens seit der Französischen Revolution auch als antikes Urbild der Demokratie begriffen.² Angesichts dieser im Bau angelegten Strukturen, galt es scheinbar nur wenige spezifische Verweise durch geringfügige Möblierung und Textilien zu modifizieren um den Sakralraum säkular in ein „Hohes Haus“ umzucodieren: Der Altar wurde mit einem Vorhang „kaschiert“, die Kanzel als Rednertribüne umgenutzt und die Orgel verdeckte ein Gemälde einer Germania.³ 1 Dechent, Hermann, (1985), Ich sah sie noch, die alte Zeit. Beiträge zur Frankfurter Kirchengeschichte (Schriftenreihe des Ev. Regionalverbandes Nr. 11), hg. v. Jürgen Telschow, Frankfurt a.M., S. 209; zit. in: Braunberger-Myers 2000, S. 295. 2 Bartetzko 1998, S. 22–27. 3 Mick 1988, S. 56.
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Abb. 2: außen profan und innen sakral: Friedrich Ebert Denkmal (Rekonstruktion 1950), März 2012, Foto: Rut-Maria Gollan.
1.2 Erinnerungskultur an 1848 vor der Zerstörung Wenige Jahre nach der letzten Sitzung des Parlaments wurde das Gebäude 1852 wieder zur Feier von Gottesdiensten genutzt; eine Erinnerungskultur anlässlich der Paulskirchenversammlung entwickelte sich dagegen sehr zögerlich: So erschienen zur ersten größeren Feierstunde, der 50-Jahrfeier, die nicht einmal in der Paulskirche begangen wurde, zwar einige Veteranen der Versammlung von 1848, jedoch keine hohen staatlichen Repräsentanten, der Fokus des RevolutionsGedenkens der SPD lag beispielsweise in erster Linie auf den Barrikadenkämpfen von 1848/49.⁴ In der Weimarer Republik änderte sich dies deutlich und die 75-Jahrfeier wurde unter Friedrich Ebert 1923 zum Beginn einer kurz währenden Erinnerungskultur, die das Gebäude als Kristallisationspunkt deutscher Demokratiegeschichte inszenierte. In der Folge entstanden neben einem Denkmal für Friedrich Ebert verschiedene Gedenktafeln im Umfeld der Paulskirche, die dazu führten, dass das Gebäude zunehmend zweigeteilt wahrgenommen und außen profan, innen religiös konnotiert wurde.⁵ 4 Vgl. Klemm 2007, S. 185–214; Mommsen 2001, S. 63. 5 Bartetzko spricht von einer Sammlung „analog, aber antithetisch zu der protzenden Walhalla bei Regensburg“. Bartetzko 1992, S. 117.
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Insgesamt kam es aber nicht zur Konstituierung einer breiten Erinnerungskultur zur Nationalversammlung in der Paulskirche. Wolfgang J. Mommsen führt dies darauf zurück, dass die Paulskirchenversammlung „überwiegend die politische Haltung des liberalen Bürgertums [repräsentierte], nicht die politischen Bewegungen der Revolutionsperiode in ihrer Gesamtheit.“⁶ Im Nationalsozialismus wandelte sich das Bild erneut: Schon 1933 ließ man das Friedrich-Ebert-Denkmal in einer sorgfältig vorbereiteten Aktion durch die Hitlerjugend und Studenten entfernen.⁷ Lokale Bestrebungen der Frankfurter NSDAP die Paulskirche als Symbol der Einheit Groß-Deutschlands zu inszenieren, wurden nicht weiter aufgegriffen, sodass sie während des Nationalsozialismus sakral wie profan möglichst weitgehend neutralisiert und marginalisiert wurde.⁸
1.3 Die Paulskirche als erstes gesamtdeutsches Wiederaufbauprojekt Im Zweiten Weltkrieg wurde die Paulskirche bei einem Bombardement der Alliierten am 18. März 1944 sehr stark beschädigt. Augenzeugen beschrieben in dramatischen Worten wie die Paulskirche als brennende Fackel über der Stadt steht und schließlich im Flammenmeer zusammensackt.⁹ Während die Kuppel und die Emporen einstürzten, blieb das Oval der Außenmauern der Kirche weitgehend unversehrt und wurde zum markanten Bezugspunkt in der zerstörten Altstadt.
1.3.1 Ruine und Wiederaufbau: Motive und Intentionen „Hier, wo das alte Reich seinen eigentlichen Mittelpunkt jahrhundertelang besaß, zwischen Dom und Römer, ist heute ein einziges Trümmerfeld. Nicht weit davon steht die Ruine der ausgebrannten Paulskirche, die einmal den Anfang einer deutschen Demokratie in sich barg.“¹⁰ In dieser dichten Schilderung von Eugen Blanck finden sich bereits die vielfältigen Transzendenzverweise und -erwartungen, die dem zerstörten Kirchengebäude schon zu einem frühen Zeitpunkt und 6 Mommsen 2001, S. 61. 7 Bartetzko 1998, S. 33. 8 Klemm 2007, S. 314. 9 „Die noch brennenden Teile des Daches stürzten […] in die Kirche […], die brodelnde, glühende Masse begräbt das Kirchenschiff unter sich […]. Wie eine Riesenfackel steht die Feuerlohe über der Stadt […]. Die Paulskirche stirbt.“ Zitiert nach Klötzer (1968), Die Frankfurter Paulskirche – Symbol der deutschen Einheit, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, 51, S. 19. 10 Blanck 1947, S. 26.
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weit über dessen zunächst sakrale Funktion hinaus zugeschrieben wurden: in dem Verweis auf eine vermeintlich glorreiche Vergangenheit des Ortes als religiöses wie herrschaftliches Machtzentrum und Ursprungsort deutscher Demokratie wird implizit die Erwartung einer wegweisenden Zukunft mitgeschrieben. Wie früh dieses große symbolische Potential der Ruine wahrgenommen wurde, verdeutlicht die im Frühjahr 1946 geäußerte Bitte der Paulsgemeinde, man möge die Paulskirche so herrichten, dass das 100-jährige Jubiläum der ersten deutschen Nationalversammlung würdig begangen werden könne.¹¹ Diese Bitte führte schon im Mai 1946 zur darüber hinausgehenden „Vereinbarung über den Wiederaufbau und die Benutzung der Paulskirche in Frankfurt a.M.“. Darin wurde festgeschrieben, dass die Paulskirche bis zum angesprochenen Jubiläum unter „Wahrung ihres christlichen Charakters“ binnen zwei Jahren wiederaufgebaut werden sollte und die Stadt ein zehnjähriges Nutzungsrecht erhalten würde. Oberbürgermeister Walter Kolb, der zur „Vermittlung komplexer politischer Inhalte gerne auf den Einsatz von Symbolen“¹² baute, schlug unter Rekurs auf sakrale Verweise erneut den Bogen zur politisch-nationalen Dimension der Paulskirche: „Sollte man nicht lieber in solcher Not den Wiederaufbau der Paulskirche auf bessere Zeiten vertagen, für Dächer und Stuben sorgen und sich zur Hundertjahrfeier der deutschen Demokratie bescheiden in ihrer Ruine versammeln? Nein! Und nochmals nein! Ein großes Volk schafft nicht nur Dach und Brot für jeden einzelnen Bürger; es braucht auch ein Haus für sich selbst! Wie sich unsere Väter im Mittelalter in den Domen das Haus Gottes auf Erden bauten und sich an und in ihm erbauten, so muß auch unser werdender neuer Staat sich im Symbol neu erbauen. Ganz Deutschland muß die Paulskirche wieder aufbauen, von außen und von innen, im Stein wie im Geiste.“¹³
Da sich die Teilung Deutschlands langsam abzeichnete, setzen sich diese Gedanken in gewisser Weise konsequent in den Hauptstadtambitionen von Frankfurt am Main fort. Diese wurden beispielsweise von Eugen Kogon bekräftigt, der sich zur „Jahrhundertfeier“ ein „Bundesparlament in der wiedererrichteten Paulskirche“ wünschte und die Bundesregierung dazu im I.-G.-Farbengebäude¹⁴ von Hans Poelzig sah, das damals Sitz der amerikanischen Militärverwaltung war. Nichtsdestotrotz sollte der Wiederaufbau der Paulskirche aber auch Plädoyer und Zeichen der Einheit Deutschlands sein. 11 Magistratsakten der Stadt Frankfurt ab 1946, IfSG, zit. nach: Braunberger-Myers 2000, S. 296. 12 Bauer 1997, S. 51. 13 Oberbürgermeister Walter Kolb im Aufruf der Stadt Frankfurt am Main zum Wiederaufbau der Paulskirche vom 20.02.1947, IfSG Magistrat Nachträge 289 #1, o.Bl., zit. nach: Klemm 2007, S. 416. 14 Kogon 1946, S. 7.
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Abb. 3: Die Grundsteinlegung im ausgebrannten Oval am 17. März 1947.
1.3.2 Weiterbauen als Strategie Obwohl die Ruine der Paulskirche im Gegensatz zur Frauenkirche als solche also nur sehr kurz bestand und der Wiederaufbauprozess zu einem Zeitpunkt einsetzte, als Ruinen fast den Normalzustand darstellten, wurde die Wahrnehmung der zerstörten Paulskirche – das „ausgebrannte Oval“¹⁵ – zum entscheidenden Ausgangspunkt für den weiteren Umgang mit dem Gebäude. Allerdings scheiterte ein Wettbewerb zum Wiederaufbau zunächst mit Entwürfen, die nicht allein Alfons Leitl als einen „verspätete[n] architektonische[n] Aufmarsch des Dritten Reiches“¹⁶ brandmarkte. Daraufhin wurde mit dem Frankfurter Stadtbaurat Eugen Blanck sowie den Architekten Gottlieb Schaupp und Johannes Krahn eine Gruppe um den anerkannten Kirchenbaumeister Rudolf Schwarz mit dem Projekt beauftragt. Während in Frankfurt wenige Meter von der Paulskirche entfernt eine erbitterte Diskussion um die Rekonstruktion des Goethehauses geführt wurde, entwickelte diese Gruppe aus der „ganz entkleideten Ruine“¹⁷ ein starkes eigenes Konzept des Weiterbauens aus der Zerstörung, das Rudolf Schwarz wie folgt beschreibt: 15 Vgl. Fischer, 1947, S. 71; Leitl, 1947, S. 99. 16 Leitl 1947, S. 99. 17 Ebd.
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Abb. 4: Innenaufnahme der Paulskirche, März 2012, Foto: Rut-Maria Gollan. „eigentlich meinten die Frankfurter, es sollte alles wieder so nett werden, wie es war, […] während wir uns in den ausgebrannten Raum verliebt hatten, der gegen die Absichten seines Erbauers zu einer römischen Größe gediehen war.“¹⁸ „[…] die große Ruine war weitaus herrlicher als das frühere Bauwerk, ein riesiges Rund aus nackten, ausgeglühten Steinen von einer beinahe römischen Gewaltsamkeit [sic!]. So schön war das Bauwerk noch niemals gewesen, und wir erreichten, daß es so blieb. [Im Erdgeschoss] eine ganz niedrige Wandelhalle mit einem Kranz schwerer Tragesäulen aus Marmor. Aus der Wandelhalle steigt man auf zwei mit der Rundung der Wand geschwungenen Treppen in den hohen Saal hinauf. Das Erlebnis des Aufstiegs aus dem Dunklen und Drückenden ins Helle und Freie ist stark, und wir dachten uns etwas dabei. Der Bau sollte sagen, was die Versammlung in diesem Hause für unser Volk zu tun hatte. Wir hielten den Bau in einer fast mönchischen Strenge, er wurde mehr Kirche als Festsaal, und wir meinten damit die Gesinnung, in der die neue Gründung des Reiches erfolgen sollte.“¹⁹
Walter Dirks spricht in diesem Kontext davon, dass Mut zur Zukunft der Entschlossenheit entspricht, „Abschied zu nehmen von dem, was unwiderruflich vorbei ist.“²⁰ Die Paulskirche sollte weitergebaut, verwandelt, wie aus einem „Dornröschenschlaf“ erweckt und befreit neu erstehen.
18 Schwarz 1947, zitiert nach Bartetzko 1998, S. 4. 19 Schwarz 1960, S. 94. 20 Dirks 1947, S. 827–828.
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1.3.3 Die Inszenierung und Rezeption des Wiederaufbaus So wurde versucht eine Art Gründungsmythos deutscher Demokratie, eine (bisweilen verborgene) Kontinuität der Ideale von 1848, in diesen Wiederaufbau einzuschreiben und im Bau, aber auch in dessen Darstellung, das wiederholte Scheitern und Ringen um Freiheit und nationale Identität als schicksalhafte, aber auch reinigende Prozesse zu inszenieren. Bei der Grundsteinlegung 1947 betonte daher Ministerpräsident Stock: „Es geht nicht um Frankfurt, sondern um Deutschland, unser aller Vaterland. Die Frankfurter Paulskirche ist sein Haus und Sinnbild. Die Paulskirche ist das Haus der deutschen Demokratie und unser aller Schwur soll heute lauten, das heilige Gut der demokratischen Freiheit mit allen Kräften zu verteidigen und es nie wieder herzugeben.“²¹ Zur Realisierung dieses ersten Symbolprojekts in der schwierigen Nachkriegszeit war Frankfurt auf massive Unterstützung angewiesen und so wurde die Inszenierung der gesamtdeutschen Relevanz des Wiederaufbaus zum doppelten Programm. 1946/1947 erfolgte ein Spendenaufruf in dem die Paulskirche mit viel Pathos zum nationalen Wiederaufbauprojekt aller Deutschen erklärt wurde. Über die Grenzen der Besatzungszonen hinweg wurden daraufhin in einer „gemeinsamen Anstrengung“ mit Hilfe von Finanz-, Sach-, Arbeits- und Lebensmittelspenden – auch aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)²² – die Mittel zum Aufbau gestellt. Angesichts der sich abzeichnenden Teilung Deutschlands war allerdings gerade die gesamtdeutsche Perspektive zwischenzeitlich Gegenstand heftiger Debatten, da die Anstrengungen von Frankfurt am Main sich als künftige Hauptstadt und die Paulskirche als zukünftiges Parlament zu etablieren,²³ widersprüchlich aufgefasst wurden. Neben diesen nationalen Auseinandersetzungen vor allem mit der SBZ musste das Repräsentations- und Symbolprojekt aber auch gegenüber der notleidenden, vielfach obdachlosen Bevölkerung sowie politischen Organisationen gerechtfertigt werden.²⁴ So wurde nach der Grundsteinlegung der Paulskirche das Wiederaufbauprogramm für Frankfurt noch am gleichen Tag mit dem ersten Spatenstich für die Friedrich-Ebert-Siedlung fortgesetzt. Angepasst an die Bedürfnisse der Bevölkerung prägten nicht allein politische Festveranstaltungen das 100-jährige Jubiläum der Versammlung in der Paulskirche und deren Wiedereröffnung im Mai 1948. Darüber hinaus inszenierte man
21 Stock 1947, S. 13. 22 Klemm 2007, S. 418f. 23 Mommsen 2001, S. 64. 24 Balser 1995, S. 87.
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das Ereignis volksnah als Feierwoche mit einem Sternlauf aus den Gebieten der amerikanischen und britischen Besatzungszone und diversen Sportveranstaltungen.²⁵ Mit Genehmigung der Besatzungsmächte wurde die schwarz-rot-goldene Flagge gesetzt und auch hier der Bogen zu 1848 geschlagen.²⁶ Schon zur Wiedereröffnung der Paulskirche wurde in der Presse deren Wirkung und Bedeutung durchaus kritisch und aufmerksam verfolgt. Für Die Zeit bemerkte beispielsweise Robert Strobel: „Die Paulskirche ist das eindruckvollste Sinnbild der deutschen Demokratie. Aber sie ist es immer nur wenigen gewesen. Ihre Tradition wurzelt nicht im Volk.“²⁷ Obwohl die begrenzte Reichweite der Paulskirche also schon 1948 bewusst war, stellt die Paulskirche ein wichtiges Symbol eigenständiger, bürgerlich-demokratischer Tradition und nationaler Einheit dar. Gerade in der Besatzungssituation der Nachkriegszeit bildete sie für die politischen und intellektuellen Eliten einen wesentlichen Kristallisationspunkt demokratischer Identitätsstiftung.²⁸ So sicherte auch die Paulsgemeinde in dem Beibehalten des Namens eine ideelle Kontinuität obwohl sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in das Gebäude der Paulskirche zurückkehrte.²⁹ Bis heute ist die Paulskirche daher trotz der zunächst eingeschränkten Wirkkraft als gesamtdeutsches Symbol für Demokratie nicht zu unterschätzen. So fand sie beispielsweise als Bau und Synonym für die Nationalversammlung von 1848/49 Eingang in die „Deutschen Erinnerungsorte“³⁰ und wird 2015 zum Motiv der ‚hessischen‘ Zwei-Euro-Münze. In der Frankfurter Rundschau wird die SPD dazu folgendermaßen zitiert, die Paulskirche als „Sinnbild der Demokratie“ sei „das am besten geeignete und nahe liegende Motiv für eine Gedenkmünze“.³¹
25 Bauer 1997. 26 Klemm 2007, S. 429. 27 Strobel 1948. 28 Die Rezeption der Paulskirche stellt ein Beispiel im Rahmen des Dissertationsvorhabens zu politischer Repräsentationsarchitektur der Bonner Republik von Rut-Maria Gollan dar und wird dort mit Hilfe von Diskursanalyse und qualitativen Interviews eingehender untersucht. 29 Die evangelische Gemeinde ist nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr wirklich in die Paulskirche zurückgekehrt und seit 1949 in der Alten Nikolaikirche beheimatet (zunächst in der „Vereinbarung über den Wiederaufbau und die Benutzung der Paulskirche in Frankfurt a.M.“ von 1946 festgelegt, ab Mai 1953 offiziell vertragliche Regelung auf Dauer). Bis heute nennt sie sich trotzdem explizit mit einem gewissen Stolz Paulsgemeinde. Die Pastorin BraunbergerMyers sieht in diesem Verweis auf die Tradition der Paulskirche eine alltägliche Mahnung und Erinnerung an historische Entwicklungen und Brüche, die fortwährenden Einfluss auf die Identität der Gemeinde haben, vgl. auch Braunberger-Myers 2000, S. 293. 30 François/Schulze 2001. 31 Frankfurter Rundschau, Eine Münze für 1848, 02.09.2010.
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1.4 Amalgamierung: Mittel der Inszenierung zwischen Religion und Politik Einige Strategien und Konzepte der Symbolisierung treten in der Folge des Wiederaufbaus der Paulskirche immer wieder in den Vordergrund. Zunächst fällt die Inszenierung des Scheiterns als reinigender Prozess auf: die Nationalversammlung in der Paulskirche ist gescheitert, eine ‚angemessene‘ Erinnerungskultur konnte nicht entwickelt werden, schließlich ist im Nationalsozialismus gar das Gebäude zerstört worden. Aber erst in diesem sich fortsetzenden Scheitern offenbaren sich die tragenden und konstant vorhandenen Werte in ihrer Unverfügbarkeit. So offenbart die Ruine beispielsweise die ‚römischen Größe‘ des Raums, wobei die antike Architektur als Basis von Zivilisation und Kultur zitiert wird. Das heißt im Bau zunächst unverfügbar Inhärentes wird im Versagen und Scheitern wahrnehmbar. Daraus erklärt sich die regelrechte Pflicht zum Weiterbauen eben dieser Offenbarung. Zum Zweiten die Amalgamierung oder die doppelte Sakralisierung: Im Nationalsozialismus war die Paulskirche weder als Kirche noch als historischer Gedenkort akzeptiert. In Abgrenzung dazu bot es sich nun an, diese Ressourcen und die schon historisch angelegte Parallele der religiösen und politischen Legitimationsebene als gegenseitig verstärkendes Moment zur Inszenierung des demokratischen Neubeginns zu verknüpfen. Diese Verschränkung findet sich sowohl in zeitgenössischen Äußerungen – etwa wenn vom „heilige(n) Gut der demokratischen Freiheit“³² die Rede ist – als auch im Gebauten. Im „Weiterbauen“ im Schwarz’schen Sinn werden Symbole, Formensprache und Materialen auf ungewohnte Weise ineinander gearbeitet und dabei so selbstverständlich aufeinander bezogen, dass sie auch in der Rezeption nicht weiter hinterfragt werden: „Der Raum ist schneeweiß gestrichen und enthält nur das sehr einfache Gestühl, das Rednerpult und die Regierungsempore und eine Orgel“³³ (vgl. Abb. 4). Zunächst besticht die Struktur der Paulskirche also als Sakralraum mit einfachem Gestühl und marmornem Altarberg. Aber anstelle des Altars, der im Abendmahl auf die Gegenwart Gottes verweist, befinden sich ein „in Stein gemeißeltes“ Rednerpult aus Marmor und die entsprechende Regierungsbank.
32 Stock 1947, S. 13. 33 Schwarz 1960, S. 94.
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Es wird eine bauliche Verschränkung demokratischer Kultur – mit ‚Freiheit‘ und ‚Einheit‘ als besonders hochgehandelten Werten – mit dem religiösen Verweis auf gegenwärtige Präsenz, Ewiges und die letzte Begründung vollzogen. Die religiöse Nutzung durch die Paulsgemeinde und die politische Nutzung durch die Nationalversammlung lösten sich zunächst weitgehend reibungslos ab. Auch im öffentlichen, politischen Gedenken mit der Fassade der Paulskirche als ‚Folie‘ wurden andernorts rivalisierende Ansprüche vor der Zerstörung parallel geführt: innen sakral, außen profan. Im Wiederaufbau wurden sie dann zu einer amalgamierenden Transzendenzkonstruktion vereint; man könnte von einem zivilreligiösen Moment sprechen. Dabei entstand ein dauerhaften Zugriffen entzogener Raum, der den konkurrierenden Transzendenzbezügen keine klare Hierarchie zugesteht, sondern diese Spannung in der Schwebe hält.
2 Die Frauenkirche: ewig oder ewig verloren Für Heinrich Gerhard Franz „stellt“ Die Frauenkirche zu Dresden „die monumentalste Form dar, die die protestantische Predigtkirche gefunden hat“.³⁴ Dies konnte nur durch den kämpferischen Einsatz der Dresdner Bürger und Kirchenmänner gelingen, denn immer wieder hätte Graf Wackerbarth, als Repräsentant des katholischen Herrscherhauses versucht, die Pläne des Frauenkirchen-Architekten und Ratszimmerermeisters George Bähr zum Scheitern zu bringen.³⁵ Doch als Franz die Kirche als in mehrfacher Hinsicht vollendeten Bau so im Präsens schilderte, lag sie bereits seit fünf Jahren in Trümmern. Unbeeindruckt stand sie für ihn, wie auch für andere namhafte Kunsthistoriker und Denkmalpfleger gleichzeitig als Höhepunkt der Baugeschichte, der Religionsgeschichte und der nationalen Geschichte – drei linear angenommene, sich scheinbar parallel vollziehende Entwicklungen, die in der absoluten und alternativlosen Gestalt der Frauenkirche konvergieren. Anstelle einer Geschichte des wiederholten Scheiterns am Beispiel der Paulskirche, summieren sich zahlreiche Weiheveranstaltungen, wie 1743 zur Erbauung, 1934 zur Domweihe oder 1942 nach einer grundlegenden Renovierung, zu einer sich wiederholenden Erfolgsgeschichte. Diese trat anlässlich des abgeschlossenen Wiederaufbaus der Frauenkirche weitere 63 Jahre später erneut feierlich in Erscheinung: „In ihrer ganzen Monumentalität ist sie heute der Inbegriff des wiedererrichteten Dresden, der wiedererstandenen neuen Bundesländer, des wiedervereinten Deutschland und des vereinigten Europa. Im 18. Jahrhundert von 34 Franz 1950, S. 3. 35 Franz 1950, S. 20.
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Bürgern erbaut, ist auch der Wiederaufbau das Ereignis einer breiten, entschlossenen Bürgerbewegung“.³⁶ An diesem Reformationstag 2005 wurde die Frauenkirche zur Bühne kirchlicher wie säkularer Prominenz erhoben und stellte Symbolik aus einem Bestand zu Verfügung, der über die Jahre ihrer Existenz zu einem über ein Gottesbauwerk hinausgehenden Überschuss an Transzendenz angereichert wurde und offenbar zu Anlässen wie diesen abgerufen werden konnte. Unbefangen erklärten die Redner auch die Ruine der Frauenkirche von 1945 bis 1996 lediglich zum Provisorium innerhalb einer Vorbereitungsphase für den Wiederaufbau,³⁷ obwohl diese doch 1966 zum Denkmal erklärt, als Erinnerung an den Bombenkrieg, unverfügbar in ihrem mahnenden, weil auf Zerstörung verweisenden Charakter alternative Transzendenzangebote eröffnete. Konkurrierende Gruppen stützen sich in ihrer Interpretation der Frauenkirche offenbar auf Transzendierungen, nach deren Umfang, Eigenart und Wirksamkeit hier gefragt werden soll.
2.1 Umstrittene Geltung als Modell für den protestantischen Kirchenbau Das Fundament zur heroischen Frauenkirchen-Erzählung hatte Cornelius Gurlitt Ende des 19. Jahrhunderts gelegt, als er, bemüht den Barockstil für das Bauen seiner Zeit zu empfehlen, das 1726–1743 errichtete Bauwerk aufgrund seiner Monumentalität gleichzeitig als nationales Kunstwerk und reifen Bau des protestantischen Kirchenbaus anpries.³⁸ Das dem Barockstil unterstellte ‚Monumentale‘ implizierte im erweiterten Sinne für die Architektur eine gestalterische und völkische Einheit³⁹ und kursierte um 1900 unter reformerisch eingestellten Architekten als Leitidee. Als ‚monumentaler‘ Bau war die mit einer damals völlig neuartigen Kuppelkonstruktion errichtete Kirche für Gurlitt Kronzeuge einer frühen nationalen Emanzipation aus den fremdverorteten Stilismen klassischer Sakralbauten und deshalb für ihn Grund, sie als Vorbild bei der Formulierung des „Wiesbadener Programms“ (1891),⁴⁰ einer reichsweit angelegten Richtlinie für den protestantischen Kirchenbau, ins Gespräch zu bringen. Zweifellos hatte einst Frauenkirchenarchitekt George Bähr mit dem Ideal des Zentralbaus und der dynamischen Entwicklung der Formen tief in die Werkzeugkiste der römisch-katholischen Kirchenbaukunst gegriffen, dabei aber mit 36 Schächter 2006, S. 106f. 37 Z.B. Rede des Bischofs zur Weihe 2005. 38 Paul 1996, S. 170. 39 Behrens 1908, S. 46. 40 http://de.wikipedia.org/wiki/Wiesbadener_Programm (Zugriff am: 13.08.2012)
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den hohen Emporen über einem kreisrunden Auditorium das Predigtprinzip im Protestantismus exemplarisch gefeiert. Doch auch darin war die Frauenkirche für den Berliner Baurat und Kirchenbauer Ludwig von Tiedemann „zu monumental“, denn „hier sinke die Kirche zum Theater herab.“⁴¹ Auch sein Kollege Johannes Otzen fand hier den eigentlich benötigten Platz diesen „sinnlos übereinandergehäuften“ Emporen geopfert und damit die gesamte Frauenkirche als Modell für einen protestantischen Kirchenbau ungeeignet.⁴² Der Vorwurf der Trivialisierung durch das „Theatralische“ erwies sich wirksam im Umfeld einer damals kulturkämpferisch inspirierten Abgrenzung gegen die „Effektheischerei“ des „Jesuitenstils“⁴³ und für all diejenigen Architekten, die in der Neo-Gotik den einzig möglichen adäquaten Ausdruck des Protestantismus sahen, war ausgemacht, dass die in der Frauenkirche aufgefahrene transzendierende Formensprache eine protestantische Kultstätte profanisieren musste.
Abb. 5: Der Innenraum der Frauenkirche nach dem Wiederaufbau, Foto aus creative commons: http://simple.wikipedia.org/wiki/File:Frauenkirche_interior_2008_001-Frauenkirche_interior_ 2008_009.jpg, Attribution: Gryffindor. 41 Paul 1996, S. 174. 42 J. Otzen, Der Kongress für den Kirchenbau des Protestantismus am 24. und 25. Mai 1894 in Berlin, Johannes Otzen [Verfasser des Wiesbadener Programms 1891 mit Emil Veesenmayer]: Über die geschichtliche Entwicklung des protestantischen Kirchenbaues. 43 „Jesuitenstil“ erklärt in Meyers Konversationslexikon, 4. Auflage 1885–1892, S. 212.
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2.2 Umstrittene Geltung als Institution 1934 Wenn Löffler und Franz die Gestalt der Frauenkirche aus den schon vor ihrem Bau bekannten bautheoretischen Schriften Leonhard Christoph Sturms⁴⁴ oder unspezifischer von den „Forderungen des protestantischen Kirchenbaus der Zeit“⁴⁵ herleiten, ist das der späte Versuch, ihre um 1900 in Frage gestellte Rolle als Archetyp eines protestantischen Kirchenbaus im Nachhinein für ihre heroische Geltung zu mobilisieren. Da sie aber seit ihrer Entstehung auf eine Funktion als Predigt-, Trau- und Begräbniskirche beschränkt der Kreuzkirche am Altmarkt untergeordnet war und 1878 lediglich institutionell gleichgestellt wurde,⁴⁶ entsprach ihrem stadtbildbeherrschenden⁴⁷ baulichen Ausdruck keine adäquate institutionelle Geltung. Erst im Oktober 1934 erhielt sie mit der Ernennung zum ‚Dom‘ schließlich ein scheinbares Höchstmaß an institutioneller Geltung zugeschrieben: „Wie kommt die Frauenkirche erst nach 200 Jahren zu dieser Ehre und Ehrung?“ fragte damals das Kirchliche Gemeindeblatt. „Es liegt etwas Schicksalhaftes über der Geschichte unserer Frauenkirche, des Domes Sachsens. Von der Stunde an, da George Bähr seine Pläne dem Ratskollegium vorlegte, ist Kampf die Parole der Frauenkirche gewesen. Damals Kampf gegen Menschen, die Bähr den genialen Wurf und Entwurf missgönnten und mit allerlei Intrigen seine Verwirklichung zu hintertreiben suchten, heute ein nicht minder ernster Kampf um Erhaltung des Bauwerks. Das Bauwerk ist das Sinnbild evangelischer Opferfreudigkeit, […].“⁴⁸ Vor allen Dingen aber war es ein Kampf der ‚Deutschen Christen‘, einer dem Rassismus und völkischer Ideologie anhängenden regimekonformen Spielart des Protestantismus, um die führende Rolle unter den christlichen Bekenntnissen. Blieb die Paulskirche in der Zeit des Nationalsozialismus weitgehend marginalisiert, erlebte die Frauenkirche als eigenständig ‚deutsche‘ Leistung neue Zuwendung. Landesbischof Friedrich Coch stellte am Tag der Reformation „aufs neue den Taufstein und den Altar, die Gefäße und Geräte, die Orgel und die Glocken in den Dienst des Allmächtigen und seiner Kirche“.⁴⁹ In einem wechselseitigen Transzendenzzuspiel profitierten die ‚Deutschen Christen‘ infolge dieser magischen Handlung vom sakralen Material der Kirche und der darin angereicherten
44 Franz 1950, S. 3. 45 Löffler 1955, S. 69. 46 Lange 1953, S. 28. 47 Summerson 1987, S. 72. 48 „Der Dom zu Dresden – die Frauenkirche“, in Kirchliches Gemeindeblatt für Sachsen, 1, 15. Dezember 1934. 49 Dresdner Nachrichten: „Die Frauenkirche ist Sächsischer Dom“, Donnerstag, 16. Oktober 1934, Nr. 486, S. 5.
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christlichen Tradition, um im Gegenzug das seit der Erbauung schwelende institutionelle Geltungsmanko zu tilgen.
2.3 Symboltauglichkeit für die DDR Während nach Krieg und Zerstörung die Sächsische Landeskirche von jeglicher Wiederherstellung, sowohl des Bauwerks wie auch der Gemeinde, Abstand nahm, wurde auf Seiten der Dresdner Architekten, Denkmalpfleger und Kunsthistoriker in den 1950er Jahren der Wiederaufbau vehement befürwortet. Architekt Oswin Hempel nannte 1955 in der staatsoffiziellen Deutschen Architektur, die Frauenkirche eines der „originellsten und bedeutendsten historischen Großbauwerke“. Für ihn ist sie immer noch „das wichtigste Baudenkmal des protestantischen Kirchenbaus“, das die „monumentalste und ausdrucksvollste Form eines evangelischen Sakralgebäudes“ darstellt, weshalb ihr Wiederaufbau als „berühmtes nationales Wahrzeichen eine zwingende Notwendigkeit und eine der größten Hoffnungen“ bedeutet.⁵⁰ Erstaunlicherweise scheuten sich weder Hempel noch Kunsthistoriker Werner Lange, diese zumindest hinsichtlich ihrer kirchlichen Rolle diskreditierte Hagiographie an die Geltungsgeschichte des neuen Staates DDR zu koppeln. Lange rechnete damit, dass die „herrliche Elbansicht mit ihrer Vielzahl von Türmen wieder erstehen wird, bereichert durch die Bauten des neuen Staates, die sich machtvoll gen Himmel recken werden. […] Bald wird der Grundstein der Frauenkirche neu gelegt werden und sie aus ihren Trümmern auferstehen, nicht nur zum Ruhme ihres Baumeisters und als Denkmal protestantischen Glaubens, sondern auch als Symbol unserer neuen staatlichen Ordnung.“⁵¹ Max Seydewitz, nach dem Krieg zeitweise Ministerpräsident Sachsens, zeigte, dass dieses Hoffen auf den sozialistischen Staat zumindest in den 1950er Jahren nicht ohne Aussicht auf Erfolg war, denn auch diese Heldengeschichte war in seine offizielle Legendenschrift zu Zerstörung und Wiederaufbau Dresdens eingefügt: „Als der Protest gegen diese Mißwirtschaft [der höfischen Gesellschaft Sachsens; d. Verf.] entstand die Frauenkirche, die mit ihrer alles überragenden gewaltigen Kuppel zu einem monumentalen Trutzzeichen des Bürgertums gegen den Feudalismus und zu einem ganz besonders einprägsamen Wahrzeichen der Stadt Dresden wurde.“⁵² Auch der Staatssozialismus verwertete den Kanon der um die
50 Hempel 1955, S. 168. 51 Lange 1953, S. 32. 52 Seydewitz 1955, S. 14.
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Frauenkirche gestrickten Heldengeschichte – gemäß des marxistischen Finalismus jedoch lediglich als Etappe in einer darüber hinausweisenden gesellschaftlichen Entwicklung an deren Ende das Versprechen des kommunistischen Staates stand. Sowohl Paulskirche wie Frauenkirche waren in den Jahren 1848/49 Schauplätze revolutionärer Ereignisse und dienten ‚weltlichen Zwecken‘: dort als Ort des ersten demokratischen Parlaments, hier als zeitweiliges Gefängnis für 400 Dresdner Barrikadenkämpfer⁵³ und nach der Erschießung des demokratischen Publizisten Robert Blum wurde die Frauenkirche nach Seydewitz zum Ort einer Gedenkfeier, die vom ‚Deutschen Vaterlandsverein‘ zur Tarnung als kirchliche und nicht als politische Veranstaltung angemeldet worden war.
Abb. 6: Die Frauenkirche als Ruine, 1945–1995, in: Deutsche Architektur 4/1955, S. 167.
53 Lange 1953, S. 27f.
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2.4 Erinnerungskultur an 1945 in Konkurrenz zum Wiederaufbauprojekt Für die Politiker, Kirchenleute und Denkmalpfleger wie für die Wiederaufbauplaner um 1950 war der Ruinenzustand schlicht vorbereitender Übergang zu dem erlösenden Wiederaufbau, nichts weiter als „ein Berg von Steinen“⁵⁴ wie Werner Lange 1953 schrieb und auch Max Seydewitz betonte im damaligen Einklang mit der Staatsführung, dass vom „mächtigen Wahrzeichen der Stadt Dresden“ nichts übriggeblieben sei als „zwei einsam in die Luft ragende schmale Teile der Seitenwände und ein riesiger Trümmerhaufen.“⁵⁵ Schiere Überbleibsel, die dennoch im Verlauf ihres jahrzehntelangen Daseins den Status eines staatsoffiziellen Denkmals erhielten und ab 1982 sogar für einige Dresdner Bürger zum Anlass und Hintergrund sakraler Handlungen wurde, bis die Ruine durch den Wiederaufbau vernichtet wurde. De facto hatte die Bombennacht über Dresden am 13. Februar 1945 fast die gesamte Altstadt zerstört – bis auf die Frauenkirche, deren Kuppel auch nach dem Abzug der Bomber noch über den rauchenden Ruinen thronte. Der darin wütende Schwelbrand allerdings beeinträchtigte die Stützkonstruktion der Kuppel dermaßen, dass sie am Folgetag dann doch zusammenbrach und mit ihr das gesamte Gebäude. Diese Verzögerung auf der Bühne der Zerstörung bereicherte die Dresdner Untergangs-Erzählungen um einen Aspekt der Tragik und die Ruine fasste als deren Zeugnis den Hergang sprechender zusammen, als es andere Reste zerstörter Häuser in Dresden vermocht hätten – als durch Bomben informell geformte Gestalt, als anonyme Architektur entwickelte diese Ruine eine bildhafte Kraft, die in den Medien zum Symbol der Zerstörung Dresdens werden konnte: „Man sollte das Quadergebirge mit den beiden beschwörend aufragenden Mauerarmen so liegenlassen wie es ist. Mit einem Teppich aus Parkrasen ringsum würde stille Distanz gewahrt“, so Gottfried Paulsen in Die Zeit, der diesen Resten als „ein Denkmal vom Wahnsinn des Krieges, ein Mahnmal den allzu Vergesslichen“,⁵⁶ die Kapazität für eine nationale Bedeutung einräumte. Als anlässlich der Arbeiterfestspiele der Rat der Stadt Dresden am 5. Mai 1966 beschloss, die Frauenkirchenruine zu erhalten, bedeutete dies tatsächlich die Absage der offiziellen DDR an den Wiederaufbau. Längst stand nach dem Ende sowjetisch vorgegebener Baurichtlinien der Wohnungsbau im Vordergrund
54 Lange 1953, S. 30. 55 Seydewitz 1955, S. 103. 56 Paulsen 1957, S. 19.
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der Architektur, die sämtliche Mittel beanspruchte und damit in einem Offenbarungseid des Mangels mündete, gegenüber dem Geldangebote aus dem Westen für den Wiederaufbau als Hohn und Einmischung wirken mussten. Die Ruine war damit aus der Not geboren und die Aufladungen als „Mahnmal gegen Faschismus und Krieg“⁵⁷ entsprechend halbherzig. Schließlich hefteten sich ab 1982 inoffizielle Gedenk-Zeremonien an die Trümmer, die durch öffentlich zelebrierte Andacht, Besinnung und Sammlung, durch Grundformen des religiösen Handelns das Denkmal verlebendigten. Vor der Ruine hatte sich neben der verordneten Gedenkfarce für den Frieden eine Erinnerungskultur gebildet, die im Bild der völligen Zerstörung das Äquivalent zu den durch den Luftkrieg vernichteten Menschenleben thematisierte. Auch für diese Symbolisierung war der außerordentliche Kunstwert Voraussetzung, doch als Abwesenheit inszeniert. Exakt diese Gestalt, die Grad und Endgültigkeit der Zerstörung wiedergab, war ebenso wie die zur vollendeten Form stilisierte Idee der Frauenkirche unverfügbar gestellt. Bezeichnend für die Radikalität beider konkurrierender Frauenkirchen-Transzendierungen ist die Ablehnung jeglicher Abänderung dieser Male und sowohl Wiederaufbaubefürworter als auch Ruinenbefürworter wandten sich gleichermaßen gegen die um 1990 auftauchende Idee Helmut Trauzettels, die Frauenkirche als Konzerthalle, als Kulturpalast, Kongresshalle nach der Wende unter „Bewahrung des Originalen“, als ein „gewaltiges Gehäuse, aus der Gegenwart geboren“, jedoch die alte Silhouette nachahmend, und in der Krypta ein Denkmal an die „Sterbestunde der Stadt“⁵⁸ enthaltend, neu zu bauen. Dies wäre nicht „die öffentliche Meinung“⁵⁹ mutmaßte Dankwart Guratzsch und sein publizistischer Gegenspieler Manfred Sack verglich das mit einem Musikstück „in historischer Manier mit ein paar falschen Tönen und schrägen Klängen.“⁶⁰, womit der Kompromissvorschlag von beiden Seiten erfolgreich torpediert wurde.
57 http://lexi-tv.de/themen/staedte/dresden/symboltraechtiger_koerper (Zugriff am: 13.08.2012). 58 Sack 1990, S. 35. 59 Guratzsch 1996, S. 199. 60 Sack 1990, S. 35.
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60 Jahre blieb die Frauenkirche Ruine, als erneut Kanzel, Taufstein, Altar, Orgel und Kirchraum der Frauenkirche, diesmal durch Landesbischof Bohl und seine Amtsvorgänger Johannes Hempel und Volker Kreß, geweiht wurden. An diesem Reformationstag 2005 gesellten sich, im Unterschied zur deutsch-christlichen Domweihe zu den religiösen Würdenträgern Sachsens mit Bundeskanzler und Bundespräsident das höchste Personal des Staates, womit die Veranstaltung in einem Rahmen stattfand, in dem die Unverfügbarkeitsstellung des kirchlichen Inventars noch deutlicher über das reine Gottesdienst-Zeremoniell hinaus im Dienste des auf überregionale politische Wirkung zielenden Versöhnungsthemas stand.
Abb. 7: Entwurf Frauenkirche, Nachlass Helmut R. Trauzettel, Universitätsarchiv TU Dresden.
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Trotz der Wiederherstellung als kirchlicher Funktionsbau und trotz der von höchsten Kirchenfunktionären vollzogenen Weihe blieben religiöse Rituale an diesem Tag gegenüber den Praktiken nationaler Erlösungsgeschichte nur schmückendes Beiwerk. So wurde dieser Tag denn auch nicht zum Anlass genommen, die nach dem Krieg aufgelöste Gemeinde der Frauenkirche wiederherzustellen, womit der Bau lediglich als Ort der Predigt heute erneut institutionell der Kreuzkirche nachgeordnet ist. Stattdessen eröffnete der 2005 wieder aufgegriffene Topos der ‚entschlossenen Bürgerbewegung‘ den exklusiven Bezug zur Ursituation der Neubauweihe 1743. Öffentliche Spendensammlung, die Nutzung als politische Vortragsbühne⁶¹ und die identisch wiederaufgebaute Form waren damit als Wiederholung und Einlösung des einstigen Emanzipationsakts in einer 1990 wiedererstandenen Bürgernation erklärbar.
3 Fazit: Zwei Kirchen, wiederaufgebaut als zwei nationale Erzählungen Sowohl bei der Paulskirche wie bei der Frauenkirche begegnen sich konkurrierende Transzendenzmodelle, die den Zustand der Zerstörung zum Anlass nehmen, Geltungsgeschichten auszublenden oder zu kombinieren und für die eigenen Geltungskonstruktionen in Beschlag zu nehmen. Im Falle der Frauenkirche sind sie unversöhnlich: nicht nur, weil die Existenz des einen, die des anderen in der jeweils gebauten Form negierte. Der Kompromiss, die vielfältigen über ihre kirchliche Funktion hinausgreifenden Geltungsgeschichten eben gerade in ihrer Divergenz zum Thema zu machen, scheiterte gegenüber der Dominanz der mit dem Gestaltidentischen verbundenen Erlösungssymbolik. Demgegenüber blieb, trotz des (erneuten) Scheiterns der Paulskirche als Parlamentsbau neben der Aura des einstigen Sakralgebäudes die Wahrnehmung als Ursprungsort der deutschen Demokratie präsent: mit auf die nationale Gemeinschaft statt auf die lokale Glaubensgemeinschaft bezogenen Ritualen wird ein Ort für nationale, (zivil-)demokratische Transzendierung inszeniert. Dabei werden beide Bezugsebenen ohne klare hierarchische Zuordnung ineinander verschränkt und die Zuschreibung des Gebäudes bleibt in der Schwebe. So wird die Paulskirche gerade in ihrer Brüchigkeit, in der Scheitern zum reinigenden Wandlungsprozess stilisiert und auch der Bau selbst – wie Phönix aus der Asche 61 In der regelmäßige Veranstaltung „Forum Frauenkirche“ tragen prominente Vertreter aus der Politik in der Frauenkirche zu fundamentalen politischen Themen vor.
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in immer neuer Schönheit wiedererstanden – als Mahnmal einer als unverfügbar dargestellten Idee interpretiert. Somit begegnen sich nach 1945 das Weiterbauen im Sinne von Mahnen und Hoffen angesichts sichtbarer Brüche im Gebäude der Paulskirche und der Anklagegestus der Ruine, bzw. das Vollendungs- und Rekonstruktionsprinzip als versöhnendes Schließen der Wunde im Fall der Frauenkirche. Beiden gemein ist das dauerhafte Heilsversprechen des religiösen Verweises, das in den Dienst einer zivilgesellschaftlichen Vergangenheitsbewältigung gestellt wird.⁶²
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62 Dank an Alexandra Panzert und Greta Sinn.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Innenraum Paulskirche um 1830. Abb. 2: Friedrich Ebert Denkmal (Rekonstruktion 1950), März 2012, Foto: Rut-Maria Gollan. Abb. 3: Die Grundsteinlegung im ausgebrannten Oval am 17. März 1947. Abb. 4: Innenaufnahme der Paulskirche, März 2012, Foto: Rut-Maria Gollan. Abb. 5: Der Innenraum der Frauenkirche nach dem Wiederaufbau, Foto aus creative commons: http://simple.wikipedia.org/wiki/File:Frauenkirche_interior_2008_001-Frauenkirche_ interior_2008_009.jpg, Attribution: Gryffindor. Abb. 6: Die Frauenkirche als Ruine, 1945–1995, in: Deutsche Architektur 4/1955, S. 167. Abb. 7: Entwurf Frauenkirche, Nachlass Helmut R. Trauzettel, Universitätsarchiv TU Dresden.
Katharina Neumeister, Peggy Renger-Berka
Das Atom im Reagenzglas Die Kerntechnik als Legitimationsressource im öffentlichen Biotechnik-Diskurs
1 Einleitung In den öffentlichen Diskussionen um die Chancen und vor allem die Risiken der Biotechnik wird häufig explizit auf die Kerntechnik Bezug genommen. So steht beispielsweise die „Unschuld der Gentechnik“ der „Schuld der Atombombe“¹ gegenüber. Und dass die Gesellschaft verunsichert auf neue Technologien reagiere, zeige sich „an Beispielen wie Transrapid, Gentechnik, Kernenergie und Windkraft“.² In den ersten öffentlichen Diskussionen zu den sich neu entwickelnden biotechnischen Verfahren wird wiederholt auf die Gefahr der Kerntechnik hingewiesen, um damit in einem zweiten Schritt das Risikopotential der Gentechnik zu verdeutlichen. Dieser Argumentationslinie folgt ein Großteil der Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften und mündet im Allgemeinen in einer Ablehnung oder zumindest Kritik an der Gentechnik sowie in einer Betonung der Notwendigkeit staatlicher Regelungen der Technik.³ Vereinzelt kommt es jedoch auch zu einer anderen Einschätzung der Gefahren von Kern- und Biotechnik.⁴
1 Krause, Peter (2001), Wenn ihr nicht werdet wie die Desoxyribonukleinsäuren, in: Die Welt online, 20.06.2001, http://www.welt.de/print-welt/article458153/Wenn-ihr-nicht-werdet-wiedie-Desoxyribonukleinsaeuren.html (Zugriff am: 11.11.2011). 2 Illinger, Patrick (2007), Die Angst vor der Technik, in: Süddeutsche Zeitung, 05.02.2007, http://www.sueddeutsche.de/leben/handys-und-das-krebsrisiko-die-angst-vor-dertechnik-1.851763 (Zugriff am: 11.11.2011). 3 Vgl. u.a. Horn, Karen (2001): Die Gentechnik-Debatte: Wirtschaft versus Ethik?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 125, 31.05.2001, S. 20f. 4 So stellt der Molekularbiologe Eckhard Wolf in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung fest, dass die Atombombe ein weitaus größeres Gefahrenpotential aufweise als das Klonen; vgl. Wormer, Holger (2001), Ein Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene. Zur Lage der Reproduktionsmedizin: Ein Gespräch mit dem Münchner Molekularbiologen Eckhard Wolf, in: Süddeutsche Zeitung, 09.03.2001, http://www.sueddeutsche.de/wissen/menschenklonen-ein-mensch-ist-mehr-als-die-summe-seiner-gene-1.602602 (Zugriff am: 11.11.2011). In einem Artikel über die facebook-Entwicklung ‚Timeline‘ in Die Zeit stellt Nina Pauer fest, dass Kern- und Gentechnik mittlerweile keine starken Ängste und Hoffnungen auslösen, sondern dass diese verstärkt im Zusammenhang mit der Kommunikationstechnologie und den sozialen
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Bereits in einem Beitrag der Zeit aus dem Jahr 1964 setzt Günther Weitzel vom Physiologisch-Chemischen Institut der Universität Tübingen die Kern- und die Gentechnik hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, Folgen und Risiken zueinander in Beziehung. Er erwartet von der ‚chemischen Genetik‘ so weitreichende ethische wie weltanschauliche Veränderungen, dass er deren Gefahrenpotential deutlich höher einschätzt als das der Atombombe.⁵ In einem Bericht des Spiegel über die Fortschritte der biochemischen Forschung aus dem Jahr 1970 wird die Entwicklung der Gentechnik als eine „galoppierende Hybris“⁶ bezeichnet, wobei auch hier der Bau der Atombombe vergleichend herangezogen wird, um auf eine Technik zu verweisen, die nach ihrem vielversprechenden Beginn in Katastrophen für Mensch und Umwelt endete. Außerdem lassen sich Befürchtungen finden, dass sich die Gentechnik zeitlich wesentlich schneller als die Kerntechnik oder die Raumfahrt entwickeln könne und dass deswegen rasch ein Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Gefahren der neuen Technik wie auch eine Kontrolle der Forschung etabliert werden müsse.⁷ Auch in der Sekundärliteratur werden die Kerntechnik- und die Biotechnikdiskussion miteinander in Beziehung gesetzt.⁸ Joachim Radkau⁹ beispielsweise zeichnet den historischen Verlauf des Rückgriffs auf die Kerntechnik in der Gentechnik-Debatte nach und widmet sich vor allem der Frage, welche Funktion dieser Parallelisierung zukommt und welche Aussagen sich aufgrund der Inbeziehungsetzung von zwei Techniken generell über die Einführung und gesellschaftliche Etablierung neuer Techniken machen lassen. Für Radkau sind die Diskussionen um die Gentechnik ‚Inszenierungen‘, die auf Motive und Argumentationen aus der Kerntechnik-Debatte zurückgreifen. So werde die Formel von der Fortsetzung des ‚Atomzeitalters‘ durch das ‚Zeitalter der Biotechnik‘ ersetzt. Radkau deutet den Verweis auf die Kerntechnik im Gentechnik-Diskurs als einen Versuch, die Ängste, die durch die molekularbiologischen Verfahren ausgelöst werden, zu verbalisieren und mit diesen umzugehen. Letztlich diene allerdings der Verweis auf die Kerntechnik immer wieder als Legitimation für die Forderung
Netzwerken auftreten; vgl. Pauer, Nina (2011), Die Utopie ist da, in: Die Zeit, 40, 29.09.2011, http://www.zeit.de/2011/40/Facebook-Timeline (Zugriff am: 01.12.2011). 5 Vgl. Dröscher, Vitus (1964), Mutation – Eine Kette von Zufällen, in: Die Zeit, 34, 21.08.1964, http://www.zeit.de/1964/34/mutation-eine-kette-von-zufaellen (Zugriff am: 10.11.2011). 6 o. A. (1970), Senkrecht zur Hölle, in: Der Spiegel, 52, 21.12.1970, S. 114–124; hier: S. 116. 7 Vgl. u.a.: o.A. (1970), Ritt auf dem Tiger, in: Der Spiegel, 1, 05.01.1970, S. 34–37. 8 Der Schwerpunkt liegt hier auf den 1970er bis 1980er Jahren. Die aktuellen Debatten werden in der Forschung jedoch bislang noch nicht in den Blick genommen. 9 Vgl. Radkau 1988.
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nach öffentlichen, staatlich gelenkten Kontrollen, um größere Fehlentwicklungen bei der Realisierung der Gentechnik zu verhindern. Kirsten Brodde¹⁰ geht bei ihrer Untersuchung der Gentechnik-Problematik in der deutschsprachigen Presse in den 1970er und 1980er Jahren vor allem auf die mediale Präsenz und die Berichterstattung über die Kerntechnik ein und stellt die Frage, ob die einseitige Darstellung der Kerntechnik in den Medien hinsichtlich ihrer Risiken, Spätfolgen und Möglichkeiten auch für die Gentechnik zutreffe. Bernward Joerges, Gotthard Bechmann und Rainer Hohlfeld¹¹ stellen fest, dass sowohl die Kern- als auch die Biotechnik verstärkt öffentliche Diskussionen auslösen und dass im medialen Diskurs über die Techniken Metaphern für die gesellschaftliche Deutung von Ängsten, Hoffnungen und Zukunftsvorstellungen bereitgestellt werden. Indem die Kern- und die Biotechnik in den öffentlichen Diskussionen mit verschiedenen Vorstellungen, Symbolen und Metaphern verbunden werden, würden Mensch, Gesellschaft und Umwelt gedeutet und die Techniken selbst in ihrer (wissenschaftlichen wie ethischen) Komplexität reduziert. Hier schließt der vorliegende Beitrag an: Analysiert werden soll nicht der historische Verlauf des sich auf die Kerntechnik beziehenden Biotechnik-Diskurses. Vielmehr stehen die öffentlichen Diskussionen über molekularbiologische Verfahren am Menschen mit ihren Motiven, Bildern und Metaphern des Transzendenten sowie deren Deutungs- und Argumentationsmuster im Zentrum der Untersuchung. Da in den Diskussionen explizit auf Motive der christlichen Dogmatik (‚Schöpfung‘, ‚Sünde‘, ‚Heil/Heilsversprechen‘, ‚Paradies/Paradiesvertreibung des Menschen‘) zurückgegriffen wird, sollen diese in ihrem theologischen Kontext analysiert werden. Auch wird die Frage thematisiert, welche Rolle und Funktion der religiösen Symbolik besonders im Prozess der Legitimierung und Ablehnung moderner Technik zukommt.¹² Zudem werden Ausschnitte aus der theologischen Diskussion vorgestellt, in der die Auseinandersetzung mit der Kerntechnik als Legitimationsressource für den Umgang mit den verschiedenen biotechnischen Verfahren am Menschen dient.
10 Vgl. Brodde 1992. 11 Vgl. Joerges/Bechmann/Hohlfeld 1984. 12 Vgl. hierzu auch Wegner 1998.
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2 Die Kerntechnik als Thema des öffentlichen und theologischen Biotechnik-Diskurses Sowohl die Kerntechnik als auch später die biotechnischen Anwendungen am Menschen lösten zunächst ein hohes Maß an Faszination und Hoffnung aus, ebenso aber auch Ängste und Abwehr. In einem Beitrag in der Zeit vom September 2011 werden die Reaktionen auf die vormals neue Kern- und Biotechnik rückblickend unter dem Begriff der „Lustangst“¹³ zusammengefasst. Bereits in den frühen öffentlichen Diskussionen wird argumentiert, dass bestimmte Hoffnungen und Erwartungen im Zusammenhang mit der Nutzung der Kernenergie mit dem Abwurf der Atombombe obsolet geworden seien. In der hier konstruierten Erzählung steht der Bau der Atombombe am Ende einer (positiv) visionären Entwicklung der Kerntechnik, weswegen eine einst mit Hoffnungen verbundene Technik durch ihre militärische Anwendung zu einer Bedrohung geworden sei. Die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki¹⁴ werden schließlich zu einem Topos, um die Gefahr einstmals hochgelobter Technologien zu illustrieren und auf mögliche Risiken der Gentechnik hinzuweisen. Unterschlagen wird dabei jedoch, dass der eifrig betriebene Bau und Abwurf der Atombombe durch die USA im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und der Furcht der Alliierten vor einem atomar bewaffneten Deutschland zu sehen ist.¹⁵ Eine zentrale These der vorliegenden Untersuchung lautet deshalb, dass die Entwicklung der Kerntechnik in den öffentlichen Diskussionen so konstruiert wird, dass sich Parallelen zur Biotechnik-Entwicklung ziehen lassen. Letztere wiederum wird in ihrem Hergang ähnlich verkürzt wiedergegeben und gestaltet, um Ähnlichkeiten zur Kerntechnik aufzuweisen: Bei beiden Techniken stehen zunächst die Visionen und deren Potential für das Gemeinwohl im Mittelpunkt, um die Negativentwicklungen eindrucksvoll abzusetzen – unbegrenzte Energie und Atombombe auf der einen Seite, Gesundheit und Angst vor der Verletzung der Menschenwürde auf der anderen. Im öffentlichen Diskurs werden die Kernspaltung und die damit verbundenen Hoffnungen sowie die Ablehnung der Kerntechnik durch den Bau der Atombombe zu einem dominanten Argument der öffentlichen Diskussionen stilisiert, um vor möglichen Fehlentwicklungen der Gentechnik zu warnen. In einem Großteil der Diskussionen werden folglich
13 Vgl. Pauer 2011, siehe Anm. 4. 14 Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 wird auch dieser zu einem Topos in dieser Geschichtskonstruktion. 15 Vgl. Renger-Berka 2012.
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weniger die realistischen Risiken und Potentiale von Kern- und Biotechnik thematisiert. Vielmehr kommt es immer auch zu einer Deutung ihrer sozialen und gesellschaftlichen Dimension. Um die Argumentation von der Gefahr, die im Anschluss an die Kerntechnik nun von der Gentechnik ausgehe, zu unterstützen, wird wiederholt der Biochemiker und Kritiker der sich entwickelnden Biotechniken Erwin Chargaff herangezogen. Er betont, dass sowohl die Kern- als auch die Gentechnik die Menschheit bedrohen und dass die Wissenschaft mit beiden Techniken ‚Schranken‘ und ‚Grenzen‘ übertreten habe, die zuvor als unverfügbar galten. Eine Parallele sieht er weiterhin in der Belastung zukünftiger Generationen, die durch die umstrittene Endlagerung von Atommüll und die Veränderung des Erbgutes entstünden. Allerdings überbiete die Gentechnik bisherige Technologien, da die genetische Veränderung von Lebewesen absolut irreversibel sei.¹⁶ Die Wissenschaften selbst seien laut Chargaff nicht fähig, ihre Grundsätze und Werte so weit zu verändern, dass sie negativen Technikentwicklungen begegnen können, vielmehr müsse sich die Denkart des Menschen so ändern, dass sie „einer neuen religiösen Erleuchtung gleichkäme“.¹⁷ Neben Chargaff wird in der deutschsprachigen Diskussion weiterhin immer wieder auf den US-amerikanischen Soziologen und Biotechnik-Kritiker Jeremy Rifkin verwiesen. Auch dieser zieht die Kerntechnik heran, um auf Gefahren der Gentechnik hinzuweisen: „Welche enormen Vorteile wurden uns in den 50er Jahren von der Einführung der Atomtechnik und der Petrochemie versprochen! Wir waren so besessen von den angeblichen Wohltaten, dass wir gar nicht nach den möglichen Risiken gefragt haben.“¹⁸ Der Topos einer erschwerten Überzeugungsarbeit, die nach der Nutzung der Kernspaltung im militärischen Bereich geleistet werden müsse, um der Gesellschaft den Nutzen der Gentechnik näher zu bringen, begegnet dabei sowohl in der älteren als auch in der aktuellen Diskussion des Themas. So wird verstärkt darauf hingewiesen, dass der Kerntechnik eine breite gesellschaftliche Zustimmung fehle und dass diese Negativentwicklung, die in den öffentlichen Diskussionen bereits zu beobachten sei, für die Gentechnik verhindert werden müsse.
16 Vgl. o. A. (1979), Höhlt das Hirn, in: Der Spiegel, 48, 26.11.1979, S. 240–254. 17 Franke, Klaus (1993), „Die Welt wird zum Labor“. Folge IV: Widersprüche des wissenschaftlichen Fortschritts, in: Der Spiegel, 8, 01.04.1993, S. 130–145; hier: S. 145. 18 Schumann, Harald/Franke, Klaus (1987), „Wir halten sie auf, bis die Hölle zufriert.“ Der amerikanische Gentechnik-Kritiker Jeremy Rifkin über die Gefahren des biologischen Zeitalters, in: Der Spiegel, 26, 22.06.1987, S. 168–173; hier: S. 169.
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Denn maßgeblich für die Realisierung und Nutzung einer Technik sei deren öffentliche Anerkennung.¹⁹ In den öffentlichen Diskussionen der letzten zehn Jahre werden die Ängste und Hoffnungen, die Techniken auslösen können und Teil der gesellschaftlichen Deutung von Technik sind, stärker explizit thematisiert: So werden mit der Kernund der Biotechnik nicht mehr nur Frieden, Gesundheit und Fortschritt auf der einen und Zerstörung, Angst vor unumkehrbarer Veränderung des Erbguts und Eingriffen in die ‚Würde‘ oder ‚Natur‘ des Menschen auf der anderen Seite verbunden. Vielmehr geht es um die Diskrepanz zwischen möglichen und tatsächlichen Realisierungen moderner Techniken und den Ängsten und Hoffnungen, die sie auslösen. Thematisiert wird dabei auch, dass dieser Prozess stets von kulturellgesellschaftlichen Vorstellungen vom Menschen und vom Leben beeinflusst wird und dass neue Techniken immer auch die bisherigen Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft in Frage stellen und verändern.²⁰ Da gegen die Biotechnik nicht mehr, wie einst in den medial präsenten Aktionen der Anti-Atomkraftbewegung, öffentlich protestiert werden könne und weiterhin die Eingriffe in das Genom im Gegensatz zur Halbwertzeit des Atoms unumkehrbar seien, bleibe sie gefährlich.²¹ In dieser Argumentation ist die Biotechnik nicht nur gefährlicher als die Kerntechnik, vielmehr werden die gesellschaftlichen Vorstellungen von Elternschaft, Freiheit und Gemeinschaft verändert und die Biotechnik werde damit zu einer wirklichen Gefahr des Menschen – sowohl in seiner individuellen, wie auch seiner sozialen Dimension.²² Die Atombombe könne, wenn sie einmal eingesetzt werde, Mensch und Natur physisch zerstören; die Biotechnik hingegen zerstöre, mit Ausnahme der so genannten verbrauchenden Embryonenforschung, kein Leben. Sie verändere aber die gewachsenen Vorstellungen des Menschen von sich selbst und seinem Gegenüber und könne so zu einer nicht mehr rückgängig zu machenden Bedrohung für den Einzelnen und das soziale Miteinander werden. Weiterhin wird beim Vergleich mit der Biotechnik – und neuerdings mit der Nanotechnologie, der Kommunikationstechnologie und den sozialen Netzwerken – auch betont, dass die Kerntechnik und besonders der Bau von nuklearen Vernichtungswaffen durch die benötigten Rohstoffe,
19 Vgl. u.a.: Popp, Manfred (2000), Wissenschaft macht Spaß. Die Zeit der Elfenbeintürme ist vorbei, in: Die Welt online, 28.10.2000, http://www.welt.de/print-welt/article541028/ Wissenschaft-macht-Spass.html (Zugriff am: 11.11.2011). 20 Vgl. hierzu besonders Macho, Thomas (2008), Angst vorm Doppelgänger, in: Die Zeit, 6, 31.01.2008, http://www.zeit.de/2008/06/Kuenstliches-Leben (Zugriff am: 01.12.2011). 21 Vgl. Schirrmacher, Frank (2001), Der Embryo im Zeitalter Gerhard Schröders, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 118, 22.05.2001, S. 49. 22 Ebd.
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das detaillierte Fachwissen und die großen technischen Anlagen letztlich hinsichtlich ihres Gefahrenpotentials überschaubar seien. Außerdem: „Eine Bombe explodiert nur einmal […].“²³ Auch in theologischen Diskussionen findet sich der Vergleich von Kern- und Biotechnik, um über den Verweis auf die Atombombe und die Gefahren eines Reaktorunfalls vor der Entwicklung und Anwendung der Gentechnik zu warnen: Das Forschen am Gen als „Atom der Biologen“²⁴ wird dabei meist abgelehnt, da das Gefahrenpotential der Gentechnik aufgrund des Eingriffs in nicht mehr sichtbare Bereiche zu hoch und unkalkulierbar sei. Die Risiken der Kerntechnik und der Verweis auf diese dienen auch hier als Legitimation für die Ablehnung der Gentechnik. Der evangelische Theologe Günter Altner, der die Entwicklungen in Naturwissenschaft und Technik über Jahrzehnte kritisch beobachtete, verweist wiederholt auf die Kerntechnik, um daran die bestehenden und kommenden Gefahren zu illustrieren, die mit der Anwendung der Gentechnik am Menschen verbunden seien.²⁵ Auch in ihren Argumentationsstrukturen unterscheiden sich die evangelischen Theologen, welche die Gentechnik ablehnen oder einer kritischen ethischen Einschätzung unterziehen,²⁶ oftmals nicht von den gesellschaftlichen, medial dokumentierten Technik-Debatten. Jedoch begründen sie ihre Haltung mit einem Verweis auf das christliche Menschen- und Weltbild und dessen Deutungsmacht wie auch mit der Kritik an einer so verstandenen ‚Verfügbarmachung‘ von Mensch und Natur durch die Technik. Dabei werden zwar Topoi, wie der des „Eingriffs in die göttliche Schöpfung“,²⁷ gebraucht, die auch in nicht-theologischen oder nichtkirchlichen Kontexten verwendet werden. Allerdings treten sie hier in Verbindung mit einem Anspruch unbedingter Geltung dieses christlichen Welt- und Menschenbildes auf: Die Theologie soll (weiterhin) erklären, was den Menschen und das
23 Joy, Bill (2000), Warum die Zukunft uns nicht braucht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 130, 06.06.2000, S. 49. 24 Dufner, Markus (1998), Der anmaßende Griff nach den Kernen, in: Publik Forum 13, S. 22. 25 Vgl. u.a. Altner, Günther (2002), Der Wert des Menschen und das Genkapital, in: Lasst uns Menschen machen. Theologie und molekulare Medizin, hg. von Severin J. Lederhilger, Frankfurt a.M. sowie Ders. (1998), Leben in der Hand des Menschen. Die Brisanz des technischen Fortschritts, Darmstadt. 26 In der akademischen theologischen Diskussion findet sich daneben jedoch eine differenzierte Auseinandersetzung mit den verschiedenen biotechnischen Anwendungen am Menschen, die nicht ausschließlich zu einer Ablehnung oder Kritik der Biotechnik kommt. In diesen Beiträgen, beispielsweise von Hartmut Kreß, Klaus Tanner und Trutz Rendtorff, wird Biotechnik nicht mit der Kerntechnik verglichen. 27 Dufner 1998, siehe Anm. 24.
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Leben ausmacht und an diese Stelle sollen nicht Naturwissenschaft und Technik treten. So wird beispielsweise kritisiert, dass Biologie und Gentechnik „Utopien von ewiger Jugend und ewiger Gesundheit“²⁸ verkünden, wo dies – nämlich die Erklärung des Menschen und der Sinn des Daseins im Horizont der christlichen Verkündigung und der Bindung Gottes an den Menschen – doch die Funktion von Religion sei. Vor allem Altner verweist darauf, inwieweit die Genetik ein einseitiges Menschenbild verbreite, indem sie eine Vollendung des Menschen in den Bereich des Möglichen rücke, die nur durch Gott, nicht aber durch die Technik geschehen dürfe. Auch trage die Gentechnik zu einer Missachtung der nicht durch den Menschen gemachten Umwelt und des „uns tragenden Unverfügbaren“²⁹ bei. Technik wird bei ihm zu einer Bedrohung des Transzendenten. Es gibt wenige Beiträge zur Biotechnik-Debatte, in denen ein Vergleich mit der Kerntechnik und auch mit dem Bau der Atombombe abgelehnt bzw. deren Zerstörungskraft als weitaus größer als die der Gentechnik eingeschätzt wird. Dort, wo der Vergleich mit der Atombombe abgelehnt wird, wird auch die Biotechnik nicht so stark kritisiert und deren Nutzen besonders für die Herstellung von Medikamenten betont: „Sechs Jahre nach Einsteins Brief an Präsident Roosevelt vom 2. August 1939, in dem er die Anregung zum Bau der Bombe gab, wurden im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki 260.000 Menschen getötet und 163.000 schwer verletzt. Dagegen ist in den 25 Jahren nach dem ersten Gentechnik-Experiment nicht nur keinem einzigen Menschen ein Leid geschehen, vielmehr können allein zweihunderttausend Dialysepatienten weltweit – um nur ein Beispiel zu nennen – mithilfe eines gentechnisch hergestellten Medikaments, dem Erythropoitin, wieder ein freudvolles, nahezu normales Leben führen.“³⁰
Hier wird dem Zerstörungspotential der Kerntechnik die Aussicht auf Gesundung und eine verbesserte Lebensqualität durch die Entwicklungen der Gentechnik gegenübergestellt – die Hoffnungen, die mit der Kernspaltung einhergingen, haben sich nicht dort, sondern erst später durch die technische Umsetzung molekularbiologischen Wissens umsetzen lassen.³¹ An dieser Stelle wird deutlich, wie die Transzendenz-Bezüge der Biotechnik (Gesundheit, freudvolles Leben) vor
28 Lassek, Reinhard (2002), Der Embryo in der Maschine, in: Zeitzeichen, 11, S. 39–41. 29 Altner, Günther (1988), Für eine Ethik des behutsamen Umgangs mit dem Leben, in: Biotechnik – Gentechnologie – Reproduktionsmedizin, hg. von Josephine Gras und Hans-Georg Wehling, Stuttgart, S. 167–178 hier: S. 169. 30 Tanner, Widmar (1998), Expeditionen in den Zellkern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 200, 29.08.1998, S. 3. 31 Später werden an dieser Stelle auch die „großartige[n] therapeutische[n] Entwicklungen“ (ebd.) der Gentechnik, die auch für die Zukunft von Bedeutung sein werden, erwähnt; erst
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dem Hintergrund der Atombombe ihre Wirkung erzielen können und die Transzendenz-Bezüge der zivilen Nutzung der Kerntechnik (Energie, Frieden) konterkarieren. Die Biotechnik wird hier im Gegensatz zur Atombombe als eine wenig risikobehaftete Technik entworfen.
3 Motive des Transzendenten in der öffentlichen und theologischen Biotechnik-Diskussion In einem Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1993 wird die Entwicklung wie auch eine kritische Reaktion auf die visionären Anfänge der Kerntechnik durch die Gegenüberstellung eines einst „blühenden Atomzeitalter[s]“ und des „bröckelnde[n] ‚Sarkophag[s]‘ von Tschernobyl“³² illustriert. Die Gentechnik gehe mit noch größeren Hoffnungen und Fantasien einher, die gerade aus diesem Grund aber auch Anlass zu größerer Aufmerksamkeit böten: „dieses Biomodell mit seinen die Phantasie beflügelnden Möglichkeiten wird die Welt gründlicher auf den Kopf stellen als jede frühere technische oder wissenschaftliche Revolution, die Atomspaltung einbegriffen“.³³ Der Soziologe Ulrich Beck sprach 1988 im Spiegel in Bezug auf die Gentechnik von einem „atomaren Unbehagen – angesichts der molekularbiologischen Forschung und technischen Umsetzung sogar bis in das Lager der streng Technikgläubigen hinein“.³⁴ Gentechnik erscheint hier aufgrund der angenommenen Gefahren als Höhepunkt einer ungewissen Technikentwicklung, die es vermag, den Wissenschafts- und Fortschrittsoptimismus zu dämpfen. Laut Beck übertrifft sie damit sogar die Kerntechnik. Auffallend an dem Essay Becks ist, dass er sich bei seiner Kritik an der Gentechnik Motiven der Transzendenz bedient, die ihren Ursprung in der christlichen Dogmatik haben. So spricht Beck vom „Abwehrglaube an die unbefleckte Empfängnis technischer Errungenschaften“,³⁵ von einer „gentechnologischen Schöpfungschirurgie“,³⁶ vom „wissenschaftlichen
im Verlauf des Beitrags wird eingeräumt, dass die somatische Gentherapie bis zu diesem Zeitpunkt ein „Problemfeld“ sei. 32 Franke 1993, S. 131; siehe Anm. 17. 33 Ebd. 34 Beck, Ulrich (1988), Eugenik der Zukunft, in: Der Spiegel, 47, 21.11.1988, S. 236f.; hier: S. 236. 35 Ebd. 36 Ebd. Die Akteure der Gentechnik wurden in den Diskussionen der 1970er und 1980er Jahre häufig als „Gen-Chirurgen“, „Gen-Alchimisten“ oder „Gen-Ingenieure“ bezeichnet; insofern verwendet Beck zwar ungenaue, aber durchaus gebräuchliche Ausdrücke.
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Segen der Genberatung“³⁷ oder von einer den Eltern „zugewiesenen mitgöttlichen Schöpferrolle“,³⁸ um deutlich zu machen, dass der Mensch mithilfe der Gentechnik imstande sei, über das Leben zu verfügen. Diese so verstandene Verfügbarmachung des Menschen ist für Beck Grund, die Gentechnik abzulehnen. Jenseits inhaltlich theologisch-ethischer Argumentationen macht Beck damit seine Technikkritik deutlich: Dem Menschen in seinem Handeln sind Grenzen gesetzt, die durch Eingriffe in die Gene verletzt würden. Auszudrücken vermag er das besonders mithilfe der Vorstellung der Schöpfung, eines religiösen Motivs, das die Debatten um die Biotechnik bis in die Gegenwart begleitet.³⁹ ‚Schöpfung‘ fungiert bei Beck, wie meist auch in zahlreichen älteren und aktuellen Kommentaren zur Biotechnik, als eine statisch-abgeschlossene Vorstellung von Natur und Leben, die keinerlei Veränderungen bedarf. So verstanden, und eben nicht in der theologischen Deutung von Schöpfung als eines Mitwirkens und Mithandelns des Menschen an der von Gott gegebenen Umwelt, wird die ‚Schöpfungs‘Metapher zu einem Argument, das die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Gentechnik gerade nicht zulässt, weil sie Natur und Mensch zu einer unveränderlichen Größe erhebt. Thematisiert wird außerdem nicht, welche Vorstellungen vom ‚Menschen‘ und der ‚Natur‘ (beide Begriffe prägen maßgeblich die Auseinandersetzungen mit moderner Technik) mit dieser Verwendung des ‚Schöpfungs‘Motivs einhergehen. Weiterhin fällt auf, dass Beck mögliche Folgen einer Technik wiederholt mithilfe der Sünden-Metapher thematisiert. So wertet er die Kerntechnik als ein erstes Anzeichen von ‚Sünde‘, derer sich der Mensch durch seine technischen Entwicklungen schuldig mache, und die Gentechnik schließlich als die endgültige Widerlegung der ‚Unschuld‘ der Technik. Wenngleich der Sünden-Begriff in diesem Kontext nicht in seiner theologischen Bedeutung als Ausdruck der Trennung zwischen Gott und Mensch verwendet wird, kann er doch in seiner alltagssprachlichen Verwendung – im Sinne einer moralischen Verfehlung – die Diskussion über die Kern- und Biotechnik unverfügbar stellen: Mit ‚Sünde‘ und ‚Schuld‘ weist Beck der Kern- und der Biotechnik kulturell geprägte Negativ-Titulierungen zu, um die Diskussion abzuschließen und die tatsächlichen Möglichkeiten und Risiken beider Techniken nicht mehr zu thematisieren. Verstärkt wird diese Argumentationslinie noch durch das Setzen eines Beginns der Technikentwicklung,
37 Ebd., S. 237. 38 Ebd. 39 Vgl. u.a.: Büschemann, Karl-Heinz (2010), Wissen statt glauben, in: Süddeutsche Zeitung, 06.03.2010, http://www.sueddeutsche.de/wissen/neue-technologien-wissen-stattglauben-1.3581 (Zugriff am: 11.11.2011).
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den Beck als „unbefleckte Empfängnis technischer Errungenschaften“⁴⁰ bezeichnet. Hieran wird deutlich, dass er vor allem eine Bewertung der Gentechnik vornimmt, und nicht untersucht, auf welchen Gebieten sie zum Einsatz kommen kann, welche Möglichkeiten sie bietet oder wie mit möglichen Risiken und Fehlentwicklungen umzugehen sei. Beck schreibt über die gesellschaftliche wie individuelle Bedeutung, die er der Gentechnik zumisst. Dabei bedient er sich unter anderem religiöser Bilder und Symbole, die kulturell verankert sind und wiederum bestimmte Reaktionen bei Lesern oder Betrachtern auslösen. Er reduziert damit die hohe wissenschaftliche, ökonomische, rechtliche wie gesellschaftliche Komplexität, die mit der Gentechnik einhergeht. Die verwendeten Metaphern können durch ihre Unmittelbarkeit und ihre hohe kulturelle Prägekraft eindringlicher von einer bestimmten Sicht auf Technik überzeugen als lange Argumentationsketten oder umfangreiche Beispiele. Weiterhin kann die Biotechnik durch den Rückgriff auf religiöse Bilder in ihren kulturellen Kontext eingebettet und gedeutet werden. Dieser Vorgang ist notwendig, da Technik durch ihre wissenschaftlichen und medizinischen Möglichkeiten eben auch Fragen nach den Vorstellungen vom Menschsein und dem sozialen Miteinander aufwirft. Sicherlich fungieren die Schöpfungs- wie auch die Sünden-Metapher als stilistisches Element der Textgestaltung, gleichwohl können sie kulturelle Vorstellungen über den Umgang und die Bewertung von Technik transportieren und fungieren zugleich als Platzhalter für die Ängste und Befürchtungen, die Kern- und Biotechnik auslösen. Auch Gerhard Wegner⁴¹ weist darauf hin, dass Technik zum Mythos werden kann, mithilfe dessen Vorstellungswelten geschaffen werden können, die sich aus den gesellschaftlichen Wünschen, aber auch Ängsten speisen. Dabei spielen gesellschaftlich-kulturelle Vorstellungen nicht nur eine Rolle bei der Entwicklung, Diskussion und Etablierung von Technik. Vielmehr kann Technik selbst wiederum „kulturelle Geltung beanspruchen“.⁴² Hans Mathias Kepplinger⁴³ verweist in seiner Studie über die Berichterstattung zu Kern- und Biotechnik in der Presse darauf, dass die Bewertung der beiden Techniken in der Öffentlichkeit maßgeblich durch die Inszenierung dieser in den Medien geprägt ist und dass Naturwissenschaftler die Grundlagen, Risiken und Möglichkeiten einer Technik anders beschreiben und bewerten, als dies anschließend die Wissenschaftsjournalisten und politischen Journalisten tun. Diese Diskrepanz trage aber wesentlich zu einer einseitigen Bewertung von Kern- und Biotechnik bei.
40 Ebd. 41 Vgl. Wegner 1998. 42 Ebd. S. 131. 43 Kepplinger 1997.
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Ein anderer Topos, um eine vermeintlich fehlgeleitete Technikentwicklung zu illustrieren, ist der des ‚unerfüllten Heilsversprechens‘:⁴⁴ Dieser Ausdruck wird häufig im Zusammenhang mit der Thematisierung von Formen und Folgen der modernen Technikentwicklung und des Vergleichs von Kern- und Gentechnik verwendet. Dabei wird einerseits darauf hingewiesen, dass die Berichte über die Kerntechnik gerade in den öffentlichen Diskussionen zu Beginn mit Versprechen wie „unerschöpfliche Energiequelle“ oder „blendende Zukunft“⁴⁵ sowie mit Deutungen wie der „Ehrfurcht vor den Wundern der Technik“⁴⁶ einhergingen, die sich im Rückblick als ‚Mythos‘ und ‚Zauber‘ herausstellten. Zugleich wird diese Entwicklung wiederum mithilfe einer ausgewählten religiös-metaphysischen Metaphorik (etwa Formulierung von Heilsversprechen, Bezeichnungen wie ‚Zauberlehrlinge der Wissenschaft‘) thematisiert. Dies macht deutlich, dass einerseits mit neuen Techniken auch gesellschaftliche Erwartungen und Hoffnungen verbunden werden und dass auf der anderen Seite die Entwicklung und Etablierung von Technik zugleich oft als ein Prozess wahrgenommen wird, der sich menschlicher Kontrolle entzieht. Gerade die Diskussionen um die Kerntechnik und die Biotechnik waren – zumindest im deutschsprachigen Raum – immer auch mit der Vorstellung einer gefährlichen, sich verselbstständigenden Technik verbunden. Für die Gentechnik wird festgestellt, dass im Bereich der biotechnischen Anwendungen Misserfolge und Fehlverläufe bereits jetzt zu beobachten seien: Die Gentechniker seien demzufolge zwar „Demiurgen, die eine neue Welt erschaffen wollen“,⁴⁷ jedoch haben sich die „versprochenen gentherapeutischen Wunderkuren“⁴⁸ nicht umsetzen lassen. Die Kritik richtet sich dabei nicht gegen die Transzendenzbezüge bei den Legitimierungsversuchen neuer Techniken. Kritisiert wurde vielmehr, dass die Versprechen und Ansprüche an diese Techniken nicht realisiert wurden und dass Mensch und Umwelt nicht in vollem Maße von den Entwicklungen der modernen Technik profitieren konnten. Selbst wenn explizit thematisiert wird, dass religiöse Vorstellungen in die Technik-Debatten eingehen und dass Technik und Wissenschaft religiöse Funktionen wie Welterklärung oder ‚Suche nach den letzten Ursachen‘ erfüllen können, so werden diese Bezüge aufgenommen und weitergeführt und nicht kritisch auf ihre Funktion im öffentlichen Diskurs befragt. Eine Kritik in Die Welt an einer übersteigerten Begeisterung
44 Auch die Vorstellung einer ‚segensreichen‘ Technik oder Wissenschaft ist häufiger auszumachen. Vgl. unter anderem: Büschemann 2010; siehe Anm. 39. 45 Franke, Klaus (1997), Zauberlehrlinge mit Tunnelblick, in: Der Spiegel 1947–1997 (Sonderheft), S. 322–331; hier: S. 325. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd.
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für die Biotechnik, die sich als „metaphysisches Heilsversprechen“⁴⁹ und „messianischer Positivismus“⁵⁰ äußere, wird mit der Überschrift eingeleitet: „Wenn ihr nicht werdet wie die Desoxyribonukleinsäuren“.⁵¹ Für Norbert Lossau wird Technik „wissenschaftlicher Religionsersatz“,⁵² wenn mit ihr nach der ‚Weltformel‘ oder der ‚theory of everything‘ geforscht wird. Zugleich aber stellt er fest: „Wir haben vom Baum der Erkenntnis gekostet. Und keine Weltformel wird uns zurück ins Paradies bringen.“⁵³ Die ‚Paradiesvertreibung des Menschen‘ als ein weiteres religiöses Sprachbild wird hier zur Metapher für das durch Technik und Wissenschaft gebrochene Verhältnis des Menschen zur Welt. Die Paradiesvertreibung habe stattgefunden, da der Mensch Erkenntnis erlangen wollte und damit seine ‚Unschuld‘ verletzt habe. Das Klonen stelle dabei einen der „letzten Schritte auf dem Weg zum Ende der Evolution dar“.⁵⁴
4 Zusammenfassung Wenn im Biotechnik-Diskurs auf die Risiken und möglichen Fehlentwicklungen der biotechnischen Anwendungen am Menschen wie auch die Notwendigkeit rechtlicher Bestimmungen und gesellschaftlicher Mitsprache hingewiesen wird, so geschieht dies verstärkt über den Verweis auf die Kerntechnik, genauer über deren vermeintliche Fehlentwicklung und Katastrophen – den Bau der Atombombe bzw. den Reaktorunfall von Tschernobyl. Die Bezugnahme der beiden Techniken aufeinander erfolgt dabei als Parallelisierung ihrer jeweiligen Geschichte. Dies kann aber nur erreicht werden, indem der historische Verlauf der jeweiligen Entwicklung entsprechend konstruiert wird: Weder stellt die Atombombe den Endpunkt der Entwicklung einer ansonsten als segensreich apostrophierten Technik dar, noch waren mit einzelnen biotechnischen Umsetzungen, wie dem Klonen oder der Gentherapie, von Beginn an ausschließlich Hoffnungen auf eine Perfektionierung und Heilung des Menschen verbunden. Vielmehr handelt es sich um eine Geschichtskonstruktion, die auf Ähnlichkeiten in der Entwicklung der beiden Techniken setzt. Eines der Ziele dieser Erzäh-
49 Krause 2001; siehe Anm. 1. 50 Ebd. 51 Ebd. siehe Mt 18,3 „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …“. 52 Lossau, Norbert (1997), Wer könnte es stoppen?, in: Die Welt online, 27.02.1997, http:// www.welt.de/print-welt/article634560/Wer-koennte-es-stoppen.html (Zugriff am: 11.11.2011). 53 Ebd. 54 Ebd.
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lung besteht darin, auf vermeintliche Fehler bei Forschung und Anwendung der Kerntechnik zu verweisen und diese als Warnung für einen veränderten Umgang mit der Biotechnik in Anschlag zu bringen. Beispielsweise die Forderung nach einer stärkeren gesellschaftlichen Partizipation in der Biotechnik-Debatte, die vor dem Hintergrund der Diskussionen um die Kerntechnik formuliert wird, entspricht nicht dem historischen Verlauf: Zwar äußerten sich in den 1950er und 1960er Jahren die Widerstände gegen die Kerntechnik eher verhalten und sind die ersten großangelegten öffentlichen Proteste erst 1973 bzw. 1975⁵⁵ auszumachen. Jedoch entwickelte sich hieraus mit den unterschiedlichen Bürgerinitiativen eine gut organisierte Soziale Bewegung, die neben ihrer Technikkritik auch Bedenken am wirtschaftlichen, sozialen und politischen System der BRD äußerte und damit die öffentliche Diskussion in hohem Maße beeinflusste.⁵⁶ Die Forschung und Entwicklung im Bereich der Kerntechnik war folglich, zumindest seit den frühen 1970er Jahren, keineswegs von fehlender gesellschaftlicher Partizipation gekennzeichnet, die nun in den Diskussionen um die Biotechnik nachgeholt werden müsste. Diese inszenierte Parallelisierung der historisch-gesellschaftlichen Verläufe beider Techniken ist dabei trotz verschiedener Transzendenz-Verweise erfolgreich: Standen bei der Kerntechnik besonders die Visionen von unbegrenzter Energie und Wohlstand im Mittelpunkt, so bezogen sich die Hoffnungen im Kontext der Biotechnik vor allem auf die Heilung und Perfektionierung des Menschen. Auch in den Auseinandersetzungen mit den beiden Techniken werden jeweils unterschiedliche Transzendenz-Motive inszeniert: Die Legitimation von Kerntechnik geht mit der Vision von Energie und Wohlstand einher, Kritiker hingegen äußern ihre Vorbehalte mit dem Verweis auf Apokalypse und absolute Zerstörung im Falle eines Reaktorunfalls oder eines erneuten Abwurfs der Atombombe. Im Biotechnik-Diskurs konkurrieren die Transzendenz-Vorstellungen von Heil, Paradies, Fortschritt und Perfektion bei Technik-Zustimmung mit Motiven um Hybris, Sünde und Eingriff in die Schöpfung dort, wo die biotechnischen Verfahren kritisiert oder abgelehnt werden. Besonders in den Biotechnik-Debatten handelt es sich bei den Transzendenz-Motiven häufig um Verweise auf die christliche Dogmatik. Hoffnungen und Ängste werden explizit anhand christlicher Symbole geäußert. Die ethischen und anthropologischen Dimensionen der Biotechnik werden thematisiert und gedeutet durch zentrale christlich-religiöse Vorstellungen, die aber auch ohne theologische Kenntnisse oder persönliche Glaubensüberzeugungen als kulturelle Symbole verstanden werden können. Dieser
55 Vgl. u.a. Rucht 1988. 56 Vgl. hierzu Rucht 2008.
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Verweis auf christliche Symbole wird von den Lesern bzw. Diskursteilnehmern auch dann verstanden, wenn die theologische Tradition und Konzeption von Begriffen wie ‚Schöpfung‘, oder ‚Sünde‘ lediglich verkürzt wiedergegeben wird. Beide Techniken nähren unterschiedliche soziale und individuelle Hoffnungen, lösen jedoch zugleich ähnliche Befürchtungen und Ängste aus. Im Gegensatz zur Kerntechnik, wo die negativen Folgen bereits sichtbar und greifbar sind, geht es im Bereich der Biotechnik um ein rechtzeitiges Verhindern diverser zu erwartender Schäden. Die Konstruktion der Geschichte der Kerntechnik auf das vermeintliche ‚Ende durch die Bombe’ hin wird so selbst zur transzendenten Kategorie – sie ist sowohl dem kritischen Zugriff als auch anderen Deutungen entzogen. Zugleich wird mit der Inanspruchnahme der Kritik an der Kerntechnik an einen Gemeinsinn appelliert, der auch für die Biotechnik gelten soll. In erster Linie soll eine ablehnende Meinung gegenüber einzelnen Techniken − besonders dem Klonen und der Gentechnik − erzeugt werden. Dies gelingt neben dem Verweis auf die Atombombe durch das Herausstellen der Notwendigkeit gesellschaftlicher Mitsprache an neuen technischen Entwicklungen und der staatlichen Reglementierung. Denn diese hätten, so die Annahme, die Gefahren der Kerntechnik einschränken können und müssten aus diesem Grund verstärkt in den Biotechnik-Diskurs eingebracht werden. Die weitreichenden gesellschaftlichen Vorbehalte gegenüber der Kerntechnik − vor allem bezüglich der militärischen Nutzung, des Sicherheitsaspekts der Kernreaktoren und des Problems der Endlagerung − werden eingesetzt, um Kritik an biotechnischen Anwendungen zu erzeugen. Gemeinsam mit dem Topos vom ‚Eingriff in die Schöpfung‘, der bestimmend ist für eine die Biotechnik ablehnende oder zumindest stark kritisierende Haltung, gilt weithin für die Diskussionen um die Kern- und Biotechnik: „Atomares, Bio und Nano, dazu Großtechnologie insgesamt produzieren dagegen Abwehr, gar Abscheu. ‚Atom‘ ist ‚Bombe‘ oder ‚Tschernobyl‘, Bio ist ‚Eingriff in die Schöpfung‘ […].“⁵⁷
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57 Joffe, Josef (2009), German Techno-Angst, in: Die Zeit, 33, 06.08.2009, http://zeit.de/ 2009/33/Zeitgeist-33, (Zugriff am 11.11.2011).
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Dietrich Herrmann
Vor und über der Verfassung Außerkonstitutionelle Begründungsmuster in höchstrichterlichen Entscheidungen
1 Als Grundlage der Rechtsprechung oberster Gerichte in Verfassungsstaaten gilt gemeinhin der Text der Verfassung: Zum einen wird in vielen, vor allem neueren Verfassungen die richterliche Normenkontrolle explizit in der Verfassung genannt,¹ zum anderen ist der Verfassungstext der Prüfungsmaßstab schlechthin für das Verfassungsgericht. Aus der Bezugnahme auf die Verfassung selbst bezieht ein oberstes Gericht seine Legitimation, ist sie doch als Grundlage des Gemeinwesens anerkannt. In ihren Urteilsbegründungen kommen die Gerichte jedoch nicht immer mit der Bezugnahme auf den Verfassungstext selbst aus: In etlichen Begründungen wird auf Formeln zurückgegriffen, die nicht im Verfassungstext enthalten sind oder nur schwer oder gar nicht daraus abgeleitet werden können. Zwar hat Böckenförde in der Beschreibung des später nach ihm benannten Paradoxons die Problematik benannt, dass der liberale Rechtsstaat auf Voraussetzungen beruht, die er selbst nicht garantieren kann, die somit nicht zu seiner Verfügung stehen.² Indes könnte man annehmen, dass mit der Verfassunggebung diese Problematik abgeschlossen ist, können doch bei einer Verfassung mit umfassendem Anspruch alle Lebensbereiche zumindest mittelbar als abgedeckt erscheinen. Mit der positiv gesetzten Verfassung haben Gesetzgeber, Exekutive, Gerichte, Bürger und letztlich auch das Verfassungsgericht als dem Anspruch nach autoritativen Interpreten der Verfassung eine Grundlage und den Maßstab, an dem Normen und Praxen überprüft werden können. Die in diesem Beitrag aufgeführten Fälle zeigen allerdings, dass in der Praxis höchstrichterlicher Entscheidungen immer wieder auf Begründungsmuster vor oder außerhalb der Verfassung zurückgegriffen wird.
1 Einige oberste Gerichte ziehen das Recht zur richterlichen Normenkontrolle nur mittelbar aus der Verfassung – so der amerikanische Supreme Court –, andere wie der französische Conseil constitutionnel sind erst nachträglich explizit mit dieser Kompetenz ausgestattet worden. Hierzu vgl. Herrmann 2006. 2 Vgl. Böckenförde 1991a.
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2 Ein fundamentaler Dissens bestand in den 1950er Jahren zwischen dem Bundesverfassungsgericht und mehreren Senaten des Bundesgerichtshofs (BGH) in der Frage des Fortbestands der Beamtenverhältnisse über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus. Aus dem Verfassungstext selbst ließ sich eine Entscheidung nicht unmittelbar begründen; so machten sowohl der Bundesgerichtshof als auch das Bundesverfassungsgericht – sich im Ergebnis widersprechende – Anleihen bei vorkonstitutionellen Begründungselementen und höheren Rechtsprinzipien wie dem Naturrecht. Der BGH stellte Grund- und Menschenrechte und – für das Ergebnis der konkreten Frage entscheidend – daraus abgeleitet Grundsätze des hergebrachten Berufsbeamtentums unverfügbar, nahm eine Überhöhung desselben vor; das Bundesverfassungsgericht dagegen unterbrach die argumentative Kette des BGH zum Berufsbeamtentum, es stellte mithin die Ausgestaltung der Ansprüche aus dem Berufsbeamtentum zur Disposition des Gesetzgebers, machte es verfügbar.³ In der Argumentationslinie des Bundesverfassungsgerichts reichen nicht der Bezug auf das Grundgesetz und der Blick auf die Intentionen des Parlamentarischen Rates – der Verfassungstext ist, wie die in der Urteilsbegründung auszugsweise wiedergegebenen Beratungsprotokolle des Parlamentarischen Rates unmissverständlich zeigen, bewusst offen formuliert. Zwar genügte eine Unbestimmtheit des Verfassungstexts, um eine von den Beschwerdeführern vorgebrachte Verfassungswidrigkeit des G131-Gesetzes zu verneinen; das Verfassungsgericht verwarf in seiner Urteilsbegründung bewusst die Argumentation des BGH, die in einem höheren Sinne rechtswidrigen nationalsozialistischen Rechtsakte „ex post als nichtig und die dadurch bewirkte Umwandlung des Beamtenverhältnisses als nicht vorhanden“ zu betrachten. Das Verfassungsgericht schloss mit der ebenfalls problematischen Formulierung, es könne „dem Gesetzgeber erst dann entgegentreten [und damit das Gesetz für verfassungswidrig erklären], wenn für eine von ihm angeordnete Differenzierung zwischen verschiedenen Personengruppen sachlich einleuchtende Gründe schlechterdings nicht mehr erkennbar sind, so daß ihre Aufrechterhaltung einen Verstoß gegen das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden darstellen würde.“⁴ Wie dies zu bestimmen war, blieb offen.
3 Vgl. schon die Diskussionsbeiträge von Walter Jellinek, Ernst Friesenhahn und Hans-Peter Ipsen bei der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1954, Die Berufsbeamten und die Staatskrisen 1955, S. 159, S. 165f., S. 175f. 4 BVerfGE 3, 58, S. 118f.; S. 135f. (eigene Hervorhebung).
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Nach der deutschen Vereinigung erlebten die alten Begründungsmuster kurzzeitig eine neue Konjunktur. In Ermangelung positivrechtlicher Normen bezogen sich Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht auf über- und vorkonstitutionelle Elemente: Der BGH verwarf Revisionen der wegen tödlicher Schüsse auf Flüchtlinge verurteilten DDR-Grenzsoldaten mit Verweis darauf, dass in der Rechtfertigung mit dem DDR-Recht „ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Ausdruck“ komme, der Verstoß müsse „so schwer wiegen, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen“ verletze.⁵ Der BGH griff damit eine Formel auf, die er bereits bei der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen verwendet hatte.⁶ Zwar könnten die Tötungen an der innerdeutschen Grenze nicht mit dem NS-Massenmord gleichgesetzt werden, doch bleibe die Einsicht gültig, „dass bei der Beurteilung von Taten, die in staatlichem Auftrag begangen worden sind, darauf zu achten ist, ob der Staat die äußerste Grenze überschritten hat, die ihm nach allgemeiner Überzeugung in jedem Land gesetzt ist“.⁷ Das Bundesverfassungsgericht folgte zwar im Ergebnis dem BGH, anders als dieser argumentierte es, dass das grundgesetzlich garantierte Rückwirkungsgebot im Falle extremen Unrechts im konkreten Fall einer Verurteilung nicht im Wege stehe.⁸ Das Bundesverfassungsgericht hat sich hier eindeutig zur so genannten Radbruchschen Formel bekannt, nach der im extremen Ausnahmefall wegen eines unerträglichen Widerspruchs zur Gerechtigkeit von Anfang an der Gehorsam zu versagen sein könne. Gustav Radbruch hatte unmittelbar nach dem Ende des NSRegimes eine wichtige Grenzziehung bei der Geltung positiven Rechts eingezogen: „wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“⁹ Radbruch war sich freilich der Probleme bewusst, die ein zu lockerer Umgang mit einem solchen Verweis auf „höhere Rechtsprin-
5 BGHSt 39, 1 Mauerschützen I (3.11.1992), S. 15f. 6 BGHSt 2, 234 (29.1.1952), S. 239. 7 BGHSt 39, 1, S. 16 (eigene Hervorhebung). In der weiteren Begründung wird auch auf internationale Menschenrechtspakte, denen die DDR beigetreten ist und daher trotz fehlender Umsetzung in innerstaatliches Recht Geltung auch für die DDR beanspruchen könnten, verwiesen. 8 BVerfGE 95, 96 – Mauerschützen (24.10.1996), S. 134. Zum Kontext Lamprecht 2011, S. 251f.; zu den Unterschieden der Argumentation zwischen BGH und BVerfG Rensmann 2000, S. 605–611, und Dreier 1997. 9 Radbruch 1946, S. 107.
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zipien“ mit sich bringen kann. Daher wollte er diese Möglichkeit einem höheren Gericht oder der Gesetzgebung vorbehalten lassen.¹⁰
3 Ein zweites Phänomen ist die Bezugnahme auf außerkonstitutionelle ‚übergreifende Rechtsvorstellungen‘, die ebenfalls nicht unmittelbar aus der Verfassung abzuleiten sind. Schon das – vom Grundsatz her unbestrittene – Gleichheitsgebot wurde in der Frühzeit des Bundesverfassungsgerichts mehrfach zum Einfallstor für Bezugnahmen auf außerkonstitutionelle Rechtsvorstellungen oder Formeln in der Art eines Zirkelschlusses, etwa wenn das Bundesverfassungsgericht konstatiert: „Der Gleichheitssatz wird […] verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung nicht finden lässt.“¹¹ Getragen wurden solche Formeln von der prominent vom Rechtsphilosophen Helmut Coing vertretenen Vorstellung, es gebe „oberste Rechtsgrundsätze, die unmittelbar aus sittlichen Werten entspringen, die allem echten Recht zugrunde liegen.“ Auch die in diesen obersten Rechtsgrundsätzen verwirklichten sittlichen Werte seien, so Coing, „objektiv gegeben und rational erkennbar“.¹² Die Kritik an solchen Formeln wurde mitunter mit Verweis auf die das „Gemeinschaftsleben prägenden Wertvorstellungen“ oder auf die Wertordnung des Grundgesetzes beschwichtigt. Die wertende Auslegung und Entfaltung von Generalklauseln und normativen Rechtsbegriffen gehöre „vielmehr – wie die überkommene Judikatur zu Rechtsbegriffen wie Treue und Glauben, gute Sitten, Verkehrssitte, Fahrlässigkeit oder zur Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns bezeugt – zu den traditionellen Aufgaben der Rechtsprechung“.¹³ Der zeitgeschichtliche Hintergrund für die Bezüge auf allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft und ähnliche Formeln ist die Orientierungslosigkeit unter deutschen Juristen nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes, das – so die gängige Lesart der 1950er Jahre – den Rechtspositivismus zur Perversion getrieben und damit dessen unkritische Anwendung desavouiert hatte. Eine Alternative sahen prominente Juristen in einer Renaissance des Naturrechts-
10 Vgl. Papier/Möller 1999. 11 BVerfGE 12, 341 – Spinnweber-Zusatzsteuer (16.5.1961), 348 (eigene Hervorhebung); Fuß 1962, S. 565. 12 Coing 1947; Kühl 1990, S. 339. 13 Hans-Justus Rinck (Richter am BGH und späterer Verfassungsrichter) 1963, S. 524f.
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denkens auch für die Rechtsprechung.¹⁴ Kaum ein anderer hat dies prononcierter verfochten als der erste Präsident des Bundesgerichtshofs Hermann Weinkauff.¹⁵ Seine Argumentation relativiert nicht nur die Verfassung als positiv-rechtliche Setzung und ordnet sie der „vorgegebenen Ordnung der Werte“ unter, sondern öffnet damit zugleich breite Einfallstore für außerkonstitutionelle, naturrechtliche Bezüge. Kritiker erkannten zwar die aus einer streng rechtspositivistischen Position resultierenden Probleme, forderten aber ein prinzipielles Festhalten an der Gesetzesgebundenheit der Rechtsprechung. „Eine Rechtsordnung, die den Richter an das Gesetz bindet,“ so Hans-Ulrich Evers, „ihm aber zugleich anheimgibt, sich aufgrund ungewisser Kriterien dieser Bindung zu entledigen, wäre ein Widerspruch in sich und führte dazu, die Rechtssicherheit, die staatliche Autorität und damit die Ordnung überhaupt, die das Recht gerade gewährleisten soll, zu untergraben“. Evers kritisierte insbesondere, dass solchermaßen begründete Urteile nicht mehr rational nachprüfbar seien mit entsprechenden Folgen für die Rechtssicherheit als zentraler Kategorie im Rechtsstaat.¹⁶ Der BGH griff in seiner Frühzeit sehr viel häufiger als das Verfassungsgericht auf außerkonstitutionelle, überpositive Begründungsmuster zurück. Gerichte standen in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor der Aufgabe, Unrechtsgesetzen aus der Zeit des Nationalsozialismus die Gültigkeit abzusprechen und stattdessen nach übergesetzlichen Normen zu judizieren.¹⁷ Neben biographischen Aspekten – einige Richter des BGH, nicht zuletzt der Präsident Weinkauff, waren in den Nationalsozialismus verstrickt und daher besonders bemüht, sich vom Positivismus abzuwenden, der nach Lesart der frühen Bundesrepublik dem Nazi-Regime den Weg erleichtert hatte – hatte diese Tendenz darüber hinaus auch einen institutionellen Aspekt in der in den 1950er Jahren andauernden Auseinandersetzung um die Deutungshoheit zwischen Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht: Unbestritten war die Verfassung die Domäne des Verfassungsgerichts, durch Bezüge auf den Verfassungstext konnte der Bundesgerichtshof seine Hoheit nicht bekräftigen, trotz der Versuche, unter anderem mithilfe der vorab veröffentlichten Gutachten zu den Richtervorlagen bei konkreten Normenkontrollen, die Rechtsprechung auch des Verfassungsgerichts in seiner Richtung zu präjudizieren.¹⁸ Dass es nicht der Positivismus war, der den Nationalsozialisten den Weg bereitet hatte, sondern im Gegenteil eher diejenigen Juristen, die sich
14 Vgl. Maihofer 1962. 15 Weinkauff 1960, unterstützend Wieacker 1961. 16 Evers 1961, S. 247; Forsthoff 1959. 17 Kaufmann 1991, S. 105, S. 109f. 18 Baldus 2005, S. 243–246; Herrmann 2006, S. 167; Franßen 1969.
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freihändig über Geist und Buchstabe bestehender Gesetze hinweggesetzt hatten, war eine Erkenntnis, die sich erst in den späten 1960er Jahren allmählich durchzusetzen begann.¹⁹ Die von ihm selbst mehrfach wiederholte²⁰ Formel von den „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft“ diente dem Bundesverfassungsgericht schließlich als Maßstab für die Schließung der unvermeidbaren Lücken im positiven Recht.²¹ Doch wie die fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen zu identifizieren seien, blieb ebenso offen wie die konkrete Messbarkeit der zweiten an dieser Stelle eingeführten Kategorie, der „praktischen Vernunft“. Aus diesem Anlass unternahm es das Verfassungsgericht, unter Verweis auf sich verändernde soziale Umstände und gewandelte Rechtsauffassung in der Gesellschaft die Notwendigkeit zu betonen, dass „Gerichte diesen Entwicklungen ‚Rechnung tragen‘“ – eine ebenfalls deutungsoffene Formulierung.²²
4 Ein anderer Aspekt als der Umgang mit Straftaten aus der Zeit des Nationalsozialismus ist das ‚Sittengesetz‘ oder das ‚sittliche Empfinden‘, mithin die Problematik, wie Moralvorstellungen auch das Strafrecht prägen. Der Bundesgerichtshof bestätigte 1954 die Verurteilung einer Witwe wegen Förderung der Kuppelei, weil sie den Beischlaf ihrer Tochter mit ihrem Verlobten zugelassen hatte. Der Argumentation einiger Instanzgerichte, das sittliche Empfinden hinsichtlich der Verwerflichkeit der Tat sei nicht eindeutig und über die Zeit Veränderungen unterworfen, entgegnete der Große Senat für Strafsachen des BGH, der wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage angerufen worden war: „Normen des Sittengesetzes dagegen gelten aus sich selbst heraus; ihre (starke) Verbindlichkeit beruht auf der vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regierenden Sollenssätze; sie gelten unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen
19 Vgl. Franßen 1969; Rüthers 2005a; Dreier 1993. 20 Mit gleichem Wortlaut BVerfGE 13, 225 – Bahnhofsapotheke Frankfurt (29.11.1961), S. 228; BVerfGE 40, 121 – Waisenrente II (18.6.1975), S. 140. 21 BVerfGE 34, 269 – Soraya (14.2.1973), S. 286f. 22 BVerfGE 34, 269, S. 288f.; Ogorek 2006, S. 62f.
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und anerkennen oder nicht; ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln.“²³
In Nuancen anders als im Kuppelei-Urteil des BGH argumentierte das Bundesverfassungsgericht 1957 bei der Abweisung der Verfassungsbeschwerde eines Mannes, der wegen homosexueller Praktiken nach § 175 StGB verurteilt worden war. Das „sittliche Empfinden“, so die Richter, verurteile Homosexualität. Der Beschwerdeführer bezog sich zwar auf die in Artikel 2, 1 Grundgesetz garantierte freie Entfaltung der Persönlichkeit, doch die Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit – sofern kein Verstoß gegen das Sittengesetz vorliegt – diente als Einfallstor für Argumentationen eines allgemeinen Rechtsempfindens, wie das Gericht in seiner Begründung freimütig einräumte.²⁴ Haack hat überzeugend dargelegt, dass die Formel vom Sittengesetz nicht als Grundrechtsschranke zu verstehen ist, sondern gerade als einen Hinweis auf den den Verfassungshorizont übersteigenden Taburaum.²⁵ In Phasen gesellschaftlicher und politischer Umbrüche erleben die naturrechtlichen Bezüge in höchstrichterlichen Entscheidungen unzweifelhaft eine Konjunktur. Zu erklären ist dies einerseits durch die Notwendigkeit der Sanktionierung von Unrecht einer vorangegangenen Epoche, deren positive Rechtsetzungen im Nachhinein keine Geltung mehr beanspruchen kann. Andererseits erscheinen zur Stärkung der Legitimität einer neuen Rechtsordnung Bezüge auf „allgemein anerkannte Rechtsprinzipien“ erforderlich – auch vor und jenseits des neuen positiven Rechts in Form einer Verfassung, deren Tinte erst am Trocknen ist und die daher selbst aus eigener Vollkommenheit noch kaum Geltung beanspruchen konnte. Freilich ist die Bezugnahme auf unscharfe Formeln wie „allgemein anerkannte Rechtsprinzipien“ kein völliger Freifahrschein; sie kann nur dann Geltungskraft erzeugen, wenn die Argumentation im Geltungsraum der politischen Ordnung, gegenüber den Adressaten der Urteile plausibel erscheint. Indes ist solchen Bezügen eine konservative, restaurative Tendenz inhärent,
23 BGHSt 6, 46 – Kuppelei gegenüber Verlobten (17.2.1954), Rn. 10. Kritik an der Entscheidung u.a. bei Arndt 1955, S. 6f. – Zum Sittengesetz vgl. Starck 1974. Dass auch die Formel von der „öffentlichen Ordnung“ ein Einfallstor für außer- bzw. vorkonstitutionelle Begründungsmuster bot (erinnert sei an die Beschäftigung des Bundesverwaltungsgerichts mit dem polizeilich verfügten Verbot des Films „Die Sünderin“ wegen einer sehr kurzen Nacktszene), zeigt Mußgnug 2000. 24 BVerfGE 6, 389 (Homosexuelle – 10.5.1957). Noch deutlicher freilich der Große Senat des Bundesgerichtshofs für Strafsachen in seiner Kuppelei-Entscheidung BGHSt 6, 46–59 (17.2.1954). Lamprecht 2011, S. 54–59. 25 Haack 2011, S. 385.
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weil sie in Ermangelung anderer Legitimitätsressourcen auf althergebrachte „allgemein anerkannte Rechtsprinzipien“ verweisen. Insofern besteht durchaus, worauf schon Adolf Arndt treffend hingewiesen hat, ein Zusammenhang zwischen dem „naturalistischen Positivismus gegenüber den Ereignissen in der Zeit des Nationalsozialismus“ und dem „für das eigene Werturteil sittlicher Art in Anspruch genommenen Absolutismus“.²⁶
5 Im aufsehenerregenden Lüth-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht 1958 die Drittwirkung der Grundrechte auf alle Rechtsbereiche proklamiert – und zur Begründung dieses Urteils auf die „objektive Wertordnung“ verwiesen, die mit dem Grundgesetz und seinen Grundrechten errichtet worden sei.²⁷ Bemerkenswert ist die Verwendung dieser Argumentationsfigur nicht zuletzt deshalb, weil – unabhängig vom Ergebnis der Entscheidung – auch andere Begründungen unter Verzicht auf die Bezugnahme auf eine „Wertordnung“ vorstellbar waren, wie Thomas Henne eindrucksvoll dargelegt hat.²⁸ Böckenförde hat treffend beschrieben, dass die Wertbegründung des Rechts als eine Form der Abkehr vom Rechtspositivismus erschien, die nicht zur Rückkehr zu dem oder einem Naturrecht nötige. Der Rückgriff auf Werte als Grundlage des Rechts öffne, so Böckenförde, in der Rechtspraxis „die Schleusen für das Einströmen methodisch nicht kontrollierbarer subjektiver Meinungen und Anschauungen der Richter und Rechtslehrer sowie der vorherrschenden zeitigen Tageswerte und -wertungen der Gesellschaft in die Auslegung, Anwendung und Fortbildung des Rechts“.²⁹ Gerade wegen des Fehlens einer rationalen Begründung der Werte ist eine solche Argumentation diskursiv abgeschlossen und somit unverfügbar.³⁰ Die Argumentationsfigur vom Grundgesetz und den ihm enthaltenen Grundrechten als einer „objektiven Wertordnung“ unterscheidet sich einerseits kategorial von der naturrechtlichen Argumentationsfigur. Sie ist nicht denkbar ohne
26 Bezug auf die Kuppelei-Entscheidung des BGH; Arndt 1955, S. 7f. 27 BVerfGE 7, 198 – Lüth (15.1.1958), S. 205. 28 Henne 2006, vgl. zum Kontext Henne/Riedlinger 2005. 29 Böckenförde 1991b, S. 67, S. 81. 30 „Die Berufung auf Werte und den Wertcharakter des Rechts gibt sich als Begründung für etwas aus, das damit in der Sache nicht begründet wird, jedoch der weiteren Begründung enthebt“; Böckenförde 1991b, S. 87.
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die Verfassung; die Wertordnung erscheint als Gesamtkonstrukt, aus dem nicht einzelne Grundrechte auszuscheiden sind. Auch erscheint die Wertordnung nicht als überpositives Recht in dem Sinne, als sie nicht gegen die Verfassung in Stellung gebracht werden kann. Andererseits handelt es sich bei der Argumentationsfigur um eine Überwölbung des Grundgesetzes, die nicht textlich klar gefasst und sich somit ebenfalls einer diskursiven Auseinandersetzung entzieht.³¹ Wenn nun in den 1950er Jahren, wenige Jahre nach der Inkraftsetzung des Grundgesetzes, die darin proklamierten Grundrechte offenbar noch keine Geltungskraft aus sich heraus erzeugen konnten, so erschien eine Apostrophierung der Grundrechte als „Werte“ und des Grundrechtsteils als „objektive Wertordnung“ dazu geeignet, das möglicherweise bestehende Legitimationsdefizit zu überbrücken. Diese Hypostasierung des grundgesetzlichen Grundrechtsteils zu einer „objektiven Ordnung“ vermochte einen höheren Geltungsanspruch zu erheben als dies „bloße“ Grundrechte leisten konnten.³² So hat das Bundesverfassungsgericht offenbar nicht allen Grundrechten den Charakter objektivrechtlicher Wertentscheidung explizit zugesprochen, zugleich bei den betreffenden Grundrechten einige in besonders herausgehobener Weise diesen Aspekt betont (u.a. die Menschenwürde sowie die Pressefreiheit als Grundvoraussetzung der Demokratie). In der Konsequenz bedeutet diese Aufladung der Grundrechte (Jarass: „völlig neuartige Bedeutungsdimensionen“) auch eine Ausweitung der institutionellen Zugriffsmöglichkeiten des Verfassungsgerichts. In der Entscheidung Schwangerschaftsabbruch I wurde die Ausstrahlungswirkung der Wertentscheidung dahingehend gedeutet, dass der Gesetzgeber eine besondere Schutzpflicht für das ungeborene Leben habe, die auch in einer strafrechtlichen Norm zum Ausdruck kommen müsse.³³ Objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte beinhalten im Kontrast zu subjektiven Abwehrrechten Konstellationen, in denen die Grundrechte auf komplexere Weise zum Ausdruck kommen: so ist die Pressefreiheit – wie das Bundesverfassungsgericht im Spiegelurteil unmissverständlich festgestellt hat, für die Demo-
31 Diese Konstellation hat der spätere Verfassungsgerichtspräsident Zeidler wie folgt karikiert: die Verfassung erscheine in manchen Publikationen als „zweistufiges Gebilde: über der positiven grundgesetzlichen Ordnung eine apokryphe ranghöhere Ordnung, die als Geist frei über den Wassern schwebende, in Gestalt eines rein gedanklichen Systems in idealtypischer Geschlossenheit sich darstellende Grundwertordnung“; Zeidler 1980, S. 8. 32 Böckenförde 1991b, S. 88: „Indem den Grundrechten die Wertqualität zuerkannt wird, legitimiert diese eben die Eigenschaften, die für Werte als solche kennzeichnend sind, vor allem die abstrakte und universale Geltung.“ 33 BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I (25.2.1975), S. 41f.; Jarass 1985, S. 380.
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kratie schlechthin konstitutiv, weit über das im Einzelfall wirksame subjektive Abwehrrecht etwa gegen Zensurmaßnahmen hinaus. Auf sehr plastische Weise formulierte das Bundesverfassungsgericht diese Ausweitung im Hochschulurteil: „Diese Wertentscheidung bedeutet nicht nur die Absage an staatliche Eingriffe in den zuvor gekennzeichneten Eigenbereich der Wissenschaft; sie schließt vielmehr das Einstehen des Staates, der sich als Kulturstaat versteht, für die Idee einer freien Wissenschaft und seine Mitwirkung an ihrer Verwirklichung ein und verpflichtet ihn, sein Handeln positiv danach einzurichten, d.h. schützend und fördernd einer Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen.“³⁴
Die Beispiele zeigen, dass die Bezugnahme auf die Figur der objektiven Wertordnung und vor allem ihre Verwendung über lange Zeit hinweg keineswegs mehr allein dem post-totalitären bzw. früh-demokratischen Kontext geschuldet waren. Vielmehr geht es um eine weit über die reinen (subjektiven) Abwehrrechte des liberalen Grundrechtekatalogs hinausreichende Ordnungskonzeption. Eine zentrale Rolle darin spielen Schutzpflichten des Staates gegenüber dem Einzelnen, die bis hin zur Postulierung einer verpflichtenden Strafvorschrift im Urteil Schwangerschaftsabbruch I reichen.³⁵ Der Konzeption der „objektiven Wertordnung“ inhärent waren jedoch die Probleme der mangelnden Präzision und der fehlenden festen Bezugspunkte. Die Notwendigkeit zur (fallweisen) Fixierung führt unter den Bedingungen des Grundgesetzes zudem zu einer Aufwertung des Verfassungsgerichts, womit, so befürchtete Böckenförde, der „Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“ bevorstehe.³⁶ Referenzpunkt wäre, so die Zuspitzung, nicht mehr die Verfassung, sondern das Verfassungsgericht mit der Kompetenz zum „letzten Wort“.³⁷
34 BVerfGE 20, 162 – Spiegel (5.8.1966), S. 174f.; Dreier 1991, S. 41f.; BVerfGE 35, 79 – Hochschulurteil (29.5.1973), S. 113f.; vgl. Dreier 1993, S. 44. 35 BVerfGE 39, 1. 36 Böckenförde 1991c, S. 190. 37 Dieser Mechanismus wiederum führt zu einer Stärkung des auf die Institution Bundesverfassungsgericht gerichteten Positivismus, vgl. Schlink 1989; Jestaedt 2002, S. 183–228.
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6 Indes sind Bezugnahmen auf vor- und außerkonstitutionelles, überpositives Recht oder ungeschriebene Gerechtigkeits- und Ordnungsvorstellungen keineswegs beschränkt auf Phasen des Umbruchs oder der Neukonstituierung von Gemeinwesen. Vielmehr lassen sich – offenbar unabhängig von zeitlichen Umständen wie einem Regimewechsel – weitere Konstellationen identifizieren, in denen Bezugnahmen außerhalb des positiven Rechts attraktiv, wenn nicht gar unvermeidbar erscheinen und auch empirisch nachzuweisen sind: Zunächst ist dies der Bereich der Identität des Gemeinwesens und der Gesellschaft, die durch deren ethnische und religiöse Fundierung bestimmt werden. Wenig überraschend sind daher vorkonstitutionelle Bezüge bei Entscheidungen zu Fragen des Religionsverfassungsrechts, wenn es direkt oder indirekt um die Frage geht, inwieweit Deutschland ein christliches Land, die Bundesrepublik ein christlicher Staat ist, jeweils mit sehr praktischen Konsequenzen.³⁸ Andererseits mussten in Deutschland ethnische Konflikte bis hin zur Frage „Wer ist Mitglied des Gemeinwesens?“ bislang noch nicht von obersten Gerichten abschließend geklärt werden.³⁹ Auch wenn das Bundesverfassungsgericht schon früher implizit – etwa in Schwangerschaftsabbruch I – auf den Holocaust Bezug genommen hatte, hat es erst jüngst anlässlich einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Neonazi-Demonstration ohne – an dieser Stelle – expliziten Bezug auf den Verfassungstext erklärt, die Befürwortung der nationalsozialistischen Herrschaft sei „in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential.“⁴⁰ Der zweite Bereich betrifft soziomoralische Fragen, Grundfragen menschlichen Lebens, für die die Verfassung, jedenfalls der Verfassungstext nicht immer
38 Vgl. hierzu die Entscheidung zum „Kruzifix“ BVerfGE 93, 1 (16.5.1995). Vgl. entsprechende Entscheidungen des US Supreme Court zu Fragen des Schulgebets und der Religionsfreiheit, der erklärt, die Vereinigten Staaten seien ein „religious people whose institutions presuppose a Supreme Being“ (Zorach v. Clauson 343 U.S. 306, 313 [1952]). Umgekehrt gab es, als der Supreme Court 1962 und 1963 das verordnete Schulgebet in öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärte, ähnliche Klagen. Hierzu Herrmann 2002. 39 In der Entscheidung zum Ausländerwahlrecht I BVerfGE 83, 37 (31.10.1990), S. 52 umschifft das Bundesverfassungsgericht die Frage, indem es auf die Staatsangehörigkeit abhebt (vgl. dazu kritisch Menzel 2000b). Demgegenüber dienten dem US Supreme Court die Kategorien „what is popularly known as“ oder „common speech“ für die Definition von „weiß“ bzw. Zugehörigkeit zur „weißen Rasse“ als Voraussetzung zur Einbürgerung. Takao Ozawa v. U.S., 260 U.S. 178 (1922), 197; U.S. v. Bhagat Singh Thind, 261 U.S. 204 (1923), 208; vgl. Herrmann 2001, S. 178–181. 40 BVerfGE 124, 300 (4.11.2009 – Wunsiedel), S. 329; Haack 2011, S. 366f., S. 382.
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abschließende Antworten zu geben vermag. In der Entscheidung Schwangerschaftsabbruch I 1975 bezog die Senatsmehrheit ihr Kernargument für den unbedingten Vorrang des Lebensschutzes für den Nasciturus allein aus dem „objektiv-rechtlichen Gehalt der grundrechtlichen Normen“, mithin aus dem Gesamtkonstrukt der „objektiven Wertordnung“.⁴¹ Nur so ist zu erklären, dass das Gericht im konkreten Fall des Schwangerschaftsabbruchs kategorial anders entschied als die obersten Gerichte anderer Länder, obwohl die Verfassungstexte, die Grundlage für die Entscheidungen der obersten Gerichte sind, sich an den relevanten Stellen nicht unterscheiden.⁴² Die Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts zum Geschwisterbeischlaf von 2008 ist insofern bemerkenswert, als dass sie – weitgehend – auf den Bezug auf „allgemeine Rechtsüberzeugungen“ verzichtet, diese allerdings indirekt wieder in den Begründungstext Eingang finden: Zum einen durch die Rezitation der Kultur- und Rechtsgeschichte des Inzestverbots, zum anderen durch die Formel, dass „eine Strafnorm dem Schutz anderer oder der Allgemeinheit dient“: „Vielmehr rechtfertigt sich die angegriffene Strafnorm in der Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzestes, wie sie auch im internationalen Vergleich festzustellen ist.“ Der Senat erkannte also das Inzestverbot keineswegs aus der Verfassung heraus als geboten an, konnte aber auch keine Verfassungswidrigkeit erkennen und ließ dem Gesetzgeber eine – im Lichte seiner Rechtsprechungslinie – erstaunliche Freiheit bei der Bestimmung der Strafnorm.⁴³ Künftig steht zu erwarten, dass weitere bio-ethische Fragen wie Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik oder Stammzellenforschung auch die obersten Gerichte beschäftigen werden.
7 Die Auseinandersetzungen über positives und überpositives Recht, über die Bezugnahme auf außerkonstitutionelle Begründungsmuster in höchstrichterlichen Entscheidungen, über die Wertgebundenheit der Grundrechtsordnung sind keineswegs abgeschlossen, sondern im Gegenteil, so hat es den Anschein,
41 BVerfGE 39, 1 (25.2.1975 – Schwangerschaftsabbruch I), S. 41f. 42 Vgl. die Entscheidung Roe v. Wade des Supreme Court der USA (1973), 410 U.S. 113. 43 BVerfGE 120, 224 (26.2.2008 – Geschwisterbeischlaf), 248f. Vgl. dagegen Hassemers Sondervotum, ebd. S. 257; Hörnle 2008, S. 2088; Haack 2011, S. 367–369.
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werden ein Kontinuum der verfassungsrechtlichen Debatten und mithin der Debatten über die Grundlegung des Gemeinwesens bleiben. Exemplarisch wird dies deutlich in der Debatte, die der Rechtsphilosoph Bernd Rüthers mit seiner Kritik an der von obersten Bundesgerichten immer noch favorisierten sogenannten „objektiven“ Auslegungsmethode angestoßen hatte, nach der der vermeintliche „objektiv-vernünftige“ Sinn der Norm „aus der Sicht der Rechtsanwender im Anwendungszeitpunkt“ maßgebend sein soll. Rüthers’ Kritik gipfelt in dem Vorwurf, die objektive Methode verwandele die Gerichte „von Dienern der Gesetze zu Herren der Rechtsordnung“.⁴⁴ Der damalige Präsident des Bundesgerichtshofs, Günter Hirsch, bestand hingegen darauf, dass Richter das Gesetz „zeitgerecht“ und „produktiv“ auszulegen hätten, dabei die grundgesetzlich festgeschriebene Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“ ins Spiel brachte und damit die mögliche Kollision von Gesetz und Recht. „Im Konfliktfall,“ so hielt Hirsch fest, „hat der Richter seine Entscheidung am (überpositiven) Recht auszurichten, der Positivismus als bedingungsloser Gehorsam gegenüber dem Gesetz ist überwunden.“ Daraus ergab sich für ihn, dass die alte Metapher vom Richter als Diener des Gesetzgebers aufzugeben sei; er schlug als Alternative das Bild von Pianisten und Komponisten (für Richter und Gesetzgeber) vor.⁴⁵ Mit dieser offenen Relativierung der Bindung der Rechtsprechung an das positive Recht stieß er auf deutlichen Protest: „Die erneuerte gläubige Berufung auf ein nicht definiertes ‚überpositives Recht‘, dessen Schöpfer im ungewissen bleiben, das aber die Richter glauben anzuwenden, wenn sie geltende Gesetze ablehnen oder unterlaufen, überzeugt nicht. Wo finden es die Gerichte außer in ihren jeweils variablen subjektiven Vorstellungen von dem, was nach Hirsch ‚ungerecht‘ oder ‚sachwidrig‘ ist? Liegen nicht in der Lockerung der Gesetzesbindung, die hier vertreten wird, die mindestens gleich großen Gefahren für die Gerechtigkeit und Rechtssicherheit wie in dem als ‚überwunden‘ ausgegebenen Positivismus? Handelt es sich bei der angeblich ‚objektiven‘ Auslegung des angeblich ‚überpositiven‘ Richterrechts und der Ableitung aus den angeblichen ‚Naturen der Sachen‘ nicht um interpretative Vernebelungsstrategien, um aus einem Gesetz herauszulesen, was man selbst vorher eingelegt hat?“⁴⁶
In der sich anschließenden Debatte zeigte sich allerdings auch, dass Rüthers’ Position, über eine Methodenklarheit die Gesetzesbindung der Rechtsprechung erreichen zu können, von anderen Autoren mit Skepsis gesehen wird.⁴⁷ Der Auseinandersetzung liegt letztlich die schon in der Debatte um Naturrecht und
44 Rüthers 2002; Rüthers 2005b; Rüthers 2005c. 45 Hirsch 2006. 46 Rüthers 2006b; zuvor schon Möllers 2006. 47 U.a. Hassemer 2007; Hassemer 2008.
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Positivismus in der Weimarer Republik und in den 1950er Jahren offen gebliebene Frage zugrunde, wie klare Unrechtsurteile oder Unrechtsgesetzgebung vermieden werden können.⁴⁸ Simon und Ogorek haben treffend herausgearbeitet, dass es nicht allein auf die unter anderem von Rüthers und Hillgruber geforderte Methodenklarheit und Gesetzesbindung ankommt, sondern dass die Richterschaft – gerade in der obersten Instanz – „immer dialogisch eingebunden [ist] in Gesetzgebung, Dogmatik, Präjudiz, Kollegen, Gegner, gesellschaftliche Wertvorstellungen, ökonomische Optionen, politische Strömungen, die seine Argumente parieren, verstärken, konterkarieren“.⁴⁹ Es kommt mithin, so Ogorek, auf das politisch-gesellschaftliche Umfeld an, das bestimmte Urteile erwarten lässt oder den Resonanzraum für entsprechende Urteile bildet.⁵⁰ Auch andere Ereignisse, wie die Kontroverse um die Neukommentierung des Artikels 1 im führenden Grundgesetz-Kommentar Maunz-Dürig durch Mathias Herdegen⁵¹ sowie die Ablehnung Horst Dreiers als Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts durch eine seltene Koalition konservativer und linker Kritiker,⁵² machen die Bedeutung überpositiver Argumentationsmuster auch im Verfassungsstaat deutlich. Bemerkenswert die rhetorische Nähe beider Konflikte: Während Böckenförde mit Blick auf Herdegen fragte: „Bleibt die Menschenwürde unantastbar?“, so konstatierte der Innenpolitik-Chef der Süddeutschen Zeitung Prantl in der Causa Dreier: „Die Menschenwürde wird antastbar.“ Es ist nicht auszumachen, wie das Bundesverfassungsgericht Fälle zur Stammzellforschung, zum Embryonenschutz, zur religiös begründeten Beschneidung, zur Sterbehilfe usw. entscheiden wird, noch weniger ist erkennbar, welche Begründungsmuster leitend für seine Urteile sein werden. Prinzipiell vorstellbar, wenn auch sehr problematisch wäre eine Bezugnahme des Verfassungsgerichts auf die Kompetenzzuschreibung im frühen Südweststaatsurteil, es sei auch zur Überprüfung gesetzlicher Normen am Maßstab überpositiven Rechts befugt. In der Entscheidungsbegründung von 1951 hatte das Gericht ohne Relevanz für die Entscheidung des konkreten Falles eine Reihe allgemeiner Feststellungen, Autoritätsbehauptungen für die Kompetenz ihrer damals noch jungen Institution aufgestellt. Während das Reichsgericht noch formuliert hatte: „Der Gesetzgeber ist selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als diejenigen, die
48 Hillgruber 2008. 49 Simon 2008, S. 8. 50 Ogorek 2010, S. 168ff. 51 Böckenförde 2003, 2004; Hain 2006; Gröschner/Lembcke 2009; Baldus 2011. 52 Prantl 2008, kritisch dagegen (m. w. N.) Stolleis 2008.
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er sich selbst in der Verfassung oder anderen Gesetzen gezogen hat“,⁵³ nahm das Bundesverfassungsgericht in der Südweststaatsentscheidung eine wichtige Korrektur vor: Zwar erkannte es, dass eine verfassunggebende Versammlung einen höheren Rang habe als eine auf Grundlage der Verfassung gewählte Volksvertretung. Als pouvoir constituant seien ihr keine äußeren Schranken auferlegt. Sie sei „nur gebunden an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze“. Ebenso postulierte das Bundesverfassungsgericht: „Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassunggeber bindenden Rechts an und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen.“⁵⁴ Böckenförde hat treffend darauf hingewiesen, dass dabei jedoch unklar bleibt, „welche Art von Recht und rechtlicher Geltung mit den überpositiven Rechtsgrundsätzen und der postulierten Bindung an sie gemeint ist“. Vielmehr ist das außer- oder vorkonstitutionelle Recht dazu geeignet, einer Verfassung Legitimation zu verleihen. Diese „ethischen Rechtsgrundsätze und außerrechtlichen Normativitäten“ (Heller) „verleihen – oder entziehen – den positiven Rechtssätzen sittliche Verpflichtungskraft“.⁵⁵
8 Die für die Ingeltungsetzung wichtige Frage der Legitimation von Entscheidungen bleibt allerdings in den meisten Debatten über die Angemessenheit von vor- und außerkonstitutionellen Begründungsmustern ausgeblendet oder spielt bestenfalls eine marginale Rolle. In Begründungsfiguren wie „allgemeine Rechtsvorstellungen“, das „allgemeine Sittengesetz“, das „common man“-Verständnis zeigen sich zwei sehr verschieden erscheinende, letztlich aber doch wohl miteinander in Zusammenhang stehende Problematiken: Zum einen stößt ein höchstes Gericht mitunter an die Grenzen seiner Fähigkeit, eine Entscheidung allein aus dem Text der Verfassung ableiten zu können. Zum anderen bedarf eine Entscheidung zu ihrer Ingeltungsetzung der Akzeptanz und somit der Überzeugungskraft
53 RGZ 118, 325 (4.11.1927 – Aufwertungs- und Anleiheablösungs-Gesetz), S. 327. Vgl. Faller 1995, S. 2. Dort auch zu Bezugnahmen auf „der Verfassung vorausliegendes Recht“ durch den Bayerischen Verfassungsgerichtshof nach 1945 unter Federführung des späteren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Josef Wintrich (4). 54 BVerfGE 1, 14 (23.10.1951 – Südweststaat), S. 17 (Leitsatz 21), S. 18 (Leitsatz 27), S. 61; Dieckmann 2006, S. 38. Vgl. Schramm 1976, S. 293. 55 Böckenförde 1991e, S. 109f.
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der Argumentation des Gerichts. Schwierig wird dies beispielsweise, wenn eine aus dem Text der Verfassung abgeleitete Entscheidung fundamental dem Verständnis der Entscheidungsadressaten vom Gemeinwesen und dessen Grundlagen widerspricht. Als Adressaten von Urteilsbegründungen gelten neben den Verfahrensbeteiligten die anderen Akteure in den Bereichen Rechtsprechung und Gesetzgebung, potenzielle Implementationsakteure sowie die Fachöffentlichkeit und die weitere Öffentlichkeit.⁵⁶ In Deutschland war diese Problematik in keinem anderen Fall so offensichtlich wie beim Kruzifix-Beschluss, wo die verfassungsgerichtliche Interpretation des Verfassungstextes auf fundamentale Weise dem Common-Man-Verständnis von der politischen und gesellschaftlichen Ordnung widersprach – so jedenfalls in der Wahrnehmung einer regionalen weiteren Öffentlichkeit.⁵⁷ Wohlgemerkt haben auch handwerkliche Schwächen die negative Rezeption des Beschlusses begünstigt: Im Kern allerdings stand dem – jedenfalls in Bayern – vorherrschenden Verständnis, die Bundesrepublik sei ein auf christliche Kultur, Tradition und Werte beruhendes Gemeinwesen, der Interpretation der Mehrheit des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts gegenüber, nach der die staatliche Anordnung, die Klassenzimmer in öffentlichen Schulen mit einem Kruzifix auszustatten, der aus dem Grundgesetz abgeleiteten negativen Glaubensfreiheit der Beschwerdeführer widerspricht. Dasselbe gilt auch für die Entscheidungen zu „Soldaten sind Mörder“, wo sich die Begründung in vielfacher Hinsicht auf den Verfassungstext bezieht, diese verfassungsgerichtliche Interpretation einem weitverbreiteten „Rechtsgefühl“ der Bevölkerung entgegenstand.⁵⁸ Während dem Verfassungsgericht gelegentlich der Vorwurf gemacht wird, es solle sich bei seinen Entscheidungen lediglich auf die Verfassung selbst beziehen, lautete eine weitverbreitete Kritik in der Zeit von „Kruzifix“ und „Soldaten sind Mörder“ gerade andersherum: Als charakteristisch für diesen Typus von Kritik kann Friedrich Karl Frommes damaliger Vorwurf gelten, das Bundesverfassungsgericht wolle mit dem Kopf durch die Wand. Es sei „die Wand des Rechtsgefühls einer Mehrheit im Volk, die von der Mehrheit jenes kleinen elitären Zirkels des Verfassungsgerichts als spießig und überständig angesehen wird.“ Das Gericht, so mahnte Fromme, könne „sein Ansehen nur bewahren, wenn es nicht weiter versucht, einer als spießig empfundenen Volksmeinung voranzuschreiten
56 Herrmann 2010, S. 403f. 57 BVerfGE 93, 1 (16.5.1995 – Kruzifix). 58 BVerfGE 93, 266 (10.10.1995 – „Soldaten sind Mörder“). Zu diesem Konflikt vgl. u.a. Lamprecht 1996, insbes. S. 21–29 und S. 53–75.
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und gebieterisch zu rufen: ‚Folgt mir!‘“⁵⁹ Ähnlich die Vorhaltungen, die unter anderem im Bundestag und Bundesrat an die Adresse des Bundesverfassungsgerichts gerichtet wurden.⁶⁰ Argumentiert wurde dabei mit dem Rechtsempfinden der Bevölkerung, nach dem – so die Konstruktion – Kruzifix und Soldaten Symbole unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnung sind, somit ein Angriff auf diese Symbole mit einem Angriff auf die Identität dieser Ordnung selbst gleichkommt. Das Dokument Verfassung und sein Text, aus dem heraus für die konkreten Fälle konfligierende Grundrechte zu identifizieren sind, die dann als Grundlage für entsprechende Abwägungen dienen, rücken in den Hintergrund: Entscheidend wird gerade in einem die Identität der Ordnung betreffenden Fall das „allgemeine Rechtsempfinden“. Als vermeintliche Reverenz gegenüber den Entscheidungsadressaten können auch die Verwendung von Argumentationsfiguren betrachtet werden, wenn – ohne direkten Verweis auf den Grundgesetztext – auf „übergreifende Rechtsvorstellungen“ wie Gerechtigkeit, Verhältnismäßigkeit, Willkür bemüht – gelegentlich auch schlicht das „Gemeinwohl“,⁶¹ „Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit“⁶² oder „Natur der Sache“⁶³ – Bezug genommen wird.⁶⁴ Diese
59 So beispielsweise Fromme 1995: „Als durchsickerte, das Verfassungsgericht plane eine neue Entscheidung, konnte man annehmen, das Gericht werde sich nun auf eine Linie zurückziehen, die vom Rechtsempfinden der Mehrheit geteilt werde.“ 60 Lamprecht 1996, S. 53ff. 61 Schlaich/Korioth 2010, Rn. 491. Beispiele für problematische Anwendungen des Gemeinwohl-Begriffs BVerfG, 2 BvR 2098/08 vom 5.8.2009 (2. Kammer des Zweiten Senats), http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20090805_2bvr209808.html (Zugriff am 10.09.2012) mit Verweis auf BVerfGE 72, 200 (14.5.1986 – Einkommensteuerrecht) – „Zwingende Gründe des gemeinen Wohls“ begründen hier die Durchbrechung des Rückwirkungsverbots, im jüngeren Fall sogar die nachträglich begründete Sicherheitsverwahrung. 62 Zuletzt in 2 BvL 16/09 (16.12.2010; 2. Kammer des Zweiten Senats), http:// www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/lk20101216_2bvl001609.html (Zugriff am 10.09.2012); BVerfGE 17, 210 – Wohnungsbauprämie (12.2.1964), S. 217 („Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft“); BVerfGE 102, 254 – Entschädigungsund Ausgleichsleistungsgesetz (21.11.2000), S. 311; sehr kritisch BVerfGE 48, 127 – Wehrpflichtnovelle (13.4.1978) Sondervotum Hirsch S. 199–201: Hirsch verweist auf die Gefahr der Verselbstständigung der Verfassungsgerichtsbarkeit zur Verfassungsgesetzgebung, sodass das Bundesverfassungsgericht vom „Hüter“ zum „Herrn“ der Verfassung werde; vgl. Böckenförde 1991d. Kritisch auch BVerfGE 42, 64 – Zwangsversteigerung I (24.3.1976) Sondervotum Geiger S. 79f. 63 Dazu schon Rinck 1963 m.w.N. 64 Abwehrend dagegen (im Kontext der „Kruzifix“-Kontroverse) Dieter Grimm: „Der ‚verständige Durchschnittsleser‘ oder der ‚flüchtige Leser‘ ist deswegen nicht stets der richtige Bezugspunkt für Sinndeutungen“; Grimm 1995, S. 1700.
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Bezugnahmen sind keineswegs als Gegensatz zum Selbstverständnis eines Verfassungsgerichts zu verstehen, das die Verfassung als Maßstab seiner Rechtsprechung hat, ein Verständnis, über das prima facie im Geltungsraum der Verfassung Konsens besteht. Indes bleiben Differenzen hinsichtlich dessen, was „die Verfassung“ – als Ordnung des Politischen – auch jenseits des Verfassungstextes beinhaltet.
9 Die Figur der „objektiven Wertordnung“ stieß in den späten 1970er Jahren zunehmend auf Widerspruch, nicht zuletzt durch einige angreifbare Urteilsbegründungen und wurde seither kaum noch angewendet, statt dessen begnügt sich das Verfassungsgericht mit Formeln wie „objektiv-rechtlicher Wertentscheidung, objektiver oder wertgebundener Ordnung, verfassungsrechtlicher Grundentscheidung, objektiven Prinzipien oder ganz einfach von der wertsetzenden Bedeutung der Grundrechte“.⁶⁵ Parallel zur Entwicklung einer breiten Akzeptanz der Institution Verfassungsgericht und seiner Entscheidungen hat sich dann ein Positivismus gegenüber der Institution aufgebaut,⁶⁶ der das Verfassungsgericht in die Lage versetzt, sich zunehmend auch in legitimierender Funktion auf sich selbst zu beziehen.⁶⁷ Allerdings stößt dieser Selbstbezug an Grenzen: bei Problemkomplexen, bei denen die Auslegung der Verfassung keinen klaren Befund liefert, und in der Geltungsdimension dort, wo das höchste Gericht in nachhaltiger Dissonanz zu den Entscheidungsadressaten gerät. Das der Transzendenzbehauptung nach oberste Prinzip – die Letzt-Bezugnahme auf die Verfassung – gilt zwar als letzter Maßstab, indes zeigen die Praktiken, dass Gemeinwesen und Gesellschaft nicht ohne Rekurs vor und über die Verfassung auszukommen scheinen, auch – und vielleicht gerade – wenn oberste Gerichte, die der Verfassung als Maßstab ihres Entscheidens besonders verpflichtet sind, auf „Gemeinsinn“ wie „allgemeine Rechtsvorstellungen“ zurückgreifen, um einerseits aus dem Verfassungstext nicht ableitbare Fragen entscheiden zu
65 Dreier 1993, S. 23. 66 Neben Smends Diktum „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne“; Smend 1971, S. 16; hierzu insb. Schlink 1989 und Jestaedt 2002. 67 „In unserem Zusammenhang interessanter ist jedoch, daß das Gericht zunehmend nur noch auf frühere Entscheidungen und die dort (aus der Wertentscheidungskomponente) gezogenen Folgerungen verweist, statt sie dogmatisch zu begründen“; Jarass 1985, S. 366f.
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können und andererseits die Geltung und Umsetzung ihrer Entscheidungen durch die Entscheidungsadressaten im Blick haben müssen.
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Geltendes transformieren – Transzendenz (neu) begründen
Irene Schulmeister, Johanna Rautenberg
Tora oder Wort Gottes? Legitimierung von Gemeinschaftsmodellen im nachexilischen Israel (Deuteronomium 23, 2–9, Nehemia 13,1–3, Jesaja 56,1–8) In den biblischen Texten finden sich ganz unterschiedliche, sich teilweise widersprechende Konzepte von Gemeinschaftsbildung, die in einem je spezifischen Begründungszusammenhang mit Transzendenzbehauptungen stehen.¹ Mit Deuteronomium 23,2–9, Jesaja 56,1–8 und Nehemia 13,1–3² sollen drei zentrale Texte vorgestellt und auf das Funktionieren ihrer jeweiligen ordnungsbegründenden bzw. ordnungslegitimierenden Transzendenzbehauptungen hin befragt werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Jes 56,1–8 und Neh 13,1–3. Denn diese Texte spiegeln mit ihrer offen-inklusiven (Jes) bzw. restriktiv-abgrenzenden (Neh) Haltung Pole einer Diskussion, die in nachexilisch-persischer Zeit zunehmend heftig geführt wurde: die Frage, wer zu ‚Israel‘ gehört und wer nicht. Nicht nur deren inhaltliche Position – auch das Verhältnis zwischen den jeweils aktivierten Transzendenzressourcen lässt sich als ‚konkurrierend‘ beschreiben. Der Dtn-Text wiederum wird als wichtiger Bezugstext³ kurz vorgestellt.⁴ Zunächst jedoch einige Hinweise zur Einordnung der genannten biblischen Bücher: Das Deuteronomium, das fünfte Buch des Mose (der Tora = Weisung), enthält vorwiegend Gesetzesmaterial und präsentiert sich literarisch als Reden des Mose an das Volk Israel, situiert kurz vor dem Tod des Mose und am Vorabend des Einzugs in das Israel verheißene Land. Entstehungsgeschichtlich durchlief das Buch einen längeren Wachstumsprozess, sein Grundbestand dürfte aber bis in das 7. Jahrhundert v. Chr. zurückgehen. Zentrale theologische Deutungskategorie ist die Konzeption des Bundes zwischen der Gottheit JHWH mit seinem Volk
1 Vorwort und Fazit wurden gemeinsam verfasst; Abschnitt 1 (Deuteronomium 23,2–9 als Text der Tora) und Abschnitt 3 (Jesaja 56,1–8 als direkter Gotteswille) stammt von I. Schulmeister, Abschnitt 2 (Nehemia 13,1–3: Tora als Lesung) von J. Rautenberg. 2 Im Folgenden werden als Abkürzungen für diese biblischen Bücher verwendet: Dtn (Deuteronomium), Jes (Jesaja) und Neh (Nehemia). 3 Während sich der Neh-Text literarisch explizit auf Dtn 23,2–9 bezieht, ist für Jes 56 ein intendierter, literarischer Bezug allerdings nicht sicher nachweisbar, vgl. dazu Schulmeister 2012a. 4 Im Rahmen dieses Beitrags können nur wenige zentrale Eckpunkte angedeutet werden, ausführlich siehe Schulmeister 2012a.
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Schulmeister, Rautenberg
Israel sowie die Konzeption eines ‚heiligen Gottesvolks‘ mit der Verpflichtung auf den ausschließlichen Dienst für seinen Gott. Das Buch Nehemia bildet den zweiten Teil des Gesamtwerkes Esra-Nehemia (ENB), das nach den beiden Protagonisten Esra und Nehemia benannt ist. Es berichtet von der Rückkehr der exilierten Judäer aus der Babylonischen Gefangenschaft nach Palästina und dem Wiederaufbau des Tempels und der Stadt Jerusalem. Das Werk verhandelt die Frage nach der Neukonstitution des nachexilischen Gemeinwesens, indem es eigene Modelle der Zugehörigkeit entwickelt. Seine Entstehung lässt sich ungefähr in das 5./4. Jahrhundert v. Chr. datieren. Bei dem Buch Jesaja handelt es sich um eine der drei großen Prophetenschriften des Alten Testaments. In seiner vorliegenden Gestalt ist es eine Komposition aus vornehmlich drei literarischen Teilen bzw. Schichten (Jes 1–39: „Protojesaja“, Jes 40–55: „Deuterojesaja“, Jes 56–66: „Tritojesaja“) mit im Kern je unterschiedlicher historischer Hintergrundsituation (um 740–700; 550 [Exilszeit]; 520–(?)300 v. Chr. [Nachexilszeit]), je spezifischer Sprache und unterschiedlich akzentuierten theologischen Aussagen. Der hier behandelte Text Jes 56,1–8 bildet die programmatische Eröffnungsperikope des dritten Buchteils („Tritojesaja“).
1 Deuteronomium 23,2–9 als Text der Tora Das sogenannte ‚Gemeindegesetz‘ in Dtn 23,2–9, dem fünften Buch des Mose (der Tora) regelt die Zulassung bzw. Nichtzulassung bestimmter Personengruppen in den ʤʥʤʩ ʬʤʷ (qehal JHWH), die ‚Versammlung Jahwes‘. Diese Regelung steht im Kontext des deuteronomischen Konzeptes eines ‚heiligen Gottesvolks‘ und formuliert die geforderte Heiligkeit Israels auf die ‚Versammlung Jahwes‘ hin, wobei speziell auf die kultisch-sexuelle Reinhaltung abgehoben wird:⁵ „2 Einer, dessen Hoden zerquetscht sind oder dessen Harnröhre verstümmelt ist, darf nicht in die Jahwe-Versammlung eintreten. 3 Ein [Kind] aus einer „Mischehe“ darf nicht in die Jahwe-Versammlung eintreten; auch in der zehnten Generation darf sein Nachkomme nicht in die Jahwe-Versammlung eintreten.
5 Braulik 1991, S. 87; Nielsen 1995, S. 220f. Dieser Gesamtzusammenhang wurde vor allem von G. Braulik und N. Lohfink in vielen Publikationen herausgearbeitet, vgl. komprimiert dargestellt Braulik 2008, S. 149–153; zur Ausweitung des Sakralen bes. Lohfink 1995. Diesen Zusammenhang verkennt Olyan 2011, S. 183, wenn er meint, „natürlich fehlt in Dtn 23,4–9 das Thema der Heiligkeit und deren Bedrohungen“.
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4 Weder ein Ammoniter noch ein Moabiter darf in die Versammlung Jahwes eintreten. Auch in der zehnten Generation darf ein Nachkomme von ihnen nicht in die Jahwe-Versammlung eintreten – niemals. 5 Denn sie sind euch nicht mit Brot und Wasser entgegengekommen auf dem Weg bei eurem Auszug aus Ägypten, und Moab hat Bileam, den Sohn Beors, aus Petor in Aram-Naharajim gegen dich gedungen, um dich zu verfluchen. 6 Doch Jahwe, dein Gott, hat sich geweigert, auf Bileam zu hören, und Jahwe, dein Gott, hat für dich den Fluch in Segen verwandelt; denn Jahwe, dein Gott, liebt dich. 7 Du sollst dich niemals um einen Friedens- und Freundschaftsvertrag mit ihnen bemühen. 8 Nicht dagegen sollst du den Edomiter verabscheuen, denn er ist dein Bruder. Nicht sollst du den Ägypter verabscheuen, denn du hast als Fremdling [mit dem Schutzstatus eines Gastrechts] in seinem Land gewohnt. 9 Die Söhne, die ihnen geboren werden – in der dritten Generation darf ein Nachkomme in die Versammlung Jahwes eintreten.“
Nach dieser gesetzlichen Bestimmung haben Entmannte und Verschnittene, „Mischlinge“ sowie Ammoniter und Moabiter grundsätzlich keinen Zutritt in die Jahwe-Versammlung. Dagegen können Edomiter und Ägypter nach der dritten Generation in den qehal JHWH aufgenommen werden. Genauerhin wird die Zugehörigkeit zum qehal nur in den ersten drei Verboten durch eine thetische Bestimmung abgrenzend definiert, die beiden letzten Verbote in Vers 8 dagegen zielen positiv auf zwischenmenschliches Verhalten und werden erst im folgenden Vers 9 auf die qehal-Zulassung hin interpretiert.⁶ Mit der Größe qehal JHWH dürfte ein Aufgebot freier Männer gemeint sein, ursprünglich wohl das Heeresaufgebot.⁷ Allerdings kam es im Lauf der Zeit zu einer ‚Theologisierung‘, sodass Dtn 23,2–9 zunehmend als Regelung der Teilnahmeberechtigung an der Kultversammlung und dann überhaupt an der Religions- bzw. Volksgemeinschaft Israels aufgefasst wurde.⁸ Die Vorstellung gebotener ‚Reinheit‘ war aber wohl von Anfang an gegeben.⁹
6 Vgl. bereits Kellermann 1977, S. 35. 7 Vgl. Braulik 1992, 170; Rose 1994, S. 323f. – Das Deuteronomium selbst nennt keine spezielle Funktion dieser ‚Jahwe-Versammlung‘. 8 Das lässt die Rezeption dieses Textes deutlich erkennen, vgl. beispielhaft den zweiten Teil dieses Beitrags. Zur innerbiblischen Rezeption von Dtn 23,2(4)–9 vgl. jüngst Olyan 2011; in diesem Zusammenhang bietet Olyan (bes. S. 178–180) auch eine Diskussion dreier Interpretationen des Idioms „in die Gemeinde Jahwes eintreten“: a) in den Bereich des Tempels eintreten (Klgl 1,10; Ez 44,9; Jes 56,3–7; b) in die Stadt Jerusalem eintreten (Jes 52,1), c) ein Mitglied der Gemeinschaft Israels sein/werden (Esr 9,12; Neh 13,1–3). 9 Das Gemeindegesetz von Dtn 23,2–9 ist mit dem folgenden Abschnitt V. 10–15, in dem es um die Reinheit des Kriegslagers geht, deutlich verknüpft (Stichwort ʠʡʩʠʬ): Auch das verweist auf die erforderliche Reinheit des qehal JHWH, deutet aber auch auf die Verbindung von Jahweversammlung und Heerbann. Hier wie dort – da Jahwe selbst mitten im Kriegsheer gegenwärtig ist (Dtn 23,15) – ist also noch die „Würdigkeit in der Jahwe-Präsenz“ (Rose 1994,
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Im Blick auf die hier fassbare Ordnungsbegründung wird mit der gebotenen ‚Heiligkeit‘ und ‚Reinheit‘ ein transzendenter Geltungsanspruch vermittelt, der sich mit gruppenbezogenen Grenzkonstruktionen bzw. -destruktionen verschränkt; diese wiederum sind konkrete, auf (die) Gemeinschaft sowie Gemeinsinn ausgerichtete Verhaltensvorgaben und somit entsprechende Handlungsressourcen. Differenz (i. S. der Exklusivität sowie der Ausgrenzung) wird hier also als konstitutiv für die Bestimmung des eigenen Geltungsanspruches behauptet. Doch zeigen sich nicht nur exkludierende, sondern auch inkludierende, ein bestimmtes Sozialverhalten einfordernde Handlungsanweisungen. So ist für die in Vers 8 genannten Edomiter und Ägypter eine qehal-Aufnahme ab der dritten Generation möglich, ihre soziale Deklassierung wird ausdrücklich untersagt.¹⁰ Dabei rezipiert die im Blick auf Edom formulierte Begründung positiv eine genealogische Tradition (Gen 25,19–26),¹¹ während in der ‚historischen‘ Begründung bezüglich des Ägypters positiv die einst selbst in Ägypten erfahrene Gastbürgerschaft angeführt wird.¹² Dass Edomiter und Ägypter ab der dritten Generation in die Versammlung Jahwes aufgenommen werden können, zeigt nicht zuletzt, dass der qehal JHWH keine reine Blutsgemeinschaft oder exklusiv ethnisch basierte Versammlung ist. Übergeordnet und leitend für die in Dtn 23,2–9 vorliegende Ordnungsbegründung ist die religiös-kultische Form der Transzendenzbehauptung, wobei vor allem die Aspekte der Sakralisierung und der Tabuisierung bzw. Unberührbarkeit¹³ eine Rolle spielen. Zeigt sich der Aspekt der Sakralisierung vornehmlich in der Leitvorstellung der ‚Heiligkeit‘ sowie der Institution des an eine spezifische Gottheit gebundenen qehal JHWH,¹⁴ so wird der Aspekt der Tabuisierung
S. 328) greifbar, weshalb auch hier wie dort unter dem Gesichtspunkt der Zulassung scharfe Maßstäbe angelegt werden. 10 Dieser Sinn dürfte mit „nicht verabscheuen“ angezielt sein. Das in V. 8a.b faktisch positiv eingeforderte zwischenmenschliche Verhalten wird dann erst im folgenden Vers 9 auf die qehalZulassung hin interpretiert. 11 Falls der Satz auch im Kontext der deuteronomischen „Geschwisterethik“ und seinem Leitwort „Bruder“ verstanden werden darf, würde damit auch ausdrücklich ein entsprechendes „geschwisterliches“ Sozialverhalten eingemahnt werden; vgl. dazu komprimiert Braulik 2008, S. 150f., sowie Schulmeister 2012b. 12 Verwiesen wird also auf die erste Periode von Israels Aufenthalt in Ägypten, als Israel dort als ʸʢ/Fremder [mit dem Schutzstatus eines Gastrechts] gewohnt hatte, vgl. Gen 12,10–20; 46 (f.). 13 Vgl. die Vorstellung körperlich-sexueller Integrität. 14 Durch die im Hebräischen vorliegende spezifische nominale Wortverbindung ist hier eine ausdrückliche Bindung an den Gott Jahwe unmittelbar greifbar, und zwar offenbar in „Gegensatz zu anderen Göttern und ihren Mannschaften“; Braulik 1992, S. 170.
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bzw. Unberührbarkeit an dem Umstand fassbar, dass sich für die Regelung von Dtn 23,2–9 primär ein fremdreligiös- (und nicht primär ethnisch-) abgrenzender Hintergrund festmachen lässt, wobei speziell auf die kultisch-sexuelle ‚Reinheit‘ abgehoben wird; hierfür sprechen: – der unmittelbare Kontext von Regelungen, die alle einen thematischen Bezug zum Sexuellen haben (Dtn 22,13–23,15),¹⁵ wobei Dtn 23,1–15 nochmals speziell auf das Thema ‚Reinheit‘ abheben;¹⁶ – der kultisch-sexuelle Hintergrund der in Vers 2 angesprochenen Verstümmelungen; – die Tradition von der blutschänderischen Herkunft der Ammoniter und Moabiter (V. 4/Gen 19,30–38); – die in Vers 8 vorkommende Wortwurzel ʡʲʺ, die häufig in der Verbindung „Jahwe-Abscheu“ begegnet und auf die kultische Dimension rekurriert; – die in der Bezeichnung qehal JHWH zum Ausdruck kommende Bindung an Jahwe (in Abgrenzung zu anderen Göttern).¹⁷ Die Reinheit der Gruppe und die Reinheit der Religion stehen in dieser Regelung den qehal JHWH betreffend in einem deutlichen Zusammenhang. Aber auch spezifische Rechtfertigungen mit der Geschichte werden in Dtn 23,2–9 angeführt (V. 5f.8), wobei die Konstruktion einer Eigengeschichte deutlich wird¹⁸ sowie die Überschreitung des eigenen Zeithorizonts¹⁹ – also klassisch wichtige Aspekte der Stabilisierung und Auf-Dauer-Stellung einer sozialen Ordnung.²⁰
15 Vgl. Braulik 1988, S. 241, 253. 16 Vgl. Braulik 1991, S. 87. 17 Vor diesem Hintergrund fügt sich das Gemeindegesetz mit seiner angezielten (v.a. kultischsexuellen) Reinhaltung des qehal JHWH in das Bild einer auch sonst greifbaren besonderen Bewertung des Sexuellen und damit wohl auch die Ablehnung fremdreligiöser Sakralisierung des Geschlechtlichen (vgl. die Bewertung als Schandtat in sexuell-kultischem Kontext: Gen 34,7; Lev 19,29; 20,17; Dtn 22,21; Ri 19,23f.; 20,10; 2 Sam 13,12; Ijob 31,11; Jer 29,23; Ez 22,11). 18 Etwa im Blick auf die Begründung in V. 5f. im Kontext der weiteren alttestamentlichen antimoabitischen Texte, vgl. im einzelnen Schulmeister 2012a. 19 Darauf weisen formale Gründe (prinzipieller Geltungsanspruch durch die Form der gesetzlichen Regelung) sowie inhaltliche Gründe (vgl. die ausdrückliche Geltungsanweisung „niemals“ i.S.v. „auf ewig“, V. 3.4.7). 20 Dass zur Durchsetzung von ‚Eigengeschichte‘ auch die Verfügung über die Erinnerung klassisch als weitere Form von Verfügbarkeit über Geschichte wichtig ist, zeigt gut die alttestamentliche Erinnerungskultur.
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2 Nehemia 13,1–3: Tora als Lesung Der Text Dtn 23,2–9 findet im letzten Kapitel des Buches Nehemia eine ausdrückliche Erwähnung, indem hier ein Teil der Passage ‚zitiert‘ wird. Neh 13,1–3 berichtet von einer Lesung aus der Tora (Dtn 23,2–9), die die Zuhörer dazu veranlasst, bestimmte Personen aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen. Tora verstanden als Weisung Gottes impliziert einen transzendenten Geltungsanspruch, der hier die Konstruktion von bestimmten Gemeinschaftsgrenzen legitimiert. Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt auf der Schriftlichkeit der Tora und geht der Frage nach, inwiefern dem Rekurs auf ein Schriftstück im Allgemeinen, auf die schriftliche Tora und speziell auf Dtn 23,2–9 in diesem Entscheidungsprozess eine ordnungsbegründende Bedeutung zukommt. „13,1: Zu jener Zeit wurde gelesen aus dem Buch Mose vor den Ohren des Volkes; und man fand in ihm geschrieben, dass ein Ammoniter und ein Moabiter nicht in die Versammlung Gottes kommen soll für alle Zeit. 13,2: Denn sie waren den Kindern Israels nicht entgegengetreten mit Brot und Wasser, und sie hatten gegen es Bileam in Dienst genommen, um es zu verfluchen, aber es wandelte unser Gott den Fluch zum Segen. 13,3: Und es geschah, als sie die Tora hörten, da trennten sie alle Mischlinge von Israel.“
Der Text enthält nur sehr vage Angaben hinsichtlich des Ablaufs der erzählten Geschehnisse, es werden weder die Namen der Akteure genannt noch Angaben zum Ablauf des Lesevorgangs gemacht. Der Anlass oder der Initiator des Ereignisses finden ebenfalls keine Erwähnung. Stattdessen wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine bestimmte Schriftstelle gelenkt. Die Lesung richtet sich an die Gesamtbevölkerung, die hier mit ʭʲ (Volk), bezeichnet wird.²¹ Dem Verb ʠʸʷ (lesen) in 13,1 korrespondiert das Verb ʲʮʹ (hören) in 13,3. Das Vorgelesene wird verstanden und in Handlung umgesetzt. Diesen Prozess verdeutlicht der Wechsel der Verbmodi: in 13,1 findet sich die Passivform, während die Verben in 13,3 aktivisch gebildet sind. Diese beiden Verse bilden den Rahmen um einen aus der Tora ‚zitierten‘ Schriftabschnitt. Es handelt sich um die Textstelle Dtn 23,4–6, deren Wiedergabe mit der Formel ʥʡʡʥʺʫ (geschrieben in) eingeleitet wird. Neh 13,1b–2 gibt diese Passage jedoch nur paraphrasierend und sehr verkürzt wieder, indem er sich auf die Aussagen über die Ammoniter und Moabiter beschränkt. In fast wörtlicher Weise übernimmt er die Forderung, dass weder Ammoniter noch Moabiter in die Versammlung Gottes eintreten dürfen. Das Verb ʠʥʡ (hineingehen, kommen) in 13,1 impliziert, dass die beiden Völker
21 Zur Verwendungsweise des Termins ʭʲ im ENB vgl. Karrer 2001, S. 79–81.
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sich noch nicht in einer Gemeinschaft mit der Versammlung befinden und die Initiative zum Zugang von ihnen als Außenstehenden ausgeht. In dem erzählerischen Kontext von Neh 13,1–3 geht es jedoch um die umgekehrte Bewegung: Personen, die sich in der Gemeinschaft befinden, sollen ausgeschieden werden. Dennoch übernimmt Neh 13,2 den Begründungszusammenhang aus Dtn 23,5. Die Ammoniter und Moabiter haben deswegen keinen Zugang zur Gemeinschaft, weil sie ethischer Verfehlungen gegen Israel schuldig geworden sind. Das Schriftzitat erwähnt die inkludierenden Aussagen in Dtn 23,8.9, die durchaus von der Möglichkeit der Aufnahme fremder Völker ausgehen, nicht. Der Fokus des Zitierenden liegt auf dem ausgrenzenden Aussagepotential von Dtn 23,2–9 und führt damit zu einer starken Verkürzung der Aussageintention der Vorlage. Eine Durchlässigkeit der Gruppengrenzen, wie sie nach Dtn 23,2–9 möglich erscheint, wird damit ausgeschlossen. Die Reaktion der Zuhörer auf die kurze Lesung erfolgt in 13,3. Aus der Aussage, dass zwei bestimmte Völker keinen Zutritt zur Gemeinschaft Gottes haben, folgern die Adressaten, dass alle „Mischlinge“ von Israel getrennt werden sollen. Diese Deutung des Zitats hat kaum etwas mit seinem ursprünglichen Aussageinhalt zu tun. Die Übertragung und damit die Ausweitung des Zutrittverbotes der Ammoniter und Moabiter auf alle „Mischlinge“ wird ohne Begründung vollzogen. Der Terminus ʡʸʲ, der am angemessensten mit ‚Gemisch, Mischling‘ übersetzt werden kann, bezeichnet Personen, deren Abstammungsverhältnisse „vermischt“ sind.²² Die Objekte der Aussonderung sind also die Nachkommen aus gemischten Ehen. Mit dieser Forderung entspricht 13,3 nicht der Aussage in 13,1, sondern zielt auf die Folgen der Missachtung von 10,31, wo sich das Volk darauf verpflichtet, keine Ehe mit einem Partner aus einem andern Volk einzugehen. Die Fokussierung auf die Abstammungsverhältnisse in 13,3 blendet zudem den ethischen Aspekt der Argumentation gegen eine Integration der beiden Völker in 13,2 gänzlich aus. Die Betonung der ethnischen Zugehörigkeit als das entscheidende Unterscheidungskriterium geht parallel zu 9,2, wo sich die Israeliten aufgrund ihrer Abstammung von den Fremden absondern. Diese Verschiebung der Zielgruppe, auf die die Exklusionsbestrebungen hinzielen, lässt auf eine bestimmte Wahrnehmung der Ordnungsgröße Volk schließen: In der erzählten Welt des Buches Nehemia bedarf es deshalb Prozessen der Aussonderung, weil sich in der Gemeinschaft Menschen befinden, die aufgrund ihrer ‚vermischten‘ Abstammungsverhältnisse die Reinheit des Volkes gefährden. Die Diskrepanz zwischen der paraphrasierten Aussage aus Dtn 23,4–9 und ihre
22 Schunck 2009, S. 375. Möglicherweise bezieht der Terminus sich auf ʣʦʮʮ aus Dtn 23,2, das mit ‚Bastard‘ übersetzt werden kann, vgl. Bultmann 1992, S. 110.
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Deutung in 13,3 ist nicht zu übersehen. Dem Vorlesen eines bestimmten Schriftstücks aus der Tora folgt statt einer Auslegung eine Handlung, die mit dem Inhalt des ‚zitierten‘ Texts nur schwer in Einklang zu bringen ist. In dem Versuch diese Spannung zu klären, erscheint es sinnvoll, im Gesamtzusammenhang des ENB der Bedeutung von schriftlichen Dokumenten und des Umgangs mit ihnen nachzugehen.²³ In der erzählten Welt des ENB spielt Schriftlichkeit eine bedeutende Rolle. Briefe, königliche Empfehlungsschreiben und Erlässe finden zahlreiche Erwähnung, es wird sogar von Textarchiven berichtet. Im Erzählverlauf nehmen Namenlisten einen breiten Raum ein. Die Bezugnahme auf dieses Schriftmaterial dient zum einen als Autoritätsstrategie innerhalb einer Argumentation²⁴ und zum anderen trägt sie auf der narrativen Ebene zur Entwicklung der Handlung bei.²⁵ Unterschiedliche Derivate des Verbes ʡʺʫ (geschrieben) markieren die Bezugnahmen auf die persischen Verwaltungsdokumente deutlich als Zitate (Esr 5,7; 6,2; Neh 6,6), häufig mit der Formel ʥʡʡʥʺʫ.²⁶ Mit diesem Befund fügt sich das ENB in ein kulturelles Umfeld ein, in dem die Kommunikation im Medium der Schriftlichkeit eine hohe Wertschätzung genießt.²⁷ Die einschlägigen Textpassagen machen deutlich, dass der Umgang mit profanen Dokumenten den kulturellen Gepflogenheiten der erzählten Welt entspricht. Als Referenzschreiben genießen Schriftstücke eine hohe Autorität, sie
23 Eine ausführliche Untersuchung zu Schrift und Schriftlichkeit im ENB bietet Häusl 2011, S. 175–194. 24 Das ENB kennt noch andere Garanten von Legitimität, die nicht in schriftlicher Form vorliegen: das Wort Jeremias (Esr 1,1), die Gebote Davids (Neh 12,45). 25 „Den zitierten Schrifttexten kommt entweder eine Handlungsinitiative oder eine konfliktklärende Funktion zu. Handlungsinitiativ sind etwa das Kyros-Edikt und das Edikt des Aratxerxes in Esr 7,12–26, konfliktklärend sind der Erlass des Darius in Esr 6,6–12 und das Schreiben des Artaxerxes in Esr 4,17–22.“, Häusl 2011, S. 191. 26 Weitere Beispiele zur Verwendung profaner Dokumente im Buch Nehemia: Die königlichen Briefe in 2,7.8.9 an die Statthalter „jenseits des Stroms“ und den Verwalter Asaf dienen Nehemia als Referenzschreiben für eine ungehinderte Reise nach Jerusalem und gewährleisten die Lieferung von Baumaterial. Nachdem die Widersacher Nehemias in 6,1–4 viermal vergeblich versuchten, Nehemia zu einem Treffen einzuladen, schicken sie einen unverschlossenen Brief, der in 6,6 wörtlich zitiert wird. Die Kontroverse um Nehemias Mauerbau bildet den Hintergrund für die Korrespondenz zwischen der Elite Judas und Tobjia, in dem die „Vornehmen“ Judas sich um eine Vermittlung der gegensätzlichen Positionen bemühen (6,17–19a). Einen weiteren Hinweis auf die Verwendung von schriftlichem Material gibt die Erstellung von Namenslisten in 7,4–65. 27 „Nicht erst der Hellenismus, sondern schon die spätpersische Zeit ist durch eine Schriftkultur im eigentlichen Sinne des Wortes geprägt“, Willi 2002, S. 269.
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dienen als Kommunikationsmittel in Konfliktangelegenheiten und in der Organisation des Gemeinwesens wird auf die Erstellung von Listen zurückgegriffen. Wie verhält es sich mit der Tora? An sieben Stellen im Buchteil Nehemia²⁸ wird Tora in Verbindung mit ʸʴʱ (Schriftstück) genannt. Das macht deutlich, dass sie in der erzählten Welt in schriftlicher Form vorliegt, auf deren Texte durch den Terminus ʥʡʡʥʺʫBezug genommen wird (8,14; 13,1). Die Bedeutung von Tora resultiert jedoch nicht aus ihrer schriftlichen Verfasstheit. Die Tora-Lesung in 8,1–8 fokussiert statt der Wiedergabe des vorgetragenen Toratextes deutlich den Vorgang des Lesens und Verstehens: „8,3.4: Vom frühen Morgen bis zum Mittag las Esra auf dem Platz vor dem Wassertor den Männern und Frauen und denen, die es verstehen konnten, das Gesetz vor. Das ganze Volk lauschte auf das Buch des Gesetzes. 8,8: Man las aus dem Buch, dem Gesetz Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, sodass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten.“
Der Inhalt des Vorgelesenen wird nicht konkretisiert, stattdessen liegt der erzählerische Schwerpunkt auf dem Prozess des Verstehens und damit der Rezeption des Gehörten. Der Terminus Tora steht hier für einen mündlichen Vorgang, der im kommunikativen Geschehen autoritative Unterweisungen vermittelt: „Will man in diesem Zusammenhang das Wort ‚Offenbarung‘ gebrauchen, dann meint dieses hier gerade nicht das Eintrichtern von Information, sondern das Entdeckenlassen von Wahrheit unter aktivem Einbezug eines zum Hören berufenen und bereiten Partners im ʤʸʥʺ-Vorgang.“²⁹
Die Entwicklung von entscheidenden Impulsen für die Handlungspraxis der Gemeinschaft geschieht damit im Medium der Mündlichkeit. Ein weiteres Beispiel für diese Weise der Textrezeption findet sich in 8,13–18, wo es um die Feier des Laubhüttenfestes geht. Den Anlass für dieses Fest finden die Zuhörer in einem mit ʥʡʡʥʺʫ ‚zitierten‘ Toratext. Wie in 13,1–3 mündet die ‚wörtliche‘ Lesung eines Toratextes in eine konkrete Praxis, die sich ebenfalls kaum aus der vorgelesenen Schriftstelle herleiten lässt.³⁰ Die Handlungen in 8,15 und 13,3 beruhen also nicht auf einer Auslegung oder Kommentierung des Textes, sondern sie entwickeln sich im Prozess des Zuhörens und Verstehens der vorgetragenen Schrift. Damit setzen die Passagen 8,14–15 und 13,1–3 ein Verständnis von Tora voraus,
28 8,1.3.5.8.18; 9,3; 13,1. 29 Willi 2002, S. 259. 30 Zum Verhältnis zwischen Neh 8,13–18 und dem daraus abgeleiteten Handlungsimpuls, vgl. Häusl 2010, S. 231–251.
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wie es in 8,1–8 ausführlich entfaltet wird. Tora im Sinne einer aktuellen Lehre wird von den Zuhörern rezipiert und in eine Handlung umgesetzt, die aus diesem Verstehen resultiert.³¹ Die Gestaltung der Handlungspraxis in 13,3 wird somit nicht bestimmt von einer Applikation dieses Bezugstext in die aktuelle Hörersituation, vielmehr kommt es zu einer Kontextualisierung des Gehörten in die erzählte Lebenswelt. Der Kontext hierfür erschließt sich aus Neh 9,2 und 10,31, in denen Abstammungskriterien als Zulassungsbedingungen zur Gemeinschaft genannt werden. Im Diskurs über Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit bildet Dtn 23,2–4 den Referenzrahmen, der für die Legitimität der Exklusion bestimmter Personengruppen steht. Die Ausgestaltung der konkreten Handlungspraxis und ihre ordnungsbegründende Relevanz gründen jedoch im Vorgang Tora als mündliche Unterweisung. Tora in diesem Sinne konstituiert sich in der Kommunikation zwischen dem Vortragenden und den Zuhörern und birgt damit ein gemeinschaftsbildendes Potential. Im Prozess der Tora-Lesung zielt die Generierung transzendenter Deutungsangebote auf gemeinschaftsorientiertes Handeln. Es wird deutlich, dass der Schriftlichkeit der Tora nicht die autoritative Bedeutung beigemessen wird, wie sie der Umgang mit profanen Dokumenten im ENB auszeichnet. Die Autorität der Tora gründet im Vorgang der Unterweisung, und nicht in einem bestimmten Lerninhalt oder Schriftstück. Die erzählte Welt des ENB ist zwar geprägt von einer Kultur der Schriftlichkeit, im religiösen Kontext ist es aber die mündliche, kommunikative Konzeption von Tora, der ein handlungslegitimierender und damit transzendenter Geltungsanspruch zukommt.³²
3 Jesaja 56,1–8 als direkter Gotteswille Eine deutlich offen-inkludierende und zugleich gemeinsinnstärkende Ordnungsintention ist in Jes 56,1–8 ablesbar.³³ Im Zentrum des Textes stehen die zitierten
31 „So verstanden, würde der Terminus Tora noch nicht in erster Linie ein Objekt, sondern eine Interaktion benennen, […]“, Häusl 2011, S. 193. 32 Dieses Ergebnis stützt sich auf die Position von Willi, der der Schriftlichkeit in der Perserzeit keine offenbarungstheologische, sondern eine kulturgeschichtliche Bedeutung beimisst, vgl. Willi 2002. 33 Bei diesem Text handelt es sich um die Eröffnungsperikope des dritten Teils („Tritojesaja“) des Jesajabuches, der nicht nur für diesen Schlussteil, sondern für das gesamte Buch programmatische Bedeutung hat.
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Befürchtungen zweier Gruppen (Fremde³⁴ und Eunuchen), deren Stellung in Bezug auf die Jerusalemer Jahwe-Gemeinde fraglich ist bzw. offenbar von anderen in Frage gestellt wird. Dieser Befürchtung wird der Gotteswille einer Öffnung der Heilsgemeinde für alle Völker entgegengesetzt. Eingeleitet wird das Prophetenwort mit einer sogenannten ‚Botenspruchformel‘, wodurch das Folgende ausdrücklich als Gottes Wort und Wille markiert wird. Der anschließende erste Abschnitt referiert zunächst in Vers 1 ein Mahnwort zum Üben von Recht und Gerechtigkeit; es wird durch eine Heilsverheißung begründet: „1 So spricht Jahwe: Wahrt das Recht und übt Gerechtigkeit, denn nahe ist mein Heil zu kommen, und meine Gerechtigkeit, dass sie offenbar werde.“
Im anschließenden Vers 2 werden alle Menschen glücklich gepriesen, die der Mahnung Folge leisten: „2 Glücklich der Mensch, der dieses tut, und dem Menschenkind, das daran festhält: Der den Sabbat wahrt ohne ihn zu entweihen und der seine Hand davor bewahrt, dass sie nichts Böses tue.“
Der zweite Abschnitt Vers 3–7 zitiert die Befürchtungen der Fremden und der Eunuchen sowie deren Zurückweisung durch Jahwe mitsamt einem verheißenden Zuspruch; im Zentrum steht erneut eine Botenspruchformel (V. 4): „3 Und der Fremde, der sich Jahwe angeschlossen hat, soll nicht sagen: Jahwe wird mich gewiss von seinem Volk trennen. Und der Eunuch soll nicht sagen: Siehe, ich bin ein verdorrter Baum. 4 Denn so spricht Jahwe: Den Eunuchen, die meine Sabbattage wahren und die wählen, was mir gefällt und die an meinem Bund festhalten, 5 ihnen werde ich in meinem Haus und innerhalb meiner Mauern ein Gedächtnis und einen Namen geben, besser als Söhne und Töchter, einen ewigen Namen werde ich [ihnen]³⁵ geben, der nicht getilgt wird. 6 Und die Fremden, die sich Jahwe angeschlossen haben, um ihm zu dienen und um den Namen Jahwes zu lieben, um für ihn Knechte zu sein, alle, die den Sabbat wahren ohne ihn nicht zu entweihen und die an meinem Bund festhalten,
34 Gemeint sind hier immer die Fremden, die sich dem Gott Jahwe bereits angeschlossen haben. 35 Statt des Singulars im Masoretentext wird hier meist mit Septuaginta, 1QJesa, Peschitta, Targum und Vulgata der Plural gelesen.
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7 die werde ich zu meinem heiligen Berg bringen und werde sie in meinem Bethaus erfreuen. Ihre Brand- und Schlachtopfer werden auf meinem Altar zum Wohlgefallen sein, denn mein Haus wird genannt werden: Haus des Gebetes für alle Völker.“
Der durch eine Gottesspruchformel markierte dritte Abschnitt schlägt mit seiner zitierten Verheißung schließlich einen Bogen zurück zur Verheißung in Vers 1: „8 Spruch des Herrn Jahwe, der die Verstreuten Israels sammelt: Ich werde noch weiter zu ihm sammeln, zu seinen Versammelten.“
Eingangs (V. 1–2) werden die für alle geltenden grundsätzlichen Bedingungen für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft genannt, deren Einhaltung – besonders des Sabbat – zugleich ihre unterscheidbare soziale Darstellung zur Folge hat.³⁶ Da diese gemeinsinnigen Forderungen nach Rechttun und Sabbatobservanz direkt mit dem nahenden Heil Gottes verknüpft sind,³⁷ ergibt sich bereits hier potenziell eine Differenzierung innerhalb der Ordnungsgröße Gottesvolk sowie eine universale Ausweitung der Zugehörigkeit bzw. Heilsteilhabe. Auf dieser Grundlage erfolgt im Anschluss der prophetische Bescheid in Hinsicht auf die beiden Gruppen, deren Zulassung infrage steht. Faktisch wird als Bedingung für deren Annahme/Verbleib in der Gemeinde bzw. der Heilsteilhabe das verlangt, was auch von den übrigen Gliedern der Gemeinde erwartet wird:³⁸ Das bedeutet nicht nur erneut eine grenzabbauende Tendenz,³⁹ sondern sogar eine gemeinsinnstärkende Tendenz – man denke an die Bedeutung des gemeinschaftlichen Einhaltens von gemeinsamen Regeln und Ritualen in Hinsicht auf die Ausbildung von Zugehörigkeitserfahrung und Identität. Entscheidendes Zugehörigkeitskriterium ist die Einhaltung der zentralen Gebote und Grenzen, die die Gemeinschaft ausmachen und definieren. Es zeigt
36 Hier allerdings nicht explizit abgrenzend und ausscheidend; vgl. dagegen Neh 13. 37 Vgl. Lau 1994, S. 265: „Man kann nicht sagen, dass die Zusage V. 1b Voraussetzung für die Erfüllung der Thora sei oder umgekehrt. Vielmehr soll der Gesetzesgehorsam in der eschatologischen Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Eintreffens des Heils Gottes verwurzelt und begründet sein. Der Parallelismus zwischen V. 1a und 1b ist also nicht als zeitliche Abfolge, sondern als ineinander verwobener Kausalzusammenhang zu verstehen.“ 38 Selbst wenn damit die Beachtung der Tora (so etwa Zehnder 2005, S. 528) oder gar die Beschneidungsforderung gemeint sein sollte; zu letzterem vgl. komprimiert die Diskussion bei Haarmann 2008, S. 219f., der sich selbst nachdrücklich gegen eine implizit vorliegende Beschneidungsforderung ausspricht). 39 Im Sinn einer Observanz lediglich zentraler – nicht aller – Gebote; doch scheint uns diese Möglichkeit unwahrscheinlich.
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sich also ein positiv zu füllender Identitätsmarker, keine exkludierende Abgrenzung. Es besteht keine Deckungsgleichheit (mehr) zwischen dem Volk Israel als einer ethnischen Größe und der Kult- bzw. Heilsgemeinde. Das genealogische Prinzip wird im Blick auf beide Gruppen aufgehoben.⁴⁰ Ausdrücklich stellt deren Teilhabe am Tempelkult/Heil schließlich ein direkter göttlicher Entscheid sicher (V. 7), freilich unter Voraussetzung der Einhaltung der genannten gemeinschaftsorientierten Bedingungen. Hier und im Gesamttext liegt die spezifische Intention auf dem Heilswillen Gottes „für alle Völker“ (V. 7), in der Ausweitung der Gemeinschaft der Jahwe-Verehrer über bisherige Grenzen hinaus. Vorherrschend ist ein inklusiver Horizont, womöglich exemplarisch aufgezeigt im Blick auf Fremde und körperlich Versehrte. Die die Zugehörigkeitsbedingungen zur Gemeinschaft bzw. deren universale Öffnung begründende zentrale Transzendenzbehauptung ist in diesem Text der prophetisch vermittelte direkte Gotteswille: Bereits mit der eröffnenden prophetischen Botenformel (V. 1) wird das Folgende als Gottes Wort transzendent gestellt; unterstrichen wird diese Absicht durch die gezielt zentrale Setzung einer weiteren Botenspruchformel in Vers 4⁴¹ sowie die den Gesamttext abschließende (und zum programmatischen V. 1 zurückbindende) Gottesspruchformel in V. 8.⁴² Als zentrale Größen erscheinen in Jes 56,1–8 Recht und Gerechtigkeit Israels, das Heil Israels sowie der Völker sowie eingeschränkt Zion;⁴³ weiteres Bund und Sabbat. Diese Größen sind durchwegs durch eine starke Verschränkung von Transzendenz- und Gemeinsinndimension ausgezeichnet. Die geforderte gemeinschaftsorientierte Praxis von Recht und Gerechtigkeit und die göttliche Rettung (Heil) sind unmittelbar miteinander verzahnt. Analoges gilt für die geforderte Observanz von Bund und Sabbat. Auch werden mit dem Rückgriff auf diese
40 Für den Fall des Eunuchen durch die Formulierung „ein Name, besser als Söhne und Töchter“ (V. 5). Bei der Entscheidung zugunsten der ethnisch Fremden ist dieser Faktor faktisch auch vorauszusetzen. 41 Nämlich als zentrales Verbindungsstück innerhalb der doppelt chiastischen Anordnung, in der die Klagen der beiden Gruppen sowie deren Zurückweisung durch Jahwe komponiert sind. 42 Zu berücksichtigen ist noch ein weiteres: Durch die Verwendung der Zitatform (V. 3) wird der Gegensatz zwischen dem sich in den Befürchtungen ausdrückenden ‚Volkswillen‘ (also dem vermeintlichen [individuellen] Gemeinsinn: nämlich die Betreffenden aus der Gemeinde auszusondern) und dem transzendenten Gotteswillen nochmals scharf hervorgehoben. Der zitierte Einwand des Fremden bzw. des Eunuchen wird freilich kategorisch abgewiesen und ihnen gegenüber der eigentliche Gotteswille entfaltet. Solche Beobachtungen sind auch relevant im Blick auf die Frage nach der Deutungshoheit von ‚Transzendenz‘. Vgl. auch im vorliegenden Jesaja-Text die Formulierung, wonach Jahwe den Fremden [vermeintlich] „gewiss von seinem Volk trennen“ wolle. 43 Vgl. V. 7 „die werde ich zu meinem heiligen Berg bringen“.
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Größen als gemeindliche Zugehörigkeitskriterien wiederum zentrale alttestamentliche Transzendenz- und Gemeinsinnressourcen eingespielt (Rekurs auf die Volks- und Glaubenstradition).⁴⁴ Nicht zuletzt bildet die angezielte universale, letztlich eschatologische Ausweitung (Öffnung) der Kult- bzw. Heilsgemeinschaft eine Verschränkung von Transzendierungsleistung und gemeinsinniger Handlungsanforderung. Im Blick auf die infrage stehende Ordnungsgröße wird hier nicht mit der Vorstellung von „Heiligkeit/Reinheit“ (Dtn 23) argumentiert, sondern mit der Kennzeichnung als direkter Gotteswille. Aber auch dessen konkreter Inhalt – das Ziel der universalen Heilsgemeinschaft der Jahwe-Verehrer – hat hier argumentative Funktion (vgl. die makrostrukturelle Position und das Textgefälle von V. 1–8).⁴⁵ In dieser Perspektive fallen (angestrebte) Ordnungsgröße und begründende Transzendenzbehauptung hier also ein Stück weit ineinander – sind aber aufgrund des eschatologisch noch ausstehenden, stets noch zu erwartenden/anzustrebenden ‚Noch nicht‘ nicht deckungsgleich. Mit Blick auf die Leitfragen dieses Bandes kann insgesamt also von der Form religiöser Transzendenzbehauptung gesprochen werden, vor allem in Form der Entzogenheit (Gotteswort) sowie der bedeutungsstiftenden Überschreitung der alltäglichen, zeitlich und lokal begrenzten Lebenswelt, der Entzeitlichung und
44 Vgl. etwa die tradierte Darstellung der Sabbatbefolgung als das unterscheidende Zeichen Israels gegenüber seiner Umwelt, als Bekenntnis zu Gottes Schöpfungsordnung (Ex 20,11), als Erinnerung(spraxis) an Gottes zentrales Befreiungshandeln bei der Volkwerdung in Exodus und Wüstenführung (Dtn 5,14f.) usw. Zu denken ist hier auch an den Aspekt der Rückbesinnung auf ‚wahre Wurzeln‘, der im Kontext der für diesen SFB relevanten Diskussion um Prozesse der Unverfügbarstellung der Geschichte eine Rolle spielt. 45 V. 8 konkretisiert die Heilszusage von V. 1 im Licht der Verse 3–7: Jahwes kommendes Heil erweist sich in der eschatologischen Sammlung Israels wie auch in der Sammlung Weiterer zusätzlich zu Israel, wodurch auch die „Eunuchen“ und die Fremden mit in diese Verheißung einbezogen werden. Dass es hier um die Sammlung Israels und der (sich zu Jahwe bekennenden) Völker geht, wird mehrheitlich angenommen (anders etwa Lau 1994, S. 278). Diese Sicht entspricht dem Buchkontext mit seiner Rahmung in Kapitel 66 sowie der Struktur von Jes 56,1–8, insofern innerhalb des Rahmens V. 1.8 deutlich wird, inwiefern (auch) die „Fremden“ und „Eunuchen“ Teil haben an dem kommenden Heil (V. 1f.) von Gottes Rettung (V. 5.7), durch das er sein Volk sammelt (V. 8). Dabei steht die eschatologische Heilsgemeinde im Kontext von – von allen – geforderter Bundestreue und Gerechtigkeit (V. 1f.). Dass mit den Fremden und Eunuchen trotzdem zwei Personengruppen herausgehoben sind, darf man vielleicht paradigmatisch dahingehend verstehen, dass auch und gerade fremde bzw. scheinbar minderwertige Menschen der neuen Kultgemeinde Jahwes angehören (vgl. Park 2003, S. 114), denn auch sie haben sich Jahwe angeschlossen, wahren den Sabbat und halten am Bund Jahwes fest. Andererseits wird durch das Zitieren der Sorge der Betroffenen exemplarisch die zugrundeliegende Problematik herausgestellt.
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der Universalisierung (Ziel der universalen eschatologischen Heilsgemeinschaft). Noch zentraler als in Dtn 23 ist also hier der Aspekt der Überschreitung des eigenen Zeithorizonts. Die Inklusion von Differenz (Fremde, Eunuchen) erscheint im Vergleich zu Dtn 23 geradezu als konstitutiv für die Ordnungsgröße und seinen Geltungsanspruch.
4 Fazit Die in den Texten Dtn 23,2–9, Neh 13,1–3 und Jes 56,1–8 fassbar werdenden Transzendenzbehauptungen funktionieren entsprechend der je spezifischen Ordnungsintention signifikant anders. Besonders im Blick auf Neh und Jes kann ihr Verhältnis als ‚konkurrierend‘ beschrieben werden: Bildet in Neh das kommunikative Geschehen selbst die entscheidende Transzendenzressource zur Begründung einer (ordnungsintentional) restriktiv-ausschließenden Handlungsanweisung, so ist es in Jes der prophetisch vermittelte direkte Gotteswille, der die universale Öffnung der Heilsgemeinschaft begründet und verlangt. Dabei bezieht sich der Neh-Text explizit, aber ausschnitthaft und zudem verzerrend, auf Dtn 23,2–9, einen Text der Tora als des jüdischen Basisdokuments. In diesen die ‚Jahwe-Versammlung‘ betreffenden Zulassungsbestimmungen – eine Größe, die ursprünglich nicht mit der Kult- bzw. Volksgemeinschaft Israels identisch war – wird vor allem mit der religiös-kultischen Transzendenzressource der gebotenen ‚Heiligkeit‘ und ‚Reinheit‘ gearbeitet, um gruppenbezogene Grenzkonstruktionen zu begründen. Aber auch inkludierende Handlungsanweisungen begegnen, die allerdings vorwiegend genealogisch bzw. ‚historisch‘ begründet werden. Dieser inklusive Aspekt fällt in der selektiven und umdeutenden (‚aktualisierenden‘) Rezeption von Dtn 23 durch Neh 13 völlig weg. Im Diskurskontext um die Frage nach der Zugehörigkeit zum Volk Israel legitimiert sich in Neh die anschließende Handlung nicht durch den Inhalt des Schrifttextes, sondern die Rezeption des Vorgetragenen in die erzählte Welt der Zuhörer entscheidet über die Zugehörigkeitskriterien. Tora als Weisung Gottes in ihrer schriftlichen Form hat hier nicht die autoritativ-verbindliche Qualität, wie sie der Tora im Sinne der mündlichen Unterweisung zukommt. Tora als Kommunikationsgeschehen bildet hier die entscheidende Transzendenzressource. Einer solchen Ordnungsintention und Ordnungsbegründung widerspricht Jes 56,1–8, indem die Zugehörigkeitsbedingungen zur Gemeinschaft bzw. deren universale Öffnung durch den prophetisch vermittelten direkten Gotteswillen begründet werden. Dabei werden näherhin die zentralen Größen Recht und Gerechtigkeit Israels, das Heil Israels und der Völker sowie Bund und Sabbat stark gemacht – Größen, die durchweg durch eine starke
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Verschränkung von Transzendenz- und Gemeinsinndimension ausgezeichnet sind.
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Gernot Kamecke
Die Ordnung der Literatur und das Paradigma der Metaphysik Eine Betrachtung der Säkularisierungsthese aus der Perspektive der spanischen Aufklärung Eine folgenreiche These zur Säkularisierung wird heute im Dresdner Sonderforschungsbereich „Transzendenz und Gemeinsinn“ durch die Annahme formuliert, dass der Begriff Transzendenz im postmetaphysischen Zeitalter konsistent beschreibbar und konzeptuell operationalisierbar sei. Die argumentativen Stützen dieser These bestehen auf der philosophischen Seite in einer ontologischen und sprachanalytischen Hermeneutik, die grundlegende, existentiell und anthropologisch beschreibbare Grenzerfahrungen annimmt, die für den Menschen als lebendes und denkendes Subjekt absolut unüberschreitbar bleiben: der Tod, die Sprache, die Anderen.¹ Auf einer sozial- und politikwissenschaftlichen Seite wird dieses philosophische Argument von der Hypothese gestützt, dass sich soziale und politische Ordnungen im Rekurs auf diskursive Voraussetzungen begründen, über die sie nicht verfügen können.² Diese Annahme schöpft ihre Kraft aus dem methodologischen Postulat, dass solche Unverfügbarkeiten oder Transzendenzen allen institutionellen Ordnungen eigen und (bis zu einem gewissen Grad) als deren Begründung bestimmbar seien.³ Die Plausibilitätsanforderung an die Verwendung des Transzendenzbegriffs für die Beschreibung von ereignishaften Gründungsmomenten bringt es mit sich, dass in diesem Zusammenhang nicht nur verschiedene ‚Transzendenzbehauptungen‘, sondern auch bestimmbare Differenzen in ihrem Intensitätsgrad angenommen werden,⁴ die wiederum unterschiedliche Formen von Diskursen und Machtpraktiken der direkten oder indirekten Verfügbarkeit von Unverfügbarem (z.B. per ‚Unverfüg-
1 Rentsch 2011, S. 26ff., S. 184–200. 2 Dieser Annahme liegt das bekannte Theorem von Ernst-Wolfgang Böckenförde zugrunde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Zur Transzendenzfigur des „Neubeginns politischer Ordnungen“ (im Rekurs auf Hannah Arendt) siehe Vorländer 2009 sowie 2010a. 3 Der Begriff der (institutionellen) Ordnung versteht sich im Rekurs auf die Begrifflichkeit des Dresdener SFB „Institutionalität und Geschichtlichkeit“. Vgl. Rehberg 2001. 4 Eine Möglichkeit hierfür ist etwa die Unterscheidung in „kleine“, „mittlere“ und „große“ Transzendenzen, wie sie bei Luckmann 1991 vorgenommen wird.
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bar-Stellung‘) ermöglichen. Dabei existiert jedoch immer – jenseits einer annähernd beschreibbaren Grenze – ein ‚absolut Unverfügbares‘, über das man nicht mehr sprechen kann (und schweigen soll). Nun mangelt es den zeitgenössischen Theoriesprachen nicht an Begriffen, die Absolutes, Unverfügbares, Unaussprechliches, Ereignishaftes, Negatives, Radikales, in Erstaunen Versetzendes, Heiliges, Numinoses, Verborgenes, Unbewusstes oder ähnliches in der Spannbreite einer Vielzahl von epistemologischen Konzeptgefügen in Anschlag bringen könnten. Die Entscheidung für den Begriff der ‚Transzendenz‘, der in der abendländischen Begriffstradition seit der Aufklärung im Paradigma der scholastischen Metaphysik aufgehoben ist, entspricht der Strategie, ein altes und ungebräuchlich gewordenes Konzept gleichsam zu reaktivieren. Diese Begriffsungebräuchlichkeit umspannt eine Epoche, die bis zu Immanuel Kant zurückführt. Kant hatte die Transzendenz als aporetischen, jenseits der Erfahrung befindlichen Begriff verabschiedet und somit den relevanten Bereich des philosophischen, das heißt auch sozialen und politischen Denkens im Bereich der „Immanenz“ verortet.⁵ Hierdurch wurde zugleich die klassische, die abendländische Begriffs- und Ideengeschichte bis heute prägende Trennlinie zwischen der Theologie und der Philosophie gezogen. Der SFB 804 behauptet nun, Transzendenz „nicht allein“ im metaphysischen Sinne in der absoluten und einzigartigen Sphäre Gottes zu verorten, sondern „zugleich“ als eine „Übersetzung jenseitiger in innerweltliche Unverfügbarkeiten“⁶ zu verstehen. Mit diesem Konstrukt einer ‚transzendenten Immanenz‘ wird nicht nur eine Umformung philosophischer und sozialwissenschaftlicher Begriffe versucht. Eine solche Begriffstransformation ermöglicht auch eine Neuorientierung der ebenfalls seit der Aufklärung verbürgten Leitlinien der Säkularisierung. Säkularisierung ist – so ließe sich der Dresdner Ansatz weiterdenken – mehr als eine allgemeine Bewegung der „Ablösung“ sozialer und politischer Ordnungen von ihrer „geistlich-religiösen Bestimmung und Durchformung“,⁷ deren Resi-
5 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 2. Buch, „Auflösung der vierten Antinomie“, in: Werkausgabe, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1974, S. 506ff. An Stelle des ‚Transzendenten‘ entwickelt Kant für seine systematische Elementarlehre der Ideen hingegen das (seit Duns Scotus unterschiedene) Derivat des „Transzendentalen“. Dieser Begriff ergibt im Kontext einer „transzendentalen Phänomenologie“ von Edmund Husserl (Krisis der europäischen Wissenschaften) bis Alain Badiou (Logiques des mondes) i. Ü. zahlreiche immanente und postmetaphysische Anknüpfungsmöglichkeiten. 6 Vorländer 2010b, S. 9. 7 Böckenförde 1992, S. 93.
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duen oder Substitute in ordnungsbegründende „Narrative der Legitimation“⁸ einfließen. Die Säkularisierung ist ihrerseits ein Phänomen, das am Ende immer auch auf eine absolute Unverfügbarkeit oder große Transzendenz rekurriert.⁹ In diesem Zusammenhang stellt sich dann aber auch die Frage, inwieweit eine ‚Konkurrenz‘ verschiedener Transzendenzen in einem solch starken Sinne gedacht werden kann.¹⁰
1 Gottes Versprechen. Transzendenz als theoretisches Fundament der Ursprungserzählungen im scholastischen Paradigma der Metaphysik Soll der Transzendenzbegriff in einem starken Sinne aufrechterhalten werden, und sei es nur als letzte (unverfügbare) Instanz einer Hierarchisierung im Gefälle von (immanenten) Transzendenzdifferenzen, so tritt man notwendig ein Stück weit hinter die Aufklärung zurück und verteidigt ein wirkungsmächtiges Moment der alten, scholastischen Metaphysik gegen deren radikale Zurückweisung durch Kants Kritik der reinen Vernunft. Damit positioniert sich der SFB in seiner philosophischen Ausrichtung auch gegen eine einseitige, seit der Rationalisierung der Philosophie im 18. Jahrhundert etablierte Metaphysikkritik, die ihren im Fundament einer unbedingten Realitätsforderung von Naturerfahrung verankerten Angriff auf „überschwängliche, hinter- oder überweltliche, mythische […] oder theologische Lehren“¹¹ zuvorderst am Begriff der Transzendenz festgemacht hat.
8 Taylor 2009, S. 703f. Die Dialektik aus Weltwerdung und konstitutivem Beharrungsvermögen des Religiösen (oder Mythischen) ist eine weit verbreitete Konzeptfigur nicht nur in der Philosophie, sondern auch der Psychologie (Freuds Unbehagen), der Anthropologie (Batailles Heilige), der Ethnologie (Lévi-Strauss’ Mytheme) sowie vieler anderer (kultur-)anthropologisch gewendeter Geistes- und Humanwissenschaften im 20. Jh. 9 Das zugrundeliegende Argument beruht auf einer Differenzierung von TranszendenzRessourcen: Je stärker der Geltungsanspruch an den ordnungsbegründenden Charakter einer Transzendenz, desto unverfügbarer (im metaphysischen Sinn) ist die in der diskursiven Fiktion einer (immanenten, säkularen) Unverfügbarkeitsstellung behauptete Transzendenzressource – und desto unangreifbarer die Machtkonfiguration, in deren Interesse die Unverfügbarkeitsbehauptung wirkt. 10 Der Beitrag lässt sich somit auch als eine kritische Ergänzung der Ausgangsthesen lesen, wie sie in der Einleitung der Herausgeber des vorliegenden Bandes formuliert worden sind. 11 Stekeler-Weithofer 1999, S. 1121.
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Als ein Nebeneffekt führt diese Position auch dazu, dass begriffliche Berührungsängste mit Residuen von „Ewigkeitslehren“ und vermeintlichem „Ideenplatonismus“ abgebaut werden können.¹² Der Gründungssatz der Philosophie, ohne den weder der Begriff der Transzendenz noch jener der Metaphysik notwendig geworden wäre, ist von Platon aufgeschrieben worden: Die Ideen – und an deren Spitze das „Gute“ (agathon) – „ragen über das Sein hinaus“: epekeina tes ousias.¹³ Eine wesentliche Frage, die aus diesem Satz folgt und die Geschichte des Denkens bis zur Aufklärung in ihrem Bann gehalten hat, zielt auf die Beschaffenheit jener ‚Sphäre‘, die sich hinter der erfahrbaren Existenz oder ‚Seiendheit‘ der Dinge befinde. Bei den alten Griechen, das heißt nach der Konjunktion aus den im Widerstreit befindlichen Schulen der ionischen Naturphilosophie und der eleatischen Symbol- und Harmonielehre in der platonischen Ontologie, ist diese Frage insofern offen geblieben, als die Sphäre ‚hinter den Dingen‘ (mit bleibendem Bezug auf die Dinge selbst) durch den Begriff der archai beschrieben worden ist: der ‚Anfänge‘, deren Konnotation als ‚Ordnungen‘ (mit Gesetzeskraft, denen die nomoi Ausdruck verleihen) erst später hinzugefügt worden ist.¹⁴ Im ontologischen, vormetaphysischen Paradigma wird das ‚Hinausragen‘ oder die ‚Überschreitung‘, die noch keine ‚Transzendenz‘ ist, in einer weitestgehend unbestimmt gehaltenen Trennung zwischen den (natürlichen) Dingen an sich und ihrer theoretischen (ideellen bzw. reflexiven) Betrachtung aufgefangen. Nun besteht einer der Grundstränge der scholastischen Metaphysikgeschichte im Prozess einer die „Transzendenz“ und die „transzendente Metaphysik“ ermöglichenden „Reifizierung oder Verdinglichung“¹⁵ der gedanklichen Sphäre jenseits der Natürlichkeit der Wahrnehmungen. Ausgehend von der aristotelischen Pragmatie zur Ersten Philosophie, die durch Andronikos von Rhodos um 70 v. Chr. unter dem Titel „Metaphysik“ zusammengestellt worden ist, entwickelte sich mit Plotin und Aurelius Augustinus in Europa eine über mehr als zwölf Jahrhunderte währende, in verschiedenste Schulen ausdifferenzierte Denktradition der Bestimmung und Ausdeutung eines Raums „jenseits der Natur“ (ta meta ta physika).¹⁶ Die zentrale, die Bewegung dieser Tradition auslösende und
12 Die Verteidigung Platons kann unter den Bedingungen der (Post-)Moderne noch immer als eine grundlegende Aufgabe der Philosophie angesehen werden. Vgl. Badiou 1998. 13 Platon: Politeia 509b. 14 Verschiedene Fassungen der „faszinierenden Erzählung“ von der Ursprungsgeschichte des Ordnungsbegriffs aus dem Geist der arche liefert Derrida 1972, 1991, 1997 sowie 2011. 15 Stekeler-Weithofer 1999, S. 1122. 16 Ursprünglich, in der Zusammenstellung der aristotelischen Schriften, bezieht sich „meta ta physika“ auf die Schrift, die „nach der Physik“ steht. Die Ausweitung des Raumkonzepts
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aufrechterhaltende Annahme über den ‚Raum‘ des Jenseits und dessen Orte ist ein den Begriff der ‚Kausalität‘ – als Abfolge von natürlichen Ursächlichkeiten – in Anschlag bringender Rückschluss auf die „Notwendigkeit der Existenz eines ersten Bewegers“.¹⁷ Die Geschichte des christlichen Denkens, das vom frühen bis ins späte Mittelalter parallel zu den Arbeitsprozessen an dieser philosophischen These verläuft, zeichnet sich durch einen großen (Erzähler-)Wettstreit der ‚kosmologischen‘ Imagination dieses Jenseits aus. Von Proklos und Dionysius Areopagita über Johannes Scotus, Anselm von Canterbury und Meister Eckhart bis Pico della Mirandola lässt sich trotz aller ‚Meinungsverschiedenheiten‘ im philosophischen Detail eine folgende konzeptuelle Konstante nachzeichnen: Man verortet das Jenseits in einem übernatürlichen Raum und bestimmt diesen Raum kosmologisch, indem man ihm übernatürliche Kräfte zuschreibt, die größer oder mächtiger sind als diejenigen der Natur bzw. ‚über sie hinausgehen‘. Damit werden die aristotelischen Anfänge (archai) in Ursachen (aitiai) transformiert und – analog zur platonischen Vorstellung eines „stufenweisen Aufstiegs“ von den Dingen über die Idee bis zur „Sphäre des Göttlichen“¹⁸ – die ontologischen Bedeutungen des Wortes ‚Seiend‘ auf ein alles überragendes „Seiendes als solches“ (to on he on)¹⁹ abgebildet. Die Ordnung, die diesen kosmologisch gefassten Anfang aller Anfänge gemäß einer kausalen Ursachenlogik strukturiert, stellt ein hierarchisches Kräftegefüge dar, das Seiendes stets auf eine übergeordnete Kraft hin ausrichtet, wobei am Ende eine alle Kräfte bündelnde, unendliche Ordnung steht, die in der christlichen Philosophie und Theologie den vermeintlichen Vorteil beansprucht, auf einen univoken Namen zu hören: Gott.²⁰
im Begriff der „Metaphysik“ (von der Materialität der aristotelischen Bücher in die Welt der aristotelischen Philosophie) ist eine wesentliche Interpretationsleistung der Scholastik. 17 Aristoteles: Metaphysik 1071b (12. Buch, Kap. 6 „Die ewigen Wesenheiten“). 18 Vgl. Platon: Phaidros 247d („Der überhimmlische Ort“). 19 Aristoteles: Metaphysik 1060b. 20 Die hier kurz umrissene Vorgeschichte des christlichen Transzendenzbegriffs, die den Ausgangspunkt der Säkularisierungsthese darstellt, ist seit der Aufklärung – bei den Philosophen etwa in der Folge Hegels, Nietzsches oder Heideggers – immer wieder ausformuliert worden. Um nur eine Referenz anzuführen, sei auf Karl Jaspers’ Gottesbegriff als Synonym für die „Transzendenz als Transzendenz aller Transzendenzen“ verwiesen. Jaspers 1991, S. 108ff. Vgl. auch ders. 1970. Für den SFB spielt die „Gewordenheit“ der „transrationalen Transzendenz“ (unter dem Namen Gott) dort eine theoretisch tragende Rolle, wo die letzte „Unerklärlichkeit des Seins“ als Grenze des absoluten Sinngrunds „einen Grund allen möglichen und allen wirklichen Seins“ bilden muss. Rentsch 2005, S. 62ff. sowie ders. 2011, S. 269ff., S. 283–288.
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Ordnungstheoretisch lässt sich ‚Gott‘ – als der von Augustinus bis Pico allgemeingültige Name für ein erstes und allumfängliches „Meta-Faktum“²¹ – im Paradigma der scholastischen Metaphysik als Prinzip und Telos eines systematischen Gedankengebäudes fassen, das die Transzendenz in eine dialektische Form gießt, die für das Denken bis weit in die Neuzeit hinein prägend ist. Die Idee einer „himmlischen Hierarchie“²² wird nach dem Vorbild der weltlichen Sozialgefüge in der jenseitigen Welt der Ideen, Gründe und Wesenheiten auf solche Weise installiert, dass „jenseits aller Jenseitigkeiten“ – an oberster Stelle – die absolut transzendente Instanz einer Meta-Ordnung waltet, die im umfassenden Sinne für alle übrigen Ordnungen der Natur und des Denkens wirkmächtig ist. Gott genannt, stellt diese Instanz jenen Punkt (im Zusammenfall von Anfang und Ende) dar, auf den jede Ordnung hinstrebt und von der jede Ordnung ausgeht. Man findet die Idee im 5. Jahrhundert bei Proklos, der Gott als „supersubstantialis et supervitalis et superintellectus“²³ bezeichnet, ebenso wie am Ende des 11. Jahrhunderts im ontologischen Gottesbeweis bei Anselm von Canterbury, dessen zentrales Argument darauf beruht, Gott als dasjenige zu fassen, „worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann“ (aliquid quo maius nihil cogitari potest).²⁴ Die menschlichen Bedingungen, die an der Schwelle zur Neuzeit auch als anthropologische Wissenschaft in den Blick der Philosophie treten, sind immer nur annäherungsweise – wie in Pico della Mirandolas Modell des sich entäußernden Aufstiegs von purgatio, illuminatio und perfectio²⁵ – auf jenes Absolute aller Ordnungen bezogen, das noch bei Descartes „ens perfectissimum“²⁶ heißt. Nun ist es natürlich unmöglich, auf die vielen (theo-)logischen, (natur-)wissenschaftlichen und (moral-)philosophischen Probleme, die aus der ‚Allmacht‘ des hier auf den Punkt eines absolut transzentenden Raums gebrachten Gottes entstehen – etwa die Existenz des Bösen und des Irrtums, die Emanation und die Kraft der Gesetze, die Gerichtetheit der Teleologie, das Problem von Vorsehung und Freiheit, die politischen Formen der potentia absoluta, der Universalienstreit und die Gnadenlehren etc. –, auch nur annähernd einzugehen. Mit Bezug auf die Frage der Ordnung, die im Anschluss anhand des Nachahmungsproblems in der spanischen Aufklärungsliteratur wieder aufgenommen werden soll, sei allein auf
21 Rentsch 2005, S. 187. 22 Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die himmlische Hierarchie, hg. v. Günter Heil, Stuttgart 1986. 23 Proclus Diadochus: Elementatio theologica, § 115. 24 Anselmus Cantuariensis (1078): Fides quærens intellectum, Proslogion. 25 Giovanni Pico della Mirandola (1496): Oratio de hominis dignitate, hg. v. August Buck, Hamburg 1990. 26 René Descartes: Meditationes de prima philosophia (III, 36), Hamburg 1992, S. 92f.
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eine logisch-argumentative Besonderheit hingewiesen, die mit dem (radikalen) idealistischen Monismus des hier in Anschlag gebrachten dialektischen Modells zusammenhängt. Die Rückführung aller Phänomene auf ein einziges unverfügbares, unaussprechliches, unergründliches, unbegreifliches (etc.) Grundprinzip, aus dem alle Eigenschaften, Ordnungen und Bewegungen hervorgehen, hat den unermesslichen Vorteil, jeden wie immer gearteten Widerspruch, das dem Denken in der Phänomenologie, der Kosmologie oder der Moral zustößt, prinzipiell und ‚von Grund auf‘ zu lösen oder besser zum Verschwinden zu bringen. Gott (deus ineffabilis) ist der Name für die Garantie einer Dialektik mit automatischer Synthese. Die ‚Aufhebung‘ in Gott ist das logisch-argumentative Ziel eines „Zusammenfalls der Gegensätze“ (coincidentia oppositorum),²⁷ in der eine prinzipielle Zusammengehörigkeit der durch die Gegensätze geschiedenen Elemente beibehalten werden kann. Die Aufhebung im Sinne einer starken (absolut transzendenten) Koinzidenz wird an vielen Stellen der metaphysischen Theorie verankert, wie etwa in der Henologie (der Erstbegründung der dialektischen Prinzipienlehre im „Einen“ bei Plotin), in der triadischen Emanationslehre (der Stabilität der Ursachenbewegung als Hervortreten aus und Rückwendung zu einem als „Teilhabe an einem Ganzen“ gedachten Prinzip bei Proklos) oder in der Transsumption (der sich an Gott „annähernden“ Aufhebung der Gedankenbewegung in einem „wissenden Nichtwissen“ bei Cusanus).²⁸ Alle diese Lehren folgen dem gemeinsamen Prinzip einer ‚Analogia entis‘, einer erst- und letztbegründeten Verhältnismäßigkeit zwischen allem Seienden, die zugleich eine Berührung, Teilhabe, Ähnlichkeit oder andere Form der für den Trost der Christen unumgänglichen Korrespondenz zwischen Gott und der Welt ermöglicht. Nun ist zwar die absolut transzendente und alles überragende Kraft, die prinzipiell über alle Dialektiken zwischen den Ebenen der Physik, der Metaphysik und des Geistes herrscht, in der Geschichte des dogmatischen Christentums auch für absolute Aporien (oder politische Usurpationen) in Anschlag genommen worden – man denke an die jungfräuliche Geburt, die Transsubstantiationslehre, die Erlösungszeitberechnung, die Unfehlbarkeit des Papstes, die Simonie und vieles anderes –, um die weltliche Macht der Kirche zu stützen. Dennoch ist ‚Gott‘ bzw. die metaphysische ‚Transzendenz aller Transzendenzen‘ mehr als eine Scheidelinie zwischen einem irrationalen credo, quia absurdum
27 Die Zusammenführung der in der aristotelischen Physik geschienen Ursachen (Wirk-, Formund die Zielursachen) in Gott ist nach Albertus Magnus und Ramon Llull vor allem bei Cusanus systematisch gefasst worden. Vgl. Flasch 1990. 28 Vgl. hierzu zuletzt Cürsgen 2007.
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des theologischen Offenbarungsglaubens und einem rationalen ex contradictione sequitur quodlibet der philosophischen Logik. Die prinzipielle Setzung eines Anfangs und Endes dialektischer Gedankengebäude liefert das Versprechen einer Garantie für die Denkbewegung der Dialektik selbst. Noch die ‚Aufhebung‘ der Hegelschen Synthese verdankt die Rechtfertigung ihres idealistischen Vertrauens in die Tragfähigkeit und Gerichtetheit der dialektischen Einzelschritte und Argumentabfolgen einer nicht abschließend beweisbaren Allgemeingültigkeit der axiomatischen Logik.²⁹ Angesichts der logischen Unmöglichkeit, Subjekt-Objekt-Korrelationen immanent zu verabsolutieren, setzt auch das rational-logische Paradigma der analytischen Philosophie jenseits der Grenzen bestimmter Argumente auf ein Unbekanntes, das möglicherweise (in annähernder Hoffnung) durch den Begriff der Transzendenz „asymptotisch“ oder „parakonsistent“ verfügbar gestellt werden könnte.³⁰ Allerdings ist es im Paradigma der Metaphysik absolut unmöglich, eine ‚Konkurrenz‘ für die ordnungsgebende Instanz zu denken (oder auch nur vorzustellen). Konkurrierende Ordnungen können nur unterhalb der höchsten Ebene der Transzendenz auftreten und müssen sich, durch die Kraft eines ‚Ersten und Letzten‘ geleitet, im Diesseits niederer Dialektiken an (un-)vorhersehbaren Momenten oder Ereignissen wieder auflösen. Sobald für die höchste Instanz selbst eine konkurrierende Differenz angenommen wird, gerät die kosmologische Stabilität des metaphysischen Weltbilds aus den Fugen und mit ihr das Versprechen von der Absolutheit der (alten) dialektischen Denkgebäude, deren transzendierende Begründungskraft auch für die Argumente der Säkularisierung in Anspruch genommen wird. Genau dies jedoch geschieht im Zeitalter der Aufklärung.
29 Vgl. Gödels Unvollständigkeitssatz: „Jedes hinreichend mächtige formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig“ (Gödel 1931). Zum „Gespenst des Idealismus“ siehe Taylor 2002, S. 365–376. 30 Vgl. hierzu etwa den jüngsten Versuch der „Rehabilitierung“ einer hierarchischen Differenz von Qualitäten bei Meillassoux 2006.
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2 Realismus und Gemeinsinn. Die Ordnung der Literatur als Konkurrenzgefüge säkularisierter Transzendenz Allgemein lässt sich das Zeitalter der Aufklärung als ein Gefüge individueller und gesellschaftlicher Emanzipationsprozesse betrachten, das mit Zielsetzungen wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Glück oder Moral, Gesellschaftlichkeit, Kosmopolitismus, Menschenrechte ebenso gut beschrieben ist wie durch die epistemologischen Neuerungen, die unter den Begriffen Natur, Geschichtlichkeit, Vernunft, Kritik zu den Kernmomenten der Philosophie des 18. Jahrhunderts zählen.³¹ In der Epoche der Aufklärung kommt das Denken, wie Hegel nicht ohne eine Warnung vor allzu großen Illusionen sagt,³² zu sich selbst, das heißt, es wird empirisch und reflexiv und erzeugt mit ihrer allumfassenden, der Vorsehung Gottes prinzipiell entgegenstehenden Forderung nach einer ‚Historisierung des Wissens‘ die heute institutionalisierte Spannbreite der neuen Geistes-, Humanund Kulturwissenschaften inklusive deren reflexive und historisch vergleichende Methodologien. Die Besonderheit der spanischen Ilustración, so etwas wie ein katholisches und absolutistisches Aufklärungsdenken zu erzeugen (und diskursiv zu kontrollieren), hat sich im Hinblick auf die theoretische Frage begrifflicher Epochendefinitionen aus einer gesamteuropäischen Perspektive dabei als ein geläufiges Paradigma erwiesen.³³ Am Fall der spanischen Aufklärung, die den Konflikt von gesellschaftlicher Emanzipation und dirigistischer Wissensproduktion (mit inquisitorischer Kontrolle) in gesteigertem Maße verdeutlicht, lassen sich die Bedingungen und Folgen einer ‚Konkurrenz‘ zwischen metaphysischer Teleologie und weltlichem Fortschritt im Erstbegründungszusammenhang einer induktiv und empirisch gewendeten Epistemologie auf konstitutive Weise zeigen.
31 Zur Beschreibung der philosophischen Leitlinien des „unbeschreiblichen Jahrhunderts“ vgl. v.a. Cassirer 2007, Hazard 1979, Gusdorf 1971 sowie Kondylis 2002. 32 Vgl. die Ausführungen zur „unbefriedigten Aufklärung“ in der Phänomenologie: „Die Aufklärung, die sich für das Reine ausgibt, macht hier das, was dem Geiste ewiges Leben und heiliger Geist ist, zu einem wirklichen vergänglichen Dinge und besudelt es mit der an sich nichtigen Ansicht der sinnlichen Gewissheit“. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, VI, B, II „Die Aufklärung“, in: Werke, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1986, S. 409, S. 424 [Herv. i. Orig.]. 33 Zur Emanzipationsbewegung der ‚spanischen Aufklärung‘ von einem spezialistischen Randgebiet der Literatur- und Geschichtswissenschaften zu einer eigenen (beileibe nicht dekadenten) Epoche im Konzert der ‚europäischen Aufklärungen‘ vgl. Herr 1958; Sarrailh 1964; Krauss 1973; Alborg 1975 sowie Aguilar Piñal 2005.
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Eine zentrale Ebene des weltanschaulichen Konflikts zwischen alter und neuer Ordnung lässt sich in Spanien an der Frage nach dem Wesen und der Funktion literarischer Werke festmachen, die im 18. Jahrhundert im Zuge des (im Vergleich zu Frankreich ‚verspäteten‘) epistemologischen Reflexivwerdens als Gegenstand der Literatur-‚Wissenschaft‘ gestellt wird. Die besondere Herausforderung dieser Frage betrifft die Verfasstheit des Romans bzw. der fiktionalen Prosa (in der Volkssprache), deren subjektive und induktive Freiheit die neoklassizistischen Regelwerke, die in der Zeit vorherrschend sind und die regulativ als leichter kontrollierbar erachteten Gattungen der Poesie und des Theaters bevorzugen, in Frage stellt. In der Epoche des ‚aufgeklärten Despotismus‘ – vor allem in der Regierungszeit Karls III. (1759–1788), in der die Durchsetzung eines umfassenden sozial-pädagogischen ‚Reformprogramms von oben‘ versucht worden ist – entsteht im Rückgriff auf eine alte, in der Zeit beinahe vergessene Tradition (Cervantes, Quevedo, Gracián) eine Form der Literatur, die sich aus dem vorherrschenden Kanon nicht fiktionaler Prosagattungen – gelehrte, wissenschaftliche und politische Traktate, historische Erzählungen ebenso wie populäre und ‚dilettierende‘ Formen des Schreibens (im Kontext der in der Zeit entstehenden Zeitschriften und Salons) – emanzipiert und im Begriff des Romans (novela) verstetigt.³⁴ Als philosophisches und (gesellschafts-)politisches Problem wird diese Entwicklung gegen Ende des 18. Jahrhunderts am (unkontrollierbaren) Leser-Erfolg des Romans manifest, welcher ebenso zum Scheitern der Reformprogramme beiträgt wie die Literatur der Romantik einläutet. Im Kern geht es um eine Frage der philosophischen Ästhetik, die sich am Begriff der ‚Imitation‘ festmachen und folgendermaßen als eine Konkurrenzsituation zwischen immanenter und transzendenter Ordnung der Literatur beschreiben lässt: Auf der einen Seite steht der ästhetische Mainstream eines neoklassizistischen Präzeptismus (mit den Hauptvertretern Ignacio de Luzán, Agustín de Montiano und Blas Antonio Nasarre), der durch eine eigentümliche Verknüpfung aus theologisch-dirigistischer Ethik, rational-positivistischem Naturalismus und platonischer Ideenlehre dem seit der antiken Ästhetik bestehenden Problem, die Kunst (techne) als ‚Form der Wirklichkeit‘ zu denken, zu begegnen sucht. Das Credo der Neoklassizisten ist eine strenge und konzeptuell einengende Lesart der Poetik des Aristoteles, der gemäß die Kunst die Natur ‚nachahmend darstellt‘. Die Darstellung der Natur sei eine „Nachahmung im Besonderen“ mit Bezug auf einfache Dinge, so wie sie an sich
34 Zur Entwicklung und ästhetischen Bedeutung der spanischen Prosaliteratur in der Epoche der Aufklärung vgl. Kamecke: Die Prosa der spanischen Aufklärung. Beiträge zur Philosophie der Literatur im 18. Jahrhundert, Habilitationsschrift.
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sind, und eine „Nachahmung im Allgemeinen“ mit Bezug auf zusammengesetzte Dinge, insbesondere die Angelegenheiten der Menschen, so wie sie sein sollten.³⁵ Im Fahrwasser dieser dirigistischen Auslegung der antiken Poetik entsteht eine dem ‚Wesen‘ der Literatur zugeschriebene, ethisch orientierte (Erkenntnis-) Theorie. Eingebettet in eine Philosophie der Übereinstimmung von Schönheit und Wahrheit (als analogen Ideen des Absoluten) und im Glauben an ein harmonisches Universum, dessen Erkenntnis die gute Absicht Gottes freilegt – welcher als der Urheber der zu imitierenden Natur gesetzt wird –, erhält die Literatur die Rolle einer moralisch möglichst tadellosen Hilfskraft der Philosophie. Wie die bildende Kunst, in dessen Bereich der Begriff des Neoklassizismus ursprünglich Anwendung fand, fungiert die Literatur als die regelgeleitete ‚Technik‘ einer zugleich ‚nützlichen‘ und ‚erfreuenden‘ Nachahmung der natürlichen (d.h. gottgegebenen) Dinge und der menschlichen Handlungen zum kathartischen Zweck einer Verbesserung der Welt. Die spanischen Theoretiker sehen sich als Diener ihrer Gesellschaft, die sie durch die Gesetze der Dichtung stützen und fördern wollen: „El fin de la poesía es el mismo que el de la filosofía moral […] Las buenas letras hacen un buen ciudadano“.³⁶ Die unterschiedlichen Wirkungen der einzelnen (in Regelwerken zu optimierenden) Gattungen der Literatur werden dabei – unter besonderem Ausschluss des regellosen Romans – bestimmten Gesetzmäßigkeiten einer ontologischen und zugleich kosmologischen Ordnung zugeschrieben und umgekehrt in Bezug auf einen despotisch vorgefertigten Rezipiententypus ethisch (in Form von Erziehungstraktaten) in Anschlag gebracht. Auf der anderen Seite entwickelt sich gegen diesen Mainstream auf der Grundlage versteckt zitierter Kontexte des rationalen und autoritätskritischen Essayismus (Benito Jerónimo Feijoo) und der gesellschaftskritischen Satire (Diego de Torres Villarroel) eine neue literarische Form der narrativen Prosa (mit den wichtigsten Repräsentanten Francisco de Isla und José de Cadalso), die den gegen sie erhobenen neoklassizistischen Vorwurf, „eine hybride Gattung zwischen Geschichte und Poesie“ (un género híbrido mesclado de historia y de poesía)³⁷ zu sein, in den Vorteil einer ästhetischen Konzeption umkehrt und nach immanenten Kriterien induktiv und selbstreflexiv weiter entwickelt. Der Roman (novela), in dem diese philosophische, erkenntnistheoretisch orientierte Form
35 Aristoteles: Poetik 1447b–1450a. 36 „Der Zweck der Poesie ist der gleiche wie jener der Moralphilosophie. […] Die schöne Literatur erzeugt einen guten Staatsbürger“. Ignacio de Luzán (1737): La poética („Proemio“), Madrid 2008, S. 147. Zum Neoklassizismus in Spanien vgl. v.a. Pellissier 1918; Krömer 1968 sowie Checa Beltrán 1998. 37 Álvarez Barrientos 1991, S. 27.
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der Prosa einmündet, wird von offizieller Seite durch die berüchtigte Inquisition (bis zum Zusammenbruch des aufgeklärten Despotismus) insofern bekämpft, als er ein subjektives Moment der (Regel-)Freiheit verteidigt und in einer ebenso materialistischen wie realistischen – die ‚Natur‘ der Dinge in ihrer tatsächlichen Erscheinung imitierenden – Konzeption eine selbstregulative Ordnung herstellt, die den Fundamenten der sozialpolitischen Ästhetik gefährlich wird. Philosophisch geht es in diesem Streit um die (alte) Frage, wie viel kreative Eigenleistung dem Genie und der Einbildungskraft eines individuellen Künstlers im Hinblick auf eine adäquate (natur-)gesetzlich zu gewährleistende Vermittlung zwischen der wesensmäßigen (göttlichen) Objektivität und der subjektiven sprachlichen Repräsentation zuzugestehen ist. Die Tatsache, dass in der Folge der anthropologischen Wende des 18. Jahrhunderts „das Ästhetische seinem Wesen nach ein rein menschliches Phänomen [geworden] ist“,³⁸ lässt die Kunst der ‚realistischen Nachahmung‘ jedoch zu einem zentralen Baustein der philosophischen Wissenschaft jener gesellschaftlichen und politischen Ordnungen werden, die nicht mehr kosmologisch und teleologisch, sondern gemäß einer quantifizierbaren, mechanischen und ‚entseelten‘ Natürlichkeit³⁹ konzipiert sind. In der Aufklärung verliert die ‚eine Transzendenz‘ – Gottes Reich – ihre Monopolstellung für die Absicherung der Weltdeutung im Allgemeinen und der Romanwelten im Besonderen. Die literarische Prosa entwickelt sich im Medium des Romans zu einer immanenten, postmetaphysischen, auf das Soziale ausgerichteten Philosophie. Der Prozess der „literarischen Säkularisierung“ (gemäß Tietz),⁴⁰ die dieser Hinwendungsbewegung zur Innerweltlichkeit zugrunde liegt, führt auf das oben beschriebene Konkurrenzproblem zwischen transzendenter Letztbegründung und immanenter Eigenbegründung zurück: Wenn das theoretische Modell für die Einbettung der Funktionen des Literarischen in den regierungstechnischen Kontext einer dirigistischen Optimierung der Gesellschaft auf der Bewahrung des metaphysischen Paradigmas beruht und sich dem ordnungssetzenden Versprechen einer absolut transzendenten Instanz der Meta-Ordnung anvertraut, dann zeigt das Gegenmodell der regeldurchbrechenden, immanenten und autokonstitutiven Wirklichkeitskonzeption des Romans – unter den spezifischen Bedingungen der spanischen Geschichte insbesondere –, welche Reste oder Residuen an immanent gefasster Transzendenz ins Spiel geführt werden können, um zu ver-
38 Cassirer 2007, S. 311. 39 Kondylis 2002, S. 120. 40 Tietz 1992.
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hindern, dass der Angriff auf die ordnenden Regeln der Literatur in eine absolut ordnungszerstörende Anarchie umschlägt. Historisch betrachtet, obsiegt das säkulare Paradigma. Auf die Herstellung der metaphysischen Ordnung folgt die (literarische) Dekonstruktion derselben und bereitet den Weg für die Moderne. Analytisch betrachtet, ist es – unter Verwendung der Begriffe der Dresdner Säkularisierungsthese – allerdings bemerkenswert, dass die konkurrierende Instanz, die in der Welt des Romans dem hierarchischen Moment der metaphysischen Ordnungsorientierung entgegengesetzt ist, auf einem (gattungs- und formimmanenten) Begriff des Gemeinsinns beruht. Der Gemeinsinn lässt sich auf der Ebene von Texten als eine ‚literarische Gemeinschaft‘ zwischen Autor, Leser und (narrativ vermittelter) Welt ausführen. Diese Gemeinschaft ist hier so beschaffen, dass sie die seit dem 18. Jahrhundert typische Neuorientierung des Schöpferischen, das heißt die Darstellung der sozialen Natur anstelle des göttlichen Kosmos (unter kommunikativer Inklusion des Volks anstelle der Verachtung des Vulgo) abbildet und mit dem „prozessartigen Wesen“ der Gattung des Romans, dessen „abstraktem Grundzug“ und „Formprinzip der Ironie“,⁴¹ den Resonanzraum einer idealen und unmittelbar welterschaffenden Kommunikation erzeugt, innerhalb der jede Form von weltüberschreitender Transzendenz-Setzung als ein Machtspiel entlarvt wird. Die nach der Krise der Teleologie aus den Räumen der Kirche freigelassenen Transzendenzen sind Unverfügbarkeiten, die als ‚Ressourcen‘ erst wieder eingefangen und sodann besonders bewacht werden müssen. In diesem Zusammenhang zeigen sich die Fronten der Kommunikation im Bann der Inquisition mit besonderer Schärfe. Im Fall der spanischen Aufklärung wird deutlich, dass die Betonung des Metaphysischen immer auch eine Camouflage immanenter Machtprobleme ist und dass der Gemeinsinn eine grundlegende Frage an die Hierarchie metaphysischer Transzendenzen stellen kann. Die literarische Gemeinschaft lässt sich dabei als eine atopische (andere Räume setzende) Strategie im Kampf der konkurrierenden Transzendenzen denken. Allerdings beruht auch sie auf bestimmten, nicht ableitbaren Glaubensgrundsätzen zur Wappnung gegen die Frage nach ihrer eigenen Konsistenz, welche beispielsweise als „entwerkte“⁴² oder „uneingestehbare“⁴³ Gemeinschaft eine aporetische Anfangsbegründung nie ganz aufheben kann.
41 Lukács 1920, S. 61ff. 42 Nancy 1986. 43 Blanchot 1983.
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Marzia Ponso
Die Sakralisierung der Nation in der Ikonographie des Risorgimento 1 Zur Säkularisierung religiöser Bildformen in der italienischen Unabhängigkeitsbewegung In diesem Beitrag werde ich mich mit der Anwendung der religiösen Symbolik in der italienischen politischen Ikonographie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befassen.¹ Hinsichtlich des Zusammenhangs von Kunst, Politik und Religion sind die Worte des Republikaners und Vertreters der italienischen Einigungsbewegung Giuseppe Mazzini paradigmatisch: „Die Kunst ist für uns […] eine eminent gesellschaftliche Manifestation, ein Element der kollektiven Entwicklung, untrennbar von allen jenen anderen Elementen, die zusammen das Fundament eines einzigen und gemeinsamen Lebens bilden, in dem der Künstler, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht, seine Mission erfährt, seine Kenntnis des zu verfolgenden Zweckes und die Symbole, in denen sich das verkörpert, was Gott ihm im Hinblick auf die Art und Weise, wie dieser Zweck zu erreichen ist, eingibt: das Individuum tritt hier nicht hervor, wenn nicht als ein mächtiger Zusammenfasser, als ein sorgfältiger Übersetzer einer heiligen Sprache, die später die Sprache Aller geworden ist. Es ist der leidenschaftliche, mitfühlende, poetisierte Ausdruck des Ideals, […] die Ausstrahlung des umfassenden Lebens eines Volkes in einer bestimmten Epoche, die sich in einer großen Persönlichkeit verdichtet, um von ihr mit der Sprache des Feuers auf die Gläubigen niederzusteigen. Jeder große Künstler ist Historiker und Prophet.“²
Ohne die Anwesenheit eines nationalen Einheitsstaats hatten Piemonteser, Lombarden, Emilianer, Römer, Neapolitaner und weitere die Erscheinungsform einer transzendenten, doch realen Nation in der Kunst gefunden. Bilder waren ein wirkungsvolles Mittel zur Schaffung der nationalen Gemeinschaft dank ihrer Fähigkeit, Imaginiertem den Anschein des Wirklichen zu verleihen. Der Anspruch auf eine kollektive Rezeption führte dazu, dass ihr Publikum das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer imaginären Gemeinschaft entwickelte und die Adressaten sich
1 Allgemein zur italienischen Kunst in der Epoche des Risorgimento, u.a. Lankheit 1988; Boime 1993; Sogliani 2007. 2 Mazzini 1915a [1840], S. 246; deutsche Übersetzung von Röttgen 1990, S. 275.
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als Angehörige einer Nation erfuhren.³ Das geschah durch den Einsatz von Bildformeln, die stark konventionalisiert und deswegen auch für ein ungeschultes Publikum einfach erkennbar waren; besonders geeignet erwiesen sich Darstellungen, die aus religiöser Ikonographie abgeleitet wurden. Häufig findet sich in Abbildungen historischer Figuren der Bezug auf Elemente aus dem christlichen Bildrepertoire, nicht selten orientiert sich die Darstellung profaner Ereignisse an Typologien der sakralen Ikonographie, zum Beispiel an einer Beweinung Christi. Bei der Nationssakralisierung muss beachtet werden, dass sie hauptsächlich ein Argumentationsmodell des demokratisch-republikanischen Nationaldiskurses war. Die konkurrierende, am Ende siegreiche liberal-monarchische Bewegung hatte weltliche Merkmale und strebte eher nach einer Verherrlichung des Hauses Savojen und dessen nationaler Berufung. Die Sakralisierung des Politischen, samt dem zusammenhängenden Martyrologiumsparadigma, verlor ab den sechziger Jahren mit der Niederlage der republikanischen Kräfte an Boden. Die Vereinigung und die Annexion Roms bedeuteten außerdem die Vernichtung des Kirchenstaats und wegen des Streits mit dem Vatikan konnte die Vaterlandssakralisierung keine legitimitätsstiftende Funktion mehr haben. Die Einigung erfolgte auf Kosten der Entstehung einer konfessionellen Bruchlinie (Katholiken vs. Laizisten), die dem Verweis auf religiöse Muster den Boden entzog.⁴ Die Entlehnung aus dem sakralen Repertoire erklärt sich nicht bloß aus dem Bedürfnis, eine Legitimation für ein neues politisches Dispositiv zu finden. Wie Max Weber in seinen Schriften zur Religionssoziologie konstatierte, ist die Sakralisierung des Politischen keinesfalls ein Einbruch des Religiösen in den politischen Bereich. Vielmehr ist sie ein Zeichen dafür, dass die Politik als direkte Konkurrenz der religiösen Ethik aufgetreten ist. Die Gründe solcher Übernahmen der sakralen Bildwelt waren zunächst „produktions- und rezeptionsästhetischer Natur“.⁵ Einerseits verfügte der italienische Nationaldiskurs über kein bereits bestehendes Bildrepertoire; die Entlehnung aus einer vorgefundenen, weit bekannten Ikonographie ersparte die Ausprägung neuer Bildtypen und sicherte den Erfolg bei einem breiten Publikum. Die Schaffung eines visuellen Vokabulars, das für eine noch nicht existierende Nation stehen sollte, musste die Aufgabe erfüllen, Bildformeln zu finden, die sich einem oft wenig gebildeten Publikum einprägen konnten. Der Rückgriff auf bereits verbreitete und leicht verständliche Ikonen vereinfachte das Unternehmen. Anderseits wurden christliche Bildformeln dort
3 Euchner/Rigotti/Schiera 1993. Zum Hintergrund der Identitätsfrage: Russell Ascoli/ Henneberg 2001. 4 Mengozzi 2002; Borutta 2010. 5 Germer 1998, S. 47.
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eingesetzt, wo man schwer greifbare Vorgänge zugänglich machen musste. „In vertraute Formulierungen gekleidet, gewann das sonst schwer Vorstellbare Faßbarkeit und dadurch Überzeugungskraft.“⁶ Die Transposition religiöser Bildformeln ins Politische ist bekanntlich nur ein Teil der umfassenden Säkularisierung christlicher Begriffe und Themen der Epoche um 1800, aber in Italien, ähnlich wie in Deutschland und anders als in Frankreich, rückte das Politische nicht an die Stelle der religiösen Sinnperspektive, sondern es verband sich mit ihr zu einer nationalen Religion, die die christliche Religiosität nicht verdrängte und der Nation einen sakralen Charakter verlieh. Diese enge Beziehung zwischen Nationalbestrebungen und spiritueller Erneuerung spiegelte sich in der bildenden Kunst wider, die ‚kanonische‘ Formen der religiösen Ikonographie übernahm, um eine „neue Mythologie“ zu schaffen.⁷ In dieser Übertragung heilsbedeutsamer Formen ist ein politisches Mittel zu erkennen, die sakrale Kunst zur Verherrlichung der vergöttlichten Menschen und zur Weihe profaner Werte und Institutionen heranzuziehen.
2 Die Nation als Transzendenzkonstrukt Was den Zusammenhang von Politik und Religion betrifft, hat die Geschichtsschreibung insbesondere für das 19. Jahrhundert eine „systematische Aufeinanderbezogenheit, eine wechselseitige Abhängigkeit und bisweilen echte Symbiose des religiösen und des nationalen Elementes“ festgestellt.⁸ Zur Sakralisierung der Nation könnte man mit Friedrich Wilhelm Graf sagen, dass die „religiöse Semantik in den modernen Nationalismen dazu dient, die emotionale Bindung des einzelnen an die Nation in den tiefsten Schichten seiner Seele zu verankern und die nationale Gemeinschaft als eine umfassend, auch innerlich bindende Heilsgemeinschaft zu stabilisieren“.⁹ Das lässt sich am Beispiel des Risorgimento sehr gut zeigen und ist weit mehr als pure Indienstnahme religiöser Überzeugungen. Die Analyse des Prozesses der Nationalstaatsbildung in Italien hat auf die folgenden Elemente hingewiesen:
6 Ebd, S. 47f. 7 Vgl. zum ähnlichen Phänomen in Deutschland: Lankheit 1987. 8 Krumeich/Lehmann 2000, S. 1. 9 Graf 1997, S. 35.
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1.
Die Herstellung eines Kults der Nation-Vaterland (nachher des Staat-Vaterlands), der Symbole und Vehikel populärer Angliederung erforderte, um die Zustimmung zu erweitern.¹⁰ 2. Die Entlehnung und die Manipulation zuvor bestehender Muster der religiösen Tradition, um Symbole und Figuren des Risorgimento-Diskurses zu schaffen. Auffallend ist zum Beispiel die Symmetrie zwischen der Figurationstriade der nationalen Erzählung (Heroen, Verräter, Jungfrauen) und der Triade der Erlösungsgeschichte (Jesus und die Apostel und Märtyrer, Judas, die Jungfrau Maria und die Märtyrerinnen).¹¹ 3. Ein hauptsächlich emotionales, nicht rationales Kommunikationsverhältnis zur Öffentlichkeit.¹² Die Sakralisierung bildet keinen kognitivistischen Akt, sondern in ihr werden Gefühle, Stimmungen und Erwartungen zum Ausdruck gebracht. 4. Eine rhetorisch effektive Bildkonstruktion, die die Aufgabe hat, Werte und Ideale zu beschwören. Durch die Sakralisierung nimmt die Nation eine Sinnstiftungsposition ein, die nicht nur zur Kanonisierung eines Wertsystems, sondern auch zur Handlungsnormierung führt.¹³ Die Vorstellung von nationalen Helden soll beispielsweise Identifikationsmodelle anbieten. Die Instrumentalisierung der Religion zu politischen Zwecken scheint eine allzu simple Erklärung für den viel komplexeren Vorgang der nationalen Identitätsstiftung mit einer ausgeprägten religiös-politischen Doppelnatur. Selbst Kritiker des Begriffs ‚politische Religion‘ betonen die wechselseitige Durchdringung von Religion und Nationalismus, die zu einer symbolisch vermittelten Sakralisierung der Nation und ebenso zu einer Politisierung christlicher Glaubensbestände führt.¹⁴ Es lässt sich bei allen europäischen Nationen eine vorherrschende Tendenz zur Nationalisierung des Christentums beschreiben, in der „die Sache des Glaubens und die Sache der Nation so eng ineinandergreifen, dass in den meisten Fällen die Nation, indem sie als absolute und transzendente Wirklichkeit begriffen und dargestellt wird, zur eigentlichen Gottheit wird, der man von jeder anderen Gottheit Verehrung und Treue, Unterwerfung und Opfer schuldet.“¹⁵
10 Zum Kult der Nation: Baioni 1994. 11 Banti 2000, S. 123. 12 Vgl. dazu François/Schulze 1998. 13 Vgl. Eliade 1994 [1954]. 14 Vgl. Hübinger 2000, S. 234. 15 François/Schulze 1998, S. 25.
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Im Mittelpunkt des italienischen Nationaldiskurses steht das Sakrale der Nation. Die Sakralisierung zielt darauf ab, eine Aura des Unnahbaren, des Erschauerns und des Fraglosen zu erzeugen. Die Heiligung der nationalen Gemeinschaft, später der konstituierten Ordnung, macht sie unverfügbar. Überdies erzeugt die Symbolik des Sakralen eine Form der Überzeitlichkeit, die der Nation das Merkmal der Ewigkeit verleiht: Was sakral ist, hat zeitlose Geltung. Die Sorge um die Vergänglichkeit sollte für die Nation ohne Staat besonders tiefgreifend sein, einerseits weil der Zustand der Fremdherrschaft eine stetige Bedrohung der Identitätsbewahrung darstellte, anderseits weil der innere Streit der partikularen Interessen noch verderblicher schien. Die zu schützende Nation wird als heilig verehrt, die Patrioten, die im Kampf gegen die Unterdrücker ihr Leben opferten, werden entweder als Märtyrer oder als Apostel dargestellt. Diesbezüglich lässt sich das Repertoire einer nationalen ‚Theologie der Befreiung‘ zusammenstellen. Die nationale Identität wird damit zu einem System von absoluten Werten, dem sich alles Übrige unterordnen muss. Das Ritual des Blutopfers findet seinen höchsten Ausdruck im Krieg, der als Heiliger Krieg stilisiert wird. Die Säkularisierung religiöser Begriffe oder heiliger Gestalten und die Sakralisierung politischer Werte und historischer Persönlichkeiten waren somit komplementäre Vorgänge, die die Wirkung des Nationaldiskurses ebenso wie die Wirkung religiösen Argumentierens verstärkten.
3 Die Umnutzung sakraler Ikonen als politische Botschaft Diese Sakralisierung der Nation, ihre Aufladung zu einer transzendenten Gemeinschaft, lässt sich nun an zahlreichen visuellen Beispielen anschaulich demonstrieren. So enthält das Bildprogramm der Nationalbewegung eine beträchtliche Anzahl impliziter und expliziter Verweise auf die katholische Religion, hauptsächlich mit drei Zwecken: a) Die Berufung auf die gemeinsame religiöse Konfession verstärkte den nationalen Zusammenhalt durch geteilte Werte und Traditionen. b) Die Verwendung biblischer Gestalten oder Episoden erlaubte, die Überzeugungskraft des Nationaldiskurses zu erhöhen, insbesondere wenn es darum ging, die Moralität einer Kriegshandlung zu behaupten oder eine konspirative Tätigkeit zu legitimieren.¹⁶
16 Für einen internationalen Vergleich: Leonhard 2008.
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Abb. 1: Antonio Canova, VittorioAlfieri-Denkmal, 1806–1810, Florenz, Kirche Santa Croce. Detail.
c) Die Betonung auf die Intervention Gottes in der Geschichte der italienischen Nation fügte den Nationaldiskurs in einen Vorsehungsplan, in den Zusammenhang einer teleologischen Geschichtsphilosophie ein. In der Zeit zwischen der Restauration und der Revolution 1848 nimmt die Darstellung des Vaterlands unkonventionelle Formen an: Italien wird betrübt und in Ketten abgebildet, um seinen Unterdrückungszustand zu symbolisieren, oder es wird von Waffen umgeben dargestellt, um den Befreiungswillen zu zeigen.¹⁷ Zwischen 1806 und 1810 vollendete Antonio Canova für den Tempel der berühmten Italiener, die Kirche Santa Croce in Florenz, ein Werk, das die weinende Italia auf dem Vittorio-Alfieri-Grabdenkmal darstellt. Obwohl Italien mit den herkömm-
17 Über die Vaterlandsikonographie: Porciani 1993; Banti/Bizzocchi 2002.
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lichen Attributen (dem römischen Peplum, der mit Türmen versehenen Krone, dem Füllhorn) erscheint, verkörpert es keine politische oder kulturelle Identität (die zisalpinische Republik oder das Land der Künste), sondern die gemeinsame Mutter, die um einen geliebten Sohn trauert (Abb. 1).¹⁸ Canovas Italia verfügt über eine wirksame Kommunikationskraft, weil die Darstellung des ‚Leides des Vaterlands‘ die emotionalen Ressourcen anregt und das gemeinsame Nationsgefühl fördert. Das Werk war dazu bestimmt, während der Restaurationsjahre das Symbol der angestrebten Einheit zu werden – und es gewann eine außerordentliche Popularität. Canovas Schüler Francesco Hayez war dann derjenige, der als erster der Vorstellung Italiens des Risorgimento einen vollendeten Ausdruck verlieh.¹⁹ Er bildete die Nation als junge Frau ab, die das Drama der Fremdbesatzung und das Unglück der inneren Spaltung (zwischen Republikanern und Monarchisten einerseits, unter den Landstaaten der Halbinsel selbst andererseits) wie eine zu büßende Schande erlebt. Das Gemälde La Meditazione ist eine innovative Variante des allegorischen Genres (Abb. 2),²⁰ die in der Malerei von Hayez einen Wendepunkt vom Neoklassizismus des Meisters Canovas zur Romantik des bürgerlichen und aristokratischen Mittelstandes aus Mailand kennzeichnet. Nach den berühmten Gemälden der Historienmalerei, wie Pietro Rossi, von Familie Scala gefangen (1818–1820), der Sizilianischen Vesper (1822) und den Flüchtlingen von Parga (1826–1831) setzte sich Hayez ab den vierziger Jahren mit den Themen der Politik seiner Zeit direkt auseinander, indem er das Anstreben und die Enttäuschung der Ideale der politischen Romantik ausdrückte. Das wird deutlich in einigen Gemälden, die die melancholische Schönheit der leidenden, doch stolzen Heldin mit einem Ausdruck unbezähmbaren Mutes in den Augen, der Erniedrigung trotzend, schildern: ein Bild Italiens, dermaßen exemplifikatorisch nach den Niederlagen von Custoza und Novara, dass es als Personifizierung einer Generation in Erwartung der Befreiung und der Revanche, als malerische Verkörperung der besiegten, doch nicht verlorenen Nation verstanden wurde. Das Gemälde wurde von Graf Giacomo Franco aus Verona in Auftrag gegeben und 1852 in Verona ausgestellt, drei Jahre nach der schmerzlichen Enttäuschung im ersten ‚Unabhängigkeitskrieg‘ (Guerra d’Indipendenza). Viele Darstellungen
18 Mazzocca 2002, S. 100. 19 Über Hayez schrieb Mazzini: „Er ist das Haupt der Schule der Historienmalerei, die den Nationalgedanken in Italien proklamiert“, Mazzini 1915 [1840], S. 138. 20 Die Allegorie ist die bildliche Umsetzung eines gedanklichen Zusammenhangs. Die Personifikation (als allegorische Figur zu verstehen) stellt die Veranschaulichung einzelner abstrakter Begriffe in der Form einer menschlichen Gestalt dar, vgl. Wappenschmidt 1984, S. 38. Zu Allegorie, Metapher und Personifikation vgl. Büttner/Gottdang 2006, S. 143ff.
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Abb. 2: Francesco Hayez, Die Meditation, 1851, Ölgemälde, 92,5 × 72, Verona, Galerie für Moderne Kunst, inv. 16535-1C-2871.
ab den 1840er Jahren spielten in indirekter Weise auf die italienische Nation an, um der Zensur der ausländischen Besatzer auszuweichen.²¹ Die politische Botschaft verklärt sich in der Ikone der büßenden Maria Magdalena: eine junge Frau mit langem, offenem Haar, in einem weißen Gewand, in frommer Andacht mit Bibel und Kreuz. Die Vorbilder dieser Darstellung greifen gleichzeitig auf die klassischen Melancholie-Allegorien zurück, auf die sich Hayez selbst in dem Gemälde Melancholischer Gedanke (1842) bezogen hatte.²² In der Meditation überschneiden sich das melancholie-allegorische Genre und die religiöse Magdalena-Ikonographie: Zu den für die Melancholie typischen Merkmalen – der unverwechselbaren facies nigra und der sitzenden Haltung, die Traurigkeit, Ungewissheit und Handlungsunfähigkeit bedeuten – kommen die der Heiligen eigenen Elemente der Reue und der Erlösung hinzu. Zugleich werden die Vereinzelung und Resignation, die zum melancholischen Diskurs gehören, ausgeblendet.
21 Skokan 2009, S. 67. Nach dem Lexikon Ästhetische Grundbegriffe bezeichnet die Allegorie „eine öffentlich-politische Doppelsprachlichkeit, in der ‚anderes reden‘ ein ‚anderes verhandeln‘ impliziert“, daher sind die Personifikationen artifizielle Konstrukte, die nur innerhalb ihres Kontextes verständlich sind, Haverkamp/Menke 2000, S. 55. Vgl. Warner 1989. 22 Ich verdanke Prof. Peter Springer die Anregung, meine Recherchen in diese Richtung zu vertiefen. Schiera 1999; Ders 2005. Grundlegend: Klibansky/Panowsky/Saxl 2001.
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In der sakralen Kunst (besonders in der Gegenreformationsepoche) wurden Maria Magdalena sowie der Heilige Hieronymus als Modelle für Reue und Selbstdisziplinierung gegen die Exzesse des mondänen, vom vanitas dominierten Leben eingesetzt. Während bis zur Renaissance die Heilige das Sinnbild der Besonnenheit gewesen war, wurden ihr nach dem Trienter Konzil Sünde und Reue explizit zugeschrieben, so dass sie in einer Höhle, in Meditation über den Tod und die Vergänglichkeit weltlicher Freuden, getröstet von der Heiligen Schrift und der Anwesenheit des Kruzifixes dargestellt wurde. Die reuevolle und büßende Sünderin eignete sich wohl, die Rolle der melancholischen Figur par excellence zu interpretieren. Die Identifizierung der Magdalena mit der Melancholie ist durch zahlreiche Werke bestätigt, unter anderen Die Melancholie oder Maria Magdalena von Domenico Fetti, Maria Magdalena als Melancholie von Artemisia Gentileschi und die Melancholia oder Maria Magdalena von Hendrick ter Brugghen. Die Gestalt der Maria Magdalena erlebte im 19. Jahrhundert eine besondere Popularität als „Musterfall von Lebenskrise und deren Bewältigung“: In der säkularisierten Bedeutungsverschiebung der christlichen Ikonographie symbolisierte die Büßerin die Aufforderung zur Reue und zur Moralität für die korrupte moderne Gesellschaft.²³ Die Attribute der Magdalena von Hayez verraten jedoch die politische Bedeutung der Darstellung: Das Gewand entblößt nur eine Brust, was an die ‚patria‘ als stillende Mutter erinnert; das Buch auf ihrem Schoß ist keine Bibel, sondern ein Band der „Storia ďItalia“; auf dem Kreuz sind die Daten des fünftägigen Volksaufstandes (18.–22. März 1848) gegen die österreichische Fremdherrschaft in Mailand zu lesen; der traurige, doch herausfordernde Blick wendet sich an das italienische Volk und fordert es auf, die Nation zu verteidigen.²⁴ Die religiöse Figur wird durch politischen Symbolgehalt säkularisiert und die patriotische Metapher bekommt eine sakrale Aura. Aus welchem Grund hatte Hayez ausgerechnet die Magdalena-Ikone ausgewählt, um die Nation zu personifizieren? Es lässt sich die Hypothese aufstellen, dass diese Entscheidung der Zielpunkt einer schmerzhaften, von vorherigen Generationen vollzogenen Erwägung über das Thema des italienischen ‚Sonderwegs‘ im Vergleich zu den europäischen Nationalerfahrungen war: Eine ‚Exzentrizität‘, die durch Jahrhunderte der Fremdherrschaft bedingt wurde. Wenn man die große Zahl der Schriften, die von ‚Grand-Tour‘-Reisenden hervorgebracht wurden, im Ganzen in Betracht zieht, liegt die Bilanz in der Bildung eines negativen Identitätsmythos, der von Ausländern erschaffen und von Italienern selbst
23 Vgl. Schimpf 2007. 24 Dazu: Gozzoli 1983; Mazzocca 1995; Banti/Bizzocchi 2000.
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verinnerlicht wurde.²⁵ Im Spiegel der fremden Besucher ist Italien ein Land, das, jenseits der Bewunderung für die Kunstwerke der Vergangenheit, eine Selbstdarstellung anbietet, in der die Elemente der Unmoralität, der Verderbtheit überwiegen. Die Führungsschicht wird als unfähig, korrupt, dem Fremden gegenüber unterwürfig und der katholischen Kirche unterworfen beschrieben. Die moralische ‚Minderwertigkeit‘ Italiens wird oft mit der Sphäre des privaten Lebens, der Sittlichkeit identifiziert, die die ungenügende öffentliche Moral, das den anderen Länder unterlegene bürgerliche Zusammenleben erklären würde. Von den fundamentalen Remarks on (several Parts of) Italy (1705) des Whig-Journalisten, Begründers der Zeitung Spectator, Joseph Addison, über den Roman Corinne ou l’Italie (1807) von Madame de Staël bis zum letzten Band der Histoire des républiques italiennes du moyen age (1818) des schweizerischen Historikers Sismonde de Sismondi dreht sich ein Großteil dieser vielfältigen Literatur über Italien um die private Moral. Er hält sich unter anderen mit der Figur des Galans (cicisbeo) auf, das heißt mit dem Brauch, der einen jungen Begleiter für die Gattin eines anderen Mannes vorsieht.²⁶ Die italienische Eigentümlichkeit ist von dem besonderen Merkmal des familiären, der Gesellschaft zugrunde liegenden Modells geprägt: Falschheit, Unmoralität, Unsitten der Frauen. Das Problem der privaten Moral spiegelt sich im Drama der italienischen Unfreiheit, der politischen und militärischen Schwäche, der Labilität der Nationalidentität wider. Die Nationalbewegung musste unvermeidlich dieses negative Identitätsstereotyp der Italiener als feige, korrupt, unsittlich und ewig unter sich uneinig in Rechnung ziehen. Ein erfolgreicher Kampf um die nationale Unabhängigkeit sollte einen Appell zur Versittlichung der Gebräuche, eine Aufforderung zur Buße der Vergangenheitsschuld, eine Mahnung, die Kompromiss- und Unterwerfungspolitik den Fremdherrschaften gegenüber aufzuheben, voraussetzen. Die Metapher Maria Magda-
25 „The vast literature of the Grand Tour in turn contributed to the consolidation of … stereotypes: […] travelers often descrive the inhabitants of the peninsula as indolent, morally and sexually lax, and quick to resort to fights and arms“, Patriarca 2010, S. 20. Für einen Überblick über das Bild Italiens und der Italiener in der europäischen Reiseliteratur: unter den Klassikern Hibbert 1969; Venturi 1973. Jünger: Seta 1992; Brilli 1995; Black 2003. Den Akzent auf die kulturelle und Genre-Aspekte legt Findlen 2009. Vorurteile und negative Stereotype werden bei Imorde/Wegerhoff 2012 in den Vordergrund gerückt. 26 „There is a rather neglected aspect that seems very significant if we want to understand the place of cicisbeismo in the figuration of the narrative of Italian decline: namely that the Italian term cicisbeo referred then both to a cavalier servente and to a damerino, i.e. a man who pays almost exclusive attention to his external appearance in society and devotes a lot of his time to the company of women. […] The conflation of these two meanings of the word helps explain why cicisbeismo became a symbol of the moral and political degradation which the Risorgimento patriots wanted to eradicate“, Patriarca 2010, S. 40f.
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lena nährte die Hoffnung auf Erlösung und wurde zum Hoffnungsanker einer Zeit, die sich ihrer Heilsmöglichkeiten stets aufs Neue zu vergewissern suchte.
4 Die Vaterlandsreligion In seinen innovativen, doch strittigen Studien über den Nationalismus in der Epoche des Risorgimento hat Alberto Banti den „Raum der Grundkonstellationen“ definiert, in denen sich die Nation darstellt. Zunächst und vor allem wird die Nation als eine große Familie, im Sinne einer verwandtschaftlichen Gemeinschaft, konzipiert.²⁷ In der zweiten Grundkonstellation ist die Matrize der nationalen Gemeinschaft die christliche Gemeinschaft, die in eine Glaubensgemeinschaft aus Kindern Gottes und deshalb aus Brüdern in Christus strukturiert ist. Der Begriff der Brüderlichkeit, der am Ende des 18. Jahrhunderts als Derivat der revolutionären Ideologie des Jakobinertums in die nationale Diskurskonstellation Eingang gefunden hatte, erfährt eine Resakralisierung durch Rekurs auf das religiöse Imaginarium.²⁸ Sowohl im Fall der Gläubigen als auch im Fall der Patrioten entsteht die Unterscheidung von anderen Gemeinschaften durch eine Selbstidentifizierung als Mitglieder einer holistischen Kollektivität, innerhalb derer sich die individuellen Unterschiede im Namen der aus der gemeinsamen Brüderlichkeit erzeugten Solidarität aufheben. Obwohl sich die Vorstellung der Brüderlichkeit durch die Begriffsausarbeitung der Französischen Revolution im Bereich der Politik etablierte, wurde dieser Begriff so umgedeutet, dass er in direkten Zusammenhang mit der christlichen Vorstellung der Gemeinschaft der Brüder in Christus gebracht wurde. Bei Mazzini stammt die politische Vereinigung aus der Gemeinschaft der Menschen mit Gott²⁹. Durch diese ‚Genealogie der Politik‘ wird die Sakralität der religiösen Vereinigung auf die Vereinigung politischer Natur übertragen, das heißt auf die Nation, die alle ihre Mitglieder in Brüderlichkeit und Gleichheit vereint. Die Umsetzung und die Manipulation von ursprünglich religiöser Symbolik werden deutlich in der Symmetrie, die die Gestalten der Erlösungserzählung (Christus, die Märtyrer, die Apostel) und die Helden der Risorgimentoerzählung (Garibaldi, die gefallenen Patrioten, die Patrioten im Exil) verbindet. Der laizis-
27 Banti 2000, S. 67ff. 28 Zur Methaper der Brüderlichkeit in der politischen Literatur und in der Ikonographie: Münkler 1994. 29 Mazzini 1915b [1840], S. 106ff.
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tische Kult des Vaterlands wird durch eine Anwendung der religiösen Semantik (Christologie, Martyrium, Apostolat) hergestellt. Die Analogien reichen bis zum ‚Heiligen Krieg‘.
4.1 Die Befreiung des Vaterlands als Heilsgeschehen Der Nationalheld ist Träger der patriotischen Werte; er kämpft, wird verfolgt und oft erleidet er den Tod, um sie durchzusetzen. In der Christologie ist die Lebensspende die Erlösung von den Sünden: Die Kreuzigung erlöst die Gläubigen von einem ethischen Skandal (dem Sündenfall). In der patriotischen Erzählung ist die Lebensspende die Erlösung von einem ethischen und politischen Skandal: Das vergossene Blut verwischt die Schande der Verletzung der Nationalintegrität durch fremde Besatzung und löscht die eigene Schuld der inneren Zwietracht. Aus dieser Perspektive bedeutet der Begriff Risorgimento (abgeleitet vom italienischen Verb sorgere, ‚sich erheben‘, ‚entspringen‘, ‚quellen‘) nicht nur Erweckung der nationalen Kräfte und nicht einmal ausschließlich den Aufstand gegen eine Fremdherrschaft (sei sie österreichisch, französisch oder bourbonisch), sondern eine gesamte Erneuerungsbewegung im Sinne von Auferstehung, Tilgung der Ursünde, Befreiung von einem Zustand politischer Unterdrückung und moralischen Verfalls. „Der Begriff birgt überdies die Profanierung einer gnostischen Erwartung an die Wiedergeburt in einer anderen – überirdischen – Welt. Der Mensch braucht angesichts eines weltlichen ‚Risorgimento‘ nicht auf ein besseres Dasein nach dem Tod zu warten. Der Begriff suggeriert, dass er schon zu Lebzeiten Erlösung durch die politische Läuterung genießen können wird.“³⁰
In der Ikonographie Garibaldis wurde massiv auf die Christologie zurückgegriffen. Oft wurde der „Kämpfer für die Freiheit der Völker“ und „Verteidiger der Gerechtigkeit“ auch als von der Vorsehung Auserwählter dargestellt.³¹ Neben der Rezeption seiner Figur bei den bekanntesten Künstlern, in unzähligen Reproduktionen und durch das neue Mittel der Fotografie, erschien eine Reihe volkstümlicher Illustrationen, in denen Garibaldi eine fiktive Ähnlichkeit mit dem ‚Christus Pantokrator‘ oder mit dem ‚Heiland‘ aufweist (Haare und Bart sind länger und
30 Pauls 1996, S. 53. 31 Vgl. Peruta, 1983; Istituto per la storia del Risorgimento (Hg.) (1984), Giuseppe Garibaldi e il suo mito. Atti del 51 Congresso di storia del Risorgimento (Genova 10–13 novembre 1982), Rom; Certini 2000; Riall 2007. Kraatz 2011 bietet einen ausführlichen Überblick über die Garibaldi-Mythologie.
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Abb. 3: Anonymus, Porträt von Garibaldi als Erlöser, 1850, Lithographie, Rom, Zentralmuseum des Risorgimento (MCRR R 2068).
dichter, die Hand zeigt die Wundmale; Abb. 3). Dort werden der Heldenfigur messianische Züge zugeschrieben: Seine Tat erscheint als eine Heilungsmission.³² Darüber hinaus ist ersichtlich, wie der Mythos als Sinngenerator modelliert wird, dem mit der Kategorie des Ewigen transzendente Weihe zukommt.³³ Historische Personen werden emporgehoben, auratisiert und ihre Einbindung in unterschiedliche Kontexte, ihre Motivationen werden in der ikonischen Abbildung ausgeblendet.³⁴ In einer anonymen allegorischen Darstellung (Abb. 4) geht Garibaldi mit nach oben ausgestrecktem rechten Arm, die linke Hand in einer segnenden Pose und von einem Lichtkreis gerahmt beinahe unverändert auf die herkömmliche Darstellung Christi im Jüngsten Gericht, so bei Hans Memling oder bei Michelangelo, zurück. Die Allegorie folgt dabei einem typischen Muster. Meist segnet Christus mit seiner Rechten, mit seiner Linken weist er die Verdammten zurück; vom Gesicht Christi kann das Schwert des Gerichtes ausgehen (gemäß der Offenbarung des Johannes, 1,16 und 2,16), ergänzt durch die Lilie der Gnade
32 Riall 1998; Dipper 2000. 33 Nach Andreas Dörner sind Ideologien und politische Mythen kollektiv verankerte, deutungskulturell gepflegte „Sinngeneratoren“, vgl. Dörner 1996. 34 Die Helden sind „Lichtgestalten“, die zu „Archetypen nationaler Größe“ werden, vgl. Speth 2000, S. 121f.
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Abb. 4: Anonymus, Garibaldis Allegorie, 1860, Ölgemälde, Mailand, Museum des Risorgimento.
auf der anderen Seite. In der Regel ist die Gestalt des Christus von einer Aura umgeben. Links neben Christus kniet Maria als Fürbitterin für die Menschheit, rechts sitzt Johannes der Täufer oder Johannes der Evangelist. Die Säkularisierung der Erlöserfigur überträgt einen eschatologischen Gehalt auf ein profanes, gegenwärtiges Thema: die Befreiung und die Annexion der Städte Venedig (die Allegorie links am Bild) und Rom (rechts) im Reich Italiens.
4.2 Die Märtyrerverehrung Während der Unabhängigkeitskriege oder der Widerstandskämpfe der Republiken des Risorgimento wurden einzelne Gefallene als Märtyrer bezeichnet. Im Christentum ist das Opfer der Märtyrer das Bekenntnis ihres Glaubens an Jesus Christus; gleichermaßen hat der Opfertod des Patrioten eine Zeugenfunktion: Sein Leiden legt Zeugnis ab vom Glauben an die Nationalsache.³⁵ Helden und
35 Banti 2000, S. 125. Vgl. Naumann 1984; Tobia 2000.
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Heldinnen der Unabhängigkeitsbewegung haben die Mission, den Wert der nationalen Gemeinschaft zu bezeugen. Ihr Opfer ermutigt, die Ehre der Nation wiederherzustellen. In einem Artikel aus dem Jahr 1832, der die Ziele der Giovine Italia erläutert, setzte Mazzini das Blut der Märtyrer des Vaterlands dem Blut Christi, des Erlösers gleich: „aus jenem Blut, wie aus dem Blut eines Christus, wird eines Tages das zweite, das echte Leben eines Volks entstehen“.³⁶ Die Ikonographie des Risorgimento bediente sich der Elemente der sakralen Semantik, um eine zivile Religion (gleichsam also eine Transzendenzbehauptung) zu gründen, die in einer eigenen Liturgie und im Kult eigener Laien-Heiliger Ausdruck finden konnte. Ab 1848 setzte die Verehrung der im Kampf gefallenen Patrioten ein, die in Gedenktagen, Ritualen, Ansprachen und Bildern zelebriert wurden. Auffällig ist, dass die katholische Mystik des Körpers auf politisches Terrain übertragen wurde: Haarsträhne, Wirbel, blutdurchtränkte Stoffreste, blutbefleckte Rinde und Steine wurden wie Reliquien aufbewahrt und man schrieb ihnen sogar eine wundertätige Wirkung zu. Das Foto des Handabdrucks Garibaldis wurde zur sehr populären Ikone: Reproduziert und in vielfältigen Kopien ausgeteilt, galt dieses Bild als Wundermittel, das durch bloße Berührung heilen konnte. Der Körper fungiert als wirkungsvolles Kommunikationsinstrument und der Leib der Märtyrer verkörpert buchstäblich die Nationerscheinung. Ein Musterbeispiel an patriotischem Märtyrertum ist der Tod des piemontesischen Bergmannsoldaten Pietro Micca, der zum Symbol für die Opfer der italienischen Nation wurde. Pietro Micca war eigentlich ein regionaler Held aus dem 18. Jahrhundert, der im Laufe des Risorgimento nationale Popularität erlangte.³⁷ Während der Schlacht von Turin (im Rahmen des Spanischen Erbfolgekrieges), in der Nacht vom 29. August 1706 verhinderte Micca einen französischen Einbruch in die Befestigungsanlagen, indem er seine Kameraden wegschickte und eine Sprengladung zündete, mit der er die Feinde, aber auch sich selbst in die Luft sprengte. Die französische Belagerung der Festung scheiterte und die Franzosen mussten sich ganz aus dem Piemont zurückziehen. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass die bildende Kunst dieses Ereignis als Thema aufgriff. Das berühmteste Gemälde zu Pietro Micca schuf Andrea Gastaldi 1858 (Abb. 5). Die Dramatik der Darstellung, durch das Spiel von Licht und Schatten verschärft, verrät bereits die Absicht, einen historischen Vorfall in einen patriotischen Mythos zu verwandeln. Miccas mystische Ausstrahlung bindet die Tat explizit in einen religiösen Kontext ein: Seine kniende Haltung, sein Blick gen Himmel nehmen die Darstellungen der Krieger-
36 Mazzini 1976, S. 81. 37 Dazu Menietti 2003.
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Abb. 5: Andrea Gastaldi, Pietro Micca an dem Punkt, die Mine zu entzünden, richtet seine letzten Gedanken an Gott und das Vaterland, 1858, Ölgemälde, 164 × 204, Turin, GAMGalerie für moderne und zeitgenössische Kunst.
heiligen wieder auf, insbesondere die Abbildungen des im Piemont viel verehrten Sankt Valerianus, eines römischen Soldaten, der sich zum Christentum bekehrte und das Martyrium erlitt. Die Nationalbewegung pflegte um mehrere getötete Anhänger einen Märtyrerkult, etwa um Luciano Manara. Manara, geboren 1825 bei Bergamo, kämpfte 1848 beim fünftägigen Volksaufstand in Mailand. Unmittelbar danach nahm er am ersten italienischen Einigungskrieg teil, wo er eine piemontesische BersaglieriEinheit kommandierte. Anschließend wurde er Garibaldis Stabschef während der Verteidigung der Römischen Republik und fiel am 30. Juni 1849 im Kampf gegen französische Truppen. Die Österreicher verweigerten die Bestattung Manaras in seiner Heimat und die Leiche blieb lange unbegraben in Rom, bis sie im Grabmal des Patrioten Emilio Morosini zeitweise aufgenommen wurde. Erst nach jahrelangen Bitten der Mutter gestattete der österreichische Kaiser Franz Joseph I. 1853 die Beerdigung, wobei die Öffentlichkeit aber ausgeschlossen wurde. Die Gemälde, die den heldenhaften Tod Manaras abbilden, haben die Merkmale einer laienhaften, doch rührenden Kreuzabnahme oder sie verweisen auf die traditionelle Ikonographie der Beweinung Christi (Abb. 6).
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Abb. 6: Filippo Vittori, Die lombardischen Bersaglieri und die Lanzenreiter tragen den schwer verletzten Luciano Manara zur Villa Spada, 1850, Ölgemälde, 170 × 300, Mailand, Museum des Risorgimento.
Eleuterio Pagliano, Maler piemontesischer Herkunft, der selbst an dem Volksaufstand in Mailand beteiligt war und zum Zeuge des Todes Manaras während der Verteidigung der Römischen Republik wurde, bildete mit erbarmungsloser Genauigkeit den elenden Zustand ab, in dem sich der Körper des Helden befand, wodurch er mit Empörung die österreichische Herrschaft brandmarkte. In Historienbildern werden Sterben und Tod nicht um ihrer selbst willen dargestellt, „sondern [dienen] der Veranschaulichung konsequenter Befolgung menschlicher Grundideen. […] Es handelt sich formal zwar um ‚Sterbebilder‘, inhaltlich jedoch um ‚Tugendbilder‘.“³⁸ Das Opfer als exemplum virtutis. Da es sich um Märtyrer handelt, dürfen sich die Darstellungen von sakraler Ikonographie ableiten, was nicht als Profanierung, sondern als monumentale Steigerung betrachtet werden soll. Dadurch verblasst der historische Charakter des Bildes als Ereignisbild gegenüber einer überzeitlichen Symbolisierung. In seinem Gemälde hält sich Pagliano streng an die Bibel-Überlieferung, nach der maximal zwei Personen bei der Beisetzung Jesu zugegen waren, während die Frauen aus der Ferne weinend zuschauten. Die Isolierung des Leichnams trägt zur symbolischen Überhöhung
38 Oberreuter-Kronabel 1986, S. 19.
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bei und gilt gleichsam als Pathosformel.³⁹ Die Tatsache der zunehmenden Anzahl solcher Darstellungen ist sehr wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass ein großer Teil des Volkes nach einer direkteren Teilnahme am „Passionsgeschehen“ des Vaterlands strebte.
4.3 Das Apostelamt der Widerstandskämpfer Die Patrioten im Exil wurden den Aposteln gleichgesetzt, die nach der Kirchengeschichte in die Welt auszogen, um auf Befehl des Heilands das Evangelium zu verkünden. Die emigrierten Kämpfer des Risorgimento galten als ‚auserwählte‘ Gesandte, jedoch mit bestimmten Aufgaben (Spionage, Koordinierung konspirativer Organisationen, Pflege internationaler Netzwerke, Spendensammlung) und sind die Verkünder und glaubwürdigen Zeugen der Auferstehung der italienischen Nation. Vor allem Hayez pries das Apostolatwerk dieser Militanten der Nationalbewegung. In seinem 1827 in Brera ausgestellten Bild Die Apostel Philip und Jakob werden die Brüder Filippo und Giacomo Ciani, bekannte Patrioten, abgebildet (Abb. 7). In die Verschwörungen des Jahres 1821 einbezogen, flohen die Brüder Ciani zuerst in die Schweiz, dann nach Frankreich und Großbritannien; im Exil hatten sie sich dem patriotischen ‚Apostolat‘ gewidmet. Die Farben weiß, rot und grün der Gewänder verraten die politische Bedeutung des Werks. Hier handelt es sich klar um den Typus des Andachts- oder Kultbildes katholischer Tradition, und so darf man es als Beweis dafür sehen, dass Hayez mit Hilfe christlicher Gestaltungen bewusst eine Sakralisierung der Nationalbestrebungen vollzog. In der bildenden Kunst ist die Kombination von Philip und Jakob (dem Jüngeren) häufig, weil das Gedenken dieser beiden Apostel in der Liturgie am selben Tag, dem 3. Mai, begangen wird; außerdem haben beide ihre Gräber in der Apostelkirche in Rom. Philipp wird traditionell mit dem Attribut seines Martyriums, dem Kreuzstab, dargestellt; Jakob der Jüngere wird ab dem 12. Jahrhundert mit einem Buch oder einer Schriftrolle dargestellt, denn er trug den Beinamen ‚der Gerechte‘.
39 Vgl. Bleyl 1990.
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Abb. 7: Francesco Hayez, Die Apostel Philip und Jakob, 1825–1827, Ölgemälde, 125 × 76, Turin, Sammlung Benappi.
4.4 Der nationale Befreiungskampf als Heiliger Krieg Auch in der Sphäre der Politik bilden sich, wie im religiösen Bereich, Bereitschaften zu totaler Hingabe aus. Im Fall des Krieges kann das Politische eine Sinngebung angesichts des Todes anbieten, die mit den Sinnstiftungsformen der Religion konkurrieren kann⁴⁰. Bei Max Weber liest man: „Der Krieg als die realisierte Gewaltandrohung schafft, gerade in den modernen politischen Gemeinschaften, ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft der Kämpfenden und überdies eine Arbeit des Erbarmens und der alle Schranken der naturgegebenen Verbände sprengenden Liebe zum Bedürftigen als Massenerscheinung aus, welcher die Religionen im allgemeinen nur in
40 Hahn 2010, S. 168.
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Heroengemeinschaften der Brüderlichkeitsethik ähnliches zur Seite zu stellen haben. Und darüber hinaus leistet der Krieg dem Krieger selbst etwas, seiner konkreten Sinnhaftigkeit nach, Einzigartiges: in der Empfindung eines Sinnes und einer Weihe des Todes, die nur ihm eigen ist.“⁴¹
Da die italienischen Einigungskriege als Kämpfe für die nationale Erlösung stilisiert wurden, wurde der Krieg rhetorisch zu einer sakral aufgeladenen Mission im Namen der nationalen Freiheit moralisiert. Die Nation ‚in Waffen‘ erscheint als gottgewollt und somit als unbesiegbar; der Kampf wird als Konflikt von eschatologischer Dimension empfunden, dessen Ausgang die Befreiung oder die Unterjochung, die Rettung oder die Vernichtung bedeutet. Dieser Kampf auf Leben und Tod bekommt eine religiöse Dimension, weil es um das Heil der nationalen Gemeinschaft und ihrer Seele geht, sodass diese absolute Antithese zwischen Usurpatoren und Verteidigern der heiligen Heimaterde als Kreuzzug dargestellt wird. Diese Auffassung des Krieges inspirierte Hayez zu dem Gemälde Peter der Einsiedler predigt für den Kreuzzug (Abb. 8). Der französische Prediger (bekannt auch als Petrus von Amiens, franz. Pierre ľErmite) wurde 1096, nach dem Aufruf des Papstes Urban II. zur Befreiung Jerusalems, zum Anführer des sogenannten Volkskreuzzugs, an dem sich Tausende beteiligten. Nachdem seine Anhänger in Kleinasien niedergemetzelt worden waren, schloss er sich mit dem Ritterkreuzzug zusammen und nahm an der Eroberung Jerusalems teil. Peter befindet sich im Zentrum des Bildes, seine dunkle Gestalt hebt sich auf dem weißen Hintergrund des Kreuzbanners ab; der Blick und der Schwung des Körpers drücken Entschiedenheit und Begeisterung aus. In den mittelalterlichen Miniaturen (so wie bei der Chronica von Wilhelm von Tyrus oder bei dem Roman du Chevalier du Cygne) sind nur Krieger zu sehen. Bei Hayez stehen neben den Kreuzrittern Menschen aller Altersstufen, jeden Standes, beider Geschlechter: Die ganze Nation antwortet dem Aufruf zum Heiligen Krieg. Mazzini kommentierte dieses Gemälde auf folgende Weise: „als einziger und wahrer Einheitsband schwebt der Gedanke, der diese Menge antreibt: ‚Gott will es. Gott will es‘.“⁴² Der Krieg um die Verteidigung der Vaterlandsehre ist von Gott gewollt und gesegnet.
41 Weber 1920, S. 546. 42 Mazzini 1915a, S. 304. Vgl. Banti 2000, S. 107ff.
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Abb. 8: Francesco Hayez, Peter der Einsiedler predigt für den Kreuzzug, 1827–1829, Ölgemälde, 210 × 280, Mailand, Privatbesitz.
5 Fazit Im Zuge des Risorgimento wurden insbesondere durch die republikanische Bewegung die zur christlichen Tradition gehörigen Symbole und Gestalten auf den Nationsdiskurs übertragen. Die Nation stellte sich in Kontinuität mit der Brüderlichkeit in Christus: Diese Ableitung verlieh ihr das Merkmal des Sakralen. Neben der biologisch-natürlichen Familien-Metapher, setzte sich die Metapher der Glaubensgemeinschaft durch, die den Akzent auf die heilige und geistige Natur der Nationsbande legt, sodass sie den Anschein einer unverfügbaren ‚unio mystica‘ annahm. Die Ableitung der Zentralfiguren der Nationserzählung (die Helden, die sich für das Vaterland opfern) aus den Schlüsselfiguren der katholischen Tradition (Christus und die Märtyrer) machte den Nationsdiskurs tief vertraut und vertretbar. Die formale Angleichung nationaler Heldenfiguren an christliche Heilige sollte jedoch auch einen politischen Anspruch zum Ausdruck bringen, und zwar den ihrer Gleichrangigkeit mit den Gestalten aus der sakralen Sphäre. Bildliche Elemente, die zu einem spezifischen Bedeutungskontext gehörten, wurden in ein
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neues Umfeld übertragen, wodurch sie diesem eine transzendente, über das bloß Kontingente hinausführende Bedeutung verleihen. Die herkömmliche Devotionshaltung sollte sich damit auf das neue Wertesystem übertragen. Die republikanische Rhetorik der Nationssakralisierung verlor aber an Boden mit der Durchsetzung der monarchischen Lösung der Einigungsfrage durch säkularisierte liberale Kräfte und die Nation blieb ohne einen wichtigen symbolischen Integrationsfaktor.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Antonio Canova, Vittorio-Alfieri-Denkmal, 1806–1810, Florenz, Kirche Santa Croce. Abb. 2: Francesco Hayez, Die Meditation, 1851, Ölgemälde, 92 × 72, Verona, Zivilgalerie für Moderne Kunst inv. 16535 – 1C – 2871. Abb. 3: Anonymus, Porträt von Garibaldi als Erlöser, 1850, Lithographie, Rom, Zentralmuseum des Risorgimento (MCRR R 2068). Abb. 4: Anonymus, Garibaldis Allegorie, 1860, Ölgemälde, Mailand, Museum des Risorgimento. Abb. 5: Andrea Gastaldi, Pietro Micca an dem Punkt, die Mine zu entzünden, richtet seine letzten Gedanken an Gott und das Vaterland, 1858, Ölgemälde, 164 × 204, Turin, GAM-Galerie für moderne und zeitgenössische Kunst. Abb. 6: Filippo Vittori, Die lombardischen Bersaglieri und die Lanzenreiter tragen den schwer verletzten Luciano Manara zur Villa Spada, 1850, Ölgemälde, 170 × 300, Mailand, Museum des Risorgimento. Abb. 7: Francesco Hayez, Die Apostel Philip und Jakob, 1825–1827, Ölgemälde, 125 × 76, Turin, Sammlung Benappi. Abb. 8: Francesco Hayez, Peter der Einsiedler predigt für den Kreuzzug, 1827–1829, Ölgemälde, 210 × 280, Mailand, Privatbesitz.
Maik Herold, Jan Röder
Die Präambel des Grundgesetzes zwischen Sachlichkeit und Numinosität Als Spielregelwerke des Politischen sind Verfassungen eigenartige Chimären. Bereits die Staatsrechtslehre des frühen 20. Jahrhunderts hatte ihnen eine doppelte Natur zugewiesen. Der neukantianisch begründete Entwurf einer Rechtslehre, der mit Vorstellungen von Essentialität und Reinheit operierte und scharf zwischen den Sphären von Recht und Politik unterschied, traf hier auf Kritik aus den unterschiedlichsten Richtungen.¹ Die Verfassung erschien in der Folge als eine Institution, in der die Sphären von Recht und Politik auf eigentümliche Weise ineinanderflossen. Diese ausgemachte Doppelstellung wurde an anderer Stelle um zusätzliche Aspekte erweitert. Die Verfassung eines Staates sei, so argumentierte beispielsweise Rudolf Smend, „nicht nur als Organisationsstatut zu verstehen, das den Staat organisiert […], sondern zugleich als eine Lebensform seiner Angehörigen“². Neben ihrer rechtlich-organisatorischen Aufgabe bringe sie deshalb immer auch ein bestimmtes Werte- und Sinnsystem zum Ausdruck, dessen Totalität jedoch niemals vollständig dargestellt werden könne.³ In diesem Sinne hat vor allem Peter Häberle die Verfassung als Schnittstelle zwischen Recht und Kultur beschrieben. Verfassungen seien demnach nicht nur als „rechtliche Ordnung für Juristen“ oder „normatives Regel-Werk“ zu verstehen, sondern auch „Speicher von überkommenen ‚kulturellen‘ Informationen“, „Ausdruck eines kulturellen Entwicklungsstandes“, „Mittel der kulturellen Selbstdarstellung eines Volkes“ sowie „Spiegel eines kulturellen Erbes und Fundament neuer Hoffnungen“.⁴ Ihre Präambeln seien entsprechend nicht nur als „Grundlegung“, sondern auch als „Bekenntnis“ zu deuten, in dem die „tieferen Schichten“ vorpositiver Basis- und Glaubenswahrheiten eines politischen Gemeinwesens zur Geltung gebracht werden.⁵
1 Vgl. Gerber 1998; Laband 1901 und vor allem Kelsen 1992 sowie zur kritischen Auseinandersetzung mit deren formalistisch-positivistischer Rechtslehre Heller 1970; Smend 1928; Schmitt 1989; Kaufmann 1921. 2 Smend 1987, Sp. 1357. 3 Vgl. etwa Smend 1928, S. 260ff. 4 Häberle 2006, S. 636f. 5 Häberle 1982, S. 231f. Um Verfassungen als Institutionen im Grenzbereich zwischen den Sphären von Recht und Kultur zu fassen, wurde in der neueren politikwissenschaftlichen Diskussion die Unterscheidung zwischen instrumenteller und symbolischer Dimension eingeführt. Während Verfassungen einerseits als Instrument den politischen Prozess
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Insbesondere in politischen Gründungssituationen scheinen derartige Andeutungen eines Zusammenhangs von Recht und Religion nahezuliegen. Wie ist also das Verhältnis zwischen Verfassung und Transzendenz im Hinblick auf eine erfolgreiche Konstituierung, Legitimierung und Stabilisierung politischer Ordnungen? Welche Rolle spielt hierbei die Präambel? Diesen Fragen soll im Folgenden, nach einigen kurzen theoretischen Vorbemerkungen (1), beispielhaft und empirisch nachgegangen werden (2). Im Mittelpunkt stehen dabei die Verhandlungen des Parlamentarischen Rats 1948/49 zur Ausgestaltung einer möglichen Präambel für das neu zu schaffende Grundgesetz im Ausschuss für Grundsatzfragen.⁶ In systematischer Hinsicht werden die Ergebnisse schließlich zusammengefasst (3).
1 Verfassung und Transzendenz 1.1 Die Verfassung zwischen Recht und Religion Auch im Assoziationsfeld von Recht und Religion können Verfassungen wichtige Aufgaben zugeschrieben werden – und zwar sowohl im Hinblick auf ein substanzielles, als auch in Bezug auf ein eher funktionales Religionsverständnis. Im Rahmen der erstgenannten Variante werden gelegentlich Metaphern gebraucht, die die Konstitution etwa als „politische Bibel des Staates“⁷ bezeichnen oder in Analogie zur „Heiligen Schrift“⁸ setzen. Jenseits dieser rein illustratorischen Ebene haben zahlreiche Ansätze bestimmte inhaltliche Momente moderner Verfassungsordnungen und -dokumente mit dezidiert religiösen Prägefaktoren der sie umgebenden politischen, historischen und kulturellen Kontexte assoziiert. In diesem Sinne werden gelegentlich sowohl den Inhalten und grundlegenden Prinzipien moderner westlicher Verfassungen als auch der Form des Konstitutionalismus an sich religiöse, monotheistische oder gar dezidiert christliche Wurzeln
regulieren, artikulieren sie in ihrer symbolischen Dimension die Ordnungs- und Sinngehalte der jeweiligen politischen Kultur. Vgl. Gebhardt 1995; Vorländer 2002a; Vorländer 2006; Brodocz 2003. 6 Vgl. zur Arbeit des Parlamentarischen Rates: Benz 1999; Feldkamp 2008; Niclauß 1998. Die Rekonstruktion der Entstehung der Präambel gewährt grundlegende Einblicke in das Selbstverständnis und die Ordnungsvorstellungen der Gründungsväter und -mütter; so auch Werner 1993, S. XXIX. 7 Paine 1973, S. 224. 8 Ottmann 1990, S. 174.
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Herold, Röder
attestiert.⁹ Insbesondere in letzterer Hinsicht scheint dabei eine gewisse Nähe zu Carl Schmitts berühmtem Diktum von der „Säkularisierung theologischer Konzepte“ augenfällig zu sein, weshalb derartige Argumentationslinien in der Regel mit dem Begriff der „Politischen Theologie“ umschrieben werden.¹⁰ Andere Autoren wiederum analysieren spezifische Verfassungen hinsichtlich ihrer zentralen Rolle für den Bereich des Religionsrechts, des Staatskirchenrechts oder gar des „religiösen Staatsrechts“, deren Charakteristik es ist, „sich nicht auf die Religion zu beziehen, sondern vielmehr selbst religiös zu sein“¹¹. Indem die Konstitution hier die in die politische Kultur integrierten, „als universalkonsensfähig unterstellten religiösen Orientierungen“¹² zur Geltung bringt oder in der Form zentraler „Grundwerte“ die „Mindestelemente eines religiösen oder quasireligiösen Glaubens“¹³ kodifiziert, gewinne sie eine zivilreligiöse Bedeutung.¹⁴
1.2 Transzendenz als Transzendierung Doch auch im Sinne stärker soziologisch-konstruktivistisch angelegter Konzeptualisierungen des Religiösen kann der Verfassung eine entsprechende Vermittlerposition zugeschrieben werden.¹⁵ Dabei steht zunächst die Beobachtung im Raum, dass Konstitutionen und konstitutionelle Diskurse eine politische Ordnung durch ähnliche Mechanismen symbolisch vermittelter Geltungserzeugung fundieren, wie dies im Bereich genuin religiöser Sinnstiftung für die Welt als Ganzes behauptet wird.¹⁶ Während religiöse Lebenspraxis im umfassenden Sinne zur Vergegenwärtigung und „Bewältigung“ von Kontingenz dienen kann,¹⁷ sollen Verfassungen – vom oft mythisierten Akt ihrer Stiftung, über die diskursiven Auseinandersetzungen mit ihren schriftlichen Dokumenten und verschriftlichten Grundprinzipien, bis hin zu den modernen Aktualisierungs- und Verge-
9 Vgl. etwa Witte/Alexander 2008; Ratzinger 2007, S. 49ff.; Trigg 2008, S. 160ff.; Berman 2000, S. 35ff. 10 Schmitt 1996, S. 43. 11 Lübbe 1990, S. 313. 12 Ebd., S. 316. 13 Luhmann 2004, S. 175. 14 Vgl. zum Verhältnis von politischer Ordnung, Verfassung und „bürgerlicher Religion“ insb. die Beiträge in Kleger/Müller 2004. 15 Entsprechende, verschieden akzentuierte Bestimmungen des Religiösen finden sich etwa bei Durkheim 2007, S. 76, Geertz 2007, S. 48 sowie insb. bei Luckmann 2005, S. 87ff. 16 Vgl. Luckmann 2005, S. 89f. 17 Lübbe 1990, S. 160.
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genwärtigungspraxen konstitutioneller Rechtsprechung – für den Mikrokosmos des Politischen entsprechende Ordnungs- und Sinnstiftung leisten.¹⁸ Einerseits kommunizieren Verfassungen dabei bestimmte Ideen und Glaubensgrundsätze einer verfassungsgebenden, ursprünglichen Autorität in einer zeitlich „zerdehnten Situation“ und regen sie von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung an.¹⁹ Sie bringen gegenwartsbezogen die zentralen Ordnungsvorstellungen einer politischen Gemeinschaft symbolisch zur Darstellung und binden das politische Institutionengefüge an ihren eigenen Ursprung.²⁰ Bei Hannah Arendt wird dieses „Sich-Zurückbinden an einen Anfang“ und dessen „heiligen Schauder“ explizit durch den Begriff der Religion zum Ausdruck gebracht.²¹ Andererseits lässt sich diese funktionale Inanspruchnahme der Konstitution aber auch jenseits einer rein zeitlichen Verweislogik verallgemeinern. In diesem Sinne hat insbesondere Thomas Luckmann nahegelegt, das Wechselverhältnis von Transzendierung und Objektivierung unter den Begriff des Religiösen zu fassen.²² Jede politische Ordnung ist demnach auf der Suche nach einem Absoluten. Sie bedarf bestimmter legitimatorisch-argumentativer Fixpunkte, die jenseits des von ihr konstituierten Geltungsbereiches angesiedelt werden und etwa als politische Leitideen, zugrundeliegende Prinzipien, geteilte Erfahrungs- und Traditionsbestände oder als historische Gründungs- und Vergemeinschaftungserzählungen gefasst werden. Verfassungen und Verfassungsdiskurse verweisen daher notwendigerweise über die Grenzen ihres politischen Sinnstiftungsanspruches hinaus. Sie benennen und beschreiben fundamentale Prinzipien, überzeitliche Normen, heilige Traditionen oder unverrückbare Selbstbilder, um eigene Deutungs-, Bedeutungs- und Rechtfertigungsmuster zu fundieren.²³
18 Warum eine Verfassung daher weniger als Gegenstand, sondern vielmehr als Prozess zu verstehen ist, hat insb. Hans Vorländer 2006 gezeigt. 19 Assmann 1988, S. 9. Vgl. zum Begriff der „zerdehnten Sprechsituation“: Ehlich 1983. 20 Vorländer 2002b, S. 18. 21 Vgl. Hannah Arendt 2000, S. 255, die den Begriff der Religion „im römischen Sinne“ verstehen will und dabei vom Verb religare als Bezeichnung des ‚Zurückbindens‘ an einen Anfang herleitet. Sie folgt damit der Interpretation von Laktanz (Divinae Institutiones IV) über den möglichen Ursprung des Begriffes. 22 Vgl. Luckmann 2005, S. 80. 23 Nach der hier eingenommenen Perspektive gehen diese Bezugspunkte der eigentlichen politischen Ordnung jedoch nicht etwa faktisch voraus – im Sinne der Annahme eines per se unverfügbaren Bestandes bestimmter soziomoralischer und legitimatorischer Grundlagen von politischer Ordnung überhaupt –, sondern sie werden in der Perspektive desjenigen Akteurs, der ihre Geltung behauptet, lediglich außerhalb des jeweils assoziierten
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Herold, Röder
1.3 Zwei Aspekte der Transzendierung Prozesse der Gründung und Begründung moderner Verfassungsordnungen scheinen folglich in doppelter Hinsicht auf Phänomene konkreter „Überschreitungen von Situationen, das heißt Zeit-, Raum- und Sinnzusammenhängen“, angewiesen zu sein.²⁴ Zum einen wird der Anspruch auf Objektivierung einer positiven Rechtsordnung und ihrer Verfassung zunächst und vor allem durch den symbolischen Verweis auf letzte Geltungsgründe forciert. Als jenseits des jeweils assoziierten Ordnungs- und Kommunikationszusammenhangs verortete Topoi sollen sie Geltung und Legitimität der konkreten politischen Ordnung verbürgen. Je nach Argumentation erscheint diese Ordnung dann zum Beispiel als Vernunftordnung, als kosmologische Ordnung oder als moralische Ordnung. Sie gewinnt ihre Legitimität als behaupteter Ausdruck eines kollektiven Konsenses, eines ursprünglichen Schöpfungsaktes oder eines übergeordneten normativen Orientierungsrahmens. Das Verhältnis zwischen politischer Ordnung und ihren Geltungsgründen wird dabei ganz entscheidend durch Mechanismen der Konstruktion, Behauptung und erfolgreicher oder scheiternder Inszenierung einer vermeintlichen Präsenz- bzw. Äquivalenzbeziehung zwischen beiden Seiten bestimmt. Zum anderen aber sind politische Neugründungen auf eine weitere Form der Transzendierung angewiesen. Als oberste Legitimationsressourcen nehmen die jeweils in Anspruch genommenen Geltungsgründe nämlich eine doppelte Funktion wahr. Einerseits müssen sie innerhalb des Rechts für logische Verweise, rationale Argumentationsketten und abschließende Begründungen zur Verfügung stehen. Andererseits aber erheben sie für sich selbst den Anspruch auf absolute Verbindlichkeit und setzen damit eine Perspektive voraus, welche die Rechtsordnung gerade übersteigt.²⁵ Die in Anspruch genommenen, obersten Legitimationsressourcen können sich daher einer abschließenden Rationalisierung innerhalb des Rechts gerade entziehen – oder anders formuliert: Das Verhältnis zwischen einer Ordnung und ihren Geltungsgründen basiert auf einer Einheit von Innen-
Ordnungszusammenhangs verortet. Vgl. Münkler 1996; Vorländer 2002c. Dagegen in einer eher substantialistischen Lesart: Böckenförde 1992, S. 112. 24 Rehberg 1994, S. 63. 25 Dieses formale Problem der Letztbegründung wurde in der Rechtswissenschaft immer wieder diskutiert. Mit dem Konzept der Grundnorm hat es bereits Hans Kelsen in seiner rechtslogischen Dimension zu lösen versucht. Doch auch eine Abschätzung der entsprechenden rechtssoziologischen Folgen wird in seiner „Reinen Rechtslehre“ bereits angedeutet. Vgl. Kelsen 1992, S. 228ff.; Herold 2010, S. 141ff.
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und Außenperspektive, die aus praktischen wie formallogischen Gründen unerreichbar bleibt. ²⁶ Die rechtssoziologische Folge dieses rechtslogischen Problems ist, dass alle Versuche einer legitimatorischen Rechtfertigung des Gegründeten in der Regel mit bestimmten Mechanismen, Prozessen und Techniken der Konstitution von Sakralität einhergehen. Neben die Transzendierung der politischen Ordnung durch die Verfassung und die in ihr genannten Geltungsgründe tritt somit eine Dimension der Transzendierung der Verfassung selbst durch entsprechende sprachliche oder dramaturgische Techniken symbolischer Hervorhebung. Der Konstitution und ihren ‚Vätern‘ werden hierbei etwa mit Hilfe von Gründungsmythen, Ursprungslegenden, Inszenierungen, Riten, Festtagen oder generell der Konstruktion einer Eigengeschichte eine zusätzliche Aura des Besonderen, Außeralltäglichen bzw. Heiligen verliehen. Begriffe wie Pathos, Unverfügbarkeit oder Numinosität spielen in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle.²⁷
1.4 Die Rolle der Präambel Für beide Dimensionen der Transzendierung ist die Präambel einer Verfassung von besonderer Bedeutung. Zum einen werden die beschriebenen, jenseits der Ordnung vermuteten Signifikate in der Regel durch entsprechende, innerhalb der Rechtsordnung verwendete Signifikanten zum Ausdruck gebracht. Da insbesondere der Präambel in der Regel die Aufgabe zugesprochen wird, diese Geltungsgründe des Rechts darzustellen, finden sich in den meisten modernen Verfassungen entsprechende symbolische Formeln, welche die jeweils in Anspruch genommenen Legitimationsressourcen explizit benennen.²⁸ Weil eine Verfassung
26 Von einer solchen, innerrechtlichen Perspektive aus bescheinigt man dem Recht deshalb gelegentlich per se einen ‚transzendenten‘ Charakter. So etwa Jacques Derrida, der die Qualität der entsprechenden Überschreitung vor allem in zeitlicher Hinsicht betont: „Das Gesetz ist transzendent und theologisch, es bleibt immer im Kommen, es ist immer ein Versprochenes, weil es immanent, endlich und folglich bereits vergangen ist.“ (Derrida 1991, S. 79). 27 Vgl. Vorländer 2002b, S. 21. Derartige gemeinschaftsbezogene, symbolische und rituelle Formen der Überhöhung und Unverfügbarstellung werden bei Émile Durkheim durch den Begriff des Heiligen (sacré) beschrieben; Durkheim 2007, S. 62ff. Doch auch die von Rudolf Otto eher ontologisch geprägte, heiligkeitskonstitutive Kategorie des Numinosen scheint in diesem Kontext oft geeignet, um jene Formen der Ergriffenheit, Entzogenheit und Feierlichkeit zu charakterisieren, die „dem Rationalen […] begrifflicher Erfassung völlig unzugänglich ist“ (Otto 1987, S. 5). 28 Diese Aufzählungen und Formelkataloge können in qualitativer wie quantitativer Hinsicht variieren. Sie reichen von kurzen und vagen rhetorischen Bezugnahmen auf universelle
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Herold, Röder
andererseits aber die Legitimität ihrer letzten Geltungsgründe nicht aus sich selbst heraus gewährleisten kann, muss sie gleichzeitig um die instrumentelle Verweispraxis der Präambel – und damit letztlich auch um sich selbst – einen symbolischen Horizont der Verklärung, Mythisierung bzw. behaupteter Objektivierung errichten. Neben der formelhaften Artikulation von Geltungsgründen und deren Einbettung in entsprechende Legitimationsnarrationen zeichnen sich Präambeln daher auch durch „das hohe Pathos, die Feierlichkeit, das Barocke und Ornamentale, nicht selten Emotionale“ sowie eine oft „sehr idealistische, mitunter symbolhafte und -reiche Sprache“ aus.²⁹
2 Die Diskussion zur Präambel im Parlamentarischen Rat 2.1 Ordnungsstiftung durch Sachlichkeit Diese Mischung aus „Erkenntnis“ und „Bekenntnis“³⁰ kann auch in den Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Präambel als grundlegender Ausgangspunkt wiedergefunden und nachgezeichnet werden.³¹ Auf der einen Seite waren dies immer wieder auftauchende und zunächst durchweg positiv besetze Verweise auf Sachlichkeit, Fachkenntnis, Redlichkeit, Zweckmäßigkeit, Objektivität und Nüchternheit, die andererseits von stark negativ konnotierten Vorstellungen des Politischen, Ideologischen und der instrumentalisierten Weltanschauung abgegrenzt wurden. Die vermeintlich sachliche Berufung auf Recht, Rechtsstaat und dessen vernunftbasierte, selbstevidente Überzeugungskraft wurde der
Instanzen oder allgemeine Prinzipien bis hin zu umfangreichen und detailliert ausgearbeiteten Schilderungen – etwa der eigenen kulturellen Identität oder nationalen Geschichte. 29 Häberle 1982, S. 227. 30 Ebd., S. 231. 31 Vgl. zur Entstehung der Präambel des Grundgesetzes: Werner 1993, S. XXVII–XXXII. Für ihre Arbeit an der Präambel knüpften die zwölf Mitglieder des Ausschusses für Grundsatzfragen an zwei Entwurfsvarianten an, die im Rahmen des Konvents von Herrenchiemsee ausgearbeitet worden waren. Weitere Vorschläge kamen aus den Reihen des Ausschusses selbst. Der Vorschlag, der am Ende der ersten Lesung des Ausschusses stand, fand sowohl innerhalb des Parlamentarischen Rates als auch in der Öffentlichkeit wenig Zustimmung. Ein in zweiter Lesung überarbeiteter Entwurf fand mehr Zuspruch, aber letztlich keinen Eingang in das Grundgesetz. Stattdessen setzte sich eine stark gekürzte Fassung des Allgemeinen Redaktionsausschusses durch.
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bloßen politischen Meinung, dem weltanschaulichen Glauben, der sich durch Überredung und ‚Aufdrängung‘ versuche Gehör zu verschaffen, entgegengestellt. Die neue Ordnung – so wurde bei den Beratungen zur Präambel im Grundsatzausschuss des Parlamentarisches Rates deutlich – sollte aus der nüchternen Überzeugungskraft des Rechts ihre Legitimation gewinnen. Dieses Argumentationsmuster kann in prominenter Weise bereits ganz zu Beginn, sozusagen an der Keimzelle des Grundgesetzes und seiner Präambel ausgemacht werden – etwa bei der Auswahl und Rechtfertigung einer Verhandlungsgrundlage für die beginnenden Verfassungsdiskussionen. So argumentierte Anton Pfeiffer, der selbst an den vorausgegangenen Beratungen von Herrenchiemsee teilgenommen hatte, zugunsten der dort gefassten Beschlüsse. „Um die Gefahr zu vermeiden, daß die Arbeit unseres Ausschusses zerflattert und sich ins Uferlose verliert, empfiehlt es sich, eine Besprechungsgrundlage zu nehmen. Ich glaube, daß der Bericht vom Herrenchiemsee im Hinblick auf die nüchterne, rein sachliche Verhandlungsform und die vollkommen objektive Art der Darstellung sich uns als eine durchaus zweckmäßige Beratungsgrundlage anbietet.“ […] „Die Beratungen in Herrenchiemsee hatten den großen Vorzug, daß 28 Fachleute vereinigt waren, von denen jeder ein oder mehrere Sachgebiete beherrschte, von denen keiner sich in Phrasen erging. So gab es in diesem Kreise keinerlei Diskussionen politischer Art.“³²
Jede politische Intentionalität oder Zweckverfolgung jenseits der angebotenen objektivistischen Rechtfertigungsnarration weist Pfeiffer weit von sich. „Den Mitarbeitern von Herrenchiemsee, die zugleich Mitglieder des Parlamentarischen Rates sind, liegt es völlig fern, sich hier als Praeceptores Germaniae aufzuspielen und Ihnen die Ergebnisse, die man dort in sachlicher, redlicher Arbeit gewonnen hat, aufzudrängen. Dies wäre eine Rolle, die wir weit von uns weisen, ja geradezu verabscheuen würden.“³³
Die Vorlage sei demnach nicht als Vorschlag oder Anraten zu verstehen, das auch hätte anders ausfallen können, sondern sie überzeuge quasi durch die vernunftbezogene Selbstevidenz ihrer inhärenten Sachlichkeit. „Wir vermessen uns nicht, Ihnen das, was wir in intensiver Arbeit geschöpft haben, als einen Vorschlag oder Rat zu empfehlen. Dabei bleibt natürlich jedem, der am Verfassungskonvent am Herrenchiemsee teilgenommen hat, unbenommen, hier das zu sagen, was
32 Pfeiffer, Bd. 5, S. 5f. und S. 4. Zitiert wird hier wie im Folgenden unter Angabe des jeweiligen Sprechers und des entsprechenden Bandes aus den von Wernicke et al. 1975ff. herausgegebenen Protokollen des Parlamentarischen Rates. 33 Pfeiffer, Bd. 5, S. 5f.
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unseres Amtes ist. Ich bitte den Ausschuß, diese meine Anregungen zu prüfen, und zwar in demselben Geiste, in dem sie gegeben wurden: objektiv, zurückhaltend und sachlich.“³⁴
Sachlichkeit, Rationalität und Vernunft als Garanten für Objektivität sollten die inhaltlichen Leitlinien sein, auf denen nach 1945 mit den Mitteln des Rechts eine neue politische Ordnung aufgebaut werden müsse. Dies schien nach der Katastrophe des Nationalsozialismus nicht nur selbsterklärend das Gebot der Stunde, sondern komme nach Meinung Hermann von Mangoldts auch den Erwartungen von Öffentlichkeit und „Jugend“ entgegen, die dem überbordenden Pathos und der ideologischen Instrumentalisierung überdrüssig sei.³⁵ Insbesondere der Präambel wurde dabei bereits in den Beratungen des Parlamentarischen Rates eine zentrale Rolle zugewiesen. Denn wenn die Präambel – wie übereinstimmend festgestellt wurde – mehr als nur „ein illustrierender oder dekorierender Vorspruch“ sein solle, sondern „etwas wie das Zeichen auf dem Notenblatt, das die Tonart des Stückes bestimmt“, dann müsse sie auch gerade diesen Anspruch der Sachlichkeit und Nüchternheit symbolisch zum Ausdruck bringen.³⁶ Der Ausschuss für Grundsatzfragen, so stellte sein Vorsitzender Hermann von Mangoldt noch am 10. Dezember 1948 im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates mit Blick auf die Präambel fest, sei daher „in erster Linie bemüht, die Wünsche nach einer nüchterneren Fassung zu erfüllen“³⁷.
2.2 Ordnungsstiftung durch Pathos Das Credo der Sachlichkeit erfuhr im Verlauf der weiteren Verhandlungen allerdings einen bemerkenswerten Wandel. Dies wurde spätestens dann deutlich, als der sogenannte ‚Bayrische Entwurf‘ zur Präambel im Ausschuss für Grundsatz-
34 Ebd., S. 6. 35 „Eines hat nun aus der bisherigen Diskussion klar erkannt werden können: ganz entsprechend der Stimmung in unserer Jugend besteht auch sonst ein starker Zug zur Sachlichkeit und fort von allem Pathetischen. Nach zwei Richtungen müssen wir uns also in der Präambel beschränken: wir müssen auf der einen Seite das Pathetische und auf der anderen Seite den Leitartikel-Stil zu vermeiden suchen.“ (Mangoldt, Bd. 5, S. 554 i.O.). 36 Schmid, Bd. 5, S. 8. Vgl. auch bereits beim Konvent auf Herrenchiemsee: „Wir müssen uns also auf eine sehr nüchterne Präambel beschränken und auf eine Einrichtung, die ausgesprochen westlich orientiert ist, aber das Tor zum Osten offen hält.“ (Danckwerts, Bd. 2, S. 97). 37 Mangoldt, Bd. 14, S. 765.
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fragen fast unisono abgelehnt wurde.³⁸ Der bayrische Vorschlag, so begründeten etwa Ludwig Bergsträsser und Helene Weber ihre Kritik, erwecke den Eindruck, „als wenn eine neue Handelsgesellschaft gegründet und in den Zeitungen veröffentlicht“ werde. Er sei an Nüchternheit kaum zu überbieten. Der Vorschlag lasse die Handschrift der Juristen deutlich erkennen und den notwendigen „weihevollen Charakter“ vermissen.³⁹ Zum Zeitpunkt dieser Diskussion in der neunzehnten Sitzung des Ausschusses am 9. November 1948 hatte sich die eingangs zur Legitimitätsstiftung herangezogene Unterscheidung zwischen gebotener Sachlichkeit auf der einen und negativ zu bewertender, politisch-ideologischer Aufladung auf der anderen Seite bereits deutlich aufgelöst. Nun war es nicht mehr die als unentbehrlich erscheinende Nüchternheit, sondern vor allem ein ebenso essentiell notwendig erscheinendes Pathos, das als Leitmotiv der Überlegungen fungierte und entsprechend positiv aufgeladen wurde. Diese Wandlung der Bewertungsmaßstäbe im Hinblick auf die zu verfassende Präambel der neuen Verfassung war insbesondere der permanenten Intervention Theodor Heuss’ zu verdanken, der in seinen Reden im Ausschuss für Grundsatzfragen und im Plenum des Parlamentarischen Rates immer wieder die „Aura des Sakralen“ betonte, mit der eine funktionierende Verfassung notwendigerweise umgeben werden müsse und die insbesondere durch die Präambel erzeugt werde.⁴⁰ Um die dem Grundgesetz zugrundeliegende Rechtsüberzeugung zu präzisieren und damit die Ordnung insgesamt zu stabilisieren, sei jede emotionale Zurückhaltung unangebracht, stattdessen „etwas Pathos sentimentaler und nicht machtpolitischer Art“ notwendig.⁴¹ Es wäre schlichtweg bedauerlich, so Helene Weber übereinstimmend, wenn man sich zu stark am Rationalitätsideal orientieren würde und somit „kein Gefühl für die Imponderabilien“ hätte und für das, „was in der großen Politik immer mitschwingt“.⁴² Mit der Aufnahme umfangreicher inhaltlicher Konditionalisierungen und Kontextualisierungen,⁴³ so kritisierte Theodor Heuss in den Beratungen, habe die Präambel „zuviel an Tatsächlichem und zuviel an Vorbehalten“ erhalten. Diese historischen Einordnungen,
38 Vgl. hierzu etwa Mangoldt, Bd. 5, S. 498ff. 39 Weber, Bd. 5, S. 499. 40 Der Auffassung von Heuss, die er auch an prominenter Stelle im Plenum des Parlamentarischen Rates artikulierte (Heuss, Bd. 9, S. 193f.), schlossen sich im Laufe der Beratungen des Ausschusses für Grundsatzfragen die meisten übrigen Mitglieder an. Vgl. etwa Eberhard, Bd. 5, S. 558 oder Weber, Bd. 5, S. 171. 41 Heuss, Bd. 5, S. 171. 42 Weber, Bd. 5, S. 171. 43 Vgl. den zuvor einvernehmlich beschlossenen Katalog „unverzichtbare[r] Gedanken, die unbedingt in der Präambel auftauchen müssen“ bei Mangoldt, Bd. 5, S. 496 sowie S. 264ff.
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rechtlich ausjustierten Formulierungen und technischen Vorgangsbeschreibungen lese jedoch „kein Mensch“ – abgesehen von „ein paar Staatsrechtlern“. Die Präambel, und damit das gesamte Verfassungswerk, werde so aber gerade jenem „gewissen Schwung“, der „gewissen Würde, die drin sein soll“, beraubt.⁴⁴ Dieses Element der Emphase und Ergriffenheit sei für eine Präambel jedoch deshalb unentbehrlich, weil es in grundlegender Hinsicht zur Stabilisierung der neu zu gründenden politischen Ordnung beitrage. Erst durch ein hinreichend feierliches Pathos, so die hier zugrundeliegende Prämisse, sei die Präambel in der Lage, den „Geist der Verfassung“ erfolgreich zum Ausdruck zu bringen und damit die notwendigen affektiven Bindungen zu knüpfen. Weil eine Verfassung „nicht nur von der Juristerei, sondern von den Menschen, die dahinter stehen oder nicht dahinter stehen“ lebe, so betonte etwa auch der Abgeordnete Ludwig Bergsträsser, müsse gerade durch die Präambel „etwas Seelisches“ eingebracht werden, das dem Ganzen eine gewisse „Motivierung“ gebe. Eine rationalistischvernunftbasierte Ordnungskonzeption sei demnach nur dann hinreichend, wenn auch die nötige Emphase und Emotionalität zu den dabei in Anschlag gebrachten Leitideen hinzutrete. Die Wahrscheinlichkeit der Verfassung, die Geltung einer politischen Ordnung auf Dauer zu stellen, wird im Rahmen dieser Argumentation auf ihr expressives, gemeinschaftsbezogenes Mobilisierungspotential zurückgeführt. Nur wenn die Verfassung „auch das lebendige Wollen und Streben eines Volkes“ dokumentiere, werde sie kollektiv getragen „und im entscheidenden Augenblick verteidigt“.⁴⁵ Gerade die pädagogischen Wirkungen eines in diesem Sinne gelungenen Vorspruches seien daher nicht zu unterschätzen. „Wenn ich mir nun vorstelle, ich würde irgendwo im staatsbürgerlichen Unterricht zu 18-, 19-jährigen Menschen sprechen, so wäre mir eine derartige Präambel eine außerordentlich wertvolle Hilfsquelle, um zu zeigen, daß die Verfassung in Paragraphen geformte Ideologie ist.“⁴⁶
44 Heuss, Bd. 5, S. 509. Widerspruch erntete Heuss hier etwa von der Sprecherin der Zentrumsfraktion Helene Wessel im Plenum: „Eins ist ganz klar aus den bisherigen Darlegungen herausgekommen: daß die Formulierung der Präambel noch vielerlei zu wünschen läßt. Und so wichtig das Pathos und der Wortlaut einer Präambel auch sein mögen – die Ausführungen des Herrn Abgeordneten Heuss waren dafür sehr aufschlußreich –, so wichtig ist auch, daß in der Präambel und in dem Grundgesetz das niedergelegt wird, was dem Zustande des Volkes und was seiner politischen Situation entspricht.“ (Wessel, Bd. 9, S. 208). 45 Wessel, Bd. 9, S. 209. 46 Pfeiffer, Bd. 5, S. 968.
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Darüber hinaus könne mit einer pathetisch formulierten Präambel auch dem Volke gezeigt werden, „daß die, die die Verfassung gemacht haben, ein Gefühl der moralischen Verantwortung und Verpflichtung hatten“ und damit nicht dem typischen Bild des Politikers als „Schweinehund“ entsprächen.⁴⁷
2.3 Ordnungsstiftung durch Numinosität Doch worin besteht das gemeinschaftsbezogene Mobilisierungspotential der Präambel? Wie kommt es zustande? Theodor Heuss bringt in seiner Argumentation hier eine explizit religiöse Metaphernsprache ins Spiel. Man müsse bei der Formulierung der Präambel eben achtgeben, dass man keinen „abgekürzten politischen Leitartikel zur Tageslage“ schreibe und dabei jene „Magie“ vergesse, welche eine Verfassung „gegenüber dem Gutgläubigen“ in sich haben müsse: „Wir denken bei uns in Deutschland immer nur an den Schlechtgläubigen“⁴⁸. Die Überdeutlichkeit einer umfangreichen, historisch-leitartikelartigen Konzeption würde der Präambel gerade der „Würde des Bleibenden“, ihres numinosen Gehaltes berauben: „In der Theologie gibt es das Wort von dem ‚Numinosen‘, von dem, was das Geheimnisvolle, das Zeichenhafte ist. Und etwas Numinoses muß in einer Präambel drin sein; um Gottes willen nicht in der ganzen Verfassung, denn dann verunklart es die Rechtsdinge, aber gehobene Sprache, feierlicher Duktus der Worte, Kadenz der Sätze. Die Präambel muß eine gewisse Magie des Wortes besitzen. Man könnte auch von einer profanen Liturgie sprechen, die in einem solchen Staatsgrundgesetz ihren Platz finden will.“⁴⁹
Dieses Numinose, so Heuss weiter, löse sich im Angesicht technischer Bezeichnungen, rechtswissenschaftlicher Fachbegriffe sowie nüchterner Orts- und Datumsbezeichnungen buchstäblich in Luft auf. Selbst die Schilderung der tatsächlichen organisatorischen Umstände der Verfassungsgebung sowie die
47 Bergsträsser, Bd. 5, S. 968. 48 Heuss, Bd. 5, S. 183. „Im ganzen glaube ich, daß unsere gemeinsame Besinnung noch einmal dorthin gehen muß, daß wir den Versuch der Straffung machen und den Versuch, den Akzent des Feierlichen zu sichern. Das muß gelingen, ohne daß wir in die Sprüche und in die Illusionen geraten. Wir dürfen das Werk nicht aufstellen für die Hämischen oder aus Angst vor den Hämischen. Sie sind vorhanden, gleichviel was wir machen. Die werden über das, was wir hier zustande zu bringen versuchen, ja doch ihre bösen, wüsten, absprechenden Bemerkungen machen. Wir müssen an diejenigen denken, die guten Willens sind und die wir irgendwie seelisch ergreifen wollen, ergreifen müssen und ergreifen können. Auf diese kommt es an.“ (Heuss, Bd. 9, S. 195). 49 Heuss, Bd. 9, S. 193f.
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Nennung des eigenen Gremiums wirke in dieser Hinsicht entsakralisierend und damit letztlich ordnungsdestabilisierend. „,Parlamentarischer Rat‘ ist eine ganz nette Bezeichnung; aber sie ist doch eigentlich eine historische Notiz und markiert nur die geschichtliche Situation. Das alles ist ohne das Sakrale, […] es ist einfach ein technischer Vorgang. Wir fixieren hier einen historischen Augenblick, und mit dieser harten Fixierung verderben wir das Schwebende und Dauernde, das in diesen Dingen mit sein muß.“⁵⁰
Im Ausschuss für Grundsatzfragen hatte Heuss zuvor weniger zurückhaltend argumentiert: „Ich will keinen neuen Vorschlag machen, aber ich bin dagegen, den Parlamentarischen Rat zu nennen, auch aus politisch-historischen Gründen, rein gefühlsmäßig. Hier stoßen wir uns immer an dem sehr primären Parlamentarischen Rat, schon allein an diesem saudummen Namen; das ist doch keine Bezeichnung, das ist doch nur ein Verlegenheitswort.“⁵¹
Wie aber kann Numinosität erzeugt werden? Mindestens vier Gesichtspunkte werden in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates hierfür angeführt. Um das Numinose der profanen Präambelliturgie in hinreichendem Maße zu gewährleisten, sind zunächst einmal die richtige Sprache und Wortwahl entscheidend. Beim Streit um einzelne Formulierungen wird dieses Argument im Ausschuss für Grundsatzfragen – nicht nur von Theodor Heuss – immer wieder vorgebracht. Neben der Nennung des Parlamentarischen Rates seien es daher auch andere Wendungen, wie die Rede von „Hoheitsbefugnissen“ oder das Wort „Verwaltungsorgan“, das hierfür „zu anuminos“ erscheint.⁵² Auch die Nennung des Begriffes „Verfassung“ sei in der Präambel geboten, weil gerade „das Wort ‚Grundgesetz‘ eine zu dünne technische Bezeichnung“ darstelle.⁵³ Generell gelte es, so Theodor Heuss an anderer Stelle, auf „die großen Partizipialkonstruktionen“ zu verzichten, die „mit der Gefahr des Stotterns oder Erstickens zwischendrin, wenn man es lesen wollte“, einhergehen.⁵⁴ Neben der richtigen Begriffswahl wird
50 Heuss, Bd. 9, S. 194. 51 Heuss, Bd. 5, S. 560. 52 Ebd., S. 179 und S. 556. 53 Heuss, Bd. 5, S. 571. Theodor Heuss entwirft hier die Kompromissformel von der „verfassungsmäßigen Rechtsordnung“: „Ich habe mit Absicht neben den Begriff ‚Grundgesetz‘ den der ‚verfassungsmäßigen Rechtsordnung‘ gestellt, um ein größeres Pathos hereinzubringen.“ (Heuss, Bd. 9, S. 195). 54 Eine Auseinandersetzung um das Für und Wider dieser Partizipialkonstruktionen lateinischer Herkunft wurde von Heuss und Schmid geführt und auf die Formel „Cicero gegen Tacitus“ gebracht. (Heuss, Bd. 5, S. 557).
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in den Diskussionen im Ausschuss für Grundsatzfragen auch bei Auseinandersetzungen um die richtige Komposition des Präambeltextes mit dem Argument eines „notwendigen Pathos“ operiert. Als „eine Liturgie im weitesten Sinne“ müsse die Präambel eben auch in ihrer Gesamtkomposition „Feierlichkeit“ zum Ausdruck bringen und „im Gefühl eine starke Pathoskulisse“ erzeugen.⁵⁵ Um diese Gesamtdramaturgie nicht zu gefährden sollten daher etwa jene Sätze, die eine entsprechende Eindringlichkeit und Leidenschaft zum Ausdruck bringen, nicht mit nüchternen oder banalen Feststellungen vermengt werden.⁵⁶ Als ein dritter wichtiger Faktor wird die Notwendigkeit betont, sich kurz zu fassen. Die Schwierigkeit sei eben die, so Hermann von Mangoldt, „daß man in eine Präambel nicht alles hineinschreiben“ könne, was man eigentlich – nach rechtslogischen oder historischen Gesichtspunkten – in irgendeiner Weise verständlich machen müsste. Einerseits müsse eben manches unausgesprochen bleiben, andererseits werde man auf diese Weise gezwungen, „hier etwas dunkler zu formulieren“.⁵⁷ Will eine Präambel die entsprechende ordnungsstabilisierende Wirkung entfalten, sollte sie aber nicht nur „wenige markante, den Wesensgehalt einer Verfassung kennzeichnende Gedanken“ enthalten, sondern diese auch „in einer jedermann einprägsamen Form“ artikulieren können.⁵⁸ „Wir kennen nun ja die Gewohnheit der Deutschen, nur die Überschriften und die Einleitung zu lesen, das übrige aber nicht weiter zu beachten. Daher hängt von der Formulierung der Präambel sehr viel ab, wie weit sich ein solches Grundgesetz im Bewußtsein des gesamten Volkes festigen läßt.“⁵⁹
Nur wenn die Präambel also, viertens, verständlich und gut lesbar sei, könne sie auch die notwendige „Propagandawirkung“ entfalten.⁶⁰
55 Heuss, Bd. 5, S. 512; Pfeiffer, Bd. 5, S. 263 und Pfeiffer, Bd. 5, S. 977. 56 Vgl. etwa Selbert, Bd. 5, S. 559. 57 Mangoldt, Bd. 5, S. 243 und S. 247. 58 Allgemeiner Redaktionsausschuss, Bd. 5, S. 875. 59 Suhr, Bd. 5, S. 236. 60 Ebd., S. 245.
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3 Fazit: Das Pathos der Sachlichkeit und die Inszenierung der Gründung Wie gezeigt werden konnte, wurden bei der Konzeptionalisierung der Präambel des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat verschiedene konkurrierende Transzendenzvorstellungen verhandelt. Dabei kam es vor allem aufgrund der Interventionen Theodor Heuss’ zu einem schrittweisen Wandel des zentralen Motives, in dessen Verlauf nicht das anfangs bestimmende Argument anzustrebender Nüchternheit, sondern deren vermeintliches Gegenteil, nämlich Pathos und Numinosität, de facto zu den Leitbildern der Präambelformulierung deklariert wurden. Hintergrund dieser Entwicklung war jedoch nicht der kollektive Abfall von den eingangs formulieren Grundsätzen, sondern eine im Laufe der Beratungen über Sinn und Funktion der Präambel auftretende, sukzessive Erweiterung der eigenen Perspektive der Mitglieder des Ausschusses für Grundsatzfragen – und zwar von einer Perspektive, die ihr Augenmerk ganz auf die Geltungsgrundlagen des zu schaffenden Rechts und damit auf die Transzendierung der politischen Ordnung konzentrierte, hin zu einer Perspektive der zusätzlichen Inszenierung, Sakralisierung und somit Transzendierung des eigenen Tuns sowie seiner Ergebnisse: der konkreten Verfassung und ihrer Präambel. In der nun dominanten Leitunterscheidung standen sich zwar noch immer die gleichen konkurrierenden Motivlagen gegenüber, ihre Bewertung hatte sich jedoch gerade umgekehrt. Ging es zuvor noch primär darum, die gebotene Sachlichkeit bei der Begründung und Rechtfertigung der neuen Rechtsordnung vor einer drohenden irrational-emotionalen Aufladung zu schützen, so wurde in der sich sukzessive durchsetzenden Argumentationslogik von Theodor Heuss gefordert, die unterkühlte Sachlichkeit des rationalistischen Rechtsdiskurses in der Außendarstellung bewusst zu überwinden und mit Hilfe geeigneter stilistischer Mittel der neuen Verfassung affektive Bindungskräfte und einen emotionalen Gehalt zuzuschreiben. Während die erstgenannte Differenz sich dabei gerade auf den inhaltlich-instrumentellen Aspekt der Ordnung und ihrer Rechtfertigung bezog, rekurrierte die zweite Dimension auf deren symbolische Überhöhung und Objektivierung. An den Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Formulierung der Präambel des Grundgesetzes lässt sich daher auch in systematischer Hinsicht eine Möglichkeit nachzeichnen, wie die eingangs beschriebenen Dimensionen der Transzendierung im spezifischen Kontext der historischen Begründung einer demokratischen Ordnung aufeinander bezogen wurden. Diese Dimensionen bedienten sich im Diskurs um die Präambel des Grundgesetzes unterschiedlicher Leitunterscheidungen, die zwar beide mit dem Begriff der ‚Nüchternheit‘ bzw. ‚Sachlichkeit‘ operierten, dabei aber keinesfalls
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als deckungsgleich zu verstehen sind. Auf diese Weise war es möglich, scheinbar widerspruchslos eine Narration nüchterner Rationalität zu präferieren und dabei gleichzeitig eine Aura des Pathetischen und Numinosen für die Präambel einzufordern. „Schaffen wir doch einmal auch nüchternen Dingen die Kraft von Imponderabilien!“, so brachte Carlo Schmid die nur vordergründig paradoxe Verknüpfung beider Formen der Transzendierung auf den Punkt.⁶¹ Im eigenen Wirken sei es hier – vor allem auch mit Blick auf das gescheiterte Projekt von Weimar – geboten, „auch einem nüchternen Namen, wie der Name Republik es ist, durch unser gegenwärtiges Tun eine Weihe zu geben, die imstande ist, die Deutschen in seinem Zeichen zu großen Taten des Friedens zu beflügeln“⁶². Der Begriff des „sachlichen Pathos“,⁶³ des „Pathos der Nüchternheit, das auch seine innere Größe und Würde haben kann und wird“⁶⁴ wurde auf diese Weise zum geflügelten Wort und einem Leitmotiv der Verhandlungen im Parlamentarischen Rat.
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Katrin Pittius, Sylka Scholz
Von Natur aus ungleich? Der Diskurs um das Gleichberechtigungsgesetz in der Bundesrepublik Deutschland* Die Wiederherstellung gesellschaftlicher Ordnung erfolgte in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft und der jungen Bundesrepublik auch über Geschlechterdiskurse. In modernen Gesellschaften sind Gesellschafts- und Geschlechterdiskurse auf das Engste miteinander verknüpft, denn Geschlechterdiskurse sprechen die Individuen und ihre unmittelbaren Beziehungen direkt an; deshalb eignen sie sich auch, den permanenten Wandel moderner Gesellschaften zu thematisieren und die hegemoniale Ordnung zu verhandeln.¹ So erfolgte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die diskursive Neu-Deutung der Welt im Zuge der politischen, ökonomischen und sozialen Umbrüche von einer ständisch-feudalen zu einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft über die gesellschaftliche Platzierung und Rolle der Frau.² Gleiches gilt, wie im Folgenden gezeigt wird, für die Neuordnung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Unser Beitrag fokussiert den Diskurs um die Implementierung des Gleichberechtigungsgesetzes zwischen 1949 und 1957 vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels. Im Projekt wird die von Reiner Keller entwickelte Wissenssoziologische Diskursanalyse als Forschungsperspektive genutzt, denn die Verbindung von Foucault’scher Diskursanalyse mit der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie „begegnet […] der“, so Knoblauch, „Subjektvergessenheit und mangelnden empirischen Begründung der Diskursanalyse“.³ Unter Diskursen lassen sich mit Keller „mehr oder weniger erfolgreiche Versuche verstehen, Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und durch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren“.⁴ Eine wissenssoziologische Diskursanalyse untersucht die Diskursproduktion, dezidiert werden Subjektpositionen und AkteurInnen betrachtet und die Machteffekte von Diskursen analysiert.
* Wir danken Karl Lenz und Sabine Dreßler für die Diskussion des Beitrags. 1 Vgl. Dölling 2009. 2 Vgl. Honegger 1996 [1991] und Abschnitt 1 in diesem Text. 3 Knoblauch 2005, S. 222. Zu den verschiedenen Ansätzen der Diskursforschung vgl. die Einleitung zum Sammelband. 4 Keller 2004, S. 7.
Von Natur aus ungleich?
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Anhand der insgesamt acht Jahre andauernden Anpassung der zivilrechtlichen Normen an den Gleichberechtigungsartikel im Grundgesetz werden im Hauptteil des Beitrages zentrale Diskurspositionen herausgearbeitet und aufgezeigt, welche Bedeutung Transzendenzbehauptungen bei der Durchsetzung der jeweiligen Positionen zukommt. Zunächst stellen wir unser Verständnis von Geschlecht dar. Wir begreifen die kulturelle Zweigeschlechtlichkeit als ein grundlegendes Ordnungsmuster moderner Gesellschaften.
1 Die Zweigeschlechtlichkeit als symbolische Sinnwelt In modernen Gesellschaften ist der Rekurs auf die kulturelle, jedoch als natürlich geltende Zweigeschlechtlichkeit eine zentrale Ressource für die Herstellung und Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung. Denn in einer sich in verschiedene Teilbereiche wie Politik, Ökonomie, Wissenschaft oder Familie ausdifferenzierenden Gesellschaft erfolgt für die Individuen über die Geschlechterordnung eine Reintegration dieser Teilbereiche. In Erweiterung an die Wissenssoziologie von Berger und Luckmann verstehen wir die Geschlechterordnung mit einer symbolischen Sinnwelt verknüpft, „die verschiedene Sinnprovinzen integrieren und die institutionale Ordnung als symbolische Totalität überhöhen [kann]“.⁵ Die Geschlechtszugehörigkeit regelt und legitimiert in hohem Maße den Weg der Individuen durch bzw. die Integration in die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche, sie schreibt aber auch der institutionalen Ordnung als Ganzes einen Sinn zu. Die Merkmale der symbolischen Sinnwelt können im Alltagsleben nicht erfahren werden, sie verweisen auf andere Wirklichkeiten als die der Alltagserfahrung; die Sinnwelt ist somit transzendent und bedarf keiner weiteren Legitimation, sie ist ‚unverfügbar‘ gestellt.⁶ Mit diesem theoretischen Hintergrund kann die symbolische Zweigeschlechtlichkeit als eine Transzendenzressource verstanden werden, über die gesellschaftliche Ordnung legitimiert wird.
5 Berger/Luckmann 2007 [1966], S. 102. 6 Zum transzendenten Charakter von symbolischen Konstruktionen vgl. auch Rehberg 1994 und die Einleitung zum Sammelband. Das Teilprojekt betont in seiner theoretischen Anlage die zweite Dimension des Transzendenzbegriffes, die von der Erzeugung eines Sinnüberschusses ausgeht, der für die Legitimation verschiedener Aspekte flexibel eingesetzt werden kann.
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Wie konnte Geschlecht in modernen Gesellschaften für die Herstellung von Ordnung eine solche herausragende Bedeutung erlangen?⁷ Die ökonomischen, politischen und sozialen Umbrüche im 18. Jahrhundert waren verbunden mit diskursiven Neuverhandlungen über den gesellschaftlichen Ort von Männern und Frauen. Denn mit der Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen im Zuge von Aufklärung und Französischer Revolution ließ sich die patriarchale und über die christliche Schöpferordnung gestützte Unterordnung der Frau unter den Mann nicht länger legitimieren. Begründet wurde die Gleichheit aller mit dem Naturrecht, welches in den philosophischen Diskursen der Aufklärung von seiner bisherigen theologischen Fundierung losgelöst wurde. Durch Industrialisierung und Urbanisierung veränderte sich zudem die Wirtschaftsweise. Arbeitsort und Familie wurden mehr und mehr räumlich getrennt, eine neue Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern wurde notwendig, welche die gesellschaftliche Reproduktion der Arbeitskräfte und der menschlichen Gattung absichert. An diesem Prozess der Neuverhandlung waren die „Meisterdenker“⁸ der Aufklärung, wie Rousseau, Fichte oder Leibniz, sowie Naturwissenschaftler und Mediziner maßgeblich beteiligt. Sie schrieben Männern und Frauen geschlechtstypische Eigenschaften zu: den Frauen etwa Passivität und Emotionalität, den Männern Aktivität und Rationalität, die polar und zugleich komplementär, aber asymmetrisch (geschlechtshierarchisch) konstruiert sind. Aufgrund dieser Eigenschaften eignen sich Frauen mehr für die Arbeit im Familienbereich, Männer hingegen sind für Erwerbsarbeit, Politik, Militär und Wissenschaft prädestiniert. Ihre Wirkmächtigkeit erhalten diese Konstrukte durch die Naturalisierung und Ontologisierung der Geschlechterdifferenz: Der Geschlechterdualismus wird auf die Natur der Körper und ihrer Sexualfunktionen zurückgeführt. Die mit den physiologischen korrespondierend gedachten psychologischen Geschlechtsmerkmale werden nun als ‚Wesenseigenschaften‘ von Männern und Frauen angesehen. Auf diese Art und Weise ist die Ordnung der Geschlechter „das getreue Abbild der natürlichen Ordnung der Dinge […] – und nichts weiter“.⁹ Damit verbunden ist eine Institutionalisierung der Heteronormativität: Ehe und Familie gelten als ‚natürlicher‘ Ort der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung; sie sind der angemessene Platz für die gesellschaftliche Reproduktion, an dem Männer und Frauen zum Zwecke der Fortpflanzung emotional und heterosexuell aufeinander bezogen werden.
7 Vgl. im Folgenden u.a. Hausen 1976; Frevert 1988; Dölling 1991; Honegger 1996 [1991]; Laqueur 1992. 8 Frevert 1988, S. 17. 9 Honegger 1996 [1991], S. IX.
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Zwar sind symbolische Sinnwelten an sich nicht mehr legitimationsbedürftig durch ihren transzendenten Charakter; in modernen Gesellschaften konstituieren sich jedoch oft alternative Wirklichkeitskonstruktionen, welche die symbolische Sinnwelt als Ganzes oder bestimmte Teile in Frage stellen können. Vor diesem Hintergrund sind symbolische Sinnwelten auf „Stützkonzeptionen“¹⁰ angewiesen. Für die symbolische Zweigeschlechtlichkeit fungiert die Wissenschaft als eine solche. Zunächst legitimierte die Anthropologie, später die Gynäkologie „als Wissenschaft vom Weibe schlechthin“,¹¹ die vermeintliche Natürlichkeit der Geschlechter, indem sie diese ‚verwissenschaftlichten‘. Der Frau wurde eine vom Mann abweichende Sondernatur¹² zugeschrieben, die ihren Ausschluss aus den Staatsbürgerrechten und der Öffentlichkeit und ihren Platz in der Familie legitimierte. Zu konstatieren ist eine diskursive Verschiebung vom allgemeinen Naturrecht zu einer spezifischen ‚Natur‘ der Frau; die Rechtsungleichheit der Geschlechter wird nun mit der biologischen Geschlechterdifferenz begründet. „Anders gesagt, man erfand zwei biologische Geschlechter, um den sozialen eine neue Grundlage zu geben.“¹³ Zunächst in Abgrenzung zur religiös begründeten Geschlechterordnung entstanden, amalgamierte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die aufklärerischbürgerliche mit der protestantischen Geschlechterordnung, wie Elisabeth Hartlieb an den Schriften Friedrich Schleiermachers aufgezeigt hat, welche in den zeitgenössischen Diskursen eine wichtige Rolle spielten. Schleiermacher „stellt die gesellschaftlich-rechtliche Vorordnung des Mannes als göttliche Ordnung der Liebe dar“,¹⁴ in seiner bürgerlich-liberalen Theologie wird „die traditionelle Kirchenstruktur [bewahrt], deren patriarchaler Charakter mit der bürgerlichen
10 Berger/Luckmann 2007 [1966], S. 115. 11 Vgl. Honegger 1996 [1991], S. 6. 12 Vgl. ebd., S. 126ff. 13 Laqueur 1992, S. 173. Hintergrund dieser Neu-Deutung von Geschlecht sind Entwicklungen in den Naturwissenschaften und der Medizin, welche in der Renaissance einsetzten. Bis um 1800 galt nach Thomas Laqueur ein „Ein-Geschlecht-Modell“ (ebd., S. 117): Männer und Frauen hatten die gleichen Geschlechtsorgane, der ‚Penis‘ der Frauen war jedoch nach innen gestülpt. Im Zuge der beschriebenen gesellschaftlichen Umbrüche wurde der Geschlechtergegensatz entdeckt, Männern und Frauen wurden nun je unterschiedliche Geschlechtsorgane zugeschrieben, die sich auch begrifflich unterscheiden. Hatten Frauen im Ein-GeschlechtModell weibliche Hoden bzw. Testikel, haben sie im „Zwei-Geschlecht-Modell“ (ebd., S. 173) Eierstöcke bzw. Ovarien, der Begriff Hoden wurde nur noch für das männliche Geschlecht benutzt. 14 Hartlieb 2006, S. 220.
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Geschlechterordnung konform geht“.¹⁵ So wird die neue Geschlechterordnung auch durch die Theologie gestützt. ‚Naturalisierung‘ und ‚Sakralisierung‘ im Sinne einer Gottgewolltheit können als Strategien der Transzendierung identifiziert werden, welche die symbolische Zweigeschlechtlichkeit und damit die institutionale Geschlechterordnung als Ganzes stützen und unverfügbar stellen.
2 Die öffentlichen Debatten um den Gleichberechtigungsartikel Die unverfügbare, weil ‚natürliche‘ bürgerliche Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts war im Laufe des Zweiten Weltkriegs verflüssigt worden: Aufgrund der sich im Kriegseinsatz befindenden Männer übernahmen nun Frauen die Arbeit in der Industrie und sorgten für das finanzielle Auskommen. Überdies sollte nach der nationalsozialistischen Ideologie das Modell des bürgerlichen Staates überwunden werden und Frauen demnach keine traditionelle (bürgerliche) Familienrolle ausfüllen: „Der Bereich der deutschen Frau war nicht die Familie und ihre Geborgenheit. Die Familie wurde im Volkskörper aufgelöst. […] Der Innenraum der Familie wurde durch Professionalisierung der Hausfrauen- und Mutterrolle aufgebrochen.“¹⁶ Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte mit der Rückkehr der Männer, wachsender wirtschaftlicher Stabilität und politischer Geordnetheit die gesellschaftliche Ordnung in Westdeutschland jedoch wieder in traditionelle Muster rücküberführt werden. Dieser Prozess lässt sich anhand der Implementierung des Gleichberechtigungsartikels rekonstruieren, der nicht losgelöst von ehe- und familienrechtlichen Entwicklungen betrachtet werden kann. Das Familienrecht war zwar einerseits von der gesellschaftlichen Wirklichkeit weitgehend überholt, zur Wiederherstellung einer restaurativen Gesellschaftsordnung aber umso mehr ein geeignetes Mittel, wie zu zeigen sein wird. Bereits in der Weimarer Reichsverfassung war in Artikel 109 festgelegt worden, dass „alle Menschen […] vor dem Gesetz gleich [sind]“. Allerdings wurde hier ausschließlich auf staatsbürgerliche Rechte und Pflichten rekurriert: Diese
15 Ebd., S. 281. Anzumerken ist, dass die Verknüpfung der bürgerlichen symbolischen Geschlechterordnung mit religiösen Geschlechterkonstruktionen bisher ausgesprochen wenig untersucht wurde, gleichwohl Studien aus der feministischen Theologie vorliegen. Eine Ausnahme bildet die zitierte Untersuchung von Hartlieb 2006. 16 Vinken 2011, S. 228.
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Gleichberechtigung galt nicht unbeschränkt;¹⁷ die im BGB festgeschriebene männliche Dominanz blieb davon unberührt.¹⁸ Betont wurde „die ehemännliche und die väterliche Familienleitung“:¹⁹ In allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten stand dem Mann die Entscheidung zu (§ 1354 BGB i.d.F. von 1900), zudem oblag ihm die Verwaltung und Nutznießung des von der Frau eingebrachten Gutes (§§ 1363ff. BGB i.d.F. von 1900). Er hatte die elterliche Gewalt inne (§§ 1631ff. BGB i.d.F. von 1900),²⁰ und bei Meinungsverschiedenheiten hatte die väterliche Meinung Vorrang (§ 1634 i.d.F. von 1900). Ebenso oblag ihm die Verwaltung und Nutznießung des Kindesvermögens (§§ 1631 und 1649 i.d.F. von 1900).²¹ Der Gleichberechtigungsartikel (Art. 3 Abs. 2 GG) von 1949 hingegen sollte die Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen umfassen. Zunächst hatte der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Besatzungsmächte eingesetzte Alliierte Kontrollrat als höchste Regierungsgewalt in Deutschland eine Überarbeitung der nationalsozialistischen Fassung des Ehegesetzes von 1938 unternommen. Hierbei standen aber weniger gleichberechtigungsrelevante Fragen im Vordergrund als vielmehr die Eliminierung nationalsozialistischen Gedankenguts aus dem Gesetz. „Der Familienrechtsbestand von 1946 läßt sich […] kennzeichnen als ein um Nazikernsätze bereinigtes Patriarchat“.²² Überdies lässt sich dahingehend kein gesellschaftlicher Diskurs rekonstruieren, wurde diese Veränderung doch durch die Machtinhaber qua ihrer Position durchgesetzt. Das änderte sich ab dem 1. September 1948, als der Parlamentarische Rat seine Arbeit aufnahm, „von dem sich Verbände, Institutionen und die verschiedensten Bevölkerungsteile die Realisierung ihrer Wünsche und Anliegen versprachen“.²³ Der Parlamentarische Rat sollte eine – aufgrund der deutschen Teilung vorläufige und deshalb als Grundgesetz zu bezeichnende – Verfassung erarbeiten. Vor dem Hintergrund der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse forderten vor allem Frauenverbände konkrete, die Gleichberechtigung der Frau betreffende Festschreibungen in der auszuarbeitenden Verfassung. Markant ist, dass diese Forderungen über den bis dato vorrangig auf das Familien- und Eherecht begrenzten Bereich hinausgehen: So ging es den Frauenverbänden auch um das verfassungsrechtlich zu verankernde gleiche Recht auf Arbeit und Lohn
17 Vgl. BGH 1954, S. 43. 18 Vgl. Pisal 2008, S. 134. 19 Vgl. BGH 1954, S. 58. 20 Der Mutter steht nur die Personensorge zu (§ 1634 i.d.F. von 1900). 21 Vgl. Coester-Waltjen 1992, S. 34. 22 Derleder 2000, S. 10. 23 Ruhl 1992, S. 31.
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sowie die gleichberechtigte Mitwirkung in der Verwaltung.²⁴ Die aus dem Kriegsende bzw. im Nachkriegsdeutschland hervorgegangene Notwendigkeit und Pflicht der Frauen, nun in alleiniger Verantwortung neben der Sorge- und Hausarbeit auch das finanzielle Auskommen der Familie zu bestreiten, sollte aus Sicht der Frauenverbände auch in entsprechende rechtliche Absicherungen münden. Frauen waren mit vier der insgesamt 65 stimmberechtigten Mitglieder des Parlamentarischen Rates deutlich unterrepräsentiert. Namentlich waren dies Frieda Nadig (SPD), Helene Weber (CDU), Helene Wessel (Zentrum) sowie Elisabeth Selbert (SPD) im Entstehungsprozess des Gleichberechtigungsgesetzes nahm letztere eine Schlüsselposition ein. In verschiedenen Ausschüssen tätig, verstand sich die Juristin Elisabeth Selbert nicht per se als Frauenrechtlerin. Den ursprünglichen, dem Artikel 109 der Weimarer Verfassung wortgleichen Formulierungsentwurf für den Gleichberechtigungsgrundsatz: „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ lehnte sie jedoch ab. Ihre Kritik richtete sich darauf, dass hier „die Gleichberechtigung der Frau im Verhältnis zum Mann keinen Eingang in das Grundgesetz finden sollte“.²⁵ Die alternative Formulierung, die insbesondere von Kirchenvertretern und Vertretern konservativer politischer Lager favorisiert wurde, stieß bei ihr ebenfalls auf Ablehnung. Die Formulierung: „Der Gesetzgeber muß Gleiches gleich, Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln“ legalisiere, so Selbert, „die Diskriminierung der Frauen aufgrund vermeintlich natürlich gegebener Unterschiede auch noch“.²⁶ Stattdessen will sie Gleichberechtigung „als imperativen Auftrag an den Gesetzgeber“²⁷ verstanden wissen. Mit dieser Auffassung und der Forderung nach der Festschreibung des von ihr vorgeschlagenen Wortlauts „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ stellt sie bis dahin geltende gesellschaftliche Geschlechterbilder radikal infrage – und mithin verfügbar – und betritt auch in juristischer Perspektive Neuland. Selbert rekurriert mit ihrer Argumentation auf die veränderte soziale Wirklichkeit²⁸ und damit auf die normative Kraft des Faktischen.²⁹ Man kann den Rekurs auf die ‚Normativität des Faktischen‘ durchaus als eine Unverfügbarstellung interpretieren, die jedoch bei Weitem keine so starke Wirkmächtigkeit hatte wie etwa die christliche Schöpferordnung.
24 Vgl. ebd. 25 Pisal 2008, S. 135. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Im Gegensatz zur Argumentation in der DDR, in der mit der gesetzlichen Verankerung der Gleichberechtigung auf das dort veränderte – sozialistische – Weltbild rekurriert wurde. 29 Zur normativen Kraft des Faktischen für die Geltung und Wirksamkeit von Recht vgl. Anter 2004.
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Damit war der Grundstein für einen Diskurs gelegt, aus dem jahrelange Debatten resultieren sollten. Selberts Formulierungsvorschlag stieß aus zwei Gründen auf Ablehnung: Erstens zeichnete sich in dessen Konsequenz die Notwendigkeit einer grundlegenden Überarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches, vor allem familienrechtlicher Bestimmungen, ab, die dem neuen Grundsatz nun widersprachen. Diese Überarbeitung war jedoch ohnehin spätestens seit der Weimarer Republik überfällig (s.o.). Die Kritiker befürchteten diesbezüglich ein Rechtschaos. Sie erachteten den Vorschlag aber zum zweiten auch deshalb als indiskutabel,³⁰ weil sie in ihm „gleichzeitig die patriarchale Gesellschaftsordnung an sich gefährdet“ sahen, so dass er „auf fast einhellige Ablehnung [stieß], auch bei den drei weiblichen Delegierten, sogar bei der Kollegin aus der eigenen Partei“.³¹ Jene Diskursposition ist also quer durch die politischen und auch die geschlechterspezifischen Lager zu beobachten. Die patriarchale Weltanschauung ist bei der Mehrheit der AkteurInnen zu diesem Zeitpunkt noch derart stark verankert, dass sie als ‚natürlich gegeben‘ und unhinterfragbar gilt. Der hierfür als Legitimation dienende Naturrechtsbegriff basiert allerdings auf unterschiedlichen Argumentationen: So verstehen die christlichen Parteien und Gruppierungen Naturrecht im Sinne eines göttlichen Gesetzes.³² Die nicht-christliche, sondern aufklärerische Konzeption von der Sondernatur der Frau hingegen legitimiert die männliche Dominanz über ‚natürlich‘ weibliche und ‚natürlich‘ männliche Wesenseigenschaften, die Verschiedenheit ist biologisch fundiert. Im Kontext des Diskurses um den Gleichberechtigungsartikel fungieren mithin zwei unterschiedliche Naturrechts-Konzeptionen als jeweilige Argumentationsgrundlage, die jedoch auf das Gleiche rekurrieren: der Erhaltung des Patriarchats. Insbesondere die katholische Kirche nimmt Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre eine starke Sprecherposition in den politischen Diskussionen ein und findet (noch) gesellschaftlichen Rückhalt.³³ Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bemüht sie sich um die Renaissance der Familie und sieht in der Gleichberechtigung von Mann und Frau die Aufhebung der von ihr favorisierten traditionellen Familienstruktur.³⁴ In einem Schreiben des Zentralkomitees zur Vorbereitung der Generalversammlung der Katholiken Deutschlands an den Parlamentarischen Rat vom 25. November 1948 fordert sie, die „Ehe und Familie als
30 Vgl. Schubert 2008, S. 139. 31 Pisal 2008, S. 135. 32 Vgl. zur Wiederkehr theologisch-naturrechtlicher Argumente im Rechtsdiskurs der 1950er Jahre auch Böckle 1973 und Rolli-Alkemper 2000. 33 Vgl. Gabriel 1998. 34 Vgl. Ruhl 1992, S. 31.
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die dem Menschen nächstliegende Lebensgemeinschaft und als Träger natürlicher Rechte und Pflichten unter den besonderen Schutz des Staates zu stellen“.³⁵ Zudem müsse die Autorität des Mannes wiederhergestellt werden. Nicht nur konservative, der Kirche nahestehende Politiker unterstützten diese Position, sondern ebenso Männer, „die entweder ihre dominierende Rolle in der Familie nicht verlieren wollten oder die Konkurrenz der Frau im Berufsleben fürchteten“.³⁶ Dem Argument des Rechtschaos setzt Selbert (zusammen mit Wiltraut von Brünneck, spätere Richterin des Bundesverfassungsgerichts) die Erarbeitung einer Übergangsvorschrift Artikel 117 Grundgesetz entgegen: Bis zum 31. März 1953 soll dem Gesetzgeber eine Anpassungsfrist der dem Artikel 3 Absatz 2 GG entgegenstehenden Gesetze eingeräumt werden. Somit bestünde die Möglichkeit, schrittweise und im erforderlichen zeitlichen Rahmen dem Gleichheitsprinzip widersprechende Gesetze zu modifizieren und so das befürchtete Rechtschaos zu verhindern. Sowohl die einschlägige Literatur als auch juristische Fachzeitschriften und Protokolle zu Debatten zeigen auf, dass selbst mit dem Vorschlag der Anpassungsfrist der Selbert’schen Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ nicht ohne Weiteres seitens der Mitglieder des Parlamentarischen Rates zugestimmt wurde. „Bis es zur entsprechenden Fassung des Artikels 3 GG kam, hatte es […] einen zähen Machtkampf gegeben, dessen Ausgang im Wesentlichen dem Verhandlungsgeschick der Rechtsanwältin Dr. Elisabeth Selbert zu verdanken ist.“³⁷ Da der Befürchtung des Rechtschaos mit dem Vorschlag einer Anpassungsfrist begegnet wurde, rekurrierten die überaus kontroversen Diskussionen³⁸ insbesondere auf das gefährdete Patriarchat bzw. die gefährdete männliche Vormachtstellung. Auch innerhalb ihrer Partei, der SPD, dominierten die konservativen Einwände. Nachdem auch in zweiter Lesung um Artikel 117 dieser abgelehnt wurde, argumentierte Selbert daraufhin über die Grenzen ihrer Partei sowie des Parlamentarischen Rates hinweg. Sie nutzte ihre zahlreichen Netzwerkkontakte, mobilisierte mit ihrem Appell Frauenverbände und Gewerkschaftsfrauen und machte eine breite Öffentlichkeit auf die Gleichberechtigungsthematik aufmerksam.³⁹ Damit beteiligten sich zum einen neue bzw. weitere AkteurInnen am Diskurs, das
35 BA-Z5/110, Bundesarchiv Koblenz. 36 Ruhl 1992, S. 31. 37 Schubert 2008, S. 139. 38 Vgl. Ruhl 1992. 39 Vgl. Pisal 2008, S. 135. Neben ihren umfangreichen Netzwerkkontakten waren es aber nicht zuletzt ihre öffentlichkeitswirksame Position als Sprecherin der SPD-Fraktion im Parlamentarischen Rat sowie ihr juristisches Fachwissen, die sich in Selberts Kampf um die absolute Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Verfassung positiv auswirkten.
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Spektrum der DiskursteilnehmerInnen vergrößert sich also. Zum anderen wird Selberts Sprecherposition durch die große Resonanz gestärkt. „Waschkörbeweise gehen Protestschreiben der weiblichen Landtagsabgeordneten, Gewerkschafterinnen, Frauenverbände, zigtausender Metall- und anderer Arbeiterinnen bei den Parlamentariern aller Parteien ein. Die Drohkulisse einer Ablehnung der gesamten Verfassung über die Gleichberechtigungsfrage baut sich auf.“⁴⁰
Hieran wird gleichermaßen ein Entwicklungsschritt im Diskurs deutlich: An der bis dahin im männlich dominierten und ‚geschützten Raum‘ des Parlamentarischen Rates stattgefundenen Diskussion nimmt nun eine breite Öffentlichkeit teil; sowohl Sprecherpositionen innehabende Verbände und Organisationen als auch Einzelpersonen.⁴¹ Überdies ist eine Geschlechterpositionierung zu beobachten, die ebenfalls den Prozesscharakter des Diskurses verdeutlicht. Es ist nun nicht mehr die eine Frau im Parlamentarischen Rat, die ihre Position allein gegen die Mehrheit der Ratsmitglieder verteidigt; der öffentliche Protest ist vor allem ein weiblicher; er überzeugt auch die bisher skeptische Parteikollegin Frieda Nadig, die nunmehr Selberts Formulierung überzeugt unterstützt. Dennoch darf die öffentliche Wahrnehmung der Frauen als nun kollektiver Akteur nicht über die nach wie vor bestehende Heterogenität der Meinungen hinwegtäuschen: Grundsätzlich blieb das ‚Frauenlager‘ in der Frage der Gleichberechtigung gespalten (s.u.). Die konservative Position zeigt sich einmal mehr im erneuten Kompromissvorschlag der Formulierung „Männer und Frauen haben die gleichen Rechte und Pflichten auf allen Rechtsgebieten.“⁴² Auch hier arbeitete Selbert den patriarchalischen Ansatz heraus: Als Maßstab der Rechte und Pflichten gelte demnach der Mann, die Frau würde hiervon abgeleitet. Dass der Diskurs nicht durchgängig sachlich geführt wurde, zeigt sich am Beispiel Theodor Heuss’, seinerzeit Vorsitzender der FDP und späterer Bundespräsident der Bundesrepublik, der Selbert mit Spott die Kompetenz absprach.⁴³ Dennoch resultierten Selberts Engagement und der öffentliche Protest am 18. Januar 1949 in der Festschreibung des Gleich-
40 Ebd. 41 Ein weiterer Forschungsstrang des mikrosoziologischen Teilprojekts zeigt ebenso auf, dass die Thematisierung der Gleichstellungsproblematik über die parlamentarischen Grenzen hinausreichte: So lassen sich entsprechende Diskurse gleichermaßen bei der Untersuchung von Spielfilmen sowie von Ratgebern der 1950er Jahre der BRD im Kontext von Zweierbeziehungen und Familie rekonstruieren. 42 Vgl. Pisal 2008. 43 Vgl. ebd.
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berechtigungsartikels im Grundgesetz sowie der Festsetzung der vorgeschlagenen Anpassungsfrist bis 31.03.1953. Damit war wiederum der Grundstein für einen weiteren, direkt an den vorhergehenden anknüpfenden Diskurs im Entstehungsprozess des Gleichberechtigungsgesetzes gelegt. Herauszustellen ist, dass es sich bei der Implementierung des Gleichberechtigungsartikels im Grundgesetz in diskurstheoretischer Perspektive strenggenommen um zwei Diskurse handelte. So kreiste der erste zunächst einmal um den konkreten Wortlaut des Artikels 3 Absatz 2. Bemerkenswert in diesem Kontext ist, dass jener Diskurs primär von einer einzelnen Person – Elisabeth Selbert – ‚provoziert‘ wurde. Der zweite Diskurs hingegen kreiste um die in Artikel 117 GG festgelegte Anpassungsfrist. Diese gesetzlich festgeschriebene und mithin verbindliche Frist war von den Stimmberechtigten festgesetzt worden und bezüglich einer entsprechenden Modifizierung des BGB entsprechend einzuhalten. Zwar wurden auch hier über die jeweiligen Sprecherpositionen unterschiedliche Geschlechterbilder und Auffassungen zu Ehe- und Familienrecht vertreten. Der Diskurs fokussierte aber nicht mehr die grundsätzliche Formulierung der Gleichberechtigung, sondern die (Art und Weise der) Umsetzung dessen in allen gesellschaftlichen Bereichen in Form der Anpassung bis dahin dem Gleichberechtigungsgrundsatz entgegenstehender Regelungen. Die bürgerlich-konservative Regierung Adenauer hatte jedoch kein Interesse daran, die traditionelle ‚natürliche‘ Geschlechterordnung, wie sie sich im Bürgerlichen Gesetzbuch, das Ehe- und Familienrechtsangelegenheiten regelte, widerspiegelte, infrage zu stellen oder gar aufgrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse aufzuheben. Die zuständigen Ministerien (Ministerium des Innern sowie Ministerium der Justiz) begannen zwar mit der Arbeit zur Anpassung der bestehenden Gesetze, fühlten sich allerdings nicht zur Eile gedrängt und äußerten schon zu Beginn Zweifel an der Einhaltbarkeit der Frist.⁴⁴ Intensive Diskussionen um das Gleichberechtigungsgesetz führten zu Beginn der 1950er Jahre insbesondere WissenschaftlerInnen, Frauenverbände und JuristInnen. Höhepunkt der Diskussion war zweifelsohne der 38. Deutsche Juristentag im September 1950, auf dem die rechtliche Problematik der Änderung der dem Gleichberechtigungsgrundsatz widersprechenden Artikel im Fokus der bürgerlich-rechtlichen Abteilung stand. Juristinnen und Juristen stimmten mit großer Mehrheit dem Grundsatzbeschluss sowie den Einzelbeschlüssen bezüglich der Neuregelung des Familienrechts zu.⁴⁵ Dass die auf dieser Fachtagung öffentlich vertretene Position der JuristInnen eine wichtige Sprecherposition im
44 Vgl. Ruhl 1992, S. 32. 45 Vgl. BGH 1954, S. 69.
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Gesamtdiskurs zur Gleichberechtigungsthematik einnahm, zeigte sich im weiteren Fortgang des Diskurses. Neben der rechtlichen zeichnete sich im Diskursprozess allerdings auch eine religiöse Problematik ab. Die bisher als geschlossen wahrgenommene Meinung der Kirche trennte sich letztendlich an der Frage zur rechtlichen Gleichstellung von Männern und Frauen. Dem katholischen und dem konservativ-protestantischen Lager (s.o.) stand eine dritte Position gegenüber: So sprach sich der liberalprotestantische Flügel für die Partnerschaftsehe aus. Weder aus dem Neuen noch aus dem Alten Testament, so die Argumentation, sei eine hierarchische Stellung zwischen Mann und Frau erkennbar; allein die biologischen Unterschiede rechtfertigten nicht das Absprechen absoluter Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung, und so ist auch die Ehe keine Naturgegebenheit, sondern „eine Aufgabe sittlichen Existierens“.⁴⁶ Die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Kirche verdeutlichen darüber hinaus, dass es bei Verfassungen im Allgemeinen und somit auch in jenem die Gleichberechtigung tangierenden verfassungsrechtlichen Diskurs im Besonderen nicht allein um die Verknüpfung der Bereiche Recht und Politik geht. Vielmehr – und damit beziehen wir uns auf Herold und Röder (in diesem Band) – ist Verfassungen gleichermaßen eine zivilreligiöse Bedeutung immanent, die aus gemeinsam geteilten zentralen (religiösen oder quasi-religiösen) Grundwerten resultieren. 1951 wurde eine im Auftrag des Bundesjustizministeriums von Maria Hagemeyer (Oberlandesgerichtsrätin) verfasste Denkschrift veröffentlicht. Sie ging an Kirchen, Frauenverbände, Gewerkschaften und weitere Institutionen sowie an einzelne PolitikerInnen und RechtswissenschaftlerInnen, die ihrerseits um eine entsprechende Stellungnahme gebeten wurden. „Die Oberlandesgerichtsrätin sprach sich gegen die Entscheidungsgewalt des Ehemannes und Vaters aus und plädierte dafür, daß in der Ehe jedem Ehepartner die gleichen Rechte zugestanden werden. […] Die Berufsausübung erklärte Frau Hagemeyer zu einer persönlichen Angelegenheit jedes Ehegatten, der jeweils selbst darüber zu bestimmen habe.“⁴⁷ Die offiziellen Stellungnahmen der beiden Kirchen erfolgten 1952. Das katholisch-konservative Lager sah im Plädoyer Hagemeyers die Gefahr der Zerstörung der Familie; die absolute Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Allgemeinen und der Ehepartner im Besonderen sei ein individualistisches und völlig privatisiertes Eheverständnis,⁴⁸ das den ‚naturgemäßen Geschlechterrollen‘ diametral entgegenstünde. Seitens der Evangelischen Kirche in Deutsch-
46 Barth 1959, S. 245. Barth zitierte hier den Theologen Ernst Wolf. 47 Ruhl 1992, S. 34. 48 Vgl. Coester-Waltjen 1992.
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land wurde durch ihren Ratsvorsitzenden Dibelius ein Kompromiss angestrebt, Gleichberechtigungsbefürworter und Patriarchatsverfechter zu vereinen, indem für die Beibehaltung des Letztentscheids des Familienvaters in Bezug auf die Kinder eingetreten wurde. Die evangelische Kirche sah sich allerdings schon im eigenen Lager dahingehend kontroversen Diskussionen ausgesetzt.⁴⁹ Grundsätzlich orientierte sich das konservative Lager an der Transzendenzbehauptung der ‚natürlichen‘ Vormachtstellung des Mannes in der Ehe, die sich rechtlich beispielsweise im Stichentscheid – dem Letztentscheidungsrecht – des Ehemannes (§ 1354) und Stichentscheid des Vaters (§ 1628) konstituierte.⁵⁰ Das politisch konservative Lager stand in enger Verbindung zur Position des katholischen und des konservativ-protestantischen Lagers. Ersteres vertrat vor allem den Gedanken der Familienhierarchie. Sich auf die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments berufend, begründeten sie die Vorrangstellung des Mannes damit, dass Gott den Mann zuerst erschaffen hatte. Jene transzendente Ursprungsordnung sei zugleich eine durch Bibelstellen belegte Rangordnung.⁵¹ Für das konservativ-protestantische Lager, das ebenfalls ein patriarchalisches Ordnungsprinzip favorisierte, lag die Begründung dessen im Neuen Testament, besonders im Paulus-Satz „Der Mann ist des Weibes Haupt“. Die dominante Stellung in der Ehe wurde also mittels ‚natürlicher‘ und ‚gottgewollter‘ und damit unverfügbar gestellter Verschiedenheit gerechtfertigt. Absolute Gleichberechtigung bezog sich in jener Perspektive lediglich auf die Menschen- und Personenwürde. Streng verschieden seien Männer und Frauen aber nicht nur in biologisch-geschlechtlicher Hinsicht, „sondern auch in ihrer seinsmäßigen, schöpfungsmäßigen Zueinanderordnung zu sich und dem Kind in der Ordnung der Familie, die von Gott gestiftet und daher für den menschlichen Gesetzgeber undurchbrechbar ist“.⁵² An der Position der Regierung Adenauer zur Gleichberechtigungsthematik lässt sich ablesen, wie stark der Einfluss des katholischen Lagers auf jenen politischen Diskurs zur damaligen Zeit (noch) gewesen ist. Bundesjustizminister Dehler (FDP) hatte sich zwar klar für die Beibehaltung der ‚natürlichen Ordnung‘ ausgesprochen; allerdings schlug er mit Unterstützung des liberalen Flügels
49 Vgl. Ruhl 1992. 50 § 1354 BGB regelte, dass letztendlich dem Mann die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zustand. Dem Ehemann sollte die Entscheidung über die Erwerbstätigkeit der Frau zukommen, er sollte über das Geld der Ehefrau verfügen dürfen und den Wohnort des Ehepaares bestimmen können. In § 1628 galt dieses Letztentscheidungsrecht des Mannes (bzw. hier des Vaters) in Hinblick auf die gemeinsamen Kinder. 51 Vgl. Ruhl 1992, S. 33. 52 BGH 1954, S. 65.
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der Protestanten auch die Streichung des Paragraphen 1354 (Stichentscheid des Mannes in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten) vor. Hier wiederum protestierte nicht nur die katholische Kirche, sondern auch Bundeskanzler Adenauer ging massiv gegen diesen Entwurf vor.⁵³ Dehler konnte lediglich die Zusatzklausel „Die Frau ist nicht verpflichtet, der Entscheidung des Mannes Folge zu leisten, wenn sich die Entscheidung als Mißbrauch seines Rechtes darstellt“ durchsetzen. Die dem Entwurf folgende Kontroverse seitens der Öffentlichkeit erstreckte sich auf Positionen, die den Entwurf der Neufassung des Ehe- und Familienrechts als nicht weit genug gehend ablehnten (Frauenverbände, Gewerkschaften) und jene, die die Vorschläge als entschieden zu liberal interpretierten (Konservative, katholische Frauenverbände). Nach weiteren Diskussionen im Bundestag nahm die CDU/CSU erst kurz vor Ablauf der im März 1953 endenden Anpassungsfrist wieder Beratungen zur Entwurfsänderung auf. Die Christdemokraten sahen sich mit dem Verdacht konfrontiert, die Frist ausgesessen zu haben, die Opposition sprach von einer bewussten Hinauszögerung.⁵⁴ Eine von der Regierung vorgeschlagene Fristverlängerung wurde seitens der SPD abgelehnt, sodass ein nahezu rechtsfreier Raum entstand. Der schließlich im November dem Bundeskanzleramt vorgelegte zweite Gesetzentwurf wurde im Dezember vom Bundeskabinett beraten, zur gleichen Zeit, in der ein vom Frankfurter Oberlandesgericht beim Bundesverfassungsgericht angestrengtes Normenkontrollverfahren bezüglich Artikel 3 Absatz 2 die Verfassungsmäßigkeit der Gleichberechtigung von Mann und Frau bestätigte (!). Mit dem neuen Bundesjustizminister Neumayer sah die katholische Kirche allerdings einen weiteren Unterstützer ihrer Position in Hinblick auf die uneingeschränkte Entscheidungsbefugnis des Ehemannes. Und dennoch: Der katholische Einfluss sollte in der Folgezeit schwinden. Dies hatte sich zum einen mit dem Karlsruher Richterspruch gezeigt, der die seit 1953 bestehende Gleichberechtigung von Mann und Frau bestätigte, die von den meisten Gerichten bereits praktiziert wurde. Aber auch aus dem katholischen Lager selbst mehrten sich die kritischen Stimmen, wie beispielsweise in der (katholischen) Zeitschrift Herder Korrespondenz, die den Standpunkt der protestantischen Frauenrechtlerin Elisabeth Schwarzhaupt zur Abschaffung des männlichen Entscheidungsrechts als durchaus ernst zu nehmen kommentierte. In Hinblick auf die Parlamentsdebatte um den neuen Entwurf ist herauszustellen, dass eine „Polarisierung zwischen der Regierungskoalition auf der einen und der SPD auf der anderen Seite […] auch dieses Mal nicht statt[fand], da
53 Vgl. Coester-Waltjen 1992; Ruhl 1992. 54 Vgl. Ruhl 1992, S. 38.
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BefürworterInnen und GegnerInnen einer Familienrechtsreform in allen Parteien vertreten waren; auch eine Trennlinie zwischen weiblichen und männlichen Abgeordneten war nicht auszumachen, weil bei den Männern wie bei den Frauen geteilte Ansichten über das Reformwerk bestanden.“⁵⁵ In Rekurs auf die hier interessierenden zentralen Diskurspositionen heißt dies, dass die Absicht der Restauration der bürgerlichen Geschlechterordnung nicht ausschließlich den konservativen politischen und kirchlichen AkteurInnen zugeschrieben werden kann. Wie sich in den bisherigen Ausführungen gezeigt hat, fanden sich BefürworterInnen des traditionellen Geschlechter- und Familienleitbildes bei Männern und Frauen sowie quer durch alle politischen Lager. Gleichermaßen ist dies für die BefürworterInnen von Reformen zu konstatieren. Die weiteren zahlreichen und teilweise langatmigen Beratungen und Kampfabstimmungen in den folgenden Monaten und Jahren seitens des 1954 eingesetzten Unterausschusses „Familienrechtsgesetz“ bezogen sich jeweils auf einzelne Reformpunkte des Familienrechts (z.B. das Güterrecht). Aus Platzgründen können sie hier im Einzelnen nicht wiedergegeben werden. Entscheidend ist, dass am 24. Mai 1957 der Bundesrat dem „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“, kurz „Gleichberechtigungsgesetz“, zustimmte. Dennoch umfasste das schließlich am 1. Juli 1958 in Kraft tretende Gesetz „nicht die volle Gleichberechtigung der Frau“.⁵⁶ Zwar war das Güterrecht zugunsten der Gleichberechtigung reformiert worden, und auch § 1354⁵⁷ wurde ersatzlos gestrichen. Die §§ 1628 und 1629⁵⁸ wurden jedoch zunächst beibehalten und erst 1959 für nichtig erklärt.
3 Fazit Grundsätzlich ist die Verankerung des ursprünglich auf Elisabeth Selbert zurückgehenden Artikels „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ im Grundgesetz als Fortschritt in Hinblick auf eine – zumindest potentielle – Neuordnung der Geschlechter zu bewerten. Die entsprechend notwendigen Modifizierungen im
55 Ruhl 1992, S. 39. 56 Ruhl 1992, S. 41. 57 Dieser Paragraph beinhaltete den Stichentscheid (Letztentscheidungsrecht) des Ehemannes. 58 Inhalt dieser Paragraphen war das Verhältnis der Eltern zu den Kindern. 1959 kippte das Bundesverfassungsgericht das Entscheidungsrecht des Vaters in der Erziehung. Die Richter stellten fest, dass dieser Teil des Gesetzes verfassungswidrig sei (vgl. Schubert 2008).
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Bürgerlichen Gesetzbuch waren aber auch mit der verabschiedeten Neufassung 1957 nicht in allen relevanten Bereichen unternommen worden. Die Verankerung des Gleichberechtigungsgedankens im Ehe- und Familienrecht von 1957 war also ein Kompromiss. Er verdeutlicht auch das Wechselspiel des Familienrechts mit der gesellschaftlichen Realität, den jeweiligen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen, die zu diesem Zeitpunkt durch Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche in den Geschlechterarrangements gekennzeichnet waren.⁵⁹ Dieser Kompromiss bedeutet zweierlei: Er zeigt erstens das Potential der 1950er Jahre für gesellschaftliche Veränderungen in Fragen der Gleichberechtigung auf. Zweitens ist er Spiegel der damaligen Grundhaltungen. Das westdeutsche Ehe- und Familienrecht stützte sich auf christliche Wertvorstellungen, die in diesem Sinne als Transzendenzressource verstanden werden können und wesentlich zur Durchsetzung der patriarchalen Geschlechterordnung beigetragen haben. Da aufgrund der nationalsozialistischen Erfahrung in Deutschland zukünftig keine oder zumindest möglichst wenig staatliche Eingriffe im Sinne eines ideologischen Einflusses auf das Familienrecht erfolgen sollten, erscheint die Rückbesinnung auf die christliche Tradition zusätzlich legitimiert. Überdies war sie nach der Teilung in zwei deutsche Staaten offenbar eine willkommene Abgrenzungsmöglichkeit zur Politik im ostdeutschen Teilstaat. Das christliche Ehe- und Familienideal war nach wie vor als unverfügbar gesetzt; es galt unhinterfragt als das Ideal und also die eine ‚richtige‘ Form der persönlichen Beziehung schlechthin. Und diese Wertvorstellung reichte zur damaligen Zeit über politische Grenzen hinaus. Gleiches gilt für die Vorstellung von der ‚Natürlichkeit‘ der Geschlechterordnung, die als eine weitere Transzendenzressource verstanden werden kann. Das bisherige, patriarchalisch geprägte Ehe- und Familienideal wurde durch die rechtlichen Neuerungen allenfalls relativiert, nicht jedoch vollständig aufgehoben. Die soziale Wirklichkeit als unverfügbar gestellte Normativität des Faktischen konnte in den 1950er Jahren (noch) nicht zu einer grundlegenden Veränderung der patriarchalen Ordnung beitragen, gleichwohl besaß sie die Geltungskraft, den Gleichstellungsparagraphen überhaupt in das Grundgesetz zu implementieren.
59 Vgl. Hucke 2001, S. 177.
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Uwe Fraunholz, Detlev Fritsche, Anke Woschech
Grenzen der Technikgläubigkeit? Konkurrierende Deutungen von Atomkraft im Übergang von der Technokratischen Hochmoderne zur Reflexiven Moderne „Das ist der Widerspruch unserer Zeit, daß der Mensch die Urkraft des Atoms entfesselte und sich jetzt vor den Folgen fürchtet. […] Aber das ist auch die Hoffnung dieser Zeit, daß der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt.“¹
Die einleitenden Sätze des Godesberger Programms der SPD von 1959 weisen dieses Dokument als typisches Kind der Technokratischen Hochmoderne aus: Atomare Gefahren wurden allenfalls in den kriegerischen Potentialen der neuen Energiequelle gesehen, die friedliche Nutzung versprach hingegen, von ungebrochenem Fortschrittsoptimismus beseelt, eine Stärkung der Volkswirtschaft und Wohlfahrtseffekte für alle. Mit der Epochenzuschreibung ‚Technokratische Hochmoderne‘ lässt sich eine politische Zäsuren übergreifende Sinnordnung bezeichnen, die auf der stabilisierenden Wirkung wirtschaftlichen Wachstums aufbaute, das wiederum ganz wesentlich von einer stetigen Ausweitung technischer Mittel getragen werden sollte.² Die technisierten Zukunftserwartungen verdichteten sich bereits während der Hochindustrialisierung im Deutschen Kaiserreich zum gesellschaftlichen Common Sense und überdauerten diverse Systemwechsel. Als Trägern des „technischen Fortschritts“ gelang es den Ingenieuren dabei, im Zuge ihrer Emanzipationsbewegung und der fortschreitenden Technisierung der Lebenswelt eine herausgehobene Stellung für sich zu reklamieren.³ Spätestens seit den 1970er Jahren zeigten sich jedoch deutliche Risse in diesen vormals umfassende Geltung beanspruchenden Sinnkonstruktionen. Neue ökonomische und gesellschaftliche Her-
1 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (1959), Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959, Bad Godesberg, S. 2. 2 Die vorgenommene Periodisierung schließt an der jüngst in Teilen der Neuesten bzw. Zeitgeschichte vorgenommenen Neukonzeptualisierung historischer Zäsuren an, die den Zeitraum der 1880er bis 1970er Jahre als Einheit wahrnehmen und als Epoche der europäischen Hochmoderne deuten; siehe Raphael 2008, S. 87; Doering-Manteuffel 2007; Herbert 2007. 3 Doering-Manteuffel 2009, S. 47.
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ausforderungen sowie ein längerfristiger Wertewandel stellten die hergebrachten Stabilisierungsprinzipien in Frage: Insbesondere die Ölpreiskrisen von 1973/74 und 1979/80 verdeutlichten einer zunehmend technikskeptischen Bevölkerung die „Grenzen des Wachstums“.⁴ Bildete bis dahin ein kaum hinterfragter technischer Fortschrittsoptimismus die zentrale Transzendenzkonstruktion der Hochmoderne, so gewannen nun divergierende Orientierungen an Bedeutung und ließen konkurrierende Transzendenzbezüge entstehen:⁵ An die Seite des unverfügbar gestellten technischen ‚Fortschritts‘, der bis dahin grundsätzlicher Kritik weitgehend enthoben schien, traten die Unverfügbarkeit der natürlichen Lebensgrundlagen und das Leitbild nachhaltigen Wirtschaftens. Die Überzeugungen und Deutungen der technischen Elite konnten sich schließlich nicht mehr auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens berufen. Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte die in den 1970er Jahren erstarkende Anti-Atomkraft-Bewegung, die nun auch verstärkt publizistische Aktivitäten zu entfalten begann.⁶ Im Folgenden wird der Umschwung in den öffentlichen Diskussionen über die friedliche Nutzung der Atomkraft seit den späten 1950er Jahren nachgezeichnet. Als „focusing events“⁷ dienen hierzu zwei vergleichbare Unfälle in Atomkraftwerken, die gleichwohl mediale Reaktionen ganz unterschiedlichen Ausmaßes hervorriefen: Während des Unfalls im britischen Kernkraftwerk Windscale (heute Sellafield) vom 7. bis 12. Oktober 1957 wurden durch einen Brand im Reaktorkern zwei radioaktive Wolken freigesetzt. Auch in Folge des Unfalls im US-amerikanischen Kraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg am 28. März 1979 gelangte Radioaktivität nach einem Brand im Reaktorkern in die Umwelt. Beide Ereignisse wurden nachträglich von Expertenkommissionen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und der Kernenergiebehörde der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als „schwe-
4 So der Titel der berühmten, im Auftrag des Club of Rome durchgeführten Studie zur Lage der Weltwirtschaft, der in den Folgejahren die Bedeutung einer den Fortschrittspathos der Hochmoderne nahezu konterkarierenden Metapher erlangen sollte; vgl. Dennis Meadows et al. (1972), The Limits to Growth, New York. 5 Doering-Manteuffel 2009, S. 60. 6 Siehe z.B. Holger Strom (1973), Friedlich in die Katastrophe. Eine Dokumentation über Atomkraftwerke, Hamburg. 7 Der von John Kingdon eingeführte Terminus zur Kennzeichnung singulärer Ereignisse wie Krisen und Katastrophen, die bis dato unterschwellig gärende politisch-gesellschaftliche Probleme plötzlich in den Fokus medialer wie politischer Aufmerksamkeit rücken (Kingdon 1984, S. 94–96), wurde zuerst von Thomas A. Birkland auf technische Stör- und Unfälle übertragen; siehe Birkland 1998.
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rer Unfall“ (Stufe 5 von 7 auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse – INES) eingestuft.⁸ Die Analyse der Diskussionen über die friedliche Nutzung der Kernkraft in der Bundesrepublik im zeitlichen Umfeld dieser Beinahe-Katastrophen erfolgt auf drei Ebenen: Zunächst werden im ersten Abschnitt Akzentverschiebungen in den Argumentationsmustern der technischen Elite in den Blick genommen, die sich sowohl in wissenschaftlichen Fachzeitschriften als auch in Organen der Standesvertretungen niedergeschlagen haben. In einem zweiten Schritt wird die Berichterstattung über die in Rede stehenden Kernkraftunfälle in den meinungsbildenden Wochenzeitungen Der Spiegel und Die Zeit untersucht. Der dritte Teil nähert sich der veränderten Thematisierung der Gefahren von Atomkraftwerken hingegen über eine Analyse unterschiedlicher Auflagen eines populären JugendSachbuches. Im Schlusskapitel werden die Ergebnisse zusammengefasst.
1 Ingenieure erklären den Ernstfall Lässt sich in den Diskursen von Fachleuten der Energieerzeugung erkennen, ob und inwieweit die gesellschaftliche Krise der 1970er Jahre die bis dahin bestehende Transzendenzkonstruktion des technisierten Fortschrittsglaubens, die auf der Annahme stetiger Steigerungsfähigkeit für das Gemeinwohl einsetzbarer technischer Mittel gründete, transformiert hat?⁹ Der Unfall von Windscale wurde in der Zeitschrift Atom und Strom wenngleich nicht verschwiegen, so doch nur beiläufig und indirekt erwähnt.¹⁰ In den Artikeln überwogen theoretische Betrachtungen zum Kernkraftwerksbau und zu den gewünschten rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Allerdings gab es zu dieser Zeit erst wenige in Betrieb befindliche Kernkraftwerke zur Energieerzeugung;¹¹ zudem diente der Reaktor in Windscale in erster Linie der
8 Jungk/Müller 1979; Wakeford 2007. 9 Untersucht wurden die Zeitschriften Atom und Strom (eine von 1955 bis 1988 erschienene Beilage der Zeitschrift Elektrizitätswirtschaft) der Jahre 1957, 1958, 1979, 1980 sowie die Zeitschrift VDI-Nachrichten (eine Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure) der Jahre 1957, 1958 und 1979. 10 Atomkongresse und -tagungen. Wien – Stand der Entwicklung, in: Atom und Strom, Jg. 3 (1957), Nr. 11–12, S. 91–93; Schutz der Bevölkerung gegen Reaktorunfälle in Großbritannien, in: Atom und Strom, Jg. 4 (1958), Nr. 5, S. 43; Friedrich Münzinger, Zur Wahl der Reaktoren für die ersten deutschen Atomkraftwerke, Atom und Strom, Jg.4 (1958), Nr. 3, S. 20–24. 11 Mit zwei Anlagen stellten die USA seinerzeit die höchste Zahl an in Betrieb befindlichen Kernkraftwerken. In der Bundesrepublik stand der erste Versuchsreaktor kurz vor seiner
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Erzeugung waffenfähigen Plutoniums und wurde also im engeren Sinne nicht für die friedliche Nutzung der Kernenergie betrieben. Dementsprechend war der Fortschrittsoptimismus der Energiewirtschaft auch nach Bekanntwerden des Unfalls ungebrochen.¹² Bereits sichtbare Sicherheitsrisiken wurden eher den generellen Risiken von Technik zugeordnet: Die meisten Störungen gäbe es sowieso in den konventionellen Teilen der Anlagen (wie Wärmekreislauf, Dampferzeugung, Turbinen und Generatoren);¹³ eventuelle Zweifel in der Öffentlichkeit entständen aus mangelhaftem Wissen und dieses wiederum aus unzureichender Information.¹⁴ In den VDI-Nachrichten fand sich keine Erwähnung des Unfalls von Windscale; stattdessen dominierte eine mit Fortschrittspathos durchsetzte Atomeuphorie: Auf der Titelseite der Ausgabe vom 19.1.1957 beschäftigte sich ein ganzseitiger Artikel mit dem Thema „Atomenergie und Verkehr“,¹⁵ darüber hinaus wurde vom Projekt eines mit Kernenergie angetriebenen Riesenlastzuges berichtet.¹⁶ Die einzige konkrete Erwähnung von Windscale in der Ausgabe vom 6.12.1957 berichtete zwar von der Stilllegung der dortigen Reaktoren, konzentrierte sich aber ansonsten auf die endgültige Fertigstellung der benachbarten Anlage Calder Hall und die mit der Erhöhung der Kapazität einhergehende Einsparung von tausenden Tonnen Steinkohle pro Tag.¹⁷ Auf den Unfall von Three Mile Island hingegen reagierte Atom und Strom unmittelbar mit einem Bericht über den bis dahin bekannten Hergang des Geschehens.¹⁸ Ein Vergleich mit ähnlichen Kraftwerken in der Bundesrepublik führte jedoch sogleich zu der Schlussfolgerung, dass wegen der wesentlich umfangrei-
Inbetriebnahme (31.10.1957 in Garching). Großbritannien nahm in Europa eine Vorreiterrolle im Kraftwerksbau ein (Elizabeth II. hatte ein Jahr vor dem Unfall in Windscale die benachbarte Anlage Calder Hall offiziell eröffnet). 12 „Wenn man sich fragt, welche Umstände es zuwege gebracht haben, daß schon knapp nach den ersten tastenden Versuchen in Amerika sich 78 Reaktoren im Bau oder Betrieb befinden, daß in Großbritannien bis 1965 Atomkraftwerke mit 6 Mio. kW und in der UdSSR bis 1962 mit 1.5 Mio. kW Leistung laufen sollen, so stößt man […] auf die Eigentümlichkeit der Technik, etwas als ausführbar Erkanntes mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf die Folgen vorwärtszutreiben.“; Münzinger 1958, S. 24. 13 Englisches 1000-MW –Kernkraftwerk, in: Atom und Strom, Jg. 3 (1957), Nr. 9, S. 78. 14 Peter Finkelnburg, Probleme der deutschen Atomkraftwerks-Entwicklung. Vortrag auf der Jahreshauptversammlung der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke am 16. Mai 1957 in Nürnberg, in: Atom und Strom, Jg. 3 (1957), Nr. 8, S. 63–67. 15 Atomenergie und Verkehr, in: VDI-Nachrichten, Jg. 11 (1957), Nr. 2, S. 1. 16 C. C. Troebst, Riesenlastzug mit Kernenergie-Antrieb, in: VDI-Nachrichten, Jg. 12 (1958), Nr. 16, S. 3. 17 Calder Hall und Windscale erhöhen Kapazität, in: VDI-Nachrichten, Jg. 12 (1957), Nr. 25, S. 2. 18 Zum Störfallablauf in Harrisburg, in: Atom und Strom, Jg. 25 (1979), Nr. 2, S. 59–60.
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cheren und strengeren deutschen Sicherheitsbestimmungen ein solcher Unfall nicht möglich wäre. Schließlich wurde die ganze Bandbreite an Verteidigungsmaßnahmen der Kernkraftbefürworter (d.h. hauptsächlich der Energiewirtschaft) abgearbeitet. In der nächsten Ausgabe der Zeitschrift erfolgte auf der Titelseite ein Generalangriff auf Kernkraftgegner, der an diffamierender Drastik nichts zu wünschen übrig ließ, indem er Unverfügbarkeiten des bundesrepublikanischen Grundkonsenses ins Feld führte und die außerparlamentarische Opposition in die Nähe des Nationalsozialismus rückte.¹⁹ Die Heftigkeit dieser Ausfälle wird verständlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass die 1970er Jahre die Hochphase des Kernkraftwerkbaus in der Bundesrepublik kennzeichneten. Zwischen 1970 und 1979 wurden zwölf Kernkraftwerke neu in Betrieb genommen oder erweitert, eine Zahl, die nur noch in den 1980er Jahren übertroffen werden sollte. Dementsprechend viel stand für die Unternehmen auf dem Spiel; das Risiko eines wie in Three Mile Island gelagerten Unfalls wurde für deutsche Kernkraftwerke permanent abgestritten.²⁰ Neben Angriff und Leugnung kam als dritte Verteidigungsmaßnahme der Vorwurf einer verfehlten Informationspolitik der offiziellen Stellen hinzu.²¹ Die 1970er Jahre markierten jedoch auch die Zeit einer erstmals gesamtgesellschaftlich wahrnehmbaren Umweltbewegung, deren Anti-Kernkraft-Gruppen durch die Besetzung von Bauplätzen (Wyhl 1975, Brockdorf 1976, Grohnde 1977) auf die unkalkulierbaren Risiken von Kernkraftwerken (einschließlich der Verund Entsorgung mit Brennstoff) aufmerksam machten.²² Der Widerspiegelung
19 „Noch vor wenigen Jahren hätte niemand für möglich gehalten, daß sich in einer aufgeklärten europäischen Nation wie der Bundesrepublik Deutschland eine Massenbewegung bildet, die unter ihrem Banner Menschen aller Altersgruppen, Bildungsstufen und politischen Schattierungen vereint, um in mächtigem Ansturm mit verengtem Blick gegen die Fundamente dieses Staates anzurennen. Angst, Wut, Häme und revolutionäre Apo-Stimmung mischen sich zu einem schwer definierbaren Emotionskonglomerat, das offenbar ansteckend wirkt wie ein Bazillus, die Vernunft suspendiert und blind macht gegen die gefährlichen Konsequenzen des eigenen Tuns. Einen ähnlichen Massenkonsens gleichgeschalteter Gefühle hat man seit der Zeit des ‚tausendjährigen Reiches‘ in Deutschland nicht mehr erlebt. Es handelt sich um die Anti-Kernkraft-Bewegung.“ Klaus Montanus, Die Anti-Kernkraft-Bewegung marschiert, in: Atom und Strom, Jg. 25 (1979), Nr. 3, S. 65. 20 „Fazit der deutschen Fachleute: ‚Was in Harrisburg geschah, wäre so in Biblis nicht möglich gewesen!‘.“ Gerhard Flämig, Was in Harrisburg geschah, wäre in Biblis nicht möglich gewesen, in: Atom und Strom, Jg. 25 (1979), Nr. 5, S. 133–134. 21 Gunnar Rogwalder, Politische Risiken im Kraftwerksgeschäft der Bundesrepublik Deutschland – können sie verringert werden?, in: Atom und Strom, Jg.25 (1979), Nr. 4, S. 89–91. 22 Radkau 2011b. Joachim Radkau unterscheidet vier Phasen in der Geschichte der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung bis zum Ende der 1970er Jahre: Nach dem Bau der
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dieser gesellschaftlichen und politischen Veränderungen konnte sich auch Atom und Strom nicht entziehen. In der vierten Ausgabe des Jahres 1979 wurde von der 2. Europäischen Nuklearkonferenz und dem VII. Foratom-Kongreß in Hamburg berichtet. Einer der Hauptredner war der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der ausführlich auf Risiken der Kernenergie einging und dabei die zum technisierten Fortschrittsversprechen in Konkurrenz tretende Transzendenzkonstruktion eines unbedingten Vorrangs der Unversehrtheit von Leben und Gesundheit ernst zu nehmen schien.²³ Dieser durchaus reflexive Ansatz verhallte auf Seiten der Industrie zunächst ungehört. So beschwor der Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen AG Klaus Knizia gleichermaßen Untergangsszenarien wie Weltenrettung, indem er die Kernenergie als unvermeidlichen Beitrag zur Energieerzeugung hinstellte und die revolutionären Potentiale der Technik betonte: „Die Zeit, die uns bei der wachsenden Weltbevölkerung, bei schrumpfenden Rohstoffen und beeinträchtigter Regenerierfähigkeit der Umwelt bleibt, um einen langwährenden Überlebenskompromiß zu finden, ist zu kurz, um sie mit Revolutionen zu verschwenden. Man sollte deutlich aussprechen, daß die Veränderungen, die die Technik zum Nutzen der Menschen vollbracht hat, weit den Nutzen aller Revolutionen überwiegen.“²⁴
Doch selbst die Energieerzeuger mussten schließlich die geänderten Rahmenbedingungen anerkennen: In der letzten Ausgabe des Jahres 1979 erschien erstmals ein längerer Artikel, der sich mit dem Zusammenhang von Energieerzeugung und
ersten Forschungsreaktoren 1957 kam es zu ersten Protesten, die aber lokal begrenzt blieben. Überregionale Bedeutung erlangte erstmals die Opposition gegen das Atomkraftwerk Würgassen Ende der 1960er Jahre. Auf eine Massenbasis konnten sich jedoch erst die Proteste im badischen Wyhl 1975 berufen, ehe der Protest dann ab 1976 in Gorleben, wo man ein atomares Entsorgungszentrum samt Plutoniumfabrik plante, eskalierte, Radkau 1983, S. 434–455. 23 „Die Sicherheit von Leben und Gesundheit hat bei der Zulassung kerntechnischer Anlagen Vorrang vor Wirtschaftlichkeit auch um den Preis langer und penibler Genehmigungsverfahren und des dadurch bewirkten hohen finanziellen Aufwandes. Nicht alles, was technisch machbar ist, ist deshalb schon dem Menschen nützlich und darf ausgeführt werden. Einschneidende Veränderungen, die durch Forschung und Technik entstehen könnten, müssen wegen ihrer Folgen für alle mehr als bisher der öffentlichen Auseinandersetzung zugänglich gemacht werden.“ Hans-Hermann König, Kernenergie – Option für die Welt. Ein Bericht über die 2. Europäische Nuklearkonferenz und den VII. Foratom-Kongreß 1979 in Hamburg, in: Atom und Strom, Jg. 25 (1979), Nr. 4, S. 91–96, hier S. 93. 24 Ebd., S. 94.
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gesellschaftspolitischen Zielen beschäftigte.²⁵ Diesem Artikel sollten in beinahe jeder Ausgabe des Jahres 1980 ähnliche folgen. Auch die VDI-Nachrichten reagierten unmittelbar auf den Unfall von Three Mile Island mit einem Bericht über dessen Hergang, allerdings ohne sofort die Unmöglichkeit einer Wiederholung in der Bundesrepublik zu behaupten.²⁶ Trotzdem wurde die Leserschaft per Relativierung und Bagatellisierung der eingetretenen Schäden beschwichtigt.²⁷ In den folgenden Ausgaben lag das Hauptaugenmerk auf der Zusicherung, dass die Nutzung der Kernkraft trotz Harrisburg möglich²⁸ und notwendig²⁹ wäre. Ähnlich wie in Atom und Strom wurde argumentiert, dass mehr und bessere Informationen die gesellschaftlichen und politischen Bedenken ausräumen würden. Zu diesem Zweck wurde sogar eine eigene Informationsstelle des VDI eingerichtet.³⁰ Insgesamt tendierten die Berichte zu einer ingenieurstypischen, im Gewand der Versachlichung daherkommenden, Trivialisierung des Umgangs mit dem Unfall.³¹ Kaum ein halbes Jahr später kam sogar wieder eine gewisse Atomeuphorie auf.³² Vom Credo, dass allein eine verbesserte Technik geeignet sei, alle auftretenden Probleme zu lösen, wurde auch in der Folgezeit nicht abgegangen. Zwar wurden die Sicherheitsbedenken der Bevölkerung (und auch mancher Politiker) registriert, die Lösung dieser Probleme jedoch weiterhin mit technischen Mitteln angestrebt.³³
25 Peter Penczynski, Energiestrategien zur Erreichung gesellschaftspolitischer Ziele?, in: Atom und Strom, Jg. 25 (1979), Nr. 6, S. 145–152. 26 Der Störfall von Harrisburg, in VDI-Nachrichten, Jg. 33 (1979), Nr. 15, S. 2. 27 Störfall – aber keine Katastrophe, ebd., S. 1. 28 „Harrisburg liegt nicht am Rhein.“ P. Leclair, Störfall sachlich nüchtern beurteilen. Bedienungspersonal wird jetzt durch Krisentraining an Simulatoren gründlicher vorbereitet, in: VDI-Nachrichten, Jg 33 (1979), Nr. 21, S. 4. 29 „Nicht zuletzt die Abhängigkeit vom Öl lässt die Beibehaltung der nuklearen Option als einzig sinnvolle Politik erscheinen.“ Walther M. Lehmann, Kernkraft-Option trotz Harrisburg, ebd., S. 12. 30 VDI richtet für die Presse Energie-Informationsstelle ein, in: VDI-Nachrichten, Jg. 33 (1979), Nr. 32, S. 30. 31 „Das ‚Beispiel‘ Harrisburg, das sich im Laufe der Untersuchungen von der ‚Katastrophe‘ über den ‚Unfall‘ bis schließlich zum Störfall reduzierte, sollte jeden hinreichend verantwortungsbewussten Berichterstatter davon abhalten, voreilig Schlüsse zu ziehen, die geeignet sind, die Bevölkerung in Katastrophenstimmung zu versetzen, einer späteren kritischen Beurteilung jedoch nicht standhalten.“ Über Langzeitwirkungen soll man nicht spekulieren, VDI-Nachrichten, Jg. 33 (1979), Nr. 36, S. 2. 32 Rudolf Weber, Kernreaktoren für die Fernheizung. Bei nuklearem Heizwerk fallen die Brennstoffkosten weniger ins Gewicht als bei ölbefeuerten, ebd., S. 4. 33 „Harrisburg hat gezeigt, und in der Tat nicht zum ersten Mal, daß die Kerntechnik keine perfekte Technik ist. Sie ist eine Technik, die ebenso wie jede andere Unvollkommenheiten
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2 Transnationale Focusing Events? Die breite Öffentlichkeit bezieht ihre Informationen zur Atomkraft nicht aus wissenschaftlichen Fachveröffentlichungen, sondern ist vielmehr auf die von meinungsbildenden Medien vermittelte Problemsicht angewiesen. In dieser Hinsicht sind die untersuchten Publikationen ihrem Informationsauftrag bis weit in die 1950er Jahre kaum nachgekommen. Insbesondere Der Spiegel gab sich zunächst zeittypischen Visionen hin, die die schier unbegrenzten Möglichkeiten der neuen Energiequelle betonten. Durch eine Analogiebildung zur Sonnenenergie wurde Atomkraft dabei semantisch naturalisiert.³⁴ Allerdings verblieb in weiten Bevölkerungskreisen ein Unbehagen, das sich zeitweise zur „Strahlenangstpsychose“ auswuchs, wenngleich es sich in erster Linie auf die zerstörerischen Potentiale von Atombomben bezog.³⁵ Der Spiegel schien diesen Bedenken in gewissem Maße Rechnung zu tragen, wenn er in seiner Reportage über die Brüsseler Weltausstellung „geistige und technische Errungenschaften“ eher kritisch beleuchtete, das Atomium als „erdrückende Allegorie des Atomzeitalters“ schilderte und die Ausstellung insgesamt als „Atom-Jahrmarkt“ bewertete.³⁶ Im selben Tenor wurde der Bericht über die Einweihung des ersten kommerziellen Atomkraftwerks in Calder Hall mit dem Hinweis versehen, dass die Anlage in erster Linie die „Atombomben-Werke von Windscale“ speiste, während die Stromversorgung für die umliegenden Gemeinden nur ein Nebenprodukt war.³⁷
hat. Sie ist aber auch eine Technik, die diese Unvollkommenheiten und deren potentielle Auswirkungen ungewöhnlich sorgfältig analysiert hat und – das ist das Entscheidende – die durch einen sonst nicht üblichen Aufwand an Redundanzen und gestaffelten Barrieren diese Unvollkommenheiten so beherrscht, daß sie mit einer Wahrscheinlichkeit, die im wahrsten Sinne des Wortes an Sicherheit grenzt, ohne schwerwiegende Auswirkungen bleiben.“ Hans Wolfgang Levi, Die Situation der Kernenergie in der Bundesrepublik, VDI-Nachrichten, Jg. 33 (1979), Nr. 40, S. 37. 34 „Die Sonne aber ist, wie jeder selbstleuchtende Stern, eine gigantische Atomkraftmaschine. Mit jeder Kalorie, die die Menschen im täglichen Brot zu sich nehmen, schlucken sie eine Kalorie jener Atomenergie, welche im Innern der Sonne in Wärmeenergie verwandelt, als Strahlung zur Erde geschickt und im Getreide als chemische Energie gespeichert wurde. […] Der Verwendung der Atomenergie bieten sich zahlreiche Möglichkeiten. So könnte man schon heute daran denken, den Eispanzer Grönlands abzuschmelzen, um die Bodenschätze dieses Landes auszubeuten. Die damit verbundenen klimatischen Aenderungen wären ebenfalls segensreich.“; Atomische Dörfer. Die Sonne kann es am besten, in: Der Spiegel, Nr. 51 (1947), S. 37–38. 35 Engels 2006, S. 344f.; Tiggemann 2004, S. 54–57; Müller 1990, S. 3–12. 36 Babel in Beton, in: Der Spiegel, Nr. 15 (1958), S. 41–52. 37 Elizabeth II. wurde in dem Artikel folgendermaßen zitiert: „Es könnte durchaus sein, daß sich unsere Führung auf dem Gebiet der friedlichen Anwendung der Atomenergie als unser
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Einen Hinweis auf den Unfall sucht man in den Spiegel-Ausgaben der 1950er Jahre indes vergebens. Die Zeit brachte hingegen bereits 1958 eine Serie über Gefahren der Kernkraft, in der vor genetischen Mutationen gewarnt und auf die Problematik der Atommüllentsorgung eingegangen wurde.³⁸ Darin wurde auch der WindscaleUnfall erwähnt, allerdings nicht ohne beschwichtigend anzuführen, dass Personenschäden nicht nachgewiesen werden konnten.³⁹ Der Spiegel zog erst 1977 mit einer vergleichbaren Serie nach, kritisierte dann jedoch scharf die Verklappung der im Umkreis von Windscale beschlagnahmten Milch in der Irischen See sowie die „lautlose Regulierung“ des Störfalls durch die britische Regierung.⁴⁰
Abb. 1: SPIEGEL-Titelbilder der 1970er Jahre, Quelle: Der Spiegel 30/1975, 47/1976, 1/1977, 47/1978, 13/1979, 15/1979.
Das gesellschaftliche Klima hatte sich zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits fundamental gewandelt: Atomfragen waren nun eindeutig zu weite Bevölkerungskreise bewegenden Umweltfragen geworden.⁴¹ Die Bedeutung dieser Kontroverse lässt sich auch an den Aufmachern des Spiegels ablesen: Allein sechsmal schaffte
größter Beitrag zum Wohl der Menschheit erweist.“ Hunger nach Kraft, in: Der Spiegel, Nr. 45 (1956), S. 60. 38 Gerhardt Schubert, Strahlen bedrohen die Welt von morgen, in: Die Zeit, Nr. 24–26 (1958). 39 Gerhardt Schubert, Wie ist der Atom-Müll aus der Welt zu schaffen?, in: Die Zeit, Nr. 25 (1958). 40 John G. Fuller, Alarm auf Station SL-1. Unfälle in Atomkraftwerken, in: Der Spiegel, Nr. 4–7 (1977), hier Nr. 5 (1977), S. 116. 41 Weisker 2005, S. 211.
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es das Thema in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre auf das Titelblatt, während Kernkraft zuvor kaum je so prominent thematisiert worden war. Zudem wurde den Kritikern nun breiter Raum gegeben: Indem man sich vom atomaren „Höllenfeuer“ abhängig mache und sich auf das „Plutonium-Abenteuer“ einlasse, begebe man sich auf eine Einbahnstraße in den „Atomstaat“.⁴² Atomkraftwerke seien teurer, anfälliger und gefährlicher als erwartet, ihre großzügige Subventionierung behindere die Entwicklung von Alternativen.⁴³ Der Unfall von Harrisburg katapultierte das Problem der Störfälle schließlich schlagartig durch eine überaus intensive Medienberichterstattung in die Öffentlichkeit. „Der schwärzeste Tag in der Geschichte der Atomenergie“ wurde dabei aber zunächst vor allem auf die regelmäßig bei technischen Katastrophen herangezogene Variable „menschliches Versagen“ zurückgeführt,⁴⁴ der Faktor „Mensch“ mithin nicht als integraler Bestandteil großtechnischer Systeme gedacht. Auch wirkt die Rede vom „Reaktor-Holocaust“ aus heutiger Sicht befremdlich.⁴⁵ Das besondere Bedrohungspotential atomarer Strahlung wurde an anderer Stelle hingegen treffend charakterisiert,⁴⁶ die Aufwertung der Anti-AKW-Bewegung rasch erkannt⁴⁷ und auf die politischen Erschütterungen, die insbesondere die in Atomfragen tief gespaltene Regierungspartei SPD heimsuchten, hingewiesen.⁴⁸ Tatsächlich erhob der damalige Vorsitzende der Jungsozialisten, Gerhard
42 „Ein furchterregendes Unterfangen“, in: Der Spiegel, Nr. 30 (1975), S. 32–41, hier S. 34. 43 Atomenergie: „Eine chaotische Entwicklung“, in: Der Spiegel, Nr. 1–2 (1977), S. 32–38. 44 „Wir dachten, sie hätten alles unter Kontrolle“, in: Der Spiegel, Nr. 14 (1979), S. 122– 125, hier S. 122f. Ähnlich argumentierte Die Zeit: „Die Verkettung von technischem und menschlichem Versagen bewies, was unser vergebliches Demonstrieren nicht zu beweisen vermocht hatte: Der Mensch in seiner Unvollkommenheit darf nicht mit einer Materie umgehen, deren Gefährlichkeit eine uns unbekannte Vollkommenheit des Menschen voraussetzt.“ Klammheimliche Freude, in: Die Zeit, Nr. 16 (1979). 45 Eine lange Spur von Fragezeichen, in: Der Spiegel, Nr. 15 (1979), S. 26–32, hier S. 30. 46 „Die profanen, wenn auch noch so elementaren Existenzgefahren – Feuer, Flut, Krankheit, Krieg – lassen den Bedrohten zumindest die Illusion, sie hätten dank Flucht, Früherkennung oder Gegenwehr irgendeine Chance, noch davonzukommen. Radioaktive Strahlung, nicht wahrnehmbar, vernichtet diese Illusion, lässt die beinahe transzendente Beklemmung totaler Unentrinnbarkeit aufkeimen.“ Atomkraft: „Das Ungeheuer ist in uns“, ebd., S. 19–20, hier S. 20. 47 „Während Amerika sich vor den Schockwellen von Harrisburg in neue Sicherheitsvorschriften und halbherziges Energiesparen flüchtet, begann in Europa der ungebremste Wachstumsoptimismus nun doch bei vielen zu wanken, die zuvor nicht gezweifelt hatten, erschienen die Protestler von Brunsbüttel und Gorleben nicht mehr ganz so ausschließlich als blindwütige Anarchisten.“ Ebd. 48 „Die Wasserstoffblase im Reaktordruckgefäß schaffte, was keiner Bürgerinitiative, was weder ‚Grünen‘ noch ‚Roten‘ gelungen war. In der Bonner Regierung stand plötzlich ernsthaft zur Debatte, was bislang undenkbar schien: ob die Bundesrepublik nicht doch
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Schröder, obwohl die Industrie routinemäßig vor der drohenden „Energielücke“ warnte, die Forderung nach einem Baustopp für alle angefangenen Atomkraftwerke.⁴⁹ Darin folgten ihm 1977 laut Allensbach-Umfragen 27 Prozent, nach dem Harrisburg-Unfall aber bereits 61 Prozent der Bundesbürger.⁵⁰ Während der aufstrebende Jungpolitiker auch die Abschaltung aller bereits ans Netz gegangenen Reaktoren in den Blick nahm,⁵¹ zeigte sich Kanzler Helmut Schmidt weiterhin davon überzeugt, dass die für das kommende Jahrtausend angepeilte Ausweitung der Elektromobilität nur bei einem gleichzeitigen Ausbau der Kernkraft bewerkstelligt werden könne.⁵² Die Zeit tendierte ebenfalls zum Lager der Befürworter einer weiteren Nutzung von Atomkraftwerken, plädierte aber zumindest für eine weitere „Tüftelei an den Sicherheitseinrichtungen“.⁵³ Von Atomtechnikern forderte man mehr Demut ein, damit die „Atom-Zukunft“ die Chance bekomme, die ihr gebühre.⁵⁴ Der Harrisburg-Störfall hatte unmittelbare Auswirkungen auf das für Gorleben vorgesehene Plutonium-Projekt: Nach einer kontroversen Experten-Anhörung unter Vorsitz Carl-Friedrich von Weizsäckers und der bis dato mächtigsten Anti-AKW-Demonstration mit 100.000 Teilnehmern, zeichnete sich bald ab, dass die weitgehenden Planungen ad acta gelegt werden würden.⁵⁵ Mit gewissem Bedauern wurde in der Zeit festgestellt, dass auch die exzellenteste Risikostudie
ohne Kernenergie auskommen müsse.“ „Nach Harrisburg hat sich die Welt verändert“, ebd., S. 21–25, hier S. 21. 49 Ein Boom für die Kohle? Die Industrie warnt vor einer drohenden Energielücke, ebd., S. 39–42, hier S. 39. 50 Fluchtwege aus der Gefahr?, in: Die Zeit, Nr. 16 (1979). 51 Der Anteil der „totalen Kernkraftgegner“ die die Stilllegung sämtlicher Atommeiler forderten, verdoppelte sich 1978/79 von zwölf auf 24 Prozent. Kurzanalyse, ebd. 52 „Im Jahre 2010 werden wir kein Öl mehr haben. Dann werden alle Autos mit Batterien fahren. Dazu brauchen wir Atomkraftwerke, damit wir die Batterien aus der Steckdose aufladen können.“; in: Der Spiegel, Nr. 25 (1979), S. 21. SPD-Atomminister Volker Hauff beschwor in diesem Zusammenhang gar die „Gefahren eines Weltkrieges ums knappe Öl“. Ebd., S. 23. 53 „Vielleicht haben wir uns die Sache mit der Sicherheit wirklich viel zu einfach gemacht. […] Aber in der ersten Panik nun gleich alle Reaktoren abzuschalten oder zumindest ein generelles Bauverbot zu erlassen, ist wohl kaum der richtige Beitrag zur Lösung der Energieprobleme.“ Hysterie um Energie, in: Die Zeit, Nr. 18 (1979). 54 Theo Sommer, Ist die Zukunft schon vorüber? Das Atomdebakel von Harrisburg und seine Lehren, in: Die Zeit, Nr. 15 (1979). Um die mit der Atomkraft verbundenen Ängste zu charakterisieren, bemühte Sommer an gleicher Stelle die griechische Mythologie: „Das Atom rührt an Urängste der Menschheit. Es erinnert an die Verstiegenheit des Titanen Prometheus, der Zeus das Feuer entwendete und es auf die Erde brachte — Zeus rächte sich, indem er den Menschen die Pandora samt ihrer Büchse voller Übel schickte.“ Ebd. 55 Harrisburg: Der Unfall. Gorleben: Die Angst, ebd.
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nichts mehr „gegen den gewaltigen Strom aus Emotionen“ ausrichten könne,⁵⁶ selbst wenn sie alle „Weltuntergangsängste der Anti-AKW-Bewegung“ deutlich zurückweise.⁵⁷ Der Spiegel gab hingegen den Gegen-Experten Raum: Der zum Skeptiker konvertierte Energie-Manager Klaus Traube dekonstruierte in dem Blatt überkommene Sicherheitsphilosophien sowie die kaum hinterfragte, vorgebliche Objektivität von Gutachtergremien und stellte in Harrisburg das „Scheitern der wissenschaftlich-technischen Utopie im komplexesten System bisheriger ziviler Technik“ fest.⁵⁸ Der im Harrisburg-Unfall kulminierende Zäsurcharakter der 1970er Jahre wurde in beiden untersuchten Blättern herausgestellt. Die von der Anti-Atomkraftbewegung in der öffentlichen Debatte gegen die Orientierung auf grenzenlose technische Machbarkeit eingesetzte Propagierung alternativer Transzendenzkonstruktionen, wie der prinzipiellen Unverfügbarkeit menschlichen Lebens, führte zur sukzessiven Verschiebung von Wertmaßstäben. Diese Irritationen der vormaligen Sinnordnung bedeuteten den allmählichen Abschied von der Technokratischen Hochmoderne: Während Die Zeit die mit Vehemenz geführte Kernkraft-Debatte als Symptom eines tiefgreifenden Bewusstseinswandel deutete,⁵⁹ konstatierte Der Spiegel in seinem Rückblick auf die Dekade eine generelle Erosion technischer Faszinationskraft: „Die siebziger Jahre – ein Jahrzehnt, in dem sogenannte Wunder der Technik nur noch wenig bewundert, mehr schon mit Mißtrauen und Sorge betrachtet wurden, in dem Wissenschaft oft eher Verdacht als Vertrauen erweckte, die Menschen manchen Fortschritt nur noch als weiteren Schritt fort vom Menschen empfanden.“⁶⁰
3 Grenzen der Popularisierung Die Populärkultur der 1950er und 1960er Jahre hat mit einer unüberschaubaren Anzahl von literarischen, filmischen und spielerischen (Er-)Zeugnissen und Kommentaren auf die neue Technologie Atomkraft Bezug genommen. Dabei wurde
56 Thomas von Randow, Vom Fehlerbaum gefallen. Die Gefahr, bei Reaktorunfällen umzukommen, ist vergleichsweise gering, in: Die Zeit, Nr. 34 (1979). 57 Das Problem ist der Mensch, in: Die Zeit, Nr. 46 (1979). 58 Klaus Traube, Harrisburg und die Experten, in: Der Spiegel, Nr. 16 (1979), S. 58f. 59 „Der Streit um die Atomenergie ist Signal, Signal für einen Bewußtseinswandel, der seit Beginn der siebziger Jahre eine wachsende Zahl von Menschen ergriffen hat. […] Noch in den sechziger Jahren erfüllten die Leistungen der Großtechnik uns alle mit Stolz. Heute wecken großtechnische Anlagen […] oft ein Gefühl der Hilflosigkeit, des Mißtrauens und der Angst.“ Darf der Mensch, was er kann?, in: Die Zeit, Nr. 40 (1979). 60 Der Spiegel, Nr. 52 (1979), S. 92.
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zunächst strikt zwischen militärischer Verwendbarkeit und ziviler Nutzung unterschieden. Während zum ersteren Fall besonders in der Science Fiction eine Fülle an dystopischen Visionen und Schreckensszenarien aufkamen, die von durch Atomwaffentests mutierten Monstern bis zur atomaren Apokalypse reichten,⁶¹ wurde zum letzteren bis weit in die 1970er Jahre hinein ein durchweg positiver Bezug hergestellt: Gerade die Comic-Helden von Atomic Mouse bis Atomic Rabbit, die futuristischen Spielzeugvarianten von atomar betriebenen Eisenbahnen und Automobilen, ebensolche Miniaturmodelle von Atom-U-Booten und -Schiffen sowie der 1950/51 in Produktion gegebene Atomkraft-Experimentierbaukasten Gilberts U-238 Atomic Energy Lab, welcher neben Nebelkammer und Geigerzähler auch vier verschiedene Uranproben enthielt,⁶² bezeugen eine weitverbreitete Atomeuphorie. Auch in solchen Medien der Technikpopularisierung, die einen explizit sachlich-didaktischen Bildungsauftrag hinsichtlich der Vermittlung wissenschaftstechnischer Inhalte für sich beanspruchten,⁶³ fand sich diese affirmative Grundhaltung. Die seit 1961 vom Tesloff-Verlag herausgegebene, bis heute überaus bekannte und beliebte Reihe Was ist was widmete bereits ihren dritten Band der Atomkraft. Die Erstausgabe, eine reine Übersetzung der englischsprachigen Fassung, bezog sich noch ausschließlich auf die US-amerikanische Geschichte und zeitgenössische Gegenwart der Kernforschung. Bereits die Titelbildzeichnung – drei per weiße Laborkittel als Wissenschaftler ausgewiesene Männer beim Bedienen der Kontrollstäbe eines Forschungsreaktors – verwies deutlich auf die kolportierte Zukunftsträchtigkeit einer noch jungen Technik.⁶⁴ Das erste Kapitel, das unmittelbar mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima in die Thematik einstieg, zeigt eine ganzseitige Illustration eines riesigen, in leuchtend gelb-orangenen Farbentönen gehaltenen Atompilzes vor menschenleerem Untergrund. Die in
61 Gassert 2011, S. 51ff.; Weingart 2009, S. 394; speziell für den Science Fiction-Film Seeßlen 2003, S. 166–170 sowie S. 194–199. 62 Dieser Experimentierbaukasten, ein Publikumsmagnet der 47. New Yorker Spielwarenmesse, wurde nicht etwa aufgrund etwaiger Sicherheits- oder Gesundheitsbedenken, sondern allein aus Kostengründen eingestellt, Poser 2006, S. 59. Eine Übersicht an populärkulturellen Artefakten zum Thema Atomkraft findet sich auf http://www. orau.org/ptp/collection/atomictoys/atomictoys.htm (Zugriff am: 02.01.2012). 63 Zur Diskussion über einen Begriff von Technikpopularisierung, der für die Verbreitung von Technikwissen neben den klassischen bildungsnahen Medien auch Artefakte der Alltagstechnisierung in den Blick nimmt, siehe Weber 2002, S. 325. Zum Forschungsstand vgl. Nikolow/Schirrmacher 2007; Schirrmacher 2009. 64 Zur Ikonographie des (Natur-)Wissenschaftlers in populären Medien des 20. Jahrhunderts siehe Schummer/Spector 2009.
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dieser Zeichnung vorgenommene Ästhetisierung des Schreckens korrespondiert mit den fotografischen und filmischen Dokumentationen US-amerikanischer Atomwaffentests der Nachkriegszeit, in denen der Atompilz als „sauberes Symbol politischer Macht und technischen Fortschritts“ voller „Größe, Schönheit und Erhabenheit“ ikonisiert wurde.⁶⁵ Darüber hinaus dominierte das Bild des pazifistisch orientierten und altruistisch agierenden Wissenschaftlers.⁶⁶ Die von 1975 bis 1988 herausgegebene Folgeausgabe, die erstmals den Schwerpunkt auf die Situation in der Bundesrepublik legte, zeigte hinsichtlich der Bewertung dieser Technologie erstaunlich viele Kontinuitäten zur ersten Version. Die aufgezeigten Einsatzmöglichkeiten, bei denen nun weniger mit visionären Zukunftsentwürfen argumentiert, sondern in erster Linie auf bereits umgesetzte Anwendungen zurückgegriffen wurde, erfuhren gerade durch den Rekurs auf das Schlagwort von den ‚Grenzen des Wachstums‘ eine zusätzliche Legitimation: „Unser Leben ist nicht mehr denkbar ohne die Energie, die Maschinen in Gang setzt, unsere Wohnungen wärmt und erleuchtet, Autos, Züge und Flugzeuge antreibt. Die bisherigen Quellen dieser Energie sind hauptsächlich Kohle und Erdöl. Sie werden in absehbarer Zeit erschöpft sein.“⁶⁷ Die für die Hochmoderne charakteristische Sinnordnung – die Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums auf der Basis technischen Fortschritts – erfuhr mithin keineswegs eine Erschütterung, sondern ganz im Gegenteil eine weitere Stabilisierung. Zwar wurden erstmals sicherheitsund umweltrelevante Fragen angeschnitten, dabei allerdings äußerst knapp auf einer Seite behandelt. Diese Gewichtung, wenn auch weniger die Bewertung, änderte sich signifikant in der dritten, von 1988 bis 2003 erschienenen Ausgabe: Bereits im Vorwort wurde auf die Katastrophe von Tschernobyl Bezug genommen und damit endlich auch in diesem Jugendsachbuch das dichotome Schema der Verbindung dystopischer Imaginationen im militärischen Anwendungsbereich
65 Paul 2009, S. 725. 66 „Wenn die Atomenergie nur im Krieg gebraucht werden könnte, würden nicht viele Wissenschaftler daran mitgearbeitet haben. Sogar während des Krieges befassten sich viele Physiker und Ingenieure damit, Anlagen zu erfinden, die Kettenreaktionen auslösen könnten, aber so langsam, daß die Energie gebraucht werden könnte, um elektrische Generatoren, Schiffe und vielleicht sogar Flugzeuge anzutreiben.“ (Donald Barr, Atomenergie (Was ist was, 3), Hamburg 1962, S. 42). Zur Verflechtung von ziviler und militärischer Kernkraftforschung und der damit verbundenen Rolle und Verantwortung der beteiligten Wissenschaftler siehe Cooke 2010; die nahezu chiliastisch aufgeladenen Heilsvorstellungen, die US-amerikanische Atomphysiker zum Einsatz der Atombombe entwickelten, erläutert Noble 1998, S. 134–148. Eine kritische Revision des bis in die Gegenwart wirkungsmächtigen Mythos des an Einsicht und Vernunft geläuterten Atomforschers, mit Fokus auf die Akteure der Göttinger Erklärung, findet sich bei Lorenz 2011. 67 Donald Barr, Atomenergie (Was ist was, 3), Hamburg 1981 [1975], S. 2.
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versus utopische Hoffnungsüberschüsse auf dem Gebiet der zivilen Nutzung durchbrochen.⁶⁸ Das neugestaltete Titelbild, mit einem Atompilz als zentralem Blickfang und unter anderem mit der Illustration eines Atommülltanks ausgestattet, verwies zudem deutlich auf das destruktive Potential dieser Technik. Umweltund Sicherheitsfragen bekamen ein eigenes Kapitel. Allerdings ließ man weiterhin bei Problemkomplexen wie der Wiederaufbereitung und der Entsorgung von atomaren Spaltprodukten keinen Zweifel an deren Lösbarkeit, wofür die (deutsche) Ingenieurskunst bürgte.⁶⁹ Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Reaktorunfalls galt als „sehr gering“, „wenn sich alle Länder dem westdeutschen Sicherheitsstandard anpassen“.⁷⁰ Passend dazu wurden weder Unfälle oder Störfälle wie die von Windscale, Harrisburg oder auch Jülich aufgeführt, noch fand die von zahlreichen Anti-AKW-Protesten getragene gesellschaftliche Kontroverse der 1980er Jahre überhaupt Erwähnung. Darüber hinaus hielt sich hartnäckig die seit der Erstauflage kolportierte Hoffnung auf die zukünftigen Potentiale der Kernfusion.⁷¹ Selbst noch die Auflage von 2003 mit dem schlicht in Energie geänderten Bandtitel, in der der Schwerpunkt nunmehr auf der Darstellung der sogenannten regenerativen Energien lag⁷² und der Atomenergie ein einziges Kapitel verblieb, enthielt diesen Ausblick – obgleich vom bisherig visionär-vergewissernden Anspruch in hypothetisch-utopische Sphären verlagert: „Von der technischen Anwendung der Kernfusion sind wir noch weit entfernt. Gelingt sie ohne Gefahr für Mensch und Umwelt, so wäre die Energieversorgung aller künftigen Generationen gesichert!“⁷³
68 „Spätestens der Reaktorunfall in Tschernobyl im April 1986 hat gezeigt, was für einschneidende Folgen die Nutzbarmachung der Kernenergie für uns alle haben kann.“ Erich Übelacker, Atomenergie (Was ist was, 3), Nürnberg 1992 [1988], S. 2. 69 Die Transportbehälter galten als die „stabilsten Konstruktionen der Technik“; zudem wurde die Sicherheit wie Endgültigkeit der angeführten Lösung betont: „Die gefährlichen Spaltprodukte werden abgesondert und für alle Zeiten in sogenannten Endlagern deponiert“; „der radioaktive Abfall wird […] in sichere unterirdische Endlager gebracht.“ Ebd., S. 37 bzw. S. 33. 70 Ebd., S. 48. 71 „Da sich der technische Fortschritt […] immer mehr beschleunigt, ist es möglich, daß die Fusion schon im nächsten Jahrhundert bei der Energieerzeugung, aber auch für die Raumfahrt eine übergeordnete Rolle spielen wird.“ Ebd., S. 31. 72 Dies zeigt sich dementsprechend am Titelbild, das nunmehr neben Sonne und Blitz als natürliche Energieträger eine Windkraftanlage als Blickfang wählt. 73 Erich Übelacker, Energie (Was ist was, 3), Nürnberg 2003, S. 47.
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Abb. 2: Titelbilder der Jugendsachbuchreihe Was ist was, Band 3: (Atom-)Energie, Quelle: Was ist was Bd. 3: Atomenergie (1962, 1981), Energie (2003).
Der sämtliche Auflagen dieses Reihenbandes durchziehende technisierte Fortschrittsglaube blieb somit zwar als generelles Leitmotiv weithin unhinterfragt, erfuhr jedoch beträchtliche Modifikationen: Neben der Anpassung an die Bedürfnisse und Fragestellungen der Umweltbewegung, gemeinhin seiner ‚Ökologisierung‘, trat er nun, allein die Semantik betreffend, weitaus bescheidener auf. So standen Gezeitenkraftwerke und Geothermie lediglich noch dafür ein, „dass mithilfe neuer Erfindungen und technischer Neuerungen die Lichter in unserem Land auch in ferner Zukunft nicht ausgehen müssen.“⁷⁴ Die Rede von einer dank Fortschritt durch Technik garantiert glänzenden Zukunft wich der Rede von einer den Wohlstand und Komfort der Gegenwart nicht entbehren müssenden Zukunft. Ein zentrales Bestimmungsstück der klassischen Fortschrittserzählung – eine ihre Anwendung auf die rein technische Sphäre permanent überschreitende, sich mithin auch auf sozial-gesellschaftliche Bereiche beziehende Optimierungsund Überschreitungslogik – wurde in ein transformiertes, weitaus bescheideneres Fortschrittsparadigma aufgehoben. Mit dem Diktum von den ‚Grenzen des Wachstums‘ wurde in dieses letztendlich ein Element der konkurrierenden Transzendenzkonstruktion integriert.
74 Ebd., S. 41.
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4 Konkurrierende Transzendenzen „In Harrisburg schmolz nicht der Reaktorkern ab, wohl aber die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft, Wirtschaft und Technik.“⁷⁵
Die Wahrnehmung der Zeitgenossen der Beinahe-Katastrophe als einschneidendes Ereignis, als Wendepunkt, der Läuterung ermöglicht und Wege zum Besseren eröffnet, relativiert sich aus heutiger Sicht angesichts der Auswirkungen der Unfälle von Tschernobyl und Fukushima. Zwar hatten die untersuchten Vorfälle das Potential, den Glauben an den ‚technischen Fortschritt‘ vorübergehend auszuhöhlen, ihre Rezeption fußte hingegen auf längerfristigen Prozessen, auf einer allmählichen Erosion des Fortschrittsversprechens.⁷⁶ Auf Seiten der Energietechniker und Ingenieure zeigte sich indes eine gewisse Persistenz des technischen Fortschrittsoptimismus. Der Unfall in Windscale spielte in ihren Diskursen, wie auch in der massenmedialen und populärkulturellen Verarbeitung, kaum eine Rolle, während die lediglich zwölf Jahre zurückliegenden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki viel stärker nachwirkten. Durch ingenieursmäßige Trivialisierung der Vorgänge, beispielweise durch Mathematisierung des Risikos und Betonung der vermeintlich friedlichen Nutzung, ließ sich der Unfall von Windscale einigermaßen problemlos mit technischem Fortschrittsoptimismus und ökonomischen Wachstumswünschen synchronisieren. Nach dem Unfall von Three Mile Island gelang dies weit weniger gut. Der durch die Ölpreiskrise und die erstarkte Umweltbewegung beförderte Wandel gesellschaftlicher Zielvorstellungen war durch den Unfall so verstärkt worden, dass er auch von den größten Apologeten der Atomkraft nicht mehr völlig ignoriert werden konnte. Paradoxerweise ließen sich die Fachleute der Energiewirtschaft eher und umfassender auf die geänderten Rahmenbedingungen ein als die Standesvertreter der Ingenieure. Zwar konstatierten beide Seiten die Notwendigkeit eines politischen und gesellschaftlichen Konsenses für den Bau und Betrieb von Kernkraftwerken und damit auch die Möglichkeit, dass neue (oder auch bereits bestehende) Projekte scheiterten, jedoch spielte dies für die Ingenieure eine weitaus geringere Rolle als für die Energieunternehmen. Letztere mussten schließlich ihre bereits getätigten Investitionen retten sowie zukünftige Investitionspläne sicherstellen, was sie zur langfristigen Koordination finanzieller, juristischer, politischer und nun auch gesellschaftlicher Kräfte und damit schließlich zu leichten Modifikationen
75 Sommer 1979. 76 Dagegen plädiert Frank Bösch für eine stärkere Betonung des globalen Zäsurcharakters des Jahres 1979. Vgl. Bösch 2012.
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der Transzendenzbehauptung zwang. Vom ‚technischen Fortschritt‘ war fortan nur noch im Rahmen gewisser Grenzen und unter dem Zugeständnis gewisser Restrisiken die Rede. Die Transzendenzbehauptung eines technischen Fortschritts um jeden Preis blieb den Ingenieuren vorbehalten. Die Autorität ihrer Expertise wurde jedoch spätestens seit den 1970er Jahren ausgehöhlt, zumal es immer schwerer wurde zu entscheiden, wer als Experte zu gelten habe.⁷⁷ Diese „soziotechnischen Spaltungsprozesse“⁷⁸ führten schließlich dazu, dass der aus der Imaginationsphase der Kernkraft stammende gesamtgesellschaftliche Common Sense zerbrach und sich fortan technische Eliten und kritische Öffentlichkeit auf differierende Transzendenzkonstruktionen beriefen: Der technische Machbarkeitsglaube der Ingenieure und die Orientierung auf eine Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen standen sich zeitweise unversöhnlich gegenüber, ehe mit der Umwelttechnik ein erneuertes technisiertes Fortschrittsversprechen propagiert wurde. Spuren dieser Entwicklungen haben sich auch in der Populärkultur niedergeschlagen, obgleich mit erheblicher Verzögerung. Während The China Syndrome (1979; Regie: James Bridges) dem Unfall von Three Mile Island quasi zuvorkam,⁷⁹ tauchten Sellafield und Harrisburg erst 1992 neben Tschernobyl in der überarbeiteten Fassung des Kraftwerk-Songs „Radio-Aktivität“ als Metonyme für Reaktorunfälle auf und wurden mit der Forderung nach Ausstieg aus dieser Technologie verbunden. Andere Denker haben eine mögliche Tendenz der Katastrophe zur Verstetigung dagegen weit früher konstatiert: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.“⁸⁰
Literaturverzeichnis Arndt, Melanie (2010), Verunsicherung vor und nach der Katastrophe. Von der Anti-AKWBewegung zum Engagement für die „Tschernobyl-Kinder“, in: Zeithistorische Forschungen, 7, S. 240–258. Benjamin, Walter (1974) [1938/39], Zentralpark, in: Gesammelte Schriften. Bd. I: Abhandlungen, Teil 2, hg. v. Hermann Schweppenhäuser/Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M., S. 655–690.
77 Arndt 2010; Weisker 2003. 78 Gugerli 2004, S. 331. 79 Im Spiegel wurde die „Film-Ermordung eines ganzen Industriezweiges“ begrüßt. Strahlende Glut, in: Der Spiegel, Nr. 14 (1979), S. 204–207, hier S. 207. 80 Benjamin 1974, S. 683.
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Fraunholz, Fritsche, Woschech
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Spiegel-Titelbilder der 1970er Jahre, Quelle: Der Spiegel 30/1975, 47/1976, 1/1977, 47/1978, 13/1979, 15/1979. Abb. 2: Titelbilder der Jugendsachbuchreihe Was ist was, Band 3: (Atom-)Energie, Quelle: Was ist was Bd. 3: Atomenergie (1962, 1981), Energie (2003).
Paul Kaiser
Gemeinsinn-Suggestion und Status-Überschreitung Akteurskonzepte und Strukturwandel im Kunstsystem der Gegenwart
1 Kleine Berliner Phänomenologie: Kunstsystem im Umbruch Dieser Aufsatz widmet sich den aktuellen Umbruchprozessen im Kunstsystem der Gegenwart. Nachfolgend soll am Beispiel der ‚Kunststadt‘ Berlin skizziert werden, wie ein unabgeschlossener Wandlungsprozess – ausgelöst von Kapitalisierungsschüben, globalen Standardtransfers und dem Auftritt einer neuartigen (und sich teilweise mit Gemeinsinnversprechungen gesellschaftlich positionierenden) Sammlerschicht – die ‚alten‘ Einflussverbünde, Machtstrukturen und Geltungschancen im Kunstsystem durch neue zu ersetzen vermag. Ausschnitthaft wird dieser Struktur- und Wertewandel an einer beobachtbaren Neuformulierung ‚klassischer‘ Akteursrollen beleuchtet. Diese phänomenologische Lageerkundung bezieht im Folgenden an fünf Beispielen neben den ‚klassischen‘ Sozialfiguren und Sozialitäten im künstlerischen und kulturwirtschaftlichen Feld (Galerist, Sammler, Künstler und Kunstförderer) auch marktbestimmende Formen einer verdeckten institutionellen Clusterbildung mit ein. Der Galerist Johann König, Jahrgang 1982, aufgewachsen in einer der einflussreichsten Familien des westdeutschen Kunstbetriebs,¹ erwarb 2012 für einen ungenannt gebliebenen Kaufpreis vom katholischen Erzbistum die im Berliner Stadtteil Kreuzberg befindliche Kirche St. Agnes (Abb. 1). Erbaut wurde diese zwischen 1964 und 1967 nach einem Entwurf des Architekten Werner Düttmann, langjähriger Senatsbaudirektor Westberlins, Urheber wegweisender Berliner Bauten der Nachkriegsmoderne wie der Akademie der Künste am Hanseatenweg oder des Brücke-Museums in Dahlem. Das denkmalgeschützte Gotteshaus an der Alexandrinenstraße wurde im Zuge einer Gemeindefusion 2005 von der katholi-
1 Sein Vater, Kaspar König, leitete bis Mitte 2012 das Kölner Museum Ludwig, Onkel Walther König ist Inhaber des in Köln ansässigen Kunstbuchverlages und der Kunstbuchhandelskette „Walther König“ und sein älterer Bruder Leo König leitet eine global agierende Galerie in New York.
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Abb. 1: Kirche St. Agnes im Berliner Stadtteil Kreuzberg – in ihren Räumen soll im Frühjahr 2013 eine Galerie eröffnen.
schen Kirche aufgegeben, zwischenzeitlich von einer protestantischen Freikirche (City Kirche Berlin) angemietet, bis schließlich der Galerist die Kirche mitsamt Gemeindezentrum, Pfarrhaus und Kindertagesstätte erwerben konnte – mit der Auflage einer auf drei Millionen Euro geschätzten Sanierung und der kostenfreien Übergabe von Altar, Beichtstuhl und Glocke an das Erzbistum.² Im Frühjahr 2013 will Johann König den Sitz seiner kommerziellen Galerie in den Kreuzberger Betonskelettbau mit seinen 3.500 Quadratmetern Bruttogeschossfläche verlegen. In St. Agnes soll dann der „größte private Galerieraum“³ Berlins eröffnen, nach einem vom Architekten Arno Brandlhuber projektierten Umbau, der das Kirchenschiff horizontal teilt und über einem Lagergeschoss (Höhe: 4,5 m) einen hallenartigen Raum mit 36 Meter Länge, 13 Meter Breite und neun Meter Höhe vorsieht. In diesem will König, ungetauft und konfessionslos, nicht nur die skulpturalen Objekte und Installationen der von ihm vertretenen
2 Vgl. Nedo/Häntzschel 2012. 3 Maak 2012.
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Künstler (u.a. Tatiana Trouvé, Kris Martin, Tue Greenfort, Jeppe Hein) präsentieren. An diesem „Pathosort“,⁴ der im Rückgriff auf die einst hier gefeierten Gottesdienste auch am Sonntag öffnen soll, plant König eine Mischung aus Kunstzentrum, Cafe und Mieteinheiten für die Kreativwirtschaft. Aus der Sakristei, erfuhr die Berliner Zeitung beim Vorortbesuch, „soll das Galeriebüro werden. Und was wird aus dem Glockenturm? ‚Vielleicht das Büro eines Architekten, ganz extravagant‘, sagt der Galerist.“⁵
Abb. 2: Blick auf den 1942 erbauten Reichsbahnhochbunker Friedrichstraße in Berlin-Mitte – seit 2008 Wohnort (Dachpenthouse) und Schauort des Kunstsammlers und Werbeunternehmers Christian Boros.
Der Kunstsammler Christian Boros, Jahrgang 1964, in Zabrze (Polen) geboren und als Kind in die Bundesrepublik übergesiedelt, Studium des Kommunikationsdesigns bei Bazon Brock in Wuppertal, Unternehmer, Gründer der Boros Agentur für Kommunikation, erwarb 2003 für einen öffentlich nicht bekannt gewordenen Preis den ehemaligen „Reichsbahnhochbunker Friedrichstraße“ in Berlin und
4 Timm 2012, S. 63. 5 Ruthe 2012, S. 3.
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eröffnete diesen 2008 als Wohnhaus und Schauort für seine Kunstsammlung (Abb. 2), in der unter anderem Werke von Olafur Eliasson, Wolfgang Tillmanns, Tobias Rehberger und Daniel Pflum vertreten sind. Die 1942 vom Stadtbaumeister Karl Bonatz im Rahmen des von Albert Speer entworfenen „Führer-Sofortprogrammes“ erbaute Zitadelle an der Reinhardstraße in Berlin-Mitte, bot Bombenschutz für fast 2.000 Menschen und sollte in der NS-Welthauptstadt „Germania“ als kriegsfestes Monument dienen. In der DDR lagerte der VEB „Obst Gemüse Speisekartoffeln“ in dem 36 × 36 Meter großen und 16 Meter hohen Betonbau Trocken- und Südfrüchte aus dem sozialistischen Bruderland Kuba. Nach dem Fall der ‚Mauer‘ wurde der Bunker in den 1990er Jahren zum Domizil der Subkultur, wo Techno- und S/M-Parties, Fetischevents und Kunstausstellungen stattfanden, bevor 2001 die Nippon Development Corporation GmbH den Bau erwarb und später an den Werbeunternehmer Boros weiterverkaufte. Für den Umbau des Bunkers zum spektakulären Präsentationsort einer großen Kunstsammlung – vom Feuilleton abwechselnd auch als „Kunsthaus“, „Palazzo“ oder „Privatmuseum“ bezeichnet⁶ – mussten nach Planungen des Berliner Büros Realarchitekten meterdicke Betonwände durchbrochen werden. So entstanden aus 160 engen Kammern 80 Räume, die 3.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche mit Deckenhöhen zwischen 2,30 und 12 Metern bieten. Auf das Dach des ehemaligen Bunkers ließ sich der Kunstsammler – inspiriert vom legendären Barcelona-Pavillon, den Mies van der Rohe 1929 für den deutschen Beitrag zur Weltausstellung entwarf – ein Penthouse mit 500 Quadratmeter Wohnfläche und ebenso großer Dachterrasse setzen. Über ein intransparentes Voranmeldesystem auf der Homepage des Sammlers können limitierte Führungen an Wochenenden gebucht werden, ansonsten wolle, so Boros, er lieber den „richtigen hundert Leuten den Schlüssel geben.“⁷ Eine Verpflichtung zur prinzipiellen Öffnung seines Hauses sieht der Kunstsammler nicht: „Ich habe nicht die Zwänge eines Museums. Ich kann es öffnen, wann ich will. Und wenn ich verärgert bin, kann ich es zumachen.“⁸
6 Vgl. zu den definitorischen Varianzen u.a. Maak 2008, S. 37 und Liebs 2008, S. 15. 7 Diez 2008, S. 15. 8 Kuhn 2008, S. 29.
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Abb. 3: Blick auf das Atelierhaus von Olafur Eliasson auf dem Kulturareal Pfefferberg in Berlin-Prenzlauer Berg, Juli 2012.
Der Künstler Olafur Eliasson, Jahrgang 1967, geboren in Dänemark und weitgehend in Island aufgewachsen, Studium an der Kunstakademie in Kopenhagen, seit 1994 in Berlin arbeitend, betreibt seinen Ateliersitz in Berlin-Prenzlauer Berg mit Produktionsräumen, eigener Biokantine, Gießerei und Verpackungsabteilung. Dort beschäftigt er zwischen 35 und 50 Mitarbeiter,⁹ darunter Techniker, Architekten und Kunsthistoriker, die seine Konzeptideen für Werke, Ausstellungen und Projekte im öffentlichen Raum umsetzen (Abb. 3). Zudem ist der zum „globalen Starkünstler“ aufgestiegene Eliasson seit 2009 Professor an der hauptstädtischen Universität der Künste. Seine auf fünf Jahre befristete Lehrverpflichtung, mit einer Million Euro als „grenzüberschreitendes Exzellenzprojekt“ vom Berliner Wissenschaftssenator unterstützt,¹⁰ nimmt er im eigenen „Institut für Raumexperimente“ wahr, dass Eliasson in einem Nebengebäude seines Atelier-
9 Die öffentlich zitierten Angaben schwanken, die Zahl der zusätzlich beschäftigten freien Mitarbeiter dürfte noch höher liegen. 10 Vgl. Apin 2008, S. 27.
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hauses betreibt und an dessen Kursen maximal 15 Studenten der UdK teilnehmen können. Seinen künstlerischen Durchbruch erlebte Olafur Eliasson – von Kennern als „Mischung aus deutschem Ingenieur und amerikanischem Geschäftsmann“¹¹ charakterisiert – durch technologiegestützte Skulpturen aus Licht, Wasser und Eis sowie damit verbundene spektakuläre Aktionen im öffentlichen Raum. Insbesondere das Environment „The Weather Project“ in der Turbine Hall der Londoner Tate Modern sorgte für die Beschleunigung seines globalen Erfolgs, als er dort 2003, mithilfe von Leuchtkörpern, Großspiegeln und weiterer Technik, die Illusion einer glühenden Sonne im feinen Nebel schuf, welche mehr als zwei Millionen Besucher anzog. Im Auftrag des Modeluxuslabels Louis Vuitton illuminierte er dessen Weihnachtsschaufenster und in New York installierte er vier temporäre Wasserfälle. Kritik wegen seiner Nähe zu Wirtschaft und Kommerz sowie seiner elaborierten Stellung als profitorientierter Künstlerunternehmer wehrt Eliasson ab: „Wir sollten nicht länger dieses naive Klischee pflegen, dem zufolge Künstler Wesen von einem anderen Stern sind. Und es war auch nicht Gott persönlich, der die Kunst in die Museen gehängt hat.“¹² Die Kunstmesse Art Forum Berlin, 1996 gegründet als European art forum Berlin, 1997 umbenannt in art forum berlin, ausgerichtet von der Berliner Messe GmbH, avancierte in den 2000er Jahren zur führenden deutschen Kunstmesse. Beginnend mit 133 Galerien und 16.200 Besuchern im Eröffnungsjahr konzentrierte sich die Messe ausschließlich auf das aktuelle zeitgenössische Kunstschaffen, was, trotz spürbarer Rückgänge in den Krisenjahren 2003 und 2008, zu ihrem steten nationalen Bedeutungs- und Publikumswachstum (Besucherzahl 2010: 40.000) beitrug. Die Messe wurde 2011 nach Konflikten um eine Kooperation mit privatwirtschaftlichen Kunstmarktaktivitäten eingestellt. Nach vorherrschender Einschätzung verlor Berlin damit nicht nur ein kommerzielles Podium, sondern zugleich ein „Gravitätszentrum“ für die Künstler der Stadt, deren Zahl 2012 auf 12.000 geschätzt wird.¹³ Seit der Einstellung der Kunstmesse – und verbunden mit anderen für die Berliner Kunstszene negativ verlaufenden Entwicklungen¹⁴ – wird weithin sogar ein „Zerfall“¹⁵ des Kunststandortes befürchtet.
11 So Philipp Ursprung, Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich, über Eliasson, in: Badische Zeitung v. 28.6.2011, S. 11. 12 Knöfel/Kronsbein 2008. 13 Von den 12.000 in Berlin arbeitenden Künstlern werden zirka 6.000 Künstler von Galerien vertreten. 14 Beispielsweise dem Erstarken der erneut zum Branchenführer in Deutschland aufsteigenden Kunstmesse „art cologne“ (2012: 200 Galerien, 60.000 Besucher). 15 Vgl. Meixner 2012, S. 28.
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Abb. 4: Blick in die erstmals durchgeführte Kunstmesse art berlin contemporary, Berlin, 2008.
Als wesentliche Ursache des Scheiterns der Berliner Kunstmesse wird das ‚kartellartige‘ Operieren eines Verbundes renommierter, marktstarker und einflussreicher Galerien angeführt, wirtschaftlich gebündelt in der A–Z exhibition GbR. Zu diesem Unternehmen gehören im Kern als Gesellschafter sieben international agierende Berliner Galerien.¹⁶ Sie organisieren seit 2005 jeweils im Frühjahr das Berliner Gallery Weekend¹⁷ und führen seit 2008 jeweils im Herbst – zunächst als zeitlich vorgezogene Gegen-, später als zeitgleich zur Messe durchgeführte Nebenausstellung – die kuratierte, monothematisch ausgerichtete Verkaufsausstellung abc – art berlin contemporary durch (Abb. 4). Im Gegensatz zur öffentlich kontrollierten und trotz Juryauswahl prinzipiell für alle Marktteilnehmer offen
16 Gesellschafter waren/sind: Alexander Schröder, Esther Schipper, Martin Klosterfelde, Tim Neuger, Max Hetzler, Giti Nourbakhsch, Claes Nordenhake. Vgl. dazu auch Preuss 2008, S. 27. 17 Gleichzeitige Ausstellungseröffnung der zirka 40 ‚wichtigsten‘ (von der A-Z Art exhibition GbR ausgewählten) Galerien, die im Paket beworben und vermarktet wird, mit intiierendem Modellcharakter auch für andere Städte (Rheinland, Wien, New York).
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stehenden Kunstmesse¹⁸ werden durch den Galerienverbund die kommerziellen Partizipationschancen reguliert sowie die Auswahl- und Zulassungsprozesse privatisiert. Das Unternehmen BMW Group AG betreibt in Zusammenarbeit mit der Solomon R. Guggenheim Foundation und dem Guggenheim Museum in New York zwischen 2011 und 2016 das BMW Guggenheim Lab (Abb. 5). Dabei handelt es sich um einen temporären Diskursraum in Form einer 30 Meter langen Leichtbauhalle, der, in neun Metropolen, unter anderem in New York, Berlin und Mumbai, öffentliche Debatten über „green economy“, Urbanität und die Auswirkungen der Globalisierung auf das großstädtische Zusammenleben initiieren und beherbergen soll. Der jeweilige Standort des ‚mobilen Laboratoriums‘ folgt dabei den aktuellen Problemlagen der Großstädte. Bei der Premiere 2011 in New York errichtete man das Lab auf einer Freifläche eines abgerissenen Mietshauses an der Grenze zwischen Lower East Side und East Village. Die zweite Station sollte im Sommer 2012 auf einer Brachfläche im Berliner Stadtbezirk Kreuzberg stattfinden. Gegen dieses Engagement erwuchs Widerstand in Gestalt einer mit Sachbeschädigung und Farbbeutelwürfen drohenden Initiative „BMW Lab Verhindern“, der zu einer Verlegung des Projektes aus Kreuzberg in den Prenzlauer Berg führte,¹⁹ wo das Lab im ehemaligen Fabrikgelände Pfefferberg stationiert wurde.²⁰ Die zeitgenössische Kunst im Allgemeinen und der Standort Berlin im Besonderen sind aktuelle herausgehobene Aktivitätsfelder der Kunstförderung durch die BMW Group AG. Die Unterstützung des BMW Guggenheim Lab wird dabei etwa ergänzt durch die Förderung des Preises der Berliner Nationalgalerie, der Einrichtung der Galerie Ludlow 38²¹ in New York sowie eines nur per Internet zugänglichen Performance Rooms in Partnerschaft mit der Tate Modern in London. Zudem unterstützt der Konzern die weltweit erste Online-Plattform für Sammler zeitgenössischer Kunst²² und die hauptstädtischen Großereignisse Berlin Biennale und Berliner Gallery Weekend. Mit diesem Fokus nimmt der Konzern Abschied von der traditionalen Kunstförderung, die in den 1970er Jahren mit der Beauftragung von Gerhard Richter für Werke in der Münchner Konzernzentrale begann und die spätestens 2008 mit dem Ausstieg als Großsponsor der weltweit größten Kunstmesse Art Basel ihr Ende fand.²³ Anstatt auf mittelfristig durchgeführte, klassi-
18 Die veranstaltende Messe GmbH gehört zu 99,7 Prozent dem Land Berlin. 19 von Törne/Buntrock 2012. 20 Zeitraum: 15.6. bis 29.7.2012. 21 Vgl. dazu Kaiser 2008a, S. 60–61. 22 Vgl. www.indepedent-collectors.com. 23 Zum Ende der klassischen Sponsorentätigkeit vgl. Kaiser 2008b, S. 17.
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Abb. 5: Das BMW Guggenheim Lab auf dem Kulturareal Pfefferberg in Berlin-Prenzlauer Berg, Juli 2012.
sche Förderungsprogramme setzt BMW heute auf eher kurzfristig ausgelegte Initiativen. Im Vordergrund steht dabei die „Generierung eigener Formate“²⁴ im Kunstsystem durch weitgehend selbst austarierte exklusive Kooperationsmodelle mit Künstlern, Museen und anderen Marktteilnehmern.
2 Demonstrativer Kunstkonsum: Gemeinsinnversprechen und Transzendenzressource Die in exemplarischer Perspektive am Kunststandort Berlin aufgezeigten Positionalitäten zentraler Akteure und Akteursgruppen signalisieren einen radikalen strukturellen Umbruch des Kunstsystems, der freilich nicht von Deutschland ausgeht, sondern auf einer enormen Kapitalisierung des globalen Kunstsystems
24 Thomas Girst, Sprecher Kulturkommunikation, BMW Group AG, im Interview mit Dr. Paul Kaiser, New York, 31.3.2010.
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beruht, die das hiesige System mitsamt seinen kulturellen Verbindlichkeiten entscheidend berührt. Mit Blick auf die ökonomischen Basisprozesse sind es vor allem die (zunehmend auch aus Asien, Lateinamerika oder Osteuropa stammenden) ‚Gobalisierungsgewinner‘, welche in den 2000er Jahren für einen bislang ungekannten Liquiditätstransfer im Kunstmarkt verantwortlich gemacht werden können und die sich habituell vor allem in Trophäenjägerposen auf medial inszenierten Großauktionen verkörperten.²⁵ Hinzu tritt in den westlichen Demokratien mit der gesellschaftlichen Ankunft einer historisch einzigartigen Erbengeneration ein diese Effekte steigerndes Komplementärphänomen: Allein in Deutschland soll das Erbaufkommen in den nächsten Jahren auf bis zu 2,5 Billionen Euro steigen und in den USA wird der Anstieg des Generationentransfers bis 2052 auf 136 Billionen US-Dollar prognostiziert. Der Attraktionsaufwertung bildender Kunst als Investitionsgut und -sphäre wurde auch durch die globale Finanzkrise der Jahre 2008ff. kein Ende gesetzt. Vielmehr erwiesen sich die früher als labil angesehenen ‚Kunstwerte‘ gerade in den Turbulenzen und anhaltenden Entwertungsprozessen bemerkenswert wertbeständig, was deutlich macht, dass es sich wohl um kein zyklisch bedingtes Szenario handelt, wie noch vor einigen Jahren mit Hinweis auf vergangene Kunstmarktkrisen argumentiert werden konnte.²⁶ Diese Ökonomisierung des Kunstsystems zeigt sich mit einer gesellschaftlichen Aufwertung der bildenden Künste verkoppelt. Kunst wird heute mittlerweile als Kernmarke der Popkultur begriffen, die erfolgreicher als die Krisenmärkte von Popmusik und Film erscheint. Samuel Keller, langjähriger Leiter der beiden einflussreichsten Kunstmessen der Welt, der Art Basel und der Art Basel Miami Beach, heute Museumsdirektor der Fondation Beyeler, sah die bildenden Künste bereits Mitte der 2000er Jahre zur „neuen Leitkultur“ des digitalen Kapitalismus aufsteigen.²⁷ Auch wenn neben neuen Formen weiterhin traditionale Handlungsmuster und Personalstile in diesem kulturellen Feld ausgemacht werden können, so kann doch festgehalten werden, dass diese ihre leitbildnerische Funktion in den Diskursen und Handlungsräumen weitgehend verloren haben, deutlich werdend etwa am allerorts beklagten Rückgang ‚echten‘, das heißt weitgehend unsichtbar und ohne Gegenleistung erfolgenden mäzenatischen Engagements. Offensichtlich erscheint hingegen die institutionelle Clusterbildung der Protagonisten, die, mit Blick auf die eingangs skizzierte Berliner Personage, sich etwa daran zeigt, dass Kunstsammler Christian Boros in seinem ‚Kunstbunker‘ dem
25 Kaiser 2010, S. 34–41. 26 Kaiser 2008c, S. 140–146. 27 Kaiser 2007, S. 31.
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Kunststar Olafur Eliasson neun Räume widmet und die BMW Group AG den Berliner Künstler nicht nur mit der Gestaltung eines Art Car beauftragt, sondern ihr aus Kreuzberg umziehen müssendes BMW Guggenheim Lab gleich in örtlicher Nähe zu seinem Atelier im hippen Berliner Pfefferberg-Areal stationiert. Damit verbunden ist die aktuelle Neuformulierung der im künstlerischen und kulturwirtschaftlichen Feld agierenden Sozialfiguren. Weitgehend verdeckt von kulturpolitischer ‚Kritik‘ oder öffentlicher Reflexion – der ‚klassische‘ Typus des in kritischer Distanz unabhängig kommentierenden Feuilletonisten ist vielmehr selbst Bestandteil eines sich dynamisch verändernden Kräftefeldes – vollzieht sich eine bislang unabgeschlossene wirtschaftliche und gesellschaftliche Vernetzung, die alte Standards, Einflussverbünde und Machtstrukturen durch neue zu ersetzen vermag. Die eingangs beschriebene Allianzbildung einer als Kleinkartell operierenden Berliner Galeristengruppe, die immerhin in der Lage ist, eine wichtige deutsche Kunstmesse, veranstaltet von einer Messegesellschaft in öffentlicher Hand, als Konkurrenzmacht auszuschalten, mag als Beispiel ‚deutscher Größe‘ taugen. Paradigmatisch kommt der Umbruch im Kunstsystem aber in einer Kontrolle ganzer Wertschöpfungsketten zum Ausdruck, wie sie großkapitalistische Unternehmer und Kunstinvestoren wie Francois Pinault, Besitzer der Sportmarke Puma und diverser Luxuslabels, mit Erfolg anstreben – neben der kulturellen Inszenierung als aktivstem Sammler des globalen Kunstbetriebs, der, etwa in Venedig, gleich mehrere Sammlermuseen betreibt, erwarb der Unternehmer das umsatzstärkste Auktionshaus Christie’s sowie die Galerie Haunch of Venison und kann damit Künstlerkarrieren und Wertentwicklungen maßgeblich und gleichzeitig beeinflussen. Pinault kann als Phänotyp eines Sammlersystems gelten, das „die herrschenden Institutionen – internationale Museen, Galerien, Kuratoren/Kuratorinnen und Direktoren/Direktorinnen – nicht nur herausfordert und zur Machtprobe bittet, sondern [diese; d. Verf.] in erstaunlich kurzer Zeit weitestgehend aufgekauft und einverleibt hat.“²⁸ An keinem Platz der Welt kann man den neuen Klammergriff zwischen Kunst und Kapital – oder wie Isabelle Graw formuliert: einer „Kunst zwischen Markt und Celebrity Kultur“²⁹ – besser studieren als bei den herausgehobenen Kunstmessen in Basel, Miami Beach, London und jüngst auch in Dubai (Abb. 6) und Hongkong, die zu Präsentationszonen eines neuen Selbstverständnisses im Umgang mit Kunst werden. Kunst erscheint in diesem Kontext als Homogenisierungsmedium einer Darstellungspolitik, die bislang ‚neureiche‘ Kulturallüren klar von den
28 Maak 2011, S. 43. 29 Graw 2008.
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ausdifferenzierten ‚feinen‘ Regeln eines öffentlich weitgehend versteckten Wohlstands zu trennen vermochte. Auf diesen Schauplätzen des Kunstbetriebs, durch Pre-Pre-Views und Exklusivevents vom ‚normalen‘ Kunstmessenbesucher klar abgetrennt, zeigt sich, dass die jungen Geldeliten ihren demonstrativen Kunstkonsum zum Statussymbol erheben und in diesem Sinne auch die europäische Sammlerszene habituell „längst amerikanisiert“³⁰ agiert.
Abb. 6: Art Dubai 2010.
Der zelebrierte demonstrative Kunstkonsum bleibt dabei keinesfalls auf die Welt der (Super-)Reichen beschränkt. Er wirkt sich ebenso auf die aufstiegsorientierten, potentiell wohlhabenden Gruppen und Milieus der neuen Erbengeneration aus, die Kunst nicht nur als Investitionsgut begreifen. Mit dem Eintritt in eine gesellschaftlich konturierte ‚Community‘, die sich, von Modegazetten, Boulevardmedien und durch Kunstmagazine narzisstisch gespiegelt, mit offen zur Schau gestelltem Kunstbesitz von anderen Schichten abzusetzen glauben, ver-
30 Schwerfel 2012, S. 20.
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spricht sich, wie das der Popkulturtheoretiker Ulf Poschardt aus nächster Nähe benennt, das „metaphysisch obdachlos gewordene Bürgertum“³¹ eine neue Sinnordnung und versteht den durch Reichtum lizenzierten Zugang zum exklusiven Besitz von Kunst gleichsam als lebensweltliche Transzendenzressource, die in anderen Geschäftsfeldern kaum mehr vorhanden und ausbeutbar scheint. Auffallend ist, dass diese Akteursprogramme, vor allem in Deutschland, oft mit Gemeinsinnversprechen verbunden werden, die sich in vielerlei Varianten zwar als Suggestionsleistungen dechiffrieren lassen, jedoch dabei auch ernster zu nehmende Wertkonfigurationen vermitteln. Das Beharren auf einer Gemeinsinnskomponente inmitten eines ansonsten von gesellschaftlicher Normalität vollends entkoppelten Lebensentwurfes kann in gewisser Weise als Balancierungsversuch zwischen traditionalen und modernen Standards im Umgang mit Kunstbesitz interpretiert werden. Die eingangs präsentierten empirischen Befunde können diesbezüglich Stichwortgeber sein, wenn man bedenkt, dass sich der Kunstsammler Christian Boros in den deutschen Feuilletons unbeachtet seiner egozentrierten Sammlungspolitik mit Erfolg als ‚Wohltäter‘ zu inszenieren vermag, der, angesichts der gravierenden Finanznöte öffentlicher Museen die vor allem in Berlin entstandenen Kunstwerke zu ‚sichern‘ wenn nicht gar zu ‚retten‘ versteht. Jene bizarre Umdeutung von Eigeninteressen zu Gemeinsinnprojekten setzt sich fort in der vermeintlichen ‚Erfolgsstory‘ des eingangs angesprochenen und in der A–Z exhibition GbR wirtschaftlich manifest gewordenen Galeristenverbundes. Trotz seiner profit- und machtzentrierten Expansionspolitik kann diese Gruppe in Berlin als Musterkollektiv einer ‚Internationalisierung‘ gelten, die in der Gestaltungsohnmacht städtischer Kulturpolitik als probates Allheilmittel empfohlen wird. Und sie findet in der Strategie des Künstlers Olafur Eliasson ihren Ausdruck, der sich, in Verkehrung seiner Nähe zu Luxusmarken und Privatsammlern, durchaus als ernsthafter Kritiker an der Arbeitsweise öffentlicher Museen in Berlin empfiehlt, wenn er diese als „zu elitär“ kritisiert oder sie gar dazu aufruft, sich „von den Erwartungen der politischen Geldgeber zu befreien.“³² Niklas Maak hat bereits früh in diesen Volten die Ambivalenzen einer „neuen Form von Hofkunst“ erkannt. Künstler wie Eliasson böten ihren Auftraggebern, zumeist Großkonzernen, die Chance, kulturkritische Reflexionskraft ins eigene Markenimage zu inte-
31 Poschardt 2008, S. 73. 32 Agenturmeldung/ddp: Olafur Eliasson kritisiert Vermarktung von Kunst, in: Rheinische Post v. 15.4.2010.
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grieren, auch wenn dabei, so Maak, „die inflationäre Behauptung des Kritischen“ zu einer generellen „Neutralisierung“ des Kritischen führt.³³ Der angesprochene Auftritt einer gesellschaftlich bislang weitgehend ‚unsichtbaren‘ aber wohlhabenden Generation, die sich mit demonstrativem Kunstkonsum kulturelle Geltung erhofft, ist in Deutschland mit dem Phänomen einer „neuen Bürgerlichkeit“³⁴ verkoppelt. Wie in den bildungsbürgerlichen Kernzeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erscheint die bildende Kunst, vor allem die Malerei, als wiedererwecktes Moment der ästhetischen (Selbst-) Erhöhung und als ein zentrales Medium der Distinktion. Damit verbunden sind die Wiedererweckung von Benimmregeln und ‚guten Manieren‘ sowie tastende Anknüpfungsversuche an eine längst versunken geglaubte Salonkultur.³⁵ Schon die Dauer der Debatte, die sich, trotz vorschneller Verabschiedungen, bis heute fortsetzt und in verschiedene institutionelle Felder multipliziert, verweist auf eine Homologie zwischen diskursiver Deutungsvielfalt und kultureller Heterogenität neubürgerlicher Formen. Zwar fehlt, wie Heinz Bude mit Recht einwendet, in der auseinanderstrebenden Diskussion um den Sinn einer nachholenden Verbürgerlichung die „bindende Klammer und der begreifbare Zusammenhang.“³⁶ Andererseits ist nicht zu leugnen, dass sich in der Gegenwartsgesellschaft die Optionschancen einer alten, neuen oder gänzlich andersartig verfassten Bürgerlichkeit gegenüber der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in erheblichem Maße vergrößert haben.
3 Privat vs. öffentlich: Antizipation eines Konflikts Die hier nur kursorisch belegte Auflösung traditionaler Sammlungs-, Präsentations- und kultureller Bindungsformen geht einher mit einer durch Unterfinanzierung und Personalnot verursachten Krisenzuspitzung innerhalb der öffentlichen Kunstinstitutionen.³⁷ Einer anfänglich überhitzten Euphorie gegenüber den neuen Entwicklungen im Kunstsystem der Gegenwart ist bis heute keine
33 Maak 2006, S. 35. 34 Vgl. Kaiser 2008d, S. 1–7 und grundlegend Nolte 2005 u. 2009. 35 Am Beispiel Dresdens vgl. Kaiser 2009, S. 75–83. 36 So Heinz Bude in seinem Vortrag „Einübung in Bürgerlichkeit“ auf der vom Verfasser gemeinsam mit Karl-Siegbert Rehberg organisierten Tagung „Bürgerlichkeit ohne Bürgertum“ am 9.6.2007 auf Schloss Neuhardenberg; vgl. auch Bude/Fischer/Kauffmann 2010. 37 Vgl. umfassend dazu Rehberg 2012.
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Abb. 7: Ansicht des privaten Sammlerhauses „me!“ in der Berliner Auguststraße, Ausstellung „Art & Toys – Collection Selim Varol (26.5.–16.9.2012), Juli 2012.
grundlegende kulturpolitische Debatte über die Auswirkungen des Strukturwandels gefolgt. Dabei zeigt sich bereits jetzt überaus deutlich, dass es vor allem die öffentlichen Kunsteinrichtungen sind, die von den Veränderungen am stärksten betroffen sind und nunmehr in Gefahr stehen, sich von ihrer Funktion als Leitinstitutionen zu verabschieden, auch wenn museale Nobilitierung nach wie vor als Ziel vieler Sammlungskarrieren erscheint. Vor allem in Berlin ist ein forciert vollzogener Bau privater Kunstmuseen mit jederzeit selektierbaren Zugangsmodi zu verzeichnen. Diese mit einer geradezu „exzessiven Sichtbarkeit“³⁸ der Privatmuseen im öffentlichen Raum verbundene Entwicklung stellt das kulturelle Grundverständnis des gesellschaftlichen Kunstbegriffs in Deutschland nachhaltig in Frage. Die sich vor allem in Berlin ansiedelnden (und von der Lokalpolitik hofierten) Eigentümer der privaten show rooms und Privatmuseen markieren neben einem bislang unabgeschlossenen Strukturwandel im Kunstsystem auch die offene Abkehr der Sammler von den austarierten Modellen einer public private partnership. Neben dem Bunker von Christian Boros können als spektakuläre Zugänge
38 Maak 2011, S. 39
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in den letzten Jahren das Privatmuseum „me“ des Sammlers Thomas Olbricht (Abb. 7), ehemals Vorsitzender des Aufsichtsrates der Wella AG, in der Auguststraße oder das vom Stararchitekten David Chipperfield, vis-a-vis zum Neuen Museum erbaute Domizil des Sammlerpaares Céline und Heiner Bastian angeführt werden. Als Heiner Bastian sein Haus einer limitierten Zahl von Journalisten vorstellte, bestand er auf einer hierzulande lange verpönten Besitzanzeige: „Privat gebaut, privat finanziert, privat geführt.“³⁹ Noch ist nicht zu sagen, ob die hier fast trotzig zu vernehmende Ansage zur Rückführung des Kunstkonsums aus öffentlich kontrollierten Schauorten in die nicht mehr allen zugänglichen ‚Privatmuseen‘ auch eine Abkehr von der Gemeinsinnrhetorik der neuen Eliten nach sich zieht. Als „Zünglein an der Waage erweist sich dabei die Steuerungskraft der Kulturpolitik. Paradoxerweise verstärkte sie unter den Zwängen öffentlicher Haushaltsdefizite durch die Hofierung der ‚neuen Medici‘ gerade jene, nun offen zutage tretenden Einschränkungen demokratisch kontrollierbarer Gestaltungschancen, gegen die sie nun selbst einschreiten muss.“⁴⁰
Literaturverzeichnis Apin, Nina (2008), Der Sonnenprofessor. Olafur Eliasson wird Professor an der Universität der Künste, in: Die tageszeitung v. 11.10.2008. Bude, Heinz/Fischer, Joachim/Kauffmann, Bernd (Hg.) (2010), Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir?, München. Diez, Georg (2008), Jeder baut sich sein Museum. Christian Boros hat in Berlin aus einem Bunker ein Kunsthaus gemacht und beweist damit: Sammler verwandeln die deutsche Kultur, in: Die Zeit, Nr. 15, S. 15. Graw, Isabelle (2008), Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Kultur, Köln. Kaiser, Paul (2007), „Gegenwartskunst ist Leitmedium“. Samuel Keller, der mächtige Chef der Art Basel, verlässt die Bühne [Interview mit Samuel Keller], in: Die Welt, 09.06.2007. Kaiser, Paul (2008a), Goethe in downtown. Der Art-Space Ludlow 38, eine Kooperation zwischen Goethe-Institut und MINI, in: MINIInternational, 28 [Kopenhagen], S. 60–61. Kaiser, Paul (2008b), Suche nach Glaubwürdigkeit. Die BMW Group ist nicht mehr Hauptsponsor der Art Basel und der Art Basel Miami Beach. Interview mit Thomas Girst, Sprecher Kulturkommunikation der BMW Group, in: Artinvestor, 2, S. 17. Kaiser, Paul (2008c), Bunkern und shoppen. Trotz globaler Finanzkrise zeigt sich der Kunstmarkt stabil [Kunstmarkt-Report], in: Capital, 9, S. 140–146.
39 Kaiser 2008, S. 145. 40 Kaiser 2010, S. 41.
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Kaiser, Paul (2008d), Bürgerlichkeit ohne Bürgertum?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 10–11, S. 1–7. Kaiser, Paul (2009), „Neue Bürgerlichkeit“ und demonstrativer Kunstkonsum, in: Dresdner Hefte. Beiträge zur Kulturgeschichte, 100, S. 75–83. Kaiser, Paul (2010), Kunstkonsum und Statussehnsucht. Die bildenden Künste als Aufstiegssymbol einer globalisierten Geldelite, in: Macht zeigen. Kunst als Herrschaftsstrategie [Kat. der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin v. 19.2.–13.6.2010], hg. v. Wolfgang Ullrich, Berlin, Deutsches Historisches Museum, S. 34–41. Kuhn, Nicola (2008), Mit der Kunst durch die Wand. Die wunderbare Wandlung eines Berliner Weltkriegbunkers zum Privatmuseum [Gespräch mit Christian Boros], in: Der Tagesspiegel v. 24.4.2008, S. 29. Knöfel, Ulrike/Kronsbein, Joachim (2008), [Spiegel-Gespräch] „Die Museen sind zu elitär.“ Der dänische Starkünstler Olafur Eliasson über die Hassliebe zu seiner Wahlheimat Berlin, sein gigantisches Wasserfall-Spektakel auf dem East River in New York, das Millionen anlocken soll, und über die Gefahren des Erfolgs, in: Der Spiegel, 17, S. 182–186. Liebs, Holger (2008), Mit dem Klotz durch die Wand, in: Süddeutsche Zeitung v. 19./20.04.2008. Maak, Niklas (2006), Loopings auf dem Parkplatz des Vorstands. Eine neue Form von Hofkunst: Olafur Eliasson gestaltet ein BMW „Art Car“, Vanessa Beecroft dekoriert Louis-Vuitton-Koffer mit nackten Frauen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11.03.2006. Maak, Niklas (2008), Der Kunstbunker von Berlin, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19.04.2008. Maak, Niklas (2011), Zwischen Pinault und Pinchuk. Netzwerk und Rituale eines neuen transnationalen Sammlersystems, in: Texte zur Kunst, 83, S. 38–55. Maak, Niklas (2012), Der Glaube an die Kunst, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.04.2012. Meixner, Christiane (2012), Rot sehen. Die Weichen für eine Messe müssen jetzt gestellt werden. Sonst hat Berlin als Kunststandort verspielt, in: Der Tagesspiegel v. 03.03.2012. Nolte, Paul (2005), Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, München. Nolte, Paul (2009), Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat? Berlin. Nedo, Kito/Häntzschel, Jörg (2012), Kult und Kirche, in: Süddeutsche Zeitung v. 25.02.2012. Poschardt, Ulf (2008), Die universelle Boutique. Wie guter Geschmack die Kunstwelt ruiniert – und warum das okay so ist. Thesen zum neuen Style-Bürgertum, in: Monopol, 5, S. 70–74. Preuss, Sebastian (2008), Gemeinsam schwach. Terminverlegung, Personalintrigen, Konkurrenz aus der eigenen Stadt: Das Art Forum in der Krise, in: Berliner Zeitung v. 26./27.04.2008. Rehberg, Karl-Siegbert (2012), Hort der Materialität in einer virtualisierten Welt. Überlegungen zu Chancen und Miseren einer kulturellen Erfolgsinstitution, in: Museen zwischen Qualität und Relevanz. Denkschrift zur Lage der Museen, hg. v. Bernhard Graf/Volker Rodekamp, Berlin, S. 17–32. Ruthe, Ingeborg (2012), Johann, der Käufer, in: Berliner Zeitung v. 24.03.2012, S. 3 (Magazin). Schwerfel, Heinz Peter (2012), Kunst als Kapital. Wie eine neue Generation privater Großsammler die Kunstszene aufkauft, in: Lettre International, 1, S. 15–20. Timm, Tobias (2012), Ein feste Burg für die Kunst, in: Die Zeit, 8, S. 63. Törne, Lars von/Buntrock, Tanja (2012), Guggenheim-Gegner drohen mit Gewalt, in: Der Tagesspiegel v. 26.03.2012.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Kirche St. Agnes im Berliner Stadtteil Kreuzberg – in ihren Räumen soll im Frühjahr 2013 eine Galerie eröffnen, Foto: Andreas Kämper Abb. 2: Blick auf den 1942 erbauten Reichsbahnhochbunker Friedrichstraße in Berlin-Mitte – seit 2008 Wohnort (Dachpenthouse) und Schauort des Kunstsammlers und Werbeunternehmers Christian Boros, Foto: Andreas Kämper Abb. 3: Blick auf das Atelierhaus von Olafur Eliasson auf dem Kulturareal Pfefferberg in BerlinPrenzlauer Berg, Juli 2012, Foto: Andreas Kämper Abb. 4: Blick in die erstmals durchgeführte Kunstmesse art berlin contemporary, Berlin, 2008, Foto: Paul Kaiser Abb. 5: Das BMW Guggenheim Lab auf dem Kulturareal Pfefferberg in Berlin-Prenzlauer Berg, Juli 2012, Foto: Andreas Kämper Abb. 6: Art Dubai 2010, Foto: Paul Kaiser Abb. 7: Ansicht des privaten Sammlerhauses „me!“ in der Berliner Auguststraße, Ausstellung „Art & Toys – Collection Selim Varol (26.5.–16.9.2012), Juli 2012, Foto: Andreas Kämper
Über die Autorinnen und Autoren Buskirk, Jessica, Ph.D., Kunsthistorikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Das subversive Bild. Religiöse und profane Deutungsmuster in der Kunst der Frühen Neuzeit“; Forschungsschwerpunkte: Altniederländische Malerei, Kunst der Reformationszeit, Porträtmalerei; Publikationen: „Man tragt nit schwer an guter kunst“. Das Goldene Zeitalter der Kunst und des Patriotismus’ im Nürnberg des 16. Jahrhunderts, in: Die gottlosen Maler von Nürnberg. Konvention und Subversion in der Druckgraphik der Beham-Brüder, hg. v. Jürgen Müller/ Thomas Schauerte, Berlin 2011, S. 56–63; Portraiture and Indo-Arabic Arithmetic in Sixteenth-Century Bavaria. Deciphering Barthel Beham’s Rechner, in: Renaissance Quarterly, 2013 (i.E.). Dornheim, Stefan, Dr. phil., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Gemeinsinnsdiskurse und religiöse Prägung zwischen Spätaufklärung und Vormärz“; Forschungsschwerpunkte: Fest- und Erinnerungskultur sowie Konfessions- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, das lutherische Pfarrhaus, Geschichte der Landschaftswahrnehmung; Publikationen: Der Pfarrer als Arbeiter am Gedächtnis. Lutherische Erinnerungskultur in der Frühen Neuzeit zwischen Religion und sozialer Kohäsion (i.V.); Stabilität durch Tradition? Der lutherische Pfarrstand in Sachsen zwischen Einheit und Differenz, in: Konfession im Konflikt. Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, hg. v. Ulrich Rosseaux/Gerhard Poppe, Münster 2012, S. 107–126. Dreischer, Stephan, Dr. phil., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Transzendenz und Gemeinsinn als Ressourcen politischer Ordnungskonstruktion“; Forschungsschwerpunkte: europäische Integration, Institutionen- und Parlamentarismusforschung; Publikationen: Ressourcen europäischer Ordnungskonstruktion. Die Gründungsphase der europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in: Die Machbarkeit politischer Ordnung. Transzendenz und Konstruktion, hg. v. Werner J. Patzelt, Bielefeld 2013, S. 311– 357; Parlamente und ihre Zeit. Zeitstrukturen als Machtpotentiale, hg. gem. mit Werner J. Patzelt, Baden-Baden 2009. Fraunholz, Uwe, Dr. phil., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Das Fortschrittsversprechen von Technik und die Altruismusbehauptung der Ingenieure in der technokratischen Hochmoderne (ca. 1880–1970)“; Forschungsschwerpunkte: Technik, Wirtschaft und Gesellschaft seit der beginnenden Industrialisierung im 18. Jahrhundert, technische Katastrophen, Ersatzstoffe; Publikationen: Motorphobia. Anti-automobiler Protest in Kaiserreich und
Über die Autorinnen und Autoren
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Weimarer Republik, Göttingen 2002; Technology Fiction. Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne, hg. gem. mit Anke Woschech, Bielefeld 2012. Fritsche, Detlev, Dipl.-Ing., M.A., Technikhistoriker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Das Fortschrittsversprechen von Technik und die Altruismusbehauptung der Ingenieure in der technokratischen Hochmoderne (ca. 1880–1970)“; Forschungsschwerpunkte: Ingenieure und Elektrifizierung. Gollan, Rut-Maria, Dipl.-Ing. der Architektur, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Das Planbare und das Unverfügbare. Modelle von Transzendenz und Gemeinsinn in Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts“; Forschungsschwerpunkte: Aneignung und Symbolik politischer Repräsentationsarchitektur und von Sakralbauten des 20. Jahrhunderts; Publikationen: Agora und Void. Die Funktion der Mitte in Architektur und Städtebau, hg. gem. mit H.-G. Lippert/ A. Köth, Dresden 2012; Kirchenbauten in der Gegenwart. Architektur zwischen Sakralität und sozialer Wirklichkeit, hg. gem. mit Angelika Nollert et al., Regensburg 2011. Heer, Sebastian, Dr. des., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Transzendenz und Gemeinsinn als Ressourcen politischer Ordnungskonstruktion“; Forschungsschwerpunkte: historisch-vergleichende Parlamentarismusforschung sowie institutionelle Steuerungs- und Lernprozesse; Publikationen: Die Evolution des Deutschen Bundestages. Stabilität als verfassungshistorische Verpflichtung, in: Parlamente und ihre Evolution. Forschungskontext und Fallstudien, hg. v. Werner J. Patzelt, Baden-Baden 2012, S. 111–159; Politischer Mythos, Legitimität und Ordnungskonstruktion, in: Die Machbarkeit politischer Ordnung. Transzendenz und Konstruktion, hg. v. Werner J. Patzelt, Bielefeld 2013, S. 99–126. Hering, Kai, M.A., Mittelalterhistoriker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Dynastie, Idoneität und Transzendenz. Vergleichende Untersuchungen zum hohen und späten Mittelalter“; Forschungsschwerpunkte: Historiographiegeschichte der Stauferzeit, genealogische Konstruktionen und Herrschaftslegitimation; Publikationen: Genealogie und Idoneität bei den frühen Staufern, in: Idoneität – Genealogie – Legitimation. Begründung und Akzeptanz von dynastischer Herrschaft im hohen und späten Mittelalter, hg. v. Cristina Andenna u. Gert Melville, Köln 2013 (i.V.). Herold, Maik, M.A., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Demokratische Ordnung zwischen Transzendenz und Gemeinsinn“;
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Über die Autorinnen und Autoren
Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Politik und Religion, Verfassungstheorie und Verfassungsgeschichte. Herrmann, Dietrich, Dr. phil., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Koordinator des SFB 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“. Forschungsschwerpunkte: Verfassungsgerichtsbarkeit, Ideengeschichte der Amerikanischen Revolution, Einwandererintegration; Publikationen: Politikwissenschaftliche Forschung zum Bundesverfassungsgericht, in: Die Analyse demokratischer Regierungssysteme. Festschrift für Wolfgang Ismayr zum 65. Geburtstag, hg. v. Klemens H. Schrenk/ Markus Soldner, Wiesbaden 2010; E Pluribus Unum? Die „Amerikanisierung“ von Einwanderern in den USA als Prozess der Standardisierung, in: Building America. Eine große Erzählung; hg. v. Anke Köth/Kai Krauskopf/Andreas Schwarting, Dresden 2008. Junghanß, Antje, Altphilologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Tradition, Vernunft, Gott. Zur wechselnden Fundierung gemeinsinnigen Verhaltens vom Ausgang der Republik bis in die Umbruchsphase des dritten Jahrhunderts“; Forschungsschwerpunkte: Gabentausch in der römischen Antike, antike Konzeptionen von Freundschaft; Publikationen: Sensus communis als „sense of public weal“? Shaftesbury und die antiken Wurzeln des Gemeinsinns, in: Gemeinsinn und Gemeinwohl in der römischen Antike, hg. v. Martin Jehne/Christoph Lundgreen, Stuttgart 2013; Wohltaten als Freundschaftszeichen bei Cicero, in: Freundschaftszeichen, hg. v. Marina Münkler, Berlin 2013. Kaiser, Paul, Dr. phil., Kultur- und Kunstwissenschaftler im Teilprojekt „Kunstsakralisierung und Gemeinsinn“; Forschungsschwerpunkte: Kunstsoziologie und Kulturanalyse, Kunstsystem der Gegenwart, DDR-Kunst, Boheme und Subkulturen; Publikationen: Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatte um die Kunst aus der DDR im Prozess der Wiedervereinigung, zus. mit Karl-Siegbert Rehberg, Berlin 2012 (i.E.); Boheme im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Offizialkultur und künstlerische Gegenkultur in der DDR, Berlin 2012 (i.E.). Kamecke, Gernot, Dr. phil., wissenschaftlicher Koordinator des Integrierten Graduiertenkollegs des SFB 804; Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Literatur französischer und spanischer Sprache (16. bis 20. Jahrhundert); Publikationen: Les sciences humaines et leurs langages. Artifices et adoptions, hg. gem. mit Sabine Frommel, Rom 2011; Antike als Konzept. Lesarten in Kunst, Literatur und Politik, hg. gem. mit Bruno Klein/Jürgen Müller, Berlin 2009; Ereignis und Institution. Anknüpfungen an Alain Badiou, hg. gem. mit Henning Teschke, Tübingen 2008.
Über die Autorinnen und Autoren
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Kaschek, Bertram, Dr. phil., Kunsthistoriker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der TU Dresden, Mitarbeiter im Teilprojekt „Das subversive Bild. Religiöse und profane Deutungsmuster in der Kunst der Frühen Neuzeit“; Forschungsschwerpunkte: Niederländische und deutsche Kunst der Frühen Neuzeit, Landschaftsmalerei, Fotografie; Publikationen: Die Gottlosen laufen im Kreis. Sebald Behams „Bauernfest“ oder „Die zwölf Monate“ in neuer Deutung, in: Die gottlosen Maler von Nürnberg. Konvention und Subversion in der Druckgraphik der Beham-Brüder, hg. v. Jürgen Müller/ Thomas Schauerte, Berlin 2011, S. 88–97; Weltzeit und Endzeit. Die „Monatsbilder“ Pieter Bruegels d.Ä., München 2012. Kästner, Alexander, Dr. phil., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der TU Dresden, Mitarbeit im Teilprojekt „Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit“; Forschungsschwerpunkte: Historische Kriminalitätsforschung, Geschichte des Todes und der Gewalt in der Frühen Neuzeit; Publikationen: Tödliche Geschichte(n). Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547–1815), Konstanz 2012; Mehr als Krieg und Leidenschaft. Zur filmischen Darstellung von Militär und Gesellschaft der Frühen Neuzeit (= MGFN Themenheft 15, 2/2011), hg. gem. mit Josef Matzerath. Kern, Katharina, M.A., Politikwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Transzendenz und Gemeinsinn als Ressourcen politischer Ordnungskonstruktion“; Forschungsschwerpunkte: Ostdeutschlandforschung; Publikationen: Die Sprengkraft der Transzendenz. Die staatsunabhängige DDRFriedensbewegung auf ihrem Weg zu politischer Mündigkeit, in: Die Machbarkeit politischer Ordnung. Transzendenz und Konstruktion, hg. v. Werner J. Patzelt, Bielefeld 2013, S. 235–309. Krauskopf, Kai, Dr.-Ing., Architekturhistoriker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Das Planbare und das Unverfügbare“; Forschungsschwerpunkte: traditionalistische Konzepte im Städtebau, Denkmalsarchitektur; Publikationen: Bismarckdenkmäler – ein bizarrer Aufbruch in die Moderne, Hamburg/München 2002; Die Sehnsucht nach der guten Stube. Widerstreitende Konzepte zum Wiederaufbau Dresdens, in: Zwischen Traum und Trauma. Stadtplanung der Nachkriegsmoderne, hg. v. Jörn Düwel/Michael Mönninger, Berlin 2011, S. 103–119. Lasch, Katja, Literaturwissenschaftlerin, ehem. wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Das Ethos der Freundschaft. Diskurse und Narrationen von Gemeinsinn in der mittelalterlichen Literatur“; Forschungsschwerpunkte:
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Über die Autorinnen und Autoren
Freundschaft in den legendarischen Erzählungen des Mittelalters, Legenden Konrads von Würzburg. Lüke, Nathanael, Neutestamentler (evang.), wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Mahl und Kanon. Gemeinschaftsbildung im frühen Christentum“; Forschungsschwerpunkte: Apostelgeschichte und Paulusbriefsammlung. Lundgreen, Christoph, Dr. phil., Althistoriker, akademischer Assistent am Lehrstuhl für Alte Geschichte an der TU Dresden, Mitarbeiter im Teilprojekt „Die Investition eigener Ressourcen in die Gemeinschaft von der mittleren Republik bis in die hohe Kaiserzeit“; Forschungsschwerpunkte: Römische Republik, antike Rechts- und Verfassungsgeschichte; Publikationen: Regelkonflikte in der römischen Republik. Geltung und Gewichtung von Normen in politischen Entscheidungsprozessen, Stuttgart 2011; Libertas et anima nostra in dubio est. Die Hinrichtung der Catilinarier 63 v. Chr. in der Überlieferung Sallusts als Frage der Staatsraison, in: Staatsräson. Steht die Macht über dem Recht?, hg. v. Rüdiger Voigt, Baden-Baden 2012, S. 31–56. Maiolino, Angelo, Dr. des., Historiker und Philosoph, bis 2011 wissenschaftlicher Assistent und Dozent am Lehrstuhl für politische Philosophie der Universität Zürich, gegenwärtig Gymnasiallehrer; Forschungsschwerpunkte: politische Theorie, Kulturtheorie, Migrationsgeschichte; Publikationen: Als die Italiener noch Tschinggen waren. Der Widerstand gegen die Schwarzenbach-Initiative, Zürich 2011; Überfremdung und Mediterranisierung der Schweiz. Identitäten im Spannungsfeld, in: Widerspruch, 58, 2010, S. 177–193. Neumeister, Katharina, M.A., Theologin (evang.) und Literaturwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Konstruktionen von Transzendenz und Gemeinsinn in Technik und Theologie“; Forschungsschwerpunkte: Biotechnik und Ethik; Publikationen: „Zigeunermission und Zigeunerhilfe“. Die Stellung der Evangelischen Kirche in Deutschland zu den Sinti und Roma in den 1950er bis 1970er Jahren, in: Die Stellung der Kirchen zu den deutschen Sinti und Roma, hg. v. Udo Engbring-Romang/Wilhelm Solms, Marburg 2008, S. 58–66; Unsterblichkeit – Jungbrunnen – Hoffnung und Heilung: Zur Konstruktion von Transzendenz und Gemeinsinn in der Biotechnik am Beispiel der TelomeraseForschung, in: Technik und Theologie. Zum Verhältnis von Technik, Religion und Gesellschaft, hg. v. Katharina Neumeister/Peggy Renger-Berka/Christian Schwarke, Stuttgart 2012, S. 165–179.
Über die Autorinnen und Autoren
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Pauling, Daniel, M.A., Althistoriker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Einzelprojekt „Sicherheitsvorstellungen in der Antike“, ehem. wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Mahl und Kanon. Gemeinschaftsbildung im frühen Christentum“; Forschungsschwerpunkte: Geschichte politischer Ideen im archaischen und klassischen Griechenland, antike Mahlpraxis, antikes Vereinswesen; Publikationen: Das Mahl als Spiegel. Aspekte utopischer Reflexion in athenischen und römischen Mahlschilderungen, in: Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum. Meals and Religious Identity in Early Christianity, hg. v. Matthias Klinghardt/ Hal Taussig, Tübingen 2012, S. 57–77. Pittius, Katrin, Dr. phil., Soziologin, ehem. wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Transzendenz und Gemeinsinn in privaten Lebensformen“, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des Maria-Reiche-Förderprogramms der TU Dresden; Forschungsschwerpunkte: Gender, soziale Netzwerke, Teilhabe, Biographien/Lebens(ver-)läufe, qualitative Methoden; Publikationen: Frauen NetzWerke – Spinnstuben statt Kaminabende?, hg. v. ders. et al., Münster 2011; Spannungsfeld Netzwerke. Münster 2011. Ponso, Marzia, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt: „Die Sakralisierung der Kulturnation im italienischen Risorgimento“; Forschungsschwerpunkte: moderne und zeitgenössische Politische Philosophie, Geschichte der politischen Ideen, Geschichte der Historiographie; Publikationen: Cosmopoliti e patrioti. Trasformazioni dell’ideologia nazionale tedesca tra Kant e Hegel (1795–1815), Mailand 2005; Una storia particolare. Sonderweg tedesco e identità europea, Bologna 2011. Rautenberg, Johanna, Dipl.-Theologin (kath.), wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Trennung und Öffnung. Alttestamentliche Diskurse um die Konstituierung des nachexilischen Israel“; Forschungsschwerpunkte: Gemeinschaftsdiskurse und ihre Legitimierung in den Spätschriften des Alten Testaments; Publikationen: „Die Stadtfrau und ihre Kinder“ – zur Bedeutung der Stadt Jerusalem im Gemeinschaftskonzept des Buches Tobit, in: Tochter Zion auf dem Weg zum himmlischen Jerusalem. Rezeptionslinien der „Stadtfrau Jerusalem“ von den späten atl. Texten bis zu den Werken der Kirchenväter, Dresdner Beiträge zur Geschlechterforschung in Geschichte, Kultur und Literatur 2, hg. v. Maria Häusl, Leipzig 2011, S. 51–101; The Meaning of the City of Jerusalem in the Book of Tobit: an Analysis of the Jerusalem Hymn in Tobit 13,8–18, in: Constructions of Space V: Place, Space and Identity in the Ancient Mediterranean World, The Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies Series, hg. v. Chr. Maier/Gert Prinsloo (i.E.).
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Über die Autorinnen und Autoren
Renger-Berka, Peggy, M.A., Theologin (evang.) und Erziehungswissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Konstruktionen von Transzendenz und Gemeinsinn in Technik und Theologie“; Forschungsschwerpunkte: Kerntechnik & Ethik, Diakoniegeschichte; Publikationen: Zwischen Erweckungsbewegung und Neuluthertum. Das Dresdner Diakonissenhaus in den ersten 30 Jahren seines Bestehens; in: Diakonissen – Unternehmer – Pfarrer. Sozialer Protestantismus in Mitteldeutschland, hg. gem. mit Sebastian Kranich/Klaus Tanner, Leipzig 2009, S. 35–46; Atome spalten. Transzendenz und Gemeinsinn im Diskurs um die Kernspaltung in Deutschland in den 1950er Jahren, in: Technik und Theologie. Zum Verhältnis von Technik, Religion und Gesellschaft, hg. gem. mit Katharina Neumeister/Christian Schwarke, Stuttgart 2012, S. 129–145. Röder, Jan, M.A., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Demokratische Ordnung zwischen Transzendenz und Gemeinsinn“; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Geschichte des politischen Denkens, Ansätze und Methoden der Ideengeschichte. Scherer, Annette, M.A., Frühneuzeithistorikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit“; Forschungsschwerpunkte: Historische Kriminalitätsforschung, Verwaltungsgeschichte. Schneidereit, Nele, Dr. phil., Philosophin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Transzendenz und Gemeinsinn in Geschichte und Gegenwart der Philosophie“; Forschungsschwerpunkte: Klassische deutsche Philosophie (Kant und Hegel), Philosophie der Aufklärung (Theorie des Wissens und Moralphilosophie), politische und Sozialphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts und der Gegenwart; Publikationen: Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe einer kritischen Sozialphilosophie, Berlin 2010; Hegels Begriff des sittlichen Staates und seine egalitaristischen Konsequenzen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 97, 2011, S. 107–124. Scholz, Sylka, Dr. phil. habil, Soziologin und Kulturwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Transzendenz und Gemeinsinn in privaten Lebensformen“; Forschungsschwerpunkte: Geschlechter- und Familiensoziologie sowie Methoden der qualitativen Sozialforschung; Publikationen: Männlichkeitssoziologie. Studien aus den Feldern Arbeit, Politik und Militär im vereinten Deutschland, Münster 2012; Verschwindet die Familie? Eine soziologische Bestandsaufnahme, in: Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwis-
Über die Autorinnen und Autoren
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senschaftliche Perspektiven, hg. v. Michaela Holdenried/Weertje Willms, Bielefeld 2012, S. 45–62. Schröck, Katja, M.A., Kunsthistorikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Die Kirche als Baustelle. Großstädtische Sakralbauten im Mittelalter“; Forschungsschwerpunkte: Architekturgeschichte, mittelalterliche Bautechnik und Bauorganisation, Domvollendungen im 19. Jahrhundert; Publikationen: Steinversatz des Naumburger Werktrupps im Vergleich zum Meißner Dom, in: Der Naumburger Meister. Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen, hg. v. Hartmut Krohm/Holger Kunde, Bd. 3, Petersberg 2012, S. 484–491; Der Prager Veitsdom – Aspekte des Bauens, in: Die Kirche als Baustelle. Große Sakralbauten des Mittelalters, hg. mit Bruno Klein/Stefan Bürger, Köln 2012. Schulmeister, Irene, Dr. theol., Theologin/Alttestamentlerin (kath.), wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Trennung und Öffnung. Alttestamentliche Diskurse um die Konstituierung des nachexilischen Israel“; Forschungsschwerpunkte: Deuteronomium, Jesaja, Israel-Völker; Publikationen: Israels Befreiung aus Ägypten. Eine Formeluntersuchung zur Theologie des Deuteronomiums, Frankfurt 2010; Signale von „Grenzkonstruktion“ und „Grenzdestruktion“ in Dtn 23,2–9 und Jes 56,1–8, in: Zugänge zum Fremden. Methodisch hermeneutische Perspektiven zu einem biblischen Thema, hg. v. G. Baumann et al., Frankfurt a.M. 2012. Schulz, Daniel, Dr. phil., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Demokratische Ordnung zwischen Transzendenz und Gemeinsinn“; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Geschichte des politischen Denkens, Verfassungs- und Demokratietheorien; Publikationen: Verfassung und Nation. Formen politischer Institutionalisierung in Deutschland und Frankreich. Wiesbaden 2004; (Hg.) Marquis de Condorcet: Freiheit, Revolution, Verfassung. Kleine politische Schriften, Berlin 2010. Steinberg, Swen, M.A., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte an der TU Dresden, Mitarbeiter im Teilprojekt „Gemeinsinnsdiskurse und religiöse Prägung zwischen Spätaufklärung und Vormärz“; Forschungsschwerpunkte: sächsische und konfessionelle Unternehmenskulturen, Geschichte des politischen Exils, Erinnerungskulturen; Publikationen: Menschen unterwegs. Die via regia und ihre Akteure. Essayband zur 3. Sächsischen Landesausstellung, im Auftrag der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, hg. mit Winfried Müller, Dresden 2011; Vergessenes Erinnern. Medien
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Über die Autorinnen und Autoren
von Erinnerungskultur und kollektivem Gedächtnis, hg. mit Stefan Meißner und Daniel Trepsdorf, Berlin 2009. Theßeling, Denise, MA, Literaturwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Das Ethos der Freundschaft. Diskurse und Narrationen von Gemeinsinn in der mittelalterlichen Literatur“; Forschungsschwerpunkte: Artusepik, höfische Freundschaftsdiskurse. Tanneberger, Tobias, Dr. phil., Mittelalterhistoriker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Dynastie, Idoneität und Transzendenz. Vergleichende Untersuchungen zum hohen und späten Mittelalter“; Forschungsschwerpunkte: spätmittelalterliche Historiographie und Genealogie, Volkssprachen und Übersetzungen, vergleichende Ordensforschung; Publikationen: Vom Paradies über Troja nach Brabant. Die Genealogia principum Tungro-Brabantinorum zwischen Fiktion und Akzeptanz, Berlin 2012; Die historiographischen Konstruktionen in der Genealogia principum Tungro-Brabantinorum im Vergleich, in: Mémoires conflictuelles et mythes concurrents dans les pay bourguignons (ca. 1380–1580), hg. v. Jean-Marie Cauchies, Turnhout 2012, S. 183–193. Walther, Katharina, Klassische Philologin (Latinistik und Gräzistik), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Klassische Philologie der TU Dresden; Mitarbeit im Teilprojekt „Tradition, Vernunft, Gott“; Forschungsschwerpunkte: Frühchristliche Martyriumsberichte; Neulatein/Antikenrezeption; Publikationen: Verborgene Grabinschriften ans Licht gebracht. Die Grabinschriften der albertinischen Wettiner in Meißen, Freiberg und Dresden. Katalog zur Ausstellung (21. September bis 15. November 2009), gem. mit Veronika Rücker, Dresden 2009; Illum turbat amor. Die Liebesbeziehungen des Turnus in der ‚Aeneis‘ vor dem Hintergrund seiner Rezeption in Petrarcas ‚Africa‘, in: Noctes Sinenses. Festschrift für Fritz-Heiner Mutschler zum 65. Geburtstag, hg. v. Andreas Heil/Matthias Korn/Jochen Sauer, Heidelberg 2011, S. 152–161. Woschech, Anke, M.A., Technikhistorikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Technik- und Technikwissenschaftsgeschichte an der TU Dresden; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Technikutopien, Technik und Populärkultur; Publikationen: „Bright, shiny futures are overrated anyway“: Zum Wandel von Technik- und Geschichtssemantiken in Battlestar Galactica, in: Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert, hg. v. Lars Schmeink/ Hans-Harald Müller, Berlin 2012, S. 237–259; Technology Fiction. Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne, hg. gem. mit Uwe Fraunholz, Bielefeld 2012.