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German Pages [506] Year 2017
Peter Hoeres Anuschka Tischer (Hg.)
Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart
2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf.
Bibliogra sche Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra e; detaillierte bibliogra sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Vorderseite: Putin in So a – Hund als Geschenk. Fotograf: Vassil Done. Quelle: EPA. © picture alliance/dpa. Rückseite: Holbein d. J., Die Gesandten, 1533. © The National Gallery, London/akg © 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50709-1
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Hoeres, Anuschka Tischer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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SEKTION 1 AUSSENPOLITISCHE AKTEURE UND MEDIEN Peter Hoeres Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Maria Osmers Polisübergreifende Beziehungen im Wandel. Akteure und Medien der griechischen Außenpolitik in klassischer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mathias Haeussler Zwischen Weltwirtschaftsoper und Kamingespräch. Helmut Schmidt und die Gipfeldiplomatie am Beispiel der deutschbritischen Beziehungen, 1974–1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Agnes Bresselau von Bressensdorf ‚Media diplomacy` als Mittel internationaler Kon iktregulierung? Diplomatische und mediale Kommunikationsstrategien Genschers im Afghanistan-Kon ikt 1979/80 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tobias Nanz Medien als Akteure der Außenbeziehungen. Überlegungen zur Krisenkommunikation im Kalten Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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SEKTION 2 GESCHENKE ALS MEDIEN FRÜHNEUZEITLICHER DIPLOMATIE Peter Burschel, Christian Windler Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Tilman Haug Symbolisierte Beziehungen und entzauberte Gaben. Zur Praxis des Schenkens in den Außenbeziehungen Ludwigs XIV. . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christine Vogel Geschenke als Medien interkultureller Diplomatie. Praktiken des Schenkens französischer Botschafter im Osmanischen Reich im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nadir Weber Lebende Geschenke. Tiere als Medien der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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SEKTION 3 MEDIALE KONSTRUKTIONEN EUROPAS Guido Thiemeyer Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Florian Greiner Europäisierung durch Medialisierung. Zur Konstruktion Europas durch Massenkommunikation (1914–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gabriele Clemens Außenpolitische Kommunikation durch Filme. Anstoß und Unterstützung der europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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SEKTION 4 MENSCHEN ALS MEDIEN – MENSCHEN IN DEN MEDIEN Rainer F. Schmidt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fabian Fechner Das Ringen um die authentische Information. Epistemologische Re exionen in Missionsnetzwerken zu Beginn der Neuzeit . . . . . . . . . .
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Peter Geiss Internationale Politik in bewegten Bildern. Britische Wochenschau lme der Zwischenkriegszeit als Quellen . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
SEKTION 5 ÖFFENTLICHKEIT ALS AKTEUR UND ADRESSAT VON AUSSENPOLITIK Markus Meckl Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lisa Dittrich Vom Anspruch auf Einspruch zur Kontrollinstanz. Die europäische Öffentlichkeit als Akteur von Außenbeziehungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stephanie Seul Diplomatie und Propaganda als komplementäre Säulen in Chamberlains Appeasement-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hermann Wentker Massenmedien und Öffentlichkeit als Faktoren der Politik. Der Gorbatschow-Effekt, die westdeutsche Meinungsbildung und die Politik der Regierung Kohl-Genscher (1985–1989) . . . . . . . . . . . . . . . . .
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SEKTION 6 AUSSENBEZIEHUNGEN ZWISCHEN PUBLIZITÄT UND GEHEIMNIS Claudia Hiepel Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Martin Herzer Euroleaks. Medien und Geheimnisverrat im Umfeld der Europäischen Gemeinschaften in Brüssel, 1958–1985 . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Lutsch Die Bundesrepublik Deutschland als ‚nicht-nukleare Mittelmacht` und der NATO-Doppelbeschluss (1978/1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Frederike Schotters Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels? Medien der relations franco-soviétiques 1981–1984 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
SEKTION 7 WAHRNEHMUNGSKONSTRUKTIONEN IN DEN AUSSENBEZIEHUNGEN Friedrich Kießling Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Daniel Potthast Diplomatischer Austausch zwischen Muslimen und Christen. Religiöses Formular in mittelalterlichen Briefen arabischer Herrscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marc von Knorring Bilder fremder Nationen in Etiketteliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Deutsche, britische und US-amerikanische Publikationen im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Patrick Merziger Humanitäre Hilfsaktionen der Bunderepublik Deutschland (1951–1991) als Medium der Außenbeziehung. Von der Beziehungsp ege zur Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Seit geraumer Zeit nimmt das Interesse an den internationalen Dimensionen historischer Prozesse auch in der deutschsprachigen Forschung stetig zu, und ein Ende ist nicht abzusehen. Unter dem Begriff der Internationalen Geschichte wird dabei längst nicht mehr nur die Geschichte der Außenpolitik und der Diplomatie in einer klassisch bewährten wie kulturhistorisch erweiterten Variante verstanden. Vielmehr lassen sich ihm auch zahlreiche Untersuchungen zu grenzüberschreitenden Ver echtungen und wechselseitigen Perzeptionen, kulturellen Transfers und Migrationen, zu der systemischen Eigenlogik der Staatenwelt oder der Dynamik von transnationalen Märkten, Netzwerken und Öffentlichkeiten zwischen lokalen, nationalen und globalen Einheiten zurechnen. Ein Beleg für die Lebendigkeit des Feldes ist die Entwicklung der AG Internationale Geschichte, die sich im Herbst 2014 auf dem Göttinger Historikertag im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) konstituiert hat. Innerhalb von kurzer Zeit hat die AG hundert Mitglieder an deutschen und europäischen Universitäten gewonnen. Das große Interesse, auf das ihr 2016 erstmals ausgelobter Dissertationspreis gestoßen ist, zeugt davon, dass sich auch der wissenschaftliche Nachwuchs unvermindert, ja verstärkt mit Themen der Internationalen Geschichte beschäftigt. Zur ersten Jahrestagung der AG Internationale Geschichte, deren Ergebnisse in diesem Band präsentiert werden, kamen mehr als hundert Teilnehmer in Würzburg zusammen: Historiker aller Epochen ebenso wie Kommunikationsund Medienwissenschaftler. Der transepochale und interdisziplinäre Charakter der Tagung, der sich auch in den Beiträgen dieses Sammelbandes niedergeschlagen hat, macht deutlich, welches Potenzial zur Fächer und Zeitalter übergreifenden Kooperation das Themenspektrum der Internationalen Geschichte und insbesondere auch die Beschäftigung mit den Medien der Außenbeziehungen bietet. Mein spezieller Dank gilt den Herausgebern Anuschka Tischer und Peter Hoeres. Sie haben mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Auftaktveranstaltung der AG Internationale Geschichte zu einem großen Erfolg gemacht, der allen folgenden Tagungen als Ermutigung und Ansporn dienen kann. Bonn, im März 2016 Dominik Geppert, Sprecher der AG Internationale Geschichte im VHD
Peter Hoeres, Anuschka Tischer
Einleitung Die Geschichte der Außenbeziehungen ist zugleich eine Geschichte der medialen Kommunikation. 1 In den Beziehungen zwischen Staaten und anderen Gemeinwesen vermitteln zumeist dritte Personen, Schriftstücke, Gegenstände oder andere Medien die jeweiligen Botschaften zwischen den Akteuren, wobei, der Natur von Diplomatie gemäß, Botschaften nicht selten absichtlich unpräzise, verklausuliert oder symbolisch übermittelt werden. 2 Medien werden aber in ihrer ganzen Vielfalt nicht nur genutzt, um Außenbeziehungen herzustellen, sondern auch, um sie für verschiedene Öffentlichkeiten, die Nachwelt und andere Staaten oder Gemeinwesen darzustellen. Die Frage nach den Medien der Außenbeziehungen offenbart dabei in besonderer Weise das überepochale Potenzial der Internationalen Geschichte, denn während in allen Epochen seit der Antike medial kommuniziert wurde, veränderten sich die Medien, ihre Nutzung und ihre Vertriebswege in den verschiedenen „Kommunikationsrevolutionen“ der Geschichte, 3 aber auch in den kleineren Wandlungsprozessen innerhalb einzel1
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Für die Außenbeziehungen gilt (vorausgesetzt, es besteht Kenntnis voneinander) dementsprechend in besonderem Maße, dass man nicht nicht kommunizieren kann, siehe Paul Watzlawick /Janet H. Beavin /Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 11. unveränd. Au . Bern 2007 (zuerst 1969), 50–53. Um auch die nichtstaatliche Außenkommunikation einzufangen, sprechen wir vorrangig von Außenbeziehungen, der Begriff „Außenpolitik“ zielt auf die Gestaltung der äußeren Beziehungen von Poleis, Königreichen, Staaten durch deren Vertreter. Zu einem ersten Resümee der Erforschung der symbolischen Kommunikation insbesondere auch im Rahmen einer erneuerten Politik- und Diplomatiegeschichte siehe Barbara Stollberg-Rilinger /Tim Neu /Christina Brauner (Hrsg.): Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation. Köln, Weimar, Wien 2013. Siehe dazu Asa Briggs /Peter Burke: A Social History of the Media. From Gutenberg to the Internet. Cambridge 2002; Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt am Main, New York 2011; Werner Faulstich: Die Geschichte der Medien. 5 Bde. Göttingen 1996–2004; Rudolf Stöber: Neue Medien. Geschichte von Gutenberg bis Apple und Google. Medieninnovation und Evolution. Bremen 2013; Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. 2. durchg. u. erg. Au . Köln, Weimar, Wien 2008. Zu den Kommunikationsrevolutionen spe-
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Peter Hoeres, Anuschka Tischer
ner (Medien-)Epochen. 4 Damit veränderten sich zugleich die Außenbeziehungen selbst. So ist auch die scheinbar schlichteste Form der Außenbeziehungen, jene, in der die politischen Verantwortlichen selbst zusammentreffen, im Kontext der dabei zum Einsatz kommenden Medien zu sehen. Dies beginnt gegebenenfalls mit den Übersetzern, die die Inhalte des Gesagten in eine andere Sprache vermitteln müssen, oder mit der entsprechenden medialen Repräsentation bei einer Begegnung von Politikern oder Monarchen. Berühmt, aber keineswegs singulär ist das französisch-englische Gipfeltreffen auf dem Field of Cloth of Gold 1520, das seinen Namen eben der exzessiven Verwendung von kostbarem Goldstoff verdankt, mit dem die beiden Könige zu beeindrucken und ihren politischen Status zu af rmieren suchten. 5 Die mediale Repräsentation reicht in den Außenbeziehungen für jene, die nicht dabei waren, von bildlichen Darstellungen über Inschriften und die gedruckten Relationen bis hin zur scheinbaren Authentizität der Fernsehberichterstattung. Die persönliche Nähe, das scheinbar Unvermittelte, ist dabei gerade Teil der medialen Strategie. Die in den Medien vermittelte zwanglose Vertraulichkeit des „Kamingesprächs“ soll namentlich in Krisenzeiten suggerieren, dass die Beteiligten miteinander reden. 6 Die Kommunikation wird dabei selbst die mediale Botschaft oder mindestens ein wesentlicher Teil von ihr. Das Gleiche kann mutatis mutandis auch für den Akteur selbst gelten, der als Person zur Marke und zum außenpolitischen Programm werden kann. Dieses Phänomen ist keineswegs auf die stärker personenorientierte Politik vormoderner Epochen beschränkt, wie etwa die außenpolitische Praxis von Hans-Dietrich Genscher zeigt. 7 Außenbeziehungen lassen sich schon aufgrund der spezi schen und intensiven Mediennutzung nicht in ein schlichtes Schema von Sender, Empfänger und Botschaft einordnen. Medien sind generell nicht einfach neutrale Vermittler von Botschaften. 8 Was aber dann? Sinnvoller, als nach einer xierten De nition von
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ziell der Neuzeit siehe Michael North (Hrsg.): Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 1995. Vgl. darüber hinaus ders.: Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der Frühen Neuzeit. München 2000. Siehe dazu für die Antike den Beitrag von Maria Osmers im vorliegenden Band. Siehe dazu zuletzt Glenn Richardson: The Field of Cloth of Gold. New Haven, London 2013. Siehe dazu den Beitrag von Mathias Haeussler. Siehe dazu den Beitrag von Agnes Bresselau von Bressensdorf. Siehe dazu grundlegend den Beitrag von Tobias Nanz. – Die in der Kommunikationsanalyse lange Zeit als Standard verwendete Formel von Harold D. Lasswell („Who, says what,
Einleitung
Medien zu suchen, scheint es, im Anschluss an Friedrich Kittler und die Medienwissenschaft von basalen Funktionen von Medien auszugehen. Demnach haben Medien erstens die Funktion zu übertragen, damit also Trennungen und Entfernungen im Raum zu überwinden und die „Kontaktunterbrechung“ 9 zwischen Sender und Empfänger zu überbrücken. Hierbei kann man an „Menschmedien“ 10 denken, in unserem Kontext an Boten, Herolde, Gesandte und dann institutionalisierte Diplomaten, aber natürlich auch an Briefe, Depeschen, Telegramme, Telefongespräche, Faxe, Mails, Satellitenübertragungen, an Zeitungen, Fernseh- und Radiosendungen und Filme. Medien haben zweitens die Funktion, durch Speicherung die Zeit zu überwinden; zu denken ist an das Buch, die Akte oder den USB-Stick. Drittens prozessieren sie auch, das heißt, sie verändern, rahmen, portionieren und strukturieren Informationen, laden diese symbolisch auf und verändern die Kommunikation zwischen In- und Output. 11 Orientiert an diesem Medienverständnis geraten für die Außenziehungen im Folgenden Kommunikationskanäle und Kommunikationsträger wie Journalisten beziehungsweise journalistische Plattformen und Filme oder die daraus konstituierten Öffentlichkeiten in den Blick, ferner institutionalisierte Kommunikationsformen wie Korrespondenzen und Konferenzen, aber auch Hilfsaktionen als solche und schließlich Bedeutungsträger wie Geschenke, Atomwaffen oder auch die Etiketteliteratur. 12 Mitunter entfalten selbst Medien Wirkungen, die gar nicht existieren, wie Tobias Nanz am Beispiel des inexistenten Roten Telefons im Kalten Krieg gezeigt hat, das Anlass für ktionale Bearbeitungen, Dystopien und technisch-politische Diskurse war. Anders als Massenmedien sind die Medien der Außenbeziehungen nach dem dargelegten Verständnis nicht in jedem Fall an ein disperses öffentliches Publikum adressiert, vielmehr können sie sich an bestimmte Akteure richten und dabei auch geheim bleiben, ja geradezu die Geheimhaltung garantieren wie der Verbindungstunnel zwischen Hofburg und Ballhausplatz beim Wiener Kongress als im Wortsinne geheimer Kanal oder wie die Backchannels im Kalten
how, to whom, with what effect?“) wird mittlerweile vielfach als zu schlicht angesehen, um die komplexe Dynamik von Kommunikation angemessen zu erfassen; Harold D. Lasswell u. a.: The Comparative Study of Symbols. An Introduction. Stanford, CA 1952, 12. 9 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 2. erw. Au . Wiesbaden 2006, 11. 10 Werner Faulstich: Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter 800–1400. Göttingen 1996, 31. 11 Siehe zu dieser dritten Medienfunktion im Anschluss an Kittler: Hartmut Winkler: Prozessieren. Die dritte, vernachlässigte Medienfunktion. Paderborn 2015. 12 Siehe die Beiträge von Tilman Haug, Christine Vogel, Andreas Lutsch und Marc von Knorring.
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Krieg. Es ist also entgegen einer häu g implizit zum Tragen kommenden Vermutung gerade kein sich verstärkender Trend zu immer mehr Öffentlichkeit in der Außenpolitik zu konstatieren, 13 auch wenn dies seit der Aufklärung und Kants Publizitätspostulat 14 das rhetorische Programm der Politik ist. Vielmehr gibt es nicht nur retardierende Momente und Renaissancen der Geheimdiplomatie, auch neue Formen der Arkankommunikation mittels neuer Medien werden erfunden und genutzt. Das bedeutet freilich nicht, dass dies störungsfrei verläuft, vielmehr scheint die Störungsanfälligkeit durch die stetig erweiterten Möglichkeiten, Raum und Zeit einfach und effektiv zu überwinden, zu steigen. Leaks und Verletzungen der Geheimhaltung sind nicht neu, aber für die Zeit nach 1945 gehäuft zu beobachten. 15 Eine totale Transparenz und Öffentlichkeit würde aber die Zerstörung der Politik und mithin das Ende von geregelten und geordneten Außenbeziehungen bedeuten. 16 Diese werden freilich auch im störungsfreien Zustand nicht allein politisch oder gesellschaftlich gesteuert. Vielmehr wirken (neue) Medien entsprechend der oben skizzierten dritten Medienfunktion des Prozessierens auf die Außenbeziehungen zurück, erschweren und verändern sie. So können Briefe durch formale Vorgaben bis zur Unverständlichkeit formalisiert sein. 17 Gegenstände können insbesondere im symbolischen Kommunikationsprozess ganz unterschiedlich gedeutet werden. 18 Tiere können als diplomatische Geschenke ein unkalkulierbares Eigenleben entfalten. 19 Für die Moderne wurden bereits eingehend die Rückund Nebenwirkungen des Telegrafen auf die Außenpolitik untersucht. Durch ihn
13 So die These in: Peter Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit. Massenmedien, Meinungsforschung und Arkanpolitik in den deutsch-amerikanischen Beziehungen von Erhard bis Brandt. München 2013, die sich im diachronen Bogen der vorliegenden Beiträge als durchaus belastbar erweist. 14 „‚Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.` Denn wenn sie nur durch die Publizität ihren Zweck erreichen können, so müssen sie dem allgemeinen Zweck des Publikums (der Glückseligkeit) gemäß sein, womit zusammen zu stimmen (es mit seinem Zustande zufrieden zu machen), die eigentliche Aufgabe der Politik ist.“ Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, 1795, zit. nach Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, hrsg. v. Heiner F. Klemme. Hamburg 1992, 102 f. (Akademieausgabe 386). 15 Siehe den Beitrag von Martin Herzer und Christoph Meister: No News without Secrets. Politische Leaks in den Vereinigten Staaten von 1950–1976, Marburg 2016. 16 Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit, 531–534. 17 Siehe dazu den Beitrag von Daniel Potthast. 18 Siehe dazu das Kapitel über Geschenke als Medien frühneuzeitlicher Diplomatie. 19 Siehe dazu den Beitrag von Nadir Weber.
Einleitung
wurden die diplomatischen Akteure par excellence, die Botschafter und Gesandten, in ihrer Bedeutung und Autonomie eingeschränkt, konnten jetzt doch die Zentralen, die Außenministerien, schneller reagieren und Weisungen erteilen. Thomas Jefferson hatte als US-Außenminister noch konstatiert, dass er zwei Jahre keinen Brief mehr vom Gesandten in Spanien erhalten habe; höre er ein weiteres Jahr nichts von diesem, dann müsse er ihm schreiben. 20 Mit dem Telegrafen konnte man nun direkt und schnell kommunizieren. Aber auch das war mit Hindernissen, Problemen und vor allem Kosten verbunden. Nach der abenteuerlichen Verlegung des ersten Transatlantikkabels 1858 war dieses nur für drei Monate funktionsfähig. 21 Erst 1866 konnte man es wieder in Betrieb nehmen. Aber das erste verschlüsselte Telegramm, das Außenminister William H. Seward vom State Department nach Frankreich sandte, verursachte dreimal mehr Kosten als sein eigenes Jahresgehalt. Die hohen Kosten führten auch in der Folgezeit zu steten Ermahnungen der Außenministerien, „cables“, wie sie bald genannt wurden, nur bei äußerster Wichtigkeit und in prägnanter Kürze zu verschicken, was wiederum Missverständnissen Vorschub leistete. Noch 1946 verursachte das berühmte long telegram George F. Kennans aus Moskau zunächst einmal Stirnrunzeln beim Empfänger wegen der dadurch verursachten Kosten. Die Kommunikation wurde durch das Telegramm durch Ver- und Entschlüsselung zudem aufwendiger, störanfälliger und schwerer geheim zu halten. Dramatische Auswirkungen zeitigte dies im Ersten Weltkrieg: Die Briten kappten zunächst die transatlantische Kabelverbindung in die USA und ngen dann die schwedische Ressourcen nutzenden deutschen Telegramme ab. Die brisanten Inhalte des über britische Kabel geschickten Zimmermann-Telegramms leakten sie an die US-Administration, die so den Kriegseintritt erheblich besser öffentlich rechtfertigen und nun auch Texaner dafür interessieren konnte (ging es doch im Telegramm um territoriale Versprechungen an Mexiko). 22 Der Telegraf beschleunigte also die Kommunikation, war aber ihr gegenüber und gegenüber seinen Nutzern nicht neutral. Vielmehr zwang er den Akteuren ein Dispositiv auf, ebenso wie das Telefon, das eine Privatisierung der außenpolitischen Kommunikation bewirkte. Es macht eben einen großen Unterschied, wenn etwa Regierungschefs immer und direkt miteinander telefonieren können.
20 David Paull Nickles: Under the Wire. How the Telegraph Changed Diplomacy. Cambridge, Mass., London 2003, 37. 21 Anschaulich beschrieben in: Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit. Vierzehn historische Miniaturen. Frankfurt am Main 2010 (zuerst 1943), 153–176. 22 Nickles: Under the Wire, 137–160; vgl. auch Roland Wenzlhuemer: Connecting the Nineteenth-Century World: The Telegraph and Globalization. Cambridge 2012.
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Im Falle Ronald Reagans und Margaret Thatchers scheint dies eine Angleichung an die Privatkommunikation bedeutet zu haben, und zwar in Form und Inhalt, wie ein nun zugänglich gewordener Mitschnitt vom 23. Oktober 1983 zeigt. Reagan entschuldigt sich hier beredt bei Thatcher für die Invasion auf Grenada, das zum Commonwealth gehört. 23 Den außenpolitischen Akteuren standen andererseits weiterhin klassische Medien zur Verfügung, die auch fürderhin genutzt wurden und werden. Diese wurden durch neue Medien wie das Telefon, der Fernschreiber, das Flugzeug (als Voraussetzung der Jetset-Diplomatie), das Telefax und das Internet ergänzt, aber selten ersetzt. Gemäß dem Rieplschen Gesetz wurden die meisten alten Medien nicht ausgemustert – eine Ausnahme bilden das Telegramm und das Fax –, Briefe werden weiter geschrieben, das Telefon wird noch genutzt; aber die Bedeutung und die Nutzungsfrequenz dieser Medien verändert sich durch das Aufkommen der neuen Medien. Die neue Technik muss sich zudem jeweils erst durchsetzen und kulturell adaptiert werden, die Außenministerien sind dabei nicht unbedingt die Vorreiter, sondern eher konservativ orientiert. Insofern sind sie auch keine Motoren oder Katalysatoren der technischen Innovation, wie es etwa das Militär immer wieder ist. 24 Spricht also bei die Mediennutzung in den Außenbeziehungen wenig für einen technologischen Determinismus, so sind die kulturellen Aneignungsmöglichkeiten auch nicht wahllos, beliebig und unbegrenzt. Vielmehr stellen die technischen Apparate Mediendispositive dar, welche die Optionen der Nutzer begrenzen und rahmen. Hat der Empfänger auch noch einen differenten kulturellen Hintergrund, so scheint die zielführende gelingende außenpolitische Kommunikation insgesamt geradezu unwahrscheinlich. Jedenfalls bedarf sie einer speziellen kulturellen, symbolischen und technischen Kompetenz, was die Professionals auf diesem Gebiet wieder aufwertet. Die Probleme der interkulturellen Kommunikation stellten und stellen sich immer wieder neu, etwa zwischen Orient und Okzident, 25 aber auch zwischen Ost und West im Kalten Krieg, 26 und sind medial jedenfalls nicht zu lösen gewesen, eher haben neue Medien wie Fernschreiber die Herausforderung noch verstärkt. 27 23 Abrufbar unter URL: http://www.margaretthatcher.org/archive/reagancalls.asp (zuletzt abgerufen 27.1. 2016). 24 Anregend dazu Friedrich A. Kittler: Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht. Berlin 2013. 25 Siehe dazu den Beitrag von Daniel Potthast. 26 Vgl. dazu Susanne Schattenberg: Diplomatie als interkulturelle Kommunikation. In: Zeithistorische Forschungen 8 (2011) 3, 457–462. 27 Siehe dazu den Beitrag von Tobias Nanz.
Einleitung
Die hier akzentuierte Eigenständigkeit von Medien im Kommunikationsprozess gilt erst recht dort, wo Menschen selbst als Medien fungieren. Diese Ambiguität bringt bereits der Begriff des Botschafters auf den Punkt, der eine Person bezeichnet, die die Absichten eines Entscheidungsträgers übermitteln und umsetzen soll, durch diese Funktion aber selbst zum Akteur wird. 28 Auch wenn die eigentlichen Entscheidungsträger ein selbstständiges Agieren der von ihnen entsandten vermittelnden Personen in unterschiedlicher Weise gefördert, geduldet oder eingeschränkt haben, so ist doch eine gewisse Eigenständigkeit personaler Medien im Kommunikationsprozess der Außenbeziehungen letztlich unvermeidlich und systemimmanent. 29 Die jüngere Diplomatiegeschichte geht nicht von ungefähr von einer akteurzentrierten Perspektive der Außenbeziehungen aus. 30 Akteure sind dabei aber nicht nur jene Personen, derer sich die Entscheidungsträger of ziell bedienten. Mit der immer größeren Komplexität moderner Medien bildeten sich mit Journalisten, Filmemachern, Vertretern nichtstaatlicher Organisationen etc. neue Personengruppen heraus, die nochmals zwischen den Akteur und das Medium treten und dabei selbst zu Akteuren werden. Diese richteten sich wie die klassischen außenpolitischen Akteure zudem immer weniger nur auf den anderen Entscheidungsträger der Außenbeziehungen als vielmehr auf eine immer breitere Öffentlichkeit aus, die dadurch ihrerseits zum Akteur wurde. 31 Angesichts der Vielfalt der Medien und Medienverwendungen war dies kein eindimensionaler historischer Prozess, denn auch wenn Akteure in den Außenbeziehungen seit langem mediale Propaganda als politisches Instrument im Blick haben, 32 so existierte doch daneben eine Fülle medialer Darstellungen, die zunächst der Information und Unterhaltung diente und nicht selten kommerzieller Natur war. 33 Dennoch entwickelte sich aus den unterschiedli-
28 Vgl. dazu den Artikel „Botschafter“ von Anuschka Tischer in: Enzyklopädie der Neuzeit, im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) hrsg. v. Friedrich Jaeger, Bd. 2. Stuttgart, Weimar 2005, 367–370. 29 Siehe dazu aus unterschiedlichen Perspektiven die Beiträge von Maria Osmers und Fabian Fechner. 30 Siehe dazu programmatisch Hillard von Thiessen /Christian Windler (Hrsg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln, Weimar, Wien 2010. 31 Siehe dazu die Beiträge von Lisa Dittrich, Stephanie Seul, Hermann Wentker und Frederike Schotters. 32 Siehe dazu Karel Hruza (Hrsg.): Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.– 16. Jahrhundert). Wien 2002. 33 Siehe dazu am Beispiel der Wochenschauen den Beitrag von Peter Geiss.
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Peter Hoeres, Anuschka Tischer
chen Ansätzen eine Öffentlichkeit, die schließlich auch als of zieller Faktor in die Außenbeziehungen eingebunden wurde. Zudem war der moderne Staatsbildungsprozess ein Prozess der Raumerschließung, die auch medial verlief und zu der die Abgrenzung nach außen als identitätsstiftende Selbstvergewisserung wesentlich dazugehörte. 34 Der Raum der Außenbeziehungen wurde von den Medien mit gesetzt. So ist Europa eine von den Medien konstruierte Gemeinschaft, auf die sich politisches Handeln vor allem wegen dieser medialen Konstruktion bezieht und die dadurch umgekehrt zu einem eigenen Akteur wird. 35 Selbst humanitäre Hilfe hat als politisches Handeln entsprechende mediale Konstruktionen zur Voraussetzung. 36 Das ist der historische und methodische Rahmen, innerhalb dessen sich die Beiträge bewegen, die aus der ersten Arbeitstagung der neu gegründeten AG Internationale Geschichte im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) hervorgegangen sind, die vom 19. bis zum 21. März 2015 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg stattgefunden hat. Die Beiträge wurden aus den Themenvorschlägen ausgewählt, die auf einen Call for Papers hin eingereicht worden waren, in dem bewusst die Medialität der Internationalen Geschichte in einem weiten Kontext angesetzt worden war. Die große Resonanz mit über 50 Bewerbungen demonstriert die Aktualität des Themas, das sich im Schnittpunkt einer epochenübergreifenden neuen Politik-, Diplomatie- und Kommunikations- und Mediengeschichte be ndet. So hat sich innerhalb der Frühneuzeitforschung die Medien- und Kommunikationsgeschichte zu einer starken Disziplin entwickelt, die eng mit der Internationalen Geschichte verknüpft ist. Mediale Kommunikationsprozesse spielten bei internationalen Kon ikten wie dem Niederländischen Unabhängigkeitskrieg (1568–1648) 37 oder dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) eine ganz wesentliche Rolle. 38 Die Vorstellung von vormoderner Politik als reiner Arkanpolitik ist 34 Siehe dazu Ronald G. Asch /Dagmar Freist (Hrsg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 2005; Michèle Fogel: Les cérémonies de l'information dans la France du XVIe au XVIIIe siècle. Paris 1989. 35 Siehe dazu die Beiträge von Florian Greiner, Gabriele Clemens und Lisa Dittrich. 36 Siehe dazu den Beitrag von Patrick Merziger. 37 Siehe dazu insbesondere die kommunikationswissenschaftliche Studie von Dirk Maczkiewitz: Der niederländische Aufstand gegen Spanien (1568–1609). Eine kommunikationswissenschaftliche Analyse. Münster, New York, München, Berlin 2005. 38 Zur Rolle of zieller Druckpropaganda in den Kriegen der Frühen Neuzeit siehe Anuschka Tischer: Of zielle Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit: Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis. Berlin, Münster 2012.
Einleitung
längst nicht mehr haltbar, während umgekehrt eine vermeintliche Transparenz in den Außenbeziehungen bis in die Gegenwart hinein durchaus vorgetäuscht und medial inszeniert sein kann. Nicht zuletzt Christopher Clarks Megaerfolg über die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges hat demonstriert, welche Aufmerksamkeit eine moderne Diplomatiegeschichte, die Medienrepräsentationen und Medienwirkungen explizit in Rechnung stellt, in einer Fach- wie einer breiteren Öffentlichkeit hervorrufen kann. 39 Gerade angesichts dessen, dass das Thema Medien der Außenbeziehungen in der Erforschung unterschiedlicher Epochen und Räume aktuell und breit repräsentiert ist, setzten die Tagung und der vorliegende Band gezielt auf einen vergleichenden Ansatz, der durch die Bildung von kommentierten Panels aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven erreicht wurde. Eine Podiumsdiskussion zwischen Tobias Nanz (Dresden), Peter Burschel (Berlin), Dominik Geppert (Bonn), Peter Hoeres (Würzburg) und Inken Schmidt-Voges (Osnabrück / Marburg) brachte dabei in besonderer Weise alle Teilnehmer unserer Tagung gemeinsam ins Gespräch. Bei allen methodischen Differenzen waren die Teilnehmer sich einig, dass als übergreifender Trend vor allem eine Beschleunigung der Außenbeziehungen zu beobachten ist. Für einen Trend zu Transparenz, Öffentlichkeit, Ausweitung der Akteure, Bürokratisierung und Verrechtlichung nden sich dagegen immer mehr oder minder deutliche Gegenbeispiele und retardierende Momente. Insgesamt ndet ein transepochaler und interdisziplinärer Austausch, den sich die neue AG Internationale Geschichte gerade zum Ziel gesetzt hat und der hier durch das verschiedene Epochen umfassende Spektrum sowie durch den dezidiert medienwissenschaftlichen Beitrag von Tobias Nanz möglich wurde, immer noch zu selten statt. Das zeigte sich gerade in der Podiumsdiskussion selbst, die trotz der thematischen Nähe signi kante methodisch-theoretische Unterschiede in den verschiedenen Epochen und Disziplinen erkennen ließ. So ist die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour, die für die Erforschung von Medien und Außenbeziehungen als eine Option gelten kann, um der Opposition von Technikdeterminismus und Sozialkonstruktivismus zu entkommen, für die Internationale Geschichte noch kaum aufgegriffen worden, und die Historiker zeigten sich ihr gegenüber eher skeptisch. 40
39 Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013. Die medienhistorischen Kapitel gehören zu den vielen Stärken der Sleepwalkers. 40 Siehe den Beitrag von Tobias Nanz sowie Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main 2007; Andréa Belliger /David J. Krieger (Hrsg): ANThologie. Ein einführendes Handbuch
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Peter Hoeres, Anuschka Tischer
Der Blick auf die Medien der Außenbeziehungen über verschiedene Zeit- und Kulturräume hinweg zeigt insgesamt keineswegs nur Unterschiede und Transformationsprozesse auf, sondern ebenso Konstanten wie zum Beispiel die Verwendung von Tieren als diplomatische Geschenke 41 oder die kulturübergreifende Herausbildung vergleichbarer Praktiken wie jener von Textformularen im diplomatischen Gebrauch. 42 Damit bestätigt sich einmal mehr, dass Politik- und Diplomatiegeschichte auch zu den lohnenden Forschungsfeldern der Historischen Anthropologie zählen. 43 Medien haben letztlich immer genau die historische Bedeutung, die die Menschen ihnen durch die konkrete Nutzung geben. Diese aber steht im größeren Kontext anthropologischer Bedingtheiten und Konstanten sowie kontingenter Strukturen und Konstellationen. Es ist keineswegs so, dass technische Innovationen die Akteure der Außenbeziehungen in den verschiedenen Epochen und politischen Räumen vor sich hergetrieben hätten, dies war der Konsens auch der Würzburger Diskussion. Die Akteure haben vielmehr den jeweils neuen Medien erst, oft nach zögerlicher Aneignung, ihre Bedeutung gegeben, indem sie sie nutzten, ihr Potenzial entwickelten, dabei allerdings auch Dynamiken freisetzten, die sie nicht vorhersehen, nicht aufhalten und nicht kontrollieren konnten. Die aktuellen Wechselwirkungen zwischen den Außenbeziehungen und den Möglichkeiten und Entwicklungen des Internets sind noch nicht wirklich historisierbar, weisen aber bereits eine deutliche Tendenz in diese Richtung auf. Unsere Fachtagung, zu der über 100 Historiker, Kommunikations- und Medienwissenschaftler an die Julius-Maximilians-Universität Würzburg kamen, wurde ebenso wie die Drucklegung des daraus hervorgegangenen vorliegenden Bandes durch die großzügige Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung ermöglicht, der wir für ihr Engagement herzlich danken. Für einen weiteren Druckkostenzuschuss danken wir der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Ferner sei allen Kolleginnen und Kollegen gedankt, welche
zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006; Matthias Wieser: Das Netzwerk von Bruno Latour. Die Akteur-Netzwerk-Theorie zwischen Science & Technology Studies und poststrukturalistischer Soziologie. Bielefeld 2012. 41 Siehe dazu den Beitrag von Nadir Weber. 42 Siehe dazu für Inschriften in der griechischen Außenpolitik in klassischer Zeit den Beitrag von Maria Osmers sowie für vormoderne arabische Staatsbriefe den Beitrag von Daniel Potthast. 43 Siehe dazu Peter Burschel /Birthe Kundrus (Hrsg.): Thema: Diplomatiegeschichte. Köln, Weimar, Wien 2013. Wegweisend ist nach wie vor die Studie zur diplomatischen Immunität unter Einbeziehung der historischen Anthropologie von Linda S. Frey /Marsha L. Frey: The History of Diplomatic Immunity. Columbus 1999.
Einleitung
bei der Begutachtung der eingereichten Vorschläge für Sektionen und Vorträge mitgewirkt haben, sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, welche die Tagung und die Erstellung des Sammelbandes unterstützt haben: Dr. Gerrit Dworok, Dr. Andreas Flurschütz da Cruz, Michaela Grund, Tobias Kappus, Andreas Lutsch, Maximilian Mattausch, Manuel Mildner, Yannick Mück, Roxanne Narz, Elisabeth Reinwand, Maximilian Rückert, Diana Schmitt, Daniel Stöhr und Eva Volpert.
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Einführung Politiker und ihre Gesandten waren und sind vorrangige Akteure der Außenpolitik. Das zeigen die Beiträge der ersten Sektion, in der ein weiter Bogen von der griechischen Antike bis zur Zeitgeschichte geschlagen wird. Zugleich sind die Handlungsoptionen dieser Akteure bestimmt von Institutionen und Medienensembles. Die Institutionalisierung und zugleich Intensivierung von Außenbeziehungen im 5. vorchristlichen Jahrhundert zeigt Maria Osmers anhand der Außenbeziehungen der griechischen Poliswelt. Die innergriechischen außenpolitischen Beziehungen in klassischer Zeit wurden nun von den of ziellen Organen anstelle von einzelnen Führern getragen. Grund hierfür war die Etablierung des Polismodells. Eine weitere Ursache bildeten die überraschend siegreich gestalteten Perserkriege, welche für die Hellenen den Möglichkeitsraum der Außenpolitik erweiterten. Die Zahl der beteiligten Akteure erhöhte sich dabei, neue Medien kamen auf: Neben die mündliche Kommunikation traten Inschriften, die eine Fixierung von Außenverhältnissen bewirkten, und religiöse Eide. Massenmedien gab es freilich nur in Ansätzen, etwa in Form von Münzen, welche zur Identi kation mit Athen aufforderten. Kann man hier also Institutionalisierungsprozesse beobachten, so erkennt man in einzelnen Phasen der Moderne ein erneutes Vertrauen auf personale Beziehungen. Auf die Herausforderung einer verkomplizierten und komplexeren Welt reagierte man in den 1970er Jahren mit einer Rückkehr zu personalisierter high-level diplomacy, welche in einer krisenhaften Umwelt die Chance bieten sollte, Komplexität zu reduzieren und die neuen multilateralen Foren vorzubereiten. Ähnlich wie supranationale Institutionen den Nationalstaat offensichtlich nicht ersetzen, sondern seine Relevanz gegebenenfalls noch stärken, werteten neue Institutionen wie der 1974 eingerichtete Europäische Rat oder der 1975 gegründete Weltwirtschaftsgipfel den bilateralen Austausch nicht ab, sondern eher noch auf. Mathias Haeussler zeigt aber, dass der Renaissance vertraulicher bilateraler Gespräche nicht durchgängig Erfolg beschieden war. Im Falle des deutsch-britischen Regierungschef-Duos Schmidt – Callaghan funktionierten diese, im Falle Schmidt – Wilson nicht. Die vertraulichen Gespräche hatten neben ihrer Funktion des geschützten arkanen Austausches immer auch einen
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öffentlichen-demonstrativen, performativen Akzent, dem innen- wie außenpolitische Signalfunktion zukam. Im medienstrategisch konservativen Außenamt setzte der langjährige Hausherr Hans-Dietrich Genscher seit 1974 auf eine Medialisierung, ja Entertainisierung der Außenpolitik – und vor allem des Außenministers selbst. Genschers Medialisierungsstrategie sollte gegensätzlichen Anforderungen gerecht werden: Diplomatische Arkanpolitik und mediale Omnipräsenz sollten ebenso Hand in Hand gehen, wie inhaltlich die bleibende Verankerung im Bündnis genauso deutlich gemacht werden sollte wie das Festhalten am Entspannungskurs. Die Kommunikation mit der Sowjetunion geriet dabei im Zeichen des Afghanistankrieges, wie Agnes Bresselau von Bressensdorf in ihrem Beitrag zeigt, fast zu einem Selbstzweck. Der Erfolg von Genschers Medienoffensive scheint dann vorrangig in der Steigerung seines eigenen Images im Inland und desjenigen der FDP gelegen zu haben, am Ausbruch des „Zweiten Kalten Krieges“ konnte er dagegen nichts ändern. Erhielten die Staatsmänner der westlichen Welt qua Amt und Vernetzung hohe Aufmerksamkeit, so mussten die postkolonialen Staaten diese für sich und ihre Anliegen erst einmal mühsam herstellen. Das erfolgreiche Medium der Wahl bildeten dafür die Konferenzen, allen voran die 1955 im indonesischen Bandung statt ndende große Konferenz von 29 afrikanischen und indonesischen Staaten, wie Jürgen Dinkel in seinem Vortrag zeigte. Die beteiligten Regierungen konnten sich dabei als legitime Interessenvertreter ihrer Länder im In- und Ausland inszenieren, gegen den erheblichen Widerstand etwa in der Eisenhower-Administration. Gleichwohl gelang es den an der Konferenz Beteiligten nicht, die Rezeption und Interpretation eindeutig zu steuern. Ob die Konferenz das Ende des Kolonialzeitalters markiere, wurde dementsprechend in den Massenmedien und Regierungsapparaten der westlichen und östlichen Welt ganz unterschiedlich gesehen. 1 Tobias Nanz konzeptualisiert aus medienwissenschaftlicher Warte schließlich die Medien selbst als Akteure der Außenbeziehungen. Er vermittelt dieses Konzept mit dem eher indirekten Medienbegriff der Akteur-Netzwerk-Theorie, welche einen Technikdeterminismus, wie er in medienwissenschaftlichen Ansätzen der Kittler-Schule zumindest naheliegt, unterläuft. Gerade für die Internationale Geschichte kann die Akteur-Netzwerk-Theorie aber mit ihrem nicht xierten
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Der Vortrag von Jürgen Dinkel wurde nicht verschriftlicht. Siehe aber Jürgen Dinkel: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927–1992). Berlin, München, Boston 2015, 59–98.
Einführung
und eben auch etwa für Maschinen oder Tiere offenen Akteurbegriff von Nutzen sein. 2 Neue Medien sind besonders störungsanfällig, was für den Beobachter den Vorteil hat, das Medium und seinen Funktionsmodus sichtbar werden zu lassen. Nanz verdeutlicht das am Beispiel des „heißen Drahtes“, der oft als rotes Telefon imaginiert wurde und wird, in der Realität aber eine Fernschreibeverbindung ist. Der für die Amerikaner überraschende Ersteinsatz während des Sechstagekrieges 1967 konnte nur durch ein ergänzendes klassisches Medium, ein Flottenmanöver, zum Erfolg geführt werden. Die Schwierigkeit bestand weniger in der Formung der Botschaft durch das Medium als in der Unsicherheit, wie das neue Medium zu bespielen sei. Das Medium des heißen Drahtes diente der Deeskalation, rei zierte in seiner Struktur aber das Freund-Feind-Verhältnis des Kalten Krieges. Auf die Beschleunigung und Steigerung des Komplexitätsgrades reagierten die Akteure in der Antike wie in der Zeitgeschichte mit der Errichtung neuer Institutionen und der Nutzung neuer Medien. Zugleich bildeten diese einen Teil der Dynamik und Komplexität und ließen sich nur ansatzweise durch die außenpolitischen Akteure in den Dienst nehmen, da ihnen selbst Akteureigenschaften zukamen.
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Vgl. dazu den Beitrag von Nadir Weber im vorliegenden Band.
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Maria Osmers
Polisübergreifende Beziehungen im Wandel Akteure und Medien der griechischen Außenpolitik in klassischer Zeit
Als Athener und Spartaner im Jahre 421 v. Chr. im Rahmen des Nikias-Friedens den Peloponnesischen Krieg unterbrachen, bemühte sich sogleich die Polis Argos, Verbündete im griechischen Raum zu nden, um mit deren Hilfe ihre Macht auf der Peloponnes auszudehnen. Ihr Hauptinteresse galt der kynurischen Küstenregion, die in der Vergangenheit immer wieder Anlass für Streitigkeiten mit den Lakedaimoniern geboten hatte und momentan in deren Hand war. 1 Die Gelegenheit für ein Vorgehen gegen die mächtigen Nachbarn erschien den Argivern günstig: Sparta war von den Auseinandersetzungen mit Athen geschwächt, ein 30-jähriger Friedensvertrag zwischen Argos und Sparta lief demnächst aus und die Argiver selbst hatten die letzten Jahre aufgrund ihrer Neutralität für militärische Vorbereitungen nutzen können. Die Bemühungen waren zunächst erfolgreich. Argos gewann Poleis wie Mantineia und Elis als Bündnispartner und
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Über frühere Kon ikte um die Kynuria berichten Hdt. 1,82, Plut. Apophth. Lac. 231ef. und Paus. 3,2,3. Während Herodot den Beginn der Streitigkeiten um die Region in die Zeit des Kroisos datiert, verlegen Plutarch und Pausanias den Anfang in eine ferne Vergangenheit. Im Gegensatz zur antiken Traditionsbildung datiert gerade die jüngeren Forschung Herodot folgend den Ausgangspunkt der argivisch-spartanischen Kon ikte in die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. Vgl. hierzu insbesondere Thomas Kelly: The Traditional Enmity between Sparta and Argos: The Birth and Development of a Myth. In: The American Historical Review 75 (1970), 971–1003. Eine überzeugende Rekonstruktion der antiken Traditionsbildung sowie der religiösen und politischen Rahmenbedingungen für diese bietet nun auch Natasha Bershadsky: The Border of War and Peace. Myth and Ritual in ArgiveSpartan Dispute over Thyreatis. In: Julia Wilker (Hrsg.): Maintaining Peace and Interstate Stability in Archaic and Classical Greece (Studien zur Alten Geschichte 16). Mainz 2012, 49–77.
Polisübergreifende Beziehungen im Wandel
schließlich gar Athen. 2 Nach einigen Verwicklungen, mehreren kleineren Scharmützeln und Waffenstillständen kam es im Jahre 418 zur Schlacht bei Mantineia, in der schließlich aber die Spartaner und ihre Verbündeten siegten. Im Folgenden wurde ein Frieden zwischen beiden Poleis vereinbart – der allerdings nur kurz bestand – und Sparta und Argos schlossen einen ebenso kurzlebigen Bündnisvertrag. 3 Die geschilderte Episode zeigt eindrucksvoll, welche Faktoren in polisübergreifenden Beziehungen der klassischen Zeit eine entscheidende Rolle spielten. So entsprang der Kon ikt zwischen Argos und Sparta wie viele andere aus Grenzbeziehungsweise Territorialstreitigkeiten, deren Anfänge teilweise weit in die Vergangenheit zurückreichten. Zugleich veranschaulichen die beschriebenen Ereignisse die Bedeutung von Bündnispolitik, Diplomatie sowie Waffenstillständen und Friedensschlüssen in der griechischen Außenpolitik dieser Zeit. Daher soll die Episode im Folgenden als Ausgangspunkt dienen, um zu bestimmen, welche Akteure (I.) und Medien (II.) die außenpolitischen Kommunikationen und Handlungen in klassischer Zeit trugen. Mein Interesse gilt dabei insbesondere der Frage, ob und inwiefern sich in diesem Bereich Veränderungen gegenüber der archaischen Zeit aufzeigen lassen und wie diese historisch einzuordnen sind. Um Doppeldeutigkeiten des Begriffs der Außenpolitik zu vermeiden, noch ein kurzer Hinweis: In meinen Ausführungen stehen die Beziehungen der hellenischen Poleis untereinander im Mittelpunkt; Kontakte zu Nichtgriechen werden ausgeklammert. 4
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Zu den ersten Aktivitäten der Polis Argos auf der Peloponnes während des Nikias-Friedens siehe Thuk. 5,28–32. Zum Bündnis mit Athen siehe Thuk. 5,47; vgl. auch IG I3 83 (HGIÜ 125). Zur Schlacht bei Mantineia und ihren Folgen siehe Thuk. 5,53–81. Vgl. zu den Ereignissen insgesamt auch Diod. 12,76–81. Dies bedeutet nicht, dass in den Beziehungen zu Nichtgriechen prinzipiell andere Regeln galten als in denen zwischen Hellenen. Bereits in der Ilias wird so deutlich, dass die Konventionen im Umgang miteinander in keinem Zusammenhang zu einem (pan)hellenischen Bewusstsein standen, da sie etwa auch gegenüber den Troianern Gültigkeit besaßen. Jedoch wurden beispielsweise die Perser im Anschluss an die Perserkriege zu Erzfeinden und Gegenbildern aufgebaut. Dadurch war es möglich, diese in bestimmten Situationen aus dem gemeinsamen Kommunikationsraum auszuschließen und allein die griechische Identität zu betonen. Vgl. stellvertretend hierzu Maria Osmers: „Wir aber sind damals und jetzt immer die gleichen“. Vergangenheitsbezüge in der polisübergreifenden Kommunikation der klassischen Zeit (Historia Einzelschriften 226). Stuttgart 2013, 288– 294.
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Maria Osmers
I. Dank des Historikers Thukydides sind wir über die Ereignisse zwischen 421 und 418 v. Chr. gut informiert. Er berichtet als zeitgenössischer Beobachter in seiner „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ ausführlich von den Vorgängen und gewährt uns dabei auch einen Einblick in die diplomatische Praxis. Dabei nennt er sowohl formelle als auch informelle Akteure, die sich außenpolitisch engagierten. Eine herausgehobene Bedeutung besaßen die Gesandten, die im Auftrag einer Polis mit anderen Gemeinwesen in Verhandlung traten. Dabei variierten ihre Auswahlverfahren ebenso wie ihre Befugnisse von Gemeinwesen zu Gemeinwesen und von Fall zu Fall. 5 So wählte etwa in Argos die Volksversammlung im Jahre 421 zwölf Gesandte, die mit allen Poleis, die dies wünschten, Bündnisse schließen sollten. Ihre Vollmachten waren damit ungewöhnlich groß, da einzig Verträge mit Sparta und Athen einer erneuten Zustimmung durch die Volksversammlung bedurften. 6 Auch die anderen an den Vorgängen direkt oder indirekt beteiligten Poleis sandten im weiteren Verlauf der Ereignisse regelmäßig Boten aus, die in anderen Gemeinwesen über konkrete Verträge verhandeln oder aber an zuvor getroffene Abmachungen erinnern sollten. 7 Am Zielort sprachen die Gesandten in den Entscheidungsgremien der Polis, wobei sich das Publikum je nach Verfassungsform und Zweck der Reise durchaus unterscheiden konnte. 8 Das Amt des Gesandten verlangte viel Verantwortung und umfangreiche Kenntnisse und wurde daher primär erfahrenen Männern anvertraut, die sich in der eigenen Polis bewährt hatten und sich ebenso mit den Gep ogenheiten in der
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Zum griechischen Gesandtschaftswesen insgesamt siehe Derek J. Mosley: Envoys and Diplomacy in Ancient Greece (Historia Einzelschriften 22). Wiesbaden 1973; Dietmar Kienast: Presbeia. Griechisches Gesandtschaftswesen (RE Supplement 13). München 1974. Vgl. Thuk. 5,28. So schickte etwa gleich zu Beginn Sparta Boten nach Korinth (Thuk. 5,30), Elis nach Korinth und Argos (Thuk. 5,31) und Korinth, Athen und Boiotien sandten nach Sparta (Thuk. 5,36). So sprachen korinthische Gesandte im Jahre 421 zunächst vor den argivischen Oberbeamten, um ein gemeinsames Vorgehen zu planen (Thuk. 5,27), obwohl die Entscheidungsgewalt über außenpolitische Angelegenheiten eigentlich bei der Volksversammlung lag. Auch in Athen sprachen Gesandte in der Regel wohl zunächst vor dem Rat, bevor ihr Anliegen in der Volksversammlung vorgetragen wurde (Thuk. 5,45). In ähnlicher Form existierte in Korinth ein Gremium, dass eine Vorauswahl darüber traf, welche Boten wann in der Versammlung sprechen durften (Thuk. 5,30). In Boiotien wurden außenpolitische Entscheidungen von den Boiotarchen mit den Boten vorberaten bzw. ausgehandelt und später von den Räten nur noch abgesegnet oder abgelehnt (Thuk. 5,37 f.).
Polisübergreifende Beziehungen im Wandel
Ferne auskannten. 9 Häu g besaßen sie auch eine hohe Reputation am Zielort beziehungsweise in Hellas – so entsandten etwa die Athener Nikias, den Initiator des nach ihm benannten Friedens, nach Sparta, Alkibiades verhandelte als sein Gegenspieler mit Argos. 10 In ähnlicher Form schickten die Spartaner Boten nach Athen, die diesen laut Thukydides besonders genehm waren. 11 Der Historiker erwähnt darüber hinaus immer wieder Gesandte, die sich zufällig an einem Ort aufhielten, an dem Verhandlungen geführt wurden, und dort das Wort ergriffen. 12 Dies deutet auf rege diplomatische Beziehungen zwischen den Gemeinwesen hin, die sich nicht nur um Bündnisfragen oder Krieg und Frieden drehten, sondern etwa auch kultische oder ökonomische Angelegenheiten betrafen. 13 Offensichtlich konnten die in der Ferne anwesenden Gesandten trotz prinzipiell anderslautender Aufträge insgesamt im Sinne ihrer Polis agieren. Die zuständigen Organe in der Heimat mussten jedoch die so getroffenen Abmachungen nachträglich bestätigen (oder konnten sie ablehnen). 14 Denn rein rechtlich konnte Außenpolitik nur im Namen der gesamten Polis vollzogen werden; ein Ressort, das wie in der Moderne exklusiv und weitgehend selbstbestimmt für die Außenpolitik zuständig war, gab es in den hellenischen Gemeinwesen nicht. 15
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So wurde etwa Gorgias, der später als Redner in Athen wirkte, 427 v. Chr. von Leontinoi ausgewählt, als Gesandter nach Athen zu reisen und dort über ein Bündnis zu verhandeln, vgl. Thuk. 3,86; Diod. 12,53. Zu Nikias siehe Thuk. 5,46; zur Beziehung des Alkibiades nach Argos siehe Thuk. 5,43 f.; als Bote tritt Alkibiades bei Thuk. 5,61 vor den Argivern auf. Vgl. Thuk. 5,44; zu den Gesandten, ihrer Ausbildung und Stellung in ihrer Heimat sowie ihrer Auswahl auch Kienast: Presbeia, 533. So erwähnt Thuk. 5,46 Argiver und weitere Verbündete, die sich 420 nach den missglückten Friedensverhandlungen mit Sparta zufällig in Athen aufhielten; kurz nach den Olympischen Spielen im gleichen Jahr waren spartanische Gesandte zufällig in Korinth anwesend, als Argiver und Verbündete dort ankamen, vgl. Thuk. 5,50. Auch Alkibiades hielt sich 418 nach der Schlacht von Mantineia zufällig in Argos auf, als spartanische Boten mit einem Friedensangebot eintrafen, vgl. Thuk. 5,76. Dies gilt insbesondere für Friedenszeiten, die Thukydides mit der Formulierung: „Es war Ruhe und gegenseitiger Verkehr“ beschreibt (ἡσυχία ἦν καὶ ἔφοδοι παρ+ ἀλλήλους), Thuk. 5,35,8 (eigene Übersetzung); ähnlich Thuk. 5,78. Auch wenn die zufällig anwesenden Argiver und ihre Verbündeten die Verhandlungen in Athen führten, zeigt der in Thuk. 5,47 überlieferte Bündnisvertrag, dass der dazugehörige Eid schließlich von den wichtigsten Organen der beteiligten Poleis geschworen wurde und der Vertrag erst so Gültigkeit erhielt. Die Griechen kannten zwar selbstverständlich Bezeichnungen für „innen“ (ἐντός) und „außen“ (ἐκτός), verbanden diese aber nicht mit ihrer Konzeption des Politischen, sodass sich kein abgetrennter Bereich für äußere Angelegenheiten entwickelte. Eine Ausnahme
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Maria Osmers
Neben den Gesandten als of ziellen Vertretern der Poleis begegnen uns in den Ausführungen von Thukydides immer wieder auch informelle Akteure, die außenpolitisch agierten. Als etwa die Lakedaimonier 420 von den mit ihnen im Streit liegenden Eleiern, denen die Aufsicht über das Heiligtum in Olympia oblag, von dem Opfer an Zeus und damit von den Olympischen Spielen ausgeschlossen wurden, 16 das Gespann des Spartaners Lichas aber dennoch gewann, trat dieser persönlich auf, um den Wagenlenker zu bekränzen. 17 Er tat dies sicherlich auch, um von der versammelten Festgemeinschaft Anerkennung für sich selber und seine Leistungen einzufordern. Zugleich aber trat er dabei vor Vertretern der übrigen griechischen Welt als Spartaner auf und beanspruchte den Sieg so für seine Heimat. 18 Lichas ging damit eindeutig – und dies sicher ohne of ziellen Auftrag – das Risiko einer Eskalation der schwelenden Kon ikte ein. Ein Einzelner gefährdete hier den bereits fragilen Waffenstillstand. 19 Allein die Tatsache, dass Sparta sich trotz des gewalttätigen Vorgehens der Stabträger gegen seinen Bürger zurückhielt, verhinderte eine Störung des Festes und eine militärische Auseinandersetzung.
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bilden die im Laufe des 5. Jahrhunderts entwickelten Klassi zierungen von Gegnern als feindlich, fremd (ἔχθρος, πολέμιος). Diese Begriffe dienten aber der Abgrenzung einer bestimmten Gruppe gegenüber allen anderen und waren so Teil der Identitätsbildung dieser Gruppe; das gilt mutatis mutandis auch für Wendungen wie ἔμφυλος στάσις oder ἐμφύλιος ͝Αρης (Bürgerkrieg). Zur Konzeption polisübergreifender Beziehungen in klassischer Zeit insgesamt Maria Osmers: Zwischen Vergemeinschaftung und Anarchie. Zur Konzeption und Wahrnehmung polisübergreifender Beziehungen in klassischer Zeit. In: Klio 97 (2015), 32–58. Die Eleier begründeten diesen Ausschluss damit, dass die Spartaner die ihnen auferlegte Buße nicht zahlen wollten, nachdem sie den Festfrieden gebrochen hatten. Thukydides stellte diesem Bericht den Einspruch der Spartaner gegenüber, der allerdings ohne Wirkung blieb. Zugleich suggeriert der Historiker, dass der Kon ikt der Eleier mit den Spartanern um die Region Lepreon einen gewichtigen Grund für den Ausschluss darstellte, da er auch in den Verhandlungen eine große Rolle spielte, vgl. Thuk. 5,49. In Olympia wurde bei Wagenrennen nicht der Wagenlenker, sondern der Besitzer des Gespanns als Sieger ausgerufen. Daher war es dem Spartaner Lichias möglich, seinen Wagen starten zu lassen – of ziell wurde der Sieg dabei als boiotischer Erfolg ausgerufen, vgl. Thuk. 5,50,4. Zum politischen Charakter der Spiele und Weihpraktiken in Olympia in klassischer Zeit siehe Michael Scott: Delphi and Olympia. The Spatial Politics of Panhellenism in the Archaic and Classical Periods. Cambridge 2010, 234 f. Wie groß die Gefahr war, zeigt der Bericht von Thukydides: Die Eleier befürchteten, dass die Spartaner die Teilnahme an den Spielen mit Waffengewalt erzwingen könnten. Dass Lichias zudem von den Stabträgern geschlagen und so von der Bahn vertrieben wurde, steigerte die allgemeine Furcht, vgl. Thuk. 5,50.
Polisübergreifende Beziehungen im Wandel
Ungleich größeren Ein uss auf das Geschehen nahm eine informelle Absprache zwischen den Argivern Thrasylos und Alkiphron und dem spartanischen König Agis im Jahre 418. Als sich beide Heere in der Argolis kampfbereit gegenüberlagen, einigten sich die drei ohne Absprache mit der Heimat oder den Verbündeten auf einen viermonatigen Friedensvertrag und zogen mit ihren Truppen ab. 20 Laut Thukydides war Alkiphron ein Gastfreund, also Proxenos, Spartas, der als Vermittler gemeinsam mit Thrasylos, einem der fünf argivischen Feldherren, die Bedingungen für einen Frieden mit Agis aushandelte. Zwar gerieten alle Beteiligten im Anschluss heftig in die Kritik – Agis musste sich mit Anfeindungen seiner Mitbürger und Verbündeten auseinandersetzen, während Thrasylos nach einer Verurteilung gar gesteinigt werden sollte und sich diesem Schicksal nur durch die Flucht an einen Altar entziehen konnte, woraufhin er nur sein Vermögen verlor. 21 Aber die Absprachen wurden zumindest zeitweise eingehalten und besaßen somit Gültigkeit. Die Proxenie erleichterte in diesem Beispiel die Kommunikation unter den Beteiligten. Sie erzeugte Vertrauen und schuf so die notwendigen Voraussetzungen für bündnispolitische Absprachen. Zugleich aber ermöglichte sie es Einzelnen, durch persönliche Beziehungen außerhalb der of ziellen Vorgaben zu agieren und die Ereignisse in ihrem Sinne zu beein ussen. Diese ambivalente Funktion der Proxenie zeigte sich auch bei späterer Gelegenheit: Sparta entsandte einen Proxenos der Argiver, um nach der Schlacht von Mantineia 418 über Frieden zu verhandeln. Dieser stand jedoch zugleich mit einzelnen Personen in Argos in engerer Beziehung, welche die Situation nutzen wollten, um die demokratische Verfassung zugunsten einer oligarchischen Regierung zu stürzen. Ihr Vorhaben war kurzfristig von Erfolg gekrönt. 22 Wieder nutzten Einzelne ihre Verbindungen, um Abläufe – hier die in der Polis – in ihrem Sinne zu lenken. Natürlich ging so von der Proxenie eine Gefahr für die Geschlossenheit der Bürger und damit für das gesamte Gemeinwesen aus. Vorkehrungen gegen eine solche Übermacht Einzelner wurden im Zuge der Institutionalisierung der Polis immer nötiger. In diesem Sinne beschlossen die Spartaner nach dem oben beschriebenen eigenmächtigen Vorgehen von Agis, dem König als Feldherrn zukünftig immer einen 20 Vgl. Thuk. 5,59 f. 21 Zur Kritik an Agis und zum Schicksal von Thrasylos vgl. Thuk. 5,60,6. 22 Zu den konspirativen Vorgängen in Argos nach der Schlacht von Mantineia siehe Thuk. 5,76; zur anschließenden Einsetzung einer oligarchischen Verfassung in Argos vgl. Thuk. 5,81. Insgesamt zur Bedeutung der Proxenie in Griechenland siehe Christian Marek: Die Proxenie. Frankfurt am Main, Bern, New York 1984; William Mack: Proxeny and Polis. Institutional Networks in the Ancient Greek World (Oxford Studies in Ancient Documents). Oxford 2015.
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Beirat von zehn gewählten Spartiaten mitzugeben. 23 In ähnlicher Form bemühten sich andere Poleis um eine Integration der Proxenie in die Polisordnung. Eine Inschrift aus Argos bereits aus dem Jahre 475 beweist, dass Proxenoi nicht mehr allein durch ihre Familienzugehörigkeit bestimmt, sondern wahrscheinlich zusätzlich von der Volksversammlung ernannt wurden. 24 Sie ist als frühes Zeugnis des Versuchs zu werten, die traditionellen Bindungen einzelner, zumeist adliger Bürger nach außen einzuhegen und im Sinne der Polis zu nutzen. Offensichtlich waren diese und ähnliche Maßnahmen im Laufe des 5. Jahrhunderts von Erfolg gekrönt: In Xenophons Hellenika aus dem 4. Jahrhundert begegnet uns die Proxenie als eine Institution in der Außenpolitik, die primär im Sinne der Polis genutzt wurde – die individuellen Spielräume waren eingedämmt worden. 25 Die Wurzeln der Proxenie lagen in der Gastfreundschaft, die etwa in Homers Epen eine große Bedeutung für die Beziehungen der Basileis untereinander besessen hatte. In der früharchaischen Gesellschaft, die sich in den Epen widerspiegelt, bildeten insgesamt persönliche Beziehungen die Grundlage fast aller Kontakte nach außen. 26 Dieser frühpolitische Charakter blieb der Außenpolitik in einigen Aspekten bis in frühklassische Zeit und – wie das Beispiel der Absprache von 418 zeigt – manchmal auch darüber hinaus erhalten. Die hohe Bedeutung einzelner Persönlichkeiten in der Außenpolitik zeigt sich auch an der frühen Geschichte der spartanisch-argivischen Beziehungen: So war zwar schon unter Zeitgenossen in klassischer Zeit umstritten, wann der Kon ikt um die Kynuria zwischen Argos und Sparta genau begann. Relativ einig aber sind sich die Autoren darin, dass es den Spartanern erst unter König Kleomenes – wohl zu Beginn des 5. Jahrhunderts – gelang, die Argiver eindeutig zu schlagen. Der Feldzug
23 Zu den Vorgängen in Sparta nach der Rückkehr des Heeres und zur Bestimmung, dem König ab diesem Zeitpunkt einen Beirat mitzugeben, siehe Thuk. 5.63. 24 Siehe SEG 13,239 (HGIÜ 45). 25 Die Beispiele in den Hellenika sind zahlreich, vgl. stellvertretend Xen. Hell. 6,1,4; 6,3,2; 6,4,24; 6,5,4. Zum Bedeutungsanstieg der Proxenie im 5. Jahrhundert insbesondere auch Marek: Die Proxenie; Osmers: „Wir aber sind damals und jetzt immer die gleichen“, 302 f.; Mack: Proxeny and Polis, 104 ff. 26 Zur Bedeutung persönlicher Beziehungen im polisübergreifenden Verkehr der archaischen Zeit vgl. Gabriel Herman: Ritualised Friendship and the Greek City. Cambridge, New York 1987, 41 ff.; David Konstan: Friendship in the Classical World (Key Themes in Ancient History). Cambridge, New York 1997, 60 ff. Zur Integration des Konzepts der Freundschaft in die Außenpolitik in späterer Zeit siehe Victor Ehrenberg: Der Staat der Griechen. Leipzig 1957, 78; M. I. Finley: Die Welt des Odysseus. Darmstadt 21979, 103 ff.; Lynette G. Mitchell: Greeks bearing gifts. The public use of private relationships in the Greek world, 435–323 BC. Cambridge, New York 2007, 71 f.; Osmers: Zwischen Vergemeinschaftung und Anarchie, 36ff.
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der Lakedaimonier gegen Argos wird dabei in allen Zeugnissen auf die alleinige Initiative des Königs zurückgeführt, der auch im weiteren Verlauf alle wichtigen Entscheidungen traf und somit die Befugnisse mehrerer Ämter und Gremien in seiner Person vereinte. 27 Auch als er es – ähnlich wie einige Jahrzehnte später Agis – unterließ, die Polis Argos abschließend anzugreifen und vernichtend zu schlagen, hatte diese Entscheidung für ihn keine Konsequenzen: König Kleomenes musste sich in Sparta zwar verantworten, wurde aber mit großer Mehrheit von allen Anschuldigungen freigesprochen. 28 Insgesamt erkennt man also bezüglich der an der Außenpolitik beteiligten Akteure eine klare Entwicklungslinie: Die Macht- und Handlungsspiele von Individuen wurden im 6. und insbesondere im Laufe des 5. Jahrhunderts klar eingeschränkt. Im Zuge der Ausgestaltung und Verfestigung der Polisordnungen gingen die Kompetenzen in äußeren Angelegenheiten mehr und mehr von einzelnen Führungspersönlichkeiten an die of ziellen Organe der Gemeinwesen über. Persönliche Beziehungen über die Polisgrenzen hinaus wurden in ihrer Bedeutung minimiert oder aber institutionell eingebunden. Damit verloren die adligen Vertreter natürlich auch ihre Privilegien, die nun von der Polis in Anspruch genommen wurden: So boten etwa die Herolde, die in den homerischen Epen als Begleiter der Basileis aufgetreten waren, nun den of ziellen Gesandten religiösen Schutz und damit diplomatische Immunität. 29 Zwar wurden in der Praxis häu g weiterhin bedeutende oder auch weithin bekannte Persönlichkeiten wie Feldherren oder Philosophen sowie Gastfreunde oder Proxenoi der Gegenseite als Gesandte bestellt, 30 jedoch wurden die persönlichen Ein ussmöglichkeiten
27 So präsentieren etwa Hdt. 6,76–81; Paus. 3,4,1; Plut. Mor. 223a–c Kleomenes als alleinigen Initiator des Vorgehens gegen Argos und schreiben ihm auch alle weiteren Entscheidungen vor Ort zu. 28 Über die Anklage und den Freispruch in Sparta berichtet Hdt. 6,82. Kleomenes war trotz seiner militärischen Erfolge eine sehr umstrittene Persönlichkeit, der von inneren und äußeren Gegnern mehrere Frevel vorgeworfen wurden, siehe zu den Vorwürfen der Argiver Hdt. 6,79 f.; 84; Paus. 3,4,5; Plut. Mor. 223a–c. Zur ambivalenten Persönlichkeit des Kleomenes und seiner Rolle in der spartanischen Geschichte vgl. auch Karl-Wilhelm Welwei: Sparta. Aufstieg und Niedergang einer antiken Großmacht. Stuttgart 2004, 116–121. 29 Zur Bedeutung der κήρυκες, die in den Homerischen Epen die ἄγγελοι begleiteten, vgl. pars pro toto Hom. Il. 3,268; 5,785; zu ihrer Rolle in klassischer Zeit siehe etwa Thuk. 4,118,6; insgesamt zu dieser Thematik Kienast: Presbeia, 507, 539. 30 Vgl. hierzu Frank Leslie Vatai: Intellectuals in Politics in the Greek World. From Early Times to the Hellenistic Age. London 1984, 109; Holger Sonnabend: Die Freundschaften der Gelehrten und die zwischenstaatliche Politik im klassischen und hellenistischen Griechenland. Hildesheim, Zürich, New York 1996, 109; Peter Scholz: Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Ver-
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durch klare Aufträge und eindeutige Vorgaben begrenzt. Die of ziellen Organe der Polis hatten nun in der Außenpolitik das letzte Wort. Die bisher skizzierten Veränderungen in der außenpolitischen Praxis lassen sich auf die Etablierung der Polis als bestimmender Gemeinschaftsform im griechischen Raum und somit auf innenpolitische Vorgänge zurückführen. Zeitgleich aber lässt sich an dem Beispiel des Kon ikts zwischen Argos und Sparta ein Wandel in den polisübergreifenden Beziehungen aufzeigen, der sich nicht allein mit diesen Faktoren begründen lässt. So beteiligten sich am Ende des 5. Jahrhunderts ungleich mehr Parteien und Akteure an den außenpolitischen Vorgängen als in früherer Zeit. Während Sparta und Argos ihre vorherigen Kon ikte unter sich ausgemacht hatten, trafen nun ganze Bündnissysteme aufeinander, deren Mitglieder zudem häu g wechselten. Den breiten Kooperationen gingen zugleich ausgiebige Verhandlungen sowie eindeutige Absprachen beziehungsweise falsche Versprechungen voraus. Die intensiven diplomatischen Kontakte und die Teilnahme vieler Poleis an Bündnissen und Kriegen zeigen, dass sich ein neues Bewusstsein in Hellas herausgebildet hatte: In außenpolitischen Angelegenheiten waren Vorteile für die eigene Polis nur noch im Verbund mit anderen herauszuschlagen, Kon ikte einzelner gingen also potenziell alle an. In diesem Sinne besaßen auch Grenzstreitigkeiten nun keinen regionalen Charakter mehr, sondern konnten je nach Konstellation und Situation alle Poleis im griechischen Raum interessieren. Die Vernetzung mit anderen – nicht nur den direkten Nachbarn – und das Zusammentragen von Informationen über deren Pläne und Kon ikte waren eine wichtige Voraussetzung geworden, um auch seine eigenen Interessen möglichst umfangreich durchsetzen zu können. 31
II. Die soeben skizzierte Ausdehnung und Intensivierung der Außenpolitik hatte auch Auswirkungen auf die Medien der polisübergreifenden Kommunikation. Dabei verstehe ich unter Medien im Folgenden in Anlehnung an Friedrich Kittler Techniken und Institutionen, die in einem Kulturraum zum Speichern, Verbreiten und Vermitteln von Informationen dienen. 32 Als Medien der Außenpolitik hältnisses von Philosophie und Politik im 4. und 3. Jh. v. Chr. (Frankfurter althistorische Beiträge 2). Stuttgart 1998, 40. 31 Die Intensivierung der Außenpolitik im 5. Jahrhundert wird gerade von der jüngeren Forschung betont und dabei häu g mithilfe von Netzwerktheorien erschlossen, vgl. stellvertretend Irad Malkin: A Small Greek World. Networks in the Ancient Mediterranean (Greeks Overseas). Oxford, New York 2011. 32 Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800, 1900. München 31995, 519.
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gelten so zum einen die Formen, in denen sich die Kommunikation in der griechischen Antike vollzog, egal ob die Botschaften an das Gegenüber dabei durch Sprache oder Bilder, dauerhaft oder üchtig vorgebracht wurden. Zum anderen fasse ich unter diesem Begriff Symbole, Rituale und Codes, die die Kommunikation begleiteten und im Kontakt mit anderen Verbindlichkeiten herstellen sollten beziehungsweise konnten. Zunächst sei betont, dass Massenmedien wie in der Moderne in klassischer Zeit nicht oder nur in Ansätzen existierten. 33 Vielmehr blieb im späten 5. Jahrhundert in polisübergreifenden Beziehungen das gesprochene Wort eindeutig das wichtigste Mittel der Kommunikation. 34 Trotz dieser anhaltend hohen Bedeutung der gesprochenen Sprache lässt sich in dieser Zeit ein gleichzeitiger Medienwandel erkennen: So griff man nun in bestimmten Situationen auf Kommunikationsmittel zurück, die die Außenpolitik gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit thematisierten. Die Zahl der Bündnis- und Friedensverträge, die inschriftlich festgehalten und in den beteiligten Poleis aufgestellt wurden, stieg sprunghaft an. 35 Zugleich veränderten sich die Inhalte der Verträge und die Anzahl an möglichen Variationen der Formulare nahm zu. Durch Thukydides sind wir über den Inhalt vieler dieser Urkunden informiert, auch wenn die Inschriften selbst verloren sind. Er zitiert etwa sowohl den Friedens- als auch den Bündnisschluss zwischen Argos und Sparta aus dem Jahre 418 wörtlich. 36 Ersterer regelte dabei über die konkreten Voraussetzungen 33 Das einzige Medium, das für die klassische Zeit ansatzweise als Massenmedium gelten kann, waren die Münzen. So fanden die athenischen Münzen als Zahlungsmittel insbesondere in der Zeit des delisch-attischen Seebunds hohe Verbreitung. Die Prägungen zeigten dabei einen eindeutigen Bezug zu Athen und vermittelten so sowohl gegenüber athenischen Bürgern als auch gegenüber Bündnern klare Handlungsanweisungen: Beide Gruppen sollten sich mit Athen identi zieren. Zur Diskussion um die Vereinheitlichung der Münzen im Seebund vgl. David Lewis: The Athenian Coinage Decree. In: Polly Low (Hrsg.): The Athenian Empire. Edinburg 2008, 118–131. Insgesamt zur Münze als (Massen-)Medium in der Antike bzw. ihrer häu g beschränkten Wirkkraft siehe Benedikt Eckhardt /Katharina Martin (Hrsg.): Geld als Medium in der Antike. Berlin 2011. Zu verschiedenen Bildmotiven und ihrer politischen Aussage siehe Stefan Ritter: Bildkontakte. Götter und Heroen in der Bildsprache griechischer Münzen des 4. Jahrhunderts v. Chr. Berlin 2002. 34 Vgl. hierzu insbesondere Rosalind Thomas: Literacy and Orality in Ancient Greece (Key Themes in Ancient History). Cambridge, New York 1992. 35 Zur steigenden Bedeutung von Inschriften für die Übermittlung von Nachrichten vgl. Sian Lewis: News and Society in the Greek Polis (Studies in the History of Greece and Rome). London 1996, 125. 36 In den Büchern 4, 5 und 8 stehen die Urkunden noch im mehr oder weniger originalen Wortlaut, da Thukydides sein Werk nicht vollendet hat, vgl. hierzu Klaus Meister: Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus.
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und Bedingungen für den Frieden hinaus sehr viel allgemeiner die Verhältnisse auf der Peloponnesischen Halbinsel, indem er den Status quo festschrieb, im Falle einer Invasion von außen aber ein gemeinsames Vorgehen nahelegte. 37 Ebenso konkret erfasste der kurz darauf vereinbarte Bündnisvertrag die zukünftige Beziehung zwischen Sparta und Argos und unterschied sich so von den wenigen inschriftlich belegten Urkunden aus dem 6. Jahrhundert: Denn während diese eher vage das Konzept von Freundschaft von der interpersonellen auf die polisübergreifende Ebene übertragen hatten, 38 nannte jener sowohl P ichten und Rechte der beteiligten Parteien als auch Möglichkeiten, im Kon iktfall eine gewalttätige Eskalation zu vermeiden. 39 Durch die vielen, durchaus wechselhaften Bündnisse und Kooperationen vervielfältigten sich ab dem beginnenden Stuttgart, Berlin, Köln 1990, 53 ff. Zu den Urkunden im thukydideischen Geschichtswerk auch Friedhelm L. Müller: Das Problem der Urkunden bei Thukydides. Die Frage der Überlieferungsabsicht durch den Autor (Palingenesia 63). Stuttgart 1997. 37 Siehe Thuk. 5,77,5–7. Hier heißt es: „Die Städte im Peloponnes, große und kleine, sollen frei sein alle wie von alters. Wenn eine Macht von außerhalb des Peloponnes feindselig gegen den Peloponnes kommt, werden sie nach gemeinsamem Plan verteidigen, wie es den Peloponnesiern am ehesten recht scheint. Für die Verbündeten Spartas außerhalb des Peloponnes gilt all dies gleich wie für Sparta, und für die Verbündeten von Argos gleich wie für Argos; sie behalten, was sie hatten.“ (Übersetzung v. Georg P. Landmann); (τὰς δὲ πόλιας τὰς ἐν Πελοποννάσῳ, καὶ μικρὰς καὶ μεγάλας, αὐτονόμως ἦμεν πάσας καττὰ πάτρια. αἰ δέ κα τῶν ἐκτὸς Πελοποννάσω τις ἐπὶ τὰν Πελοπόννασον γᾶν ἴῃ ἐπὶ κακῷ, ἀλεξέμεναι ἁμόθι βωλευσαμένως, ὅπᾳ κα δικαιότατα δοκῇ τοῖς Πελοποννασίοις. ὅσσοι δ+ ἐκτὸς Πελοποννάσω τῶν Λακεδαιμονίων ξύμμαχοί ἐντι, ἐν τῷ αὐτῷ ἐσσίονται ἐν τῷπερ καὶ τοὶ Λακεδαιμόνιοι, καὶ τοὶ τῶν ᾿Αργείων ξύμμαχοι ἐν τ〈ῷ αὐτῷ ἐσσίονται ἐν τῷπερ καὶ τοὶ ᾿Αργεῖοι〉, τὰν αὐτῶν ἔχοντες.) 38 So de nieren die bekannten frühen Inschriften das eingegangene Bündnis nur vage als φιλία und verweisen auf die religiöse Fundierung des Zusammenschlusses, ohne nähere Bestimmungen zu treffen, vgl. etwa StV II 111 (HGIÜ 12); 120 (HGIÜ 16); ab dem beginnenden 5. Jahrhundert nden wir Inschriften, die als συμμαχία-Verträge konkretere Angaben machen und etwa die Dauer des Bündnisses und gegenseitige Hilfesleistungen im Krieg festsetzen, vgl. etwa StV II 110 (HGIÜ 29). Ab der Mitte des 5. Jahrhunderts werden die erhaltenen Verträge immer komplexer, siehe etwa StV II 139 (HGIÜ 58); 186 (HGIÜ 121). Zur Konzeption der Bündnisse auf Grundlage der interpersonellen φιλία siehe Osmers: Zwischen Vergemeinschaftung und Anarchie, 36 f. Zur Veränderung des Vertragsformulars im Verlauf der klassischen Zeit siehe Ernst Baltrusch: Symmachie und Spondai. Untersuchungen zum griechischen Völkerrecht der archaischen und klassischen Zeit (8.– 5. Jahrhundert v. Chr.) (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 43). Berlin, New York 1994, 17 ff. 39 Der Vertrag wurde auf 50 Jahre geschlossen und schloss auch die jeweiligen Bündner ein. Mehrfach wird im Vertragstext an die Parteien appelliert, sich im Kon iktfall gütlich zu einigen und ein Schiedsgericht einzusetzen, wenn keine andere Lösung gefunden werden kann, vgl. Thuk. 5,79.
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5. Jahrhundert und insbesondere während des Peloponnesischen Kriegs auch die Bündnisformen und ihre Formulare. Die Fixierung der Verträge in Inschriften machte die Vereinbarungen öffentlich sichtbar und ermöglichte es einer größeren Anzahl von Personen, das notwendige Wissen über deren konkrete Inhalte zu erlangen und dieses im Zweifelsfall in der Volksversammlung, im Rat oder in der Fremde zu nutzen. Obwohl die Alphabetisierungsrate in klassischer Zeit außerhalb kleiner gebildeter Kreise gering war, 40 zeigen die häu gen Verweise auf gemeinsame Eide und Vertragsbestimmungen bei Thukydides, dass die Kenntnisse in außenpolitischen Angelegenheiten wuchsen und auch konkrete Vereinbarungen bekannt waren. 41 Diese Entwicklung war nicht auf die eigene Polis beschränkt: Im Zuge der Ausweitung der Bündnisse und Kon ikte wurden Inschriften auch in den überregionalen Zentren aufgestellt. So sollte etwa eine Version des Vertrags zwischen Argos, Mantineia, Elis und Athen aus dem Sommer 420 laut Thukydides in Olympia aufgestellt werden. 42 Während hierbei sicher auch die Beteiligung der Eleier, denen die Aufsicht über das dortige Heiligtum oblag, sowie die bevorstehenden Spiele eine Rolle spielten, wurden ein Jahr zuvor Schrifttafeln mit dem Vertragstext des Nikias-Friedens zwischen Sparta und Athen sowie ihren jeweiligen Verbündeten in Olympia, Delphi und am Isthmos aufgestellt. 43 Die Inschriften wurden an diesen Orten eindeutig mit der Absicht positioniert, den Frieden mit all sei-
40 Zur Alphabetisierungsrate im klassischen Griechenland vgl. William V. Harris: Ancient Literacy. Cambridge 1989, 65 ff.; vgl. auch Thomas: Literacy and Orality, 150. 41 So wird in den Verhandlungen zwischen Sparta und Athen häu g auf die Bestimmungen des Nikias-Friedens Bezug genommen, vgl. etwa Thuk. 5,39; 46. Ähnliche Verweise auf Vertragsinhalte kamen in Debatten zwischen Athen und Argos im Jahre 419 auf, siehe Thuk. 5,56. Zugleich suggerieren beispielsweise die Vorgänge in Argos im Jahr 420, dass Bündnisschlüsse zwischen zwei oder mehr Gemeinwesen (hier Sparta und Boiotien) auch in anderen Gemeinwesen bekannt waren und ebenso die Stimmung gegenüber solchen Verträgen (etwa in Athen) zur Kenntnis genommen wurde, vgl. Thuk. 5,44. Es ist davon auszugehen, dass das Wissen über außenpolitische Vorgänge durch wiederholtes Vorlesen bzw. Weitererzählen in der Polis verbreitet wurde. Denn für innenpolitische Angelegenheiten und Gesetze in Athen bezeugen dies sowohl die politischen (vgl. etwa Demosth. 4,3; 50,2 f.) als auch die Gerichtsreden (vgl. etwa Lys. 1,28; Demosth. 22,72 f.; 23,31). Wie bestimmtes Wissen insgesamt trotz der niedrigen Alphabetisierungsrate in den Gemeinschaften weitergetragen wurde, verdeutlicht – ebenfalls am Beispiel Athen – Josiah Ober: Democracy and Knowledge. Innovation and Learning in Classical Athens. Princeton 2008. 42 Thuk. 5,47,11: „[. . . ] gemeinsam errichten sie auch eine Erztafel in Olympia an den jetzigen Olympien“ (Übersetzung v. Georg P. Landmann), (καταθέντων δὲ καὶ ᾿Ολυμπίασι στήλην χαλκῆν κοινῇ ᾿Ολυμπίοις τοῖς νυνί.). 43 Vgl. Thuk. 5,18,10.
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nen Bedingungen vor beziehungsweise unter Aufsicht der griechischen Welt zu schließen, die in den kultischen Zentren regelmäßig zusammentraf. Die Aufstellung der Inschriften bestätigt einen Trend, der sich ab dem beginnenden 5. Jahrhundert abzeichnet: Insbesondere die Heiligtümer von Olympia und Delphi entwickelten sich zu politischen Foren, die die Griechen nutzten, um sich zu vernetzen und auszutauschen. So wurden etwa bewusst Verhandlungen zwischen Gemeinwesen an diese Orte verlegt. 44 Dabei erhielten auch die Weihungen für die Gottheiten – Zeus in Olympia und Apollon in Delphi – und die Spiele vor Ort mehr und mehr einen politischen Charakter. Es traten nicht mehr wie in archaischer Zeit einzelne, zumeist adlige Individuen als Stifter auf, um sich vor ihren Standesgenossen zu pro lieren, sondern die gesamte Polisgemeinschaft; Siege der Athleten wurden in den Oden nicht nur als Einzelleistungen, sondern als Verdienste des ganzen Gemeinwesens besungen. Beide Medien – die Weihgaben und die Dichtung von Siegesliedern – wurden in klassischer Zeit dementsprechend vermehrt genutzt, um außenpolitische Botschaften breitenwirksam zu kommunizieren. 45 Diese polisübergreifende Ausrichtung zeigt sich wiederum eindrucksvoll an den Weihungen, die im Kontext des argivisch-spartanischen Kon ikts entstanden. Während der Schlachten zwischen Argos und Sparta im 6. und zu Beginn des 5. Jahrhunderts wohl insbesondere im regionalen Kontext etwa durch die Anlage von Gräbern oder durch Siegeszeichen gedacht wurde, 46 stifteten die 44 So wurden während des Peloponnesischen Krieges Verhandlungen zwischen Sparta und Mytilene im Jahre 428 nach Olympia verlegt, vgl. Thuk. 3,8. 45 Zum (außen)politischen Charakter der Weihaktivitäten in den Heiligtümern vgl. Scott: Delphi and Olympia, 266 ff.; zur Integration der siegreichen Athleten in die Polis und zum politischen Charakter der Oden und Athleten-Statuen siehe Christian Mann: Athlet und Polis im archaischen und frühklassischen Griechenland (Hypomnemata 138). Göttingen 2001. Insgesamt zur Ausgestaltung der Heiligtümer als politische Foren siehe Nanno Marinatos: What were Greek santuaries? A synthesis. In: ders./Robin Hägg (Hrsg.): Greek Sanctuaries. New Approaches. London 1993, 228–233; Christoph Ulf: Überlegungen zur Funktion überregionaler Feste in der frühgriechischen Staatenwelt. In: Walter Eder/ Karl-Joachim Hölkeskamp (Hrsg.): Volk und Verfassung im vorhellenistischen Griechenland. Beiträge auf dem Symposium zu Ehren von Karl-Wilhelm Welwei in Bochum, 1.– 2. März 1996. Stuttgart 1997, 37–61. 46 So sah Pausanias etwa in der Argolis Gräber von gefallenen Argivern, die an den (mythischen?) Sieg bei Hysiai gegen die Lakedaimonier erinnerten, siehe Paus. 2,24,7. Die Argiver wiesen laut Pausanias (Paus. 10,9,12) in römischer Zeit auch ein in Delphi geweihtes Bronzepferd, das eindeutig einen Bezug zum Troianischen Krieg herstellen sollte, dieser Schlacht zu; archäologische Funde aber zeigen, dass die Stiftung erst im Jahr 414 nach einem argivischen Sieg über die Spartaner errichtet wurde, vgl. hierzu Anne Jacquemin: Offrandes monumentales à Delphes (BEFAR 304). Athen, Paris 1999, 194 f.
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Spartaner nach ihrem Sieg gegen die Argiver und Athener bei Tanagra im Jahre 457 einen goldenen Schild aus dem Zehnten der Beute nach Olympia. 47 Sicher statteten sie auf diese Weise auch Zeus ihren Dank ab. Ebenso sehr aber beabsichtigten sie, den vielen Besuchern des Heiligtums dauerhaft ein Zeichen ihres Sieges vor Augen zu führen. Die Argiver errichteten mit ähnlicher Intention nach einem Sieg über die Lakedaimonier, der gemeinsam mit den Athenern errungen worden war und wohl ebenfalls in die Mitte des 5. Jahrhunderts el, eine ganze Statuengruppe als Weihgabe in Delphi. Sie formulierten dabei ein weitreichendes politisches Interesse ganz offen: Das Monument zeigte wichtige Persönlichkeiten aus der argivischen Vorgeschichte und verwies so auf eine Zeit, in der Argos Sparta zumindest ebenbürtig gewesen war. 48 Die Argiver feierten also den aktuellen Sieg gegen Sparta, suggerierten zugleich, mit diesem an ihre Machtstellung in mythischer Zeit anzuknüpfen, und teilten diesen Anspruch der übrigen griechischen Welt mit. Der Dank an Apollon und die Kommunikation mit anderen Hellenen und somit die religiöse und politische Sphäre zeigen sich auch hier eng verwoben. Neben ihrer Funktion als Zentren polisübergreifender Kommunikation wurden die Heiligtümer aufgrund ihrer politischen Bedeutung selber zu Medien der Außenpolitik: Ein Ausschluss vom Opfer und von den Spielen war ein geeignetes Mittel, den Ruf der Betroffenen zu schädigen und somit deren Stellung im griechischen Raum zu hinterfragen. So ging es den Eleiern, als diese im Jahre 420 – wie oben erwähnt – die Spartaner von den Olympien ausschlossen, nicht nur um den vermeintlich gebrochenen Festfrieden oder nicht beglichene Bußen. Vielmehr spielte ebenso die allgemeine politische Lage eine Rolle – die Konstellationen auf der Peloponnesischen Halbinsel hatten sich durch das Bündnis von Argos und Elis zuungunsten der Lakedaimonier verschoben. Die Eleier hofften, ihren eigenen Nutzen aus der Situation ziehen zu können, waren sie doch ebenfalls mit den Spartanern in einen Territorialstreit verwickelt. 49 Sie konnten durch die Aktion nur gewinnen. Entweder gelang es, die Spartaner vor der gesamten griechischen Welt zu demütigen, oder aber, diese als Rechtsbrecher zu einem unpopulären Angriff zu bewegen.
47 Pausanias beschreibt die Weihgabe als ἀσπίς, also einen Schild. Die angebrachte Inschrift, von der Fragmente überliefert sind und deren Text der Perieget zitiert, verweist auf eine φιάλη, also eine Schale oder ein Gefäß, siehe Paus. 5,10,4.; vgl. hierzu auch IvOl 253. 48 Vgl. Paus. 10,10,3–6; zu dieser Weihung auch Osmers: „Wir aber sind damals und jetzt immer die gleichen“, 264. 49 Siehe zu dem Ausbruch der Streitigkeiten um Lepreon Thuk. 5,31; 5,34; vgl. zum Zusammenhang des Kon ikts mit dem Ausschluss von den Spielen Thuk. 5,49 f.
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Nicht nur in den Heiligtümern waren Religion und Politik eng miteinander verknüpft; religiöse Zeremonien wie etwa die Eide bildeten insgesamt ein wichtiges Medium der Außenpolitik, wobei sich jedoch in diesem Fall keine Entwicklung, sondern eine eindeutige Kontinuität zur Archaik erkennen lässt: Zwischenstaatliche Verträge wurden im 5. Jahrhundert wie in früheren Zeiten beeidet und damit unter den Schutz der Götter gestellt. Dabei schworen, wie sich im Vertrag zwischen Athen, Mantineia, Elis und Argos von 420 sowie in dem Friedensvertrag zwischen Argos und Sparta von 418 erkennen lässt, die einzelnen Poleis zwar getrennt ihre lokalen Eide, taten dies aber in der Gewissheit, ihre religiösen Vorstellungen im Allgemeinen mit ihrem Gegenüber zu teilen. 50 Obwohl die Verträge zumeist für einen längeren Zeitraum geschlossen wurden, wurden die Eide dabei regelmäßig erneuert, um die Verbindlichkeit zu erhöhen. 51 Zugleich konnten religiöse Verfehlungen wie der Eidbruch oder der Frevel gegenüber der religiös-normativen Ordnung im 5. Jahrhundert wie in archaischer Zeit als Begründungen kriegerischer Handlungen herangezogen werden. 52 In diesem Sinne nannten die Argiver eine solche religiöse Verfehlung als Grund für die Eskalation des Kon ikts zwischen ihnen und den Epidauriern im Jahr 419, welcher wiederum den nalen Anlass für den Krieg zwischen Argos und Sparta ein Jahr später bot. Die Argiver warfen ihren Nachbarn aus Epidauros dabei vor, ihnen den Beitrag für ein Opfer schuldig geblieben zu sein. 53 Kultische Vorschriften konnten aber zugleich auch befriedend wirken und kriegerische Handlungen unterbrechen oder verhindern: So zog etwa König Agis mit seinem Heer im Jahre 419 beim ersten Ausmarsch nicht in die Argolis, um die Epidaurier zu unterstützen, als ein Übergangsopfer schlecht aus el. 54 Während Feste wie die Karneien in Sparta oder die Olympien stattfanden, wurden Kampfhandlungen ausgesetzt; 55 50 So sollten alle am Vertrag von 420 beteiligten Städte laut Thuk. 5,47,7 f. ihren landesüblichen Eid schwören und eigene Opfer vollziehen, siehe auch IG I2 86. In ähnlicher Form wurde der Friedensvertrag von 418 beschworen, vgl. Thuk. 5,77,4 f. 51 So erneuerten etwa Athen und Sparta im Jahre 420 ihre Eide und bestätigten so den zwischen ihnen geschlossenen Friedensvertrag, vgl. Thuk. 5,46. Zum ambivalenten Charakter der Eide, die wenig dauerhafte Verbindlichkeiten herstellten, siehe Sebastian Scharff: Eid und Außenpolitik: Studien zur religiösen Fundierung der Akzeptanz zwischenstaatlicher Vereinbarungen im vorrömischen Griechenland (Historia Einzelschriften 241). Stuttgart 2016. 52 Vgl. zu diesem Themenfeld Osmers: „Wir aber sind damals und jetzt immer die gleichen“, 309 ff. 53 Vgl. Thuk. 5,53. 54 Vgl. Thuk. 5,54. 55 So konnten die Spartaner den Epidauriern im Anschluss an das missglückte Übergangsopfer im Sommer 419 zunächst nicht zu Hilfe kommen, da kurz darauf der heilige Monat
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in ähnlicher Weise ermöglichte ein Waffenstillstand den Besiegten auch nach der Schlacht von Manineia wie schon den Unterlegenen in der Ilias, ihre Gefallenen zu bergen und im Sinne der kultischen Vorschriften zu bestatten. 56 Während die bisher genannten Medien der Außenpolitik auf früheren Formen aufbauten, diese übernahmen, modi zierten oder weiterentwickelten, entstanden aus der Notwendigkeit heraus im Zuge der Ausdehnung der polisübergreifenden Kontakte auch neue Instrumentarien, die im Sinne moderner völkerrechtlicher Bestimmungen befriedend auf die griechische Welt wirken sollten. So gewann etwa das Schiedsgericht als Alternative zur gewalttätigen Eskalation von Kon ikten in klassischer Zeit eine gewisse Popularität und wurde gerade bei Grenzstreitigkeiten genutzt. Inschriften belegen, dass bereits in der Mitte des 5. Jahrhunderts erste Schiedsgerichte eingesetzt wurden. 57 Besondere Bedeutung aber erlangten sie im Kontext des Peloponnesischen Krieges. So wurde beispielsweise Sparta die Rolle zugesprochen, im Kon ikt zwischen Elis und Lepreon zu vermitteln. 58 Auch die Argiver hatten sich bereits 420 bezüglich der Kynuria um dieses Medium bemüht, waren aber bei den Lakedaimoniern abgeblitzt. 59 Im
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Karneios begann, vgl. Thuk. 5,54; eine ähnliche Verzögerung gab es 418, siehe Thuk. 5,75 f. In ähnlicher Form hatten die Spartaner bereits ihre verspätete Ankunft bei Marathon im Jahre 490 damit begründet, dass sie mit ihrem Abmarsch hätten warten müssen, bis der neunte Tag des Monats vorbei war; höchstwahrscheinlich bezogen sie sich dabei ebenfalls auf ein Fest, vgl. Hdt. 6,106,3. Während der Olympischen Spiele 420 galt der Festfrieden, vgl. Thuk. 5,49; zum Olympischen Frieden, der Ekecheiria, insgesamt siehe Maria Theotikou: Die ekecheiria zwischen Religion und Politik. Der sog. „Gottesfriede“ als Instrument in den zwischenstaatlichen Beziehungen der griechischen Welt. Berlin, Münster 2013. Siehe zur Bergung der Gefallenen nach der Schlacht von Mantineia Thuk. 5,74; ähnliche Praktiken nden wir bereits in der Ilias, vgl. etwa Hom. Il. 7,408 ff. Vgl. etwa StV II 148 (HGIÜ 72). Siehe Thuk. 5,31. Zur steigenden Anzahl der Schiedsgerichte am Ende des 5. Jh. vgl. Yoshio Nakategawa: Forms of Interstate Justice in the Late Fifth Century. In: Klio 76 (1994), 135– 154. Vgl. Thuk. 5,41. Nachdem die Spartaner dieses Ansinnen abgelehnt hatten, konnten die Argiver zumindest durchsetzen, dass beide Parteien das Recht haben sollten, die Gegenseite zu einem entscheidenden Kampf um die Kynuria herauszufordern. Diese Vereinbarung nahm eine mythische Schlacht zum Vorbild, die beide Poleis mit je 300 Mann im 6. Jahrhundert um ebenjenes Gebiet ausgefochten haben sollen, deren Ausgang aber nicht eindeutig gewesen sei, da beide Parteien den Sieg beanspruchten; siehe zu dieser Schlacht Hdt. 1,82; vgl. auch Bershadsky: The Border of War and Peace. Die von Argivern und Spartanern so (zumindest in der Rückschau) wiederholt gewählte Kon iktlösungsstrategie schloss sicher an frühere Optionen an, Streitigkeiten durch einen Einzelkampf beizulegen, vgl. etwa Hom. Il. 3,254 ff.
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Bündnisvertrag mit Sparta nach der Niederlage bei Mantineia wurde das Schiedsgericht schließlich als Kon iktlösungsstrategie festgesetzt. 60 Auch in der Zeit nach dem Nikias-Frieden nahm die Intensivierung und Ausweitung der Außenpolitik stetig zu. Daher wurden im Folgenden weitere Instrumentarien entwickelt, welche die chaotischen Zustände in Hellas einhegen sollten. Ein kurzer Ausblick auf das späte 5. und 4. Jahrhundert soll das bisher gezeichnete Bild von den Medien und Instrumenten der Außenpolitik vervollständigen und insbesondere weitere Innovationen aufzeigen, die im Bereich der polisübergreifenden Beziehungen aufkamen. Die Forderung nach Autonomie etwa war eine Reaktion auf die Dynamisierung der Außenpolitik und insbesondere auf die Tatsache, dass es einzelnen Gemeinwesen immer unmöglicher wurde, sich im Kontext von Kon ikten zwischen anderen Poleis neutral zu verhalten. Denn während beispielsweise Argos in den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges eine neutrale Haltung noch möglich gewesen war, 61 zeigt der Melierdialog, dass diese Option in der zweiten Phase für griechische Gemeinwesen nicht oder kaum mehr bestand. 62 Gerade für kleinere Poleis wurde der Anspruch auf Autonomie im Kontext des unsteten 4. Jahrhunderts immer bedeutender, um sich im wechselhaften Mächtespiel zu behaupten. Während sich das Konzept der Autonomie zunächst insbesondere in Reaktion auf das Verhalten Athens gegenüber seinen Bündnern im Seebund entwickelt hatte, wurde sie später in beinahe jeder Situation als Ziel außenpolitischer Aktivitäten genannt, auch wenn häu g andere Interessen im Vordergrund standen. 63 Seine volle Entfaltung 60 Vgl. hierzu Thuk. 5,79; insgesamt zum Schiedsgericht siehe Luigi Piccirilli: Gli arbitrati interstatali greci, volume I. Dalle orgini al 338 a.C. (Relazioni interstatali nel mondo antico 1). Pisa 1973; Sheila L. Ager: Interstate Arbitrations in the Greek World, 337–90 B. C. (Hellenistic Culture and Society 18). Berkeley, Los Angeles, London 1996. 61 Nach ihrer Neutralität in den Perserkriegen, vgl. Hdt. 7,149, blieben die Argiver auch in der ersten Phase des Peloponnesischen Krieges neutral, vgl. Thuk. 5,28. Kurz nach dem Friedensschluss zwischen Sparta und Argos von 418 schlugen sich die Argiver aber auf die Seite der Athener und kämpften mit diesen in Sizilien (Thuk. 6,67). Sie beteiligten sich auch in der zweiten Phase des Krieges aufseiten Athens, vgl. etwa Thuk. 8,25. 62 Zum Melierdialog siehe Thuk. 5,85 ff.; zur Neutralität im Peloponnesischen Krieg vgl. Víctor A. Troncoso: Neutralidad y Neutralismo en la Guerra del Peloponeso (431–404 a.C.) (Coleccíon de estudios 11). Madrid 1987; insgesamt zur Neutralität in klassischer Zeit siehe auch Robert A. Bauslaugh: The Concept of Neutrality in Classical Greece. Berkeley, Los Angeles, Oxford 1991. 63 Zur Entstehung des Autonomie-Konzepts im Kontext des Peloponnesischen Krieges vgl. Charles Fornara: The Aftermath of the Mytilenian Revolt. In: Historia 59 (2010), 129–142; zu den unsteten Verhältnissen und den vielen Macht- bzw. Bündniswechseln im 4. Jahrhundert vgl. John Buckler /Hans Beck: Central Greece and the Politics of Power in the Fourth Century BC. Cambridge, New York 2008; insgesamt zum Konzept der Autonomie
Polisübergreifende Beziehungen im Wandel
konnte das Konzept aber schließlich erst im Zusammenhang mit der Vorstellung entfalten, dass ein allgemeiner Friede die Sicherheit und Eigenständigkeit aller Poleis im griechischen Raum garantieren könne. Doch obwohl sich die sogenannte koine eirene im 4. Jahrhundert als Idee in den Köpfen der Griechen verankerte und somit der Friede als echte Alternative zu kriegerischen Handlungen erschien, blieben alle Versuche einer Umsetzung im griechischen Raum auf lange Sicht erfolglos. 64
III. Die polisübergreifenden Beziehungen wandelten sich in klassischer Zeit, und mit ihnen veränderten sich auch die Akteure und Medien, welche die Außenpolitik trugen. Wir können diese Entwicklungen einerseits auf die Durchsetzung der Polis-Kultur in Hellas zurückführen. So band die Polis einen großen Kreis von Personen in die Entscheidungsprozesse ein; dieser Schritt wirkte auf die Beziehungen nach außen, die notwendigerweise nach und nach ihren Charakter persönlicher Nahverhältnisse verloren. Einzelne hervorgehobene Persönlichkeiten mussten bestmöglich in die neue Ordnung integriert werden. Gleichzeitig musste Wissen über außenpolitische Angelegenheiten breitenwirksam kommuniziert werden, um allen Bürgern potenziell eine Teilhabe an den Entscheidungsndungsprozessen zu ermöglichen. Insgesamt wurde die ‚neue` Außenpolitik dabei zwar mithilfe der Mechanismen vorheriger informeller Beziehungen aufgebaut, diese wurden jedoch modi ziert, ersetzt oder auch aufgegeben, wenn sie die innere Ordnung der Gemeinschaft oder die internen Abläufe in der Polis bedrohten. Zum anderen intensivierten sich die außenpolitischen Aktivitäten im Allgemeinen, ohne dass spezi sche innenpolitische Vorgänge als alleinige Ursachen
siehe auch Martin Ostwald: Autonomia: Its Genesis and Early History (American Classical Studies 11). Chico, CA 1982. 64 Zum Konzept der koine eirene allgemein siehe T. T. B. Ryder: Koine Eirene. General Peace and Local Independence in Ancient Greece. Oxford 1965; zur Verfestigung der koine eirene als Idee sowie zum Scheitern eines allgemeinen Friedens gerade auch aufgrund des ambivalenten Konzepts der Autonomie Martin Jehne: Koine eirene. Untersuchungen zu den Befriedungs- und Stabilisierungsbemühungen in der griechischen Poliswelt des 4. Jahrhunderts v. Chr. (Hermes Einzelschriften 63). Stuttgart 1994; insgesamt zur Entwicklung des Konzepts „Frieden“ siehe auch Kurt A. Raaflaub: Friedenskonzepte und Friedenstheorien im griechischen Altertum. In: Historische Zeitschrift 290 (2010), 593–619. Zu den Gründen des Scheiterns der Instrumentarien in der Außenpolitik auch Osmers: Zwischen Vergemeinschaftung und Anarchie.
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hierfür identi ziert werden können. Die diplomatischen Kontakte und die beteiligten Akteure vervielfältigten sich, sodass sowohl der Rückgriff auf altbewährte als auch die Einführung neuer Medien nötig waren, um die gesteigerten Kommunikations- und Interaktionsbedürfnisse im gesamten griechischen Raum zu befriedigen und zugleich der zunehmenden Unsicherheit in der griechischen Außenpolitik entgegenzuwirken. Eine wachsende Zahl von Inschriften präsentierte die Ergebnisse außenpolitischer Verhandlungen in den Poleis, aber auch in Zentren, in denen viele Griechen zusammentrafen, um so ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Im Laufe der Zeit wurden die Bestimmungen der Verträge immer detaillierter ausgearbeitet, um die Beziehungen zwischen den Vertragspartnern eindeutig zu regeln und zukünftige Kon ikte oder Unstimmigkeiten zu vermeiden. Eidesleistungen sollten weiterhin zusätzliche Verbindlichkeit herstellen; darüber hinaus wurde die Religion insgesamt als verbindendes Element betont und in diesem Sinne politisch instrumentalisiert. Allerdings verstärkte dieser Trend zusätzlich die Konkurrenz im griechischen Raum: Bilder und Weihgaben etwa, die in den überregionalen Heiligtümern positioniert wurden, transportierten vermehrt eindeutig politische Botschaften. Verschiedene weitere Instrumentarien – wie die Schiedsgerichte, die Autonomie oder die koine eirene – sollten daher befriedend wirken, waren aber nur bedingt erfolgreich. Trotz der Vervielfältigung und Ausdifferenzierung der Medien beziehungsweise Instrumentarien der Außenpolitik blieben die Zustände chaotisch. Abschließend bleibt aber noch eine Frage bestehen: Warum intensivierte sich die Außenpolitik in klassischer Zeit in einem solch atemberaubenden Tempo? Einen wichtigen Faktor, der diese Entwicklung einleitete, stellte das Erlebnis der Perserkriege dar. Die Erfolge gegen die Perser hatten zu Beginn des 5. Jahrhunderts das Selbstvertrauen der Griechen erhöht und zugleich ihr Bewusstsein als Gruppe gestärkt. Der Panhellenismus bewirkte so automatisch eine Öffnung der Poleis nach außen und förderte größere oder auch gesamtgriechische Unternehmungen. 65 Dass der Bund der Hellenen gesiegt hatte, war für viele unbegreiflich und daher in aller Munde. Die Re exionen über Gründe und Ursachen führte die griechische Literatur ebenso wie die Kunst zu ungeahnter Blüte. 66 Insgesamt 65 Zum Panhellenismus vgl. insbesondere Jonathan M. Hall: Hellenicity. Between Ethnicity and Culture. Chicago 2002; Allan A. Lund: Hellenentum und Hellenizität: Zur Ethnogenese und zur Ethnizität der antiken Hellenen. In: Historia 54 (2005), 1–17; Lynette Mitchell: Panhellenism and the Barbarian in Archaic and Classical Greece. Swansea 2007. 66 Zum „Orientierungsbedürfnis“ der Griechen nach den Perserkriegen und dem „KönnensBewusstsein“ sowie den Auswirkungen beider auf die kulturellen, literarischen und politischen Entwicklungen in Athen und Hellas vgl. insbesondere Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main 1980.
Polisübergreifende Beziehungen im Wandel
stellten die Ereignisse den griechischen Poleis eine Fülle neuer Möglichkeiten vor Augen, außenpolitisch zu agieren; und diese wurden genutzt. Dennoch: In und nach den Perserkriegen wurden zumeist nur vorherige Trends fortgesetzt. So hatte sich der Peloponnesische Bund bereits im 6. Jahrhundert formiert und damit ein Vorbild für spätere, größere Kooperationen geschaffen. 67 Inschriften vermehrten sich – wie oben gesehen – langsam schon in dieser Zeit und die Weihaktivitäten in den überregionalen Heiligtümern nahmen zu. Die Perserkriege wirkten demnach nur als Katalysator und beschleunigten zuvor eingeleitete Veränderungen und Dynamiken im griechischen Raum, deren die Griechen aber in dieser Geschwindigkeit nur in Ansätzen Herr werden konnten.
67 Zum Aufbau des Peloponnesischen Bunds und seiner Vorbildfunktion für andere Symmachien vgl. Klaus Tausend: Amphiktyonie und Symmachie. Formen zwischenstaatlicher Beziehungen im archaischen Griechenland (Historia Einzelschriften 73). Stuttgart 1992; Baltrusch: Symmachie und Spondai.
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Zwischen Weltwirtschaftsoper und Kamingespräch Helmut Schmidt und die Gipfeldiplomatie am Beispiel der deutsch-britischen Beziehungen, 1974–1982
Helmut Schmidts Kanzlerschaft von 1974 bis 1982 el in einen Zeitraum globaler Umbrüche, in welchem die relativ stabile Nachkriegsordnung zunehmend der heutigen multilateralen, globalisierten und interdependenten Welt gewichen ist. 1 Ebenso markierte die Epoche auch eine zunehmende Medialisierung der Außenpolitik, die ihren Ursprung nicht zuletzt im Bedeutungsgewinn des Fernsehens sowie der zunehmenden Polarisierung der Massenmedien in den späten 1950er und 1960er Jahren hatte. 2 Beide Entwicklungen hatten profunde Auswirkungen auf die Strukturen außenpolitischer Kommunikation westlicher Staaten. Insbesondere lässt sich für den Zeitraum der Kanzlerschaft Schmidts eine deutliche Intensivierung der Gipfeldiplomatie konstatieren, welche durch die Gründung des Europäischen Rats im Dezember 1974 und des Weltwirtschaftsgipfels im November 1975 auch institutionalisiert wurde. Bis vor kurzem hat die Gipfeldiplomatie lediglich peripheres historisches Interesse hervorgerufen; häu g beein usst von einer generelleren (und meist berechtigten) sozial- und kulturgeschichtlichen Kritik der traditionellen diplomatischen Geschichtsschreibung und deren übermäßiger Fixierung auf (männliche) Eliten und Events – chaps and maps. 3
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Vgl. Niall Ferguson /Charles S. Maier /Erez Manela /Daniel S. Sargent (Hrsg.): The Shock of the Global. The 1970s in Perspective. Cambridge, Mass. 2010; Anselm DoeringManteuffel /Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008; Bernd Faulenbach: Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982. Bonn 2011. Peter Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit. Massenmedien, Meinungsforschung und Arkanpolitik in den deutsch-amerikanischen Beziehungen von Erhard bis Brandt. München 2013, 17, 513. Für einen historiogra schen Überblick, siehe Patrick Finney: Introduction: What is International History? In: ders. (Hrsg.): Palgrave Advances in International History. Basing-
Zwischen Weltwirtschaftsoper und Kamingespräch
Erst in den letzten Jahren haben Historiker begonnen, das Phänomen der Gipfeldiplomatie im Sinne einer erneuerten und methodologisch erweiterten Internationalen Geschichte ernst zu nehmen und systematisch zu untersuchen. 4 Hierbei wird die Institutionalisierung der Gipfeldiplomatie primär als improvisierte Reaktion auf die globalen Krisen der frühen 1970er Jahre gesehen; als erster Versuch einer global governance im Lichte einer zunehmend interdependenten Welt. 5 Doch kann dieses Phänomen auch als Antwort auf die immer unübersichtlicheren und komplexeren Kommunikationsstrukturen der Außenpolitik interpretiert werden. So argumentiert beispielsweise Peter Hoeres, dass die „Medialisierung der Politik . . . Gegenkräfte“ hervorrief, was sich nicht zuletzt in der „Renaissance der Geheimdiplomatie“ niederschlug. Laut Hoeres fand diese jedoch „nicht isoliert von der Öffentlichkeit statt, sondern sie bedenkt sie mit, versucht sie zu instrumentalisieren und wird von ihr gestört und irritiert“. 6 In diesem Sinne kann freilich auch die Gipfeldiplomatie als geschützter Arkanraum auf höchster diplomatischer Ebene verstanden werden, welcher jedoch zugleich eine zutiefst performative Öffentlichkeitswirkung hatte. Im Folgenden soll anhand eines konkreten Fallbeispiels empirisch untersucht werden, inwiefern sich diese größeren Entwicklungen der internationalen Politik auf die außenpolitische Kommunikation zweier westeuropäischer Staaten auswirkte. Dies geschieht anhand der deutsch-britischen Beziehungen unter Helmut Schmidt, die eine besonders vielversprechende Fallstudie ermöglichen. Denn zum einen handelte es sich bei Schmidt um einen der wichtigsten Archi-
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stoke, New York 2005, 1–35, 6; Zara Steiner: On Writing International History: Chaps, Maps and Much More. In: International Affairs 73 (1997), 531–546. Für frühere Studien der Gipfeldiplomatie, vgl. David H. Dunn (Hrsg.): Diplomacy at the Highest Level. The Evolution of International Summitry. Basingstoke, London 1996; Robert D. Putnam /Nicholas Bayne: Hanging Together. Cooperation and Con ict in the Seven-Power Summits. London 1987. David Reynolds: Summits: Six Meetings that Shaped the Twentieth Century. London 2007; Emmanuel Mourlon-Druol /Federico Romero (Hrsg.): International Summitry and Global Governance. The rise of the G7 and the European Council, 1974–1991. London, New York 2014; Johannes von Karczewski: „Weltwirtschaft ist unser Schicksal“. Helmut Schmidt und die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel. Bonn 2008; Enrico Böhm: Die Sicherheit des Westens. Entstehung und Funktion der G7-Gipfel (1975–1981). München 2014; Emmanuel Mourlon-Druol: „Managing from the Top“: Globalisation and the Rise of Regular Summitry, Mid-1970s – early 1980s. In: Diplomacy & Statecraft 23 (2012), 679– 703; David Reynolds: Summitry as intercultural communication. In: International Affairs 85 (2009), 115–127.0 Vgl. Insbesondere Emmanuel Mourlon-Druol /Federico Romero: Introduction: Analysing the rise of regular summitry. In: dies.: International Summitry, 1–8. Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit, 532.
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tekten der institutionalisierten Gipfeldiplomatie ebenso wie um einen starken Befürworter der personal diplomacy auf höchster Ebene, wie jüngste Forschungen häu g herausstellen. 7 Zum anderen waren Deutschland und Großbritannien beide wichtige Mitglieder sowohl der Europäischen Gemeinschaft als auch der transatlantischen Allianz und dementsprechend in allen wichtigen multilateralen Gremien und Foren prominent vertreten: den Weltwirtschaftsgipfeln, der NATO und der EG. Schließlich gab es seit Anfang 1976 auch die institutionalisierten deutsch-britischen Konsultationen, welche im halbjährlichen Turnus stattfanden und so auch eine gewisse Regelmäßigkeit der Gipfeldiplomatie im bilateralen Verhältnis erzeugten. Dementsprechend existiert also umfangreiches Quellenmaterial, in welchem sich die graduellen, allmählichen Veränderungen in der außenpolitischen Kommunikation gut widerspiegeln. 8 Basierend auf dieser Fallstudie stellt der Beitrag drei größere Thesen auf, welche im Folgenden illustriert und empirisch untermauert werden sollen: Erstens, dass die Institutionalisierung der multilateralen Gipfeldiplomatie zu einer auf den ersten Blick überraschenden Stärkung bilateraler Beziehungen innerhalb multilateraler Allianzen führte; zweitens, dass high-level diplomacy oftmals bewusst als geschützter Kommunikationsraum in einer zunehmend unübersichtlichen außenpolitischen Landschaft eingesetzt wurde; drittens aber auch, dass die Gipfeltreffen gleichzeitig auch einen performativen Aspekt in der medialisierten Welt der 1970er Jahre erfüllten. Insbesondere wird argumentiert, dass das vertrauensvolle, informelle „Kamingespräch“ im vertraulichen Rahmen und das medial wirkungsvoll inszenierte „Gipfeltreffen“ eben nur scheinbare Gegensätze waren: Vielmehr benutzten die Staats- und Regierungschefs den vertraulichen Informationsaustausch häu g sogar bewusst, um ihre späteren öffentlichen Auftritte zu koordinieren und gezielt Ein uss auf die jeweiligen nationalen (und zu einem gewissen Grad transnationalen) Öffentlichkeiten zu nehmen. Die Renaissance der Gipfeltreffen und der high-level diplomacy stellt also auch im Bereich der außenpolitischen Kommunikation eine Reaktion auf die globalen Umbrüche der 1970er Jahre dar: Sie diente sowohl dem Austausch von verlässlichen Informationen im vermeintlich geschützten Arkanraum als auch der gezielten Beein ussung einer zunehmend medialisierten Öffentlichkeit, in welcher durch bewusste
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Karczewski: Weltwirtschaft; Kristina Spohr: Helmut Schmidt and the Shaping of Western Security in the Late 1970s. The Guadeloupe Summit of 1979. In: The International History Review 37 (2015), 168–192. Der Beitrag basiert auf kürzlich deklassi zierten Archivalien in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten.
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Koordination der anschließenden öffentlichen Darstellung die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik zunehmend verwischten. Zuerst befasst sich der Beitrag mit den Neuverhandlungen der britischen EG-Mitgliedschaft unter Premierminister Harold Wilson von 1974–1975. Es wird sowohl gezeigt, wie Schmidt von führenden Regierungsmitgliedern in der britischen öffentlichen Debatte gezielt instrumentalisiert wurde, als auch, inwiefern Schmidt im Gegenzug versuchte, den informellen, geschützten Raum der Gipfeltreffen gezielt zu nutzen, um die Vielzahl oftmals diffuser und widersprüchlicher Informationen aus Großbritannien besser zu kanalisieren. Es wird aber auch analysiert, inwiefern Wilsons generelle Skepsis gegenüber dem Format der Gipfeldiplomatie zu einer deutlichen Schwächung des deutsch-britischen Verhältnisses führte. Im Gegensatz hierzu zeigt der zweite Teil des Beitrags, wie die personal diplomacy von Wilsons Nachfolger als Premierminister ab 1976, James Callaghan, zu einer Revitalisierung des deutsch-britischen Verhältnisses beitrug. Es wird dargelegt, in welcher Weise Schmidt und Callaghan ihr persönliches Vertrauensverhältnis nutzten, um potenziell störende bilaterale Probleme auf höchster diplomatischer Ebene aus dem Weg zu räumen und ihren gemeinsamen Ein uss in multilateralen Foren zu stärken. Ebenso wird gezeigt, in welch umfassender Weise Schmidt und Callaghan ihr persönliches Verhältnis gezielt öffentlich inszenierten und in den jeweiligen nationalen Diskursen bewusst instrumentalisierten. Abschließend re ektiert der Beitrag anhand des Kontrasts der Amtszeiten Wilsons und Callaghans sowohl die Potenziale als auch die Grenzen der Gipfeldiplomatie und bettet diese in die größeren Debatten über die Rolle von highlevel diplomacy in der außenpolitischen Kommunikation der 1970er Jahre ein.
I. Die „Neuverhandlungen“ der britischen EG-Mitgliedschaft und deutsch-britische Gipfeldiplomatie während der Amtszeit Harold Wilsons, 1974–1976 Als Großbritannien der Europäischen Gemeinschaft im Januar 1973 nach zwei an Charles de Gaulle gescheiterten Gesuchen beitrat, waren die wichtigsten Regeln und Verträge bereits ausgehandelt. Dementsprechend musste der damalige konservative Premierminister Edward Heath bestimmte für Großbritannien unvorteilhafte Regelungen akzeptieren, insbesondere bezüglich der Gemeinsamen Agrarpolitik und Großbritanniens unverhältnismäßig hoher Beiträge zum EG-Haushalt. 9 Darüber hinaus trat das Land der EG genau in jenem Moment 9
Christopher Lord: British Entry to the European Community under the Heath Government of 1970–4. Aldershot 1993, 147–175; Stephen Wall: The Of cial History of Britain
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bei, in dem zwei Jahrzehnte des beinahe ununterbrochenen europäischen Wirtschaftswachstums drastisch mit der Weltwirtschafts- und Ölpreiskrise endeten. 10 Als Resultat dieser Entwicklungen verlor die britische EG-Mitgliedschaft rapide an Legitimation in den Augen der Bevölkerung: Während im Januar 1973 lediglich 20 % der Briten den EG-Austritt wünschten, war diese Zahl im Juli des Jahres bereits auf 41% gestiegen. 11 Auch in der oppositionellen Labour-Partei gab es eine erhebliche Stimmung gegen die EG-Mitgliedschaft. Zum einen bot sich hier die Möglichkeit, eine der Kernpolitiken der konservativen Regierung unter Heath zu attackieren; zum anderen war die Europafrage aber auch mit tiefen ideologischen Grabenkämpfen zwischen dem linken und dem rechten Flügel der Partei verbunden. 12 Um eine Spaltung der Partei zu verhindern und seine eigene Position zu sichern, sprach sich der Parteiführer und gewiefte Taktiker Harold Wilson nun gegen die von den Konservativen verhandelten Konditionen des britischen EG-Beitritts aus, nicht aber gegen das Prinzip des Beitritts als solchen. Er schlug vor, die Beitrittsbedingungen neu zu verhandeln und danach das britische Volk in einem Referendum über diese Bedingungen abstimmen zu lassen. 13 Wilsons Strategie war klar: die parteiinternen Gegner der EG-Mitgliedschaft mit den „Neuverhandlungen“ zu beschwichtigen, sich selbst aber gleichzeitig nicht prinzipiell gegen die Mitgliedschaft zu bekennen. Das war das Mandat, mit dem Wilson im März 1974 überraschend zum Premierminister einer Minderheitsregierung gewählt wurde. 14 Obwohl es aus heutiger Sicht als wahrscheinlich gilt, dass Wilson Großbritannien von Anfang an in der EG halten wollte, war die britische Verhandlungsposition dennoch zwangsläu g primär an innen- und parteipolitischen Zwängen
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and the European Community, Vol. II. From Rejection to Referendum, 1963–1975. Abingdon, New York 2013, 332–456. Für die Zusammenhänge zwischen der Weltwirtschaftskrise und die Haltung der britischen Bevölkerung zur EG, siehe James E. Alt: The politics of economic decline. Economic management and political behaviour in Britain since 1964. Cambridge, New York 1979, 162. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (Berlin) [im Folgenden: PAAA], Zwischenarchiv, Bd. 101400, London an AA, 13. Juli 1973. Andrew Mullen: The British Left's ‚Great Debate` on Europe. London 2007; Roger Broad: Labour's European Dilemmas. From Bevin to Blair. Basingstoke 2001. Ben Pimlott: Harold Wilson. London 1993, 580–581; David Butler /Uwe Kitzinger: The 1975 Referendum. Basingstoke 1976, 25–26. Wilson war bereits von 1964 bis 1970 im Amt des Premierministers, unterlag dann aber 1970 Edward Heath. Er übernahm im März 1974 wieder das Amt, nachdem Heaths Versuch einer Koalitionsbildung mit den Liberal Democrats gescheitert war. Für Labours Forderungen, siehe Labour Party: Let Us Work Together – Labour's Way Out of the Crisis. London 1974.
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ausgerichtet, was oftmals in einer Kakofonie aus widersprüchlichen Aussagen und Positionen resultierte. 15 Auf deutscher Seite führte dies zu Verwirrung, da insbesondere die Bundesrepublik seit den 1950er Jahren stets für die britische Mitgliedschaft eingetreten war. 16 Nun befand sich die Bundesregierung in einem Dilemma. Zwar lag es einerseits im deutschen Interesse, dass Großbritannien Mitglied der EG bleiben würde, andererseits war man sich auch klar, dass in Anbetracht der überragenden Bedeutung der europäischen Integration sowie der deutsch-französischen Beziehungen für die bundesrepublikanische Außenpolitik eine fundamentale Neuverhandlung des Beitrittsvertrages oder gar der Römischen Verträge außer Frage stand. Vor allem aber wurde erwartet, dass die Rückkehr Labours in die Regierungsverantwortung bald moderatere Stimmen innerhalb der Partei stärken würde. 17 Dies war auch die anfängliche Position Helmut Schmidts, welcher am 16. Mai 1974 zum Bundeskanzler gewählt wurde. So vermutete er in einem Gespräch mit dem ebenfalls kürzlich gewählten französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing beispielsweise, dass es Wilsons Hoffnung wäre, letztendlich „doch im [Gemeinsamen] Markt zu bleiben; allerdings wohl unter Neuaushandlung der Finanzbeiträge“. 18 Diese Position nahm Schmidt auch öffentlich ein. So erklärte er in Le Monde, dass, „wenn ein Brite die positiven und negativen Aspekte der britischen Zugehörigkeit zum Gemeinsamen Markt nicht nur langfristig, sondern auch mittelfristig betrachtet, jetzt analysiert, die positiven Elemente überwiegen. Ich denke, daß wir nicht allzu lange werden warten müssen, bis die Briten zu diesem Schluß kommen.“ 19
15 Für eine detaillierte Studie der deutsch-britischen Beziehungen während der Neuverhandlungen, siehe Mathias Haeussler: A Pyrrhic Victory: Harold Wilson, Helmut Schmidt, and the British Renegotiation of EC Membership, 1974–5. In: The International History Review 37 (2015), 768–789. Für einen Augenzeugenbericht, Bernard Donoughue: Harold Wilson and the renegotiation of the EEC terms of membership, 1974–1975: A witness account. In: Brian Brivati /Harriet Jones (Hrsg.): From Reconstruction to Integration: Britain and Europe since 1945. Leicester 1993, 191–206; Wall: Of cial History, 511–590. 16 N. Piers Ludlow: Constancy and Flirtation. Germany, Britain, and the EEC, 1956–1972. In: Jeremy Noakes/Peter Wende /Jonathan Wright (Hrsg.): Britain and Germany in Europe 1949–1990. Oxford 2002, 95–112. 17 Bundesarchiv (Koblenz), Bundeskanzleramt [im Folgenden B136/], 17103, Kurz- und mittelfristige Aussichten der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften, 19. März 1974; Doc. Nr. 133, Betr.: Britische Mitgliedschaft in der EG, 25. April 1974. In: Auswärtiges Amt (Hrsg.): Akten der Auswärtigen Politik Deutschlands [im Folgenden AAPD] 1974 I. München 2005. 18 Doc. Nr. 157, Botschafter Freiherr von Braun (Paris) an Bundesminister Genscher, 4. Juni 1974. In: AAPD 1974. 19 Le Monde, 11. Juni 1974.
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Diese optimistischen deutschen Hoffnungen sollten sich jedoch nicht erfüllen. Zwar erreichte Wilson in den Neuwahlen im Oktober 1974 immerhin eine kleine parlamentarische Mehrheit von drei Stimmen; allerdings stärkten diese Wahlen auch den linken Flügel der Partei – fast die Hälfte der neuen Abgeordneten traten der Tribute Group bei und der führende EG-Gegner Tony Benn wurde im November 1974 an die Spitze des National Executive Council der Partei gewählt. 20 Dies engte den außenpolitischen Spielraum Wilsons und seines Foreign Secretary James Callaghan weiter ein, welche sich nun in einem Dilemma befanden. Zum einen hielten sie es für notwendig, in Anbetracht der zunehmend negativen Haltung der britischen Bevölkerung sowie insbesondere innerhalb der Labour-Partei dem negativen Stimmungstrend entgegenzuwirken. Zum anderen konnten sie jedoch nicht plötzlich selbst eine positivere Haltung einnehmen, da beide ihre eigene Position bereits komplett von den Ergebnissen der Neuverhandlungen abhängig gemacht hatten. Um dieses Dilemma zu lösen, schlug Callaghan nun vor, den deutschen Bundeskanzler Schmidt zu einem speziellen LabourParteitag zur Europafrage als Gastredner einzuladen. Dies erlaubte Wilson und Callaghan, eine proeuropäische Position auf dem Parteitag artikuliert zu wissen, ohne jedoch selbst mit dieser direkt assoziiert werden zu können. 21 Der deutsche Bundeskanzler sollte also gewissermaßen als transnationaler Agent in der internen britischen Debatte instrumentalisiert werden. Die Erfolgsaussichten schienen gut, war doch Schmidt bei weitem kein Unbekannter in Großbritannien. Bereits seit den 1950er Jahren war Schmidt in diverse transnationale und transatlantische Netzwerke und Thinktanks aktiv involviert, so beispielsweise in die jährlichen deutsch-britischen Königswinter-Konferenzen und das Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS). 22 In dieser Zeit entwickelte Schmidt zahlreiche Kontakte nach Großbritannien, nicht zuletzt zu Alastair Buchan und Denis Healey, und wurde folglich bereits in frühen Jahren
20 Pimlott: Wilson, 636 f.; Donoughue: Renegotiation, 195. 21 The National Archives: Public Record Of ce (London) [im Folgenden TNA:PRO], PREM16/100, Callaghan an FCO und PREM, 16. Oktober 1974. 22 Für Schmidts Rolle im IISS, siehe Politisches Helmut-Schmidt-Archiv, Friedrich-EbertStiftung (Bonn) [im Folgenden: 1/HSAA], 005591, Schmidt an Jenkinson, 19. August 1960; Buchan an Schmidt, 16. März 1961; Buchan an Schmidt, 11. Oktober 1961; für Unterlagen zu den Königswinter-Konferenzen, 1/HSAA00537. Über die Rolle transnationaler Netzwerke in Nachkriegsdeutschland, Christian Haase: Pragmatic Peacemakers. Institutes of International Affairs and the Liberalization of West Germany 1945–73. Augsburg 2007; Christian Haase: The Hidden Hand of British Foreign Policy? The British-German Königswinter Conferences in the Cold War. In: ders. (Hrsg.): Debating Foreign Affairs. The Public and British Foreign Policy since 1867. Berlin, Wien 2003, 96–133.
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auf internationalem Parkett wahrgenommen. 23 So wurden seine beiden frühen Bücher zur Nuklearstrategie mithilfe des IISS ins Englische übersetzt und in Großbritannien veröffentlicht; 24 ebenso schrieb Schmidt neben seinen regelmäßigen Kolumnen für deutsche Boulevardzeitungen (beispielsweise die Münchner Abendzeitung, den Kölner Express sowie das Hamburger Lokalblatt Bergedorfer Zeitung) bereits in den 1960er Jahren regelmäßige Gastbeiträge in internationalen Zeitungen und Fachjournalen. 25 Darüber hinaus war Schmidt häu ger Gast im britischen Fernsehen und Radio und hielt auch während seiner Amtszeit regen Kontakt zu internationalen Journalisten wie Walter Lippmann oder James Reston. 26 Von besonderer Bedeutung für die deutsch-britischen Beziehungen war hier Jonathan Carr, Bonner Korrespondent der Financial Times, welchen Schmidt regelmäßig nutzte, um bestimmte Positionen in Großbritannien zu „leaken“ – Carr verfasste später die bis heute einzige Biogra e Schmidts in englischer Sprache. 27 In diesem Sinne war der frühe Schmidt also sowohl Produkt als auch Agent der fortschreitenden Medialisierung und Transnationalisierung der Außenpolitik seit den 1950er Jahren; eine Tatsache, die wesentlich zum Erfolg von Schmidts Parteitagsrede im November 1974 beitrug. 28 So nutzte Schmidt sein extensives Netzwerk in Großbritannien bereits zur Vorbereitung seines Vortrags. Foreign Secretary Callaghan schickte Schmidt beispielsweise eine Vielzahl diverser Redeentwürfe, Schmidts alter Freund Denis Healey, nun Finanzminister, schlug Schmidt vor, das europäische Thema im größeren Kontext der sozialistischen internationalen Solidarität zu verpacken, und selbst die zutiefst antieuropäische
23 Denis Healey: The Time of My Life. London 1989, 247. 24 Helmut Schmidt: Defense or Retaliation. A German Contribution to the Consideration of NATO's Strategic Problem. Edinburg 1962; Helmut Schmidt: The Balance of Power. Germany's Peace Policy and the Super Powers. London 1971. 25 Beispielhaft seien genannt Helmut Schmidt: The Shaping of Europe and the Role of Nations. In: Deutsch-Englische Gesellschaft e. V. (Hrsg.): Europe's Role in a Changing World. Deutsch-Englisches Gespräch, Königswinter, 10.–12. März 1967. Düsseldorf 1967, 18–24; Helmut Schmidt: Germany in the Era of Negotiations. In: Foreign Affairs 49 (1970/71), 40–50; Helmut Schmidt: The Struggle for the World Product. Politics Between Power and Morals. In: Foreign Affairs 52 (1973/74), 437–451. Zu Schmidts publizistischer Karriere, vgl. Thomas Birkner: Mann des gedruckten Wortes. Helmut Schmidt und die Medien. Bremen 2014. 26 Birkner: Mann des gedruckten Wortes, 74. 27 Jonathan Carr: Helmut Schmidt. Helmsman of Germany. London 1985. 28 Für eine detaillierte Analyse der Genese und Rezeption von Schmidts Parteitagsrede, siehe Thomas Birkner: Comrades for Europe? Die „Europarede“ Helmut Schmidts 1974. Bremen 2005, 88–123.
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Barbara Castle lieferte einen wertvollen Hinweis: „The only way to keep Britain inside the Community was to not remind her that she was already in it“. 29 Diese Vorbereitung trug dazu bei, dass Schmidts Rede in der Tat einen beträchtlichen Ein uss auf die britische Debatte hatte; nicht zuletzt auch, da sie live im landesweiten Fernsehen übertragen und später in sämtlichen Zeitungen ausführlich besprochen wurde. 30 Doch zeigt die Episode auch die Komplexität und Vielschichtigkeit der außenpolitischen Kommunikation zu jener Zeit. So bediente Schmidts Rede eine kaum mehr zu überschauende Vielzahl von Agenten und Rezipienten mit teils stark divergierenden Positionen: in Großbritannien beispielsweise nicht nur die Labour-Parteidelegierten vor Ort, sondern auch die britische Regierung und die (über das Fernsehen zugeschaltete) britische Öffentlichkeit; aber auch außerhalb Großbritanniens diverse internationale Beobachter, Schmidts eigene Regierung sowie die deutsche öffentliche Meinung. Nicht zuletzt führte dieses hochkomplexe und zunehmend unüberschaubare mediale Umfeld der Außenpolitik dazu, dass die deutsche Wahrnehmung der britischen Europapolitik weiterhin von großer Unsicherheit über die tatsächlichen Ziele Wilsons geprägt war. Die deutsch-britischen Konsultationen in Chequers, welche Schmidts Parteitagsrede unmittelbar folgen sollten, boten dementsprechend eine ideale Gelegenheit für Schmidt, im vermeintlich intimen und geschützten Raum der Gipfeldiplomatie ein genaueres, unge ltertes Bild der britischen Position zu erhalten. Das deutsche Ziel in den Chequers-Konsultationen war primär, eine bessere Einschätzung von Premierminister Wilsons persönlicher Haltung zu gewinnen. Dies galt insbesondere, da Schmidt von Wilsons öffentlicher Position zunehmend desillusioniert war. In einem Gespräch mit seinem alten Freund Alastair Buchan, dem Leiter des IISS, erklärte Schmidt beispielsweise im Oktober 1974, dass er sich aufgrund diverser Äußerungen Wilsons nicht mehr sicher sei, ob der britische Premierminister überhaupt in der EG bleiben wolle. „What was wrong with Britain?“, fragte Schmidt Buchan und betonte dabei insbesondere seine Enttäuschung über Wilsons persönliche Haltung: „From discussions with him, he no longer knew whether the PM still wanted Britain in the Commu-
29 1/HSAA006642, London an AA, 24. November 1974; B136/16866, London an AA, 20. November 1974. 30 Zur Rezeption, siehe insbesondere die Augenzeugenberichte von Harold Wilson: Final Term: The Labour Government, 1974–1976. London 1979, 88; James Callaghan: Time and Chance. London 1987, 311 f.; Healey: Time of My Life, 454. Ebenso der Bericht des britischen Botschafters in Bonn, TNA:PRO/PREM16/101, Henderson an Wright, 4. Dezember 1974.
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nity or not. . . . He [Schmidt] was an Anglophile and would see Britain leave the Community with real regret, but the French would be happy to see her go“. 31 In Anbetracht der starken innenpolitischen Zwänge, denen Wilson unterlag, wollte die deutsche Delegation nun also im vermeintlich geschützten Raum des Gipfeltreffens „eine eindeutige Erklärung“ erhalten, dass Wilson letztendlich „für den Verbleib von GB in der EG eintreten werde“. 32 Doch Wilson ließ sich nicht auf Schmidts Spiel ein. Im deutschen Protokoll notierte man, dass Wilson zwar am Verbleib Großbritanniens in der EG interessiert sei, aber „ohne starkes Engagement; über Einzelheiten uninformiert“. Insbesondere gab es „[k]eine Bereitschaft Wilsons, Wunsch nach Verbleiben in EG öffentlich zu erklären“. 33 Dies war auch Schmidts persönlicher Eindruck, welchen er dem französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing am Telefon berichtete. „Wilson sehe ein, gebe aber nicht zu, daß er seinerzeit einen schweren Fehler gemacht habe, als er aus der Opposition heraus ‚renegotiation` forderte“, berichtete Schmidt, „[g]egenwärtig gebe er dem Manifest und der Einheit der Partei Priorität. Callaghan sei demgegenüber ausgesprochen pro-europäisch“. 34 Ganz abgesehen vom inhaltlichen Wert der Aussage fällt auch der qualitative Unterschied in Schmidts persönlicher Kommunikation mit Giscard auf. Im starken Gegensatz zu Wilson hatte Giscard seine persönlichen Beziehungen mit Schmidt, den er bereits aus ihrer gemeinsamen Zeit als Finanzminister Anfang der 1970er Jahre kannte, bereits zu Beginn seiner Amtszeit aktiv kultiviert und besprach bereits wenige Wochen nach seiner Wahl regelmäßig gemeinsame Initiativen und politische Strategien mit Schmidt am Telefon oder auch im persönlichen Gespräch. 35 Diese Qualität bilateraler Kommunikation auf höchster diplomatischer Ebene war im deutsch-britischen Verhältnis unter Wilson schlichtweg nicht vorhanden. Freilich lässt sich Wilsons Distanz gegenüber seinen europäischen Amtskollegen wohl primär mit den starken innenpolitischen Zwängen der „Neuverhandlungen“ erklären. Indem der britische Premierminister bereits zu Beginn seiner Amtszeit seine persönliche Position komplett vom Ergebnis der Neuverhandlungen abhängig gemacht hatte, war es ihm nun schlichtweg unmöglich, öffentlich 31 TNA:PRO/FCO33/2460, Internal FCO memorandum: Professor Buchan's conversation with Helmut Schmidt, 30. Oktober 1974. 32 1/HSAA006642, Bundeskanzleramt: Britische Wünsche zur Verminderung der Haushaltsbelastung, 27. November 1974. 33 1/HSAA006642, Vermerk über das Gespräch des Bundeskanzlers mit PM Wilson, 2. Dezember 1974. Hervorhebungen im Original. 34 1/HSAA006586, Telefongespräch Bundeskanzler /Giscard d'Estaing, 30. November 1974. 35 Matthias Waechter: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing. Auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre. Bremen 2011, 66–69.
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von dieser Haltung abzuweichen. Wilsons emotionale Bindung an den Commonwealth ebenso wie sein problematischer Gesundheitszustand zu jener Zeit mögen sicherlich auch eine Rolle gespielt haben. 36 Darüber hinaus lässt sich bei Wilson jedoch ebenso ein grundsätzlicheres Vertrauensproblem gegenüber der Gipfeldiplomatie erkennen. Vor der entscheidenden Sitzung des Europäischen Rats in Dublin im März 1975 ließ der britische Außenminister Callaghan die deutsche Delegation beispielsweise wissen, dass Wilson „nicht einmal eine ‚private Versicherung` abgeben [könne], dass er das Verhandlungsergebnis akzeptieren und durchsetzen werde, denn eine solche Versicherung würde nach aller Erfahrung bekannt werden und alle Aussichten auf eine positive Entscheidung vom Kabinett, Mehrheit der Partei und Parlament von vornherein negativ präjudizieren, wenn nicht gar unmöglich machen.“ 37 Dies war eine Linie, auf die Schmidts Vertrauter Manfred Schüler äußerst scharf reagierte: „He wondered what sense summit meetings had if Heads of Government did not have authority to make decisions on behalf of their countries“, beschwerte sich Schüler beim britischen Botschafter in Bonn, Nicholas Henderson, „this struck him and he had no doubt it would strike the Federal Chancellor as an absurdity“. 38 Wilsons Weigerung, selbst im kleinsten diplomatischen Kreis vertraulich Farbe zu bekennen, führte dementsprechend dazu, dass seine öffentliche Position in den Augen der anderen europäischen Regierungschefs zunehmend mit seiner vermuteten „tatsächlichen“ Haltung verschmolz. Dies resultierte in einer offensichtlichen europapolitischen Isolation des britischen Premierministers. So bemerkte Schmidt in einem Gespräch mit Außenminister Genscher und Finanzminister Apel kurz vor der entscheidenden Sitzung des Europäischen Rats in Dublin, dass es „unsicher“ sei „ob man Großbritannien zu einem positiven Verhalten bewegen könne. Umso mehr müßten wir bei unserem Vorgehen darauf achten, daß in diesem Zusammenhang nicht auch noch in unserem Verhältnis zu Frankreich ein Riß entstünde. Demgemäß müßten wir uns mit Frankreich in jedem Stadium abstimmen.“ 39 In der Tat wurde bereits im Rahmen der deutsch-französischen Konsultationen im Februar 1975 beschlossen, eine bilaterale Expertengruppe einzusetzen, um die Positionen beider Länder eng miteinander abzustimmen; kurz vor der entscheidenden Sitzung des Euro-
36 Peter Hennessy: The Prime Minister. The Of ce and Its Holders since 1945. London 2000, 370; Bernard Donoughue: Prime Minister. The Conduct of Policy under Harold Wilson and James Callaghan. London 1987, 48; Donoughue: Renegotiation, 196. 37 B136/7916, London an AA, 7. März 1975. 38 TNA:PRO/PREM16/409, Bonn an FCO, 6. März 1975. 39 1/HSAA006648, Vermerk: Ministergespräch, 5. März 1975.
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päischen Rats besprach Schmidt die genauen Zahlen der gemeinsamen deutschfranzösischen Position in einem Telefongespräch mit Giscard. 40 Zumindest indirekt trug also Wilsons diplomatische Zurückhaltung in der Gipfeldiplomatie auch zu einer Stärkung der deutsch-französischen Achse innerhalb der EG bei. Das Konzept der high-level diplomacy als vertrauensbildende Maßnahme und geschützter Raum der außenpolitischen Kommunikation war gescheitert. Die Frage bleibt, inwiefern eine andere Persönlichkeit im Amt des Premierministers eine solche Entwicklung hätte vermeiden können. So hatten bereits im Herbst 1974 interne britische Stimmen vor der europapolitischen Isolation Wilsons gewarnt. Foreign Secretary Callaghan bat Wilson beispielsweise im Oktober 1974 in einem Brief, dass sich dieser stärker an den Verhandlungen mit anderen EG-Staaten beteiligen sollte. „You said you would prefer to keep these matters within the negotiating channels where they have been so far“, schrieb Callaghan, „but I hold the view that Schmidt and Giscard will wish to play a large personal part and that at a later stage you will have to come in on things“. 41 In der Tat ist auffällig, dass Callaghan eine wesentlich engagiertere Rolle in den Neuverhandlungen einnahm als sein Premierminister. So notierte das deutsche Protokoll nach dem Chequers-Treffen Ende November 1974, dass sich Callaghan „interessiert und engagiert“ gezeigt habe und „sich mit Erfolg der Verhandlungen zu identi zieren“ begonnen habe; 42 auch Schmidt selbst berichtete Giscard am Telefon von seinem Eindruck, dass es „leichter sei, mit Callaghan zu einer Übereinkunft zu kommen als mit Wilson“. 43 In der Tat sollte Callaghans Regierungszeit nach dem überraschenden Rücktritt Wilsons aus Gesundheitsgründen im Frühjahr 1976 in der außenpolitischen Kommunikation einen wesentlichen Wandel gegenüber seinem Vorgänger markieren.
40 PAAA, Zwischenarchiv, 111198, Deutsch-französische Außenministerkonsultationen in Paris, 4. Februar 1975; B136/7917, Betr.: Tagung der Regierungschefs und Außenminister in Dublin, 8. März 1975. 41 TNA:PRO/PREM16/85, Callaghan an Wilson, 14. Oktober 1974. 42 1/HSAA006642, Vermerk über das Gespräch des Bundeskanzlers mit PM Wilson, 2. Dezember 1974. 43 1/HSAA006586, Telefongespräch BK mit dem französischen Staatspräsidenten, 18. Dezember 1974.
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II. Der Höhepunkt deutsch-britischer Beziehungen unter Schmidt? Callaghan's high-level diplomacy, 1976–1979 Anfang der 1970er Jahre hatte James Callaghan der Europäischen Gemeinschaft noch wesentlich skeptischer gegenübergestanden als Parteiführer Wilson. So hatte er sich insbesondere im Mai 1971 in einer höchst polemischen Rede gegen die britische Mitgliedschaft ausgesprochen; 44 während seines ersten Auftritts im Rat der Außenminister der EG im April 1974 las er sogar Labours WahlkampfManifest Wort für Wort vor. 45 Deutsche Beobachter bemerkten jedoch bereits gegen Ende des Jahres einen wesentlichen Wandel in Callaghans Einstellung zur EG, welcher sich zumindest teilweise auf einen gewissen Sozialisierungsprozess Callaghans durch die regelmäßigen Konsultationen mit seinen europäischen Amtskollegen zurückführen lässt. 46 Callaghan selbst schreibt hierzu in seinen Memoiren Folgendes: „I cannot overemphasise the informality of these after-dinner talks. There was no chairman, no agenda and no formal decisions. Drinks would be brought round at intervals, and it was not unknown for someone to nod off if we had held a particularly long and tiring session. The exchanges enabled all of us to gain insight into the views of the other leaders and to prot from their experience and their contacts. . . . I found it of assistance in the formation of British foreign policy. This political cooperation was another factor in uencing me to support Britain's membership of the Community“. 47 Im Januar 1976 präsentierte Callaghan seinen persönlichen Wandel dann auch der deutschen Öffentlichkeit in einem vielbeachteten Vortrag vor dem Hamburger Übersee-Club, welchen er mit dem Titel „Das Europa von Morgen bauen“ versah. Die deutsche Botschaft in London betrachtete den Auftritt gar als einen „bedeutende[n] Schritt Callaghans von einem Agnostiker . . . zu einem Mitträger und Motor der Gemeinschaft“. 48 Beein usst von seinen Erfahrungen als Außenminister sah der Beginn von Callaghans Amtszeit als Premierminister im April 1976 umfassende diplomatische Aktivitäten, um die deutsch-britischen Beziehungen zu revitalisieren. Per44 Wall: Of cial History, 415; Paul J. Deveney: Callaghan's Journey to Downing Street. Basingstoke, New York 2010, 156–190. 45 Siehe auch deutsche Einschätzungen Callaghans zu jener Zeit: Doc. Nr. 109, Deutsch-italienische Regierungsgespräche, 29. März 1974. In: AAPD 1974. 46 Jens Kreutzfeldt: „Point of return“. Großbritannien und die Politische Union Europas 1969–1975. Stuttgart 2010, 542. 47 Callaghan: Time and Chance, 317. 48 B136/17105, London an AA, 26 Januar 1976. Für eine deutsche Übersetzung von Callaghans Rede, 1/HSAA006671, Das Europa von Morgen bauen, 22. Januar 1976.
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sönliche Kommunikation auf höchster Ebene spielte hierbei, anders als noch unter Wilson, eine entscheidende Rolle. Bereits wenige Tage nach seiner Wahl telefonierte Callaghan beispielsweise mit Schmidt, um diverse innen- sowie außenpolitische Punkte zu besprechen. Explizit bezog sich der britische Premierminister hierbei auf Schmidts enges Verhältnis zu Giscard. Er wisse, so Callaghan am Telefon, dass Schmidt kürzlich mit Giscard telefoniert habe, und denke deshalb „it was as well that we should start off on the same wavelength and talk to each other too“. 49 Solch informelle Gespräche und Absprachen, sowohl am Telefon als auch persönlich, sollten zu einem wesentlichen Merkmal der Kooperation Schmidts und Callaghans werden. Die Unterhaltungen der beiden Regierungschefs waren hierbei nicht auf außenpolitische Themen beschränkt, sondern enthielten oftmals auch detaillierte Diskussionen über innenpolitische Problematiken und Herausforderungen. Bereits im ersten Telefongespräch als Premierminister besprach Callaghan beispielsweise ausführlich seine innerparteilich kontroverse De ationspolitik mit Schmidt, wobei er sogar Details aus den kürzlich beendeten Verhandlungen mit dem Trade Union Congress verriet. Schmidt nutzte die Gelegenheit, um sein Vertrauen in Callaghans innenpolitischen Kurs deutlich zu machen. „I have the feeling, Jim“, antwortete Schmidt auf Callaghans Darstellungen, „that if you can renew the wage deal which you rst concluded in July last year, if you can renew that for another twelve months so that the whole thing runs for 24 months, I think this is bound to get you out of the trouble“. Schmidt betonte auch, dass Callaghans Lohnpolitik mit Entwicklungen in Deutschland durchaus zu vergleichen war und dass beispielsweise die kürzlich vereinbarten Lohnabkommen auch für deutsche Arbeiter einen „real loss of real income“ darstellten. Obwohl Schmidt dies nicht lautstark betont wissen wollte, empfahl er dennoch Callaghan, diese Statistiken in der britischen Debatte öffentlich einzusetzen. In der Tat wird während des gesamten Gesprächs deutlich, inwiefern Callaghan und Schmidt ihr persönliches Verhältnis aktiv für innenpolitische Zwecke zu nutzen wussten. So berichtete der britische Premierminister beispielsweise über sein gutes Verhältnis mit den vielgescholtenen britischen Gewerkschaften: „our trade union leaders Jack Jones and co. have been wonderfully good and if you, Helmut, in any speech later on when we have concluded the agreement could pay some tribute to the much-derided British trade union leaders, that could have a psychological effect, you know“. 50 Erneut fällt die Doppelfunktion der high-level diplomacy als Schnittstelle zwischen „Kamingespräch“ und „Weltwirtschaftsoper“ auf; ein Trend, welcher sich 49 TNA:PRO/PREM16/881, Telephone Conversation Schmidt – PM, 28. April 1976. 50 TNA:PRO/PREM16/881, Telephone Conversation Schmidt – PM, 28. April 1976.
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in Callaghans Amtszeit noch intensivieren sollte. Für Callaghan diente der enge persönliche Kontakt zu Schmidt sowohl innen- als auch außerpolitischen Funktionen. Zum einen versuchte der britische Premierminister so, seinen eigenen außenpolitischen Ein uss zu erhalten und zu erweitern. In der Pfund-Währungskrise des Jahres 1976 beispielsweise warb Callaghan in mehreren Gesprächen mit Schmidt offen darum, dass dieser mäßigenden Ein uss sowohl auf die deutsche Delegation beim Weltwährungsfonds als auch auf die amerikanische Regierung nehmen sollte. 51 Zum anderen nutzte Callaghan sein gutes Verhältnis zu Schmidt aber auch innenpolitisch, um so seine eigene Position innerhalb eines tief zerrissenen Kabinetts zu stärken. So berichtete er im Oktober 1976 dem britischen Unterhaus über sein kürzliches dreieinhalbstündiges Gespräch mit Schmidt, in welchem der deutsche Bundeskanzler ihn in seinem wirtschaftspolitischen Kurs gestärkt habe; bereits am Tag nach dem Treffen hatte der Daily Telegraph gar „Schmidt boost for Callaghan“ getitelt. 52 Ebenso bezog sich Callaghan in den entscheidenden Kabinettssitzungen während der Währungskrise im Dezember 1976 explizit auf Schmidts Haltung, um zusätzliche außenpolitische Legitimation für seinen innenpolitisch umstrittenen de ationären Kurs zu erhalten. 53 In diesem Sinne kann die Renaissance der high-level diplomacy hier also durchaus als Reaktion auf die zunehmende Ver echtung innen- und außenpolitischer Politikräume gesehen werden, deren Abgrenzungen in den 1970er Jahren zunehmend verwischten. Allerdings erfüllte die Gipfeldiplomatie im deutsch-britischen Verhältnis unter Schmidt und Callaghan auch klassische diplomatische Funktionen; nicht zuletzt das Schaffen von Kompromissen auf höchster Ebene und das Durchbrechen von bürokratischen Hindernissen in bilateralen Kon ikten. Hierbei sind vor allem das Offset-Abkommen im Oktober 1977, welches die Devisenausgleichszahlungen der Bundesrepublik an Großbritannien für den Unterhalt der Britischen Rheinarmee neu regelte, sowie die zeitgleiche Übereinkunft über den zukünftigen Standort des Projekts Joint European Torus (JET) nennen. In beiden Fällen halfen vertrauensvolle persönliche Absprachen von Callaghan und Schmidt, einen für beide Seiten tragfähigen sowie innenpolitisch vertretbaren 51 TNA:PRO/PREM16, 894, Note of Conversation between PM and FRG Chancellor at Lunch, 30. Juni 1976; TNA:PRO/PREM16/895, Telephone Conversation between PM and Chancellor Schmidt, 4. Oktober 1976. 52 Hansard: House of Commons Debate 12 October 1976, vol917 cc234–237; Daily Telegraph, 11. Oktober 1976. 53 TNA:PRO/CAB128/60/11, Conclusions CM (76) 33, 23. November 1976; TNA:PRO/ CAB128/60/13, Conclusions CM (76) 35, 1. Dezember 1976; Kathleen Burk /Alec Cairncross: ‚Goodbye, Great Britain`. The 1976 IMF Crisis. New Haven, London 1992, 107.
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Kompromiss zu nden. 54 Doch auch in ihrer symbolischen Inszenierung stellten die deutsch-britischen Konsultationen im Oktober 1977 vor dem Hintergrund der Entführung eines Lufthansa-Flugzeugs im Deutschen Herbst einen tragischen Höhepunkt dar. In diesem Fall war es Schmidt, der das gute bilaterale Verhältnis nutzte, um der deutschen Öffentlichkeit starke internationale Unterstützung seiner festen Haltung gegenüber den Terroristen zu demonstrieren. So wurde die britische Delegation unüblicherweise auf ausdrücklichen deutschen Wunsch mit vollen militärischen Ehren empfangen 55 und Callaghan nahm sogar persönlich an einer Sitzung des Cobra-Krisenstabs der Bundesregierung teil. Im anschließenden persönlichen Gespräch erklärte Schmidt dem britischen Premierminister, dass dessen Teilnahme am Krisenstab von zentraler Bedeutung gewesen war, um sowohl die deutsche Öffentlichkeit als auch seine eigenen Kollegen zu überzeugen, „that they should stand rm against the hijackers. He himself had always believed in standing rm but some had had their doubts“. 56 Abgesehen von solch starker Symbolik leistete Großbritannien auch konkrete Hilfe bei der Stürmung des Lufthansa-Flugzeugs, welche von zwei Mitgliedern der britischen Special Air Service (SAS) unterstützt wurde. 57Auch im multilateralen Rahmen war die deutsch-britische Gipfeldiplomatie unter Schmidt und Callaghan äußerst wirksam, um gemeinsame Interessen durchzusetzen. Dies zeigt sich insbesondere im Kontext der dramatischen Verschlechterung der transatlantischen Beziehungen unter US-Präsident Jimmy Carter ab 1977. 58 So bat Schmidt Callaghan beispielsweise bereits im Januar 1977, dass dieser während eines bevorstehenden Besuches in Washington als „Sprecher“ für europäische Interessen fungieren sollte, um Carter die westeuropäische Skepsis in Bezug auf dessen Menschenrechtspolitik deutlich zu machen. In Schmidts Augen schien eine solch indirekte Ein ussnahme potenziell effektiver als „the alternative course of several Heads of Gover54 Siehe beispielsweise folgende Gesprächsprotokolle: Doc. Nr. 10, Gespräch des BK Schmidt mit PM Callaghan in Chequers, 24. Januar 1977. In: AAPD 1977; TNA:PRO/PREM16/847, PREM an FCO, 1. Juli 1976; TNA:PRO/PREM16/1278, Record of Meeting with the Federal German Chancellor, 18. Oktober 1977. 55 TNA:PRO/PREM16/1278, Bonn an FCO, 19. Oktober 1977. 56 TNA:PRO/PREM16/1278, Record of Meeting with the Federal German Chancellor, 18. Oktober 1977. 57 Leider stehen die Unterlagen im britischen Nationalarchiv noch immer unter Verschluss; siehe TNA:PRO/PREM16/1675, Lufthansa Hijacking: British Government assistance to FRG, Oktober 1977. Siehe auch Tim Geiger: Die „Landshut“ in Mogadischu. Das außenpolitische Krisenmanagement der Bundesregierung angesichts der terroristischen Herausforderung 1977. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), 413–456, 433 f. 58 Klaus Wiegrefe: Das Zerwürfnis. Helmut Schmidt, Jimmy Carter und die Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Berlin 2005.
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nment arranging visits, giving the impression of nine vassals being summoned to the court of King Carter“. 59 Auch bei der Genese des Bonner Weltwirtschaftsgipfels 1978 spielte Callaghan eine entscheidende Rolle als transatlantischer Mittler, indem er sein gutes persönliches Verhältnis sowohl zu Schmidt als auch zu Carter aktiv nutzte, um einen deutsch-amerikanischen Kompromiss vorzubereiten. So berichtete Callaghan Schmidt bereits am 12. März 1978 von seinem „FünfPunkte-Plan“, welcher sowohl ein deutsches Konjunkturprogramm als auch eine Anhebung des amerikanischen Ölpreises forderte. 60 Nachdem Schmidt seine prinzipielle Zustimmung gegeben hatte, weihte Callaghan anschließend Carter ein, der ebenso eine positive Rückmeldung gab. Am 23. April 1978 schließlich gab Schmidt Callaghan ein privates Versprechen, ein re ationäres Konjunkturprogramm durchzusetzen, falls auch die USA sich im Bereich der Energiepolitik und In ationsbekämpfung bewegen würden. 61 Dieses wurde von den Briten umgehend an die amerikanische Seite weitergegeben. 62 Selbst im unmittelbaren Vorlauf des Gipfels spielte Callaghan eine entscheidende Rolle bei der Choreogra e der Verhandlungen. So bat Schmidt Callaghan noch am Vorabend, sich mit Carter in Verbindung zu setzen, „um ihn zu veranlassen, seinen Beitrag zu dem ins Auge gefaßten package bereits währen der ersten Sitzung festzulegen, um zu erreichen, daß die Verhandlungen von Beginn an einen konstruktiven Verlauf nehmen“. 63 Obwohl der Bonner Weltwirtschaftsgipfel der Öffentlichkeit primär als deutsch-amerikanischer Kompromiss verkauft wurde, enthielt Callaghans „Fünf-Punkte-Plan“ in der Tat bereits alle wesentlichen Elemente des Abschlusskommuniqués. 64 Während der eigentlichen Verhandlungen in Bonn stand hingegen die anschließende öffentliche Präsentation stets im Vordergrund. So erklärte Präsident Carter bereits während der ersten Sitzungsrunde: „Coming together is a great help. I shook hands with Helmut Schmidt on Friday and the stock market went up 15 points.“ Schmidts anschließende Bemerkung zeigt eine ähnliche Fokussierung auf die innenpolitischen Rückwirkungen des Gipfels. „I suggest that the EC language which [EC Commission President] Jenkins read be included in the declaration before we come to the FRG, because we are acting under the EC declaration“, erklärte er; „[t]hen we can have the German commit59 60 61 62
TNA:PRO/PREM16/1277, Note of meeting held at Chequers, 24. Januar 1977. TNA:PRO/PREM16/1615, PM's meeting with Chancellor Schmidt, 12. März 1978. TNA:PRO/PREM16/1655, PM's meeting with Chancellor Schmidt, 23. April 1978. Doc. Nr. 149, Memorandum from Henry Owen to President Carter, 11. Mai 1978. In: Steven G. Galpern (Hrsg.): Foreign Relations of the United States, Nixon-Ford Administrations 1969–1976, Energy Crisis 1974–1980, Vol. XXXVII. Washington, D.C. 2012. 63 Doc. Nr. 220, Gespräch BK Schmidt mit PM Callaghan, 15. Juli 1978. In AAPD 1978. 64 Putnam/Bayne: Hanging Together, 78.
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ment. Then we can quote Callaghan's contribution saying he will carry on the ght against in ation. It will help me in the FRG.“ 65 All dies unterstreicht deutlich die psychologische und performative Wirkung des Gipfeltreffens, welche sich die Staats- und Regierungschefs erhofften; ein starkes öffentliches Zeichen westlicher Kooperation und Handlungsfähigkeit in einem Zeitalter globaler Krisen und Unsicherheiten. 66 Callaghans Amtszeit kann also durchaus als Hochphase deutsch-britischer Kooperation auf höchster diplomatischer Ebene gesehen werden. Doch soll dies nicht suggerieren, dass die Gipfeldiplomatie in der Lage war, offensichtlich divergierende nationale Interessen zu überbrücken. Besonders deutlich wird dies in der Entstehungsgeschichte des Europäischen Währungssystems (EWS) 1978–1979, welches freilich auch als Produkt erfolgreicher high-level diplomacy Schmidts und Giscards gesehen werden kann. 67 In diesem Fall führte jedoch Callaghans offensichtliche Skepsis gegenüber den deutsch-französischen Plänen zu einer gewissen Selbstmarginalisierung des britischen Premierministers; in der Tat entschied sich Großbritannien letztendlich, dem EWS nicht von Beginn an beizutreten. 68 Dennoch half das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen Callaghan und Schmidt, die Auswirkungen der britischen Entscheidung auf andere Bereiche des deutsch-britischen Verhältnisses zu minimieren. Dies lag insbesondere daran, dass Callaghan Schmidt in mehreren vertraulichen Gesprächen eindrucksvoll von der innenpolitischen Nichtdurchsetzbarkeit des EWS in Großbritannien überzeugen konnte. 69 Als Resultat warb Schmidt sogar öffentlich um Verständnis für die britische Entscheidung. So verteidigte er Callaghans Haltung bei seinem Auftritt vor dem Zentralbankrat der Bundesbank im November 1978 mit folgenden Worten: „Der Premierminister wäre von seinen politischen Instinkten her sicherlich geneigt, das alles gleich von Anfang an mit zu wagen. Aber wenn ich mich in seine Lage versetze gegenüber den Gewerkschaften, gegenüber den Konservativen, gegenüber seiner eigenen Partei, gegenüber
65 Jimmy Carter Library (Atlanta, GA), NLC-19-25-9-1-4, Bonn Summit: Session 1 (10:10 am), 16. Juli 1978. 66 Federico Romero: Refashioning the West to dispel its fears: the early G7 summits. In: Mourlon-Druol /Romero: International Summitry, 117–137. 67 So jüngst Emmanuel Mourlon-Druol: A Europe Made of Money. The Emergence of the European Monetary System. Ithaca, London 2012. 68 Ebd., 172, 177–179, 183. 69 1/HSAA008814, Protokoll der deutsch-britischen Konsultationen, 19. Oktober 1978; B136/ 17111, Vermerk über das Gespräch des Bundeskanzlers mit PM Callaghan, 18. Oktober 1978; TNA:PRO/PREM16/2049, Prime Minister's Conversation with Chancellor Schmidt, 26. November 1978.
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diesem Trend der öffentlichen und veröffentlichten Meinung, was die EG angeht, dann möchte ich beinahe glauben, daß er zum Ergebnis kommt, er könne nicht an zwölf Fronten gleichzeitig kämpfen. Ich nehme an, daß dies letztlich der allein ausschlaggebende Grund sein wird für das Verhalten Großbritanniens“. 70 Gewiss, Schmidts übermäßig positive Darstellung der britischen Position war wohl hauptsächlich der Skepsis der versammelten Banker in Bezug auf das EWS geschuldet. Dennoch ist auffällig, dass Callaghan Schmidt seine innenpolitische Lage in einem Gespräch wenige Wochen zuvor mit ähnlich drastischen Worten beschrieben hatte. So behauptete er beispielsweise, dass sich Großbritannien „in einer kritischen Phase, an einer Wegscheide“ be nde. In Callaghans Darstellung war dies „seine Schlacht, die er auch um den Preis seiner politischen Karriere führen werde. Großbritannien stehe am Kreuzweg. Wenn diese Schlacht gewonnen werde, könne Großbritannien um 1985 herum eines der wirtschaftlich stärksten Länder in Europa sein.“ 71 Erneut zeigt sich also die Bedeutung der highlevel diplomacy sowohl zur Koordination öffentlicher Darstellungen als auch als geschützter Kommunikationsraum auf höchster diplomatischer Ebene – ein starker Kontrast zur Amtszeit Wilsons.
III. Schlussbetrachtungen Dieser Beitrag hat anhand des Fallbeispiels der deutsch-britischen Beziehungen unter Helmut Schmidt die Auswirkungen der Renaissance der Gipfeldiplomatie und high-level diplomacy auf die außenpolitische Kommunikation in den 1970er Jahren untersucht. Zusammenfassend sticht hierbei besonders der Kontrast zwischen den Amtszeiten Wilsons und Callaghans ins Auge. Während sich die intensive persönliche Kooperation Callaghans mit Schmidt auf höchster Ebene äußerst positiv auf die Qualität des bilateralen Verhältnisses auswirkte, führte Wilsons Zurückhaltung in diesem Bereich zu einem spürbaren Vertrauensverlust auf deutscher Seite, insbesondere im Bereich der Europapolitik. Doch welche allgemeineren Schlussfolgerungen lassen sich nun aus diesen skizzenhaften Fallbeispielen über die Rolle der Gipfeldiplomatie in den 1970er Jahren ziehen? Zuerst ist festzustellen, dass die Institutionalisierung multilateraler Gipfeldiplomatie in Form des Europäischen Rats und der Weltwirtschaftsgipfel nicht zu einer Schwächung, sondern vielmehr zu einer Stärkung und Intensivierung des
70 Margaret Thatcher Foundation [im Folgenden: MTF], Transcript of meeting of the Bundesbank Council [deutsches Original], Document ID: 111554, 30. November 1978. 71 B136/17111, Vermerk über das Gespräch des Bundeskanzlers mit PM Callaghan, 18. Oktober 1978.
Zwischen Weltwirtschaftsoper und Kamingespräch
deutsch-britischen Verhältnisses führte. Es ist dementsprechend sicherlich kein Zufall, dass die regelmäßigen halbjährlichen deutsch-britischen Konsultationen kurz nach Gründung der Weltwirtschaftsgipfel und des Europäischen Rates im Frühjahr 1976 institutionalisiert wurden. 72 Insbesondere im Vorlauf des Bonner Weltwirtschaftsgipfels 1978 wurde deutlich, wie sehr Callaghan sein persönliches Verhältnis mit Schmidt und Carter zu nutzen wusste, um potenzielle Kon ikte zu vermeiden und einen für beide Seiten tragbaren Kompromiss zu vermitteln. All dies verdeutlicht die generelle Bedeutung bilateraler Diplomatie im multilateralen Kontext, welche häu g dazu diente, wichtige Resultate vorzubereiten und potenzielle Kontroversen bereits im Vorfeld auszuräumen. 73 So beschreibt der britische Historiker John Young solch bilaterale Konsultationen passenderweise als „Zwischenstation“ beim Aufstieg zum noch höher liegenden Gipfeltreffen. 74 Auch bei den britischen Neuverhandlungen der EG-Mitgliedschaft unter Wilson spielten bilaterale Vorverhandlungen eine zentrale Rolle, wobei hier deren Effekt nur als äußerst negativ bezeichnet werden kann. Desillusioniert von Wilsons Zaudern sowohl im deutsch-britischen als auch im europäischen Rahmen, wandte sich Schmidt zunehmend an den französischen Präsidenten Giscard d'Estaing, um eine gemeinsame deutsch-französische Position gegenüber den Briten zu formulieren. Studien bilateraler Beziehungen bleiben dementsprechend auch für die multilaterale Epoche der 1970er Jahre von zentraler Bedeutung. Zweitens stellte die Renaissance der high-level diplomacy auch eine bewusste Gegenreaktion auf eine immer unübersichtlichere, komplexere Medienwelt der 1970er Jahre dar. Vor dem Hintergrund der immer vielschichtigeren und komplexen außenpolitischen Kommunikation versuchte man, in Form der Gipfeltreffen einen Raum zum geschützten Austausch abseits der Öffentlichkeit zu bieten. 75 Während der britischen Neuverhandlungen hoffte Schmidt beispielsweise, in der vermeintlich vertrauensvollen Atmosphäre des Gipfeltreffens genauere Informationen über Wilsons tatsächliche Absichten zu erhalten, um so die oftmals widersprüchlichen Informationen aus Großbritannien besser einordnen zu können. Doch zeigt gerade der Fall Wilson auch die potenziellen Gefahren solch intensi72 Einen Überblick über deutsch-britische Konsultationsmechanismen in den 1970er Jahren bietet ein dreiseitiger Überblick der bilateralen Beziehungen, verfasst im Bundeskanzleramt anlässlich des Staatsbesuchs von Königin Elisabeth II. im Mai 1978, siehe B136/17109, Vermerk für Ihr Gespräch mit Königin Elisabeth II, 22. Mai 1978. 73 Vgl. Emmanuel Mourlon-Druol /Federico Romero: Conclusions. In: dies.: International Summitry, 223–233, 229. 74 John W. Young: Twentieth-Century Diplomacy. A Case Study of British Practice, 1963– 1976. Cambridge, New York 2008, 167. 75 Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit, 17, 532.
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ver personal diplomacy auf höchster Ebene: gegenseitige Falschwahrnehmungen, potenzielle Missverständnisse sowie ein generelles Misstrauen gegenüber diesem diplomatischen Format. 76 Denn im Zentrum der Gipfeldiplomatie steht letztendlich stets der direkte, persönliche Kontakt zweier mächtiger und oftmals eitler Menschen, welcher – wie jeder menschliche Kontakt – auch von subjektiven Eindrücken geprägt ist. 77 In diesem Sinne bietet eine Geschichte der Gipfeldiplomatie auch eine Möglichkeit, Elemente der Kultur- und Emotionsgeschichte stärker in die Internationale Geschichte zu integrieren, insbesondere im Hinblick auf Kategorien wie Vertrauen, Sicherheit und Angst. 78 Abschließend bleibt, den performativen Aspekt der Gipfeldiplomatie zu unterstreichen. Stets waren den Staats- und Regierungschefs die innenpolitischen Rückwirkungen ihrer Treffen bewusst und häu g wurden diese sogar während den eigentlichen Verhandlungen koordiniert und inszeniert. Hierbei ist erneut die enge Kooperation Schmidts und Callaghans zu nennen, sowohl bezüglich Schmidts Parteitagsrede 1974 als auch im Rahmen der britischen Währungskrise oder im Deutschen Herbst. Auch auf multilateraler Ebene standen die medialen Wirkungen und innenpolitischen Rückkopplungen der Gipfeltreffen häu g im Vordergrund, wie nicht zuletzt die Protokolle des Bonner Weltwirtschaftsgipfels 1978 deutlich zeigen. Doch vielleicht liegt gerade hier – an der Schnittstelle zwischen geheimen Absprachen hinter geschlossenen Türen und deren gleichzeitiger bewusster Inszenierung für die Öffentlichkeit – der Schlüssel, um die Renaissance der Gipfeldiplomatie in den 1970er Jahren besser zu verstehen. In einer Epoche zunehmender Unsicherheit erfüllten die Gipfeltreffen eine Art Ordnungsfunktion in den internationalen Beziehungen, indem sie sowohl den handelnden Akteuren als auch deren Öffentlichkeiten zumindest das Gefühl vermittelten, noch handlungsfähig und in Kontrolle zu sein. 79 Dementsprechend kann die Institutionalisierung der Gipfeldiplomatie also auch im Bereich der außenpolitischen Kommunikation – intern wie extern – als bewusste Reaktion auf die globalen Umbrüche jener Zeit gesehen werden.
76 Young: Twentieth-Century Diplomacy, 117. 77 Reynolds: Summits, 10. 78 Zur Einführung Wilfried Loth: Angst und Vertrauensbildung. In: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hrsg.): Dimensionen internationaler Geschichte. München 2012, 29–46; Patrick Bormann /Thomas Freiberger /Judith Michel (Hrsg.): Angst in den Internationalen Beziehungen. Göttingen, Bonn 2010; Ute Frevert: Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne. München 2013. 79 Romero: Refashioning the West, 119.
Agnes Bresselau von Bressensdorf
‚Media diplomacy` als Mittel internationaler Kon iktregulierung? Diplomatische und mediale Kommunikationsstrategien Genschers im Afghanistan-Kon ikt 1979/80
Die mediale Kommunikation des Auswärtigen Amts erhielt in der Ära Genscher einen einschneidenden und nachhaltigen Professionalisierungsschub und stellt ein herausragendes Spezi kum des „Systems Genscher“ dar. 1 Fokussiert auf die Person des Bundesaußenministers, dessen Omnipräsenz in Radio, Fernsehen und Printmedien legendär ist, untersucht der Beitrag exemplarisch die bis heute wachsenden Ver echtungsprozesse zwischen den per se konträren Feldern diplomatischer Arkanpolitik und öffentlicher Außenkommunikation. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen diesen beiden Polen erhält stets eine Zuspitzung in Zeiten internationaler Krisen, zu deren Deeskalation einerseits ein Höchstmaß an Vertraulichkeit im diplomatischen Abstimmungsprozess unabdingbar ist und in denen andererseits die mediale Aufmerksamkeit um ein Vielfaches zunimmt. Vor einer solch umfassenden Herausforderung stand die bundesdeutsche Außenpolitik mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979. Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Moskau außerhalb des Gebietes des Warschauer Paktes in einem Land offen militärisch interveniert, um ein kommunistisches Regime an der Macht zu halten. Angesichts der stockenden rüstungskontrollpolitischen Verhandlungen über nukleare Mittelstreckenraketen und der nur zwei Wochen zurückliegenden Verabschiedung des NATO-Doppelbeschlusses spitzte die Afghanistan-Invasion die angespannte politische und militärische Lage weiter zu. Wie stark die sicherheitspolitische Bedrohung in der zeitgenössischen Wahrnehmung präsent war, zeigte der Begriff des „Zwei-
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Zum Begriff des „Systems Genscher“ vgl. meine Dissertation, auf der dieser Artikel aufbaut: Agnes Bresselau von Bressensdorf: Frieden durch Kommunikation. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg 1979–1982/83. Berlin, Boston 2015.
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ten Kalten Krieges“, der bald in Presse und Öffentlichkeit kursierte 2 und der weit verbreiteten Angst vor einem Übergreifen der politisch-militärischen Spannungen auf Europa, insbesondere auf das geteilte Deutschland, Ausdruck verlieh. Die Sorge vor einer Rückkehr zur Konfrontationspolitik der 1950er Jahre verwies darauf, dass viele in der ostpolitischen Aufbruchstimmung der Ära Brandt den Kalten Krieg bereits für beendet gehalten hatten. 3 Die Reideologisierung der Blockkonfrontation und die sicherheitspolitische Sprachlosigkeit der Supermächte forderten von den westeuropäischen Verbündeten, insbesondere von der Bundesrepublik, eine erhebliche Kommunikationsleistung. Vor diesem Hintergrund fragt der Beitrag nach den diplomatischen und medialen Kommunikationsstrategien Genschers, seinen Taktiken und Instrumenten zur friedlichen Beilegung der Krise. Die bewusste Verknüpfung von Medien und Diplomatie nahm eine Schlüsselrolle für das unmittelbare Krisenmanagement des Bundesaußenministers ein. In einem ersten Schritt werden deshalb die Entwicklung und schrittweise Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit des Auswärtigen Amts seit dem Amtsantritt Genschers im Mai 1974 erläutert (I.), um im zweiten Abschnitt die intensive Gesprächsdiplomatie Genschers mit der Sowjetunion, den westlichen Verbündeten und den Staaten des Mittleren Ostens herauszuarbeiten (II.). Anschließend werden das mediale Krisenmanagement und seine Verschränkungen mit der diplomatischen Ebene untersucht (III.), gefolgt von einer Zusammenfassung der wichtigsten Thesen des Beitrags (IV.).
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Vgl. u. a. Karl-Heinz Janssen: Rückfall in die 50er Jahre: Vor dem zweiten Kalten Krieg? Die Jahre der Furcht in Ost und West – wenn das Pendel wieder zurückschlägt. In: Die Zeit, Nr. 3, 11. 01. 1980, URL: http://www.zeit.de/1980/03/vor-dem-zweiten-kalten-krieg (zuletzt abgerufen 16. 1. 2016), und Hartmut Soell: Der zweite Kalte Krieg. In: Der Spiegel, Nr. 15, 06. 04. 1981, 48 f. Zum Begriff des „Zweiten Kalten Krieges“ vgl. Gottfried Niedhart: Der Ost-West-Konikt. Konfrontation im Kalten Krieg und Stufen der Eskalation. In: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), 557–594, hier 588, Philipp Gassert /Tim Geiger /Hermann Wentker (Hrsg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive. München 2011, und Hermann Wentker: Vom Zweiten Kalten Krieg zum Ende des Ost-West-Kon ikts. Wandel der Weltpolitik und Revolution der Staatenwelt (1979–1991). In: Historische Mitteilungen 27 (2015), 245– 272.
‚Media diplomacy` als Mittel internationaler Kon iktregulierung?
I. Die geschichtswissenschaftliche Erforschung der Interaktionsmechanismen zwischen Medien und Außenpolitik in den 1970er und 1980er Jahren be ndet sich noch in den Anfängen. Empirische Studien liegen bislang kaum vor. 4 Bevor näher auf die Spezi ka der Medienstrategie Genschers eingegangen werden kann, sind daher zunächst einige terminologische Abgrenzungen vonnöten. So wird der Begriff der Öffentlichkeitsarbeit in den Medien- und Kommunikationswissenschaften meist synonym mit dem der Public Relations (PR) verwendet und folgt keiner allgemein anerkannten De nition. 5 Im Kern kann darunter jedoch die versuchte Steuerung der Kommunikation zwischen einem staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur einerseits und der Öffentlichkeit andererseits verstanden werden. Durch bewusste Informationspolitik soll über die Massenmedien eine indirekte Verbindung zum Publikum hergestellt sowie Verständnis und Vertrauen in die eigene Arbeit erzeugt werden. Darüber hinaus dient PR der Herstellung von Publicity – ein Begriff, der im Deutschen noch immer ungern verwendet wird wegen seiner konzeptionellen Nähe zur historisch belasteten Propaganda. Vom Terminus der „public relations“ ist wiederum derjenige der „public diplomacy“ zu unterscheiden, der von der Forschung ebenfalls unterschiedlich verwendet wird. 6 Im Wesentlichen ist darunter die gezielte, langfristig angelegte Ein ussnahme staatlicher Akteure auf die Öffentlichkeit des Auslandes zu verstehen, die im deutschen Sprachgebrauch als auswärtige Kulturpolitik bezeichnet wird.
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Eine erste positive Ausnahme hiervon bildet die Arbeit von Peter Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit. Massenmedien, Meinungsforschung und Arkanpolitik in den deutschamerikanischen Beziehungen von Erhard bis Brandt. München 2013, sowie Frank Bösch / Peter Hoeres (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2013. Einen kurzen Überblick über den Stand der medienhistorischen Forschung der Geschichtswissenschaft bietet außerdem Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt am Main, New York 2011, 7–26. Vgl. dazu auch Ulrike Röttger /Joachim Preusse /Jana Schmitt: Grundlagen der Public Relations. Eine kommunikationswissenschaftliche Einführung. Wiesbaden 2011, und Otfried Jarren /Ulrike Röttger: Public Relations aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht. In: Günter Bentele /Romy Fröhlich /Peter Szyszka (Hrsg.): Handbuch Public Relations. Wissenschaftliche Grundlagen und berufliches Handeln. 2., korr. u. erw. Au . Wiesbaden 2008, 19–36. Vgl. Benno Signitzer: Public Relations and Public Diplomacy. In: Walter A. Mahle (Hrsg.): Deutschland in der internationalen Kommunikation. Konstanz 1995, 73–81, und Daniel Ostrowski: Die Public Diplomacy der deutschen Auslandsvertretungen weltweit. Theorie und Praxis der deutschen Auslandsöffentlichkeitsarbeit. Wiesbaden 2010.
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Diese Form der „öffentlichen Diplomatie“, die auch unter Genscher weitergeführt wurde, ist ausdrücklich nicht Gegenstand der Untersuchung. Im Zentrum dieses Beitrags steht vielmehr Genschers Management organisierter Außenkommunikation, die sich nicht nur an die in- und ausländische Bevölkerung wandte, sondern auch das Regierungshandeln anderer Staaten gezielt zu beein ussen versuchte. Diese Form der Öffentlichkeitsarbeit umfasste zum einen langfristige, auf die Person Genschers zugeschnittene PR-Strategien und zum anderen eine kurzfristig wirksame „media diplomacy“ zur unmittelbaren Deeskalation internationaler Krisen. Auch der Begriff der „media diplomacy“ wird in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung nicht einheitlich von dem der „public diplomacy“ abgegrenzt. Im Unterschied zur „public diplomacy“ dient Mediendiplomatie allerdings nicht einer langfristigen ideologischen Beein ussung des Gastlandes, sondern wird im Kontext diplomatischer Verhandlungen eingesetzt, um ein konstruktives Gesprächsklima zu erzeugen. Hierfür bedienen sich die Akteure massenmedialer Instrumente wie Pressekonferenzen und Interviews, „to send signals and apply pressure on state and nonstate actors to build con dence and advance negotiations as well as to mobilize public support for agreements“. 7 Eine so verstandene, erfolgreich praktizierte „media diplomacy“ kann somit – wie noch zu zeigen sein wird – als Mittel neuer Vertrauensbildung 8 in internationalen Krisenzeiten wirken. Die Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit des Auswärtigen Amts begann bereits kurz nach dem Amtsantritt Genschers im Mai 1974 durch die institutionelle Umgestaltung der Leitungsebene, die eine Aufgabenerweiterung des Pressereferats ebenso umfasste wie eine Aufstockung der personellen und nanziellen Ressourcen. Künftig war das Pressereferat stärker an die konzeptionellen Arbeiten des Planungsstabes gekoppelt und unterstand der direkten Kontrolle Genschers. Ihre Fortsetzung fand diese intraministerielle Gewichtsverlagerung in der medialen Personalisierung bundesdeutscher Außenpolitik. Genscher gab ihr Stimme und Gesicht, verlieh der abstrakten, schwer greifbaren Materie diplomatischer Verhandlungen eine menschliche Dimension. Bester Ausdruck hier7
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Eytan Gilboa: Media Diplomacy: Conceptual Divergence and Applications. In: The Harvard International Journal of Press /Politics 3 (1998), Nr. 3, 56–75, hier 62. Vgl. außerdem Astrid Zipfel: Helmut Schmidt und die Medien. Eine Untersuchung zur politischen Öffentlichkeitsarbeit. Diss. Mainz 2004, 40–44. Zum Begriff des Vertrauens und seiner Bedeutung für die internationale Politik vgl. Wilfried Loth: Angst und Vertrauensbildung. In: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hrsg.): Dimensionen internationaler Geschichte. München 2012, 29–46, und Reinhild Kreis: Diplomatie mit Gefühl. Vertrauen, Misstrauen und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. München 2015.
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für war sein Habitus als „Reiseaußenminister“, der ständig auf der ganzen Welt unterwegs war, um die Interessen seines Landes zu vertreten. 9 Bereits in den ersten Monaten seiner Amtszeit hatte er dieses Image durch seine rege Gesprächsdiplomatie begründet und zu seinem Markenzeichen entwickelt. Durch unzählige Pressestatements, Interviews, Foto- und Filmaufnahmen auf Auslandsreisen zelebrierte er diesen Ruf, der ihm starke Sympathiewerte einbrachte. Seine damit verbundene, geradezu legendäre Omnipräsenz in den Medien wurde zum langfristig wohl wirkmächtigsten Charakteristikum seiner Öffentlichkeitsarbeit. Einen zweiten wichtigen Faktor stellte die schrittweise Privatisierung von Außenpolitik dar. Neben gemeinsamen Stadionbesuchen mit Kissinger – etwa bei der Fußballweltmeisterschaft 1974, als Genscher seinen amerikanischen Amtskollegen publicitywirksam mit einem seiner berühmten gelben Pullunder beschenkte – gehörten dazu auch Einladungen auswärtiger Kollegen zum privaten Abendessen in sein Haus in Wachtberg-Pech. Neben vielen anderen besuchten ihn dort Andrej Gromyko, dessen „Nussknacker-Miene“ 10 zum Symbol sowjetischer Außenpolitik geworden war, und sein Nachfolger Eduard Schewardnadse. Alljährlich begann Genscher zudem seinen „Arbeitssommerurlaub“ mit den Bayreuther Festspielen, wo er medienwirksam den Gastgeber für ausländische Amtskollegen spielte. 11 Das Private und das Of zielle gingen dort meist eine „konstruktive Symbiose“ 12 ein. Genschers regelmäßige Anwesenheit wurde zum Kult, er „gehörte einfach dazu“. Als drittes Element ist die in den 1980er Jahren einsetzende Entertainisierung von Außenpolitik zu nennen. Nach dem Koalitionswechsel zur Union und dem Absturz der bis dahin so stabilen Beliebtheitswerte Genschers war das Auswärtige Amt bemüht, durch neue PR-Maßnahmen das Ansehen des Ministers zu rehabilitieren. Entgegen dem Bild des aalglatten Taktikers und Machtmenschen sollte Genscher als personi zierte vertrauensbildende Maßnahme wiederaufgebaut werden. Unter Regie seines neuen Pressesprechers Reinhard Bettzuege, der 9
Für diese Form der Diplomatie hatte US-Außenminister Henry Kissinger Anfang der 1970er Jahre das Medienfeld vorbereitet. Vgl. dazu u. a. Joachim Schwedhelm: ReiseDiplomatie. In: Die Zeit, Nr. 15, 04. 04.1975, URL: http://www.zeit.de/1975/15/reise-diplomatie (zuletzt abgerufen 16. 1. 2016). 10 Vgl. Richard Kiessler: Außenpolitik als „Public Diplomacy“ – Hans-Dietrich Genscher und die Medien. In: Hans-Dieter Lucas (Hrsg.): Genscher, Deutschland und Europa. Baden-Baden 2002, 371–386, hier 376. 11 Vgl. dazu auch Lothar Lahn: Das Phänomen. In: Werner Filmer/Heribert Schwan (Hrsg.): Hans-Dietrich Genscher. Düsseldorf 1988, 335–340. 12 Wolfgang Wagner: Einem Freund Bayreuths zum Geburtstag. In: Klaus Kinkel (Hrsg.): In der Verantwortung. Hans-Dietrich Genscher zum Siebzigsten. Berlin 1997, 92–95, hier 94. Nachfolgendes Zitat ebd.
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diesen Posten von 1982 bis 1995 innehatte, wurde der „Mensch“ Genscher in den Vordergrund gerückt. Dies umfasste beispielsweise die öffentlichkeitswirksame Versteigerung von Genscher-Karikaturen für wohltätige Zwecke, wodurch Genscher als Sympathieträger etabliert werden sollte, der über sich selbst lachen konnte. 13 Als weitere PR-Maßnahme war vorgesehen, Genscher über das Fernsehen als Teil des abendlichen Unterhaltungsprogramms zu etablieren, was Helmut Schmidt seinerzeit als Bundeskanzler immer strikt abgelehnt hatte. 14 1984 trat Genscher erstmals in der von Thomas Gottschalk moderierten Sendung „Na so was!“ auf und war in den darauffolgenden Jahren Gast in zahlreichen TV-Unterhaltungssendungen, von „Max Schautzer“ bis „Wetten dass?“. Diese Tendenz zur Entertainisierung griff die Satirezeitschrift „Titanic“ auf, als sie Ende der 1980er Jahre – in Anlehnung an die populäre Figur des Batman – die Comic-Figur „Genschman“ entwickelte, die aufgrund ihrer überraschenden Popularität schnell zur Serie weiterentwickelt wurde. 15 Insgesamt war die professionelle, ganz auf die Person Genschers zugeschnittene PR-Arbeit des Auswärtigen Amts von bemerkenswert schnellem Erfolg gekrönt. Bereits wenige Monate nach seinem demoskopischen Tief im Herbst 1982 stieg Genscher peu à peu auf der Beliebtheitsskala bundesdeutscher Politiker nach oben. Diese langfristige Öffentlichkeitsarbeit des Auswärtigen Amts bildete die Hintergrundfolie und Ausgangsbasis für Genschers medienpolitisches Krisenmanagement im Afghanistan-Kon ikt, das den Logiken der „media diplomacy“ folgte. Bevor dieses en détail analysiert werden kann, ist zunächst ein Blick auf die historischen Hintergründe der sowjetischen Invasion und die anschließenden diplomatischen Bemühungen Genschers um eine Beilegung der Krise notwendig.
13 So beispielsweise 1985 zugunsten des „Förderkreises 3. Welt“ und einer Kinderkrebsstation. Vgl. Personalien: Hans-Dietrich Genscher. In: Der Spiegel, Nr. 49, 02. 12. 1985, 251. Vgl. dazu auch Klaus-Dieter Reinhold: Sein Humor. In: Werner Filmer/Heribert Schwan (Hrsg.): Hans-Dietrich Genscher. Düsseldorf 1988, 393–395, und Kiessler: Außenpolitik als „Public Diplomacy“, 376. 14 Vgl. ebd., 375–377, und Lars Rosumek: Die Kanzler und die Medien. Frankfurt am Main u. a. 2007, 143–147. 15 Vgl. dazu: Voll reingetreten. Wachsender Widerstand in Bonn und München gegen den Genschman-Kult. In: Der Spiegel, Nr. 47, 20. 11. 1989, 284 f., und Reinhard Bettzuege: Auf Posten . . . Berichte und Erinnerungen aus 50 Jahren deutscher Außenpolitik. München 1997, 310 f.
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II. Afghanistan, das aufgrund seiner geostrategischen Lage seit dem 19. Jahrhundert immer wieder ein Spielball divergierender Großmachtinteressen gewesen war, erlebte in den 1960er Jahren mit der Errichtung einer konstitutionellen Monarchie und der Erarbeitung einer Verfassung eine vorübergehende politische und wirtschaftliche Blütezeit. 16 Diese Phase relativer Stabilität endete jedoch abrupt, als Sardar Mohammed Daoud Khan im Juli 1973 mit Unterstützung der kommunistisch orientierten „Demokratischen Volkspartei Afghanistans“ (DVPA) gegen seinen Cousin, König Mohammed Nadir Schah, putschte, Afghanistan zur Republik und sich selbst zum Präsidenten erklärte. Zwar wollte Daoud die Modernisierung des Landes vorantreiben, umfassende sozialistische Reformen in Politik und Gesellschaft lehnte er als Angehöriger des Adels allerdings ab. Und so blieb die Kooperation mit den Kommunisten, die ihm zu seinem Amt verholfen hatten, eine brüchige Zweckgemeinschaft. Am 27. April 1978 putschte daraufhin die in sich tief gespaltene DVPA unter Leitung von Ha zullah Amin und rief die „Demokratische Republik Afghanistan“ aus. 17 Die radikalen Maßnahmen der Partei zur sozialistischen Umgestaltung des Landes stießen jedoch auf den wachsenden Widerstand der tief religiösen afghanischen Bevölkerung, die in den kommunistischen, atheistischen Reformen einen Angriff auf den Islam sahen. Es mehrten sich Unruhen und Aufstände, angeführt von oppositionellen „Muslimbruderschaften“, die von der Regierung mit brutalen Gegenmaßnahmen vergolten wurden. Trotz wiederholter Hilfsersuchen Amins an Moskau lehnte der Kreml die Entsendung eigener Truppen zur Niederschlagung der Aufstände zunächst ab, und so elen im Laufe der Monate immer mehr Landesteile in die Hand der Widerstandsgruppen. Am 24. Dezember 1979 marschierten schließlich sowjetische Truppen über die afghanische Grenze und eroberten zwei Tage später Kabul, wobei Amin unter ungeklärten Umständen zu Tode kam. 18 Noch am Abend desselben Tages über-
16 Zur Geschichte Afghanistans vgl. Conrad Schetter: Kleine Geschichte Afghanistans. München 2010. 17 Vgl. zum Folgenden David N. Gibbs: Die Hintergründe der sowjetischen Invasion in Afghanistan 1979. In: Bernd Greiner (Hrsg.): Heiße Kriege im Kalten Krieg. Hamburg 2006, 291–314, und Dieter Kläy: Der sowjetische Krieg in Afghanistan und die Folgen bis heute. In: Claudine Nick-Miller (Hrsg.): Strategisches versus humanitäres Denken: das Beispiel Afghanistan. Zürich 2009, 103–135. 18 Die CIA ging davon aus, dass Amin von den Sowjets ermordet worden war. Vgl. Douglas MacEachin: Predicting the Soviet Invasion of Afghanistan: The Intelligence Community's Record. Washington, D.C 2002, 33–35.
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nahm Babrak Karmal, ein von Moskau protegiertes Mitglied des gemäßigten Flügels der Partei, die Ämter des Vorsitzenden des Revolutionsrats, des DVPAGeneralsekretärs und des Ministerpräsidenten. Die sowjetische Invasion stellte die Bundesregierung, ihre Entspannungsund Sicherheitspolitik vor ein veritables Dilemma. Wenige Wochen zuvor war der NATO-Doppelbeschluss verabschiedet worden, der die Stationierung nuklearer Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden vorsah, falls bis Ende 1983 keine Einigung in den rüstungskontrollpolitischen Verhandlungen mit der Sowjetunion erzielt werden konnte. 19 Diese erfolgreich bestandene Belastungsprobe schien nun in zweifacher Weise gefährdet: Verhandlungen mit Moskau rückten in weite Ferne und die so mühsam wiedergefundene transatlantische Solidarität begann zu bröckeln. Hatte Bonn einerseits ein vitales Interesse an einem geschlossenen Handeln der Allianz, galt es andererseits eine Überreaktion der Verbündeten, insbesondere der Amerikaner, zu vermeiden. Andernfalls drohten die OstWest-Beziehungen nach den entspannungspolitischen Erfolgen der 1970er Jahre, einem der prestigeträchtigsten Aushängeschilder der sozial-liberalen Koalition, in einen „Zweiten Kalten Krieg“ abzurutschen – und das mitten in einem Wahljahr. Das entspannungspolitische Credo Genschers lautete daher „Deeskalation durch Kommunikation“ – gleichermaßen gegenüber West und Ost. Diese Strategie versuchte der Bundesaußenminister auf mehreren Ebenen zu realisieren. Der erste von drei Kommunikationsräumen umfasste die bi- und multilateralen Gespräche Genschers mit den EG- und NATO-Partnern. Bereits seit der „Aprilrevolution“ von 1978 hatten diese regelmäßig über die afghanische Entwicklung, die diesbezügliche sowjetische Rolle und mögliche Interventionsabsichten Moskaus diskutiert. Kurz nach Bekanntwerden der Invasion, noch am 28. Dezember, telefonierte Genscher persönlich mit seinen Kollegen in Washington, Paris und London, tauschte erste Beurteilungen aus und vereinbarte die Einberufung einer Sondersitzung des Ständigen NATO-Rats auf Botschafterebene für den folgenden Tag. 20 Dort fand ein erstes Brainstorming der Verbündeten 19 Zum NATO-Doppelbeschluss vgl. Gassert /Geiger/Wentker: Zweiter Kalter Krieg. 20 Zum Telefonat Genschers mit Carter vgl. Letter from Private Secretary, Alexander, to Lever, FCO, December 28th 1979. In: TNA, FCO 37/2135. Zum Telefonat Genschers mit Carrington vgl. Letter from Lever, FCO, to White, Head of the South Asian Department of the FCO, December 28th 1979, Subject: Afghanistan and Iran. In: TNA, FCO 28/3878. Zur Abstimmung mit Paris vgl. Télégramme (COREU) de Bonn à Paris le 28 décembre 1979, Objet: Afghanistan. In: AMAE, Direction d'Asie et d'Océanie, sous-série Afghanistan, 455INVA/1973, und Télégramme No. 5021/23 de Bonn à Paris le 28 décembre 1979, Objet: Situation en Afghanistan. In: AMAE, Direction d'Asie et d'Océanie, sous-série Afghanistan, 455INVA/1969.
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statt, ohne dass konkrete operative Schlussfolgerungen gezogen worden wären. 21 Auf amerikanische Anregung trafen sich die Staatssekretäre der sogenannten Sechser-Gruppe (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada, USA) in London zu einer weiteren Besprechung, 22 um die für den 1. Januar 1980 einberufene zweite Sitzung des Ständigen NATO-Rats vorzubereiten. 23 Nach diesem umfassenden multilateralen Informations- und Meinungsaustausch auf Ebene der Botschafter, Staatssekretäre und Außenminister wurden auf britischen Vorschlag schließlich am 4. Januar zwei Arbeitsgruppen gebildet, die sich unter Beteiligung diverser Sachverständiger mit den künftigen Beziehungen des Westens zu den Staaten der Region beziehungsweise zur Sowjetunion befassen sollten. Anders als geplant konnte jedoch auf der nächsten Tagung des Ständigen NATO-Rats am 15. Januar noch nicht über erste gemeinsame Gegenmaßnahmen entschieden werden, da die Partner nach wie vor uneins waren in der Einschätzung der sowjetischen Motivlage und der daraus resultierenden Haltung des Westens. Ohne hier auf die Details der oftmals zähen Debatten eingehen zu wollen, die im Wesentlichen um die Frage der von Washington verhängten Wirtschaftssanktionen gegen die Sowjetunion und die Möglichkeit eines Boykotts der Olympischen Sommerspiele in Moskau kreisten, kann als gemeinsame Position der NATO-Staaten die Forderung nach dem sofortigen Rückzug der sowjetischen Truppen und nach der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des afghanischen Volkes festgehalten werden. Unabhängig von den konkreten Maßnahmen der Allianz zeigen die diplomatischen Aktivitäten Genschers in den ersten Wochen nach der Invasion ein klares Muster: Alle technisch möglichen Kommunikationsmittel des Auswärtigen Amts wurden ausgeschöpft: Fernschreiben von den deutschen Botschaften in Kabul, Islamabad, Moskau und den Hauptstädten der Verbündeten informierten nahezu stündlich über die aktuelle Lage. Die Runderlasse der NATO-Part-
21 Vgl. Fernschreiben Nr. 1415 aus Brüssel (NATO) an das Auswärtige Amt vom 29. 12. 1979, Betr.: Afghanistan, hier: NATO-Konsultationen vom 29. 12. 1979. In: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA-AA), B 41, Ref. 213 (Zwischenarchiv), Bd. 133202. 22 Zu den Einzelheiten des Londoner Treffens vgl. Aufzeichnung des Ref. 340 des Auswärtigen Amts vom 03. 01. 1980, Betr.: Lage in Afghanistan, hier: Ergebnisvermerk über die 6erGespräche in London am 31. 12. 1979. In: PA-AA, B 37, UA 34 (Zwischenarchiv), Bd. 113035. 23 Zu den Einzelheiten des Treffens vgl. Fernschreiben des deutschen Botschafters bei der NATO, Pauls, an das AA vom 01. 01. 1980, Betr.: Afghanistan, hier: NATO-Konsultationen am 01. 01. 1980. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD), hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte im Auftrag des Auswärtigen Amts, Bd. 1980. München 2011, Dok. 1, 3–15.
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ner ermöglichten einen multilateralen fernschriftlichen Informationsaustausch ebenso wie die COREU: Mit dieser Correspondance Européenne, dem Telexnetz der europäischen Korrespondenten, konnten die Westeuropäer bereits im Vorfeld gemeinsamer NATO-Sitzungen ihre Haltung abstimmen. Zusätzlich – und dies in besonderem Maße – schuf Genscher durch Telefonate und bei den Gipfeltreffen eine persönliche Gesprächsbasis zwischen den Außenministern. Dieses taktische Vorgehen konnte zwar nicht darüber hinwegtäuschen, wie gering der Handlungsspielraum der Allianz und vor allem Bonns insgesamt blieb. Gleichwohl wird daran erkennbar, dass Genscher in Abwesenheit von Bundeskanzler Helmut Schmidt, der sich im Urlaub auf Mallorca befand, zum zentralen Akteur des bundesdeutschen Krisenmanagements und kommunikativen Motor der allianzinternen Abstimmungsprozesse avancierte. Zweitens intensivierte Genscher unmittelbar nach der Afghanistan-Invasion die Gesprächsdiplomatie mit Moskau. Unter Berufung auf die deutsch-sowjetische Deklaration vom Mai 1978, in der sich beide Seiten für die „Unteilbarkeit des Friedens und der Sicherheit“ ausgesprochen hatten, 24 forderte Bonn Moskau auf, nun nicht wortbrüchig zu werden. Wer Frieden in Europa wolle, müsse sich weltweit an die Spielregeln der Détente halten. Der Bundesaußenminister und seine Diplomaten wiederholten ihre Appelle unermüdlich in öffentlichen Statements und unzähligen direkten Gesprächen mit der Sowjetunion. 25 Genscher wandte dabei immer dieselbe Gesprächstaktik an. Er beteuerte, die Politik der Bundesregierung sei langfristig angelegt und an ihren Grundlagen habe sich nichts geändert, mit anderen Worten, die sozial-liberale Koalition trete nach wie vor für die Fortsetzung des KSZE-Prozesses 26, der MBFR-Konferenz 27 und der Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen ein. Dies liege nach seinem Kenntnis24 Für den Wortlaut der Gemeinsamen Deklaration vom 06.05. 1978 anlässlich des Besuchs des Generalsekretärs der KPdSU, Breschnew, vom 04. bis 07. 05. 1978 in Bonn vgl. Presseund Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin der Bundesregierung Nr. 44 vom 09. 05.1978, 429 f. 25 In den ersten Monaten nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan fanden deutschsowjetische Gespräche auf unterschiedlichen diplomatischen Ebenen durchschnittlich mindestens einmal pro Woche statt. 26 „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“. Zur KSZE-Politik der Bundesregierung vgl. Matthias Peter: Die Bundesrepublik im KSZE-Prozess 1975–1983. Die Umkehrung der Diplomatie. München, Boston 2015. 27 Die Verhandlungen über „Mutual Balanced Force Reductions“ waren 1973 in Wien eröffnet worden und wurden parallel zur KSZE-Konferenz abgehalten. Vgl. Lothar Rühl: Mittelstreckenwaffen in Europa. Ihre Bedeutung in Strategie, Rüstungskontrolle und Bündnispolitik. Baden-Baden 1987, und Matthias Peter: Sicherheit und Entspannung. Die KSZEPolitik der Bundesregierung in den Krisenjahren 1978–1981. In: ders./Hermann Went-
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stand auch im Interesse Moskaus. Um diese gemeinsamen deutsch-sowjetischen Ziele zu erreichen, sei es gerade jetzt in der Krise der internationalen Beziehungen notwendiger denn je, die Kontakte auf allen Ebenen nicht nur fortzusetzen, sondern zu intensivieren: „Wenn man aufrichtig miteinander spreche, könne man einander verstehen und vielleicht auch Lösungen nden.“ 28 Geradezu mantraartig wiederholte Genscher, dass dafür persönliche Kontakte unabdingbar seien, wie beispielhaft an seinem Treffen mit Botschafter Semjonow vom 25. Januar 1980 gezeigt werden kann. Bei einer Gesprächsdauer von siebzig Minuten betonte er nicht weniger als sechzehn Mal, wie entscheidend es sei, auf allen zur Verfügung stehenden Kommunikationskanälen miteinander zu sprechen. „Selbst wenn man – wie jetzt in puncto Afghanistan – einen Dissens konstatieren müsse, hätten persönliche Begegnungen doch einen Wert an sich insofern, als sie es ermöglichten, den Standpunkt des anderen kennenzulernen und einschätzen zu können. Deshalb wiederhole er noch einmal: Der Dialog dürfe nicht abreißen; das sei heute wichtiger als je zuvor.“ 29 Bei einem weiteren Treffen am 8. Februar 1980 versicherte Genscher gegenüber Semjonow erneut, er freue sich sehr über die Fortsetzung der Gespräche. „Es ist wichtig, in der gegenwärtigen Lage den Dialog aufrechtzuerhalten. Es ist notwendig, Missverständnisse und falsche Eindrücke zu vermeiden.“ 30 Deshalb habe er die Bitte, die deutsch-französische Erklärung 31 als Versuch des Westens zu sehen, seine Haltung zu erläutern und künftige Fehlentwicklungen zu vermeiden. Ziel der Bundesregierung und ihrer Bündnispartner sei es, die Entspannungspolitik fortzusetzen, auch wenn Kanzler Schmidt und Präsident Giscard vor wenigen Tagen in Paris gemeinsam erklärt hätten, dass die Entspannung „durch die Ereignisse in Afghanistan [. . . ] schwieriger und unsicherer“ geworden sei. Ähnlich äußerte sich Genscher in einem Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko am Rande der Wiener MBFR-Verhandlungen am 16. Mai 1980: „Es sei gut, die Gelegenheit des Aufenthalts in Wien zu nutzen, um die Gespräche
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ker (Hrsg.): Die KSZE im Ost-West-Kon ikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975–1990, München 2012, 59–81. Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem sowjetischen Botschafter Semjonow am 25. 01. 1980. In: AAPD 1980, Dok. 26, 159. Ebd., 161. Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem sowjetischen Botschafter Semjonow am 08. 02. 1980. In: AAPD 1980, Dok. 42, 254. Nachfolgendes Zitat ebd. Der französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärten darin, dass die Entspannung „einem neuen Schlag gleicher Art nicht standhalten würde“, vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin der Bundesregierung Nr. 15 vom 08.02. 1980, 117 f. Nachfolgendes Zitat ebd., 117.
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fortzuführen. [. . . ] Er sei überhaupt der Meinung, dass Gespräche in der gegenwärtigen Situation geführt werden müssten. Ihre Begründung liege schon darin, dass sie stattfänden.“ 32 Abschließend, so notierte der Protokollant, stellten „beide Minister übereinstimmend fest, dass das Gespräch nützlich war und in konstruktivem Geist geführt wurde.“ Persönliche Gespräche waren für Genscher also nicht nur ein Weg, auf dem im Idealfall Fortschritte zur Beilegung der Afghanistan-Krise erzielt werden könnten. Vielmehr bildete Kommunikation in seinem Verständnis von Krisenmanagement einen Wert an sich. Das Vertrauensverhältnis, das durch den Einmarsch in Afghanistan nachhaltig zerstört worden war, könne langfristig nur über die Erfahrung gegenseitiger Verlässlichkeit neu aufgebaut werden. Bei seinem unermüdlichen Appell zum Dialog war Genscher überzeugt, dass ein konstruktiver Weg aus der Krise nur dann gefunden werden konnte, wenn der Westen sich nicht darauf beschränkte, Moskau zu kritisieren. Stattdessen war es seiner Meinung nach entscheidend, Breschnew eine Brücke und konkrete Anreize für eine Beilegung der Krise zu bieten und so einen Weg zu einem gesichtswahrenden Truppenrückzug aufzuzeigen. Ein Übergreifen der Spannungen auf Europa sollte wenn irgend möglich verhindert oder zumindest auf ein Minimum beschränkt werden. Deshalb, so Genscher, müsse der Afghanistan-Kon ikt als Ost-Süd- und nicht als Ost-West-Problem behandelt werde. Mit anderen Worten: Um den „acquis de détente“ in Europa zu bewahren, sollten die Länder der „Dritten Welt“ und die N+N-Staaten 33 mobilisiert werden, um in Solidarität mit dem unterdrückten afghanischen Volk gegen Moskau aufzubegehren. Es liege im deutschen, europäischen und amerikanischen Interesse, darauf hinzuarbeiten, dass die Staaten der Golfregion selbst die Initiative ergriffen, um ein vom Kreml unabhängiges Afghanistan zu schaffen und den Mittleren Osten insgesamt zu stabilisieren. 34 Damit ist bereits der dritte Kommunikationsraum benannt. Schon am 28. Dezember 1979 ergriff Genscher die Initiative und nahm Kontakt zu den Staaten der Krisenregion auf. Staatssekretär van Well konsultierte die Botschafter Pakistans, Indiens und Chinas, 35 knapp zwei Wochen später hatte das Auswärtige Amt 32 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko in Wien am 16. 05. 1980. In: AAPD 1980, Dok. 151, 801 f.; nachfolgendes Zitat ebd., 809. 33 Neutrale und Nichtpaktgebundene Staaten. 34 Vgl. Aufzeichnung des Ref. 340 vom 03. 01. 1980, Betr.: Lage in Afghanistan, hier: Ergebnisvermerk über die 6er-Gespräche in London am 31.12. 1979. In: PA-AA, B 37, UA 34 (Zwischenarchiv), Bd. 113035. 35 Vgl. Vermerk des Ref. 340 des Auswärtigen Amts, Hehenberger, vom 29.12. 1979, Betr.: Gespräche des Staatssekretär van Well am 28. 12. 1979 mit den Botschaftern von Pakistan,
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diplomatische Gespräche mit 29 ungebundenen Staaten des asiatischen, arabischen und afrikanischen Raumes aufgenommen. 36 Darüber hinaus reiste Staatssekretär Lautenschlager nach Indien, Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff nach Saudi-Arabien und Genscher selbst besuchte Mitte Februar 1980 Islamabad und einen Monat später Neu-Delhi. Ziel dieser engmaschigen Gesprächsdiplomatie war es, die lange vernachlässigten Beziehungen zu den Staaten des Mittleren Ostens möglichst schnell zu intensivieren und sie in der Afghanistan-Frage als aktiven Spieler auf die internationale Bühne zu holen, um den Blockantagonismus der Supermächte ein Stück weit aufzubrechen. Gemeinsam mit dem britischen Außenminister Carrington arbeitete Genscher daran, über das Forum der „Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ (EPZ) den westeuropäischen Handlungsspielraum zu vergrößern und durch Entwürfe für ein „neutrales“ beziehungsweise blockfreies Afghanistan einen konstruktiven Weg aus der Sackgasse zu nden. Jenseits zum Teil erheblicher Differenzen im Detail bemühten sich Bonn und London, zunächst bei den Staaten der „Dritten Welt“ für die grundlegende Idee eines neutralen Afghanistans zu werben. Wenn die Bewegung der Blockfreien und die Staaten der Krisenregion den westlichen Vorschlag aufgriffen und auf ihre eigene Agenda setzten, wäre es für Moskau ungleich schwerer, ihn als Element westlicher Einmischung in die afghanisch-sowjetischen Beziehungen abzulehnen. Mit seiner Verzögerungstaktik verminderte Genscher unmittelbar die Spannung innerhalb des westlichen Bündnisses und bot Breschnew die Möglichkeit, mit vergleichsweise geringem Prestigeverlust zumindest einen Teilrückzug der sowjetischen Truppen anzuordnen. Sein Vermittlungsvorschlag scheiterte letztlich an der amerikanischen, sowjetischen und afghanischen Blockadehaltung, zu wirkmächtig waren die sicherheitspolitischen und ideologischen Systemzwänge des Ost-West-Kon ikts in dieser globalstrategisch so wichtigen Region, aber auch die ethnisch-religiösen Spannungen und das historisch gewachsene Misstrauen zwischen den Staaten des Mittleren Ostens selbst. Gleichwohl belegt dieser diplomatische Vorstoß Genschers symptomatisch seine Strategie, eine ausweglos erscheinende Krisensituation durch die Änderung ihrer Rahmenbedingungen und den Ausgleich divergierender Interessen zu entschärfen. Indien, China und Bangladesch, je einzeln, wegen des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan. In: PA-AA, B 37, UA 34 (Zwischenarchiv), Bd. 110427. 36 Vgl. Schreiben der Abt. 3 des Auswärtigen Amts an Staatssekretär van Well und Bundesminister Genscher vom 09. 01. 1980, Betr.: Sowjetische Intervention in Afghanistan, hier: Vorschlag für Vortrag des Bundesministers vor dem Bundessicherheitsrat. In: PA-AA, B 37, UA 34 (Zwischenarchiv), Bd. 113033.
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III. Neben der diplomatischen Gesprächsebene kam der medialen Kommunikation Genschers, deren Instrumente, Taktiken und Strategien im Folgenden analysiert werden, eine wesentliche Bedeutung für sein unmittelbares Krisenmanagement im Afghanistan-Kon ikt zu. Wie dargelegt bildeten persönliche Interviews mit den Printmedien, Radio- und Fernsehsendern ein zentrales Element einer solchen „media diplomacy“, für deren tieferes Verständnis ein kurzer Blick auf die zeitgenössische Medienlandschaft notwendig ist. Neben den Printmedien war auch der Hörfunk durch den Aufstieg des Fernsehens seit den 1960er Jahren zumindest vorübergehend in eine Krise geraten. 37 Vor allem im Unterhaltungssegment und im Bereich der vorabendlichen Informationssendungen stand er unter Druck. Durch eine Reformierung der Programmstruktur versuchten die Rundfunkanstalten, diesem Abwärtstrend Einhalt zu gebieten, und bauten ihr Angebot an Nachrichten- und Informationssendungen aus. Als besonders effektiv erwies sich die Einführung von Morgen- und Mittagsmagazinen sowie regional und lokal zugeschnittener Sendeformate, die zu Tageszeiten ausgestrahlt wurden, zu denen das Fernsehen noch kein Konkurrent war. Mit diesen Modernisierungsmaßnahmen gelang es, den Herausforderungen durch das Fernsehen zumindest vorübergehend zu begegnen, sodass zu Recht von einer „Renaissance des Hörfunks“ 38 in den 1970er Jahren gesprochen wird. Auch im Fernsehen wurden neben den Nachrichtensendungen – etwa der Tagesschau der ARD und der heute-Sendung des ZDF – seit den 1960er Jahren zunehmend politische Informationssendungen und Magazine wie beispielsweise Panorama, Report, Monitor, Bericht aus Bonn und das ZDF-Magazin gesendet. 39 Der intermediale Wettbewerb zwischen Printmedien, Radio und Fernsehen, der sich unverkennbar verschärft hatte und mit der Einführung des dualen Rundfunksystems Mitte der 1980er Jahre eine weitere Dynamisierung erfahren sollte, führte allerdings weniger zur Verdrängung ganzer Mediengattungen als vielmehr
37 Vgl. die Beiträge von Ansgar Diller, Horst O. Halefeldt, Marie Luise Kiefer und Rüdiger Schulz in: Jürgen Wilke (Hrsg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Köln 1999, sowie die Beiträge von Kurt R. Hesse, Frank Marcinkowski und Uwe Hasebrink in: Ottfried Jarren (Hrsg.): Politische Kommunikation in Hörfunk und Fernsehen. Opladen 1994. 38 Horst O. Halefeldt: Programmgeschichte des Hörfunks. In: Jürgen Wilke (Hrsg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Köln 1999, 211–230, hier 219. 39 Vgl. Peter Ludes: Programmgeschichte des Fernsehens. In: Jürgen Wilke (Hrsg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Köln 1999, 255–276.
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zu ihrer komplementären Nutzung. 40 Ein Politiker, der größtmögliche Präsenz in den Medien anstrebte, tat also gut daran, sich um Interviews nicht nur in Zeitungen und Zeitschriften, sondern auch in den Morgen- und Mittagsmagazinen des Radios sowie dem Abendprogramm des Fernsehens zu bemühen. Wie sehr der Bundesaußenminister diese Entwicklung verinnerlicht hatte und für sich zu nutzen wusste, zeigt eine Ausweitung seiner Interviews in der AfghanistanKrise. 41 Betrachtet man den Zeitraum zwischen dem sowjetischen Einmarsch im Dezember 1979 und der Bundestagswahl im Herbst 1980, wird zunächst erkennbar, dass die Zahl der Interviews – parallel zur gesamten Presseberichterstattung zu diesem Thema – im Laufe des Jahres kontinuierlich abnahm: Von insgesamt 50 Interviews gab Genscher allein im Januar elf, bis September sank deren Zahl auf null ab. Dies war zum einen der Tatsache geschuldet, dass die diplomatischen Verhandlungen um einen sowjetischen Truppenrückzug, westliche Sanktionen, Olympia-Boykott und eine langfristige Beilegung der Krise keine Erfolge zeitigten. Angesichts der fehlenden Fortschritte ließ die mediale Aufmerksamkeit Stück für Stück nach. Zum anderen stand in Bonn die Bundestagswahl an, und so konzentrierten sich die Medien zunehmend auf den Wahlkampf, der andere Themen in den Vordergrund rückte. Zwar gab Genscher auch hier zahlreiche Interviews, in denen die Entwicklungen in und um Kabul gestreift wurden, für die hier zu untersuchende Fragestellung aber wurden nur solche herangezogen, die sich ausschließlich mit Afghanistan befassten. Eine Differenzierung dieses Quellenpools nach Medienarten zeigt dreierlei: Erstens kamen bei denjenigen Gesprächen, die Genscher mit Vertretern der Printmedien führte, Die Welt und Blätter mit lokalem beziehungsweise regionalem Einzugskreis besonders häu g zum Zug. Bereits am 30. Dezember, wenige Tage nach der Invasion, druckte die Welt am Sonntag ein Exklusiv-Interview mit Genscher ab. Bis Ende Februar folgten drei weitere. Vergleichsweise häug konnte auch die BILD-Zeitung mit Exklusiv-Interviews des Außenministers aufwarten. Auf diese Weise war Genscher also ausgerechnet bei Zeitungen des Springer-Konzerns besonders präsent, die den Oppositionsparteien nahestanden. Durch die wörtliche Wiedergabe des Gesagten konnte Genscher direkter als in Hintergrundgesprächen Ein uss auf die Berichterstattung nehmen. Zugleich 40 Vgl. auch Holger Nehring: Debatten in der medialisierten Gesellschaft. Bundesdeutsche Massenmedien in den globalen Transformationsprozessen der siebziger und achtziger Jahre. In: Thomas Raithel /Andreas Rödder /Andreas Wirsching (Hrsg.): Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren. München 2009, 45–65. 41 Die nachfolgenden quantitativen Berechnungen basieren auf eigenen Berechnungen. Vgl. dazu Bresselau von Bressensdorf: Frieden durch Kommunikation, 182–195.
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bot dies die Möglichkeit, inhaltliche „Testballons“ zu setzen und mögliche Kritik an der politischen Linie der Bundesregierung frühzeitig zu erkennen. Gezielt ging Genscher auch auf lokale Blätter und Illustrierte aus dem gesamten Bundesgebiet zu, die ihre Leser weniger mit umfangreichen Hintergrundberichten als mit einem Exklusiv-Interview des Außenministers anziehen konnten, und erreichte damit einen breiten Rezipientenkreis. So druckten im Untersuchungszeitraum Zeitungen aus allen Ecken der Bonner Republik wie beispielsweise die Heilbronner Stimme, die Rhein-Neckar-Zeitung, die Kieler Nachrichten, die Schwäbische Zeitung, der Schwarzwälder Bote, die Saarbrücker Zeitung, die Westfälische Rundschau und auch die Illustrierte Die Bunte Interviews mit Genscher zur Afghanistan-Krise ab. Die quantitative Auswertung zeigt darüber hinaus, dass Genscher knapp die Hälfte aller Interviews im Hörfunk gab. Zeitung und Fernsehen kamen hingegen nur auf 30% beziehungsweise 26%. Genscher setzte in seiner Öffentlichkeitsarbeit offensichtlich bewusst auf das Radio und berücksichtigte damit gezielt die aktuelle Entwicklung des medialen Kommunikationssystems. Mit dem Radio erreichte er Ende der 1970er Jahre ein breites Publikum unabhängig von Alter, Geschlecht und sozialer Herkunft und auch diejenigen Wähler, die nicht regelmäßig Zeitung lasen. 42 Zudem platzierte er seine Interviews gezielt in den Morgenund Mittagsmagazinen der Radiosender, also genau zur besten Sendezeit des Hörfunks. Beispielsweise führte er am 16. Januar 1980 um 7.18 Uhr in der Sendung „Musik und Informationen“ des Deutschlandfunks ein Gespräch zur Afghanistan-Sondersitzung der EG-Außenminister, das den ganzen Tag über wiederholt wurde. 43 Über entsprechende Meldungen der dpa und der freien demokratischen korrespondenz, des Pressedienstes der FDP, wurde der Wortlaut auch allen anderen Medienvertretern zugänglich, die ihrerseits über die Stellungnahme Genschers berichteten. Diese Multiplikatoreneffekte sind quantitativ schwer zu messen, zeigen jedoch, dass mit einer relativ geringen Anzahl an Interviews – wenn sie geschickt platziert wurden – eine breite Welle der Berichterstattung ausgelöst werden konnte. Auffällig ist darüber hinaus die regionale Verteilung der Interviews, die – proportional zu Fläche und Bevölkerungsanteil des jeweiligen Bundeslandes – eine
42 Vgl. Uwe Hasebrink in: Ottfried Jarren (Hrsg.): Politische Kommunikation in Hörfunk und Fernsehen. Opladen 1994, 157–172. 43 Vgl. Interview des Deutschlandfunks (DLF) mit Hans-Dietrich Genscher für die Sendung „Musik und Informationen“ am 16. 01. 1980, 07.18 Uhr, Thema: Tagung der EG-Außenminister im Zusammenhang mit der sowjetischen Intervention in Afghanistan. In: Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), Pressearchiv, Afghanistan.
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relativ regelmäßige Streuung über das gesamte Bundesgebiet aufweist. In NDR und WDR, die gemeinsam Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein abdeckten, wurden 32% der Radiointerviews ausgestrahlt. In SDR, SWF und SWR, die in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg empfangen werden konnten, waren insgesamt 18% der Interviews zu hören, im Bayerischen Rundfunk 14 %. Auf den Hessischen Rundfunk kamen 9%. Darüber hinaus gab Bundesminister Genscher dem Deutschlandfunk, der Deutschen Welle und dem SFB, also denjenigen Sendern, die auch in der DDR beziehungsweise in Berlin und im Ausland empfangen werden konnten, zwischen Januar und Juli 1980 sechs Interviews, was einem doch beachtlichen Anteil von fast einem Drittel aller Radiointerviews zur Afghanistan-Krise entspricht. Analog dazu gab Genscher seine TV-Interviews fast ausschließlich für Sendungen, die zwischen 19.30 und 22.30 Uhr, also zur Prime Time, ausgestrahlt wurden. Deutlich häu ger als im ZDF war er in der ARD und ihren Dritten Programmen zu sehen – jenen Sendern, die wechselseitige Programmwiederholungen und zeitweise parallele Sendungen ausstrahlten. 44 Ein Statement, das Genscher abends im Fernsehen zum Besten gab, konnte tags darauf in Morgenzeitungen und Meldungen der Nachrichtenagenturen wiedergegeben werden und erhielt dadurch eine breite Rezeption. Diese kurze quantitative Analyse vermittelt einen ersten Eindruck von der medialen Omnipräsenz Genschers in der Afghanistan-Krise. Wer morgens oder mittags seine Zeitung las und/oder Radio hörte und abends fernsah, kam gar nicht umhin, Genschers Ansichten zur Fortsetzung der Entspannungspolitik zur Kenntnis zu nehmen. Eine qualitative Auswertung der Interviews zeigt überdies, dass Genscher öffentlich für dieselben Ziele und Positionen warb wie in den Verhandlungen mit den westlichen Verbündeten, der Sowjetunion und den Nachbarstaaten Afghanistans. Gegenüber den NATO-Partnern im Allgemeinen und Washington im Besonderen bemühte sich Genscher, das Vertrauen in die Bündnistreue der Bundesrepublik zu festigen und Sorgen vor einer zu starken Annäherung an Moskau zu zerstreuen. Als Bundeskanzler Schmidt im Frühjahr 1980 in Washington weilte, um mit Carter über die internationale Lage zu diskutieren und das angespannte Klima in den deutsch-amerikanischen Beziehungen zu verbessern, übernahm Genscher zuhause die medienpolitische Begleitmusik. Da Treffen zwischen 44 Vgl. Knut Hickethier: Geschichte des Fernsehens der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1: Institutionen, Technik und Programm. Rahmenaspekte der Programmgeschichte des Fernsehens. München 1993, und Nicole Prüsse: Konsolidierung, Durchsetzung und Modernisierung. Geschichte des ZDF, Teil II (1967–1977). Münster 1995.
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Schmidt und Carter in anschließenden Pressestatements wiederholt in einem Fiasko geendet hatten, 45 unterstrich Genscher bei und nach dem Besuch in etlichen Interviews die bundesdeutsche Solidarität mit den USA, etwa indem er das transatlantische Bündnis zur „Schicksalsgemeinschaft“ erklärte: „Wir dürfen uns im Interesse des Friedens nicht entmutigen lassen. Wir müssen einen langen Atem haben. Die Sowjetunion hat wohl noch nicht vollends erkannt, wie ernst es dem Westen ist – ernst sowohl mit dem Willen zum friedlichen Ausgleich wie mit der Entschlossenheit, Verstöße gegen das Gebot des friedlichen Zusammenlebens der Völker fest entgegenzutreten und beharrlich entgegenzuwirken. [. . . ] Das Bündnis mit den USA gründet sich auf gemeinsame Interessen und Ideale, die nur gemeinsam verteidigt werden können. Das Bündnis ist eine Schicksalsgemeinschaft.“ 46 Auch in einem Interview mit der BILD-Zeitung vom 3. April 1980 unterstrich er die feste Solidarität mit der NATO, die seiner Meinung nach nicht nur aus einem Militärbündnis bestehe, sondern auf einer Wertegemeinschaft basiere: „Dieses Bündnis ist für uns lebensnotwendig – heute wie damals. An den gemeinsamen Idealen wie Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht hat sich nichts geändert. Unsere gemeinsamen Interessen sind angesichts steigender sowjetischer Rüstungsanstrengungen noch größer geworden. [. . . ] Eine Bundesrepublik, die auf die Idee käme, sich vom Westen zu lösen und einen außenpolitischen Alleingang zu versuchen, wäre zuerst isoliert und geriete dann in den Einzugsbereich der Sowjetunion. Nur mit dem Westen, nicht ohne oder gegen den Westen, gibt es für uns Sicherheit und Entspannung, wir sind ein Teil des Westens.“ 47 Neben diesen Solidaritätshymnen an die Vereinigten Staaten appellierte er in ebenso großer Dringlichkeit dafür, weiter die Kommunikation mit dem Kreml zu suchen und „jeden Gesprächskanal [zu] nutzen“. 48 So formulierte er beispielsweise in einem Interview mit dem Deutschen Fernsehen (DFS) – dem ersten 45 Vgl. dazu beispielsweise die auch medial ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen Schmidt und Carter im Kontext der Debatte um die Neutronenbombe: Klaus Wiegrefe: Das Zerwürfnis. Helmut Schmidt, Jimmy Carter und die Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Berlin 2005, 180–205. Vgl. auch die öffentliche Kritik Schmidts an Carters Afghanistan-Politik: „Wer sich wärmen will, wird sich verbrennen“. In: Der Spiegel, Nr. 3, 14. 01. 1980, 19–22. 46 „Genscher: Nicht entmutigen lassen“. Interview mit den Kieler Nachrichten am 04. 03. 1980. In: ACDP, Pressearchiv, Afghanistan. 47 „Genscher: Nur mit dem Westen gibt es Sicherheit“. Interview mit der BILD am 03. 04. 1980. In: ACDP, Pressearchiv, Afghanistan. 48 Titel-Schlagzeile eines Interviews mit der Westfälischen Rundschau am 12. 05. 1980. In: ACDP, Pressearchiv, Afghanistan.
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Programm der ARD – am 22. Mai 1980: „Es muss klar sein für uns, dass wir in einer schwierigen internationalen Lage nicht Gesprächsfäden durchschneiden, sondern dass wir uns bemühen, durch Verhandlungen eine Entwicklung nicht aus der Kontrolle kommen zu lassen.“ 49 Dabei versuchte Genscher stets, gerade auch in Pressestatements nach Gipfeltreffen den Wert direkter zwischenmenschlicher Kommunikation, die er in den diplomatischen Gesprächen so gerne hervorhob, zu unterstreichen. So erklärte er in einem Fernsehinterview nach dem oben beschriebenen Treffen mit Gromyko am 16. Mai 1980 in Wien: „Ich darf zunächst einmal sagen, dass wir ein – nach beiderseitiger Beurteilung – nützliches Gespräch geführt haben, das auch sehr konstruktiv geführt wurde, aber das natürlich auch sichtbar gemacht hat, dass es in wichtigen Fragen unterschiedliche Auffassungen gibt. Aber übereinstimmend war der Wille, die beiderseitigen Beziehungen gut zu entwickeln. [. . . ] Diese Zusammenkunft hier in Wien [. . . ] hat ganz sicher den Willen des Westens und des Ostens gezeigt, den Dialog nicht abreißen zu lassen. So erklärt sich auch die große Zahl der Gespräche, die hier geführt worden sind.“ 50 Seine Gesprächspartner konnten sich darauf verlassen, dass er nach einem Gipfeltreffen die konstruktiven Elemente hervorheben und die Differenzen relativieren würde und seinem Gegenüber damit eine Brücke baute, um selbst eine gesichtswahrende Formulierung zu nden, unabhängig davon, wie die Gespräche inhaltlich tatsächlich verlaufen waren. Ähnlich konsequent wie in den diplomatischen Verhandlungen warb Genscher auch in den Medien für die Idee eines blockfreien Afghanistans. Zwei beispielhaft ausgewählte Interviews zu dieser Fragestellung zeigen einerseits, dass Genscher auch hier gebetsmühlenartig für das westeuropäische Konzept zur Beilegung der Krise eintrat, alle Beteiligten zu einer Politik des Dialogs aufforderte und dadurch das Bild einer geradlinigen, berechenbaren deutschen Außenpolitik erzeugte. Andererseits lässt ein genauerer Blick durchaus unterschiedliche Akzentsetzungen erkennen. So erklärte er gegenüber dem Bayerischen Rundfunk am 5. April 1980: „Um das Vertrauen in der Welt wiederherzustellen, [. . . ] um den Staaten der Dritten Welt Sicherheit zu geben, dass ihre Unabhängigkeit nicht angetastet wird [. . . ], dafür ist es wichtig, dass die Sowjetunion bereit ist, mit allen interessierten Staaten über den Vorschlag der Außenminister der Europäischen Gemeinschaft für ein unabhängiges und blockfreies Afghanistan zu sprechen. 49 Fernsehdiskussion mit dem DFS über „Bonner Außenpolitik in schwieriger Zeit“ am 22. 05. 1980. In: ACDP, Pressearchiv, Afghanistan. 50 Interview mit dem DFS am 16. 05.1980. In: ACDP, Pressearchiv, Afghanistan.
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[. . . ] Ich denke, dass es unsere Aufgabe ist, der Sowjetunion deutlich zu machen, dass wir ja Kooperation wollen [. . . ] im Interesse der Sicherung des Friedens in der Welt. [. . . ] Es ist für diese Friedenspolitik so wichtig, dass unser Land, die Bundesrepublik Deutschland, fest eingebunden ist in die Europäische Gemeinschaft [. . . ] und dass wir unsere Politik des Gleichgewichts betreiben auf der Grundlage des festen Bündnisses mit den Vereinigten Staaten auf der Grundlage gleicher Interessen und gleicher Wertvorstellungen.“ 51 Hier verband er seine politische Forderung mit der Versicherung, die Bundesrepublik sei fest in der westlichen Gemeinschaft verankert und stehe solidarisch zur Politik des Bündnisses, was indirekt auf den NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 Bezug nahm. Damit wurde Moskau deutlich gemacht, dass das Bemühen um eine Verhandlungslösung im Afghanistan-Kon ikt, das von den Amerikanern nicht vorbehaltlos unterstützt wurde, keinesfalls die Chance bot, einen Keil zwischen Bonn und seine Alliierten zu treiben. In einem weiteren Interview, diesmal mit dem DFS am 22. Mai 1980, wiederholte Genscher zunächst seine politische Haltung. Allerdings hatte dieses Statement eine etwas andere Stoßrichtung, wie ein genauerer Blick zeigt: „Ich glaube, dass es für die westlichen Staaten in der gegenwärtigen Lage ganz wichtig ist, dass sie erkennen, dass eine Übertragung des Ostwest-Konikts [sic!] auf die III. Welt niemandem nützen kann, sondern wir müssen im Gegenteil das Ziel haben, in der III. Welt die Kräfte zu fördern, die ihre Unabhängigkeit bewahren wollen. [. . . ] Ich habe manchmal den Eindruck, dass im Westen z. B. die Bedeutung der blockfreien Bewegung für die Stabilität in der Welt nicht voll eingeschätzt wird. Aber diese blockfreie Bewegung [. . . ] wird zunehmend eine entscheidende Bedeutung in der Weltpolitik haben. Und wer in den Fehler verfallen würde, einem Konzept sowjetischer Machtausdehnung und Ein usszonenausdehnung ein solches westlicher Art entgegenzusetzen, würde sehr bald feststellen, dass er sich gegen das Rad der Geschichte stellt. Das Rad der Geschichte geht in diesen Ländern auf Unabhängigkeit.“ 52 Sehr deutlich enthält diese Botschaft eine Warnung an die USA, den Afghanistan-Kon ikt dafür zu nutzen, den amerikanischen Ein uss in der Golfregion durch eine Politik der Destabilisierung einseitig zu vergrößern, und die Krise dadurch weiter anzuheizen. Stattdessen plädierte Genscher für eine Politik der echten Blockfreiheit.
51 Interview mit dem Bayerischen Rundfunk am 05. 04. 1980. In: ACDP, Pressearchiv, Afghanistan. 52 Interview mit dem DFS am 22. 05. 1980. In: ACDP, Pressearchiv, Afghanistan.
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Mit dieser Strategie erwarb er sich einerseits das Vertrauen der Verbündeten und des Kremls in die Berechenbarkeit deutscher Außenpolitik, weil er in den diplomatischen Gesprächen unter Ausschluss der Öffentlichkeit bis in einzelne Worte hinein denselben Standpunkt vertrat wie in den Medien. Andererseits el es schwer, ihn aufgrund der Unverbindlichkeit seiner oftmals recht schwammigen Formulierungen auf eine klare Position festzulegen. Hartnäckige Nachfragen von Journalisten, wofür er sich denn nun im Zweifelsfall entscheiden würde – die Solidarität mit den Vereinigten Staaten oder die Aufrechterhaltung der Entspannungspolitik mit der Sowjetunion –, beantwortete er konsequent mit dem für ihn typischen Sowohl-als-auch, was ihm innen- wie außenpolitisch den Ruf eines schwer kalkulierbaren Taktikers einbrachte. Diese mangelnde semantische Präzision und die virtuos praktizierte Kunst des nicht Festlegbaren, die ihm ein hohes Maß an politischer Flexibilität verschaffte, war das größte Kapital seiner „media diplomacy“. Gleichzeitig zogen sie das Misstrauen der Verbündeten und den Vorwurf des Opportunismus nach sich und bargen damit ein hohes politisches Risiko.
IV. Mit seinem Amtsantritt im Mai 1974 leitete Genscher durch den nanziellen, personellen und strategischen Ausbau der Presseabteilung eine sukzessive Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit des Auswärtigen Amts ein. Diese umfasste erstens eine langfristig konzipierte, auf die Person Genschers fokussierte PR-Strategie, die zu einer nachhaltigen Personalisierung, Privatisierung und Entertainisierung bundesdeutscher Außenpolitik beitrug. Daran schloss sich zweitens eine kurzfristig angelegte „media diplomacy“ an, die besonders in Krisenzeiten zu einem tragenden Pfeiler in Genschers außenpolitischer Kommunikationsstrategie avancierte. Eine Schlüsselstellung nahmen hierbei zahlreiche, gezielt platzierte Interviews – unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Reichweite, Zielgruppen und Wirkungsmechanismen – in den Printmedien, in Rundfunk und Fernsehen ein. Die bewusste Verknüpfung von Medien und Diplomatie, die sich zu einem wesentlichen Element des „Systems Genscher“ entwickelte, nahm auch eine Schlüsselrolle für das unmittelbare Krisenmanagement des Bundesaußenministers ein, als sich mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 die internationale Lage dramatisch zuspitzte. Analog zur diplomatischen Ebene erhöhte Genscher deshalb auch seine mediale Präsenz. Damit brachte er zwei elementare Bestandteile erfolgreicher demokratischer Außenpolitik, Vertrauen und Öffentlichkeit, in Einklang, ja er erzeugte das eine durch das andere. In unzähligen
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diplomatischen Gesprächen mit den westlichen Verbündeten, der Sowjetunion und den Staaten des Mittleren Ostens plädierte er unermüdlich für eine Fortsetzung des Dialogs zwischen Ost und West und bot Vorschläge für eine friedliche Deeskalation der Krise an. Mit einem hohen Maß an Empathie vermittelte er seinen östlichen Gesprächspartnern, dass er ihre Bedrohungswahrnehmungen ernst nehme, auch wenn sie nicht mit der eigenen deckungsgleich waren, und suchte jenseits dieser Divergenzen nach einer Schnittmenge gemeinsamer Interessen. Diese konnte im Falle Afghanistans darin liegen, Europa von einem „Zweiten Kalten Krieg“ abzuschirmen und das durch die Entspannungspolitik gemeinsam Erreichte nicht zu gefährden. Gleichzeitig vergaß er nie, die feste Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis und die uneingeschränkte Loyalität Bonns zu den Vereinigten Staaten zu betonen. Ein Spezi kum Genschers war es, dass er gegenüber der Presse – anders als etwa Helmut Schmidt – bis in einzelne Worte hinein denselben Standpunkt vertrat wie in den diplomatischen Gesprächen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die dadurch vermittelte Botschaft lautete: Er, Genscher, werde auch bei hartnäckigen Nachfragen vonseiten der Presse die notwendige Vertraulichkeit des diplomatischen Abstimmungsprozesses wahren und nicht verfrüht öffentlich Position beziehen, nur um sich innenpolitisch zu pro lieren. Damit stilisierte er sich selbst zur personi zierten Berechenbarkeit bundesdeutscher Außenpolitik, die über den Regierungswechsel von 1982 hinaus von zentraler Bedeutung bleiben sollte. Gleichzeitig brachte ihm die schwammige, oft plattitüdenhafte Sprache der Diplomatie, die er auch in seinen Interviews beibehielt, innenpolitisch, aber auch bei den Verbündeten den Ruf eines schwer kalkulierbaren Taktikers ein. Abschließend lässt sich daher festhalten: Diplomatische Arkanpolitik und mediale Dauerpräsenz waren für Genscher keine Gegenbegriffe, sondern zwei Seiten derselben Medaille. Um das vorrangige Ziel seines außenpolitischen Krisenmanagements zu erreichen, zur Wiederherstellung eines tragfähigen Vertrauensverhältnisses zwischen Ost und West sowie zur unmittelbaren Deeskalation der Lage beizutragen, setzte er auf eine Intensivierung der Kommunikation – der diplomatischen wie der medialen. Das verbindende Element dieser scheinbar konträren Dimensionen bildete Hans-Dietrich Genscher selbst. Diese Form der Personalisierung und Medialisierung internationaler Politik unter dem „ewigen Außenminister“ entwickelte sich zu einer der wichtigsten Säulen im „System Genscher“.
Tobias Nanz
Medien als Akteure der Außenbeziehungen Überlegungen zur Krisenkommunikation im Kalten Krieg
Medien sind niemals neutral. Wendet man diese medientheoretische Grundlage auf die historische Forschung zu den Außenbeziehungen an, eröffnet sich eine Perspektive, die die Kanäle zwischen Politikern und Diplomaten untersucht, die nach den Operationen dieser Kanäle sowie der jeweiligen Sender und Empfänger fragt und die so den Ein uss menschlicher wie nichtmenschlicher Akteure herausarbeitet. Deshalb erweisen sich die Inhalte der Diplomatie, also die Gespräche oder die Texte der Depeschen und Telegramme, nicht als irrelevant. Es geht dabei vielmehr um eine Perspektivverschiebung, die ausgehend von Marshall McLuhans Diktum „Das Medium ist die Botschaft“ 1 konstatiert, dass Medien die Kommunikation strukturieren, die jeweiligen Inhalte verändern und somit unterschiedliche Medien aufgrund ihrer immanenten Funktionsweisen Botschaften verschieden schreiben oder sprechen. Ein solcher medientheoretischer Ansatz in der Geschichte der Außenbeziehungen schärft den Blick dafür, dass jede Kommunikation einer medialen Formung unterliegt, die nicht neutral ist, sondern durch den Zuschnitt der Inhalte auch auf politische Strategien Einuss nehmen kann. Allein die Wahl eines bestimmten Mediums kann bereits eine politische Botschaft setzen. 2 In diesem Aufsatz werden im Hinblick auf die Geschichte der Außenbeziehungen Medien- und Störungstheorien sowie die Akteur-Netzwerk-Theorie diskutiert. Diese Überlegungen werden im Anschluss insbesondere am Beispiel der Geschichte der Hotline zwischen Washington und Moskau zur Debatte gestellt. 3
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Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden, Basel 21995, 21–43. Vgl. Tobias Nanz: Grenzverkehr. Eine Mediengeschichte der Diplomatie. Zürich, Berlin 2010. Für die Diskussion und die nanzielle Unterstützung der Recherchen in Frankreich, in Großbritannien und in den USA dankt der Verfasser sehr herzlich der Fritz-ThyssenStiftung, der Max Weber Stiftung (Gerald D. Feldman-Reisebeihilfe), dem DFG-Graduier-
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I. Medien- und Störungstheorien Auch wenn sich die Medienwissenschaft als eine recht junge Disziplin bereits institutionell im deutschsprachigen Raum verankert hat, gibt es keinen Konsens über einen einheitlichen Medienbegriff. Ein ussreich ist eine De nition aus der kulturhistorischen Medienforschung oder Medienarchäologie, 4 die Friedrich Kittler geprägt hat: Übertragen, Speichern und Verarbeiten gelten hier als grundlegende Medienfunktionen, 5 die – im Falle der Übertragung – Raum überwinden oder – im Falle der Speicherung – Zeit überdauern können. Für die ersten beiden Medienfunktionen gibt es eingängige Beispiele. Kommunikationsmedien wie Post oder Telegra e übermitteln diplomatische Depeschen, während Speichermedien wie diplomatische Archive oder Verhaltensratgeber Inhalte aufbewahren und zu gegebener Zeit zur Verfügung stellen können. Einen Sonderfall stellen Verarbeitungsmedien dar, für die in erster Linie der Computer steht. Dieser prozessiert Daten und ist in der Lage, alle vorgängigen (technischen) Medien zu simulieren. Grundlegend für Medienfunktionen ist eine operative Verschleierung, deren Kennzeichen es ist, dass routinierte Nutzer weder die Prozesse der Medien bewusst wahrnehmen noch die „Ein-Schreibung“ 6 der Medien in die Kommunikation bemerken. Erst wenn eine Störung auftritt, die das Medium in seiner Arbeit unterbricht, werden die Medienfunktionen in den Vordergrund gerückt. So mag ein unverständliches Telegramm die fehleranfälligen Kabel, Relaisstationen und Telegra sten wieder in Erinnerung rufen oder das Rauschen während eines Telefonats die Störgeräusche der Telefonleitungen bewusst machen. Denn die Störung ist „jener Moment im Verlauf einer Kommunikation [. . . ], der bewirkt, dass ein Medium (operativ) seine Transparenz verliert und in seiner Materialität wahrgenommen wird.“ 7 So gehen medientheoretische Konzeptualisierungen der Störung, die sich etwa an die Kommunikationsmodelle von Claude Shannon und Niklas Luhmann anlehnen, ganz grundlegend davon aus, dass den Medien eine Störfunk-
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tenkolleg „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ (Gießen) und dem ERC-Projekt „The Principle of Disruption“ (Dresden). Benannt im Anschluss an die Archäologie des französischen Philosophen und Historikers Michel Foucault, vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 1981. Vgl. etwa Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, 8. Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt am Main 1983, 21. Ludwig Jäger: Bezugnahmepraktiken. Skizze zur operativen Logik der Mediensemantik. In: ders./Gisela Fehrmann /Meike Adam (Hrsg.): Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme. München 2012, 13–42, hier 30.
Medien als Akteure der Außenbeziehungen
tion immanent ist. 8 Shannon hat in seiner mathematischen Informationstheorie erfolgreiche Kommunikation stets vor dem Hintergrund eines Rauschens gedacht, das etwa von Telefonkabeln, Apparaten oder Schnittstellen produziert wird. Diese „Störquelle“ ist in seiner Konzeption gleichermaßen ein Sender wie etwa eine Person, die als „Nachrichtenquelle“ eine Information übermitteln möchte. 9 Das Rauschen ist als kommunikatives Apriori wirksam, gegenüber dem sich die Signale durchsetzen müssen, obgleich die Nutzer dies oftmals vergessen haben und nur dann bemerken, wenn ein Signal nicht aus dem Rauschen herausge ltert werden kann. Einen ähnlichen Stellenwert hat die Störung in der Systemtheorie Luhmanns. Soziale Systeme können nur dann entstehen, wenn mit dem „Verstehen“, dem „Erreichen von Empfängern“ und dem „Erfolg“ einer Kommunikation die drei Unwahrscheinlichkeiten – oder auch Störungen – der Kommunikation beseitigt werden. Insbesondere Medien wie Massenmedien, Sprache oder symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (Macht, Geld, Liebe, Wahrheit und Kunst) dienen der „Umformung unwahrscheinlicher in wahrscheinliche Kommunikation“. 10 Mit diesem Modell lassen sich auch Verhandlungen in den Außenbeziehungen erklären: Ein fein ausdifferenziertes Zeremonialsystem, Gastgeschenke, technische Geräte oder Dolmetscher zählen zu solchen Medien und Akteuren, die die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation erhöhen oder – wenn diese oder andere Medien stören und rauschen – reduzieren können. Eine weitere Medientheorie, die für eine Untersuchung der Außenbeziehungen relevant ist, wurde vom französischen Medienphilosophen Paul Virilio entfaltet. Ausgangspunkt seiner Theorie, die unter dem Namen Dromologie rmiert, ist die Geschwindigkeit, welche aufgrund unterschiedlicher Beschleunigungen historische Epochen oder Gesellschaften unterteilt. Geschwindigkeit und Politik 11 eröffnen ein Dispositiv, mit dem sich Revolutionen oder der Zusammenhalt von Gesellschaften beschreiben lässt. Medien sind dabei die Operatoren 8
Vgl. zum Prinzip Störung im gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Kontext Lars Koch /Tobias Nanz: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173 (2014), 94–115, hier 96. 9 Claude E. Shannon /Warren Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. München, Wien 1976, 16. Siehe für eine medienwissenschaftliche Lesart Erhard Schüttpelz: Eine Ikonographie der Störung. Shannons Flußdiagramm der Kommunikation in ihrem kybernetischen Verlauf. In: Ludwig Jäger /Georg Stanitzek (Hrsg.): Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 233–280. 10 Niklas Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981, 25–34, hier 28. 11 Paul Virilio: Geschwindigkeit und Politik. Berlin 1980.
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der Geschwindigkeit, die das Verhältnis einer Kultur zu Raum und Zeit verändern. Entlang dieser Perspektive werden Pferde, Kutschen, Eisenbahnen, Autos oder Flugzeuge zu Transport- oder Übertragungsmedien, da diese Menschen und Dinge in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Epochen fortbewegt haben. Auch bei Virilio rücken die Inhalte der Kommunikation in den Hintergrund, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Infrastruktur der Kommunikation und damit die Geschwindigkeitsverhältnisse grundlegend eine Gesellschaft strukturieren und transformieren. Jedem Medium ist eine bestimmte Geschwindigkeit immanent, welche sich auf die Kommunikation über große Distanzen auswirkt. Dies hat auch Ein uss auf die Politik: Friedensverhandlungen, die es den Botschaftern an einem Konferenzort erlauben, sich telefonisch und in Echtzeit mit ihren Regierungen abzustimmen, verlaufen anders als Verhandlungen, bei denen berittene Boten oder Postkutschen für die Kommunikation über die Distanz bemüht werden müssen. So basierte die Kubakrise, die sich im Oktober 1962 innerhalb von 13 Tagen zuspitzte und als globales Ereignis alle Zeitzonen durchmaß, auf einer vollkommen anderen medialen Infrastruktur als die mehrjährigen Verhandlungen zum Westfälischen Frieden, bei denen die Kommunikation mit dem Heimathof nur sehr langsam vonstattenging. 12 Dies lässt sich positiv wie negativ bewerten: Schnelle Kommunikationstechnologie kann eine Krise eskalieren lassen, wenn man etwa nur ungenügend Zeit zur Re exion der Botschaften hat und so eine unausgereifte Antwort verfasst; gleichwohl können moderne Kommunikationskanäle auch Krisen sofort beilegen und Missverständnisse aufklären, wie man insbesondere an der Notwendigkeit der Einrichtung einer Hotline zwischen der UdSSR und den USA während des Kalten Krieges sehen mag. So muss man auch McLuhans Überlegung einordnen, welche die Frage, ob ein Medium gut oder schlecht sei, als unwesentlich ausweist. Es geht in erster Linie darum, dass ein neues Medium Kommunikationsverhältnisse verändert und im gleichen Zuge Gesellschaften umstrukturiert. 13
12 Vgl. zum globalen Charakter und zum Faktor Zeit der Kubakrise Michael Dobbs: One Minute to Midnight. Kennedy, Khrushchev, and Castro on the Brink of Nuclear War. New York 2008, xvi. Vgl. für den Postverkehr während des Westfälischen Friedens Wolfgang Behringer: Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen. München, Zürich 1990, 90 ff., und exemplarisch für die lange Laufzeit und den Verhandlungsspielraum der Gesandten Leopold Auer: Die Reaktion der kaiserlichen Post auf die französische Friedensproposition vom 11. Juni 1645. In: Rainer Babel (Hrsg.): Le diplomate au travail. Entscheidungsprozesse, Information und Kommunikation im Umkreis des Westfälischen Friedenskongresses (Pariser Historische Studien 65). München 2005, 43–58. 13 Vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle, 26 f.
Medien als Akteure der Außenbeziehungen
II. Akteur-Netzwerk-Theorie Dem Ansatz der deutschsprachigen Medienforschung, der sich insbesondere mit der Analyse von technischen Einzelmedien befasst, wurde lange Zeit ein spezi scher Technikdeterminismus und die Verwendung eines medialen Aprioris vorgeworfen. Aus dieser Perspektive, so die Kritik, würden technische Medien alles bewirken und wären – im Gegensatz etwa zum Sozialen – die letztbegründende Instanz bei der Formation kultureller, gesellschaftlicher und technischer Prozesse. Umgekehrt würde ein soziales Apriori, das gesellschaftliche Wandlungen unabhängig von Medien und Kulturtechniken denkt, ebenso wesentliche Analysefelder außer Acht lassen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie bietet hier der Medienwissenschaft (und den Sozialwissenschaften) einen Ausweg an, da sie die starre Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Technik sowie zwischen Natur und Kultur aufbricht und menschliche wie auch nichtmenschliche Akteure kennt. 14 Ein Apriori gibt es weder auf der einen noch auf der anderen Seite – Menschen, Dinge und Zeichen sind Bestandteile der (historischen) sozialen Welt, die sich nicht auf Sinn, menschliche Intentionen oder auch technische Konstellationen zurückführen lassen. Der Akteur-Netzwerk-Theorie ist es als Handlungstheorie daran gelegen, entlang ihrer Devise „Den Akteuren folgen“ 15 zu beobachten und zu beschreiben, wie sich menschliche und nichtmenschliche Agenten kurzfristig zu Netzwerken zusammenschließen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dies ergibt nur Sinn, wenn man Handeln nicht allein auf intentionales Handeln beschränkt, sondern auch ein Ding oder Objekt als Handlungsquelle zulässt, sofern es „eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht“. 16 So entstehen – je nach Zusammensetzung des Netzwerkes – Hybride, also „Mischwesen zwischen Natur und Kultur“, 17 die bis zur Erledigung einer bestimmten Aufgabe zusammenarbeiten. Dieses Netzwerk kann als Black Box beschrieben werden, wenn eine bestimmte Aufgabe wiederholt erledigt werden muss, die Akteure ef zient zusammenarbeiten und eine gewisse Routine eingekehrt ist, sodass die interne Komplexität des Netzwerkes für Anwender nicht von Interesse ist oder schlicht nicht mehr bemerkt wird. Allein eine Störung – und hier sind sich Akteur-
14 Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt am Main 1998, 19. 15 Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie. Frankfurt am Main 2007, 118. 16 Ebd., 123. 17 Latour: Wir sind nie modern gewesen, 19.
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Netzwerk-Theorie und Medienwissenschaft vollkommen einig – vermag es, die Operationen der Medien wieder in den Vordergrund zu rücken. 18 Die Medienwissenschaft droht allerdings bei der theoretischen Einlassung mit der Akteur-Netzwerk-Theorie ihr wichtigstes Markenzeichen zu verlieren, nämlich die Medien, da diese sich nicht für die Ausarbeitung eines differenzierten Medienbegriffs interessiert 19 – was unter anderem daran liegt, dass im französischen Sprachgebrauch média in erster Linie Massenmedien meint und zentrale Teile der Theorie von den Franzosen Bruno Latour und Michel Callon ausgearbeitet wurden. 20 Am ehesten wäre der Begriff des „Mittlers“ mit dem „Medium“ der Medienwissenschaft kompatibel – beide stehen im Zentrum der Akteur-Medien-Theorie, einer Variante der ANT, die die Handlungsinitiativen der Medien in den Fokus rückt. 21 „Mittler“, so Latour, „übersetzen, entstellen, modi zieren und transformieren die Bedeutung oder die Elemente, die sie übermitteln sollen.“ 22 Solche Mittler oder Mediatoren könnten in der Geschichte der Außenbeziehungen etwa Dolmetscher, Wörterbücher, Übersetzungssoftware oder neutrale Parteien sein, die auf den Inhalt von Gesprächen oder Schriften einwirken, indem sie Sinn und Bedeutung von einer Sprache in die andere überführen oder auf den Kommunikationsstrom zwischen zwei zerstrittenen Parteien einwirken. Keiner dieser Vermittler wird seine Arbeit ohne Modi kationen der Inhalte leisten können, da sie Übersetzungen vornehmen, die zwischen dem Input – etwa der Sprache Russisch – und dem Output – etwa der Sprache Englisch – einen oder mehrere Brüche überwinden und zugleich eine Relation herstellen müssen. 23 Die Übersetzungen, die die Akteure vornehmen, sind dabei von großer Intransparenz geprägt, da die technische Infrastruktur von den Mikrofonen über die Kopfhörer bis hin zu den abgeschotteten Dolmetscherkabinen
18 Vgl. Latour: Eine neue Soziologie, 70 f. 19 Vgl. Lorenz Engell /Bernhard Siegert: Editorial. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 4 (2013), H. 2, 5–10, hier 5. 20 Vgl. Bruno Latour: Den Kühen ihre Farbe zurückgeben. Von der ANT und der Soziologie der Übersetzung zum Projekt der Existenzweisen. Bruno Latour im Interview mit Michael Cuntz und Lorenz Engell. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 4 (2013), H. 2, 83–100, hier 84f. 21 Vgl. Erhard Schüttpelz: Elemente einer Akteur-Medien-Theorie. In: Tristan Thielmann/ Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Akteur-Medien-Theorie. Bielefeld 2013, 9–67. 22 Latour: Eine neue Soziologie, 70. 23 Vgl. hierzu Bruno Latour: „Der „Pedologen-Faden“ von Boa Vista – eine photo-philosophische Montage. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften.“ In: ders. (Hrsg.): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin 1996, 191–248, hier insb. 236–245. Siehe auch Latour: Eine neue Soziologie, 188.
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eine Distanz aufbaut. 24 Unterschiedliche Sprachen verbalisieren politische Probleme verschieden, 25 sodass beim Dolmetschen auf der einen Seite semantische Feinheiten verloren gehen und gar Missverständnisse auftauchen mögen, auf der anderen Seite allerdings so überhaupt erst Kommunikation ermöglicht und das Zeremoniell sowie die sprachliche Souveränität – die mit der staatlichen Eigenständigkeit einhergeht – gewahrt werden kann. Für die Internationale Geschichte erscheint die Akteur-Netzwerk-Theorie in dreifacher Hinsicht interessant. Erstens steht die Frage im Raum, wie sich diese als Methode für Analysen in der Geschichte der Außenbeziehungen verwenden lässt. Bruno Latour sorgt zunächst für Irritationen, wenn er konstatiert, dass man die Akteur-Netzwerk-Theorie auf keinen Gegenstand anwenden könne. 26 Hinter dieser unbefriedigenden Auskunft verbirgt sich allerdings kein wissenschaftlicher Selbstzweck, sondern Latour ist daran gelegen, die handlungsorientierte Perspektive zu betonen: Wenn man eine Theorie auf ein Untersuchungsfeld anwendet, legt man zumeist die Positionen der Akteure vorab fest und differenziert die jeweiligen Funktionen voneinander klar abgegrenzt aus. Die Akteur-NetzwerkTheorie sucht im Gegensatz dazu den einzelnen Akteuren ihren Handlungsspielraum zu lassen, beobachtet die internen Verknüpfungen im Netzwerk und entgeht so einer im Vorhinein gesetzten De nition, die den Blick auf das Zusammenspiel der Akteure durch einen gesetzten Rahmen einschränken würde. Sie verfolgt so eine dekonstruktive Programmatik, die Kategorien, Begriffe, Methoden und (unhinterfragte) Voraussetzungen von Theorien zur Debatte stellt 27 und eine breite Feldforschung einfordert, die soziale oder technische Apriori ignoriert und neue Akteure auf der Bühne beobachtet oder die eingeübten Rollenbilder alter Akteure aufgibt. Die Fragen, die sich daraus ergeben und die man an die Geschichte der Außenbeziehungen stellen könnte, lauten etwa: Wenn ein Akteur in der Diplomatie handelt, „wer handelt außerdem noch? Wie viele Handlungsträger sind [. . . ] noch präsent?“ 28 Historische Ereignisse in den Außenbeziehungen werden so auf eine neue Art und Weise beschreibbar, womit zudem
24 Vgl. zum Simultandolmetschen und seiner technischen wie räumlichen Infrastruktur am Beispiel der Nürnberger Prozesse Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung. Frankfurt am Main 2011, 222–240. 25 Vgl. Louis Hjelmslev: Prolegoma zu einer Sprachtheorie. München 1974, 8. 26 Vgl. Latour: Eine neue Soziologie, 244. 27 Vgl. Andréa Belliger /David J. Krieger: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. In: dies. (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, 13–50, hier 23 f. 28 Latour: Eine neue Soziologie, 76.
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deutlich wird, dass Geschichtsschreibung selbst von Medien und Akteuren – Schreib- und Speichermedien, Rechercheuren, wissenschaftlichen Hilfskräften, Archiven, Institutionen, Methoden, Plots und Tropen etc. – abhängig ist. Mediengeschichten werfen so stets die Frage nach den Medien der Geschichte und der Geschichtsschreibung auf. 29 Zweitens geht mit der Unterwanderung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Technik oder Natur und Kultur eine Reformulierung des Politischen und der Souveränität einher. Politisch aktiv sind nicht nur bestimmte Subjekte und Institutionen, sondern potenziell alle menschlichen und nichtmenschlichen Akteure, die gegebenenfalls auch zunächst als Störenfriede in Erscheinung treten, indem sie für Skandale sorgen oder die Bindungskräfte von Kollektiven vermindern. 30 Auch wird politische Souveränität erst durch Dinge und Zeremonien verliehen, wie in der Geschichtswissenschaft bereits deutlich herausgearbeitet wurde: So war der mittelalterliche Herold ein komplexer und hybrider Akteur, der als „ein Teil der Person seines Senders“ 31 – also des Königs – seine Autorität durch eine Zeremonie erlangte, die seinen natürlichen Körper mit einem Symbolsystem versah: Der König krönte den Herold eigenhändig, kleidete diesen mit einem Wappenrock ein und stattete so den Erstkörper des Herolds mit einem politischen Zweitkörper aus. 32 Dieser Rock mit den Zeichen seines Fürsten verwies auf sein diplomatisches Amt und verlieh ihm so seine Unverletzlichkeit. Akteure wie der Herold oder nichtmenschliche Akteure wie ein hoheitliches Siegel sind Agenturen der Machtausübung, die den abwesenden Souverän vertreten und für diesen sprechen können. Prominent wurde die Bedeutung nichtmenschlicher Akteure insbesondere in Ernst Kantorowicz' Studie zu den zwei Körpern des Königs herausgearbeitet. Der politische Körper des Königs, der mit dem natürlichen eine Einheit bildet, hat eine superiore Position inne, da er für eine Übergangsphase die politische Macht aufrechterhalten kann, wenn der natürli-
29 Siehe hierzu Fabio Crivellari u. a.: Einleitung: Die Medialität der Geschichte und die Historizität der Medien. In: dies. (Hrsg.): Die Medien der Geschichte. Konstanz 2004, 9– 45, und Lorenz Engell /Joseph Vogl: Editorial. In: dies. (Hrsg.): Archiv für Mediengeschichte, Bd. 1: Mediale Historiographien. Weimar 2001, 5–8. Das DFG-Graduiertenkolleg „Mediale Historiographien“ (Weimar /Erfurt /Jena) hat sich zentral dieser Frage gewidmet. 30 Vgl. Thomas Macho: Souveräne Dinge. In: Lorenz Engell/Joseph Vogl/Bernhard Siegert (Hrsg.): Archiv für Mediengeschichte, Bd. 8: Agenten und Agenturen. Weimar 2008, 111– 118, hier 111. 31 Lutz Roemheld: Die diplomatischen Funktionen der Herolde im späten Mittelalter. Diss. Heidelberg 1964, 90 f., Zitat 92. 32 Vgl. Walter Seitter: Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft. München 1985, 16.
Medien als Akteure der Außenbeziehungen
che Körper krank oder verstorben ist. 33 Die Perspektivverschiebung, die Latour mit der Akteur-Netzwerk-Theorie allerdings vorrangig interessiert, zielt weniger auf bereits etablierte politische Institutionen und Verfahren, sondern auf kleine, lokale und zufällige Politiken, in denen auch die bislang Ungehörten Gehör nden. 34 Es geht um den Prozess der Versammlung von heterogenen Akteuren, die in der Politik einen Unterschied setzen, ohne dabei von vornherein die Bedeutung und die Rollen der Akteure zu verteilen. Drittens werden Historiker, die zur Diplomatiegeschichte oder der Geschichte der Außenbeziehungen forschen, sich auch mit anderen, damit verwobenen Geschichten befassen müssen. Zeichnet sich etwa eine Friedenskonferenz durch den Einsatz von Simultandolmetschern aus, wird man nicht umhinkommen, sich ebenso mit der Technik- und Mediengeschichte etwa der (elektrischen) Sprachübertragung sowie vielleicht auch mit sprachwissenschaftlichen Fragestellungen zu befassen. Sobald sich menschliche Akteure mit technischen verbinden, um gemeinsam zu handeln und Interessen durchzusetzen, müssen sich entlang der Anforderungen der Akteur-Netzwerk-Theorie die Grenzen zwischen Menschen und Dingen aufweichen und geschichtswissenschaftliche Fragen mit technikwissenschaftlichen verwoben werden. 35 Dabei geht es nicht darum, die zentrale Handlungsmacht, die einmal bei Subjekten lag, nun Objekten zuzuweisen, „sondern die Untersuchung von Formen und Reichweiten sozialer und kultureller Verknüpfungen von keinen Vorentscheidungen darüber abhängig zu machen, aus welchen konstitutiven Elementen sich die jeweiligen Kon gurationen zusammensetzen.“ 36 Nach diesen Bemerkungen zur Medientheorie, zur Rolle der Störung und zur Akteur-Netzwerk-Theorie werden am Beispiel der Hotline zwischen den USA und der UdSSR verschiedene Aspekte einer medientheoretischen Analyse dieses außenpolitischen Krisenkommunikationsmediums vorgestellt. Zunächst soll es um Störungen beim Wechsel von einem bewährten und routinierten Medienverbund zum neuen Medium Hotline gehen, um in einem zweiten Schritt die medialen Operationen bei mündlichen und schriftlichen Kommunikationsme33 Vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Frankfurt am Main 21994, 33. 34 Vgl. Karin Harrasser: Welche Politik für eine politische Ökologie? In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3 (2009), H. 2, 135–138, hier 136. 35 Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt am Main 2000, 134 f. Siehe auch Lutz Musner: Carso Maledetto – die Dinge des Krieges. In: Friedrich Balke/Maria Muhle/ Antonia von Schöning (Hrsg.): Die Wiederkehr der Dinge. Berlin 2011, 67–78, hier 72. 36 Friedrich Balke: Einleitung. In: ders. /Maria Muhle /Antonia von Schöning (Hrsg.): Die Wiederkehr der Dinge. Berlin 2011, 7–16, hier 12.
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dien zu diskutieren. Der Unterschied zwischen Oralität und Literalität beschäftigt die medienwissenschaftliche Forschung seit längerem und kennzeichnet – neben Zeremonien, nonverbaler Kommunikation, Raumsituationen etc. – die politische Kommunikation in den Außenbeziehungen. Dieser Unterschied ist hier zudem von Interesse, da die telegra sche Hotline oft mit einer telefonischen verwechselt wird und so einige Überlegungen zu den Vor- und Nachteilen der beiden Kommunikationsverfahren lohnenswert erscheinen. Ein Fazit zur medialen Operation der Freund-Feind-Unterscheidung, die im Kalten Krieg den Ost- vom Westblock schied, unterstreicht die aufgeworfenen Differenzen.
III. Medienwechsel: Routinierte Diplomatie und Hotline Die Operationen der Medien treten insbesondere dann hervor, wenn Medienwechsel oder Medienumbrüche beobachtbar sind. Denn der Übergang von einem alten zu einem neuen Medium vollzieht sich fast nie reibungslos: Das neue Medium muss etwa in seiner Anwendung erst noch verstanden werden und wird – um den Anwendern die Umstellung zu erleichtern – Funktionen und Aussehen des Vorgängers simulieren, bis es eine gewisse Eigenständigkeit erreicht. Auch werden beide Medientypen einige Zeit parallel genutzt, da solche Umstellungen sich kaum auf Anhieb vollziehen. 37 Bevor die Operationen des neuen Mediums opak werden und dieses routiniert eingesetzt wird, sind seine Funktionen aufgrund der Störanfälligkeit in der Einführungsphase transparent. Zeigen lässt sich dies an dem vielleicht legendärsten außenpolitischen Krisenkommunikationsmedium, der Hotline zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion, wenn man den ersten Einsatz dieser Verbindung betrachtet. Seine Geschichte ist eng verbunden mit dem strategischen Management der Kernwaffen und der Kubakrise im Oktober 1962, da die beinahe kriegerische Auseinandersetzung um die Stationierung von Nuklearwaffen auf der karibischen Insel die Bedeutung eines solchen Kanals deutlich hervorhob. Im Jahr 1963 wurde schließlich der „Direct Communications Link“ 38 zwischen Washington und Moskau installiert, um eine – wie es im Memorandum of Understanding festgehalten wurde – schnelle, zuverlässige und direkte Kommunikation zwischen den Regierungschefs der beiden Staaten zu ermöglichen. Unfälle, Fehl-
37 Vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle, 21–43. 38 Regierungen der USA und der UdSSR: Memorandum of Understanding Between The United States of America and The Union of Soviet Socialist Republics Regarding the Establishment of a Direct Communications Link, Genf, 20. Juni 1963, URL: http://www.state. gov/t/isn/4785.htm (zuletzt abgerufen 15. 9. 2015), o. S.
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kalkulationen oder Überraschungsangriffe sollten so verhindert oder aufgeklärt werden. 39 Denn die neue Lage, die sich durch eine atomare Bewaffnung ergab, bestand in einem möglichen Overkill, der Zerstörungen hervorrufen kann, die jenseits militärischer Notwendigkeiten liegen und nicht allein die Hauptakteure betreffen, sondern auch viele andere Länder schädigen oder vernichten können. 40 Die USA und die UdSSR betrieben eine Kabelverbindung von Washington über London, Kopenhagen, Stockholm und Helsinki nach Moskau sowie eine Funkverbindung über Tanger, die im Störfall benutzt werden konnte. Sie belieferten sich gegenseitig mit den Fernschreiberausrüstungen, um den Betrieb in beiden Sprachen und Alphabeten zu gewährleisten. Im Pentagon waren mehrere Teams aus Technikern und Dolmetschern rund um die Uhr im Dienst, die stündlich die Funktionstüchtigkeit der Leitung mit Testtelegrammen überprüften und für mögliche Krisentelegramme in Bereitschaft standen. 41 Sie bildeten so Kollektive, die den Gedanken einer direkten und unmittelbaren Verbindung zwischen den amerikanischen und sowjetischen Regierungschefs als illusionär ausweisen. Weder ein amerikanischer Präsident noch ein sowjetischer Ministerpräsident hat seine Nachrichten selbst in die Maschinen eingegeben, vielmehr war jeder von einem Mitarbeiterstab abhängig. Um die Fernschreiber herum baute sich ein Netzwerk mit menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren auf, das insbesondere im Krisenfall aktiviert wurde. Emp ng ein Team ein sowjetisches Telegramm am Terminal im Pentagon, wurde zunächst eine vorläu ge Übersetzung angefertigt, mit welcher der Stab des Präsidenten bereits arbeiten konnte, bis in einem weiteren Schritt die of zielle Übersetzung eintraf. Während die Hotline in den ersten Jahren dem technischen Personal für die Überprüfungsroutinen vorbehalten war, wurde der Kanal zu Beginn des Sechstagekrieges im Juni 1967 zum ersten Mal in einer politischen Krise eingesetzt. Nachdem Israel mit einem präventiven Überraschungsangriff auf seine arabischen Nachbarn den Krieg begonnen hatte, sorgte sich der amerikanische Stab um Präsident Lyndon B. Johnson um eine mögliche sowjetische Intervention und damit auch um die Gefahr einer eigenen Kriegsbeteiligung. 42 Johnson setzte in den frühen Morgenstunden des 5. Junis noch auf das alte Mediendispositiv und 39 Vgl. ebd., o. S. 40 Vgl. Jeremi Suri: Logiken der atomaren Abschreckung oder Politik mit der Bombe. In: Bernd Greiner/Christian Th. Müller /Dierk Walter (Hrsg.): Krisen im Kalten Krieg (Studien zum Kalten Krieg, Bd. 2). Hamburg 2008, 24–47, hier 32. 41 Vgl. Lyndon Baines Johnson Presidential Library, Austin, Texas, Reference File, folder: Hot Line, document Information Related to the Washington-Moscow Hot Line (Draft), 2 ff. 42 Vgl. Michael B. Oren: Six Days of War. New York 2003, 196 f.
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gab ein deeskalierendes Telegramm an die sowjetische Führung auf, das über die amerikanische Botschaft in Moskau ausgehändigt werden sollte. Der Präsident wendete hier ein routiniertes und übliches Kommunikationsverfahren mit der sowjetischen Regierung an, bei dem Botschafter Briefe oder Telegramme ihrer Regierungschefs überreichten. 43 Doch bevor dieses überhaupt eintreffen konnte, aktivierte der sowjetische Ministerpräsident Alexei Kossygin die Hotline und stellte die Frage, ob der Präsident am anderen Ende des Kanals persönlich zugegen sei. 44 In Washington wurde man von dieser Fernschreibernachricht überrascht, da man den Umgang mit dem neuen Krisenmedium noch nicht gewohnt war. So wusste man nicht, wie Kossygin im Antworttelegramm korrekt zu adressieren sei. Die amerikanischen Operatoren mussten hierfür zunächst ihre sowjetischen Kollegen befragen, 45 die „To Comrade Kosygin“ 46 vorschlugen. Die Amerikaner folgten tatsächlich diesem Rat und lösten so in Moskau bei den Regierungsmitgliedern aufgrund der eher zwanglosen Form starke Irritationen aus, 47 was als Beleg sowohl für die mangelnden diplomatischen Kenntnisse der sowjetischen Hotline-Teams als auch für eine gewisse Überforderung der amerikanischen Administration dienen mag. Hinzu kam, dass Arthur McCafferty, der Leiter des Situation Room, die Übertragung des ersten amerikanischen Hotline-Telegramms unterbrechen und eine korrigierte Fassung erstellen musste. 48 Für die Überlegungen zum Medienwechsel in der Außenpolitik erscheinen hier zunächst drei Aspekte bemerkenswert. Erstens verdeutlicht dieser diplomatische Erstkontakt via Hotline, dass das Kommunikationsdispositiv auf zwei miteinander verbundenen Ebenen operiert: Neben der Krisen-Ebene zwischen den Regierungen gibt es eine Techniker-Ebene, die unberührt von den großen Ereignissen eine Art kleine Außenpolitik entfaltet und sich pragmatisch mit Testnachrichten, mit formalen Dingen oder auch mit russischen Scherzen befasst. Diese Akteure – Techniker, Dolmetscher, Geräte – sind die Grundlage des Hot-
43 Vgl. G. R. Berridge: Diplomacy. Theory and Practice. Basingstoke 32005, 97. 44 Vgl. Lyndon Baines Johnson Presidential Library, Austin, Texas, NSF Files of Walt W. Rostow, box 11, folder: President – Kosygin Correspondence, document 23a. 45 Vgl. Lyndon Baines Johnson Presidential Library, Austin, Texas, Reference File, folder: Hot Line, document 3. 46 Lyndon Baines Johnson Presidential Library, Austin, Texas, NSF Files of Walt W. Rostow, box 11, folder: President – Kosygin Correspondence, document 23c. 47 Vgl. Lyndon Baines Johnson Presidential Library, Austin, Texas, Reference File, folder: Hot Line, document 3. 48 Vgl. Lyndon Baines Johnson Presidential Library, Austin, Texas, NSF Files of Walt W. Rostow, box 11, folder: President – Kosygin Correspondence, document 23.
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line-Betriebs, da sie die Infrastruktur stellen, die russischen Telegramme übersetzen oder informelle Anfragen versenden, bevor andere Akteure – wie etwa der Präsident mit seinem Krisenstab – mit der Arbeit beginnen. Zweitens fällt der fast dilettantische Umgang mit der Hotline auf. Dies mag an dem überraschenden Eintritt der Krise liegen; da die Überraschung allerdings ein Merkmal von Krisen ist, irritiert diese Verstörung auf US-amerikanischer Seite, insbesondere wenn man den Status der Hotline als letztmögliches Krisenkommunikationsmedium bedenkt. Während die Techniker Stunde um Stunde und Tag für Tag das Kommunikationsdispositiv testen, scheint niemand für den Krisenfall gewappnet zu sein. Es gab zwar ein technisches Manual zur Bedienung des Teletype-Systems, aber offensichtlich kein Handbuch zur Etikette der Krisentelegra e. Drittens ist es aufschlussreich, dass Johnson in den frühen Morgenstunden überhaupt nicht daran dachte, die Hotline zu aktivieren, während Kossygin auf der direkten Verdrahtung der Staatsführungen bestand. Der sowjetische Ministerpräsident verlagerte den Disput in ein anderes Kommunikationsdispositiv und maß so der Krise einen höheren Wert bei. Medien, die Botschaften schneller den Raum überwinden lassen, erfordern ein anderes Zeitmanagement, das Johnson, obgleich mehrere Tausend Kilometer von Moskau entfernt, in den frühen Morgenstunden unverzüglich an den Fernschreiber befahl. Ein Blick auf die Zeitachse jenes 5. Junis 1967 mag dies verdeutlichen: 49 Um 7.47 Uhr Washingtoner Ortszeit emp ng das Pentagon das erste mit politischen Inhalten versehene Hotline-Telegramm Moskaus, in dem Kossygin eine Stellungnahme zum Nahostkon ikt anführte. Drei Minuten später begann Major Donoho mit einer ersten Übersetzung, die um 8.05 Uhr an den Sicherheitsberater Walt W. Rostow übergeben werden konnte. Um 8.27 Uhr verschickten die Amerikaner ihre erste Hotline-Nachricht, die korrigiert werden musste und Johnsons morgendliches Telegramm wiederholte – und aufgrund seiner Geschwindigkeit nun überholte. Um 8.57 Uhr sendete dann die amerikanische Seite eine zweite Nachricht, die unter anderem die Rolle der Vereinten Nationen für die Beendigung des Kon iktes hervorhob. Die sowjetische Empfangsbestätigung verspätete sich schließlich, da das Teletype-System eine weitere Störung, nämlich „garble on teletype“ 50 produzierte; hier mag man an verklemmte Typenhebel, an Papierstau oder an eine fehlerhafte Eingabe denken.
49 Vgl. im Folgenden Lyndon Baines Johnson Presidential Library, Austin, Texas, NSF Files of Walt W. Rostow, box 11, folder: President – Kosygin Correspondence, document 23. 50 Ebd.
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In diesen 70 Minuten wurden einige Inhalte ausgetauscht – beide Seiten verurteilten die Kampfhandlungen und bekräftigten ihre Bemühungen um einen Waffenstillstand –, bedeutsamer erscheint hier allerdings die Geschwindigkeit der Kommunikation, die zwei politisch entgegengesetzte Regierungen über eine Distanz von etwa 8000km verband und vor Ort jeweils große Aktivität verursachte. Mit der Medientheorie Virilios lässt sich festhalten, dass durch die Geschwindigkeit der Hotline der Raum zwischen Moskau, Washington und den Kriegsschauplätzen im Nahen Osten kommunikationstechnisch zusammengeschrumpft ist und so eine verschärfte Krisenlage markiert.
IV. Krisenkommunikation: Schriftlichkeit und Mündlichkeit In der abendländischen Philosophie und Metaphysik sei, so konstatierte der Philosoph Jacques Derrida, seit jeher das gesprochene Wort privilegiert worden, während die Schrift mit Argwohn betrachtet wurde. Die Stimme könne die Seele besser artikulieren, sie habe eine „absolute Nähe [. . . ] zum Sein“, während die Schrift zwar als Gedächtnisstütze nützlich sei, gleichzeitig aber als ein solches Medium den Verfall des Gedächtnisses fördere. Derrida arbeitete diese „Erniedrigung [. . . und] Verdrängung der Schrift aus dem ‚erfüllten` gesprochenen Wort“ 51 heraus und kritisierte den Phonozentrismus der westlichen Philosophien und Kulturen. Im Rahmen seiner Grammatologie wertete er die Schrift auf und unterlief zugleich die Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Die Schrift erscheint seitdem nicht mehr als bloßes und gar schädliches Supplement der gesprochenen Rede, sondern wohnt umgekehrt auch der Mündlichkeit inne und bedingt die Sprache. Diese prominente Stellung der Schrift wurde von weiteren Wissenschaftlern vertreten, die sich mit den Effekten der Medien auf gesellschaftliche Strukturen aus ökonomischer, ethnologischer und medientheoretischer Perspektive befassten. Schrift wird hier als eine Kulturtechnik begriffen, die Funktionen des Gedächtnisses auslagert, Diskurse von ihren Autoren löst sowie Wissen über Zeit und Raum erhalten kann. 52 So wurde in kulturanthropologischen Arbeiten
51 Derrida: Grammatologie, 25, 12. 52 Vgl. zum Überblick die Textsammlungen von Sandro Zanetti (Hrsg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin 2012, und Claus Pias /Joseph Vogl /Lorenz Engell / Oliver Fahle /Britta Neitzel (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999, 77–125.
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der Unterschied zwischen Mündlichkeit/Schriftlichkeit als Differenzierungskriterium von traditionellen und modernen Kulturen ausgewiesen. 53 Die Schrift ist allerdings keine grundlegende Voraussetzung für die Bildung eines Staates, sondern bewirkt die Entstehung einer bestimmten Staatsform, die sich unter anderem durch den Aufbau einer Bürokratie auszeichnet. Vorwiegend orale Kulturen in Afrika kamen durch die Außenbeziehungen mit literalen Kulturen in Kontakt, erkannten die Bedeutung der Schrift für Verträge und engagierten Schreiber, um mit ihren Nachbarn zu kommunizieren. In den westlichen Kulturen wurden die Präzision und der Beweischarakter der Schriftform für die Außenpolitik erkannt und im Rahmen der Entwicklung der Bürokratien aufgebaut. 54 „In unserer Kultur“, so konstatiert Latour aus Sicht der Akteur-NetzwerkTheorie, „ist der Umgang mit Akten und Papier der Ursprung aller essentiellen Macht, was konstant der Aufmerksamkeit entgeht, da man deren Materialität ignoriert.“ 55 Medien der Außenbeziehungen sind vor diesem Hintergrund in der politischen Kommunikation ebenso Fragen zur Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterworfen. Ist ein Gespräch unter Botschaftern vertrauenswürdiger als eine Kommunikation mit Briefen oder Telegrammen? Wann greift ein Regierungschef zum Telefonhörer, bei welchem Ereignis entscheidet er sich für eine Depesche? Ein weiterer Blick auf die Geschichte der Hotline kann Auskunft geben über die Funktionen des gesprochenen und des geschriebenen Wortes. Bevor man die Hotline 1963 zwischen Washington und Moskau eingerichtet hat, wurde diese mehrfach vorgeschlagen: unter anderem vom Ökonomen und Nuklearstrategen Thomas Schelling, vom Journalisten Jess Gorkin und von Gerard C. Smith, einem Mitarbeiter im US-Department of State. 56 Auch der New 53 Vgl. Sybille Krämer: Mündlichkeit /Schriftlichkeit. In: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hrsg.): Grundbegriffe der Medientheorie. München 2005, 192–199, hier 193. 54 Vgl. Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft. Frankfurt am Main 1990, 158, 169 ff. u. 207 f. Vgl. zur Bedeutung der Schrift und des Archivs für die neuzeitliche Diplomatie Tobias Nanz: Kommentar zu François de Callières Der staatserfahrende Abgesandte. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 6 (2015), H. 2, 75– 82. 55 Vgl. Bruno Latour: Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente. In: Andréa Belliger /David J. Krieger: (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, 259–307, hier 296. 56 Vgl. Webster A. Stone: The Hot Line. Washington-Moscow Direct Communications Link, 1963 to Present. In: Richard Dean Burns (Hrsg.): Encyclopedia of Arms Control and Disarmament. Bd. 2. New York u. a. 1993, 847–853, hier 848. Siehe auch Gerard C. Smith: Disarming Diplomat. The Memoirs of Gerard C. Smith, Arms Control Negotiator. Lanham u. a. 1996, 107 f.
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Yorker Philosoph Harvey Wheeler beschrieb in seiner 1959 veröffentlichten Kurzgeschichte „Abraham '59 – A Nuclear Fantasy“ ein „transatlantic telephone“ zur Krisenkommunikation. 57 Bemerkenswert an diesen Debatten und Fiktionen ist, dass die Hotline oftmals als telefonische Verbindung konzipiert wurde, während der tatsächlich installierte Kommunikationskanal ein telegra sches Fernschreibersystem war. Gerade die Literatur und der Film gewinnen durch das ktive Rote Telefon ein hohes Maß an Spannung und dramaturgischer Dynamik. 58 Im Gegensatz dazu sprachen drei Gründe – auch im Hinblick auf den ersten Hotline-Einsatz im Juni 1967 – für eine telegra sche Verbindung: der urkundliche Charakter der Telegra e im Gegensatz zur Flüchtigkeit des gesprochenen und gar falsch übersetzten Wortes am Telefon, der Zeitgewinn und die gemeinsame Arbeit an den Telegrammen sowie die Verknüpfung der Hotline mit Militärstrategien. Diese drei Aspekte befassen sich mit der Mobilisierung weiterer Akteure zur Durchsetzung von bestimmten politischen Interessen. Erstens lässt sich in der gemeinsamen Geschichte von Telefonie und Telegra e zeigen, dass Telegrammen etwa in geschäftlichen Dingen ein bestimmter urkundlicher Charakter zugesprochen wurde. 59 Telefongesprächen haftet ein üchtiger Charakter an, während sich das bedruckte Papier aus dem Fernschreiber in aller Ruhe studieren und aufbewahren lässt. Das Ferngespräch bildet so das Äquivalent zum Gespräch und der Fernschreiber ist eine elektri zierte Entsprechung des Briefs. 60 Umgekehrt, so wurde in der Theorie der internationalen Beziehungen hervorgehoben, könne man mithilfe des Telefons unmittelbar Klarheit darüber bekommen, ob eine Botschaft beim Gesprächspartner angekommen sei, oder hätte die Möglichkeit, ein Missverständnis sofort aufzuklären. 61 Hier bleibt aber insbesondere bei einem hektischen und eventuell rauschenden Krisentelefonat die Frage offen, ob tatsächlich eine Botschaft mit all ihren semantischen Feinheiten bei einem Adressaten korrekt angekommen, also ver57 Unter Pseudonym veröffentlicht: F. B. Aiken: Abraham '59 – A Nuclear Fantasy. In: Dissent 6 (1959), 18–24, hier 23. Siehe auch Tobias Nanz: Das Rote Telefon. Ein hybrides Objekt des Kalten Krieges. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173 (2014), 135– 148. 58 Vgl. Tobias Nanz: Verkabelt. Zur lmischen Inszenierung des Roten Telefons. In: Alessandro Barberi u. a. (Hrsg.): Medienimpulse 2009–2011. Wien 2012, 289–298. Online erschienen in: Medienimpulse. Beiträge zur Medienpädagogik 1 (2011): Politik/Macht/Medien, URL: http://www.medienimpulse.at/articles/view/300 (zuletzt abgerufen 15. 9. 2015). 59 Vgl. Jens Ruchatz: Das Telefon – Ein sprechender Telegraf. In: Albert Kümmel/Leander Scholz/Eckhard Schumacher (Hrsg.): Einführung in die Geschichte der Medien. München 2004, 127–149, hier 141. 60 Vgl. ebd. 142. 61 Vgl. Berridge: Diplomacy, 93.
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standen worden ist. Im Anschluss daran spricht gegen eine telefonische Hotline die Notwendigkeit des Simultandolmetschens, bei dem durch die Einbindung eines weiteren Akteurs leicht Missverständnisse auftreten können, die insbesondere in einer Krisensituation dramatische Konsequenzen haben mögen. Zweitens bieten Telegramme den Vorteil, dass auf sie gerade eben nicht sofort und spontan reagiert werden muss. Ein Blick auf die US-amerikanische Korrespondenz mit der UdSSR während des Sechstagekrieges zeigt, dass der Stab um Johnson die Fernschreibernachrichten gemeinsam beraten und diskutiert hat, bevor diese für eine Versendung nach Moskau freigegeben wurden. Der Sicherheitsberater Walt W. Rostow hat dies in der Rückschau hervorgehoben: „From our Middle East experience, it is clear that messages should be examined textually, discussed, and drafted carefully before they are sent.“ 62 Ein gemeinschaftliches Aufsetzen und Deuten von Fernschreibernachrichten kann zudem spontane Reaktionen und Beleidigungen ausschließen, wie diese am Telefon provoziert werden können. Im Affekt geäußerte Worte können eben nur schwer zurückgenommen werden. Die Psychotechnikerin Franziska Baumgarten hat in ihrer „Psychologie des Telephonierens“ diese Gefahr hervorgehoben und gleichzeitig auf eine ambivalente Funktion des Telefons hingewiesen. Dieses könne auf der einen Seite eine schädigende Wirkung auf Beziehungen haben, also ein Medium der Eskalation sein, da es aufgrund der mangelnden visuellen Präsenz des Gegenübers – schließt man Bildtelefone aus – eine „affektive Hemmungslosigkeit“ fördere. So könne man sich etwa gehen lassen, couragierter auftreten, Sachverhalte überhöhen oder gar Unwahres berichten. Auf der anderen Seite könne es aber auch zur Deeskalation beitragen, da man durch den Wegfall der visuellen Interaktion das Störende am Gegenüber ausblenden und so mit Personen verhandeln könne, „die im persönlichen Umgang unausstehlich sind [. . . ].“ 63 Drittens erweist sich die Hotline als ein Medium, mit dem im Krisenfall Zeit gewonnen werden kann und so Raum für die Entwicklung neuer politischer Strategien bleibt. Dies verdeutlicht insbesondere der 10. Juni 1967, der letzte Tag des Sechstagekrieges, an dem die Situation zwischen der UdSSR und den USA zu eskalieren drohte, als israelische Truppen auf Damaskus vorrückten und die Sowjets damit eine rote Linie überschritten sahen. Kossygin bat erneut Johnson an die Hotline und drohte mit Krieg, indem er eine „independent decision“ sei-
62 Lyndon Baines Johnson Presidential Library, Austin, Texas, NSF Subject File, box 6, folder: Communications III, document 13. 63 Franziska Baumgarten: Psychologie des Telephonierens (1931). In: Forschungsgruppe Telekommunikation (Hrsg.): Telefon und Gesellschaft, Bd. 1: Beiträge zu einer Soziologie der Telefonkommunikation. Berlin 1989, 187–196, hier 188 f.
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ner Regierung ankündigte, die womöglich zu einem Kon ikt führe, der in einer Katastrophe – „a grave catastrophe“ 64 – enden könne. 65 Johnson bezeichnete in seiner Autobiogra e die Nachricht als eine „grave communication“ 66 und betonte die angespannte Stille im Situation Room. Sein Stab musste nun innerhalb kürzester Zeit an einer deeskalierenden Antwort feilen, welche auf die Forderungen des sowjetischen Ministerpräsidenten eingehen, aber zugleich eine gewisse Entschlossenheit und Stärke seiner Regierung signalisieren sollte. Denn aus Kossygins Drohung ergaben sich zwei Probleme. Zum einen gab es keinen Kommunikationskanal, der oberhalb der Hotline angesiedelt war. Bei einem Scheitern der Deeskalation via Fernschreiber hätte es kein technischer oder menschlicher Akteur mehr vermocht, mit den Mitteln der Diplomatie die Krise zu lösen. Zum anderen war eine Antwort vonnöten, die Kossygin sein Gesicht wahren und nicht durch ungeschickte Formulierungen die Lage weiter eskalieren ließ. Außenminister Robert McNamara schlug deshalb vor, die sechste US-Flotte, die im Mittelmeer zwischen Kreta und Rhodos kreuzte, auf östlichen Kurs in Richtung Israel zu bringen. Die sowjetischen Aufklärer würden den Kurswechsel sofort auf ihren Monitoren wahrnehmen und die Schützenhilfe für Israel bemerken. Parallel dazu ließ Johnson ein mäßigendes Telegramm nach Moskau kabeln, das eher dem Zeitgewinn diente und von Waffenstillstandsverhandlungen berichtete. Die Pointe dieses Vorgehens lag darin, die Gegendrohung nicht über den Kanal der Hotline zu senden, sondern die Ankündigung des Beistands für Israel mittels eines anderen Kanals – nämlich des Radars oder Sonars – zu signalisieren. Das Militär wurde als Akteur mit aufgerufen, um die Hotline als letztes diplomatisches Mittel nicht zu blockieren. Der Umweg über das Bild des Radarschirms markierte eine indirekte wie auch deutliche Drohung, die zumindest zunächst eine Auseinandersetzung über den heißen Draht unterband und Kossygin nicht demontierte. Das Zusammenspiel beider Medien und Akteure funktionierte: Die Krise deeskalierte und der Sechstagekrieg endete nach weiteren, deutlich gemäßigteren Hotline-Telegrammen ohne eine sowjetische Intervention am gleichen Tag.
64 Lyndon Baines Johnson Presidential Library, Austin, Texas, NSF Head of State, box 8, folder: USSR June 5–10, 1967, Washington – Moscow „Hot-Line“ Exchange, document 25. 65 Zum Hintergrund vgl. Oren: Six Days of War, 279. 66 Lyndon B. Johnson: The Vantage Point. Perspectives of the Presidency 1963–1969. New York, Chicago, San Francisco 1971, 302.
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V. Fazit: Freund und Feind Der Kalte Krieg war durch verschiedene Phasen der Eskalation und der Deeskalation gekennzeichnet. 67 Die Rationalität und die Strategien, die durch diese Phasen führten, fußten auf Spieltheorie, Mathematik sowie Kybernetik und wurden in Thinktanks wie der RAND Corporation entwickelt. Dort wurden mögliche Szenarien Schritt für Schritt durchgespielt, verschiedene Dilemmata überdacht, entsprechende Risiken abgewogen und – in einer Verkehrung der Rationalität – Strategien wie die Madman-Theorie entwickelt, deren Ziel es war, einem Gegner zur Abschreckung zu suggerieren, dass der Präsident zu irrationalen und unberechenbaren Handlungen imstande sei. Diese formale Rationalität setzte auf mathematische Algorithmen und mündete schließlich in der Überlegung, ob (kritische) Entscheidungen nicht besser mittels Computer getroffen werden können. 68 Hier wurzelt unter anderem die Sorge und Angst, dass ein Atomkrieg by accident vom Zaun gebrochen werden könnte, wenn eine Störung oder Fehlberechnung des Computersystems oder eine psychische Störung eines leitenden Of ziers vorliege. Daher ndet diese formale Rationalität ihre Entsprechung in der Hotline oder in literarischen und lmischen Popularisierungen wie dem Roten Telefon. Allein schnelle Kommunikationsmedien können im Notfall schnelle Waffensysteme bremsen und anhalten. Nun wäre es verfehlt, in den neuen Medien und insbesondere Kommunikationsmedien automatisch eine Anlage zur „Verständigung und [. . . ] Versöhnung“ zu sehen. Carl Schmitt hat es in einer Schrift von 1932 stark bezweifelt, dass eine (moderne) „Sphäre der Technik“ gleichzeitig eine „Sphäre des Friedens“ sei, da Technik und Medien nie neutral seien und die Frage offenbleibe, „welche Art von Politik stark genug ist, sich der neuen Technik zu bemächtigen [. . . ].“ 69 Medien betreiben als ein Akteur (unter mehreren) Politik, wie dieser Aufsatz zeigen sollte
67 Zu den Phasen des Kalten Krieges vgl. beispielsweise Bernd Stöver: Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991. München 2007, 21 f., und Georg Schild: 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges. Paderborn 2013, 9ff. 68 Vgl. Paul Erickson u. a.: How Reason almost lost its Mind. The strange Career of Cold War Rationality. Chicago, London 2013,138–143. Siehe auch Paul Erickson: Eine Neubewertung der Spieltheorie. In: Bernd Greiner /Tim B. Müller/Claudia Weber (Hrsg.): Macht und Geist im Kalten Krieg (Studien zum Kalten Krieg, Bd. 5). Hamburg 2011, 258–275. 69 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Berlin 61996, 90 u. 94. Hinweis von Niels Werber: Vor der Feindschaft. Zum Problem des Ursprungs des Feindes und des Mediums der Macht. In: Cornelia Epping-Jäger /Thorsten Hahn /Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Freund, Feind & Verrat. Das politische Feld der Medien. Köln 2004, 268–292, hier 288.
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und wie mit einigen abschließenden Bemerkungen erneut am Beispiel der Hotline unterstrichen wird. Die Hotline akzentuiert erstens den Unterschied zwischen Freund und Feind. Der Feind versteht sich in der politischen Theorie Schmitts als ein öffentlicher und politischer Gegner, gegen den man zumindest der Möglichkeit nach in den Krieg ziehen könnte. 70 Eine Doktrin wie das „Gleichgewicht des Schreckens“, die im Falle eines Erstschlages den Gegenschlag sicherstellen und so „jegliche militärische Ambition des Feindes“ 71 zunichtemachen wollte, stützt die FreundFeind-Unterscheidung gleichermaßen wie das etappenweise in den USA vorherrschende Feindbild, das die Sowjetunion als einen „total enemy“ oder ein „evil empire“ 72 betrachtete. Die Hotline als Medium war an der Formation eines bipolaren Weltbildes beteiligt, auch wenn dieses in der politischen Realität nie in Reinform existiert hat, sofern man die Rolle Chinas oder der blockfreien Staaten beachtet. Zweitens ist die Hotline ein Statusobjekt. Dieses zeigt an, welcher Staat mächtig genug ist, um mit dem potenziellen Feind zu kommunizieren, oder welcher Staat von einem möglichen Feind überhaupt als ernst zu nehmender Gegner wahrgenommen wird. So ist es zu erklären, dass sich in den 1960er Jahren zwischen den Atommächten Großbritannien und Frankreich eine Art Wettkampf um eine Direktverbindung nach Moskau entspann. 73 Großbritannien wollte sich bereits in die Hotline-Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR einschalten, wurde aber vom US-amerikanischen Außenminister Dean Rusk zunächst gebremst, da dieser seine Verhandlungen mit der UdSSR nicht gestört sehen wollte. 74 Zum Leidwesen der britischen Regierung wurde die Hotline London–Moskau 1967 erst einige Monate nach der Verbindung Paris–Moskau eingerichtet, die Charles de Gaulle im Rahmen seiner Politik der Détente symbolträchtig mit der Sowjetunion vereinbart hatte 75 und die unter anderem 70 Vgl. Schmitt: Der Begriff des Politischen, 28 ff. 71 Ron Robin: Gleichgewicht des Schreckens oder des Irrtums? In: Bernd Greiner/Tim B. Müller/Claudia Weber (Hrsg.): Macht und Geist im Kalten Krieg (Studien zum Kalten Krieg, Bd. 5). Hamburg 2011, 276–297, hier 276, 277. 72 Gordon A. Craig /Alexander L. George: Force and Statecraft. Diplomatic Problems of our Time. New York, Oxford 31995, 115. 73 Vgl. Berridge: Diplomacy, 100. 74 Vgl. Haraldur Þór Egilsson: The Origins, Use and Development of Hot Line Diplomacy. In: Discussion Papers in Diplomacy No. 85 (Netherlands Institute of International Relations Clingendael). Den Haag 2003, 12 f. 75 Vgl. Wichard Woyke: Frankreichs Außenpolitik von de Gaulle bis Mitterrand. Opladen 1987, 54; Maurice Vaisse: La Grandeur. Politique étrangère du général de Gaulle 1958–1969. La Fléche 1998, 427.
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als grünes Telefon – „telephone vert“ 76 – für einen europäischen Ausgleich ausgewiesen wurde. Das Ringen um eine Hotline wurde zum Ringen um eine europäische und globale Machtposition. Drittens markieren Hotlines Allianzen und Freundschaften. Telefonische Direktverbindungen sind in erster Linie ein Kennzeichen befreundeter Staaten, da zwischen diesen keine Sprachbarrieren herrschen oder Irrtümer beim Dolmetschen nicht ins Gewicht fallen. Ein frühes Beispiel ist die telefonische Funkverbindung zwischen Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt, die seit 1943 abhörsichere transatlantische Gespräche zwischen den beiden Verbündeten ermöglichte. 77 Der damalige Kriegsgegner, der in der Gestalt Westdeutschlands zu einem Verbündeten wurde, nahm 1969 eine Hotline nach Washington in Betrieb. Diese telegra sche Direktverbindung sollte zumindest auf US-amerikanischer Seite ohne Dolmetscher auskommen, da nur Englisch als Sprache vorgesehen war. 78 Unter Partnern in asymmetrischen Bündnissen werden bei Krisenkommunikationsmedien offensichtlich (einseitige) Sprachkenntnisse vorausgesetzt oder Sprachfehler nachgesehen. Die symbolische Bedeutung wiegt in diesem Fall schwerer als eine präzise semantische Deutung.
76 Archives diplomatiques, Serie Europe 1966/1970 URSS, Karton 2665, Dokument Telephone Vert. 77 Vgl. Andrew Hodges: Alan Turing, Enigma. Wien, New York 21994, 287. 78 Vgl. Richard Nixon Presidential Library and Museum, HAK Administrative and Staff Files, box 10, folder: Germany Bonn – Washington Phone Link, document The White House Memorandum from Dave McManis, 15. Mai 1969.
Peter Burschel, Christian Windler
Einführung Dass die Untersuchung von Praktiken des Schenkens privilegierte Einblicke in die Art und Weise eröffnet, wie soziale Akteure Beziehungen repräsentieren und herstellen, gehört seit den Arbeiten von Marcel Mauss 1 zu den festen Erkenntnissen sozialanthropologischer Forschung, auch wenn die Thesen des französischen Forschers in seiner eigenen Disziplin und daran anschließend in der historischen Anthropologie im Einzelnen umstritten blieben und zum Teil widerlegt worden sind. 2 Die Diplomatiegeschichte blieb lange Zeit bei einer vorwiegend deskriptiven Herangehensweise an Praktiken des Schenkens stehen, deren kulturelle Bedingtheiten nicht systematisch untersucht wurden. Zu einer intensiveren Beschäftigung mit Geschenken als Medien frühneuzeitlicher Diplomatie führten erst die sich in jüngeren Jahren abzeichnende Erneuerung der Herangehensweisen und der Auswahl der Gegenstände frühneuzeitlicher Diplomatiegeschichte und deren Erweiterung zu einer sozial- und kulturhistorisch angelegten Geschichte von Außenbeziehungen. Geht man davon aus, dass die Beziehungen frühneuzeitlicher Herrschaftsverbände zueinander, aber auch ihre inneren Ordnungen in der Interaktion zwischen Personen symbolisch-performativ konstituiert wurden, hat das Forschungsinteresse insbesondere auch dem Einsatz von Geschenken als Medien von Diplomatie zu gelten. Die Untersuchung der Praktiken des Schenkens bietet sodann Einblicke in die Prozesse, in denen Außenbeziehungen als Staatenbeziehungen von den Beziehungen zwischen Privatleuten abgegrenzt und Geschenke entweder als Mittel der „Korruption“ oder als materialisierte Symbole für die Qualität der Beziehungen zwischen den entstehenden Staaten wahrgenommen 1
2
Marcel Mauss: Essai sur le don. Forme et raison de l'échange dans les sociétés archaïques [1923–1924], in: ders.: Sociologie et anthropologie. Précédé d'une Introduction à l'œuvre de Marcel Mauss par Claude Lévi-Strauss. Paris 1950, 143–279. Etwa Natalie Zemon Davis: The Gift in Sixteenth-Century France. Oxford, New York 2000; Valentin Groebner: Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit. Konstanz 2000; Gadi Algazi /Valentin Groebner /Bernhard Jussen (Hrsg.): Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange. Göttingen 2003.
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wurden. Trotz der Omnipräsenz der Gabe auch in den Sozialbeziehungen des frühneuzeitlichen Europa waren schließlich bereits die Zeitgenossen davon überzeugt, dass dem Einsatz von Geschenken als Medien der Diplomatie in Beziehungen, die über Europa hinausführten, besondere Bedeutung zukam. Die drei hier versammelten Beiträge loten ausgehend von solchen Überlegungen die Bedeutung von Geschenken als Medien der westeuropäischen Diplomatie und der Beziehungen mit dem Osmanischen Reich aus. In seinem Beitrag über Symbolisierte Beziehungen und entzauberte Gaben. Zur Praxis des Schenkens in den Außenbeziehungen Ludwigs XIV. nimmt Tilman Haug Praktiken des Schenkens in Außenbeziehungen innerhalb Europas bezüglich ihrer symbolischen und ökonomischen Dimensionen in den Blick. Anhand von Geschenklisten aus dem Archiv des französischen Außenministeriums und ausgewählter Beispiele aus der diplomatischen Korrespondenz zeigt er, wie die von französischer Seite überreichten Gaben spezi sche Beziehungen repräsentierten beziehungsweise herstellten. Dabei folgten sie einer zunehmend standardisierten Geschenkpraxis, die vor allem der propagandistischen „Vergegenwärtigung“ des Bildes des französischen Königs mittels seriell hergestellter Kunsthandwerksarbeiten diente. Haug zeigt, wie symbolische und ökonomische Dimensionen des Schenkens vielfach ineinandergriffen. Geschenke, die zwischen den europäischen Höfen überbracht wurden, sollten zwar den zeitgenössischen Normen zufolge nicht so sehr als Teile eines Ressourcentransfers, sondern vielmehr als Symbole für Beziehungen verstanden werden. Dementsprechend dienten sie dazu, Beziehungen zwischen zwei Herrschaftsträgern und deren Vertretern sichtbar zu machen und öffentlich zu dokumentieren. Gerade der Umstand, dass die instrumentelle und ökonomische Dimension dabei im Hintergrund blieb, machte Geschenke indessen zu einem geeigneten Mittel, die Bedenken gegen illegitime Praktiken des Ressourcentransfers etwa in Form von Geldzahlungen zu umgehen. Geschenke wurden also zu Teilen eines legitimierbaren Ressourcentausches, bei dem die ökonomische Dimension unausgesprochen, aber nicht minder gegenwärtig blieb. Haug illustriert dies am Beispiel der Abschiedsgeschenke an Gesandte, die gemäß zeitgenössischen Vorstellungen weder verweigert noch abgelehnt werden durften. Sie waren an sich hoch standardisiert, konnten aber trotzdem auch zum Transfer substanzieller nanzieller Leistungen genutzt werden, wenn es die Umstände zu erfordern schienen. Neben dem Ziel, Korruptionsvorwürfe zu vermeiden, sprachen angesichts von Wechselkursschwierigkeiten oder Bargeldengpässen zuweilen auch pragmatische Überlegungen dafür, nanzielle Leistungen als Geschenke zu überweisen. Der Umstand, dass sich Geschenke in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts oft kaum noch von anderen Praktiken des Gabentausches abho-
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ben, trug dazu bei, sie zum Gegenstand von Maßnahmen gegen „Korruption“ zu machen. Christine Vogel analysiert in ihrem Beitrag über die Praktiken des Schenkens französischer Botschafter im Osmanischen Reich im 17. Jahrhundert Geschenke als Medien interkultureller Diplomatie. Ob bei of ziellen Antrittsaudienzen, nichtöffentlichen Treffen oder informellen Einladungen – stets wurden Geschenke übergeben und empfangen. Verbreiteten Stereotypen zufolge unterschieden sich die osmanischen Geschenkpraktiken grundsätzlich von den europäischen. Inwiefern dieser Gemeinplatz auf tatsächlichen Differenzerfahrungen in der Praxis des Schenkens beruhte, sucht Vogel in ihrem Beitrag zu klären. Ausgehend von einer Typologie des Schenkens fragt sie nach der Funktion der verschiedenen Geschenkpraktiken. Während das repräsentative Schenken im Rahmen des osmanischen Hofzeremoniells dazu diente, den Rang des Sultans und der hohen Würdenträger zu dokumentieren, waren das pragmatisch-instrumentelle und das okkasionell-informelle Schenken stärker darauf ausgerichtet, Bindungen herzustellen. Soweit das Schenken vor der hö schen Öffentlichkeit geschah, war Vogel zufolge die Art und Weise der Übergabe ebenso bedeutsam wie der symbolische und der materielle Wert der Objekte, weil damit mehr oder weniger weitgehend osmanischen Vorstellungen von der Art der Beziehungen mit christlichen Herrschern entsprochen wurde. Zu bestimmten Gelegenheiten waren den osmanischen Amtsträgern Geschenke zu machen, die sich nicht eindeutig von Tributen unterschieden. Da das repräsentative Schenken in das Zeremoniell des Hofes eingebunden war und damit dazu beitrug, die Ordnung der Beziehungen in actu hervorzubringen, notierten die Diplomaten genau, welche Geschenke ihre Konkurrenten machten und erhielten. Der Blick auf das pragmatisch-instrumentelle und das okkasionell-informelle Schenken führt Vogel schließlich zur Frage nach der Tragweite und den Grenzen der Ver echtung am osmanischen Hof. Im Umstand, dass diese Praktiken dort anders als in der europäischen Fürstengesellschaft nicht in ein breites Spektrum von Freundschaftspraktiken eingebettet gewesen seien, sieht sie den Grund für den prekären Charakter der Beziehungen, die mit Geschenken geknüpft werden konnten. Damit stellt sie sich ausdrücklich in einen Gegensatz zu anderen neueren Forschungen, welche die Existenz einer gemeinsamen Soziabilität osmanischer und westlicher Eliten postulieren. Zurück in die europäische Fürstengesellschaft und deren Soziabilität führt der Beitrag von Nadir Weber über Lebende Geschenke. Tiere als Medien der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen. „Naturalien, lebendige oder leblose“ (Friedrich Carl von Moser), bildeten eine der Grundgattungen diplomatischer Geschenke.
118 Peter Burschel, Christian Windler
Das Besondere an Jagd-, Begleit- oder exotischen Tieren war dabei, dass neben dem Seltenheitswert und der ästhetischen Qualität auch das Verhalten den Erfolg oder Misserfolg des Schenkakts maßgeblich mitbestimmte. Tiere waren damit in der hö schen Gesellschaft nicht nur Medien der Kommunikation wie andere Geschenke auch; als interagierende Mitgeschöpfe hatten sie zugleich an den Beziehungen zwischen Schenker und Beschenktem teil. Über die Zuschreibungen von Wert und allegorischen Bedeutungen hinaus konnte das Tier durch Geschick oder Zutraulichkeit das Herz des Beschenkten erobern und so die Aufgabe der Gesandten ergänzen, die Freundschaft ihres Auftraggebers vor Ort ständig wachzuhalten. Siechtum, störendes Verhalten oder gar Unfälle störten hingegen die Beziehung. Die Praktiken der Selektion, des Transports und der Übergabe von Tieren im Verkehr zwischen den Höfen waren auf dieses besondere Potenzial von Tiergeschenken abgestimmt. Anhand exemplarischer Fälle lotet Weber das Spektrum der Performanz von Tieren als Medien und Akteuren der frühneuzeitlichen Diplomatie aus. Unabhängig von epochenspezi schen Gep ogenheiten bildeten Pferdegeschenke über die Jahrhunderte eine Konstante in der Praxis zwischenhö scher „guter Korrespondenz“. Aufgrund ihres repräsentativen und funktionalen Stellenwerts und der Präsenz im Hofleben eigneten sich Pferde besonders für die langfristige P ege von Beziehungen. Demgegenüber markierten exotische Tiere als spektakuläre Aufmerksamkeitserreger besondere Momente in den Beziehungen: im Falle eines 1668 durch den portugiesischen Hof aus Afrika nach Paris vermittelten Elefanten die im Vorjahr abgeschlossene Allianz zwischen den beiden Kronen, in jenem einer Großkatze aus Marokko 1682 die Bestrebungen des Sultans um eine Verdichtung der Beziehungen mit Ludwig XIV. Als die Großkatze allerdings noch im gleichen Jahr bei einem Tierkampf einer französischen Kuh unterlag, mochte dies als Zeichen der Überlegenheit Ludwigs XIV. über den marokkanischen Herrscher verstanden werden. Wenn das Geschenk des Sultans damit aus französischer Sicht eine eindeutige Bedeutung erhielt, so lag das Potenzial von Geschenken als Medien von Außenbeziehungen insgesamt gerade in ihrer Polysemie, wie es die hier versammelten Beiträge zu bestätigen scheinen. Dies galt nicht nur für Geschenke wilder Tiere, die sowohl als Ausdruck der Größe und Macht eines Herrschers als auch als Zeichen von Barbarei verstanden werden konnten. Die Geschenke am osmanischen Hof fügten sich zwar in ein Zeremoniell ein, welches dazu diente, die Überlegenheit des Sultans herzustellen und zu repräsentieren. Allerdings boten sich auch dort den Schenkenden mit der Auswahl der Objekte Möglichkeiten, diesem Bild etwa jenes ihrer überlegenen eigenen technischen Fertigkeiten entgegenzuhalten. Ambivalent blieben Geschenke auch in Bezug auf ihre ökonomische Dimension.
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Weil grundsätzlich die symbolische Bedeutung im Vordergrund stand, boten sich Geschenke als Mittel des Ressourcentransfers an, wenn Geldzahlungen unzulässig schienen. Die Vieldeutigkeit der Geschenke erweist sich in all diesen Fällen allerdings nicht so sehr als Quelle von Missverständnissen, sondern vielmehr als eine strategisch nutzbare Ressource. Dank ihrer verschiedenen Bedeutungen erlaubten es Geschenke den Beteiligten, über den möglichen Dissens hinaus das Gesicht zu wahren. Ihr besonderes Potenzial als Medien von Außenbeziehungen erweist sich deshalb gerade in jenen Situationen, in denen eine Disambiguierung die Aufrechterhaltung der Beziehungen gefährdet hätte. Sie sind wesentliche Bestandteile einer diplomatischen Praxis, die in vielen Fällen weniger auf die Herstellung von Konsens als auf die Einhegung von Dissens ausgerichtet war. Das aber heißt auch: Geschenke als Medien frühneuzeitlicher Diplomatie erlauben es in besonderer Weise, die wechselseitige kulturelle Reichweite diplomatischer – symbolischer – Codes zu bestimmen. Denn nicht nur, dass dieses Beobachtungsfeld zu erkennen gibt, in welchem Maße Diplomatie und kulturelle Übersetzung in der Frühen Neuzeit aufeinander angewiesen waren. Es führt noch etwas anderes vor Augen: Diplomatischer Gabentausch war semiotische Herausforderung, ja, in interkulturellen Situationen oft genug semiotisches Abenteuer mit durchaus offenem Ausgang. Und das vor allem aus einem Grund: Wer diplomatische Praktiken des Gabentauschs in den Blick nimmt, hat es in aller Regel mit einem Sample sozialer Handlungen zu tun, die nicht ohne weiteres auf je abgeschlossene kulturelle beziehungsweise diplomatische Sinnsysteme zurückgeführt werden können, sondern ihre Bestandteile aus unterschiedlichen Wissensordnungen beziehen und miteinander kombinieren bis hin zu wechselseitigen Überlagerungen. Diese Überlagerungen wiederum verweisen auf Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster, die weder in der „eigenen“ noch in der „anderen“ Kultur aufgehen – und die man deshalb mit einigem Recht als „transkulturell“ im Sinne einer historisch bestimmbaren Konstellation kultureller Interferenzen und Ambivalenzen bezeichnen kann. Um es zuzuspitzen: Wo das semiotische Abenteuer regiert, bleibt Transkulturalität nicht aus. Ohne Frage ein Grund mehr für die Untersuchung von Geschenken als Medien frühneuzeitlicher Diplomatie – und vielleicht nicht nur frühneuzeitlicher Diplomatie.
Tilman Haug
Symbolisierte Beziehungen und entzauberte Gaben Zur Praxis des Schenkens in den Außenbeziehungen Ludwigs XIV.
Geschenke können latente Familienzwistigkeiten zum Vorschein bringen. Dieses Phänomen ist nicht auf Weihnachtsbescherungen der Moderne beschränkt. Auch in einer frühneuzeitlichen Papstfamilie konnten Geschenke persönliche Rivalitäten und latente Streitigkeiten zum Vorschein bringen. Als Kardinal Richelieu dem Kardinalnepoten Papst Urbans VIII., Antonio Barberini, ein diamantumkränztes Bild seiner selbst verehrte, bemängelte dessen Bruder Francesco, dass dieses seiner Ansicht nach wohl nicht viel wert sei. Antonio dagegen insistierte, das Geschenk solle die Wertschätzung des französischen Königs und seiner Minister für den Papst und seine Familie verdeutlichen. Der monetäre Gegenwert sei in diesem Zusammenhang gänzlich unerheblich. Das Porträt war in dieser Interpretation vor allem ein ‚Beziehungssignal`. Gerade deshalb musste beziehungsweise durfte es Antonio zufolge kein Preisschild tragen. 1 Antonio sollte in dieser Auseinandersetzung das letzte Wort behalten. Die Tatsache, dass sich die Brüder hierüber streiten konnten, deutet jedoch auf ambivalente Bewertungsweisen solcher Geschenke und ihrer Gegenwerte hin. Schenken galt und gilt in vielen Deutungen dieser sozialen Praxis primär als ein symbolisch-expressiver Akt, der verdichtete Beziehungen zwischen Akteuren symbolisch konstituierte und bestätigte, wobei das transferierte Objekt als Wertträger nachrangig sein konnte. 2 Dennoch lagerten sich an diese Praxis des Transfers von Gütern auch ökonomische und instrumentelle Dimensionen an. 1 2
Zu dieser Szene vgl. Arne Karsten: Künstler und Kardinäle. Vom Mäzenatentum römischer Kardinalnepoten im 17. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2003, 131. Zur strengen Unterscheidung von „Gabe“ und „Geschenk/Symbol“ vgl. Paul Veyne: Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike. München 1988, 74 f. Zu symbolischer Kommunikation und ihrer Deutungsoffenheit vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe, Thesen, Forschungsperspektiven. In: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), 489–527.
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Die eigentümlich ambivalente Funktion des Schenkens besteht dabei vor allem darin, einen auf Reziprozität beruhenden sozialen Tausch zu verschleiern und diesen zugleich in verbindlicher symbolischer Form einzufordern beziehungsweise anzuerkennen. Natalie Zemon Davis unterscheidet zwischen verschiedenen idealtypischen „Registern“ sozialen Tausches: dem prinzipiell freiwilligen „Schenken“, dem ökonomischen Modus von „Kauf bzw. Verkauf “ und dem machtförmigen „Zwang“. 3 Die kulturgeschichtliche Bedeutsamkeit des Schenkens beruhte jedoch auch darauf, dass in der Praxis diese Register oftmals ineinandergriffen. Mithilfe einer „Ökonomie des Geschenkes“ wurden soziale Beziehungen gestiftet und ausgehandelt, in denen andere Modi des Tausches von Gütern und Dienstleistungen, deren Kauf beziehungsweise Verkauf mit Geld als sozial unangemessen, unehrenhaft oder gar illegal bewertet wurden. Der Gütertransfer war hier an durch das Geschenk vermittelte, für Geber und Empfänger ehrenvolle und zumeist sichtbar gemachte personale Beziehungen geknüpft. 4 Dies entsprach den idealtypischen Mechanismen des Gabentauschs, in dessen Rahmen der verp ichtende oder machtförmig erzwungene Charakter der Gabe mit Freiwilligkeits ktionen verschleiert wurde. Daher lud sich auch die sogenannte „Latenzzeit“, die Spanne zwischen „Gabe“ und „Gegengabe“, mit moralischem Mehrwert auf. 5 Ebenso entzogen sich solche Gaben der exakten Abrechenbarkeit transferierter Werte. Dies beließ für die Beteiligten ambiguitätstolerante Interpretationsspielräume hinsichtlich ihrer Beziehungen und des „sozialen Registers“, in dem sich ihre Praktiken bewegten. Diese konnten beziehungsweise sollten gegebenenfalls auch Außenstehende im Unklaren lassen. 6 Durch das Schenken ließen sich so unangenehme symbolische und „ skalische“ Folgen asymmetrischer Beziehungen für den schwächeren Akteur abmildern, indem zwangsbewehrte Abgaben zu freiwilligen Gaben umgedeutet wurden. So entrichtete die französische höhere Geistlichkeit keine Steuern an die
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6
Vgl. Natalie Zemon Davis: Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance. München 2002, 18 f. So etwa am Beispiel der akademischen Wissensvermittlung und der Medizin im Frankreich des 16. Jahrhunderts Davis: Schenkende Gesellschaft, 68–80. Zu den spezi schen Charakteristika des Gabentausches bündig vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main 1993, 119; Matthias Köhler: Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen (Externa, 3). Köln, Weimar, Wien 2011, 201; Hillard von Thiessen: Diplomatie und Patronage. Die spanisch-römischen Beziehungen 1605–1621 in akteurszentrierter Perspektive (Frühneuzeit-Forschungen, 16). Epfendorf 2010, 167f. So unterscheidet etwa Davis: Schenkende Gesellschaft, 188.
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Krone, sondern einen regelmäßigen don gratuit. 7 In den Beziehungen europäischer Akteure zu außereuropäischen Herrschaftsträgern ließen sich Tribute oder „Unterwerfungsgaben“ als ehrenvolles Fürstengeschenk nach den Normen der Höflichkeit oder des diplomatischen Zeremoniells beschreiben. 8 Dies war nicht zuletzt deshalb möglich, weil Geschenke auch zum festen symbolischen und ökonomischen „Haushalt“ der erweiterten hö schen Gesellschaft gehörten. Of zielle Geschenke in „zwischenhö schen“ Beziehungen verdichteten oder erneuerten im weitesten Sinne freundschaftliche Verhältnisse zwischen einzelnen Akteuren oder bestätigten den jeweiligen politisch-sozialen Rang der Beteiligten. In dieser Funktion war das Geschenkwesen integraler Bestandteil der Praxis von Außenbeziehungen in der europäischen Société des Princes. 9 Eine „moralische Ökonomie des Schenkens“ war zugleich strukturprägend für den nach den Normen von Patronage und „Gabentausch“ ausgerichteten Fürstendienst. 10 So wurden auch Gesandte für ihre Dienste mit „Gnaden“, zu denen sich der Fürst den Normen nach nicht verp ichten ließ, oft in Form unregelmäßiger Gaben belohnt. 11 Geschenke konnten in hö schen Kreisen wie auch in anderen Kontexten „ehrenvolle Bemäntelungen“ für Gütertransfers bereitstellen, die sich aber zumal auf der Basis von Geldzahlungen als „Korruption“ beziehungsweise deren vormo-
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Alain Guéry: Le roi dépensier. Le don, la contrainte, et l'origine du système nancier de la monarchie française d'Ancien Régime. In: Annales ESC 39 (1984), 1241–1269. 8 Siehe auch die Beiträge von Christian Windler: Tribut und Gabe. Mediterrane Diplomatie als interkulturelle Kommunikation. In: Saeculum 51 (2000), 24–56, 41–44. Zum Schenkakt als ritueller, Unterwerfung gegen partielle, temporäre Herrschaftskonzessionen (jagir) in den Beziehungen zum Moghul-Hof siehe Kim Siebenhüner: Approaching Diplomatic and Courtly Gift-giving in Europe and Mughal India: Shared Practices and Cultural Diversity. In: The Medieval History Journal 16 (2013), 525–546. 9 Siehe für den Begriff, wenn auch konzeptuell unterbestimmt: Lucien Bély: La Société des Princes. XVIe–XVIIIe siècle. Paris 2000. 10 Vgl. Sharon Kettering: Gift-Giving and Patronage in Early Modern France. In: French History 2 (1988), 131–151; siehe hierzu anhand von Fallbeispielen vom Kaiserhof des 18. Jahrhunderts: Barbara Stollberg-Rilinger: Zur moralischen Ökonomie des Schenkens bei Hof (17.–18. Jahrhundert). In: Werner Paravicini (Hrsg.): Luxus und Integration. Materielle Hofkultur Westeuropas vom 12. bis zum 18. Jahrhundert. München 2010, 187–202. 11 Zu den hochadeligen Leitnormen frühneuzeitlicher Diplomatie siehe Hillard von Thiessen: Diplomatie vom type ancien: Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens. In: ders. /Christian Windler (Hrsg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln, Weimar, Wien 2010, 471–503.
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dernen semantischen Äquivalenten stigmatisieren und sanktionieren ließen. 12 Diese Differenz konnte in einzelnen Fällen gar formalisiert werden. Bis zum Jahr 1681 durften laut Hofordnung Amtsträger am Kaiserhof von Bittstellern kein Geld, sehr wohl aber Präsente entgegennehmen. 13 Auch in den europäischen Außenbeziehungen fanden sich gelegentlich ähnliche Unterscheidungen zwischen Zahlungen und Geschenken. Dennoch blieb diese Differenz oftmals instabil und anfechtbar. 14 Der vorliegende Beitrag wird den verschiedenen Bedeutungen der Praxis des Schenkens in frühneuzeitlichen Außenbeziehungen innerhalb Europas anhand französischer diplomatischer Geschenke des späteren 17. und des frühen 18. Jahrhunderts nachgehen. Im Mittelpunkt stehen dabei das Verhältnis von symbolischer beziehungsanzeigender beziehungsweise herstellender Kommunikation mit Geschenken zur ökonomischen Dimension des Schenkens. Dabei soll insbesondere nach der Erwartung von Gegenleistungen sowie dem Verhältnis zwischen Geldern und Geschenken als Medien sozialen Tausches gefragt werden. Ebenso wird hier deren Aufrechen- und Unwandelbarkeit und die Frage der Distanzierung von als illegitim betrachteten „korrupten“ Praktiken thematisiert werden. Hierfür sollen erstens einige Grundzüge des Geschenkverkehrs zwischen europäischen Höfen erläutert und dabei einerseits nach der Funktion von Geschenken für die Beziehungen zwischen den Beteiligten und den Selbstdarstellungsabsichten der beteiligten Akteure gefragt werden. Andererseits soll auch nach der Rolle von Sichtbarkeit und Öffentlichkeit der Praktiken hö schen
12 Zur Korruption siehe die Pionierstudien von Jean-Claude Waquet: De la corruption. Morale et pouvoir à Florence aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris 1984; Linda Levy Peck: Court patronage and corruption in early Stuart England. Boston 1990. Zur in der letzten Zeit besonders fruchtbaren deutschsprachigen Korruptionsforschung: Niels Grüne / Simona Slanicka (Hrsg.): Korruption. Historische Annäherungen an eine Grund gur politischer Kommunikation. Göttingen 2010. Mit stärkerem Fokus auf Praktiken der Patronage: Ronald G. Asch /Birgit Emich /Jens Ivo Engels (Hrsg.): Korruption – Legitimation – Integration. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Brüssel, New York Oxford, Wien 2011. 13 Vgl. Mark Hengerer: Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne (Historische Kulturwissenschaft, 3). Konstanz 2004, 307–309. 14 Vgl. dazu insbesondere anhand eidgenössischer Fallbeispiele aus dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit Valentin Groebner: Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit. Konstanz 2000.
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Schenkens sowie der Rolle von monetären Gegenwerten, „Materialität“ und ikonogra schen Programmen von Geschenken gefragt werden. Zweitens sollen anhand des Abschiedsgeschenkes verschiedene Bezüglichkeiten von Geschenken sowie die nicht immer eindeutigen Trennungen zwischen Beziehungskommunikation und ökonomischem Gütertausch exemplarisch am Fall des diplomatischen Abschiedsgeschenks betrachtet werden. Drittens wird anhand „irregulärer“ Geschenke für Höflinge und Minister von Fürsten gefragt, wie sich diese zur Erwartung konkreter Gegenleistungen und den damit verbundenen Implikationen von „Käuflichkeit“ und Korruption verhielten. Ausgangspunkt des Folgenden wird ein in den Archiven des französischen Außenministeriums als recueil des présents par le Roy [. . . ] jusqu'à et compris l'année 1721 inventarisiertes Geschenkverzeichnis sein. 15 Zugleich sollen die Kontexte der Geschenke und ihre Thematisierung durch Schenkende und beschenkte Akteure zumindest, wo dies möglich ist, aus der diplomatischen Korrespondenz rekonstruiert werden. Da der recueil weder alle Geschenke verzeichnet, noch alle in ihm erwähnten Gaben in der Korrespondenz auftauchen, wird dies jedoch in vielerlei Hinsicht nur punktuell möglich sein.
I. Wenn Antonio Barberini erklärte, das Kardinalsporträt versinnbildliche vor allem gute Beziehungen, so schien er zeitgenössische Normen des Schenkens ganz auf seiner Seite zu haben. Die zeitgenössische Traktatliteratur zum Geschenkwesen bestätigt das bis zu einem gewissen Grade, indem sie Geschenke in der Nähe anderer Formen elementarer symbolischer Kommunikation verortet. Sie begriff das Schenken im Rahmen einer beziehungsanknüpfenden Höflichkeitspraxis als eine Art materielle Erweiterung des Komplimentes. 16 Christian Weise ordnete Komplimente und Geschenke in dasselbe semantische Register 15 Ich beziehe mich auf folgende Bände der Serie „Mémoires et Documents, France“: AAE, MD France, vols. 2037–2049. Siehe zu den hier verzeichneten Objekten unter kunst- und materialgeschichtlicher Perspektive: Isabelle Richefort: Présents diplomatiques et diffusion de l'image de Louis XIV. In: Lucien Bély (Hrsg.): L'invention de la diplomatie. Moyen Age – Temps modernes. Actes de la table ronde, Paris, 9–10 février 1996. Paris 1998, 263– 279. 16 Zur Einbindung des Geschenkes in die Praxis hö sch-adeligen Komplimentierens vgl. Jeannette Falcke: Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgischpreußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 31). Berlin 2006, 84–86.
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ein, indem er diese als insinuationes reales, jene als insinuationes verbales verstand. 17 Tatsächlich begleitete der Geschenkverkehr etwa Praktiken der auf zeitgenössische Konzepte von Freundschaft gestützten „guten Correspondentz“, in deren Rahmen man besondere Ereignisse einander „noti cirte“ und sich gegenseitig mit Komplimenten bedachte. 18 Dementsprechend wurden viele der im recueil des présents dokumentierten Objekte tatsächlich etwa anlässlich von Taufen, Hochzeiten oder Trauerfällen an fremden Höfe übergeben. 19 Als Beziehungskommunikation in der Société des Princes fußte die so ausgedrückte soziale Anerkennung jedoch auch auf der Grundlage ökonomischer Schätzbarkeit, also der Taxierung des Geschenkes nach seinem monetären Gegenwert. Denn zum einen orientierte sich der Geschenkverkehr zwischen Herrschaftsträgern formell an einer je nach Beziehung und Natur der Gabe bemessenen Reziprozität. Diese war wiederum nur durch Rekurs auf ihren monetären Wert überprüfbar. 20 Zum anderen war bei Geschenken in der europäischen Fürsten- und Adelsgesellschaft nach Rang und Status der zu Beschenkenden zu differenzieren. Zwar richteten sich Geschenke als Ausdruck einer personalisierten Wertschätzungsbeziehung, wo dies möglich war, auch nach den Wünschen und persönlichen Vorlieben des jeweiligen Empfängers. 21 Die soziale Angemessenheit des Geschenkes machte sich jedoch nicht zuletzt am monetären Gegenwert von Gaben fest. Am französischen Hof erkundigte man sich etwa bei den eigenen Gesandten auf dem Westfälischen Friedenskongress genau, welchen Gegenwert Geschenke für die Gattin des schwedischen Kanzlers Oxenstierna mindestens haben mussten, aber
17 Christian Weise: Politischer Redner. Das ist kurtze und eigentliche Nachricht, wie ein sorgfältiger Hofmeister seine Untergebenen zu der Wohlredenheit anführen soll. Leipzig 1683, 183. 18 Siehe zur „guten Correspondentz“ als Praxis frühneuzeitlicher Fürstenfreundschaft etwa Veit Ludwig von Seckendorff: Teutscher Fürsten-Stat oder Gründliche und kurtze Beschreibung welcher Gestalt Fürstenthümer Graf -und Herr-Schaften im heil[igen] Röm[-ischen] Reich teutscher Nation [. . . ]. Frankfurt am Main 1670, 175. 19 Der recueil des présents verzeichnet in eigenen Rubriken Geschenke anlässlich von Geburten von Prinzen (AAE, MD France 2037, fol. 215 v), von Taufen, bei denen der König als Taufpate fungierte (ebd., fol. 181 r–184 v), der Genesung von Krankheiten (ebd., fol. 176 r) und anlässlich von Trauerfällen (ebd., fol. 212 r–213 v). Besonders kostspielig und aufwendig waren die anlässlich von Hochzeiten der „Enfants de France“ ausgegebenen Geschenke (ebd., fol. 166 r–171 v). 20 Für die englische Monarchie vgl. Maija Jonsson: Measured Reciprocity. English Ambassadorial Gift Exchange in the 17th and 18th Centuries. In: Journal of Early Modern History 9 (2005), 348–370. 21 Richefort: Présents diplomatiques, 177 f.
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auch, welchen sie nicht überschreiten durften, um in Schweden als angemessen betrachtet zu werden. 22 Die im Medium des Geschenks vermittelte soziale Schätzung richtete sich nicht nur nach dem konkreten monetären Wert, sondern auch nach den im Geschenk verarbeiteten Materialien und dem diesen zugeschriebenen sozialen Kapital. 23 So sah es etwa der als Botschafter zur Kaiserwahl 1657/58 gesandte Maréchal de Gramont in seinen Memoiren als besondere Peinlichkeit seiner ohnehin mangelnder hö scher „Gesellschaftsfähigkeit“ bezichtigten spanischen Kollegen an, dass diese der pfälzischen Kurfürstin seidene Kleidungsstücke zum Geschenk gemacht hatten. 24 Selbst die überaus kostbaren Porzellangeschenke des Kaisers von Siam an den französischen König im Rahmen einer zeremoniellen Gesandtschaft nach Versailles im Jahre 1687 wurden in manchen hö schen Kreisen als im Vergleich zu Edelmetallgeschenken unangemessen bewertet. 25 Dort, wo sich Geschenke jenseits „routinierter“ Objekte und Praktiken bewegten und Gegenstände von außergewöhnlich hohem Wert verschenkt wurden, war nicht zuletzt die (Wieder-)Aufnahme und Intensivierung von politischen Beziehungen zwischen Herrschaftsträgern intendiert. Dies war etwa der Fall, als die französische Krone und Brandenburg Mitte der 1660er Jahre ihre Beziehungen zu intensivieren suchten. 26 1666 wurde der auch in Bezug auf das hö sche Geschenkwesen offenbar als Teil eines fürstlichen Arbeitspaares fungierenden brandenburgischen Kurfürstin ein höchst umfangreiches und wertvolles französisches Diamantengeschenk übergeben. 27 Dreizehn Jahre später, vermutlich im Zuge der wieder intensivierten Klientelpolitik des Sonnenkönigs im Alten Reich, wurde der Kurfürstin erneut ein überaus prachtvolles Präsent zuteil. 28
22 Lionne an Servien, Paris, 1. 6. 1645. In: Acta Pacis Westphalicae. Die Französischen Korrespondenzen. Serie II, B. Band 2. 1645. Bearbeitet von Franz Bosbach unter Benutzung der Vorarbeiten von Kriemhild Goronzy und unter Mithilfe von Rita Bohlen. Münster 1986, 401. 23 Falcke: Geschenkwesen, 265–272. 24 Mémoires de Maréchal de Gramont. In: Mémoires pour servir à l'Histoire de France. Bd. 7, hrsg. v. Joseph-François Michaud /Jean-Joseph-François Poujoulat. Paris 1839, 306. 25 Dirk van der Cruysse: Louis XIV et le Siam. Paris 1991, 393 f. 26 Siehe hierzu Falcke: Geschenkwesen, 122–131. 27 Recueil des présents (AAE, MD France 2037, fol. 35 r). 28 Heinz Duchhardt: Gleichgewicht der Kräfte – Convenance – europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensabschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongress. Darmstadt 1976, 17 f.
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Solche Gaben wurden auch in das Hofzeremoniell integriert und damit Teil einer spezi schen hö schen Öffentlichkeit. 29 Diese kam nicht nur durch die zeremonielle Übergabe, sondern oft auch im Rahmen der mehr oder minder dauerhaften Präsentation und „Zugänglichkeit“ solcher Geschenke zustande. Angesichts des Geschenkes für die brandenburgische Kurfürstin 1666 schrieb der französische Gesandte Charles Colbert de Croissy: „Ich vermöchte kaum zu beschreiben, wie der Kurfürst, die Kurfürstin und ihr ganzer Hof, die Schönheit und die Freigiebigkeit des Geschenkes des Königs bewundert haben. [. . . ] Ein jeder gesteht ein, dass es niemanden gibt außer dem König, der mächtig genug und großzügig genug wäre, solche Geschenke zu machen.“ 30 Die Sichtbarkeit und Öffentlichkeit des Geschenkes hatte dabei sowohl für die Beschenkten als auch für die Schenkenden eine zentrale Funktion. Der Empfänger führte nicht nur die ihm erwiesene Ehre besonders effektvoll vor. Geschenke bedurften geradezu einer Öffentlichkeit, um die mit ihnen transferierte Hochschätzung und Statusanerkennung überhaupt zur Geltung bringen zu können. Die spätere Ausstellung und Vorführung der Geschenke am Hof unterstrich diesen Aspekt. 31 Dem schenkenden Fürsten kamen die Öffentlichkeit und die von Croissy hervorgehobene allgemeine Bewunderung des Geschenkes als Inszenierung königlicher Freigebigkeit in fremden Herrschaftsräumen besonders entgegen. 32 Die Inszenierungen des Fürsten beziehungsweise seines Gesandten als Schenkende reichten dabei oft noch über den relativ engen Rahmen hö scher Öffentlichkeiten hinaus. Der bereits erwähnte Gramont hob etwa in seinen Memoiren die französische Großzügigkeit gegenüber der von ihm mit aufwendigen Gast-
29 Zum Konzept einer hö schen Öffentlichkeit siehe Barbara Stollberg-Rilinger: Hö sche Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum. In: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N. F. 7 (1997), 145–176; Volker Bauer: Strukturwandel der hö schen Öffentlichkeit. Zur Medialisierung des Hoflebens vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Historische Forschung 38 (2011), 585–620. 30 „Je ne sçaurois vous exprimer combien M l'électeur et Madame l'électrice et toute leur cour ont admiré la beauté et la magni cence du présent du Roy [. . . ] chacun avoue qu'il n'y a que le Roy au monde quy soit assés puissant et assés magni que pour faire de semblables présens“; Colbert de Croissy an Lionne, Kleve, 22. 3. 1666 (AAE, CP Prusse 4, fol. 471r). 31 Falcke: Geschenkwesen, 226–243. 32 Festivitäten und andere Spektakel zur Glori zierung der französischen Krone im Ausland beschreibt auch Peter Burke: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Berlin 1993, 194 f.
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mählern regalierten Frankfurter Stadtbevölkerung hervor, die er auch als effektvolle Inszenierungen seines Oberherrn gegenüber den Habsburgern verstand. 33 Eine nicht nur temporäre, sondern dauerhafte Sichtbarkeit königlicher Großzügigkeit und dynastischer Herrschaftssymbolik in den katholischen Gebieten der Alten Eidgenossenschaft schufen dagegen französische Stiftungen in Sakralräumen. 34 In einigen Fällen wurde diplomatischer Geschenkverkehr auch für eine verschriftlichte Öffentlichkeit dokumentiert. So berichtete etwa der Mercure Galant ausführlich über die oben erwähnte siamesische Gesandtschaft. Andere Druckmedien setzten die Geschenkübergabe auch ins Bild. Im Almanach de France konnten dem tatsächlichen Akt des Schenkens bei diesen Darstellungen die für den Empfänger opportunsten Varianten abgewonnen werden. Den als tatsächlich „königswürdig“ betrachteten Geschenken aus Edelmetall in der bildlichen Darstellung wurde hier gegenüber anderen Gaben eine besonders prominente Rolle zugewiesen. 35 Doch Geschenke als „Beziehungsmedien“ kommunizierten nicht nur durch monetäre Gegenwerte, das „symbolische Kapital“ des verarbeiteten Materials und den Modus ihrer Übergabe. Sie taten dies auch über ihre Symbolik und ihre materielle Form. 36 Dies gilt insbesondere für die als Gemälde oder in Form von Diamantdöschen verschenkten Herrscherporträts, die traditionell auf eine „virtuelle“ Ko-Präsenz des Abgebildeten verweisen sollten. 37 Die in diesem Kontext des Öfteren auch an Akteure niedrigeren Ranges verschenkten Medaillen fungierten geradezu als mobile Bildprogramme für oft mit anderen Höfen konkurrierende
33 Mémoires de Maréchal de Gramont, 293. 34 So etwa anhand der Kirchenstiftungen europäischer Monarchen in der Eidgenossenschaft Christian Windler: Allerchristliche und Katholische Könige. Ver echtung und dynastische Propaganda in kirchlichen Räumen (Katholische Orte der Eidgenossenschaft, spätes 16. bis frühes 18. Jahrhundert). In: Zeitschrift für Historische Forschung 33 (2006), 585–629. 35 Guy Walton: Diplomatic and Ambassadorial Gifts of the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: Barry Shifman /Guy Walton (Hrsg.): Gifts to the Tsars. Treasures from the Kremlin. New York 2001, 75–95, 79. 36 Siehe am Beispiel des französisch-päpstlichen Geschenkverkehrs im frühen 16. Jahrhundert: Janet Cox-Rearick: Sacred to profane. Diplomatic gifts of the Medici to Francis I. In: Journal of Medieval and Renaissance Studies 24 (1994), 239–258. 37 Zur zeremoniellen Funktion des Herrscherporträts vgl. Friedrich Polleross: Des abwesenden Prinzen Porträt. Zeremonielldarstellung im Bildnis und Bildnisgebrauch. In: Jörg Jochen Berns/Thomas Rahn (Hrsg.): Zeremoniell als hö sche Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995, 383–409. Sowie Martin Warnke: Hof-Künstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1985, 272 f.
Symbolisierte Beziehungen und entzauberte Gaben 129 Abb. 1 „La royalle Reception des Ambassadeurs du Roy de Siam“, Almanach für das Jahr 1687.
Herrscherinszenierungen. 38 Auch wenn tatsächlich kontroverse Medaillenmotive kaum Bestandteil of zieller diplomatischer Geschenke waren, wurde die Zirkulation von Medaillen in fremden Herrschaftsräumen durchaus aufmerksam beobachtet. 39
38 Zur Rolle dieser „multimedialen“ Bildprogramme, in denen die Medaillen prominent gurierten, siehe Burke: Ludwig XIV., 27 f. Zum Einsatz von Medaillen Robert Oresko: The Histoire Métallique and the Diplomatic Gift. In: Médailles et Antiquités 1 (1989), 49–55. 39 Hendrik Ziegler: Der Sonnenkönig und seine Feinde. Die Bildpropaganda Ludwigs XIV. in der Kritik. Petersberg 2010, 60–73.
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Allerdings wurde der „Aussagewert“ dieser ikonogra schen Medialität des Geschenkes stets durch die politischen Kontexte und die aktive Inszenierung durch die Empfänger mitgeneriert. So ließ sich die bayerische Kurfürstin Henriette Adelaide offenbar vom kaiserlichen Gesandten in München, Königsegg, ein Kaiserporträt in Form eines Porträtdöschens schenken. Durch die anschließende ostentative Sichtbarmachung des Herrscherbildes am Münchner Hof wollte die als frankreichfreundlich geltende Kurfürstin ihre scheinbar festgelegte Rolle als eindeutig profranzösische Akteurin unterlaufen und Bereitschaft zur Verständigung mit den Habsburgern demonstrieren – zumindest deuteten sowohl der kaiserliche als auch der französische Gesandte in München den Umgang mit dem Herrscherbild in diese Richtung. 40 Was solche Geschenke „bedeuteten“, was mit ihnen intendiert wurde und welche Beziehungen sie anzeigten, hing aber auch von Zuschreibungen außenstehender Beobachter ab. Dies erwies sich auch, als 1681 der französische Gesandte in Berlin, Rébenac, im unmittelbaren Zusammenhang mit der kurz zuvor erfolgten Einnahme Straßburgs einen besonders prächtigen Säbel erhielt. Auf französischer Seite wollte man das durchaus ambivalente Geschenk als implizite brandenburgische Zustimmung zu dem höchst umstrittenen Coup verstanden wissen. 41 An das diplomatische Geschenk konnten sich jedoch auch noch weitere Funktionen und Darstellungsabsichten sowohl der Schenkenden als auch der Beschenkten anlagern. Diese treten gerade im Kontext von Höfen, die im späten 17. Jahrhundert noch nicht vollständig in die „kerneuropäische Fürstengesellschaft“ integriert waren, deutlich hervor. So sticht unter den Einträgen im recueil des présents nicht nur der monetäre Gegenwert der 1668, 1681, 1685 und 1687 den russischen Gesandten verehrten Geschenke im hohen fünfstelligen Livre-Bereich – gegenüber vergleichbaren Gaben in innereuropäischen Kontexten – hervor (siehe Abschnitt II.). 42 Die Geschenke umfassten neben Herrscherporträts oder Gold- und Silberwaren auch mechanische Uhren, besonders prunkvolle, aber auch „kuriose“ Waffen, wie etwa eine vierläu ge Pistole, sowie prächtige Serien von Tapisserien. 43 Diese besaßen ebenfalls aussagekräftige Bildprogramme, die wie etwa im Falle von Szenen aus 40 So etwa Julia Hübner: Kurfürstin Henriette Adelaïde von Savoyen (1636–1676) und die bayerischen Außenbeziehungen. Unveröffentlichte Diss. Bern 2015, 261. 41 Hans Prutz: Aus des Grossen Kurfürsten letzten Jahren. Zur Geschichte seines Hauses und Hofes, seiner Regierung und Politik. Berlin 1897, 108; Falcke: Geschenkwesen, 80 f. 42 Recueil des présents (AAE, MD France 2037, fol. 13 r–15 v). 43 Zur Funktion von Tapisserien als politischen Geschenken, siehe: Wolfgang Brassat: Tapisserien und Politik. Funktionen, Kontexte und Rezeption eines repräsentativen Mediums. Berlin 1992, 82–94; siehe auch: Barry Shifman: European Decorative Arts as Diplomatic
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Abb. 2 Les Maisons royales. Octobre, signe du Scorpion, Tapisserie nach Charles Le Brun, Paris, Mobilier National.
dem Leben Konstantins des Großen durchaus auf die Empfänger zugeschnitten sein konnten und gemeinsame europäisch-christliche Grundlagen aufriefen. 44 Gerade in den Verhältnissen zu mehr oder weniger randständigen Akteuren der europäischen Fürstengesellschaft sollten Geschenke nicht nur Beziehungen knüpfen und dabei von der Großzügigkeit der schenkenden Fürsten künden, sondern das Verschenken solcher Luxusgegenstände entsprach häu g auch eindeutigen Empfängerwünschen. Solche Gegenstände und mechanische Objekte sorgten nämlich auch für einen im späten 17. Jahrhundert für russische Adelige und Höflinge auf anderen Wegen überaus schwer zu bewerkstelligenden Kulturund „Technologietransfer“. 45 Als königliche Geschenke konnten solche Objekte auch Aussagen über die ökonomische, technische und kulturelle „Leistungsfähigkeit“ der von den Schenkenden beherrschten Territorien und die dort konzentrierten Ressourcen transportieren. Diese Funktion lässt sich beispielsweise an den für das Frankreich des Ancien Régime charakteristischen Luxuswaren – etwa einem besonders wertvollen Tapisserien-Zyklus – verdeutlichen. Dass Letzterer die prachtvollen französischen Königsschlösser darstellte, unterstrich eine solche Darstellungsabsicht Gifts. In: ders./Barry Walton (Hrsg.): Gifts to the Tsars. Treasures from the Kremlin. New York 2001, 97–111, 108 f. 44 Recueil des présents (AAE, MD France 2037, fol. 13 r). 45 Walton: Diplomatic and Ambassadorial Gifts, 83.
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zusätzlich. 46 Spätestens seit dem späten 18. Jahrhundert sollte sich gerade in außereuropäischen Kontexten eine Art okzidentaler Überlegenheitsdiskurs an diese Art von Gütertransfers anlagern. 47
II. Das im vorangehenden Abschnitt angesprochene Abschiedsgeschenk für die Botschafter kann im „kerneuropäischen Kontext“ geradezu als exemplarischer Routinefall des diplomatischen Geschenkes beschrieben werden. Zugleich lassen sich hier die Ambivalenzen und bisweilen schwankenden Bezüglichkeiten des diplomatischen Schenkens herausarbeiten. 48 Die problematische Tatsache, dass ein Herrscher einen fremden Botschafter beschenkte, bedurfte einer bestimmten „Einrahmung“ und spezi scher Modalitäten der Übergabe, um den Verdacht unangemessener Abhängigkeitsbeziehungen abzuwenden. Das Abschiedsgeschenk für die Gesandten wurde daher erst ganz am Ende einer diplomatischen Mission übergeben. Desgleichen fungierte auch hier die hö sche Öffentlichkeit als Legitimationshorizont. Zudem wurden Abschiedsgeschenke nun in zunehmendem Maße standardisiert, und zwar sowohl hinsichtlich ihres monetären Wertes als auch bezüglich der verschenkten Objekte. 49 Die noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts üblichen Fürstengemälde sowie andere Objekte wurden nun durch das Herrscherporträt in Form von Miniaturdöschen mit Diamanteinrahmung als Standardgeschenk ersetzt. 50 Damit einhergehend verschob sich aber auch die Bezüglichkeit des Gesandtengeschenkes weg vom Botschafter als individuellem Akteur auf den Gesand-
46 Recueil des présents (AAE, MD France 2037, fol. 14 v). 47 Windler: Tribut und Gabe, 51–53; Peter Burschel: A Clock for the Sultan. Diplomatic Gift-giving from an Intercultural Perspective. In: The Medieval History Journal 16 (2013), 547–563. 48 Speziell hierzu Heinz Duchhardt: Das diplomatische Abschiedsgeschenk. In: Archiv für Kulturgeschichte 57 (1975), 345–362. 49 Stollberg-Rilinger: Zur moralischen Ökonomie des Schenkens, 200 f. 50 Richefort: Présents diplomatiques, 275 f.; Zu den Diamantengeschenken unter Ludwig XIV. im Besonderen siehe Michèle Bimbenet-Privat: Les pierreries de Louis XIV. Objets de collection et instruments politiques. In: L'Ancienne France. Études sur l'ancienne France offertes en hommage à Michel Antoine. Paris 2000, 81–96. Diese Entwicklung lässt sich sowohl für die französische als auch die kaiserliche und die englische Praxis des Botschaftergeschenks ablesen; vgl. Klaus Müller: Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740) (Bonner historische Forschungen, 42). Bonn 1976, 173 sowie Jonsson: Measured Reciprocity, 368.
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Abb. 3
Jean Petitot: Boîte à portrait du Roi Louis XIV, Paris, Musée du Louvre.
ten in seiner Rolle als ministre public, also als Stellvertreter seines Herrn. Zwar durfte der Gesandte das Geschenk behalten. Nicht zuletzt durch die Verortung im Gesandtenzeremoniell wurde es aber zu einem routinemäßigen Indikator von Rang und Status des entsendenden Fürsten. 51 Diese Koppelung bedeutete zugleich, dass ein Verzicht auf das Abschiedsgeschenk oder eine unangemessene Wertsenkung die Gefahr eines zeremoniellen Affronts mit entsprechenden Konsequenzen heraufbeschwor. 52 Aufgrund dieser Bindung an das Zeremoniell beeinträchtigte nicht einmal die extreme Unbeliebtheit des kaiserlichen Botschafters Lobkowitz, der 1688 in Zeiten gespannter Beziehungen vom französischen Hof abreiste, Wert und Beschaffenheit seines Abschiedsgeschenkes. Zwar schikanierte man Lobkowitz hinter den Kulissen, indem man mehrfach seine Abschiedsaudienz verschob. 53 Dennoch wurde er wie seine Vorgänger und Nach-
51 Prägnant zu den wichtigsten Funktionen des Zeremoniells: André Krischer: Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Kauz/Giorgio Rota /Jan Paul Niederkorn (Hrsg.): Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der frühen Neuzeit. Wien 2009, 1–32 52 Dass dies eine Form der Eskalation darstellte und die Fürstenbeziehungen nachhaltig trüben konnte, zeigt an einem französisch-polnischen Beispiel Duchhardt: Abschiedsgeschenk, 361. 53 Ziegler: Der Sonnenkönig und seine Feinde, 72.
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folger mit einem diamantverzierten Porträtdöschen im Wert von ca. 5000 livres beschenkt. 54 Als Teil des Gesandtenzeremoniells war das Abschiedsgeschenk eine Gabe, die nicht verweigert werden durfte, die zugleich auch nicht abgelehnt werden konnte. 55 Abraham de Wicquefort berichtet, dass die niederländischen Gesandten seit 1651 die Annahme von Abschiedsgeschenken mit Verweis auf das grundsätzliche Verbot von Geschenken für Amtsträger durch die Generalstaaten ablehnen mussten. Dies sei, so betonte Wicquefort, eine überaus unglückliche Regelung, die gegen alle Konventionen der Höflichkeit verstoße. 56 Das ökonomischinstrumentelle Missverständnis stellte in dieser Perspektive nicht nur einen zeremoniellen Affront dar, sondern drohte nicht zuletzt, stereotypisierte Vorbehalte gegenüber frühneuzeitlichen Republiken zu bestätigen. 57 Allerdings verweisen einige der Einträge im recueil auch auf Gesandtengeschenke, die die „Standardwerte“ signi kant überschritten. Diese deuten auf über die Amtsträgerschaft hinausgehende personale Verbindlichkeiten gegenüber der französischen Krone hin. Ein Abgesandter der formell unter päpstlicher Herrschaft stehenden Grafschaft Venaissin, ein Monsieur de Villeron, erhielt etwa 1716 ein Diamantengeschenk im in diesem Fall ungewöhnlichen hohen Wert von ca. 5000 livres. Das Geschenkregister benannte explizit den Grund für diese Abweichung: „Dem üblichen Brauch folgend hätte dieses Geschenk nicht mehr als 2000 oder 2500 umfassen dürfen; aber dadurch, dass seine Königliche Hoheit [der Regent Philippe d'Orléans, T. H.] eine besondere Hochschätzung für M[onsieur]. Villeron hegt, der zurzeit in der königlichen Garde dient, dürfte dies
54 Recueil des présents (AAE, MD France 2037, fol. 17 r). 55 Abraham de Wicquefort: L'ambassadeur et ses fonctions, augmentée des Re exions sur les Mémoires et du Discours historique de l'élection de l'Empereur. Köln 1689/90, 451 ff., räumt zwar die theoretische Möglichkeit der Verweigerung des Geschenkes ein, zeigt aber in seiner diesbezüglichen Kasuistik zugleich, mit welch enormen Eskalationsrisiken dies verbunden war, 56 Wicquefort: L'ambassadeur, 456; Stollberg-Rilinger: Zur moralischen Ökonomie des Schenkens, 200. 57 Christian Windler: Diplomatie als Erfahrung fremder politischer Kulturen. Gesandte von Monarchen in den eidgenössischen Orten (16. und 17. Jahrhundert). In: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), 5–44. Michael Rohrschneider: Die beargwöhnte Republik. Die politische Kultur der Vereinigten Niederlande in den Gesandtschaftsberichten des französischen Gesandten Abel Servien (1647). In: Maria-Elisabeth Brunert/Maximilian Lanzinner (Hrsg.): Diplomatie, Medien, Rezeption. Aus der editorischen Arbeit an den Acta Pacis Westphalicae (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, 32). Münster 2010, 183–209.
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den Wert dieses Geschenkes gesteigert haben“. 58 Konsequenzen für den Status der päpstlichen Enklave und ihrer Vertreter sollte dieses „Abschiedsgeschenk“ von erhöhtem Wert aber gerade nicht haben. Vielmehr war es tatsächlich explizit auf die Gesandtenperson ausgerichtet. Ebenso handelte es sich hier ja nicht um ein Abschiedsgeschenk, das erst am Ende der intensivierten Beziehung zwischen Gesandtem und Empfängerhof gestiftet wurde. Der jederzeit reaktivierbare Gesandte blieb ja nicht nur am Hof, sondern auch in den Diensten der Krone. Doch solche gesteigerten Werte fanden sich nicht nur in den besonderen Beziehungen solcher Kleinstakteure zur französischen Krone. Sie sind auch nachweisbar für wesentlich größere und bedeutendere Herrschaftsverbände, zu denen die französische Krone enge Beziehungen p egte. Im Falle eines Botschafters der polnisch-litauischen Wahlmonarchie veranlasste Ludwig XIV. gar persönlich eine Wertsteigerung seines Abschiedsgeschenks, indem er den beauftragten Kunsthandwerker mit der zusätzlichen Einarbeitung von Diamanten betrauen ließ. 59 Auffällig ist auch, dass die Abschiedsgeschenke für einige schwedische Gesandte im Vergleich mit jenen für die Gesandten anderer Souveräne besonders in ihrem Wert nach oben ausschlugen. 60 Dies lässt sich wohl nicht nur damit erklären, dass hier die Gesandten einer fast über die gesamte Regierungszeit Ludwigs XIV. befreundeten Monarchie beschenkt wurden. In diesem Kontext erhielt nicht nur die schwedische Krone umfangreiche Subsidienzahlungen. Viele Amtsträger am schwedischen Hof wurden regelmäßig mit französischen Pensionen bedacht. Einige der im recueil aufgelisteten Akteure gehörten den Adelsgeschlechtern der La Gardie oder Bielke an. Sie gehörten somit zu Familienverbänden, die besonders enge Beziehungen zur französischen Krone p egten und deren ein ussreiche Angehörige regelmäßig mit Geschenken und Pensionen bedacht wurden. Dafür wurde von ihnen erwartet, dass sie als Fürsprecher frankreichfreundlicher Politik auftraten. 61 Die Diamantdosen mit
58 „[. . . ] suivant l'usage ord[inai]re., ce présent ne devait être que de 2mil ou 2'500, mais que S. A. R. par une considération particulière pour M[onsieur] Villeron, dont le service actuellement dans les gardes du Roi, a bien voulu augmenter ce présent sans que cela puisse tirer conséquence“; recueil des présents (AAE, MD France 2037, fol. 106 v). 59 Bimbenet-Privat: Les pierreries de Louis XIV, 92, Anm. 39. 60 Recueil des présents (MD France 2037, fol. 6 r, 6 v). 61 Recueil des présents (AAE, MD France 2037, fol. 6 v); zur französischen Ver echtung Niels Bielkes siehe Ragnhild Hatton: Presents and pensions. A methodological search and the case study of Count Niels Bielke's prosecutions for treason in connection with grati cations from France. In: Phyllis Mack /Margaret C. Jacob (Hrsg.): Politics and Culture in Early Modern Europe. Essays in Honour of Helmut G. Koenigsberger. Cambridge 1987, 101–117.
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ihren stark gesteigerten Werten könnten somit durch die Familienzugehörigkeit der Botschafter auch in den Kontext von Außenver echtungsbeziehungen zu schwedischen Adelsgeschlechtern und der damit verbundenen Gütertransfers der französischen Krone gestellt werden. Denn auch in diesem Falle beendete die Verabschiedung der Botschafter nicht das Verhältnis zum französischen König. In den Aufzeichnungen des recueil ndet sich noch ein weiteres ungewöhnlich wertvolles Abschiedsgeschenk für einen schwedischen Gesandten: nämlich jenes für den Grafen Tott. Dieser wurde im April 1673 mit einem besonders wertvollen Abschiedsgeschenk – Silbergeschirr im Wert von 30.000 livres – entlassen. 62 Allerdings beendete auch Tott seine Beziehungen zur Krone nicht mit dem Verlassen des Königreiches. Vielmehr brach er als formell unparteiischer Mediator nach Köln auf, wo sich die Vertreter europäischer Mächte trafen, um, letztlich ohne Erfolg, den Niederländischen Krieg zu beenden. 63 Zwar gehörte das Geschenk für den erfolgreichen Friedensstifter zum festen Standardrepertoire diplomatischen Schenkens im 17. Jahrhundert, wobei sowohl eigene Diplomaten als auch die Mediatoren auf Friedenskongressen bedacht wurden. 64 Diese Geschenke waren jedoch normalerweise nur eine Variante des gewöhnlichen Abschiedsgeschenks. Ließ man dem prospektiven Mediator jedoch unter dem Deckmantel des Abschiedsgeschenkes bereits vor der Aufnahme seiner Tätigkeit ein besonders wertvolles Präsent zukommen, liegt der Verdacht nicht fern, dass sich dies auf die Friedensvermittlung im eigenen Sinne auswirken sollte. 65
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Zu Magnus Lagardie und seinen französischen Ver echtungen siehe Svante Norrhem: Im Dienste der Dynastie: Frauen als Mittlerinnen bei Heiratsverhandlungen im Schweden der 1690er-Jahre. In: Corina Bastian /Eva Kathrin Dade/Hillard von Thiessen/Christian Windler (Hrsg.): Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert (Externa, 5). Köln, Weimar, Wien 2014, 87–102., 92 f. Recueil des présents (AAE, MD France 2037, fol. 6 v). Zum Kölner Kongress: Max Braubach: Der Kölner Kongress und die Gefangennahme Wilhelms von Fürstenberg (1673/74). In: ders.: Kurköln. Gestalten und Ereignisse aus zwei Jahrhunderten rheinischer Geschichte. Münster 1949, 43–80; Marie-Félicia Renaudin: L'échec du congrès de Cologne 1673–1674. De la fête au drame. In: Revue d'histoire diplomatique 118 (2004), 223–250. Recueil des présents (AAE, MD France 2037, fol. 209 r–210 r). Offenbar war dies für die schwedischen Mediatoren während des Aachener Friedens ähnlich gehandhabt worden; recueil des présents (AAE, MD France 2037, fol. 6 r).
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III. Damit ist jedoch bereits angedeutet, dass Geschenke nicht nur Beziehungen repräsentieren, p egen beziehungsweise knüpfen und mehr oder weniger weit gefasste soziale Verbindlichkeiten stiften sollten. Insbesondere Geschenke an Minister und Vertrauenspersonen von Herrschern, aber auch „irreguläre“ Geschenke an Diplomaten besaßen zugleich auch einen instrumentellen und „ökonomischen“ Charakter, der auf die Erwartung von konkreten und zeitnahen Gegenleistungen verwies. 66 Während man im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Geschenk für die brandenburgische Kurfürstin nicht explizit von ihrer Beein ussung sprach, hob Ludwig XIV. 1666 in einem Schreiben an seinen Regensburger Gesandten Robert de Gravel explizit hervor, dass die in diesem Kontext ebenfalls beschenkten Schwerin und der Gardeoberst Poellnitz ebenfalls Diamantengeschenke erhalten hätten. Diese, so meinte der König, hätten „die Minister für die Zukunft wohldisponiert“. 67 Noch konkreter wurde der Bezug auf die Erwartung greifbarer Gegenleistungen durch derartige Geschenke, als 1672 der Ausstieg Englands aus der französischen Koalition gegen die Niederländer kurz bevorstand und überdies Zeremonialstreitigkeiten das Klima zwischen beiden Mächten vergifteten. Charles Colbert de Croissy setzte nun als Botschafter am englischen Hof besondere Hoffnung auf den Ein uss des Earl of Arlington, mit dem er eng zusammenarbeitete. Arlington ebenso wie der Duke of Buckingham wurden mit überaus prächtigen und wertvollen Geschenken bedacht. 68 Die Adressaten komplimentierten Croissy zwar zu dessen voller Zufriedenheit, indem sie die Geschenke eher Königen als Einzelpersonen für würdig befanden. Croissy machte jedoch keinen Hehl daraus, dass solch wertvolle Gaben auf konkrete Gegenleistungen abzielten. Er erhoffe sich nun sehr bald von den beiden englischen Höflingen „Beweise jener Erkenntlich-
66 Zu dieser Funktion anhand spanischer Befunde aus dem 17. Jahrhundert, siehe Max Merkes: Belohnungen und Gunsterweise in der spanischen Politik des 17. Jahrhunderts. In: Konrad Repgen/Stefan Skalweit (Hrsg.): Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach zum 10. April 1964. Münster 1964, 429–455, 438 f. 67 „[. . . ] bien déposé les ministres pour l'avenir“; Ludwig XIV. an Robert de Gravel, St. Germain-en-Laye, 26. 2. 1666 (AAE, CP Allemagne 211, fol. 252 r). 68 Recueil des présents (AAE, MD France 2037, fol. 145 v). Bereits 1670 hatten Arlington und Buckingham überaus wertvolle französische Geschenke erhalten, siehe „État des ouvrages de pierreries livrés à Sa Majesté ou donné par son ordre à des ambassadeurs, résidents et autres, commencant depuis le premier juillet 1669“ (AAE, MD France 2042, fol. 77 r, 77 v).
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keit, die sie mir diesbezüglich bezeugt haben“. 69 Geschenke sollten hier vor allem kurzfristig Gegenleistungen erwirken. Mit dem ökonomisch-instrumentellen „Nutzencharakter“ des Geschenkes, wie er vor allem in den Geschenken für Minister und andere Hofangehörige deutlich wird, stellt sich zugleich die Frage nach dem Verhältnis zum Geld als Wertmedium, mit dem sich Dienstleistungen erkaufen ließen. Neueren Forschungen zur Kulturgeschichte des Schenkens in der Vormoderne zufolge wurde die Unterscheidung zwischen Geschenken und Geldzahlungen in besonderem Maße dort hervorgehoben und inszeniert, wo eine solche Unterscheidung brüchig zu werden und die Nähe zu einem als problematisch eingeschätzten monetären Transfer die beteiligten Akteure zu kompromittieren drohte. 70 Auch den Normen des diplomatischen Schenkens zufolge waren der Gebrauch von Geschenken als geldwertes „Zahlungsmittel“ oder deren Konvertierung in monetären Gegenwert verpönt. Dies bestätigen Exempel aus der diplomatischen Traktatliteratur, in denen sich etwa ein niederländischer Gesandter angeblich mit der Anfrage lächerlich machte, ihm statt des Geschenkes schlicht einen Wechsel auszustellen, 71 oder in Wicqueforts Behauptung, indische und persische Herrscher betrachteten Geschenke als Zahlungsmittel und Tauschware. Nicht zwischen Beziehungsmedien und Geldmedien zu unterscheiden konnte als deviantes und zugleich stereotypisiertes Verhalten primär republikanischen Außenseitern beziehungsweise „orientalischen“ Außenstehenden der europäischen Fürstengesellschaft zugeschrieben werden. 72 Allerdings waren auch in der europäischen Praxis genau diese Austauschbarkeit von Geldern und Geschenken und die „Monetarisierung“ der Letzteren durchaus an der Tagesordnung. Dafür sprechen nicht nur indignierte Berichte über Gesandte, die versuchten, die im Rahmen von Abschiedsgeschenken erhaltenen Diamanten zu Geld zu machen, 73 sondern auch das damit in mutmaßlichem Zusammenhang stehende Faktum,
69 Charles Colbert de Croissy an Ludwig XIV., London, 29. 8. 1672 (AAE, CP Angleterre 104, fol. 93 v). 70 So etwa die These von Gadi Algazi: Introduction: Doing Things with Gifts. In: ders./ Valentin Groebner /Bernhard Jussen (Hrsg.): Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange. Göttingen 2003, 9–28, 9. 71 Friedrich Carl von Moser: Kleine Schriften zur Erläuterung des Staats- und VölkerRechts. Bd. 1. Frankfurt am Main 1751, 138. 72 Wicquefort: L'ambassadeur. Bd. 1, 457. 73 Vgl. hierzu Falcke: Geschenkwesen, 214.
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dass heute kaum noch vollständige Exemplare dieser französischen Diamantdöschen vorhanden sind. 74 Dass Geschenke und Gelder als austauschbar betrachtet werden konnten, zeigte sich, als man am französischen Hof im Vorfeld des Utrechter Friedenskongresses den preußischen Gesandten Metternich als für französische Ein ussnahme besonders empfänglichen Vertreter des preußischen Königs ausgemacht zu haben glaubte. Ludwig XIV. wies seinen Gesandten d'Huxelles daher an, keine Kosten zu scheuen, um sich Metternich geneigt zu halten und diesen zu „kultivieren“. 75 D'Huxelles schlug schließlich vor, Metternichs Frau einen Ring im Wert von 5000 bis 6000 Gulden zu verehren oder aber: diesem ganz einfach „den Gegenwert in Bargeld“ zukommen zu lassen. 76 Der von d'Huxelles ins Spiel gebrachte Diamant erschien in diesem Zusammenhang als ein mit Geldleistungen nicht nur kommensurables, sondern gegen diese aufrechenbares und gegebenenfalls austauschbares „Wertmedium“. Allerdings deutet der schließlich an Metternichs Frau verschenkte Schmuck darauf hin, dass zumindest Metternich selbst die verdächtigen Implikationen solcher Geschenke beziehungsweise Geldzahlungen umgehen wollte. 77 Mit ähnlichen Intentionen bestand 50 Jahre zuvor der kurmainzische Oberhofmarschall und enge Vertraute des Mainzer Kurfürsten, Johann Christian von Boineburg, auf einer Neuregelung seiner Pension. Die französische Krone gestand Boineburg diesen Wunsch zu. Man wollte ihn, dessen Nominierung als Reichsvizekanzler durch Johann Philipp von Schönborn auch an dem von Boineburg vehement zurückgewiesenen Vorwurf gescheitert war, er sei eine bezahlte „Kreatur“ des französischen Königs, nicht länger dem Verdacht aussetzen, „Pensionär einer fremden Krone“ zu sein. Aus der Pension wurde nun ein don [. . . ]
74 Bimbenet-Privat: Les pierreries, 87. Zur Transferierbarkeit von Geld- und Symbolwerten von Geschenken am Kaiserhof siehe auch Hengerer: Kaiserhof und Adel, 307 f. 75 vgl. Lucien Bély, Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV. Paris 1990, 169. 76 Huxelles an Torcy, Utrecht, 10. 7.1712 (AAE, CP Hollande 236, fol. 50r). Mit einer ähnlichen Indifferenz für verschiedene Medien der Gabe äußerte sich auch während der Kaiserwahl 1657/58 Kardinal Mazarin in Bezug auf Patronageressourcen für den Kurfürsten von Trier und dessen Familie: „Je voudrois pourtant que M l'électeur de Mayence ne fît l'honneur de vous dire con démment quelle sorte de grati cation le Roi pourra faire aud M èlecteur de Tréves qui le pût obliger et toucher d'avantage m si ce devroit estre ou de l'argent comptant, des pierreries et la vaisselle d'argent ou quelque bonne abbaye“; Mazarin an Robert de Gravel, La Fère, 17. 6. 1657 (AAE, CP Allemagne 137, fol. 364 r). 77 Journal de recette et de despense des pierreries du Roy, chaisnes et médailles d'or, commencé le premier janvier 1700 (AAE, MD France 2047, fol. 96 r).
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par forme de grati cation. 78 Man einigte sich also darauf, Boineburg fortan mit einem Geschenk zu bedenken. Der Unterschied zwischen dem Schenken und dem Auszahlen einer Pension betraf in diesem Fall jedoch gerade nicht die transferierten „Wertmedien“. Neben einer Modi kation der Geldquelle wurden hier vor allem feine, aber wirkmächtige semantische Unterscheidungen getroffen. 79 Es wurde allerdings weiterhin nichts anderes transferiert als Geld. In Anlehnung an Valentin Groebner dürfte man gut beraten sein, auf die von den Akteuren getroffenen Unterscheidungen und Zuschreibungen von Transferformen und deren soziale und semantische „Rahmung“ zu achten und sich nicht auf vorgängige Unterscheidungen zwischen notwendigerweise „schlechtem“ Geld und legitimen Geschenkmedien einzulassen. 80 Ebenso wenig lassen sich alle nichtmonetären materiellen Gaben als Geschenke mit eigener Logik identi zieren, auch wenn dies auf den ersten Blick naheliegen mag. So hatten im Vorfeld der Kaiserwahl von 1657/58 die Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches, die regelmäßig das durch die „Goldene Bulle“ formulierte Verbot der äußeren Beein ussung der „freien Wahl“ umgingen, 81 den französischen Gesandten Gramont und Lionne sowie ihren Prinzipalen Grund gegeben, sich damit auseinanderzusetzen, dass man mit Geldzahlungen schwerlich Kurfürsten auf eine Stimme für einen bestimmten Kandidaten festlegen und so gleichsam „kaufen“ könnte. Es bedürfe daher einer „ehrenvollen Bemäntelung“ (honneste couverture). 82 Neben der von den Kurfürsten ins 78 „Sa Ma[jes]té. ne voulant pas que les grâces qu'elle fait à ses serviteurs leur soient en rien préjudiciable considérant que celle qu'elle a accordé audit Sr Baron de 1,500 de pension, pourrait lui nuire en divers occasions dans l'empire, où on pourrait prendre prétexte pour l'éloigner des charges et emplois et de lui imputer qu'il est un pensionnaire d'une Couronne étrangère“; „Escrit donné aujourd'hui par Son Éminence à M. de Benebourg pour assurance de mille écus de revenu que Sa Ma[jes]té. accorde aud[it] Baron“, Toulouse, 17.10. 1659 (AAE, CP Mayence 4, fol. 37r /v). Vgl. auch: Tilman Haug: Ungleiche Außenbeziehungen und grenzüberschreitende Patronage. Die französische Krone und die geistlichen Kurfürsten (1648–1679) (Externa, 6). Köln, Weimar, Wien 2015, 415 f. 79 „Copie du brevet du Roi pour une grati cation annuelle de 4,500 livres que Sa Ma[jes]té a accordé à M. le Baron de Benebourg“ [23. 12. 1659], (AAE, CP Mayence 4, fol. 37 v, fol. 38 r). 80 Valentin Groebner: The City Guard's Salute: Legal and Illegal, Public and Private Gifts in the Swiss Confederation around 1500. In: Gadi Algazi/Valentin Groebner/Bernhard Jussen (Hrsg.): Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange. Göttingen 2003, 247–267, 247 f. 81 Siehe zu diesen Bestimmungen auch Sebastian Knake: „Mietekiese“ der Kurfürsten. Korruption bei römisch-deutschen Königswahlen 1346–1486. In: Grüne/Slanicka: Korruption, 387–408. Siehe auch: Axel Gotthard: Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband. 2 Bde. (Historische Studien, 457). Husum 1999, 485 f. 82 Servien an Mazarin, Paris, 7. 8. 1657 (AAE, CP, Allemagne 136, fol. 67 v).
Symbolisierte Beziehungen und entzauberte Gaben 141
Spiel gebrachten „Tarnung“ französischer Gelder als Rückzahlung realer oder vermeintlicher Schulden 83 schlug Kardinal Mazarin für den Kölner Kurfürsten Max Heinrich eine andere Lösung vor. Wenn dieser Skrupel habe, im Kontext der Wahl französisches Geld anzunehmen, sei es opportun, dass man „ihm ein Geschenk mache, das aus Tapisserien oder dergleichen Dingen besteht“. 84 Zwar hatten die Kurfürsten kein Interesse an französischen Tapisserien. Gramont und Lionne sprachen jedoch davon, dass man ihnen auch andere wertvolle Objekte (pierreries) zukommen zu lassen könnte. Doch was hier zunächst eindeutig wie die Ersetzung problematischer Geldzahlungen durch Geschenke aussieht, erweist sich bei genauerem Hinsehen als komplizierterer Vorgang, bei dem sich materielle und monetäre Wertträger nicht grundsätzlich unterschieden. Denn zunächst reagierten die französischen Gesandten mit dieser Überlegung offenkundig auch auf eher pragmatische Schwierigkeiten mit monetären Transfers, wie etwa die notorischen Liquiditätsprobleme der Gesandten oder ungünstige Wechselkurse für als minderwertig betrachtete Sorten. 85 Ähnliche rein praktische Überlegungen brachten später Robert de Gravel als französischen Gesandten in Regensburg dazu, einen Vorrat an „geldwertem“ Silbergeschirr einzulagern. 86 Auch die Kurfürsten nahmen trotz der erwähnten Vorbehalte die pierreries nicht als Geschenke mit einer eigenen Logik war, sondern betrachteten sie eher als „Platzhalter“ für später in barem Geld zu leistende Zahlungen. Daran schloss sich eine Einschätzung der Geschenke an, die sich nicht mit der Unaufrechenbarkeit von Gabe und Gegengabe vereinbaren ließ. Die pierreries wurden nämlich in einem direkten Verhältnis zu Geldwerten betrachtet. Sie mussten gar ihren Gegenwert in versprochenem Geld um mindestens ein Drittel überschreiten. 87 Dies lief Mazarins Intentionen zuwider, den Transfer stärker wie ein Geschenk „einzurahmen“ und sich nach der Übergabe den eigentlich versprochenen Zahlungen zu entziehen. 88 Die Kurfürsten wollten sich gar die spätere „Auslösung“
83 Mazarin an Robert de Gravel, Paris, 20. 3.1658 (AAE, MD France 277, fol. 83 r). 84 „[. . . ] qu'on luy fît quelque présent de tapisserie ou choses semblables.“ Mazarin an Gramont und Lionne, Sedan, 21. 8. 1657. In: Lettres du Cardinal Mazarin pendant son Ministère, vol. VIII, hrsg. v. Gustave d'Avenel u. Adolphe Chéruel. Paris 1894, 122. 85 Dies war etwa bei den erst jüngst geprägten louis blancs der Fall. Siehe Robert de Gravel an Mazarin, Frankfurt, 1. 5. 1657 (AAE, CP Allemagne 137, fol. 250 v), sowie Gramont und Lionne an Mazarin, Frankfurt, 13. 11.1657 (AAE, CP Allemagne 138, fol. 259 r). 86 Robert de Gravel an Ludwig XIV., Regensburg, 20. 8. 1665 (AAE, CP Allemagne 195, fol. 145 v). 87 Gramont und Lionne an Mazarin, Frankfurt, 13. 11. 1657 (AAE, CP Allemagne 138, fol. 259 r). 88 Mazarin an Gramont und Lionne, Frankfurt, 6. 10. 1657 (AAE, CP Allemagne 140, fol. 84r).
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garantieren lassen. 89 Statt als Gaben akzeptiert zu werden, wurden die pierreries nun also zu faktischen „Pfändern“ heruntergehandelt. 90 Der Aushandlungsprozess des Geschenkes konnte in der Praxis nicht nur in monetärer Taxier- und Aufrechenbarkeit, sondern im Extremfall auch in seiner völligen Integration in die Logik eines Geldgeschäftes enden. Doch auch dort, wo die Akteure einen merklichen Unterschied zwischen Geldern und Geschenken machten und Letzteren gegenüber reinen Geldleistungen symbolische Mehrwerte zuschrieben, bestimmten Kontexte und Zuschreibungen die genaue Bedeutung solcher Unterscheidungen. Als im Vorfeld der Kaiserwahl von 1657/58 der kurkölnische Minister Franz Egon von Fürstenberg 1656 durch Mazarins Lütticher Residenten Wagnée vor die Wahl gestellt wurde, ob er lieber einen Geldbetrag bekommen oder mit der Semantik des Schenkens als présent bezeichnete kirchliche Bene zien erhalten wollte, 91 ließ Fürstenberg durchblicken, dass er die Verleihung einer Abtei klar vorzog. Eine Wahl, die auch die französischen Gesandten goutierten. Anders als im oben erwähnten speziellen Fall Boineburgs stand das Schenken zumindest aus französischer Warte nicht primär für einen Modus des Gütertransfers, mit dem sich Korruptionsvorwürfe durch die scheinbare Unverbindlichkeit des Geschenkes umgehen ließen. Denn wenn der Modus des Schenkens und die im Falle der Überschreibung einer Abtei schwer vermeidbare Sichtbarkeit auch die Möglichkeit bot, die instrumentelle und ökonomische Dimension und die Beziehungen zwischen Leistung und Gegenleistung in den hier eingegangenen Beziehungen zu verunklaren, so war dies hier ganz eindeutig nicht der Vorteil, den Mazarin den Geschenken zusprach. Im Gegenteil: Er bevorzugte die Verleihung einer Abtei auch deswegen, weil diese „greifbare öffentliche Zeichen setzen sollte [. . . ], dass die Leute sehen mögen, dass es weder in ihm [Franz Egon von Fürstenberg, T. H.] selbst etwas Österreichisches in der ganzen Bindung gibt, die er eingehen wird, noch etwas, das nicht französisch ist.“ 92 Es ging also nicht um die Verschleierung von Verbindlichkeiten durch den Modus des Schenkens und seine Öffentlichkeit, sondern im Gegenteil um die eindeutige 89 Gramont und Lionne an Mazarin, Frankfurt, 20. 11. 1657 (AAE, CP Allemagne 138, fol. 287 v). 90 Zur Bedeutung von Pfändern in der Frühen Neuzeit, siehe Laurence Fontaine: L'Économie morale. Pauvreté, credit et con ance dans l'Europe préindustrielle. Paris 2008, 105– 128. 91 Mazarin an Wagnée, Paris, 28. 3. 1656 (AAE, CP Cologne, 2, fol. 400 r). 92 „J'estime qu'on doit donner des marques réelles publiques [. . . ] que le monde voie qu'il n'y a rien en luy d'Austrichien, ni rien qui ne soit pas françois dans l'entière liaison qu'il procurera“; Mazarin an Wagnée, Paris, 28. 3. 1656 (AAE, CP Cologne, 2, fol. 400 r).
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und dokumentierbare Festlegung eines kurkölnischen Ministers und Gesandten auf ein Klientelverhältnis zur französischen Krone. Dies wurde in der Situation beständiger Patronagekonkurrenz zu den Habsburgern besonders goutiert. Die grundsätzliche durch Öffentlichkeit gewährleistete Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Praktiken stand hier also weit weniger im Vordergrund als die ebenfalls an sie gekoppelte Stabilisierung von unsicheren, nutzenorientierten Patronagebeziehungen.
IV. Analog zu neueren kulturgeschichtlichen Forschungen zum Schenken in der Frühen Neuzeit erweisen sich auch diplomatische Geschenke als vielschichtige und oft ambivalente Medien sozialen Tausches. Als Teil eines zwischenhö schen Geschenkverkehrs bestätigten beziehungsweise verdichteten sie symbolische Beziehungen zwischen Schenkendem und Beschenktem. Allerdings konnten sie als Kommunikation über Beziehungen nur funktionieren, da sie sich unter anderem über die Rückrechenbarkeit auf ökonomische Werte als angemessene Beziehungsmedien auswiesen. Um ihre Funktion entfalten zu können, bedurften die Geschenke gegebenenfalls räumlich und medial erweiterter Öffentlichkeiten, in deren Rahmen auch die ikonogra schen und symbolischen Programme von Geschenken als Beziehungsmedien inszeniert werden konnten. Als ein exemplarisches Medium der Beziehungskommunikation zwischen Fürsten erschien zunächst das im 17. Jahrhundert zunehmend standardisierte Gesandtengeschenk, das sich durch den Modus seiner Übergabe verdächtigen Implikationen zu entziehen schien und als faktischer Teil des Gesandtenzeremoniells sich primär auf formale Beziehungen zwischen Fürsten bezog. Dennoch drückten insbesondere gesteigerte Werte von Gesandtengeschenken nicht nur Wertschätzung für die Person des Gesandten aus, sondern lagerten sich an Außenver echtungsbeziehungen an und implizierten die Erwartung von Gegenleistungen. Die instrumentell-ökonomische Dimension diplomatischen Schenkens zeigte sich besonders anhand irregulärer Geschenke im persönlichen Umfeld von Fürsten, wo die Erwartung an Gegenleistungen klar formuliert wurde. Geschenke konnten gegen möglicherweise illegitime Geldzahlungen aufgerechnet werden, ohne notwendigerweise eine bedeutsame Eigenlogik zu entfalten. Die Abgrenzung oder die Gleichwertigkeit von Geld- und Geschenkmedien und die Einschätzung der besonderen Logik des Schenkens hing nicht zuletzt von Aushandlungs- und Zuschreibungsprozessen einzelner Akteure ab.
Christine Vogel
Geschenke als Medien interkultureller Diplomatie Praktiken des Schenkens französischer Botschafter im Osmanischen Reich im 17. Jahrhundert
„Wenn die Geschencke mangeln, so mangelt alles, und die Klugheit, Erfahrung, Eyfer und Gemüths-Tugenden eines Ambassadeurs sind wie eine gute Speise, die allererst durch die Geschencke, als eine herrliche Würtze, einen angenehmen Geschmack bekommet.“ 1
In Fachkreisen war es im späten 17. und im frühen 18. Jahrhundert Allgemeinwissen, dass das Schenken zu jenen Tätigkeiten zählte, die ein Diplomat beherrschen musste. Es war außerdem eine Tätigkeit, die nicht banal war, sondern eine „grosse Klugheit und eine extraordinaire Dexterität“ erforderte, wie es Johann Christian Lünig 1719 in seinem Theatrum Ceremoniale formulierte. 2 Gemeint war hier nicht allein und nicht einmal in erster Linie die Übergabe der of ziellen diplomatischen Geschenke, die der Botschafter seinem Gastgeber im Namen seines Prinzipals und häu g im zeremoniellen Rahmen einer Audienz überreichte. Es ging vielmehr vor allem um jene Art von Geschenken, die der Botschafter in seinem eigenen Namen machen musste, um sich „das Ministerium desjenigen Hofes, an dem er residiret, zu Freunden [zu machen].“ 3 Diese Geschenke waren es auch, die Lünig in der eingangs zitierten Passage im Blick hatte und die ihm, zumindest in moralischer Hinsicht, kein besonderes Kopfzerbrechen zu bereiten schienen – so jedenfalls lässt sich angesichts des von ihm verwendeten kulinarischen Vergleichs vermuten. Auch schon eine Generation zuvor nden sich im gelehrten Diskurs zu Diplomatie und Völkerrecht ähnlich pragmatische Ansichten über die diplomatische Geschenkpraxis. Auf die 1 2 3
Johann Christian Lünig: Theatrum Ceremoniale historico-politicum, Oder Historischund Politischer Schau-Platz Aller Ceremonien [. . . ]. Bd. 1. Leipzig 1719, 388. Ebd. Ebd.
Geschenke als Medien interkultureller Diplomatie 145
Frage etwa, „ob einem Ambassadeur vergönnet und zugelassen, daß er desjenigen Hofes Ministres bestechen möge / wo er zu negotiren hat“, kam der niederländische Diplomat und Traktatautor Abraham de Wicquefort in den 1680er Jahren zu dem Ergebnis, dass „ein Ambassadeur, welcher auff solche Art und Weise einen Ministre gewinnet / und auff seine Seite bringet / das Völcker-Recht gantz und gar nicht beleidige / und in den Schrancken seiner Function verbleibe [. . . ]“. 4 Mehr noch: Kaum ein anderes Mittel sei für den Botschafter besser geeignet, seine wichtigste Dienstp icht, die Informationsbeschaffung, zu erfüllen. Insofern sei es durchaus angeraten, dass der Botschafter die wichtigsten Minister am Hof seines Gastgebers „corrumpiret“. 5 Dass diese Art des Schenkens im Kontext diplomatischer Aktivitäten weithin als akzeptabel galt, lag wohl nicht zuletzt daran, dass es sich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen dabei um eine vielleicht etwas speziellere, aber nicht per se andersartige oder gar illegitime Praxis innerhalb eines breiten Spektrums von Gabentauschpraktiken handelte, die frühneuzeitliche Patronage-, Freundschaftsund Familiennetzwerke auf allen Ebenen der Gesellschaft zusammenhielten. 6 Schon für die Zeitgenossen war dabei der Übergang zwischen legitimem Schenken und illegitimer Korruption durchaus ießend. 7 Und diese soziale Logik der
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Abraham de Wicquefort: L'Ambassadeur, oder Staats-Bothschaffter und dessen hohe Fonctions. Frankfurt am Main 1682, 812 u. 817. Das französische Original L'ambassadeur et ses fonctions. 2 Bde. Den Haag 1680/81, erlebte zahlreiche Nachdrucke und Übersetzungen, vgl. Heidrun Kugeler: ‚Le Parfait Ambassadeur`. The Theory and Practice of Diplomacy in the Century following the Peace of Westphalia. Diss. University of Oxford 2006, 25–27. Wicquefort: L'Ambassadeur, 816–817. Zum Stellenwert des Schenkens in frühneuzeitlichen Gesellschaften vgl. Natalie Zemon Davis: Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance. München 2002 (engl.: The Gift in Sixteenth-Century France. Oxford, New York 2000); Gadi Algazi / Valentin Groebner /Bernhard Jussen (Hrsg.): Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange. Göttingen 2003; Valentin Groebner: Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit. Konstanz 2000; Barbara Stollberg-Rilinger: Zur moralischen Ökonomie des Schenkens bei Hof (17.–18. Jahrhundert). In: Werner Paravicini (Hrsg.): Luxus und Integration. Materielle Hofkultur Westeuropas vom 12. bis zum 18. Jahrhundert. München 2010, 187–204. Vgl. insbes. Groebner: Gefährliche Geschenke; Ronald G. Asch /Birgit Emich /Jens Ivo Engels (Hrsg.): Korruption – Legitimation – Integration. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Brüssel, New York Oxford, Wien 2011; Cordula Bischoff: Complicated Exchanges: The Handling of Authorised and Unauthorised Gifts. In: The Court Historian 12 (2009), 133–148; Jens Ivo Engels /Andreas Fahrmeir /Alexander Nützenadel (Hrsg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa (Historische Zeitschrift, Beiheft 48). München 2009; Niels Grüne /
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auf Gabentausch basierenden persönlichen Treue- und Verp ichtungsverhältnisse, kurz gesagt: das frühneuzeitliche ‚Ethos der Patronage`, 8 bestimmte eben auch die Diplomatie wenigstens bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Dies hat die neuere akteurszentrierte Diplomatiegeschichte eindrücklich gezeigt. 9 Die vielfältigen, durch Gabentausch fundierten sozialen Ver echtungen und Verp ichtungen zwischen den verschiedenen Akteuren an den europäischen Fürstenhöfen ließen, so hat es Hillard von Thiessen formuliert, „gewissermaßen ein einziges grenzüberschreitendes [. . . ] soziopolitisches System entstehen, das zudem durch den gemeinsamen Wertehorizont der europäischen Adelsgesellschaft zusammengehalten wurde.“ 10 Was aber geschah, wenn ein europäischer Diplomat an einen Hof geschickt wurde, der in dieses soziopolitische System nicht integriert war? An einen Hof, bei dem weder der Fürst noch die anderen Amtsträger mit den Eliten der christlich geprägten europäischen Fürstenhöfe in irgendeiner Weise personal ver ochten waren? Wo es keine grenzüberschreitenden Patronageressourcen zu verteilen gab? Mussten Geld und Geschenke in einem solchen interkulturellen Kontext nicht eine wesentlich größere, in jedem Fall aber eine andere Rolle spielen als innerhalb der europäischen Fürstengesellschaft? Inwieweit war die den Lateineuropäern vertraute diplomatische Geschenkpraxis, wie Wicquefort und Lünig sie beschrieben haben, mit den soziopolitischen Verhältnissen, beispielsweise am osmanischen Sultanshof, überhaupt kompatibel?
Simona Slanicka (Hrsg.): Korruption. Historische Annäherungen an eine Grund gur politischer Kommunikation. Göttingen 2010. 8 Vgl. Hillard von Thiessen: Diplomatie vom type ancien: Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens. In: ders./Christian Windler (Hrsg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln, Weimar, Wien 2010, 471–503. 9 Z. B. Hillard von Thiessen: Diplomatie und Patronage. Die spanisch-römischen Beziehungen 1605–1621 in akteurszentrierter Perspektive (Frühneuzeit-Forschungen, 16). Epfendorf 2010; siehe auch Birgit Emich /Nicole Reinhardt /Hillard von Thiessen /Christian Wieland: Stand und Perspektiven der Patronageforschung. Zugleich eine Antwort auf Heiko Droste. In: Zeitschrift für Historische Forschung 32 (2005), 233–265. Mark Häberlein / Christof Jeggle (Hrsg.): Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Konstanz, München 2013; Gerd Althoff /Claudia Garnier (Hrsg.): Die Sprache der Gaben. Regeln der symbolischen Kommunikation in Europa 1000–1700. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N. F. 63 (2015), Heft 1. 10 Thiessen: Diplomatie und Patronage, 121; vgl. auch Emich/Reinhardt/Thiessen/Wieland: Stand, 250–252. Vgl. auch Stollberg-Rilinger: Zur moralischen Ökonomie des Schenkens.
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Fest steht, dass schon die Zeitgenossen in ihrer diplomatischen Korrespondenz und in Reiseberichten wieder und wieder betonten, wie sehr sich die Geschenkpraxis im Osmanischen Reich von jener innerhalb Europas unterscheide. 11 Dieser Diskurs verdichtete sich in der Frühen Neuzeit zum weit verbreiteten Stereotyp des habgierigen und unersättlichen ‚Türken`, das in aller Regel dazu diente, eine de facto asymmetrische Gabentauschsituation für die unterlegenen Westeuropäer in ihrer herabwürdigenden Symbolik zu entschärfen. 12 So zeigten sich lateineuropäische Diplomaten immer wieder befremdet und abgestoßen von der osmanischen Gep ogenheit, hohen wie niederen Amtsträgern bei jeder sich bietenden Gelegenheit Geschenke überreichen zu müssen, und zwar häu g nach genau vorgeschriebenen Tarifen. 13 Tatsächlich galten allerdings bekanntermaßen auch innerhalb Europas im zwischenhö schen Kontakt recht explizite Normen des Schenkens, die sich auf alle sozialen Ebenen erstreckten und in der Praxis der Diplomaten den Stallburschen ebenso betrafen wie den Minister – nicht zuletzt Lünig legt hiervon ein beredtes Zeugnis ab. 14 Doch auch 11 Zur osmanischen Geschenkpraxis insbesondere in diplomatischen Kontexten s. Hedda Reindl-Kiel: Pracht und Ehre. Zum Geschenkwesen im Osmanischen Reich. In: Klaus Kreiser/Christoph K. Neumann (Hrsg.): Das Osmanische Reich in seinen Archivalien und Chroniken. Nejat Göyünç zu Ehren. Istanbul 1997, 161–189; dies.: Der Duft der Macht. Osmanen, islamische Tradition, muslimische Mächte und der Westen im Spiegel diplomatischer Geschenke. In: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 95 (2005), 195– 258; dies.: East is East and West is West, and Sometimes the Twain Did Meet. Diplomatic Gift Exchange in the Ottoman Empire. In: Colin Imber /Keiko Kiyotaki/Rhoads Murphey (Hrsg.): Frontiers of Ottoman Studies: State, Province, and the West. Bd. 2. London, New York 2005, 113–123; Suraiya Faroqhi: Bringing Gifts and Receiving Them: The Ottoman Sultan and his Guests at the Festival of 1720. In: Barbara Schmidt-Haberkamp (Hrsg.): Europa und die Türkei im 18. Jahrhundert /Europe and Turkey in the 18th Century. Bonn 2011, 383–402. 12 Vgl. hierzu auch Christian Windler: Tribut und Gabe. Mediterrane Diplomatie als interkulturelle Kommunikation. In: Saeculum 51 (2000), 24–56; Peter Burschel: Der Sultan und das Hündchen. Zur politischen Ökonomie des Schenkens in interkultureller Perspektive. In: Historische Anthropologie 15 (2007), 408–421; Ernst Dieter Petritsch: Tribut oder Ehrengeschenk? Ein Beitrag zu den habsburgisch-osmanischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: Elisabeth Springer/Leopold Kammerhofer (Hrsg.): Archiv und Forschung. Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in seiner Bedeutung für die Geschichte Österreichs und Europas. Wien, München 1993, 48–58. 13 Vgl. neben den in Anm. 11 genannten auch Christine Vogel: Gut ankommen. Der Amtsantritt eines französischen Botschafters im Osmanischen Reich im späten 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 21 (2013), 158–178. 14 Vgl. Lünig: Theatrum, Bd. 1, 388–389. Vgl. auch das in dieser Hinsicht besonders aussagekräftige Fallbeispiel bei Evelyn Korsch: Geschenke im Kontext von Diplomatie und symbolischer Kommunikation. Der Besuch Heinrichs III. in Venedig 1574. In: Häberlein/
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wer es jenseits der hohen Diplomatie mit den entstehenden Zentralverwaltungen im frühneuzeitlichen Fürstenstaat zu tun bekam, konnte häu g Ähnliches berichten wie die lateineuropäischen Diplomaten im Osmanischen Reich: Nichts ging ohne Geschenke. So ritt, wie Natalie Z. Davis zu berichten weiß, Mitte des 16. Jahrhunderts Sire Gilles de Gouberville „nie ohne Wildbret in der Satteltasche nach Valognes, dem Verwaltungszentrum in der Nähe seiner Grundherrschaft, um dort einen Beamten zu treffen: eine Hälfte eines Zickleins für den Steuereinnehmer, ein Zicklein für den obersten Justizbeamten; zwei Rebhühner für den Gerichtsschreiber für die Abschrift von Dokumenten aus seinen anhängigen Prozessen (neben den drei sous an den Schreiber, der die eigentliche Arbeit tat) und anderes mehr.“ 15 Generell erhielten königliche Amtsträger wie Gouverneure, Richter, Statthalter oder Gerichtsschreiber im frühneuzeitlichen Frankreich zur Amtseinführung und bei allen möglichen späteren Gelegenheiten ganz selbstverständlich Geschenke von den Untertanen, woran auch wiederholte königliche Ordonnanzen, die dies untersagten, nichts änderten. 16 Insofern stellt sich die Frage, inwieweit die stereotypen Klagen der westeuropäischen Diplomaten über die Habgier osmanischer Würdenträger auf tatsächlichen Differenzerfahrungen beruhten oder ob diese Abgrenzungsdiskurse nicht vielmehr ganz anderen Zwecken dienten, die mit der Sache selbst, der diplomatischen Geschenkpraxis, gar nicht so viel zu tun hatten. Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, zunächst einmal die interkulturellen diplomatischen Geschenkpraktiken in der Frühen Neuzeit selbst näher und systematischer zu untersuchen, als dies bislang geschehen ist. 17 Ich möchte
Jeggle: Materielle Grundlagen, 103–120; sowie Gerd Althoff /Barbara Stollberg-Rilinger: Die Sprache der Gaben. Zu Logik und Semantik des Gabentauschs im vormodernen Europa. In: Althoff /Garnier: Sprache, 1–22, hier 12. 15 Davis: Schenkende Gesellschaft, 126. Ähnliche Erfahrungen machte Gilles de Gouberville auch bei Hofe, vgl. Sharon Kettering: Patrons, Brokers, and Clients in Seventeenth-Century France. New York, Oxford 1986, 197. 16 Davis: Schenkende Gesellschaft, 125–127. 17 Christian Windler untersucht in seiner Studie zur interkulturellen diplomatischen Praxis im Mittelmeerraum auch Geschenkpraktiken an zentraler Stelle, fokussiert aber mit der ‚Sattelzeit` vom späten 18. zum frühen 19. Jahrhundert einen Zeitraum, in dem sich die politischen und sozialen Rahmenbedingungen – nicht nur in Bezug auf die Entwicklung der lateineuropäischen Diplomatie, sondern auch im Hinblick auf die osmanisch-westeuropäischen Beziehungen – bereits deutlich verändert hatten; zudem war der völkerrechtliche Status der vom Osmanischen Reich nur de facto unabhängigen Regentschaft Tunis umstritten, was sich u. a. darin äußerte, dass die westeuropäischen Mächte lediglich Konsuln entsandten, die sich in Funktion, Amtskompetenzen und repräsentativem Status deutlich von den in Konstantinopel residierenden ambassadeurs unterschieden, vgl. Windler:
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dies im Folgenden am Beispiel französischer Diplomaten im Osmanischen Reich zur Zeit Ludwigs XIV. beziehungsweise Mehmeds IV. tun und dabei danach fragen, wie Geschenke von den lateinchristlichen Diplomaten im Osmanischen Reich überhaupt eingesetzt wurden und wie die französischen Diplomaten die verschiedenen Anlässe und Gegenstände des Schenkens re ektierten, die ihren Alltag prägten. Ziel wäre es, mithilfe einer basalen Typologie die stereotypen Selbst- und Fremdzuschreibungen der Zeitgenossen hinter sich zu lassen und zu einer differenzierteren Einschätzung von Funktion und Bedeutung diplomatischer Geschenkpraktiken in interkulturellen Kontexten zu kommen.
I. Eine Typologie des diplomatischen Schenkens In den Quellen begegnen uns ganz unterschiedliche Praktiken des Schenkens. Eine einfache Dichotomie von öffentlichem versus geheimem Schenken zur Abgrenzung von legitimer Praxis und illegitimer Korruption, wie sie in der Forschung häu g anzutreffen ist, 18 hilft an dieser Stelle allerdings nicht weiter, und zwar weil die hier untersuchten sozialen Praktiken selbst durch subtile und komplexe Abstufungen von Öffentlichkeit und Geheimnis gekennzeichnet waren. 19 Schaut man also auf die verschiedenen sozialen Kontexte des interkulturellen diplomatischen Schenkens, so lassen sich nach meiner Einschätzung im Wesentlichen drei verschiedene Kategorien unterscheiden: das of zielle und repräsenTribut und Gabe sowie ders.: La diplomatie comme expérience de l'Autre. Consuls français au Maghreb (1700–1840). Genf 2002, insbes. 485–548. Einige der Entwicklungen, die Windler mit Blick auf die französisch-tunesischen Beziehungen in der Sattelzeit verortet, scheinen sich auf der auch in Westeuropa weithin sichtbaren diplomatischen Bühne in der osmanischen Hauptstadt bereits seit dem späten 17. Jahrhundert abzuzeichnen, so z. B. der Wandel von Geschenken, die den Charakter von Tributen hatten, zu kompetitiven Gaben, bei denen vor allem Franzosen und Engländer durch den Symbolgehalt ihrer Geschenke technologische wie kulturelle Überlegenheit zu vermitteln versuchten, vgl. die Beispiele im Folgenden sowie meine in Vorbereitung be ndliche Habilitationsschrift „Der honnête homme beim Großwesir. Diplomatie als transkulturelle Praxis zur Zeit Ludwigs XIV.“ 18 Z. B. bei Jeannette Falcke: Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgisch-preußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 31). Berlin 2006; Groebner: Gefährliche Geschenke; Algazi /Groebner /Jussen: Negotiating the Gift; Jens-Ivo Engels /Andreas Fahrmeir /Alexander Nützenadel: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Geld – Geschenke – Politik, 1–15, hier 4. Anders aber: Davis: Schenkende Gesellschaft. 19 So umfasste das Aktionsfeld frühneuzeitlicher Diplomaten demonstratives Symbolhandeln in öffentlichen Räumen ebenso wie zielorientierte Verhandlung in of ziellen Kontexten mit strategisch ausgewählten Partnern sowie schließlich Informationsbeschaffung und -weitergabe, die zu einem mehr oder weniger großen Teil im Geheimen stattfanden.
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tative, das pragmatisch-instrumentelle sowie das informelle und okkasionelle Schenken. Jede dieser Kategorien des Schenkens hatte ihre eigene Funktion und Bedeutung im Rahmen der diplomatischen Praxis. Am meisten wissen wir über das of zielle, repräsentative Geschenkwesen. Die europäischen Mächte waren im Osmanischen Reich mit einem Hofzeremoniell konfrontiert, das die Übergabe von Geschenken an den Sultan und die wichtigsten Würdenträger des Reiches ins Zentrum rückte und genau reglementierte. 20 In den europäischen Archiven haben sich deshalb umfangreiche Geschenklisten erhalten, die Art und Qualität der Geschenke ebenso wie ihren genauen Geldwert und die verschiedenen Empfänger und Anlässe des Schenkens dokumentieren. Die hochrangigen Würdenträger, denen der Botschafter bei seinem Amtsantritt im Rahmen öffentlicher Audienzen seine Aufwartung machte, 21 erhielten neben dem P ichtgeschenk, das in der Regel aus wertvollen Textilien bestand, auch noch sogenannte ‚außerordentliche`, das heißt in Wert und Beschaffenheit nicht genau de nierte Geschenke: meistens Uhren, Messinstrumente und wertvollen Schmuck. Auch die wichtigen Mitglieder des Haushalts dieser Amtsträger erhielten nach ihrem Rang abgestufte Geschenke, bis hin zum subalternen Dienstpersonal, das häu g einfach Geld bekam: „Et cinquante trois piastres en argent aux bas of ciers“, vermerkte etwa eine Geschenkliste aus der Zeit Ludwigs XIV. am Ende summarisch. 22 Hatten diese of ziellen Geschenkforderungen noch im 16. Jahrhundert regelmäßig zu Irritationen und teils auch zu handfesten Kon ikten geführt, 23 so p egten die französischen Botschafter im späten 17. Jahrhundert einen äußerst pragmatischen Umgang mit ihnen: Man informierte sich zunächst direkt bei seinen
20 Vgl. Gülrü Necipoglu: ˘ Architecture, Ceremonial, And Power: The Topkap Palace in the Fifteenth and Sixteenth Centuries. Cambridge, London 1991; Hakan T. Karateke: Introduction. In: ders. (Hrsg.): An Ottoman Protocol Register. Containing Ceremonies from 1736 to 1808. BEO Sadaret defterleri 350 in the Prime Ministry Ottoman State Archives. Istanbul, London 2007, 1–42. 21 Hierzu zählten immer zumindest der Sultan und der Großwesir, häu g und situationsbedingt aber auch noch andere hohe Amtsträger wie z. B. der Kaymakam in Konstantinopel, der Kapudan Pascha und der Großmufti, vgl. z. B. Estat des presents que l'Ambassadeur de France est obligé de Faire à l'audience du Grand Seigneur [. . . ], Archives du Ministère des affaires étrangères, Paris-La Courneuve, MD Turquie 105, fol. 83r–85 r. 22 Ebd., fol. 83 r. 23 Vgl. diverse Beispiele aus der Regierungszeit Heinrichs II., Karls IX. und Heinrichs III. bei Ernest Charrière (Hrsg.): Négociations de la France dans le Levant; ou, Correspondances, mémoires et actes diplomatiques des ambassadeurs de France à Constantinople [. . . ]. Bd. 2. Paris 1850, 401, 682–687, 762–763; Bd. 3. Paris 1853, 266, 445–453, 563–575, 589–590, 642–643.
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Amtsvorgängern oder in den Unterlagen, die – mit etwas Glück – beim zuständigen Staatssekretär archiviert waren. Der designierte Botschafter beschaffte dann die Geschenke zumeist noch in der Heimat möglichst kostengünstig zunächst auf eigene Rechnung und erhielt später eine Grati kation zur Kostenerstattung. 24 Da diese Geschenke allerdings dazu bestimmt waren, im Rahmen von öffentlichen Audienzen überreicht zu werden, ging es allem Pragmatismus zum Trotze am Ende dann doch vor allem um ihren symbolischen Mehrwert. Im zeremoniellen Kontext nämlich dienten die Geschenke, genau wie andere Elemente des Zeremoniells, vor allem dazu, Geltungsansprüche und Machtverhältnisse zwischen Osmanen und Europäern symbolisch zu verhandeln. Bei der Audienz des Sultans etwa, die den symbolischen Höhepunkt einer jeden diplomatischen Mission darstellte, wurden die Geschenke vor größtmöglichem Publikum, in der Regel am ‚Zahltag` der Janitscharen, wenn Tausende im Innenhof des Topkap Palasts versammelt waren, als Teil der Empfangszeremonie vom Großwesir unter freiem Himmel in Augenschein genommen. Allein der demonstrative Modus der Geschenkübergabe war daher aus Sicht der lateineuropäischen Mächte problematisch, denn so konnten ihre Gaben allzu leicht als Tribute gedeutet werden. 25 Die westeuropäischen Diplomaten entwickelten daher im Laufe der Zeit verschiedene Strategien, um angesichts der offensichtlichen Asymmetrie des Austauschs ihr Gesicht wahren zu können. So handelten sie die Details der Geschenkübergabe in ihren Audienzschilderungen eher kurz und lakonisch ab oder aber sie setzten darauf, dass die teils aufwendigen und häu g sehr wertvollen technischen Instrumente zumindest die technologische Überlegenheit der Westeuropäer unterstrichen. Waren die Umstände günstig, konnte man durchaus auch einen anderen Übergabemodus aushandeln – etwa eine Übergabe im Morgengrauen oder am Vortag. 26 Schließlich konnte in den Berichten an den eigenen Hof immer auf das Stereotyp des habgierigen Türken zurückgegriffen werden, um sich zumindest moralisch in die überlegene Position zu bringen. Dass auch die Botschafter bei ihren Antrittsaudienzen Geschenke erhielten, machte die Sache nicht unbedingt besser. Als besonders ambivalent müssen in diesem Kontext die Ehrengewänder gelten, die der Sultan zu Beginn, die übrigen Würdenträger am Ende der Audienzen an ihre Gäste verteilten. Das Ehrenge-
24 Diese Vorgehensweise ist z. B. bei Pierre Girardin bezeugt, vgl. [Pierre Girardin]: Journal de mon ambassade à la Porte. Bd. 1. Bibliothèque nationale de France (im Folgenden: BnF) FR 7162, fol. 43 r–48r. 25 Vgl. Burschel: Der Sultan; Windler: Tribut und Gabe; ders.: Diplomatie comme expérience, 485–548. 26 Dies gelang z. B. Pierre Girardin, vgl. [Girardin]: Journal. Bd. 3. BnF FR 7164, fol. 75 v.
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wand war in islamischen Kulturen schon im Mittelalter eine weit verbreitete Gabe mit hohem Symbolwert, denn sie wies den Beschenkten als Vasallen des Schenkenden aus, und auch im Gabensystem der Osmanen hatte sie von Beginn an einen festen Platz. 27 Es lässt sich zwar diskutieren, ob diese starke symbolische Bedeutung im 17. Jahrhundert bei den Osmanen noch mit den Ehrenkaftanen verbunden wurde oder ob die Europäer sich dieses Symbolgehalts überhaupt bewusst waren; in jedem Fall aber galten Anzahl und Qualität der im Rahmen von Audienzen überreichten Kaftane als Maßeinheit für die Ehre, die einem Gast erwiesen wurde. Insofern boten diese Geschenke reichlich Anlass für diplomatische Verwicklungen, sowohl zwischen Lateineuropäern und Osmanen als auch unter den Vertretern der westeuropäischen Mächte vor Ort. 28 Ebenfalls in diesen Bereich des öffentlichen und repräsentativen Schenkens gehörten die sogenannten ‚P ichtgeschenke`, die der Botschafter wichtigen, aber nicht unbedingt immer hochrangigen Würdenträgern des Reichs zum Amtsantritt oder an besonderen Feiertagen zu machen hatte. Diese Geschenke wurden in der Regel nicht persönlich übergeben, sondern ohne weiteres Zeremoniell durch Dolmetscher oder anderes Botschaftspersonal überreicht. Sie wurden von den Osmanen gewohnheitsmäßig eingefordert und von den europäischen Vertretern ebenso gewohnheitsmäßig zu umgehen versucht, denn sie galten als ehrenrührig und in ihrer Masse und Häu gkeit auch als kostspielig. Vor allem aber brachten sie nichts. Solche Geschenke waren, um mit Lünig zu sprechen, „wie die P antzen, die man in ein unfruchtbahres Erdreich setzet und keine Frucht bringen.“ 29 Es waren öffentliche Ehrengaben, die Rang und Funktion eines Würden-
27 N. A. Stillman: „Khilca“. In: Encyclopaedia of Islam. 2. Au . Bd. 5. Leiden 1986, 6–7; Olivia Pelletier: Les robes d'honneur et les ambassades européennes à la Cour ottoman. In: Anne de Margerie /Laurence Posselle (Hrsg.): Topak à Versailles. Trésor de la Cour ottomane. Musée Nationale des Châteaux de Versailles et de Trianon, 4 mai – 15 août 1999. Paris 1999, 89–100; Monika Springbert-Hinsen: Die Hil'a. Studien zur Geschichte des geschenkten Gewandes im islamischen Kulturkreis. Würzburg 2000, 242; Suraiya Faroqhi: Introduction, or why and how one might want to study Ottoman clothes. In: dies./Christoph K. Neumann (Hrsg.): Ottoman Costumes. From Textile to Identity. Istanbul 2004, 15–48. 28 Beispiele bei Burschel: Der Sultan, 418; Florian Kühnel: Ein Königreich für einen Botschafter. Die Audienzen Thomas Bendishs in Konstantinopel während des Commonwealth. In: Peter Burschel /Christine Vogel (Hrsg.): Die Audienz. Ritualisierter Kulturkontakt in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 2014, 125–159, hier 132–133; Christine Vogel: The Caftan and the Sword. Dress and Diplomacy in Ottoman-French Relations Around 1700. In: Claudia Ulbrich /Richard Wittmann (Hrsg.): Fashioning the Self in Transcultural Settings: The Uses and Signi cance of Dress in Self-Narratives. Würzburg 2015, 25–44. 29 Lünig: Theatrum, Bd. 1, 388.
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trägers performativ herstellten, und eben gerade nicht Bestechungsgeschenke; man konnte mit diesen Geschenken keine konkrete Verp ichtung des Beschenkten erreichen. Deswegen waren an diese Gaben seitens der europäischen Diplomaten auch keinerlei Erwartungen in Bezug auf irgendwelche Gegenleistungen geknüpft. Das unterschied diese Formen des of ziellen und öffentlichen Schenkens von jenen, die ich als pragmatisch-instrumentell bezeichnen würde. Diese Geschenke waren nicht unbedingt geheim, sondern konnten mitunter ausgesprochen demonstrativen Charakter haben. Christliche Diplomaten haben häu g und regelmäßig Geschenke an osmanische Amtsträger verteilt, um eine ganz bestimmte, genau de nierte Gegenleistung zu erhalten, zum Beispiel die Ausstellung eines Dokuments oder die Umsetzung einer Anordnung des Großwesirs. Als etwa der Botschaftssekretär La Croix im Februar 1674 im Auftrag seines Dienstherrn nach Edirne/Adrianopel reiste, wo der Sultanshof gerade residierte, hatte er ganz selbstverständlich einen ganzen Koffer dabei, der „six cent sequins Ventiens, et plusieurs montres d'or pour des presens“ enthielt. 30 Empfänger dieser Gaben waren verschiedene osmanische Amtsträger, mit denen es der Botschaftssekretär im Verlauf seiner Mission zu tun bekam, darunter beispielsweise ein General, der La Croix auf einer Reise durch Kriegsgebiet Geleitschutz gewährt hatte. 31 Diese Art des Schenkens hatte also eigentlich den Charakter von Bezahlungen für Dienstleistungen. Entscheidend ist, dass dieses instrumentelle, pragmatische Schenken in der Regel nur auf der subalternen Arbeitsebene stattfand; es war nämlich unvereinbar mit dem Rang eines Botschafters, der nach lateineuropäischem Selbstverständnis als ‚Abbild` seines Herrn galt und somit einen besonderen repräsentativen Status innehatte. 32 Dieser Sonderstatus spielte im Kontext von Zeremonien eine entscheidende Rolle, konnte aber auch im diplomatischen Alltag des Botschafters nicht einfach abgelegt werden. So konnten instrumentelle Geschenke zwar im inof ziellen Auftrag des Botschafters verteilt werden, nicht aber durch ihn persönlich. Es gab aber auch andere Formen des Schenkens außerhalb repräsentativer und öffentlicher, das heißt zeremonieller Kontexte, und die gehörten auch und gerade zum Handlungsrepertoire der ranghöchsten Diplomaten, der Botschafter. 30 Journal du S.r de la Croix Secretaire de l'Ambassade de France à la Porte Otomane. I. Partie, BnF FR 6101, 34. 31 Ebd., 336–337. 32 Vgl. hierzu André Krischer: Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Kauz/Giorgio Rota/Jan Paul Niederkorn (Hrsg.): Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der frühen Neuzeit. Wien 2009, 1–32.
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Wenn nämlich der Botschafter selbst Geschenke machte, dann standen zumeist andere Dinge auf dem Spiel als reine Dienstleistungen, die erkauft werden mussten; dann ging es fast immer um Netzwerkbildung und Informationsbeschaffung. Wir kommen damit in den interessanten Bereich jener Praktiken, von denen anfangs bei Lünig die Rede war. Es ist kein Zufall, dass Lünig im Zusammenhang mit diesen Geschenken die Semantik der Freundschaft bemühte. Es gehe darum, schrieb er, sich mit Geschenken fremde Amtsträger ‚zu Freunden` zu machen. Das bedeutete in aller Regel natürlich nicht, dass man intime Vertrauensverhältnisse anstrebte. Freundschaft – amitié – hatte im zeitgenössischen Sprachgebrauch ein ausgesprochen weit gefasstes Bedeutungsspektrum, das auch die asymmetrische Beziehung zwischen Patron und Klient rhetorisch verdecken konnte. Der Begriff implizierte nicht zwangsläu g eine besondere Intimität oder eine starke emotionale Bindung. 33 Diese konnte es aber durchaus geben, und das macht die Angelegenheit so kompliziert, wenn der Begriff in den Quellen auftaucht. Auch wenn also in jedem Einzelfall genau geprüft werden muss, was gemeint ist, wenn von Freundschaft die Rede war, so bezeichnete der Begriff doch in jedem Fall eine privilegierte soziale Beziehung und gegenseitige Verbundenheit, und Geschenke dienten dazu, solche Beziehungen zu stiften und zu erhalten. Für den Botschafter bedeutete dies, dass er sorgfältig abwägen musste, wem er persönlich und im eigenen Namen Geschenke machen konnte, ohne seinen Rang und Status und damit letztlich auch die Ehre seines Auftraggebers zu kompromittieren. Er musste sich Gedanken darüber machen, in welchen Situationen ein Geschenk opportun und nützlich war und was sich als Geschenk überhaupt eignete. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass gerade die inof zielle und okkasionelle diplomatische Geschenkpraxis – zwischen den beiden Polen des pragmatischinstrumentellen und des zeremoniellen, repräsentativen Schenkens – uns sehr viel darüber verrät, wie die Botschafter sich selbst in ihrem Umfeld verorteten, wie sie ihren eigenen Rang im Hinblick auf die verschiedenen Akteure am Sultanshof und in der osmanischen Verwaltung einschätzten und welchen Charakter die Beziehungen hatten, die sie und ihr engeres Umfeld mit Osmanen unterhielten. Wir können aus diesen Praktiken auch Rückschlüsse darauf ziehen, welche Handlungsspielräume ein Botschafter hatte und wie sich diese von Botschafter zu Botschafter möglicherweise unterschieden. Dazu ist dann allerdings auch zu dis33 Vgl. Arlette Jouanna: „Amitié“. In: Lucien Bély (Hrsg.): Dictionnaire de l'Ancien Régime. Royaume de France XVIe–XVIIIe siècle. 3e édition „Quadrige“, Paris 2010, 56–58; Christian Kühner: Politische Freundschaft bei Hofe. Repräsentation und Praxis einer sozialen Beziehung im französischen Adel im 17. Jahrhundert. Göttingen 2013.
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kutieren, wie wirksam diese Geschenke eigentlich waren beziehungsweise worin genau ihr Nutzen bestand: Wie wurden sie angenommen? Gab es hier, anders als bei den beiden anderen Arten des Schenkens, eine wirkliche Reziprozität? Konnten Geschenke tatsächlich Freundschaften zwischen Osmanen und Franzosen stiften, und wenn ja, welchen Charakter hatten diese Freundschaften und welche Bedeutung kam ihnen für die diplomatische Praxis zu?
II. Geschenke als Medien diplomatischer Netzwerkbildung Es liegt in der Natur der Sache, dass dieses inof zielle und okkasionelle Geschenkwesen wesentlich weniger gut in den Quellen dokumentiert ist als das of zielle und repräsentative. Wir sind auf wenige verstreute Bemerkungen angewiesen, die außerdem quellenkritisch zu hinterfragen sind. Ein besonders gut dokumentiertes Beispiel, das des französischen Botschafters Pierre Girardin, der von 1686 bis 1688 amtierte und ein ausführliches Tagebuch hinterlassen hat, kann dies verdeutlichen. Im Sommer 1687, wenige Monate vor der Absetzung Mehmeds IV., konnte Girardin Ludwig XIV. Interna über die politische Krise und die Machtkämpfe am Sultanshof berichten. Er habe, schrieb Girardin dann, diese Informationen vom Schwertträger des Sultans, dem Silâhdar Aga, der in Kürze eine der Töchter des Sultans heiraten solle. Mit diesem ranghohen Of zier stehe er seit seiner Antrittsaudienz, also seit rund 1½ Jahren, in engem Austausch („correspondance“), den er seinerzeit mit kleinen Geschenken, nämlich Blumen und Kon türen, angefangen habe. 34 Tatsächlich wissen wir aus einer Tagebuchnotiz von Girardin, dass der Silâhdar Aga den französischen Botschafter durch zwei Mittelsmänner schon im März 1686 hatte wissen lassen, er setze sich im Serail für die Belange des Botschafters ein und suche seine Freundschaft. 35 Der Botschafter hatte diese Freundschaftsanfrage offensichtlich mit den oben erwähnten Geschenken beantwortet und damit einen langfristigen Kontakt initiiert, der zwar keine persönlichen Treffen beinhaltete, von Girardin aber als verbindliche und zuverlässige Freundschaft verbucht wurde: „il m'envoye souvent un Renegat Italien auquel j'aprens les nouvelles publiques, a proportion qu'il m'jnforme de ce qui se passe au Serail, nôtre convention ayant esté faite sur ce pied là.“ 36 Auch Geschenke ließ Girardin dem Silâhdar Aga immer wieder übersenden, beispielsweise im August 1687 anlässlich des Bayrams ‚Ungarisches Wasser`, ein Parfum, das am Hofe Ludwigs XIV. 34 [Girardin]: Journal. Bd. 8, BnF FR 7169, fol. 194 v–195 r. 35 Vgl. ebd., Bd. 2, BnF FR 7164, fol. 431 r [März 1686]. 36 Ebd., Bd. 8, BnF FR 7169, fol. 195r.
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besonders populär war. 37 Ob auch er Geschenke vom Silâhdar Aga erhielt, hat er in seinem Tagebuch leider nicht vermerkt, unwahrscheinlich ist es aber nicht. Festzuhalten bleibt hier jedenfalls, dass es Girardin offensichtlich gelungen war, sich zumindest einen ranghohen Würdenträger am Sultanshof langfristig zum ‚Freund` zu machen, dass es in dieser Freundschaft um den regelmäßigen Austausch von Informationen ging und dass die gegenseitige Verbundenheit mit Geschenken unterstrichen wurde. Und diese Geschenke hatten – im Unterschied zu den P ichtgeschenken für die osmanischen Amtsträger und zu den Korruptionsgaben – eben gerade keinen hohen materiellen Wert und auch keinen ausgeprägten Symbolwert: Blumen, Kon türen, Parfum – das waren Verbrauchsgüter, Gaben um des Gebens willen; sie waren nicht dazu angetan, Abhängigkeiten zu begründen, und sie waren im Kon iktfall auch nicht wirklich geeignet, Geber oder Nehmer zu kompromittieren. Das machte sie aber nicht weniger bedeutsam: Sie versicherten nämlich beide Seiten immer wieder aufs Neue des Einvernehmens, das man stillschweigend getroffen hatte, „nôtre convention“, wie Girardin das nannte. 38 Es gibt im Tagebuch des Botschafters Hinweise darauf, dass er ähnliche Beziehungen auch zu anderen Osmanen unterhielt. Diese ‚Freundschaften` waren wichtig für Girardin, denn durch sie, so glaubte er, konnte er am Ende sogar an der of ziellen Hierarchie vorbei bis zum Sultan vordringen – und zwar mit Geschenken. 39 Einer seiner osmanischen Freunde, Gümrükçü Hüseyin, der Leiter des Zollamts, hatte Girardin im Mai 1686 um französisches Marzipan und Kon türen gebeten, „pour régaler le G. S.“ 40, also um den Sultan damit zu bewirten. Bald darauf forderte der Sultan die Köche und Sommeliers des Botschafters an, um diese Köstlichkeiten direkt in seinem Palast herzustellen. 41 Girardin frohlockte in einem Brief an einen Freund: „Je fais assurement trois fois plus de dépense que n'en ont fait aucuns representans, mais aussy je suis une espece de Ministre Ottoman et je me fais considerer autant que je le veux, je reçois tous les jours des Messagers de sa hautesse qui a trouvé mes sommeliers fort habiles, Ils travaillent jour et nuit a brûler du sucre à mes Dépens pour son service, Je tascheray de luy procurer les moyens de me recompenser de mes frais sans qu'il luy en coute rien.“ 42 37 Ebd., fol. 261 r; vgl. Paul Dorveaux: L'Eau de la Reine de Hongrie. In: Bulletin de la Société d'Histoire de la Pharmacie 6 (1918), 358–361. 38 [Girardin]: Journal. Bd. 8, BnF FR 7169, fol. 195 r. 39 Vgl. zum Folgenden auch Vogel: Gut ankommen. 40 [Girardin]: Journal. Bd. 3, BnF FR 7164, fol. 206r/63. 41 Ebd., fol. 209v /S. 70. 42 Ebd., fol. 272v /S. 196.
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Mit anderen Worten: Auch den Sultan konnte man mit Geschenken und Freundschaftsdiensten verp ichten, das jedenfalls glaubte Girardin. Oder zumindest wollte er es seine Vorgesetzten glauben machen. Denn wenn Girardin in seinen Briefen diese Geschenke und die durch sie gestifteten Freundschaften erwähnte, dann nie ohne darauf hinzuweisen, wie nützlich all das für den Dienst des Königs und die Interessen seiner Untertanen sei. 43 Girardin unterstrich mit der Erwähnung seiner osmanischen Freunde also vor allem erst einmal, in Lünigs Worten, seine „extraordinäre Dexterität“.
III. Fazit: viele Geschenke – prekäre Beziehungen Insofern sollten wir den überaus positiven Einschätzungen in Bezug auf die unmittelbare politische Wirksamkeit des inof zellen Schenkens, die wir bei Girardin und anderen Diplomaten nden, mit einer gewissen Skepsis begegnen. Ein anderer Zeitgenosse, der Engländer Paul Rycaut, hat dazu eine sehr dezidiert kritische Meinung formuliert. Rycaut hat selbst lange Zeit als Diplomat im Osmanischen Reich gelebt, zunächst sechs Jahre als Sekretär des englischen Botschafters in Istanbul und dann noch einmal elf Jahre als Konsul in Smyrna. 44 Er wusste also ziemlich gut, wovon er sprach, und er wandte sich hier auch nicht an seine Vorgesetzten, denen er irgendetwas beweisen wollte, sondern an das europäische Lesepublikum, dem er 1667 das Buch „The Present State of the Ottoman Empire“ vorlegte. 45 In diesem Buch formulierte er auch Handlungsmaximen für Botschafter im Osmanischen Reich. Unter anderem empfahl er ihnen, nicht allzu viel Mühe darauf zu verwenden, sich mit ‚Türken` anzufreunden: „It is certainly a good Maxim for an Embassador in this Country, not to be over-studious in procuring a familiar friendship with Turks; a fair comportment towards all in a moderate way, is cheap and secure; for a Turk is not capable of real friendship towards a Christian; and to have him called only, and thought a 43 Ebd., Bd. 2, BnF FR 7163, fol. 349v /S. 150: „[. . . ] j'ay lieu d'esperer qu'il me sera facile d'estre bien informé de toutes choses, et de ce qui concernera les interests de V. M. et de ses sujets.“ 44 Von 1667–1678, vgl. Sonia P. Anderson: An English Consul in Turkey. Paul Rycaut at Smyrna, 1667–1678. Oxford 1989; dies.: „Rycaut, Sir Paul (1629–1700)“. In: H. C. G. Matthew/Brian Harrison (Hrsg.): Oxford Dictionary of National Biography. From the Earliest Times to the Year 2000. Bd. 48. Oxford 2004, 439–443; Colin J. Heywood: Sir Paul Rycaut (1628–1700), a Seventeenth-Century Observer of the Ottoman State. Notes for a Study. In: ders. (Hrsg.): Writing Ottoman History. Documents and Interpretations. Aldershot, Burlington 2002, 33–59. G. F. Abbott: Under the Turk in Constantinople. A Record of Sir John Finch's Embassy, 1674–1681. London 1920, 51–53. 45 Allein im 17. und 18. Jahrhundert mehr als 40 Auflagen und Übersetzungen, vgl. Anderson: An English Consul, 294–295.
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friend who is in power, is an expence without pro t; for in great emergencies, and times of necessity, when their assistance is most useful, he must be bought again, and his friendship renewed with Presents, and farther Expectations.“ 46 Wahre Freundschaft zwischen Christen und Türken sei nicht möglich, stellte Rycaut fest. Sie sei immer prekär und müsse im Zweifelsfall mit Geschenken immer wieder neu und teuer erkauft werden. Diese Aussage sollte nicht einfach nur als zeitgenössische Borniertheit und Stereotypie abgetan werden, und es ist bezeichnend, dass Rycaut hier gerade nicht das Klischee vom habgierigen Türken bedient. Aus diesen Sätzen spricht vielmehr die Frustration eines Menschen, der vermutlich in seiner beruflichen Praxis jahrelang bemüht gewesen war, Freundschaften zu Osmanen zu unterhalten, und damit offensichtlich immer wieder an Grenzen gestoßen ist. Das Problem lag dabei vermutlich weniger im vermeintlich habgierigen Charakter der ‚Türken`, sondern in den Grenzen der interkulturellen Soziabilität. Die informellen Geschenke, von denen wir in der Botschafterkorrespondenz lesen konnten, waren nämlich so ziemlich das einzige Mittel, das den Diplomaten zur Verfügung stand, um Freundschaften mit Osmanen zu knüpfen. Das Schenken, von dem Lünig schrieb, konnte für Diplomaten innerhalb der europäischen Fürstengemeinschaft aber nur deshalb so gut als Medium der Netzwerkbildung funktionieren, weil es hier eingebettet war in ein ganzes Spektrum von Freundschaftspraktiken, die erst in ihrer Kombination dazu angetan waren, Vertrauen zu stiften und damit auch engere und stabilere Verbindungen zu knüpfen. Zu diesen Praktiken gehörten wechselseitige Besuche, gemeinsames Essen, gemeinsame Unternehmungen wie zum Beispiel Aus üge, Spiele oder die Jagd 47 – all diese Soziabilitätsformen waren im Rahmen der europäischen Adelsgesellschaft einem Diplomaten auch an fremden Höfen möglich. Im Osmanischen Reich hingegen war dies weitaus schwieriger. Es kam schon vor, dass Osmanen und Europäer gemeinsam speisten oder jagten, aber das war immer eine Ausnahme, nicht die Regel. 48 Ich glaube deshalb, dass es problematisch ist, von einer gemeinsamen
46 Paul Rycaut: The History of the Present State of the Ottoman Empire. London 1682, 170. 47 Hierzu Kühner: Politische Freundschaft, 250–262. 48 Vgl. die zahlreichen Zeugnisse über Langeweile und Isolation in der Korrespondenz der französischen Diplomaten, z. B. bei Pierre Girardin: Journal. Bd. 4, BnF FR 7165, fol. 91 r; 279 r, 299r–v; Bd. 7, BnF FR 7168, fol. 84r; Bd. 8, BnF FR 7169, fol. 315v; Bd. 9, BnF FR 7170, fol. 349r–v. Vgl. auch: Christine Vogel: Der Sonnenkönig an der Hohen Pforte: Herrschaftsrepräsentation und diplomatische Soziabilität im Palais de France in Konstantinopel. In: Claudia Garnier /Christine Vogel (Hrsg.): Interkulturelle Ritualpraxis in der Vormoderne: Diplomatische Interaktion an den östlichen Grenzen der Fürstengesellschaft (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 52). Berlin 2016, 123–144.
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Soziabilität osmanischer und lateineuropäischer Eliten in Istanbul einfach auszugehen. 49 Und gerade weil die als Freundschaftsgaben gedachten Geschenke also weitgehend isoliert von anderen Freundschafts- und Gabentauschpraktiken waren, konnten sie nur eine sehr begrenzte Wirkung entfalten. Die durch sie gestifteten Bindungen und Verp ichtungen waren prekär, wesentlich prekärer, als dies innerhalb Europas der Fall war. Das machte den diplomatischen Alltag im Osmanischen Reich für die lateineuropäischen Vertreter so mühselig und frustrierend, und das mag auch den langfristigen Erfolg erklären, den das Stereotyp vom undankbaren raffgierigen ‚Türken` erlebte.
49 Anders: John Paul Ghobrial: The Whispers of Cities. Information Flows in Istanbul, London, and Paris in the Age of William Trumbull. Oxford 2013, der entsprechende Bemerkungen in der Korrespondenz Girardins und Trumbulls m. E. überbewertet.
Nadir Weber
Lebende Geschenke Tiere als Medien der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen
Der Staatswissenschaftler und politische Publizist Friedrich Carl von Moser unterschied 1751 „dreyerley Gattung“ von Geschenken, „womit grosse Herren sich unter einander beehren“: „entweder bestehen sie nemlich in Naturalien, lebendigen und leblosen, welche in dem eigenen Land eines Souverains hergekommen und gezeugt worden sind; oder die Kunst hat den meisten Antheil daran, jedoch so, daß es abermals in dem Land selbst ge- und verarbeitet worden; oder es ist sonst was seltenes, an welchem entweder die Natur, oder die Kunst, oder beedes [!] zugleich zu bewundern ist, oder das doch sonst die Aufmercksamkeit eines Herrn verdienet, es mag übrigens herkommen, woher es will.“ 1 Anders als Gaben von Souveränen an fremde Gesandte, die sich ebenfalls der Kategorie diplomatischer Geschenke zuordnen lassen, sollten sich Geschenke an fürstliche Standesgenossen also vor allem durch ihre Schönheit und Seltenheit auszeichnen, nicht durch einen einfach zu beziffernden ökonomischen Wert. 2 Mit seiner Rede von den „lebendigen Naturalien“ an prominenter Stelle verweist uns Moser dabei auf die bisher erst in Ansätzen erforschte Bedeutung von Tieren im Geschenkverkehr zwischen frühneuzeitlichen Fürstenhöfen. 3 Was aber zeich1
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Vgl. Friedrich Carl von Moser: Kleine Schriften zur Erläuterung des Staats- und VölckerRechts wie auch des Hof- und Canzley-Ceremoniels. Bd. 1. Frankfurt am Main 1751, 36. Vgl. auch den Hinweis auf die Passage in der grundlegenden Studie von Jeannette Falcke: Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgisch-preußischen Hof im 17. und 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 31). Berlin 2006, 71, die Tiergeschenke allerdings nicht näher thematisiert. Geschenke an Diplomaten, wie sie insbesondere bei Abschiedsaudienzen überreicht wurden, waren standardisierter und direkter in ökonomisches Kapital übersetzbar (etwa über den Wert des verarbeiteten Edelmetalls). Vgl. dazu die Bemerkung bei Moser: Kleine Schriften, 132, und speziell zur Praxis der Abschiedsgeschenke Heinz Duchhardt: Das diplomatische Abschiedsgeschenk. In: Archiv für Kulturgeschichte 57 (1975), 345–362. Tiergeschenke wurden bisher vor allem im Zusammenhang mit der Frage der Provenienz exotischer Tiere in fürstlichen Menagerien thematisiert und weniger aus genuin diploma-
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nete diesen Typ diplomatischer Geschenke – die sich offenbar besonders dazu eigneten, die „Aufmercksamkeit“ großer Herren auf sich zu ziehen – gegenüber anderen Gaben aus? Und inwiefern können Tiere als Medien der Außenbeziehungen betrachtet werden? Im Folgenden werden zunächst einige allgemeine Überlegungen zum medialen Status von Tiergeschenken angestellt. Daraufhin werden am Beispiel von Pferden und Falken sowie einem afrikanischen Elefanten und einer Großkatze, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als diplomatische Geschenke an den französischen Königshof gelangten, die Modalitäten und impliziten Regeln des Schenkens etwas näher untersucht.
I. Eigensinnige Geschenke: Zum medialen Status von Tiergeschenken Durch ihre Begriffswahl macht uns Mosers Typologie auf den entscheidenden Unterschied von Tiergeschenken gegenüber anderen Geschenken aufmerksam: ihre Lebendigkeit. Von leblosen Objekten unterschieden sie sich durch ihre Eigenschaft als beseelter oder, moderner gesprochen, als autopoietischer Organismus deutlich. Entsprechend hing die Aufmerksamkeit, die diese Geschenke beim Empfänger erlangten, auch nicht nur von ihrem Schönheits- und Raritätswert, sondern zugleich von ihrer Lebensdauer und ihrem individuellen Verhalten ab. 4 Tiergeschenke waren deshalb besonders aufwendig und risikobehaftet. Gerade bei großen, exotischen Tieren konnten der Transport und die Versorgung mit Nahrungsmitteln eine erhebliche logistische Herausforderung und nanzielle
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tie- oder mediengeschichtlichem Interesse; dies gilt auch noch für den materialreichen Aufsatz von Joan Pieragnoli: Les animaux et la diplomatie française XVIe –XIXe siècles. In: Revue d'histoire diplomatique 127 (2013), 213–222. Auf weitere nützliche Einzelstudien wird an geeigneter Stelle noch Bezug genommen. Der von Clemens Wischermann ins Spiel gebrachte Begriff der Animate History fasst das damit korrespondierende neuere Forschungsinteresse an der Geschichte von MenschTier-Beziehungen, das sich von älteren, primär auf den Wandel der Repräsentationen abzielenden Studien abhebt, treffend zusammen; vgl. das programmatische Handbuch Gesine Krüger /Aline Steinbrecher /Clemens Wischermann (Hrsg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History. Stuttgart 2014. – Gleich zu Beginn sei hier zudem angemerkt, dass die Kategorie der (nichtmenschlichen) „Tiere“ natürlich sehr grob ist und über die allgemeine Aussage zur Lebendigkeit hinausgehende generalisierende Zuschreibungen problematisch sind; für genauere, auf das Verhalten bezogene Betrachtungen sollte stattdessen nach Spezies, Population und teils auch Individuum unterschieden werden. Als Tiergeschenke kamen vor allem ausgewählte größere Säugetiere sowie Vögel zum Einsatz.
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Belastung darstellen. 5 Durch Siechtum und vorzeitigen Tod konnten die raren Lebewesen im schlimmsten Fall bereits auf der Reise zum Empfängerhof ganz oder weitgehend wertlos werden. Ein anderes, auf die Unberechenbarkeit des individuellen Verhaltens bezogenes Schreckensszenario führte der Fabeldichter Jean de La Fontaine dem hö schen Publikum in seiner Geschichte über den ehrerbietig überbrachten Milan, der dem König seine Krallen in die Nase haut, vor Augen. 6 Diese Risiken verweisen, da sie in Kauf genommen wurden, zugleich auf das große Potenzial, das Tiergeschenken offensichtlich innewohnte: Überlebte das Tier eine Weile und erwies sich im Gegensatz zum eigensinnigen Vogel als zutraulich, geschickt oder auf andere Weise wohlgefällig, konnte es unter Umständen weit mehr Bewunderung oder gar emotionale Nähe auf sich ziehen als ein lebloses Geschenk – und damit Gedanken und Handlungen in besonders günstiger Weise auf den Schenker leiten. Unter medien- und kommunikationsgeschichtlichen Gesichtspunkten lassen sich verschenkte Tiere daran anschließend von zwei Seiten her betrachten, als Medien zwischenmenschlicher Kommunikation und als interagierende Mitwesen. 7 Wie andere Gaben auch, konnten Tiergeschenke über ihren ökonomischen Wert als Tauschressource hinaus als Träger von Informationen, die vom Beschenkten als Mitteilung des Schenkenden beobachtet und zugewiesen wurden, dienen. Als bewegliche, durch arten- und zuchtspezi sche Merkmale sich auszeichnende, mit einer spezi schen Vorgeschichte versehene und teils zusätzlich geschmückte und mit besonderen angelernten Fähigkeiten ausgestattete Körper transportierten sie Aussagen über den Sender und seine Beziehung zum Empfänger sowie implizite Handlungsappelle. 8 In einem besonders prächti-
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Vgl. dazu etwa den Überblick von Lothar Dittrich: Der Import von Wildtieren nach Europa – Einfuhren von der Frühen Neuzeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Helmut Pechlaner /Dagmar Schratter /Gerhard Heindl (Hrsg.): Tiere unterwegs. Historisches und Aktuelles über Tiererwerb und Tiertransporte. Wien 2007, 1–64. Vgl. Jean de La Fontaine: Fabeln. Übersetzt und kommentiert von Jürgen von Stackelberg. München 1996, 230–232. Die Unterscheidung orientiert sich an der Unterscheidung einer primärsozialen und einer sekundärsozialen Ebene ‚humanimaler Sozialität` von Rainer E. Wiedenmann: Tiere, Moral und Gesellschaft. Elemente und Ebenen humanimalischer Sozialität. Wiesbaden 2009, hier insbes. 82 f. Zum hier verwendeten weiten, an die Kommunikationstheorie von Niklas Luhmann angelehnten, Medienbegriff und seiner Fruchtbarkeit für die Frühneuzeitforschung vgl. Rudolf Schlögl: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), 156–224, hier insbes. 168–171. Die inhaltsbezogene Unterscheidung von verschiedenen Aspekten von Kommunikation – welche diese auch anfällig machen für Missver-
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gen und wohldressierten Pferd etwa manifestierte sich der Status des Schenkers, aus dessen Gestüt und Marstall es stammte, denn Pferdezucht und -haltung auf hohem Niveau erforderte eine ausgefeilte Organisation und viel praktisches Wissen, wie es sich nur ökonomisch potente Höfe leisten konnten. Zugleich brachte ein solches Geschenk die Wertschätzung zum Ausdruck, die der Schenkende dem Empfänger, der zwischen ihnen bestehenden Beziehung und gegebenenfalls dem Anlass, zu dem das Geschenk erfolgte, beimaß. Schließlich verbanden sich mit bestimmten Tierarten in den Augen zeitgenössischer Beobachter auch darüber hinausgehende allegorische Bedeutungen. So standen etwa Hunde für Treue und Freundschaft, Pferde für adligen oder fürstlichen Rang, Löwen gar für königliche Majestät. Durch diese symbolischen Überschüsse war auch die Kommunikation über Tiergeschenke anfällig für Missverständnisse, denen durch verbale Erläuterungen zuvorgekommen oder die auch im Gegenteil bewusst einkalkuliert werden konnten. 9 Als besonders gelungen konnte schließlich ein Geschenk erscheinen, das nicht nur als Erfüllung impliziter Normen erschien, sondern beim beschenkten Fürsten eine darüber hinausgehende, positive, handlungsmotivierende Wirkung erzielte, die in ein Gegengeschenk oder politisches Entgegenkommen mündete. Als kommunizierende Mitwesen konnten verschenkte Tiere aber auch selbst mit Menschen und anderen Tieren in Beziehungen treten. 10 Dies gilt gerade für den Alltag frühneuzeitlicher Höfe, wo Angehörige nichtmenschlicher Spezies ständnisse – orientiert sich darüber hinaus an Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden. Bd. 1: Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Reinbek bei Hamburg 2005, hier insbes. 25–43. 9 Problematisch waren aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Bedeutung etwa Hundegeschenke an muslimische Herrscher, die aber in der Praxis ebenfalls angenommen wurden, wenn sich die Hunde für bestimmte repräsentative Zwecke wie etwa die Bärenjagd eigneten; vgl. Hedda Reindl-Kiel: Dogs, Elephants, Lions, a Ram and a Rhino on Diplomatic Mission. Animals as Gifts to the Ottoman Court. In: Suraiya Faroqhi (Hrsg.): Animals and People in the Ottoman Empire. Istanbul 2010, 271–285, hier 275 f. Zur Symbolik von Tieren im europäischen Kontext vgl. das nützliche, nach Arten geordnete Nachschlagewerk von Sigrid Dittrich /Lothar Dittrich: Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.–17. Jahrhunderts. Petersberg 2004. Zur semantischen Offenheit von Geschenken gerade im interkulturellen Kontext vgl. Christian Windler: Tribut und Gabe. Mediterrane Diplomatie als interkulturelle Kommunikation. In: Saeculum 51 (2000), 24–56; Peter Burschel: Der Sultan und das Hündchen. Zur politischen Ökonomie des Schenkens in interkultureller Perspektive. In: Historische Anthropologie 15 (2007), 408–421 (wobei es sich beim im Titel erwähnten Hündchen nicht um ein „reales“ Tier, sondern um eine visuelle Repräsentation handelt). 10 Zum Folgenden vgl. ausführlicher die Überlegungen am Beispiel des Hofes von Versailles in Nadir Weber: Das Bestiarium des Duc de Saint-Simon. Zur „humanimalen Sozialität“
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zahlreiche Rollen ausfüllten: Pferde dienten Fürsten und Hofadligen als unerlässlicher ‚Unterbau` für zahlreiche Kernpraktiken des Hoflebens. Von Ausritten im Park über Jagden im Umland bis hin zu hö schen Festen und Zeremonien, ganz zu schweigen von ihrer militärischen Verwendung durch den Schwertadel. Hunde waren – wie Falken – unabdingbar als Jagdhelfer und lebten darüber hinaus teilweise eng mit ihren hochrangigen Besitzern zusammen, an deren Standesrepräsentation sie Anteil hatten, etwa als Begleiter auf Porträts. 11 Ohne die Hege von Hirschen, Fasanen und anderem ‚Wild`, das teilweise ebenfalls zwischen Höfen verschenkt wurde, 12 waren die fast täglichen Hofjagden undenkbar. Und exotische Tiere führten als lebendige Schauobjekte oder kämpfende Akteure sowohl dem eigenen Adel wie auch fremden Besuchern die globale Strahlkraft und das soziale Kapital des Souveräns vor Augen. Hinter all diesen Praktiken standen mehr oder weniger ausgeklügelte Organisationsformen zur Aufzucht, Dressur und Haltung dieser Tiere, etwa die fürstlichen Marställe, Hundezwinger, Wildgehege und Menagerien, die zahlreiche Menschen unterschiedlichen Standes beschäftigten. Tiere, die als Geschenke an einen Hof gelangten, wurden damit in der Regel in bestehende räumliche und soziale Settings integriert, wo sie in engem Zusammenleben mit menschlichen Bediensteten mit anderen Tieren, die bei weitem nicht immer derselben Art angehörten, gehalten und auf spezi sche Verwendungszwecke hin ausgebildet wurden. Sie partizipierten so schließlich selbst als kommunizierende, in Interdependenzbeziehungen einbezogene Mitwesen an der sozialen Figuration des Hofes, die sich in der Frühen Neuzeit trotz organisatorischen und medialen Überlagerungen in ausgeprägtem Maße über die Kommunikation unter Anwesenden konstituierte und reproduzierte. 13
am französischen Königshof um 1700. In: Zeitschrift für Historische Forschung 43 (2016), 27–59, sowie die dort genannte Literatur. 11 Zur medialen Bedeutung von Hunden im hö schen Kontext, auf die hier nicht näher eingegangen wird, siehe insbes. Simon Teuscher: Hunde am Fürstenhof. Köter und ‚edle Wind` als Medien sozialer Beziehungen. In: Historische Anthropologie 6 (1998), 347–369, zu Hundegeschenken 359–364. 12 Vgl. dazu etwa die Beispiele bei Martin Knoll: Umwelt – Herrschaft – Gesellschaft. Die landesherrliche Jagd Kurbayerns im 18. Jahrhundert. St. Katharinen 2004, 1, 93–97, sowie zu den Implikationen solcher Praktiken für den sozialen Status des Jagdwilds im hö schen Umfeld Nadir Weber: Zahmes Wild? Zu den organisatorischen Hintergründen der spektakulären Jagderfolge frühneuzeitlicher Fürsten. In: Tierstudien 4 (2015), 93–103. 13 Vgl. programmatisch Rudolf Schlögl: Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven der Forschung. In: Frank Becker (Hrsg.): Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien. Frankfurt am Main, New York 2004, 185–225.
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Diese Praktiken artenübergreifender Interaktionen lassen sich nur indirekt erschließen, etwa über Beschreibungen Dritter oder über die Analyse von Vorschriften, Ratgebern, Plänen und materiellen Überresten. Dieses Problem gilt auch für Interaktionen zwischen menschlichen Hofangehörigen, die ebenfalls nur über Sekundärmedien und damit nicht unmittelbar fassbar werden, zeigt sich hier aber noch stärker, weil sich – mit Ausnahme vielleicht der Überreste – darin nur die Sinnzuweisungen der menschlichen Interaktionsteilnehmer oder Beobachter spiegeln. 14 Interaktionen zwischen Menschen und Tieren wurden dabei wie andere Aspekte des Hoflebens im Verlauf der Frühen Neuzeit in zunehmenden Maße auch in raum- und zeitübergreifenden Sekundärmedien verarbeitet und damit für andere Höfe und ein breiteres Publikum – nicht zuletzt spätere Historiker – zugänglich gemacht. 15 So zirkulierten etwa detaillierte Beschreibungen von Reitturnieren und Rossballetten, welche unter anderem die equinen Kompetenzen und damit ritterlichen Tugenden eines Fürsten und seines Hofes dokumentieren sollten, zunächst in gedruckten ‚of ziellen` Beschreibungen zwischen den Höfen, die dann von eher marktwirtschaftlich orientierten Anbietern von Kompilationswerken oder Zeitungen weiterverarbeitet wurden. Ähnlich wurde, wie wir noch sehen werden, im Fall seltener exotischer Tiere verfahren, die in den hö schen Menagerien vor Ort besichtigt werden konnten, aber auch abgezeichnet und mittels Kupferstichen und Beschreibungen einem abwesenden Publikum näher gebracht wurden. Gerade Tiere, die als Geschenk übergeben und erfolgreich in die bestehenden lokalen Settings integriert worden waren, hatten damit Anteil an der zunehmend medialisierten Repräsentationspolitik frühneuzeitlicher Fürsten – sowohl der Schenker wie der Beschenkten. Wenngleich der Fokus, wie im vorliegenden Beitrag, primär auf solchen medialen Rollen von Tieren liegt, ist es geboten, die ‚primärsoziale` Interaktionsebene der Mensch-Tier-Beziehungen nicht aus dem Blick zu verlieren, da sich diese direkt auf das Gelingen oder Misslingen der mit dem Schenkakt verbun-
14 Zur Quellenproblematik in der Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen und zu Möglichkeiten einer Lektüre ‚gegen den Strich` vgl. etwa die Überlegungen bei Aline Steinbrecher: „In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede“ (Elias Canetti). Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren. In: Carola Otterstedt/Michael Rosenberger (Hrsg.): Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die MenschTier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs. Göttingen 2009, 264–286. 15 Vgl. dazu allgemein Volker Bauer: Strukturwandel der hö schen Öffentlichkeit. Zur Medialisierung des Hoflebens vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Historische Forschung 38 (2011), 585–620, wo ein Dreistufenmodell hö scher Kommunikation entworfen wird, das von der Anwesenheitskommunikation über die hö sche Publizistik zu den breiter rezipierten Kompilationswerken reicht.
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denen Kommunikationsabsichten auswirkte. Vom Überleben und Verhalten des lebenden Geschenks hing es, wie eingangs angedeutet, ab, inwiefern es funktionale und repräsentative Rollen am Empfängerhof ausüben konnte und sich damit als Geschenk eignete. Auch wenn die geschenkten Tiere wohl kaum im Bewusstsein eines Vertretungs- und Vermittlungsauftrags agierten und so nicht als diplomatische Akteure im engeren Sinne aufgefasst werden können, so konnte doch die Art und Dichte der Beziehungen, in die sie vor Ort eintraten, auf die Ebene der politischen Beziehungen zurückwirken. Insofern können sie zumindest als Aktanten der Diplomatie aufgefasst werden, deren Eigensinn die ihnen zugedachten medialen Funktionen auch unterlaufen konnte. 16
II. Gute Korrespondenz: Repräsentative Nutztiere im zwischenhö schen Gabentausch Wenden wir uns nun den Tiergeschenken zu, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an den französischen Königshof gelangten. Über die allgemeinen Bestimmungen zu Tiergeschenken hinaus scheint es hier sinnvoll, unter funktionalen Gesichtspunkten zumindest grob zwei Arten von Tiergeschenken zu unterscheiden: zum einen der mehr oder weniger regelmäßige Verkehr von nichtmenschlichen Lebewesen, die am Empfängerhof für bestimmte repräsentative oder funktionale Zwecke speziell nachgefragt wurden und auf eine Art Gabentauschökonomie zwischen den Höfen verweisen und der längerfristigen Beziehungsp ege dienten; zum anderen Geschenke von Tieren, die aufgrund ihrer Herkunft oder sonstiger Eigenschaften einen besonderen Raritätswert aufwiesen und entweder im Zusammenhang mit besonderen Ereignissen oder
16 Dies im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie. Bezogen auf das Interagieren am Empfängerhof geht die hier skizzierte Auffassung von Tieren als kommunizierenden Mitwesen freilich über den weiten Akteur- oder Aktantenstatus der ANT hinaus, die diesen aus den Effekten des Auftretens von ‚nichtmenschlichen Entitäten` auf netzwerkartig strukturierte Handlungszusammenhänge herleitet und so der Spezi k von Interaktionen zwischen Lebewesen nur unzureichend Rechnung trägt: Wie bei leblosen Dingen wird lediglich auf die (stets menschlichen) ‚Sprecher` zurückverwiesen. Vgl. die m. E. berechtigten Einwände bei S. Eben Kirksey /Stefan Helmreich: The Emergence of Multispecies Ethnography. In: Cultural Anthropology 25 (2010), 545–576, hier 555, und Wiedenmann: Tiere, Moral und Gesellschaft, 67. Zu den Anwendungsmöglichkeiten der Akteur-Netzwerk-Theorie für die politische Geschichte vgl. demnächst auch Nadir Weber: Leviathan und die Kuhrevolte. Überlegungen zu einer ANT-inspirierten politischen Geschichte des Ancien Régime. In: Marian Füssel /Tim Neu (Hrsg.): Reassembling the Past?! Akteur-Netzwerk-Theorie und Geschichtswissenschaft. Paderborn (in Vorbereitung zum Druck).
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außerordentlichen Gesandtschaften an den Hof gelangten. 17 Im Folgenden sollen zunächst die im ersten Modus erfolgenden Transfers von Pferden zwischen dem französischen und anderen Höfen etwas näher in den Blick gerückt werden, um dann vergleichend kurz auch auf verschenkte Falken zu sprechen zu kommen. Aufgrund ihrer hohen Bedeutung für die Hofhaltung waren fürstliche Pferde in der Regel sehr nahe am Sitz des Monarchen in Marställen untergebracht. Die 1682 fertiggestellten Gebäude der Grande und der Petite Écurie in Versailles waren etwa gleich gegenüber dem Schloss gelegen und beherbergten zur Zeit Ludwigs XIV. über 700 Pferde. 18 Ein Teil dieser Pferde war in Frankreich gezüchtet und aufgezogen worden, etwa in den königlichen Gestüten von Saint-Légeren-Yvelines auf der Île-de-France. 19 Allerdings wurden für bestimmte Zwecke ausländische Pferde bevorzugt. Für die Jagd etwa schnelle Reitpferde aus England und Irland, für die Manege solche aus Spanien; drei Viertel der Pferde in den königlichen Ställen waren entsprechend nichtfranzösischer Provenienz. 20 Da Herkunft und Dressur zentrale quali zierende Merkmale für die Aufnahme in die königlichen Ställe waren, stammten diese Pferde vielfach ebenfalls aus fürstlichen Gestüten. Dabei war es gebräuchlich, dass die Pferde nicht käuflich erworben werden mussten, sondern als Geschenke an den Hof gelangten – nicht selten ergänzt um wertvolles Zubehör wie Zaumzeug, Satteldecken oder Kutschen, welche als Kunsterzeugnisse im Sinne Mosers eine längere Lebensdauer erwarten
17 Eine noch differenziertere Typologie schlägt Reindl-Kiel: Dogs, Elephants, Lions, 284 f., vor. Die Typologisierung anhand des Konzepts der conspicuous consumption von Thorstein Veblen scheint mir in Bezug auf Tiere als diplomatische Geschenke allerdings nur begrenzt zielführend, da sie nur von der Nutzung der Tiere am Empfängerhof ausgeht und die Motivationen der Schenker auslässt. 18 Zur hö schen Pferdehaltung in Frankreich siehe insbes. Daniel Reytier: Un service de la Maison du roi. Les Écuries de Versailles (1682–1789). In: Daniel Roche/Daniel Reytier (Hrsg.): Les Écuries royales du XVIe au XVIIIe siècle. Paris 1998, 61–95, und Daniel Roche: La culture équestre occidentale, XVIe–XIXe siècle. L'ombre du cheval. Bd. 2: La gloire et la puissance. Essai sur la distinction équestre. Paris 2011. Zu Pferden als diplomatischen Geschenken siehe auch die detaillierte Darstellung bei Magdalena Bayreuther: Pferde in der Diplomatie der frühen Neuzeit. In: Mark Häberlein /Christof Jeggle (Hrsg.): Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Konstanz, München 2013, 227–256. 19 Vgl. Jacques Mulliez: Les chevaux du royaume. Aux origines des Haras nationaux. Paris 2004, hier insbes. 97. 20 Jedenfalls im 18. Jahrhundert, für das solche Daten vorliegen. Vgl. Roche: La gloire et la puissance, 264 f.
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ließen und die Mortalitätsrisiken des lebendigen Geschenke entsprechend etwas abfederten. 21 Durch ihre physische Präsenz hielten die Pferde am Empfängerort die Erinnerung an den Schenkakt und die damit verbundenen freundschaftlichen Beziehungen wach. Der Marquis de Dangeau vermerkte am 22. November 1687 etwa in seinem Journal, dass sich der König und der Thronfolger nach dem Abendessen in der Grande Écurie die Pferde angesehen hätten, welche die Königin von Spanien – Marie Louise d'Orléans, die Nichte Ludwigs XIV. – letztes Jahr geschickt habe: „Sie fanden sie sehr schön, und es hat darunter einige sehr gut dressierte, die Monseigneur [das heißt der Thronfolger Louis de France] reiten will.“ 22 Das vor allem an der Fellfärbung bemessene Aussehen der Pferde und deren wohl durch einen Bereiter vorgeführte Performanz beim Reiten wurden hier also äußerst positiv beurteilt. Die Wahl als persönliches Reitpferd durch einen Angehörigen der regierenden Dynastie stellte eine besondere Auszeichnung für die Pferde dar und spricht für den Erfolg des Schenkakts. Trotz der individualisierenden Betrachtung fügten sich solche Geschenke in die Erwartungsstrukturen einer interhö schen Gabentauschökonomie ein. Dass wird nicht zuletzt daraus ersichtlich, dass sie in der Regel über Gegengaben sowohl an den schenkenden Prinzipal wie an die mit dem Schenkakt betrauten fremden Fürstendiener indirekt vergolten wurden. Die Pferde der Königin von Spanien können so etwa als Gegengeschenk für die Pferde interpretiert werden, die Ludwig XIV. im Herbst 1684 persönlich für sie ausgesucht und an den spanischen Hof geschickt hatte. 23 Entschädigungen an die Überbringer der Geschenke erfolgten dagegen in der Regel unmittelbar. So nden wir in den Geschenkregistern im Archiv des französischen Außenministeriums diverse Einträge, wo den Reitmeistern und Stallknechten auswärtiger fürstlicher Ställe, welche die Pferde auf dem Weg begleitet hatten, mit Diamanten besetzte königliche Porträts, Goldketten oder Geldgeschenke überreicht wurden. 24 Der jeweils festgehaltene Geld-
21 Vgl. Magdalena Bayreuther: Pferde und Fürsten. Repräsentative Reitkunst und Pferdehaltung an fränkischen Höfen (1600–1800). Würzburg 2014, 343. 22 „Le roi et Monseigneur, après leur dîner, allèrent à la grande écurie voir des chevaux d'Espagne que la reine d'Espagne envoya l'année passée; ils les trouvèrent fort beaux, et il y en a déjà quelques-uns de très bien-dressés et que Monseigneur veut monter.“ Philippe de Courcillon, Marquis de Dangeau: Journal du marquis de Dangeau, avec les additions inédites du duc de Saint-Simon, hrsg. v. Eudore Soulié u. a., 19 Bde. Paris 1854–1860. Bd. 2, 69 (22. 11. 1687, Versailles). 23 Vgl. Dangeau: Journal. Bd. 1, 62 f. (23. und 25. 10. 1684). 24 Vgl. z. B. Archives du Ministère des Affaires Étrangères, Paris-La Courneuve (im Folgenden AAE): MD France, 2037, fol. 36v: „Le 26 Juillet [1682] donné à l'Ecuyer de M. de
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wert der Geschenke gibt dabei zum einen Aufschluss darüber, dass hinter der fürstlichen Freizügigkeit präzises ökonomisches Kalkül stand, kann zum anderen aber auch als Indikator für den Wert der geschenkten Pferde einschließlich der Transportkosten dienen. Pferdegeschenke waren wie andere Geschenke und Medien Ausdruck der bonne correspondance zwischen den beteiligten Höfen und können damit als konstitutiver Bestandteil von deren Außenbeziehungen betrachtet werden. 25 Sie versiegten, wenn die Fürsten gegeneinander Krieg führten, und markierten dann anlässlich eines Friedensschlusses umso deutlicher die Rückkehr zu freundschaftlichen Beziehungen. So wurde am französischen Hof genau registriert, dass der Earl of Portland, Vertreter Wilhelms III. von Oranien beim Friedenskongress von Rijswijk, den französischen Bevollmächtigten bei der letzten Verhandlungssitzung „drei schöne englische Pferde“ übergeben hatte – und versucht, das Geschenk mit einer kostbaren Gegengabe zu übertrumpfen. 26 Die Pferde, die der französische König und andere Fürsten emp ngen, blieben nicht immer in deren Besitz. Aus dem diplomatischen Geschenk konnte eine Patronageressource werden, die über ihren ästhetischen und funktionalen Wert hinaus noch erheblich an symbolischem Wert gewann, wenn das Pferd für eine Weile im königlichen Stall gelebt hatte und vielleicht sogar vom König selbst geritten worden war. 27 Meist verlieren sich die Spuren der Tiere in den Quellen aber bald wieder. Die Lieblingspferde der Könige wurden gelegentlich porträBrandebourg, qui a amené une calèche et des chevaux, une boîte à portait de diamans de 4750 lt. / Pour distribuer aux palefreniers la somme de 1650.“ Ebd., fol. 43v: „Le 8. Avril [1680] donné au Sieur Schambourg Envoyé Extraord.re d'Hanover en Considération des Chevaux qu'il a présenté de la part du duc d'Hanover à Mad. la dauphine en argent comptant au lieu d'une chaine d'or de 1500.“ 25 Näher zur Semantik der ‚guten Korrespondenz` sowie zum beziehungskonstituierenden Wechselspiel unterschiedlicher Medien von Außenbeziehungen Nadir Weber: Lokale Interessen und große Strategie. Das Fürstentum Neuchâtel und die politischen Beziehungen der Könige von Preußen (1707–1806), Köln, Weimar, Wien 2015, Abschnitt 3.1 bzw. Punkt 3.1.2.2. 26 Vgl. Dangeau: Journal. Bd. 6, 167 (8. 8. 1697, Marly): „À la dernière conférence de M. le maréchal de Bouf ers avec milord Portland, ce milord donna trois beaux chevaux anglois, un à maréchal Bouf ers, un au duc de Guiche et l'autre à Pracomtal. Ces messieurs renverront au milord des présents qui vaudront encore mieux que les siens.“ John William Bentinck, Earl of Portland (1649–1709), wurde kurz darauf als erster englischer Botschafter nach dem Pfälzischen Erbfolgekrieg an den französischen Hof entsandt. 27 Vgl. etwa den Hinweis auf das 1694 erfolgte Geschenk eines persönlichen Reitpferds Ludwigs XIV. an den Comte de Montgomery, der sich durch besondere militärische Leistungen ausgezeichnet hatte, bei Louis de Rouvroy, Duc de Saint-Simon: Mémoires. Additions au Journal de Dangeau. Édition établie par Yves Coirault. 8 Bde. Paris 1983–1988. Bd. 1, 202.
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tiert; besonders herausragende Tiere mochten nach ihrem Dienst als Manege-, Jagd- oder Kutschenpferde noch für Zuchtzwecke weiterverwendet worden sein. Viele wurden aber nach ihren Dienstjahren am Hof auch weniger glanzvoll wieder abgetreten und landeten dann früher oder später beim Abdecker. 28 Am Fall der Transfers von Jagdfalken kann ergänzend zu diesen Beobachtungen auf den Umstand hingewiesen werden, dass Tiergeschenke für die verschiedenen Mächte eine unterschiedliche Bedeutung besaßen. Während etwa die französischen Könige selbst insgesamt nur in geringem Maße als Schenker von Tieren auftraten, stellten diese für andere Fürsten ein wichtiges Instrument ihrer Diplomatie dar, insbesondere wenn sie über eine berühmte Zucht oder einen exklusiven Zugang zu bestimmten, für hö sche Jagd- oder Repräsentationszwecke benötigten Tieren verfügten. So hatten die Oldenburger als Könige von Dänemark und Norwegen das Monopol über den Handel mit isländischen Gerfalken inne, die als die besten Beizvögel galten. Regelmäßig versorgten sie die europäischen Höfe mit wild gefangenen Jungvögeln, die dann in die fürstlichen Falknereien – in Frankreich die Grande Fauconnerie und die Falkenschläge des Cabinet du roi, die im 17. Jahrhundert mehrere Hundert Tiere betreuten – integriert und von den dortigen Falkenmeistern weiter für Jagdzwecke abgerichtet wurden. 29 Die dafür am Hof der dänischen Könige erstellten Geschenklisten geben Aufschluss über den Rang der Empfänger sowie über die politischen Allianzen und Konsolidierungsabsichten, wobei der französische Königshof in der Regel zu den Meistbegünstigten gehörte. 30
28 Diese Praktiken sind entsprechend auch historiogra sch schwerer fassbar. Zum Abtreten von fürstlichen Pferden vgl. die Hinweise bei Bayreuther: Pferde und Fürsten, 257–260, sowie die Überlegungen zum idealtypischen Verlauf einer Biogra e eines fürstlichen Pferdes in ebd., 442 f. 29 Zur Falkenhaltung und -jagd im frühneuzeitlichen Frankreich fehlen mit der Haltung von Pferden vergleichbare Detailstudien. Zur Herkunft der königlichen Jagdfalken vgl. knapp die Hinweise in der grundlegenden Studie zur Jagd in Frankreich von Philippe Salvadori: La chasse sous l'Ancien Régime. Paris 1996, 100. Der Capitaine des oiseaux du cabinet du roi war unabhängig vom Amt des Grand fauconnier und hatte die Aufsicht über mehrere nach Art getrennte Equipen mit eigenem Personal; vgl. William Ritchey Newton: La petite cour. Services et serviteurs à la Cour de Versailles au XVIIIe siècle. Paris 2006, 89f. 30 Zumindest lässt sich dies für das 18. Jahrhundert nachweisen: Von den 89 Falken, die 1741 aus Island ankamen, gingen etwa zwölf an den König von Frankreich, neun an die Königin von Ungarn (Maria Theresia), neun an den König von Polen und die übrigen an verschiedene Reichsfürsten. Während sich Kurfürst Karl Albrecht von Bayern in diesem Jahr noch mit sechs Falken begnügen musste, erhielt er im Jahr darauf als Kaiser Karl VII. deren zwölf, genauso viel wie der französische König. Vgl. Robert Seidenader: Kultur-
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Im Gegensatz zu den konjunkturresistenten Pferden sank der Wert dieser Jagdfalken als Mittel der Außenbeziehungen nach Frankreich ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Beizjagd, die im Hohen und späteren Mittelalter noch unbestritten als die angesehenste Form der Jagd gegolten hatte, erfuhr am französischen Königshof nach einer letzten Blüte unter Ludwig XIII. gegenüber der Meuten- und der Schussjagd einen kontinuierlichen Bedeutungsschwund. 31 Die Vorrechte der königlichen Falkner blieben zwar bestehen und die Beizvögel wurden weiterhin zu Beginn des Jahres feierlich dem Monarchen vorgeführt. Wenn die Falkenmeister des Königs von Dänemark auch gemäß den königlichen Geschenkregistern gelegentlich mit Tabaksdosen und anderen Gaben für den „jährlichen Versand von Gerfalken aus Island“ 32 entschädigt wurden und für den König selbst ab 1753 regelmäßig 6000 Flaschen Champagnerwein als Gegengeschenk an elen, 33 so änderten diese bürokratisierten Schenkakte doch wenig an dem Umstand, dass die Tiere ansonsten kaum noch die Aufmerksamkeit Ludwigs XIV. und seiner Nachfolger genossen. Auch der Wert von Tiergeschenken war also abhängig von Moden und individuellen Vorlieben. Wer am französischen Hof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit einem Tiergeschenk über die Abbildung ‚guter Korrespondenz` hinausgehende politische Ziele realisieren wollte, musste zu spektakuläreren und dies hieß vor allem: exotischeren Mitteln greifen.
geschichte der Falknerei mit besonderer Berücksichtigung von Bayern. Datensammlung. 3 Bde. Hohenbrunn 2007. Bd. 3, 1903 f. Zum vergleichbaren Fall der Falkengeschenke der preußischen Herzöge im 16. Jahrhundert vgl. Dieter Heckmann: Preußische Jagdfalken als Gradmesser für die Außenwirkung europäischer Höfe des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Preußenland 37 (1999), 39–62 (mit transkribierten Listen im Anhang). 31 Vgl. Salvadori: La chasse, 199–215. 32 Vgl. etwa AAE: MD France, 2088, fol. 8 r (26.12. 1783): „La Tabatière ci-contre a été remise à M. le C[om]te de Vaudreuil Grand Fauconnier du Roi pour être envoyée en présent au nom de Sa Majesté à M. le C[om]te de Holstein Grand Fauconnier du Roi de Dannemarck à l'occasion de l'envoi qui se fait annuellement de Gerfaux d'Islande, c 5660 [lt.].“ 33 Vgl. A. Geffroy (Hrsg.): Recueil des instructions données aux ambassadeurs et ministres de France depuis les traités de Westphalie jusqu'à la Révolution française. Bd. XIII: Danemark. Paris 1895, 155. Das jährliche Gegengeschenk wurde festgelegt, nachdem sich der dänische Hof über den französischen Gesandten darüber beschwert hatte, dass der Versand von Gerfalken ohne ein solches als eine Art Tribut erscheine.
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III. Spektakuläre Auftritte: Exotische Tiere als Aufmerksamkeitserzeuger Anders als bei Pferden, Hunden und Falken, die nach dem Schenkakt in bestehende Institutionen der hö schen Tierhaltung integriert werden konnten und diese Bühne dann meist unbemerkt wieder verließen, ist bei Tieren, die in Europa kaum je zu sehen waren, nebst dem Schenkakt oftmals auch das weitere Leben und der Tod gut dokumentiert. 34 Die vereinzelten Giraffen, Nashörner, Tiger oder Elefanten, die seit der Renaissance als diplomatische Geschenke an europäische Höfe gelangten, verursachten jeweils großes, über den Hof hinausgehendes Aufsehen und strahlten entsprechend auf den Sender wie den Empfänger ab. Größere Höfe hatten deshalb seit dem 15. Jahrhundert begonnen, zur Haltung dieser exotischen Tiergeschenke spezielle Gehege und ganze Anlagen einzurichten, wobei die ab 1662 von Louis Le Vau gebaute ménagerie von Versailles für spätere Bauten stilbildend werden sollte. 35 Anhand eines Elefanten und einer Großkatze, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an den Hof und in die Menagerien König Ludwigs XIV. gelangten, soll im Folgenden der spezi sche Status und die variable Wirkmächtigkeit solcher ‚exotischer` Tiergeschenke veranschaulicht werden. 36
34 Vgl. dazu etwa die detaillierte Studie von Silvio A. Bedini: Der Elefant des Papstes. Stuttgart 2006 (englisch 1997), der anhand unterschiedlichster Quellen die Biogra e des Elefanten „Hanno“, der 1514 an den Hof Papst Leos X. gelangte, rekonstruiert. 35 Vgl. zur Bau- und Nutzungsgeschichte der Menagerie von Versailles (und der weniger gut erforschten Menagerie von Vincennes) zuletzt insbes. Gérard Mabille /Joan Pieragnoli: La ménagerie de Versailles. Paris 2010; Peter Sahlins: The Royal Menageries of Louis XIV and the Civilizing Process Revisited. In: French Historical Studies 35 (2012), 237–267. Zu ihrer Rezeption: Bettina Paust: Studien zur barocken Menagerie im deutschsprachigen Raum. Worms 1996. 36 Natürlich handelt es sich bei der Kategorie des Exotischen um eine relative und in vielen Fällen auch nicht trennscharfe Kategorie. Damhirsche, Fasanen oder Kanarienvögel verloren beispielsweise mit der Zeit diesen Status, sobald sie sich in Europa reproduzieren oder sich gar als Wildtiere in die Fauna integrieren konnten. Bei Papageien oder Affen gelang die Domestikation zwar weniger, doch waren sie im 17. Jahrhundert über die Netzwerke europäischer Handelskompanien auch für den Adel oder das Stadtbürgertum erhältlich und eigneten sich daher weniger als Fürstengeschenke. Anders war dies insbesondere bei großen Säugetieren, die auch in ihren Ursprungsländern nicht domestiziert waren und deren Fang, Zähmung, Haltung und Transport vor besondere Herausforderungen stellten. Sie stammten in der Regel aus den Menagerien außereuropäischer Herrscher. Vgl. Dittrich: Der Import von Wildtieren, hier insbes. 8–13, und die wichtige Studie von Louise E. Robbins: Elephant Slaves and Pampered Parrots. Exotic Animals in Eighteenth-Century Paris. Baltimore, London 2002.
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Im Jahr 1668 wurde Ludwig XIV. im Namen des portugiesischen Königs Alfons VI., respektive seines Bruders Pedro, ein etwa vierjähriger Elefant aus dem Kongo als Geschenk überbracht. Es handelte sich dabei wohl um den einzigen afrikanischen Elefanten, der zwischen 1517 und 1862 nach Europa gelangte, und wenngleich diese Besonderheit den Zeitgenossen noch nicht bewusst war, so staunten sie doch über die Größe des Tiers, welche jene der gelegentlich zu sehenden asiatischen Elefanten übertraf. 37 Der spektakuläre Schenkakt erfolgte im Kontext intensivierter diplomatischer Beziehungen im Anschluss an die 1667 nach langen Vorsondierungen geschlossene Allianz zwischen den Kronen sowie der Regierungsübernahme des Prinzregenten Pedro. 38 Das Elefantengeschenk war damit Bestandteil einer diplomatischen Offensive, und man darf annehmen, dass vonseiten des portugiesischen Hofes die Hoffnung bestand, das Tier möge durch seine auffällige Präsenz und sein Verhalten wie mehrere Vorgänger im 16. Jahrhundert einen Beitrag dazu leisten. 39 Tatsächlich spielte der Elefant seine Rolle gut. Er überlebte trotz der nicht gerade idealen Haltungsbedingungen – wenn man den Quellen glauben darf, wurde er täglich mit 24 Pfund Brot sowie zwölf pintes Wein versorgt – 13 Jahre, wenn er auch in den späteren Jahren kaum mehr eigenständig stehen konnte. Schon allein durch seine schiere Größe eine Hauptattraktion der königlichen Menagerie in Versailles, wurde er von Höflingen und auswärtigen Besuchern bewundert und teilweise wohl gar vom König persönlich fremden Besuchern prä-
37 Im Vergleich zu anderen verschenkten Elefanten insbes. des 16. Jahrhunderts, deren Wege, Leben und Nachleben teils detailliert aufgearbeitet worden sind (vgl. Bedini: Der Elefant des Papstes; Ferdinand Oppl: „Etwas bisher noch nie Geschautes“ – Zu Leben, Tod und Nachleben des ersten Wiener Elefanten. In: Helmut Pechlaner/Dagmar Schratter/Gerhard Heindl [Hrsg.]: Tiere unterwegs. Historisches und Aktuelles über Tiererwerb und Tiertransporte. Wien 2007, 65–93) nden sich zum Elefanten am Hof Ludwigs XIV. in der Historiogra e bisher nur vereinzelte Hinweise, welche keine genauere Rekonstruktion der Reise(n) und des Schenkakts zulassen. Vgl. insbes. die Hinweise bei Gustave Loisel: Historie des ménageries de l'antiquité à nos jours. 3 Bde. Paris 1912. Bd. 2, 115–118; Stephan Oettermann: Die Schaulust am Elefanten. Eine Elephantographia curiosa. Frankfurt am Main 1982, 129–131; Anita Guerrini: The Courtiers' Anatomists. Animals and Humans in Louis XIV's Paris. Chicago, London 2015, 202. 38 Vgl. Anthony R. Disney: A History of Portugal and the Portuguese Empire. From Beginnings to 1807. 2 Bde. Cambridge 2009. Bd. 1, 226–233. 39 In Portugal existierten die notwendigen politischen Verbindungen und logistischen Strukturen sowie das nötige Know-how zur Elefantenbeschaffung und -haltung, was Elefanten zu besonderen, jeweils gezielt eingesetzten ‚Trümpfen` der königlichen Diplomatie werden ließ. Vgl. Oettermann: Schaulust, 31, der dabei vom Typus des ‚diplomatischen Elefanten` spricht.
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sentiert. 40 Bereits zu Lebzeiten wurde der Elefant von of ziellen Tiermalern des Hofes wie dem Niederländer Pieter Boel porträtiert. 41 Nach seinem Tod wurde er von Mitgliedern der Académie des Sciences im Beisein des Königs seziert und anatomisch beschrieben, wobei unter anderem erst jetzt festgestellt wurde, dass es sich um ein weibliches Tier gehandelt hatte. 42 Das Skelett blieb schließlich bis heute erhalten und wurde unlängst wieder zum Gegenstand von Medienberichten. 43 Noch Jahre nach seinem Tod wurden zudem Anekdoten über den Elefanten erzählt, die als Zeichen von dessen Geist (esprit) ausgelegt wurden, unter anderem sein Aufeinandertreffen mit einem Tiermaler – wohl der bereits erwähnte, 1674 verstorbene Pieter Boel –, den er, indigniert über Täuschungen, die ihn dazu bewegen sollten, eine spektakuläre Pose einzunehmen, mit Wasser bespritzt und dessen Papier er so besudelt habe. 44 Die Agency des Elefanten wurde in dieser und ähnlichen anthropomorphisierenden Beschreibungen hervorgehoben; sein Eigensinn verschuf ihm zusätzliche Sympathie. Die Tatsache, dass der Elefant auch einen Besucher, der ihn geneckt habe, schwer verletzt und einen anderen gar
40 Ludwig XIV. p egte hochrangigen Gästen seine Gärten zu zeigen, wozu auch stets ein Besuch der Menagerie gehörte; vgl. Pieragnoli: Les animaux et la diplomatie française, 220. 41 Vgl. die Angaben zu Boels Elefantendarstellungen bei Elisabeth Foucart-Walter: Pieter Boel 1622–1674. Peintre des animaux de Louis XIV – Le fonds des études peintes des Gobelins. Paris 2001, 109, sowie Madelaine Pinault Sørensen: Les animaux du roi. De Pieter Boel aux dessinateurs de l'Académie royale des Sciences. In: Charles Mazouer (Hrsg.): L'animal au XVIIe siècle. Actes de la 1ère journée d'études (21 novembre 2001) du „Centre de Recherches sur le XVIIe Siècle Européen (1600–1700)“. Tübingen 2003, 159–183, 174 f. 42 Vgl. [Claude Perrault]: Description anatomique d'un Elephant [1681]. In: Mémoires pour servir à l'histoire naturelle des animaux. Paris 1758 (erstmals abgedruckt 1734), 499–549. Vgl. zu diesen anatomischen Studien, die an verschiedenen Menagerietieren durchgeführt wurden, nun insbes. Guerrini: The Courtiers' Anatomists, zum Elefanten 201–204. 43 In der Nacht vom 29. auf den 30. März 2013 war ein Mann in das Muséum national d'histoire naturelle eingestiegen und hatte dem Skelett mit einer Kettensäge einen Teil des linken Stoßzahns abgeschnitten. Vgl. Florence Evin: Massacre à la tronçonneuse au Muséum d'histoire naturelle. In: Le Monde.fr, 3. 4. 2013 (URL: http://www.lemonde.fr/ culture/article/2013/04/03/massacre-a-la-tronconneuse-au-museum-d-histoire-naturelle_ 3153104_3246.html [zuletzt abgerufen 28. 7.2015]; allerdings mit fehlerhafter Datumsangabe des Vorfalls). 44 Vgl. Perrault: Description anatomique d'un Elephant, 518 f. Tatsächlich zeigt eine der Zeichnungen Pieter Boels den Elefanten genau in der geschilderten Haltung, wobei jedoch die Geschichte, die den Zeichner lächerlich machte, auch auf persönliche Rivalitäten zwischen dem Akademiemitglied und den Tiermalern zurückgeführt werden könnte; vgl. Pinault Sørensen: Les animaux du roi, 174f.
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getötet haben soll, wurde dem Tier – und indirekt seinem Schenker – nicht wirklich zur Last gelegt. Als Geschenk war der Elefant insofern ein großer Erfolg. 45 Die mediale Aufmerksamkeit, die exotische Tiergeschenke hervorriefen, konnte den Intentionen des Schenkenden jedoch auch zuwiderlaufen, der in der leiblichen Existenz des Lebewesens in gewisser Weise stets mit repräsentiert wurde. Dies zeigt das zweite Beispiel einer exotischen Großkatze, die 1682 als Geschenk der Gesandtschaft von Moulay Ismaïl, Sultan von Marokko, an den französischen Hof gelangte. Mit dieser außerordentlichen Mission waren ebenfalls das Ziel, die diplomatischen Beziehungen zu verdichten, verbunden, war der Sultan außer an der Regelung von offenen Streitpunkten doch auch an französischer Unterstützung in seinen Auseinandersetzungen mit dem König von Spanien interessiert. Außerdem zielte der zweite Alawiden-Herrscher, der das von seinem Halbbruder übernommene Reich erfolgreich zu konsolidieren und auszubauen vermochte, darauf, den eigenen Vorrangansprüchen in Nordafrika auch bei den europäischen Mächten Geltung zu verschaffen – ein spektakulärer Auftritt der Gesandtschaft am französischen Hof mochte dazu einen Beitrag leisten. 46 Zunächst verlief alles in gewünschten Bahnen. Bereits kurz nach der Ankunft des marokkanischen Botschafters und seines Begleiters in der Hafenstadt Brest am 17. Oktober 1681 konnte man in der Gazette lesen, dass sie zahlreiche Geschenke für den König mitführten, darunter „eine zahme Tigerin“ (une Tigresse privée), zwei Löwen und vier Strauße. 47 Bereits Monate vor dem eigentli-
45 In welchem Ausmaß sich die Aufmerksamkeit jedoch direkt auf die französisch-portugiesischen Beziehungen auswirkte, ließe sich wohl selbst mit einer genauen Analyse diplomatischer Korrespondenzen – die hier nicht geleistet werden konnte – nur schwer ermessen. 46 Dies lässt sich etwa an der Rhetorik der Herrscherbriefe und Gesandtschaftsreden erkennen; später suchte der marokkanische Herrscher über ein – freilich nicht weit gediehenes – Heiratsprojekt mit einer natürlichen Tochter Ludwigs XIV. gar partiellen Anschluss an die europäische Fürstengesellschaft. Vgl. Younès Nekrouf: Une amitié orageuse, Moulay Ismaïl et Louis XIV. Paris 1987, zur mehrere Personen umfassenden Gesandtschaft von 1681/1682 insbes. 83–131, sowie die Edition von mit der Gesandtschaft zusammenhängenden Schriftstücken in: H. de Castries (Hrsg.): Les sources inédites de l'histoire du Maroc, deuxième série – dynastie lalienne. Archives et bibliothèques de France. Bd. 1. Paris 1922, 567–658. (Dort ndet sich auch der erklärende Hinweis, dass es sich bei den Tiergeschenken formal nicht um Geschenke des Sultans handelte, sondern um solche seines Botschafters El-H.âjj Moh.ammed Temim: ebd., 598 f., Anm. 2.) 47 Vgl. Recueil des Gazettes 1681 (Nr. 1–114), 650 f. Am Tag der Ankunft hatte Michel Bégon, Vertreter des abwesenden Intendanten der Marine in Brest, Colbert über die Tiergeschenke informiert und nachgefragt, wie die Gesandtschaft nach Paris gelangen solle, da die Tiere nicht auf dem Landweg reisen könnten; vgl. Castries: Les sources inédites, 589 f.
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chen Schenkakt zogen insbesondere die mitgeführten lebenden Geschenke damit die druckmediale Aufmerksamkeit vor Ort auf sich. Die Wahl der Geschenke re ektierte dabei zum einen den Status des Entsenders, galten doch Löwen im osmanischen Kontext als Symboltiere der Sultane, 48 war zum anderen aber wohl auch eine gezielte Antizipation der Vorlieben Ludwigs XIV. für exotische Tiere, über die man an den nordafrikanischen Höfen durchaus Bescheid wusste. 49 Nach erfolgreichem Abschluss der Verhandlungen wurden dem französischen König die Tigresse sowie die anderen Tiere im Anschluss an die Abschiedsaudienz im Schloss von Saint-Germain im Februar 1682 dann tatsächlich übergeben. 50 Bei der anwesenden Hofgesellschaft sorgte dabei für Aufsehen, dass sich die aus Reiseberichten als besonders wild und gefährlich bekannte Raubkatze äußerst friedfertig gebärdete und sich gar im Zimmer der Königin herumführen ließ. „Sie war so zahm wie eine Hündin, alle Damen haben sie lange gestreichelt“, hielt der Marquis de Sourches in seinen Memoiren fest. 51 Die weitere Geschichte des Tigergeschenks verlief aber für den Sender unvorteilhaft und für das Tier selbst tragisch. Nach dem aufsehenerregenden Auftritt im Schloss von Saint-Germain und der Abreise der Gesandten wurde die Großkatze, trotz ihrer Zahmheit, in die in den 1650er Jahren von Mazarin erbaute Menagerie von Vincennes überführt, in der vor allem gefährliche Raubtiere gehalten wurden. Wenige Monate später wurden dort im Cour du Sérail anlässlich der Geburt des ersten Enkels des Königs vor der versammelten Hofgesell-
48 Vgl. Reindl-Kiel: Dogs, Elephants, Lions, 282 f. 49 Die Gesandtschaften von maghrebinischen Herrschern nach Frankreich führten daher meist exotische Tiere und insbesondere Großkatzen als Geschenke mit, so etwa auch 1660 ein Botschafter aus Tunis; um 1670 hatte Colbert außerdem damit begonnen, über die französischen Konsuln und Gouverneure systematisch exotische Tiere für die Menagerie akquirieren zu lassen. Vgl. Pieragnoli: Les animaux et la diplomatie française, 216 f., 219. 50 Vgl. die ausführliche – primär auf die Darstellung der Gloire König Ludwigs XIV. bedachte – Beschreibung des Aufenthalts der marokkanischen Gesandten im Mercure Galant, Februar 1682, 213–237 (auch abgedr. in Castries: Les sources inédites, 638–658), zum Schenkakt – der auch die erwähnten beiden Löwen und vier Strauße einschloss – 234 (resp. 257). Im Gegenzug wurden den Gesandten zwei Pendel, ein Dutzend Uhren, Westen, Schusswaffen, Stoffe und Tapisserien für ihren Herrscher mitgegeben (sowie etliche persönliche Geschenke). Zur besonderen symbolischen Signi kanz (und Anfälligkeit für Missverständnisse) von Audienzen bei interkulturellen diplomatischen Beziehungen siehe Peter Burschel /Christine Vogel (Hrsg.): Die Audienz. Ritualisierter Kulturkontakt in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 2014. 51 „Elle étoit aussi apprivoisée comme une chienne, et toutes les dames la attèrent très longtemps.“ Louis Francois du Bouchet, Marquis de Sourches: Mémoires du Marquis de Sourches sur le règne de Louis XIV. 13 Bde. Paris 1882–1893. Bd. 1, 77 f.
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schaft Tierkämpfe abgehalten. Auf den Kampf zwischen Hunden und einem Bären sowie einen Stierkampf folgte „jener einer Kuh gegen die Tigerin, die Seiner Majestät von den Botschaftern des Königs von Marokko übergeben worden waren“, berichtete der Mercure Galant, und lieferte auch gleich das Resultat: „Die Kuh obsiegte“. 52 Gleich darauf habe sich die Kuh gar noch gegen einen weiteren Tiger sowie zwei Löwen durchgesetzt – möglicherweise jene, welche ebenfalls durch die marokkanische Gesandtschaft an den Hof gelangt waren. Zumindest im Fall der ‚Tigerin` erweist sich der tödliche Ausgang des Kampfes bei genauerem Hinsehen als etwas weniger unwahrscheinlich, als die Berichte es vermuten lassen. Nicht nur war das zahme Tier durch die Reise und die Haltung wohl geschwächt gewesen; eine Abbildung, die bei der Sezierung der toten Großkatze durch die Académie erstellt wurde, lässt den Schluss zu, dass es sich bei der Großkatze nicht etwa um einen Tiger gemäß der heute gültigen zoologischen Taxonomie, sondern um einen – wesentlich kleineren – Leoparden oder Geparden gehandelt hatte. 53 Angereichert mit einer Mischung von Ignoranz und Indifferenz gegenüber dem zahmen Wildtier verkehrte sich das exotische Tiergeschenk dessen ungeachtet – oder gerade deswegen – in das ungefähre Gegenteil dessen, was die marokkanische Gesandtschaft damit intendiert haben dürfte: Statt Aufmerksamkeit zu wecken und die Würde des eigenen Prinzipals zu repräsentieren wurden die Tiere von einem frühen Tod ereilt, wohl begleitet vom
52 „Ce combat fuit suivi de celuy d'une Vache, contre la Tygresse donnée à Sa Majesté par les Ambassadeurs du Roy de Maroc. La vache vainquit, & eut le mesme avantage contre une Lionne, & puis contre un Tygre. Apres cela, on la t combatre contre un Lyon. Elle l'attaqua, & quoi qu'il luy eust dépoüillé la hanche, & qu'elle fust deumeurée boiteuse, elle ne laissa pas le vaincre [. . . ].“ Mercure Galant, August 1682, 185 f. 53 Vgl. die Abbildung und Beschreibung in [Claude Perrault]: Description anatomique d'un Tigre et de trois Tigresses. In: Mémoires pour servir à l'histoire naturelle des animaux, 431–441, wo auf 433 auch angemerkt wird, dass nicht ganz klar sei, ob es sich um einen Tiger oder einen großen Leoparden gehandelt habe. Die Konfusion verweist auf eine noch kaum standardisierte zoologische Wissensordnung: Verschiedene exotische Großkatzen (Pantherinae) aus unterschiedlichen Weltgegenden wurden noch im 18. Jahrhundert unter dem Begriff des Tigers vermengt; vgl. etwa den Art. „Tiger, Tigerthier [. . . ]“ in: Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste [. . . ]. 68 Bde. Leipzig, Halle 1732–1754. Bd. 44, Sp. 108–113. Loisel: Histoire des ménageries. Bd. 2, 98 f., und Susie Green: Tiger. Hildesheim 2011, 119 f., gehen dagegen fälschlicherweise davon aus, dass es sich bei dem Tier um einen Tiger gemäß der heute gültigen Artenbeschreibung gehandelt habe. Während die Zeichnung eher einen (Berber-)Leoparden vermuten lässt, spräche für den Gepard, dass dieser im Gegensatz zu Ersterem einfacher zu zähmen ist und deshalb auch oft als Jagdhelfer eingesetzt wurde.
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Gelächter der versammelten Höflinge – und dies im Rahmen einer Inszenierung, die sich auf symbolischer Ebene auch als Überlegenheitsdemonstration des Roi Très Chrétien über den ‚orientalischen` Herrscher lesen ließ. 54
IV. Fazit und Ausblick Die Ausführungen sollten gezeigt haben, dass Tiere eine sowohl verbreitete wie spezielle Gattung diplomatischer Geschenke in der Frühen Neuzeit darstellten. Als Medien repräsentierten sie den Rang des Schenkers oder des Empfängers in der Fürstengesellschaft, versinnbildlichten deren Freundschaft oder Allianz und transportierten implizite Appelle im Rahmen einer Gabentauschlogik, die nicht zwischen ‚privaten` Präsenten und den politischen Angelegenheiten unterschied. Dabei können eher alltägliche, teils in periodischer Regelmäßigkeit auftretende Transfers von Pferden, Falken und anderen repräsentativen Nutztieren von einmaligen Geschenken besonders seltener und schöner Tiere unterschieden werden. Bei Ersterem ging es um längerfristige Beziehungsp ege, die sich im Idealfall in den Interaktionen des Fürsten mit seinem Jagd- oder Begleittier über Jahre hin fortsetzte, bei Letzterem um einen positiven éclat, der am Empfängerhof ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit generieren sollte und über die Verbreitung in Schrift und Druck ein erhebliches mediales Eigenleben entfalten konnte. Ob die Rezeption vor Ort und in der hö schen Öffentlichkeit im Sinne des Schenkers erfolgte, hing nicht zuletzt von der Verwendung und vom Verhalten des Geschenks ab. Der Elefant des Regenten von Portugal und die Großkatzen des Botschafters von Marokko waren keine bloß passiven Schauobjekte, sondern bestimmten – wenngleich nicht aus freien Stücken – über ihr mehr oder weniger glückliches Agieren am Empfängerort ihren Wert als Geschenk und damit auch das Ansehen des Schenkers mit. Diese unberechenbare Eigenmacht als lebende 54 Dies natürlich nur in den sicheren Ge lden des eigenen Hofes. Allgemein waren die Kräfteverhältnisse keineswegs eindeutig, sodass sich etwa auch die französischen Vertreter bei den Maghrebherrschern mehr oder weniger bewusst dortigen Vorrangansprüchen unterzuordnen hatten; von einem ‚Orientalismus` im Sinne von Edward Said kann daher kaum gesprochen werden. Vgl. Christian Windler: La diplomatie comme expérience de l'Autre. Consuls français au Maghreb (1700–1840). Genf 2002, hier insbes. 491–500 zu den als Tributleistungen aufgefassten Geschenken und 30f., 549 f. zu Saids OrientalismusThese. Gerade exotische Tiere wurden dennoch symbolisch gerne mit außereuropäischen Herrschern assoziiert, wie etwa die erwähnte Bezeichnung von Menagerien als „Serail“, allegorische Darstellungen auf Gemälden oder eben die – ansonsten nur noch selten abgehaltenen – Tierkämpfe zeigen: Im gleichen Jahr war in Anwesenheit persischer Gesandter ebenfalls ein Tierkampf zwischen einem Tiger und einem Elefanten abgehalten worden; vgl. Loisel: Histoire des ménageries. Bd. 2, 98.
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Mitwesen machte Tiergeschenke in der Frühen Neuzeit so riskant, aber auch ungemein attraktiv. Die Geschichte von Tieren als Medien der Außenbeziehungen ließe sich zweifellos auch über die Epochengrenzen hinweg fortschreiben. Einige Parameter verschoben sich mit dem Übergang zur Moderne zwar grundlegend. Mit der intensivierten Globalisierung von Handel, Verkehr und Politik – zunächst über die Bildung von Kolonialreichen – wurden Tiere von anderen Kontinenten im 19. Jahrhundert einfacher beschaffbar. Zudem stieg mit der Entstehung und Ausdifferenzierung von Fachwissenschaften, so insbesondere der Zoologie und der Veterinärmedizin, und der Gründung spezieller Institutionen zur Haltung lebender Wildtiere (Zoos) das Wissen um deren Eigenschaften und Verhalten sowie die Chancen ihres Überlebens, ja der Reproduktion vor Ort. Der Raritätswert nicht in Europa heimischer Arten nahm damit tendenziell ab, zumindest bis zum Zeitpunkt, wo deren teilweise drohendes Aussterben und entsprechende Schutzbestimmungen für Wildtiere in den Vordergrund rückten. 55 Zugleich schuf die Anlage systematischer zoologischer Sammlungen mit Bildungs- und Repräsentationsauftrag aber auch eine spezi schere Nachfrage, und die zunehmende Medialisierung von Politik machte Tiere potenziell zu wertvollen Vehikeln von Imagekampagnen, wie sich etwa an der Abfolge der rst dogs im Weißen Haus ersehen lässt. 56 Es verwundert deshalb nicht, dass der internationale Austausch von Tiergeschenken sich nicht gänzlich auf die nichtstaatliche Ebene der Kontaktp ege zwischen Zoos verschoben hat, sondern weiterhin auch im Feld der politischen Außenbeziehungen anzutreffen ist. Die Führung der Volksrepublik China setzte ab 1958 gar systematisch Geschenke (und seit 1984 den ‚Verleih`) von in Westen besonders beliebten Pandas ein, um diplomatische Türen zu öffnen, wofür sich der eigene Begriff der ‚Panda-Diplomatie` im Sprachgebrauch eingebürgert hat. 57 Dass das Verhalten der lebenden Geschenke auch unter deutlich erhöhter und professionalisierter menschlicher Kontrolle eine schwer kalkulierbare Größe geblieben ist, zeigt das Beispiel eines Bärenpaars, das die Gattin des damaligen Präsidenten (und späteren Ministerpräsidenten) der Russischen Föderation Dmitri Medwedew, Swetlana Medwedew, im September 2009 im Rahmen des ersten Staatsbesuchs in der Schweiz der Stadt Bern überreichte. Zunächst grif55 Zu den skizzierten Entwicklungen siehe etwa Éric Baratay /Elisabeth Hardouin-Fugier: Zoo. Von der Menagerie zum Tierpark. Berlin 2000, Kap. II und III, und Dittrich: Der Import von Wildtieren, 32–64. 56 Siehe – freilich eher anekdotisch – Roy Rowan /Brooke Janis: First Dogs. American Presidents and their Best Friends. 2. erw. Au . New York 2009. 57 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Panda_diplomacy (zuletzt abgerufen 14. 12. 2015) und die Einträge in weiteren sieben Sprachen zum selben Begriff.
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fen der Berner Stadtpräsident und der russische Botschafter für Mischa und Mascha noch medienwirksam gemeinsam zu den Spaten, um das Bärengehege im Dählhölzli-Wald zu vergrößern, wobei man es nicht unterließ, auf die hohe symbolische Bedeutung des Tiers sowohl für die Schweizer Bundesstadt wie auch für die russische Nation zu verweisen. 58 Dreieinhalb Jahre später freuten sich die lokalen Medien über den ersten Nachwuchs des Bärenpaars. Die ungebrochenen Sympathien machten dann jedoch ambivalenten bis negativen Gefühlen Platz, als Mischa die zwei Jungtiere vor den Augen entsetzter (und mit lmender) Zoobesucher sowie der seltsam gleichgültigen Bärenmutter so stark verletzte, dass das eine starb und das andere kurz darauf eingeschläfert werden musste. Der Bär wurde wenig später unter fortgesetzter medialer Beobachtung sterilisiert, was zu kommentieren die politischen Akteure beider Seiten diesmal wohlweislich unterließen. 59 Wie auch immer sie sich verhalten, die allgemeine „Aufmercksamkeit“ ist lebenden Geschenken mehr denn je gewiss.
58 Vgl. Eva Berger: Aus den russischen Wäldern in den Berner Bärenwald. In: Der Bund, 17. 12. 2010 (URL: http://www.derbund.ch/bern/stadt/Aus-den-russischen-Waeldern-inden-Berner-Baerenwald-/story/17473443 [zuletzt abgerufen 14. 12. 2015]). 59 Spekuliert wurde dabei über die Gründe des „unnatürlichen“ Verhaltens, die nicht zuletzt in der speziellen Vorgeschichte der beiden Bären – beide waren als Waisen miteinander aufgewachsen – gefunden wurden. Vgl. Mirjam Messerli: Mischa unter dem Messer. In: Berner Zeitung, 17.6. 2014 (URL: http://www.bernerzeitung.ch/region/bern/Mischa-unterdem-Messer/story/12832474 [zuletzt abgerufen 14. 12. 2015]).
Guido Thiemeyer
Einführung Die in diesem Kapitel publizierten Aufsätze konzentrieren sich auf die Rolle der Medien in der transnationalen Kommunikation und der europäischen Integration. Ihre Rolle wird am Beispiel von Presse und Film verdeutlicht und konzentriert sich im Kern auf fünf Dimensionen: Zum einen waren die Journalisten, das zeigt Florian Greiner am Beispiel der Debatte um den Briand-Plan vom 5. September 1929, wichtige Akteure in außenpolitischen Diskussionen. Während Europa-Propagandisten der Zwischenkriegszeit, wie Aristide Briand und Richard Coudenhove-Kalergi, den Plan als Wendepunkt in der politischen Diskussion um die europäische Vereinigung sahen, blieben andere Akteure, insbesondere etwa der neue deutsche Außenminister Julius Curtius, skeptisch. Greiner verdeutlicht in seinem Beitrag, wie die Argumente in der Außenpolitik in einem kommunikativen Wechselspiel zwischen Außenpolitikern und Journalisten entstanden und sich schließlich verfestigten. Es war also, so ließe sich dieses Argument zusammenfassen, nicht so, dass Diplomaten Argumente formulierten, die dann in der Presse aufgegriffen wurden. Ebenso wenig waren in dieser Situation Journalisten die Agenda-Setter für bestimmte Themen und Argumente aus dem Kontext der Europapolitik. Realistischer ist es, davon auszugehen, dass die wechselseitige Beein ussung in einem durchaus transnational strukturierten Kommunikationsraum stattfand, in dem beide Akteurgruppen, Journalisten und Diplomaten, gleichberechtigt agierten. Eine zweite wichtige Bedeutung hatten Medien im Kontext der Weltwirtschaftskrise zwischen 1929 und 1933 für die Konstruktion Europas. Vor allem Journalisten aus dem angloamerikanischen Kulturraum stellten „Europa“ in der Wirtschaftskrise als Einheit dar. Dies ist ein weiteres Beispiel für die Konstruktion Europas „von außen“, die Tatsache, dass die Menschen auf dem „alten Kontinent“ in bestimmten Zusammenhängen nicht als Franzosen, Deutsche oder Polen wahrgenommen wurden, sondern als „Europäer“. Hinter diesen Konstruktionen stand kein konkretes politisches Programm, gleichwohl hatten sie politische Konsequenzen. Zu Recht hebt Florian Greiner hervor, dass durch diese Konnotationen jener „permissive Consensus“ geschaffen wurde, der nach 1945
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grundlegend für die politisch-wirtschaftliche Konstruktion europäischer Organisationen wurde. Drittens wirkte, so wird in dem Beitrag Greiners deutlich, auch der Nationalsozialismus als wichtiger Katalysator für die europäische Einigung nach 1945. Dies bezieht sich nicht auf die diffuse nationalsozialistische Europa-Rhetorik, sondern darauf, dass die medialen Europa-Diskurse vor allem im angloamerikanischen Kulturraum erheblich vorangetrieben wurden; hinzu kam die negative Wahrnehmung des Nationalsozialismus. Zugespitzt formuliert wurde „Europa“ in diesem Kontext der Gegenentwurf zur NS-Herrschaft auf dem Kontinent, vor allem die in der Atlantik-Charta vom 14. August 1941 niedergelegten weltanschaulichen Grundlagen wurden so als geistiges Fundament „Europas“ konstruiert. Auch dies weist in seiner Bedeutung weit über die Jahre des Zweiten Weltkriegs hinaus, vor allem auf die Konstruktion europäischer Werte aus Demokratie und Menschenrechten, wie sie in den 1950er Jahren entstand und bis heute wirksam ist. Viertens, und das ist das Kernargument des Beitrages von Gabriele Clemens, wurden die Medien, vor allem der Film, in den 1930er Jahren in den Vereinigten Staaten als außenpolitisches Instrument genutzt, das bislang offenbar unterschätzt wurde. Clemens spricht in diesem Kontext von der „vierten Säule der Außenpolitik“ neben der klassischen Diplomatie, der Wirtschafts- und der Kulturpolitik. Volle Bedeutung erlangte das Instrument nach 1945, vor allem im Kontext des Marshallplanes. Dieser war nicht nur ein wirtschaftliches Hilfsprogramm für die vom Krieg zerstörten europäischen Wirtschaftssysteme und ein Instrument amerikanischer Außenpolitik im Kalten Krieg. Der Marshallplan war auch ein wichtiges Instrument, mit dem die US-Administrationen die Integration Europas vorantreiben wollten. Daher spielten Medien, vor allem Filme, eine wichtige Rolle. Sie transportierten zum Teil ganz offen, bisweilen verdeckt Botschaften an die Bevölkerung, die die allgemeine Außen- und Europapolitik der USA ergänzen sollten. Insgesamt fügen sich die Beiträge damit nicht nur in die neuere Forschung zu Medien und Außenbeziehungen ein, sondern auch in die europäische Integrationsforschung, die in den vergangenen Jahren intensiv auf die diskursive und mediale Ebene der europäischen Konstruktion eingegangen ist. Vor allem die von Wolfgang Schmale 1 in verschiedenen Publikationen vorangebrachten For-
1
Vgl. Wolfgang Schmale: Geschichte Europas. Wien, Köln, Weimar 2000; ders.: Geschichte und Zukunft der europäischen Identität. Stuttgart 2008.
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schungen zur Ikonogra e Europas werden so um konkrete Beispiele ergänzt. Die Beiträge treiben aber auch die von den Kommunikationswissenschaften und der Sozialgeschichte 2 angestoßene Debatte um eine transnationale mediale Öffentlichkeit und ihre Bedeutung für die politisch-wirtschaftliche Integration voran.
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Hier zusammenfassend: Vgl. Hartmut Kaelble: Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart. Bonn 2007, 269–298. Guido Thiemeyer: Europäische Integration. Motive – Prozesse – Strukturen. Köln, Weimar, Wien 2010, 213–220.
Florian Greiner
Europäisierung durch Medialisierung Zur Konstruktion Europas durch Massenkommunikation (1914–1945)
Europa entwickelte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Gegenstand der internationalen Politik und trat ab der zweiten Hälfte des Säkulums über die supranationalen Institutionen der heutigen Europäischen Union und ihrer Vorgängerorganisationen zugleich als eigenständiger Akteur auf das außenpolitische Parkett. Die rasante Europäisierung hatte dabei historisch fraglos mannigfaltige Gründe. 1 In diesem Aufsatz wird argumentiert, dass die kommunikative Verdichtung eine wesentliche Triebkraft der Entwicklung darstellte. Die ständige Beschleunigung von Kommunikation durch moderne Massenmedien ließ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen europäischen Kommunikationsraum entstehen, der, so die hier vertretene These, erst wesentlich dazu beitrug, das politische Europa zu konstruieren. 2 Europäische Kommunikationsnetzwerke waren freilich nichts genuin Neues: Schon im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit existierten kommunikative Infrastrukturen in Europa, etwa in Form des kontinentalen Postdienstes, der ers1
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Vgl. zum Begriff der Europäisierung in seiner neueren, kulturhistorischen Verwendungsweise und den historischen Ursachen hinter diesem Prozess Martin Conway /Kiran Klaus Patel (Hrsg.): Europeanization in the Twentieth Century. Historical Approaches. Basingstoke, New York 2010, hierin insbesondere die Einleitung von Patel und Ulrike von Hirschhausen, sowie Hartmut Kaelble: Europäisierung. In: Matthias Middell (Hrsg.): Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Hannes Siegrist zum 60. Geburtstag. Leipzig 2007, 73–89. Vgl. hierzu Hans J. Kleinsteuber /Torsten Rossmann: Europa als Kommunikationsraum. Akteure, Strukturen und Kon iktpotentiale in der europäischen Medienpolitik. Opladen 1994, v. a. 12 und 50–58; Hans J. Kleinsteuber: Faktoren der Konstitution von Kommunikationsräumen. Konzeptionelle Gedanken am Beispiel Europa. In: Lutz Erbring (Hrsg.): Kommunikationsraum Europa. Konstanz 1995, 41–50, sowie Klaus Eder: Integration durch Kultur? Das Paradox der Suche nach einer europäischen Identität. In: Reinhold Viehoff/ Rien T. Segers (Hrsg.): Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt am Main 1999, 147–179, hier v. a. 159–161.
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ten Zeitungen, zirkulierender Bücher oder auch der bürgerlichen Bildungsreise, die allesamt zur Informationszirkulation zumal unter Adligen, Wissenschaftlern oder Handeltreibenden wie der Hanse beitrugen. 3 Nicht zufällig rückte die potenzielle Bedeutung intensiver Kommunikation für Prozesse der europäischen Integration früh ins Zentrum des Interesses von Vordenkern eines vereinten Europas. Die Wichtigkeit von Kommunikationsstrukturen betonten führende Vertreter der europäischen Idee wie der deutsch-dänische Publizist Konrad von Schmidt-Phiseldeck im frühen 19. Jahrhundert, der die kommunikative Vernetzung von Lissabon bis St. Petersburg, von Stockholm bis Neapel als Facette der europäischen Kultur bezeichnete. Auch für Richard Coudenhove-Kalergi, den Gründer der Paneuropa-Bewegung in der Zwischenkriegszeit, stellte unter anderem das Telegramm ein Merkmal des „Zusammenschrumpfens“ Europas dar. 4 In der modernen Mediengesellschaft erreichte die kommunikative Vernetzung eine neue Qualität. Die massenmediale Revolution des ausgehenden 19. Jahrhunderts war bedingt nicht nur durch soziale und politische Entwicklungen wie die steigende Alphabetisierung und die Durchsetzung der Pressefreiheit in vielen Staaten, sondern vor allem durch den technischen Fortschritt etwa im Verkehrswesen oder in Form der Er ndung und Verbreitung von Telegrae sowie der Schnell- und Rotationspresse, die wesentlich die Ausbildung einer modernen Massenpresse förderten. 5 Sie führte zumal im Europa des 20. Jahrhunderts zu einer ständigen Verdichtung von Kommunikation. Gerade Printmedien erlebten im nun eingeläuteten ‚goldenen Zeitalter` der Presse einen starken Boom und befeuerten gesamtgesellschaftliche Medialisierungsprozesse. 6 Mit die-
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Die Bedeutung von Kommunikationsprozessen und europäischen Öffentlichkeiten für die europäische Identität in der Frühen Neuzeit unterstreicht etwa Wolfgang Schmale: Geschichte und Zukunft der europäischen Identität. Stuttgart 2008, 100–104. Zur Historizität europäischer Kommunikationsstrukturen vgl. auch Jörg Requate /Martin Schulze Wessel (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main, New York 2002. Vgl. Wolfgang Schmale: Geschichte Europas. Wien, Köln. Weimar 2001, 148, und Richard N. Coudenhove-Kalergi: Pan-Europa. Wien, Leipzig 41926 [11923], 17. Die verschiedenen Facetten der massenmedialen Revolution, ihre technischen Voraussetzungen und Folgen beleuchten Frank Bösch /Norbert Frei: Die Ambivalenz der Medialisierung. Eine Einführung. In: dies. (Hrsg.): Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, 7–23, hier v. a. 7–10; Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt am Main, New York 2011, 109–142, und Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2000, 155–355. Vgl. Jean K. Chalaby: Journalism as an Anglo-American Invention: A Comparison of the Development of French and Anglo-American Journalism, 1830s–1920. In: European
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ser Entwicklung einher ging eine Internationalisierung der Berichterstattung, welche durch die sich ausprägenden Korrespondentennetzwerke vieler Zeitungen oder die Entstehung von Nachrichtenagenturen weiter vorangetrieben wurde. Aufgrund ihrer wachsenden grenzüberschreitenden Aktivität formierten sich Printmedien letztlich sukzessive zu einer Art transnationaler Diskursgemeinschaft – wechselseitiges, wenngleich keinesfalls immer wohlwollendes Beobachten, regelmäßige Bezugnahmen auf ausländische Zeitungen, vielfältige journalistische Austauschprozesse und eine tendenzielle Annäherung der massenmedialen Themen und Inhalte waren die Folge. 7 Auf theoretischer Ebene hat die neuere Kultur- und Mediengeschichte nachgewiesen, dass Massenmedien Kommunikation strukturieren und vergesellschaftende Effekte haben, da sie ganz wesentlich zur Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeiten und Identitäten beitragen. Auf diese Weise können sie gerade groß ächige Gemeinwesen stabilisieren, in denen eine direkte Face-to-face-Interaktion der Mitglieder nicht möglich ist. 8 Wenn imaginierte Gemeinschaften nach Benedict Anderson auch und vor allem über die Rezeption von Massenmedien geschaffen werden, 9 so war es letztlich gerade die Tagespresse als Basismedium in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die die Rahmenbedingungen für entsprechende Europäisierungsprozesse bereitstellte. Denn im gleichen Maße wie die Nation konstituiert sich auch Europa primär über Interaktion und Kommunikation. 10 Journal of Communication 11 (1996), 303–326, und Corey Ross: Media and the Making of Modern Germany. Mass Communications, Society, and Politics from the Empire to the Third Reich. Oxford, New York 2008, v. a. 20–33. 7 Vgl. hierzu Dominik Geppert: Zwischen Nationalisierung und Internationalisierung. Europäische Auslandsberichterstattung um 1900. In: Ute Daniel/Axel Schildt (Hrsg.): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 2010, 203–228, und Joel H. Wiener /Mark Hampton (Hrsg.): Anglo-American Media Interactions, 1850–2000. Basingstoke, New York 2007. 8 Vgl. Frank Bösch: Europäische Medienereignisse. In: Europäische Geschichte Online (2010), URL: http://www.ieg-ego.eu/boeschf-2010-de (zuletzt abgerufen 20. 8. 2015); Peter Burke: Was ist Kulturgeschichte? Bonn 2005, 122 f. sowie grundlegend Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden 42009, v. a. 9–18 und 183. 9 Benedict Anderson: Imagined Communities. Re ections on the Origins and Spread of Nationalism. London 1983. 10 Vgl. Michael Latzer /Florian Saurwein: Europäisierung durch Medien: Ansätze und Erkenntnisse der Öffentlichkeitsforschung. In: Wolfgang R. Langenbucher/Michael Latzer (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit und medialer Wandel. Eine transdisziplinäre Perspektive. Wiesbaden 2006, 10–44, hier v. a. 27 f.; Philipp Ther: Comparisons, Cultural Transfers, and the Study of Networks: Toward a Transnational History of Europe. In: Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka (Hrsg.): Comparative and Transnational History. Central European
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Vor diesem methodisch-theoretischen Hintergrund untersucht der Aufsatz ausgehend von einem klassischen Medienbegriff, der Medien als Träger von Massenkommunikation de niert, die europabezogene Berichterstattung deutscher, britischer und amerikanischer Tageszeitungen in der Epoche der Weltkriege. 11 Mittels einer digitalen Volltextanalyse der untersuchten Qualitätszeitungen wird dabei ein breiter Quellenbestand von mehreren Zehntausend Artikeln erfasst. Ausgewertet werden je zwei Qualitätszeitungen 12 pro Land, die sich analytisch ergänzen: für Großbritannien die konservative Times und der liberale Manchester Guardian; für die USA die New York Times als europanahe, liberale Ostküstenzeitung und die konservative, in der Zwischenkriegszeit stark isolationistisch geprägte Chicago Tribune; für Deutschland die linksliberale Vossische Zeitung sowie die nationalliberale Kölnische Zeitung. Im Zentrum steht die Frage nach der europabezogenen massenmedialen Kommunikation in einer Epoche, die durch einen exzessiven Nationalismus geprägt war. Inwiefern trug die Presse zwischen 1914 und 1945 dazu bei, Europa als einen (außen)politisch relevanten Raum zu konstruieren? Anhand von drei exemplarischen Fällen wird überprüft, wie Printmedien in jenen Jahren europäische Perspektiven in ihre Berichterstattung aufnahmen, diese verarbeiteten und den Kontinent so zu einem Gegenstand der nationalen Außenkommunikation machten. Erstens soll am Beispiel des Briand-Plans gezeigt werden, dass Europadebatten in der Tagespresse bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitunter eine Form der direkten außenpolitischen Kommunikation bildeten. Zweitens wird anhand einer Betrachtung der Darstellung der nationalsozialistischen Europapläne während des Zweiten Weltkriegs in englischen und amerikanischen Zeitungen die Bedeutung einer transnationalen medialen Kommunikation unterstrichen, die auch in Zeiten der nationalen Dissonanz konstitutiv für die Genese spezi scher Vorstellungen einer europäischen Einheit wirken konnte. Schließlich argumentiert der Aufsatz drittens, dass ein beträchtlicher Teil der europabezo-
Approaches and New Perspectives. New York, Oxford 2009, 204–225, hier 215, und Hartmut Wagner: Bezugspunkte europäischer Identität. Territorium, Geschichte, Sprache, Werte, Symbole, Öffentlichkeit – Worauf kann sich das Wir-Gefühl der Europäer beziehen? Berlin, Münster, Hamburg, London 2006, 85–92. 11 Vgl. zur Begriffsbestimmung Bösch: Mediengeschichte, 9. 12 Unter Qualitätszeitungen versteht die Medienwissenschaft Zeitungen mit einer großen, internationalen Reichweite, einem hohen Prestige und journalistischen Niveau. Gerade für den Bereich der Außenkommunikation fällt Qualitätszeitungen insofern eine besondere Bedeutung zu, obschon ihre Auflagenhöhe zumeist unter der der Boulevardpresse liegt. Vgl. hierzu John C. Merrill /Harold A. Fisher: The World's Great Dailies. Pro les of Fifty Newspapers. New York 1980, bes. 6–19.
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genen Außenkommunikation zwischen 1914 und 1945 keinesfalls in Form einer direkten beziehungsweise aktiven Propagierung europäischer Gedanken stattfand – etwa im Sinne einer gezielten, nationalen Instrumentalisierung Europas oder der Artikulation proeuropäischer Interessen –, sondern die Bedeutung einer eher indirekten Kommunikation über den Kontinent nicht zu gering zu veranschlagen ist. Dies soll anhand der medialen Konstruktion eines europäischen Wirtschaftsraumes in den 1920er Jahren illustriert werden.
I. Printmedien und staatliche Europapolitik: Der Briand-Plan 1929/30 Europapolitik im Sinne einer stärkeren Kooperation der europäischen Nationen war zweifelsfrei weder Anliegen noch Gegenstand der Außenpolitik der meisten einzelstaatlichen Regierungen in der Zwischenkriegszeit. Die einzige Ausnahme hiervon war das am Ende einer Phase der punktuellen Entspannung in der europäischen Politik 1929/30 artikulierte und vieldiskutierte Integrationsprojekt des prominenten französischen Politikers Aristide Briand. Der Briand-Plan stellte nicht nur die erste auf hoher Regierungsebene ernsthaft diskutierte Idee einer politischen Union der europäischen Staaten dar, sondern entwickelte sich zugleich zu einem transnationalen Medienereignis, in dessen Rahmen die zwischenstaatliche Kommunikation vor allem auch medial ausgetragen und inszeniert wurde. Briand verkündete seinen Europaplan am 5. September 1929 im Rahmen einer Rede vor der Generalversammlung des Völkerbundes in Genf, in der er zunächst eher vage eine föderative Bindung der europäischen Nationen forderte. 13 Nachdem der Quai d'Orsay mit der Ausarbeitung eines schriftlichen Entwurfs beauftragt worden war, leitete Briand das „Memorandum über die Organisation eines europäischen Zusammenschlusses“ am 1. Mai 1930 an die europäischen Regierungen weiter. Dieses sah eine im Rahmen des Völkerbundes zu schaffende „Europäische Union“ vor, in der die sicherheitspolitischen Richtlinien der Verträge von Locarno auf alle europäischen Völkerbund-Mitglieder ausgedehnt und diese zudem durch einige internationale Organe (eine europäische Konferenz, einen europäischen Ausschuss und ein ständiges Sekretariat) unter Aufrechterhaltung der nationalstaatlichen Souveränität stärker miteinander ver-
13 Vgl. zum Briand-Plan Antoine Fleury /Lubor Jílek (Hrsg.): Le Plan Briand d'Union fédérale européenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Bern, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Paris, Wien 1998, und Thomas Neumann: Die europäischen Integrationsbestrebungen in der Zwischenkriegszeit. Wien 1999, 67–258.
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bunden werden sollten. 14 Auf die in der Historiogra e geführte Forschungsdebatte zu den Hintergründen des Briand-Plans und den Intentionen der französischen Außenpolitik soll hier nicht näher eingegangen werden, ebenso wenig auf die politischen Ursachen für dessen letztliches Scheitern. 15 Entscheidend für die hier verfolgte Fragestellung ist vielmehr die zentrale Rolle der internationalen Tagespresse bei der kurzzeitigen Popularisierung des Planes. Mehrere Umstände trugen zum raschen Aufgreifen der Europa-Initiative in den deutschen, britischen und auch amerikanischen Printmedien bei. Wichtig waren erstens die Korrespondentennetzwerke der Qualitätszeitungen, die insbesondere in Genf und Paris, den beiden für die Europainitiative zentralen Städten, sehr dicht waren und einen raschen Informations uss ermöglichten. In den Redaktionen der Zeitungen erhielten die Korrespondentenberichte zweitens dadurch eine besondere Bedeutung, dass Aristide Briand, der in der Dritten Republik nicht weniger als elf Mal als Regierungschef fungierte und 1926 gemeinsam mit Gustav Stresemann mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, fraglos zu den Schwergewichten der europäischen Politik gehörte. 16 Schließlich war der Verkündigung des Planes drittens ein monatelanges Werben um öffentliche Aufmerksamkeit durch das französische Außenministerium vorausgegangen, im Zuge dessen Briand, insbesondere über seinen Vertrauten Jules Sauerwein, den außenpolitischen Redakteur der Tageszeitung Le Matin, gezielt Informationen an die französische Presse weitergegeben hatte, die ausländische Medien rasch aufgriffen. 17 Es war insofern kein Zufall, dass sich die Printmedien bereits in den Wochen vor der of ziellen Bekanntgabe des Briand-Planes intensiv mit der bevorstehenden Initiative zur Schaffung einer europäischen Föderation befassten, die in 14 Der vollständige Text des Memorandums ndet sich in: Europa. Dokumente zur Frage der europäischen Einigung. Hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes. Bonn 1962, 29–40. 15 Vgl. hierzu Friedrich Kiessling: Der Briand-Plan von 1929/30. Europa als Ordnungsvorstellung in den internationalen Beziehungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Themenportal Europäische Geschichte (2008), URL: http://www.europa.clio-online.de/ 2008/Article=294 (zuletzt abgerufen 20. 8. 2015), und Cornelia Navari: The Origins of the Briand Plan. In: Andrea Bosco (Hrsg.): The Federal Idea. Vol. I: The History of Federalism from Enlightenment to 1945. London 1991, 211–236. 16 Vgl. zur Biogra e Briands Matthias Schulz: Aristide Briand (1862–1932). In: Europäische Geschichte Online (2010), URL: http://www.ieg-ego.eu/schulzm-2010b-de (zuletzt abgerufen 20. 8. 2015). 17 Zur Beziehung zwischen Briand und Sauerwein, der häu g als Mittelsmann zwischen dem französischen Politiker und Gustav Stresemann fungierte, sowie dessen Rolle im Zuge der Verkündung des Briand-Planes vgl. Jonathan Wright: Gustav Stresemann. Weimar's Greatest Statesman. Oxford, New York 2002, 3 und 476–479.
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einigen französischen Zeitungen in ihren Grundzügen angedeutet worden war. Der Manchester Guardian widmete dieser etwa gleich zwei Kommentare sowie mehrere Artikel seines Paris-Korrespondenten, in denen die Hoffnung geäußert wurde, dass die Einigungsidee wirtschaftliche Aspekte fokussieren und sich klar von den als utopisch erachteten Forderungen der Paneuropa-Union des österreichischen Europäisten Richard Coudenhove-Kalergi abgrenzen werde. 18 Der Frankreich-Korrespondent der Times stellte im Juli 1929 fest, dass die Presse des Landes den Föderationsvorschlag Briands, dem er eine primär wirtschaftliche Stoßrichtung zusprach, bereits als ein offenes Geheimnis behandele und sehr positiv aufnehme: „The phrase ‚United States of Europe` has evidentely struck the public imagination [. . . ].“ 19 In der New York Times erschien kurz darauf sogar ein langer Artikel von Sauerwein persönlich, der darin die europäische Föderation als eine Notwendigkeit zur Verhinderung eines erneuten Krieges und zur Überwindung der kontraproduktiven wirtschaftspolitischen Zerrissenheit Europas propagierte. 20 Und in der Vossischen Zeitung verkündete der nach Paris geeilte Coudenhove-Kalergi enthusiastisch, dass diese Föderation in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden könne und „ein neues Blatt Weltgeschichte“ beginne. 21 Als Briand schließlich im September 1929 seinen Einigungsplan vorstellte, führte dies sofort zu einer massiven Intensivierung der Berichterstattung, im Zuge derer dieser stets auch immer wieder in Leitartikeln und Kommentaren aufgegriffen wurde. 22 In einem langen Artikel stellte der Völkerbund-Korrespondent der Chicago Tribune, Henry Wales, das Projekt vor und attestierte den USA eine Vorbildfunktion für das vereinte Europa. 23 Tatsächlich besitze – wie der Journalist Thomas J. C. Martyn in der New York Times ergänzte – der Versuch, Europa zu einigen, eine durchaus lange Tradition, der im Angesicht des amerikanischen Aufstiegs neues Gewicht zufalle. Es sei kein Zufall, sondern Ausdruck 18 „The United States of Europe.“ Manchester Guardian, 12.7. 1929, 10. Vgl. auch „The United States of Europe.“ Manchester Guardian, 13. 7.1929, 12; „Briand's European Federation.“ Manchester Guardian, 17.7. 1929, 14; „The United Europe Idea.“ Manchester Guardian, 18. 7.1929, 6. 19 „European Economic Conference. Support for M. Briand's Proposal.“ The Times, 13. 7. 1929, 13. 20 „Briand Argues for a ‚U.S. of Europe`.“ New York Times, 11.8. 1929, XXI. 21 „Briands europäische Initiative.“ Vossische Zeitung, Nr. 330, 16. 7. 1929, 1–2. 22 Vgl. etwa „Briands Europa-Plan.“ Vossische Zeitung, Nr. 420, 6. 9.1929, 1–2; „Briand Starts United States of Europe Plan.“ Chicago Daily Tribune, 6. 9.1929, 1; „The United States of Europe.“ The Times, 12.9. 1929, 8; „The European Unity Scheme.“ Manchester Guardian, 12. 9. 1929, 13. 23 „United Europe Plan Set Forth to 28 Nations.“ Chicago Tribune, 10. 9. 1929, 1.
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für die offenkundige Vorbildfunktion der USA für Europa, dass Briand das amerikanische Motto „E Pluribus Unum“ für sein europäisches Föderationsprojekt entlehnt habe, und die entscheidende Frage laute: „Will Europe now conform to the ideal which the United States of America has given to her?“ 24 Entsprechend äußerte sich die US-Zeitung immer wieder wohlwollend über den Briand-Plan, beobachtete mit großem Interesse die Reaktionen der europäischen Presse auf den Vorschlag und informierte im Mai 1930 auf ihrer Titelseite über den veröffentlichten Text des Memorandums, der vollständig abgedruckt wurde. 25 In Deutschland, wo sich die Bedenken insbesondere im nationalliberalen und rechtskonservativen politischen Spektrum gegen die mutmaßlich antirevisionistischen Grundzüge des Einigungsplanes richteten, zeigte sich nicht zufällig die Kölnische Zeitung sehr zurückhaltend. Mit impliziter Zustimmung zitierte der Rom-Korrespondent des Blattes Mitte August 1930 einen Artikel des Corriere della Sera, in dem eine Revision der Friedensverträge zur Vorbedingung der Schaffung einer europäischen Föderation gemacht wurde. 26 Regelrecht euphorisch zeigte sich hingegen die Vossische Zeitung, die ebenfalls das gesamte BriandMemorandum abdruckte und es dabei als ein „historisches Dokument“ ankündigte. 27 So verteidigte Chefredakteur Bernhard dieses in einem Leitartikel entschieden gegen Stimmen aus dem proeuropäischen Lager, denen Briands Vorschlag nicht weit genug ging: „Es mag Leute geben, die mehr erwartet haben: [. . . ] In Wirklichkeit führen viele Wege nicht bloß nach Rom, sondern auch zur europäischen Einigung.“ 28 Entscheidend sei ausschließlich das richtige Ziel eines vereinten Europas, so auch der Grundtenor eines zu dem Thema abgedruckten Leserbriefes. 29 Auch die konservative Londoner Times zeigte zunächst starke Sympathien für den Briand-Plan und betonte immer wieder ihre grundsätzliche Zustimmung zu diesem Unterfangen. Ein Kommentar anlässlich der Veröffentlichung 24 „Briand's United Europe Revives an Old Quest.“ New York Times, 9. 3.1930, 154. 25 Vgl. „Briand Seeks Views on a United Europe.“ New York Times, 17. 4. 1930, 8; „Pan-European Scheme Given to 26 Nations; Called Great Vision.“ New York Times, 17. 5. 1930, 1; „Full Text of Briand's Pan-Europe Plan.“ New York Times, 18. 5. 1930, 1 und 30. 26 „Erst Revision, dann Paneuropa.“ Kölnische Zeitung, 13.8. 1930, Nr. 440, 1. 27 „Briands Europa-Memorandum. Der Wortlaut des historischen Dokuments.“ Vossische Zeitung, Nr. 231, 18. 5. 1930, 2–4. Vgl. auch zur Berichterstattung der Vossischen Zeitung Walter Lipgens: Europäische Einigungsidee 1923–1930 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten. In: Historische Zeitschrift 203 (1966), 46–89 und 316–363, hier 327, sowie der deutschen Presse allgemein Carl H. Pegg: Evolution of the European Idea, 1914– 1932. Chapel Hill 1983, 124–126. 28 „Europa.“ Vossische Zeitung, Nr. 232, 18. 5. 1930, 1–2. 29 „Europa in zwei Lagern?“ Vossische Zeitung, Nr. 302, 29. 6. 1930, Literarische Umschau, 3.
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des Memorandums urteilte, dass der französische Politiker in nur 6000 Wörtern seine im September 1929 begonnene Mission der Schaffung einer föderalen Organisation Europas vollendet habe, und prophezeite fälschlich deren positive Aufnahme durch die Regierungen: „M. Briand's proposals are sure not only to receive sympathetic consideration by the Governments to whom they are addressed.“ 30 Freilich könne sich Großbritannien – so auch das Urteil des Manchester Guardian – aufgrund seiner außereuropäischen Interessen nicht direkt an einer Föderation Kontinentaleuropas beteiligen. 31 Tatsächlich elen die Antwortschriften der europäischen Regierungen auf das Memorandum stark unterschiedlich, aber doch überwiegend kritisch aus. Lediglich einige kleinere Staaten wie Bulgarien und Jugoslawien äußerten sich uneingeschränkt positiv. Dagegen machten gerade die Großmächte Deutschland und Großbritannien zahlreiche Vorbehalte geltend, die letztlich dazu führten, dass sich das Projekt faktisch als Totgeburt erwies und – in den Worten des deutschen Außenministers Julius Curtius, der Briands einige Wochen nach dessen ursprünglicher Europa-Rede verstorbenem Freund Gustav Stresemann an die Spitze des Auswärtigen Amtes nachgefolgt war – ein „Begräbnis erster Klasse“ erhielt. 32 Dabei färbten die in den Antwortnoten artikulierten Kritikpunkte, die von den Journalisten genau eingefangen wurden, stark auf die ihrerseits immer skeptischer werdende Berichterstattung ab. Ein Sonderkorrespondent der Times, der aus Genf von den dortigen Gesprächen berichtete, erklärte die Einigungsinitiative Anfang September faktisch für gescheitert und bemerkte süf sant, dass von dieser nicht mehr zu erwarten sei als eine gemeinsame Briefmarke für Europa. 33 Trotzdem befassten sich die Zeitungen in allen Ländern anfänglich noch intensiv mit der Arbeit der Studienkommission für die Europäische Union, die im Herbst 1930 of ziell eingerichtet worden war und unter dem Vorsitz Briands bis zu dessen Tod 1932 zu mehreren Sitzungen zusammenkam, in denen sie sich mehr oder weniger ergebnislos Fragen einer Integration Europas insbe-
30 „Organizing Europe.“ The Times, 19. 5. 1930, 15. 31 „European Federation.“ The Times, 18. 7. 1930, 15. Vgl. „Europe's Place in the League.“ Manchester Guardian, 12. 9. 1930, 10. 32 Vgl. zu den Antwortschriften Andrew Crozier: Britain, Germany and the dishing of the Briand Plan. In: Preston King /Andrea Bosco (Hrsg.): A Constitution for Europe. A Comparative Study of Federal Constitutions and Plans for the United States of Europe. London 1991, 213–230, und Bastiaan Schot: Sicherheit oder „peaceful change“? Zur Rezeption des Europaplans von Aristide Briand in Mittel- und Ostmitteleuropa. In: Hans Hecker/Silke Spieler (Hrsg.): Die historische Einheit Europas. Ideen – Konzepte – Selbstverständnis. Bonn 1994, 63–84. 33 „The Federation of Europe.“ The Times, 9. 9.1930, 11.
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sondere im wirtschafts- und agrarpolitischen Bereich widmete, das ursprünglich anvisierte Ziel einer politischen Einigung des Kontinents jedoch in keiner Weise umsetzen konnte. Infolge der ausbleibenden politischen Erfolge riss die Berichterstattung über die Studienkommission denn auch Mitte 1931 in allen Zeitungen mehr oder weniger vollständig ab. Der Briand-Plan markierte zugleich den Höhe- und den Schlusspunkt eines insgesamt nur schwach ausgeprägten Diskurses über die politische Einigung Europas in der Zwischenkriegszeit. Er stellt insofern fraglos eine Ausnahmeepisode dar, im Zuge derer aber nicht zuletzt die Bedeutung massenmedialer Vermittlung staatlicher Europapolitik illustriert wurde. So sorgte das Zusammenspiel von staatlicher Öffentlichkeitsarbeit und medialen Eigeninteressen für eine kurzzeitige Popularisierung des Europaplanes, der sogar in den USA Beachtung fand. Inhaltlich wurde die Idee sehr tiefgehend besprochen, obschon die politischen Debatten vor allem in Genf und in den Hinterzimmern der einzelstaatlichen Regierungen stattfanden. Auch wenn der Europaplan letztlich rasch scheiterte, konnten so Vorstellungen einer politischen Einheit Europas und deren grundsätzliche Wünschbarkeit erstmals in dieser Form gesellschaftlich breit verhandelt und diskutiert werden – nebenbei wurde der Terminus „europäische Union“ semantisch in die öffentliche Debatte eingeführt: Er ersetzte fortan Begriffe wie „Paneuropa“ oder „Vereinigte Staaten von Europa“ als Bezeichnung einer möglichen politischen Einheit Europas.
II. Die Presse als Motor einer transnationalen Europadebatte – das „Neue Europa“ im Zweiten Weltkrieg Der mediale Ein uss auf gesamtgesellschaftliche Europadebatten war vor 1945 in der Regel weitaus weniger direkt greifbar als im Falle des Briand-Plans. Ein Blick auf die Darstellung des nationalsozialistischen „Neuen Europas“ in britischen und amerikanischen Zeitungen während des Zweiten Weltkriegs zeigt die diesbezügliche Bedeutung bestimmter struktureller Merkmale der Massenmedien, insbesondere die Internationalität der täglichen Arbeit und auch der Berichterstattung der Qualitätszeitungen. Weiterhin wird deutlich, wie hierdurch europapolitische Grundsatzdiskussionen angestoßen werden konnten. Mit dem Siegeszug der Wehrmacht zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden faktisch weite Teile des europäischen Festlandes unter deutscher Herrschaft vereint. Dies warf zwangsläu g die Frage nach einem nationalsozialistischen Europakonzept auf. Von verschiedenen Seiten – so etwa von Großraumtheoretikern wie Werner Daitz, vom Reichswirtschaftsminister Walther Funk in einer breit rezipierten Pressekonferenz zur wirtschaftlichen Neugestaltung des Kon-
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tinents im Juli 1940 oder von Außenminister Joachim von Ribbentrop, der im Anschluss an die Schlacht von Stalingrad im April 1943 einen „Europa-Ausschuss“ im Auswärtigen Amt gründete – wurden unterschiedlich intonierte Ideen formuliert, die lose unter dem Begriff der „neuen europäischen Ordnung“ gefasst werden. 34 Bis heute herrscht in der Historiogra e keine Einigkeit darüber, ob das „Neue Europa“ der Nationalsozialisten als eine spezi sche antiliberale Spielart der europäischen Idee vor 1945 35 oder doch als Form eines „Antieuropa“ (Wolfgang Schmale) gewertet werden muss. 36 Unstrittig ist, dass die nationalsozialistischen Europabilder zeitweise im besetzten und verbündeten Ausland eine gewisse Anziehungskraft auf Kollaborateure entfalten konnten. 37 Exakt dieser Umstand rückte das „Neue Europa“ früh ins Zentrum des Interesses der englischsprachigen Presse. Während deutsche Tageszeitungen das Thema – vor allem wegen der hinsichtlich Kommentaren über die Lage des besetzten Auslandes restriktiven Zensurbestimmungen – nur vergleichsweise zögerlich und zurückhaltend aufgriffen und Reichspressechef Otto Dietrich mehrfach vergeblich versuchte, die Pressevertreter in Reden auf Kongressen der nationalen Journalistenverbände zu einer intensiveren Propagierung der nationalsozialistischen Europaidee zu animieren, 38 erhielt die deutsche Idee einer „neuen europäischen Ordnung“ aufgrund ihrer wahrgenommenen Wirkungsmacht nach außen in England und auch in den noch neutralen USA ab 34 Vgl. Peter Krüger: Hitlers Europapolitik. In: Wolfgang Benz/Hans Buchheim/Hans Mommsen (Hrsg.): Der Nationalsozialismus. Studien zur Ideologie und Herrschaft. Frankfurt am Main 1993, 104–133, und Birgit Kletzin: Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der Neuen Ordnung. Münster, Hamburg, London 2000. 35 So etwa Dieter Gosewinkel: Anti-liberal Europe. A Neglected Source of Europeanism. In: ders. (Hrsg.): Anti-liberal Europe. A Neglected Story of Europeanization. New York 2014, 3–32. 36 Schmale: Geschichte, 115. Vgl. ähnlich für die ältere Forschung Michael Salewski: Europa: Idee und Wirklichkeit in der nationalsozialistischen Weltanschauung und politischen Praxis. In: Otmar Franz (Hrsg.): Europas Mitte. Göttingen, Zürich 1987, 85–106. 37 Vgl. Yves Durand: Le nouvel ordre européen nazi. La collaboration dans l'Europe allemande (1938–1945). Brüssel 1990; Monica Fioravanzo: Die Europakonzeptionen von Faschismus und Nationalsozialismus (1939–1943). In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58 (2010), 509–541; Robert Grunert: Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen 1940–1945. Paderborn, München, Wien, Zürich 2012. 38 Vgl. hierzu Florian Greiner: Wege nach Europa. Deutungen eines imaginierten Kontinents in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien, 1914–1945. Göttingen 2014, 182–190, und Bernd Sösemann: „Frieden in Europa“ im Konzept der hegemonialen NS-Politik. Zur Eigendynamik außenpolitischer Propagandakommunikation. In: Frank Bösch/Peter Hoeres (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2013, 167–190.
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Anfang 1940 und vor allem nach Abschluss des deutschen Westfeldzuges Mitte des Jahres eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit. 39 Möglich waren die raschen Reaktionen englischsprachiger Zeitungen auf das nun in Deutschland verstärkt propagierte „Neue Europa“ aufgrund der engen massenmedialen Netzwerke in Europa: Über Berichte von zumeist in Vichy oder in der Schweiz ansässigen Korrespondenten oder Gastartikel von Exiljournalisten beobachteten diese genau die nationalsozialistischen Verlautbarungen. 40 Eine Presseschau in der Times gab etwa europapolitische Stellungnahmen der Frankfurter Zeitung sowie der Kölnischen Zeitung wieder und zitierte den österreichischen Historiker Heinrich Ritter von Srbik mit der Äußerung, die „neue Ordnung“ könne sich auf das historische Erbe Karls des Großen berufen. 41 Ende 1940 veröffentlichte das Londoner Blatt insgesamt 45 einschlägige Berichte und Meldungen zum „Neuen Europa“ unter dem Titel „Europe Under the Nazi Scourge“ auch in Buchform. Das Hauptanliegen dieser Publikation beschrieb ein für sie werbender Artikel: Ziel sei eine nüchterne Bestandsaufnahme der wirklichen Gestalt der „neuen Ordnung“, wie sie sich in den durch Deutschland besetzten Ländern Europas bislang entfaltet habe, nämlich in Form einer gut durchorganisierten Plünderung. 42 Tatsächlich kontrastierte die englischsprachige Presse die Rhetorik des „Neuen Europas“ immer wieder mit den realen Praktiken der deutschen Besatzungspolitik, um den propagandistischen Charakter der nationalsozialistischen Europabilder klar herauszustreichen. 43 Dies erschien nicht zuletzt deshalb nötig, weil 39 Vgl. „Hitler's War Aims. ‚A New Europe`.“ The Times, 1. 1. 1940, 7; „Hitler's New Europe.“ The Times, 26. 2. 1940, 5; „German Appeal to the United States. Joint ‚Bene t` in British Defeat. ‚The New Europe`.“ Manchester Guardian, 4. 3. 1940, 3; „Nazi Plan Ready for ‚New Europe`.“ New York Times, 23.6. 1940, E5. 40 Vgl. „Germany and Europe.“ The Times, 26. 6. 1940, 7; „Hitler Home in Triumph; To Set up ‚New Europe`.“ Chicago Daily Tribune, 7. 7. 1940, 3; „Hitler's Deceptive Slogans. From ‚Against Versailles and Marxism` to ‚New Order`.“ Manchester Guardian, 29. 1. 1941, 4. 41 „Through German Eyes. Mr. Roosevelt the ‚Enemy of all Europe`. The New Order a Heritage from Charlemagne.“ The Times, 12. 3. 1941, 5. 42 „Europe Under the Nazis.“ The Times, 2. 12.1940, 4. Für das letztlich in mehreren Auflagen erschienene, knapp 150 Seiten starke Buch warb die Times in den folgenden Monaten immer wieder, vgl. etwa: „Europe Under the Nazi Scourge. Tributes to Lea et.“ The Times, 14. 12. 1940, 6; „Europe Under the Nazi Scourge. Second Impression Now on Sale.“ The Times, 4. 1. 1941, 3; „Europe Under the Nazi Scourge. A New Printing.“ The Times, 1. 3. 1941, 6. 43 Vgl. „Despoiling Europe.“ The Times, 20. 9.1940, 5; „The True Europe.“ Manchester Guardian, 12. 5. 1941, 4; „Hitler's New Order. Ruthless Readjustment of European Economy. A Monopoly of Industry for the ‚Master People`.“ The Times, 3.4. 1941, 5; „‚New Europe` Rises in Nazi Word Drive, ‚New Order` Is Laid Aside as Continent Is Pictured as One, Big, Happy Family.“ New York Times, 26. 9.1942, 6.
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die Reaktionen auf die „neue europäische Ordnung“ in vielen europäischen Staaten – wie die Zeitungen immer wieder beklagten – durchaus positiv waren. 44 Entsprechend monierte etwa Harold Callender, der langjährige Paris-Korrespondent der New York Times, die Internationalisierung der Waffen-SS durch die Aufnahme nichtdeutscher, augenscheinlich durch „Germany's assumed mission in Europe“ geblendeter Freiwilliger und deren neue Gestalt als eine „Europeanized force“. 45 Mit der Fiktion eines vereinten Europas halte Hitler, so auch das Urteil eines Leitartikels der Chicago Tribune Anfang 1943, ein nützliches Instrument in seinen Händen, um auch ohne Gewaltanwendung Arbeitskräfte und Soldaten aus ganz Europa für die deutsche Kriegsmaschinerie zu gewinnen. 46 Mit dieser Berichterstattung einher ging eine zumal bis 1942/43 immer stärker werdende Kritik an den vermeintlich völlig unzureichenden Europakonzeptionen der Alliierten: Was diesbezüglich bisher geleistet wurde, sei – so die Times – zu vage, um dem durchschnittlichen Europäer eine Alternative zum „German pan-European gospel“ zu bieten. 47 Mithin müsse, wie in einem Leitartikel des Manchester Guardian im Herbst 1940 gefordert wurde, die Idee eines vereinten Europas unter freiheitlich-demokratischen Vorzeichen popularisiert werden, sei es doch bezeichnend, dass ein Kollaborateur in der französischen Tageszeitung Le Petit Parisien jüngst darauf verwiesen habe, dass er einst auch Briands Europaplan unterstützt habe. 48 Für John Lawrence Hammond, einen der renommiertesten politischen Kommentatoren des Blattes, stand fest, dass die Demokratien den Krieg schon verloren hätten, wenn sie nur dafür kämpften, etwas Altes zu retten. Der hinter der brutalen Gewalt der Nationalsozialisten stehende Grundinstinkt einer Organisation Europas sei richtig und zeuge von den Erfahrungen mit der instabilen europäischen Ordnung der Vorkriegsjahre: „Many looking at the collapse of that Europe think that unity, whatever its form, is better than the
44 Vgl. „Hitler's ‚New Europe`. Plans and Promises in the Balkans.“ The Times, 16. 7. 1940, 4; „Croatia – A Part of Axis Design for New Europe.“ Chicago Daily Tribune, 2. 5. 1941, 5; „Darlan's Dealings with Hitler. Vichy and ‚New Europe`.“ The Times, 11. 6. 1941, 3; „Germans Promise Hungary Big Role. Dominating Position in Post-War Europe Offered by Funk on Budapest Visit.“ New York Times, 12. 9.1942, 6. 45 „New Nazi Forces Enlisting Aliens.“ New York Times, 16. 9.1943, 8. 46 „Hitler's New Europe.“ Chicago Tribune, 19.3. 1943, 16. 47 „Germany's New Europe. A Bid to Consolidate Nazi Dominion.“ The Times, 8. 4. 1942, 5. Vgl. auch „Britain and Europe.“ Manchester Guardian, 29. 3. 1940, 6; „The New Europe.“ The Times, 1. 7. 1940, 5; „Toward the Post-War Reconstruction of Europe.“ New York Times, 21. 2. 1943, BR10. 48 „The War and Democracy.“ Manchester Guardian, 3.10. 1940, 4.
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anarchy of the last ten years.“ 49 Entsprechend forderten die englischen Zeitungen im Unterschied zur Zwischenkriegszeit nun deutlich stärker eine aktive britische Europapolitik und richteten große Hoffnungen auf Assoziationsabkommen innerhalb der Anti-Hitler-Koalition. 50 So postulierte ein Leitartikel der Times zur Unterzeichnung der Atlantik-Charta den Beginn eines vereinten Europas entlang liberaler Vorzeichen infolge der Bedrohung durch das „Neue Europa“: „By uniting his victims in a common determination both to resist aggression and to prevent its renewal, Hitler has created the beginning of a new European order based on freedom and cooperation.“ 51 Die Diskussion über das nationalsozialistische Europa in der amerikanischen und britischen Tagespresse lässt sich als eine Art transnationaler Kommunikation interpretieren, im Zuge derer europäisches Denken ex negativo über die Ablehnung einer ungewünschten Form der Integration des Kontinents propagiert wurde. Mit dem Schreckensbild eines nationalsozialistischen „Neuen Europas“ intensivierten sich fast folgerichtig die Auseinandersetzungen um die Idee einer europäischen Einigung. Die Massenmedien trugen entscheidend zu dieser spezi schen Form des Agenda-Setting bei, im Zuge derer die Notwendigkeit eines vereinten Europa auf liberal-demokratischer Basis während des Zweiten Weltkriegs popularisiert wurde. Nicht zufällig lässt sich für die Zeit des Zweiten Weltkriegs denn auch erstmals eine öffentliche Massenwirkung der Debatten um die europäische Einheit sowohl in Großbritannien als auch in den USA konstatieren, infolge derer etwa die bereits Ende 1938 in England gegründete Europaorganisation Federal Union insbesondere zwischen 1940 und 1942 einen massiven Aufschwung erlebte. 52
49 „The Unity of Europe. An Alternative to Hitler's Serf Plan.“ Manchester Guardian, 16. 7.1940, 4. 50 Vgl. „The Future of Europe.“ The Times, 18. 6. 1940, 4; „Britain and Europe.“ Manchester Guardian, 1. 10. 1940, 4; „The New Order in Europe.“ Manchester Guardian, 13.11. 1940, 4; „British In uence in Europe.“ The Times, 24. 2. 1944, 8. 51 „United Europe.“ The Times, 25. 9. 1941, 5. 52 Vgl. zur Federal Union, hinter deren Gründung eine Gruppe von Absolventen der University of Oxford stand und in der auch der ehemalige Chefredakteur der Times, Henry Wickham Steed, eine führende Rolle spielte: Andrea Bosco: Lothian, Curtis, Kimber and the Federal Union Movement (1938–40). In: Journal of Contemporary History 23 (1988), 465–502, und John Pinder: Federal Union 1939–1941. In: Walter Lipgens (Hrsg.): Documents on the History of European Integration. Vol. II: Plans for European Union in Great Britain and in Exile 1939–1945. Berlin, New York 1986, 26–155.
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III. Transnationale Kooperation im Europa des entfesselten Nationalismus? Die mediale Konstruktion eines europäischen Wirtschaftsraumes im Interbellum Für das Gros des Zeitraums 1914 bis 1945 nden sich Europabezüge in der Tagespresse jedoch keinesfalls vorwiegend im Bereich der Politik und schon gar nicht mit Fokus auf eine direkte politische Integration des Kontinents. Vielmehr wurden europabezogene Deutungen und (Raum-)Vorstellungen ungleich häu ger in Wirtschaftsberichten, Reisereportagen oder im Sportteil transportiert, also in Kontexten, in denen europäische Begegnungen auch im Zeitalter des entfesselten Nationalismus durchweg „sagbar“ blieben – zumeist freilich, ohne dezidiert als solche gekennzeichnet zu werden. 53 Auch hierbei handelt es sich um Formen einer politischen Kommunikation, deren Bedeutung für die Europäisierungstendenzen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als nicht zu gering zu erachten ist. Dies illustriert das Beispiel der medialen Konstruktion eines europäischen Wirtschaftsraumes in der Zwischenkriegszeit. Dessen Ausgangspunkt waren die nahezu permanenten wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Europa, die ein dominantes Thema in der Berichterstattung aller Tageszeitungen darstellten. Auffällig ist dabei, dass diese Schwierigkeiten in ihren Ursachen und Wirkungen häu g als gesamteuropäisch wahrgenommen wurden. So erschien Europa den beobachtenden Journalisten in der Krise, auch ohne dass sie dies explizit re ektiert hätten, als ein einheitlicher Wirtschaftsraum. Dies gilt bereits für die Dekade nach Kriegsende, in der die, ungeachtet der mehr oder weniger starken Verbesserung der Lage in einigen Ländern, Mitte der 1920er Jahre insgesamt doch massiven ökonomischen, industriellen und nanziellen Probleme in weiten Teilen des Kontinents intensiv diskutiert und immer wieder europäisch gelesen wurden. Bereits Anfang der 1920er Jahre widmete sich die Kölnische Zeitung im Rahmen einer Erörterung des deutschen Außenhandels den wirtschaftlichen Nöten der neuen Staaten in Osteuropa, insbesondere Estlands, Finnlands, Lettlands und Litauens, und beklagte einen gestörten „wirtschaftlichen Blutkreislauf Europas“. 54 Ein Jahr später berichtete das Kölner Blatt über Kommentare der englischen Presse, laut denen Europa sich in einem „Wettlauf nach wirtschaftlichem Ruin“ be nde und namentlich die Times vor einem Bankrott des Kontinents gewarnt habe. 55 Tatsächlich hoben auch die englisch-
53 Vgl. zu Sport und Reisen: Greiner: Wege, 413–443. 54 „Die Aussichten des Handelsverkehrs mit den Randstaaten.“ Kölnische Zeitung, 21. 8. 1921, Nr. 551a, 1. 55 „Ernste Befürchtungen in London.“ Kölnische Zeitung, 25. 8. 1922, Nr. 601, 1.
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sprachigen Zeitungen in den 1920er Jahren sehr häu g die Europäizität struktureller Probleme wie Währungsabwertungen, Massenarbeitslosigkeit oder der sich in Form mangelnder Kaufkraft zeigenden Finanzschwäche hervor. 56 Diese Lesarten verschärften sich im Zuge der 1929 ausbrechenden und in Europa Anfang der 1930er Jahre durchschlagenden Weltwirtschaftskrise. Die Krise der europäischen Wirtschaft erreichte in den Augen der deutschen, britischen und amerikanischen Journalisten durch die Entwicklungen eine neue Qualität, die oftmals auch die faktisch vorhandenen Unterschiede im Grad der Betroffenheit der einzelnen Staaten verschwimmen ließ. 57 Angesichts der besonders stark diskutierten vor allem Zentraleuropa betreffenden Bankenkrise im Sommer 1931 veröffentlichte die Vossische Zeitung unter dem Titel „Europäische Schicksalsgemeinschaft“ eine Reihe von Meldungen, die die Lage in Wien, Ungarn, Belgrad, London und Danzig schilderten. 58 Einige Monate später erschien in dem Berliner Blatt eine 21-teilige Artikelserie des amerikanischen Journalisten, Deutschland-Korrespondenten und Pulitzer-Preisträgers Hubert R. Knickerbocker, der sich im Zuge einer Reise durch verschiedene kontinentale Länder einerseits der Frage widmete, ob es das wirtschaftlich am Boden liegende Europa schaffe, sich zu erholen, und andererseits den alltäglichen Umgang der Menschen mit der Krise thematisierte: „Wie leben die vierhundert Millionen Europäer inmitten der Krise?“ 59 Die Ursachen für diese als gesamteuropäisch perzipierte Wirtschaftskrise machten die Journalisten zumeist im Ersten Weltkrieg und seinen Folgen, etwa der starken Verschuldung der meisten kontinentalen Staaten und der kriegsbedingten „Verarmung Europas“, aus. 60 Die Probleme der Reparationen und damit
56 Vgl. „Europe's Financial Ills.“ The Times, 30. 9. 1920, 9; „4,300,000 Idle in Europe.“ New York Times, 24. 5. 1921, 14; „Europe's Bad Currencies.“ The Times, 27.12. 1921, 15; „Europe's Sick Currencies.“ The Times, 15. 4. 1922, 12; „Europe's Financial Crisis.“ Manchester Guardian, 11.5. 1922, 8; „Voice of the People. Europe's Financial Crisis.“ Chicago Daily Tribune, 26. 7.1926, 8; „City Notes. European Money Tendencies.“ The Times, 9.8. 1927, 15. 57 Vgl. „Money Hard to Get in Central Europe.“ New York Times, 24. 3. 1930, 34; „The Crisis in Central Europe.“ Manchester Guardian, 12. 9. 1931, 10; „Needy States of Europe.“ The Times, 2. 4. 1932, 9; „Central Europe Crisis.“ Manchester Guardian, 2. 4. 1932, 14; „Europe's Defaulting European States.“ The Times, 9.7. 1932, 9; „Europäische Schicksalsgemeinschaft.“ Vossische Zeitung, Nr. 66, 8. 2. 1933, Finanz- und Handelsblatt, 2. 58 „Europäische Schicksalsgemeinschaft.“ Vossische Zeitung, Nr. 327, 14. 7. 1931, Finanz- und Handelsblatt, 1. 59 „Kommt Europa wieder hoch? Bericht einer Reise durch die Wirtschaftskrise.“ Vossische Zeitung, Nr. 447, 17. 9. 1932, 4. Die Artikelreihe erschien zwischen dem 16.9. und dem 9. 10. 1932 täglich außer montags jeweils auf Seite 4. 60 „Die Verarmung Europas.“ Vossische Zeitung, Nr. 469, 5. 10. 1921, 1.
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zusammenhängend der interalliierten Kriegsschulden sowie der immer stärkeren Zollschranken infolge der Gründung neuer Nationalstaaten wurden häu g im europäischen Rahmen diskutiert – ohne dass nationale Interpretationen aufgegeben worden wären, die europäische Perspektive klar hervorgehoben oder gar die Forderung nach einer auf den Prinzipien der internationalen Kooperation fußenden Außenhandelspolitik erhoben worden wäre. Mitunter schlussfolgerten die Journalisten jedoch bereits, dass, wenn die grundsätzlichen ökonomischen Probleme transnational-europäischer Natur waren, dann auch die Problemlösung nur in einem gesamteuropäischen Rahmen erfolgen könne. Dies kam am deutlichsten im privatwirtschaftlichen Bereich zum Vorschein, wenn die Printmedien etwa über das Phänomen der Kartellierung berichteten. In den 1920er und frühen 1930er Jahren entstanden zahlreiche, meist nur kurzlebige und sehr fragile, internationale Kartelle – alleine englische Industrie- und Wirtschaftsverbände waren zwischen 1923 und 1928 an über 40 Kartellbildungen beteiligt. 61 Die Journalisten beobachteten diese Entwicklung sehr genau und stellten Absprachen respektive Abkommen hinsichtlich Produktionsraten, Im- und Exportquoten oder Preisen sowie förmliche Kartellgründungen innerhalb einzelner Industriezweige zugleich in aller Regel überaus positiv dar. 62 So informierte 1926 der Berlin-Korrespondent der Times über eine bevorstehende Konferenz der Hauptverantwortlichen der europäischen Kohleindustrie zur Beseitigung der „disastrous competition in the coal markets“ mittels der Bildung eines kontinentalen Syndikats. 63 Ein Jahr später druckten sowohl die New York Times als auch die Chicago Tribune einen Beitrag, der die nur langsame Erholung des Konsums nach Kriegsende als Ursache für das jüngst in Europa zutage tretende Phänomen der Formierung von Trusts und Kartellen in einem noch nie dagewesenen
61 Vgl. zur Kartellierung im Europa des Interbellums sowie den historischen Hintergründen und Verlaufsformen Éric Bussière: La France, la Belgique et l'organisation économique de l'Europe. 1918–1935. Paris 1992, 377–391, und Mária Hidvégi: Internationale Kartelle und der europäische Wirtschaftsraum der Zwischenkriegszeit. In: Themenportal Europäische Geschichte (2011), URL: http://www.europa.clio-online.de/2011/Article=482 (zuletzt abgerufen 20. 8. 2015). 62 Vgl. „Europäische Wirtschaftskartelle?“ Vossische Zeitung, Nr. 439, 16. 9.1925, Finanz- und Handelsblatt, 1; „Zur Bildung der europäischen Holzschraubenvereinigung.“ Kölnische Zeitung, 16. 8. 1926, Nr. 606, Beilage, 1; „European Coal Cartel?“ Manchester Guardian, 14. 12. 1927, 8; „Zinc Cartel Prolonged. Europeans Extend Scheme Till June.“ New York Times, 12. 12. 1928, 59; „European Cartels.“ The Times, 7. 3. 1929, 9; „Europe Agrees to Synthetic Nitrate Cartel.“ Chicago Tribune, 4. 8. 1930, 31; „Timber Export from Europe. Reported Limitation Agreement.“ The Times, 9.12. 1935, 6. 63 „European Coal Markets.“ The Times, 19.4. 1926, 14 und 16.
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Ausmaß identi zierte. 64 Im Sommer 1929 rezipierte die Vossische Zeitung einen Artikel der Londoner Daily Mail, in welchem ein aus wirtschaftlichen Gründen vermeintlich sinnvoller Anschluss Englands an die sich immer stärker verdichtenden kontinentaleuropäischen Industrie-Vereinigungen gefordert werde. 65 Mit der Gründung des Internationalen Stahlkartells im Herbst 1926 erreichten die Debatten um die Konsolidierung und Verdichtung des europäischen Wirtschaftsraumes mittels der Formierung von Syndikaten ihren Höhepunkt. 66 Bereits die knapp zwei Jahre zuvor einsetzenden ersten Verhandlungen über den Abschluss eines europäischen Stahlpaktes wurden von den Printmedien genau beobachtet und mit teilweise großen Erwartungen verbunden. 67 Ein Beitrag in der Auslandsausgabe der Vossischen Zeitung kommentierte, dass die mit der Kartellgründung weiter vorangetriebene transnationale Wirtschaftsver echtung in Europa nicht nur ökonomisch sinnvoll sei, sondern zugleich die bestmögliche Sicherungsmaßnahme für den politischen Frieden darstelle. 68 Dieses Urteil bekräftigte auch der Paris-Korrespondent der Kölnischen Zeitung, der zustimmend einen Artikel einer französischen Zeitung kommentierte, in dem betont werde, dass der fraglos lange Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa nun endlich eingeschlagen und durch die zunehmende Wirtschaftskooperation die Gefahr gerade eines deutsch-französischen Kon iktes gebannt sei. 69 Im Anschluss an den Abschluss des Internationalen Stahlkartells intensivierte sich die Berichterstattung der deutschen, britischen und amerikanischen Zeitungen weiter, die mit Interesse über die Tätigkeit des Verbandes informierten. Immer wieder stellten die Journalisten dabei die Bedeutung des Syndikats heraus. Der Berlin-Korrespondent der Times berichtete Anfang Oktober 1926 von deutschen Stimmen, laut denen die Errichtung des europäischen Stahlkartells das
64 „Financial Markets.“ New York Times, 16. 5. 1927, 27; „Stabilizing Oil Prices Suggests Europe Cartels.“ Chicago Tribune, 16. 5. 1927, 29. 65 „England im Europa-Kartell.“ Vossische Zeitung, Nr. 380, 14. 8. 1929, 4. 66 Vgl. zum Internationalen Stahlkartell Daniel Barbezat: Cooperation and Rivalry in the International Steel Cartel, 1926–1933. In: The Journal of Economic History 49 (1989), 435– 447, und Charles S. Maier: Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I. Princeton 1975, 516–545. 67 Vgl. „Ein europäischer Stahltrust?“ Vossische Zeitung, Nr. 326, 11. 7. 1924, Finanz- und Handelsblatt, 2; „European Steel Trust Reports.“ The Times, 25. 10. 1924, 19; „Agree in Principle on Huge Steel Trust. French and German Conferees Would Let Other European Nations Participate.“ New York Times, 3.12. 1924, 27; „Der Europa-Trust im Werden. Kongreß der Schwerindustrie.“ Vossische Zeitung, Nr. 593, 14. 12. 1924, 1. 68 „Das europäische Stahlkartell.“ Die Post aus Deutschland, Nr. 39–40, 2. 10. 1926, 2. 69 „Das Abkommen der Schwerindustrie.“ Kölnische Zeitung, 10. 8. 1926, Nr. 590, 1.
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wichtigste Ereignis seit Kriegsende sei. 70 Anfang der 1930er Jahre informierte die New York Times ihre Leser anlässlich eines Treffens des Syndikats in Paris mit spürbarer Bewunderung über die bisherigen Erfolge dieses „powerful industrial combine“ und die jüngsten Pläne, „for making Europe's rst great achievement in industrial unity the most powerful factor in the world steel trade.“ 71 Kurz nach dem Beitritt Großbritanniens zum Kartell Mitte der Dekade zitierte die Times den Vorsitzenden eines englischen Stahlunternehmens mit der Feststellung, dass die Eisen- und Stahlindustrie des Landes zum großen Vorteil aller Beteiligten in kompletter Harmonie mit dem Kartell arbeite. 72 Insgesamt erwies sich der individuelle Unternehmerdrang damit in der Berichterstattung der Tagespresse oftmals als Katalysator einer spezi schen Form der Europäisierung. 73 Die privatwirtschaftliche Kartellierung fungierte in diesem Zusammenhang als eine Folie für integratives Denken in Europa, das im Bereich der staatlichen Außenwirtschaftspolitik noch undenkbar und in den Medien nicht „sagbar“ war. Denn die mediale Konstruktion eines europäischen Wirtschaftsraumes erfolgte ungeachtet des dominanten Wirtschaftsnationalismus der Zwischenkriegszeit – der sich natürlich ebenfalls in den Spalten der Zeitungen niederschlug – und weitgehend unre ektiert mit Blick auf seine Implikationen. Während die Epoche der Weltkriege nach wie vor in vielen wirtschaftshistorischen Überblickswerken als Periode eines rigiden, protektionistischen Wirtschaftsnationalismus gilt, welche zwischen der sogenannten ersten (ökonomischen) Globalisierung vor 1914 sowie der zweiten Globalisierung nach 1945 stehe, el die zeitgenössische massenmediale Wahrnehmung und Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklungen deutlich „europäischer“ aus. 74 Wenn Journalisten
70 „European Steel Trust.“ The Times, 2. 10. 1926, 10. 71 „5-Year Agreement Steel Cartel Aim. Fixing Production Quota the Chief Problem of Europeans Now Meeting in Paris.“ New York Times, 14. 3. 1930, 6, und „Europeans Approve World Steel Drive. Paris Cartel Meeting Decides to Organize Five Of ces for International Sales.“ New York Times, 16. 3. 1930, 20. 72 „The United Steel Companies. [. . . ] Advantages of Harmonious Working of the European Cartel.“ The Times, 10. 10. 1936, 18. 73 Zur Bedeutung der Kartellierung für die wirtschaftliche Organisation Europas im Interbellum vgl. Françoise Berger /Éric Bussière: La France, la Belgique, l'Allemagne et les cartels de l'entre-deux-guerres: une méthode pour l'organisation économique de l'Europe. In: Michel Dumoulin /Jürgen Elvert /Sylvain Schirmann (Hrsg.): Ces chers voisins. L'Allemagne, la Belgique et la France en Europe du XIXe au XXIe siècles. Stuttgart 2010, 221–242. 74 Vgl. Gerold Ambrosius /William H. Hubbard: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im 20. Jahrhundert. München 1986, 241–261; Robert Boyce: The Collapse of Globalisation in the Inter-War Period: Some Implications for Twentieth-Century History. In: Gabriele
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die ökonomischen Krisenerscheinungen der Nachkriegsjahre als eine grenzüberschreitende Problemkonstellation identi zierten und damit letztlich das Vorhandensein von ökonomischen Strukturen belegten, die per se transnational wirkten, so verbanden sie damit in der Regel weder Forderungen nach aktiver wirtschaftspolitischer Kooperation der europäischen Staaten, noch re ektierten sie über Formen, Grenzen und Funktionsmechanismen des Wirtschaftstraumes Europa. Nichtsdestotrotz schufen sie hinsichtlich der Transnationalität ökonomischer Bedingungen einen kommunikativen Rahmen, dessen Bedeutung sich nach 1945 und nach der Wandlung des politischen Kontextes bei der Verwirklichung der ökonomischen Integration Europas zeigen sollte.
IV. Fazit Aufbauend auf der Untersuchung der printmedialen Europadebatten in der Epoche der Weltkriege lassen sich übergreifend drei Befunde hinsichtlich der Rolle von Medien und Medialisierungsprozessen bei der europabezogenen Außenkommunikation vor 1945 und deren Folgen festhalten: Auch wenn die internationale Presse in der Epoche der Weltkriege in aller Regel keine aktiv europäischen Positionen in ihrer Berichterstattung vertrat, so leistete diese doch erstens der Vermittlung von Wissen über das Ausland sowie speziell den europäischen Kontinent Vorschub und ermöglichte symbolische Begegnungen der Europäer. 75 Massenmediale Kommunikation machte in diesem Sinne Europa und teilweise sogar Vorstellungen einer europäischen Einheit für die Zeitungsleser auch in jenen Jahren erfahrbar: Sie wirkte damit als eine Form der infrastrukturellen Vernetzung raumstiftend und trug entscheidend zur von der neueren Europa-Forschung intensiv diskutierten „hidden integration“ des
Clemens (Hrsg.): Nation und Europa. Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Peter Krüger zum 65. Geburtstag. Stuttgart 2001, 121–132; Jari Eloranta /Mark Harrison: War and disintegration, 1914–1950. In: Stephen Broadberry/Kevin H. O'Rourke (Hrsg.): The Cambridge Economic History of Modern Europe. Vol. 2: 1870 to the Present. Cambridge, New York 2010, 133–155. 75 Vgl. Helmut Scherer /Simone Vesper: Was schreiben die anderen? Ausländische Pressestimmen als Vorform paneuropäischer Öffentlichkeit – Eine Inhaltsanalyse deutscher Qualitätszeitungen. In: Lutz M. Hagen (Hrsg.): Europäische Union und mediale Öffentlichkeit. Theoretische Perspektiven und empirische Befunde zur Rolle der Medien im europäischen Einigungsprozess. Köln 2004, 195–211, hier v. a. 196–199, und Jörg Requate /Martin Schulze Wessel: Europäische Öffentlichkeit: Realität und Imagination einer appellativen Instanz. In: dies.: Europäische Öffentlichkeit, 11–39, hier v. a. 22–30.
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Kontinents bei. 76 Denn entlang spezi scher diskursiver Knotenpunkte – wie der Wirtschaftskrise – entwickelte sich Europa bereits vor 1945 zu einem die mediale Berichterstattung prägenden Kommunikationszusammenhang. Massenmedien waren insofern nicht nur Chronisten der Europäisierungsprozesse im 20. Jahrhundert, sondern auch ein kausaler Bestandteil davon. Vorstellungen einer europäischen Verbundenheit wurden dabei zweitens häu g medial konstruiert und transportiert. In einer Zeit, in der staatliche, außenpolitische Kommunikation über Europa und europäische Gemeinsamkeiten zweifelsfrei eine Randerscheinung war, trugen die Medien entscheidend zur anhaltenden Präsenz transnationaler, europäischer Thematiken bei: Sie diskutierten gelegentlich Entwürfe eines politisch vereinten Europas, betonten im Angesicht der nationalsozialistischen Bedrohung frühzeitig die Notwendigkeit eines liberalen Gegenmodells zu einem gewaltsam integrierten Europa und prägten Vorstellungen eines europäischen Wirtschaftsraumes. Hierdurch schufen sie – nicht entgegen, sondern vielmehr parallel zu stets prävalenten nationalen Deutungsmustern – kommunikative Grundstrukturen für ein europäisches Denken, das sich in vielerlei Hinsicht nach 1945 als anschlussfähig erwies. Die vorgestellten Beispiele einer europabezogenen medialen Außenkommunikation vor 1945 stellten drittens eine wichtige Grundlage für die Neukonzeptualisierung der internationalen Europapolitik nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Sie können als ein möglicher Erklärungsansatz für den gesellschaftlichen „permissive consensus“ dienen, also das stillschweigende, aber doch positive Begleiten des Prozesses durch die Bürger, das die westeuropäische Integration in den Anfangsjahrzehnten auszeichnete. Dieser war eben nicht nur eine Folge der Brutalität des Zweiten Weltkriegs – so das bis heute in der Europaforschung dominante Argument. Vielmehr war er argumentativ und diskursiv durchaus anschlussfähig an die massenmedialen Debatten der Zwischenkriegsund Kriegsjahre. Diese hatten wesentlich zur Ausprägung eines europäischen Erfahrungsraumes beigetragen, der zunehmend auch die menschlichen Erwartungshorizonte zu prägen begann. Massenmedien erwiesen sich insofern als sicherlich nicht hinreichende, aber doch notwendige Bedingungsfaktoren des vereinten Europas.
76 Vgl. zur „hidden integration“ Europas Thomas J. Misa /Johan Schot: Inventing Europe: Technology and the Hidden Integration of Europe. In: History and Technology 21 (2005), 1–19, und Christian Kleinschmidt: Infrastructure, Networks, (Large) Technical Systems: The ‚Hidden Integration` of Europe. In: Contemporary European History 19 (2010), 275– 284.
Gabriele Clemens
Außenpolitische Kommunikation durch Filme Anstoß und Unterstützung der europäischen Integration
I. „The fourth dimension of foreign policy“ – Filme im Dienste amerikanischer Außenpolitik Im Jahre 1964 veröffentlichte der Assistant Secretary of State, Philip H. Coombs, auf Anregung des Council on Foreign Relations sein Buch mit dem Titel „The Fourth Dimension of Foreign Policy: Educational and Cultural Affairs“, in dem er die Bedeutung von Kulturpolitik für die Erreichung außenpolitischer Ziele der USA in der Kriegs- und Nachkriegszeit detailliert darlegte. 1 Damit konstatierte Coombs eine Entwicklung, die bereits in den 1940er Jahren eingesetzt hatte und einen entscheidenden Wandel in der amerikanischen Außenpolitik markierte. Hatte bis dahin in den USA eine ablehnende Haltung gegenüber staatlicher auswärtiger Kulturpolitik in Friedenszeiten vorgeherrscht, 2 so wurden seit den 1940er Jahren kulturelle Medien als wichtige Instrumente zur Durchsetzung wirtschafts-, sicherheits- und außenpolitischer Ziele angesehen. Durch den Austausch von Ideen, durch kulturelle Veranstaltungen und Kulturprogramme, auch als Cultural Diplomacy bezeichnet, sollte das eigene Bild im Ausland verbessert und die Bevölkerung auswärtiger Staaten für die Durchsetzung eigener Ziele gewonnen werden. So forderte beispielsweise der MacMahon-Report aus dem Jahre 1945, die bis dahin vorrangigen diplomatischen Beziehungen auf Regierungsebene verstärkt durch interkulturelle Kontakte zwischen ganzen Völkern zu ergänzen: „Modern international relations lie between peoples, not merely
1
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Philip H. Coombs: The Fourth Dimension of Foreign Policy: Educational and Cultural Affairs. New York 1964. Coombs leitete in der Kennedy-Administration das Bureau of Educational and Cultural Affairs; siehe Manfred Knapp: Die Stimme Amerikas. Auslandspropaganda der USA unter der Regierung John F. Kennedys. Opladen 1972, 50f. Siehe dazu Brigitte J. Hahn: Umerziehung durch Dokumentar lm? Ein Instrument amerikanischer Kulturpolitik im Nachkriegsdeutschland (1945–1953). Münster 1997; Richard Dyer MacCann: The People's Films. A Political History of U.S. Government Motion Pictures. New York 1973.
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governments“, hieß es dort. 3 Für die Bemühungen von Staaten, mittels strategisch ausgerichteter Kommunikationsmaßnahmen, so in den Bereichen Information, Bildung und Kultur, auswärtige Öffentlichkeiten zur Durchsetzung der eigenen Ziele zu beein ussen und damit den eigenen Ein ussbereich auszubauen, hat sich, ausgehend von den USA, seit den 1960er Jahren der mehrdeutige Oberbegriff Public Diplomacy 4 etabliert, dem die Cultural Diplomacy als Teilbereich zu subsumieren ist. Die sich vornehmlich an die Bevölkerung auswärtiger Staaten richtende Cultural Diplomacy entwickelte sich seit den 1940er Jahren zu einem unverzichtbaren außenpolitischen Instrument der US-Regierung; sie etablierte sich neben den Bereichen Militär, Diplomatie und Wirtschaft als sogenannte ‚vierte Dimension amerikanischer Außenpolitik`. Die Aufteilung der Außenpolitik in vier Bereiche geht bereits auf Harold D. Lasswell, ein Pionier auf dem Feld der Propaganda-Analyse, zurück, der in seinem 1927 veröffentlichten Buch „Propaganda Technique in the World War“ die Propaganda neben Militär, Diplomatie und Wirtschaft als Instrument der Außenpolitik benannte. 5 Dass die staatliche Außenkommunikation seit den 1940er Jahren einen derartigen Bedeutungszuwachs erlangen konnte, ist auf mehrere Ursachen zurückzuführen. So bot erst die rapide Entwicklung auf dem Sektor des Transportund Verkehrswesens sowie der mechanischen und elektronischen Kommunikationsmedien die technischen Voraussetzungen für die massenhafte Verbreitung von Informationen und Ideen über nationale Grenzen hinweg. Und erst die zunehmenden Möglichkeiten der Beteiligung der Bevölkerung an der innenund außenpolitischen Willensbildung der Staaten eröffneten Regierungen die Chance, die Auslandsbevölkerung als ein gesellschaftliches Ein usspotenzial zur Durchsetzung ihrer außenpolitischen Ziele zu betrachten. Zugrunde lag dabei 3 4
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Zitiert nach Hahn: Umerziehung durch Dokumentar lm, 28 f. Der Begriff Public Diplomacy, der Elemente der Konzepte Propaganda, Auswärtige Kulturpolitik, Cultural Diplomacy, Politische Öffentlichkeitsarbeit und des Nation Branding vereint, mitunter sogar mit diesen synonym verwandt wird, hat im Laufe der Zeit verschiedene Deutungen oder Erweiterungen erfahren, die sich u. a. auf den Kreis der Akteure und Möglichkeiten der Umsetzung beziehen. Kerngedanke aber bleibt – zur Unterscheidung von traditioneller Diplomatie – die Beein ussung auswärtiger Öffentlichkeiten zur Verbesserung des eigenen Außenbildes und zur Durchsetzung eigener politischer Ziele im Ausland. Zu den verschiedenen De nitionen des Begriffs siehe u. a. Daniel Ostrowski: Die Public Diplomacy der deutschen Auslandsvertretungen weltweit. Theorie und Praxis der deutschen Auslandsöffentlichkeitsarbeit. Wiesbaden 2010, 17 ff.; Anna Schwan: Werbung statt Waffen. Wie Strategische Außenkommunikation die Außenpolitik verändert. Wiesbaden 2011, 36 ff.; Nancy Snow /Philip M. Taylor (Hrsg.): Routledge Handbook of Public Diplomacy. New York 2009. Harold D. Lasswell: Propaganda Technique in the World War. London 1927.
Außenpolitische Kommunikation durch Filme 209
die Vorstellung, dass die Bevölkerung ihrerseits Ein uss auf die Haltung und Entscheidung der Auslandsregierung nehmen konnte. Dies hatte zugleich Auswirkungen auf die internationale Politik, die jetzt nicht mehr als alleinige Sache von Regierungsoberhäuptern und Diplomaten angesehen wurde, sondern eine gesellschaftspolitische Ausweitung erfuhr. 6 Im Rahmen dieser ‚vierten Dimension der Außenpolitik` kam insbesondere dem audiovisuellen Medium Film aufgrund seiner hohen Suggestivkraft und leichten Reproduzierbarkeit eine zentrale Rolle zu. Filme vermögen große Zuschauermengen zu erreichen. Gegenüber anderen Massenmedien wie Presse und Radio besitzt der Film zudem den Vorteil der größeren Anschaulichkeit und stärkeren Suggestion des Bildlichen und spricht nicht nur die Eliten, sondern alle Schichten ganz unmittelbar an. Von daher nutzten die USA bereits seit den 1930er Jahren Filme zur Beein ussung sowohl der eigenen Öffentlichkeit als auch – in der Propagandaschlacht des Krieges – der Öffentlichkeit anderer Länder. Der groß ächige Einsatz von Filmen galt ihnen als ein legitimes Mittel, um Meinungen zu beein ussen und Mehrheiten zu organisieren. Die Organisation der öffentlichen Meinung durch Massenmedien war von ein ussreichen Vordenkern eingehend erörtert worden, so von Walter Lippmann in seinem Buch „The Public Opinion“. 7 Erfolgreich angewandt wurde der Film erstmals bei der Propagierung des New Deal in den 1930er Jahren. 8 Seit dieser Zeit entwickelte sich in den USA eine regelrechte Tradition, staatliche Politik mit umfangreichen Filmkampagnen zu begleiten, um – wie es der amerikanische Historiker Brewster Chamberlin formulierte – „to popularize and reinforce speci c policies relating to the United States government's social and political agenda“. 9 Dieser groß ächige Filmeinsatz erfuhr dann während des Zweiten Weltkriegs mit den Filmen der Of ce of War Information (OWI) Overseas Branch eine spezi sche Ausweitung, denn diese Filme waren ausdrücklich nicht für die Vorführung in den USA gedacht. 10 Sie wurden in den neutralen Ländern (Schweden, Schweiz) und in den gerade eben befreiten (Italien, Frankreich) gezeigt,
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Siehe dazu Knapp: Die Stimme Amerikas, 92 f. Siehe Walter Lippmann: Public Opinion. New York 1922. MacCann: The People's Films, 56 ff. Brewster Chamberlin: „Vorwort“. In: Hahn: Umerziehung durch Dokumentar lm, XI. Der Vertrieb in den USA war sogar ausdrücklich verboten, dasselbe galt für die Marshallplan-Filme. Nach 1945 hatte der Kongress aber erlaubt, einige OWI-Filme in 16 mm auch in den USA vorzuführen. Siehe dazu Cecile Starr: „Of ce of War Information (OWI)“. In: Ian Aitken (Hrsg.): Encyclopedia of the Documentary Film, Vol. 2. New York 2006, 1008– 1010, hier 1010.
210 Gabriele Clemens
„to counter the vast sums that the Germans and Japanese were spending on propaganda“ und „to make friends for America“, wie es der langjährige Cutter zahlreicher OWI-Filme Ralph Rosenblum formulierte. 11 Diese Tradition des staatlichen Propaganda lms setzte sich dann ab 1945 mit den Re-education-Filmen in den besiegten Achsenländern sowie auch den Marshallplan-Filmen fort. 12 Die Möglichkeiten des Mediums wurden dabei gezielt genutzt, um die Sicht auf die amerikanische Besatzung oder Freundschaft wohlwollend zu beein ussen und den ‚American way of life` zu vermitteln – häu g mithilfe der alten OWIFilme. 13 Die USA zeigten sich vor allem beunruhigt durch die als Bedrohung empfundene Ausdehnung des sowjetischen Ein ussbereiches in Europa. Sie setzten für ihre Filmkampagnen ganz erhebliche Geldmittel ein, um diesem Ein uss gegenzusteuern, und weiteten die Filmangebote auf die gesamten westeuropäischen Länder aus. Zur Verbreitung solcher Filme sowie zum Einsatz weiterer Propagandamittel wie Radiosendungen, Bücher, Broschüren, Plakate und Zeitschriften gründeten sie die United States Information Agency (USIA) und eröffneten in vielen europäischen Ländern Dependancen, United States Information Service (USIS) genannt. Insbesondere in Italien wurden im Vorfeld der Wahlen von 1948 ächendeckend Filme (Wochenschau-, Dokumentar- und auch Spiel lme) eingesetzt, um einen Sieg des Partito Comunista Italiano (PCI) zu verhindern und Italien, das als strategisch wichtiges Land für die US-amerikanischen Sicherheitsinteressen im Mittelmeerraum und Nahen Osten eingestuft wurde, auf das westliche Lager hin zu orientieren. Diese großangelegte Informationskampagne sekundierte den
11 Ralph Rosenblum /Robert Karen: When the Shooting Stops . . . the Cutting Begins. A Film Editor's Story. New York 1979, 90; siehe auch MacCann: The People's Films, 137–151; Starr: „Of ce of War Information“. 12 Dass dabei einmal gemachte Erfahrungen nicht verloren gingen, stellte man mit einer teilweise erstaunlichen Kontinuität der Mitarbeiter sicher. So wechselte Albert E. Hemsing, der zunächst für die Distribution der OWI-Filme zuständig war, im August 1951 zur Film Unit für die Marshallplan-Filme in Paris. Sein späterer Chef Stuart Schulberg war Ende der 1940er Jahre in der lmischen Re-education in Deutschland tätig, bevor er zur Marshallplan-Film-Unit nach Paris wechselte. Siehe Albert Hemsing: The Marshall Plan's European Film Unit, 1948–1955: a Memoir and Filmography. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 14 (1994), 269–297, hier 271. 13 Siehe Brigitte J. Hahn: Dokumentar lm im Dienste der Umerziehung. Amerikanische Filmpolitik 1945–1953. In: Heiner Roß (Hrsg.): Lernen Sie diskutieren! Re-education durch Film. Strategien der westlichen Alliierten nach 1945. Berlin 2005, 19–32, hier 22.
Außenpolitische Kommunikation durch Filme 211
massiven Finanz- und Sachleistungen, die gleichzeitig durch die USA zur Verfügung gestellt wurden, um den Wahlerfolg der Democrazia Cristiana (DC) und damit die Eindämmung des Kommunismus zu gewährleisten. 14
II. Marshallplan-Filme zur Werbung für den europäischen Integrationsprozess Ebenso spielte der Einsatz von Medien eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung des amerikanischen European Recovery Program (ERP) und der damit verbundenen Ziele der US-Regierung. Die Verantwortlichen in der US-Administration waren davon überzeugt, dass der zukünftige Erfolg des amerikanischen Wiederaufbauprogramms für Europa größtenteils von der Akzeptanz des ERP in der europäischen Öffentlichkeit abhing. Der Leiter der Washingtoner ECA-Zentrale 15, Paul G. Hoffman, 16 hob hervor, „that to run the ECA without a strong information arm would be as futile as trying to conduct a major business without sales, advertising, and customer-relations departments“. 17 Verknüpft mit der nanziellen und materiellen Wiederaufbauhilfe war deshalb die Verp ichtung der 18 teilnehmenden Staaten 18, für das Europäische Wiederaufbauprogramm unter anderem durch Plakate, Broschüren, Radiosendungen und Filme zu werben. In den bilateralen Abkommen mussten sich die Empfänger der Marshallplan-Hilfsleistungen dazu verp ichten, einen Teil der sogenannten ‚Counterpart Funds` für die Werbung für den Marshallplan zur Verfügung zu stellen. Der medialen Kommunikation wurde somit eine wesentliche Rolle für die Durchsetzung der mit dem ERP verbundenen amerikanischen Interessen – wie weltweiter Freihandel, Wiederaufbau Europas als Handelspartner und Absatzmarkt für amerikanische Produkte und Eindämmung des Kommunismus – beigemessen. Infolgedessen startete gleichzeitig mit dem ERP eine großangelegte Werbekampagne, die David W. Ellwood als „the largest peacetime propaganda effort direc14 Siehe dazu D. W. Ellwood: The 1948 Elections in Italy: a Cold War Propaganda Battle. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 13 (1993), 19–33. 15 ECA = Economic Cooperation Administration. 16 Paul G. Hoffman hatte Erfahrungen im Marketing-Bereich; zwischen 1935 und 1948 war er Präsident des amerikanischen Automobilherstellers Studebaker. 17 Harry Bayard Price: The Marshall Plan and Its Meaning. Ithaca, New York 1955, 242. 18 Neben den 16 Staaten Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Türkei und Vereinigtes Königreich nahmen ab März 1948 auch die drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands, vertreten durch die Oberbefehlshaber der Besatzungszonen, am Wiederaufbauprogramm teil (ab 31. 10. 1949 die Bundesrepublik); die angloamerikanische Zone von Triest zählte ebenfalls zu dem Teilnehmerkreis; sie wurde dann 1954 Italien angegliedert.
212 Gabriele Clemens
ted by one country to a group of other ever seen“ charakterisiert hat. 19 Dass heute quasi jedermann dieses Programm unter dem Begriff ‚Marshallplan` kennt und der wirtschaftliche wie politische Wiederaufbau Europas positiv mit den USA konnotiert ist, ist vermutlich auch ein Erfolg dieser umfassenden Medienkampagne, die unter anderem mithilfe von Filmen durchgeführt wurde. Im Rahmen der Marshallplanwerbung wurden circa 300 Filme produziert, 20 welche überwiegend in mehreren Sprachen synchronisiert wurden, um ächendeckend die Bevölkerung in den ERP-Teilnehmerstaaten zu erreichen. Nicht nur die bereits erwähnten einfachen Vervielfältigungsmöglichkeiten der Filmkopien und die dadurch gegebene Möglichkeit, breite Bevölkerungskreise zu erreichen, waren ein Grund für den massiven Einsatz von Filmwerbung im Rahmen des Marshallplans. Das Bewegtmedium Film bot darüber hinaus hervorragende Möglichkeiten, prozesshafte Entwicklungen, u. a. mithilfe der Trick lmtechnik, darzustellen. Dies wurde gezielt genutzt, um beispielsweise die Veränderbarkeit und Beseitigung von Grenzen oder auch die Verschiebung von Ein usssphären oder Machtbereichen darzustellen, und zwar in einer vereinfachenden, für jedermann verständlichen Weise. Die Marshallplan-Filme wurden sowohl in den Kinos als Teil des Vorprogramms einer Filmvorstellung vorgeführt als auch vor allem im nichtgewerblichen Bereich, so in Schulen, weiteren Bildungseinrichtungen und Vereinen. Um ein möglichst großes Publikum auch in den entlegenen dörflichen Gebieten Europas zu erreichen, wurden darüber hinaus in Italien, in der Türkei und in Griechenland „mobile lm units“ eingesetzt. 21 Diese Filmwagen transportierten Filmprojektoren, Leinwände und Filme direkt in die Dörfer, um der Landbevölkerung die Filme auf den Dorfplätzen, in den Kirchen und den Schulen vorzuführen. Die ECA-Mission in Athen setzte sogar Boote ein, die sowohl ERP-Ausstellungen als auch Filme auf die griechischen Inseln brachten. Es sollte somit alles getan werden, um – wie es der Leiter der Information Division of the Special Mission to Italy des ERP, Andrew Berding, formulierte – auch „Giuseppe in the factory and Giovanni in the elds“ zu erreichen. 22
19 David W. Ellwood: The Message of the Marshall Plan. In: ders. (Hrsg.): The Marshall Plan Forty Years After. Lessons for the International System Today. Bologna 1988, 33–39, hier 33. 20 Siehe dazu die von Linda R. Christenson zusammengestellte Marshall Plan Filmography, URL: www.marshall lms.org (zuletzt abgerufen 30. 8. 2015). 21 Hemsing: The Marshall Plan's European Film Unit, 274. 22 Zitiert nach David W. Ellwood: Italian Modernisation and the Propaganda of the Marshall Plan. In: Luciano Cheles /Lucio Sponza (Hrsg.): The Art of Persuasion. Political Communication in Italy from 1945 to the 1990s. Manchester 2001, 23–48, hier 29.
Außenpolitische Kommunikation durch Filme 213
Dass diese Filme ein Medium amerikanischer Außenpolitik waren und zur Umsetzung der amerikanischen Europapolitik dienten, wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass es gemäß dem Smith – Mundt Act 23 verboten war, diese Filme der amerikanischen Bevölkerung vorzuführen. Sie sollten allein außenpolitischen Zielen dienen; für die US-amerikanische Bevölkerung wurden dagegen eigens Filme hergestellt, die diese über die ‚sinnvolle` Verwendung der Marshallplan-Gelder informierten. 24 Ein wesentliches Ziel des Marshallplans war es, die wirtschaftliche und auch politische Integration der europäischen Staaten zu fördern, da sich die USA allein von einer solchen Zusammenarbeit einen zügigen Wiederaufbau Europas als Handelspartner und Bollwerk gegen den Kommunismus versprachen. So hatte bereits Marshall in seiner berühmten Rede vom 5. Juni 1947 gefordert, dass das von den Europäern auszuarbeitende Wiederaufbauprogramm „should be a joint one, agreed to by a number, if not all European nations“. 25 Und auch bei den folgenden Pariser Verhandlungen um die Verteilung der Marshallplan-Gelder drängten die US-amerikanischen Vertreter vehement darauf, dass die Europäer sich wirtschaftlich und politisch eng zusammenschließen, möglichst eine Zollunion bilden sowie eine mächtige supranationale gemeinsame Wirtschaftsbehörde errichten sollten. Dem diplomatischen Druck, der sich in Versprechungen (Geld- und Sachlieferungen) wie auch massiven Drohungen (Verweigerung der Gelder durch den Kongress) äußerte, waren allerdings Grenzen gesetzt. Von den europäischen Regierungsvertretern erlangten die USA nur begrenzte Zugeständnisse, weder wurde eine Zollunion errichtet noch eine starke supranationale Behörde etabliert; stattdessen einigte man sich auf vage Zukunftsversprechen zur weiteren Handelsliberalisierung und auf die Errichtung der intergouvernementalen, lediglich mit schwachen Kompetenzen versehenen Organisation for European Economic Co-operation (OEEC). Was man nicht auf den üblichen diplomatischen Kanälen erreichen konnte, wurde ( ankierend) über die Public Diplomacy zu erreichen versucht. Das heißt, die US-Regierung bemühte sich, die europäischen Bürger im Sinne ihrer Zielsetzung zu beein ussen und sie für eine enge Zusammenarbeit der europäischen 23 Zum Smith – Mundt Act siehe Knapp: Die Stimme Amerikas, 24 ff. 24 Siehe dazu Hemsing: The Marshall Plan's European Film Unit, 276; Rainer Rother /Sandra Schulberg (Hrsg.): Selling Democracy. Films of the Marshall Plan: 1947–1955. Ein Programm der 54. Internationalen Filmfestspiele Berlin, 6.–15. Februar 2004. Berlin 2004, 10. 25 Press Release Issued by the Department of State, June 4, 1947: Remarks by the Honorable George C. Marshall, Secretary of State, at Harvard University on June 5, 1947. In: Foreign Relations of the United States (FRUS) 1947, Vol. III. Washington 1972, 237–239, hier 239.
214 Gabriele Clemens
Staaten zu gewinnen. Die Vermittlung der Vorteile des europäischen Integrationsprozesses für die europäischen Staaten beziehungsweise Volkswirtschaften, aber auch für jeden einzelnen Bürger, war Bestandteil der Marshallplan-Filmprogramme. Dazu erklärte Stuart Schulberg, Mitarbeiter und späterer Leiter der bei der Pariser ECA eigens eingerichteten Film Unit: „Ein wichtiges Ziel des ECA-Informationsprogramms war die europäische Integration und so waren besonders solche Filme gefragt, die einer Nation vorführten, wie eine andere Nation soziale oder ökonomische Probleme löste“. 26 Auch Schulbergs Nachfolger Albert E. Hemsing beschrieb retrospektiv als Zweck der Informationskampagne „to give Europeans the facts and gures on Marshall Aid [. . . ], to stimulate industrial and agricultural productivity, and to promote the idea of a European community“. 27 Ungefähr 30 der in der Marshallplan-Filmogra e von Linda R. Christenson 28 aufgeführten Filme warben explizit und ausschließlich für die europäische Integration. Aber auch in den anderen Marshallplan-Filmen wurde, wenn auch eher unterschwellig, die Einigung Europas beworben. Stets wurden dabei die USA mit ihrem großen, durch keine Zollschranken behinderten Wirtschaftsraum als nachahmenswertes Vorbild dargestellt. Sich an den USA zu orientieren bedeute, so wurde den Zuschauern suggeriert, dass die Europäer ebenfalls zu Reichtum und Wohlstand gelangen würden. Eindrucksvolle Bilder von amerikanischen Konsumgütern wie Autos, Mode und technischen Geräten unterstrichen diese Botschaft. Zu den Filmen, welche die europäische Integration in den Mittelpunkt stellten und diese explizit bewarben, zählen die drei Produktionen „The Shoemaker and the Hatter/Der Schuhmacher und der Hutmacher“ (GB 1950), „Histoire d'un sauvetage / Eine Rettungsgeschichte“ (F 1949) und „Without Fear“ (GB 1951). Der in Farbe gedrehte Animations lm „The Shoemaker and the Hatter“ erläutert am Beispiel zweier Handwerker in vereinfachter und zugleich anschaulicher Weise das Funktionieren des grenzüberschreitenden Warenaustausches. Er vermittelt die klare Botschaft, dass der Wegfall von Zollgrenzen beziehungsweise die Schaffung eines zollfreien Binnenmarktes zu Wohlstand in Europa führt, gemäß dem auf einem Marshallplan-Werbeplakat verkündeten Motto: „Cooperation means prosperity“ 29. Dieselbe Botschaft enthält der Animations lm „Histoire d'un sau-
26 Stuart Schulberg: Making Marshall Plan Movies. In: Films News (September 1951), 10 u. 19, hier 19; deutsch zitiert nach: Rother /Schulberg: Selling Democracy, 16. 27 Hemsing: The Marshall Plan's European Film Unit, 269 f. – Hervorhebung von G. C. 28 Siehe Anm. 20. 29 Das Plakat wurde von Louis Emmerick circa 1950 gestaltet; siehe URL: http://www.vintagepostersnyc.com/posters/online_shows/erphome.htm (zuletzt abgerufen 30. 8. 2015).
Außenpolitische Kommunikation durch Filme 215
Abb. 1 u. 2 Ohne Zollgrenzen kann der deutsche Verbraucher direkt den französischen Wein konsumieren (aus: „Histoire d'un sauvetage / Eine Rettungsgeschichte“, F 1949, BundesarchivFilmarchiv, Berlin).
vetage“, der den Wirtschaftskreislauf mit eingängigen Trick lmaufnahmen und in einfach zu verstehenden Worten erläutert und die Notwendigkeit des zollfreien innereuropäischen Warenaustausches und die dadurch hervorgerufene Produktionssteigerung hervorhebt. Ganz im Sinne des amerikanischen New Deal, der das Recht eines jeden Amerikaners auf einen angemessenen Lebensunterhalt hervorhob und davon ausging, dass durch Produktionserweiterung alle Bürger reicher würden, betont dieser Film vor allem, dass auch jeder Einzelne von der europäischen Zusammenarbeit pro tiert und dadurch seinen Lebensstandard verbessert (vgl. Abb. 1 u. 2). Der ebenfalls in Farbe gedrehte Animations lm „Without Fear“ – ein antikommunistisches Machwerk par excellence – übermittelt den europäischen Bürgern die in den USA verbreitete Vorstellung, dass europäische Einigung und Wohlstand nicht nur Frieden bedeuten, sondern den besten Schutz vor dem Kommunismus beziehungsweise der aggressiven Expansionspolitik der Sowjetunion bieten. Trick lmaufnahmen, die zeigen, wie sich ein bedrohlicher roter Strom gen Westen ausbreitet und dort Dörfer, Städte und Fabriken verschlingt, malen das Schreckgespenst der kommunistischen Ausbreitung an die Wand, dem die Europäer, wie auch zusätzlich der Kommentar hervorhebt, nur durch den Zusammenschluss entgehen können (vgl. Abb. 3).
III. Europäische Filmwerbung für den Einigungsprozess Die Integration Europas entwickelte sich seit den ausgehenden 1940er und beginnenden 1950er Jahren auch zu einem (außen)politischen Ziel europäischer Staaten, wenngleich diese damit teils unterschiedliche Absichten verfolgten. Ging
216 Gabriele Clemens Abb. 3 Die ‚rote Flut` verschlingt alles (aus: „Without Fear“, GB 1951, National Archives and Records Administration, Washington, D.C.).
es beispielsweise Frankreich vor allem darum, durch die Einbindung des westdeutschen Staates in ein geeinigtes Europa dauerhaft Sicherheit vor dem Nachbarn im Osten zu erlangen, den wirtschaftlichen und politischen Wiederaufstieg Deutschlands unter Kontrolle zu halten und die eigene Vormachtstellung in Europa zu sichern, so erhoffte sich die Bundesrepublik von der Integration die Wiedererlangung von Souveränität und Gleichberechtigung und die Eingliederung in die westliche Staatengemeinschaft. Ebenso versprach sich Italien von der Teilnahme am Integrationsprozess, zu einem anerkannten gleichberechtigten Partner der westlichen Welt zu werden und zugleich die drängenden wirtschaftlichen Probleme des Landes, wie wirtschaftliche Rückständigkeit und hohe Arbeitslosigkeit, zu lösen. Die Public Diplomacy, und hier insbesondere der Einsatz des Mediums Film, diente dazu, diese Ziele zu erreichen, indem man sich dem Nachbarn als ehrlicher, vertrauenswürdiger Partner präsentierte und somit in der Bevölkerung der jeweils anderen Staaten die Grundlagen dafür schuf, die Integrationspolitik ihrer jeweiligen Regierungen zu unterstützen. In allen drei – hier als Beispiele angeführten – Staaten wurden von Regierungsstellen oder regierungsnahen Organisationen ‚Europa lme` 30 produziert, welche für die Integration Europas warben. Diese aus Dokumentar lmaufnahmen, ktiven Szenen wie Animationen bestehenden, zehn- bis 30-minütigen Werbe lme richteten sich einerseits an die jeweils eigene Bevölkerung, waren andererseits aber auch 30 Zum Korpus der ‚Europa lme` siehe Gabriele Clemens (Hrsg.): Werben für Europa. Die mediale Konstruktion europäischer Identität durch Europa lme. Paderborn 2016. Siehe auch Gabriele Clemens: Europa – nur ein gemeinsamer Markt? Die Öffentlichkeitsarbeit für den europäischen Integrationsprozess am Beispiel der Europa lme zwischen Marshallplan und Römischen Verträgen 1947–1957. In: Michael Gehler (Hrsg.): Vom gemeinsamen Markt zur europäischen Unionsbildung. 50 Jahre Römische Verträge 1957–2007. Wien, Köln, Weimar 2009, 45–61.
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für die Verbreitung im europäischen Ausland gedacht und wurden zu diesem Zwecke synchronisiert oder auch bearbeitet. In Italien produzierte das 1951 als Informationsdienst der Regierung gegründete, direkt dem Consiglio dei Ministri unterstellte Centro di Documentazione in den 1950er und 1960er Jahren eine Reihe solcher Filme, die vor allem in jenen Staaten eingesetzt wurden, welche als mögliche Aufnahmeländer für italienische Arbeitsmigranten galten. Sie sollten über Italien, wie insbesondere über die gute Ausbildung und Tüchtigkeit der italienischen Arbeitskräfte, informieren und somit die italienische Arbeitsmarktoffensive unterstützen. In Frankreich fungierten als Auftraggeber solcher Europa lme unter anderem die großen Ministerien (Außen-, Erziehungs-, Landwirtschafts- und Verteidigungsministerium), zudem die Staatsbahn SNCF und verschiedene private Einrichtungen wie beispielsweise Landwirtschaftsverbände. In der Bundesrepublik zählten ebenfalls einzelne Ministerien und regierungsnahe Institutionen, wie die Bundeszentrale für Heimatdienst und das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, zu den Auftraggebern von Europa lmen. Flankiert oder unterstützt wurden diese Maßnahmen der Staaten durch die Informationsdienste der seit dem Ende der 1940er Jahre entstandenen europäischen Organisationen, wie Brüsseler Pakt/WEU, Europarat und Europäische Gemeinschaften. Diese produzierten auch selbst Filme, um die Integrationsbestrebungen in den einzelnen Staaten zu fördern, waren aber ebenso um den Austausch zwischen den nationalen Filmproduktionen bemüht und förderten, u. a. nanziell, die Synchronisationsarbeiten der in nationaler Regie erstellten Filme, damit diese in den jeweils anderen Ländern zirkulieren konnten. Auch erstellten sie Filmkataloge, um die jeweiligen nationalen Filmproduktionen den anderen Ländern zur Kenntnis zu bringen. Das Cinema Sub-Committee des 1948 gegründeten Brüsseler Paktes sah in dem Austausch von Kultur- und Lehr lmen zwischen seinen Mitgliedern ein wichtiges Mittel, die Kenntnisse über die anderen Mitglieder zu vertiefen, zur gegenseitigen Verständigung und „to the development of cultural relations between the signatory countries“ beizutragen. 31 Im Herbst 1950 standen jedem Land des Brüsseler Paktes je fünf Filme der übrigen Mitgliedsländer zur Verfügung, die das Leben in den anderen Mitgliedstaaten zeigten. Insgesamt – so schätzte das britische Foreign Of ce 1950 – würden in den nächsten Monaten 125 Filme zwischen den fünf Staaten zirkulieren. 32
31 National Archives (NA), London, BT (Board of Trade) 64/4473, Brussels Treaty Permanent Commission, Secretary-General's Report to the Permanent Commission on the Recommendations of the Experts on Non-Commercial Films, 11.10. 1949. 32 NA, FO (Foreign Of ce) 924/870, Brief for the Cultural Committee Meeting, 23. 10. 1950.
218 Gabriele Clemens
Abb. 4 u. 5
aus: „Europa ruft“ (D 1955, Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin).
Wie verfolgte man nun mit diesen Filmen konkret das Ziel, den europäischen Partnern das eigene Land als ‚integrationswürdig` zu verkaufen und Rückhalt in der Bevölkerung anderer Staaten für die (eigenen) Integrationsziele zu erlangen? Dies sei an einigen zentralen Bildmotiven dieser Filme erläutert. 1) Zu den häu g wiederkehrenden Bildmotiven zählt die Darstellung von Politikern (Regierungschefs, Minister) bei internationalen Begegnungen, Konferenzen sowie bei Vertragsunterzeichnungen (vgl. Abb. 4–7). Diese Bilder führen den Zuschauern vor, dass die Politiker der verschiedenen europäischen Staaten – einschließlich der Politiker des kommunizierenden Staates – bereits vertrauensvoll miteinander verhandeln oder verkehren, es somit keinen Grund gibt, den anderen Staaten und ihren politischen Zielen zu misstrauen. Häu g kommen im O-Ton die Vertreter der Staaten zu Wort, und diese Worte unterstreichen, dass sie nur mit besten Absichten handeln – zum Wohle aller. Zugleich lernen die Zuschauer die Politiker anderer Staaten von Angesicht her kennen; der ‚Andere` ist also kein unbekannter und bedrohlicher Feind mehr, vor dem man sich in Acht nehmen muss. Der wiederholte Schwenk bei solchen Aufnahmen von den meist in Großaufnahmen präsentierten Politikern auf jubelnde und applaudierende Menschenmassen, die die Zusammenkünfte oder die Ankunft der Politiker begleiten, unterstreicht noch zusätzlich, dass andere Völker diesen Schritt zur internationalen Zusammenarbeit bereits mittragen – warum sollte man also misstrauisch abseitsstehen? Solche Bilder sind vor allem dazu gedacht, Vertrauen zu erzeugen. Spezi sch nationale Interessen der jeweiligen Staaten am Integrationsprozess werden in solchen für die Verbreitung im Ausland gedachten Filmen selten offen dargelegt. So werden beispielsweise bei den französischen Europa lmen die französischen Sicherheitsinteressen – ein wesentliches Integrationsmo-
Außenpolitische Kommunikation durch Filme 219 Abb. 6 aus: „Mercato comune europeo“ (I 1958, Presidenza del Consiglio dei Ministri, Dipartimento per l'informazione e l'editoria, Rom).
Abb. 7 aus: „Europa ruft“ (D 1955, Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin).
tiv – kaum thematisiert, anders hingegen in den französischen Fernsehsendungen, die sich an ein nationales Publikum richten. 2) Aber es galt nicht nur, Vertrauen in die Staatsmänner anderer Staaten zu gewinnen, zugleich sollte auch die Bevölkerung der anderen Länder als vertrauenswürdig und gleichgesinnt erfahren werden, beziehungsweise ging es darum, diese anderen Völker kennenzulernen und Verständnis für sie zu entwickeln. Eine Reihe von Filmen – wie beispielsweise „Herr Müller lebt überall“ (D 1951) und „Europa heute“ (D 1962) – führt vor, dass die Menschen überall in Europa die gleichen Wünsche und Sorgen haben: Die Hausfrau in den Niederlanden sorgt sich ebenso wie die französische, deutsche oder italienische Hausfrau um die Versorgung ihrer Familie mit guten Lebensmitteln oder um behagliche Unterkünfte; alle Frauen begeistern sich für die Mode wie alle Männer für jetzt zu erschwinglichen Preisen zu kaufende technische Geräte und vor allem blitzblanke, schnelle Autos. In den Filmen hervorgehobene nationale Besonderheiten einzelner Völker, wie der stets charmante, den Frauen nachschauende Italiener oder Franzose,
220 Gabriele Clemens
Abb. 8–11 Europa ist im Leid geeint! Schlangen wartender Menschen in Paris, Berlin, London (aus: „Nous, l'Europe“, F 1957, Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin) und Trümmerlandschaft (aus: „45/58 La marche de l'Europe“, F 1959, Centre National de la Cinématographie, Paris).
werden als liebenswerte Eigentümlichkeiten – oft in ironisierender Weise – dargestellt, die einer Zusammenarbeit der Europäer nicht entgegenstehen, sondern in ihrer Vielfältigkeit vielmehr zu einer Bereicherung des Lebens in Europa führen. 3) Demselben Zweck, die Gemeinsamkeiten der europäischen Bevölkerung zu betonen, dienen auch die vorgeführten Bilder von Kriegszerstörungen und ihren Folgen, die vor allem das gemeinsame Leiden der Europäer herausstellen. Fast nie werden die am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Schuldigen benannt, stattdessen wird in den Filmen der Mythos einer einzigen Opfergemeinschaft bemüht. „L'Europe a soif, l'Europe a faim“, kommentiert der französische Film „Nous, l'Europe“ (F 1957) mit wenigen markanten Worten die Sorge aller Europäer, Wasser und Nahrung zu nden (vgl. Abb. 8–10). „So sah es überall in Europa aus“ ist ein häu g zu hörender Satz, wenn die Kamera über die kriegszerstörten Häuser und Straßenzüge in einzelnen europäischen Städten gleitet (vgl. Abb. 11). Aus dem gemeinsam erfahrenen Leid, so die Schlussfolgerung der Filme, ergibt sich
Abb. 12 u. 13 Das kulturelle Erbe Europas (aus: „Vingt ans après / Europa 1978“, F 1958, Landratsamt München).
Außenpolitische Kommunikation durch Filme 221
die gemeinsame Verantwortung zum Wiederaufbau und zur Zusammenarbeit in Europa. 4) Fast alle Filme, egal welcher Provenienz, verweisen durch das Einblenden bestimmter, immer wiederkehrender Ikonen – wie griechischer Tempel oder christlicher Kathedralen – oder auch durch längere kulturhistorische Ausführungen auf das gemeinsame kulturelle Erbe der westlichen Länder, das zur künftigen Zusammenarbeit in Europa verp ichte. Europa wird als Wertegemeinschaft präsentiert, zu der auch der kommunizierende Staat sich selbst zählt (vgl. Abb. 12 u. 13, Seite 220). 5) Und wem diese Verweise auf die Gemeinsamkeiten der (West-)Europäer als Basis europäischer Integrationspolitik noch nicht ausreichten, um von alten nationalstaatlichen Ressentiments oder Vorurteilen gegenüber dem Nachbarn abzurücken, dem sollten spätestens die folgenden Bilder zu denken geben:
Abb. 14–16 Europa droht Gefahr aus dem Osten (aus: „Der grosse Irrtum“, D 1956, BundesarchivFilmarchiv, Berlin).
Die Bedrohung durch den Kommunismus, den Filme mittels solcher Trickgrak besonders deutlich herausstellen konnten, verp ichtet – so der Tenor der Filme – die Westeuropäer zur Zusammenarbeit und Überwindung nationalstaatlicher Vorbehalte, wenn ihnen ihre Errungenschaften – Wohlstand und Freiheit – lieb sind. Zwei weitere Beispiele aus der Europa lmproduktion – „Hugo“ und „Sarre, pleins feux“ – illustrieren ebenfalls, wie Filme als Medium der Außenpolitik im Integrationsprozess genutzt wurden: So sollte die 1953 in den Niederlanden produzierte Zeichentrick lm-Serie „Hugo“, die allein für die Vorführung in Westdeutschland hergestellt worden war, dazu dienen, den europäischen Einigungsgedanken in Deutschland zu verankern und die deutsche Politik auf den Integrationsprozess einzuschwören. Diese Serie besteht aus sechs sehr kurzen Einzel lmen wie „Hugo als Kraftmax“, „Hugo am Trapez“, „Hugo macht Musik“ usw., die alle nach dem gleichen Schema aufgebaut
222 Gabriele Clemens Abb. 17 Keiner schafft es allein (aus: „Hugo am Trapez“, NL 1953, EYE Film Instituut Nederland, Amsterdam).
sind: Hugo, ein deutscher Zirkusartist, versucht, alles allein zu machen, muss aber rasch erkennen, dass er nur erfolgreich sein kann, wenn er mit den anderen Artisten – sprich Staaten – zusammenarbeitet. Diese Parabel lme vermitteln ihre Lehre sehr unverblümt. Dadurch, dass die anderen Zirkusleute durch ihre Kleidung als Vertreter der anderen europäischen Nationalstaaten zu identi zieren sind, wird die vermittelte Botschaft für jeden ersichtlich: Deutschland kann nur in Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Staaten seine Probleme lösen. Der 1951/52 produzierte Film „Sarre, pleins feux / Saarland Glück auf!“ sollte dazu beitragen, das französische Ziel der Abtrennung des Saarlandes von der Bundesrepublik zu untermauern. Die deutschsprachige Fassung des Films war allein für die saarländische Bevölkerung gedacht und sollte nur im Saarland aufgeführt werden. Der Film wurde von Gilbert Grandval, dem Hohen Kommissar Frankreichs im Saarland, und von Johannes Hoffmann, dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, bei der Pariser Produktions rma Forces et Voix de France in Auftrag gegeben. 33 Der Film, der direkt mit einer Karte beginnt, welche den Saarstaat als eigenständiges Territorium ausweist, läuft in seinen Kernaussagen darauf hinaus, den wirtschaftlichen Anschluss des Saarlandes an Frankreich zu rechtfertigen und auch weiterhin aufrechtzuerhalten, wie der Kommentar unmissverständlich klarstellt: „eine Ver echtung, worauf die Wirtschafts-, Währungsund Zollunion zwischen Frankreich und dem Saarland beruht, die alleine eine blühende Prosperität garantiert und garantieren kann – Voraussetzung für die Solidarität Frankreichs und Deutschlands und damit die Basis für den Zusam33 Gerhild Krebs: Das Saarland im propagandistischen Spiegel 1945–1955. Dokumentar lme französisch-saarländischer Provenienz, Teil 1. In: Saarbrücker Hefte 105 (2011), 76–89, hier 76.
Außenpolitische Kommunikation durch Filme 223
menschluss Europas.“ Ohne Umschweife wird somit die Eingliederung dieses Wirtschaftsraums in die nationale französische Volkswirtschaft zur Bedingung für die europäische Einigung und die deutsch-französische Aussöhnung erklärt, werden französische nationale Interessen mit der europäischen Integration verbunden. Der Film macht in seinen zentralen Bildern und Aussagen deutlich, dass das Heilmittel für alle gegenwärtigen und zukünftigen Probleme sowie die dauerhafte Friedenssicherung in der Einigung Europas liegt, aber dass diese nur möglich ist, wenn das Saarland sich Frankreich anschließt. Die Saarländer werden somit aufgefordert, durch ihre politische Entscheidung die deutsch-französische Aussöhnung und die europäische Einigung zu ermöglichen oder andernfalls die Schuld für deren Nichtzustandekommen auf sich zu nehmen.
IV. Fazit Die zur Initiierung und Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses eingesetzten US-amerikanischen und europäischen Filme erfüllten vorrangig die Funktion, die ‚Bilder in den Köpfen` 34 zu verändern und so auswärtige Öffentlichkeiten zur Durchsetzung eigener nationalstaatlicher Interessen und Ziele zu beein ussen. Die im Rahmen des Marshallplans von den USA in Auftrag gegebenen Filme waren vor allem darauf ausgerichtet, den Bevölkerungen der europäischen Staaten auf anschauliche und verständliche, zudem unterhaltsame Weise die (wirtschaftlichen) Vorteile eines europäischen Zusammenschlusses nahezubringen und sie somit für die Unterstützung der eigenen europapolitischen Zielvorstellungen zu gewinnen. Damit verbunden war eine positive Selbstdarstellung der USA, an deren wirtschaftlichem Wohlstand sich die europäischen Bürger orientieren sollten. Ebenso dienten die unverhüllten Warnungen (in Bild und Kommentar) vor dem Kommunismus dazu, die europäischen Öffentlichkeiten von der Notwendigkeit eines geeinten Europas als Bollwerk gegen den Osten im Sinne der amerikanischen Containment-Politik zu überzeugen. Auch die Filme europäischer Auftraggeber warben mit den Aussichten auf künftigen unbegrenzten Wohlstand für einen europäischen Zusammenschluss und bedienten sich antikommunistischer Feindbilder zur Unterstützung ihrer Argumente. Vor allem aber sollten diese auch im Ausland eingesetzten Filme dazu dienen, das eigene Land, das heißt die eigenen Politiker und die eigene Bevölkerung, der Öffentlichkeit anderer europäischer Länder als vertrauenswürdig zu präsentieren und auf die kulturelle Gemeinsamkeit aller Europäer als Basis eines Zusammenschlusses
34 Lippmann: Public Opinion, 3 („the pictures in our heads“).
224 Gabriele Clemens
hinzuweisen. Kurzum: Die Filme, denen eine hohe Suggestivkraft zugeschrieben wurde, sollten die Bevölkerung in den Zielländern für die Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses gewinnen und damit die Durchsetzung der eigenen politischen Zielsetzung gewährleisten. Auf diese Weise sekundierten die kulturellen Medien den herkömmlichen Mitteln internationaler Politik, wurden sie im Zeitalter beschleunigter Kommunikationswege und zunehmender Partizipation der Bevölkerung zum unentbehrlichen ‚vierten Arm der Außenpolitik`. Ob und inwiefern diese Filme tatsächlich dazu beitrugen, die ‚Bilder in den Köpfen` zu verändern und die auswärtigen Öffentlichkeiten für die eigenen Zielvorstellungen zu gewinnen, darüber kann aufgrund kaum vorhandener Daten nur spekuliert werden. Rezensionen zu diesen Kurz lmen liegen kaum vor; 35 diese könnten zudem allenfalls Auskunft über punktuelle und allgemeine Publikumsreaktionen geben, aber keinesfalls über längerfristige Einstellungsänderungen. Regelmäßig durchgeführte Umfragen zur Einstellung der Bürger zum Einigungsprojekt, wie etwa das seit den 1970er Jahren bestehende Eurobarometer, liegen für die Anfangszeit des Integrationsprozesses nicht vor; sie könnten zudem u. a. aufgrund der Konfundierungsproblematik und des Fehlens von Fragen zum Ein uss dieser Filme auf die Einstellung zu Europa auch keine Rückschlüsse auf die Wirkung der Filme zulassen. Es erscheint allerdings plausibel, dass aufgrund der massiven Beein ussung durch die Marshallplan-Filmwerbung, die vermutlich dazu geführt hat, dass bis heute das amerikanische Hilfsprogramm positiv erinnert wird, auch der Integrationsgedanke in den Köpfen der Menschen verankert wurde. Ebenso könnte der wiederholt konstatierte sogenannte ‚permissive consensus` 36, das heißt die stillschweigende Zustimmung der europäischen Bevölkerung zur Integration in der Anfangszeit des Einigungsprozesses, auch ein Indiz dafür sein, dass eine solche Beein ussung durch Filme durchaus Wirkung entfaltet hat.
35 Diese Kurz lme, die im Vorprogramm der Kinos und in nichtkommerziellen Einrichtungen liefen, wurden nur selten in der Tagespresse und in Fachzeitschriften besprochen. 36 Zum Konzept des ‚permissive consensus` siehe Leon N. Lindberg /Stuart A. Scheingold: Europe's Would-Be Polity. Patterns of Change in the European Community. Englewood Cliffs 1970.
Rainer F. Schmidt
Einführung Was der Nationalsozialismus war, das war er vor allem durch seine mediale Inszenierung. Die Selbstdarstellung der „NS-Bewegung“ als neue, unverbrauchte Kraft; ihr Mythos von Volks- und Gesinnungsgemeinschaft; der Kult um die messianische Aura ihres „Führers“ und die Verführung der Massen im Stile einer Glaubensbewegung – all dies schuf die Basis für jenen Triumphzug, der Hitler am 30. Januar 1933 in die Reichskanzlei führte und ihn für zwölf Jahre bis zum bitteren Ende dort hielt. Die Attraktionskraft des Nationalsozialismus lag nicht in dem widersprüchlichen und verschwommenen Konglomerat seiner Weltanschauung begründet; nicht in der plakativen Verschmelzung des Gegensatzes zwischen „national“ und „sozial“ und nicht in ideologischen Formeln oder Feindbildern. Wenn sich immer mehr Deutsche hinter dem „Führer“ scharten, wenn man ihm außergewöhnliche, ja übernatürliche Fähigkeiten zumaß und wenn man sich, nicht nur in Deutschland, auch im Ausland, in nachgerade abenteuerlichen Illusionen über die Ziele Hitlers erging, dann war dies vor allem ein Produkt der Propaganda. Sie prägte das Erscheinungsbild der „Bewegung“; und aus ihrer psychotechnischen Kunstfertigkeit und medialen Meisterschaft gewann der Nationalsozialismus seine Attraktionskraft und sein Potenzial. Hellsichtige Zeitgenossen beobachteten ganz richtig, wenn sie den Massenerfolg der Nationalsozialisten auf jene Aura zurückführten, mit der sich Hitler und seine Partei umgaben und die ein Kunstprodukt perfekter Inszenierung durch moderne Kommunikationsstrategien war. So stellte schon Kurt Tucholsky mit Blick auf den Widerspruch zwischen Hitlers Dürftigkeit als Person und den gigantischen Wirkungen, die von ihm ausgingen, treffend fest: „Den Mann, den gibt es gar nicht, er ist nur der Lärm, den er verursacht“. 1 Und der britische Zeitungskorrespondent Sefton Delmer, der Hitler im Jahre 1932 bei dessen erstem Deutschland ug begleitete, beobachtete ganz richtig, wenn er die Anziehungskraft des Nationalsozialismus damit erklärte, dass die Menschen „gar nicht so 1
Kurt Tucholsky: So verschieden ist es im menschlichen Leben! In: Die Weltbühne, 14. April 1931, 542 f.
228 Rainer F. Schmidt
sehr beeindruckt [seien] von dem, was Hitler sagte, sondern vielmehr von dem Zauber seiner physischen Gegenwart.“ 2 Wie die Forschung gezeigt hat, war das Werkzeug für diese irrational fundierte Magnetwirkung von Messianismus und Heilserwartung die virtuose Handhabung diverser moderner Kommunikationsinstrumente und subtiler Propagandatechniken, die alles Bisherige in den Schatten stellten. 3 Eine Gruppe von Medienakteuren, derer sich die Nationalsozialisten bedienten und die vorwiegend auf internationale Wirkung zielten, blieb bis heute allerdings weitgehend unerforscht: die Tätigkeit der in Berlin akkreditierten Auslandskorrespondenten, die ihre heimischen Gesellschaften über die Vorgänge in Deutschland informierten. Sie prägten, so Norman Domeier (Stuttgart) in seinem nicht verschriftlichten Vortrag über „Die Auslandskorrespondenten als politische Akteure im Dritten Reich“, das Bild, das sich die Welt vom nationalsozialistischen Deutschland machte. Anders als ihre deutschen Kollegen waren die internationalen Journalisten keine Befehlsempfänger des NS-Machtapparates, die einer strikten Zensur unterlagen und rigide Presseanweisungen zu befolgen hatten. Gerade deshalb mussten die Ein ussmechanismen und Lenkungsstrategien des Regimes ungleich listiger, kalkulierter und indirekter sein. Sie reichten, wie der Vortrag anschaulich schilderte, von Gesten der Korrumpierung durch Auszeichnung, Bevorzugung und exklusive Information bis hin zur Täuschung, Isolierung, Inhaftierung und Ausweisung. Dennoch, so das Fazit Domeiers, blieb diese Klientel, für die, außer für Radioberichte, selbst im Krieg formell nie eine Vorzensur galt, bis zum Ende des „Dritten Reiches“ ein schwer zu kontrollierender und kaum beein ussbarer Faktor, mit dessen medialer Unabhängigkeit und inhaltlicher Eigenständigkeit das NS-Regime stets zu rechnen hatte. Die Korrespondenten können deshalb, so
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Sefton Delmer: Die Deutschen und ich. Hamburg 1962, 150. Gerhard Paul: Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933. Bonn 1992; Horst Ueberhorst: Feste, Fahnen, Feiern. Die Bedeutung politischer Symbole und Rituale im Nationalsozialismus,. In: Rüdiger Voigt (Hrsg.): Symbole der Politik – Politik der Symbole. Opladen 1989, 157–178; Norbert Frei: Nationalsozialistische Presse und Propaganda. In: Martin Broszat/Horst Möller (Hrsg.): Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte. Vorträge aus dem Institut für Zeitgeschichte. München 1983, 152–175; Siegfried Zelnhefer: Die Reichsparteitage der NSDAP. Geschichte, Struktur und Bedeutung der größten Propagandafeste im nationalsozialistischen Feierjahr. Nürnberg 1991; Peter Longerich: Nationalsozialistische Propaganda. In: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.): Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Bonn 1993, 291–314.
Einführung 229
Domeier, als eigenständige Konstrukteure von Information und als genuin politische Akteure gelten. Ein korrespondierendes Phänomen nimmt Peter Geiss in den Blick. Er spürt dem Meinungsbildungsprozess in einer demokratisch verfassten Gesellschaft nach, indem er die Bedeutung, Wirkung und Konstruktion von britischen Wochenschau lmen als Quellen für das Verständnis der internationalen Politik in der Zwischenkriegszeit thematisiert. Wie Geiss anhand von diachronisch angeordneten Filmausschnitten und Beispielen eindrücklich zeigt, die von der Unterzeichnung des Versailler Friedensdiktates am 28. Juni 1919 über den Beginn des Abessinienkrieges (Oktober 1935) bis hin zum Höhepunkt der Sudetenkrise im September 1938 reichen, diente das für die Zeitgenossen neuartige Kinoerlebnis vor allem der Weckung von Emotion, der Kreierung einer Pseudo-Augenzeugenperspektive und der Konstruktion einer regierungsamtlichen politischen Wirklichkeit. Die landesweite Kommunikation von Wochenschau lmen, die in England ein Massenpublikum erreichten, fungierte damit als Werkzeug einer auf ebenso raf nierte wie effektive Weise bewerkstelligten Steuerung der „political opinion“ im Sinne der politischen Elite. Die Wochenschauen legitimierten und delegitimierten das außenpolitische Handeln, indem sie die internationale Politik visuell, akustisch, unterhaltend, aber eben auch persuasiv, ins Bild setzten. Sie wurden zum Bestandteil der Lebenswelt eines wahlberechtigten Millionenpublikums, ohne dass die Kinobesucher der subtilen Steuerungsmechanismen ihrer Perzeptionen und Perspektiven gewahr wurden. Ein sowohl zeitlich wie medial gänzlich anderes Feld erschließt der Beitrag von Fabian Fechner über die „Herausbildung spezialisierter Prokuratorenämter zur diplomatischen Kommunikation zwischen dem Jesuitenorden und spanischen Verwaltungs- und Entscheidungsträgern (1540–1580)“. Es waren, wie Fechner zeigen kann, vor allem die Missionsorden, die in der nur rudimentär staatlich verfassten und organisierten Peripherie des spanischen und portugiesischen Imperiums das Herrschaftsvakuum vor Ort ausfüllten. Denn sie waren es, die diese Regionen bürokratisch durchformten und damit mehr und mehr in die Position einer unverzichtbaren Schaltstelle zu den weltlichen Behörden einrückten. Insbesondere gilt dies für das bislang kaum untersuchte Beispiel der Tätigkeit der Gesellschaft Jesu im spanischen Verwaltungsbereich. Im Jesuitenorden, so der Tenor, bildeten sich zahlreiche spezi sche Ämter und Funktionen heraus, die zu Organen der Kommunikation mit den staatlichen Verwaltungsstellen der spanischen Kronbehörden avancierten, die stellvertretend für die Zentrale zahlreiche staatliche Aufgaben wahrnahmen und die nicht zuletzt für die Formalisierung der Kommunikationswege sorgten und die Verschriftlichung des behördlichen Verkehrs vorantrieben.
Fabian Fechner
Das Ringen um die authentische Information Epistemologische Re exionen in Missionsnetzwerken zu Beginn der Neuzeit
Die Hinwendung zu wissens- und mediengeschichtlichen Fragestellungen hat in den letzten Jahren verstärkt zu einer Rekonstruktion von Informationsnetzwerken geführt. Unter Ein uss von McLuhans Diktum „The medium is the message“, der Historisierung des Themas „Kommunikation“, der Netzwerktheorie und buchhistorischer Verbreitungsanalysen wurden intuitive Vorstellungen eines einseitigen Wissensgefälles zwischen Alter und Neuer Welt revidiert. Umfangreiche Fallstudien legten überregionale Kommunikationsnetze und deren Modi kation durch Verschriftlichung, Überführung von Informationen in Druckmedien und Änderungen bei den Rezeptionsweisen und der Informationspolitik offen. 1 Der Jesuitenorden bietet sich aufgrund der exzeptionellen Quellenlage als Beispiel für die Untersuchung von Informationszirkulation und Wissenstransfer in der Frühen Neuzeit an. Das Beispiel der Jesuiten stößt wohl auch deshalb auf ein für Missionsorden überdurchschnittliches Interesse, weil es kontinuierlich durch autore exive, verwaltungshistorische, apologetische und polemische Quellen beleuchtet wird, quer zum nationalstaatlichen Forschungsparadigma liegt und darüber hinaus alle bekannten Kontinente berührt. In den letzten Jahren wurde auf der Grundlage der normativen Vorgaben und der administrativen Praxis herausgearbeitet, welche Arten von Texten zirkulierten. Personalkataloge, buchhalterische Unterlagen und regelmäßig zu erstellende Berichte wurden, teils kompiliert von den Provinzialen, aus den Provinzen an die Ordenskurie nach 1
Ein Überblick, wie „Kommunikation“ zu einem geschichtswissenschaftlich untersuchten Thema wurde, bei Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003, 9–25; zum lateinamerikanischen Kontext Renate Pieper: Die Vermittlung einer neuen Welt. Amerika im Nachrichtennetz des habsburgischen Imperiums, 1493–1598. Mainz 2000; Forschungsüberblick bei Michael North: Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der Frühen Neuzeit. 2. Au . Berlin, Boston 2014, 45–52, 99 f. Ich danke Renate Dürr und Irina Pawlowsky für die kritische Lektüre.
Das Ringen um die authentische Information 231
Rom gesandt; in der Gegenrichtung verkehrten vor allem Instruktionen und päpstliche Bullen und Breven, ganz abgesehen von zahllosen Einzelschreiben. Erbauliche Schreiben wurden nicht nur nach Rom gesandt, sondern zirkulierten auch horizontal zwischen den Provinzen. Ständige Prokuratoren in Lissabon, Sevilla und Madrid beschleunigten und koordinierten den Informations uss zwischen der Ordenskurie und den Überseemissionen in Asien, Afrika und Amerika. 2 Abgesehen von der Rekonstruktion eines expandierenden und sich ausdifferenzierenden Nachrichtennetzwerks beschäftigen sich jüngere Forschungen mit der Frage, wie in Überseemissionen gewonnene Informationen in Europa ausgewählt, redaktionell bearbeitet und dann verbreitet wurden. Diese Ergebnisse legen nahe, dass keine klare Trennlinie zwischen „erbaulichem Wissen“ und „Nutzwissen“ gezogen werden kann und die forschungsgeschichtlich und quellengenetisch bedingte Fokussierung auf den Jesuitenorden unter Ausblendung anderer gesellschaftlicher Akteure überwunden werden muss. Insbesondere bei der Frage der Rezeption eines in den Missionen generierten Wissens in der scienti c community der Zeit hat sich eine solche Sichtweise als weiterführend erwiesen. 3
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Markus Friedrich: Der lange Arm Roms? Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540–1773. Frankfurt am Main, New York 2011, 231–389; Paul Oberholzer: Der Schriftverkehr zwischen Ellwangen und der Ordenskurie. Quellen im Archivum Romanum Societatis Iesu. In: Franz Brendle /Fabian Fechner/Anselm Grupp (Hrsg.): Jesuiten in Ellwangen. Oberdeutsche Provinz, Wallfahrt, Weltmission. Stuttgart 2012, 43– 59; J. Gabriel Martínez-Serna: Procurators and the making of Jesuits' Atlantic network. In: Bernard Bailyn /Patricia L. Denault (Hrsg.): Soundings in Atlantic history. Latent structures and intellectual currents, 1500–1830. Cambridge, Mass. 2009, 181–209; Luisa Elena Alcalá: ‚De compras por Europa`. Procuradores jesuitas y cultura material en Nueva España. In: Goya. Revista de arte 318 (2007), 141–158; Luke Clossey: Salvation and globalization in the early Jesuit missions. Cambridge 2010, 193–215; Jean-Claude Laborie: Mangeurs d'homme et mangeurs d'âme. Une correspondance missionnaire au XVIe, la lettre jésuite du Brésil, 1549–1568. Paris 2003; Georges Bottereau: Correspondencia. In: Charles E. O'Neill/Joaquín María Domínguez (Hrsg.): Diccionario histórico de la Compañía de Jesús. Biográ co-temático, Bd. 1. Rom, Madrid 2001, 965 (sowie die folgenden Teilartikel verschiedener Autoren); für unter General Laínez verfasste Redaktionsrichtlinien Paul Oberholzer: Briefkultur als integratives Element vor der Herausforderung eines globalen Sendungsauftrages im Kontext sich wandelnder Herrschaftskonzepte im spanischen Weltreich. In: ders. (Hrsg.): Diego Laínez (1512–1565) and his Generalate. Jesuit with Jewish Roots, Close Con dant of Ignatius of Loyola, Preeminent Theologian of the Council of Trent. Rom 2015, 757–805. Zur Isolierung, Montage, Rekontextualisierung und Diffusion von Informationen, die in Jesuitenmissionen gewonnen wurden, siehe Renate Dürr: Der ‚Neue Welt-Bott` als
232 Fabian Fechner
Diese Fragen betreffen vor allem die Modi kation und die Diffusion von Informationen. An dieser Stelle soll im Prozess der Wissensgenerierung etwas früher angesetzt werden: Wie können möglichst authentische Informationen erst gewonnen werden? 4 Als Grundlage dienen zeitgenössische Überlegungen in der brieflichen Kommunikation zwischen den Überseeprovinzen und der Ordenskurie bis ins frühe 17. Jahrhundert. Dabei soll ein weit gefasster Medienbegriff Anwendung nden. 5 Nicht nur die Briefe und Berichte selbst, sondern auch die Bedingungen ihres Transports sollen analysiert werden. Diese Bedingungen sind nicht als bloßer Botendienst zu verstehen, sondern umfassen auch eigens
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Markt der Informationen? Wissenstransfer als Moment jesuitischer Identitätsbildung. In: Zeitschrift für Historische Forschung 34 (2007), 441–466; dies.: Wissen als Erbauung – zur Theatralität der Präsentation von Wissen aus aller Welt im Neuen Welt=Bott. In: Nikola Roßbach /Constanze Baum (Hrsg.): Theatralität von Wissen in der Frühen Neuzeit. Wolfenbüttel 2013, online unter URL: http://diglib.hab.de/ebooks/ed000156/id/ebooks_ ed000156_article11/start.htm (zuletzt abgerufen 28. 6. 2016); Galaxis Borja González: Jesuitische Berichterstattung über die Neue Welt. Zur Veröffentlichungs-, Verbreitungsund Rezeptionsgeschichte jesuitischer Americana auf dem deutschen Buchmarkt im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 2011; Ulrike Strasser: Die Kartierung der Palaosinseln. Geographische Imagination und Wissenstransfer zwischen europäischen Jesuiten und mikronesischen Insulanern um 1700. In: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), 197–230. Der Aspekt der Authentizität wurde bei Überseeberichten bislang vor allem hinsichtlich der Beglaubigungsstrategien und der Evidenzerzeugung durch textliche und visuelle Strategien untersucht. Insbesondere bei spärlichen Angaben über die Entstehungsbedingungen eines Textes bietet sich diese Herangehensweise an. Stellvertretend Wolfgang Neuber: Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der frühen Neuzeit. Berlin 1991; Hole Rössler: Die Kunst des Augenscheins. Praktiken der Evidenz im 17. Jahrhundert. Münster u. a. 2012. Beglaubigungsstrategien werden im medien- und literaturwissenschaftlichen Kontext auch unter dem Schlagwort der „Authenti zierung“ verhandelt; zum Forschungszusammenhang vgl. Susanne Knaller / Harro Müller: Einleitung. Authentizität und kein Ende. In: dies. (Hrsg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München 2006, 7–16. Viele De nitionsversuche des Medienbegriffs münden in der Feststellung, dass er schillernd und vielschichtig sei, beispielsweise Andreas Würgler: Medien in der Frühen Neuzeit. 2. Au . München 2014 (Würgler beschränkt den Medienbegriff letztlich pragmatisch auf Druckmedien). Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung. Hamburg 2006, 21, hat darüber hinausgehend auf den Punkt gebracht, dass der Medienbegriff geradezu schwer handhabbar sein muss: „Wie immer sich jedoch das Bedeutungsfeld des Medienbegriffs wandelte, nie büßte er seinen stupenden Bezug auf ein Rätsel oder ein Undarstellbares ein. Vielmehr lässt sich sagen, dass sein Einsatz offenbar immer dort notwendig wird, wo die klassischen Dichotomien der Metaphysik versagen und an ihre Grenzen geraten. Dann muss ein weiteres, drittes Element eingeführt werden, das jedoch aus den Unterscheidungen herausfällt, wie es diese gleichzeitig ermöglicht.“
Das Ringen um die authentische Information 233
geschaffene Ämter von Berichterstattern, die die transportierten Berichte kommentieren, relativieren und gegebenenfalls auch verteidigen sollten. Personen und Schriftstücke sind gleichermaßen Formen von Außenkommunikation der Ordenskurie. Diese doppelte Berücksichtigung spezi scher Übermittlungskanäle soll einer medialen Engführung entgegenwirken, die unter „Information“ stillschweigend „schriftliche Information“ versteht. 6 Im Folgenden wird am Beispiel des Jesuitenordens analysiert, wie die Möglichkeit einer möglichst authentischen Information aus den Überseeprovinzen eingeschätzt wurde. Epistemologische Erwägungen wurden dabei auf die Ebene der alltäglichen administrativen Praktiken heruntergebrochen. Grundsätzlich wurde schon von den ersten Missionaren in Übersee angezweifelt, dass ausschließlich Schriftstücke für eine solche Information genügen (I.). Die schriftliche Information wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunächst in Einzelfällen, dann systematisch durch die persönliche Begegnung von Ordensgeneral und Berichterstattern aus den einzelnen Provinzen ergänzt, deren Wahl und Funktion jedoch fortwährend umstritten waren (II.). Besonders ihre Rolle als Ankläger oder Mitwisser bei Missständen und Kon ikten im Provinzregiment (III.) sowie die Sachkenntnis und Erfahrung aus eigenem Augenschein (IV.) wurde hinsichtlich ihrer Informations- und Repräsentationsfunktion in Rom zuvor in den Provinzen eingehend debattiert. Abschließend werden zur Herausarbeitung etwaiger Spezi ka dieser Kommunikation vergleichende Blicke auf andere Missionsorden geworfen (V.). Dadurch sollen die bisherigen Forschungen über die Expansion und Ausdifferenzierung des Netzwerks um die Re exionen über die erforderlichen Eigenschaften einer Nachricht und ihres Überbringers ergänzt werden. Neben der Verbindung von Person und Brief, mündlicher und schriftlicher Kommunikation, soll im Folgenden hervorgehoben werden, dass man aus der bloßen Existenz der Textsorte „Bericht“ zunächst
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Ein besonders eklatanter Fall der Engführung ist etwa Paul Nelles: Cosas y cartas. Scribal Production and Material Pathways in Jesuit Global Communication (1547–1573). In: Journal of Jesuit Studies 2 (2015), 421–450. Seine Analyse umfasst ausschließlich die Kompilation und Zirkulation von Informationen, wobei der Missionsprokur in Lissabon besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Die Rolle der Provinzprokuratoren hinsichtlich der Informationszirkulation im Orden sieht er auf den „exchange of letters, instructions, and other documents“ (424) beschränkt – die Funktion der Provinzprokuratoren ist also auf den bloße Botendienst limitiert. Wenngleich der Aufsatztitel eine Einbeziehung der materiellen Kultur vermuten lässt, geht Nelles nicht näher auf sie ein. Er löst das Dilemma seines materiellen Catchwords dadurch, dass er „scribal production“ letztlich auch als „material objects located in space and time“ sieht (424).
234 Fabian Fechner
wenig schließen kann. Zwar wird daran deutlich, welches Wissen zirkulierte, doch kann der Befund durchaus ernüchternd sein, dass die Produktion dieser Texte auf gegenläu gen Vorbedingungen fußen kann.
I. Unzulängliche Schriftlichkeit: „Lebendige Briefe“ als Forderung der außereuropäischen Provinzen Die umfangreiche Produktion an Literatur, wissenschaftlichen Traktaten, spirituellen Texten, Briefen, Reiseberichten und Verwaltungsschriftgut hat zur Wahrnehmung der Gesellschaft Jesu als der „Schriftorden“ schlechthin beigetragen. Aus heutiger Forschungsperspektive wird dies nochmals durch die geschlossene Inkorporation von Jesuitenbibliotheken und -archiven in staatliche Einrichtungen sowie die breite und kaum gestörte Überlieferung im Römischen Zentralarchiv des Ordens unterstrichen. 7 Diese Materialfülle überrascht mit ihrer Bandbreite und dem bloßen Umfang im Vergleich mit anderen Missionsorden. Sie darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass daneben im Entscheidungsund Informationswesen an zentraler Stelle mündliche Elemente vorgeschrieben waren. In alle mündlichen Verfahren spielt ein gewisses Misstrauen gegenüber rein schriftlich übermittelter Informationen hinein. Briefe und niedergeschriebene Berichte wurden von „lebendigen Briefen“ überbracht und kommentiert und dabei in ihrer Aussage verstärkt oder eingeschränkt. Diese mündlichen und deshalb üchtigen Elemente entziehen sich der systematischen Dokumentation und sind nur an wenigen schriftlichen Spuren erkennbar. Sie haben wohl deshalb in der Forschung bislang kaum Berücksichtigung gefunden. 8 Insbesondere an zwei Aspekten lässt sich das Gewicht des mündlichen Elements ablesen: an der schon frühen Erkenntnis in den Missionen, dass sich nicht alles als berichtenswert Empfundene in Schriftform übermitteln lässt, und an den Provinzprokuratoren, die den Ordensgeneral in Rom primär von der personellen, spirituellen und wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Provinz unterrichten sollten, ihm aber auch Bitten und Forderungen vorlegten.
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Edmond Lamalle: L'archivio di un grande Ordine religioso. L'Archivio Generale della Compagnia di Gesù. In: Archiva Ecclesiae 24/25 (1981/1982), 89–120; Markus Friedrich: Archive und Verwaltung im frühneuzeitlichen Europa. Das Beispiel der Gesellschaft Jesu. In: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), 369–403. Vgl. jedoch grundlegend Josef Wicki: Die ersten of ziellen mündlichen Berichterstattungen in Europa aus den überseeischen Missionsgebieten der Gesellschaft Jesu (ca. 1553– 1577). In: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 14 (1958), 152–166; ausführlicher Friedrich: Der lange Arm, 112–123.
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Schon früh artikulierten sich erste Zweifel an der reinen Schriftlichkeit. Franz Xavers Reise nach Indien begründete 1541 die erste außereuropäische Mission des Jesuitenordens. Gerade einmal fünf Jahre später schrieb Niccolò Lancilotto, der Rektor des Kollegs in Goa, an Ignatius von Loyola nach Rom, dass man nicht alle Gegebenheiten und alltäglichen Vorkommnisse vor Ort in schriftlicher Form vermitteln könne. Vielmehr solle ein Gesandter in Rom persönlich vorstellig werden, um über die fremden Gesetze und Sitten, das gemäßigte Klima und andere Eigenheiten der Landesnatur berichten zu können. 9 Der erste Versuch, einen „lebendigen Brief“ („carta viva“) nach Rom zu schicken, scheiterte 1551 aus unbekannten Gründen. 10 Noch im selben Jahr wiederholte Lancilotto seine dringliche Bitte an Ignatius, dass endlich ein Berichterstatter nach Europa reisen könne: „Es ist höchst notwendig, dass jemand aus diesen [das heißt indischen] Gegenden [nach Rom] gerufen werden möge, um wahrheitsgemäße Auskunft von vielen Dingen geben zu können. Durch Briefe kann dies nämlich nicht gelingen.“ 11 Es ist geradezu paradox, dass Lancilotto diese Forderung in den beiden Fällen neben eine Fülle von Informationen stellt. Im ersten Schreiben berichtet er ausführlich von den Anfängen der Knabenschule und dass die Patres mit den autochthonen Jugendlichen eine Komödie des Terenz, die Eklogen Vergils und die Metamorphosen Ovids besprochen hätten. Darüber hinaus nden unter anderem die Missionsreisen Franz Xavers Erwähnung, zudem das Klima, die Landwirtschaft und die Einwohner am Kap Komorin sowie eine ausführliche Begründung der Notwendigkeit, weitere Missionare aus Europa zu entsenden. 12 Im zweitgenannten Brief erläutert Lancilotto den Unterricht am Paulskolleg in Goa, die Genesung eines Paters in Santo Tomé, seine eigene Krankheit und die Eigenschaften der jüngst gesandten Patres 13 – und schließt diese Detailfülle gerade mit der Feststellung, dass die „wahrheitsgemäße Auskunft“ („vera informatione“) per Brief gerade nicht möglich sei, wohl aber durch Berichterstatter.
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Doc. Ind., Bd. 1, 141 f.: „Multa sunt quae quotidie eveniunt et non licet per literas mittere; non esset fortasse alienum, si aliquando revocaretur aliquis hinc Romam, ut plene intelligere posset Tua Reverentia et huius patrie leges, mores ac ritus et locorum temperies et alia hoc genus.“ Dabei war Pater Melchior Gonçalves schon als Berichterstatter vorgesehen. Vgl. Wicki: Berichterstattungen, 255; ein Brief von Lancilotto an Ignatius von Loyola vom 22. 12. 1550 in Doc. Ind., Bd. 2, 132: „Pois lá vai o P[adr]e Melchior Gonçalves, ho qual hé carta viva, pera emformar a V. R. das cousas de quá [. . . ].“ Doc. Ind., Bd. 2, 275: „E' molto necessario che alcuno di queste bande sia chiamato per dar vera informatione de molte cose: per lettere non si puossono.“ Doc. Ind., Bd. 1, 130–147. Doc. Ind., Bd. 2, 274–276.
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Wie ist die Formulierung „vera informatione“ genauer zu verstehen? Das Wort „vera“ scheint zunächst auf den Gegensatz von Wahrheit und Lüge, im Kontext des Berichtens auf die etablierte Unterscheidung von ereigneter „historia“ und erdichteter „fabula“ zu rekurrieren. 14 Doch hieße das, Lancilotto wollte eingestehen, dass seine eigenen schriftlichen Berichte und die seiner Mitbrüder zu einem Gutteil oder gar zur Gänze erlogen sein könnten. Außerdem würde dies nicht die Unterscheidung erklären, dass die „vera informatione“ durch das persönliche Vorsprechen eines Berichterstatters möglich sei, über Briefe aber nicht. Stattdessen deutet „vera informatione“ eher auf die Zweifel des Autors, seine Wahrnehmungen in einem Bericht angemessen verschriftlichen zu können. Darüber hinaus zielt das Konzept der „Information“ in der Frühen Neuzeit nicht nur auf ein Schriftstück, sondern auch auf den Vorgang des Einholens von Kenntnissen oder auf die Kenntnis selbst. 15 Die weiteren Versuche, einen Berichterstatter von Indien nach Europa zu entsenden, können die Bedeutung der Formulierung „vera informatione“ etwas erhellen. 1552 bestimmte Franz Xaver den portugiesischen Frater André Fernandes zu einem solchen Berichterstatter. Der Vizeprovinzial der Indischen Provinz, Gaspar Berze, legte dann genauer dar, dass Fernandes als „lebendiger Brief“ die Bedürfnisse („necessidades“) der Indischen Provinz unter Leitung der portugiesischen Ordensprovinz darlegen und danach zum Ordensgeneral selbst weiterfahren solle. Unter anderem sollte er die Entsendung mehrerer Professoren und Prediger erreichen und um genauere Regeln für das Kolleg in Goa bitten. 16 1553 konnte dann Fernandes die Anliegen dem portugiesischen Provinzial Diego Mirón und dem Provinzvisitator Jerónimo Nadal unterbreiten. Beide vertraten die Meinung, dass Fernandes mit der nächsten Indien otte Anfang 1554 nach 14 Christian Meier: Geschichte. II. Antike. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Stuttgart 1975, 595–610. Zur Begriffsgeschichte ausführlich Joachim Knape: „Historie“ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984. 15 Hierzu als eine der wenigen begriffsgeschichtlichen Forschungen zum Informationsbegriff in der Frühen Neuzeit Arndt Brendecke /Markus Friedrich /Susanne Friedrich: Information als Kategorie historischer Forschung. Heuristik, Etymologie und Abgrenzung vom Wissensbegriff. In: dies. (Hrsg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Münster 2008, 11–44, bes. 29 f.; die Erwägung eines jesuitenspezi schen Gebrauchs des Wortes „informatio“ im selben Band bei Markus Friedrich: ‚Delegierter Augenschein` als Strukturprinzip administrativer Informationsgewinnung. Der Kon ikt zwischen Claudio Acquaviva und den memorialistas um die Rolle von ‚Information` im Jesuitenorden, 109–136, hier 113–117. 16 Doc. Ind., Bd. 2, 441.
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Indien zurückkehren könne. 17 Er „führte ein besonderes Schreiben mit sich, um nach Rom zu reisen, falls es uns hier in Portugal notwendig erschiene. Uns schien es hier nicht notwendig zu sein, denn das, was von Euer Hochwürden verlangt wird, ist soweit bekannt“. 18 Nur durch die direkte Intervention des Ordensgenerals wurde die ursprünglich vorgesehene Weiterfahrt nach Rom verwirklicht. 19 Die Bitte aus der Provinz ist also in Rom gehört worden, ein Berichterstatter, der die Schreiben „begleitete“, konnte entsandt werden. Das Machtwort des Ordensgenerals verdeutlicht, dass dieses Zugeständnis dann aber auch eingefordert wurde. Dass dies in den übrigen Provinzen ebenso gehandhabt wurde, hängt damit zusammen, dass die Entsendung eines Berichterstatters mit der Institution der Provinzkongregationen verbunden wurde. Der Berichterstatter („Provinzprokurator“) war dann nicht nur für die „vera informatione“, sondern auch für Verhandlungen seiner Heimatprovinz mit der Ordenskurie und staatlichen Stellen der Kolonialmächte verantwortlich.
II. Information von unten: Gewählte Berichterstatter als „lebendige Briefe“ Die anfangs nur gelegentlich erfolgende Entsendung von Berichterstattern aus den Provinzen nach Rom wurde durch die allmähliche Einrichtung der Provinzversammlungen regelmäßiger gestaltet. Im Idealfall fanden die Provinzversammlungen in Europa alle drei Jahre, in den außereuropäischen Provinzen alle sechs Jahre statt. Bei einer Provinzversammlung kamen bis zu 50 der dem Professalter nach ältesten Patres einer Provinz zusammen, um die aktuellen Entwicklungen und Probleme der Niederlassungen in politischer, wirtschaftlicher, spiritueller und personeller Hinsicht zu beraten. Diese in der Praxis zentrale Funktion war in dieser Form von den Ordensregeln nicht abgedeckt. Hingegen trat der von den Konstitutionen vorgesehene Hauptzweck, bei Bedarf für eine Generalversammlung zu votieren, in der Praxis höchst selten ein. Die Provinzversammlungen wählten zudem zwei beziehungsweise drei Provinzprokuratoren, die von den Versammlungen ausgearbeitete Listen mit Vorschlägen zur weiteren Entwicklung der Provinz mit dem Ordensgeneral, den Assistenten und anderen hohen Entscheidungsträgern persönlich zu beratschlagen hatten. 20 17 18 19 20
Wicki: Berichterstattungen, 257 f. Ep. Mix., Bd. 4, 17. Ep. Ign., Bd. 6, 204 f. Im Jahre 1558 traf Fernandes wieder in Indien ein. Zur Funktionsweise der Provinzversammlungen Friedrich: Der lange Arm, 221–225; Fabian Fechner: Entscheidungsprozesse vor Ort. Die Provinzkongregationen der Jesuiten in Paraguay (1608–1762). Regensburg 2015, 69–142; einführend Antonio de Aldama /
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Den Aufenthalt in Europa, in der Regel in Rom und Madrid beziehungsweise Lissabon, hatten die Provinzprokuratoren dann auch dazu zu nutzen, eine Expedition aus möglichst vielen neuen Missionaren vorzubereiten. Im Falle einer anstehenden Generalswahl – aufgrund des in der Regel lebenslangen Generalats fand sie in unregelmäßigen, größeren Abständen statt – waren diese Berichterstatter zugleich Wahlberechtigte. 21 Nach den Konstitutionen war das Recht zur Generalswahl der wichtigste Auftrag an die Provinzprokuratoren. In der Verwaltungspraxis kam ihnen aber aufgrund ihrer Informations- und Vermittlungsfunktion eine Schlüsselrolle zu. Gerade durch die persönlichen Treffen mit dem Ordensgeneral ergab ihr Bild der eigenen Provinz maßgeblich den Eindruck, den sich die Ordenskurie von der Überseemission machte. Der große nanzielle und personelle Aufwand, aus jeder Provinz regelmäßig Berichterstatter zu entsenden, war nicht unumstritten. 22 Der Zweck der Entsendung erschöpfte sich gewiss nicht darin, dass der Gewählte die mitgeführten Berichte zu kommentieren und zu ergänzen hatte. Vielmehr wurden Entscheidungsprozesse vereinfacht und beschleunigt, da direkte Nachfragen möglich waren. Zudem sollte der Prokurator auch verhandeln, nicht nur informieren. Als wie wichtig dabei ein gutes Einvernehmen mit dem Generaloberen gesehen wurde, lässt sich an der zeitweise feststellbaren Tendenz, Landsmänner des Generals zu Provinzprokuratoren zu wählen, ablesen. 23 Die Mehrheitswahl des Prokurators ist sicherlich kein protodemokratisches Einsprengsel. Sie ist vielmehr der Vorstellung einer konsensualen Wahrheit geschuldet: Eine Meinung, die von möglichst vielen Individuen gestützt wurde, wurde auch im objektiven Sinne eher für wahr gehalten. 24
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Ignacio Echarte: Congregación, IV. Congregación de Provincia. In: Charles E. O'Neill/ Joaquín María Domínguez (Hrsg.): Diccionario histórico de la Compañía de Jesús. Biográ co-temático, Bd. 1. Rom, Madrid 2001, 912 f. Wurde keine Generalversammlung einberufen, fanden sich die in Rom anwesenden Prokuratoren in der alle drei Jahre einberufenen Prokuratorenversammlung zusammen. Ersichtlich etwa anhand der zeitgenössischen Debatten bei Juan de Mariana: Discurso de las enfermedades de la Compañia. Con una disertacion sobre el Autor y la legitimidad de la Obra y un apendice de varios Testimonios de Jesuitas Españoles que concuerdan con Mariana. Madrid 1768, 199 f. (§ 152). Fechner: Entscheidungsprozesse, 176. Zur Konsenstheorie von Wahrheit, die davon ausgeht, dass „Wahrheit“ als Übereinstimmung von Meinungen de niert werden kann, vgl. Sven K. Knebel: Wahrheit, objektive. In: Joachim Ritter u. a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12. Basel 2004, Sp. 154–163, hier Sp. 158. Zur damit verbundenen Redundanzerzeugung bei der internen Berichterstattung im Jesuitenorden Friedrich: Der lange Arm, 103.
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Das Recht, ein gültiges Bild der Provinz den oberen Ordenshierarchien zu vermitteln, wurde schon in der Anfangszeit des Ordens als Teil der Autonomie einer Provinz gesehen. Ein Berichterstatter war von der Provinz selbst zu wählen und nach Rom zu entsenden. Dementsprechend wurden Eingriffe von Akteuren außerhalb des Ordens nach Möglichkeit zurückgewiesen. Ein solcher Fall ist bei der Entsendung von Berichterstattern aus der Ordensprovinz Peru zu beobachten. 25 Über die Entsendung des ersten Paters berichtete Juan de Polanco 1573 dem spanischen Assistenten Antonio de Araoz irritiert: „Ich habe gehört, dass auf Ansuchen des Vizekönigs Francisco de Toledo Pater Bracamonte aus Peru zurückkommt und damit beauftragt ist, einige Angelegenheiten am [spanischen] Hof zu verhandeln, deren Inhalt ich nicht kenne, ebensowenig denjenigen anderer [Angelegenheiten], die er mit dem Papst zu verhandeln hat, soweit ich weiß. Nach meinem Dafürhalten solle der besagte Pater nach Rom kommen und sich mit dem noch zu wählenden General treffen, wie er es als Ordensmann zu tun hat, noch bevor er mit dem Papst oder den Mitgliedern des Indienrates zusammenkommt, wenn keine besondere Eile besteht [. . . ].“ 26 Polancos Aufgebrachtheit ist verständlich, hatte der Vizekönig doch die Provinzversammlung in Cuzco lediglich in Kenntnis gesetzt, doch keinesfalls sich mit ihr beraten. Der in Lima, der Stadt des Vizekönigs, residierende Provinzial Ruiz de Portillo war nicht einmal benachrichtigt worden. Nur auf Polancos ausdrücklichen Wunsch hin traf Bracamonte dann, anders als ursprünglich von Toledo geplant, den gerade erst gewählten Ordensgeneral Merkurian. 27 An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Wahl des Berichterstatters ein Recht war, das von den damit ausgestatteten Stellen sehr ernst genommen wurde – und nicht einmal die höchste weltliche Autorität in einem Gebiet, in diesem Fall der Vizekönig in Vertretung des Königs von Spanien, sollte es an sich ziehen können. Abgesehen davon verwahrten sich die Überseeprovinzen jedoch auch gegen eine in den Ordensgesetzen vorgesehene Vertretung durch europäische Provinzen. Im Jahre 1573 war auf höchster legislativer Ebene in Rom, auf der dritten Generalkongregation, ein Dekret erlassen worden, das die Repräsentation der noch jungen Überseeprovinzen auf den Generalversammlungen garantieren sollte. Demnach sollte die Andalusische Provinz einen Prokurator für Neuspa-
25 Wicki: Berichterstattungen, 264–266. 26 Mon. Per., Bd. 1, 518 f. Polanco, zunächst Sekretär des Generals, war nach dem Tode des Ordensgenerals Laínez Generalvikars des Ordens. 27 Mon. Per., Bd. 1, 611 f.
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nien und Peru in die Generalkongregation entsenden können, wenn anderweitig die amerikanischen Provinzen nicht vertreten sein könnten. 28 Auf den ersten Blick scheint dieser Beschluss eine Stärkung der Überseeprovinzen in den legislativen und konsultativen Gremien des Jesuitenordens zu sein. Doch wurde er von den begünstigt geglaubten Provinzen mit einiger Verstimmung zur Kenntnis genommen. Schon 1577 stellte sich in Mexiko die Frage, was es mit dem Privileg der Provinzkongregation Andalusiens eigentlich auf sich habe, „in bestimmten Fällen einen Prokurator im Namen der hiesigen überseeischen Provinzen zur Entsendung nach Rom zu bestimmen.“ 29 Besänftigend erläuterte der General schon hier, dass diese Bestimmung nur dann greife, wenn „aus jenen überseeischen Gebieten kein für die Generalkongregation bestimmter Prokurator kommt“. 30 Die Provinz Peru wandte sich auf der vierten Provinzkongregation im Jahre 1588 mit Nachdruck gegen diese anfängliche Lösung. Die Provinz könne in jedem Fall ihre eigenen Prokuratoren entsenden. Zudem lägen in Spanien „keinerlei Nachrichten“ über die amerikanischen Provinzen vor, die nach Rom übermittelt werden könnten. 31 General Merkurian versuchte, die Patres in Peru dadurch zu beruhigen, dass er ihnen die ursprüngliche Intention des Jahres 1573 nahebrachte. Er erläuterte, dass diese Bestimmung nur für den Fall gedacht sei, dass der in Peru gewählte Prokurator nicht rechtzeitig in Rom sein könne, aber gewährleistet werden solle, dass ein anderer Prokurator anreise, um die Interessen Perus auf der Generalversammlung zu vertreten. 32
28 48. Dekret der 3. Generalkongregation, ediert in John W. Padberg /Martin D. O'Keefe / John L. McCarthy (Hrsg.): For Matters of Greater Moment. The First Thirty Jesuit General Congregations. A Brief History and a Translation of the Decrees. St. Louis 1994, 149. Ein äquivalenter Fall wurde durch die Vertretung Indiens und Brasiliens durch Portugal formuliert. Bei dieser Repräsentationspraxis wurden also die Assistenzgrenzen streng respektiert. 29 Mon. Mex., Bd. 1, 328. Vgl. das 75. Dekret der 2. Generalkongregation, ediert in Padberg/ O'Keefe/McCarthy: For Matters, 128. 30 Mon. Mex., Bd. 1, 333. 31 Mon. Per., Bd. 4, 393: „Modo nanque, cum Provincia [peruana] haec procuratores suo tempore Romam mittat, non opus est ut Baethica Provincia, nomine istius, procuratorem eligat aut mittat. Imo inconveniens aliquod videtur ut huius Provinciae negotia tractaturus Romam adeat qui eorum neque ullam prorsus notitiam habeat.“. 32 Mon. Per., Bd. 4, 756. Ein Parallelfall ist auch bei der indischen Provinz festzustellen. Bei den ersten beiden Generalkongregationen, 1558 und 1565, war sie noch vom in Lissabon tätigen Prokurator für Brasilien und Indien vertreten. Vgl. das 130. Dekret der 1. Generalkongregation, ediert in Padberg /O'Keefe /McCarthy: For Matters, 100; Doc. Ind., Bd. 4, 80 (doc. 14, Praefatio); Mon. Lain., Bd. 3, 492, Anm. 21; Doc. Ind., Bd. 6, 519, Anm. 1.
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III. Ankläger oder Mitwisser? Die Rolle des Prokurators bei Missständen im Provinzregiment In der bisherigen administrativen Forschung wird aus dem normativen Korpus gemeinhin das Top-down-Prinzip bei der Regierung des Ordens hergeleitet. 33 Demnach bestimmt der Ordensgeneral seine Assistenten und die Provinziale, die wiederum die Politik der einzelnen Provinzen ausgestalten. Durch die Provinzkongregationen und die Prokuratoren, die von diesen Versammlungen gewählt werden, wird auf der Ebene der administrativen Praktiken diese Sicht einer exekutiven Einbahnstraße abgemildert. Im Informationsnetz des Jesuitenordens war der Provinzprokurator in erster Linie die Gegenstimme zum Provinzial bei der Berichterstattung in Rom. Dies wird beispielsweise auf der ersten Kongregation der Peruanischen Provinz 1576 in Lima deutlich. Die Sitzungen waren von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Machtfülle des Provinzials bestimmt. Hinsichtlich der Übermittlung der Informationen nach Europa befürchtete eine Mehrheit der versammelten Patres, dass der Provinzial sehr leicht seinen Favoriten bei der Wahl des Berichterstatters durchsetzen könnte. Dies war der geringen Anzahl von versammlungsberechtigten Patres geschuldet. An der aktuellen Versammlung nahmen beispielsweise außer dem Provinzial nur noch sieben weitere Patres teil. Deshalb verlangten mehr als die Hälfte der Versammelten, dass das Wahlprozedere eines Berichterstatters aus Übersee der vergleichbaren Wahl in Europa
33 Besonders ausgeprägt etwa bei Rene Millar Carvacho: El gobierno de los jesuitas en la Provincia Peruana 1630–1650. In: Historia [Santiago de Chile] 32 (1999), 141–176 und Martínez-Serna: Procurators. In der einführenden Literatur betont Ferdinand Strobel: Die Gesellschaft Jesu in der Schweiz. In: Albert Bruckner (Hrsg.): Helvetia Sacra, Bd. 7: Der Regularklerus. Bern 1976, 5–609, hier 29, die „monarchische Leitung“. Michael Müller: Die Jesuiten (SJ). In: Friedhelm Jürgensmeier /Regina Elisabeth Schwerdtfeger (Hrsg.): Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500–1700, Bd. 2. Münster 2006, 193–214, hier 193, hebt die „[s]trikt zentralistische Ordensorganisation“, hervor, Peter Claus Hartmann: Die Jesuiten, München 2001, 7, den „zentrale[n], militärisch straffe[n] Aufbau“. Zweifel am Top-down-Prinzip innerhalb eines monolithischen Verwaltungsapparats äußerten Antonio de Aldama: La Composición de las constituciones de la Compañía de Jesús. In: Archivum Historicum Societatis Iesu 42 (1973), 201–245; Francisco Javier Egaña: Orígenes de la Congregación General en la Compañía de Jesús. Estudio histórico-jurídico de la octava parte de las Constituciones. Rom 1972; Thomas McCoog: The English Province of the Society of Jesus 1623–1699. An Institutional History. Diss. Warwick 1983; Jan Marco Sawilla: Klerikale Invasionen oder: Wer waren die Jesuiten? In: Joel B. Lande /Rudolf Schlögl /Robert Suter (Hrsg.): Dynamische Figuren. Gestalten der Zeit im Barock. Freiburg i. Br. 2013, 143–183; sowie vor allem Friedrich: Der lange Arm.
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angeglichen werden solle. Der Vertreter solle also nicht lediglich mit einer einfachen Mehrheit („ad plura suffragia“), sondern wie in Europa mit absoluter Mehrheit („ad plura medietate suffragia“) gewählt werden. 34 General Merkurian sagte den peruanischen Patres dann auch zu, dass sie auf ein Privileg der Versammlungen in Übersee verzichten und ihren Vertreter mit absoluter Mehrheit wählen könnten. 35 Der Provinzial konnte tatsächlich recht leicht die Prokuratorenwahl beeinussen, um das Bild der Provinz in Rom zu schönen. Dies zeigt beispielsweise ein Brief zur 1600 in Lima abgehaltenen sechsten Provinzkongregation. Wären ausschließlich die of ziellen Akten erhalten, so wäre nur bekannt, dass Diego de Torres Bollo sofort im ersten Wahlgang mit großer Mehrheit, nämlich mit 25 von 32 Stimmen, zum Provinzprokurator gewählt wurde. 36 Einen Monat nach Ende der Provinzkongregation wandte sich der in Quito tätige Pater Juan de Frías Herrán vertraulich an General Acquaviva. Er ließ den Generaloberen wissen, dass die Provinzversammlung äußerlich zwar „friedlich und einmütig“ verlaufen sei, ein genauerer Blick aber diesen Eindruck zunichtemache. Insbesondere die Provinzältesten, darunter der vormalige Provinzial Juan Sebastián, hätten die Wahl Torres Bollos verhindern wollen. Frías Herrán geht nicht genauer auf die Gerüchte ein, die die Provinzältesten zu diesem Zweck vor der Wahl gestreut hätten, kann sich aber als einzigen Grund dafür nur vorstellen, dass der Kandidat als „zu sanft und nachgiebig“ eingeschätzt wurde. Die Provinzältesten hätten, als der namentlich nicht genannte eigene Kandidat keine Mehrheit fand, den versammelten Patres geheime Vorabsprachen unterstellt. 37 Dies ist kein Einzelfall. Bei der vierten Provinzversammlung Indiens 1594 etwa klagte Alberto Laerzio, Pater im Paulskolleg in Goa, dass der Termin der Provinzkongregation vom Provinzial Francisco Cabral vorverlegt worden sei, um zu gewährleisten, dass ein noch nicht angereister Pater, der aus Mittelamerika stammende Jerónimo Cota, zum Prokurator gewählt werden könne. Überdies sei ein weiterer Pater, der Kastilier Jerónimo Xavier, gleich zu Beginn der Versammlung vom Provinzial in die abgelegene Moghal-Mission gesandt worden. Da dies einen Tag vor der Prokura34 35 36 37
Mon. Per., Bd. 2, 58 f. Mon. Per., Bd. 2, 420 f. Mon. Per., Bd. 6, 186 f. Mon. Per., Bd. 6, 214 f.: „[. . . ] juzgaron que los de la Congregación se avían concertado en sacar al Padre Torres“. Der Verfasser deutet an, dass der General gewiss herleiten könne, auf welche alten Misshelligkeiten sich dieser Verdacht gründe, und meint zuversichtlich, dass trotz der Unstimmigkeiten Torres Bollo der einzige mehrheitsfähige Kandidat der Versammlung gewesen sei. Außerdem hielt er es für wahrscheinlicher, dass sich zwei Patres irren, also der vormalige Provinzial und ein Mitstreiter, als eine ganze Provinz.
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torenwahl bestimmt worden war, nährte dies den Verdacht der spanischen Patres, dass dies nur geschehen sei, um auch diesen Pater vom Prokuratorenamt fernzuhalten. Laerzio berichtete gerade ausführlich von diesen Misshelligkeiten und weiteren Missständen in der Provinz, um dem General eine Gegenmeinung zum gewählten Prokurator Manuel da Veiga, bezeichnenderweise einem Portugiesen, zu bieten. 38 Neben der Auffassung des Berichts als Gegenstimme zum Prokurator ist auch der gegenläu ge Fall vorzu nden, dass nämlich manche Berichte mit dem Hinweis darauf knapp gehalten wurden, dass sie ja von einem Prokurator überbracht würden, der unterrichtet sei und bei Bedarf Sachverhalte ausführlicher erläutern könne. 39 Die Tatsache, dass bei der Wahl des Provinzprokurators der Provinzial leicht überstimmt werden konnte, verringerte die Wahrscheinlichkeit, dass das von Rom ernannte Provinzoberhaupt das vermittelte Bild seiner Provinz bestimmte. Doch konnte auch das gegenteilige Extrem eintreten, nämlich die kollektive Deckung von Missständen in einer Provinz. Beispielsweise waren der Ordenskurie mit der zweiten Provinzversammlung Mexikos Unregelmäßigkeiten im Provinzregiment offenkundig geworden. 40 General Acquaviva ernannte deshalb einen Visitator für Mexiko und schilderte ihm in der Geheiminstruktion von April 1590 die Verwerfungen in der Provinz. Demnach herrschten „bei vielen Verantwortung tragenden Ordensmitgliedern Verbitterung, Unstimmigkeiten und wenig Vertrauen zwischen Oberen und Nachgeordneten, und so wachsen Zerwürfnisse, Verleumdungen und Ehrsucht und vieles mehr, was derselben Wurzel entspringt.“ 41 Zeitgleich richtete Pedro de Morales, Minister des Kollegs in Mexiko, einen „Soli“-Brief an den General persönlich. Er sah die deutliche Gefahr, dass ein von der Provinzkongregation instruierter Kompromisskandidat in Rom ein beschönigendes Bild der mexikanischen Verhältnisse zeichnen könnte. Deshalb solle der General von „einem verständigen und nicht von der Provinzkongregation
38 Doc. Ind. 16, 833–839. 39 Besonders deutlich etwa, bezogen auf dieselbe Provinzkongregation Indiens, in Doc. Ind, Bd. 16, 872–878; der Consultor des Paulskollegs in Goa, Francisco Vieira, hält seinen Bericht vom 24. 11. 1594 knapp, da ohnehin ein Prokurator nach Rom reise. Zum vorsorglichen Ausschluss von Patres vor der Prokuratorenwahl zudem Josef Wicki: Die Provinzkongregationen der Ordensprovinz Goa 1575–1756. Ein geschichtlicher Überblick. In: Archivum Historicum Societatis Iesu 58 (1989), 209–276, hier 225. 40 Mon. Mex., Bd. 3, 424–426. 41 Mon. Mex., Bd. 3, 465.
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gewählten Mann“ 42 über die mexikanischen Verhältnisse in Kenntnis gesetzt werden. Mit dieser Ausgangslage ist der eigentliche Grund, weshalb die Provinzversammlung den Prokurator wählen sollte, ins Gegenteil verkehrt. War zunächst diese Wahl als Garantie gesehen worden, dass so leicht gegen die Stimme des Provinzials – und gegen etwaige Manipulationsversuche von dessen Seite – ein möglichst unabhängiges und repräsentatives Bild der Verhältnisse zu vermitteln war, bestand nun die Gefahr des kollektiven Stillhaltens und des Übertünchens der Verwerfungen gegenüber Rom. Dieses mögliche Bündnis zwischen den Patres einer Provinz und dem von ihnen aus ihrer Mitte gewählten Prokurator verdeutlicht, welches besondere Vertrauensverhältnis bestehen konnte. Doch waren sie nicht nur auf den Prokurator angewiesen, sondern ihm geradezu ausgeliefert, war er doch letztlich der entscheidende Repräsentant der Provinz in Rom. Ein latentes Misstrauen konnte durchaus angebracht sein. Ein Extremfall trat beispielsweise 1698 für die Provinz Malabar auf. Der als Prokurator entsandte Pater João da Costa handelte nämlich gegen das ausdrückliche Votum der Provinzkongregation, die ihn gewählt hatte. Zu allem Über uss handelte es sich um eine existenzielle Frage, da der Prokurator dem Ordensgeneral González vor Augen hielt, dass seine Heimatprovinz über zu wenige Patres verfüge und ohnehin kaum Einkünfte habe. Da Costa drängte deshalb darauf, Malabar wieder mit Goa zu vereinen und so den Zustand vor der Provinzteilung von 1605 wieder herzustellen. 43 Die Angst vor Alleingängen des Prokurators lässt sich an zahlreichen Diskussionen der Provinzversammlungen ablesen. Stein des Anstoßes ist dabei stets die Verbindlichkeit und der Stellenwert der vom Provinzprokurator nach Rom mitgeführten Unterlagen. Zur dritten Provinzversammlung Mexikos 1592 fragte etwa der anwesende Pater Esteban Páez, Begleiter des Visitators Avellaneda, ob der Prokurator im Namen der gesamten Provinzkongregation dem General ein Schreiben vorlegen könne, obwohl es nur dreiste Forderungen von drei oder vier Koadjutoren enthalte. 44 In der Folgeversammlung 1595 wurde dann im Plenum verhandelt, welche rechtliche Verbindlichkeit die Antworten des Ordensgenerals auf Denkschriften hätten, die der Prokurator eigenmächtig vorgelegt habe.
42 Mon. Mex., Bd. 3, 397: „La necessidad que esta provincia tiene, y particularmente este collegio de México, es, que V. P. sea informado de las cosas, a boca, por persona intelligente, y no elegida por congregación [provincial]. Y, hasta que esto se haga, tengo por difícil aver consuelo, ni espiritual aprovechamiento, ni dexar de suceder muchas desgracias.“ 43 D[omenico] Ferroli: The Jesuits in Malabar, Bd. 2. Bangalore 1951, 263–265. 44 Mon. Mex., Bd. 4, 273.
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General Acquaviva meinte, dass sie nicht den Rang eines Befehls hätten, sondern lediglich „eine dem Prokurator gegebene Notiz oder Vorschrift“ darstellen sollten. 45 Hinter diesen Debatten steht die Erfahrung, dass der Prokurator stets ganze Konvolute mit sich führte, die unterschiedlichster Herkunft waren: Eingaben einzelner Missionare in Form von Denkschriften oder vertraulichen Soli-Briefen, volkssprachlich verfasste Anträge einer Minderheit in der Provinzversammlung („Memoriales particulares“) und schließlich die von einer Mehrheit unterstützten und zur Vorlage beim General gedachten „Postulata“, die den höchsten Stellenwert hatten. Der Prokurator hatte sogar die Möglichkeit, noch in Rom selbst auf etwaige Absagen des Generals mit ad hoc geschriebenen Anträgen spontan zu handeln. 46 Im besten Fall unterstreicht dies, wie exibel die Entscheidungs ndung im Orden bei Bedarf sein konnte. Im Einzelfall mag dies jedoch auch das gegen Prokuratoren gehegte Misstrauen geschürt haben.
IV. Mann welcher Eigenschaften? Der Prokurator als Repräsentant einer diversen Realität Beim idealen Pro l eines Provinzprokurators sind selbstredend die üblichen gewünschten Eigenschaften aufgeführt, die dem Tugendkanon entspringen und ein gewisses Bildungsniveau, Sachkenntnis und Ausdauer umfassen. Die Anforderungen decken sich mit dem Idealbild anderer höherer Verwaltungsstellen im Orden. 47 Wie wurde dieser allgemeinere Diskurs jedoch im Einzelfall konkretisiert? Über welche Sachkenntnisse musste ein Provinzprokurator verfügen? Greifbar werden die Anforderungen im Fall des Paters Baltasar Piñas nach der peruanischen Provinzversammlung 1576 in Cuzco. Gerade als Piñas zum Prokurator gewählt worden war, betonten die versammelten Jesuiten, dass er vor seiner Abreise die Provinz Peru bereisen müsse. So solle er „die Gegebenheiten in der Provinz umfassender und besser verstehen“ und sie so „dem General deutlicher und ausführlicher darlegen“ können. 48 Es genügte den Patres also nicht, dass sie dem Prokurator Berichte mitgeben konnten. Er sollte auf einer Reise die Provinz selbst umfassend in Augenschein nehmen – der Provinzprokurator wurde
45 Mon. Mex., Bd. 5, 485. 46 Fechner: Entscheidungsprozesse, 155, 308. 47 Grundlegend zu den Anforderungen an Missionare Christoph Nebgen: Missionarsberufungen nach Übersee in drei deutschen Provinzen der Gesellschaft Jesu im 17. und 18. Jahrhundert. Regensburg 2007. 48 Mon. Per., Bd. 2, 91.
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so zu einer Art „Visitator von unten“. Der General unterstützte dieses Vorgehen, wollte es aber auch auf alle nachfolgenden Prokuratoren angewandt wissen. 49 Die folgende Provinzversammlung erreichte 1582 die grundsätzliche Zustimmung des Generals, dass neben den regelmäßig entsandten Prokuratoren auch außerordentlich Repräsentanten der Provinz zur Erledigung von Geschäften nach Spanien oder Rom geschickt werden könnten. 50 Damit war eine Alternative zur „Visitationsreise“ des Prokurators aufgezeigt: Eine umfassendere Kenntnis der Zustände vor Ort konnte nicht nur durch die Reise eines Einzelnen, sondern durch die Entsendung mehrerer Berichterstatter aus unterschiedlichen Erfahrungskontexten erreicht werden. Diese Erwägungen waren kein peruanisches Spezi kum. Schon 1577, auf der ersten Provinzkongregation Mexikos, schlug der Provinzial Pedro Sánchez vor, dass der Provinzprokurator einen Begleiter erhalten solle. Während dann der Begleiter in der Regel auch von der Provinzversammlung gewählt wurde, konnte Sánchez durchsetzen, dass er selbst diesen Begleiter bestimmen dürfe. Die Notwendigkeit eines Begleiters wurde mit der Größe und Heterogenität der Provinz begründet. Ein einziger Berichterstatter reichte also nicht, um die mexikanische Wirklichkeit angemessen vermitteln zu können. 51 In den meisten Überseeprovinzen wurde es im späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts Usus, dass mehr als ein Prokurator regelmäßig entsandt wurde. Erst diese veränderte administrative Praxis schaffte Proporzerwägungen Raum. In der Ordensprovinz Paraguay, 1608 von der Mutterprovinz Peru abgetrennt, waren die Debatten um einen Proporz besonders intensiv. Sie gingen insbesondere von den größten und wirtschaftlich bedeutsamsten Missionen der Provinz aus, denjenigen unter den Guaraní-Indios. 52 Bereits General Claudio Acquaviva hatte spätes49 Mon. Per., Bd. 2, 440: „[P]lacet quod procurator, perlustrata magna ex parte Provintia et maiore rerum notitia instructus, ad nos missus fuerit.“ Piñas war dann freilich schon in Rom. 50 Mon. Per., Bd. 3, 354. Die einzige Einschränkung bestand darin, dass die Meinung der Berater des Provinzials eingeholt werden solle. 51 Mon. Mex., Bd. 1, 295: „En 5° lugar, propuso el Padre Provincial si se le daría compañero a el procurador y todos dixeron que sí, cometiéndolo a su reverencia que lo nonbrasse.“ S.a. Wicki: Berichterstattungen, 263 f. 52 Zusammenfassend zu den Guaraníreduktionen Johannes Meier: Die Mission der Jesuiten bei den Guaraní-Völkern in Paraguay – eine unterdrückte Alternative im Kolonialsystem. In: ders. (Hrsg.): Wem gehört Lateinamerika? Die Antwort der Opfer. München, Zürich 1990, 59–79; Stefan Rinke: A State Within a State? The „Jesuit State in Paraguay“ and Eurocentric Constructions of Space. In: Judith Becker (Hrsg.): European Missions in Contact Zones. Transformation through Interaction in a (Post-)Colonial World. Göttingen 2015, 143–153; zur europäischen Rezeption Renate Dürr: Paraguay als Argument. Die europäi-
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tens 1615 im Falle Paraguays eine Mindestrepräsentation der Guaraní-Missionare festgelegt. Falls der Provinzprokurator selbst kein solcher Missionar sei, müsse er einen zusätzlichen Begleiter erhalten, der unter den Guaranís langjährige Missionserfahrungen gesammelt habe. Nur so sei eine umfassende Berichterstattung von der gesamten Provinz gewährleistet. 53 Vom Nachfolger Acquavivas, General Vitelleschi, konnte 1637 eine Bestätigung dieser Regel erreicht werden, doch nur in abgeschwächter Form. Vitelleschi hielt es für ausreichend, dass der Prokurator „breit Auskunft von der Provinz, ihren Ämtern und Indiomissionen“ geben könne. Es musste sich also um keinen erfahreneren Missionar handeln, was auch die Notwendigkeit eines gegebenenfalls eigens zu bestimmenden Begleiters abmilderte. 54 Genau hier hakte der Provinzprokurator Francisco Díaz Taño, selbst ein erfahrener Missionar, nach, was belegt, wie wichtig den Guaraní-Missionaren eine abgesicherte Repräsentation bei der Interessenvertretung in Rom war. Zunächst erkundigte sich Díaz Taño danach, ob der Provinzial oder der Prokurator selbst den Begleiter wählen könne. Falls der Provinzial zuständig sei, fragte Díaz Taño sicherheitshalber gleich weiter, was geschehe, wenn der Provinzial sich weigere, einen Begleiter zu bestimmen – allein von dieser nachgeschobenen Frage lässt sich herleiten, dass er Konfrontationen zwischen der Provinz-
sche Debatte über Freiheit und Gehorsam im 18. Jahrhundert. In: Dagmar Bussiek/Simona Göbel (Hrsg.): Kultur, Politik und Öffentlichkeit. Festschrift für Jens Flemming. Kassel 2009, 68–83; exemplarisch hinsichtlich der in Europa verbreiteten Berichte eines Paraguaymissionars Esther Schmid Heer: America die verkehrte Welt. Prozesse der Verräumlichung in den Paraguay-Berichten des Tiroler Jesuiten Anton Sepp (1655–1733). Nordhausen 2013; eine Einbettung in die Nationalgeschichte Paraguays in Ignacio Telesca (Hrsg.): Historia del Paraguay. 3. Au . Asunción 2011; aus ethnologischer und regionalgeschichtlicher Sicht Guillermo Wilde: Religión y poder en las misiones de guaraníes. Buenos Aires 2009. Weiterführend zum „Sonderweg“ Fabian Fechner: Un discurso complementario sobre la posición jurídica de la población indígena colonial. Las congregaciones provinciales en la provincia jesuítica del Paraguay (1608–1762). In: Romy Köhler/Anne Ebert (Hrsg.): Las agencias de lo indígena en la larga era de la globalización. Microperspectivas de su producción y representación desde la época colonial temprana hasta el presente. Berlin 2015, 99–118. 53 Es handelt sich hierbei um die „instruccion para que se atienda con mas calor el ministerio de los indios“ Acquavivas, der Wortlaut in ARSI Congr. 67, f.233 v. 54 ARSI Congr. 67, f.233 v, die Generalsantwort in ARSI Congr. 67, f.235v: „Muy prudente es el orden propuesto, y en la asignaçion de los of çios procuraremos atender a su execuçion, pues auiendo personas a prop.to de los obreros de indios presentes, o pasados, es justo echar mano de ellos. Conveniente es en la elecçion de Procurador atender a que el elegido sea persona, que pueda dar plena informaçion del estado de la Prou.a de sus ministerios, y missiones de indios.“
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leitung und den Missionaren befürchtete. 55 Der General stellte klar, dass allein dem Provinzial die Bestimmung des Begleiters zustehe, er jedoch darauf zu achten habe, dass der Prokurator mit ihm gut auskomme. 56 Ein Anspruch auf einen Begleiter bestehe jedoch nicht. Wenn der Provinzial keinen ernennen wolle, sei dies von den Missionaren als Übung in Gehorsam und Geduld hinzunehmen. 57 Der Trend des sinkenden garantierten Ein usses von Guaraní-Missionaren bei der politischen Vertretung durch Prokuratoren setzte sich langfristig fort. Auf den Provinzversammlungen der Jahre 1717 und 1762 wurde er nochmals heftig diskutiert, doch wurden sämtliche Vorschläge der Missionare schon auf der Provinzkongregation selbst abgeblockt – sie wurden gar nicht mehr dem General zur Begutachtung vorgelegt. Auf der Kongregation von 1717 kam zunächst die Frage auf, ob nicht mindestens einer der Prokuratoren Missionar sein könne. Verglichen mit den Zeiten Acquavivas und Vitelleschis wäre die praktische Umsetzung dieses Vorschlags sehr viel einfacher gewesen, da ab 1677 stets zwei Prokuratoren nach Rom entsandt wurden. Es hätte also nicht einmal, wie unter Acquaviva festgelegt und von Vitelleschi bestätigt, nach einem genau festzulegenden Verfahren bei Bedarf ein zusätzlicher Begleiter gewählt werden müssen. Doch stimmte sogleich eine Mehrheit der Provinzkongregation gegen diesen Vorschlag, sodass er dem General nicht zur Entscheidung vorgelegt wurde. Die Überzahl der versammelten Patres war also nicht an einer in umfassender Form gewährleisteten Information der Ordenskurie durch Prokuratoren interessiert. 58 Genau 45 Jahre später, auf der letzten Provinzversammlung Paraguays im Jahre 1762, wurde ein ähnlich lautender Vorschlag vorgebracht, der zudem auf die erste Praxis eines dazugewählten Prokurators rekurriert. Ein Pater schlug vor, dass dann, wenn keiner der beiden zu entsendenden Prokuratoren ein Missionar sei, ein zusätzlicher „Procurator Missionarius“ gewählt werden müsse, der dann die Interessen der Guaraníreduktionen vertreten solle. Dieser Vorschlag wurde jedoch gleich auf zwei Stufen abgewählt: zunächst direkt vor der Provinzversammlung, als eigens ernannte Patres routinemäßig aus allen vorgeschlagenen Streitpunkten eine Auswahl trafen, und dann auf der Provinzkongregation selbst, als es Gelegenheit gab, gegebenenfalls zu Unrecht übergangene Themen erneut vorzubringen. Da bei der Abstimmung im Plenum der Antrag lediglich die Unterstützung des Vorschla55 ARSI Congr. 67, f.233 v. 56 ARSI Congr. 67, f.235 v. 57 ARSI Congr. 67, f.235v: „[S]i el Prouinçial no saliere a nombrar compañero al Procurador, se debe presumir tiene causas justi cadas para ello; y en tal caso al Procurador obedezca, y tenga paçiençia.“ 58 ARSI Congr. 88, f.339v: „An rogandus sit P. N. ut unum ex Procuratoribus in Vrbem, iubeat semper eligi ex Missionarijs. Responsum est a plerisque negative.“
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genden fand, waren wohl selbst viele Missionare nicht mehr an einer rechtlichen Garantie für die direkte Vertretung in Rom interessiert. 59 Die detaillierten Erwägungen, wie die Komplexität einer Provinz am besten durch mehrere Prokuratoren vermittelt werden könnte, gehen von einem möglichst gut vorbereiteten und umfassend unterrichteten Vermittler aus. So überrascht es nicht, wenn eine Provinz einen solchen Prokurator auch dauerhaft an sich binden wollte. Eine Grundfurcht bestand nämlich darin, dass der General den Prokurator mit einem höheren Amt betrauen könne und damit der Prokurator die Provinz verließe. So sind die zahlreichen Bitten in Provinzversammlungsakten, den Prokurator doch wieder in seine Heimatprovinz zurückzusenden, zu erklären. 60 Doch kann auch der gegenteilige Fall eintreten: Ein besonders missliebiger oder unfähiger Pater wurde zum Prokurator gewählt, um ihn so für ungefähr drei Jahre von der Provinz fernzuhalten und keinen fähigeren Pater entbehren zu müssen. Freilich konnten solche Motive für eine Wahl nicht offen kommuniziert werden, weshalb ein Schreiben des vormaligen Provinzprokurators Pedro Díaz an General Acquaviva ein Glücksfall ist. Darin legt Díaz dar, dass Pedro de Ortigosa nicht gewählt worden sei, um die Belange der Provinz in Europa zu vertreten, sondern um ihn vielmehr vom Rektorenposten im Kolleg in Mexiko-Stadt zu hieven: „Und so war es eine Wahl, die jedem zusagte [. . . ]: Den einen, weil sie wollten, dass er [Ortigosa] gehen solle, den andern, weil sie wünschten, dass er nicht mehr länger sein Amt ausüben solle.“ Er sei nämlich störrisch („de condición sacudida“) und wortkarg, verletze mit seinen wenigen Worten aber sehr. Er verstehe sich auf nichts anderes, als bei sämtlichen seiner Mitmenschen Unmut zu erzeugen. 61 Am Urteil des Mitbruders Juan de Tóvar lässt sich das Ideal des Prokurators und eine implizite Kritik an der Provinzversammlung ablesen. Ortigosa sei deshalb als Prokurator völlig ungeeignet, weil er keinerlei direkte Kenntnisse von der Indiomission habe. 62 Es wird vom Prokurator also verlangt, ein möglichst umfassendes Bild von der gesamten Provinz aus eigener Anschauung zu haben, von Kollegien in den kolonialen Zentren und von abgelegenen Missionsgebieten, um in Rom entsprechend informieren zu können. 59 ARSI Congr. 92, f.166r: „Propositum ergo est 1.o an esset postulanda facultas eligendi tertium supernumerarium Procuratorem Missionarium, saltem ad Curiam Matritensem, quando neuter electorum est, vel fuit Missionarius. Ab omnibus, uno qui proposuit dempto, reiectum fuit; sed relinquendum Congregatorum, et Superiorum solicitudini, ne in Curia desit patronus, qui Missionum causas expertus tractare possit.“ 60 Beispiele in Mon. Per., Bd. 3, 198, 202; Mon. Per., Bd. 4, 392 f.; Mon. Mex., Bd. 1, 414. 61 Mon. Mex., Bd. 2, Zitate 736 f. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass Díaz als Berater zeitweise Ortigosa direkt nachgestellt war, als dieser Rektor im Kolleg in Mexiko-Stadt war. 62 Mon. Mex., Bd. 3, 329.
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V. Wider den Sachzwang: Der Vergleich mit administrativen Praktiken bei Franziskanern und Merzedariern Die Analyse der Erweiterung und Ausdifferenzierung eines Nachrichtennetzwerkes läuft Gefahr, stillschweigend der Denk gur des Sachzwangs zu folgen. Die mediale Ausgestaltung könnte von den Vorgaben des Postwesens, der Ordensstruktur, der Gesetzgebung und dem Rhythmus der Flottenentsendung festgelegt erscheinen. Um diesem deterministischen Grundtenor zu entgehen, sollen abschließend Seitenblicke auf zwei andere Missionsorden geworfen werden. Dadurch wird deutlich, dass mehrere Institutionen mit derselben Herausforderung, der Verbindung der neu geschaffenen Überseeprovinzen mit der Ordensleitung in Europa, konfrontiert waren, sie jedoch teilweise zu anderen Lösungen gelangten. Prinzipiell wären als Vergleichsfälle alle anderen Orden der Frühen Neuzeit, die in Übersee missionierten, möglich, im Falle Süd- und Mittelamerikas also Franziskaner, Dominikaner, Merzedarier, Augustiner, Kapuziner, Karmeliten und Benediktiner. Es wurden an dieser Stelle die Franziskaner und die Merzedarier ausgewählt. Der Franziskanerorden ist hinsichtlich der Größe und Verbreitung am ehesten mit den Jesuiten vergleichbar; die Merzedarier sind der Einzige der kleineren, schon im 16. Jahrhundert in Übersee tätigen Missionsorden, zu dem aktuellere Forschungen zur außereuropäischen Verwaltungspraxis vorliegen. Überhaupt wurden bislang nur wenige institutionengeschichtliche, geschweige denn kommunikationsgeschichtliche Forschungen zu den Missionsorden getätigt. Das Gros der Forschung bilden noch immer biogra sche und theologiegeschichtliche Studien. Historische Ordensvergleiche sind für die Neuzeit lediglich in ersten Ansätzen festzustellen. 63
63 Zum einer vergleichenden Ordensgeschichte methodisch grundlegend Gert Melville: La recherche sur les ordres religieux en Allemagne. Chemins parcours et nouveaux horizons. In: Cahiers de civilizacion médiévale 49 (2006), 163–174; Franz J. Felten: Wozu treiben wir vergleichende Ordensgeschichte? In: Gert Melville/Anne Müller (Hrsg.): Mittelalterliche Orden und Klöster im Vergleich. Methodische Ansätze und Perspektiven. Berlin 2007, 1– 51; Kaspar Elm: Cosa signi ca e quale scopo si studia la storia degli ordini religiosi? In: Benedictina 49 (2002), 8–21. Seltene komparative Ansätze beim hispanoamerikanischen Ordenswesen in Pedro Borges Morán: En torno a los Comisarios Generales de Indias entre las Ordenes misioneras de América. In: Archivo Ibero-Americano N. F. 23 (1963), 145–196; 24 (1964), 147–182; 25 (1965), 3–61, 173–221; Pedro Borges Morán: Las órdenes religiosas. In: ders. (Hrsg.): Historia de la Iglesia en Hispanoamérica y Filipinas (siglos XV–XIX), Bd. 1: Aspectos generales. Madrid 1992, 209–244.
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Aufgrund der räumlichen Verteilung und der personellen Expansion des Franziskanerordens während des Spätmittelalters sollte jeder Gruppe von Missionaren ein „minister fratrum“ vorstehen. 64 Dies war ein erstes Anzeichen für die beginnende Zentralisierung und Hierarchisierung des Ordens. Auf den alle drei Jahre zusammengerufenen Generalkapiteln berieten sich die Provinzialminister aus Italien, den Kreuzfahrerstaaten und den Ordensniederlassungen jenseits der Alpen über die Ordensgesetzgebung und wählten einen Generalminister. Die Provinzen des Ordens waren teilweise in Kustodien untergliedert. Nicht nur die Generalkapitel, sondern auch die Provinzkapitel hatten Legislativ- und Exekutivgewalt. Nach Beginn der Amerikamission 1493 richtete der Orden der Fratres Minores sein Verwaltungssystem in der Neuen Welt an den Ordensinstitutionen in Europa aus. 65 1505 ernannte der Generalminister Pater Juan de Trasierra zum Kommissar „cum plenitudine potestatis in Insulis noviter repertis“. Er sollte für eine geordnete Überfahrt der Amerikamissionare sorgen. Bis 1531 folgten insgesamt vier Patres in diesem Amt nach. Sie residierten zeitweise in Sevilla. Über 40 Jahre hinweg wurde dieses Amt dann automatisch an den Guardian in Sevilla übergeben. 1571/1572 forderte der spanische König Philipp II. von den einzelnen Missionsorden, das Amt eines Generalkommissars in Madrid („Comisario de Indias“) einzurichten. 66 Die Amerikamissionen sollten somit unter unmittelbare staatliche Kontrolle gelangen. Doch nur der Franziskanerorden beugte sich sofort diesem staatskirchlichen Ansinnen. Der Jesuitenorden konnte sich ihm beispielsweise entziehen, indem er nach einiger Verzögerung 1574 das vorgeblich ähnliche Amt eines Prokurators für Westindien in Sevilla („procurador de Indias“) schuf. 67 Der Amtsinhaber wurde in der Regel vom andalusischen Provinzial in Absprache mit dem Jesuitengeneral bestimmt. Beim franziskanischen Pendant hingegen musste der Generalminister der Franziskaner dem Indienrat drei bis fünf geeignete Kandidaten vorschlagen. Der Generalkommissar nahm ex
64 Zur Verwaltungsgeschichte des Franziskanerordens vgl. immer noch Leonhard Lemmens: Geschichte der Franziskanermissionen. Münster 1929, 325–335; Francisco Morales Valerio (Hrsg.): Franciscan presence in the Americas. Essays on the activities of the Franciscan Friars in the Americas, 1492–1900. Potomac 1983; Elmar Wagner: Historia constitutionum generalium ordinis fratrum minorum. Rom 1954. 65 Hierzu und im Folgenden vgl. Antolín Abad Pérez: Los Franciscanos en América. Madrid 1992, 83–91. 66 Luis Arroyo: Comisarios Generales del Perú. Madrid 1950. 67 Félix Zubillaga: El Procurador de las Indias Occidentales de la Compañía de Jesús (1574). Etapas históricas de su erección. In: Archivum Historicum Societatis Iesu 22 (1953), 367– 417.
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of cio mit aktivem und passivem Stimmrecht an den Generalkapiteln der Franziskaner teil. Während die Jesuitenprovinziale nicht der Generalkongregation in Rom beiwohnten, entsandten die amerikanischen Franziskanerprovinzen regelmäßig die Provinziale selbst sowie einen zusätzlichen „Custodio“ in das Generalkapitel. 68 Ein weiterer Hauptunterschied ist eine administrative Zwischenebene, die es im Jesuitenorden nicht gab. Durch diese Zwischenebene wurden die amerikanischen Ordensprovinzen exibler verwaltet und die Kommunikation zwischen Rom, Madrid und Amerika verlor auch etwas an Dringlichkeit. 1532 wurde nämlich je ein „comisario general“ für Mexiko und Peru ernannt. Diese hatten sich den Forderungen und Fragen der zugeordneten Provinzen und Kustodien unmittelbar zu widmen. 69 Parallel dazu wurden jedoch, wie im Jesuitenorden auch, „procuradores de misión“ beziehungsweise „procuradores de provincia“ nach Spanien entsandt, die mit Unterstützung des Generalkommissars in Madrid den Indienrat über den Fortgang der Mission unterrichten und weitere Expeditionen beantragen und vorbereiten sollten. 70 Diese Berichtsfunktion deutet darauf hin, dass auch im Franziskanerorden die Unzulänglichkeit der ausschließlichen Kommunikation über Briefe diskutiert wurde. Die beiden in Amerika residierenden Generalkommissare durften Provinzkapitel einberufen und ihnen dann auch vorsitzen. Darüber hinaus konnten sie Visitationen ansetzen und einzelne Ordensmitglieder versetzen oder gar aus dem Orden ausschließen. Sowohl dem Generalkommissar in Madrid als auch dem Generalminister gegenüber waren sie berichtsp ichtig. Bei Vergehen konnten sie vom Generalkommissar in Madrid ermahnt und bestraft werden, wobei jedoch eine Appellation vor dem Generalminister möglich war. Der Ordenssatzung nach kam allein dem Generalminister das Recht zu, die Generalkommissare für Mexiko und Peru zu bestimmen. Angesichts des spanischen Staatskirchenwesens versuchte der Generalkommissar in Madrid wiederholt dieses Recht an sich zu ziehen. 71
68 Lino Gómez Canedo: Evangelización y conquista. Experiencia franciscana en Hispanoamérica. Mexiko-Stadt 1977, 23–62. Die Provinziale wurden zudem nicht von der Ordensleitung ernannt, sondern von den Provinzen gewählt. Sie sind somit eher mit den Provinzprokuratoren des Jesuitenordens als mit den Jesuitenprovinzialen vergleichbar. 69 Im frühen 18. Jahrhundert waren die hispanoamerikanischen Franziskanermissionen in 25 Kustodien und Provinzen gegliedert. Abad Pérez: Los Franciscanos, 295–297; Marion Habig: The Franciscan Provinces of South America. In: The Americas 2 (1945/46), 72–92, 189–210, 335–356. 70 Abad Pérez: Los Franciscanos, 85. 71 Arroyo: Comisarios Generales, 12–14.
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Im Falle der Merzedarier ist die Kompetenz einer Verwaltungsebene zwischen Rom und den einzelnen Provinzen mit ihren Kapiteln beziehungsweise Kongregationen noch stärker ausgeprägt. Es handelt sich dabei um die Generalvikare für Amerika („vicarios generales“). Dieses Amt wurde 1588 in den Konstitutionen des Ordens verankert. 72 Der Großmeister („maestro general“) bestimmte als Ordensoberhaupt im Generalkapitel zwei Generalvikare für Amerika, nämlich einen für Peru und einen weiteren für Neuspanien und Guatemala, die fortan von den Merzedariern der Provinzen Kastilien und Andalusien bestimmt werden sollten. Die Generalvikare hatten die amerikanischen Provinzen zu visitieren, Patres bei Verfehlungen zu bestrafen, die Wahl von Provinzialen zu bestätigen oder abzulehnen und Rechenschaft über erworbene Güter abzulegen. Anders als bei den Franziskanern konnte sich das Amt des Visitators jedoch nicht durchsetzen. Es häuften sich die Klagen aus den Provinzen, dass die Kandidaten oftmals ungeeignet seien und man sie regelmäßig auswechseln solle, zumal sie insbesondere im Falle Limas den Handlungsspielraum des Provinzials einschränkten. Auf diese Klagen folgte 1622 ein königlicher Erlass, wonach statt „vicarios“ nur noch „visitadores“ bestellt wurden, die nur aus gegebenem Anlass in einzelne Provinzen kamen und dann auch nur für kurze Zeit blieben. 73 Anhand dieser Vergleichsfälle wird deutlich, dass bei Franziskanern und Merzedariern eine über den Provinzen stehende Entscheidungsinstanz noch in den amerikanischen Vizekönigreichen anzutreffen war, was – gemeinsam mit der ohnehin legislativ angelegten Eigenständigkeit einer Provinz – zu einer weniger dichten Kommunikation mit der Ordenszentrale führte. Der Jesuitenorden unterscheidet sich von den hier gewählten Vergleichsfällen jedoch nicht grundlegend, sandten doch die Provinzen der Franziskaner regelmäßig „procuradores de misión“ beziehungsweise „procuradores de provincia“ und Provinziale nach Europa. Letztere sind mit den Provinzprokuratoren der Jesuiten gut zu vergleichen, da sie ebenfalls in den einzelnen Provinzen gewählt wurden. Erst durch
72 Hierzu und im Folgenden vgl. Severo Aparicio: La Orden de la Merced en el Perú. Estudios Históricos, Bd. 2. Cuzco 2001, 527–548 (Erstveröffentlichung: Los vicarios generales de la Merced en el Virreinato del Perú. In: Analecta Mercedaria 11 [1992], 99–123). Zuvor war ab 1525 ein Vizeprovinzial bzw. „vicario provincial“ für Amerika bestimmt worden, der im Namen des Provinzials von Kastilien neue Konvente gründete und die Missionarsentsendungen koordinierte. In den beiden Generalkapiteln von 1574 und 1587 wurde diskutiert, dass der Generalmagister die Machtfülle des Provinzials von Kastiliens als zu groß empfand, weshalb mit dem neuen Amt des Generalvikars Abhilfe geschaffen werden sollte. 73 Bruce Taylor: Structures of Reform. The Mercedarian Order in the Spanish Golden Age. Leiden 2000, 82–91, 365–374; Maret Keller: Expansion und Aktivitäten des MercedarierOrdens im Andenraum des 16. Jahrhunderts. Diss. Heidelberg 2015, 265, 280, 305, 326.
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weitere Forschungen zu den Missionsorden in der Frühen Neuzeit wird sich die dahinterstehende Frage beantworten lassen, ob überhaupt von einer Korrelation zwischen Kommunikationsintensität und interner Kontrolle auszugehen ist.
VI. Fazit Die inhaltliche und thematische Fülle der Berichte und Briefe aus den einzelnen Missionen und Provinzen nach Rom 74 ist kontinuierlich mit einem epistemologischen Skeptizismus unterlegt, der um die Frage kreist, wie überhaupt authentisches Lokalwissen aus den unterschiedlichsten Weltgegenden nach Rom gelangen kann. Er offenbart ein ausgeprägtes zeitgenössisches Problembewusstsein dafür, wie Institutionen beschaffen sein sollten und Ämter zu besetzen seien, um die Provinzen Rom gegenüber angemessen zu repräsentieren und die umfassende und sachlich korrekte Informiertheit der Ordenskurie zu gewährleisten. Dieses Problembewusstsein war nicht auf den Jesuitenorden beschränkt, sondern lässt sich auch bei den Franziskanern beobachten. Viele Momente der Irritation sind bei diesem Ringen um die authentische Information festzustellen. Die Autoren und Leser der Berichte sahen die Übermittlung von Schriftstücken zwischen Informationsakquise, Verschriftlichung und Eingang und Rezeption in der Ordenskurie nicht als bloßen „Postweg“ oder Maschinerie, in der ein Rädchen ins andere griff. Vielmehr wurde das Informationswesen kritisch hinterfragt und etappenweise weiterentwickelt. Zunächst wurden Neuerungen lokal erprobt und dann teilweise in die zentrale Normsetzung übernommen. Ein Ausgangspunkt des skeptizistischen Metadiskurses ist die Erkenntnis in den Überseeprovinzen, dass schriftliche Kommunikation durch „lebendige Briefe“, die kommentierenden Berichterstatter, ergänzt werden müsste. Die Berichterstatter sollten entweder schon über zahlreiche Kenntnisse über die Provinz aus eigener Anschauung verfügen oder vor der Entsendung nach Rom die eigene Provinz bereist haben, um über Informationen aus erster Hand zu verfügen. Die Aufgaben des Berichterstatters wurden in der Verwaltungspraxis mit dem Amt des Provinzprokurators zusammengelegt, also dem Amt des Wahlmannes bei der Generalswahl. Stand ein Provinzprokurator im Verdacht, gegebenenfalls zu einseitig von der Provinz zu berichten, konnten auch mehrere Prokuratoren entsandt werden, um eine Mindestdiversität und Ausgewogenheit bei der Berichterstattung zu erreichen. 74 Jüngst zum thematischen Spektrum der Missionsberichte: Marc André Bernier /Clorinda Donato /Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.): Jesuit Accounts of the Colonial Americas: Intercultural Transfers, Intellectual Disputes, and Textualities. Toronto 2014.
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Gewiss ist der Provinzprokurator als cultural broker zu verstehen, der bisweilen Jahrzehnte in außereuropäischen Kulturen verbrachte und in Berichten der Ordenskurie die erfahrene Fremdheit zu vermitteln suchte. 75 Vor allem aus seinen Angaben formte sich das Bild, das sich die Ordenskurie von der entsendenden Provinz machte, und seine Informationen bereiteten die politischen und strategischen Entscheidungen in Rom vor. Diese Macht des Prokurators konnte den Argwohn der Mitbrüder wecken. Besonders ausführliche Berichte von anderen Patres konnten implizit oder explizit eine Gegenmeinung zu der Berichterstattung des gewählten Vertreters sein; hingegen konnten besonders knappe schriftliche Berichte damit gerechtfertigt werden, dass der Prokurator ja ohnehin ausführlich berichten werde. Debatten um die Wahl des Provinzprokurators, sowohl generell auf das Amt als auch im Einzelfall auf die Person bezogen, unterstreichen den Stellenwert seiner Vermittlungsfunktion. Die Orte des Kulturkontakts und der interkulturellen Aushandlungsprozesse bekommen durch den skeptizistischen Metadiskurs ungeahnte Zweigstellen: die Provinzversammlungen, auf denen der Berichterstatter gewählt wurde, und das Arbeitszimmer des Generals, wo das Ordensoberhaupt die Berichte aus den Provinzen las und von den Prokuratoren erläutern ließ. Die Tatsache, dass überhaupt ein umfassendes und aufwendiges Kommunikationsnetz mit den gewählten und den stationären Prokuratoren aufgebaut wurde, ist ein deutlicher Ausdruck für das Bewusstsein in Missionsorden, dass geschriebene Informationen für die authentische und möglichst breitgefächerte Berichterstattung nicht genügten. Die Prokuratoren als zusätzliche „Briefe“ waren nicht nur „lebendig“, weil sie aus Fleisch und Blut waren, sondern auch, weil diese Form der Informationsübermittlung zugleich eine Modi zierung und Adaptation der Botschaft beinhaltete. In vielen Kontexten äußerten sich die Prokuratoren zu den wirtschaftlichen, religiösen und politischen Verhältnissen in ihrer Herkunftsprovinz und brachten die Anträge der Mitbrüder und des Provinzials vor: beim Ordensgeneral, seinen Assistenten, den Provinzialen und Rektoren in Provinzen, die weitere Missionare stellen konnten, und den Prokuratoren in Madrid, Lissabon und Sevilla, die die Expeditionen mit dem Indienrat aushandelten und in den Abfahrtshäfen vorbereiteten. Die Debatten, die den 75 Zum mexikanischen Prokurator Antonio Rubio etwa Antonella Romano: Prime ri essioni sull'attività intelettuale dei gesuiti ai tempi di Claudio Aquaviva. La circolazione delle idee e degli uomini tra Roma, Spagna e Nuovo Mondo. In: Paolo Broggio (Hrsg.): Strategie politiche e religiose nel mondo moderno. La Compagnia di Gesù ai tempi di Claudio Acquaviva (1581–1615). Rom 2004, 271–297; ferner Klaus Schatz: ‚. . . Dass diese Mission eine der blühendsten des Ostens werde . . . ` P. Alexander de Rhodes (1593–1660) und die frühe Jesuitenmission in Vietnam. Münster 2015.
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einzelnen Prokuratorenwahlen vorausgingen, und die Modi kationen, die deren Botschaften in den jeweiligen Verhandlungskontexten erfuhren, gehen weit über den möglichen Nutzwert vermittelter Kenntnisse hinaus. An ihnen lassen sich erkenntnistheoretische Erwägungen auf der Ebene alltäglicher administrativer Praktiken ablesen und abseits einer vorgeblich bloß transportierten Information erkennen, welche aktuellen Machtverhältnisse vor Ort in die Botschaft hineinwirkten.
Archivsiglen und Quellenreihen ARSI Congr. Archivum Romanum Societatis Iesu, Sektion „Congregationes“ Doc. Ind. Documenta Indica. 18 Bde. Rom 1948–1988 Ep. Ign. Sancti Ignatii de Loyola Societatis Iesu fundatoris epistolae et instructiones. 12 Bde. Madrid 1903–1911 Ep. Mix. Epistolae mixtae ex variis Europae locis ab anno 1537 ad 1556 scriptae. 5 Bde. Madrid 1898–1901 Mon. Lain. Lainii Monumenta, Epistolae et Acta. 8 Bde. Madrid 1912–1917 Mon. Mex. Monumenta Mexicana. 8 Bde. Rom 1956–1991 Mon. Per. Monumenta Peruana. 8 Bde. Rom 1956–1986
Peter Geiss
Internationale Politik in bewegten Bildern Britische Wochenschau lme der Zwischenkriegszeit als Quellen
I. Einleitung Die Forschung hat deutlich herausgearbeitet, dass klassische „Arkanpolitik“ im Bereich der Außenbeziehungen, schon lange vor dem Ersten Weltkrieg ihre Selbstverständlichkeit und gesellschaftliche Akzeptanz verloren hatte, auch wenn sie natürlich weiterhin praktiziert wurde. 1 Gut bekannt ist auch, dass sich spätestens seit der Endphase des Krieges die Tendenz zur öffentlichen Diskussion und demokratischen Mitgestaltung internationaler Politik im Geiste des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson verstärkte, zumindest im Sinne einer 1
Vgl. hier nur in exemplarischer Auswahl: Dominik Geppert: Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts in London, 64). München 2007, 4; Verena Steller: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht. Diplomatische Handlungsformen in den deutschfranzösischen Beziehungen 1870–1919. Paderborn, München, Wien, Zürich 2011, 495; dies.: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Die Pariser Friedensverhandlungen 1919 und die Krise der universalen Diplomatie. In: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), 350–372, zit. nach URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2011/id%3D4717 (zuletzt abgerufen 19. 2. 2015), hier 10, 352 und 357; Martin Mayer: Geheime Diplomatie und öffentliche Meinung. Die Parlamente in Frankreich, Deutschland und Großbritannien und die erste Marokkokrise 1904–1906. Düsseldorf 2002, 1. Friedrich Kießling konstatiert angesichts des öffentlichen Legitimationsverlustes von Geheimdiplomatie sogar gerade deren Bedeutungsgewinn für die Funktionsträger. Vgl. Friedrich Kiessling: Das Paradox der Geheimdiplomatie. Of zielle Außenpolitik und Öffentlichkeit vor 1914. In: Frank Bösch/ Peter Hoeres (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2013, 73–94, hier 73 und 86; zum informationspolitischen Aufwand, der aus dieser widersprüchlichen Lage für die Diplomatie resultierte, jetzt am Beispiel des Deutschen Reiches Martin Wroblewski: „Moralische Eroberungen“ als Instrumente der Diplomatie: Die Informations- und Pressepolitik des Auswärtigen Amts 1902–1914. Göttingen 2016 (Internationale Beziehungen 12). Für Verbesserungsvorschläge zum Vortragskonzept bzw. zur Aufsatzfassung des vorliegenden Beitrags danke ich Magdalena Kämmerling und den Herausgebern, für Hilfe bei der Literaturbeschaffung Pascal Lamy und Sandra Müller, für Unterstützung bei der Rechterecherche zu den aufgrund zu hoher Lizenzgebühren hier nicht zu publizierenden Standbildern Kerrin Peschke, für das Korrekturlesen
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weithin anerkannten normativen Forderung. 2 Noch mitten in den krisengeschüttelten 1930er Jahren vertrat Alfred Carr in seiner Antrittsvorlesung als WilsonProfessor für Internationale Politik die optimistische Auffassung, dass sich die öffentliche Meinung nun jeder Form der „Kriegstreiberei“ („war-mongering“) entschiedener widersetze als drei Jahrzehnte zuvor. 3 Aber wie sollte die Masse der „zum Publikum versammelten Privatleute“ (Jürgen Habermas) 4 an außenpolitischen Prozessen teilhaben? Wie sollte sich diese Masse eine Meinung über außenpolitisch relevante Vorgänge bilden, in die sie schon aufgrund der räumlichen Distanzen überhaupt keinen direkten Einblick nehmen konnte? Walter Lippmann hob schon 1922 in seinem vielzitierten Werk Public Opinion die ebenso einfache wie wesentliche Tatsache hervor, dass politische Meinungsbildung in den allermeisten Fällen nicht auf persönlichen Eindrücken und Informationen aus erster Hand basiert; Meinungen müssen seiner Auffassung nach vielmehr aus dem „zusammengestückelt werden, was andere berichtet haben und was wir uns vorstellen können.“ 5 Bei der Genese von handlungsleitenden „pictures in our heads“ 6 spielte in Lippmanns Wahrnehmung bereits das „moving picture“ des Kinos eine große Rolle, da es Politik für ein größeres Publikum überhaupt
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Victor Henri Jaeschke. Für Anregungen zur Analyse von Wochenschauen der Sudetenkrise gilt mein Dank Sandra Gries, Sarah Johnson und Hanna Lux (studentische Beiträge meiner Bonner Übung „Die Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschlands im europäischen Kontext“, Wintersemester 2013/14). Zur „Demokratisierung der Außenpolitik“ in der Tradition Wilsons: Helen McCarthy: Democratizing British Foreign Policy: Rethinking the Peace Ballot, 1934–1935. In: The Journal of British Studies 49 (2010), 358–387, hier insbes. 361 und 363; ebenso Edgar Wolfrum: Krieg und Frieden in der Neuzeit. Darmstadt 2003, 120; zur Gegenüberstellung von „alter“ und „neuer Diplomatie“: Steller: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht, 363–385, und dies.: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 350 f. E. H. Carr: Public Opinion As a Safeguard of Peace. In: International Affairs 15 (1936), 846–862, hier 860, zit. nach URL: http://www.jstor.org/stable/2602319 (zuletzt abgerufen 19. 2. 2015), zu dieser Vorlesung: vgl. McCarthy: Democratizing British Foreign Policy, 360. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt am Main 1990, 86. „They [our opinions, PG] have, therefore, to be pieced together out of what others have reported and what we can imagine.“ Walter Lippmann: Public Opinion. O. O. [BN Publishing] 2008 [EA 1922], 71. Lippmanns Leitvorstellungen knapp zusammenfassend und in der Medienwirkungsforschung positionierend: Michael Jäckel: Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung. Wiesbaden 42008, 169 f.; ähnlich Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 42009, 9. Vgl. Lippmann: Public Opinion, 11–34.
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erst interessant mache 7 und – mehr noch – durch ein „element of struggle“ Aufmerksamkeit binde. 8 Als Lippmann dies 1922 feststellte, hatte sich das Kino längst in einer damals bereits sehr facettenreichen Medienlandschaft etabliert. 9 Seine Erfolgsgeschichte reicht bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück; 10 Schätzungen zufolge besuchten 1938/39 wöchentlich mehr als 21 Millionen Briten das Filmtheater. 11 Der lmischen Darstellung von Wirklichkeit wird seit den Tagen Lippmanns eine besondere politische Wirkmächtigkeit und zum Teil auch Gefährlichkeit zugeschrieben, da bewegte Bilder in ganz eigener Weise Gefühle hervorzurufen, den Eindruck eines „starken emotionalen ‚Miterleben[s]`“ (Johannes Etmanski) zu erwecken und Weltvorstellungen zu generieren vermögen, die sich der Nachprüfbarkeit entziehen. 12 J. A. S. Grenville ging sogar so weit, durch Massenme7
Ebd., 136. Dass Lippmann mit „moving picture“ tatsächlich das Kinobild meint, geht aus den nachfolgenden Textpassagen eindeutig hervor. Vgl. ebd., 137–139. 8 Der Begriff „element of struggle“ erscheint bei Lippmann in einem Zitat, das er Frances Taylor Patterson zuschreibt. Ebd., 139. In einem Digitalisat dieses Werkes konnte die von Lippmann möglicherweise aus einer anderen Ausgabe zitierte Stelle nicht ermittelt werden. Vgl. Frances Taylor Patterson: Cinema Craftsmanship. A Book for Photoplaywrights. New York 21921, nach einem freundlichen Hinweis von Magdalena Kämmerling eingesehen unter URL: https://archive.org/details/cinemacraftsman02pattgoog (zuletzt abgerufen 28. 5. 2015). 9 Ute Daniel und Axel Schildt sprechen schon für Teile Europas um 1900 von einem „voll ausgebildete[n] Ensemble von Massenmedien“. Ute Daniel /Axel Schildt: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 2010, 9–32, hier 9. 10 Vgl. Luke McKernan: Introduction. Britsh Newsreels: Past and Present. In: Luke McKernan (Hrsg.): Yesterday's News: The British Cinema Newsreel Reader. London 2002, VIII– X, hier VIII; Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt am Main, New York 2011, 141–152. 11 Vgl. Nicholas Pronay: British Newsreels in the 1930s: Audience and Producers [1971 – Erscheinungsjahr der Erstpublikation hier und bei allen weiteren Beiträgen aus dem Band nach den Angaben des Herausgebers]. In: McKernan: Yesterday's News, 138–147, hier 140; so auch Eugen Pfister: Europa im Bild. Imaginationen Europas in Wochenschauen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Österreich 1948–1959. Göttingen 2014, 78. 12 Johannes Etmanski: Der Film als historische Quelle. Forschungsüberblick und Interpretationsansätze. In: Klaus Topitsch /Anke Brekerbohn: „Der Schuß aus dem Bild“. Für Frank Kämpfer zum 65. Geburtstag. Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa (URL: http://www.vifaost.de). Digitale Osteuropa-Bibliothek: Reihe Geschichte, Bd. 11, 2004, 67, zit. nach URL: http://epub.ub.uni-muenchen.de/558/6/etmanski- lm.pdf (zuletzt abgerufen 28. 5. 2015); vgl. ferner: Johannes Etmanski: Das Deutschlandbild in der polnischen Wochenschau und die deutsch-polnischen Beziehungen 1945–1956. Berlin 2007, 25; Pfister: Europa im Bild, 15 und 31; Nicholas Pronay: British Newsreels in the 1930s: Their Policies and Impact [1972]. In: McKernan: Yesterday's News, 148–160, hier 158; Robert Herring: The News-
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dien wie Zeitungen und Rundfunk, ganz besonders aber durch das Kino und die mit ihm verbundene Illusion der „Zeugenschaft“ die Spielregeln des Politischen in der Zwischenkriegszeit insgesamt neu de niert zu sehen; diese Medien hätten es den Regierenden von Diktaturen und Demokratien in so nie dagewesener Form erlaubt, „Bilder von sich selbst, von ihrer Politik und ihren Zielen, von der Gesellschaft und der Welt um sie herum zu schaffen und danach zu streben, die Massen zu führen und zu manipulieren.“ 13 Die Annahme einer besonderen Relevanz bewegter Bilder für die internationale Politik war noch der Hintergrund der Medienkritik, die sich im Jahr 2014 auf Teile der deutschen Fernsehberichterstattung über die Ukraine-Krise bezog. 14 Im Folgenden soll ausgehend von der Hypothese einer hohen außenpolitischen Wirksamkeit des Mediums Film der Frage nachgegangen werden, inwieweit britische Wochenschau lme als Quellen für das Verständnis der Rahmenbedingungen und Instrumentarien internationaler Politik in der Zwischenkriegszeit nutzbar zu machen sind. 15 Dabei geht es – um nochmals auf einen Terminus Lippmanns zurückzugreifen – in erster Linie um die Hervorbringung außenpolitisch bedeutsamer „maps of the world“ 16 im Rahmen eines nationalen Bezugssystems, nicht hingegen oder doch allenfalls sehr nachgeordnet um transnationale
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Reel [1937]. In: ebd., 108–115, hier 114; Leonard England [LE]: Mass-Observation File Report 16. Faking of Newsreels. LE 7.1. 40, Digitalisat des British Universities Film & Video Council (nachfolgend „BUFVC“), zit. nach URL: http://bufvc.ac.uk/wp-content/media/ 2009/06/mo_report_16.pdf (zuletzt abgerufen 5. 7.2016); ferner die kritischen Beobachtungen in der noch zu behandelnden Unterhausdebatte: Censorship and The Restriction of Liberty. A Parliamentary Debate [1938]. In: McKernan: Yesterday's News, 121–133 und 127. Übers. nach J. A. S. Grenville: A World History of the Twentieth Century 1900–1945. Sussex, New Jersey 1980, 279 f., zit. in: Horst Möller: Europa zwischen den Weltkriegen. München 1998, 133. Vgl. dazu exemplarisch: Stefan Niggemeier: Die 20-Uhr-Wirklichkeit. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 01. 02. 2015, 37. Zur Frage nach dem Quellenwert von Filmen neben den voranstehend zitierten Beiträgen Etmanskis (und darin bereits verarbeitet): Fritz Terveen: Der Film als historisches Dokument. Grenzen und Möglichkeiten. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), 57–66, zit. nach URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1955_1.pdf (zuletzt abgerufen 28. 5. 2015); Wilhelm Treue: Das Filmdokument als Geschichtsquelle. In: Historische Zeitschrift 186 (1958), 308–327. Lippmann: Public Opinion, 21; zit. und kommentiert in: Georg Eckert /Peter Geiss /Arne Karsten: Krisenzeitungen nach Sarajewo – Wechselwirkungen zwischen Presse und Politik. In: dies. (Hrsg.): Die Presse in der Julikrise 1914. Die internationale Berichterstattung und der Weg in den Ersten Weltkrieg. Münster 2014, 8–19, hier 10 und 16 (in dieser Einleitung ausführlichere Überlegungen zum Verhältnis von Presse und Außenpolitik im Jahr 1914 mit weiterer Literatur).
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Kommunikation. 17 Dass die Untersuchung der zuletzt genannten Dimension ebenfalls sinnvoll sein könnte, soll durch diese Schwerpunksetzung keineswegs angezweifelt werden, hat sie sich doch in mediengeschichtlichen Zusammenhängen bereits als ertragreiche Kategorie etabliert. 18 Ein auf den ersten Blick erstaunlicher Befund liegt darin, dass das hier zu betrachtende Medium Woche für Woche zentrale Entwicklungen und Persönlichkeiten der internationalen Politik präsentieren konnte, ohne von den Zeitgenossen als Quelle politischer Meinungsbildung wahrgenommen zu werden, so jedenfalls das Ergebnis einer Umfrage der Meinungsforschungsorganisation Mass Observation von 1938. 19 Diese Organisation befragte 1100 Briten nach den Grundlagen ihrer „opinion“. 20 Die Liste führten Zeitungen mit 37% an, gefolgt von Freunden mit 17% und dem Radio mit 13%, während das Kino im Allgemeinen und die Wochenschau im Besonderen überhaupt nicht genannt wurden. 21 Hierzu passt, dass zeitgenössische Expertenbeiträge zur Wochenschau diese klar dem Unterhaltungsbereich zuordneten, auch wenn sich Klagen über die daraus resultierende Verweigerung journalistischer Verantwortung aufseiten der Wochenschaumacher nden. 22 17 Dazu: Frank Bösch /Dominik Geppert: Journalists as Political Actors: Introduction. In: dies. (Hrsg.): Journalists as Political Actors. Transfers and Interactions between Britain and Germany since the late 19th Century (Beiträge zur England-Forschung, 59). Augsburg 2008, 7–15, hier 12. 18 Vgl. etwa die Arbeit von Stephanie Seul: Appeasement und Propaganda 1938–1940. Chamberlains Außenpolitik zwischen NS-Regierung und deutschem Volk. Diss. Europäisches Hochschulinstitut Florenz 2005, digital verfügbar auf dem Portal CADMUS/EUI Research Repository unter URL: http://hdl.handle.net/1814/5977 (zuletzt abgerufen 29.5. 2015)/DOI: 10.2870/94615; Kurzzusammenfassung zentraler Thesen in: Stephanie Seul: Journalists in the service of British foreign policy: The BBC German Service and Chaberlain's appeasement policy, 1938–1939. In: Bösch /Geppert: Journalists as Political Actors, 88–109. 19 Charles Madge /Tom Harrisson: Britain by Mass-Observation. Harmondsworth 1939, 30; zu Mass Observation: vgl. Laura DuMond Beers: Whose Opinion?: Changing Attitudes Towards Opinion Polling in British Politics, 1937–1964. In: Twentieth Century British History 17 (2006), 177–205, hier 178, 182 f., 186. 20 „On what do you base your opinion?“ Madge /Harrisson: Britain by Mass-Observation, 30. 21 Ebd., 30. Eine ähnliche Umfrage von 1939 bietet Tom Harrisson: Social Research and the Film [1940], zit. nach dem Digitalisat des BUFVC unter URL: http://bufvc.ac.uk/wp-content/media/2009/06/harrisson_social_research.pdf (zuletzt abgerufen 24. 2. 2015). 22 Vgl. William P. Montague: Public Opinion and the Newsreels. In: The Public Opinion Quarterly 2 (1938), Nr. 1, Special Supplement, 49–53, hier 51, zit. nach dem Digitalisat unter URL: http://www.jstor.org/stable/2744780 (zuletzt abgerufen 31. 1. 2015); Herring: The News-Reel, 110 (Kritik an der Verweigerung journalistischer Verantwortung und an fehlender Meinungsvielfalt). Zur politischen Zurückhaltung der Wochenschauen: vgl. Pronay:
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Dass Wochenschau lme entgegen dieser zeitgenössischen Wahrnehmung auch jenseits von Unterhaltung außenpolitisch relevant waren, wird sich empirisch kaum im Sinne eines „naturwissenschaftlichen Wirkungsbegriffs“ (Michael Jäckel) 23 belegen lassen; die Plausibilität dieser Annahme soll aber im Folgenden unterhalb der Schwelle des „harten“ empirischen Beweises anhand einer exemplarischen Auswahl von Wochenschau lmen aufgezeigt werden, die sich schlaglichtartig auf die Pariser Friedenskonferenz von 1919, die Unterzeichnung der Locarno-Verträge 1925, den Beginn des Abessinienkrieges 1935 und die Sudetenkrise des Jahres 1938 beziehen. Diese Filmbeispiele wurden in digitaler Form eingesehen. Sie sind – neben einer gewaltigen Fülle weiteren lmischen Quellenmaterials – auf frei zugänglichen Internetseiten verfügbar, welche die ehemaligen Wochenschaugesellschaften British Pathé 24, British Movietone beziehungsweise die heutigen Rechteinhaber (ITN Source für British Paramount) eingerichtet haben. 25 Neben den mit dem Filmmaterial verknüpften Datenbeständen der Gesellschaften und Rechteinhaber wurde die Datenbank des British Universities Film & Video Council herangezogen, die Zusatzinformationen zu den hier behan-
British Newsreels in the 1930s: Their Policies and Impact [1972], 151; zum Unterhaltungscharakter ferner Etmanski: Das Deutschlandbild in der polnischen Wochenschau, 24. Die Position der Wochenschau zwischen Unterhaltungs- und Nachrichtenformat diskutiert in einem über die Zwischenkriegszeit hinausreichenden Rahmen und teilweise im Rekurs auf die voranstehend zitierten Autoren Pfister: Europa im Bild, 72–76. 23 Jäckel: Medienwirkungen, 22 (dort auch knappe Skizzierung der innerhalb der Medienwirkungsforschung bis heute geführten Debatte über eher „hermeneutische“ oder in „naturwissenschaftlicher“ Tradition stehende Zugriffsweisen); zu wirkungsgeschichtlichen Problemen der Wochenschau sowie zur Unvermeidlichkeit und Legitimität der Spekulation (im Anschluss an Burke): vgl. Pfister: Europa im Bild, 43 f. 24 Zeitgenössisch kommt die Firmenbezeichnung mit und ohne französischen accent aigu vor. In diesem Beitrag wird aus Gründen der Einheitlichkeit der Akzent durchgehend gesetzt, sofern nicht im historischen Filmmaterial selbst („Pathe Gazette“) die andere Variante erscheint. 25 Youtube-Kanal von British Pathé, verfügbar unter URL: https://www.youtube.com/user/ britishpathe (zuletzt abgerufen 15. 7.2015); Online-Filmdatenbank von British Pathé (Filmdigitalisate und lmbezogene Angaben), verfügbar unter URL: http://www.britishpathe. com (zuletzt abgerufen 15. 7. 2015); Online-Filmdatenbank von British Movietone (Filmdigitalisate und lmbezogene Angaben), nach Anmeldung per E-Mail verfügbar unter URL: http://www.movietone.com/n_Index.cfm (zuletzt abgerufen 15. 7.2015); Online-Filmdatenbank von ITN Source (Filmdigitalisate und lmbezogene Angaben), verfügbar unter URL: http://www.itnsource.com/en/ (zuletzt abgerufen 15. 7. 2015); zu diesen Angeboten und zur mittlerweile für britische Wochenschauen sehr komfortablen Digitalisierungssituation: vgl. Pfister: Europa im Bild, 24, Anm. 38.
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delten Wochenschau lmen bietet. 26 Ausdrücklich sei betont, dass das Quellenpotenzial der nachfolgend in den Blick genommenen Beiträge in der Diachronie nur schlaglichtartig aufgezeigt, aber keineswegs voll ausgeschöpft werden kann. Jedem der Wochenschau lme, insbesondere dem ersten von 1919, ließe sich ein eigener Beitrag widmen. Für eine umfassende Auswertung und Interpretation wären präzise (Ton-)Filmprotokolle 27, der Abgleich mit einer Vielzahl anderer Quellen und – wenn man an die unübersichtliche Friedenskonferenz von 1919 denkt – vielleicht sogar der Einsatz von Gesichtserkennungssoftware erforderlich.
II. Verzicht auf lmische Inszenierung: Pariser Friedenskonferenz und Versailler Vertrag (Film vom 3. Juli 1919) 28 Zunächst sei ein Film der Gesellschaft British Pathé über die Pariser Friedenskonferenz und insbesondere die Unterzeichnung des Versailler Vertrags in den Blick genommen. Das hier ausgewertete Material entspricht in seiner überlieferten Anordnung ganz sicher nicht der Form, in welcher der Film 1919 gezeigt wurde: Die Chronologie der dargestellten Ereignisse wurde teilweise nicht respektiert, 29 manche Szenen erscheinen mehrfach, ein Vorspann mit Titel ist nicht – oder nicht mehr – vorhanden. Auf eine äußerst rätselhafte und kurze Einstellung
26 Datenbank verfügbar unter: http://bufvc.ac.uk/newsonscreen/search (zuletzt abgerufen 12. 7. 2015). 27 Mit solchen Protokollen arbeitet Johannes Etmanski: Das Deutschlandbild in der polnischen Wochenschau, 27 f. 28 Filmdigitalisat unter dem Titel „Treaty of Versailles Can 4 (1919)“ [Titel des Digitalisats, Originaltitel dem Material nicht mehr zu entnehmen] eingesehen auf dem YoutubeKanal von British Pathé, unter URL: https://www.youtube.com/watch?v=UpegAK6mKBM (zuletzt abgerufen 14. 7.2015); Angaben aus der Online-Datenbank von British Pathé: Titel (Digitalisat): „Treaty of Versailles 1919“, Archive British Pathé, Datum der Veröffentlichung: 03. 07. 1919, Media URN: 29988, Film ID: 190.13, Dauer: 9.24 Min., Canister: G 577, zit. nach URL: http://www.britishpathe.com/video/treaty-of-versailles/query/Versailles (zuletzt abgerufen 13.7. 2015). Auf dieselbe Filmnummer (Canister G 577) bezieht sich folgender Eintrag in der BUFVC-Datenbank, der indessen einen anderen, zum Gesamtinhalt kaum passenden Titel erwähnt („Where Peace will be signed“ – dies ist lediglich der Text des ersten Zwischentitels – Minute 0.37 – in dem oben an erster Stelle zitierten Digitalisat) und eine im vorliegenden Digitalisat nicht enthaltene Schlussszene beschreibt (Heimkehr von Lloyd George und seiner Frau), zit. nach URL: http://bufvc.ac.uk/newsonscreen/search/index.php/story/81023 (zuletzt abgerufen 13. 7.2015). 29 So auch der Kommentar zum Digitalisat unter URL: http://www.britishpathe.com/video/ treaty-of-versailles/query/Versailles (zuletzt abgerufen 23. 2. 2015).
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gleich zu Beginn, die ein herannahendes Flugzeug zeigt, folgt die Einblendung eines Zeitungsausschnitts (Minute 00.01), 30 der offenbar das im Folgenden Gezeigte gleichsam als ‚Quellenbeleg` kontextualisieren und beglaubigen soll: „Peace Conference Opens. – Impressive Scene. – M. Clemenceau Pushes Ahead. – Call For Trial Of Huns. – League of Nations at Next Sitting.“ Diese Schlagzeilen, die keiner bestimmten Zeitung zugeordnet werden konnten, müssen sich auf den 18. Januar 1919 beziehen. 31 Da das überlieferte Material des hier herangezogenen Filmdigitalisats nur noch partiell der ursprünglichen Folge von Einstellungen und Szenen entsprechen kann, werden im Folgenden kaum Aussagen zur lmischen Montage möglich sein, sondern lediglich Beobachtungen zu einzelnen Einstellungen. 32 Auf dieser Ebene ergeben sich aber durchaus aussagekräftige Befunde. Die Filmaufnahmen der Gesellschaft British Pathé vom 28. Juni 1919 überraschen vor allem deshalb, weil man angesichts der hochgradig symbolischen Aufladung dieses Schlüsselereignisses eine besondere Form der lmischen Inszenierung erwarten würde, die indessen weitgehend fehlt. 33 Neben Panoramaaufnahmen, etwa von heranfahrenden Automobilen vor dem Schloss, Soldaten und Menschenmassen, zeigt der Film vor allem in einem durch den Zwischentitel „The Signing“ eingeleiteten Abschnitt den überfüllten Spiegelsaal. 34 Für heutige Begriffe wirken die Aufnahmen unspektakulär und geradezu amateurhaft. Menschen laufen durchs
30 Zeitangaben in Klammern beziehen sich hier und im Folgenden auf die Zähler der digitalen Plattformen, auf denen die Filme eingesehen wurden. Sie sind aus technischen Gründen nicht sekundengenau und sollen lediglich das Auf nden von Elementen erleichtern, denen besondere Aufmerksamkeit gilt. Im Interesse der Lesbarkeit des Haupttextes wird bewusst darauf verzichtet, alle angesprochenen Elemente mit Zeitangaben in Klammern zu verknüpfen. 31 Vgl. Eberhard Kolb/Dirk Schumann: Die Weimarer Republik. München 82013, 25, zit. als E-Book unter URL: http://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/226497 (zuletzt abgerufen 15. 7. 2015). 32 Zu den lmanalytischen Begrifflichkeiten hier und im Folgenden: Benjamin Beil /Jürgen Kühnel /Christian Neuhaus: Studienhandbuch Filmanalyse. Ästhetik und Dramaturgie des Spiel lms. Paderborn 2012. 33 Zur symbolischen Aufladung des Ereignisses: vgl. Gerd Krumeich: Versailles 1919. Der Krieg in den Köpfen. In: Gerd Krumeich (Hrsg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung. Essen 2001, 53–64, hier 53; zustimmend zit. in: Steller: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht, 432; weitere Beobachtungen zur politischen Symbolik der Vertragsunterzeichnung: ebd., 439; zum inszenierenden, die Realität keinesfalls „abbildenden“ Charakter von Filmen jeder Art: Pfister: Europa im Bild, 38 f. 34 Im Material mit teilweise abweichenden Einstellungen zweimal gezeigt, hier die Min. 13.37 bis 15.04.
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Bild und verdecken so phasenweise den Unterzeichnungsakt; 35 die Kameraperspektive bleibt im Wesentlichen dieselbe; lediglich sparsam eigesetzte Schwenkbewegungen – so etwa vom Unterzeichnungstisch hin zu den „Big Four“ – schaffen etwas Abwechslung. 36 Wie kann es sein, dass ein welthistorisches Ereignis dieses Ranges derart „lieblos“ abge lmt wurde? Die Frage ist anachronistisch, hat aber vielleicht heuristischen Wert, indem sie kontrastiv Aufmerksamkeit auf die offenbar ganz anderen Sehgewohnheiten von 1919 lenkt. Erinnert sei an die langen Einstellungen im Kriegs lm The Battle of the Somme von 1916, der zum Beispiel in einer endlos wirkenden Kolonne an der Kamera vorbeiziehende deutsche Kriegsgefangene zeigt. 37 Was heute als fehlender lmischer Gestaltungswille und als Monotonie erscheint, war offenbar dem Kinopublikum von 1919 noch vermittelbar. Die Statik der kurz nach dem Krieg entstandenen Aufnahmen steht in einem scharfen Kontrast zu den später noch zu behandelnden, überaus dynamischen Wochenschau lmen der 1930er Jahre. Dass sich hier im Verlauf der Zwischenkriegszeit eine lmtechnisch bedeutsame Entwicklung vollzogen hatte, war schon einem rückblickenden Beobachter des Jahres 1938 bewusst, der bezogen auf die bewegten Bilder des Jahres 1914 bei allem Respekt gegenüber dem damals schon als historisch wahrgenommenen Material dessen „Unreife“ feststellte: „Yet even in 1914 the lm was barely out of its infancy, but immature as these records are, they still have the power to impress the spectator with the signi cance of these past events.“ 38 35 Zur Überfüllung, Bewegung und Unruhe im Saal auf der Basis von Zeitzeugenberichten: Steller: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 366 f.; zur Schlichtheit der „Filmsprache“ in den Anfängen der Kinogeschichte: P ster, Europa im Bild, 34. 36 „The Big Four are seen on the left of the picture“ (Minute 13.39). Am Ende der Filmrolle (ab Minute 17.49) folgen weitere, etwas anders gestaltete Einstellungen aus dem Spiegelsaal, deren Zusammenhang mit den vorgenannten aber nicht rekonstruierbar ist und in denen auch kein weitergehender lmischer Anspruch erkennbar wird. Die Kameraperspektive ist hier die der Obersicht. Der Saal wirkt dadurch stärker als architektonische Gesamtheit. Zur Obersicht: Beil/Kühnel /Neuhaus: Studienhandbuch Filmanalyse, 87. 37 Die Schlacht an der Somme (The Battle of the Somme); Großbritannien 1916, im Auftrag des Imperial War Museums restaurierte und kommentierte Fassung, verfügbar als DVD bei absolut Medien GmbH 2011 (arte Edition), Minuten 46.07 bis 47.57 (mit Audio-Kommentar von Roger Smither); dazu Bösch: Mediengeschichte, 154 f., und Nicholas Reeves: Cinema, Spectatorship and Propaganda: ‚Battle of the Somme` (1916) and its contemporary audience. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 17 (1997), 5–28. 38 The News Film. A useful adjunct to history. From a correspondent. In: The Times, 25. 01. 1938, 10, zit. nach dem Gale-Digitalisat, Dok. Nr.: CS168374841, auf ndbar unter URL: http:// nd.galegroup.com (zuletzt abgerufen 14. 7.2015 – Zugang nur über Bibliotheksnetze).
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Welchen Eindruck vermitteln die Filmaufnahmen vom Geschehen der Vertragsunterzeichnung? Der Betrachter sah und sieht in diesen bewegten und doch lmtechnisch recht statischen Bildern genau das, was Verena Steller in ihren Beiträgen zur Öffentlichkeitsgeschichte der Pariser Friedenskonferenz als zentrales Form- und Darstellungsproblem der „neuen Diplomatie“ beschreibt: die letztlich chaotisch und missglückt wirkende Gestaltung eines epochalen Ereignisses, in dem sich eine ausgeprägte Spannung zwischen dem neuen Öffentlichkeitsanspruch und den Praktiken traditioneller, das heißt dem Bereich des „Arkanums“ zugehöriger, Diplomatie manifestiert. 39 Der Unterzeichnungsakt selbst vollzog sich, wie im Film zu sehen, unspektakulär an einem Tisch, der mit der Kamera nicht einmal durch eine freie Blickachse verbunden war. Offenbar wurde wenig oder gar nichts unternommen, um die Zeremonie kameragerecht zu gestalten. 40 Einmal weist ein Zwischentitel auf die „Big Four“ hin (Minute 13.39). 41 Der Verzicht auf komplexere lmische Verfahren – sofern sie nicht in Gestalt einer durchdachteren und heute verlorenen Montage vorhanden waren – oder auf eine an lmischen Prinzipien orientierte Lenkung des Ereignisablaufs selbst 42 erstaunt den heutigen Betrachter. Das Konzept der Veranstaltung machte den Friedensschluss ja durchaus zum Gegenstand einer Inszenierung – und zwar allein schon durch die Wahl des Spiegelsaals, des Ortes der Reichsgründung von 1871, oder durch die von Clemenceau gewünschte Teilnahme von Gesichtsversehrten des Weltkriegs, die indessen im Film nicht zu erkennen sind. 43 Dass die Aufnah39 Dazu auf der Basis von Augenzeugenberichten: Steller: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht, 458; dies.: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 366 f. und 371. Den Eindruck des Misslingens, ja der Würdelosigkeit vermitteln besonders deutlich die von Steller intensiv herangezogenen Aufzeichnungen des unmittelbar beteiligten Diplomaten Harold Nicolson zum 28. Juni 1919. In: Harold Nicolson: Peacemaking 1919. London 1964 [Erstausgabe 1933, überarbeitete Fassung 1943], 365–371; kritische Beobachtungen zu „open diplomacy“: ebd., 207–209; zu Nicolson detailliert: Steller: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht, insbes. 435–437 und 452–456. Eine facettenreiche Schilderung der Vertragsunterzeichnung unter Heranziehung der Beobachtungen Nicolsons und anderer Teilnehmer bietet ferner Margaret MacMillan: Peacemakers. The Paris Conference of 1919 and Its Attempt to End War. London 2001, 485–488. 40 Vgl. Steller: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 365. 41 Zur strukturierenden Funktion von Zwischentiteln im Stumm lm: Beil/Kühnel/Neuhaus: Studienhandbuch Filmanalyse, 112. 42 Vgl. Steller: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 365. 43 Zum symbolischen Rückbezug auf 1871: Krumeich: Versailles 1919, 53, zu den Gesichtsversehrten: Stéphane Audoin-Rouzeau: Die Delegation der „gueules cassées“ in Versailles am 28. Juni 1919. In: ebd., 280–287, zeitgenössisch u. a. erwähnt in: Alfred Capus: La signature de la paix – la cérémonie de Versailles. In: Le Figaro, 29. 06. 1919, 1, zit. nach URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k292182x/f1.zoom.langFR (zuletzt abgerufen 24. 2. 2015).
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men keine entstellten Gesichter zeigen, vermag kaum zu erstaunen. Dies hätte nicht dem Verhaltenskodex der Wochenschaugesellschaften entsprochen, die es vermieden, dem Zuschauer Anstößiges oder Erschreckendes zu präsentieren 44 – „gruesomeness“, so ein Artikel der Times vom 25. Januar 1938, „always seems out of place on a screen speci cally designed to entertain.“ 45 Die Bilder von der Unterzeichnung des Versailler Vertrages nähern sich aufgrund ihrer lmischen Inszenierungsarmut dem an, was Johannes Etmanski und Manfred Hagen im Rekurs auf Droysen als „Überrestquellen“ beschrieben haben. 46 Sie belegen tatsächlich ein von Verena Steller auf der Basis anderer Quellen herausgearbeitetes Kernproblem von 1919: das Fehlen geeigneter Formen visueller und zeremonieller Repräsentation, die der Öffentlichkeits- und Demokratieorientierung von Außenpolitik hinreichend Rechnung getragen hätten. 47 Trotz der natürlich nicht zufälligen Motivauswahl 48 lassen sich zweifellos auch die einige Wochen früher entstandenen Filmaufnahmen von der Ankunft der Delegierten im Hotel Trianon Palace in Versailles als „Überreste“ analysieren. Dort fand am 7. Mai 1919 die Übergabe der Friedensbedingungen statt, die durch das als provokativ empfundene Sitzenbleiben des Reichsaußenministers und deutschen Delegationsleiters von Brockdorff-Rantzau beim Verlesen seiner Antwort an Clemenceau berühmt geworden ist. 49 Zu sehen ist in einem 90-GradWinkel von der Seite, wie die Staatsmänner der Siegermächte aus ihren Limousinen steigen und von Of zieren auf der Hoteltreppe durchgehend mit militäri-
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Zur Ausblendung der Gesichtsversehrten im Film bereits Steller: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 368. In einer zeitlich nicht sicher einzuordnenden Einstellung ist immerhin ein Of zier mit Augenklappe zu erkennen, der offenbar eine Ehrenformation befehligt (u. a. Minute 8:04, wahrscheinlich vom Tag der Übergabe der Friedensbedingungen, 7. Mai 1919, im Hof des Hotels Trianon Palace). Vgl. Pronay: British Newsreels in the 1930s: Their Policies and Impact [1972], 151. The News Film. A useful adjunct to history. In: The Times, 25. 01. 1938, 10. Vgl. Etmanski: Das Deutschlandbild in der polnischen Wochenschau, 16; Manfred Hagen: Filme und Tonaufnahmen als Überrestquellen. Versuch einer thematisch-kritischen Bild- und Tonquellenedition zum 17. Juni 1953. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 41 (1990), 352–369, hier 355; Etmanski: Der Film als historische Quelle, 73 (neben ideologie- und mentalitätsgeschichtlichen Zugängen, die Etmanski ebenfalls für sinnvoll hält). Steller: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 352 und 371; dazu ausführlicher: dies.: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht, 430 f. Zur Modellierung von Wirklichkeit durch Auswahl schon Terveen: Der Film als historisches Dokument, 63. Vgl. Krumeich: Versailles 1919, 60; Steller: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 364 f. und dies: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht, 447–449.
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schem Gruß empfangen werden (Minuten 15.33–16.01). Diesen Bildern vorangestellt sind verstörende Aufnahmen von der Ankunft der deutschen Vertreter, die deutlich sichtbar anders behandelt werden als die Sieger. Als Reichsaußenminister von Brockdorff-Rantzau 50 den Wagen verlässt, grüßt ihn ein die Delegationen in Empfang nehmender Of zier zwar militärisch (Minute 15.19), was der Deutsche durch Ziehen des Hutes erwidert; bei den nachfolgenden deutschen Delegationsmitgliedern besinnt sich der Of zier dann aber eines Besseren und verzichtet konsequent auf das Grüßen (Minuten 15.27–16.32). 51 Diese Verweigerung elementarer Höflichkeitsformen, wie sie am 7. Mai etwa auch in Clemenceaus herablassender, die deutschen Delegierten gleichsam zu Angeklagten degradierender Ansprache zum Ausdruck kam, illustriert exemplarisch den von Verena Steller konstatierten Verlust von gemeinsamen Interaktionsprinzipien, die in der „alten Diplomatie“ Freund und Feind miteinander verbunden hätten. 52 Hagens Auffassung von einer „dummen, gewissenhaften Kamera“ ist sicher nicht verallgemeinerbar, aber hier tradiert die Kamera zweifellos ein bedeutsames Detail des Geschehens von 1919 präziser und objektiver, als dies – wie von ihm aufgezeigt – textgebundene und damit von der subjektiven Wahrnehmung und Erinnerungsfähigkeit schreibender Individuen abhängige Überlieferung vermag. 53 Ein für die Selbsteinschätzung der Medienvertreter interessanter Befund liegt darin, dass sich das Medium Wochenschau im Kontext der Übergaben der Friedensbedingungen am 7. Mai 1919 autoreferenziell thematisierte. 54 Eine an anderer Stelle in die Filmrolle eingefügte Einstellung zeigt die Staatsmänner nach der
50 Die Identi zierung ermöglicht z. B. der Vergleich mit dem bei Steller abgedruckten Foto der deutschen Delegation. Vgl. Steller: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 1. 51 Teile dieser Szene sind am Anfang der Filmrolle ohne kontextualisierenden Zwischentitel schon einmal zu sehen (00.11 bis 00.37, ohne die Deutschen, dafür aber mit dem am Ende der Filmrolle fehlenden Wilson). 52 Vgl. Steller: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 357 und 363. Clemenceau hatte am 7. Mai 1919 von der „Stunde der schweren Abrechnungen“ gesprochen und davon, dass man aufseiten der Sieger „geneigt“ sei, der deutschen Friedensbitte zu entsprechen. Rede im Auszug zitiert und kontextualisiert in: Krumeich: Versailles 1919, 59 f. Den Tribunalcharakter der Zeremonie betont der von Krumeich (ebd., 60) zitierte Augenzeuge Walter Simons in einem Brief an seine Frau am 10. Mai 1919, abgedruckt in Klaus Schwabe (Hrsg.): Quellen zum Friedensschluß von Versailles. Darmstadt 1997, Nr. 98, 259–261; zur schlechten Behandlung der deutschen Delegation ferner: MacMillan: Peacemakers, 470. 53 Hagen: Filme und Tonaufnahmen als Überrestquellen, 356. 54 Eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so spektakuläre Selbstthematisierung der Medien zeigt ein Foto der deutschen Delegation, auf dem der Fotograf von einem hinter ihm stehenden Kollegen mitfotogra ert wurde. Abgedruckt in Steller: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 351.
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Zeremonie beim Verlassen des Hotels Trianon Palace 55 in einer frontal auf den Hoteleingang gerichteten Perspektive. Auf diese Weise gerät eine Gruppe von Fotografen und Kameramännern in den Blick, die auf einer Bildebene vor den heranfahrenden Wagen und den in sie einsteigenden Persönlichkeiten bei der Arbeit zu beobachten sind, wobei vor allem das Kurbeln an den handbetriebenen Kameras auffällt (Minuten 05.44–06.20). Hier setzt das Medium Wochenschau seine eigene Zeugenschaft ins Bild und will ganz offensichtlich nicht nur das historische Ereignis selbst, sondern auch dessen Medialisierung thematisieren. 56 Das Medienaufgebot vor dem Hotel Trianon Palace hat zeitgenössisch bereits das deutsche Delegationsmitglied Walter Simons nach dem von ihm geschilderten „Spießrutenlauf “ durch den Sitzungssaal beeindruckt: „Vor der Tür waren inzwischen doppelt so viele Photographen, und unter dem Geknatter der Filmoperateure fuhren wir zurück.“ 57 Die für heutige Sehgewohnheiten erstaunliche Effektarmut der Aufnahmen von 1919 steht in einem Gegensatz zu der Bedeutung, die einem anderen, für diesen Beitrag nicht eingesehenen Film von der Gesellschaft The Topical Budget zeitgenössisch zugemessen wurde: Unter der Überschrift „Peace Signing Film“ kündigte die Times am 2. Juli 1919 eine für den Folgetag geplante Vorführung einer Produktion an, die immerhin im British Museum statt nden sollte. Zudem wies der Artikel darauf hin, dass der Film in mehreren Hundert Kinos überall in Großbritannien zu sehen sein werde. Inhaltlich verzichtete der Autor auf jegliche Bewertung des Ereignisses und begnügte sich mit einer kurzen Schilderung der im Film zu sehenden Personen und Situationen. 58 Diese erstaunlich zurückhaltende Darstellung eines Konkurrenzwerks entspricht auch den Zwischentiteln des hier besprochenen Films, die an keiner Stelle Häme gegenüber den Kriegsgegnern oder andere negative Wertungen erkennen 55 Dass es sich um dieses Hotel und den 7. Mai 1919 handelt, ergibt zweifelsfrei ein Vergleich mit dem folgenden zeitgenössischen Foto: A Versailles, Mr Brockdorff, Mr Rantzan [sic] et Mr Leinert sortent du Trianon Palace, Agence de presse Meurisse, 1919, Bibliothèque nationale de France, département Estampes et photographie, EI-13 (2591), eingesehen als Digitalisat unter URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b9031736g (zuletzt abgerufen 18. 7. 2015). 56 Vgl. zu diesem Terminus: Christoph Classen /Klaus Arnold: Einleitung. In: Klaus Arnold/Christoph Classen /Susanne Kinnebrock /Edgar Lersch/Hans-Ulrich Wagner (Hrsg.): Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeiten und Politik im 20. Jahrhundert. Leipzig 2010, 11–26, hier 13. 57 Simons an seine Frau, 10. Mai 1919, abgedruckt in: Schwabe: Quellen zum Friedensschluß von Versailles, Nr. 260. Zur Funktion Simons': vgl. ebd. 58 Peace Signing Film. In: The Times, 02.071919, 12, Gale-Digitalisat, Dok. Nr.: CS201526498, zit. nach URL: http:// nd.galegroup.com (zuletzt abgerufen 20. 7. 2015 – Zugang nur über Bibliotheksnetze).
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lassen, auch wenn Marschall Foch unter Anspielung auf seine harte drohende Haltung gegenüber dem Feind 59 immerhin bescheinigt wird, er sei der Mann, „who brought Germany ‚to terms`“ (Minute 16.01). Die überwiegende Zurückhaltung gegenüber den Besiegten bedeutet allerdings keine Neutralität. Die Zwischentitel rühmen die Staatsmänner der Siegermächte, die als „Master minds“ (Minute 12.88) und „Big Four“ (Minute 13.39) bezeichnet werden, Lloyd George gar als „Britain's great leader“ (Minute 15.48). Der Film will ganz offensichtlich ein denkwürdiges Ereignis in seiner historischen Tragweite – die „historic scene at Versailles“ 60 – festhalten, eine über die positive Würdigung der alliierten Staatsmänner und die Unterstreichung der historischen Tragweite der Konferenz hinausgehende politische Botschaft hat er nicht. Aber er ermöglichte es Millionen, visuell an der Errichtung einer neuen internationalen Ordnung zu partizipieren. 61 Allein diese Tatsache konnte nach dem Ersten Weltkrieg schon zur Veränderung von Außenpolitik beitragen. 62
III. Deutende Zwischentitel: Die Unterzeichnung der Locarno-Verträge in London (Film vom 3. Dezember 1925) 63 Eine für heutige Sehgewohnheiten ähnliche Armut an lmischem Inszenierungsaufwand lässt sich für den Wochenschau lm feststellen, den British Pathé gut sechs Jahre später der Unterzeichnung der Locarno-Verträge widmete – einem 59 Vgl. Kolb/Schumann: Die Weimarer Republik, 34. 60 So ein Zwischentitel: „THE HISTORIC SCENE AT VERSAILLES. = / The German Delegates arrive / and are conducted to the / Hall of Mirrors. / PATHÉ GAZETTE.“ (Minute 12.58). 61 Jan Rüger spricht sogar von einem „entitlement of he masses“ durch das Kino (bezogen auf Filmaufnahmen von Schiffstaufen vor 1914), Jan Rüger: The Great Naval Game. Britain and Germany in the Age of Empire. Cambridge 2006, 55; zu Emanzipationswirkungen von Kino zudem: Kaspar Maase: Was macht Populärkultur politisch? Wiesbaden 2010, 99–100, zit. nach URL: http://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-531-92600-1 (zuletzt abgerufen 3.10. 2015). Knapp zu Kino und internationaler Politik vor 1914 ferner: Peter Geiss: Controversy: The Media's Responsibility for Crises and Con icts in the age of Imperialism. In: Ute Daniel u. a. (Hrsg.): 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War. Freie Universität Berlin, Berlin, 22. 2. 2016, DOI: http://dx.doi.org/10.15463/ie1418.10811 (zuletzt abgerufen am 27.9.2016). 62 Vgl. die oben (Anm. 13) zitierte Passage aus Grenville: A World History, 133; zur visuellen Dimension von Medialisierung: Classen /Arnold: Einleitung, 13. 63 „London. Locarno Peace Pact . . . signed in London by representatives of Britain, France, Germany, Belgium, Italy, Poland & Czecho-Slovakia. Pathé Gazette“ [im Vorspann angegebener Filmtitel], Filmdigitalisat unter dem Titel „Locarno Peace Pact (1925)“ eingesehen
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Ereignis, das am 1. Dezember 1925 nicht an dem namensgebenden Ort in der Schweiz, sondern in London stattfand. 64 Bei einer Gruppenaufnahme mit Damen auf einer wenig repräsentativen Hintertreppe agierte das internationale politische Spitzenpersonal unsicher und unbeholfen (Minuten 00.11–01.04). 65 Vor allem aber wurde ähnlich wie in Versailles nicht darauf geachtet, das Ereignis selbst kameragerecht zu gestalten, was etwa durch die Wahl eines architektonisch ansprechenden Rahmens für das Gruppenbild möglich gewesen wäre. Im Vergleich zu den Versailler Aufnahmen fällt allerdings ein weiter reichender Interpretationsanspruch auf. Dies manifestiert sich in einem Zwischentitel, der Briand folgendes Zitat zuschreibt: „The gates of war are closed“ (Minute 01.08). An anderer Stelle werden Straßenszenen mit Schaulustigen vor dem Foreign Of ce durch folgende Bemerkung eingeleitet: „Britishers cheer Germans! Dr. Luther and Herr Stresemann“ (Minute 01.20, in einer anderen Einstellung offenbar vor Downing Street 10). Auf visueller Ebene setzt eine weibliche Friedensallegorie mit Ölzweig zu Beginn des Films einen starken Deutungsakzent. Im Gegensatz zu der Pax, welche der Film von 1919 zeigt, trägt sie kein Schwert mehr am Gürtel und erhebt sich nicht mehr triumphierend vor den Fahnen der Siegermächte. 66 Die den Frieden feiernden Filmbilder und Kommentare von 1925 warben bei einem Millionenpublikum für die britische Politik der kollektiven Sicherheit und Verständigung mit dem einstigen Kriegsgegner Deutschland, für das, was Patrick O. Cohrs vor dem Hintergrund der spannungs- und aggressionsgeladenen Verhältnisse von Versailles als „the real peace“ bezeichnet hat. 67 Der historische
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auf dem Youtube-Kanal von British Pathé, unter URL: https://www.youtube.com/watch? v=nqUvVkfpAhY (zuletzt abgerufen 13.7. 2015); Angaben aus der Online-Datenbank von British Pathé: Archiv: British Pathé, Datum der Veröffentlichung: 03. 12. 1925, Media URN: 19991, Film ID: 434.26, Dauer: 4.50 Min., Canister: G 1247, zit. nach URL: http://www. britishpathe.com/video/locarno-peace-pact/query/Locarno+peace+pact (zuletzt abgerufen 13.7. 2015); weitere Angaben in der BUFVC-Datenbank: Titel: „Locarno Peace Pact“, Pathe Gazette, Ausgabe Nr. 1247, 03. 12.1925, zit. nach URL: http://bufvc.ac.uk/newsonscreen/search/index.php/story/84688 (zuletzt abgerufen 13. 7.2015). Une journée historique: Les représentants de sept nations ont signé les traités de Locarno. In: Le Figaro, 02. 12. 1925, 1, zit. nach dem Digitalisat der Bibliothèque nationale de France unter URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k2946028.langFR (zuletzt abgerufen 10. 8. 2015). Zur fehlenden Professionalität von Politikern im Umgang mit dem Medium Film: vgl. Treue: Das Filmdokument als Geschichtsquelle, 316. Hinzu kam, dass sich die Pax in dem behandelten Film von 1919 auf den Porträts der „Großen Vier“ erhebt (Minute 19.26). Patrick O. Cohrs: The First „Real“ Peace Settlement after the First World War: Britain, the United States and the Accords of London and Locarno, 1923–1925. In: Contemporary Euro-
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Quellenwert dieser für heutige Sehgewohnheiten unspektakulären Aufnahmen wurde bereits vier Jahre später in einem Times-Artikel hervorgehoben. 68 Schon der Film selbst zielte – in dieser Hinsicht den besprochenen Aufnahmen von 1919 durchaus ähnlich – darauf ab, die epochale Bedeutung des Gezeigten ins Bewusstsein des Publikums zu bringen. Dies geht aus dem folgenden Zwischentitel hervor: „The Pact signed! – second only in importance – in our time – to the Treaty of Versailles“ (Minute 02.37). In seinen optimistischen, den Anbruch einer neuen Zeit hervorhebenden Deutungsakzenten hob er sich allerdings deutlich von den Aufnahmen aus dem Jahr 1919 ab. Wenn der Beitrag über den „Locarno Peace Pact“ in der überlieferten Form gezeigt wurde, handelt es sich um eine Collage aus Aufnahmen von zwei verschiedenen Ereignissen: der im schweizerischen Locarno abgehaltenen Konferenz und der späteren Unterzeichnung in London. Wahrscheinlich sind in London keine geeigneten Aufnahmen von den Einzeldelegationen entstanden, während in Locarno die führenden Vertreter der Staaten nacheinander auf einer repräsentativen Treppe ge lmt und fotogra ert wurden (Minuten 01.53–02.34). 69 Dieses Archivmaterial wurde dann offenbar in den Film über die Londoner Vertragsunterzeichnung integriert. Auch hier kann noch nicht von einer umfassenden Einbeziehung der Wochenschau in das Gesamtereignis die Rede sein, da andernfalls sicherlich darauf geachtet worden wäre, auch in London geeignete Aufnahmen der Einzeldelegationen zu produzieren.
pean History 12 (2003), 1–31, dazu ausführlicher: ders.: The un nished peace after World War I. America, Britain and the Stabilisation of Europe, 1919–1932. Cambridge 2006. 68 Historical Film Records. The Life of the Nation. A heritage for posterity, from a correspondent. In: The Times, 19. 03. 1929, VII, Gale-Digitalisat, Dok. Nr.: CS654647411; zum Quellenwert von Filmen auch: The News Film. A useful adjunct to history. From a correspondent. In: The Times, 25. 01. 1938, 10, zit. nach dem Gale-Digitalisat, Dok. Nr.: CS168374841, beide Artikel zit. nach URL: http:// nd.galegroup.com (zuletzt abgerufen 14. 7. 2015 – Zugang nur über Bibliotheksnetze). 69 Treppenszene der Delegationen vor dem Justizpalast, ermittelt durch Abgleich der Filmszenen mit folgendem Foto: Neueste Aufnahme von der Konferenz von Locarno [. . . ], Datum: Oktober 1925, Aktuelle-Bilder-Centrale, Georg Pahl, Bildarchiv des Bundesarchivs, Signatur: Bild 102–01893, Angaben und Foto eingesehen im Digitalen Bildarchiv des Bundesarchivs unter URL: https://www.bild.bundesarchiv.de/ (zuletzt abgerufen 18. 7. 2015).
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IV. Dramatisierung und Personalisierung: der Abessinienkrieg (Film vom 10. Oktober 1935) 70 Die 1930 bis 1932 vollzogene Einführung des Tons in den britischen Wochenschauen wurde in der Forschung als eine bedeutende Zäsur wahrgenommen: Musik und Sprache eröffneten ganz neue Möglichkeiten der Übermittlung politischer Botschaften, nicht zuletzt durch Formen der Dramatisierung, Emotionalisierung und Personalisierung, die - wie von Viktoria Urmersbach im Rekurs auf kritische Beobachtungen Martin Hartwigs betont - auch heute charakteristisch für massenmediales „Infotainment“ und „Histotainment“ sind. 71 Diese neuen Möglichkeiten seien anhand eines von Eric Dunstan kommentierten Wochenschau lms über den Abessinienkon ikt vom 10. Oktober 1935 erläutert. Es handelt sich um eine Produktion der Ton lmgesellschaft British Movietone. 72 Zu sehen ist gleich zu Beginn in Nahaufnahme 73 ein angeblich 15-jähriger Junge mit Gewehr, der vor laufender Kamera seine Bereitschaft bekundet, „bis zum letzten Blutstropfen“ sein „friedliebendes Land“ gegen Italien zu verteidigen (Minuten 00.02–00.33). Der Kommentator stellt den Jungen als „one of Haile Selassis youngest soldiers“ vor. Seine kämpferischen Äußerungen sind ganz offensichtlich als O-Töne überliefert – wie überhaupt der ganze Film abgesehen vom kurzen Vorspann auf Musik verzichtet und durch die tatsächliche oder zumindest
70 „Abyssinia First War Film from the Front. Commented by Eric Dunstan. British Movietone News“ [im Vorspann angegebener Filmtitel], Titel des Digitalisats: „Abyssinia First War Film“, Digitalisat erreichbar unter URL: http://www.movietone.com (zuletzt abgerufen 10. 7.2015 – nach Registrierung frei zugänglich); Angaben aus der Online-Datenbank von British Movietone: Titel: „Abyssinia“, Kartentitel: „First War Film From Abyssinia“, Datum der Veröffentlichung: 10. 10. 1935, Dauer: 195 Sek., Story Nr.: 3970, zit. nach der voranstehend angegebenen URL; weitere Angaben in der Online-BUFVC-Datenbank: Titel: „Locarno Peace Pact“, Pathe Gazette, Ausgabe Nr. 1247, 03. 12. 1925, zit. nach URL: http://bufvc.ac.uk/newsonscreen/search/index.php/story/84688 (zuletzt abgerufen 13. 7. 2015). 71 Zu Zäsurcharakter und politischer Wirksamkeit des Ton lms: Pronay: British Newsreels in the 1930s: Audience and Producers [1971], 139.; zu Dramatisierung, Emotionalisierung und Personalisierung im „Infotainment“ und „Histotainment“: Veronika Urmersbach: Dokudramen zwischen Fakten und Fiktionen. Eine Verteidigung. In: Wolfgang Hardtwig / Alexander Schug (Hrsg.): History sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt. Stuttgart 2009, 107–118, hier 110. 72 S.o. Anm. 70. 73 Zur lmanalytischen Begrifflichkeit Beil / Kühnel /Neuhaus: Studienhandbuch Filmanalyse, 79.
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in glaubhafter Weise suggerierte Verwendung von Originalgeräuschen den Eindruck eines hohen Grades an Authentizität zu erwecken sucht. 74 In weiteren Einstellungen des Films sind ein zu Fuß durch den Regen gehender Kaiser, seine berittene Garde und die in Lammfelle gekleideten „irregulären“ Truppen Abessiniens zu sehen. Auch wenn in angeblich an der Front entstandenen Aufnahmen abessinische Maschinengewehre und Luftabwehrgeschütze gezeigt und die Abessinier als „good marksmen [. . . ] who never waste a shot“ gewürdigt werden (Minuten 02.29–03.13), hinterlässt der Film den Eindruck eines militärtechnischen Ungleichgewichts zwischen den Kriegsparteien. 75 Aufseiten der Italiener werden nämlich Artilleriegeschütze, Messinstrumente zur Berechnung von Schussbahnen und Fernmeldetechnik gezeigt (Minuten 02.09– 02.16). Die Sympathien liegen hier ganz klar bei den Schwächeren, die Opfer der Aggression einer weit überlegenen faschistischen Militärmaschinerie zu werden drohen. 76 Selbst wenn der Kommentator keine eindeutige Schuldzuweisung an den Aggressor Italien formuliert, kommt die Verurteilung des Friedensbruchs in Afrika im letzten Satz des Films doch deutlich zum Ausdruck: „It's a sad turn of fate to be presenting war pictures on British screens again“ (Minute 03.05). Es ist bekannt, dass die halbherzige Sanktionspolitik der Demokratien gegen Italien und britisch-französische Pläne zur Anerkennung der italienischen Eroberungen in der britischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst haben und schließlich zum Rücktritt des Außenministers Samuel Hoare führten, der unter Verweis auf eine erzürnte „public opinion“ erzwungen wurde. 77 Filme wie 74 Das hier nicht belegbare Ergänzen von archivierten Tonaufnahmen wurde schon zeitgenössisch als Praxis kritisiert. Vgl. Leonard England [LE]: Mass-Observation File Report 16. Faking of Newsreels. LE 7.1. 40, 1; Montague: Public Opinion and the Newsreels, 75. 75 Zum Charakter des Abessinienkrieges: Aram Mattioli: Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935–1936. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), 311–337, zit. nach URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2003_3.pdf (zuletzt abgerufen 18. 7. 2015). 76 Vgl. Patrick Kyba: Covenants Without the Sword. Public Opinion and British Defense Policy 1931–1935. Waterloo (Ontario) 1983, 152. 77 Winston Churchill: The Second World War. The Gathering Storm. Boston 1948, 184 f.; zur „Opferung“ Hoares: vgl. die Kabinettsdebatte in: Cabinet 56 (35), The Italo-Abyssinian Dispute. Government Policy in the Parliamentary Debate. Summary of Cabinet Discussion on December 18, 1935 [. . . ], Cab 23/90B, zit. nach dem Digitalisat der National Archives, Kew, verfügbar unter URL: http://www.nationalarchives.gov.uk/cabinetpapers/ themes/diplomacy.htm (zuletzt abgerufen 12. 5. 2015); dazu detailliert: Andrew Holt: ‚No more Hoares to Paris`: British Foreign policymaking and the Abyssinian Crisis, 1935. In: Review of International Studies 37 (2011), 1383–1401; zu den ereignisgeschichtlichen Zusammenhängen der Völkerbundspolitik im Abessinienkon ikt: Alfred Pfeil: Der Völkerbund. Literaturbericht und kritische Darstellung seiner Geschichte. Darmstadt 1976, 128–135.
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der hier vorgestellte haben sicherlich dazu beigetragen, den britischen Massen die Opferrolle des abessinischen Volkes vor Augen zu führen und das Land als „underdog [. . . ] deserving public sympathy“ (Patrick Kyba) erscheinen zu lassen. 78 Bei den Aufnahmen des Jugendlichen ist vielleicht sogar von transnationaler Kommunikation zu sprechen: Ein vermutlich von den abessinischen Behörden ausgewählter Junge mit besten Englischkenntnissen richtet einen Hilfsappell an britische Kinobesucher. 79 Anders als im Fall der lmisch doch sehr simplen Aufnahmen von der Unterzeichnung des Versailler Vertrags ist es bei Ton lmen mit komplexer Montage wie diesem sinnvoll, Instrumentarien der Filmanalyse heranzuziehen. 80 Die genaue Beobachtung der Abfolge von Einstellungen und ihres Verhältnisses zum Kommentar gibt Aufschluss darüber, wie durch lmische Mittel eine Kohärenz der Aussage hergestellt werden kann, die so zunächst im Rohmaterial nicht vorhanden ist. 81
V. Zurück zum Arkanum? Chamberlain und die Sudetenkrise (Filme vom 22. und 26. September 1938) 82 Im Sommer 1938 stand Europa in der von Hitler heraufbeschworenen Sudetenkrise am Rand eines großen Krieges. 83 Die Forschung hat gezeigt, wie große Teile der britischen Presse aktiv daran mitwirkten, Chamberlains Appeasement-Politik als unvermeidlich und von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen zu
78 Kyba: Covenants Without the Sword, 152. 79 Analog wäre das Verständnis transnationaler Kommunikation in: Seul: Journalists in the service of British foreign policy, 90: vgl. ferner die De nition in: Bösch /Geppert: Journalists as Political Actors: Introduction. In: dies.: Journalists as Political Actors, 12. 80 Die Notwendigkeit eines lmanalytischen Zugriffs sehen schon Terveen (Der Film als historisches Dokument, 63) und Treue (Das Filmdokument als Geschichtsquelle, 311). Bei Etmanski rücken die lmischen Gestaltungsmittel ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Vgl. ders.: Das Deutschlandbild in der polnischen Wochenschau, 32–37. 81 Vgl. ebd., 32 f. 82 „The Crisis. Pathe Gazette“ [im Vorspann angegebener Filmtitel], Film eingesehen unter URL: https://www.youtube.com/watch?v=zQ5S5hHvHd4 (zuletzt abgerufen 9.1. 2015), Angaben aus der Online-Datenbank von British Pathé: Datum der Veröffentlichung: 26. 09. 1938, Media URN: 18048, Film ID: 981.43, Dauer: 3.01 Min., Canister: 38/77, zit. nach URL: http://www.britishpathe.com/video/the-crisis-4/query/38+77 (zuletzt abgerufen 12. 1. 2015); weitere Angaben in der BUFVC-Datenbank: „Crisis – Latest“ [Titel mit dem einer anderen Ausgabe verwechselt?], Pathe Gazette, Ausgabe Nr. 38/77, 26. 09. 1938, eingesehen unter URL: http://bufvc.ac.uk/newsonscreen/search/index.php/story/96396 (zuletzt abgerufen 12. 1. 2015). 83 Zur Stimmungslage knapp und treffend: Seul: Appeasement und Propaganda, 1.
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präsentieren. 84 Chamberlain förderte dies durch vielfältige Formen der Ein ussnahme auf Journalisten im Rahmen des Privilegierungssystems der sogenannten „Lobby“ 85, aber auch, wie Detlev Clemens betont hat, durch „kluge Dramaturgie“, so etwa eine hochdramatische Unterhausrede am 28. September, in die vor dem Hintergrund allgemeiner Kriegsangst die Nachricht zur Einladung nach München gleichsam wie eine Bombe hineinplatzte. 86 Nach dieser Rede habe er, so Madge und Harrisson 1939 im Rückblick, über „an almost unanimous presslm-radio mandate to negociate“ verfügt. 87 Auf diese Weise ließ sich, wie Richard Cockett, anknüpfend an die Beobachtungen von Mass Observation, gezeigt hat, ein von echter demokratischer Partizipation separierter Handlungsraum für neue Arkanpolitik herstellen. 88 Ein Beispiel für die Suggestion einer Unumgänglichkeit der AppeasementPolitik ist ein Wochenschaubericht über die Godesberger Konferenz zwischen Hitler und Chamberlain, gut eine Woche vor der Münchner Konferenz. Bei
84 Vgl. insbes. Anthony Adamthwaite: The British Government and the Media, 1937–1938. In: Journal of Contemporary History 18 (1983), 281–297, hier 293, zit. nach URL: http:// www.jstor.org/stable/260388 (zuletzt abgerufen 1. 1. 2010); Richard Cockett: Twilight of Truth. Chamberlain, Appeasement, and the Manipulation of the Press. London 1989, 83; Seul: Appeasement und Propaganda, 80. Die Geschichte der Sudetenkrise ist sehr oft dargestellt worden. Vgl. in jüngerer Zeit etwa die ereignisgeschichtlich sehr detaillierte und quellengesättigte Monogra e von David Faber: Munich: The 1938 Appeasement Crisis. London, New York, Sydney, Toronto 2008. Zur Pressegeschichte der Sudenenkrise: insbes. Franklin Raid Gannon: The British Press and Germany 1936–1939. London 1971, 172–228. 85 Dazu detailliert Cockett: Twilight of Truth, 3–16. 86 Detlev Clemens: Herr Hitler in Germany. Wahrnehmung und Deutungen des Nationalsozialismus in Großbritannien 1920 bis 1939. Göttingen, Zürich 1996, 429 f. Auch das Tagebuch des Permanent Under-Secretary im Foreign Of ce, Alexander Cadogan, bestätigt, dass Chamberlain diese Einladung als „peroration – with tremendous effect“ eingesetzt habe, widerlegt aber zugleich die von Clemens geäußerte Vermutung, Chamberlain habe schon vor Beginn seiner Rede von der Einladung gewusst. Vgl. The Diaries of Sir Alexander Cadogan 1938–1945, hrsg. v. David Dilks. London 1971, 109, detailliert dazu: Faber: Munich, 395 f.; zur Person Cadogans: Paul Henry Gore-Booth: „Cadogan, Sir Alexander George Montagu (1884–1968)“. In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford University Press, 2004 (online Januar 2011), zit. nach URL: http://www.oxforddnb.com/view/ article/32234 (zuletzt abgerufen 10. 7. 2015). 87 Madge/Harrisson: Britain by Mass-Observation, 112. 88 Richard Cockett spricht deshalb von einem „politischen Vakuum“, in dem Chamberlain agiert habe. Cockett: Twilight of Truth, 191; zur Bildung neuer Arkansphären unter den Bedingungen demokratischer Öffentlichkeit: Bösch /Hoeres: Im Bann der Öffentlichkeit? Der Wandel der Außenpolitik im Medienzeitalter. In: dies.: Außenpolitik im Medienzeitalter, 7–35, hier 12; speziell zum komplexen Verhältnis zwischen „Arkanum“ und Öffentlichkeit vor 1914: Kiessling: Das Paradox der Geheimdiplomatie.
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diesem Treffen lehnte Hitler am 22. September 1938 überraschend einen von Chamberlain bereits mit französischer Hilfe der Tschechoslowakei abgetrotzten Mechanismus für die friedliche Abtretung des Sudetenlandes als unzureichend ab und drohte mit Einmarsch. 89 Die Gefahr eines Wegbrechens des gesellschaftlichen Rückhalts für Chamberlains Appeasement-Politik in Großbritannien wurde zeitgenössisch gesehen und auch in der Forschung bestätigt. 90 In der für den Premier kritischen Situation nach der Godesberger Konferenz widmete British Pathé dem Treffen am 26. September einen Wochenschau lm unter dem Titel „The Crisis“. Der Film verteidigt die Politik Chamberlains uneingeschränkt. Dies demonstrieren schon die ersten Einstellungen, die man als didaktische Hinführung bezeichnen könnte: Zunächst wird auszugsweise das eingangs vorgestellte Archivmaterial zur Unterzeichnung des Versailler Vertrags von 1919 (Minute 00.03) gezeigt, gefolgt von einer animierten Karte (Minute 00.07). Sie illustriert die Neuordnung des Kontinents durch die Pariser Friedenskonferenz. Der mit dramatisierendem Pathos gesprochene Kommentar lässt nur eine Interpretation zu – er lautet: „The tragedy of 1938 was born in 1919 at Versailles“. Nicht Hitlers Aggressionspolitik präsentiert der Film als das primäre Problem, sondern die Zerstörung der alten Imperien und die Schaffung von „Pufferstaaten“ („buffer states“, Minute 00.16), die sich in Gefahrenherde für den Frieden verwandelt hätten. Erst nach dieser Feststellung wird ein heftig gestikulierender, aber tonloser Hitler eingeblendet und den kleinen Staaten durch den Kommentar zugebilligt, dass sie gegen das „Recht des Stärkeren“ kämpften (Minute 00.26). Auf Chamberlains Ansprache unmittelbar vor dem Ab ug nach Deutschland und den Start seines Flugzeugs folgt eine für die Wochenschau typische Panorama-Aufnahme des Rheintals zur Lokalisierung der Godesberger Konferenz. Das romantische und zugleich ein Bild tiefen Friedens vermittelnde Idyll des vom Siebengebirge überragten Rheines steht in einem denkbar scharfen und in der
89 Notes of a conversation between Mr. Chamberlain and Herr Hitler at Godesberg on September 22, 1938 [Kirkpatrick]. In: E. L. Woodward /Rohan Butler (Hrsg.): Documents on British Foreign Policy 1919–1939, 3. Serie, Bd. II: 1938. London 1949, Nr. 1033, 465 f. und 467 (Enttäuschung und Entrüstung Chamberlains), 468 (Forderung Hitlers nach einer sofortigen Grenzveränderung und Einmarsch, Ausdruck der Verachtung für Kommissionsarbeit, Plebiszit auf der Basis des Bevölkerungsstandes von 1918 erst nachträglich). Chamberlain selbst wies im Gespräch mit Hitler darauf hin, dass schon die bisherigen britischen Lösungsvorschläge den Widerstand der öffentlichen Meinung in Großbritannien hervorgerufen hätten. Vgl. ebd., 470. Die ereignisgeschichtlichen Zusammenhänge werden ausführlich dargestellt in: Faber: Munich, 325–355. 90 Madge/Harrisson: Britian by Mass-Observation, 77 f. Vgl. Cockett: Twilight of Truth, 78.
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Montage sehr bewusst angelegten Kontrast zum Folgenden: Filmaufnahmen von Manövern der Wehrmacht – angeblich in der Nähe Godesbergs – und hektisch agierende Telefonistinnen. Dramatische Musik, Trommelwirbel und eine im Tonfall hoher Erregung sprechende Kommentatorenstimme illustrieren die Dynamik des Krisengeschehens. Diese visuelle Klimax begleitet ein Kommentar, der Chamberlains diplomatische Aktion als die einzige Möglichkeit erscheinen lässt, einen ansonsten wie 1914 in einen großen europäischen Krieg mündenden Prozess noch einmal in extremis zu unterbrechen: „Then as the tension almost rises to the breaking point and the wires hum with the gravest news for 24 years – might is answered with might, Czechoslovakia mobilises, France will take measures against unprovoked aggression, Russia will denounce non-aggression-pacts – Mr Chamberlain writes a letter, asks for a promise, holds up the negotiation. Now instead of immediate action, the government of Czechoslovakia is given a few days' grace. And as Mr Chamberlain returns to Britain, who knows, perhaps much [Kommentar bricht hier ab]“ (Minuten 01.34–02.02) Im Kontrast zu den sich in der Darstellung überschlagenden Ereignissen steht Chamberlain als ruhender Pol des Friedenswillens und der Hoffnung vor und nach dem Deutschland ug, das heißt im Film vor und nach einer audiovisuellen Höllenfahrt in den Abgrund des Krieges, der in der Manöverszene mit ratternden Maschinengewehren inmitten sommerlicher Felder schon vorweggenommen wird. Er ist nicht zufällig der einzige Politiker, der überhaupt zu Wort kommt. Der Film führt in seiner hochdramatischen Anlage gleichsam im Zeitraffer exakt das Wahrnehmungsverlaufsmuster vor, das Madge und Harrisson insgesamt für die hohe Zustimmung zu Chamberlains Appeasement-Politik im unmittelbaren Vorfeld von „München“ verantwortlich machten: „the tension of war had been provided and released, obscuring other issues.“ 91 Am Ende des Films scheinen Jubelgeräusche die Rückkehr Neville Chamberlains nach Downing Street Number 10 zu begleiten. Die Personalisierung als Mittel der lmischen Vereinfachung von Wirklichkeit haben ebenfalls zeitgenössisch Harrisson und
91 Madge/Harrisson: Britain by Mass-Observation, 112, vgl. ferner ebd. 57 („relief“), 88 (Einsetzen echter Kriegsangst mit der Gasmaskenverteilung) und 112. Die Autoren zitieren für den 29. September eine hier nicht überprüfbare Umfrage ihrer Organisation, in der 54 % der Befragten Antworten „Pro-Chamberlain“ abgaben (10 % „Anti-Chamberlain“, 10 % „Mixed, sceptical“ und 26 % „Vague, don't know“). Ebd., 101. Sie weisen auf die hohe Volatilität der Zustimmungs- und Ablehnungsraten in der Krise hin, die sie auf Informationsde zite zurückführen. Vgl. ebd. und 118.
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Madge thematisiert: „[. . . ] people who were not able to grasp dif cult geographical and political realities could be made to respond to the personality magic of Hitler and Chamberlain, the blood-thirsty bogey and the Old Man Who Goes Up In The Sky.“ 92 Welche außenpolitische Bedeutung die britische Regierung selbst damals der Wochenschau beimaß, wird aus einem Zensurzwischenfall während der Godesberger Konferenz ersichtlich. Die Gesellschaft Paramount zog am 22. September 1938 einen Wochenschau lm zurück, in dem unter anderem der ehemalige Herausgeber der Times, Wickham Steed, die Appeasement-Politik äußerst scharf verurteilt. 93 Für diesen Beitrag wurde ein Digitalisat herangezogen, das Teile des Filmmaterials zu enthalten scheint, aber nicht mit der Vorführversion identisch sein kann, da Äußerungen von interviewten Personen fehlen, die im Dezember 1938 in einer Unterhausdebatte über diesen Vorfall zitiert wurden. 94 Möglicherweise handelt es sich um Material, das für die Vorführversion nicht verwendet wurde, oder aber lediglich um Fragmente dieser Fassung. Dennoch machen die Aufnahmen in Ton und Bild sofort verständlich, weshalb dieser Film als derart brisant eingestuft wurde. So ist ein Ausschnitt (Minuten 02.02–02.19) überliefert, in dem Wickham Steed in energischer Diktion die Preisgabe „vitaler Interessen“ und die „Besudelung des guten Namens“ seines Landes verurteilt: „There will still be a chance of avoiding the worst, if we encourage the Czechoslovak government to stand rm and make our government understand, that we repudiate its policy of surrendering our vital interests and of besmirching our good name.“ 95
92 Vgl. ebd., 57. 93 Dieses Datum nennt der Abgeordnete Mander in seiner kritischen Unterhausrede vom 7. Dezember 1938. Vgl. Censorship and the Restriction of Liberty. In: McKernan (Hrsg.): Yesterday's News, 124; vgl. zudem Adamthwaite: The British Government and the Media, 288; zur Person Wickham Steeds: A. J. A. Morris: „Steed, Henry Wickham (1871–1956)“. In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford University Press, 2004, zit. nach URL: http://www.oxforddnb.com/view/article/36260 (zuletzt abgerufen 24. 2. 2015). 94 Vgl. Censorship and the Restriction of Liberty. In: McKernan: Yesterday's News, 124. 95 Film eingesehen unter: http://www.itnsource.com/en/shotlist/BHC_RTV/1938/09/22/ BGX407232544/ ?s=Europe (zuletzt abgerufen 13.7. 2015), Min. 02.03–02.19, Titel und weitere Angaben aus der BUFVC-Datenbank: „Europe's Fateful Hour“, British Paramount News, Ausgabe Nr. 790, 22. 09. 1938, zit. nach URL: http://bufvc.ac.uk/newsonscreen/search/index.php/story/36193 (zuletzt abgerufen 13. 7. 2015); weitere Angaben in der BFUVC-Datenbank: „Europe's Fateful Hour“, British Paramount News, Ausgabe Nr. 790, 22. 09. 1938, eingesehen unter URL: http://bufvc.ac.uk/newsonscreen/search/index.php/ story/36193 (zuletzt abgerufen 19.12. 2015).
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Der Film zeigt überdies protschechoslowakische, gegen die Politik Chamberlains gerichtete Demonstrationen, so etwa ein fahrendes Auto mit dem Transparent „Stand by the Czechs“ (Minute 02.44). Die Vorführversion wurde auf Druck des Foreign Of ce und durch Ein ussnahme des US-Botschafters Joseph Patrick Kennedy auf die amerikanische Muttergesellschaft von British Paramount aus den Kinos zurückgezogen. 96 Aus der Parlamentsdebatte über diesen Vorfall ergibt sich, dass die Befürworter des Rückzugs in dem Beitrag eine Gefahr für die Vermittlungsversuche Chamberlains in der gefährlichsten Phase der Sudetenkrise sahen. 97 Es ging also um die Absicherung des Arkanums gegen öffentliche Kritik und um die Vermeidung diplomatisch unerwünschter Botschaften an das deutsche Regime. 98 Ausgehend von diesem Befund 99 wäre eine öffentliche Handlung wie Neville Chamberlains ostentatives Hochhalten der deutsch-britischen Erklärung nach der Münchner Konferenz, die Friedrich Kießling bezogen auf die mutmaßliche Publikumswirkung treffend als „Geste der Transparenz“ 100 bezeichnet hat, ihrer eigentlichen politischen Funktion nach genau das Gegenteil davon: Es handelt sich nämlich um einen Akt öffentlicher Simulation von Transparenz mit dem Ziel ihrer tatsächlichen Vermeidung und damit immer noch um einen Ausdruck ebenjenes „Paradox[es] der Geheimdiplomatie“, das Kießling für die Zeit vor 1914 konstatiert. 101
96 Vgl. Pronay: British Newsreels in the 1930s: Their Policies and Impact [1972], 153 f.; Adamthwaite: The British Government and the Media, 288 f.; zur Person von Joseph Patrick Kennedy, dem Vater des späteren US-Präsidenten John F. Kennedy: William Manchester: „Kennedy, Joseph P.“. In: Encyclopædia Britannica. Encyclopædia Britannica Ultimate Reference Suite. Chicago 2014 (digitale Ausgabe auf DVD). 97 So die Antwort auf eine Anfrage des liberalen Abgeordneten Geoffrey Mander am 23. November. Vgl. Censorship and the Restriction of Liberty. In: McKernan: Yesterday's News, 121 (Einleitung) und 123 (von John Simon hervorgehobene Gefahr eines „prejudicial effect upon the negotiations“ zwischen Hitler und Chamberlain). 98 Vgl. Adamthwaite: The British Government and the Media, 288. Eine solche „Abschirmung“ des Arkanums betrachtet Steller als Merkmal der „alten Diplomatie“. Steller: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, 354; ähnlich bezogen auf die Absicherung von Stresemanns Außenpolitik: Karl Heinrich Pohl: Ein früher Medienpolitiker? Stresemanns Außenpolitik und die Öffentlichkeit. In: Bösch /Hoeres (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter, 146–166, hier 163 (Gewinnung von „arkaner Zeit“ gegenüber der Weimarer Öffentlichkeit). 99 Dieser Befund wird zeitgenössisch bereits von Madge/Harrisson und in der Forschung von Cockett thematisiert. Vgl. dazu oben Anm. 87 und 88. 100 Kiessling: Das Paradox der Geheimdiplomatie, 91. 101 Ebd., insbes. 86. Eine die Gegenwart mit der Zeit vor 1914 verbindende Kontinuität des „Spannungsverhältnisses zwischen Massenöffentlichkeit und Außenpolitik“ betont Andreas Rose: Der politische Raum Londons und die öffentlichen Beziehungen zwischen
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VI. Zusammenfassung Wochenschauen machten internationale Politik sichtbar, auch wenn sie überwiegend nicht als politisches Medium verstanden wurden und sich selbst nicht so verstanden. Dies allein war in einer Zeit der Demokratisierung von Außenpolitik bedeutsam, selbst wenn keine expliziten politischen Botschaften vermittelt wurden. Internationale Politik gewann im Agenda Setting 102 dadurch an Gewicht, dass sie einem Millionenpublikum in der Wochenschau präsentiert wurde. Das diesem Publikum durch die visuelle Präsentation „großer Politik“ vermittelte Gefühl des Dabeiseins veränderte die außenpolitische Kultur des Landes auch ohne konkrete Botschaft, erweckte zumindest das Gefühl, sich ein persönliches Bild von außenpolitischen Entwicklungen und Akteuren machen zu können, die damit für die Menschen Teil ihrer Lebenswelt wurden und an Bedeutsamkeit gewannen. 103 Wie bei anderen Medien sind Ein üsse von Wochenschau lmen auf das Publikum schwer nachweisbar. 104 Entsprechend lässt sich auch ihre politische Handlungsrelevanz kaum belegen. Welcher Minister oder M. P. würde sich schon explizit auf ein sozial derart gering geschätztes Massenmedium berufen? 105 Dies belegt aber in keiner Weise die außenpolitische Irrelevanz der Filme. Immerhin geht aus der erwähnten Parlamentsdebatte über die Wochenschauzensur während der Sudetenkrise hervor, dass sich Abgeordnete zumindest einzelne Ausgaben im Kino ansahen und sich auch noch Monate später inhaltlich daran erinnern konnten. Diese Debatte zeigt überdies, dass der Wochenschau sowohl auf Regierungsseite als auch im Lager der um die Medienfreiheit besorgten Opposition allergrößte Relevanz für das außenpolitische Krisenmanagement im Sommer 1938 zugesprochen wurde. In diachroner Perspektive vermag es die schlaglichtartige Filmauswahl des vorliegenden Beitrags natürlich nicht, Entwicklungen auf repräsentativer Basis aufzuzeigen. Im Wissen um die Begrenztheit der hier möglichen Ergebnisse scheint sich aber doch die Auffassung Pronays zu bestätigen, dass die Wochen-
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England und Deutschland vor 1914. In: Bösch /Hoeres: Außenpolitik im Medienzeitalter, 95–121. Dazu: Jäckel: Medienwirkungen, 169–197. Vgl. Pronay: British Newsreels in the 1930s: Audience and Producers [1971], 158 („direct and effective illusion of events“). Zur Präsenz des Politischen und seiner Akteure im Alltag der Massen: vgl. die in Anm. 13 zitierte Passage Glenvilles. So schon Harrisson: Social Research and the Film [1940], 2; vgl. auch Jäckel, Medienwirkungen, 22. Zur vor allem seit Kriegsbeginn 1939 gesunkenen Reputation: vgl. ebd., 2.
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schau mit der Einführung des Ton lms ab 1930 über das Potenzial verfügte, öffentliche Meinung wesentlich mitzuprägen. 106 Vielleicht zeichnet sich ein Trend zur politischen Appellfunktion und Emotionalisierung schon früher, in den enthusiastischen Zwischentiteln des noch stummen Films über die Unterzeichnung der Locarno-Verträge von 1925 ab. Auf der Ebene der Montage ist wie im Spiel lm eine zunehmende Komplexität und Dynamik erkennbar. 107 Während 1919 noch längere Einstellungen wirken, ist es im Falle des Abessinienkrieges oder der Godesberger Konferenz schon die Bildfolge, die eine unmittelbare Nachbarschaft von Krieg und Frieden, Angst und Hoffnung suggeriert. Auf die ießenden Übergänge zwischen Dokumentar- und Spiel lm, die beide mit Mitteln der Inszenierung arbeiten, hat Eugen P ster zu Recht hingewiesen. 108 Das Beispiel der Sudetenkrise zeigt, dass die Wochenschau wie andere Medien gerade durch die scheinbare Herstellung von Publizität in der Lage war, das Arkanum des politischen Krisenmanagements abzusichern: Die Stilisierung Chamberlains zum einsamen „Friedensretter“ trug wie zeitgenössisch bereits gesehen zur phasenweisen Immunisierung seiner Deutschlandpolitik bei – Harrisson und Madge zufolge wurde er wie eine „son-deity“ wahrgenommen, „who descends among the wicked to save them.“ 109 Dass die Regierung der Wochenschau zumindest in Krisenzeiten die Aufgabe einer das Arkanum schützenden Inszenierung von Wirklichkeit zudachte, geht aus dem scharfen Vorgehen gegen die kritische Paramount-Wochenschau vom 22. September 1938 klar hervor. 110
106 Vgl. Pronay: British Newsreels in the 1930s: Audience and Producers [1971], 139. 107 Zur Montage: Beil /Kühnel /Neuhaus: Studienhandbuch Filmanalyse, 109–154; Etmanski: Das Deutschlandbild in der polnischen Wochenschau, 35 f. Zur Parallelität der Entwicklung lmischer Mittel in Spiel lm und Wochenschau: Pfister: Europa im Bild, 34–36 und 72. 108 Vgl. ebd., 72 (im Rekurs auf Gernot Heiß und Uta Schwarz). 109 Vgl. Madge/Harrisson: Britain by Mass-Observation, 64; zu religiösen Formen der Verehrung Chamberlains: vgl. ebd., 82; zu der mit Selbstisolation einhergehenden Immunisierung seiner Politik durch Pressemanipulation: vgl. Cockett: Twilight of Truth, 190 f. 110 Möglicherweise überschätzte die Regierung die propagandistische Kraft der Wochenschau: Der Propagandacharakter der Wochenschau wurde vom Publikum teilweise erkannt und rief Misstrauen hervor. Vgl. Len England [LE]: Mass Observation File Report 22. Content of Newsreels. LE 28. 1. 40, zit. nach dem Digitalisat des BUFVC unter URL: http://bufvc.ac. uk/wp-content/media/2009/06/mo_report_22.pdf (zuletzt abgerufen 24. 2. 2015).
Markus Meckl
Einführung Die normative Verfallsperspektive in Jürgen Habermas' Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ hat vonseiten der Geschichtswissenschaft viel Kritik erfahren. 1 Habermas' Hauptaugenmerk galt der historischen Entwicklung einer kritischen Öffentlichkeit, und er kam dabei zu dem Schluss, dass die „Tendenzen de[s] Zerfalls der Öffentlichkeit unverkennbar [sind]: während sich ihre Sphäre immer großartiger erweitert, wird ihre Funktion immer kraftloser.“ 2 Diese These kann mit Blick auf die vorliegenden Beiträge für die Außenpolitik revidiert werden. Die drei Beiträge legen genau das Gegenteil nahe: Die Öffentlichkeit entwickelt sich in diesen Zeitraum zu einer immer mächtiger werdenden Komponente der Außenpolitik. Lisa Dittrich Aufsatz „Vom Anspruch auf Einspruch zur Kontrollinstanz – die europäische Öffentlichkeit als Akteur von Außenbeziehungen im 19. Jahrhundert“ untersucht diese Entwicklung anhand dreier Fallbeispiele: der MortaraAffäre im Jahre 1858, des Ersten Vatikanums (1869/1870) und der Hinrichtung des Francisco Ferrer durch die spanische Regierung im Jahre 1909. Stephanie Seul befasst sich in ihrem Aufsatz „Diplomatie und Propaganda als komplementäre Säulen in Chamberlains Appeasement-Politik, 1938–1940“ mit dem Versuch Chamberlains, Ein uss auf die deutsche Öffentlichkeit zu nehmen, und Hermann Wentkers Aufsatz „Massenmedien und Öffentlichkeit als Faktoren der Politik: Der Gorbatschow-Effekt, die westdeutsche Meinungsbildung und die Politik der Regierung Kohl – Genscher (1985–1989)“ zeigt auf, wie die öffentliche Wahrnehmung von Gorbatschow einen maßgeblichen Ein uss auf die Innenpolitik der alten Bundesrepublik genommen hat. Die drei Aufsätze mit ihren fünf
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Vgl. bilanzierend Andreas Gestrich: Jürgen Habermas' Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit: Bedeutung und Kritik aus historischer Perspektive. In: Clemens Zimmermann (Hrsg.): Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten und Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Sigmaringen 2006, 25–40. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt am Main 1990, 57.
286 Markus Meckl
Fallbeispielen geben so einen schönen Überblick über die Entwicklung und den zunehmenden Ein uss der Öffentlichkeit im Spiel der Außenpolitik. Als im Jahre 1858 dem jüdischen Ehepaar in Bologna ihr sechs Jahre alter Sohn auf Betreiben der katholischen Kirche entwendet wurde, um ihn christlich zu erziehen, griffen Medien in Europa die Geschichte auf, um das Geschehnis „vor das Tribunal der öffentlichen Meinung Europas [zu] zitier[en]“, 3 jedoch war der Ein uss dieser europäischen Öffentlichkeit in der Affäre noch beschränkt, und neben dieser sich konstituierenden europäischen öffentlichen Meinung spielten traditionelle Formen der Einmischung noch eine gewichtige Rolle, wie zum Beispiel die Fürsprache. Doch schon in ihrem zweiten Fallbeispiel, dem Ersten Vatikanischen Konzil im Jahre 1869/1870, kann Dittrich aufzeigen, wie Regierungen bereits bewusst die Öffentlichkeit suchten, um Ein uss auf den Ausgang des Konzils zu nehmen. So nutzte zum Beispiel Otto von Bismarck die Süddeutsche Zeitung, um in einem Artikel seine Überlegungen zum Konzil darzulegen und auf diesem Weg Ein uss auf den Ausgang zu nehmen. Die zunehmende Bedeutung der Öffentlichkeit lässt sich daran ablesen, dass der Kirchenstaat sich genötigt sah, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen und eine aktive Öffentlichkeitspolitik zu betreiben. In ihrem dritten Beispiel untersucht die Autorin die Folgen der Hinrichtung des spanischen Freidenkers Francisco Ferrer y Guardia im Jahre 1909. Die technologischen Verbesserungen durch das Telegrafennetz in der Nachrichtenübermittlung führten dazu, dass die Gerichtsverhandlung und Hinrichtung in Europa „live“ verfolgt werden konnte und Dittrich das Berliner Tagblatt treffend zitieren kann: „heute geht alles schneller, bei Hus oder Bruno hat es Wochen, Monate, Jahre gedauert, bis man es wusste [. . . ]. Wie anders heute. Am Morgen war Ferrer von den spanischen Jesuitenknechten erschossen – und schon am Abend des nämlichen Tages hallte die Welt wieder von Kundgebungen [. . . ]. Die öffentliche Meinung von heute kann Schritt halten mit den Ereignissen.“ 4 Diese öffentliche Meinung erringt hier auch einen Erfolg, wenn der spanische König den Rücktritt seines Ministerpräsidenten mit dem Argument akzeptiert, dass „Maura nicht gegen halb Spanien und halb Europa zu halten gewesen sei“. Die zunehmende Bedeutung der Öffentlichkeit als Adressat der Außenpolitik im 20. Jahrhundert wird deutlich, wenn Neville Chamberlain im Rahmen seiner Appeasement-Politik versuchte, durch den Rundfunk direkten Ein uss auf die deutsche Öffentlichkeit zu nehmen, in der offensichtlichen Annahme, in ihr einen potenziell wichtigen Verbündeten gegen Hitlers Kriegspolitik gewinnen 3 4
Journal des Débats, 29. 9.1858. Zitiert nach Dittrich. Berliner Tageblatt, 16. 10. 1909, Abendausgabe. Zitiert nach Dittrich.
Einführung 287
zu können. Stand bei Stephanie Seul im Mittelpunkt ihrer Arbeit Chamberlains Versuch, mit dieser öffentlichen Meinung Außenpolitik zu betreiben, so richtet sich der Augenmerk von Hermann Wentker auf die Reaktion der Bundesregierung, die gegen das positive Bild Gorbatschows in der westdeutschen Öffentlichkeit anzugehen versuchte. Hier im Falle Gorbatschow ist die Öffentlichkeit längst zu einem leitenden Akteur in der Außenpolitik aufgestiegen, wenn Helmut Kohl resigniert feststellen musste: „Wir müssen endlich aus der Lage rauskommen, dass der Gorbatschow fortdauernd irgendwo ein Ei ablegt und wir verharren auf der westlichen Seite.“ 5 Wentker macht in seinen Beitrag deutlich, in welchem Ausmaß die westdeutsche Regierung ihre Politik auf ein durch die Medien geprägtes Bild Gorbatschows ausrichten musste und die Öffentlichkeit zum Akteur wurde. Helmut Kohl beschwerte sich über diese „Gorbatschow-Euphorie“ 6 in der Bundesrepublik, der er gezwungenermaßen Rechnung tragen musste. Es war, wie Wentker darlegte, ebenjene „Gorbi-Manie“, die dazu führte, dass die geplante Verlängerung des Grundwehrdienstes ausgesetzt wurde. Wenn die öffentliche Meinung jedoch von einer Euphorie getragen wird, dann hat sie grundsätzlich eine irrationale Komponente. Im Falle Montara war es eine kritische Öffentlichkeit, die für sich reklamierte, im Namen der Aufklärung zu sprechen, während am Ende des 20. Jahrhunderts dieser Anspruch längst verblasste. Die kritische Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts wird zur „soft power“ im Spielball der internationalen Beziehungen. So lässt sich zur Verteidigung von Jürgen Habermas anhand dieser Beispiele eben auch bilanzieren, dass diese Öffentlichkeit zwar fern davon ist, immer kraftloser zu werden, sie jedoch immer weniger eine kritische ist.
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Protokoll der Fraktionssitzung am 25. 4. 1989, ACDP, 08-001-1089/2. Zitiert nach Wentker. Helmut Kohl: Berichte zur Lage 1982–1989. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands, bearb. von Günter Buchstab und Hans-Otto Kleinmann. Düsseldorf 2014, 21.11. 1988, 673. Zitiert nach Wentker.
Lisa Dittrich
Vom Anspruch auf Einspruch zur Kontrollinstanz Die europäische Öffentlichkeit als Akteur von Außenbeziehungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
„Der Sturz Mauras ist ein Sieg [. . . ] der öffentlichen Meinung der Gebildeten und des freiheitlichen denkenden Europas.“ 1 Mit dieser Einschätzung der Rolle von Öffentlichkeit kommentierten die Sozialistischen Monatshefte Ende Oktober 1909 den Rücktritt des spanischen Ministerpräsidenten Antonio Maura y Montaner (1853–1925). Der Regierungschef el über die juristische Verfolgung und Hinrichtung Francisco Ferrers y Guardia (1859–1909), die breite nationale und internationale Proteste auslösten. Der Ein uss, den die sozialistische Zeitschrift der europäischen Öffentlichkeit zuwies und den diese in diesem Fall in der Tat ausübte, muss als ein Produkt struktureller Veränderungen in Politik und Medien gesehen werden. Auch wenn Öffentlichkeit bereits seit der Frühen Neuzeit eine Instanz war, die in Außenbeziehungen eine Rolle spielte, wurde sie doch erst im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem eigenständigen Faktor. Dies gilt nicht nur national, sondern auch grenzüberschreitend. Zum einen gewann die Idee der Öffentlichkeit im ausgehenden 18. Jahrhundert als Bezugspunkt für die politische Legitimation und die Repräsentation breiterer Bevölkerungsteile oder des ganzen Volkes an Bedeutung. 2 Zum anderen erhöhte die realpolitische und mediale Entwicklung im 19. Jahrhundert, insbesondere in seiner zweiten Hälfte, den potenziellen Ein uss von Öffentlichkeit in Außenbeziehungen. Die zunehmende Parlamentarisierung, Demokratisierung und Fundamentalpolitisierung der europäischen Staaten verstärkten den Legitimationsdruck gegenüber 1 2
Sozialistische Monatshefte 13 (1909), 1404. Vgl. Lucian Hölscher: „Öffentlichkeit“. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4. Stuttgart 1978, 413–467, hier 446–463; Jörn Leonhard: Interesse der Völker und bürgerliche Glückseligkeit? Außenpolitik und Öffentlichkeit in Europa 1792–1815. In: Andreas Klinger /Hans-Werner Hahn/Georg Schmidt (Hrsg.): Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen. Köln, Weimar, Wien 2008, 151–167.
Vom Anspruch auf Einspruch zur Kontrollinstanz 289
der Öffentlichkeit auch im internationalen Rahmen. Grundlage dafür war die Abnahme repressiver Pressepolitik, aber auch der zunehmende Anspruch von Öffentlichkeit, auch in der Außenpolitik zu partizipieren. Darüber hinaus veränderten die entstehende Massenpresse sowie die zunehmende Vernetzung durch Telegra e und verbesserte Verkehrsbedingungen den Charakter von Öffentlichkeit. 3 Die Forschung hat bislang unterschiedliche Formen und Funktionsweisen von Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert herausgearbeitet. Mit Blick auf Außenbeziehungen dominierten lange Zeit inhaltlich ausgerichtete Studien von Presse sowie im deutschen Fall die Perspektive auf Ein ussnahmen auf und Repression von Öffentlichkeit durch Politik. 4 Erst in der neueren Mediengeschichte und in der kulturgeschichtlich geprägten Politikgeschichte werden Medien als Gestalter von Wirklichkeit und ihre Interaktion mit Außenpolitik in den Blick genommen. In dieser Perspektive wurden besonders das Wechselverhältnis der Regierungen und der Diplomatie mit der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit untersucht, 5 die medialen Akteure in den Mittelpunkt gerückt 6 sowie einzelne Momente und Phasen beleuchtet, wobei der Übergang zum beginnenden massenmedialen Zeitalter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vernachlässigt wurde. 7 Auch die euro-
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Vgl. Friedrich Kiessling: (Welt-)Öffentlichkeit. In: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hrsg.): Dimensionen internationaler Geschichte. München 2012, 85–106; Frank Bösch /Peter Hoeres: Im Bann der Öffentlichkeit? Der Wandel der Außenpolitik im Medienzeitalter. In: dies. (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2013, 7–35, hier 20–24. Vgl. z. B. Opinion publique et politique extérieure. 1870–1915, Colloque organisé par l'École française de Rome et le Centro per gli studi di politica estera e opinione publica de l'Université de Milan. Rome, 13–16 fevrier 1980 Bd. 1. Rom 1981; allgemein zur Forschung Dominik Geppert: Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts in London, 64). München 2007, 5–10; Kiessling: (Welt-)Öffentlichkeit, 86 und Bösch/ Hoeres: Im Bann der Öffentlichkeit, 9–12. Vgl. z. B. Friedrich Kiessling: Das Paradox der Geheimdiplomatie. Of zielle Außenpolitik und Öffentlichkeit vor 1914. In: Frank Bösch /Peter Hoeres (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2013, 73–94; Andreas Rose: Der politische Raum Londons und die öffentlichen Beziehungen zwischen England und Deutschland vor 1914. In: ebd., 95–121. Vgl. z. B. Ute Daniel (Hrsg.): Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert. Göttingen 2006; Frank Bösch /Dominik Geppert (Hrsg.): Journalists as Political Actors. Transfers and Interactions between Britain and Germany since the late 19th Century (Beiträge zur England-Forschung, 59). Augsburg 2008. Vgl. z. B. Geppert: Pressekriege; Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914 (Veröffentlichungen des Deut-
290 Lisa Dittrich
päische Öffentlichkeit als Gegenstand historischer Analyse wurde jenseits der Integration der Europäischen Union nur anhand einzelner Ereignisse oder Phasen untersucht. 8 Eine systematische Untersuchung der Interaktion von Medien und Öffentlichkeit mit außenpolitischen Akteuren, die die längeren Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert nachzeichnet, steht noch aus. Diese Forschungslücke kann selbstverständlich auch dieser Aufsatz nicht füllen, aber er möchte anhand exemplarischer Mikrostudien eine diachrone Skizze entwerfen, die die Veränderungen von Öffentlichkeit im aufkommenden massenmedialen Zeitalter in ihrer europäischen Dimension in den Mittelpunkt rückt. Die folgenden Ausführungen werden analysieren, wie sich europäische Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstituierte, welche strukturellen Wandlungsprozesse sie durchlief und wie sich dadurch ihre Rolle innerhalb von Außenbeziehungen veränderte. Es wird gezeigt, dass in der Folge des zweiten Strukturwandels 9 eine europäische Öffentlichkeit als Appellations- und Kontrollinstanz von Außenbeziehungen agieren konnte und dabei andere Formen – beispielsweise Fürsprache – als Handlungsformen ablöste. 10 Die klassische Erzählung eines zunehmenden Einusses im nationalen Rahmen galt auch für die europäische Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Dies bedeutet nicht, anzunehmen, dass die politischen Akteure sich nicht gegen diese Einmischung wehrten. Die neuere Forschung hat herausgearbeitet, dass außenpolitische Akteure neue Formen der Instrumentalisierung und Lenkung entwickelten und Maßnahmen suchten, sich dem Ein uss zu entziehen. 11 Dennoch war die Macht, die europäische Öffentlichkeit auch über die
schen Historischen Instituts in London, 65). München 2009, 225–327; Thomas Schaarschmidt: Außenpolitik und öffentliche Meinung in Großbritannien während des deutschfranzösischen Krieges von 1870/71. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1993. 8 Vgl. Jörg Requate /Martin Schulze Wessel (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main, New York 2002. 9 Dieser Begriff ist dem Konzept von Jürgen Habermas entlehnt, übernimmt im Folgenden aber nicht dessen normative Wertung und umfasst auch andere strukturelle Veränderungen. Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt am Main 1990; für die Begriffsbildung z. B. Bernd Weisbrod: Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 9 (2001), 270–283, hier 271. 10 Vgl. dagegen Kiessling: (Welt-)Öffentlichkeit, 98. 11 Vgl. z. B. Kiessling: Das Paradox der Geheimdiplomatie; Bösch/Hoeres: Im Bann der Öffentlichkeit, 12–13.
Vom Anspruch auf Einspruch zur Kontrollinstanz 291
Grenzen hinweg ausübte, zum Teil so groß, dass Außenpolitik ihr nicht entgehen konnte. Der bis hier nicht weiter erläuterte Begriff der Öffentlichkeit ist schwer zu fassen und seine Operationalisierung für eine historische Analyse insbesondere im europäischen Rahmen muss problematisiert werden. Bei aller Schwierigkeit stellt das Konzept dennoch ein sinnvolles Analyseinstrument dar, denn es erlaubt, Medien, insbesondere Massenmedien, als intermediäres Kommunikationssystem zwischen Gesellschaft und Politik auch über nationale Grenzen hinweg zu analysieren und als kollektiven Akteur von Außenbeziehungen zu fassen. In vielen, gerade älteren Untersuchungen von Medien wird in der Analyse ein Schwerpunkt auf die Inhaltsseite gelegt und die der Rezeption vernachlässigt. 12 Der Aufsatz möchte dagegen Medien nicht nur als Sender bestimmter Nachrichten untersuchen, sondern auch die Aufnahme dieser Nachrichten und damit die zweite Seite der Kommunikation berücksichtigen. Ein systemtheoretischer Öffentlichkeitsbegriff ermöglicht dies. Ausgehend von der De nition von Öffentlichkeit als empirisch nachweisbare, öffentlich zugängliche kommunikative Vernetzung verschiedener Akteure schließt er neben der massenmedialen auch andere Formen der Öffentlichkeit, wie die der persönlichen Begegnung oder der öffentlichen Versammlungen, mit ein und lässt so die Rezeption von Presse und Publizistik nachvollziehen. 13 Um eine europäische Öffentlichkeit konstatieren zu können, müssen also die grenzüberschreitenden Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse der Medien innerhalb Europas nachgewiesen werden. Die als kommunikative Vernetzung konzeptualisierte Öffentlichkeit zerfällt jedoch bei genauerer empirischer Betrachtung. Die Einheit von Öffentlichkeit ist nur greifbar in Form von inhaltlich, politisch, sozial oder national divergenten Teilöffentlichkeiten, die sich in spezi schen Momenten konstituieren und vernetzen. Zudem ist der europäische Rahmen zunächst nur ein gesetzter. Deshalb soll die folgende Darstellung nicht nur die europäische Dimension der Vernetzung untersuchen, sondern es soll auch ihr Verhältnis zu anderen Bezugsrahmen, wie den nationalen und außereuropäischen, analysiert werden.
12 Vgl. z. B. Eckhardt Fuchs /Günther Fuchs: Die Affäre Dreyfus im Spiegel der Berliner Presse. In: Julius H. Schoeps /Hermann Simon (Hrsg.): Dreyfus und die Folgen. Berlin 1995, 51–80; Priska Jones: Europa in der Karikatur. Deutsche und britische Darstellungen im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main, New York 2009. 13 Vgl. Jürgen Gerhards /Friedhelm Neidhardt: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze. In: Stefan Müller-Doohm/Klaus NeumannBraun (Hrsg.): Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie. Oldenburg 1991, 31–89, hier 50–56.
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Systemtheoretische Konzepte denken Öffentlichkeit als ein intermediäres System gesellschaftlicher Selbstverständigung. Die Idee der Öffentlichkeit, wie sie im 18. Jahrhundert entstand, war jedoch auch immer normativ aufgeladen. Darauf aufbauend hat Jürgen Habermas sein bis heute die Debatten prägendes Konzept von Öffentlichkeit entwickelt. Er geht von einer funktionierenden Öffentlichkeit aus, wenn die öffentliche Meinung als kritische Instanz agiert. Der Habermas'sche Idealtypus einer herrschaftsfreien Sphäre der rationalen Kritik richtet den Blick jedoch ausschließlich auf bestimmte Funktionsweisen von Öffentlichkeit, schließt andere Formen von vorneherein aus und berücksichtigt nicht den umkämpften Charakter von Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. 14 Für das im Folgenden verwendete Konzept werde ich die normative Bestimmung des Habermas'schen Modells deshalb umdeuten. In diesem Beitrag wird nicht aus der Warte des historischen Betrachters nach der kritischen Funktion von Öffentlichkeit gefragt, sondern das Selbstverständnis der historischen Akteure als solch eine Instanz im europäischen Rahmen untersucht. Dabei wird nicht nur der Begriff ‚Öffentlichkeit` als Indikator herangezogen, sondern auch andere Konzepte wie ‚öffentliche Meinung` oder ‚Europa` werden berücksichtigt, die eine kritische europäische Gemeinschaft imaginierten und mit dem Anspruch auf Einspruch artikuliert wurden. So kann die normative Seite von Öffentlichkeit historisiert werden sowie das Problem eines schwer fassbaren uiden Kommunikationszusammenhanges überwunden und zugleich die vorgestellte Einheit von Öffentlichkeit als Appellations- und Kontrollinstanz greifbar gemacht werden. 15 Auch das europäische Selbstverständnis der Akteure soll in einem zweiten Schritt dann mit dem nationalen und außereuropäischen Bezugsrahmen in Beziehung gesetzt werden, um den Stellenwert des ersten einschätzen zu können. Mittels der Kombination beider Öffentlichkeitsbegriffe (der empirisch nachweisbaren kommunikativen Vernetzung und des Selbstverständnisses der Akteure als Öffentlichkeit) werden Medien als kommunikative Mittler zwischen Gesellschaft und Politik sowie als kollektive Einheit und selbstbewusster Akteur sichtbar. Um ihre Rolle in der Außenpolitik zu bewerten, muss schließlich die Frage analysiert werden, inwieweit die real konstituierte und imaginierte Öffentlichkeit Ein uss auf die Politik nahm. 14 Vgl. Craig J. Calhoun (Hrsg.): Habermas and the Public Sphere. Cambridge, Mass. 1999; Harold Mah: Phantasies of the Public Sphere: Rethinking the Habermas of Historians. In: The Journal of Modern History 72 (2000), 153–182; Andreas Gestrich: The Public Sphere and the Habermas Debate. In: German History 24 (2006), 413–430. 15 Vgl. zum Begriff der Appellationsinstanz und dem doppelten Öffentlichkeitsbegriff Jörg Requate /Martin Schulze Wessel: Europäische Öffentlichkeit: Realität und Imagination einer appellativen Instanz. In: dies.: Europäische Öffentlichkeit, 11–39.
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Die Analyse des Wandels von Öffentlichkeit und ihrer Rolle wird im folgenden Aufsatz anhand dreier Fälle aus den Kulturkämpfen vollzogen, in denen das Verhältnis von Staat, Kirchen, Gesellschaft und Religion neu bestimmt wurde. In den Kon ikten traten antiklerikale und antikatholische Akteure aus ganz Europa durch ihre Medien in Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche, aber auch mit verschiedenen nationalen Regierungen. Die im Folgenden untersuchte europäische Öffentlichkeit stellt insofern vor allem die antiklerikale Teilöffentlichkeit dar. Zudem wird der Schwerpunkt in der Analyse auf Deutschland, Frankreich und Spanien liegen. Die drei ausgewählten Fälle sind über die zweite Hälfte des langen 19. Jahrhunderts verteilt und markieren in chronologischer Reihenfolge den Aufbau des Aufsatzes: die Entführung des jüdischen Jungen Edgardo Mortara (1858), das Erste Vatikanum (1869/1870) sowie die bereits erwähnte Hinrichtung Francisco Ferrers durch die spanische Regierung 1909.
I. Anspruch auf Einspruch – die Mortara-Affäre Im Juni 1858 entwendeten päpstliche Gendarmen in Bologna auf Befehl der lokalen Kirchenoberen einem jüdischen Ehepaar dessen sechs Jahre alten Sohn Edgardo Mortara (1851–1940), der angeblich Jahre zuvor von einer Dienstmagd getauft worden war. Der Kirchenstaat, zu dem Bologna damals noch gehörte, erhob Anspruch, das Kind im christlichen Sinne zu erziehen, und brachte den Jungen nach Rom. 16 Die Mortaras wandten sich daraufhin an die lokale jüdische Gemeinde, die die Geschichte an andere jüdische Gemeinden und Vertretungen in ganz Europa berichtete, mit der Bitte, an die jeweilige Regierung und Presse heranzutreten. 17 Daraufhin entspann sich eine breite Berichterstattung bis Ende des Jahres 1858. Liberale, republikanische und jüdische Zeitungen und Zeitschriften schrieben über das Schicksal des Jungen sowie das Bemühen der Eltern, ihren Sohn wiederzubekommen, und empörten sich über das Vorgehen des Kirchenstaates, während die katholische Presse das Vorgehen des Kirchenstaates verteidigte. Die Kritiker beriefen sich auf die Verfügungsgewalt des Vaters über sein Kind und davon ausgehend wurden allgemeine Fragen des Staat-Kirchen-Verhältnis-
16 Vgl. für die Abläufe David I. Kertzer: Die Entführung des Edgardo Mortara. Ein Kind in der Gewalt des Vatikans. München, Wien 1998, 13–27, 64–76. 17 Vgl. Kertzer: Die Entführung, 77–124, 142–204, 227–331, 257–271; Gemma Volli: Il caso Mortara nell'opinione pubblica e nella politica del tempo. In: Bollettino del Museo del Risorgimento 5 (1960), 1087–1152, hier 1120 f.
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ses debattiert. 18 Die Presse berichtete gemeinsam mit einer entstehenden Publizistik zur Affäre über die Reaktionen ausländischer Regierungen, 19 informierte über die Berichterstattung jenseits der nationalen Grenzen 20 sowie andere Protestformen 21 und verwickelte sich ansatzweise in Diskussion mit Zeitungen in anderen Ländern. 22 In den USA entstand als Folge der Medienrezeption eine regelrechte Versammlungsbewegung, in der Juden und Protestanten das Schicksal des italienischen Jungen diskutierten und die katholische Kirche kritisierten. 23 Die agitierende Öffentlichkeit bestand dabei insgesamt vor allem aus Journalisten und Intellektuellen. Bei aller transnationalen Vernetzung spielte der nationale Bezugsrahmen zugleich eine wichtige Rolle. So entwickelte sich die einzige länger andauernde Debatte ausschließlich innerhalb der französischen Presselandschaft. Hier tauschten die liberalen und republikanischen Blätter über mehrere Wochen mit dem ultramontanen L'Univers Polemiken aus. 24 Zudem bezogen sich die Presseorgane oft aus Not auf ausländische Veröffentlichungen, da sie nur schwer über andere Kanäle an Informationen gelangten. 25 Die Berichterstatter artikulierten den Anspruch auf Einmischung in eine nichtnationale Angelegenheit und schufen als Rechtfertigung dafür eine Gemeinschaftsvorstellung. Sie bezogen sich immer wieder auf Europa als Orientierungs-
18 Vgl. Lisa Dittrich: Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848–1914). Göttingen, Bristol, CT 2014, 150–152, 156–171. 19 Vgl. z. B. Le Siècle, 25. 11.1858; Journal des Débats, 17.11. 1858; El Estado, 22. 10. 1858; Clamor Público, 21. 10. 1858; Nationalzeitung, 23. 10. 1858; Allgemeine Zeitung des Judentums 23 (1859), 24–25. 20 Vgl. z. B. Le Siècle, 2. 10. 1858; Archives Israélites 19 (1858), 653 f.; Las Novedades, 13.11. 1858; El Estado, 23. 10. 1858; Clamor Público, 22. 10. 1858; Nationalzeitung, 27.10. 1858; Volkszeitung, 24. 10. 1858. 21 Vgl. z. B. Archives Israélites 19 (1858), 66, 715, 20 (1859), 104–107; Clamor Público, 22. 10. 1858; Vossische Zeitung, 6. 10. 1858; Kölnische Zeitung, 1. 11.1858; Allgemeine Zeitung des Judentums 22 (1858), 601–603, 636 f. 22 Vgl. z. B. Le Siècle, 24. 11. 1858; Journal des Débats, 29. 9.1858; Schwäbischer Merkur, 25. 11. 1858. 23 Vgl. Bertram Wallace Korn: The American Reaction to The Mortara Case 1858–1859. Cincinnati 1957, 21–79; Morris U. Schappes: A Documentary History of the Jews in the United States. 1654–1875. New York 1952, 385–392, 674–676; Timothy Verhoeven: Transatlantic Anti-Catholicism. France and the United States in the Nineteenth Century. Basingstoke, New York 2010, 57–74. 24 Vgl. Le Siècle, 23. 11. 1858; La Patrie, 28. 10. 1858; Journal des Débats, 20. 10. 1858; zum L'Univers Natalie Isser: The Mortara Affair and Louis Veuillot. In: Proceedings of the Annual Meeting of the Western Society for French History 7 (1979), 69–78. 25 Vgl. z. B. Le Siècle, 20. 10. 1858 und La Discusión, 22. 10. 1858.
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instanz. Die Affäre „wurde vor das Tribunal der öffentlichen Meinung Europas zitiert“ 26. Dabei verbanden die Journalisten und Publizisten Europa mit spezi schen Werten und konstituierten so eine gemeinsame Kultur. Weltumspannende Gemeinschaftsvorstellungen wurden auch evoziert, aber sie wurden zumeist mit weiteren Attributen wie „zivilisiert“ oder „gebildet“ weiter eingegrenzt. 27 Außerdem wurde die Rezeption in den USA kaum wahrgenommen, sodass man davon ausgehen kann, dass auch der Bezug auf die ganze Welt zumeist nur Europa meinte. Die Protestierenden forderten das Naturrecht, Gewissensfreiheit und eine Moral ein, die auf dem menschlichen Gewissen und nicht auf kirchlichen Setzungen beruhte. 28 Grundlage der imaginierten Gemeinschaft waren geteilte Emotionen; 29 die Entführung rief „peinliche Gefühle“ 30 und „Entrüstung in Europa“ 31 hervor. Auch hinsichtlich des kollektiven Selbstverständnisses der Akteure spielte der nationale Bezugsrahmen eine Rolle. Die Affäre wurde etwa in Frankreich dazu genutzt, die nationale Religionspolitik und Modelle der Trennung von Staat und Kirche zu diskutieren. 32 Innerhalb der außenpolitischen Verwicklungen in der Mortara-Affäre spielte die mobilisierte und so evozierte europäische Öffentlichkeit wegen der vorherrschenden Haltung der politischen Akteure nur eine begrenzte Rolle. Sowohl die katholische Kirche als auch die nationalen Regierungen bildeten im Laufe des 19. Jahrhunderts nur zögerlich eine systematische positive Presse- und Informationspolitik aus und begannen erst nach und nach die Öffentlichkeit als Mitspieler auf dem internationalen Parkett anzuerkennen. Repressive und inof zielle
26 Journal des Débats, 29. 9. 1858. Diese und alle folgenden Übersetzungen stammen von der Verfasserin des Artikels. 27 Vgl. Journal des Débats, 18. 10. 1858; La Presse, 12. 10. 1858; La Discusión, 25. 10. 1858; Clamor Público, 31. 10. 1858; Vossische Zeitung, 6. 10. 1858; Augsburger Allgemeine Zeitung, 23. 11. 1858. 28 Vgl. für das Naturrecht z. B. Journal des Débats, 20. 10. 1858; Archives Israélites 19 (1858), 678–686; Clamor Público, 21. 11. 1858; Augsburger Allgemeine Zeitung, 7.11. 1858; Schwäbischer Merkur, 9. 11. 1858; für Gewissensfreiheit Le Siècle, 27.10. 1858; La Presse, 5. 11. 1858; Augsburger Allgemeine Zeitung, 18. 10. 1858; Allgemeine Zeitung des Judentums 23 (1859), 82; für das Moralverständnis Le Siècle, 18. 10. 1858; Monde Maçonnique 1 (1858), 314; Clamor Público, 23. 10. 1858, La Iberia, 2. 11. 1858; Volkszeitung, 16. 10. 1858; Augsburger Allgemeine Zeitung, 18. 10. 1858; Allgemeine Zeitung des Judentums 22 (1858), 556. 29 Vgl. Le Siècle, 18. 10. 1858; Journal des Débats, 12. 10. 1858; La Discusión, 8. 11. 1858; Clamor Público, 11. 11. 1858; Allgemeine Zeitung des Judentums 22 (1858), 489. 30 La Presse, 9.7. 1858. 31 Clamor Público, 7. 11.1858. 32 Vgl. z. B. Le Siècle, 20. 10. 1858; La Presse, 12. 10. 1858.
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Formen der Ein ussnahme blieben zentral. 33 Trotz der relativ weitreichenden Mobilisierung von spezi schen gesellschaftlichen Gruppen in den USA reagierte etwa die dortige Regierung in der Mortara-Affäre nicht, weil sie ihrerseits als Folge eines of ziellen Protests eine internationale Einmischung in die Sklavenfrage befürchtete. 34 Auch die anderen Regierungen exponierten sich zum größten Teil nicht. Weil sie sich als protestantische Mächte keine Hoffnungen auf Einuss machten, wurden weder Großbritannien noch Preußen aktiv. Nur inof zielle Reaktionen können beobachtet werden; Frankreich, Piemont, Österreich, die Niederlande, Belgien und Württemberg sprachen mit ihren jeweiligen Vertretern am Heiligen Stuhl vor. 35 In den verschiedenen Reaktionen wird deutlich, dass der öffentliche Druck nicht maßgebend war und die politische Entscheidung, Ein uss zu nehmen, auch durch andere Faktoren bestimmt wurde. Dennoch war die Öffentlichkeit 1858 in gewissem Maße in die außenpolitischen Verwicklungen involviert. Im Falle des Kirchenstaates kann man einen indirekten Ein uss der Presseproteste beobachten, aber insgesamt waren seine Reaktionen von einer ambivalenten Haltung gegenüber den Medien geprägt, die Mitte des Jahrhunderts die
33 Vgl. dazu zu den deutschen Ländern z. B. Wolfgang Piereth: Propaganda im 19. Jahrhundert. Die Anfänge aktiver staatlicher Pressepolitik in Deutschland (1800–1871). In: Ute Daniel/Wolfram Siemann (Hrsg.): Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung (1789–1989). Frankfurt am Main 1994, 21–43; Abigail Green: Intervening in the Public Sphere: German Governments and the Press, 1815–1870. In: The Historical Journal 44 (2001), 155–175; Gunda Stöber: Pressepolitik als Notwendigkeit. Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit im wilhelminischen Deutschland 1890–1914. Stuttgart 2000; Martin Kohlrausch: Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie. Berlin 2005; zur katholischen Kirche z. B. Christopher Clark: The New Catholicism and the European Culture Wars. In: ders./ Wolfram Kaiser (Hrsg.): Culture Wars. Secular-Catholic Con ict in Nineteenth-Century Europe. Cambridge, New York 2003, 11–46, hier 23–35; Vincent Viaene: „Wagging the dog“: an Introduction to Vatican Press Policy in an Age of Democracy and Imperialism. In: ders. (Hrsg.): The Papacy and the New World Order. Vatican Diplomacy, Catholic Opinion and International Politics at the Time of Leo XIII. Löwen 2005, 323–349; Kurt Koszyk: Geschichte der deutschen Presse. Bd. 2: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. Berlin 1966, 162–184; Solange Hibbs-Lissorgues: Iglesia, prensa y sociedad en España. (1868–1904). Alicante 1995, 353–429; Stefanie Middendorf: Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880–1980. Göttingen 2009, 127–155. 34 Vgl. Korn: The American Reaction, 88–89. 35 Vgl. Raphael Langham: The Reaction in England to the Kidnapping of Edgardo Mortara. In: Jewish Historical Studies 39 (2004), 79–101, hier 87–90; Kertzer: Die Entführung, 65 f.; Volli: Il caso Mortara, 1109 f.; Josef Meisl: Beiträge zum Fall Mortara (1858). In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 77 (1933), 321–338.
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katholische Kirche weitgehend bestimmte. Grundsätzlich rückte Rom nicht von seiner alten Machtstellung und der Idee der allein selig machenden Kirche ab. Der Kirchenstaat beobachtete jedoch die kritische Presse zur Mortara-Affäre. 36 Die katholischen Presseorgane selbst schwiegen zunächst zu dem Fall. Man wollte wohl die aufgeheizte Stimmung nicht noch weiter anfachen. Erst mit einiger Verspätung begann eine Verteidigungskampagne, die das Verhalten Roms mit dem Kirchenrecht begründete. Zögerlich meldeten sich zunächst einige katholische Presseorgane im September. Erst ab Oktober forcierte man eine systematische und zum Teil gelenkte Berichterstattung, wobei der semiof zielle Civiltà Cattolica als Schrittmacher fungierte und die Kurie selbst einzelne Artikel über Mittelsmänner in katholischen Zeitungen drucken ließ. Darüber hinaus bereitete Rom einen of ziellen Bericht vor, den man den Nuntien zur Verfügung stellte, damit diese die jeweilige nationale Presse instruierten. Der ursprünglich geplante Druck der Schrift wurde jedoch nie umgesetzt. Er war als Antwort auf eine geplante Schrift des Vaters von Mortara gedacht, die selbst wiederum nie erschien, sodass der Kirchenstaat auch von einer öffentlichen Darlegung seiner Position absah. 37 Zugleich wurde in Spanien auf bestimmte Presseorgane Druck über den Nuntius und die Regierung ausgeübt, damit diese ihre kritische Berichterstattung unterließen. 38 Das Verhalten des Kirchenstaats war also vollkommen reaktiv; Rom betrieb in der Mortara-Affäre keine systematische proaktive Pressepolitik. Als zweites Beispiel soll das Verhalten der französischen Regierung skizziert werden, die insbesondere auf den Druck der nationalen Öffentlichkeit reagierte. Das Regime Napoleons III. (1808–1873) war in seiner Haltung in der MortaraAffäre insgesamt ambivalent. Der Kaiser selbst verurteilte das Vorgehen des Kirchenstaates und zeigte dies auch in der Öffentlichkeit dadurch, dass er 1860 mit seiner Gattin die Premiere eines kritischen Theaterstückes besuchte, das die Geschichte aufarbeitete. So verwundert es nicht, dass das Regime durch den Botschafter am Heiligen Stuhl, Antoine Alfred Agénor Herzog de Gramont (1819– 1880), aktiv wurde und auf inof ziellem Weg eine Rückführung des Kindes zu
36 Vgl. Gianfranco Miletto: Der Mortarafall vor dem Beginn der Einheit Italiens. Neue Urkunden aus dem Vatikanischen Archiv. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 45 (1993), 1–17, hier 1; Kertzer: Die Entführung, 197. 37 Vgl. Martin Zöller: Publizistik und Protest im Fall Mortara (1858). Kulturkämpfe und jüdische Emanzipation im Spiegel eines „Kinderraubes“. Magisterarbeit. Ludwig-Maximilians-Universität München. München 2005, 22; Meisl: Fall Mortara, 327, 334; Miletto: Der Mortarafall, 6–9; Kertzer: Die Entführung, 110–112, 141 f., 198 f., 206–208, 230–256. 38 Vgl. Kertzer: Die Entführung, 197.
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erreichen suchte. 39 Zugleich wollte der Kaiser nicht das Wohlwollen der Katholiken an den Wahlurnen herausfordern und hat wohl deshalb keinen of ziellen öffentlichen Einspruch erhoben. 40 Als die Diskussionen zwischen liberalen französischen Blättern und dem ultramontanen L'Univers derartig hochkochten, dass sie die Form eines interreligiösen Streits annahmen, unterband der Kaiser Ende November auf informellem Weg jede weitere Diskussion in der Tagespresse. 41 Napoleon III. bedachte wegen des seit 1848 eingeführten allgemeinen Männerwahlrechts die französische Öffentlichkeit und machte Politik in der Öffentlichkeit, als er bei der Premiere erschien. Zugleich ließ er die öffentlichen Debatten aber auch nur in gewissem Rahmen zu und grenzte Öffentlichkeit ein. Schließlich ließ er sich auf die Forderungen nach Intervention nicht of ziell ein, die die französische Presse als einzige artikulierte. 42 In der Mortara-Affäre nahm also vor allem eine nationale Öffentlichkeit, die transnational vernetzt war, Ein uss auf die französische Regierung. Die Rolle von Öffentlichkeit war 1858 begrenzt. Stattdessen spielte eine andere Form der Einmischung inof zieller Akteure von Außenbeziehungen eine zentrale Rolle: die Fürsprache. Fürsprache ist ein Kommunikationsmittel, das insbesondere in korporativen Gesellschaften verbreitet und stark von hierarchischen Verhältnissen und Abhängigkeiten geprägt ist. 43 Aber auch dieses Mittel unterlag einem Wandel. Bittschriften schrieben die Mortaras, jüdische Gemeinden und Vertretungen in ganz Europa, protestantische Organisationen wie etwa die Evangelische Allianz und prominente Personen wie Vertreter der Familie Rothschild. Die Adressaten waren Regierungen, der Kardinalstaatssekretär Giacomo Antonelli (1806–1876) oder der Papst selbst. 44 An diesen Bittschriften zeigt sich, dass
39 Vgl. zur Politik Frankreichs Kertzer: Die Entführung, 191–197; Volli: Il caso Mortara, 1109 f.; dies.: Il caso Mortara (nel primo centenario). In: Rassegna mensile di Israel 26 (1960), 29–39, 108–112, 149–157, 214–221, 274–279, hier 153–157; zum Theaterstück ebd., 219; dies.: Il caso Mortara, 1123; Victor M. Séjour: La tireuse de cartes. Drame en cinq actes et un prologue, en prose. Paris 1860. 40 Vgl. z. B. Langham: The Reaction, 100 f.; Miletto: Der Mortarafall, 2–11, 13, 17; Kertzer: Die Entführung, 274f. 41 Vgl. Le Siècle, 22. 11. 1858; Miletto: Der Mortarafall, 17. 42 Vgl. z. B. Le Siècle, 20. 10. 1958; La Presse, 18. 10. 1858; Journal des Débats, 29. 9.1858. 43 Vgl. François Guesnet: Strukturwandel im Gebrauch der Öffentlichkeit: Zu einem Aspekt jüdischer politischer Praxis 1744 und 1881. In: Requate/Schulze Wessel: Europäische Öffentlichkeit, 43–62, hier 45–52; Lex Heerma van Voss: Introduction. In: ders. (Hrsg.): Petitions in Social History (International Review of Social History, Supplement 9). Cambridge, New York 2002, 1–10. 44 Vgl. Volli: Il caso Mortara, 1102–1108, 1111–1120; Gaston Braive: Un choc psychologique révélateur avant la guerre d'Italie: l'affaire Mortara. Les répercussions en Belgique (juilllet –
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zunehmend auch bei der Fürsprache die Öffentlichkeit eingeschaltet wurde. Man veröffentlichte die Texte auch jenseits der jeweiligen nationalen Grenzen, um den Schreiben zusätzlichen Druck zu verleihen. 45 In der Mortara-Affäre bestand also eine Koexistenz beider Formen der Ein ussnahme inof zieller Akteure in Außenpolitik.
II. Geduldeter und kontrollierter Kommentator – das Erste Vatikanische Konzil Das Erste Vatikanische Konzil tagte vom 8. Dezember 1869 bis zum 20. Juli 1870. Seine Arbeit blieb wegen der Sommerunterbrechung und dem ausbrechenden Deutsch-Französischen Krieg ein Torso. Eigentlich sollte nichts weniger als die Verfassung der Kirche sowie deren Stellung zur Welt neu bestimmt werden. 46 Die Bischöfe diskutierten vieles, verabschiedeten jedoch nur eine Konstitution über das Verhältnis von Glaube und Vernunft. Ferner wurde die Unfehlbarkeit des Papstes dogmatisiert – was den Schlussstein des ultramontanen Kirchenmodells darstellte. 47 Zunächst war das Erste Vatikanische Konzil ein Ereignis der katholischen Welt, die die Kirchenversammlung gespannt beobachtete und kommentierte. 48 Aber auch Antiklerikale und Antikatholiken reagierten auf das Ereignis. Wegen der Dogmatisierung der Unfehlbarkeit und der Debatten über das Verhältnis von Staat und Kirche traten als Kritiker der Versammlung nicht nur liberale Katholiken, sondern auch liberale Politiker und Journalisten, Republikaner, Demokraten, Sozialisten, Freimaurer, Freireligiöse, Juden und Protestanten auf. Sie beobachteten die Vorgänge und Diskussionen auf dem Konzil und lancierten eine breite Kritik an der Kirche, die sich zunehmend ultramontan ausrichtete. Als Folge der Nachrichtenrezeption veranstalteten nicht nur die Katholiken Versammlungen zum Konzil, sondern auch die kritischen Gruppen, die ein besonderes Interesse an religiösen Fragen hatten: Protestanten und Frei-
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décembre 1858). In: Risorgimento 8 (1965), 49–82, hier 75; Langham: The Reaction, 80–87, 94–96. Vgl. z. B. Journal des Débats, 20. 10. 1858; Univers Israélite 14 (1858/1859), 282–283; Allgemeine Zeitschrift des Judentums 23 (1859), 10 f. Vgl. Roger Aubert: Vaticanum I. Mainz 1965; Klaus Schatz: Vaticanum I. 1869–1870. 3 Bde. Paderborn, München, Wien, Zürich 1992–1994. Vgl. Aubert: Vaticanum I, 150–296; Klaus Schatz: Das Erste Vatikanum. In: Manfred Weitlauff (Hrsg.): Kirche im 19. Jahrhundert. Regensburg 1998, 140–161, hier 146–157; ders.: Vaticanum I. 1869–1870. Bd. 2: Von der Eröffnung bis zur Konstitution „Dei Filius“. Paderborn, München, Wien, Zürich 1993, 121–130. Vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 185–187.
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religiöse organisierten Treffen, auf denen Vorträge gehalten und Petitionen sowie Erklärungen verfasst wurden. Dabei mischten sich sowohl in den Versammlungen als auch in der Presse und der umfangreichen Konzilspublizistik weiterhin vorwiegend Journalisten und Intellektuelle sowie jetzt auch Priester und Pastoren aktiv ein. 49 Zugleich zeigen jedoch vereinzelte lokale Proteste jenseits der Medien, dass das Konzil durchaus auch breitere Bevölkerungsteile mobilisierte: Katholische Handwerker protestierten etwa in Forchheim in Franken gegen die Veröffentlichung einer kritischen Karikatur zum Konzil, die der örtliche Buchhändler ausgestellt hatte, mit so großer Vehemenz, dass die dortige Regierung zur Beruhigung der Lage sogar Soldaten einsetzte. 50 Die Öffentlichkeit war insofern zwar sozial breiter aufgestellt als 1858, zugleich verdeutlichen die Versammlungen, dass 1869/1870 insbesondere politisch und sozial separierte Teilöffentlichkeiten agitierten. Die sich konstituierende Öffentlichkeit hatte deutlich transnationalen Charakter. Die Kritiker beobachteten das Konzil und die Diskussionen in der katholischen Welt, die Reaktionen der nationalen Regierungen sowie sich gegenseitig und nahmen aufeinander Bezug. 51 Die Vernetzung war in Einzelfällen nicht nur medial. In Reaktion auf das Konzil fand neben Versammlungen mit nationalem und lokalem Charakter die erste internationale Konferenz von Freidenkern statt. Zum sogenannten Antikonzil, zu dem der demokratische Publizist und Abgeordnete Giuseppe Ricciardi (1808–1882) aufgerufen hatte, reisten Freidenker aus elf Ländern nach Neapel. 52 Die Vernetzungen, die in der Presse und in dieser Versammlung zu konstatieren sind, waren europäischer Natur, gingen aber zum Teil auch über den Kontinent hinaus. Die transnationale Orientierung der
49 Vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 187–191, 201–212. 50 Vgl. Josef Urban: Kleinstadtwirbel um ein „Schandbild“. Die „Forchheimer Revolution“ am Vorabend des 1. Vatikanischen Konzils. In: Unser Bayern 30 (1981), 13–15; ders.: Die Bamberger Kirche in Auseinandersetzung mit dem Ersten Vatikanischen Konzil. Bd. 1. Bamberg 1982, 296–301; ders.: Eine „Caricatur vom Zeitgeist und vom Papst“. In: Helmut Baier (Hrsg.): Kirche in Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Referate und Fachvorträge des 6. Internationalen Kirchenarchivtags, Rom 1991. Neustadt an der Aisch 1992, 41– 57. 51 Vgl. für die Beobachtung der katholischen Reaktionen Le National, 14. 5. 1869; Revue de Deux Mondes, 2. Periode, 86 (1869), 169f.; La Igualdad, 1. 10. 1869; La Discusión, 25. 2. 1870; Vossische Zeitung, 31.10. 1869; Süddeutsche Zeitung, 2. 10. 1869; die der Regierungen La Marseillaise, 12. 2. 1869; Le National, 11.12. 1869; Volkszeitung, 4. 3. 1870; Augsburger Allgemeine Zeitung, 19.3. 1870; die gegenseitigen Bezugnahmen Réforme politique et sociale, 19. 2. 1870; Le National, 14. 2. 1870; La Igualdad, 10. 2.1870; República Ibérica, 16. 2. 1870; Volkszeitung, 5. 2. 1870; Augsburger Allgemeine Zeitung, 9. 2. 1870. 52 Vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 206–212.
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Berichterstattung ist besonders auf die Geheimhaltung der Debatten im Vatikan zurückzuführen. Zwar war die transnationale Berichterstattung zur Zeit des Vatikanums durch die Zunahme neuer Informationskanäle grundsätzlich leichter. So übermittelten 1869/1870 die nach Rom gesandten Korrespondenten Nachrichten von der Versammlung oder die Journalisten griffen auf das stetig sich ausweitende Netz der Agenturen zurück. 53 Aber wegen der Politik des Kirchenstaates mussten die Kritiker auch oft ausländische Presseorgane heranziehen, um überhaupt an Informationen zu gelangen. 54 Zugleich zeigten sich nationale Differenzen in der Rezeption des Ereignisses, die auf Unterschiede in der jeweiligen politischen Situation zurückzuführen sind. So wurde dem Konzil etwa in Spanien weniger Aufmerksamkeit zuteil, obwohl im Zuge der Revolution von 1868 Pressefreiheit gewährt worden war, die generell durchaus ausgenutzt wurde. 55 Die revolutionären Geschehnisse nahmen die spanische Öffentlichkeit wahrscheinlich derart in Anspruch, dass das Interesse an der Versammlung in Rom geringer aus el. Die Kirchenkritiker verstanden sich auch 1869/1870 als europäische Öffentlichkeit: „Die öffentliche Meinung, die den überkommenen Versuch des Jesuitismus, seine Herrschaft über die Welt zu stärken, kaum ernst zu nehmen schien, beginnt sich zu regen.“ 56 Europa als positiver Bezugspunkt einer gedachten Zivilisationsgemeinschaft spielte jedoch eine geringere Rolle als 1858, zentral war vielmehr die Idee einer Staatengemeinschaft und des gemeinsamen Protestes. 57 Das Konzil als transnationales Ereignis wurde aber auch zum Anlass genommen, nationale Fragen des Kirchen- und Staatsrechts zu diskutieren und spezi sche Vorstellungen der Nation zu propagieren: So evozierten die deutschen Kritiker in
53 Vgl. z. B. für die Korrespondenten Le Temps, 8. 6. 1870; El Imparcial, 28. 12. 1869; Vossische Zeitung, 18. 12.1869; für die Depeschen Le National, 25. 6. 1870; La Discusión, 25. 6. 1869; allgemein zur Entwicklung der Nachrichtenagenturen Thomas Siebold: Zur Geschichte und Struktur der Weltnachrichtenordnung. In: Reiner Steinweg (Hrsg.): Medienmacht im Nord-Süd-Kon ikt. Die neue internationale Informationsordnung. Frankfurt am Main 1984, 45–93. 54 Vgl. zur Geheimhaltung Schatz: Vaticanum I, Bd. 2, 219; zur Informationsbeschaffung Réforme politique et sociale, 19. 2. 1870; Le National, 14. 2. 1870; La Igualdad, 10. 2. 1870; República Ibérica, 16. 2. 1870, Volkszeitung, 5. 2. 1870; Augsburger Allgemeine Zeitung, 9. 2. 1870. 55 Vgl. zur Pressefreiheit María Dolores Sáiz /María Cruz Seoane: Historia del periodismo en España. El siglo XIX. Bd. 2. 2. Au . Madrid 1989, 266–268. 56 Le National, 27. 12. 1869; weitere Verwendungen z. B. in Le Siècle, 28. 11. 1869; El Pueblo, 10. 3.1870; El Imparcial, 16. 3. 1869; Bauhütte 12 (1869), 380. 57 Vgl. z. B. Le Rappel, 1. 3.1870; Le Siècle, 18. 2. 1870; Volkszeitung, 31. 10. 1869; Augsburger Allgemeine Zeitung, 14. 3. 1870.
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der Berichterstattung in direktem Vorlauf vor der Einigung das Bild einer protestantischen deutschen Nation im Gegensatz zur kritisierten katholischen Kirche. 58 Und nach Beendigung der Debatten diskutierten sie anlässlich des Schismas der Altkatholiken, die das Unfehlbarkeitsdogma nicht annehmen wollten, erste Reformvorhaben für das Verhältnis von Staat und Kirche, die zum Teil im Kulturkampf umgesetzt werden sollten. 59 Zugleich spielte die Öffentlichkeit in den internationalen Verwicklungen, die das Konzil mit sich brachte, eine größere Rolle. Die Bischofskonferenz war neben einem katholischen Ereignis auch ein zwischenstaatliches. 60 Die europäischen Regierungen nahmen unterschiedliche Position zum Konzil ein und es gab vor allem zwei diplomatische Initiativen eines konzertierten Protests gegen die Vorgänge auf dem Konzil. Zum einen versuchte der bayerische Ministerpräsident Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819–1901) zu Beginn der Versammlung erfolglos, ein gemeinsames Vorgehen mit anderen europäischen Mächten und die Entsendung eines Sonderbotschafters nach Rom zu initiieren. 61 Zum anderen protestierte die französische Regierung of ziell im Frühjahr 1870 gegen die Debatten über die Unfehlbarkeit sowie das Kirchenschema und erhielt hier Unterstützung von Bayern, Spanien, Preußen, Österreich und Portugal. 62 Das Kirchenschema sollte Ideen des Syllabus errorum von 1864 aufgreifen und Religionsfreiheit, die Trennung von Staat und Kirche sowie das staatliche Schulmonopol anathemisieren. 63 In den Aktionen der Regierungen wird deut58 Vgl. z. B. Volkszeitung, 18. 3.1870; Frankfurter Zeitung, 10. 6. 1870; Augsburger Allgemeine Zeitung, 8. 2. 1870. 59 Vgl. z. B. Paul Hinschius: Die Stellung der deutschen Staatsregierungen gegenüber den Beschlüssen des vatikanischen Koncils. Berlin 1871; Volkszeitung, 8. 10. 1871; Augsburger Allgemeine Zeitung, 19.12. 1871. 60 Vgl. Aubert: Vaticanum I, 101–108, 201–215; Klaus Schatz: Vaticanum I. 1869–1870. Bd. 1: Vor der Eröffnung. Paderborn, München, Wien, Zürich 1992, 275–286; ders.: Vaticanum I, Bd. 2, 281–310; Victor Conzemius: Preussen und das Erste Vatikanische Konzil. In: Annuarium Historiae Conciliorum 2 (1970), 353–419; Jesús Martín Tejedor: España y el Concilio Vaticano I. In: Hispania Sacra 20 (1967), 99–175, hier 109–115; Francisco Martí Gilabert: La cuestión religiosa en la Revolución de 1868–1874. Madrid 1989, 147–149; Gustav Seibt: Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt. Berlin 2001, 41– 43, 151. 61 Vgl. Aubert: Vaticanum I, 103–107; Schatz: Vaticanum I, Bd. 1, 275–282; Margot Weber: Das I. Vatikanische Konzil im Spiegel der bayerischen Politik. München 1970. 62 Vgl. Klaus Weber: Der moderne Staat und die katholische Kirche. Laizistische Tendenzen im staatlichen Leben der Dritten Französischen Republik, des Dritten Deutschen Reiches und der Volksrepublik Polen. Essen 1967, 25 f.; Schatz: Vaticanum I, Bd. 2, 293–310; Paul Christophe: Le Concile Vatican I. Paris 2000, 40–42. 63 Vgl. Schatz: Vaticanum I. Bd. 2, 121–130.
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lich, dass Öffentlichkeit mittlerweile als ein Mitspieler akzeptiert wurde – die Regierungen rechneten mit dem Ein uss von Öffentlichkeit, welche das Vorgehen ersterer kommentierte. Eigentlich standen die Aktivitäten der Regierungen jenseits der Öffentlichkeit, dennoch wurde diese zunehmend involviert. Regierungen beobachteten die Stimmung der Öffentlichkeit, und zwar nicht nur die jeweils nationale. So verfolgte die französische Regierung sehr genau die nationale, aber auch die deutsche Presse. 64 Über Diskussionen in den Parlamenten, wie die jeweilige Regierung sich zu verhalten habe, gelangten die politischen Überlegungen und Positionen an die Öffentlichkeit. 65 Und Regierungen nutzten in spezi schen Fällen die Öffentlichkeit, um stärkeren Druck auszuüben. Otto von Bismarck (1815–1898) lancierte zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung den Entwurf des Kirchenschemas. 66 Zugleich war die Instanz Öffentlichkeit nach wie vor nicht als eigenständiger Akteur anerkannt, denn Repressionen waren durchaus noch üblich. 67 Insgesamt war es auch im Fall des Konzils insbesondere die jeweilige nationale Öffentlichkeit, die Politiker berücksichtigten. Die Ambivalenz im Umgang mit den Medien zeigte sich noch stärker in der Politik des Kirchenstaates. Von Beginn an beobachtete auch Rom die Berichterstattung und die katholische Presse begleitete mit Kommentaren die Vorbereitungen und den Ablauf des Konzils. 68 Of ziell galt aber die Geheimhaltung der Beratungen im Kirchenstaat, welcher die in Rom ein- und ausgehenden Informationen streng kontrollierte. 69 Diese Politik scheiterte jedoch, weil die Journalisten über verschiedene Kanäle (Drucker oder Diplomaten) Informationen erhielten. Selbst Prälaten umgingen die Vorgaben, um für ihre jeweilige Position Stimmung zu machen. Die Folge der Geheimhaltung war Misstrauen und Gerüchtebildung. Der Druck wurde schließlich so groß, dass der Kirchenstaat
64 Vgl. Archives Nationales de France, Ministère de Culte, F/19/1939–1942. 65 Vgl. Moniteur Of ciel, 11. 7.1868; Journal Of ciel, 10. 4. 1869, 25. 12.1869, 12. 1. 1870; Diario de Sesiones, Serie histórica, Bd. 14, 4025 f., 4588–4590; Le National, 27.12. 1869; Le Siècle, 27.12. 1869; El Pueblo, 8. 3.1870; Correspondencia de España, 17. 12. 1869; Volkszeitung, 7.12. 1869; Nationalzeitung, 13. 1. 1870; Augsburger Allgemeine Zeitung, 20. 2. 1870. 66 Vgl. Conzemius: Preussen, 259, 387. 67 Vgl. Libre Pensée, 23. 7.1869; L'Excommunié, 11. 9. 1869, 25. 3.1870; Weber: Das I. Vatikanische Konzil, 61; Urban: Caricatur, 43. 68 Vgl. zur Pressebeobachtung Schatz: Vaticanum I, Bd. 2, 208 f.; Massimo Fiore: L'anticoncilio di Napoli del 1869 tra le visioni del libero pensiero e la realtà del clerico-moderatismo. In: Chiesa e religiosità in Italia dopo l'unità (1861–1878). Communicazioni II, Bd. 4. Mailand 1973, 341–350, hier 349; zur katholischen Mobilisierung Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 185–187. 69 Vgl. Fußnote 54.
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eine neue Strategie wählte. 70 Er richtete ein Pressebüro ein, das er mit Bischöfen unterschiedlicher Positionen besetzte. Diese lasen die kritische Presse und stellten Informationen für Gegendarstellungen zusammen, die einmal in der Woche an ausgewählte Korrespondenten in ganz Europa und Lateinamerika verschickt wurden. Zugleich befreite man einzelne Bischöfe von der Schweigep icht, damit sie konkret Nachrichten lancieren konnten. 71 Dieser Strategiewechsel zeigt, wie der Druck der Medien den Kirchenstaat zu einer anderen Öffentlichkeitspolitik zwang.
III. Eigenständiger Mitspieler und erfolgreiche Einmischung – der Fall Ferrer Am 13. Oktober 1909 wurde Francisco Ferrer, ein Freidenker und libertärer Pädagoge, in Barcelona hingerichtet, weil er beschuldigt wurde, die antiklerikalen Unruhen im Juli desselben Jahres in der Hauptstadt Kataloniens angeführt zu haben. 72 Vor seiner Hinrichtung wandten sich Ferrer selbst und sein näheres Umfeld in Spanien und in Frankreich an die Presse im In- und Ausland. Daraufhin erhob sich, wie eingangs bereits erläutert, weltweit in der Presse und auf der Straße Protest. Sogar ein Generalstreik wurde in Italien ausgerufen. 73 Liberale, republikanische, sozialistische und anarchistische Kreise sowie Freidenker und Freimaurer empörten sich über die Verurteilung Ferrers, da man von seiner Unschuld ausging und das juristische Verfahren kritisierte. 74 Zugleich nutzten die Protestierenden den Fall, um gegen die katholische Kirche zu polemisieren,
70 Vgl. zur Gerüchtebildung Réforme politique et sociale, 11. 1. 1870; Le National, 8. 12. 1869; La Igualdad, 23. 2. 1870; La Iberia, 2. 3. 1870; Volkszeitung, 16. 3.1870; Vossische Zeitung, 15. 7.1870; zur Dynamik und zur Einschätzung der Politik Ulrich Nembach: Die Stellung der Evangelischen Kirche und ihrer Presse zum Vatikanischen Konzil. Zürich 1962, 22; Conzemius: Preussen, 387; Weber: Das I. Vatikanische Konzil, 134; Schatz: Vaticanum I, Bd. 2, 219, 289; ders.: Das Erste Vatikanum, 141; Aubert: Vaticanum I, 189–190. 71 Vgl. Schatz: Vaticanum I, Bd. 2, 219–222; Francisco Mateos Gago y Fernández: Colección de Opúsculos. Bd. 2. Sevilla 1877, 9f. 72 Vgl. zu Ferrer Juan Avilés Farré: Francisco Ferrer y Guardia. Pedagogo, anarquista y mártir. Madrid 2006; zu den antiklerikalen Unruhen z. B. Joan Conelly Ullman: La semana trágica. Estudio sobre las causas socioeconómicas del anticlericalismo en España (1898– 1912). Cambridge, Mass. 1968. 73 Vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 219–277. 74 Vgl. z. B. La Lanterne, 7. 9. 1909; Le Matin, 14. 10. 1909; El Progreso, 20. 7. 1910; Berliner Tageblatt, 14. 10. 1909; BZ am Mittag, 15. 10. 1909; Comité de défense des victimes de la répression espagnole: Un martyr des prêtres. Francisco Ferrer (10 janvier 1859–13 octobre 1909). Sa vie – son œuvre. Paris 1909.
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die beschuldigt wurde, Drahtzieher der Verurteilung zu sein. 75 Dieser dritte Fall zeigt, dass sich um die Jahrhundertwende eine ganz neue Dynamik in der Öffentlichkeit entfaltete. Diese neue Dynamik der internationalen Berichterstattung zu Ferrers Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung entstand aus der erhöhten Geschwindigkeit in der Nachrichtenübermittlung und dem stärkeren Druck durch die nun beteiligten Protestmassen. Durch den Ausbau des Telegrafennetzwerks sowie das Aufkommen des Telefons konnten Neuigkeiten nun innerhalb weniger Stunden über Grenzen hinweg verbreitet werden, während Mitte des 19. Jahrhunderts die Übermittlung einer Nachricht noch durchschnittlich mindestens zwei Tage bis zu zwei Wochen gebraucht hatte, je nach Ausgangsort und Ziel. 76 Im Fall Ferrer rätselten die Morgenausgaben vom 13. Oktober noch über den Ausgang des Falls, während Sonderausgaben am Nachmittag über den Vollzug der Hinrichtung berichteten. 77 Die morgens aufgebaute „neugierige Angst“ 78 entlud sich dann etwa in Paris direkt in gewalttätigen Demonstrationen. 79 Die Presse re ektierte diese Schnelligkeit und den Zugewinn an Macht, der der europäischen Öffentlichkeit daraus erwuchs, dass eine politische Gleichzeitigkeit erzeugt wurde. So schrieb das Berliner Tageblatt: „heute geht alles schneller, bei Hus oder Bruno hat es Wochen, Monate, Jahre gedauert, bis man es wusste [. . . ]. Wie anders heute. Am Morgen war Ferrer von den spanischen Jesuitenknechten erschossen – und schon am Abend des nämlichen Tages hallte die Welt wieder von Kundgebungen [. . . ]. Die öffentliche Meinung von heute kann Schritt halten mit den Ereignissen“ 80. Der quantitative Zuwachs der engagierten Öffentlichkeit wird deutlich in den unzähligen Demonstrationen, die der Fall Ferrer hervorrief und die nach konser75 Vgl. z. B. Anarchie, 18. 9. 1909; L'Humanité, 13. 10. 1909; Le Siècle, 15. 10. 1909; Tierra y Libertad, 13. 10. 1910; El Socialista, 23. 10. 1909; El País, 10. 10. 1909; Vorwärts, 29.9. 1909, Morgenausgabe; Frankfurter Zeitung, 17.10. 1909, 3. Morgenausgabe; BZ am Mittag, 13.10. 1909. 76 Informationen zur Mortara-Affäre gelangten aus Paris im Durchschnitt in zwei bis drei Tagen in die deutschen Länder, während der Weg von Italien nach West- und Nordeuropa sogar ein bis zwei Wochen dauerte. Vgl. für den Weg von Paris in die deutschen Länder Volkszeitung, 15. 10. 1858; Nationalzeitung, 20. 10. 1858; für den Weg von Italien nach Frankreich La Presse, 24. 10. 1858 und von Italien nach Deutschland Vossische Zeitung, 11. 11.1858. 77 Vgl. L'Action, 13. 10. 1909; La Lanterne, 13. 10. 1909; Le Temps, 13.10. 1909; Berliner Tageblatt, 13.10. 1909, Morgenausgabe; zu den Sonderausgaben Guerre Sociale, 13.–19.10. 1909, 1. Sondernummer; L'Humanité, 13.10. 1909, Sondernummer. 78 La Lanterne, 13. 10. 1909. 79 Vgl. z. B. Tiidu Peter Park: The European Reaction to the Execution of Francisco Ferrer. Diss. University of Virginia. Ann Arbor, Mich. 1971, 234 f. 80 Berliner Tageblatt, 16. 10. 1909, Abendausgabe.
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vativen Schätzungen wohl bis zu 15.000 oder 20.000 Personen an einem Ort versammeln konnten. 81 Dieser Zuwachs brachte der Öffentlichkeit auch eine neue Qualität, da neue Schichten in größerem Maße für einen solchen Fall mobilisiert wurden. Besonders geschah dies durch die Involvierung der Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften sowie ihrer Presse. 82 Zugleich förderte die Beteiligung der mittlerweile entstandenen Massenpresse die Einbindung breiterer Bevölkerungskreise. 83 Verschiedene weitere Medien demonstrieren darüber hinaus das Bemühen um eine breitenwirksamere Mobilisierung, als traditionelle Presseerzeugnisse sie erzeugten. So entstand ein Film über Ferrer und verschiedene popularisierende Devotionalien, wie Medaillen, Medaillons oder Poster, wurden nach seinem Tod produziert. 84 Persönliche Kommentare derjenigen, die für die Errichtung von Denkmälern zu Ehren Ferrers gespendet hatten, sowie Leserbriefe und Zuschriften an prominente Protestler demonstrieren die Wirksamkeit der Mobilisierung. 85 Es war also nicht nur das mittlerweile in allen drei untersuchten Ländern eingeführte allgemeine Männerwahlrecht, das die Regierungen 81 Vgl. die Diskussion der Zahlen in Vincent Robert: ‚La protestation universelle`. Lors de l'exécution de Ferrer: Les manifestations d'octobre. In: Revue d'histoire moderne et contemporaine 36 (1989), 245–265, hier 255. 82 Vgl. z. B. die Subskriptionsliste des eigens gegründeten Komitees zur Verteidigung Ferrers Park: The European Reaction, 204–210 sowie Jean-Marc Delaunay: La Ligue de défense des droits de l'homme et du citoyen et les affaires espagnoles au début du XXe siècle. In: Relations internationales 131 (2007), 27–38. 83 Vgl. die Beteiligung des Matin, der BZ am Mittag oder des Heraldo de Madrid; zur Entstehung der Massenpresse in den drei Ländern z. B. Pierre Albert: Histoire de la presse. 10. Au . Paris 2003, 32–37, 51, 55–65; Jörg Requate: Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich. Göttingen 1995; Daniel Gossel: Medien und Politik in Deutschland und den USA. Kontrolle, Kon ikt und Kooperation vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Stuttgart 2010, 110–116; María Dolores Sáiz /María Cruz Seoane: Historia del periodismo en España. El siglo XX: 1898–1936. Bd. 3. Madrid 1983, 20–28, 203–206. 84 Vgl. zum Film Corinna Müller: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907–1912. Stuttgart, Weimar 1994, 109, 300; zu den Devotionalien Societé Nouvelle 11 (1909), 166; José Brissa: La revolución de julio en Barcelona. Su Represión, sus víctimas, proceso de Ferrer. Con el informe del scal y el del defensor Señor Galcerán. Recopilación completa de sucesos y comentarios. Barcelona u. a. 1910, 338; Avilés Farré: Francisco Ferrer, 277 f.; Hem Day: Francisco Ferrer, un precurseur. Paris u. a. 1959, 97–99; Francine Best u. a. (Hrsg.): L'affaire Ferrer. Actes du colloque „Les expériences libertaires en France en matière d'éducation au début du siècle“, 14 octobre 1989, Centre National et Musée Jean Jaurès. Castres 1991, 152. 85 Vgl. Bulletin Of ciel de la Ligue des Droits de l'Homme 10 (1910), 212–224, 405 f., 474– 480, 665–669, 759–799, 989–991; El País, 12. 10. 1909; España Nueva, 24. 10. 1909; El Liberal, 7. 10. 1909; Berliner Tageblatt, 15. 10. 1909, Abendausgabe.
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zu einer anderen Haltung gegenüber der Öffentlichkeit führen konnte, sondern in der sich mobilisierenden Öffentlichkeit selbst wurden breite Schichten politisiert und so der Legitimationsdruck zusätzlich erhöht. In der Presse wurden über Wochen Zusammenstellungen von internationalen Pressestimmen und Berichte über die Proteste abgedruckt, wobei der Schwerpunkt auf Europa lag. 86 Auch im Fall Ferrer versuchten die Protestierenden durch den Rückgriff auf die ausländische Berichterstattung zunächst, die durch die Zensur errichteten Barrieren in der Informationsbeschaffung zu umgehen. 87 Darüber hinaus entstand ein gemeinsamer Diskussionsraum, wenn äußerst pointierte Artikel im Ausland abgedruckt und kommentiert wurden. 88 Zugleich zeigten sich auch in der Rezeption des Falls Ferrer nationale Varianten in der Rezeption. Während die Mobilisierung in Frankreich besonders stark ausel, blieb sie in Spanien selbst begrenzt. Der Grund dafür lag in den unterschiedlichen politischen Ausgangssituationen und rechtlichen Rahmenbedingungen. In Frankreich nutzten Republikaner und Sozialisten den Fall, um noch einmal ihre Einigkeit in der republikanischen Wertegemeinschaft zu demonstrieren, die mit der Dreyfus-Affäre entstanden war. 89 In Spanien wurden die Proteste dagegen durch die Repressionen im Nachklang der antiklerikalen Unruhen im Juli beschränkt. 90 Die Zusammenstellungen der internationalen Presse evozierten die Idee einer europäischen Öffentlichkeit, die immer wieder angerufen wurde – die Vorstellung war 1909 noch dominanter als 1858. 91 Die internationale Einmischung in eine nationale Angelegenheit, die die Proteste im Fall Ferrer bedeuteten, wurde 86 Vgl. z. B. Temps Nouveaux, 17.10. 1909; L'Humanité, 9. 10. 1909; Le Matin, 18. 10. 1909; Le Siècle, 21. 10. 1909; El Liberal, 18. 10. 1909; España Nueva, 17. 10. 1909; Vorwärts, 15. 10. 1909; Kölnische Zeitung, 19. 10. 1909, Abendausgabe; Vossische Zeitung, 15. 10. 1909, Abendausgabe; BZ am Mittag, 16. 10. 1909. 87 Vgl. dazu die verschiedenen Formen der Informationsbeschaffung über Privatkorrespondenten, Geschäftsbriefe und Grenzstationskorrespondeten Le Siècle, 8. 9. 1909; Frankfurter Zeitung, 10. 10. 1909; Guerre Social, 13.–19. 10. 1909, 3. Sondernummer; Petit Parisien, 10. 10. 1909. 88 Vgl. z. B. La Lanterne, 16. 10. 1909; España Nueva, 17. 10. 1909; El Imparcial, 14. 10. 1909. 89 Vgl. Alain Boscus: L'affaire Ferrer dans le midi toulousain, d'après la Dépêche et la presse tarnaise. In: Best u. a.: L'affaire Ferrer, 113–134, hier 124–132; zur Dreyfus-Affäre Michel Winock: Le mythe fondateur: l'affaire Dreyfus. In: Serge Berstein u. a. (Hrsg.): Le modèle républicain. Paris 1992, 131–145. 90 Vgl. z. B. Avilés Farré: Francisco Ferrer, 258. 91 Vgl. z. B. Temps Nouveaux, 30. 10. 1909; L'Humanité, 7. 10. 1909; Le Matin, 20. 10. 1909; El Socialista, 29. 10. 1909; Nuevo Régimen, 16. 10. 1909; El Liberal, 17.10. 1909; Der Anarchist, 16. 10. 1909; Sozialistische Monatshefte 13 (1909), 1401–1405; Berliner Tageblatt, 11. 10. 1909, Morgenausgabe; BZ am Mittag, 19.10. 1909.
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mit dem Verweis auf das „universale Gewissen“ 92, auf das Gewissen der „[zivilisierten] Welt“ 93 oder der „öffentlichen Meinung Europas“ 94 gerechtfertigt. Auch hier changierte die Gemeinschaftsvorstellung der protestierenden Öffentlichkeit zwischen Europa und der Welt, wobei erneut der europäische Bezug häu ger war. Zudem wurde ebenso wie 1858 mit dem Bezug auf das gemeinsame Entsetzen und die gemeinsame Wut eine europäische Gefühlsgemeinschaft geschaffen. 95 Dieses „Europa mit Gewissen“ 96 stand für die Sache Ferrers, für eine Erziehung auf der Basis von Vernunft, Rationalismus und Aufklärung, 97 für eine „geistige Befreiung“ vom Ein uss der „Pfaffen“ 98 und gegen das juristische Verfahren wurde Rechtsstaatlichkeit eingefordert. 99 Europa wurde 1909 dies- und jenseits der Pyrenäen in klarer Abgrenzung zu einem in der Vergangenheit verhafteten und barbarischen Spanien konstruiert, das in der Tradition der Leyenda negra als unter dem Joch der Kirche stehend vorgestellt wurde. Der Europabezug wurde also durch nationale Auto- und Heterostereotypen ergänzt. Mit der Leyenda negra bezeichnet man das negative Spanienbild, das auf den Darstellungen der Grausamkeiten während der Eroberung Amerikas, der Verfolgung der Juden und Mauren und der spanischen Inquisition beruhte und seit dem 16. Jahrhundert fortgeschrieben wurde. 100 Die Presseberichterstattung griff auf das Repertoire dieser Erzählungen zurück und grenzte Spanien so immer wieder aus der europäischen Gemeinschaft aus. 101 Die Exklusion nahm auch eine sehr handfeste Dimension an. Bei den antispa92 L'Acacia 24 (1909), 247. 93 Comité de défense des victimes de la répression espagnole: Les Exécutions Sommaires en Espagne. A l'Europe consciente! Oktober 1909, Archives Nationales de France, F/7/13321. 94 Auguste Bertrand: La vérité sur l'affaire Ferrer. Paris 1910, 10 f. 95 Vgl. La Lanterne, 20. 9. 1909; Der Anarchist, 22. 10. 1909; Berliner Tageblatt, 14. 10. 1909, Morgenausgabe. 96 L'Action, 11. 9. 1909. 97 Vgl. Voix du Peuple, 10.–17. 10. 1909; L'Action, 11. 10. 1909; El Socialista, 29. 10. 1909; España Nueva, 19. 10. 1909; Freie Arbeiter, 23.9. 1909; Berliner Tageblatt, 17. 10. 1909. 98 Berliner Tageblatt, 14. 10. 1909, Morgenausgabe. 99 Vgl. Voix du Peuple, 10.–17.10. 1909; La Lanterne, 16. 10. 1909; El Socialista, 22. 10. 1909; El País, 15. 10. 1909; Freie Arbeiter, 16. 10. 1909; Frankfurter Zeitung, 14. 10. 1909, Abendausgabe. 100 Vgl. z. B. Julián Juderías: La leyenda negra. Estudios acerca del concepto de España en el extranjero. Salamanca 2003; Ricardo García Cárcel: La leyenda negra. Historia y opinión. Madrid 1993; Martin Baumeister: Diesseits von Afrika? Konzepte des europäischen Südens. In: Frithjof Benjamin Schenk /Martina Winkler (Hrsg.): Der Süden. Neue Perspektiven auf eine europäische Geschichtsregion. Frankfurt am Main, New York 2007, 23–47. 101 Vgl. z. B. Le Siècle, 9. 9.1909; Der Anarchist, 16. 10. 1909; Vossische Zeitung, 20. 10. 1909, Abendausgabe; zur Ausgrenzung L'Humanité, 13.10. 1909; Le Siècle, 16. 10. 1909; Petit Pari-
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nischen Demonstrationen wurden Flaggen verbrannt, Wappen heruntergerissen sowie Konsulate und Botschaften angegriffen. 102 Ein zeitweiliger Boykott spanischer Waren grenzte Spanien schließlich auch ökonomisch aus, was das Land wirtschaftlich emp ndlich traf. 103 Doch wie reagierten die verschiedenen Regierungen auf die Proteste und was bedeutete dabei der veränderte Charakter der mobilisierten Öffentlichkeit? Auch wenn der Kirchenstaat nicht direkt involviert war, so war er doch durch die Vorwürfe der Mitschuld der katholischen Kirche indirekt angesprochen. Darüber hinaus forderte die Presse Papst Pius X. (1835–1914) zu einem Gnadengesuch auf. 104 Rom reagierte mit einer relativ gut koordinierten und besonnenen Pressepolitik. Der spanische Nuntius schickte Vorschläge für eine Pressekampagne an den Kardinalstaatssekretär, wobei er insbesondere die Idee einer Freimaurerverschwörung artikulierte, die sich bald und wohl auf direktes Betreiben von Rom in der ausländischen katholischen und konservativen Presse wiederfand. 105 Zugleich manifestierte sich aber nach wie vor eine ambivalente Haltung gegenüber der öffentlichen Einmischung. Auf die Forderungen des Gnadengesuchs reagierte Rom zu spät und versuchte zunächst zu eruieren, ob solch eine Bitte auf positive Resonanz bei der spanischen Regierung stoßen würde. 106 Hier interessiert jedoch weniger die Politik selbst, als dass der Vatikan weder seine Bemühungen öffentlich machte noch Vermutungen über seine Aktivitäten korrigierte. Insofern stellte der Kirchenstaat seine Politik nicht unter die imaginierte Kontrollinstanz Öffentlichkeit.
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sien, 14. 10. 1909; El Socialista, 22. 10. 1909; El País, 16. 10. 1909; El Motín, 11. 11.1909; El Liberal, 16. 10. 1909; Vorwärts, 20. 10. 1909; Frankfurter Zeitung, 15. 10. 1909, 2. Morgenausgabe. Vgl. z. B. Archives Nationales de France, Police, F/7/13066. Vgl. Pere Solà Gussinyer: Las consecuencias europeas del fusilamiento de Ferrer i Guàrdia. In: Historia y vida 18 (1985), 31–46, hier 31. Vgl. z. B. El Liberal, 16. 10. 1909 oder España Nueva, 16. 10. 1909. Vgl. Archives Nationales de France, F/7/13066; Ramon Corts i Blay: La Setmana Tràgica de 1909. L'Arxiu Secret Vaticà. Barcelona 2009, 137–144, 163–184, 256–258, 268–272; ders.: Documentació sobre la Setmana Tràgica conservada a l`Arxiu Secret Vaticà. In: Actes de les jornades sobre la Setmana Tràgica (1909). Barcelona, 5, 6 i 7 de maig de 2009. Barcelona 2009, 649–688, hier 671 f.; Jean-Francois Aguinaga: Francisco Ferrer et l'École Moderne de Barcelone. Diss. Université Paris X. Paris 1992–93, 391. Bis heute ist nicht geklärt, ob der Papst wirklich ein Gnadengesuch absandte. Vgl. z. B. Pere Solà Gussinyer: El honor de los estados y los juicios paralelos en el caso Ferrer Guardia. Un cuarto de siglo de historiografía sobre la „Escuela Moderna“ de Barcelona. In: Cuadernos de Historia Contemporánea 26 (2004), 49–75, hier 74; Corts i Blay: La Setmana Tràgica, 159–162, 268.
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Madrid wehrte sich gegen die Proteste und das negative Image, das seine Kritiker im Fall Ferrer schufen. Zunächst griff die spanische Regierung dabei auf traditionelle Formen der Meinungslenkung zurück. Sie behielt das nach den antiklerikalen Unruhen durch die Verhängung des Ausnahmezustandes eingerichtete strenge Zensurregime bei. Um Ein uss auf die ausländische Berichterstattung zu nehmen, wandte sich Madrid an die jeweilige Regierung, damit diese auf ihre nationale Öffentlichkeit einwirke. Diese Bemühungen waren jedoch von geringem Erfolg. So wollte sich etwa Frankreichs Regierung nicht in die spanische Affäre einmischen, um besonders die eigenen Interessen in Katalonien nicht zu gefährden. Zugleich ging Paris aber auch nur sehr verhalten gegen die Proteste vor, um sich durch klare Verbote keine Negativschlagzeilen im Kontext zunehmender Kon ikte mit der im Fall Ferrer besonders aktiven Arbeiterbewegung einzuhandeln und so die Wiederwahl aufs Spiel zu setzen. 107 Insofern beeinusste die nationale Öffentlichkeit auch die Antwort Frankreichs auf die Bitten aus Madrid. Die spanische Regierung verfolgte ihrerseits neben der Repression auch eine positive Pressepolitik. Wie in den Fällen vorher waren die Mittel hierzu die Richtigstellung von Falschmeldungen und das Lancieren von Nachrichten. Ab den 1860er Jahren übten Regierungen verdeckt Ein uss auf die Nachrichtenagenturen und ihre internationale Berichterstattung aus, im Austausch gegen exklusive Informationen und Finanzierung. 108 Diese Beein ussungsform ist auch 1909 nachzuweisen. Die spanische Regierung ließ über die spanische Tochteragentur der Havas, Fabra, beschönigende Nachrichten übermitteln. 109 Darüber hinaus
107 Vgl. zum Druck Park: The European Reaction, 230; Solà Gussinyer: Las consecuencias europeas, 32; Fernando García Sanz: Historia de las relaciones entre España e Italia. Imágenes, comercio y política exterior (1890–1914). Madrid 1994, 347–377; zu den französischen Reaktionen Archives Nationales de France, Police, F/7/13321; Archives de la Préfecture de Police de Paris, BA 1075, BA 1499; Aguinaga: Francisco Ferrer, 219; Solà Gussinyer: Las consecuencias europeas, 31–34; ders.: École nouvelle, libre pensée et anarchisme au début du XXe siècle dans la vie et l'œuvre de Francisco Ferrer. In: Best u. a.: L'affaire Ferrer, 15– 36, hier 18–20; Andrée Bachoud: L'affaire Ferrer ou la France en question. In: Jean-Pierre Etienvre (Hrsg.): España, Francia y la Comunidad Europea, Actas del segundo coloquio hispano-francés de historia contemporánea, celebrado en Aix-en-Provence los días 16, 17 y 18 de junio de 1986. Madrid 1989, 103–113, hier 107 f.; Park: The European Reaction, 599. 108 Vgl. z. B. Siebold: Geschichte und Struktur der Weltnachrichtenordnung; María Antonia Paz Rebollo: Las agencias: España en el ujo internacional. In: Jesús Timoteo Álvarez u. a. (Hrsg.): Historia de los medios de comunicación en España. Periodismo, imagen y publicidad, 1900–1990. Barcelona 1989, 71–81. 109 Vgl. z. B. zur Entlarvung der Falschmeldungen L'Action, 12. 10. 1909; Le Matin, 13. 10. 1909; sowie die Proteste der Havas angesichts dieser Episode Archives Nationales de France, Archives Havas, Série I, 5 AR 95.
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gab Spaniens Regierung nun auch Interviews und zahlte sogar Schmiergelder an bestimmte Presseorgane. Diese beiden Formen der Beein ussung zeigen deutlich, dass die Presse hier als ein eigenständiger Akteur verstanden wurde. Und besonders die Interviews, die der spanische König Alfons XIII. (1886–1941) selbst auch ausländischen Presseorganen gab, verdeutlichen, dass die imaginierte europäische Öffentlichkeit über die Presse zu einem Gesprächspartner innerhalb von Außenbeziehungen geworden war. 110 Der Wandel des Ein usses von Öffentlichkeit in Europa hatte darüber hinaus auch politische Konsequenzen. Nach wochenlangen Protesten wurde im spanischen Parlament am 21. Oktober der Fall Ferrer und die Haltung der Regierung diskutiert. 111 Daraufhin bot Ministerpräsident Maura Ende Oktober dem König seinen Rücktritt an, der diesen annahm. 112 Es ist überliefert, dass auf Nachfrage nach dem Hergang der Geschehnisse der König seine Entscheidung damit erklärte, dass Maura nicht gegen halb Spanien und halb Europa zu halten gewesen sei. 113 Der Anspruch, eine Kontrollinstanz darzustellen, entsprach also 1909 der Realität: Die sich mobilisierende Öffentlichkeit in Europa setzte ein individuelles Schicksal auf die politische Tagesordnung und auch auf ihren Druck hin wurde eine Regierung zum Rücktritt gezwungen. Diese neue Macht schuf ein neues Selbstbewusstsein. Die Protestierenden griffen kaum mehr auf das Mittel der Fürsprache zurück oder wandten sich direkt an die Verantwortlichen, sondern setzten auf den anonymen Druck der Öffentlichkeit. 114
110 Vgl. José Manuel Allendesalazar: La diplomacia española y Marruecos, 1907–1909. Madrid 1990, 233–254; María Antonia Paz Rebollo: El colonialismo informativo de la agencia Havas en España (1870–1940). Diss. Universidad Complutense de Madrid. Madrid 1987, 392–394; García Sanz: Relaciones, 356; Park: The European Reaction, 151; Sol Ferrer: La vie de Francisco Ferrer, un martyr au XXe siècle. Paris 1962, 177 f. 111 Vgl. Diario de Sesiones de Cortes, Legislatura de 1909, 21–84. 112 Vgl. Park: The European Reaction, 170–180; Avilés Farré: Francisco Ferrer, 259–261. 113 Vgl. Pedro Voltes: La Semana Trágica. 1953 [sic!], 26 julio. Madrid 1995, 171. 114 So wurden Begnadigungsgesuche nur vereinzelt gestellt. Vgl. Fußnote 104 und 106; El País, 12. 10. 1909, España Nueva, 12. 10. 1909; Ferrer: Francisco Ferrer, 132; Voltes: Semana Trágica, 191; Park: The European Reaction, 152–154; Luis Miguel Lázaro Lorente: El proceso de Francisco Ferrer Guardia. Repercusiones nacionales e internacionales. In: Tiempo de Historia 7 (1981), 28–41, hier 36; Josep Benet: Maragall i la Setmana Tràgica. 6. Au . Barcelona 1992, 175.
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IV. Europäische Öffentlichkeit als Kontrollinstanz Im Durchgang der drei Fälle haben wir gesehen, dass sich in den europäischen Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts momenthaft eine antiklerikale Öffentlichkeit als kommunikative Vernetzung in Europa konstituierte. Diese stellte in den drei Fällen keine geschlossene Einheit dar. Nicht immer mobilisierte sich die gesamte Kirchenkritik und die verschiedenen Gruppen vernetzten sich nur zum Teil. In den Jahren zwischen 1869/1870 und 1909 vollzog sich in Politik und Medien ein Wandel, der die potenzielle Öffentlichkeit maßgeblich veränderte. Zum einen wurde die Kommunikation durch den Ausbau des Telegrafennetzwerks und insbesondere die Einführung des Telefons beschleunigt – dadurch konnte eine politische Gleichzeitigkeit von Handlungen und ihrer medialen Begleitung auch über nationale Grenzen erreicht werden, die den potenziellen Druck von Öffentlichkeit aufgrund der schnelleren Aktionsmöglichkeiten erhöhte. Zum anderen wurden durch neue Medienformen wie Massenpresse, Filme und popularisierende Devotionalien eine größere Anzahl von Personen und breitere Bevölkerungsteile mobilisiert, was die politische Teilhabe durch das allgemeine Männerwahlrecht unterstützte und den Legitimationsdruck auf politische Akteure noch vergrößerte. Maßgebend war hier auch das Zurückgehen restriktiver Pressepolitik. In der Folge konnte die europäische Öffentlichkeit von einer begleitenden Arena der Kommunikation zu einem eigenständigen und kontrollierenden Akteur in den Außenbeziehungen werden. Die kommunikative Vernetzung der Antiklerikalen war in allen drei Momentaufnahmen von einem Selbstverständnis der Presse und der Publizistik als Öffentlichkeit und als Kontrollinstanz begleitet. Durch eine gemeinsame Empörung konstituierte sich die Öffentlichkeit als europäische Gemeinschaft und artikulierte den Anspruch auf politische Mitsprache. Das uide Kommunikationsnetzwerk wurde in dieser Vorstellung zu einer geschlossenen Einheit. Dabei bestimmten die Öffentlichkeitsakteure darüber hinaus einen spezi schen normativen Kanon, der mit Europa gleichgesetzt wurde und ihren Einspruch rechtfertigte. Europa wurde ein Referenzrahmen, der außenpolitisches Handeln prägen konnte. Mit den ihm inhärenten In- und Exklusionsmechanismen versuchten die Antiklerikalen eine politische Agenda durchzusetzen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts entsprach dieser Anspruch, eine Kontrollinstanz darzustellen, noch nicht der Wirklichkeit. Trotz der transnationalen Vernetzung und der Vorstellung einer europäischen Öffentlichkeit blieb der nationale Bezugsrahmen zentral. Erstens bestimmten strukturelle Differenzen in der politischen Kultur und den rechtlichen Bestimmungen, ob und wie ein Ereignis rezipiert wurde. Zweitens war die Ver-
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netzung im nationalen Rahmen oft stärker, sodass die Berichterstattungen über ein Ereignis jenseits der Grenzen in nationalen Debatten mündeten. Drittens wurden die transnationalen Fälle als Ausgangspunkt für nationale Debatten und für die Konstruktion von Nationsvorstellungen genutzt. Darüber hinaus waren es insbesondere marginalisierte Gruppen, wie die Juden 1858 oder die Antiklerikalen in Spanien 1909, die sich an die europäische Öffentlichkeit wandten, 115 und der Rückgriff auf die ausländische Presse geschah auch aufgrund von fehlender Informationen. Insofern hatte der europäische Bezug auch oft einen kompensatorischen Charakter. Die europäische Öffentlichkeit kann deshalb nicht einfach als Transzendierung der nationalen beschrieben werden. Die Akteure bezogen sich je nach Situation auf die eine oder die andere Ebene. Angesichts dieser Befunde scheint es sinnvoll, das Verhältnis beider Ebenen jeweils im Einzelfall zu bestimmen, um so der Komplexität ihrer Beziehungen gerecht zu werden. 1858 stellten die Öffentlichkeit und damit die involvierten informellen Akteure keine wirkliche Macht dar, sie waren als Mitspieler innerhalb von Außenpolitik noch nicht anerkannt. Eine reaktive Pressepolitik überwog Mitte des Jahrhunderts. Zugleich waren erste Ansätze positiver Ein ussnahmen zu beobachten, was sicherlich auch auf das mancherorts bereits existierende allgemeine Männerwahlrecht zurückzuführen ist. Im Kontext des Konzils spielte Öffentlichkeit als informeller Akteur von Außenbeziehungen eine wichtigere Rolle. Die verschiedenen Regierungen interagierten auf unterschiedliche Weise mit der mobilisierten Öffentlichkeit. Sowohl repressive als auch positive Ein ussversuche sind nachzuweisen und zeigen zugleich, dass Öffentlichkeit eine Instanz darstellte, auf die in gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen gezählt wurde, auch wenn sie als eigenständiger und unabhängiger Akteur noch nicht akzeptiert war. Auch in Hinblick auf den realen Ein uss von Öffentlichkeit auf die Politik blieb der nationale Rahmen zentral. So interagierten die verschiedenen Regierungen vor allem mit ihrer jeweils nationalen Öffentlichkeit. Dies verwundert nicht, da im Zeitalter der Nationalstaaten und mit Ausbreitung des allgemeinen Männerwahlrechts es in erster Linie die nationale Öffentlichkeit war, die die Legitimität der Handlungen von Regierungen anerkennen musste. Nur der Kirchenstaat stellte wegen seiner anderen Verfasstheit, als genuin transnationale Organisation, eine Ausnahme dar und bemühte sich, Öffentlichkeit in ihrer europäischen Dimension zu beein ussen. Erst nach ihrem Strukturwandel lässt sich auch ein nennenswerter Ein uss einer europäischen Öffentlichkeit auf eine einzelne Regierung nachweisen.
115 Vgl. dazu bereits Requate /Schulze Wessel: Europäische Öffentlichkeit, 11–22, 30–39.
314 Lisa Dittrich
Im Fall Ferrer ist in Bezug auf den indirekt involvierten Vatikan weiterhin eine verhaltene Reaktion gegenüber der Presse zu beobachten. Dennoch hatte der Kirchenstaat die Öffentlichkeit mittlerweile als Mitspieler anerkannt, wie seine koordinierte und besonnene Pressepolitik zeigt. Das Verhalten der französischen und der spanischen Regierung zeigt ebenfalls das Fortbestehen von Ambivalenzen. Letztere versuchte, durch repressive und positive Ein ussnahme auch über diplomatische Kanäle auf die Proteste und Berichterstattung einzuwirken. Zugleich konnte die Öffentlichkeit im Fall Ferrer deutliche Erfolge verzeichnen. Sie war ein eigenständiger Akteur, den man nicht vernachlässigen konnte oder für sich gewinnen musste, wie die Interviews und Schmiergelder beweisen. Darüber hinaus kehrte sich die bislang geltende Hierarchie um: Die evozierte europäische Öffentlichkeit stellte sich über die spanische Regierung und konnte helfen, sie zu stürzen. Damit wurde das bereits 1858 proklamierte Selbstverständnis, als Kontrollinstanz zu fungieren, 1909 zur Realität. Der Erfolg der europäischen Kampagne in Spanien belegt auch, dass der zunehmende Ein uss von Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert nicht ausschließlich auf die gewachsene politische Mitbestimmung zurückgeführt werden kann. Vielmehr setzte sich in diesem Fall ein seit langem errichtetes Postulat der Medien nach Ein uss durch. Dafür übten die Öffentlichkeitsakteure nicht nur durch ihre Proteste Druck aus, sondern griffen auch auf Mittel kultureller und wirtschaftlicher Ausgrenzung zurück. Jenseits dieser empirischen Ergebnisse hat der Beitrag mit dem angewandten Konzept einer europäischen Öffentlichkeit ein Analyseinstrument vorgestellt, das die Rolle von Medien in Außenbeziehungen beschreiben lässt. Mit seinen drei Ebenen – der der Vernetzung der Kommunikation, des Selbstverständnisses der Medienakteure als Öffentlichkeit und des europäischen Gemeinschaftscodes sowie der Frage nach den Erfolgen öffentlichen Drucks – vermag das Konzept Ausmaß und Wirkung von Medienkommunikation national und transnational zu analysieren, Medienakteure und ihre Rezipienten als europäisches Kollektiv zu fassen und ihre Rolle in der Außenpolitik zu charakterisieren. Damit ist das Konzept dazu geeignet, die Rolle von Medien mit ihrer transnationalen und europäischen Struktur als informelle Akteure innerhalb von Außenpolitik zu untersuchen, und dies auch über die Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts hinaus.
Stephanie Seul
Diplomatie und Propaganda als komplementäre Säulen in Chamberlains Appeasement-Politik I. Britische Medien und deutsche Öffentlichkeit – unbekannte Akteure der Appeasement-Politik Am 23. Dezember 1938 forderte das Foreign Of ce die BBC auf, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Empfang ihrer deutschsprachigen Nachrichtensendungen auf den deutschen Volksempfängern zu verbessern und die Zahl potenzieller Hörer im Dritten Reich zu erhöhen. Dazu zählte beispielsweise der Einsatz eines zusätzlichen Mittelwellensenders. Sollte es dadurch zu einer vorübergehenden Einschränkung des BBC-Programms für britische Hörer kommen, so sei dies in Kauf zu nehmen, denn: „From the political standpoint, there can be no question that it will be of greater value to use the extra transmitters to make the transmission of the German bulletin more effective than to devote time during that period to home news.“ 1 Wie kam es zu dem Schreiben des Foreign Of ce? Was hatte die BBC mit der britischen Außenpolitik gegenüber dem Dritten Reich zu tun, sodass Whitehall von der Rundfunkgesellschaft verlangen konnte, auf Kosten der gebührenzahlenden britischen Rundfunkhörer ein Nachrichtenprogramm für Hörer im fernen Deutschland auszuweiten, deren Zahl nicht einmal annährend bekannt war? Die britische Außenpolitik vor dem Zweiten Weltkrieg ist mit dem Namen Neville Chamberlains – britischer Premierminister von 1937 bis 1940 – untrennbar verbunden. Mit einer Mischung aus Verhandlungsangeboten und Abschreckungsmaßnahmen zielte sie darauf ab, Hitler zu beschwichtigen und einen europäischen Krieg zu verhindern, dem Großbritannien militärisch kaum gewachsen sein würde. Diese als Appeasement bekannte Politik gipfelte in der Münchener Konferenz vom 29. September 1938, auf welcher Großbritannien und Frankreich der Eingliederung des Sudetenlandes in das Dritte Reich zustimmten, während Hitler im Gegenzug Gewaltverzicht gegenüber der Tschechoslowakei gelobte. In
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Leeper an Graves, 23. 12. 1938 (P 3554/90/159), BBC Written Archives Centre, Caversham, Reading (im Folgenden zit. als BBC WAC), E 9/12/1.
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der Geschichtsschreibung gilt Appeasement als eine außenpolitische Strategie, deren Hauptakteure die britische Regierung und ihre diplomatischen Vertreter waren. Direkte Kontakte zwischen Großbritannien und dem deutschen Volk kommen darin nicht vor. Dass London neben den diplomatischen Verhandlungen mit Berlin gleichzeitig eine Propagandakampagne über die Köpfe der NS-Regierung hinweg an die deutsche Öffentlichkeit richtete, hat die Geschichtsschreibung bisher kaum wahrgenommen und die Bedeutung dieser Kampagne nicht gewürdigt. 2 Auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise, als Hitler Europa in einen Krieg zu stürzen drohte, beschloss das britische Kabinett jedoch, sich über den Rundfunk direkt an die deutsche Bevölkerung zu wenden, um diese über die akute Kriegsgefahr und Chamberlains fortgesetzte Friedensbemühungen aufzuklären. Am Abend des 27. September 1938 strahlte die BBC auf Geheiß der britischen Regierung ihre erste deutschsprachige Sendung aus. Sie bestand aus einer Zusammenfassung des Friedensappells von Präsident Roosevelt an Hitler (der von den NS-Medien nur in einer entschärften Fassung hatte veröffentlicht werden dürfen) sowie der simultanen Übersetzung einer Rundfunkansprache Chamberlains an die britische Nation und das Empire. 3 Chamberlain verurteilte darin zwar Hitlers Ultimatum von Bad Godesberg und unterstrich Großbritanniens militärische Einsatzbereitschaft, sollte Hitler die Sudetengebiete in der Tschechoslowakei gewaltsam annektieren. Zugleich appellierte er jedoch an Hitler und die Deutschen, ihm Zeit zu geben, um einen geordneten Transfer des Sudetenlands an Deutschland zu organisieren. Er bot an, ein drittes Mal nach Deutschland zu iegen, wenn er dadurch einen Krieg verhindern könne, denn: „[. . . ] As long as war has not begun there is always hope that it may be prevented, and you know that
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Die erste umfassende Studie zu Chamberlains Deutschlandpropaganda ist Stephanie Seul: Appeasement und Propaganda 1938–1940. Chamberlains Außenpolitik zwischen NS-Regierung und deutschem Volk. Diss. Europäisches Hochschulinstitut Florenz 2005 (open access: http://cadmus.eui.eu/handle/1814/5977). Vgl. auch Stephanie Seul: Journalists in the service of British foreign policy: The BBC German Service and Chaberlain's appeasement policy, 1938–1939. In: Frank Bösch /Dominik Geppert (Hrsg.): Journalists as Political Actors. Transfers and Interactions between Britain and Germany since the late 19th Century (Beiträge zur England-Forschung, 59). Augsburg 2008, 88–109; Stephanie Seul: „Plain, unvarnished news“? The BBC German Service and British propaganda directed at Nazi Germany, 1938–1940. In: Media History 21 (2015), 378–396. Cabinet 45(38)10, 26. 9. 1938, The National Archives, Kew, London (im Folgenden zit. als TNA), CAB 23/95; Broadcasting of News Bulletins in European Languages, undatiert, BBC WAC, R 1/3/40, G.107/38, 1f.; Seul: Appeasement und Propaganda, 173 f.
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I am going to work for peace to the last moment.“ 4 Dem britischen Rundfunkeinsatz lag die Vorstellung zugrunde, dass sich die deutsche Bevölkerung nach Frieden sehnte und einen mäßigenden Ein uss auf Hitler ausüben könnte, wenn sie von der britischen Haltung erführe. 5 Die Rundfunksendungen auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise sollten keine vereinzelte Episode in den deutsch-britischen Beziehungen bleiben. Zwar konnte der Kon ikt auf der Münchener Konferenz beigelegt werden; das Foreign Of ce informierte jedoch die BBC, „that it was regarded as a matter of national importance that the broadcasts in German [. . . ] should continue without a break and become a permanency.“ 6 In den folgenden Monaten intensivierte London seine Propaganda kontinuierlich: Die Nachrichtensendungen der BBC wurden schrittweise ausgeweitet und politische Kommentare eingeführt. Neben Kurzwellensendern wurden bald auch Mittelwellensender eingesetzt – ein absolutes Novum im internationalen Rundfunk der Zwischenkriegszeit, der ansonsten ausschließlich Kurzwellensender benutzte. 7 Mit dem Einsatz der Mittelwellensender sollte der Empfang auf den populären Volksempfängern 8 sichergestellt und der Kreis potenzieller deutscher Hörer erweitert werden, denn der Volksempfänger war auf den Empfang von Mittel- und Langwellensendungen ausgerichtet. 9 Neben den Rundfunksendungen der BBC probierte die britische Regierung weitere Propagandamedien und -methoden aus, etwa die Verbreitung gedruckter Informationsbroschüren durch die britischen Konsulate und die Botschaft in Berlin 10 oder die (vom britischen Geheimdienst organisierte) Ausstrahlung deutschsprachiger
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To the Nation and Empire. Zeitungsausschnitt aus The Times, 28. 9. 1938, 1, TNA, CAB 21/588; Seul: Appeasement und Propaganda, 1, 170–172. 5 Seul: Appeasement und Propaganda, 165–167, 181 f. 6 Vermerk Warner, 4. 10. 1938, TNA, FO 395/623, P 2868/2645/150. 7 Bereits die erste deutschsprachige BBC-Sendung am 27. September 1938 wurde auf sechs Kurzwellensendern sowie auf allen Mittelwellensendern des Home Service – also auf insgesamt 19 Sendern – ausgestrahlt, um einen guten Empfang in Deutschland sicherzustellen. Es war das erste Mal in der Geschichte des internationalen Rundfunks, dass Mittelwellensender für eine Fremdsprachensendung verwendet wurden. Siehe: Foreign Language News Bulletins Radiated by Daventry, 30. 11.38, BBC WAC, R 34/325; Broadcasting of News Bulletins in European Languages, undatiert, BBC WAC, R 1/3/40, G.107/38, 2. Vgl. auch Seul: Appeasement und Propaganda, 174, 291. 8 Zwischen 1933 und 1943 wurden rund 4,3 Millionen Volksempfänger produziert; jedes dritte Gerät in deutschen Haushalten war ein Volksempfänger. Vgl. Inge Marßolek: Radio in Deutschland 1923–1960. Zur Sozialgeschichte eines Mediums. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 207–239 (hier 217 f.). 9 Seul: Appeasement und Propaganda, 209. 10 Seul: Appeasement und Propaganda, 215–218; 227 f.; 243–246; 303–307.
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Nachrichtensendungen über Radio Luxembourg, einen Privatsender im Großherzogtum Luxemburg, der sich bei den deutschen Hörern großer Beliebtheit erfreute. 11 Allerdings blieb die BBC über den gesamten Zeitraum das wichtigste Medium der britischen Deutschlandpropaganda. Des Weiteren wurden innerhalb des Foreign Of ce und der BBC institutionelle Strukturen zur Herstellung des Propagandamaterials geschaffen. 12 Selbst das britische Kabinett und hochrangige Regierungsmitglieder wie der Außenminister und sein Staatssekretär befassten sich immer wieder persönlich mit organisatorischen und inhaltlichen Fragen der Propaganda. So debattierte im Dezember 1938 das Kabinett über Vorschläge des Foreign Of ce zur Intensivierung der Propaganda in Deutschland. 13 Im Frühjahr und Sommer 1939 traf sich sodann ein Ministerausschuss mehrere Male, um über geeignete Maßnahmen zur Widerlegung der NS-Propaganda zu entscheiden. 14 Nach Kriegsausbruch weitete London die Propagandakampagne noch einmal stark aus. Zusätzlich zu den deutschsprachigen BBC-Sendungen warf die Royal Air Force bei ihren Flügen nach Deutschland Millionen Flugblätter über dem Reichsgebiet ab – statt Bomben, wie die Gegner der Propagandakampagne scharf kritisierten. 15 Während des Sitzkrieges 1939/1940 führte Chamberlains Interesse an der deutschen öffentlichen Meinung und an den britischen Propa-
11 Philip M. Taylor /Nicholas Pronay: „An Improper Use of Broadcasting . . . “. The British Government and Clandestine Radio Propaganda Operations against Germany during the Munich Crisis and After. In: Journal of Contemporary History 19 (1984), 357–384; Seul: Appeasement und Propaganda, 175–177, 251–256, 269–284. 12 Zur Entwicklung dieser institutionellen Strukturen vgl. Seul: Appeasement und Propaganda. 13 British Propaganda in Germany, Memorandum Halifax, 8. 12. 1938, TNA, CAB 24/281, CP 284(38); Cabinet 59(38)5, 14. 12. 1938, TNA, CAB 23/96; Cabinet 60(38)3, 21. 12. 1938, ebd.; Seul: Appeasement und Propaganda, 258–269. 14 Ministry of Information, Memorandum Hoare, 2. 6. 1939, TNA, CAB 24/287, CP 127 (39), 1; Cabinet 18(39)4, 5. 4. 1939, TNA, CAB 23/98; Meeting of Ministers to discuss certain questions affecting propaganda in foreign countries, 12.4. 1939, TNA, CAB 104/89; Final Minutes of Second Meeting of Ministers [. . . ], 18. 4. 1939, ebd.; Seul: Appeasement und Propaganda, 476–479, 585–590. 15 Während des Sitzkrieges zwischen unternahm die Royal Air Force nur vereinzelte Luftangriffe gegen militärische Ziele in Deutschland, etwa gegen die Anlagen der deutschen Kriegsmarine in Wilhelmshaven am 4. September 1939. Erst nach Beginn der deutschen Westoffensive und dem Regierungswechsel in London Anfang Mai 1940 begann die RAF systematisch Luftangriffe gegen deutsche Städte zu iegen, vor allem im Ruhrgebiet mit seiner Chemie-, Stahl- und Hüttenindustrie. Das britische ‚morale bombing` zielte darauf ab, den Kriegswillen der deutschen Bevölkerung zu brechen und ihr Vertrauen in das NS-Regime und in einen deutschen Sieg zu untergraben. Vgl. Richard Overy: The Bombing War. Europe 1939–1945. London 2013.
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gandamaßnahmen so weit, dass sich das Kabinett über jeden einzelnen Flugblattabwurf der Royal Air Force unterrichten ließ. 16 Alle diese Maßnahmen weisen darauf hin, dass Chamberlain der Propaganda – und damit der direkten Kommunikation mit der deutschen Bevölkerung – große Bedeutung beimaß. Doch welche Funktion sollte die Propaganda konkret erfüllen? Stand sie nicht im Widerspruch zur außenpolitischen Zielsetzung Großbritanniens, der Beschwichtigung Hitlers? Jeder Versuch, über die Köpfe der Hitler-Regierung hinweg mit dem deutschen Volk zu kommunizieren, musste die Nationalsozialisten schließlich provozieren, untergrub er doch das Informationsmonopol und damit die Autorität des NS-Regimes. So warf das Hamburger Fremdenblatt im Februar 1939 Chamberlain vor, gegen den Geist des Appeasement zu verstoßen: „Either the Chamberlain Government is working sincerely for peace, in which case this cheap propaganda manoeuvre would hardly t into the landscape, or Britain thinks it t to employ world-war methods for in uencing public opinion in Germany.“ 17 Was sagt also die Propagandakampagne über Chamberlains Beziehungen zum Dritten Reich aus? Bevor dieser Frage eingehender nachgegangen wird, soll zunächst der Begriff ‚Propaganda` erläutert werden. Dieser hat in der Umgangssprache einen negativen Beigeschmack und wird oft als Synonym für Lügen und politische Indoktrinierung verwendet sowie mit den Methoden diktatorischer Regime zur Meinungskontrolle gleichgesetzt. 18 Doch auch die britische Regierung bezeichnete ihre Informationskampagne gegenüber der deutschen Bevölkerung vor und während der Zeit des Zweiten Weltkriegs als ‚Propaganda`, wobei sie zugleich bekräftigte, dass ihre Propaganda ‚gut` sei, weil sie im Gegensatz zur NS-Propaganda auf ‚objektiven Informationen` beruhe. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die britische Propaganda nicht auch unwillkommene Tatsachen verschwiegen oder die Wahrheit nach den jeweiligen politischen Notwendigkeiten zurechtgebogen hätte. 19 Offensichtlich hatte also weder die Tätigkeit noch ihre Bezeichnung als ‚Pro-
16 Zur britischen Flugblattkampagne während des Sitzkrieges sowie der internen und öffentlichen Kritik daran vgl. Seul: Appeasement und Propaganda, Kap. IV.2.1., V.2.2. Zu den Diskussionen des Kabinetts über die Flugblattpropaganda vgl. ebd., 737–748, 883–901. 17 Der Artikel des Hamburger Fremdenblatts ist wiedergegeben im Manchester Guardian vom 4. 2. 1939: BBC's German Broadcasts Criticised „Insolent British Propaganda“, TNA, FO 395/625, P 394/6/150. 18 Ute Daniel /Wolfram Siemann: Historische Dimensionen der Propaganda. In: dies. (Hrsg.): Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung 1789–1989. Frankfurt am Main 1994, 7–20, hier 7f.; Philip M. Taylor: Munitions of the Mind. A history of propaganda from the ancient world to the present era. Manchester 21995, 1 f. 19 Seul: Journalists, 88; Seul: „Plain, unvarnished news“, 379.
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paganda` für die britische Regierung damals eine negative Bedeutung. Hier soll daher von einem wertneutralen Propagandakonzept ausgegangen werden. Garth Jowett und Victoria O'Donnell de nieren Propaganda als „the deliberate and systematic attempt to shape perceptions, manipulate cognitions, and direct behaviour to achieve a response that furthers the desired intent of the propagandist.“ 20 Propaganda ist in diesem Sinne also zunächst moralisch weder gut noch schlecht, sondern wertfrei. Philip Taylor hat dafür plädiert, moralische Kategorien, wenn überhaupt, dann nur bei der Frage nach den Intentionen der Propagandisten anzuwenden. 21 Nun zurück zu der Frage, warum die historische Forschung die Rolle der Medien und der Propaganda in der Appeasement-Politik weitgehend ignoriert hat. Ein Grund scheint zu sein, dass klassische diplomatiegeschichtliche Ansätze die Appeasement-Politik nicht hinreichend erklären konnten, da sie streng auf die diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und dem Dritten Reich auf Regierungsebene fokussiert und die Ebene der medial vermittelten Kommunikation zwischen der britischen Regierung und der deutschen Öffentlichkeit ausgeblendet haben. Jüngere Ansätze der Internationalen Geschichte wie etwa die Transnationale Geschichte eröffnen jedoch neue Perspektiven auf die deutsch-britischen Beziehungen, indem sie auch die britischen Medien und die deutsche Öffentlichkeit als Akteure beziehungsweise Adressat in der britischen Außenpolitik begreifen.
II. Appeasement-Historiogra e: Von der klassischen Diplomatiegeschichte zur transnationalen Geschichtsschreibung Die Appeasement-Politik ist eine der umstrittensten außenpolitischen Strategien in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die kaum mehr zu überblickende Forschungsliteratur ist in jüngeren Studien aufgearbeitet. Doch weder ältere noch neuere Publikationen haben die Rolle der britischen Medien und der deutschen Öffentlichkeit in Chamberlains Politik untersucht. 22 Die Appeasement-Histo20 Garth S. Jowett /Victoria O'Donnell: Propaganda and Persuasion. Los Angeles 52012, 7. Eine ähnliche De nition ndet sich in Taylor: Munitions, 6 f. 21 Taylor: Munitions, 8. Zum britischen Propagandakonzept und seinen selbsterklärten Prinzipien von ‚Wahrheit` und ‚Objektivität` vgl. Seul: „Plain, unvarnished news“. 22 Keith Middlemas: Diplomacy of Illusion. The British Government and Germany, 1937– 1939. London 1972; Donald Cameron Watt: How War Came. The Immediate Origins of the Second World War, 1938–1939. London 1989; R. A. C. Parker: Chamberlain and Appeasement. British Policy and the Coming of the Second World War. London 1993; Frank McDonough: Neville Chamberlain, appeasement and the British road to war. Manchester 1998;
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riogra e ist weitgehend an der klassischen Diplomatiegeschichte orientiert, die sich mit der ‚Hohen Politik` befasst – mit den Beziehungen zwischen Nationalstaaten und ihren Regierungsapparaten, mit Abkommen und Verträgen. 23 Ihr Augenmerk liegt demnach auf den Beziehungen zwischen London und Berlin auf Regierungsebene. Der direkten Kommunikation mit der deutschen Öffentlichkeit ist keine Beachtung geschenkt worden – Chamberlains Versuch also, mithilfe der Massenmedien (zunächst Rundfunk, später auch Flugblätter) unter Umgehung der of ziellen diplomatischen Kanäle mit der deutschen Bevölkerung zu kommunizieren und sie als Akteur in seine Außen- und Kriegspolitik einzubinden. Wenn überhaupt, so wurde lediglich die erste deutschsprachige BBC-Sendung auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise am 27. September 1938 erwähnt; auch der Abwurf von Flugblättern durch die Royal Air Force während des Sitzkrieges wird hervorgehoben. 24 Umgekehrt hat die Forschung zur Geschichte der BBC und der britischen Propaganda nur am Rande nach der Funktion der Medien in Chamberlains Appeasement-Politik gefragt; der Schwerpunkt der Untersuchungen liegt überdies auf der Kriegspropaganda seines Nachfolgers Winston Churchill. 25 Über Chamberlains Motive für diese seinerzeit ungeDavid Dutton: Neville Chamberlain. London 2000; Robert Self: Neville Chamberlain. A Biography. Aldershot 2006; Sidney Aster: Appeasement. Before and After Revisionism. In: Diplomacy & Statecraft 19 (2008), 443–480; Daniel Hucker: The Unending Debate. Appeasement, Chamberlain and the Origins of the Second World War. In: Intelligence and National Security 23 (2008), 536–551; Andrew David Stedman: Alternatives to Appeasement. Neville Chamberlain and Hitler's Germany. New York 2011. 23 Mit dem historiogra schen Wandel von der klassischen Diplomatiegeschichte zur Internationalen Geschichte, welche nicht nur zwischenstaatliche Beziehungen auf Regierungsebene, sondern auch grenzüberschreitende Interaktionen auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Ebene in den Blick nimmt, befassen sich Wilfried Loth /Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten. München 2000; Manfred Berg /Philipp Gassert (Hrsg.): Deutschland und die USA in der Internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Detlef Junker. Stuttgart 2004; Reiner Marcowitz: Von der Diplomatiegeschichte zur Geschichte der Internationalen Beziehungen. Methoden, Themen, Perspektiven einer historischen Teildisziplin. In: Francia 32 (2005), 75–100. 24 Dies trifft ausnahmslos auf die gesamte Appeasement-Historiogra e zu, sodass hier auf die Nennung einzelner Werke verzichtet wird. 25 Vgl. Asa Briggs: The History of Broadcasting in the United Kingdom. Bd. 2: Golden Age of Wireless. Oxford 1965; ders.: The History of Broadcasting in the United Kingdom. Bd. 3: The War of Words. Oxford 1970; Gerard Mansell: Let Truth Be Told. 50 Years of BBC External Broadcasting. London 1982; William J. West: Truth Betrayed. London 1987; Philip M. Taylor: The Projection of Britain. British Overseas Publicity and Propaganda, 1919– 1939. Cambridge 1981; ders.: „If War Should Come“. Preparing the Fifth Arm for Total War. In: Journal of Contemporary History 16 (1981), 27–51; ders.: British Propaganda in
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wöhnliche außenpolitische Maßnahme und über die Funktion der Medien in der Appeasement-Politik erfährt man aus der Literatur hingegen nichts. Bezeichnend für das Desinteresse an Chamberlains Propaganda, selbst während des Sitzkrieges, ist Bernhard Witteks Aussage von 1962: „Der Propagandakrieg [. . . ] scheint von britischer Seite erst im Herbst 1940 in vollem Umfang aufgenommen worden zu sein. In den voraufgegangenen zehn oder zwölf Monaten seit Beginn des Krieges war angesichts des deutschen Blitzkrieges [. . . ] beim deutschen Volk kein empfängliches Klima für feindliche Propaganda zu erwarten gewesen.“ 26 Seitdem ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, ohne dass die Forschung wirklich neue Erkenntnisse hervorgebracht hätte. Dies ist verwunderlich, da einige der meistgenutzten Quellen der Appeasement-Politik – allen voran die Kabinettsvorlagen und Kabinettsprotokolle sowie die Akten des Foreign Of ce – etliche Hinweise auf Chamberlains Propaganda enthalten und die These, dass vor Churchills Regierungsantritt Propaganda keine nennenswerte Rolle in der britischen Außenpolitik und Kriegführung gegenüber dem Dritten Reich gespielt habe, klar widerlegen. Denn zu keinem anderen Zeitpunkt vor und während der Zeit des Zweiten Weltkrieges setzte London größere Hoffnungen in die deutsche Öffentlichkeit als zwischen der Münchener Konferenz im September 1938 und der alliierten Niederlage in Norwegen Anfang Mai 1940. Ein Anhaltspunkt für die hohe Bedeutung, die Chamberlain der Propaganda beimaß, ist die Tatsache, dass nach dem Münchener Abkommen fast keine Woche verging, ohne dass ranghohe Beamte und Minister einschließlich des Premierministers wichtige Entscheidungen zur Deutschlandpropaganda trafen. 27 Seit den 1990er Jahren befasst sich die orierende transnationale Geschichtsschreibung mit den unterschiedlichen Kategorien von Außenbeziehungen abseits der Regierungsebene. 28 Hartmut Kaelble, Martin Kirsch und Alexander Schmidt-
the 20th Century. Selling Democracy. Edinburg 1999; Taylor/Pronay: „An Improper Use of Broadcasting“; Bernhard Wittek: Der britische Ätherkrieg gegen das Dritte Reich. Die deutschsprachigen Kriegssendungen der British Broadcasting Corporation. Münster 1962; Charles Cruickshank: The fourth arm. Psychological warfare 1938–1945. London 1977; Michael Balfour: Propaganda in War, 1939–1945. Organisations, Policies and Publics in Britain and Germany. London 1979. 26 Wittek: Ätherkrieg, 80. 27 Vgl. oben Anm. 13, 14 und 16. 28 Marcowitz: Diplomatiegeschichte; Philipp Gassert: Transnationale Geschichte, Version 2.0. In: Docupedia Zeitgeschichte, 29. 10. 2012, https://docupedia.de/zg/Transnationale_ Geschichte_Version_2.0_Philipp_Gassert (zuletzt abgerufen 5. 7. 2016); Miriam Rürup: Transnationale Geschichte /Neue Diplomatiegeschichte. In: VHD Journal 1 (2013), 58–62.
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Gernig de nieren als transnational „diejenigen Interaktionen zwischen Individuen, Gruppen, Organisationen und Staaten [. . . ], die über Grenzen hinweg agieren und dabei gewisse über den Nationalstaat hinausgehende Strukturmuster ausbilden“. 29 Als Beispiele für solche Strukturen nennen sie unter anderem transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten. Nach Friedrich Kießling bezeichnet der Begriff der transnationalen Öffentlichkeit grenzüberschreitende Kommunikationsräume sowie Informations- und Austauschprozesse. 30 Auch die benachbarte Disziplin der Kommunikationswissenschaft erforscht Formen grenzüberschreitender Medienkommunikation. 31 So haben Michael Brüggemann und Hagen Schulz-Forberg ein Analyseraster mit vier Idealtypen transnational agierender Medien, die sich explizit an ein Publikum jenseits nationaler Grenzen richten, vorgeschlagen. Zum ersten Idealtypus, zu dem auch die Medien der britischen Deutschlandpropaganda (BBC-Sendungen und Flugblätter) zu zählen sind, gehören „national media with a transnational mission [that try] to reach audiences beyond the national territory with some kind of political mission that is de ned by national governments“. 32 Weitere Idealtypen sind zweitens internationale Medien, die durch eine Kooperation zwischen einzelnen nationalen Organisationen zustande kommen (zum Beispiel der deutsch-französische Sender Arte); drittens panregionale Medien, welche auf eine bestimmte kulturelle oder politische Region ausgerichtet sind (zum Beispiel der Sender Euronews); sowie viertens globale Medien, die sich an ein weltweites Publikum richten (etwa die Financial Times). 33 Transnationale Kommunikation wurde von den Sozialwissenschaften vor allem in Bezug auf die europäische Integration und das ‚demokratische De zit`
29 Hartmut Kaelble/Martin Kirsch /Alexander Schmidt-Gernig: Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Eine Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main, New York 2002, 7–33, hier 9. 30 Friedrich Kiessling: (Welt-)Öffentlichkeit. In: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hrsg.): Dimensionen internationaler Geschichte. München 2012, 85–106, hier 96. 31 Vgl. Stefanie Averbeck-Lietz /Hartmut Wessler (Hrsg.): Grenzüberschreitende Medienkommunikation. Konturen eines Forschungsfeldes im Prozess der Konsolidierung. BadenBaden 2012 (Medien- und Kommunikationswissenschaft, 60. Jg., Sonderband 2). 32 Michael Brüggemann /Hagen Schulz-Forberg: Becoming Pan-European? Transnational Media and the European Public Sphere. In: The International Communication Gazette 71 (2009), 693–712, hier 699. 33 Ebd., 699–700. Vgl. auch Michael Brüggemann /Andreas Hepp /Katharina Kleinen-von Königslöw /Hartmut Wessler: Transnationale Öffentlichkeit in Europa. Forschungsstand und Perspektiven. In: Publizistik 54 (2009), 391–414, hier 396 f.
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der Europäischen Union untersucht. 34 Doch grenzüberschreitende Kommunikationsprozesse durch Massenmedien sind keine Er ndung der Nachkriegszeit ab 1945, sondern haben eine lange Geschichte. Bereits im 18. Jahrhundert wurden Zeitungen international vertrieben und in ausländischen Salons und Cafés gelesen, wobei Kriegs- und außenpolitische Nachrichten in der Presse stark dominierten. 35 Die Er ndung der elektronischen Kommunikationstechnologien Telegra e, Telefon, Radio und Fernsehen im 19. und 20. Jahrhundert erweiterte die Möglichkeiten grenzüberschreitender Kommunikation enorm. So konnte etwa der Rundfunk unter Auswahl geeigneter Wellenlängen fast jedes Land der Erde erreichen, wobei der Empfang der Sendungen von ausländischen Regierungen kaum zu kontrollieren und einzuschränken war. Dies machte den Rundfunk zum idealen Medium, um Regierungspropaganda im In- und Ausland zu verbreiten. 36 Im Ersten Weltkrieg setzten erstmals alle Kriegsbeteiligten grenzüberschreitende massenmediale Kommunikation systematisch und im großen Stil ein, um ihre Politik und Kriegführung gegenüber den Bevölkerungen der Verbündeten, der Neutralen wie auch der Feinde zu rechtfertigen. Wegen ihres vermeintlichen Erfolgs wurde die britische Propaganda nach 1918 weltweit als wegweisendes Propagandamodell gehandelt. 37 Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren internationale Krisen ohne die Medien also kaum mehr denkbar. Letztere bestimmten nicht nur die öffentliche Wahrnehmung von Kon ikten und Kriegen; sie führten auch zu Veränderungen in den außenpolitischen Beziehun34 Brüggemann /Schulz-Forberg: Becoming Pan-European; Brüggemann/Hepp/Kleinen-von Königslöw /Wessler: Transnationale Öffentlichkeit in Europa; Armando Salvatore /Oliver Schmidtke /Hans-Jörg Trenz (Hrsg.): Rethinking the Public Sphere Through Transnationalizing Processes. Europe and Beyond. Basingstoke 2013; Thomas Risse (Hrsg.): European Public Spheres. Politics is Back. Cambridge 2015. 35 Kiessling: (Welt-)Öffentlichkeit, 85; Brüggemann/Schulz-Forberg: Becoming PanEuropean, 696 f.; Hartmut Kaelble: The Historical Rise of a European Public Sphere? In: Journal of European Integration History 8 (2002), 9–22, hier 14; Frank Bösch /Peter Hoeres: Im Bann der Öffentlichkeit? Der Wandel der Außenpolitik im Medienzeitalter. In: dies. (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2013, 7–35, hier 18. Vgl. auch Hartmut Kaelble/Martin Kirsch / Alexander Schmidt-Gernig (Hrsg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main, New York 2002. 36 Daya Thussu: Information economy. In: Akira Iriye/Pierre-Yves Saunier (Hrsg.): The Palgrave Dictionary of Transnational History. New York 2009, 535–541, hier 536; Andreas Fickers: Radio. In: ebd., 870–873, hier 870; ders.: Broadcasting. In: ebd., 106–108, hier 106. 37 Harold D. Lasswell: Propaganda Technique in the World War. London 1927; Taylor: British Propaganda; Philip M. Taylor: Propaganda in International Politics, 1919–1939. In: K. R. M. Short (Hrsg.): Film and Radio Propaganda in World War II. London 1983, 17–47, hier 22 f.
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gen zwischen Staaten und in der diplomatischen Praxis. Denn keine Regierung konnte es sich mehr leisten, die Medien und die Öffentlichkeit im eigenen Land wie auch in fremden Nationen zu ignorieren. Außenpolitik, Öffentlichkeit und Medien existierten fortan in enger Symbiose. 38 Obwohl die britische Kriegspropaganda des Ersten Weltkriegs entscheidend zum Propagandaboom der Zwischenkriegszeit beitrug, schaute London dieser Entwicklung zunächst tatenlos zu. Nach 1918 wurden alle Institutionen der Kriegspropaganda demobilisiert, da das Betreiben von grenzüberschreitender Propaganda in Friedenszeiten als unmoralisch und als ungerechtfertigte Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten galt. 39 Erst als die totalitären Diktaturen Großbritanniens diplomatische, strategische und wirtschaftliche Interessen zu bedrohen begannen, gab London seine ablehnende Haltung gegenüber Auslandspropaganda in Friedenszeiten auf. Im Januar 1938 richtete die BBC auf Geheiß der britischen Regierung einen arabischsprachigen Nachrichtendienst ein, um Mussolinis aggressive antibritische Propaganda im Nahen Osten zu kontern. Zwei Monate später folgten spanische und portugiesische Sendungen für Lateinamerika, die dem wachsenden wirtschaftlichen und kulturellen Ein uss des Dritten Reiches und dem gleichzeitigen Imageverlust Großbritanniens in dieser Region Einhalt gebieten sollten. 40 Nach diesem Exkurs zu den Ursprüngen der britischen Auslandspropaganda nun zurück zu der Frage, wie der transnationale Forschungsansatz die Sicht auf Chamberlains Appeasement-Politik verändern kann. Aus dieser Perspektive erscheint die britische Propaganda als der Versuch, mithilfe der Medien eine transnationale Öffentlichkeit für die britische Außenpolitik (und später Kriegführung) herzustellen und das deutsche Volk aktiv in diese Politik einzubinden. Appeasement zeigt sich folglich als eine außenpolitische Strategie, bestehend aus zwei komplementären Säulen: Die erste Säule war die schon erwähnte diplomatische Doppelstrategie aus Verhandlungsangeboten und Abschreckungsmaßnahmen, adressiert auf Regierungsebene an das Kabinett Hitler. Als zweite Säule trat im September 1938 die Propagandakampagne hinzu, die sich auf transnationaler 38 Kiessling: (Welt-)Öffentlichkeit, 90 f. Vgl. auch Stephanie Seul /Nelson Ribeiro: Revisiting Transnational Broadcasting. The BBC's foreign-language services during the Second World War. In: Media History 21 (2015), 365–377, hier 365 f. 39 Michael Stenton: British Propaganda and Raison d'Etat 1935–1940. In: European Studies Review 10 (1980), 47–74; Taylor: „If War Should Come“; ders.: British Propaganda, 18; ders.: Propaganda in International Politics, 24 f. 40 Seul/Ribeiro: Transnational Broadcasting, 367. Vgl. im Einzelnen Peter Partner: Arab Voices. The BBC Arabic Service 1938–1988. London 1998; Taylor: Projection of Britain; ders.: British Propaganda; Mansell: Let Truth Be Told; Briggs: Golden Age.
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Ebene an die deutsche Öffentlichkeit richtete. Der britischen Propaganda lag die Vorstellung zugrunde, dass sich die deutsche Bevölkerung im Grunde nach Frieden sehnte und möglicherweise einen mäßigenden Ein uss auf Hitler ausüben könnte, wenn sie von den britischen Friedensbemühungen erführe, da selbst in einem totalitären Staat die Volksmeinung politisches Gewicht besitzen musste und ein Diktator sie nur zu seinem eigenen Nachteil ignorieren konnte. Mit der Propagandakampagne wollte Chamberlain die Deutschen für seine Politik instrumentalisieren und als Verbündete gegen Hitlers Kriegspolitik gewinnen. Er hoffte, Hitler werde sich dem Druck der öffentlichen Meinung, die nach Frieden verlangte, beugen und eine gemäßigtere Außenpolitik verfolgen. Symptomatisch für diese Haltung ist eine Passage aus der Autobiogra e Sir Nevile Hendersons, des britischen Botschafters in Berlin: „[A] Dictator, just as much as the Government of a democracy, must take into account the wishes of the people. Since it was quite evident that the German people as a whole was [tired] of repeated crises, and wanted peace, I took this remark [. . . ] to mean that Hitler had decided to come down on the side of peace.“ 41 Hendersons optimistische Sicht wurde nicht nur vom Premierminister geteilt, 42 sondern auch von Abgeordneten des britischen Unterhauses. Während der außenpolitischen Debatte Anfang Oktober 1938 erklärte der konservative Abgeordnete Sir Edward Grigg: „I believe the Prime Minister is right when he says that there is a new dawn and a new hope in Europe at the present time, and I believe that to be true for two reasons, mainly. In the rst place, I think, he has managed to make, for the rst time, a direct contact with the German people. [. . . ] I believe [. . . ] that it is going to count. [. . . T]herefore I am all for the policy of appeasement, and I hope it will be pursued on the broadest basis possible.“ 43
41 Nevile Meyrick Henderson: Failure of a Mission. Berlin 1937–1939. London 1940, 185 f. Hendersons Lageeinschätzung stammt vom Februar 1939. 42 Am 5. 2. 1939 schrieb Chamberlain an seine Schwester Hilda: „The [German] people have looked at war close to them & declared that they didn't like it. If they thought they were being brought near it again they would protest very violently and all the more so because they believe that Mr. Chamberlain is a nice kind old gentleman who would not ever want to treat Germans roughly and unfairly.“ In: Robert Self (Hrsg.): The Neville Chamberlain Diary Letters. Bd. 4: The Downing Street Years, 1934–1940. Aldershot 2005, 377–79. 43 Parliamentary Debates (Hansard), House of Commons, Fifth Series, Bd. 339, Sp. 535 f. (6. 10. 1938).
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III. Diplomatie und Propaganda: Zwei komplementäre Säulen der Appeasement-Politik In Chamberlains Appeasement-Politik koexistieren demnach zwei Formen der Außenbeziehungen: Adressaten der britischen Außenpolitik waren zum einen die Vertreter der NS-Regierung auf diplomatischer Ebene; zum anderen aber die deutsche Öffentlichkeit auf transnationaler Ebene, an die sich Chamberlain über die Köpfe der NS-Regierung hinweg mittels Propaganda direkt wandte. Innerhalb der Appeasement-Politik lassen sich fünf Phasen unterscheiden, in denen Chamberlain der direkten Kommunikation mit der deutschen Bevölkerung unterschiedliche Bedeutung beimaß und diverse Propagandastrategien zum Einsatz brachte. Der funktionelle und inhaltliche Wandel der Propaganda lässt sich anhand folgender Parameter beschreiben: erstens der Haltung der britischen Regierung gegenüber dem NS-Regime; zweitens des britischen Bildes vom deutschen Volk und der Haltung gegenüber den Deutschen; drittens der Gewichtung innerhalb der Appeasement-Politik zwischen den Beziehungen auf diplomatischer Ebene einerseits und der direkten Kommunikation mit der deutschen Bevölkerung auf transnationaler Ebene andererseits; sowie viertens der Zielsetzungen und Strategien der Propaganda. 44 Während der ersten Phase von November 1937 bis September 1938 unternahm Chamberlain eine Reihe diplomatischer Initiativen für ein general settlement mit Hitler und versuchte im Sudetenkon ikt zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei zu vermitteln. Obwohl London die deutsche öffentliche Meinung sorgfältig beobachtete, suchte Chamberlain noch keinen Kontakt zur deutschen Bevölkerung, denn er sah keinen Grund, an den Erfolgsaussichten seiner Appeasement-Bemühungen auf diplomatischer Ebene zu zweifeln. Direkte Kommunikationsversuche mit dem deutschen Volk wurden nicht nur als unnötig, sondern als ‚Appeasement-gefährdend` sogar strikt abgelehnt. Charakteristisch ist ein Memorandum Edward Hales von der Treasury vom Mai 1938, in dem es heißt: „There is no doubt that the general effect of Government propaganda of recent years has been to poison the international atmosphere. [. . . ] I do not believe that in the long run it will be possible to combine the policy of appeasement with a forward policy in propaganda. Armaments may be in nitely more
44 Die folgenden Ausführungen beruhen auf den Ergebnissen von Seul: Appeasement und Propaganda.
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expensive than propaganda, but they, at least, have the virtue of being dumb, and do not cause the same ill-will.“ 45 Zwar betrieb die britische Regierung in diesem Zeitraum eine intensive Manipulation der britischen Presse- und Rundfunkberichterstattung über das Dritte Reich. Diese diente aber nicht der Beein ussung der deutschen öffentlichen Meinung, sondern der Beschwichtigung Hitlers und der Entspannung der deutsch-britischen Beziehungen auf diplomatischer Ebene. 46 Die zweite Phase umfasst den Zeitraum vom 27. September 1938 bis zum 15. März 1939. Auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise gab Chamberlain seine bisherige ablehnende Haltung gegenüber der Propaganda auf und richtete über die BBC erstmals eine Botschaft direkt an das deutsche Volk. Auslöser war Hitlers kompromisslose Haltung im Sudetenkon ikt, die Europa in einen neuen Krieg zu stürzen drohte. Er hoffte, dass die deutsche Öffentlichkeit im letzten Augenblick einen bezähmenden Ein uss auf Hitler ausüben würde, wenn sie von der akuten Kriegsgefahr erführe. Denn nach den geheimdienstlichen Informationen Londons wies die deutsche öffentliche Meinung unmissverständlich in Richtung Frieden. Nach seinem begeisterten Empfang durch die deutsche Bevölkerung in Bad Godesberg und in München im September 1938 glaubte Chamberlain überdies, persönlichen Ein uss auf die Deutschen zu besitzen. 47 Das Foreign Of ce zog daraus den Schluss: „The widespread respect in Germany for the P. M.'s actions makes fertile ground for the dissemination of a little discreet propaganda [. . . ].“ 48 Obgleich Chamberlain nach der Münchener Konferenz auf einen Neuanfang in den deutsch-britischen Beziehungen und ein umfassendes Abkommen mit dem Dritten Reich hoffte, blieben doch letzte Zweifel an Hitlers friedfertigen Intentionen bestehen. Deshalb wurde die Propaganda fortgesetzt. Mit dieser Maßnahme wollte Chamberlain seine Verhandlungsposition gegenüber Berlin stärken: Die Propaganda sollte eine zusätzliche Garantie für das Gelingen der Beschwichtigungsbemühungen auf diplomatischer Ebene sein, indem sie an
45 Publicity Abroad. Stellungnahme von Edward Hale zum Memorandum von Vansittart, 2. 6. 1938, TNA, PREM 1/272. Hierzu auch Taylor: Projection of Britain, 240 f.; Seul: Appeasement und Propaganda, 100–108. 46 Seul: Appeasement und Propaganda, Kap. I.2. Vgl. auch Anthony Adamthwaite: The British Government and the Media, 1937–38. In: Journal of Contemporary History 18 (1983), 281–297; West: Truth Betrayed; Richard Cockett: Twilight of Truth. Chamberlain, Appeasement, and the Manipulation of the Press. London 1989; McDonough: Chamberlain. 47 Self: Neville Chamberlain, 315, 344. 48 Vermerk Creswell zum Bericht des britischen Generalkonsuls in Dresden, 15. 10. 1938, TNA, FO 371/21665, C 12202/62/18. Vgl. auch Seul: Appeasement und Propaganda, 206.
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das Friedensbedürfnis der deutschen Bevölkerung appellierte und somit Druck auf Hitler ausübte, in weitere Friedensverhandlungen einzutreten. Innerhalb der Appeasement-Politik kam gleichwohl den Verhandlungen auf Regierungsebene Priorität zu; die Propaganda blieb den diplomatischen Erfordernissen untergeordnet. Dies zeigte sich vor allem an deren Inhalten, die sich durch eine sehr konziliante Haltung gegenüber Hitler auszeichneten und am NS-Regime allenfalls sehr zurückhaltend Kritik übten, um die Chancen auf eine deutsch-britische Entspannung nicht zu gefährden. 49 So warnte etwa das Foreign Of ce Anfang 1939 die BBC davor, in ihren deutschsprachigen Sendungen die Verfolgung der Juden im Dritten Reich zu erwähnen, um keine Verstimmung in Berliner Regierungskreisen zu provozieren. 50 Der deutsche Einmarsch in Prag am 15. März 1939 markierte den Beginn der dritten Phase. Der Bruch des Münchener Abkommens weckte ernsthafte Zweifel in Chamberlain, ob Hitlers expansionistische Ambitionen nicht unbegrenzt seien. Obwohl der britische Premierminister seine Hoffnung auf eine Bezähmung Hitlers immer noch nicht aufgab, setzte er nun zunehmend auf Abschreckung, indem er ein militärisches Bündnis mit Polen schloss und seinen Widerstandswillen gegen jeden weiteren deutschen Aggressionsakt öffentlich kundtat. Parallel zu den Zweifeln an den friedfertigen Absichten Hitlers und zur Verschlechterung der deutsch-britischen Beziehungen auf Regierungsebene wuchs Londons Interesse an der deutschen Öffentlichkeit, ihrer vermeintlichen Abneigung gegenüber Hitlers Kriegspolitik sowie ihrem Widerstandspotenzial. Chamberlain hoffte, dass sich das Volk gegen den Diktator erhöbe, bräche dieser einen Krieg vom Zaun. Auch inhaltlich ging die britische Propaganda nun auf Konfrontationskurs zum Dritten Reich: Sie appellierte einerseits an die Friedensliebe der Deutschen und berichtete über die Anstrengungen Londons zur Aufrechterhaltung des Friedens. Andererseits kritisierte sie aber zunehmend Hitlers Politik, stellte vermehrt die britischen Aufrüstungsmaßnahmen in den Vordergrund und warnte, dass Großbritannien bei Hitlers nächstem Aggressionsakt militärischen Widerstand 49 Seul: „Plain, unvarnished news“, 382 f.; Seul: Appeasement und Propaganda, Kap. II.1. 50 Vermerk Leeper, 7.2. 1939, TNA, FO 395/625, P 377/6/150; Ogilvie-Forbes an Foreign Of ce, 6. 2. 1939, ebd.; Ogilvie-Forbes an Halifax, 8. 2. 1939, TNA FO 395/625, P 439/6/150. Zur Behandlung der Judenverfolgung in der britischen Deutschlandpropaganda vgl. Stephanie Seul: The Representation of the Holocaust in the British Propaganda Campaign Directed at the German Public, 1938–1945. In: Leo Baeck Institute Year Book 52 (2007), 267–306; dies.: „Any reference to Jews on the wireless might prove a double-edged weapon“. Jewish images in the British propaganda campaign towards the German public, 1938–1939. In: Martin Liepach/Gabriele Melischek /Josef Seethaler (Hrsg.): Jewish Images in the Media. Wien 2007, 203–232.
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leisten werde. Auch ging die BBC dazu über, in ihren deutschsprachigen Sendungen die Lügen der NS-Propaganda offensiv zu kontern. 51 Zwar betrachtete Chamberlain Hitler weiterhin als of ziellen diplomatischen Verhandlungspartner, doch im Vergleich zur zweiten Phase kam nun der direkten Kommunikation mit der deutschen Bevölkerung ein deutlich größeres Gewicht innerhalb der Appeasement-Politik zu. So stellte der Premierminister nach Hitlers Einmarsch in Prag im Kabinett klar: „He had now come de nitely to the conclusion that Herr Hitler's attitude made it impossible to continue to negotiate on the old basis with the Nazi régime. This did not mean that negotiations with the German people were impossible.“ 52 Die vierte Phase fällt mit dem Sitzkrieg zwischen September 1939 und dem Beginn der deutschen Skandinavien-Offensive Anfang April 1940 zusammen. Der Kriegsausbruch machte die Hoffnung auf eine Einigung mit Hitler zunichte, änderte aber nichts an Chamberlains grundsätzlichem Ziel, einen dauerhaften Frieden mit Deutschland zu schließen. Der Premierminister war überzeugt, dass Deutschland einen langen Krieg militärisch nicht gewinnen konnte. Seine Kriegsstrategie war daher darauf ausgerichtet, das deutsche Volk davon zu überzeugen, dass es den Krieg nicht gewinnen, aber einen fairen, am Konferenztisch ausgehandelten Frieden erwarten konnte, wenn es eine neue, vertrauenswürdige Regierung hervorbrächte. Seiner Schwester schrieb Chamberlain: „There is such a widespread desire to avoid war & it is so deeply rooted that it surely must nd expression somehow. [. . . W]hat I hope for is not a military victory – I very much doubt the feasibility of that – but a collapse of the German home front. For that it is necessary to convince the Germans that they cannot win.“ 53 Mit der britischen Kriegserklärung an Hitler endeten die deutsch-britischen Außenbeziehungen auf diplomatischer Ebene. Doch die britische Regierung setzte ihre Appeasement-Bemühungen nunmehr mit großem Einsatz auf der Propagandaebene fort. Die deutschsprachigen BBC-Sendungen wurden massiv ausgeweitet; zusätzlich warf die Royal Air Force Millionen Flugblätter – statt Bomben – über dem Reichsgebiet ab. 54 Somit avancierte das deutsche Volk zum alleinigen Adressaten von Chamberlains Deutschlandpolitik. Die Kommunikation mit der deutschen Bevölkerung ersetzte nun vollständig die Beziehungen
51 Vgl. Seul: „Plain, unvarnished news“, 383 f.; Seul: Appeasement und Propaganda, Kap. II.2. 52 Cabinet Conclusions 12(39), 18. 3. 1939, TNA, CAB 23/98, 8 f. 53 Neville an Ida Chamberlain, 10. 9.1939. In: Self: Neville Chamberlain Diary Letters, 443 f. Vgl. auch Dutton: Chamberlain, 215. 54 Zur britischen Bombardierungsstrategie 1939/1940 vgl. Anm. 15.
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zwischen Großbritannien und dem Dritten Reich auf diplomatischer Ebene und zielte darauf ab, das Hitlerregime zu stürzen und Kontakt zu einer neuen deutschen Regierung zu knüpfen, mit welcher London einen Frieden würde schließen können. Dieses Ziel kam nicht nur in offener Kritik am NS-Regime und in unverhohlenen Aufrufen zum Sturz des Diktators zum Ausdruck, sondern auch im Versprechen für einen fairen Verhandlungsfrieden im Falle eines Regimewechsels. 55 Im Lichte der britischen Propaganda betrachtet, erscheint daher die Zeit des Sitzkrieges als Fortsetzung der Appeasement-Politik, die sich jetzt aber nicht mehr an die NS-Regierung auf diplomatischer Ebene, sondern ausschließlich an das deutsche Volk und an die deutsche Opposition auf transnationaler Ebene richtete. Peter Ludlow hat den Sitzkrieg folglich eine Phase des „unwinding of appeasement“ genannt, in welcher die bisherigen Ziele der Appeasement-Politik trotz des Krieges unverändert geblieben seien. 56 In einem ähnlichen Sinne urteilt Sebastian Haffner, wenngleich er nicht explizit auf die deutsche Öffentlichkeit als Adressat britischer Politik Bezug nimmt: „In Wahrheit war das halbe Jahr zwischen Kriegserklärung und wirklichem Kriegsbeginn, von England und Frankreich aus gesehen, weniger die Anfangsphase des Krieges als die Endphase des ‚Appeasement`, das ihm vorausging. [. . . B]is September 1939 war der Adressat der Appeasementpolitik Hitler; von September 1939 an waren es die deutsche Generalität und die deutsche konservative Opposition.“ 57 Die fünfte Phase umfasst die gescheiterte alliierte Norwegenexpedition im April und den erzwungenen Rücktritt Chamberlains Anfang Mai 1940. In dieser letzten Phase erwiesen sich die Vorstellungen der britischen Regierung vom Dritten Reich und der deutschen Bevölkerung endgültig als illusorisch. Ende März hatte Chamberlain einsehen müssen, dass seine zu Kriegsbeginn gehegte Hoffnung, eine Revolution in Deutschland entfachen und den Krieg politisch beenden zu können, unrealistisch gewesen war. Die britische Regierung kam daher zu dem
55 Zur britischen Propagandastrategie zu Kriegsbeginn siehe Seul: „Plain, unvarnished news“, 384–386; Seul: Appeasement und Propaganda, Kap. IV. 56 Peter W. Ludlow: The Unwinding of Appeasement. In: Lothar Kettenacker (Hrsg.): Das „Andere Deutschland“ im Zweiten Weltkrieg. Emigration und Widerstand in internationaler Perspektive. Stuttgart 1977, 9–48. Vgl. auch Dutton: Chamberlain, 78. Zur Kritik an Ludlows These vgl. Lothar Kettenacker: Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkriegs. Göttingen 1989, 24 f. 57 Sebastian Haffner: Zum Septemberkrieg von 1939. In: ders.: Historische Variationen. München 2003, 177, 178f.
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Schluss, dass Deutschland militärisch besiegt werden musste. 58 Diese Einsicht machte aber die Propaganda nicht über üssig. Auch wenn ihre politische Bedeutung nun abnahm, so kam ihr auf militärischer Ebene weiterhin eine wichtige Funktion zu, nämlich die Schwächung des deutschen Kriegswillens. 59 Allerdings entlarvte die alliierte Niederlage in Norwegen auch diese Hoffnung als Illusion: Nicht das Dritte Reich brach unter dem Druck der militärischen und propagandistischen Offensive der Alliierten zusammen, sondern Letztere erwiesen sich jedenfalls in militärischer Hinsicht als weit unterlegen. 60 Nun zeigte sich auch, dass sich die deutsche Bevölkerung weit stärker mit dem NS-Regime identi zierte als bisher angenommen: Statt Hitler zu stürzen, stand die breite Masse der Deutschen geschlossen hinter den Regime. 61 Das Scheitern der alliierten Norwegenexpedition führte aber nicht nur zu einer realistischeren Einschätzung des deutschen Volkes und seines Verhältnisses zu Hitler; es demaskierte auch die britische Propagandastrategie als unglaubwürdig, da diese zu lange das Bild eines unterlegenen Dritten Reiches und eines überlegenen Großbritanniens gezeichnet hatte. 62 Die britische Regierung wurde sich nun bewusst, dass ihre Strategie, eine Revolution in Deutschland zu entfachen und den Krieg politisch zu beenden, erfolglos geblieben war. Das Dritte Reich ließ sich nicht einfach durch Propaganda zum Einsturz bringen. Ende April zogen die mit der Deutschlandpolitik befassten Beamten des Central Department im Foreign Of ce die vernichtende Bilanz, dass keine Form von Propaganda die deutsche Bevölkerung beein ussen würde, solange diese noch keine militärischen Niederlagen und wirtschaftlichen Engpässe erlitten hätte: 63 „The time for propaganda is not ripe. It will only come later on, when we have got the Germans properly on the run. Till then it is, in my opinion, wasted effort.“ 64 Diese Einsicht erfolgte fast zeitgleich zur alliierten Niederlage in Norwegen, die zur Abdankung Neville Chamberlains am 10. Mai 1940 führte. Chamberlains Sturz war indes nicht alleine der misslungenen alliierten 58 Zum Wandel der britischen Haltung gegenüber dem Dritten Reich siehe Seul: Appeasement und Propaganda, Kap. IV.3.1. 59 Zur britischen Propagandastrategie zwischen Januar und April 1940 vgl. Seul: Appeasement und Propaganda, Kap. IV.3.2. 60 Zur britischen Propaganda während der Norwegenexpedition siehe Seul: Appeasement und Propaganda, Kap. V.; Seul: „Plain, unvarnished news“, 386–388. 61 Ian Kershaw: The „Hitler myth“. Image and reality in the Third Reich. Oxford 1987, 156; Seul: Appeasement und Propaganda, 1330–1343. 62 Wie Anm. 60. 63 Vermerke von Roberts, Makins und Vansittart, 24. 4. 1940 und 2. 5. 1940, TNA, FO 371/24412, C 57/150/18. 64 Vermerk von G. P. Young, 24. 4. 1940, TNA, FO 371/24412, C 57/150/18.
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Norwegenexpedition geschuldet, für die sein Nachfolger, Winston Churchill, als der für Marineoperationen zuständige Minister viel unmittelbarer die Verantwortung trug. 65 Zum größten Verhängnis für Chamberlain wurde sein Ruf als ewiger ‚Appeaser`, der Hitler und die Deutschen permanent unterschätzt hatte und dem niemand mehr zutraute, den Krieg gegen das Dritte Reich erfolgreich fortzuführen. 66
IV. Fazit Im Ergebnis ist festzuhalten, dass in Chamberlains Appeasement-Politik zwei Formen der Außenbeziehungen koexistierten: die traditionellen diplomatischen Beziehungen auf Regierungsebene einerseits und die Propaganda – die direkte Kommunikation mit der deutschen Bevölkerung mittels moderner Massenmedien – auf transnationaler Ebene andererseits. Über alle fünf Phasen der Appeasement-Politik hinweg erwies sich die Propaganda dabei als eine stets präsente Größe in Chamberlains Außenpolitik. Ihre Bedeutung erschließt sich schon aus dem Aufwand, mit dem die britische Regierung einen umfassenden organisatorischen Apparat für ihre Ausarbeitung und Verbreitung im Dritten Reich betrieb. In dieselbe Richtung weist die Tatsache, dass sich ranghohe ForeignOf ce-Beamte, das Kabinett, ja sogar der Premierminister persönlich immer wieder ausführlich mit organisatorischen und inhaltlichen Fragen der Propaganda befassten. Nach der Münchener Konferenz verging fast keine Woche, ohne dass auf Regierungsebene wichtige Entscheidungen zur Propaganda gefällt oder über die deutsche öffentliche Meinung diskutiert worden wäre. Während des Sitzkrieges ließ sich das Kabinett über jeden Flugblattabwurf der Royal Air Force unterrichten. Diese zentrale Rolle der Propaganda in Chamberlains Politik gegenüber dem Dritten Reich hat die klassische Diplomatiegeschichte in ihrer Fixierung auf die ‚Hohe Politik` der diplomatischen Außenbeziehungen bisher allerdings kaum gewürdigt. Berücksichtigt man jedoch das der Propagandakampagne zukommende Gewicht, erscheint eine Neuinterpretation der Appeasement-Politik geboten. Die in der Geschichtsschreibung bisher vertretene Meinung, Appeasement sei eine diplomatische Strategie auf Regierungsebene gewesen, erscheint damit reduktionistisch. Der historischen Wirklichkeit näher kommt eine Interpretation, welche Appeasement als eine Strategie zweier komplementärer Säulen begreift. Die erste Säule bildete die diplomatische Ebene: die Doppelstrategie aus 65 Dutton: Chamberlain, 114 f. 66 Seul: Appeasement und Propaganda, 1266.
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Verhandlungsangeboten einerseits und Aufrüstungsmaßnahmen zur Abschreckung vor weiteren Aggressionstaten andererseits. Daneben trat im September 1938 die Propagandakampagne als zweite Säule: Mittels Propaganda wurde die deutsche Bevölkerung aktiv in die britische Politik der Friedenssicherung auf dem europäischen Kontinent eingebunden und zum Garanten dieser Politik erhoben, indem London die Drohung gegenüber Hitler in den Raum stellte, dass sein eigenes Volk sich gegen ihn erhöbe, sollte sein Regime den Kriegskurs einschlagen. Die beiden Säulen der Appeasement-Politik standen freilich nicht spannungsfrei nebeneinander. Einerseits versuchte Chamberlain, auf diplomatischer Ebene ein Abkommen mit dem Dritten Reich zu erreichen. Andererseits verfolgte er mit seiner Propagandakampagne subversive Ziele, welche die Beschwichtigungsbemühungen auf Regierungsebene zu konterkarieren drohten. Zwar spiegelte die Propaganda die britische Regierungspolitik gegenüber dem Dritten Reich wider, doch schon die Gesinnung, die klar ersichtlich hinter der britischen Propaganda stand, musste diese den Nationalsozialisten suspekt erscheinen lassen. Auch wenn die britische Seite immer das Gegenteil behauptete, so war ihr Ziel nicht nur die uneigennützige Aufklärung; vielmehr wollte sie das deutsche Volk für ihre Friedenspolitik gewinnen und seinen Widerstand gegen Hitlers aggressive Außenpolitik schüren. In Anbetracht von Hitlers expansionistischen Absichten, die im Widerspruch zu Chamberlains Friedensbemühungen standen, und der Natur des Dritten Reiches, das jede freie Information und Meinungsäußerung durch rigide Zensur und Terrormaßnahmen unterdrückte, musste die britische Propaganda daher zwangsläu g in Kon ikt mit dem NS-Regime geraten. Denn jeder Versuch einer ausländischen Regierung, die deutsche Öffentlichkeit ‚aufzuklären`, dürfte von den Nationalsozialisten als Versuch zur Unterwanderung und Schwächung ihres Regimes aufgefasst worden sein. Die Quellen legen indes den Schluss nahe, dass Chamberlain diese Gefahr bewusst in Kauf nahm und zum Erhalt des Friedens gerade auf die kombinierte Strategie aus Diplomatie und Propaganda setzte. Während Hitler auf Regierungsebene zu einem Abkommen bewegt werden sollte, sollte mit der Propaganda gleichzeitig Druck auf den Diktator ausgeübt werden, am Verhandlungstisch zu bleiben. Damit kam der Propaganda eine ähnliche Funktion wie den britischen Aufrüstungsmaßnahmen zu: Diese sollten Hitler auf diplomatischer Ebene vor einem Krieg abschrecken und waren ebenfalls ein fester Bestandteil der Beschwichtigungspolitik. Diese Sichtweise erklärt schließlich, warum die Bedeutung der Propaganda innerhalb der Appeasement-Politik proportional zur Verschlechterung der Beziehungen auf Regierungsebene zunahm. Spielte die Propaganda vor der Sude-
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tenkrise überhaupt keine Rolle, weil Chamberlain fest an das Gelingen seiner diplomatischen Bemühungen gegenüber Hitler glaubte, so kam ihr als zweiter Säule des Appeasement eine umso größere Bedeutung zu, je zweifelhafter die Erfolgsaussichten der Beschwichtigungsstrategie auf Regierungsebene erschienen. Der Kriegsausbruch beendete schließlich das deutsch-britische Verhältnis auf diplomatischer Ebene ganz, sodass die britische Propaganda keinerlei Rücksicht mehr auf die Emp ndlichkeiten der Nationalsozialisten zu nehmen brauchte. Sie konnte sich nur noch an das deutsche Volk richten, dieses zum Sturz Hitlers aufrufen und die Angebote und Bedingungen der Londoner Regierung für einen Friedensschluss mit einer neuen deutschen Regierung bekanntgeben. Im Ergebnis überdauerte damit die Propaganda-Säule der Appeasement-Politik sogar die diplomatische Säule. In dieser eigenständigen Stellung gegenüber den Außenbeziehungen auf diplomatischer Ebene liegt die Besonderheit der britischen Informationspolitik der Appeasement-Zeit, die mit dem Begriff der Propaganda wohl nur unzureichend umschrieben ist. Eine solch herausragende Stellung besaß Propaganda weder in früheren Kampagnen europäischer Staaten noch in der Kriegspolitik der Regierung Churchill, welche dem militärischen Sieg über das Dritte Reich absolute Priorität einräumen und die Propaganda der militärischen Kriegführung unterordnen sollte. 67 Die britische Propaganda der Jahre 1938–1940 erweist sich damit als Vorbotin fundamental wichtiger Entwicklungen im Europa der Nachkriegszeit. Denn im Zuge der europäischen Integration wurden die nationalstaatlichen Grenzen der Politik allmählich aufgebrochen und es bildeten sich – zumeist ereignisbezogen – europäische Kommunikationsräume und öffentliche Meinungen über nationale Grenzen hinweg, die auf einer gemeinsamen Überzeugung von den Grundwerten der westlichen Zivilisation und Demokratie und deren Gefährdungen durch totalitäre Diktaturen gründen. 68 Im vereinten Europa lassen sich die Regierungen nicht mehr ausschließlich von der Meinung der jeweils eigenen Öffentlichkeit, sondern auch von derjenigen anderer Mitgliedsstaaten leiten, und sie versuchen ihr Handeln nicht nur gegenüber der eige67 Seul: Appeasement und Propaganda, 1287–1289; Seul: „Plain, unvarnished news“, 388. 68 In der kommunikationswissenschaftlichen Forschung wird zumeist nicht von einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit, sondern von mehrfach segmentierten transnationalen Kommunikationsräumen ausgegangen, deren Gemeinsamkeit darin liegt, dass sie (häug temporäre) Strukturen jenseits der Nationalstaaten ausbilden. Vgl. Brüggemann/ Hepp/Kleinen-von Königslöw /Wessler: Transnationale Öffentlichkeit in Europa; Andreas Hepp /Monika Elsler /Swantje Lingenberg /Anne Mollen /Johanna Möller / Anke Offerhaus: The Communicative Construction of Europe. Cultures of Political Discourse, Public Sphere and the Euro Crisis. Basingstoke 2016.
336 Stephanie Seul
nen, sondern auch gegenüber transnationalen Öffentlichkeiten zu legitimieren. Diese Entwicklung nahm Chamberlain durch die direkte Kommunikation mit dem deutschen Volk und dessen Einbeziehung in den außenpolitischen Prozess vorweg. In Chamberlains Politik begannen die Grenzen zwischen Außenund Innenpolitik zu verschwimmen: Seine Politik gegenüber dem Dritten Reich wurde zur ‚transnationalen Innenpolitik`, welche die traditionelle zwischenstaatliche Begrenzung überwand. 69 Denn Chamberlain versuchte sein außenpolitisches Handeln nicht mehr nur gegenüber der eigenen Öffentlichkeit, sondern ebenso gegenüber einer transnationalen – der deutschen – Öffentlichkeit zu legitimieren. Die deutsche öffentliche Meinung war ihm wichtig, weil er erkannte, dass seine Friedenspolitik nur dann Aussicht auf Erfolg haben konnte, wenn das deutsche Volk sie unterstützte – notfalls auch gegen die eigene nationalsozialistische Regierung. Letzten Endes schlug jedoch Chamberlains Versuch, die deutsche Öffentlichkeit für seine außenpolitischen Ziele zu instrumentalisieren, fehl. Seine Hoffnungen und Erwartungen an das deutsche Volk und an das Wirkungspotenzial der Propaganda wurden enttäuscht: Weder gelang es vor Kriegsausbruch, eine breite Widerstandsfront gegen die aggressive Außenpolitik des NS-Regimes aufzubauen, um innenpolitisch Druck auf Hitler zu erzeugen, eine friedliche Lösung von internationalen Streitfragen zu akzeptieren, noch konnte die britische Kriegspropaganda eine rasche und unblutige Beendigung des Krieges herbeiführen. In ihren beiden Säulen – der Diplomatie wie der Propaganda – scheiterte Chamberlains Appeasement-Politik letztlich an einem idealistischen, aber verfehlten Bild vom Dritten Reich und dem deutschen Volk. Auf diplomatischer Ebene erlag die Appeasement-Politik einem unrealistischen Glauben an Hitlers Wunsch nach Frieden und an eine demokratische Rückbindung der nationalsozialistischen Außenpolitik, während das NS-Regime in Wirklichkeit aggressiv und ohne jede Rücksicht auf die Volksmeinung nach Expansion strebte. Auf Propagandaebene scheiterte die britische Beschwichtigungs-Politik an ihrem illusorischen Glauben an die Existenz einer quasidemokratischen Öffentlichkeit im Dritten Reich.
69 Zur Überwindung der Trennungslinien zwischen Innen- und Außenpolitik in der transnationalen Geschichtsschreibung vgl. Akira Irye: The Transnational Turn. In: Diplomatic History 31 (2007), 373–376 (hier 376).
Hermann Wentker
Massenmedien und Öffentlichkeit als Faktoren der Politik Der Gorbatschow-Effekt, die westdeutsche Meinungsbildung und die Politik der Regierung Kohl-Genscher (1985–1989)
Wiederholt verlieh Helmut Kohl 1988 und 1989 vor der CDU/CSU-Fraktion seinem Ärger über den KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow Ausdruck, der ihn vor allem durch seine wiederholten Abrüstungsvorschläge in Bedrängnis brachte. Am 23. Februar 1988 entfuhr es ihm: „Und wir müssen endlich aus der Lage raus, dass Gorbatschow Vorschläge macht – und wir reagieren!“ 1 Über ein Jahr später, am 25. April 1989, formulierte er ganz ähnlich: „Wir müssen endlich aus der Lage rauskommen, dass der Gorbatschow fortdauernd irgendwo ein Ei ablegt und wir verharren auf der westlichen Seite.“ 2 Indirekt warf Kohl Gorbatschow eine Desinformationskampagne vor, da aus Sicht der Bundesregierung die Sowjetunion gar nicht ernsthaft abrüste. Und dabei komme es vor allem auf die konventionelle Abrüstung an, da in diesem Bereich in Europa die größte Asymmetrie bestehe, die zudem die Bundesrepublik am meisten bedrohe. 3 Wie diese Argumentation zeigt, war Kohl die innergesellschaftliche Wirkung, die Gorbatschow mit seiner Politik erzielte, mindestens genauso wichtig wie die Herausforderung, die dieser für ihn auf der internationalen Bühne darstellte. Bei einer Einbeziehung der medial vermittelten Ein üsse des Auslands auf die Auseinandersetzung im Inneren verschwimmen oftmals die Grenzen von ‚innen` und ‚außen`, da für die Entscheidungsträger kaum noch zu unterscheiden ist, ob es sich um ein außen- oder ein innenpolitisches Problem handelt. Genau an dieser Schnittstelle von ‚innen` und ‚außen` sind die folgenden Ausführungen angesiedelt, die sich mit der Perzeption Gorbatschows durch die westdeutsche Öffentlichkeit und mit den Wirkungen befassen, die diese auf die Politik der 1 2 3
Protokoll der Fraktionssitzung am 23.2. 1988, Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), 08-001-1084/2 (Bestand CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag). Protokoll der Fraktionssitzung am 25. 4. 1989, ACDP, 08-001-1089/2. Vgl. dazu auch Kohls Äußerung vor der Fraktion am 17. 5. 1989, ACDP, 08-001-1085/2.
338 Hermann Wentker
Regierung Kohl – Genscher hatte. Dabei wird, erstens, ganz knapp auf das Verhältnis von Massenmedien und Öffentlichkeit eingegangen und die Möglichkeiten, die dadurch Gorbatschow in der Bundesrepublik eröffnet wurden. Zweitens geht es um Image und Wirkungen von Gorbatschow in Medien und Öffentlichkeit der Bundesrepublik bis 1989, bevor drittens nach dem Gorbatschow-Effekt auf die Regierung Kohl – Genscher anhand von zwei konkreten Beispielen gefragt wird.
I. Massenmedien und Öffentlichkeit als Arena des Meinungsstreits über Außenpolitik Über die komplexen Wechselwirkungen zwischen Massenmedien, Öffentlichkeit und Außenpolitik ist schon viel geschrieben worden. Zwar ist man inzwischen weit entfernt von der Behauptung einfacher Kausalbeziehungen etwa zwischen bestimmten außenpolitischen Entscheidungen und der dazu demoskopisch ermittelten öffentlichen Meinung; trotz intensiver Forschungen gibt es indes noch keine allgemeingültige Theorie über den Zusammenhang von Massenmedien, Öffentlichkeit und Außenpolitik, wenngleich eine Reihe von Forschern, gerade in den Vereinigten Staaten, immer wieder solche theoretischen Überlegungen anstellt. 4 Hier wird kein weiterer Versuch in dieser Richtung unternommen; es geht vielmehr darum, den für das gewählte Fallbeispiel notwendigen theoretischen Rahmen zu umreißen. Als Ausgangspunkt soll die De nition dienen, der zufolge Öffentlichkeit „ein durch Medien strukturiertes Ge echt von mehr oder weniger offenen Räumen“ bildet. 5 Es ist zwar auch argumentiert worden, dass es sinnvoller sei, von mehreren, nebeneinander bestehenden Teilöffentlichkeiten statt von der einen Öffentlichkeit zu sprechen. Dabei kommt indes der massenmedialen Öffentlich-
4
5
Vgl. u. a. Chanan Naveh: The Role of the Media in Foreign Policy Decision-Making: A Theoretical Framework. In: con ict & communication online 1 (2002) Nr. 2. URL: http://park.edu/%5C/center-for-peace-journalism/_documents/_resources/role%20of% 20media%20in%20foreign%20policy%20decsnmkng.pdf (zuletzt abgerufen 18. 8. 2015); Benjamin I. Page: Toward General Theories of the Media, Public Opinion, and Foreign Policy. In: Brigitte L. Naclos /Robert Y. Shapiro /Perangeol Isernia (Hrsg.): Decisionmaking in a Glass House. Mass Media, Public Opinion and American and European Foreign Policy in the 21st Century. Lanham 2000, 85–91; Eric Shiraev: Toward a Comparative Analysis of the Public Opinion-Foreign Policy Connection. In: ebd., 297–304. So die De nition von Karl Christian Führer /Knut Hickethier /Axel Schildt: Öffentlichkeit – Medien – Geschichte. Konzepte der modernen Öffentlichkeit und Zugänge zu ihrer Erforschung. In: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), 1–38, hier 18.
Massenmedien und Öffentlichkeit als Faktoren der Politik 339
keit eine besondere Bedeutung zu, die in der Lage ist, diese Teilöffentlichkeiten zumindest partiell zu integrieren. 6 Wichtig ist überdies der politische Rahmen. Pluralistische Systeme wie die Bundesrepublik zeichnen sich durch autonome Teilöffentlichkeiten mit unterschiedlichen Parteien und Milieus aus, und hier existieren Wechselwirkungen zwischen Medien und Öffentlichkeit(en): Letztere informiert sich durch die Medien und konstituiert sich zu einem großen Teil über die Medien. 7 Überdies betreiben die Massenmedien Agenda-Setting, unter anderem durch ihre außenpolitische Berichterstattung: Sie bestimmen zwar nicht über außenpolitische Optionen, aber über das, worüber die Bürger außenpolitisch nachdenken. 8 Den Massenmedien kommt folglich eine Schlüsselfunktion im öffentlichen Raum zu, da sie bündeln und re ektieren, worüber kommuniziert wird. Gleichwohl legen sie die außenpolitische Agenda nicht im luftleeren Raum fest, sondern müssen dabei öffentliche Stimmen und Stimmungen berücksichtigen. Es besteht also auch hier eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Massenmedien und Öffentlichkeit. In unserem Zusammenhang bietet es sich an, Öffentlichkeit nicht nur als Raum zu betrachten, sondern als Arena, in der mithilfe der Massenmedien auch über Außenpolitik gestritten wurde. Kennzeichen dieser Arena waren einerseits eine grundsätzliche Offenheit und Pluralität und andererseits eine gewisse, für die Bundesrepublik typische, parteipolitische Strukturierung. 9 Seit seinem Machtantritt im März 1985 wurde Gorbatschow zu einem zentralen Bezugspunkt der Berichterstattung in den westdeutschen Massenmedien. Diese erzeugten Images 10 des sowjetischen Parteichefs; Gorbatschow wurde in der spezi schen
6
Vgl. Jörg Requate: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analysen. In: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), 5–32, hier 9–16. 7 Vgl. Hermann Wentker: Chance oder Risiko? Die Außen- und Deutschlandpolitik der DDR im deutsch-deutschen Kommunikationsraum. In: Frank Bösch/Peter Hoeres (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2013, 191–210, hier 197. 8 So schon Bernhard C. Cohen: The Press and Foreign Policy. Princeton 1963; hier die Formulierung nach Peter Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit. Massenmedien, Meinungsforschung und Arkanpolitik in den deutsch-amerikanischen Beziehungen von Erhard bis Brandt. München 2013, 24. 9 So Thomas Risse-Kappen: Masses and Leaders, Public Opinion, Domestic Structures and Foreign Policy. In: David A. Deese (Hrsg.): The New Politics of American Foreign Policy. New York 1994, 238–261, hier 243 f. 10 Unter Images werden mit Jürgen Wilke „Formen der subjektiven Abbildung der Realität im menschlichen Bewußtsein“ verstanden: Vgl. Jürgen Wilke: Imagebildung durch Massenmedien. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Völker und Nationen im Spiegel der Medien. Bonn 1989, 13.
340 Hermann Wentker
massenmedialen Perzeption 11 zu einem Mitspieler in der Arena der westdeutschen Öffentlichkeit. Daneben blieb er ein durchaus realer Akteur auf der internationalen Bühne, dessen Aktivitäten von der Bundesregierung allerdings unterschiedlich gedeutet wurden. Aus beidem zusammen ergab sich das, was man als den „Gorbatschow-Effekt“ auf die Politik der Bundesregierung bezeichnen kann. Zusätzlich zu der Bedeutung, die Gorbatschow als Führer der sowjetischen Supermacht besaß, bekam er also, vermittelt durch die Medien, ein spezi sches Gewicht in der westdeutschen Öffentlichkeit. Dem „Gorbatschow-Faktor“ musste die bundesdeutsche Politik Rechnung tragen, unabhängig davon, ob sie damit eher Chancen oder Risiken verband.
II. Gorbatschow in der westdeutschen Öffentlichkeit 1985–1989: Wahrnehmung und Image Seit seiner Wahl zum KPdSU-Generalsekretär am 11. März 1985 ging eine Faszination von Gorbatschow aus, die vor allem darauf beruhte, dass er so anders war als seine Vorgänger: Mit 54 Jahren war er noch relativ jung, er war anständig gekleidet, er sprach frei und gab sich volksnah. Und da nicht das Gewöhnliche, sondern das Außergewöhnliche einen Nachrichtenwert hat, wurde Gorbatschow schon bald ein Liebling zahlreicher westlicher Medien. Der konservative Publizist Johannes Gross brachte dies Ende 1986 auf den Punkt: „Gorbatschow hat die Mitwelt hauptsächlich dadurch für sich gewonnen, daß er nicht mehr tat, als dem überkommenen Bild eines Kreml-Tyrannen möglichst wenig zu entsprechen, aufzutreten, auszusehen wie ein normaler, erzogener Mensch, der nichts anderes im Schilde führt als der Geschäftsmann, der Friedensfreund von nebenan.“ 12 Dabei p egten er und seine Frau Raissa, die, was ebenfalls neu war, immer öfter an der Seite ihres Mannes in der Öffentlichkeit auftrat, ihr Image und achteten
11 Solche Perzeptionen geschehen im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstwahrnehmung, wobei Fremdwahrnehmung stets selektiv ist, da sie immer im Zusammenhang mit der Selbstwahrnehmung des Rezipienten erfolgt. Vgl. Gottfried Niedhart: Selektive Wahrnehmung und politisches Handeln: internationale Beziehungen im Perzeptionsparadigma. In: Wilfried Loth /Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten. München 2000, 141–157, hier 150–153. 12 Johannes Gross: Das neue Notizbuch 1985–1989. Stuttgart 1990, 108 (Eintrag vom 12. 12. 1986). Ähnlich Carl G. Ströhm: Le style c'est l'homme? In: Die Welt, 10. 10. 1985.
Massenmedien und Öffentlichkeit als Faktoren der Politik 341
dabei insbesondere auf die Fernsehtauglichkeit der von ihnen produzierten Bilder. 13 Gingen mit dem neuen Stil jedoch auch neue Inhalte einher? Bei der Beantwortung dieser Frage taten sich die westdeutschen Medien zunächst schwer. Außenpolitisch wurden die Abrüstungsvorschläge, mit denen Gorbatschow bald an die Öffentlichkeit trat, zwar aufmerksam registriert, aber mit den stagnierenden Abrüstungsverhandlungen kontrastiert und weitgehend skeptisch gedeutet. 14 Das erste Gipfeltreffen mit Präsident Ronald Reagan am 19./20. November 1985 in Genf galt zwar als Fortschritt, da die beiden führenden Staatsmänner wieder miteinander redeten; in Rüstungsfragen hatte die Begegnung nach allgemeiner Auffassung freilich keine Resultate gezeitigt. Das Bild Gorbatschows blieb umstritten: Er versuche, so Carl Gustaf Ströhm von der Welt, „durch lockeres Auftreten und freundliche Worte zu werben“, verdecke aber damit, dass sich an der Ausrichtung der sowjetischen Politik nichts geändert habe. 15 Josef Joffe von der Süddeutschen Zeitung hingegen hob die größere Geschmeidigkeit der sowjetischen Politik unter Gorbatschow hervor, der mit seinen Abrüstungsofferten Handlungsfähigkeit demonstriere, sodass „die atmosphärischen Bedingungen für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den Supermächten [. . . ] seit langem nicht mehr so günstig gewesen“ seien. 16 Innenpolitisch erschien Gorbatschow nicht als Liberalisierer, sondern vor allem als technokratischer, auf Ef zienzsteigerung des sowjetischen Wirtschaftssystems zielender Modernisierer. 17 Gleichwohl festigte sich 1986/1987 in der Bundesrepublik das Image Gorbatschows als Reformer. Das lag zunächst an dessen Aktivitäten, deren Wirkungen allerdings durch die westdeutschen Medien verstärkt wurden. Außenpolitisch trat er vor allem mit nuklearen Abrüstungsinitiativen hervor. Auf dem Gipfeltreffen von Reykjavík am 11./12. Oktober 1986 schlug er vor, alle Mittelstreckenwaffen in Europa abzuschaffen, beharrte aber gleichzeitig auf dem amerikanischen Ver13 Vgl. Gerd Ruge: Michail Gorbatschow. Biographie. Frankfurt am Main 1990, 226; Klaus Bednarz: Michail Gorbatschow. Sein Leben, seine Ideen, seine Visionen. Hamburg 1990, 30. 14 Vgl. zusammenfassend Sigurd Boysen: Gorbatschows Vorschläge zur Abrüstung. In: Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien [BIOst] (Hrsg.): Sowjetunion 1986/87. Ereignisse, Probleme, Perspektiven. München, Wien 1987, 229–242, hier 241 f. Boysen war Mitarbeiter des BIOst. 15 Carl G. Ströhm: Der Mann aus dem Kreml steht unter Erfolgsdruck. In: Die Welt, 21. 11. 1985. 16 Josef Joffe: Die Supermächte nach dem Genfer Gipfeltreffen. In: Europa-Archiv 41 (1986), 157 f. 17 Vgl. etwa Bernhard Küppers: Gorbatschow ist kein Liberalisierer. In: Süddeutsche Zeitung, 11. 10. 1985.
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zicht auf SDI. Letzteres lehnte Reagan ab, sodass der Gipfel ergebnislos endete. Die westdeutschen Medien waren in der Frage, wer dafür die Verantwortung trug, gespalten. In der Welt war es Gorbatschow mit seiner „Entschlossenheit, das amerikanische Projekt der Raketenabwehr (SDI) praktisch aus der Welt zu schaffen“, in der Frankfurter Rundschau hingegen Reagan, der auf den von SDI erwarteten „Zuwachs an Stärke“ gesetzt habe. 18 Die Demoskopie ermittelte jedoch ein klares Meinungsbild. Laut einer Emnid-Umfrage gaben 27% allein den USA und nur 10 % allein der Sowjetunion die Schuld am Scheitern des Treffens. Ein größeres Interesse an einem Abkommen zur atomaren Abrüstung unterstellten 36% der Sowjetunion und nur 15 % den USA. 19 Die Öffentlichkeit hatte danach mehrheitlich die Skepsis gegenüber Gorbatschow aufgegeben; auf dieser Welle schwammen Medien wie der Spiegel, sie konnten daher die öffentliche Debatte stärker dominieren als zahlreiche Experten, die Gorbatschow weiterhin skeptisch sahen. Auch die sowjetischen Formeln vom „Neuen politischen Denken“ in der Außenpolitik und vom „Gemeinsamen Europäischen Haus“ griffen im öffentlichen Sprachgebrauch um sich. 20 Die vagen Begriffe suggerierten eine Abkehr von der Blockkonfrontation und beschworen Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West. Sie wurden von einer Öffentlichkeit, die nur wenige Jahre zuvor von der Auseinandersetzung um die Nachrüstung aufgewühlt worden war, gern aufgenommen und weiter verbreitet. Mit dem neuen Generalsekretär erschien auch die Sowjetunion in sehr viel milderem Licht: Die subjektive Aneignung Gorbatschows und seiner Politik, so zeigt dieses Beispiel, fand in der Bundesrepublik im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstwahrnehmung statt. 21 Und die positive Perzeption Gorbatschows strahlte auf die Sowjetunion aus, die immer weniger als eine waffenstarrende, expansive Supermacht wahrgenommen wurde.
18 Herbert Kremp: Gipfel-Folgen. In: Die Welt, 14. 10. 1986; Karl Grobe: Die Folgen von Reykjavik. In: Frankfurter Rundschau, 14. 10. 1986. 19 Die Zahlen in: „Kohl hätte sich entschuldigen müssen“. Spiegel-Umfrage zum Vergleich Gorbatschow-Goebbels und zur Abrüstung. In: Der Spiegel, 10. 11. 1986. 20 Das Neue (Politische) Denken wurde von Gorbatschow seit dem KPdSU-Parteitag von 1986 propagiert. Vgl. vor allem den dort von ihm vorgetragenen Politischen Bericht des ZK der KPdSU vom 25.2 1986. In: Michail Gorbatschow: Ausgewählte Reden und Aufsätze, Bd. 3. Berlin (Ost) 1988, 218–221. Bereits Gromyko und Breschnew hatten vom Gemeinsamen Europäischen Haus gesprochen; Gorbatschow tat dies erstmals in einer Rede in Großbritannien am 18. 12. 1984, ebenda, 127. Vgl. dazu Marie-Pierre Rey: ‚Europe is our Common Home`: A Study of Gorbachev's Diplomatic Concept. In: Cold War History 4 (2004), 33–65. 21 Vgl. Anm. 11.
Massenmedien und Öffentlichkeit als Faktoren der Politik 343
Was die Innenpolitik betraf, so dominierte Anfang 1986 noch Unsicherheit über Gorbatschows Ziele. Der XXVII. KPdSU-Parteitag vom 25. Februar bis zum 6. März 1986 erfüllte die westdeutschen Hoffnungen weder in Bezug auf tiefgreifende Reformen noch im Hinblick auf ein wirtschaftliches Konzept. Mit seiner Informationspolitik nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vom 26. April verlor Gorbatschow zudem an Glaubwürdigkeit, da er damit seiner eigenen, auf dem Parteitag erhobenen Forderung nach Glasnost zuwiderhandelte. 22 Obwohl sich die bundesdeutsche Debatte bald nur noch um die Frage drehte, ob man selbst an der Kernenergie festhalten solle oder nicht, ging die die Anzahl derer, die eine gute Meinung von Gorbatschow hatten, von 42% (November 1985) auf 34% (Mai 1986) zurück. Doch die seit 1977 gemessene kontinuierliche Sympathiesteigerung für die Sowjetunion unter den Westdeutschen wurde (von niedrigem Niveau aus) durch Tschernobyl zwar gestoppt, aber nicht umgekehrt. 23 Gleichwohl wandelte sich auch die Wahrnehmung der sowjetischen Innenpolitik, nicht zuletzt wegen der seit 1986 propagierten Slogans von Glasnost und Perestroika, die allerdings mehr suggerierten, als tatsächlich in der Sowjetunion passierte. Dank der Medien drangen sie aber in den politischen Wortschatz der Bundesrepublik ein, sodass im August 1987 schon 59 % von Glasnost (Öffentlichkeit, Transparenz) und 28% von Perestroika (Umgestaltung) gehört hatten, auch wenn nicht alle diese Worte richtig übersetzen konnten. 24 Insgesamt stieg daher die Popularitätskurve Gorbatschows 1986 trotz Tschernobyl weiter an. Das zeigt nicht zuletzt die Reaktion auf den mehr als unglücklichen Gorbatschow – Goebbels-Vergleich, zu dem sich Bundeskanzler Kohl in einem Interview für das amerikanische Magazin Newsweek hatte hinreißen lassen, das am 27. Oktober 1986 erschien. Laut einer Spiegel-Umfrage sahen 90 % der Bundesbürger darin einen Fehler, 64% hielten den Vergleich für ungerechtfertigt, auch wenn 58 % die sowjetische Reaktion, den Besuch von Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber abzusagen, für übertrieben erachteten. 25 Nach Ansicht
22 So vor allem Werner Adam: Gorbatschow strapaziert seine Glaubwürdigkeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. 5. 1986; Eine Störung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 5. 1986; Werner Adam: Aus dem Kreml kein Wort. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 5. 1986; Carl G. Ströhm, Ein System brennt. In: Die Welt, 2. 5. 1986. 23 Elisabeth Noelle-Neumann /Renate Köcher (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie. 1984–1992, Bd. 9. München u. a. 1993, 970; Infratest: Deutschland und innerdeutsche Situation. Einstellung und Verhaltensweisen der Bundesbevölkerung. Berichtsband 1986, Bd. 4, 41. 24 Noelle-Neumann /Köcher (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch, Bd. 9, 980. 25 „Kohl hätte sich entschuldigen müssen“. Spiegel-Umfrage zum Vergleich GorbatschowGoebbels und zur Abrüstung. In: Der Spiegel, 10. 11. 1986.
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des Spiegel und anderer wirkte dieser Vergleich „in sowjetischer Sicht auch als unverschämte persönliche Beleidigung eines Mannes, der das nicht verdient hat“. 26 Wie an der Umfrage und dieser Bemerkung deutlich wird, wirkte die Äußerung Kohls ein Stück weit sogar kontraproduktiv und festigte Gorbatschows Ruf als Reformer. Eine fundamentale Wandlung des westdeutschen Urteils über den Innenpolitiker Gorbatschow erfolgte Ende 1986/Anfang 1987. Als Belege für die eindeutig reformerischen Absichten galt erstens, dass er am 16. Dezember 1986 dem Regimekritiker Andrei Sacharow und dessen Frau Jelena Bonner die Rückkehr aus Gorki nach Moskau gestattete. Dies wurde von den westdeutschen Medien einhellig begrüßt, wenngleich diese auch die Freilassung der anderen Regimekritiker anmahnten. 27 Zweitens sammelte Gorbatschow Punkte für sich in der Bundesrepublik, als er auf dem ZK-Plenum vom 27./28. Januar 1987 erbarmungslos mit der Breschnew-Ära abrechnete und „Demokratisierung“, insbesondere in der KPdSU, einforderte, auch wenn mitunter gerätselt wurde, was darunter in der Sowjetunion zu verstehen sei. 28 Drittens registrierten die westdeutschen Medien eine bisher nicht gekannte Liberalität in der sowjetischen Filmpolitik: Denn im Januar 1987 kam der Film „Die Beichte“ in die sowjetischen Kinos, der erstmals mit der Stalinzeit abrechnete. 29 Bezweifelt wurde nun nicht mehr, dass Gorbatschow wirtschaftliche und politische Reformen anstrebte, wohl aber, ob er diese auch verwirklichen könne. Vor diesem Hintergrund festigte sich die „Pro-Gorbatschow-Stimmung“ in der westdeutschen Öffentlichkeit: Im Juni 1987 hatten 60% eine gute Meinung vom KPdSU-Parteichef (gegenüber 34% im Mai 1986). Das Bedrohungsgefühl gegenüber einer scheinbar rein defensiv ausgerichteten Sowjetunion ließ spürbar nach; nur noch 28% gingen von einem sowjetischen Interesse an Machterweiterung aus, während 49% glaubten, dass der Sowjetunion lediglich an der Sicherung ihrer bestehenden Machtstellung gelegen sei. 30 Interessanterweise verbreitete sich diese Stimmung bereits vor den ersten konkreten Abrüstungs- und Verhandlungserfolgen der beiden Supermächte. Denn das INF-Abkommen mit 26 „Nichts ist vergessen.“ In: Der Spiegel, 10. 11. 1986. 27 Vgl. etwa Carl G. Ströhm: Eine Rückkehr. In: Die Welt, 20./21. 12. 1986; Johann Georg Reissmüller: Schritte und Fehltritte in Moskau. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 12. 1986; Und die anderen? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 12. 1986 28 Rose-Marie Borngässer: Demokratisierung – Ein Schlagwort macht die Runde in Moskau. In: Die Welt, 29. 1. 1987; Josef Riedmiller: Gorbatschows fernes Ziel. In: Süddeutsche Zeitung, 30. 1. 1987. 29 „Wunder sind möglich.“ In: Der Spiegel, 2. 2. 1987. 30 Noelle-Neumann /Köcher (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch, Bd. 9, 979, 982.
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seinen Abrüstungs- und Veri zierungsvereinbarungen hinsichtlich der atomaren Mittelstreckenwaffen wurde erst am 10. Dezember 1987 in Washington unterzeichnet. Am 14. April 1988 folgte das Genfer Abkommen, das die Modalitäten des sowjetischen Abzugs aus Afghanistan regelte, und vom 29. Mai bis zum 2. Juni 1988 der sowjetisch-amerikanische Gipfel in Moskau mit dem Austausch der INF-Rati kationsurkunden. Zwar gab es im konservativen Spektrum weiterhin skeptische Stimmen, die vor der Außen- und Sicherheitspolitik der Sowjetunion warnten. Die Welt etwa mahnte, nicht zu viel auf Moskaus Abrüstungsankündigungen zu geben; die Sowjetunion rüste im konventionellen Bereich vielmehr ungebremst auf, modernisiere ihr Waffenarsenal, und die sowjetische Armee sei „noch immer eine Militärmaschinerie mit eindeutig offensiver Ausrichtung“. Die sowjetische Führung solle daher erst durch Taten zeigen, dass es ihr mit der Abwendung von Konfrontation und Expansion ernst sei. 31 Dem stimmte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Rühe, zu, der in einer Publikation für Nüchternheit im Verhältnis zur Sowjetunion plädierte und als Maßstab für deren Politik nicht das „Neue Denken“, sondern nur „die ‚Neuen Taten` der sowjetischen Führung“ gelten lassen wollte. 32 Solche Stimmen drangen in der öffentlichen Meinung jedoch kaum noch durch. Einer Studie von SINUS München vom September 1988 zufolge hegten 51 % der Bevölkerung eine positive Einstellung gegenüber der Politik der Sowjetunion (und nur 29% gegenüber der der USA); der Sowjetunion unterstellten 27%, sie sei stärker an Abrüstung interessiert als die westliche Supermacht (gegenüber 10%, die das Gegenteil behaupteten). 33 Eine Studie von Allensbach vom Juli 1988 ging in dieselbe Richtung: Während 1982 noch 58% der Westdeutschen gegenüber dem Osten voll Argwohn gewesen seien, sei dies 1988 nur noch bei 25 % der Fall. 49 % glaubten damals, die sowjetische Rüstung sei ausschließlich auf Verteidigung ausgerichtet und stelle keine Bedrohung für die Bundesrepu-
31 Herbert Kremp: Neues Denken, alte Rüstung. In: Die Welt, 28. 5. 1988; Carl G. Ströhm: Einsichten. In: Die Welt, 27.6. 1988; Cay Graf Brockdorff: Fünf Millionen Soldaten. In: Die Welt, 28. 6. 1988; Joachim Neander: Gorbatschow helfen: In: Die Welt, 7.7. 1988; Markus Lesch: Die Sowjetunion rüstet weiter für den Angriff. In: Die Welt, 5. 8. 1988 (hier das Zitat). 32 Volker Rühe: Herausforderungen an die deutsche Außenpolitik. In: ders. (Hrsg.): Herausforderung Außenpolitik. Die neue Generation der CDU/CSU meldet sich zu Wort. Herford 1988, 28 33 SINUS München: Sowjetische und amerikanische Politik im Urteil der Deutschen in der Bundesrepublik. Eine Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung und des STERN. September 1988, 31, 36.
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blik dar. 34 Als Allensbach im Oktober 1989 eine Befragung zur Höhe der Rüstungsausgaben der Sowjetunion durchführte, schätzten 52 % der Bevölkerung ein, diese hätten abgenommen; 71% waren überrascht, als sie hörten, dass diese seit 1985 unverändert geblieben seien. 35 Daran wird deutlich, dass das dominierende Image von Gorbatschow und seiner Strategie zu einem großen Teil ein Produkt westdeutscher Medien war und mit der sowjetischen Realität nicht unbedingt übereinstimmen musste. Oftmals bestätigte Gorbatschow jedoch mit seinen Taten im Nachhinein ein Bild, das zuvor bereits medial vermittelt worden war. So geschah es auch am 7. Dezember 1988, als Gorbatschow mit seiner spektakulären Ankündigung vor den Vereinten Nationen, einseitig die sowjetischen Streitkräfte um 500.000 Mann und 10.000 Panzer abzurüsten, das Image der Sowjetunion als friedliebende Macht festigte und den konservativen Skeptikern in der Bundesrepublik den Wind aus den Segeln nahm. So war es bezeichnend, dass nun nicht nur die Zeit darin einen substanziellen Schritt „weg von der alten Doktrin“ und möglicherweise sogar „den Anfang vom Ende der Nachkriegszeit“ sah. 36 Auch für die Welt bedeutete die Abrüstungsankündigung den Umschwung von Skepsis zu Vertrauen: Gorbatschow habe damit im Ost-West-Dialog „einige der wichtigsten Vorbehalte und Widerstände aus dem Weg geräumt“. Sein Angebot sei nicht nur ein Zeichen von „Goodwill“, sondern auch „ein unübersehbares Signal nach Hilfe, Kooperation und Verständnis für den Weg [. . . ], den er eingeschlagen hat“. 37 Gorbatschows Image als rastloser „Macher“, der beherzt die notwendigen Entscheidungen in Angriff nahm, war 1987/1988 auch hinsichtlich seiner Reformpolitik noch weitgehend intakt. Immer deutlicher wurde jedoch, dass sich gegen Gorbatschow Widerstände regten, vor allem von beharrenden Kräften aus dem Apparat. Als sein wichtigster Gegenspieler pro lierte sich seit 1986 der für Fragen der Ideologie zuständige ZK-Sekretär Jegor Ligatschow, der sich zur Leit gur des traditionellen Parteiapparats entwickelte. Ligatschow scheute sich nicht, die Auseinandersetzung auch öffentlich zu führen, indem er am 13. März 1988 einen Leserbrief der Chemiedozentin Nina Andrejewa in der Sowjetskaja Rossija veröffentlichen ließ, der sich vor allem gegen den kritischen Umgang mit der Stalinzeit, dem Tenor nach jedoch gegen jegliche Reform des Systems wandte. Am 3. April
34 Elisabeth Noelle-Neumann: Die NATO-Experten und das Publikum. Das Problem der Akzeptanz von Verteidigungspolitik. Dokumentation des Beitrags in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. 7.1988, 1 (und Tabelle A 3), 4. 35 Vgl. Noelle-Neumann /Köcher (Hrsg): Allensbacher Jahrbuch, Bd. 9, 1066. 36 Christoph Bertram: Die Endmoränen einer langen Eiszeit? In: Die Zeit, 16. 12. 1989. 37 Fritz Wirth: Auch eine Art Hilferuf. In: Die Welt, 9.12. 1988.
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rückte ein wohl vom Politbüro gebilligter Gegenartikel in der Prawda die Feststellungen des Leserbriefs zurecht, die als „Manifest der Gegner der Perestrojka“ bezeichnet wurden. 38 Die Heftigkeit dieses Machtkampfs entging den deutschen Medien nicht, die zeitweise auch den Sturz Gorbatschows befürchteten. Dieser konnte jedoch sein Image als „Macher“ wieder aufpolieren, indem er sich Ende Mai zehn Thesen für eine auf Ende Juni angesetzte Parteikonferenz vom Politbüro absegnen ließ, die vor allem echte Wahlen für die Parteigremien und eine Stärkung der ‚Sowjets` gegenüber der Partei beinhalteten. Die Parteikonferenz selbst, die vom 28. Juni bis zum 1. Juli stattfand, kennzeichneten ungewohnt offene Auseinandersetzungen zwischen Ligatschow auf der einen und dem ‚Radikalreformer` Boris Jelzin auf der anderen Seite. Da die Reformvorhaben Gorbatschows, insbesondere die Ankündigung halbfreier Wahlen für März 1989, aber im Wesentlichen angenommen wurden, ging dieser dem Spiegel zufolge „aus der Parteikonferenz gestärkt hervor“. Ähnlich urteilte die Welt; die Zeit sprach von einem „Etappensieg“; skeptischer war die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die angesichts der ungelösten Probleme der Sowjetunion titelte: „Ein Durchbruch war es nicht.“ 39 Der Machtkampf gegen Ligatschow, der im August wieder aufammte, konnte dann auch erst am 30. September und am 1. Oktober auf einer ZK-Sitzung beziehungsweise einer Sitzung des Obersten Sowjet beendet werden. Nun wurden die Gewichte im Politbüro endgültig zu Gorbatschows Gunsten verteilt, der ZK-Apparat erfuhr eine grundlegende Umstrukturierung, in deren Rahmen Ligatschow zum Vorsitzenden der Kommission für Landwirtschaft wurde, und Gorbatschow selbst ließ sich vom Obersten Sowjet zum Staatschef wählen. Gorbatschow hatte damit aus Sicht der westdeutschen Medien seine Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. 40 Andererseits wurde erste vorsichtige Kritik an seiner Machtfülle laut; überdies entging Teilen der Presse auch nicht, dass die Verdrängung der Partei zugunsten des Staates mit Risiken verbunden war. Denn Gorbatschow schwächte damit nicht nur einen Widersacher der Reformpolitik, sondern auch das Instrument, auf das er zur Durchführung seiner Politik dringend angewiesen war. 41
38 Vgl. Gerhard Simon: Perestrojka – Eine Zwischenbilanz. In: Sowjetunion 1988/89, 26. 39 Eine Mafia. In: Der Spiegel, 11.7. 1988 (erstes Zitat); Rose-Marie Borngässer: „Sprich, Boris Nikolajewitsch, sprich!“ In: Die Welt, 4. 7. 1988; Johann Georg Reissmüller: Ein Durchbruch war es nicht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 7. 1988. 40 Vgl. etwa Christian Schmidt-Häuer: Ein harter Schlag von langer Hand. In: Die Zeit, 7. 10. 1988. 41 Vgl. Herbert Kremp: Vom Aufleben des Staates. In: Die Welt, 18. 10. 1988: „Wenn Gorbatschow die Staatsinstitution tatsächlich über die Partei stellt [. . . ], operiert er am Zentral-
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Ende 1988 feierte die westdeutsche Presse noch einmal den sowjetischen Staatsmann: Der Spiegel erklärte ihn zum „Mann des Jahres“. Er sei ein „großer Reformer“, der den Parteiapparat entmachte; unter seiner Führung liege die Sowjetunion in Osteuropa „vorn bei dem neuerlichen Großversuch, den Kommunismus zu liberalisieren“. Ungeachtet aller Probleme in der Sowjetunion wurde noch einmal der „Macher“ Gorbatschow beschworen: „Obschon es das ganze Jahr über brodelte, die Position des Generalsekretärs in Moskau wurde nur noch stärker.“ 42 In der Zeit re ektierte Robert Leicht gegen Jahresende über Gorbatschow als einen Staatsmann, der „die Phantasie der Zeitgenossen in Bewegung“ versetze; er zählte ihn unter Rückgriff auf Jacob Burckhardt zu den „großen Männern“ der Weltgeschichte, was allerdings sein Scheitern nicht ausschließe. 43 Selbst in der Welt hieß es in einem Beitrag von Enno von Loewenstern: „Es ist Gorbatschow, der Hoffnung macht.“ 44 Doch bereits seit längerem war immer klarer geworden, dass Gorbatschow mit erheblichen Problemen kämpfte, ohne einer Lösung näher zu kommen. Seit 1987 wurde die sich verschlechternde Versorgungssituation in den westdeutschen Medien thematisiert; seit Herbst 1988 häuften sich derartige Berichte. Dass die bisherigen wirtschaftlichen Reformversuche lediglich halbherzig gewesen waren, konnte der Zeitungsleser ab Anfang 1989 erfahren: Der Berichterstattung zufolge krankten die bisherigen Reformen vor allem daran, dass die Marktmechanismen gering geachtet wurden. Noch im Juni 1989 schrieb die Zeit, dass vor allem eine Preis- und Währungsreform und eine striktere Geldpolitik notwendig seien, die sowjetischen Verantwortlichen aber vor radikalen Maßnahmen wegen der unvorhersehbaren Konsequenzen zurückschreckten. 45 Wichtiger wurde indes das Nationalitätenproblem, aus Sicht der Welt die „Schicksalsfrage für die Sowjetunion“ 46. 1988 eskalierte der Kon ikt über den Status der armenischen Enklave Bergkarabach in Aserbaidschan zwischen Armeniern und Aserbaidschanern, ohne dass Gorbatschow dafür eine Lösung nden konnte. In den baltischen
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nervensystem der sowjetischen Manifest Destiny.“ Deutlicher formulierte Gerhard Simon vom BIOst das Dilemma Gorbatschows in: ders.: Perestrojka, 25. „Gorbatschow, der lockert und lockert . . . “. In: Der Spiegel, 12. 12. 1988. Robert Leicht: Eine Ahnung von historischer Größe. In: Die Zeit, 23. 12. 1988. Enno v. Loewenstern: Ein Jahr der Hoffnung. In: Die Welt, 31. 12. 1988. Vgl. Karlheinz Kleps: Münchhausen an der Moskwa. In: Die Zeit, 17.2. 1989; Christian Schmidt-Häuer: Kein Sinn für Kommerz. In: Die Zeit, 17. 3.1989; Robert Leicht: Der Preis der Perestrojka. In: Die Zeit, 16. 6. 1989. So Carl Gustaf Ströhm: Der latente Bürgerkrieg. In: Die Welt, 14. 7. 1989. Zusammenfassend zur Nationalitätenfrage 1988 vgl. Uwe Halbach: Anatomie einer Eskalation: Die Nationalitätenfrage. In: Sowjetunion 1988/89, 78–94.
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Sowjetrepubliken kam es zwar nicht zu Gewaltausbrüchen, aber zu Großdemonstrationen und einer rasch erstarkenden Autonomiebewegung. Da sich im Gegenzug russisch-nationalistische Bewegungen bildeten, drohte Gorbatschow auch hier das Heft des Handelns zu entgleiten. Noch einmal, mit den Wahlen zum Volksdeputiertenkongress vom 26. März 1989, erschien Gorbatschow in den westdeutschen Medien als erfolgreicher Reformer: Denn erstmals seit 1917 waren wieder Wahlen unterschiedlicher Kandidaten möglich, erstmals konnte mit Jelzin „ein gemaßregelter Top-Funktionär [. . . ] ein Comeback – mit dem Stimmzettel“ erreichen. 47 Die Wahlen hatten der Zeit zufolge „dem mit dem Rücken zur Wand kämpfenden Gorbatschow [. . . ] zum bisher größten Triumph verholfen“ und den reformfeindlichen Kräften in der Partei eine emp ndliche Niederlage zugefügt. 48 Außerdem gelang es Gorbatschow noch am 25. Mai, vom Volksdeputiertenkongress zum Präsidenten gewählt zu werden, und noch einmal wurden ihm Elogen in der westdeutschen Presse zuteil. 49 Doch nun begannen die Probleme überhandzunehmen, sodass sich auch das Gorbatschow-Bild binnen kurzem dramatisch wandelte. Denn der Volkskongress, dessen Sitzungen über das Fernsehen in die ganze Sowjetunion übertragen wurden, debattierte „das Versagen des Systems“: Dazu zählten nicht nur spektakuläre Katastrophen und Unruhen im Vielvölkerstaat, sondern auch Korruption und die Mängel des Alltags – Phänomene, denen gegenüber der Präsident hilflos erschien. 50 Der Kongress entwickelte eine erhebliche Eigendynamik, denn er bot nicht nur Jelzin als dem entscheidenden Rivalen Gorbatschows eine Bühne, sondern brachte auch die Forderung nach einem Mehrparteiensystem hervor. 51 Er verstärkte damit die Probleme, die die Sowjetunion auch im Krisenjahr 1989 vor eine Zerreißprobe stellten. Neben der Talfahrt der Wirtschaft handelte es sich dabei vor allem um die Ausweitung und Eskalierung der Nationalitätenkon ikte, die nun auf Georgien, Mittelasien und Moldawien übergriffen und zunehmend gewaltsam ausgetragen wurden. „Totentanz im Riesenreich“, titelte die Zeit angesichts der bürgerkriegsähnlichen Zustände in Mittelasien und im Kaukasus, und im September stellte sie die bange Frage: „Zerbricht die Sowjetunion?“ 52 Auf der ZK-Sitzung vom 19./20. September 1989 wurde das Nationalitätenproblem zwar 47 48 49 50 51 52
Ein Dissident im Obersten Sowjet? In: Der Spiegel, 27. 3.1989. Christian Schmidt-Häuer: Mit Stimmzetteln gegen das System. In: Die Zeit, 31. 3. 1989. Siehe u. a. „Glasnost kann man nicht in den Tee tun.“ In: Der Spiegel, 5. 6. 1989. Christian Schmidt-Häuer: Die Wahrheit bricht sich Bahn. In: Die Zeit, 9. 6. 1989. Vgl. Soviel Macht. In: Der Spiegel, 19. 6. 1989. Christian Schmidt-Häuer: Totentanz im Riesenreich. In: Die Zeit, 23. 6. 1989; Christoph Bertram: Test für Moskau. In: Die Zeit, 22. 9.1989.
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behandelt, aber Gorbatschow elen dort, so der Spiegel, „nur halbherzige Lösungen ein“. 53 Seit Juli kam mit den Bergarbeiterstreiks, die vom Kusbass rasch auf alle sowjetischen Bergbauregionen übergriffen, ein weiteres Problem hinzu, bei dem sich Gorbatschow zunächst aufs Taktieren verlegte und am 25. September, als er im Obersten Sowjet ein generelles Streikverbot gesetzlich festlegen wollte, eine emp ndliche Niederlage erlitt: Denn das Parlament beschränkte das Streikverbot auf „lebenswichtige“ Branchen. 54 Unter diesen Umständen wurde Gorbatschow auch für die westdeutschen Medien rasch vom Treibenden zum Getriebenen. Bereits Ende Juli bezeichnete ihn der Spiegel als „Zauderer“, und im Oktober fragte die Zeit: „Versiegt Gorbatschows Charisma im Chaos?“ 55 Insgesamt hatte sich Gorbatschow für die westdeutschen Medien binnen kurzem von einem machtbewussten und zielstrebigen Macher zu einem Zauberlehrling gewandelt, der die Geister, die er gerufen hatte, nun nicht mehr loswurde.
III. Auswirkungen des Gorbatschow-Images auf die bundesdeutsche Politik Die Bundesregierung musste 1988/1989 nicht nur mit der tatsächlichen Politik Gorbatschows umgehen, sondern auch mit dessen medial vermitteltem Image. Aufgrund der Wirkung, die Gorbatschow mittels der westdeutschen Medien auf die westdeutsche Öffentlichkeit ausübte, war die Regierung genötigt, mehr als sonst bei außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen innenpolitische Faktoren zu berücksichtigen. Sowohl das Bild des allein auf Frieden und Abrüstung ausgerichteten sowjetischen Führers als auch das des zunehmend in Bedrängnis geratenen Zauberlehrlings hinterließ in der Bundesrepublik eine nachhaltige Wirkung und erschwerte eine auf Härte und Abschreckung setzende Politik. Aus beidem folgte vielmehr, dass Gorbatschow unterstützt und dessen Position möglichst gestärkt werden sollte. In der Bundesregierung kristallisierten sich 1986/1987 vor allem zwei Meinungen heraus, die für die operative Politik gegenüber Moskau relevant werden sollten: die von Außenminister Hans-Dietrich Genscher – und der Mehrheit des Auswärtigen Amts – sowie die einer Reihe von CDU-Politikern, insbesondere von Verteidigungsminister Manfred Wörner und von Bundeskanzler Helmut Kohl. Genscher betonte nach Informationen der Hauptverwaltung A des
53 „Augenblick der Wahrheit.“ In: Der Spiegel, 25. 9. 1989. 54 Neue Waffe. In: Der Spiegel, 9. 10. 1989. 55 „Wir müssen ehrlich durch diese Krise.“ In: Der Spiegel, 31. 7. 1989; Christian SchmidtHäuer: Vor einem Winter der Verzweiflung. In: Die Zeit, 20. 10. 1989.
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DDR-Ministeriums für Staatssicherheit bereits auf dem G7-Treffen in Tokio (4.– 6. Mai 1986) die Notwendigkeit, „Gorbatschow beim Wort zu nehmen und seine Bereitschaft zu größerer Aufgeschlossenheit bei der Veri kation, einschließlich der Inspektionen vor Ort, am Verhandlungstisch zu testen“. 56 Genscher gewann nach seinen Gesprächen mit Gorbatschow und seinem Amtskollegen Eduard Schewardnadse im Juli 1986 den Eindruck, dass die neue sowjetische Führung es mit ihrer Reformpolitik im Innern ernst meine und diese eine neue Außenpolitik zwangsläu g nach sich ziehe. 57 Die Meinung in seinem Ministerium war jedoch zunächst nicht einheitlich. So konstatierte der Leiter der Politischen Abteilung 2, Gerold von Braunmühl, im Zusammenhang mit dem Moskaubesuch Genschers zwar einen Stilwandel bei Gorbatschow und Schewardnadse, der sich auch auf die Politik selbst auswirken werde. Gleichwohl werde die Sowjetunion „ein harter und schwieriger Gegner bleiben“. Und er fügte hinzu: „Wir dürfen bzgl. der Wandlungsfähigkeit der Substanz sowjetischer Innen- und Außenpolitik keine sehr großen Erwartungen hegen.“ 58 Wenngleich Genscher von Braunmühl durchaus schätzte, blieb er bei seiner Auffassung, die er am 1. Februar 1987 auch öffentlich, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, vertrat. Er ging davon aus, dass Gorbatschow „für die Modernisierung seines Landes die wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit mit dem Westen braucht“, sah daher mehr Chancen als Risiken darin, auf Gorbatschow zuzugehen, und schloss seine Rede mit den Worten: „Unsere Devise kann nur lauten: Nehmen wir Gorbatschow ernst, nehmen wir ihn beim Wort!“ 59 Genscher verfolgte mithin einen pragmatischen Ansatz, um mit der Sowjetunion zu veri zierbarer Abrüstung zu gelangen – ein Ansatz, der vor allem im Auswärtigen Amt immer mehr Anhänger fand. Ganz anders Wörner, der am 31. Januar 1987 auf der Wehrkundetagung in München betont hatte, dass die Sowjetunion weiterhin mit ihrer Militärmacht Westeuropa bedrohe. Gorbatschows Verhandlungsangebote müssten zwar ernsthaft geprüft werden, und er schloss nicht aus, dass sich 1987 „vielleicht die Gelegenheit für tragfähige Abkommen in der Rüstungskontrolle bieten“ könne. Doch
56 Information über Vorstellungen von BRD-Außenminister Genscher zum Vorgehen des Westens in den Ost-West-Beziehungen, 29.5. 1986, BStU, MfS HVA 41, Bl. 82. 57 Zu diesem Besuch im Rückblick Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen. München 1995, 493–508, hier 507 f. 58 Analyse von v. Braunmühl vom 25. 7. 1986 über den Staatssekretär an den Bundesminister: Ihr Besuch in der Sowjetunion vom 20.–22. Juli 1986, hier: Gesamtbewertung, PA AA, ZA 139316 E; vgl. Gerhard A. Ritter: Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung. München 2013, 18 f. 59 Die Rede gedruckt in: Hans-Dietrich Genscher: Unterwegs zur Einheit. Reden und Dokumente aus bewegter Zeit. Berlin 1991, 137–150, hier 148, 150.
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überwog bei ihm die Skepsis angesichts der unverminderten Fortsetzung der sowjetischen Rüstungsanstrengungen und des Fortbestehens des „alte[n] Gegensatz[es] zwischen der sowjetischen Abrüstungsrhetorik und der sowjetischen Rüstung“. 60 Wie andere Äußerungen Wörners zeigen, ging er, ungeachtet der neuen Töne aus Moskau, von der Kontinuität der sowjetischen Politik aus. „Der Ost-West-Gegensatz“, so der Verteidigungsminister im Dezember 1986, „wird auch weiterhin bestehen. Es hat keine Veränderungen in der Politik der Sowjetunion gegeben, zumindest nicht in ihren wesentlichen Grundsätzen.“ 61 Und noch im Oktober 1987 warnte er bei der Bewertung der sowjetischen Politik „vor Wunschdenken und Illusionen“. Er verwies auf die anhaltende Besetzung Afghanistans, die weitere Unterdrückung sowjetischer Dissidenten und die ungebremste Aufrüstung des sowjetischen Militärs und fügte, unter Bezugnahme auf das bekannte Genscher-Wort hinzu: „Lassen Sie uns deshalb Gorbatschow beim Wort nehmen: Er muß seinen Worten Taten folgen lassen.“ 62 Auch Kohl ging, ungeachtet des Wachwechsels im Kreml, von Kontinuität in der außenpolitischen Zielsetzung Moskaus aus: Gorbatschow wolle, wie seine Vorgänger auch, die Abkopplung Westeuropas von den USA erreichen. Er ging dabei aber Kohl zufolge sehr viel geschickter vor als die früheren sowjetischen Führer, die vor allem auf die Projektion militärischer Macht gesetzt hatten. Gorbatschow hingegen versuche mit seinen zahlreichen Abrüstungsvorschlägen, insbesondere im nuklearen Bereich, vor allem die westdeutsche Öffentlichkeit für sich einzunehmen. Zwar gab es auch dafür sowjetische Vorläufer, aber Gorbatschow wurde zu Kohls Leidwesen schon rasch zu einem Liebling zahlreicher 60 Sicherheitspolitische Perspektiven und Aufgaben des Nordatlantischen Bündnisses in sich verändernden West-Ost-Beziehungen. In: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, 14/1987, 101–109, zit. nach URL: http://www.bundesregierung. de/Content/DE/Bulletin/1980-1989/1987/14-87_W%C3%B6rner.html (zuletzt abgerufen 24. 8. 2015). Vgl. dazu Michael Staack: Handelsstaat Deutschland. Deutsche Außenpolitik in einem neuen internationalen System. Paderborn 2000, 99 f., und, unter Bezugnahme auf Staack, Eckart Conze: Das Geheimnis des „Genscherismus“. Genese, Möglichkeiten und Grenzen eines außenpolitischen Konzepts. In: Kerstin Brauckhoff/Irmgard Schwätzer (Hrsg.): Hans-Dietrich Genschers Außenpolitik. Wiesbaden 2015, 74f. 61 Rede Wörners vor dem VIII. Deutsch-Amerikanischen Round-Table der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bonn, 4. 12. 1986. In: Manfred Wörner: Für Frieden in Freiheit. Reden und Aufsätze. Hrsg. v. Günter Rinsche und Gerd Langguth. Berlin 1995, 150. In dem Redeentwurf von Hans Rühle, Leiter des Planungsstabes im BMVg, hieß es sogar: „Noch immer ist die politische Ideologie des Ostens dem Ziel der Weltrevolution verp ichtet. Noch immer ist die praktizierte Politik der Sowjetunion offensiv, expansiv und imperialistisch.“ ACDP, NL Wörner, I-636-068/2. 62 Rede Wörners anlässlich des IX. Deutsch-Amerikanischen Round-Table der Konrad-Adenauer-Stiftung in Washington, 28. 10. 1987. In: Wörner: Für Frieden und Freiheit, 167 f.
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westdeutscher Medien. Daher wurde er aus Kohls Sicht zu einem veritablen Gegner beim Kampf um die öffentliche Meinung, in dem es Gorbatschow immer besser gelang, den Westen mit seinen Abrüstungsvorschlägen in die Defensive zu drängen. Der Kanzler wurde dadurch regelrecht erbittert und versuchte, dem KPdSU-Generalsekretär medial etwas entgegenzusetzen und ihn in dem erwähnten Newsweek-Interview im Oktober 1986 zu demaskieren. Das schlug freilich wegen des Vergleichs von Gorbatschows Fähigkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit mit denen von Joseph Goebbels gründlich fehl. Wenngleich Kohl ab 1987 begann, sich allmählich für die innenpolitischen Reformen in der Sowjetunion zu erwärmen, blieb sein Misstrauen gegenüber Gorbatschow erhalten: zum einen, weil sich an der Sicherheitslage der Bundesrepublik bei der absehbaren Abrüstung der Mittelstreckenraketen aufgrund der weiter bestehenden sowjetischen Übermacht im Kurzstreckenbereich und bei den konventionellen Waffen nichts ändern werde, und zum anderen, weil er nach wie vor gegenüber Gorbatschow beim Kampf um die öffentliche Meinung in der Defensive blieb. Wiederholt mahnte er daher in den Fraktionssitzungen und im Bundesvorstand an, auf die Asymmetrie bei den nuklearen Kurzstreckenwaffen und bei der konventionellen Bewaffnung ebenso zu verweisen wie darauf, dass in der Sowjetunion nach wie vor die Menschenrechte nicht geachtet würden, politische Gefangene einsäßen und nationale Minderheiten, insbesondere Russlanddeutsche und Juden, nicht ausreisen dürften. Die Auseinandersetzung, so die Botschaft an seine Parteifreunde, müsse auch im Innern weiter geführt werden. 63 Trotz dieser Hinweise änderte sich nichts an der durch das Zusammenspiel von Medien und Öffentlichkeit bewirkten Konstellation, sodass sich die Bundesregierung gegenüber Gorbatschow in der Defensive befand. Dies sollte bei zwei politischen Vorhaben der Bundesregierung deutliche Konsequenzen zeitigen. Erstens hatte Kohl zusammen mit Wörner im Juni 1986 eine Verlängerung des Wehrdiensts von 15 auf 18 Monate durchgesetzt, um die Stärke der Bundeswehr trotz „Pillenknicks“ langfristig bei 495.000 Mann zu halten. Laut Neufassung des Wehrp ichtgesetzes vom 13. Juni 1986 sollte die Verlängerung allerdings erst zum 1. Juni 1989 in Kraft treten. 64 Doch mit Gorbatschow und seinen spektakulären Abrüstungsvorschlägen, mit denen er es, wie der INF-Vertrag
63 Vgl. dazu Hermann Wentker: Vom Gegner zum Partner: Gorbatschow und seine Politik im Urteil Helmut Kohls. In: Historisch-Politische Mitteilungen 22 (2015), 1–34, hier 2–13. 64 Vgl. Ohne Fortüne. In: Der Spiegel, 24. 4. 1989; Neufassung des Wehrp ichtgesetzes vom 13. 6. 1986 in: Bundesanzeiger vom 20. 6. 1986, 882. Für die Datierung der Wehrdienstverlängerung danke ich Herrn Oberst Dr. Gerhard Groß vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr.
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zeigte, auch ernst meinte, schwand das Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung. Im Juli 1988 veröffentlichte das Allensbach-Institut, dem auch Kohl vertraute, 65 aus dessen Sicht äußerst beunruhigende Zahlen. 25 % der Bevölkerung, die noch an eine sowjetische Bedrohung glaubten, standen 49 % gegenüber, die die Meinung vertraten, die Politik Moskaus sei allein auf Verteidigung ausgerichtet. Insgesamt hielten nur noch 51 % der Bevölkerung Abschreckung für notwendig, 36% hielten sie auch nach dem Abzug der Mittelstrecken für ausreichend, während nur 6 % nicht dieser Meinung waren. Damit stand, wie Elisabeth NoelleNeumann schrieb, die bundesdeutsche „Verteidigungspolitik vor einem wachsenden Akzeptanz-Problem“. 66 Kohl sprach nun im CDU-Bundesvorstand wiederholt die Probleme der Bundeswehr an, deren Existenzberechtigung angezweifelt werde, „weil ja viele glauben, daß heute Gorbatschow der eigentlich Garant für den Frieden ist“. 67 Gerade angesichts der anstehenden Wehrdienstverlängerung hielt er „die psychologischen Wirkungen dieser Gorbatschow-Euphorie in Europa und in der Bundesrepublik“ für verheerend: „Wenn man den Rekruten sagt, du gehst jetzt 18 Monate zum Bund, und der sagt, ja, was wollt ihr eigentlich, der Mann ist friedensnobelpreisverdächtig, es passiert doch nichts mehr, dann hat das eine psychologische Wirkung.“ 68 Hinzu kam, dass er aufgrund der Wahlerfolge der Republikaner, die bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 29. Januar 1989 7,5 % der Stimmen auf sich vereinigen konnten, die CDU in ihrer Integrationskraft mit Blick auf das konservative Wählerspektrum geschwächt sah. Auch das hing mit der von ihm beklagten „Gorbi-Manie“ zusammen: „Da fällt weg die Bedrohungsüberzeugung, die gerade für uns Konservative von großer Bedeutung war. Dazu gehört das Verhältnis zur Bundeswehr. Die Bundeswehr hat zu einem großen Teil [. . . ] ihre innere Begründung in der Bedrohung aus dem Osten gehabt.“ 69 Ende 1988 und im Frühjahr 1989 wollte auch die FDP die Wehrdienstverlängerung nicht mehr mittragen. Außerdem ermittelte Emnid im Februar 1989, dass 70% eine Wehrdienstverlängerung für falsch
65 Vgl. Lars Rosumek: Die Kanzler und die Medien. Acht Porträts von Adenauer bis Merkel. Frankfurt am Main, New York 2007, 181. 66 Elisabeth Noelle-Neumann: Wenn das Gefühl der Bedrohung schwindet. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 7.1988. 67 Helmut Kohl: Berichte zur Lage 1982–1989. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands, bearb. von Günter Buchstab und Hans-Otto Kleinmann. Düsseldorf 2014, 5. 9.1988, 643 f. 68 Kohl: Berichte zur Lage 1982–1989, 21. 11. 1988, 673. 69 Ebd., 30. 1. 1989, 690. Vgl. auch ebd., 16./17. 4. 1989, 702.
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hielten. 70 Kohl vollzog daher Mitte April 1989 eine Kehrtwende: Die Verlängerung des Wehrdiensts wurde ausgesetzt und auf den 1. Juni 1992 verschoben. 71 Zweitens stellte sich seit dem INF-Abkommen das Problem der Modernisierung der Kurzstreckenraketen – kurz SNF. Das betraf fast ausschließlich die Bundesrepublik und die hier bereits stationierten Raketen vom Typ Lance mit einer Reichweite bis 130km, die vom INF-Abkommen nicht erfasst worden waren. Während die USA und Großbritannien für eine Modernisierung dieser vor allem Zentraleuropa treffenden Kurzstreckenraketen plädierten, war die Bundesregierung gespalten. Genscher wollte eine Modernisierung um jeden Preis vermeiden. Die Signale der Weltpolitik waren für ihn spätestens seit dem INF-Abkommen auf Entspannung gestellt. Daher äußerte er sich gegenüber dem amerikanischen Außenminister James Baker am 12. April 1989 äußerst besorgt darüber, dass „die militärisch höchst fragwürdige Lance-Modernisierung die überfällige Modernisierung des politischen Denkens behindern und einen aussichtsreichen Prozeß gefährden würde“. 72 Genscher befürchtete bei einem solchen Schritt nicht nur einen Rückschlag für die weltweite Détente, sondern infolgedessen auch negative Konsequenzen für die Reformprozesse in Osteuropa und der Sowjetunion. 73 Überdies argumentierte er, dass es sich um Waffen handle, deren Einsatz nur auf dem Gebiet der beiden deutschen Staaten erfolgen und daher die Bundesrepublik im Bündnis weiter isolieren würde. 74 Zwei führende CDU-Sicherheitspolitiker, Manfred Wörner und dessen Nachfolger im Amt des Verteidigungsministers, Rupert Scholz, traten hingegen für eine Modernisierung ein, da nur so eine Denuklearisierung Westeuropas verhindert werden könne. Denn nur bei einer Beibehaltung von Nuklearwaffen könne der konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion getrotzt und die sicherheitspolitische Ankopplung der USA an Westeuropa gewährleistet werden. 75 Eine 70 Fünfte Partei in den Bundestag? Spiegel-Umfrage über die politische Situation im Monat Februar. In: Der Spiegel, 27.2. 1989. 71 Gesetz zur Aussetzung der Verlängerung des Grundwehrdienstes und des Zivildienstes vom 30. 6. 1989. In: Bundesanzeiger, 7. 7.1989, 1292. Zum Hintergrund vgl. Ohne Fortüne. In: Der Spiegel, 24. 4. 1989. 72 Genscher: Erinnerungen, 612. Vgl. dazu auch Stephen F. Szabo: Lotse im europäischen Gezeitenwechsel – Genscher und die Vorboten der großen Wende. In: Hans-Dieter Lucas (Hrsg.): Genscher, Deutschland und Europa. Baden-Baden 2002, 255 f. 73 Vgl. dazu Frank Elbe: „Je kürzer die Reichweite, umso toter die Deutschen.“ In: Kerstin Brauckhoff/Irmgard Schwätzer (Hrsg.): Hans-Dietrich Genschers Außenpolitik. Wiesbaden 2015, 167. 74 Vgl. Staack: Handelsstaat Deutschland, 146. 75 Vgl. ebd., 146 f.; zu Wörner vgl. auch ders.: Grundlagen und Perspektiven der westlichen Sicherheits- und Verteidigungspolitik [April /Mai 1988], NL Wörner, ACDP I-636-066/2.
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dritte Gruppe, um Kohl, Alfred Dregger und Volker Rühe, sprach sich für ein „Sowohl-als-auch“ aus: Einerseits plädierten sie für die Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenwaffen durch ein System knapp unter 500 km, andererseits wollten sie durch Verhandlungen die bestehenden Lance-Systeme und die atomare Artillerie am liebsten ganz beseitigen oder reduzieren. „Je kürzer die Reichweite, desto toter die Deutschen“, war Dreggers vielzitiertes Argument. 76 Die in diesem Zusammenhang geführte innen- und außenpolitische Diskussion kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden. 77 Verwiesen sei allerdings auf zwei wesentliche Momente. Zum einen ist zutreffend festgestellt worden, dass „die während der INF-Debatte verinnerlichte Perzeption der Nuklearwaffen in Europa als friedensgefährdend weiter wirksam“ geblieben sei. 78 Dies hatte gravierende Folgen sowohl für die öffentliche Meinung als auch für die Politik der Bundesregierung. Zum anderen versuchte auch die sowjetische Führung, mit diversen Ankündigungen die Diskussion in der Bundesrepublik zu beeinussen und weiterhin bei der Rüstungskontrollpolitik die Initiative zu behalten. Vor diesem Hintergrund gelang es Genscher zunächst am 20. Dezember 1988, die Regierungskoalition auf eine Verschiebung der Entscheidung über eine Modernisierung auf Anfang der 1990er Jahre festzulegen. Am 20. April einigte sich die Koalition auf eine möglichst baldige Aufnahme von Verhandlungen, um bei den Kurzstreckenwaffen zu gleichen Obergrenzen auf niedrigem Niveau zu gelangen. 79 Dies verursachte zwar erhebliche Spannungen im Bündnis, da Washington und London weiter auf eine Modernisierung der SNF drängten, konnte aber bei der NATO-Tagung vom 29./30. Mai 1989 letztlich durchgesetzt werden. Genscher obsiegte in Bonn zum einen deshalb, weil ihn auch die Opposition unterstützte; zum anderen, und das ist in unserem Zusammenhang entscheidend, aufgrund der öffentlichen Meinung: 79% der Befragten machten sich im Februar 1989 keine Sorgen mehr über eine Bedrohung aus dem Osten. 80 Wenngleich beide Entscheidungen nicht monokausal auf die vom „Gorbatschow-Image“ geprägte Öffentlichkeit zurückgeführt werden können, so spielte dieses doch eine wesentliche Rolle. Anders als zu Beginn der 1980er Jahre erschie76 Vgl. Staack: Handelsstaat Deutschland, 147. 77 Vgl. dazu Michael Broer: Die nuklearen Kurzstreckenwaffen in Europa. Eine Analyse des deutsch-amerikanischen Streits über die Einbeziehung der SRINF in den INF-Vertrag und die SNF-Kontroverse. Frankfurt am Main 1993. 78 Ebd., 203. 79 Vgl. Broer: Die nuklearen Kurzstreckenwaffen, 243, 235f., 247–249; Staack: Handelsstaat Deutschland, 148–152. 80 Fünfte Partei in den Bundestag? Spiegel-Umfrage über die politische Situation im Monat Februar. In: Der Spiegel, 27. 2. 1989.
Massenmedien und Öffentlichkeit als Faktoren der Politik 357
nen Bundeskanzler Kohl 1989 unpopuläre sicherheitspolitische Entscheidungen nicht mehr durchsetzbar: zum einen, weil er wegen des nun eigenwilligen Koalitionspartners keine politische Mehrheit dafür zustande brachte, und zum anderen, weil es an öffentlicher Unterstützung fast völlig gefehlt hätte. Dies hing mit dem medialen Gorbatschow-Effekt zusammen, der allerdings dadurch unterstützt wurde, dass sich die sowjetische Politik, anders als während der Nachrüstungsdebatte, tatsächlich grundlegend gewandelt hatte. Dies wiederum machte sich Genscher zunutze, dessen politisches Vorgehen zwar ein Stück weit auf dem „Prinzip Hoffnung“ basierte, aber mit dem vom Gorbatschow-Faktor dominierten innen- und außenpolitischen Klima insgesamt besser harmonierte.
IV. Fazit Der Wandel in der Wahrnehmung Gorbatschows durch die westdeutsche Öffentlichkeit war anfangs verbunden mit einer medialen und einer – hier nur am Rande thematisierten – parteipolitischen Auseinandersetzung. Dass sich dabei jene durchsetzten, die in Gorbatschow eher einen Reformer und Friedensbringer sahen als einen traditionellen sowjetischen Machtpolitiker, der lediglich geschickter zu Werke ging als seine Vorgänger, hing erstens mit den Vorprägungen eines großen Teils der Öffentlichkeit zusammen. Die Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss und die Raketenstationierungen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre waren noch präsent, als mit Gorbatschow ein Politiker die Bühne betrat, der durch seine Andersartigkeit auf el und auf den bald die unterschiedlichsten Hoffnungen und Sehnsüchte projiziert wurden. Zweitens verstand es der mediengewandte Gorbatschow, gerade die westlichen Medien durch seine unkonventionelle Art und durch seine Slogans für sich einzunehmen, was auf die westdeutsche Öffentlichkeit nicht ohne Wirkung blieb. Und drittens ließ er, wie die Gorbatschow-Skeptiker immer wieder forderten, seinen Worten durchaus Taten folgen. All dies festigte sein Image als Friedensbringer, der unterstützt werden musste. Die 1988/1989 sich häufenden Nachrichten über seine innenpolitischen Probleme beeinträchtigten zwar sein Image als zielstrebiger Macher, der die Lage im Griff hatte, verstärkten aber die Rufe nach seiner Unterstützung. Bundeskanzler Kohl, dem 1990 Wahlen bevorstanden und der innenpolitisch erheblich unter Druck stand, sah sich in dieser Situation genötigt, sowohl bei der Wehrdienstverlängerung als auch bei der SNF-Kontroverse seine ursprünglich eingenommenen Positionen zu verlassen und der Pro-Gorbatschow-Stimmung nachzugeben.
Claudia Hiepel
Einführung Geheimhaltung ist ein konstitutives Element der europäischen Diplomatie, die häu g mit Arkanpolitik gleichgesetzt wird. Vertrauliche Konsultationen bei Staatsbesuchen, Geheimdiplomatie und elitäre Expertenkulturen gehören daher zu den Untersuchungsgegenständen einer traditionellen Diplomatiegeschichte. Auch wenn es zweifelsohne nicht nur die vormals herausgehobenen ‚großen Männer` sind, die die Außenpolitik ‚machen`, muss auch eine methodisch und inhaltlich erneuerte Internationale Geschichte die Frage nach den handelnden Akteuren stellen. Als Gegenpol zum Arkanen rückt dabei in der neueren Geschichte das Öffentliche in den Fokus. Die Entstehung neuer Formen von Öffentlichkeit, die Beschleunigung und Verdichtung von Kommunikation seit dem späten 19. und noch einmal verstärkt im 20. Jahrhundert sind nicht ohne Auswirkungen auf die Außenbeziehungen zwischen Staaten geblieben und haben das Verhältnis von Publizität und Geheimnis beein usst. Ist die Unterrichtung der Öffentlichkeit grundsätzlich im Interesse der staatlichen Akteure, sind die Grenzen der erwünschten Publizität beim Bekanntwerden von Geheimnissen überschritten, deren Wahrung gegenüber einer perzipierten ‚Konkurrenz` als wichtig erachtet wird. Massenmedien können dabei zum einen Bestandteil von Diplomatie sein und zum anderen zum Mittel der Diplomatie werden. Ob die „new diplomacy“ nun unter dem Vorzeichen einer „public diplomacy“ oder einer „media diplomacy“ auftritt – beiden gemeinsam ist nicht nur der Einbezug, sondern auch die Instrumentalisierung von Medien in den Außenbeziehungen. Die drei Beiträge des Kapitels „Außenbeziehungen zwischen Publizität und Geheimnis“ legen einen weiten Medienbegriff zugrunde. Außenpolitik wird von ihnen als Kommunikationsraum verstanden, der durch verschiedene Kanäle der Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen durchdrungen wird, die einander bedingen und beein ussen. Nonverbale symbolische Kommunikation wie bestimmte Handlungen (oder Nichthandlungen) werden ebenso wie Dinge als Medien der Außenbeziehungen verstanden. Mit der nuklearen Sicherheitspolitik greift Andreas Lutsch ein Thema auf, das dem Arkanbereich schlechthin zugeordnet werden kann und in der historischen Forschung durch diplomatiegeschichtliche Ansätze geprägt ist. Mit seinem medientheoretisch informier-
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ten Zugriff liefert er neue Erklärungsansätze für die Nuklearpolitik Helmut Schmidts. Diese war demnach von verschiedenen Prämissen und Zielen geprägt, die nur auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, tatsächlich aber im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten einer Nichtnuklearmacht ein Maximum an Ein uss garantieren sollten. Die Sicherheitspolitik Schmidts war in hohem Maße inszenatorisch und hatte so unterschiedliche Adressaten wie die Bündnispartner, die skeptische deutsche Öffentlichkeit und die SPD-Parteibasis sowie die Sowjetunion gleichermaßen und gleichgewichtig im Blick. Der Komplexität seines Ansatzes entsprechend, nutzte Schmidt die unterschiedlichsten bilateralen und multilateralen Kommunikationskanäle – vertrauliche, halböffentliche, reguläre oder geheime. Dabei agierte er unter Rahmenbedingungen, in denen die Sache an sich das Medium war: Die Atombombe beziehungsweise die nukleare Abschreckung war eine Form der nonverbalen Kommunikation, das Drohungsszenario von Waffenstationierungen diente als Warnung. Da dies gleichsam vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfand, stellt sich die Frage, wo hier die Grenzen zwischen geheim und öffentlich überhaupt gezogen werden sollen. Auch Frederike Schotters' Sicht auf die Sicherheitspolitik des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand zeigt die Möglichkeiten für eine Erweiterung der politischen Geschichte der Außenbeziehungen auf. Mitterrands Konzept war in einem hohen Maß komplex, was aber in der Forschung bislang vorwiegend als Widersprüchlichkeit gedeutet worden ist. Mitterrands Distanzierung von der Sowjetunion war jedoch im Wesentlichen lediglich eine Inszenierung von Distanz, die einer antisowjetischen Stimmung in der Öffentlichkeit Rechnung trug und das atlantische Bündnis stabilisieren sollte, ohne dass Mitterrand sich aber tatsächlich von der Détente als Option und Ziel seiner Sicherheitspolitik verabschiedet hätte. Dafür wurden verschiedene Kanäle der Kommunikation genutzt. Zunächst identi ziert Schotters den Nichtdialog auf höchster Ebene als Statement und Botschaft Mitterrands im zweiten Kalten Krieg. Als Ersatz fungierten stattdessen inof zielle Gespräche auf unterschiedlichen politischen Ebenen, was einer Aufwertung der Diplomaten und ihrer Rolle in der Interpretation und Steuerung der Kommunikation gleichkam. Zugleich war damit die Botschaft an die sowjetische Adresse verbunden, die Kommunikation nicht abreißen lassen zu wollen. Dieses Vorgehen barg zwar die Gefahr von Fehlperzeptionen. Schotters macht aber auch deutlich, dass die Existenz von Gesprächen an sich ein Medium der Kommunikation darstellte, das signalisieren sollte, dass Frankreich am Entspannungskonzept festhielt. In gleicher Weise sind im Übrigen die ökonomischen Beziehungen zu deuten, die auch im zweiten Kalten Krieg nicht ausgesetzt wurden und welche die Kommunikation blockübergreifend aufrechterhielten, was bei der Überwindung des Kalten Krieges hilfreich sein sollte.
Einführung 363
Nicht der Nationalstaat und seine politischen Akteure stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Martin Herzer, sondern die Europäische Gemeinschaft und die Kommission als supranationale Institution, die ab 1957 als eigenständiger Akteur auftreten. Brüssel etablierte sich als informationeller Knotenpunkt, der sich in vielerlei Hinsicht von nationalen Medienzentren unterschied. In einer unübersichtlichen Ansammlung von Netzwerken und Verbindungen, von nationalen und europäischen Akteuren, wurden Medien zum Instrument von Diplomatie sowohl der Kommission als auch der nationalen Akteure. So wurden Geheimnisse gezielt lanciert, um Nationalstaaten im Verhandlungsprozess dem Druck nationaler Öffentlichkeiten auszusetzen, oder umgekehrt unter Verfolgung nationaler Interessen von Beamten der Kommission, um die Kommission unter Druck zu setzen. Of ziell von der Kommission geächtet und als Störung des institutionellen Handelns betrachtet, nutzten auch hohe Beamte und Kommissare das Leaking von vertraulichen Informationen an die Medienvertreter. Herzers Beitrag macht deutlich, dass Publizität daher auch nicht unbedingt mit Transparenz gleichzusetzen ist, sind es doch gelenkte und gezielte Indiskretionen, die die Öffentlichkeit gleichsam zum Komplizen der jeweiligen Interessen machen sollen. Die Rolle der Journalisten ist ambivalent, und es wäre zu fragen, ob auch sie instrumentalisiert werden oder ob Kulturen der Indiskretion zu einem Bedeutungszuwachs der Journalisten führen. Der zeitliche Schwerpunkt der drei Beiträge liegt in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, die auch im Hinblick auf das Thema ‚Medien in den Außenbeziehungen` als eine Vorgeschichte der Gegenwart gelesen werden können. Es zeichnen sich Auswirkungen einer forcierten Medialisierung auf die Außenpolitik ab, die in den Wikileaks-Affären unserer Tage besonders evident werden. Die Kanäle der Kommunikation wurden seither vielfältiger und damit weniger kontrollierbar. Die Entstehung einer zivilgesellschaftlichen Massenöffentlichkeit, die auf Information und Partizipation in ehemals dem Arkanbereich zugeordneten Bereichen insistierte, veränderte außenpolitische Entscheidungsprozesse. Und nicht zuletzt wirkte sich das Hinzukommen neuer (supranationaler) Organisationen und Institutionen als außenpolitische Akteure auf die Außenpolitik aus, unterliefen sie doch die Mechanismen klassischer (national)staatlicher Diplomatie. Die Grenzen zwischen Innen und Außen ebenso wie zwischen dem Geheimen und dem Öffentlichen verschwammen zunehmend. Dennoch ging und geht auch die Medialisierung der Außenbeziehungen nicht mit einem Verschwinden der Arkandiplomatie zugunsten völliger Transparenz einher. Im Gegenteil: Die Beiträge von Lutsch und Schotters zeigen, dass es keine Linearität der historischen Entwicklung der Außenbeziehungen weg von der Geheimpolitik hin zur Transparenz gibt, sondern sich der Arkanbereich auch
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unter den Bedingungen einer omnipräsenten Öffentlichkeit seine Rückzugsgebiete bewahrt. Wenn, mit Marshall McLuhan gesprochen, das Medium die Botschaft ist, außer den Inhalten oder vielleicht gar noch mehr als die Inhalte die gewählten Kanäle der Kommunikation an sich als Botschaft gelten können, dann ist es umso wichtiger, dass das Gegenüber die Wahl des Mediums und die damit verbundene Botschaft versteht. Das war gerade im blockübergreifenden symbolischen Dialog von Bedeutung, und es ist von weiterführendem Interesse, ob und wie der Adressat Sowjetunion im Einzelnen die Botschaft der Sender Deutschland oder Frankreich verstanden hat. Angesichts der Multilateralisierung der Außenbeziehungen und der Entstehung internationaler Organisationen stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten der Geheimnisbewahrung in anderer Weise als zuvor. Herzer macht deutlich, dass nicht nur neue informationelle Unübersichtlichkeiten entstehen, sondern auch die Loyalitätskon ikte internationaler Beamter Indiskretionen begünstigen. Für Journalisten mögen internationale Nachrichtenknotenpunkte daher auf den ersten Blick ein ideales Arbeitsfeld darstellen, doch zugleich wohnt diesen Knotenpunkten die Gefahr des Abgleitens in einen „embedded journalism“ inne.
Martin Herzer
Euroleaks Medien und Geheimnisverrat im Umfeld der Europäischen Gemeinschaften in Brüssel, 1958–1985 1
Im Sommer 1970 herrschte Aufregung in Brüsseler „Europa“-Zirkeln. Grund war die Berichterstattung zahlreicher Zeitungen über eine „Spionageaffäre“ in der Kommission der Europäischen Gemeinschaften (EG). Den Berichten zufolge belauschte der hauseigene Sicherheitsdienst der Kommission deren Beamtenschaft am Telefon. Dazu habe der Dienst Abhöreinrichtungen in die Telefonanlage des Berlaymont, des Sitzes der Kommission, eingebaut, hieß es in den Medien. Die Kommission wolle so heraus nden, welche Beamten am Telefon geheime Informationen an Journalisten ausplauderten. „James Bond beim Gemeinsamen Markt“, kommentierte die Dernières Nouvelles d'Alsace. 2 Der Wirbel um die Spionage-Meldungen veranlasste Henk Vredeling, niederländischer Abgeordneter im Europäischen Parlament, zu einer parlamentarischen Anfrage bei der Kommission. 3 Diese bestritt in ihrer Antwort jedes Fehlverhalten und erklärte: „Allerdings hat die Kommission ihr Sicherheitsbüro vor kurzem mit mehreren Untersuchungen innerhalb ihrer Dienststellen beauftragt; den Anlass dazu gab die nahezu vollständige Veröffentlichung von Dokumenten
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Der Beitrag basiert auf Forschungen im Rahmen einer Dissertation zur Rolle der Medien in der europäischen Integration (1958–1985) am Department of History and Civilization des European University Institute. Fremdsprachige Zitate sind für den Haupttext ins Deutsche übersetzt worden, die Fußnoten wurden in der Originalsprache belassen. „James Bond au Marché Commun? La Communauté a failli connaître sa première affaire d'espionnage“, Dernières Nouvelles d'Alsace, 29. 06. 1970, Historical Archives of the European Union (HAEU) CPPE-309. Die Akte enthält weitere Zeitungsausschnitte mit Berichterstattung zu dem Vorfall in verschiedenen westeuropäischen Zeitungen. Die Berichte basierten auf einer Meldung der Agence Europe, einer auf Europapolitik spezialisierten und stets gut informierten Nachrichtenagentur in Brüssel. Vgl. Question écrite n° 97/70 de M. Vredeling à la Commission des Communautés européennes, Objet: Surveillance par le service de sécurité de la Commission des journalistes accrédités auprès de la Communauté, HAEU PE0-10329.
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in der Presse, bei denen es sich zum Teil um Geheimdokumente handelte.“ 4 Die ausweichende Formulierung lässt durchblicken, dass die Kommission tatsächlich ihre Beamten am Telefon bespitzelte, auch wenn die Abhöraktion aus den Archiven nicht direkt nachweisbar ist. 5 Die Episode wirft die Frage auf, warum die Kommission mit derart radikalen Methoden gegen die eigene Beamtenschaft vorging. Der Grund hierfür lag in einem fundamentalen Unterschied zwischen dem Brüsseler EG-Medienzentrum und den traditionellen Medienzentren Westeuropas wie London, Paris, Rom oder Bonn. Die je nach Sprache als fuite à la presse, indiscrezione, leak oder Indiskretion bezeichnete verbotene Weitergabe von geheimen und vertraulichen Informationen an die Medien kam im EG-Milieu weitaus häu ger vor als im Umfeld nationaler Regierungen in den westeuropäischen Hauptstädten. Zwar gab es dort ebenfalls zahlreiche mediale Indiskretionen; diese erreichten jedoch nicht dasselbe Ausmaß wie bei der EG in Brüssel. 6 Der vorliegende Beitrag untersucht das Phänomen der ungewöhnlich zahlreichen medialen Indiskretionen im EG-Umfeld. Er betrachtet den Zeitraum von der EG-Gründung 1958 bis zur Verhandlung der Einheitlichen Europäischen Akte Mitte der 1980er Jahre. In dieser Periode entwickelte sich Brüssel von einem journalistischen Randgebiet in den 1950er Jahren zu einem europäischen Medienzentrum, welches in den 1980er Jahren in Sachen journalistischer Relevanz zu London, Paris oder Bonn aufschloss.
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Noël an Nord, Réponse à la question écrite n° 97/70 posée par M. Vredeling, 01. 07. 1970, HAEU PE0-10329. Weiter spricht für die These der Abhörmaßnahmen, dass Kommissions-Pressesprecher Beniamino Olivi im Juli 1969 eine Indiskretion beklagte, die seiner Meinung nach per Telefon von einem Kommissions-Beamten begangen wurde. Olivi forderte daraufhin eine Untersuchung. Vgl. Olivi, Note à l'attention de Monsieur Rey, Président de la Commission, Bruxelles, 28 juillet 1969, HAEU BO-4. Aus diesem Grund opponierten etwa 1977 französische Diplomaten gegen die Weitergabe eines kritischen Berichts der Pressereferenten der EG-Länder in Athen über den Zustand der griechischen Presse nach Brüssel. Die Franzosen erklärten, der Bericht würde in Brüssel sicher Gegenstand einer Indiskretion und solle daher besser nur in den „nationalen“ Hauptstädten zirkulieren. Deutsche Diplomaten hielten die französischen Bedenken für gerechtfertigt. Vgl. Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Athen an Auswärtiges Amt, Athen, den 29. 06. 1977, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA) B 200 114343. Weitere Nachweise für die im Vergleich zu anderen Hauptstädten relativ höhere Anfälligkeit des Brüsseler Medienzentrums für Indiskretionen nden sich im Fortgang dieses Beitrages.
Euroleaks 367
Der Beitrag will drei Fragen beantworten. Erstens, was erklärte die hohe Anzahl von medialen Indiskretionen im Umfeld der EG in Brüssel im Vergleich zu anderen Hauptstädten Westeuropas? Zweitens, wer gab geheime Informationen an die Medien weiter und warum? Drittens, welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der vorliegenden Fallstudie ziehen zum Verhältnis von Medien, Regierungen und zwischen- und suprastaatlichen Gebilden wie der EG im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Der Versuch der Beantwortung dieser Fragen schöpft aus dem Historischen Archiv der Europäischen Union sowie aus Regierungs- und Medienarchiven in Deutschland, Frankreich und Italien.
I. Außenpolitik, Medien und Nation in der geschichtswissenschaftlichen Literatur Historische Studien zur Rolle der Medien in den internationalen Beziehungen haben in den vergangenen Jahren einen Aufschwung erlebt. Auf der Suche nach neuen Zugängen zur Internationalen Geschichte und Mediengeschichte haben Historiker die spätestens seit dem Aufkommen der Massenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zentrale Stellung der Medien in der Außenpolitik analysiert. Studien untersuchten einerseits die öffentlich-mediale Dimension im Handeln staatlicher außenpolitischer Akteure und andererseits die außenpolitischen Aktivitäten von journalistischen Akteuren. Diese Forschungen demonstrierten zum einen, dass außenpolitisch Handelnde im Regierungsapparat ihre Entscheidungen keineswegs isoliert, sondern in Interaktion mit und im Bewusstsein von medialer Öffentlichkeit trafen. Zum anderen zeigten Studien, dass Publizisten, Verleger und Journalisten weniger neutrale Beobachter denn formidable außenpolitische Aktivisten waren, die mit staatlichen Akteuren interagierten, diese beein ussten und selbst wiederum beein usst wurden. Die Forschung konstatierte eine Medialisierung von Außenpolitik seit dem 19. Jahrhundert; der Bedeutungszuwachs von Medien und Öffentlichkeit in den internationalen Beziehungen erfolgte jedoch nicht linear, variierte nach historischem Kontext und stieß immer wieder auf Abschottung von außenpolitischen Arkanräumen gegenüber der Öffentlichkeit. 7
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Für einen Überblick über die Forschung vgl. Volker Barth: Medien, Transnationalität und Globalisierung 1830–1960. Neuerscheinungen und Desiderata. In: Archiv für Sozi-
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Die meisten bisherigen Studien fragten nach der Rolle der Medien in der Außenpolitik von Staaten oder in vergleichender Perspektive nach deren Bedeutung in den diplomatischen Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Staaten. Seit längerem bekannt ist die Zentralität von Medien für die Außenpolitik des Nationalsozialismus 8 sowie seiner Gegner. 9 Medienmacht war weiter bedeutend für den britischen Imperialismus. 10 Letzteren bekämpften antikoloniale Kräfte
algeschichte 51 (2011), 717–736; Friedrich Kiessling: (Welt-)Öffentlichkeit. In: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hrsg.): Dimensionen internationaler Geschichte. München 2012, 85– 106.; Frank Bösch /Peter Hoeres (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2013; Christian Delporte /François Vallotton: Introduction. In: Relations internationales, Nr. 153 (2013), Themenheft: Journalisme et relations internationales, 3–9. Für historische Perspektiven auf die Frage der Medialisierung des Politischen, vgl. Bernd Weisbrod (Hrsg.): Die Politik der Öffentlichkeit – Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik. Göttingen 2003; Frank Bösch /Norbert Frei (Hrsg.): Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006; Klaus Arnold /Christoph Classen /Susanne Kinnebrock /Edgar Lersch /Hans-Ulrich Wagner (Hrsg.): Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeiten und Politik im 20. Jahrhundert. Leipzig 2010. 8 Vgl. Paul Stoop: Niederländische Presse unter Druck. Deutsche auswärtige Pressepolitik und die Niederlande 1933–1940. München, New York, London, Paris 1987; Peter Longerich: Propagandisten im Krieg. Die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop. München 1987; Helmut Michels: Ideologie und Propaganda. Die Rolle von Joseph Goebbels in der nationalsozialistischen Außenpolitik bis 1939. Frankfurt am Main 1992; Markus Huttner: Britische Presse und nationalsozialistischer Kirchenkampf. Eine Untersuchung der ‚Times` und des ‚Manchester Guardian` von 1930 bis 1939. Paderborn 1995; Friedrich Kiessling /Gregor Schöllgen (Hrsg.): Bilder für die Welt. Die Reichsparteitage der NSDAP im Spiegel der ausländischen Presse. Köln, Weimar, Wien 2006; Martin Herzer: Auslandskorrespondenten und auswärtige Pressepolitik im Dritten Reich. Köln, Weimar, Wien 2012. 9 Vgl. Stephanie Seul: Appeasement und Propaganda, 1938–1940. Chamberlains Außenpolitik zwischen NS-Regierung und deutschem Volk. Diss. Europäisches Hochschulinstitut Florenz 2005. 10 Vgl. Chandrika Kaul (Hrsg.): Media and the British Empire. Basingstoke, New York 2006; Dwayne Roy Winseck /Robert M. Pike: Communication and Empire. Media, Markets, and Globalization, 1860–1930. Durham 2007; Chandrika Kaul: Communications, Media and the Imperial Experience. Britain and India in the Twentieth Century. Basingstoke, New York 2014.
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ihrerseits medial – sowohl in der Zwischenkriegszeit 11 als auch nach 1945. 12 Auch im Kalten Krieg spielten Medien eine zentrale Rolle – als Propagandawaffen wie als Mittler zwischen Ost und West. 13 Weitere Studien mit Fokus auf Europa und die USA untersuchten die Rolle von Journalisten und Medien in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten, 14 Frankreichs, 15 der Bundesrepu-
11 So etwa in den internationalen öffentlichen Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit über die Mandatsgebiete des Völkerbundes. Vgl. Susan Pedersen: The Guardians. The League of Nations and the Crisis of Empire. Oxford 2015. 12 Vgl. Jürgen Dinkel: Dekolonisierung und Weltnachrichtenordnung. Der Nachrichtenpool bündnisfreier Staaten (1976–1992). In: Bösch /Hoeres: Außenpolitik im Medienzeitalter, 211–231; Jürgen Dinkel: Non-Aligned Summits as International Media Events. In: Nata¸sa Mi¸skovi´c/Harald Fischer-Tiné/Nada Bo¸skovska (Hrsg.): The Non-Aligned Movement and the Cold War: Delhi, Bandung, Belgrade. London 2014, 207–225; James R. Brennan: The Cold War battle over global news in East Africa. Decolonization, the free ow of information, and the media business, 1960–1980. In: Journal of Global History 2 (2015), 333– 356. 13 Vgl. Philip M. Taylor: Global Communications, International Affairs and the Media since 1945. London 1997; Thomas Lindenberger (Hrsg.): Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen. Köln, Weimar, Wien 2006; James Schwoch: Global TV. New Media and the Cold War, 1946–69. Urbana 2009; Dina Fainberg: Notes from the Rotten West, Reports from the Backward East. Soviet and American Foreign Correspondents in the Cold War, 1945–1985. Diss. Rutgers University Graduate School New Brunswick 2012; Alexander Badenoch /Andreas Fickers /Christian Henrich-Franke (Hrsg.): Airy Curtains. European Broadcasting during the Cold War. Baden-Baden 2013; Linda Risso: Propaganda and Intelligence in the Cold War. The NATO Information Service. London 2014. 14 Vgl. Insbesondere Giovanna Dell'Orto: Giving Meanings to the World. The First U.S. Foreign Correspondents, 1838–1859. Westport 2002; Phillip Knightley: The First Casualty. The War Correspondent as Hero and Myth-Maker from the Crimea to Kosovo. Baltimore 2002; John Maxwell Hamilton: Journalism's Roving Eye. A History of American Foreign Reporting. Baton Rouge 2009; Giovanna Dell'Orto: American Journalism and International Relations. Foreign Correspondence from the Early Republic to the Digital Era. Cambridge 2013. 15 Vgl. Camille Laville: Les transformations du journalisme de 1945 à 2010: le cas des correspondants étrangers de l'AFP. Brüssel 2010; Dominique Pinsolle: Quand la presse dé e les États. Les ambitions internationales du Matin (1897–1944). In: Relations internationales, Nr. 153 (2013), Themenheft: Journalisme et relations internationales, 45–56.
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blik 16 sowie in den deutsch-amerikanischen, 17 deutsch-französischen, 18 deutschbritischen 19 und deutsch-sowjetischen 20 Beziehungen. Insbesondere Auslandskorrespondenten und Kriegsberichterstattern als Grenzgänger, Mittler und gate keepers zwischen nationalen Regierungen und Gesellschaften kam zuletzt große Aufmerksamkeit zu. 21 Die bisherige Forschung konzentrierte sich folglich auf die Rolle von Medien in der Außenpolitik von nationalen Regierungen. Diesen nationenzentrierten Ansatz rechtfertigen zwei Tatsachen. Staaten sind und waren die zentralen Akteure in den internationalen Beziehungen und Journalisten bedienen seit dem 19. Jahrhundert zuvörderst nationale Öffentlichkeiten. Folglich war und bleibt
16 Vgl. Bernhard Gissibl: Exemplarische Studie. Auslandskorrespondenten zwischen Kosmopolitismus und Kaltem Krieg – eine mediengeschichtliche Spurensuche in deutschen Rundfunkarchiven. In: Markus Behmer /Birgit Bernard/Bettina Hasselbring (Hrsg.): Das Gedächtnis des Rundfunks. Die Archive der öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Bedeutung für die Forschung. Wiesbaden 2014, 211–219; Bernhard Gissibl: Die Vielfalt des Neuanfangs. Zum Aufbau der Auslandsberichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 (2014), Themenheft: Auslandskorrespondenten: Journalismus und Politik 1900–1970, herausgegeben von Norman Domeier und Jörn Happel, 425–436; Agnes Bresselau von Bressensdorf: Frieden durch Kommunikation. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg 1979–1982/83. Berlin, Boston 2015. 17 Carmen Müller: Weimar im Blick der USA. Amerikanische Auslandskorrespondenten und öffentliche Meinung zwischen Perzeption und Realität. Münster 1997; Peter Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit. Massenmedien, Meinungsforschung und Arkanpolitik in den deutsch-amerikanischen Beziehungen von Erhard bis Brandt. München 2013. 18 Kristin Pokorny: Die Französischen Auslandskorrespondenten in Bonn und Bundeskanzler Konrad Adenauer 1949–1963. Diss. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 2006. 19 Dominik Geppert: Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts in London, 64). München 2007; Frank Bösch /Dominik Geppert (Hrsg.): Journalists as Political Actors. Transfers and Interactions between Britain and Germany since the late 19th Century (Beiträge zur England-Forschung, 59). Augsburg 2008; Antje Robrecht: Diplomaten in Hemdsärmeln? Auslandskorrespondenten als Akteure in den deutsch-britischen Beziehungen, 1945–1962. Augsburg 2010. 20 Julia Metger: Studio Moskau. Westdeutsche Korrespondenten im Kalten Krieg. Paderborn 2015. 21 Für einen Überblick über das Forschungsfeld, vgl. Norman Domeier /Jörn Happel: Journalismus und Politik. Einleitende Überlegungen zur Tätigkeit von Auslandskorrespondenten 1900–1970. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 (2014), Themenheft: Auslandskorrespondenten: Journalismus und Politik 1900–1970, herausgegeben von Norman Domeier und Jörn Happel, 389–397.
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die Nation zentrale Referenz für außenpolitisch handelnde Politiker, Beamte und Journalisten. Jedoch stellte die Nation im 20. Jahrhundert nicht den einzigen Bezugspunkt im Spannungsfeld von Medien und Außenpolitik dar. Dort agierten Journalisten und Repräsentanten des Staates, aber auch weitere, teils neue Akteure. Zwischen-, supra- und nichtstaatliche Akteure wie internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen interagierten und konkurrierten mit staatlichen Akteuren und Journalisten in der außenpolitischen Medienarena. Als Beispiele seien die verschiedenen Organe des Völkerbundes der Zwischenkriegszeit 22 und die trans- und internationalen Menschenrechtsbewegungen seit den 1970er Jahren 23 genannt. Die Rolle dieser zwischen-, supra- und nichtstaatlichen Akteure hat aber in der bisherigen historischen Forschung zum Verhältnis von Medien und Außenpolitik wenig Beachtung gefunden. Der vorliegende Beitrag möchte daher am Beispiel der Kommission der Europäischen Gemeinschaften die außenpolitisch-mediale Bedeutung einer sich als supranational verstehenden Behörde untersuchen. Deshalb begreift der Beitrag die EG-Kommission nicht als technokratische Administration, sondern als transund internationalen Medienakteur und setzt diesen in Beziehung zu Journalisten und Regierungsvertretern in Brüssel. Im Zentrum des Beitrags stehen mediale Indiskretionen und somit der zentrale Aspekt der Beziehung zwischen Medien und Außenpolitikern – das Verhältnis von Geheimhaltung und Öffentlichkeit. 24 Die Fallstudie demonstriert, wie das Auftauchen eines supranationalen Medien-
22 Vgl. Heidi Tworek: Peace through Truth? The Press and Moral Disarmament through the League of Nations. In: Medien & Zeit 4 (2010), 16–28; Isabella Löhr /Madeleine Herren: Gipfeltreffen im Schatten der Weltpolitik. Arthur Sweester und die Mediendiplomatie des Völkerbundes. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 (2014), Themenheft: Auslandskorrespondenten: Journalismus und Politik 1900–1970, herausgegeben von Norman Domeier und Jörn Happel, 411–424. 23 Vgl. Håkan Thörn: Anti-Apartheid and the Emergence of a Global Civil Society. London 2006; Jan Eckel: ‚Under a Magnifying Glass`. The International Human Rights Campaign against Chile in the Seventies. In: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.): Human Rights in the Twentieth Century. Cambridge 2011, 312–342; Patrick Chung: The ‚Pictures in Our Heads`. Journalists, Human Rights, and U.S. – South Korean Relations, 1970–1976. In: Diplomatic History 5 (2014), 1136–1155. 24 Zu diesem Verhältnis vgl. Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts in London, 65). München 2009; Verena Steller: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Die Pariser Friedensverhandlungen 1919 und die Krise der Universalen Diplomatie. In: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), 350–372; Bösch/Hoeres: Außenpolitik im Medienzeitalter; Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit.
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akteurs wie der EG-Kommission die Dynamik im Verhältnis von Journalisten und Staatsvertretern veränderte. Der Beitrag erweitert somit die historische Forschung zur Rolle der Medien in den internationalen Beziehungen und verweist auf bisher wenig beachtete Perspektiven, Dimensionen und Komplexitäten im Verhältnis von Medien, Staat und Außenpolitik im 20. Jahrhundert.
II. EG-Kommission, Regierungen und Medien in Brüssel, 1958–1985 In Brüssel entstand nach 1958 ein Medienzentrum, welches sich von den traditionellen Medienzentren der westeuropäischen Hauptstädte London, Paris, Rom oder Bonn unterschied. 25 Das EG-Medienzentrum wuchs nicht um eine nationale Regierung, sondern um die EG, eine internationale Organisation mit zwischen- und supranationalen Elementen. Die traditionellen Medienzentren kennzeichnete eine hauptsächlich zweidimensionale Beziehung zwischen Korrespondenten und Regierung. Das EG-Medienzentrum Brüssel dagegen charakterisierte eine multidimensionale Beziehung zwischen Journalisten, der EG-Kommission und den verschiedenen in der EG involvierten Regierungen. 26 In den 1950er Jahren zeigten europäische und internationale Medien zunächst wenig Interesse an Brüssel. Als dort Anfang 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) ihren Sitz einrichteten, änderte sich dies. Nachrichtenagenturen und Wirtschaftsmedien, dann Tageszeitungen, Radio und Fernsehen sandten Korrespondenten in die belgische Hauptstadt, um von dort über die „europäische Einigung“ zu berichten. Die Anzahl der bei der EWG-Kommission akkreditierten Journalisten in Brüssel stieg von einem guten Dutzend in den späten 1950er auf über 150 in den späten 1960er Jahren. Es dominierten Presse-Korrespondenten aus den
25 Der Begriff Medienzentrum bezeichnet im vorliegenden Beitrag einen Ort, an dem eine Gruppe von Akteuren – Journalisten, Beamte, Lobbyisten – in vielfältiger Weise interagiert mit dem Ziel, Medienberichterstattung zu produzieren und zu beein ussen. 26 Nationale oder auf EG-Niveau organisierte Lobbygruppen spielten im EG-Medienzentrum Brüssel keine große Rolle. Als Ausnahme mag die Agrarlobby gelten, die ihre Proteste gegen die Gemeinsame Agrarpolitik medienwirksam inszenierte, jedoch in Sachen mediale Indiskretionen keine wirkliche Rolle spielte. Vgl. Kiran Klaus Patel: Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG, 1955–1973. München 2009.
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EG-Mitgliedsstaaten. 27 Ein Teil der Brüsseler Korrespondenten behandelte auch belgische Politik und ab 1967 NATO-Themen. 28 Im Laufe der ersten Hälfte der 1960er Jahre konzentrierte sich das Interesse des Brüsseler Pressekorps zunehmend auf die EWG, welche sich in der öffentlichen Wahrnehmung als das dominierende Vehikel für die wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas herauskristallisierte. EWG-Kommission und Ministerräte standen im Mittelpunkt der Medienaufmerksamkeit, weniger das machtlose Europäische Parlament. 29 Andere mit europäischer Integration befasste internationale Organisationen neben der EWG wie EURATOM, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) oder die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verloren medial an Bedeutung. 30 Nach ihrer Gründung 1958 bauten die Kommissionen von EWG und EURATOM Presse- und Informationsapparate auf. Die Hohe Behörde der EGKS verfügte bereits seit Beginn der 1950er Jahre über einen Presse- und Informationsdienst. 31 Da sich das Medieninteresse zunehmend auf den Gemeinsamen Markt konzentrierte, kam der Sprechergruppe der EWG-Kommission im Laufe der 1960er Jahre eine mediale Schlüsselrolle in Brüssel zu. Die Sprechergruppe unterrichtete die Brüsseler Presse über die Aktivitäten der EWG-Kommission.
27 Vgl. Gilles Bastin: Les professionnels de l'information européenne à Bruxelles: Sociologie d'un monde de l'information (territoires, carrières, dispositifs). Diss. École normale supérieure de Cachan 2003, 407. 28 Vgl. Marcell von Donat: Brüsseler Machenschaften. Dem Euro-Clan auf der Spur. BadenBaden 1975, 157. 29 Vertreter des Europäischen Parlaments klagten deshalb oft über mangelnde Medienaufmerksamkeit – so etwa Parlamentspräsident Mario Scelba 1970 in einem Brief an die Chefredaktion des Corriere della Sera. Vgl. Scelba an Spadolini, Roma, 22 maggio 1970, Archivio storico Corriere della Sera, Sezione amministrativo gestionale, segnatura provvisoria (ASCdS) 6771. 30 So musste etwa der Pressesprecher der EURATOM-Kommission, Jean Poorterman, feststellen, dass sich 1965 die Brüsseler Presse weitaus mehr für die EWG interessiert hatte als für EURATOM. Vgl. Poorterman, Rapport sur les activités du Porte-Parole pour l'année 1965, janvier 1966, HAEU BAC-118/1986_0799. 31 Zur Geschichte der Presse- und Informationspolitiken der Gemeinschaften vgl. insbesondere Meinolf E. Sprengelmeier: Public Relations für Europa. Die Beziehungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zu den Massenmedien. Bochum 1976; Marc R. Gramberger: Die Öffentlichkeitsarbeit der Europäischen Kommission 1952–1996. BadenBaden 1997; Alexander Reinfeldt: Unter Ausschluss der Öffentlichkeit? Akteure und Strategien supranationaler Informationspolitik in der Gründungsphase der Europäischen Integration, 1952–1972. Stuttgart 2014.
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Sie führte im Laufe des Jahres 1962 wöchentliche Pressekonferenzen ein 32 und betreute die Korrespondenten mit Pressemitteilungen, Informationsdokumentationen und im persönlichen Gespräch. Mit der Fusion der Exekutiven der drei Gemeinschaften verschmolzen 1967 auch deren Informationsapparate. Die neue gemeinsame Sprechergruppe der EG-Kommission hatte Mitte der 1970er Jahre 46 Mitarbeiter. 33 Die meisten EG-Mitgliedsstaaten sandten im Laufe der 1960er Jahre Presseattachés an ihre Ständigen Vertretungen nach Brüssel. Diese organisierten bei Bedarf Pressekonferenzen und Hintergrundgespräche zwischen Mitarbeitern der Ständigen Vertretungen und den Brüsseler Journalisten. Jede Ständige Vertretung konzentrierte ihre Pressearbeit auf „ihre“ Journalisten, also die Korrespondenten ihres Landes. Insbesondere vor, während und nach Ratstagungen kommunizierten die Ständigen Vertretungen ihre jeweiligen nationalen Positionen in den Verhandlungen. Nach jeder Ratssitzung trat der jeweilige Minister vor „seine“ nationale Presse und erklärte die gefassten Beschlüsse. 34 In den 1970er Jahren wuchs das Medieninteresse an der EG. Zunächst lockte die ambitionierte neue Agenda der EG nach dem Den Haager Gipfeltreffen 1969 Journalisten nach Brüssel. In Den Haag hatten die Staats- und Regierungschefs Pläne zu einer Wirtschafts- und Währungsunion, die Europäische Politische Zusammenarbeit sowie die Erweiterung der Gemeinschaft um Großbritannien, Irland, Dänemark und Norwegen beschlossen. Im Kontext von Öl- und Währungskrisen zogen EG-Energiepolitik und währungspolitische Kooperation das Interesse der Journalisten auf sich. 35 Weiter waren die Treffen des 1974 geschaffenen Europäischen Rates 36 und die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 große Medienereignisse. 37 Als Konsequenz der obigen Faktoren erhöhte sich die Anzahl der bei der EG-Kommission akkreditierten Journalisten zu Beginn der 1970er Jahre auf
32 Vgl. Rapport fait au nom de la commission politique sur le fonctionnement des services d'information des Communautés européennes, Rapporteur: M. W. J. Schuijt, Parlement Européen, Documents de séance 1962–1963, Document 103, 14 novembre 1962, HAEU BAC-118/1986_0872. 33 Vgl. Sprengelmeier: Public Relations für Europa, 95. 34 Vgl. Sachs an Hoppe, den 28. September 1971, PA AA B 20–200 1956. So auch Hagen Graf Lambsdorff im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 29. 07. 2014 in Berlin. 35 So Reginald Dale im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 06. 05. 2014 (telefonisch). 36 Vgl. Jan-Henrik Meyer: The European Public Sphere. Media and Transnational Communication in European Integration 1969–1991. Stuttgart 2010. 37 Zur umfangreichen Berichterstattung etwa des ZDF zur ersten Europa-Direktwahl vgl. die entsprechende Dokumentation in ZDF-Unternehmensarchiv (ZDF-UA) 6/0654.
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über 270 Berichterstatter. Vor allem die Anzahl britischer Korrespondenten schwoll nach dem EG-Beitritt des Vereinigten Königreiches 1973 stark an. 38 Détente und eine stärkere internationale Bedeutung der EG 39 sorgten für die Präsenz osteuropäischer 40 und etwa japanischer Korrespondenten in Brüssel. 41 Die Anzahl akkreditierter Journalisten stieg auf 340 im Jahr 1980. 42 Wachstum und Internationalisierung des Brüsseler Pressekorps ließen die Kommission ihre Pressearbeit intensivieren. Im Laufe des Jahres 1970 führte die EG-Sprechergruppe tägliche Pressekonferenzen ein, die rendez-vous de midi, welche den Arbeitstag der Korrespondenten fortan strukturierten. 43 Der steigenden Bedeutung des Fernsehens kam die Kommission Mitte der 1970er Jahre mit der Einrichtung eines TV-Studios im Berlaymont nach, welches Fernsehjournalisten weitgehend kostenfrei nutzen konnten. 44 Auch den Bau des International Press Centre 1973/1974 unterstützte die Kommission mit der belgischen Regierung nanziell. Das siebenstöckige Bürogebäude befand sich unmittelbar neben dem Berlaymont und wurde Arbeitsstätte vieler Brüsseler Korrespondenten. Die damit
38 Vgl. Burin des Roziers an M. le Secrétaire d'Etat auprès du Premier Ministre, Chargé de la fonction publique et des services de l'information, Objet: La presse française auprès des Communautés européennes, Bruxelles, le 19 février 1973, Archives diplomatiques, Centre des Archives diplomatiques de La Courneuve (MAE/Paris) 544INVA 505 DI 66. 39 Zur Interdependenz zwischen europäischer Integration und globalen politischen und ökonomischen Entwicklungen in den 1970er Jahren vgl. Claudia Hiepel (Hrsg.): Europe in a Globalising World. Global Challenges and European Responses in the „long“ 1970s. BadenBaden 2014. 40 Zu Beginn der 1970er Jahre akkreditierten viele staatliche Nachrichtenagenturen aus Osteuropa Korrespondenten bei der EG. Vgl. Aulbach, HA Auslandsbeziehungen, Korrespondentenabteilung an Generaldirektor Genn. Wieland, Betr.: Zusammenarbeit ADN-Belga und Akkreditierung eines DDR-Korrespondenten in Brüssel, Berlin, den 20. 8. 71, Bundesarchiv (BArch) DC 900/456. 41 Vgl. Europäische Gemeinschaften, Der Rat, Entwurf einer Antwort auf den 1. Bericht der Informationsreferenten der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften in Japan, Brüssel, den 12. April 1973, PA AA B 6 101188; Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei den Europäischen Gemeinschaften an Auswärtiges Amt, Betr.: Informationspolitik der EG, Brüssel, den 13. 06. 1979, PA AA B 200 121823. 42 Vgl. Bastin: Les professionnels de l'information européenne à Bruxelles, 407. 43 Vgl. Olivi, Note à l'attention de M. E. Noël, Secrétaire général, Objet: Rendez-vous quotidiens du Groupe du Porte-Parole avec la presse, Bruxelles, le 22 janvier 1971, HAEU BAC-079/1982_0205. 44 Vgl. Europäisches Parlament, Ausschuss für Jugend, Kultur, Bildung, Information und Sport, Entwurf eines Berichtes, Teil A, über Informationsauftrag und Informationspolitik der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Berichterstatter: Herr Wolfgang Schall, 27.2. 1980, PA AA B 200 121973.
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hergestellte räumliche Nähe zu den Journalisten belegte die Bedeutung, welche die Kommission den internationalen Medienvertretern beimaß. 45 Minister wie Staats- und Regierungschefs achteten bei Tagungen des EGRates und des Europäischen Rates in den 1970er Jahren stets darauf, TV-Journalisten mit statements zu versorgen. Die EG-Korrespondenten westeuropäischer Fernsehanstalten konzentrierten ihre Berichterstattung auf Schlüsselaktionen der Kommission, die Räte und ab 1978/1979 die Wahlen zum Europäischen Parlament. 46 Vertreter von Kommission und Regierungen bekundeten seit den 1960er Jahren die Bedeutung des Fernsehens für die Unterrichtung breiterer Massen über europäische Integration. 47 De facto jedoch blieben auch in den 1970er und 1980er Jahren für die tägliche Arbeit von EG-Beamten und Diplomaten in Brüssel die westeuropäische Wirtschafts- und Tagespresse sowie Agenturen maßgeblich, die aufmerksam verfolgt und ausgewertet wurden. 48 Presse und Agenturen verfügten in Brüssel über einen Informationsvorsprung, den TV-Korrespondenten mit Zeitungslektüre und Agentur-Abonnements aufzuholen suchten. 49 Indiskretionen erfolgten in Brüssel über Zeitungen und Nachrichtenagenturen und nicht über das Fernsehen. 50 Die Konzentration auf Presseberichterstattung in EG-Botschaften und Kommission entsprach der fortgesetzten Printmedienorientierung in diplomatischen Kreisen auch im Fernsehzeitalter. 51 Die 1970er Jahre brachten Vergleiche des Brüsseler Medienzentrums mit anderen Medienzentren in den USA und Westeuropa. Henri Schavoir, dpa-Korrespondent und Präsident der Association de la Presse internationale genannten Brüsseler Journalistenvereinigung erklärte 1975: „Wir haben in Bruessel nahezu 45 Vgl. Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Brüssel an Auswärtiges Amt, Betr.: Eröffnung des Internationalen Presse-Zentrums (IPC) in Brüssel, Brüssel, den 6. Mai 1974, PA AA B 6 101177. 46 Vgl. Donat: Brüsseler Machenschaften, 156–163. Vgl. auch Radke an Appel, Betr.: Konzept für begleitende Berichterstattung zur Europäischen Direktwahl, Wiesbaden, den 1. April 1977, ZDF-UA 6/0654. 47 Vgl. Tonbandabschrift der Ansprache des Präsidenten Walter Hallstein vor den Chefredakteuren der Rundfunkanstalten am 25. 10. 63 in Brüssel, BArch N 1266/974. 48 Mit der probeweisen Aufzeichnung wichtiger Fernsehsendungen begann die Kommission erst 1982. Vgl. Santarelli, Note à l'attention de Monsieur E. Noël, Secrétaire Général, Bruxelles, le 9 févier 1982, HAEU EN-1058. 49 So stellte ZDF-Brüssel-Korrespondentin Ingeborg Wurster 1975 fest: „Mein Informationsstand ist nicht immer aktuell zu nennen“ und forderte von der ZDF-Chefredaktion Zeitungs- und Agenturabonnements für ihr Studio. Vgl. Wurster an Beck, Bruessel, 5. Juli 1975, ZDF-UA 6/0906. 50 Ein Beispiel für eine Indiskretion gegenüber Fernsehjournalisten in Brüssel fand sich in den für diesen Beitrag untersuchten Archivmaterialen nicht. 51 Vgl. etwa die Befunde in Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit.
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280 Mitglieder und sind damit nach Washington die groesste Auslandspressevereinigung in der Welt.“ 52 EG-Kommissions-Sprecher Manuel Santarelli erklärte 1982 über den Presseraum der Kommission, dass „dieser in Anbetracht des Umfanges und der Permanenz des akkreditierten Pressekorps, der Regelmäßigkeit der vom Sprecher organisierten Pressekonferenzen und Brie ngs, sowie der Verortung inmitten der Räumlichkeiten der Kommission nur mit dem Presseraum des Weißen Hauses verglichen werden kann.“ 53 Solcherart Gegenüberstellungen mit Washington waren Übertreibungen, doch rückte Brüssel in den 1980er Jahren auf eine Ebene mit westeuropäischen Medienzentren wie London, Paris und Bonn. Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) und die Süderweiterung um Spanien und Portugal 1986 beendeten die damals wahrgenommene „Eurosklerose“. 54 Die neue Dynamik des „Integrationsprozesses“ zog Scharen neuer Journalisten nach Brüssel. 1986 zählte die EG-Kommission 450 akkreditierte Journalisten. 55
III. Strukturelle Gründe hinter medialen Indiskretionen im EG-Umfeld Warum kamen Indiskretionen im EG-Umfeld in Brüssel weitaus häu ger vor als in den traditionellen nationalen Medienzentren Westeuropas? Die Entwicklung Brüssels zwischen 1958 und 1985 zu einem wichtigen europäischen Medienzentrum hatte geringen Ein uss auf das leaking. Indiskretionen waren in Brüssel über den gesamten hier betrachteten Zeitraum außergewöhnlich zahlreich. Die fuites begründete folglich kein langfristiger Trend, der steigendes Medieninteresse an der EG mit mehr Indiskretionen verbunden hätte. Leaks folgten vielmehr einerseits der journalistischen Konjunktur; wenn in Brüssel wichtige Entscheidungen anstanden, kam es zu noch mehr Indiskretionen als sonst üblich. 56 Vor 52 Schavoir zitiert in Lambsdorff, Fernschreiben Bruessel euro an Bonn AA, Betr.: Essen des Herrn Bundeskanzlers mit der Bruesseler Presse, 5. 12. 1975, PA AA B 200 105655. 53 Santarelli, Note à l'attention de M. J. Durieux, Chef de Cabinet de M. le Président, Objet: Salle de presse de la Commission: Utilisation et Accès. Annexe 2, Bruxelles, le 15 avril 1982, HAEU EN-1058. 54 Vgl. Kiran Klaus Patel /Kenneth Weisbrode (Hrsg.): European Integration and the Atlantic Community in the 1980s. Cambridge 2013; N. Piers Ludlow: From Deadlock to Dynamism. The European Community in the 1980s. In: Desmond Dinan (Hrsg.): Origins and Evolution of the European Union. Second edition. Oxford 2014. 55 Vgl. Bastin: Les professionnels de l'information européenne à Bruxelles, 407. 56 Zu besonders vielen Indiskretionen kam es etwa in den frühen 1970er Jahren während der Verhandlungen um den britischen Beitritt zur EG. Vgl. Olivi, Note à l'attention de Monsieur le Président Malfatti et de Monsieur Deniau, Membre de la Commission, Objet: fuites
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allem aber erklärten drei konstante und strukturelle Eigenheiten des Brüsseler Medienzentrums die zahlreichen fuites. Erstens existierte in Brüssel kein informationeller Aufmerksamkeitsmittelpunkt. In den traditionellen nationalen Medienzentren drehte sich die Arbeit von Korrespondenten um eine nationale Regierung. Diese Regierung hatte zwar kein Informationsmonopol, stand aber im Brennpunkt des medialen Interesses. Für bestimmte Informationen waren Regierungsstellen die einzigen Ansprechpartner und Medienaufmerksamkeit diesen daher garantiert. Ihre Zentralstellung erlaubte staatlichen Akteuren, Informations üsse an die Medien zu steuern oder außenpolitische Arkanbereiche sogar zu erweitern. 57 Anders war die Lage in Brüssel. Dort interessierten sich Journalisten nicht für eine einzige Regierung, sondern für mehrere Regierungen und die EG-Kommission. Medienaufmerksamkeit war staatlichen und EG-Akteuren nicht garantiert, im Zweifel konnten Journalisten eine Information von verschiedenen Stellen einholen. 58 Diplomaten, Beamte und Politiker buhlten permanent um Aufmerksamkeit und gingen aktiv auf Korrespondenten zu. ZDF-Korrespondentin Ingeborg Wurster erklärte nach ihrer Ankunft in Brüssel 1976: „Was an anderen Orten einer unglaublichen Telefoniererei bedarf, um jemanden vor die Kamera zu bekommen, geht in Brüssel fast zu leicht vor sich.“ 59 Im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Journalisten ließ sich am besten mit vertraulichen Informationen punkten, was die Bereitschaft zum leaking deutlich erhöhte. Mehr informationeller Wettbewerb bedeutete mehr mediale Indiskretionen. Zweitens herrschte unter den Akteuren im Medienzentrum Brüssel ein hoher Grad an persönlicher Vertrautheit. Die Brüsseler EG-Welt der 1960er und 1970er Jahre war klein und in ihren Dimensionen nicht mit der heutigen EU vergleichbar. In Paris, Bonn oder London schufen parteipolitische Gräben Distanz zwischen den Akteuren. Dagegen einte in Brüssel Diplomaten, EG-Beamte und Jour-
dans la presse au sujet de la discussion en Commission du document sur la période transitoire, Personnel – Con dentiel, Bruxelles, le 14 novembre 1970, HAEU EN-650. 57 Vgl. Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit. 58 Der stellvertretende Generalsekretär der Europäischen Kommission, Christopher Audland, erklärte hierzu 1980: „It was a common practice in the Brussels Press corps to telephone different people, one after another, coaxing out a bit of information here and a bit there, until a coherent story emerged.“ Audland, Note for the attention of Mr. Tickell, Subject: Middle East and Euro-Arab dialogue, Con dential, Brussels, 9 June 1980, HAEU EN-619. 59 Wurster zitiert in: Rupert Neudeck, Frankfurter Rundschau, Minister drängen vor die Kameras. Nicht gering ist die Gefahr der Manipulation: Ingeborg Wurster arbeitet für das ZDF in Brüssel, Auslandskorrespondenten (IX), 12. 2. 76, ZDF-UA 11.4/6-0.23.
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nalisten wirtschaftspolitisches Expertenwissen und Begeisterung für die „europäische Sache“. Auch verbrachten sie viel gemeinsame Zeit – beruflich bei endlosen Nachtsitzungen des Ministerrates, privat bei gemeinsamen Mittag- und Abendessen und Freizeitunternehmungen. 60 Reginald Dale, Korrespondent der Financial Times in Brüssel von 1968 bis 1976 erklärt hierzu: „Die Arbeit endete nie, denn abends ging man zu einem Empfang oder einem Abendessen mit ein paar Leuten von der Kommission und man sprach immer über die Arbeit und versuchte, noch ein bisschen mehr herauszubekommen, was ablief.“ 61 Den Kontakt mit Kommissions-Beamten erleichterten auch die Einlassregeln am Berlaymont. Zum Kommissions-Gebäude hatten in den 1960er und 1970er Jahren alle akkreditierten Korrespondenten freien Zutritt ohne Voranmeldung. 62 Insgesamt sorgten also ständiger Kontakt und gegenseitige Vertrautheit dafür, dass geheime und vertrauliche Informationen Journalisten in Brüssel leichter zu ossen. Zudem waren viele Brüsseler Korrespondenten der ersten Generation glühende Unterstützer der europäischen Integration. In ihren Meldungen kommentierten sie die EG begeistert und kämpften für mehr und positivere Berichterstattung über die „europäische Einigung“. „Wenn diese Einigung, in welcher Form auch immer, nicht gelingt, werden unsere Kinder als Sklaven leben“, beschwor der Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ in Brüssel, Hans Herbert Götz, 1969 seine Redaktion. 63 Gianfranco Ballardin, Brüsseler Berichterstatter des Corriere della Sera, erklärte seinem Chefredakteur Giovanni Spadolini 1971: „die Entscheidungen in Brüssel haben direkte Rückwirkungen auf unser Land und können folglich nicht ignoriert werden“. 64 In der Kommission war man freilich bereit, mit derart „Europa-begeisterten“ Journalisten vertrauliche Informationen zu teilen. 65 Drittens sorgte die national wie politisch heterogene Zusammensetzung der EG-Kommission für einen im Vergleich zu nationalen Regierungen geringen informationellen Zusammenhalt. Hierzu erklärte Kommissions-Pressesprecher Beniamino Olivi 1974: „Die Kommission ist ein Kollegium bestehend aus Mit-
60 Vgl. Donat: Brüsseler Machenschaften, 160–161. 61 So Reginald Dale im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 06. 05. 2014 (telefonisch). 62 Diese Regelung unterschied sich stark von den strengen Einlassregeln nationaler Ministerien. De Koster, Note pour M. Noël, Objet: accès des journalistes dans les immeubles de la Commission, Bruxelles, le 27 juin 1978, HAEU EN-2566. 63 Götz an Welter, Brüssel 27. 3.69, BArch N 1314/451. 64 Ballardin an Spadolini, Bruxelles 21. 5. 71, ASCdS 8053. 65 Auf die „Europa-Euphorie“ der ersten Generation von EG-Korrespondenten ist verschiedentlich in der Literatur hingewiesen worden, zuletzt in John Lloyd /Cristina Marconi: Reporting the EU. News, Media and the European Institutions. London 2014, 9–22.
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gliedern mit verschiedenen Nationalitäten, verschiedenen politischen Tendenzen und mit verschiedenen Meinungen über die Probleme der europäischen Integration. Das Kollegium pro tiert leider nicht von dem Zement, den die Regierungssolidarität darstellt“. 66 Zwar kam es in allen westeuropäischen Hauptstädten zu Meinungsverschiedenheiten und Machtkämpfen unter Regierungsmitgliedern, die sich in medialen Indiskretionen entluden; doch in der Regel begrenzte die Kohäsion nationaler Regierungen und ihrer Ministerialbürokratie das Durchsickern heikler Informationen an die Medien. 67 In der Europäischen Kommission, wo mit Altiero Spinelli ein Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens einem deutschen Liberalen wie Ralf Dahrendorf gegenübersaß, hatten Zusammenhalt und informationelle Disziplin klare Grenzen. Dies galt auch auf den Hierarchieebenen der Kommission und ihrer Generaldirektorate. Zwar verband die Kommissare und EG-Beamten der gemeinsame Glaube an „Europa“, doch nationale und politische Differenzen blieben erheblich. Folglich war man eher bereit, Unmut über die Kollegen mit Indiskretionen öffentlich zu machen.
IV. Verursacher von Indiskretionen und deren Motive Doch wer konkret gab in Brüssel vertrauliche und geheime Informationen an die Medien? In den Außenministerien der Gemeinschaft hielt man die Kommission für den Urheber der vielen leaks und klagte „angesichts der bekannten Durchlässigkeit der Brüsseler Behörden“. 68 In der Kommission hingegen schob man den Mitgliedsstaaten die Verantwortung für Indiskretionen zu. 69 Tatsächlich kamen die leaks von allen Seiten. Mitglieder und Mitarbeiter der Kommission wie auch von Regierungen schoben Korrespondenten vertrauliche Informationen zu. Aufseiten der Kommission kamen Indiskretionen von verschiedenen Stellen. Of ziell waren Pressesprecher Olivi und sein Sprecherdienst die einzigen autorisierten Ansprechpartner der Korrespondenten in Brüssel. Eigenmächtiger Kontakt mit Journalisten war der restlichen Beamtenschaft verboten. 70 Doch zu 66 Olivi an de Margerie, Bruxelles, le 27 juin 1974, HAEU EN-2553. 67 Vgl. Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit. 68 Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Athen an Auswärtiges Amt, Athen, den 29. 06. 1977, PA AA B 200 114343. 69 Vgl. Entretien avec Paul Collowald par Yves Conrad et Myriam Rancon à Bruxelles le 2 décembre 2003. Oral History Project „Histoire interne de la Commission européenne 1958– 1973“, 2004. 70 Vgl. hierzu die verschiedenen vom Kollegium der Kommissare beschlossenen Regelungen zum Kontakt mit der Presse aus den späten 1950er und frühen 1960er Jahren: Noël, Note
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Olivis Ärger hielt sich niemand an diese Regel. Erbost erklärte der Sprecher 1970 Kommissions-Präsident Franco Maria Malfatti, die vielen fuites machten ihn und seine Kollegen praktisch über üssig. Deshalb forderte Olivi „eine Mahnung zur Disziplin von Seiten des Herrn Präsidenten an alle Personen mit Zugang zu vertraulichen und geheimen Dokumenten.“ 71 Doch eine solche Disziplin stellte sich nie ein. 72 Nach Ansicht Olivis hatten leaks in der Kommission folgende Ursprünge: „Mitglieder der Kommission, Kabinette, Generaldirektionen“. 73 Weniger dramatisch in ihren Konsequenzen waren Indiskretionen einzelner Beamter aus den Referaten der Generaldirektionen. Beamte gaben vertrauliche Informationen aus ihren dossiers an Journalisten weiter, um ihrer Arbeit ein größeres Publikum zu verschaffen. Marcel von Donat, Mitarbeiter Olivis im Sprecherdienst, scherzte hierzu 1975: „Das Gesetz ist unerbittlich: Nur bedeutende Sachen können Geheimhaltung beanspruchen. Deswegen sorgt jeder Eurokrat dafür, daß seine Sache geheim wird. Alles Geheime kommt heraus.“ Indiskretionen aus den Generaldirektionen betrafen oft technische Themen und kleine Ausschnitte der Arbeit der Kommission. Ihre Tragweite blieb daher begrenzt. 74 Weitaus bedeutender waren Indiskretionen von EG-Kommissaren und deren Mitarbeiterstäben, den Kabinetten. Viele Kommissare und deren Kabinettsmitglieder unterhielten ständigen Kontakt mit einer Gruppe ihnen wohlgesonnener Brüsseler Korrespondenten. Pressesprecher Olivi klagte hierzu: „die Tendenz bei einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern der Kommission, sich eine nationale oder politische Klientel zu schaffen, hat immer bestanden“. Kommissare und Kabinettsmitglieder umgingen so den of ziellen Pressesprecher und versorgten Journalisten mit vertraulichen Informationen, deren Veröffentlichung ihnen vor der Brüsseler oder ihrer nationalen Öffentlichkeit nutzte. Leaks dieser Art betra-
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pour Messieurs les Directeurs généraux, Objet: Contacs avec la Presse, Bruxelles, le 2 juillet 1959, und Van Gronsveld, Dienstanweisung Nr. 14 für den Generaldirektor der Verwaltung in Vertretung, Brüssel, den 21. Juni 1963, HAEU BAC-025/1980_0486. Vgl. Olivi, Note à l'attention de Monsieur le Président Malfatti et de Monsieur Deniau, Membre de la Commission, Objet: fuites dans la presse au sujet de la discussion en Commission du document sur la période transitoire, Personnel – Con dentiel, Bruxelles, le 14 novembre 1970, HAEU EN-650. Hieran hatten bereits in den 1960er Jahren wiederholte Erinnerungen an das Kontaktverbot mit Journalisten nichts geändert. Vgl. Dienstanweisung, Betr.: Verp ichtung der Beamten und Bediensteten der Institutionen der Europäischen Gemeinschaften zur Wahrung des Berufsgeheimnisses, Luxemburg, den 15. Juli 1965, BArch CEAB02-3571. Olivi an de Margerie, Bruxelles, le 27 juin 1974, HAEU EN-2553. Vgl. Donat: Brüsseler Machenschaften, 160.
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fen oft grundsätzliche Fragen der Europapolitik und waren daher schwerwiegender. 75 Beamte aus den Ständigen Vertretungen der Mitgliedsstaaten und zu Ratssitzungen angereiste Minister steckten den Brüsseler Journalisten ebenfalls vertrauliche Informationen zu. Einerseits trafen sich Beamte aus den Ständigen Vertretungen – von Referenten- bis Botschafter-Ebene – regelmäßig zu Hintergrundgesprächen mit einzelnen oder kleinen Gruppen von Korrespondenten. 76 Solche Gespräche dienten der allgemeinen Information, aber auch dem gezielten Platzieren einer Indiskretion. 77 Andererseits kam es vor allem während und nach Ratssitzungen zu Indiskretionen von Ministern und aus deren Umfeld, wenn es darum ging, das Verhandlungsergebnis in einem möglichst positiven Licht darzustellen. Vor allem die Korrespondenten wichtiger Medien hatten direkten Zugang zu „ihrem“ jeweiligen Minister. So berichtet Pio Mastrobuoni, ANSA-Korrespondent in Brüssel von 1967 bis 1974, von seinen Spaziergängen mit dem damaligen italienischen Außenminister Aldo Moro am Rande von EG-Ratssitzungen. 78 Welche Motive hatten „europäische“ und nationale Akteure für ihre leaks? Persönliche Eitelkeit und Pro lierungssucht waren ein Grund. Hauptsächlich aber spielten Indiskretionen eine Schlüsselrolle in der Austragung von drei Arten von Brüsseler Kon ikten. Erstens führten interne Kontroversen in der Kommission zu Indiskretionen. Zweitens ergaben sich Indiskretionen aus Streitigkeiten zwischen der Kommission und Mitgliedsstaaten. Drittens versuchten Regierungsakteure in Kon ikten untereinander mittels leaking Vorteile für sich herauszuschlagen. Kommissionsinterne Kon ikte produzierten zahlreiche Indiskretionen. Peinlich für die Kommission war vor allem, wenn durch eine gezielte fuite à la presse Meinungsverschiedenheiten unter Kommissaren öffentlich wurden. Das Kollegium der Kommissare entschied of ziell stets einstimmig; interne Streitigkeiten und das Abstimmungsverhalten der Kommissare in den wöchentlichen Kollegiums-Sitzungen waren Geheimsache. Die Kommission als Inkarnation des „europäischen Interesses“ sollte mit einer Stimme sprechen. 75 Vgl. Olivi an de Margerie, Bruxelles, le 27 juin 1974, HAEU EN-2553. 76 Vgl. Sachs an Hoppe, den 28. September 1971, PA AA B 20–200 1956. 77 Verschiedene ehemalige Brüsseler Korrespondenten bestätigten dies, so Reginald Dale im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 06.05. 2014 (telefonisch), John Palmer im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 16. 06.2014 (telefonisch) und Philippe Lemaître im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 25. 06. 2014 in Brüssel. 78 Vgl. Pio Mastrobuoni: Diario minimo di Pio Mastrobuoni. Cento colpi di spillo. Storie buffe dei potenti del mondo. Con una prefazione di Giulio Andreotti. Roma 2005, 53.
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Trotzdem fanden sich wiederholt Angaben zum Verhalten einzelner Kommissare während der Kollegiums-Sitzungen in den Zeitungsspalten. So etwa am 25. Juli 1969, als der Brüsseler Korrespondent des Corriere della Sera, Gianfranco Ballardin, über eine Entscheidung der Kommission berichtete, zehn westeuropäische Chemiebetriebe wegen Kartellbildung zu einer Geldstrafe von 500.000 Dollar zu verurteilen. Ballardin meldete, im Kollegium hätten der deutsche Kommissar Fritz Hellwig und sein niederländischer Kollege Sicco Mansholt um die Höhe der Strafzahlung gestritten. Der industriefreundliche Hellwig habe eine geringe Strafe gefordert, während der Sozialist Mansholt einen höheren Betrag befürwortet habe. 79 Pressesprecher Olivi mutmaßte, dass ein italienisches Kabinettsmitglied eines Kommissars, der mit Mansholts Forderung nach einer höheren Geldstrafe sympathisierte, die Information an den Corriere-Korrespondenten weitergeleitet hatte, um seinem Unmut über die geringe Strafe Luft zu machen. 80 Für großen Wirbel in Brüssel sorgte 1966 die Veröffentlichung eines geheimen Berichtes des Leiters des EGKS-Informationsbüros in London, Eelco van Kleffens. In diesem Bericht äußerte sich Kleffens sehr negativ über den Zustand der britischen Wirtschaft – eine brisante Tatsache, denn die Gemeinschaft verhandelte zeitgleich mit Großbritannien über den EG-Beitritt. Kleffens Bericht zur britischen Wirtschaftsschwäche spielte den – vornehmlich französischen – Gegnern eines britischen Beitritts in die Hände. Die teilweise Veröffentlichung des Reports über Agence France-Presse (AFP) und in Le Monde im Juni 1966 erregte große Aufmerksamkeit in Brüssel, Paris und London. 81 Autoren der Meldungen waren Yann de L'Ecotais und Philippe Lemaître, jeweils Brüsseler Berichterstatter für AFP und Le Monde. 82 Die Kommission versuchte, mit großangelegten Untersuchungen dem Geheimnisverräter auf die Schliche zu kommen. Doch Nachforschungen blieben ohne Ergebnis, da Kleffens' Bericht zu vielen Stellen in der Kommission zugegangen war. 83 Lemaître und de L'Ecotais hatten den geheimen 79 Vgl. Gianfranco Ballardin: Una multa collettiva a dieci imprese chimiche. In: Corriere della Sera, 25. 07. 1969. 80 Vgl. Olivi, Note à l'attention de Monsieur Rey, Président de la Commission, Bruxelles, 28 juillet 1969, HAEU BO-4. 81 Der Zeitungsbericht von Le Monde wurde in einer britischen Parlamentsdebatte diskutiert. Vgl. Kleffens an Del Bo, 20. Juillet 1966, HAEU CEAB02-3571. Vgl. zur Bedeutung des Berichts auch Dino del Bo an Walter Hallstein, 8 juin 1966, HAEU CEAB02-3571, und Kleffens an Rey, 6. 6. 1966, HAEU EN-209. 82 Vgl. Philippe Lemaître: La ‚maladie anglaise` risque de contaminer les Six estime la délégation de la C. E. C. A. à Londres. In : Le Monde, 06. 06. 1966. 83 Unter anderem mussten alle Mitarbeiter der Kommission, die eine Kopie des Berichtes erhalten hatten, diese zurückgeben. Wer hierzu nicht in der Lage war, wurde verhört. Vgl. De Koster, Note à l'attention de Monsieur Noël, Secrétaire Exécutif, Objet: Document
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Bericht von einem französischen Kommissions-Beamten erhalten, der im Gegensatz zur Mehrheit des EG-Personals einen britischen Beitritt zur Gemeinschaft ablehnte. Mit der fuite wollte der Beamte die Bemühungen um den britischen Beitritt untergraben. 84 Weiter sorgten Kon ikte zwischen Kommission und Regierungen von Mitgliedsländern für Indiskretionen. Insbesondere die Kommission nutzte leaks, um Regierungen unter Druck zu setzen und vor vollendete Tatsachen zu stellen. 85 Häu g reichten Kommissions-Beamte ihre Legislativvorschläge unter der Hand an Brüsseler Korrespondenten weiter, bevor diese den Regierungen zugingen. Die supranationalen Beamten hofften so, die mediale Öffentlichkeit für sich zu gewinnen, bevor sich die nationalen Regierungen überhaupt zum Vorschlag der Kommission äußern konnten. Auch die im Anfangsstadium eigentlich geheime Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedsstaaten sickerte häu g an die Presse durch. Nach Vorstellung von einigen Kommissions-Beamten verspürten medial angeprangerte Regierungen wohl einen größeren Anreiz, ihre Verletzung von EG-Recht abzustellen. 86 Den Regierungen war diese Praxis ein Dorn im Auge. 87 Der italienische EG-Botschafter Eugenio Plaja beschwerte sich 1978 bei Kommissions-Präsident
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LOND (66) 16 du 11 mai 1966, Rapport no. 651 du 21 février 1966 de la délégation de la Haute Autorité à Londres – Mesures d'information, Bruxelles, le 21 juin 1966, HAEU EN-209. So Philippe Lemaître im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 25. 06. 2014 in Brüssel. Die genaue Identität des Beamten wollte Lemaître jedoch nicht preisgeben. Die Kommission konstatierte 1970 auf eine parlamentarische Anfrage des niederländischen Abgeordneten im Europäischen Parlament, Henk Vredeling, dass die Mehrzahl der Indiskretionen aus der Kommission sich mit dem Wunsch von Kommissions-Beamten erkläre, die Integration gegen die Mitgliedsstaaten schneller voranzubringen. Vgl. Noël an Nord, Réponse à la question écrite n° 97/70 posée par M. Vredeling, 01. 07. 1970, HAEU PE0-10329. So protestierte der französische Kommissar für Wirtschaft und Finanzwesen, Raymond Barre, im Juli 1968 beim Generalsekretär der Kommission, Emile Noël, weil Informationen über ein in der Einleitung be ndliches Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich in die Presse geraten waren, bevor die französische Regierung überhaupt über das Verfahren in Kenntnis gesetzt worden war. Noël erklärte daraufhin Kommissions-Präsident Jean Rey, es handele sich um eine typische Indiskretion unter vielen anderen. Vgl. Noël, Note à l'attention de Monsieur le Président Rey, Bruxelles, le 22 juillet 1968, HAEU EN-1158. Anfang 1973 etwa baten alle Informationsreferenten der Ständigen Vertretungen in Brüssel Kommissions-Pressesprecher Olivi zum Gespräch, um sich über die Praxis der Kommission zu beschweren, bestimmte Informationen erst an die Presse und dann an die Regierungen der Mitgliedsstaaten zu kommunizieren. Vgl. Fernschreiben Bruessel euro an Bonn AA, betr.: Sitzung der Gruppe Information am 22. Januar 1973, 24. 1. 1973, PA AA B 200 101243.
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Roy Jenkins: „Bei mehreren Gelegenheiten musste ich in der Vergangenheit den heiklen Punkt ansprechen, dass recht häu g Entscheidungen und Vorschläge der Kommission von besonderer Wichtigkeit für den Mitgliedsstaat, an den sie sich richten, an die Presse verraten werden, bis ins kleinste Detail, bevor die betroffene Regierung davon informiert wurde.“ 88 Doch auch wenn Generalsekretär Emile Noël das Sicherheitsbüro der Kommission einmal mehr mit Nachforschungen zu Plajas Beschwerde beauftragte, hörten die Indiskretionen nicht auf. 89 Schließlich sorgten Kon ikte zwischen Regierungen von Mitgliedsstaaten für Indiskretionen. Letztere kamen vor allem während und nach Ministerratssitzungen vor. Die Sitzungen der verschiedenen Räte waren geheim, trotzdem gerieten heikle Verhandlungsinhalte oft „zu einem erheblichen Teil“ 90 mittels Indiskretionen in die Medien. Bereits während der Verhandlungen sickerten über an den Diskussionen zeitweise teilnehmende Beamte Informationen aus dem für Journalisten verschlossenen Verhandlungssaal. Jede Delegation versuchte so, ihre Positionen schon während der Verhandlungen vor den anwesenden Korrespondenten in ein positives Licht zu rücken. 91 Nach Ende der Sitzungen trat jeder Minister vor „seine“ nationale Presse und bewarb das Verhandlungsergebnis. Neben der Pressekonferenz kam es jedoch oft zu gezielten Indiskretionen, mit denen die Delegationen ihre Version des Verhandlungsablaufes gegenüber den Delegationen der Verhandlungspartner durchzusetzen trachteten. 92
V. Schlussbetrachtung Das nach 1958 in Brüssel entstehende Medienzentrum unterschied sich von traditionellen Medienzentren in Westeuropa. Spezi sche Brüsseler Charakteristika – Abwesenheit eines informationellen Aufmerksamkeitsmittelpunktes, hohe persönliche Vertrautheit der Akteure, geringe informationelle Kohäsion der Kommission – erklärten die im Vergleich zu London, Paris oder Bonn hohe Anzahl 88 Plaja an Jenkins, 6 May 1978, HAEU EN-237. 89 Vgl. Noël, Note à l'attention de Monsieur Noyon, Directeur du Bureau de Sécurité, Con dentiel, Bruxelles, le 19 mai 1978, HAEU EN-237. 90 So die Einschätzung des britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament Lord O'Hagan. Vgl. Written Question No 278/74 by Lord O'Hagan to the Council of the European Communities (1 August 1974), Subject: Secrecy of Council when acting as a legislature, HAEU PE0-13226. 91 Vgl. Donat: Brüsseler Machenschaften, 161. 92 Verschiedene ehemalige Brüsseler Korrespondenten gaben dies an, so Reginald Dale im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 06. 05.2014 (telefonisch), John Palmer im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 16. 06. 2014 (telefonisch) und Philippe Lemaître im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 25. 06.2014 in Brüssel.
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von medialen Indiskretionen. Die zahlreichen leaks hatten drei generelle Konsequenzen für das Verhältnis von Journalisten, Regierungen und Kommission in Brüssel. Erstens bedeuteten die vielen fuites für nationale Regierungen einen Verlust an Ein uss auf Medienberichterstattung. In London, Paris, Rom und Bonn konnten Regierungsvertreter aus einer starken Stellung heraus den Informations uss an die Medien – freilich in variierendem Umfang – steuern. In Brüssel, wo sie mit anderen Regierungen und der Kommission konkurrierten, entglitt ihnen diese Kontrolle. Diplomaten und Politiker spürten den medialen Ein ussverlust und begründeten ihn mit der Konkurrenz durch die Kommission. Der stellvertretende Ständige Vertreter Frankreichs bei der EWG, Jean-Pierre Brunet, betonte 1964 gegenüber dem Chef des Informationsdienstes des Quai d'Orsay „die für uns bestehende Notwendigkeit, ein Gegengewicht aufzubauen gegen die ‚Propaganda` (es gibt hier keinen anderen Ausdruck) der Kommission des Gemeinsamen Marktes.“ 93 Zu Beginn der 1970er Jahre beschwerte sich Bundeslandwirtschaftsminister Josef Ertl wiederholt beim Auswärtigen Amt aufgrund der „mangelhaften Pressepolitik der Bundesrepublik Deutschland am Sitz der Europäischen Gemeinschaften“. 94 Die Bundesrepublik solle ihre Medienarbeit dort steigern, als „Gegengewicht zu der intensiven Pressepolitik der Kommission in Brüssel“ 95, forderte Ertl. Doch blieben Regierungen in Brüssel unfähig, mediale Informations üsse im gleichen Umfang zu beein ussen wie in ihren Hauptstädten. Zweitens waren Indiskretionen ein Mittel, mit dem die Kommission erfolgreich gegen nationale Regierungen um Medienein uss konkurrierte. Sie erkämpfe sich, nicht zuletzt mithilfe von gezielten leaks, eine solide Stellung im Brüsseler Medienzentrum. Es wäre jedoch einseitig, einen linearen Medieneinuss-Transfer von Regierungen auf die Kommission anzunehmen und daraus eine mediale Dominanz der Kommission in Brüssel zu folgern. Es kam in der Kommission zu vielen fuites – oft ausgelöst durch interne Kon ikte –, die dem öffentlichen Ansehen der Behörde schadeten. Insgesamt war das Verhalten der Kommission bezüglich der Indiskretionen widersprüchlich. Einerseits platzierten Kommissionsmitglieder und -beamte immer wieder selbst leaks, andererseits gingen sie mit umfangreichen Ermittlungen gegen Indiskretionen vor. Den inkonsequenten Umgang mit leaks wie auch die Schwäche der Kommission gegenüber den Brüsseler Medienvertretern demonstrierten die oben erwähnten 93 Brunet an Batault, Bruxelles, le 15 Février 1964, MAE/Paris 544INVA 373. 94 Ertl an Scheel, Bonn-Duisdorf, den 24. 3.1971, PA AA B 20–200 1956. 95 Ertl an Scheel, Bonn-Duisdorf, 30. 4. 1970, PA AA B 20–200 1956.
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großzügigen Regeln des Einlasses in den Berlaymont. Als die Kommission im Sommer 1978 strengere Zutrittskontrollen erwog, 96 kam sie davon schnell wieder ab. Striktere Eintritts- und somit Informations usskontrollen waren gegen die Brüsseler Presse nicht durchsetzbar. 97 Schließlich verhinderten die für Journalisten zentralen Treffen der Ministerräte und Europäischen Räte ohnehin eine dominante Stellung der Kommission. Hier spielte die Kommission oft nur eine Nebenrolle. Drittens war das Ergebnis der zahlreichen Indiskretionen ein Zustand informationeller Unordnung in Brüssel, wo weder Regierungen noch Kommission Informations üsse kontrollierten. Von dieser Unordnung pro tierten die Brüsseler Korrespondenten. Die ständigen leaks erlaubten diesen einen konstanten tiefen Einblick hinter die Kulissen des EG-Theaters. 98 Doch informationelle Unordnung barg auch Risiken. Im Oktober 1961 erklärte der Brüsseler FAZ-Korrespondent Ernst Kobbert seinem Herausgeber Erich Welter zu Indiskretionen in Brüssel: „Es gibt immer Leute, die einem etwas sagen, womöglich sogar mit dem Zusatz ‚das müssten Sie einmal bringen`. Ich bin da immer sehr zurückhaltend, weil ich weiß, daß einer vieles sagen kann was noch lange nicht ausgekocht ist und weil er vielleicht dabei bestimmte Wünsche hat.“ Im „komplizierten Getriebe“ der Gemeinschaft war der Wahrheitsgehalt von vertraulichen Informationen oft schwer nachprüfbar, so Kobbert. 99 Auch ZDF-Korrespondentin Ingeborg Wurster bestätigte: „Ich habe immer das Gefühl, daß ich mich hüten muß, hier manipuliert zu werden, ganz egal von wem.“ 100 Wenn Kommission und Regierungsvertreter mittels Indiskretionen Kon ikte austrugen, instrumentalisierten sie die Brüsseler Presse. Um diese Instrumentalisierung zu begrenzen und von informationeller Unordnung zu pro tieren, brauchten Journalisten Detailkenntnisse der Brüsseler EG-Welt. Doch verfüg96 Vgl. Noël, Note à l'attention de Monsieur Hayden Phillips, Objet: Accès des journalistes dans les immeubles de la Commission, Bruxelles 30 juin 1978, HAEU EN-2566. 97 Vgl. De Koster, Note pour M. Noël, Objet: accès des journalistes dans les immeubles de la Commission, Bruxelles, le 27 juin 1978, und Phillips an Noël, Journalists' access to Commission buildings, 14 July 1978 in HAEU EN-2566. 98 Ehemalige Brüsseler Korrespondenten, die auch von anderen Korrespondentenplätzen berichteten, betonen, dass sie nirgendwo derart nah wie in Brüssel an den Entscheidungsprozessen gewesen seien. So Reginald Dale im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 06. 05. 2014 (telefonisch) und Thomas Löffelholz im Zeitzeugengespräch mit dem Verfasser am 23.07. 2014 in Berlin. 99 Vgl. Kobbert an Welter, Brüssel, 20. Oktober 61, BArch N 1314/470. 100 Wurster zitiert in Rupert Neudeck, Frankfurter Rundschau, Minister drängen vor die Kameras. Nicht gering ist die Gefahr der Manipulation: Ingeborg Wurster arbeitet für das ZDF in Brüssel, Auslandskorrespondenten (IX), 12. 2. 76, ZDF-UA 11.4/6-0.23.
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ten viele Korrespondenten – nach Einschätzung von EG-Diplomaten „oft sehr fähig“ 101 und unter „den besten Kennern der europaeischen Entwicklung“ 102 – hier über das nötige Fachwissen. Die vorliegende Fallstudie hat am Beispiel der EG-Kommission demonstriert, wie ein supranationaler Akteur das Verhältnis von Medien und Regierungen im Feld der Außenpolitik veränderte. Die Struktur des EG-Medienzentrums wandelte die Dynamik der Beziehung zwischen Medien und Regierungen zugunsten der Journalisten. Auch verloren Staatsvertreter medialen Ein uss an die Kommission. Durch den multilateralen Charakter der EG und das Gewicht der Kommission reduzierten sich mediale Manövrierfähigkeit und Arkanräume einzelner Regierungen. Die insgesamt in Brüssel resultierende informationelle Unordnung mag als Ausdruck von Medialisierung gedeutet werden. Jedoch gab es keine lineare Tendenz zu mehr Öffentlichkeit und Unordnung durch stetig zunehmende Indiskretionen. Vielmehr waren Indiskretionen im Zeitraum zwischen 1958 und 1985 von Beginn an außergewöhnlich zahlreich und variierten lediglich nach journalistischer Konjunkturlage. Die Fallstudie zeigt schließlich, dass es lohnt, bisherige nationenzentrierte Ansätze in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu Medien und Außenpolitik um Ansätze zu erweitern, die zwischen-, supra- und nichtstaatliche Akteure wie internationale Organisationen oder Nichtregierungsorganisationen in den Blick nehmen. Solche Ansätze bieten das Potenzial, ein nuancenreicheres und komplexeres historisches Bild des Spannungsfeldes zwischen Medien und Außenpolitik als bisher zu zeichnen.
101 Brunet an Batault, Bruxelles, le 15 Février 1964, MAE/Paris 544INVA 373. 102 Lambsdorff, Fernschreiben Bruessel euro an Bonn AA, Betr.: Essen des Herrn Bundeskanzlers mit der Bruesseler Presse, 5. 12.1975, PA AA B 200 105655.
Andreas Lutsch
Die Bundesrepublik Deutschland als ‚nicht-nukleare Mittelmacht` und der NATO-Doppelbeschluss (1978/1979)
Der Beitrag vermittelt Grundzüge einer Neuinterpretation der nuklearen Sicherheitspolitik der nicht-nuklearen Bundesrepublik Deutschland im unmittelbaren Vorfeld des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979. Die empirische Grundlage des Beitrages bilden multiarchivalische Recherchen. Sie ermöglichen ein präzises Verständnis relevanter Entscheidungsprozesse und eine quellenkritische Differenzierung zwischen zeitgenössisch öffentlich zugänglichen Quellen und staatlichem Schriftgut, das erst in jüngster Zeit deklassi ziert worden ist. Eingangs werden der Forschungsstand skizziert und bestehende Forschungsdesiderate extrapoliert. Zweitens wird die unzureichend verstandene bundesdeutsche Grundhaltung in den ausgehenden 1970er Jahren im Blick auf das Glaubwürdigkeitsmanagement der erweiterten US-amerikanischen Abschreckung zugunsten NATO-Europas nachgezeichnet. Dabei werden – drittens – der Begriff des Mediums operationalisiert und die im Falle der Bundesrepublik 1978/1979 relevanten außenpolitischen Kommunikationskanäle differenziert. Viertens werden zentrale Thesen jener Neuinterpretation der deutschen Regierungspolitik in der Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses vorgestellt und auffällige Merkmale in der politischen Sprache Bundeskanzler Helmut Schmidts, des politisch dominanten Vertreters der Regierung Schmidt – Genscher, skizziert. In einem kurzen Fazit werden die wichtigsten Ergebnisse des Beitrages bilanziert.
I. Die Genese des NATO-Doppelbeschlusses ist vielfach untersucht worden. Es liegt eine Fülle von Darstellungen unterschiedlicher Zugangsweisen und Quellendichte vor. Die umfangreiche politikwissenschaftliche Behandlung des Themas seit den frühen 1980er Jahren strukturierte das Verständnis von Entscheidungsprozessen in der Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses. Diese Forschungen verfügten aber nicht ansatzweise über den reichen Fundus mittler-
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weile zugänglicher Quellen diverser Provenienzen. 1 Die Evolution politikwissenschaftlicher Narrative ging zeitgenössisch mit Versuchen historischer Akteure einher, das Geschichtsbild zu formen. 2 Der Umgang mit politikwissenschaftlichen Entscheidungsprozessanalysen wirft zahlreiche Fragen und Probleme auf. Aus Sicht des Historikers ist gegenüber diesen mehrheitlich zur Zeit des OstWest-Kon ikts entstandenen Narrativen und Interpretationen Vorsicht geboten. Die Geschichtswissenschaft ist ihrerseits im Zuge der im frühen 21. Jahrhundert erfolgten Deklassi zierung von Verschlusssachen vor allem staatlicher Exekutiven mit einer quantitativen wie qualitativen Überfülle an Quellen gesegnet und herausgefordert zugleich. Die historische Forschung hat jüngst Beiträge vorgelegt, die das Verständnis der Genese des NATO-Doppelbeschlusses auf gesicherter empirischer Grundlage mitunter bahnbrechend verbessert haben. 3 Weite 1
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Dieses strukturelle De zit fällt im Einzelfall mehr oder weniger ins Gewicht, da solche Forschungen mitunter von einem besonderen Quellenzugang pro tieren konnten, etwa: Lothar Rühl: Mittelstreckenwaffen in Europa. Ihre Bedeutung in Strategie, Rüstungskontrolle und Bündnispolitik. Baden-Baden 1987; Ivo H. Daalder: The Nature and Practice of Flexible Response. NATO Strategy and Theater Nuclear Forces since 1967. New York 1991. Überdies v. a.: RAND Corporation: NATO Long-Range Theater Nuclear Force Modernization: Rationale and Utility. Santa Monica, CA 1980; Hubertus Hoffmann: Die Atompartner Washington-Bonn und die Modernisierung der taktischen Kernwaffen. Vorgeschichte und Management der Neutronenwaffe und des NATO-Doppelbeschlusses der NATO. Koblenz 1986; Thomas Risse-Kappen: Null-Lösung. Entscheidungsprozesse zu den Mittelstreckenwaffen 1970–1987. Frankfurt am Main 1988; Jeffrey D. Boutwell: The German Nuclear Dilemma. Ithaca, NY 1990; Susanne Peters: The Germans and the INF Missiles. Getting Their Way in NATO's Strategy of Flexible Response. Baden-Baden 1990; Stephan Layritz: Der NATO-Doppelbeschluß. Westliche Sicherheitspolitik im Spannungsfeld von Innen-, Bündnis- und Außenpolitik. Frankfurt am Main 1992. Vgl. etwa: Helmut Schmidt: Menschen und Mächte. Berlin 1987; vgl. das umfangreiche Oral-History-Projekt zu einer dreizehnteiligen PBS-Serie (Erstausstrahlung 1989) u.d.T. „War and Peace in the Nuclear Age“: http://openvault.wgbh.org/collections/wpna-wpnawar-and-peace-in-the-nuclear-age#Interviews (zuletzt abgerufen 3.9. 2015). Kristina Spohr Readman: Con ict and Cooperation in Intra-Alliance Nuclear Politics. Western Europe, the United States, and the Genesis of NATO's Dual-Track Decision, 1977– 1979. In: Journal of Cold War Studies 13 (2011), Nr. 2, 39–89; Leopoldo Nuti /Frédéric Bozo /Marie-Pierre Rey /Bernd Rother (Hrsg.): The Euromissile Crisis and the End of the Cold War. Stanford, CA 2015; Kristan Stoddart: Facing Down the Soviet Union. Britain, the USA, NATO and Nuclear Weapons, 1976–1983. Basingstoke 2014; Marilena Gala: NATO Modernization at a Time of Détente: A Test of European Coming of Age? In: Historische Mitteilungen 24 (2011), 90–120; Stephanie Freeman: The Making of an Accidental Crisis: The United States and the NATO Dual-Track Decision of 1979. In: Diplomacy & Statecraft 25 (2014), 331–355; vgl. auch die beiden Sammelbände in Anm. 4; konzise Bilanzen: Joachim Scholtyseck: The United States, Europe, and the NATO DualTrack-Decision. In: Matthias Schulz /Thomas A. Schwartz (Hrsg.): The Strained Alliance.
Die Bundesrepublik Deutschland als ‚nicht-nukleare Mittelmacht` 391
Teile der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft bleiben indes einer wirkmächtigen, im Lichte der zugänglichen Quellen nicht mehr haltbaren politikwissenschaftlichen Interpretation verhaftet, in der die Genese des NATO-Doppelbeschlusses unter reduktionistischer Konzentration auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen und in vielerlei Hinsicht in Parallelität zu Helmut Schmidts öffentlicher Selbstdarstellung als „doppeltes Missverständnis“ gedeutet wurde: Im Unterschied zur US-amerikanischen Atommacht, die primär die Modernisierung nuklearer Mittelstreckenwaffen gefordert habe, sei es der Bundesrepublik Deutschland zuvörderst um die rüstungskontrollpolitische Beschneidung des sowjetischen Potenzials nuklearer Mittelstreckenwaffen gegangen – und Letzteres nicht nur um den eventuellen Preis, sondern bei deutscher Präferenz der westlichen „Nichtnachrüstung“. Zudem erscheinen die deutsche Regierungspolitik und speziell die Haltung Bundeskanzler Schmidts im Vorfeld des NATODoppelbeschlusses als stark atlantisch orientiert. 4
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U.S. – European Relations from Nixon to Carter. New York 2010, 333–352; Andreas Rödder: Gleichgewicht, Westbindung, Multilateralismus. Der NATO-Doppelbeschluss und die Folgen für die deutsch-amerikanische Sicherheitspolitik der 1980er Jahre. In: Historisch-Politische Mitteilungen 21 (2014), 227–242. Helga Haftendorn: Das doppelte Mißverständnis. Zur Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses von 1979. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 33 (1985), 244–287, hier: 285 f. Eine zentrale Übereinstimmung zwischen dieser Darstellung und Schmidts öffentlicher Selbstdarstellung besteht hinsichtlich der vermeintlichen Intentionen Schmidts hinsichtlich seiner IISS-Rede am 28. Oktober 1977 und ihrer Rezeption: ebd., 285; Schmidt: Menschen, 230; Interview des Verf. mit H. Schmidt am 15. 11. 2011. Der Interpretation Haftendorns schlossen sich an: Tim Geiger: Die Regierung Schmidt-Genscher und der NATO-Doppelbeschluss. In: Philipp Gassert /Tim Geiger/Hermann Wentker (Hrsg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutschdeutscher und internationaler Perspektive. München 2011, 95–122; Christoph BeckerSchaum /Philipp Gassert /Martin Klimke /Wilfried Mausbach /Marianne Zepp: Einleitung. Die Nuklearkrise der 1980er Jahre. NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung. In: dies. (Hrsg.): „Entrüstet Euch!“. Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung. Unter Mitarbeit v. Laura Stapane. Paderborn, München, Wien, Zürich 2012, 7– 37; Holger Nehring /Benjamin Ziemann: Führen alle Wege nach Moskau? Der NATODoppelbeschluss und die Friedensbewegung – eine Kritik. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), 81–100. Die „Nichtnachrüstung“ erscheint als deutsche und als Schmidts Präferenz sowie oft auch als Ziel des NATO-Doppelbeschlusses bei: Wolfgang Jäger /Werner Link: Republik im Wandel 1974–1982. Die Ära Schmidt. Mit einem abschließenden Essay von Joachim C. Fest. Stuttgart 1994, 295; Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999, 590; Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart. München 2009, 537; Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg bis zum Mauerfall. München 2014, 743 f.;
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Nach wie vor sind in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zahlreiche Desiderate festzustellen. In konzeptioneller Hinsicht ist zu bemerken, dass die Sensibilität für dezidiert sicherheitspolitische Analytik unter den Bedingungen des Atomzeitalters jedenfalls in der deutschsprachigen Forschung nur gering entwickelt ist. Für die Geschichte internationaler Sicherheit im Atomzeitalter gilt allgemein, dass nicht nur Facetten, sondern auch zentrale Teile dieser Geschichte trotz vermeintlicher Gewissheiten noch unzureichend erforscht sind. 5 Im Blick auf die Genese des NATO-Doppelbeschlusses zeigen sich zudem inhaltliche Desiderate, wovon wenige an dieser Stelle herausgestellt werden. Auffällig ist, dass Darstellungen dieser Genese ganz überwiegend im Jahr 1977 einsetzen. Wichtige Prozesse und Entwicklungslinien seit den ausgehenden 1960er Jahren wurden häu g ganz übergangen und sind erst ansatzweise verstanden. Auch um diese Lücke auszufüllen – was an dieser Stelle nicht zu leisten ist –, ist eine Neuinterpretation speziell der bundesdeutschen nuklearen Sicherheitspolitik geboten, zumal Konsens herrscht, dass der Bundesrepublik Deutschland gerade in der Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses eine Schlüsselrolle zukam. 6 Zudem sind bedeutsame Spezi ka weiter zu erforschen, darunter: der Zusammenhang zwischen der Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses und der deutschen Frage, die Rolle zentraler Akteure wie insbesondere von Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Zustand und die Glaubwürdigkeit der transatlantischen Sicherheitsarchitektur in der Perzeption relevanter Akteure sowie entsprechende Zukunftsprojektionen derselben, die Suche nach Alternativen zur gegebenen Sicherheitsarchitektur und die Bedeutung der Entwicklung des militärischen Kräfteverhältnisses zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt gemessen an Beurteilungen relevanter Akteure. Der letztgenannte Aspekt inkludiert die ebenso umstrittene wie komplizierte, in der Forschung aber oft simplizierend behandelte Frage, wie sich materielle Disparitäten und nukleare Counterforce-Fähigkeiten – wie zum Beispiel das sowjetische IRBM SS-20 – auf die
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Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014, 936 u. 1023; Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium 1982–1990. München 2006, 79; Gregor Schöllgen: Deutsche Außenpolitik. Von 1945 bis zur Gegenwart. München 2013, 197 f. Francis J. Gavin: Nuclear Statecraft: History and Strategy in America's Atomic Age. Ithaca, NY 2012; H-Diplo /ISSF Forum 2 (2014): „What We Talk About When We Talk About Nuclear Weapons.“ http://issforum.org/ISSF/PDF/ISSF-Forum-2.pdf (zuletzt abgerufen 3. 9. 2015). Eine Neuinterpretation bietet: Andreas Lutsch: Westbindung oder Gleichgewicht? Die nukleare Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland zwischen Atomwaffensperrvertrag und NATO-Doppelbeschluss (1961–1979). Diss. Universität Mainz 2014 (Publikation in Vorbereitung).
Die Bundesrepublik Deutschland als ‚nicht-nukleare Mittelmacht` 393
strategische Stabilität auswirkten. Mediengeschichtlich erforderlich sind zudem Untersuchungen zum Verhältnis von Außenpolitik und Öffentlichkeit und insbesondere zum Verhältnis zwischen vertraulicher Politik im Bereich der nuklearen Sicherheitspolitik einerseits und massenmedial erzeugter Öffentlichkeit andererseits.
II. In der Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses stellt der Gipfel von Guadeloupe (5./6. Januar 1979) eine Wasserscheide dar. Bei den Besprechungen im Kreis der Staats- und Regierungschefs der drei westlichen Atommächte USA, Großbritannien und Frankreich sowie der nicht-nuklearen Bundesrepublik Deutschland auf Guadeloupe war die Sitzung am Nachmittag des ersten Tages des Gipfeltreffens entscheidend. Nachdem Premierminister James Callaghan und Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing erstmals und nach Monaten einer britischfranzösischen Verweigerungshaltung 7 der Aufnahme von Rüstungskontrollverhandlungen über ausgewählte nukleare Mittelstreckenwaffen der Supermächte (1000–5500 km) im Rahmen von SALT III zugestimmt und auch US-Präsident Jimmy Carter diesen Schritt befürwortet hatte, richteten sich alle Blicke auf Bundeskanzler Helmut Schmidt in der klaren Erwartungshaltung, „that the Germans would have to co-operate in the deployment of the medium range type ballistic missiles or the Ground Launch[ed] Cruise Missiles“. 8 Schon durch die prinzipielle Zustimmung der Westmächte zu einer Erweiterung zukünftiger SALT-Verhandlungen war die bundesdeutsche Kampagne zur Politisierung des ‚Grauzonenproblems` 9 honoriert worden, die mit dem öffent7
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Aufz. Blech, deutsch-britische Gespräche am 18. 11. 1977, Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik (AAPD). 1977. Bearb. v. Amit D. Gupta u. a. München 2008, Bd. II, Dok. 327; Aufz. Pfeffer, 6. 6. 1978, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PA AA), B 150, Bd. 394. Personal, brief notes by Jimmy Carter, mit Marginalie Carters bei Übermittlung am 12. 1. 1979: „Fritz [W. Mondale] to Cy [Cyrus Vance] – for info; no others, no copies. My personal, brief notes“, Jimmy Carter Presidential Library, Atlanta GA (JCL), NLC 128 (Plains File)-4-12-3-9. Hierzu folgende Skizze: Den Gravitationskern des die bundesdeutsche Seite beunruhigenden ‚Grauzonenproblems` bildeten „so-called gray area systems (the SS-20 and Backre)“, s. Memorandum Brzezinski für Carter, 12. 1. 1978, JCL, Donated Historical MaterialZbigniew Brzezinski Collection, Box 41, Subject File, Weekly Reports [to the President], 42–52: [1/78–3/78]. Diese restriktive De nition von „gray area systems“ war nicht allgemeingültig. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld resümierte bei der NPG-Ministertagung von Brüssel am 14. 6. 1976 etwa, s. brit. Protokoll der NPG-Tagung v. Roger
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lichen Paukenschlag Schmidts anlässlich seiner Rede vor dem Londoner IISS am 28. Oktober 1977 einen Höhepunkt erfahren hatte. Diese Kampagne baute auf dem Verständnis auf, dass die in Gang be ndliche Evolution des materiellen militärischen Kräfteverhältnisses zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt in den 1980er Jahren zur Destabilisierung führen könne oder werde. Ein destabilisierender Effekt gehe insbesondere von dem durch Indienststellung des mobilen SS-20 modernisierten Potenzial auf Europa ausgerichteter nuklearer Mittelstreckenraketen (IR/MRBM) aus, da alleine schon diese mobile IRBMFähigkeit als „Druckmittel“ 10 gegen NATO-Europa genutzt werden könne. Indes, die letztgenannte These war ebenso umstritten 11 wie das zuvor skizzierte Verständnis von strategischer Stabilität, 12 auf dem die letztgenannte These aufT. Jackling v. 16. 7.1976, The National Archives, Kew (TNA), DEFE 31/160: „There were several systems which fell into the gray area between strategic and theatre nuclear use and which were perceived differently by different countries.“ Zudem bestand innerhalb der Administration Schmidt – Genscher jedenfalls bis Ende 1978 keine de nitorische Klarheit hinsichtlich der ‚Grauzone`. „As you know, there is more than one view in Bonn on this whole subject“, schrieb etwa der britische Gesandte in Bonn, Bullard, seinem Kollegen Moberly im FCO am 11.8. 1978, TNA, FCO 46/1821. Extensiveren De nitionen zufolge waren der sowjetische Mittelstreckenbomber BACKFIRE und die sowjetischen IR/MRBM nur ein Teil der ‚Grauzone`, die nicht durch MBFR oder SALT erfasste Nuklearwaffen und Trägermittel inkludierte (a) potenziell aller Typen mit Reichweiten unter 5500 km und (b) potenziell nicht nur der Supermächte, sondern auch Frankreichs, Großbritanniens und – bezüglich Trägersystemen – nicht-nuklearer Staaten in beiden Bündnissen. Unklar war zudem, ob die ‚Grauzone` (a) regional (etwa auf bestimmte Dislozierungsräume in Europa) und/oder (b) auf die NATO und den Warschauer Pakt begrenzt war oder werden sollte. 10 So Schmidt, s. Aufz. Ruhfus, 6. 1. 1979, Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik (AAPD). 1979. Bearb. v. Michael Ploetz u. Tim Szatkowski. München 2010, Bd. I, Dok. 3, 17; Schreiben Schmidt an Bahr, 15. 12. 1978, Archiv der sozialen Demokratie, Bonn (AdsD), Dep. Bahr, 1/EBAA001082. 11 Action Memorandum Hartman /Vest /Lord, 18. 10. 1976, National Archives and Records Administration (NARA), RG 59, Decentralized Files-Lot Files (DF-LF), Of ce of the Counselor, Container 5, DEF 3 Nuclear Planning Group (NPG): „There is no way that the USSR could employ or threaten to employ the SS-X-20 against NATO Europe without risking totally unacceptable levels of retaliation by NATO including US strategic forces.“ Vgl. auch: Richard K. Betts: Nuclear Blackmail and Nuclear Balance. Washington, D.C. 1987; s. Thomas S. Schelling: Arms and In uence. With a New Preface and Afterword. New Haven, London 2008, 69–91, zur Differenzierung zwischen zwei Formen von „coercion“: „deterrence“ und „compellence“; glaubwürdige Drohungen im Sinne von „deterrence“ seien leichter zu kreieren als glaubwürdige Drohungen im Sinne von „compellence“ (etwa: initiatives Nutzbarmachen militärischer Macht mittels Drohung zwecks Druckaufbau, um etwa bestimmte politische Ziele zu erreichen). 12 Vgl. dazu: Matthew Kroenig: Nuclear Superiority and the Balance of Resolve: Explaining Nuclear Crisis Outcomes. In: International Organization 67 (2013), 141–171. Dagegen
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baute. Aber auf Guadeloupe beschrieb Schmidt die rüstungskontrollpolitische Beschneidung dieses ‚destabilisierenden` und in der Modernisierung be ndlichen sowjetischen IR/MRBM-counterforce-Potenzials als ebenso erforderlich wie eine gewisse, von Rüstungskontrollverhandlungen unabhängige Modernisierung der regional gebundenen nuklearen Waffen unter NATO-Befehl (Theater Nuclear Forces [TNF]) im Mittelstreckenbereich (Long Range Theater Nuclear Forces [LRTNF]): „In der Triade gebe es eine Lücke zwischen den taktischen Nuklearwaffen und den strategischen Nuklearwaffen im Mittelstreckenbereich. Im Interesse der Glaubwürdigkeit der Eskalationsdrohung müsse diese Lücke gefüllt werden.“ 13 Damit verband Schmidt im Rekurs auf die jüngere WINTEX/CIMEXÜbungspraxis der NATO eine Kritik an einer sich anbahnenden Tendenz in der Implementierung der NATO-Strategie, „which postulated ghting taking place in Germany alone“. 14 Diese auf höchster politischer Ebene vorgebrachte Kritik Schmidts stand in Kontinuität zu der vor allem bei Konsultationen im Rahmen der Nuclear Planning Group (NPG) der NATO seit Anfang der 1970er Jahre vehement vorgetragenen deutschen Forderung, dass eine Konzentration oder Begrenzung des Kernwaffeneinsatzes auf das zentraleuropäische Gefechtsfeld, das heißt auf deutschen Boden, unannehmbar sei. 15
s. etwa Aufz. II B 1, 18. 9. 1970, PA AA, B 43, Bd. 126: „Solange den Sowjets Entschlossenheit und Solidarität der NATO unzweifelhaft bleiben, steht jede Angriffspotenz vor dem Stopschild der Vergeltung. Selbst eine Vervielfachung der [sowjetischen] Mittelstreckenraketen, die ja das amerikanische strategische Potential nicht erreichen, verringert die amerikanische Vergeltungsfähigkeit nicht um ein Yota. Eine solche Vervielfältigung würde jedoch auch gegenüber Europa nichts ändern, denn bereits das derzeitige Mittelstreckenpotential (Raketen und Bomber) stellt eine overkill-Kapazität dar. [. . . ] Ja, selbst ihre völlige Abschaffung und Vernichtung würde das Ausmaß der Bedrohung Europas kaum verringern, da [. . . ] ein Teil der strategischen (interkontinentalen) Raketenkomponente für einen Einsatz in Europa abgezweigt werden könnte.“ 13 Aufz. Ruhfus, 6. 1. 1979, AAPD 1979, I, Dok. 3, 17. Britische Überlieferung (Aufz. wahrscheinlich v. John Hunt): „Anyhow, in his [Schmidts] view, there was a missing link in the progression of the exible response“, Extract From Four-Power Discussions in Guadeloupe 5/6 January 1979: Second Session, on Friday 5 January 1979 at 1630 Hours, TNA, PREM 16/1984. 14 Ebd. 15 Vgl. etwa Bundesverteidigungsminister Schmidts Eruption bei der NPG-Konferenz von Kopenhagen: Aufz. Young, 1. 6. 1972, NATO NPG, Record of Eleventh Meeting, TNA, DEFE 11/471; US-Rezeption noch im Brie ng Memorandum Lake, 21. 7.1977 („The ‚Neutron Bomb` and the Germans“), NARA, RG 59, DF-LF, Policy Planning Council (PPC), Records of Anthony Lake, box 2, TL 7/16–31/77.
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Gleichzeitig befand sich Schmidt trotz des außergewöhnlichen Prestigegewinns als Kanzler der nicht-nuklearen Bundesrepublik auf Guadeloupe gegenüber den drei westlichen Atom- beziehungsweise Siegermächten der beiden Weltkriege in der Defensive. 16 Denn er verknüpfte die dezidiert bekundete Bereitschaft zur Neudislozierung von LRTNF (wie zum Beispiel bodengestützten Marsch ugkörpern [GLCM]) im Bundesgebiet mit der Bedingung der Non-Singularität der Bundesrepublik. Würde Bonn zukünftig auf eine restriktive Lesart dieser Bedingung bestehen, so würde die Implementierung der bundesdeutschen Stationierungszusage schon in dem Fall gehemmt werden, wenn die Neudislozierung von LRTNF nur im Bundesgebiet und in Großbritannien, nicht aber zusätzlich im Gebiet eines weiteren kontinentaleuropäischen nicht-nuklearen NATOStaates vorgenommen werden könnte. 17 Vor dem Hintergrund des Ausgangs der Kontroverse um die ‚Neutronenwaffe` (Enhanced Radiation Weapon [ERW]) im Vorjahr lieferte sich Schmidt der situativ auch vom britischen Premierminister Callaghan unterstützten Kritik Carters aus, Schmidt postuliere die Existenz einer
16 Nicht in der Defensive, sondern in Überlegenheit zu Carter, Callaghan und Giscard erscheint Schmidt bei: Kristina Spohr: Helmut Schmidt and the Shaping of Western Security in the Late 1970s. The Guadeloupe Summit of 1979. In: The International History Review 37 (2015), 168–192. 17 Die Non-Singularitätsbedingung bezog sich nur, wie unzureichend verstanden ist, auf die Stationierung neuer Systeme wie GLCM, nicht aber auf die Modernisierung bereits vorhandener Waffensysteme. Das MRBM PERSHING II wurde auf deutscher Seite (im Blick auf die Non-Singularitätsbedingung) nicht als „Neudislozierung“, sondern als Upgrade der nur in der Bundesrepublik dislozierten PERSHING IA gesehen; zu dieser wichtigen Differenzierung Schmidts auf Guadeloupe und Carters mangelndem Verständnis s. Personal notes Carter, JCL, NLC 128 (Plains File)-4-12-3-9. Auf Guadeloupe kommunizierte Schmidt die restriktive Form der Non-Singularitätsbedingung, d. h., eine Neudislozierung von LRTNF in Großbritannien reiche nicht aus, s. Überlieferung gem. Anm. 13. Allerdings hatte Schmidt bereits im Gespräch mit Callaghan in Bonn Mitte Oktober 1978 erkennen lassen: „So far as the deployment of cruise missiles was concerned, Chancellor Schmidt made it clear that he would never agree to the stationing of cruise missiles on FRG territory alone. He might, however, be prepared to agree to this if cruise missiles were to be sta[t]ioned in another Western European country, such as the UK, as well.“ MemCon Callaghan – Schmidt, 18/19 October 1978, TNA, FCO 46/1822. In Bonn insistierte das AA unter Hans-Dietrich Genscher auf eine nicht-restriktive Form der Non-Singularitätsbedingung, damit bei mangelnder Stationierungsbereitschaft nicht-nuklearer NATO-Staaten in Europa die Stationierungsbereitschaft Großbritanniens ausreiche, um die LRTNF-Neudislozierung in der Bundesrepublik durchzuführen, s. Aufz. Ruth, 9. 5. 1979, PA AA, B 150, Bd. 416.
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„Lücke“, die „gefüllt“ werden „müsse“; er werde aber möglicherweise das Füllen dieser „Lücke“ politisch blockieren. 18 Weil es angesichts der Anfang 1979 gegebenen politischen Lage in der NATO ungewiss war, ob und wann die Non-Singularitätsbedingung in Bezug auf die bereits erklärte deutsche Bereitschaft zur LRTNF-Stationierung im Gebiet der Bundesrepublik eintreten würde, verlief der auf die TNF-Modernisierung bezogene Teil des Gipfels von Guadeloupe „fairly inconclusive“ 19. Dies wiederum darf nicht den Blick dafür verstellen, dass am Ende des Gipfels feststand, dass auf das ‚Grauzonenproblem` im nuklearen Mittelstreckenbereich mit einem kombinierten Vorgehen aus LRTNF-Modernisierung der NATO und selektiv angelegten Rüstungskontrollverhandlungen über nukleare Mittelstreckenwaffen (1000– 5500 km) der Supermächte im Rahmen von SALT III reagiert werden müsse. 20 Dieses Ergebnis stimmte in den Grundzügen mit jener Disposition überein, die seit 1976 seitens der nicht-nuklearen Bundesrepublik Deutschland politisiert worden war – und dies bis Anfang 1979 die meiste Zeit wider die (jeweils unterschiedlichen) Positionen der drei westlichen Atommächte. 21
III. Ein medientheoretisch informierter Blick erleichtert das Verständnis der deutschen Sichtweise auf die LRTNF-Modernisierung. Das Management der USamerikanischen erweiterten nuklearen Abschreckung zugunsten NATO-Europas unter den Bedingungen der Mutual Assured Destruction (MAD) im Verhältnis der Supermächte war eine ausgesprochen komplizierte Angelegenheit. Die Androhung massiver nuklearer Vergeltung auch bei begrenzten Formen nichtnuklearer Angriffe des Warschauer Paktes litt an einem Mangel an Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig wurde die Androhung des Ersteinsatzes nuklearer Waffen im Blick auf solche Verteidigungsfälle als unverzichtbarer Bestandteil einer glaubwürdigen NATO-Strategie der exiblen Antwort (MC 14/3) identi ziert. Folglich konzentrierten sich seit den ausgehenden 1960er Jahren die US- und NATOinternen Bemühungen darauf, die Strategie so zu implementieren und das überkommene TNF-Dispositiv so zu modi zieren, dass Moskau der selektive Kern18 Extract From Four-Power Discussions in Guadeloupe 5/6 January 1979: Second Session, on Friday 5 January 1979 at 1630 Hours, TNA, PREM 16/1984; Personal notes Carter, JCL, NLC 128 (Plains File)-4-12-3-9. 19 Ebd. 20 Spohr: Con ict, 72 f.; die ältere Forschung hat dieses Ergebnis identi ziert, wie Rühl: Mittelstreckenwaffen, 190 ff., teilweise aber auch nicht: Haftendorn: Mißverständnis, 273. 21 Lutsch: Westbindung oder Gleichgewicht?
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waffeneinsatz auf der Basis eines diversi zierten Spektrums nuklearer Einsatzoptionen angedroht werden könne, bezüglich deren Exekution im Ernstfall ein größerer Einsatzwille seitens der USA in Rechnung zu stellen sein würde als bezüglich der Exekution massiver nuklearer Vergeltung. Die Glaubwürdigkeit des US-Nuklearschirms zugunsten NATO-Europas schien also selektive nukleare Einsatzoptionen zu erfordern. Die Zielsetzung des selektiven Einsatzes nuklearer Waffen als Form intentionaler Eskalation sollte insofern politisch sein, als das den in eine kriegerische „competition in risk taking“ verstrickten Kontrahenten gemeinsame Risiko der Ungewissheit inklusive des potenziellen Abgleitens in den allgemeinen Atomkrieg ausgebeutet werden würde, um zu versuchen, die kriegsinitiierende Sowjetunion zur Kriegsbeendigung zu zwingen. 22 Unter den Bedingungen des Kriegsbildes des begrenzten Krieges in Europa 23 sollten solche Einsatzoptionen ermöglichen, das in der Krise potenziell gefährliche Vakuum im Aktionsrepertoire der NATO zwischen unzureichender konventioneller Verteidigung einerseits und massiver nuklearer Vergeltung andererseits zumindest teilweise abzubauen. Dadurch wiederum könnte die Glaubwürdigkeit des US-Nuklearschirms in der Perzeption der europäischen Verbündeten und der Sowjetunion erhalten beziehungsweise eine eventuelle Suche der Verbündeten nach sicherheitspolitischen Zusätzen oder Alternativen zum US-Nuklearschirm verhindert und eine sowjetische Strategie des kalkulierten Druckaufbaus oder Krieges durchkreuzt werden. Selektive nukleare Eskalationsoptionen, verstanden als Einsatzplanungen zum selektiven Nuklearwaffeneinsatz unter dem Niveau massiver Vergeltung, basierten auch auf materiell vorhandenen Kernwaffen wie
22 Zur Genese der Provisional Political Guidelines for the Initial Tactical Use of Nuclear Weapons by NATO (PPGs) s. Andreas Lutsch: Merely ‚Docile Self-Deception`? German Experiences with Nuclear Consultation in NATO. In: The Journal of Strategic Studies 39 (2016), 535–558; William Burr: The Nixon Administration, the „Horror Strategy,“ and the Search for Limited Nuclear Options, 1969–1972. In: The Journal of Cold War Studies 7 (2005), Nr. 3, 34–78; Jeffrey A. Larsen /Kerry M. Kartchner (Hrsg.): On Limited Nuclear War in the 21st Century. Stanford, CA 2014; Elbridge Colby: De ning Strategic Stability: Reconciling Stability and Deterrence. In: ders. /Michael S. Gerson (Hrsg.): Strategic Stability. Contending Interpretations. Carlisle, PA 2013, 47–83; Lawrence Freedman: On the Tiger's Back. The Development of the Concept of Escalation. In: Roman Kolkowicz (Hrsg.): The Logic of Nuclear Terror. Boston 1987, 109–152; s. auch Schelling: Arms, 91: „The creation of risk – usually shared risk – is the technique of compellence that probably best deserves the name of ‚brinkmanship`. It is a competition in risk taking. It involves setting afoot an activity that may get out of hand, initiating a process that carries some risk of unintended disaster.“ 23 Zur Strategie Moskaus bzw. des Warschauer Pakts s. die Beiträge v. Mastny und Uhl in: Vojtech Mastny /Sven G. Holtsmark /Andreas Wenger (Hrsg.): War Plans and Alliances in the Cold War. Threat Perceptions in the East and West. London, New York 2006.
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TNF unter NATO-Kommando. Letztere stellten Medien des Abschreckungsmanagements der NATO dar, da sie „Artefakte“ waren, „deren Zweck es ist, Kommunikation zu ermöglichen“ 24. Ihr Mediencharakter wird daran deutlich, dass ihr Primärzweck in der nonverbalen Vermittlung einer Drohung in Friedenszeiten zu sehen war, um abschreckende Wirkung beim Adressaten, hier: der Sowjetunion, zu entfalten; ihr Sekundärzweck konnte in der Vermittlung einer Warnung mit dem politischen Ziel der Kriegsbeendigung mittels Einsatzimplementierung gesehen werden, um die gescheiterte Abschreckung wiederherzustellen, was implizierte, den kriegsinitiierenden Gegner – im Nebel des Krieges – vor die erkennbare und operativ auch realisierbare Wahl zu stellen, die Verantwortung für weitergehende Eskalation zu übernehmen oder seine Aggression zu beenden. 25 Beraten wurde in der NATO Mitte der 1970er Jahre, welche selektiven nuklearen Eskalationsoptionen die Glaubwürdigkeit des US-Nuklearschirms in welchem Maße steigern würden und welche Form der TNF-Modernisierung infolge24 Fabio Crivellari /Marcus Sandl: Die Medialität der Geschichte. Forschungsstand und Perspektiven einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Geschichts- und Medienwissenschaften. In: Historische Zeitschrift 277 (2003), 619–654, hier: 633. Der hier verwandte Medienbegriff versteht Medien im weiteren Sinne als „Mittler der Kommunikation“, s. Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt am Main, New York 2011, 7. 25 Medientheoretisch gesehen kamen als „Sender“ jener nonverbalen Botschaft jedenfalls die USA infrage, da sie die souveräne Verfügungsgewalt über ihre Kernwaffen unter NATOBefehl innehatten (vom Sonderfall britischer Atomwaffen unter NATO-Kommando abgesehen); zugleich konnten die NATO oder einzelne Mitglieder zusammen mit den USA als „Sender“ angesehen werden, weil die Verantwortung für die Vermittlung der Botschaft politisch als in der NATO (ganz oder teilweise) geteilt angesehen werden konnte; das Prinzip geteilter Verantwortung kam wiederum zum Ausdruck in multilateralen Konsultationsmechanismen und Einsatzrichtlinien, in der Stationierungserlaubnis für US-Kernwaffen in europäischen NATO-Staaten oder in der Praxis der nuklearen Teilhabe der US-Verbündeten, d. h. im Bereitstellen von Trägermitteln für US-Kernwaffen unter NATO-Kommando. Zur Botschaftsvermittlung kam eine Vielzahl potenzieller „Kanäle“ infrage: Kommuniqués, Pressemitteilungen, Manöverberichte etc. Der „Empfänger“, die Sowjetunion, kann abstrakt als Entität angesehen werden. Faktisch zer el Letztere in eine potenziell unüberschaubare Vielzahl von Rezipienten: natürliche Personen im politisch-diplomatisch-militärischen Apparat der Sowjetunion mit potenziell divergierenden Perzeptionen. Sowenig die Forschung bezüglich des Abschreckungsmanagements der NATO die konkrete Medienwirkung benennen kann, ob und warum der US-Nuklearschirm zugunsten NATO-Europas oder gar einzelne Medien, d. h. bestimmte Kernwaffen, Moskau tatsächlich von Druck, Erpressung und /oder Krieg als Mitteln der Politik abgeschreckt haben, sosehr ist strukturell von einer Nichteindeutigkeit und damit auch von einer enormen Störanfälligkeit des Kommunikationsprozesses auszugehen.
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dessen erstrebenswert sei. Diese Modernisierungsdiskussion lässt sich argumentativ zwischen zwei Polen verorten: Auf der einen Seite könnten etwa modernisierte nukleare Gefechtsfeldwaffen „deterrence by denial“ bewirken, indem sie signalisieren würden, dass die NATO entschlossen und in der Lage sei, den Gegner militärisch davon abzuhalten, Ziele wie territorialen Gewinn zu erreichen. Auf der anderen Seite könnten etwa weitreichende TNF „deterrence by punishment“ bewirken, indem sie signalisieren würden, dass die NATO entschlossen und in der Lage sei, den aggressiven Gegner durch gezielte Schläge etwa gegen sein eigenes Territorium zu bestrafen. 26 Überdies könnte das TNF-Potenzial eine Mischung aus Fähigkeiten zwischen beiden Polen bieten, wobei sich dann die Frage nach der Gewichtung der Komponenten stellen würde. Diese NATO-intern geführte TNF-Modernisierungsdiskussion war kompliziert. Sie offenbarte diplomatisch moderierte und in Expertensprache eingehüllte Interessendivergenzen insbesondere im Vergleich zwischen bundesdeutschen und US-amerikanischen Prioritäten, wobei Letztere der Modernisierung nuklearer Gefechtsfeldwaffen einen zentralen Stellenwert beimaßen. 27 Vor diesem Hintergrund dokumentierte die zitierte Modernisierungsforderung Helmut Schmidts auf dem Gipfel von Guadeloupe eine Präferenz zugunsten selektiver nuklearer Eskalationsoptionen im NATO-Potenzial im Sinne von „deterrence by punishment“: Die „Glaubwürdigkeit der Eskalationsdrohung“ (Schmidt) erfordere eine Modernisierung selektiver nuklearer Eskalationsoptionen im Mittelstreckenbereich, um (zumindest prima facie) das Risiko der Sowjetunion zu erhöhen, dass die Eskalationsfolgen im Zuge ihrer Aggression gegen Westeuropa auf ihr Territorium übertragen und nicht oder zumindest nicht alleine auf dem zentraleuropäischen Gefechtsfeld entladen werden würden. Schmidts Argumentation auf Guadeloupe stand in direkter Kontinuität zur deutschen Haltung in der NPG und ihrer im Jahr 1977 etablierten High Level Group (HLG), wo die Diskus-
26 Glenn H. Snyder: Deterrence by Denial and Punishment. Princeton, NJ 1959; Charles Glaser: Why Do Strategists Disagree about the Requirements of Strategic Nuclear Deterrence? In: Lynn Eden /Steven E. Miller (Hrsg.): Nuclear Arguments. Understanding the Strategic Nuclear Arms and Arms Control Debates. Ithaca, NY, London 1989, 109–171. 27 Zur Evolution dieser US-Präferenz als Vorbedingung einer „Constrained Battle eld Use Option“ vgl. z. B. Aufz. Walske, 6. 11. 1970, Gerald R. Ford Presidential Library, Ann Arbor MI, Melvin R. Laird Papers, Box C13, NATO, 1969–1973 – Doc. 196A–199. Die gen. US-Präferenz wurde jüngst wenig überzeugend bestritten: Henry H. Gaffney: Euromissiles and the Ultimate Evolution of Theater Nuclear Forces in Europe. In: The Journal of Cold War Studies 16 (2014), Nr. 1, 180–199.
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sion um die TNF-Modernisierung auf der Arbeitsebene geführt wurde. 28 Diese Haltung entsprach der herrschenden Meinung in der Administration Schmidt – Genscher, die aber zunehmend gespalten war aufgrund der subtilen Agitation einer ein ussreichen Minderheit gegen die LRTNF-Modernisierung. 29 Diese Spaltung führte zu einer quecksilbrigen Anlage der vertraulichen wie öffentlichkeitszugewandten außenpolitischen Sprache der involvierten Akteure, die auf diversen außenpolitisch relevanten Kanälen agierten. Die zugänglichen Quellen erlauben eine Differenzierung der außenpolitisch relevanten Kanäle. Schematisch können Letztere jeweils auf einer von drei parallel verlaufenden Ebenen innerhalb eines Gesamtspektrums der außenpolitischen Sprache von Vertretern der Administration Schmidt – Genscher verortet werden. Die Bandbreite dieses Spektrums kann hier lediglich aufgezeigt werden. Die erste Ebene umfasst vertrauliche Kommunikation in amtlicher Funktion: im Binnenverhältnis der deutschen Administration; in parlamentarischen Gremien; allianzintern (multilateral, bilateral, jeweils institutionalisiert oder okkasionell); bilateral-blockübergreifend (etwa: deutsch-sowjetische Beziehungen); regulärer 28 Vgl. auch die Aufz. Hofmann, 22. 2. 1979, PA AA, B 150, Bd. 411: „Von deutscher Seite ist dabei in der High Level Group (HLG) der NPG wie zuvor in der 1975 von den USA ausgelösten Diskussion über die TNF-Modernisierung immer wieder auf die Bedeutung weiterreichender TNF für die Glaubwürdigkeit der Abschreckung in Europa hingewiesen worden. Der derzeitige Mangel an TNF solcher Reichweite auf NATO-Seite leiste der sowjetischen Perzeption Vorschub, ein nuklearer Kon ikt ließe sich auf das Gefechtsfeld begrenzen.“ 29 Diese zunehmende Spaltung und ihre Implikationen sind nicht hinreichend bekannt und noch weniger verstanden, aber von entscheidender Bedeutung, um die Deutung der deutschen Regierungspolitik im Vorfeld des NATO-Doppelbeschlusses nicht zu verzerren, dazu ausführlich: Lutsch: Westbindung oder Gleichgewicht? Hierzu nur exemplarische Hinweise: Der harte Kern der Gegner zumindest einer deutschen LRTNF-Stationierungsteilhabe in der deutschen Administration war im BMVg-Planungsstab unter MD Walther Stützle zu sehen. Stützle informierte den britischen Gesandten, Bullard, am 3. 11.1978, „that any form of nuclear vehicles based on FRG soil and capable of hitting the USSR would be unacceptable“, Schreiben Bullard an Moberly, 3. 11. 1978, TNA, FCO 46/1714. Bullard berichtete Moberly am 1. 12. 1978 über sein Gespräch mit MDg Franz Pfeffer (AA) am 28. 11.1978, TNA, FCO 46/1827: „Pfeffer asked what I thought of Stützle, whom he had tended to represent throughout as the villain of the piece. I gave a cautious answer, saying that I found him easier to get on with now than he had been two or three years ago. Pfeffer said that Stützle's in uence was undoubtedly greater now than it had been under Leber. The trouble with Stützle was that he was so mistrustful of the United States. But when challenged to document his doubts he could not do so. Dr. Brown [US-Vert.Min.] had been quite right to remind the Europeans that the United States had not started the debate on gray areas and was quite prepared to drop it if the problems of participation, nancing and stationing were too dif cult for them.“
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Geschäftsgang vs. Back-channel-Diplomatie. Die zweite Ebene beinhaltet vertrauliche Kommunikation in teilöffentlichen Kontexten: transnationale Foren (etwa: Bilderberg-Konferenzen); epistemic communities (etwa: Euro-American Workshop der RAND Corporation und der Stiftung Wissenschaft und Politik); Off-the-record-Pressegespräche. Die dritte Ebene inkludiert öffentlichkeitszugewandte Kommunikation: über Massenmedien (Presse, TV, Radio); im Parlament; in parteipolitischen Kontexten. Gerade vor dem Hintergrund jener quecksilbrigen Anlage der außenpolitischen Sprache von Vertretern der Administration Schmidt – Genscher ist ein Faktum von herausragender Bedeutung: Jedenfalls befürwortete – ein zuvor lavierender 30 – Kanzler Schmidt auf Guadeloupe im entscheidenden politischen Moment diejenige deutsche Modernisierungspräferenz, die in den Jahren zuvor auf Experten- und Ministerebene in lupenreiner Klarheit ausgearbeitet worden war. 31 Unbeschadet dessen waren Schmidts Sicht und der deutsche Beitrag in der NPG bezüglich der Frage nicht deckungsgleich, welche TNF als Grundlage der erstrebten selektiven nuklearen Eskalationsoptionen im LRTNF-Bereich stationiert werden sollten. 32 Alles in allem stellte die deutsche Modernisierungsforderung auf eine notwendige evolutionäre Stärkung der LRTNF unter NATO-Kommando ab, das
30 Vgl. u. a.: Aufz. Ruth, 5. 10. 1978, PA AA, B 150, Bd. 402; Aufz. Ruth, 15. 12. 1978, PA AA, B 150, Bd. 406. 31 Ähnlich: Klaus Wiegrefe: Das Zerwürfnis. Helmut Schmidt, Jimmy Carter und die Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Berlin 2005, 260–264; dagegen sieht Spohr: Guadeloupe, 185 Schmidts Ansatz als „arms control talks under the auspices of a LRTNF deployment threat“; ebenso: dies.: Con ict, 73, allerdings im Widerspruch zu ebd., 72, wo die Position Schmidts de niert wird als „wholehearted support for LRTNF modernization given NATO's military-strategic needs“. Unklar: Gunnar Seelow: Strategische Rüstungskontrolle und deutsche Außenpolitik in der Ära Schmidt. Baden-Baden 2013, 304. 32 Im Unterschied zur deutschen Position in der NPG-HLG plädierte Schmidt noch Mitte 1979 dafür, nicht nur landgestützte LRTNF, sondern auch luft- oder vor allem seegestützte Cruise Missiles als Neudislozierungsoptionen zu prüfen. Abgesehen von technischen Spezi ka (etwa: geringere Sichtbarkeit, größere Überlebensfähigkeit im Vergleich zu landgebundenen LRTNF) schienen politische Überlegungen wichtig zu sein: geringere/keine Belastung des westlichen MBFR-Reduzierungsraums und „möglichst breite[n] Dislozierungsbeteiligung weiterer europäischer Staaten“, also größere Lastenteilung durch Einbindung z. B. auch Dänemarks oder Norwegens (etwa als Anlaufpunkte für US-Schiffe mit Cruise Missiles), Memorandum: Ergebnisse der Sitzung des Bundessicherheitsrates v. 14. 5. 1979, Anlage zu: Schreiben Schmidt an Carter, 19. 5. 1979, AAPD 1979, I, Dok. 147, 688; Aufz. Cartledge, 26. 10. 1978, TNA, PREM 16/1984; Gespräch Schmidt – Haig, 18. 6. 1979, Aufz. Ruhfus, 20. 6. 1979, AAPD 1979, I, Dok. 178.
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heißt auf eine LRTNF-Modernisierung deutlich unterhalb des Niveaus von Parität, um etwa die IR/MRBM in der westlichen Sowjetunion bekämpfen zu können. Entscheidend war, auf der Basis der LRTNF-Modernisierung eine in der NATO-Militärplanung (Selective Employment Plans [SEPs]) noch nicht existierende Option zu schaffen: „selective strikes on Soviet territory to advance the political aim of signalling further escalation“. 33 Auch im Gespräch mit US-Senator Joseph Biden Ende Mai 1978 betonte Schmidt das materielle Erfordernis dieser Forderung erneut: „Hardware sei nötig, um auf die andere Seite Eindruck zu machen. [. . . ] Man müsse ein gewisses Gegengewicht schaffen, aber nicht die volle Parität.“ 34 Eine LRTNF-Mindestmodernisierung würde auch nicht aufgrund von Ergebnissen der zugleich angestrebten rüstungskontrollpolitischen Verhandlungen zwischen den Supermächten wegfallen dürfen. 35 Die LRTNFMindestmodernisierung war also in der bundesdeutschen Position eine „verteidigungspolitische Notwendigkeit, für die es keine rüstungskontrollpolitische Lösung gibt“ 36 – und dies war auch die Position Schmidts 37.
33 So der Chef der deutschen NPG-HLG-Delegation, GM Wolfgang Altenburg, beim HLG-Treffen in Brüssel am 16./17. 10. 1978, s. UK Record of HLG Meeting, Brussels, 16/17 Oct. 1978, Anlage zu Aufz. Tebbit, 10. 11. 1978, TNA, FCO 46/1828. Der selektive LRTNFEinsatz gegen sowjetisches Gebiet sollte bereits erfolgen „in a con ict that would primarily be in the conventional phase“ – und nicht erst nach einer Phase des begrenzten Nuklearkrieges in Europa, s. dt. Ausführungen lt. norwegischem Protokoll v. 20. 10. 1978 über die gen. HLG-Sitzung. In: A Cold War International History Project Document Reader. Part II: International Diplomacy, 1975–1979. Compiled for the International Conference: The Euromissiles Crisis and the End of the Cold War: 1977–1987. Ministry of Foreign Affairs, Rome, Italy, 10–12 December 2009. Bearb. v. Timothy McDonnell. Washington 2009 (URL: https://www.wilsoncenter.org/publication/the-euromissiles-crisis-and-the-end-the-coldwar-1977-1987, [zuletzt abgerufen 3. 9. 2015]). 34 Aufz. Ruhfus, 31. 5. 1979, Gespräch Schmidt – Biden, 31.5. 1979, PA AA, B 150, Bd. 418; Aufz. Ruhfus, Gespräch Schmidt – Hua Guofeng am 23./24. 10. 1979, AdsD, Dep. Bahr, 1/EBAA000832. 35 Vgl. den deutschen Beitrag zum rüstungskontrollpolitischen Teil des späteren NATODoppelbeschlusses, u. a.: Note of Discussion, Special Group on Arms Control and Related Matters, 1st Meeting, NATO HQ Brussels, 19/20 April 1979, TNA, FCO 46/2106. 36 Aufz. Hofstetter, 9. 2. 1979, PA AA, B 150, Bd. 410. 37 Ähnlich, wenn auch ohne mittlerweile verfügbare Quellen, von denen in diesem Beitrag nur wenige exemplarisch präsentiert werden: Daalder: The Nature and Practice, 217; Hoffmann: Die Atompartner, 402 f.
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IV. Die Vorgeschichte des Modernisierungsteils des NATO-Doppelbeschlusses ist in der seit den ausgehenden 1960er Jahren dynamisierten Suche nach selektiven nuklearen Einsatzoptionen zu sehen, um die Glaubwürdigkeit des US-Nuklearschirms für NATO-Europa unter den Bedingungen von MAD zu befestigen. Ebenso wie die britische 38 verwies die deutsche Präferenz auf eine rüstungskontrollpolitisch unbeeinträchtigte Mindestmodernisierung der LRTNF unter NATO-Kommando. Im Vergleich dazu gehört es längst zu den Trivia der Forschung, auf das seit 1976 vehement artikulierte und sich im NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 widerspiegelnde deutsche Interesse hinzuweisen, rüstungskontrollpolitisch vor allem die Bedrohung durch sowjetische nukleare Mittelstreckenraketen abzubauen. Die Begründung dieses Interesses wurde aber nur selten systematisch herausgearbeitet. 39 Unterentwickelt ist zudem das Verständnis für die Reichweite dieses Interesses. 40 Regelmäßig werden auch die 38 So bereits: Christoph Bluth: Britain, Germany, and Western Nuclear Strategy. Oxford, New York 1995, 201–237. 39 Ein zentrales Element der Begründung seit den mittleren 1970er Jahren war die Befürchtung, dass das sowjetische IR/MRBM-Potenzial alleine schon ausreichen würde, um präventiv, präemptiv wie reaktiv jedenfalls die auf dem europäischen Festland gebundenen nuklearen Eskalationsoptionen der NATO effektiv zu zerstören. Hinzu kam seit Mitte der 1970er Jahre angesichts der zunehmenden Qualität und Quantität dieses Potenzials, dass Moskau dem unter den Bedingungen des begrenzten Krieges wichtigen Vorteil der Eskalationsdominanz näherkommen könne, wobei das SS-20-Potenzial aufgrund seiner Mobilität nicht mehr präemptiv zerstört werden könnte. Diese Elemente speisten Befürchtungen einer neuen „Suez Crisis“, in der das sowjetische IR/MRBM-Potenzial als „political pressure device against Western Europe“ ausgenutzt werden könne, wie GM Jürgen Brandt US-Botschafter Walter J. Stoessel wissen ließ: Telegramm Stoessel an Kissinger, 22. 12. 1976, NARA, Access to Archival Databases, Central Foreign Policy Files 1973–75. Vgl. auch Rühl: Mittelstreckenwaffen, 115–138. 40 Vgl. dazu die Skizze in Anm. 9. Auf die Spannungen in der deutschen Administration hinsichtlich der De nition deutscher Interessen in Bezug auf Ambition und Reichweite von Rüstungskontrollverhandlungen über Systeme der ‚Grauzone` kann hier nicht detailliert eingegangen werden. Im Vorfeld des Gipfels von Guadeloupe einigten sich die dort anwesenden Berater der Staats- und Regierungschefs Großbritanniens (John Hunt), Frankreichs (Jacques Wahl) und Deutschlands (Jürgen Ruhfus) darauf, „‚Gray Area` Systems“ zu begrenzen auf „Strategic Medium-Range Systems in Europe“: sowjetische, amerikanische, britische und französische Trägermittel diverser Typen mit Reichweiten zwischen 1000 km und 5500 km und mit Wirkungsbereich in Europa, s. Anlage zu Aufz. Hunt, 7. 12. 1978, TNA, PREM 16/1984. Das Rüstungskontrollangebot gemäß NATO-Doppelbeschluss betraf indes nur landgebundene Flugkörpersysteme der Supermächte zwischen 1000 km und 5500 km Reichweite.
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historischen Wurzeln dieses Interesses und damit historische Kontinuitätslinien übersehen. 41 Beide Komponenten, eine LRTNF-Mindestmodernisierung und eine rüstungskontrollpolitische Beschneidung vor allem des sowjetischen IR/MRBMPotenzials, waren zentrale und jeweils als notwendig erachtete Bestandteile im Rahmen eines komplizierten Gesamtkonzepts der deutschen nuklearen Sicherheitspolitik im Vorfeld des NATO-Doppelbeschlusses. Allgemein ausgedrückt war das Verhältnis zwischen ‚Modernisierung` und ‚Rüstungskontrolle` diesem Gesamtkonzept zufolge ein komplementäres Verhältnis (‚Sowohl-als-auch`), 42 kein Verhältnis der Gegensätzlichkeit (ausschließendes ‚Entweder-oder`) und ebenso kein Verhältnis der Abhängigkeit einer nachrangigen oder verzichtbaren ‚Modernisierung` in Relation zu vorrangiger ‚Rüstungskontrolle` (‚wenn – dann`) 43. Die deutsche nukleare Sicherheitspolitik war einem limitierten nuklearen Revisionismus verp ichtet, einer Strategie der Bundesrepublik als ‚umbrella state` innerhalb des US „empire by invitation“ 44, um unterhalb der Ebene autonomer Atommacht und entsprechend der als solche de nierten eigenen Interessenlage die eigene Position und den eigenen Ein uss in der nuklearen Weltordnung kontinuierlich auszubauen. Wie hier in einem knappen Überblick aufgezeigt wird, bestand die politische Funktion dieses limitierten nuklearen Revisionismus Ende der 1970er Jahre darin, durch offensive Gleichgewichtspolitik einen Beitrag zur Stabilisierung des Ost-West-Verhältnisses zu leisten, und zwar auch, um die Aus-
41 Ein frühes Beispiel: MemCon Rusk – Schröder, Lausanne, 11. 3. 1962, Digital National Security Archive, NP00854; zur äußerst reservierten bundesdeutschen Zustimmung im Jahr 1970, sowjetische IR/MRBM dezidiert nicht im Rahmen von SALT I zu erfassen, s. etwa: Memorandum Keeny, 23. 10. 1970, NARA, RG 59, DF-LF, PPC, Miscellaneous Records, 1969–1970, Box 298, SALT Oct. 1–13 1970. 42 So mit Recht in Bezug auf die deutsche Haltung und den NATO-Doppelbeschluss: Rühl: Mittelstreckenwaffen, 194–208. 43 Eine solche Abhängigkeit der ‚Modernisierung` von ‚Rüstungskontrolle` würde substanziell begründet sein: Sie würde in der Möglichkeit und erst recht in der Präferenz zum Ausdruck kommen, dass die Modernisierung aufgrund eines Ergebnisses von Rüstungskontrollverhandlungen ganz wegfallen könnte oder sollte (‚Null-Option`). Aber ein Abhängigkeitsverhältnis wurde nicht durch die – im NATO-Doppelbeschluss in der Tat erfolgte – prozedurale Festlegung begründet, dass die Implementierung einer getroffenen Modernisierungsentscheidung lediglich „bis zum Vorliegen eines positiven oder negativen Rüstungskontrollergebnisses aufgeschoben“ wurde, Aufz. Blech, 10. 9. 1979, PA AA, B 150, Bd. 426. 44 Geir Lundestad: The United States and Western Europe since 1945. From ‚Empire` by Invitation to Transatlantic Drift. Oxford 2009; Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005.
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sichten auf eine Lösung der deutschen Frage nicht zu verschlechtern. 45 Politischoperativ war diese Gleichgewichtspolitik auf die NATO hin ausgerichtet und seit dem deutsch-sowjetischen Gipfel im Mai 1978 zusätzlich blockübergreifend. Sie führte zu einer herausragenden Position und innerhalb der deutschen Regierung zur politischen Dominanz des Akteurs Helmut Schmidt. Schmidts Wirken hatte nicht nur in seiner IISS-Rede einen Höhepunkt erfahren, sondern transzendierte seit dem genannten deutsch-sowjetischen Gipfel auch die Blockeinteilung in Ost und West. Bei der Umsetzung dieser Gleichgewichtspolitik verfolgte Schmidt im Vertraulichen wie in der Öffentlichkeit nachgerade bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine Kommunikationsstrategie, durch die der kontinuierlich steigende Ein uss und der Mitbestimmungsanspruch der nicht-nuklearen Bundesrepublik im Bereich der nuklearen Sicherheitspolitik camou iert und die Bundesrepublik als ‚nicht-nukleare Mittelmacht` in Szene gesetzt werden sollte, die durch die Teilung Deutschlands, die deutsche Vergangenheit und die latenten Neidgefühle anderer hochgradig verletzbar bleibe. Damit ging Schmidts verbaler Bezug auf den völkerrechtlichen Status der Bundesrepublik als Nichtkernwaffenstaat mit der sodann folgenden Interpretation einher, dass aus diesem Status eine Art Nichteinmischungsgebot in Bezug auf nukleare Sicherheitspolitik resultiere, das Bonn als solches verstehe und akzeptiere. 46 Archetypisch kam Schmidts gleichgewichtspolitisch inspiriertes Mantra der ‚nicht-nuklearen Bundesrepublik` in einem Interview des Kanzlers mit Newsweek zum Ausdruck: „Germany is a medium, non-nuclear power the size of Oregon in a very delicate and vulnerable situation. No German leader will ever forget this. [. . . ] It would be unrealistic and improper for a German head of government to be indulging in those elds of world politics outside our area of responsibility, or giving advice to the leading Western power. [. . . ] We want to restrain ourselves and play a moderate role.“ 47
45 Zu Schmidts deutschlandpolitischer Motivation: „The Chancellor said he wishes to avoid doing anything which would make reuni cation of Germany impossible. He could not say this publicly in Europe. However, he has said this privately to Giscard, and Giscard didn't like it very much“, MemCon, Brzezinski – Schmidt, 3. 10. 1978, JCL, Presidential Papers, National Security Affairs, Brzezinski Material, 7 Subject File, Box 33, Memcons: Brzezinski, 9/78–2/79. 46 So berichtete Schmidt z. B. vor der SPD-Bundestagsfraktion am 6. 2. 1979, Transkription, AdsD, Helmut-Schmidt-Archiv, 1/HSAA006524: „Ich habe es abgelehnt, in Guadeloupe Ratschläge zu geben auf dem Gebiet der Nuklear-Strategie und der Nuklear-Bewaffnung.“ 47 Newsweek, 29. 5. 1978, 20 u. 22.
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Das Mittel der gleichgewichtspolitisch konzipierten nuklearen Sicherheitspolitik der Bundesrepublik war wiederum eine Politik des Bündniserhalts mit dem Zusatz ostpolitischer Stabilitätspolitik. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass die bundesdeutsche Politik des Bündniserhalts in den ausgehenden 1970er Jahren analytisch als militärpolitisch gedrosselte und geopolitisch quali zierte Westbindungspolitik zu bestimmen ist, weil das Repertoire bündniserhaltender Maßnahmen aus gleichgewichtspolitischen Gründen gerade nicht voll ausgeschöpft werden sollte. 48 Das Geschichtsbild einer stark atlantisch orientierten Sicherheitspolitik der Bundesrepublik im Vorfeld des NATO-Doppelbeschlusses ist insofern korrekturbedürftig. Dabei sind vor allem drei Aspekte wichtig. Erstens beschwerte Bonn die Realisierbarkeit der eigenen Stationierungsteilhabe mit der erwähnten Non-Singularitätsbedingung in Bezug auf LRTNFNeudislozierungen im Bundesgebiet. Die restriktive Lesart dieser Bedingung, wonach für die Realisierbarkeit der Neustationierung von LRTNF im Bundesgebiet neben Großbritannien auch ein weiterer nicht-nuklearer kontinentaleuropäischer NATO-Staat als Stationierungsland mitziehen müsse, drohte bis Mitte 1979 mit jedem verstrichenen Tag, an dem diese restriktive Form der Bedingung als nicht erfüllt anzusehen war, die Implementierung der LRTNF-Modernisierung im Ganzen zu blockieren. Die restriktive Lesart der deutschen NonSingularitätsbedingung vermittelte zunehmend den tatsächlich unberechtigten Eindruck, Bonn verschleiere in Wahrheit evasives Verhalten – zumindest bezüglich der deutschen LRTNF-Stationierungsteilhabe. Der für diese Bedingung ausschlaggebende gleichgewichtspolitische Re ex, die Bundesrepublik dürfe angesichts der angeschlagenen Glaubwürdigkeit des US-Nuklearschirms 49 auf keinen Fall in eine herausgehobene „Sonderstellung“ geraten, um nicht den „Neid“ 50 anderer zu nähren oder als „whippingboy of the Soviet Union“ herhalten zu müssen, 51 konnte NATO-intern als effektives Insistieren auf Lastenteilung im Bündnis legitimiert werden. Der Gang der Ereignisse honorierte diese deutsche
48 Dazu auch im Folgenden: Lutsch: Westbindung oder Gleichgewicht? 49 Pars pro toto zu Schmidts Grundsatzzweifel an der Glaubwürdigkeit des US-Nuklearschirms: MemCon, Luns – Schmidt, 24. 10. 1978, NATO-Archiv, Brüssel (NATO), Luns Private Papers, 2407-2. SG/78/557; Aufz. Blech, 26. 10. 1978, Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD). 1978. Bearb. v. Daniela Taschler u. a. München 2009, Bd. II, Dok. 327; Tonbandnachschrift über das Off-the-record-Gespräch Schmidts mit deutschen Chefredakteuren am 31. 10. 1978, Archiv Helmut Schmidt, Hamburg (AHS), Eigene Arbeiten, 11.10.–15. 11. 1978, Nr. 11. 50 Aufz. Ruhfus, 4. 10. 1978, Gespräch Schmidt – Brzezinski, 3. 10. 1978, AAPD 1978, II, Dok. 293, 1460. 51 MemCon, Luns – Schmidt, 24. 10. 1978, NATO, Luns Private Papers, 2407-2. SG/78/557.
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Argumentation: Italien, Belgien und die Niederlande bekundeten in der zweiten Jahreshälfte 1979 ihre Stationierungsbereitschaft. Und doch verblieb der Eindruck einer bundesdeutschen „attitude plus réservée envers les Etats-Unis et l'Alliance Atlantique“ 52. Zweitens erteilte Bonn der US-Offerte zu nuklearer Teilhabe bei LRTNF, also praktisch bezüglich bodengebundener Marsch ugkörper und Pershing II, eine kategorische Absage. Jedenfalls die im Bundesgebiet stationierten LRTNF müssten vollständig US-amerikanische Systeme sein, also hinsichtlich Nuklearwaffen, Trägermitteln und Sicherungspersonal. Hierfür sprachen aus Bonner Sicht nanzielle Gründe, innenpolitische Erwägungen (wie etwa Vermeidung negativer Reaktionen in der Bevölkerung oder der SPD und der FDP), nuklearstrategisches und rüstungskontrollpolitisches Kalkül (glaubwürdigere Eskalationsdrohung, Erleichterung von SALT III) sowie außenpolitische Gründe, darunter: Vermeidung negativer Reaktionen der Verbündeten, aber vor allem die axiomatische Sicht, dass die seit dem Moskauer Vertrag von 1970 bestehende Basisstabilität in den deutsch-sowjetischen Beziehungen abgeschirmt werden müsse. Schmidt begründete: „Er wird notfalls auch die Existenz seiner Regierung in die Waagschale werfen, um die NATO-Entscheidungen in Deutschland innenpolitisch durchzusetzen. Er wird aber bei der Durchführung sehr sorgsam darauf achten, die Sowjetunion nicht zu provozieren. Wir werden daher keine ‚user-nation` werden.“ 53 Die nukleare Teilhabe bei LRTNF kategorisch abzulehnen warf wiederum den Kostenpunkt eines desintegrierenden Effekts bezüglich der NATO auf: Jedenfalls die LRTNF in der Bundesrepublik erschienen als rein amerikanische Waffensysteme; dies war sachlich zutreffend; doch dadurch forderten sie das Verdikt der Ostblockpropaganda wie der späteren Friedensbewegung geradezu heraus, die ‚militaristische US-Atommacht` diktiere ‚entspannungsorientierten Europäern` die LRTNF-Stationierung. 54
52 So NATO-Generalsekretär Luns im Gespräch mit dem französischen Außenminister Jean François-Poncet. Luns führte jene deutsche Reserviertheit zurück auf „l'espoir de faire avancer ainsi les possibilities d'une reuni cation des deux Allemagnes“, Aufz. Luns über sein Treffen mit François-Poncet, 7.5. 1979, NATO, Luns Private Papers, 2414-1. SG/79/358. 53 Aufz. von der Gablentz, 10. 10. 1979, Gespräch Schmidt – Cossiga, 9. 10. 1979, AAPD 1979, II, Dok. 288, 1418; vgl. auch: Schmidt gegenüber SACEUR Haig am 18. 6. 1979 in Bonn, Aufz. Ruhfus, 20. 6. 1979, AAPD 1979, I, Dok. 178. 54 Zur Bundesrepublik als ‚Opfer` der USA in der Ostblockpropaganda: Aufz. Dröge, 31. 10. 1979, PA AA, B 14, ZA 120.235.
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Den Charakter der deutschen Bündnispolitik als militärpolitisch gedrosselte und geopolitisch quali zierte Westbindungspolitik dokumentierte ein dritter und bei weitem wichtigster Aspekt, der nach wie vor kaum verstanden ist. Seit Ende April 1979 begannen Schmidt und sein Verteidigungsminister Hans Apel öffentlich und vertraulich mal auf die Möglichkeit, mal auf die Wünschbarkeit der sogenannten Null-Option hinzuweisen. Sie verwiesen also mal auf ein mögliches, mal auf ein erwünschtes Wegfallen der westlichen LRTNF-Modernisierung, sei es durch Unterlassen oder Beseitigung der Stationierung, aufgrund bestimmter Ergebnisse von Rüstungskontrollverhandlungen, wobei unklar blieb, welche sowjetische Gegengabe erforderlich sei. 55 Hieraus resultierte eine scheinbare Widersprüchlichkeit in der deutschen Sicherheitspolitik. Diese übersetzte sich auch in divergierende Aussagen von Vertretern der deutschen Administration im Außenverhältnis, die kontextabhängig und adressatenspezi sch mal als Plädoyer für eine LRTNF-Mindestmodernisierung 56 und mal zugunsten eines Nichtausschlusses oder gar Befürwortens der Null-Option ergingen. Dieses uneinheitliche Agieren und vor allem der Umstand, dass Bonn im Herbst 1979 NATOintern den Nichtausschluss der Null-Option innerhalb des NATO-Doppelbeschlusses auf brachiale Weise erzwang, wirkte sich spaltend in der NATO aus und brachte Bonn wie Schmidt persönlich das massive US-amerikanische Misstrauen ein. 57 Dass diese Widersprüchlichkeit in der deutschen Sicherheitspolitik allerdings nur eine scheinbare war, lässt sich präzise rekonstruieren: Der ausschließlich taktisch zu verstehende Hinweis auf die Null-Option war in Schmidts gleichgewichtspolitischem Ansatz essenziell, und dies nicht nur, weil die Öffentlichkeitsarbeit der Administration vor allem im Blick auf die murrende Parteibasis des Bundeskanzlers jede Form der öffentlichen Festlegung auf die „strategische Notwendigkeit“ einer Mindestmodernisierung strikt zu vermeiden hatte. 58 Ausschlaggebend war vielmehr die Rücksichtnahme auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen. Im Verhältnis zur Sowjetführung sollte die deutsche politische Führung die Notwendigkeit der Mindestmodernisierung nicht explizit bestä55 Vgl. etwa Apel nach der NPG-Konferenz von Homestead, Aufz. Hofmann, 27. 4. 1979, AAPD 1979, I, Dok. 114, 507; Rede Schmidt, 4. 12. 1979. In: Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Vom 3. bis 7. Dezember 1979. ICC Berlin. Bd. 1: Protokoll der Verhandlungen. Anlagen. Bonn 1979, 193 f. 56 Schmidt's Calculabilities. In: The Economist, 6. 10. 1979; Interview mit Schmidt im Bayerischen Rundfunk, 24. 11.1979, AHS, Eigene Arbeiten 13.11.–2. 12. 1979, Nr. 7. 57 Vgl. u. a.: Fernschreiben v. Staden, 19.9. 1979, PA AA, B 150, Bd. 427. 58 Zu gegensätzlichen Überlegungen: DE Hofmann, 19.2. 1979, PA AA, B 150, Bd. 411; Aufz. Hansen, 12. 3. 1979, AAPD 1979, I, Dok. 78.
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tigen müssen. So sollte gleichzeitig gerade die Sowjetführung vorsichtig darauf eingestimmt werden, dass Ost und West wahrscheinlich auf solche Weise ein „Gleichgewicht“ aushandeln würden, indem „die eine Seite etwas dazulegen muss und nicht dadurch, dass eine Seite allein etwas reduziert von dem, was sie hat“. 59 Alles in allem dominierte Schmidt die deutsche nukleare Sicherheitspolitik. Er verlieh ihr eine komplizierte und bis zur Intransparenz schillernde gleichgewichtspolitische Prägung, die starke Vorbehalte gegenüber einem Primat der Westbindungspolitik erkennen ließ. Ein solcher Primat hätte sich zumindest in einer exibleren Haltung bezüglich der Non-Singularität der Bundesrepublik und der nuklearen Teilhabe manifestiert, zwingend aber in einer kategorischen Absage an jede Form der Null-Option, da Letztere gerade in der herrschenden Sichtweise in Bonn als destabilisierend angesehen wurde, weil sie bei tatsächlicher Implementierung die Glaubwürdigkeit des US-Nuklearschirms und damit die Basis der bundesdeutschen Westbindung unterminieren könnte oder würde. Die als unerlässlich angesehene sicherheitspolitische Verfestigung der Westbindung rangierte aber in der deutschen nuklearen Sicherheitspolitik der ausgehenden 1970er Jahre eindeutig unter dem Ziel des ‚Gleichgewichts`, konkret: unter dem Ziel der Stabilisierung des Ost-West-Verhältnisses, und zwar auch aus deutschlandpolitischer Motivation. In einem Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko im atmosphärisch aufgeheizten Herbst 1979 kam Schmidts gleichgewichtspolitische Konzeption beispielhaft zum Ausdruck: Die „Bundesrepublik Deutschland sei keine Atommacht“ und sie habe ein vitales Interesse am Fortgang der Détente. Bismarck, „ein Feind“ der SPD, sei ein „kluger Außenpolitiker gewesen“: „Er habe gewusst, dass Deutschland ein vertrauensvolles Verhältnis zum russischen Reich brauche. Er selbst habe nicht viel von Bismarck gelernt. Er teile aber diese letztgenannte Überzeugung Bismarcks heute und in Zukunft. Die Bundesrepublik brauche ein vertrauensvolles Verhältnis zu Russland bzw. zur 59 Brief Schmidt an Breschnew, 10. 10. 1979, AdsD, Dep. Bahr, 1/EBAA000956. Schmidts Befürwortung einer LRTNF-Mindestmodernisierung und sein Plädoyer für die Null-Option waren nicht widersprüchlich. Er verwies auf die Möglichkeit einer geogra sch spezi zierten Null-Option als denkbares Ergebnis von LRTNF-Rüstungskontrollverhandlungen. Die westliche Stationierung müsse nicht in toto ausbleiben, selbst wenn sie in der Bundesrepublik wegfalle. Schmidt im Backchannel-Gespräch mit Breschnews Emissär Lednew, Vermerk Gespräch Schmidt – L.[ednew], 10./11. 10. 1979, AdsD, Dep. Bahr, 1/EBAA000956: „Im idealen Fall kann es dazu führen, das Gleichgewicht so niedrig zu machen, dass wir über die Bereitstellung unseres Territoriums uns keine Gedanken mehr machen müssen. Aber das kann ich nicht für das Wahrscheinlichste halten.“
Die Bundesrepublik Deutschland als ‚nicht-nukleare Mittelmacht` 411
Sowjetunion [. . . ]. [. . . ] Dies werde nicht dazu führen, dass die Bindungen der Bundesrepublik Deutschland zur westlichen Allianz und zu den Partnern in der Europäischen Gemeinschaft gelockert würden.“ 60
V. Eine Neuinterpretation der deutschen nuklearen Sicherheitspolitik im Vorfeld des NATO-Doppelbeschlusses 1978/1979 stellt eine Herausforderung dar. Diverse Faktoren fallen ins Gewicht, darunter: die intensive Vorprägung des Geschichtsbildes vor allem durch die politikwissenschaftliche und historische Forschung; die Verfügbarkeit einer gewaltigen Menge neuer Quellen vor allem deklassi zierten staatlichen Schriftgutes; der hohe Komplexitätsgrad im Allgemeinen und des deutschen sicherheitspolitischen Ansatzes im Besonderen; der Umstand einer zunehmenden Spaltung der Regierung Schmidt – Genscher; und eine hieraus resultierende Verkomplizierung bis hin zur scheinbaren Widersprüchlichkeit der außenpolitischen Sprache von Vertretern der deutschen Administration. Letztere agierten auf diversen außenpolitischen Kanälen, während in vertraulichen Räumen und in der Öffentlichkeit bis Ende 1979 der Politisierungsgrad des ‚Grauzonenproblems` drastisch anstieg, vulgo: des Problems einer drohenden ‚Destabilisierung des Gleichgewichts` aufgrund der Modernisierung der sowjetischen nuklearen Mittelstreckenwaffen. Die Auswertung deklassi zierter Quellen diverser staatlicher Provenienzen verweist zumindest auf zwei Erfordernisse: erstens auf eine strenge quellenkritische Differenzierung zwischen vertraulicher und öffentlichkeitszugewandter außenpolitischer Kommunikation; zweitens auf die Notwendigkeit, Narrative der älteren Forschung kritisch zu überprüfen. In Verbindung mit dem verfügbaren Quellenmaterial trägt ein medientheoretisch informierter und sicherheitspolitische Analytik nutzbar machender Ansatz vor allem zur Klärung der in Bonn vorherrschenden Sichtweise auf die LRTNF-Modernisierung bei, die als solche in der Forschung überwiegend missverstanden ist: Die LRTNF-Dislozierung unter NATO-Kommando wurde als erforderlich angesehen, da LRTNF die Glaubwürdigkeit des US-amerikanischen Nuklearschirms ungleich mehr erhöhten als andere potenzielle Modernisierungsoptionen, gerade weil LRTNF als Medien des Abschreckungsmanagements die spezielle Qualität aufwiesen, mit der selektiven und von NATO-Europa ausgehenden nuklearen Eskalation gegen sowjetisches Gebiet drohen zu können. 60 Aufz. Hartmann, 23. 11.1979, Gespräch Schmidt – Gromyko, 23. 11. 1979, AAPD 1979, II, Dok. 344, 1781 f. u. 1784.
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Deutlich wird gleichzeitig, dass jene LRTNF-Modernisierung in der gleichgewichtspolitisch konzipierten nuklearen Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Ende der 1970er Jahre als ebenso erforderlich erschien wie komplementäre Rüstungskontrollverhandlungen der Supermächte mit dem Ziel, insbesondere das sowjetische Mittelstreckenraketenpotenzial zu beschneiden. Die Funktion dieser Gleichgewichtspolitik bestand darin, einen Beitrag zur Stabilisierung des OstWest-Verhältnisses zu leisten. Bei ihrer Umsetzung durch den politisch dominanten Akteur Helmut Schmidt wurde wiederum nicht nur eine spezi sche Selbstinszenierung der Bundesrepublik als ‚nicht-nukleare Mittelmacht` erkennbar, sondern auch eine außenpolitische Sprache, die in hohem Maße adressatenspezi sch, taktisch-instrumentell und camou ierend angelegt war.
Frederike Schotters
Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels? Medien der relations franco-soviétiques 1981–1984
I. Einleitung Als der langjährige Oppositionspolitiker François Mitterrand am 10. Mai 1981 zum französischen Präsidenten gewählt wurde, geschah dies nicht zuletzt aufgrund antisowjetischer Emotionen in Teilen der französischen Öffentlichkeit. Im Wahlkampf um die Präsidentschaft waren diese Tendenzen mit der harschen Kritik an der Sowjetpolitik seines Vorgängers Valéry Giscard d'Estaing bewusst bedient worden. 1 Die französisch-sowjetischen Beziehungen von 1981 bis 1984 wurden dann in der öffentlichen Wahrnehmung als deutliche Abkühlung gegenüber den Jahren davor empfunden. In diesem Beitrag soll dieses Bild hinterfragt und dekonstruiert werden, indem die verschiedenen Dimensionen der außenpolitischen Kommunikation entschlüsselt werden. Dafür ist es notwendig zu verstehen, über welche Interaktionsformen und Medien die französischen Außenbeziehungen zur Sowjetunion funktionierten. Die Untersuchung soll darüber hinaus klären, welche Funktion die gewählte Form des Austausches jeweils erfüllen sollte und wie Informationen von Moskau nach Paris gelangten. Welche Rückschlüsse lassen sich daraus für die französisch-sowjetischen Beziehungen ziehen? Lässt sich mit dem Amtsantritt von François Mitterrand, dem ersten linken Präsidenten der V. französischen Republik, ein Bruch im Verhältnis zu Sowjetunion diagnostizieren? Sprechen Zeithistoriker über Medien, so sind damit häu g Massenmedien gemeint. In diesem Sinne hat die Historiogra e in jüngster Zeit einige Studien zu dem Verhältnis von Politik und massenmedialer Öffentlichkeit vorgelegt. 2 Massenmedien spielen auch in den folgenden Ausführungen eine zentrale
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Vgl. François Mitterrand: Ici et maintenant. Paris 1980; Hubert Védrine: Les Mondes de François Mitterrand. À l'Élysée 1981–1995. Paris 1996, 107 f.; Wilfried Loth: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1992, 243. Vgl. u. a. Frank Bösch /Peter Hoeres (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2013; Peter Hoeres: Außenpolitik
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Rolle, allerdings wird dem Begriff ‚Medium` ein allgemeinerer Bedeutungsinhalt zugrunde gelegt. Der Begriff des ‚Mediums` oder der ‚Medien` ist insofern äußerst problembehaftet, als man keineswegs ein einheitliches Verständnis voraussetzen kann, sondern stattdessen von einer Vielzahl von De nitionen ausgehen muss. Die Vieldeutigkeit des Medienbegriffs beruht dabei auf dem Verständnis, dass Medien Botschaften einerseits übertragen, indem sie räumliche Distanz überwinden, und andererseits speichern und damit Zeit überdauern. In Anlehnung an Friedrich Kittler denkt Hartmut Winkler noch über eine dritte Medienfunktion nach, die sich darauf bezieht, dass Medien Informationen auch verarbeiten und verändern. 3 Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit der unterschiedlichen Ausprägungen zu erheben, hilft ein weiter Medienbegriff bei einer Analyse der französisch-sowjetischen Beziehungen, Erkenntnisfortschritte zu erzielen. Daher wird von einem kommunikationstheoretischen und eher technischen Medienmodell ausgegangen, das vier Elemente voraussetzt: Sender, Empfänger, Kanal und Code. Der Übertragungsweg hat Ein uss auf den Inhalt der Botschaft und Sender und Empfänger werden beide als Akteure der Kommunikation verstanden. Ein rein passives Verständnis des Empfängers wäre dagegen unzureichend. 4 Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht in diesem Beitrag nicht darum, unterschiedliche Medien oder Kommunikationsformen per de ni-
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und Öffentlichkeit. Massenmedien, Meinungsforschung und Arkanpolitik in den deutschamerikanischen Beziehungen von Erhard bis Brandt. München 2013; Ute Daniel /Axel Schildt (Hrsg.): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 2010; Klaus Arnold /Christoph Classen /Susanne Kinnebrock /Edgar Lersch /HansUlrich Wagner (Hrsg.): Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeiten und Politik im 20. Jahrhundert. Leipzig 2010; Andreas Schulz: Der Aufstieg der „vierten Gewalt“. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation. In: Historische Zeitschrift 270 (2000), 65–97. Vgl. Hartmut Winkler: Prozessieren. Die dritte, vernachlässigte Medienfunktion. Paderborn 2015; Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800, 1900. München 31995 (EV 1985). Vgl. Ralf Vollbrecht: Stichwort Medien. In: Lothar Mikos/Claudia Wegner (Hrsg.): Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch. Konstanz 2005, 29ff.; Helmut Schanze: Zum Begriff des Mediums. In: Joachim H. Knoll /Jürgen Hüter (Hrsg.): Medienpädagogik. München 1976, 25–36; Für weiterführende Literatur vgl. Fußnote 3; siehe außerdem: Bernhard J. Dotzler: Prozessieren. In: Alexander Roesler /Bernd Stiegler (Hrsg.): Grundbegriffe der Medientheorie. München 2005, 214–218; Sybille Krämer: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren. In: Stefan Münker /Alexander Roesler /Mike Sandbothe (Hrsg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt am Main 2003, 78–90; Stefan Münker / Alexander Roesler (Hrsg.): Was ist ein Medium? Frankfurt am Main 2008.
Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels? 415
tionem voneinander abzugrenzen, sondern vielmehr darum, durch sie methodisch einen Zugriff auf die französisch-sowjetischen Beziehungen zu ermöglichen. In einem ersten Schritt werden der historische Kontext sowie die Konzeption der ‚Équipe Mitterrand` für die Politik gegenüber der Sowjetunion als Voraussetzung für die Kommunikation vorgestellt. Das zweite Kapitel widmet sich öffentlichen Stellungnahmen als Kanal der Außenkommunikation Frankreichs und der Sowjetunion, in der die Massenmedien strategisch als Medium eingesetzt wurden. Daran schließt sich eine Untersuchung der bilateralen Kommunikation jenseits der Öffentlichkeit an, bevor das vierte Kapitel Kommunikationswege innerhalb der französischen Administration als integralen Bestandteil des französisch-sowjetischen Kommunikationssystems unter die Lupe nimmt. Diese gewährleisteten den Informations uss und hatten somit Anteil an Prozessen der Erkenntnisgewinnung und offenbaren dadurch auch Prozesse des Aushandelns des Kurses der Außenpolitik. In einer abschließenden Bilanz soll die Frage beantwortet werden, ob der Amtsantritt von François Mitterrand einen Bruch in den französisch-sowjetischen Beziehungen provozierte. Als alternative Hypothese steht zu überlegen, ob es sich nicht vielmehr um die Inszenierung eines politischen Kurswechsels handelte, die einem bestimmten Zweck diente. Außerdem gilt es, anhand der Beispiele abschließend zu klären, inwieweit sich ein methodischer Zugriff über Medien der Außenbeziehungen als tragfähig erweist. Welche Rückschlüsse lassen sich für die Bedeutung dieser Medien wiederum selbst ziehen?
II. Historischer Kontext und politische Konzeption Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Annahme, dass die Überwindung der Blockkonfrontation – auch bezeichnet als das ‚System von Jalta` – seit Charles de Gaulle zwar einen integralen Bestandteil und ein langfristiges Ziel der französischen Sicherheitspolitik darstellte, allerdings aufgrund tagespolitischer Notwendigkeiten bisweilen in den Hintergrund trat. Dies war abhängig davon, ob die Détente gerade als Chance oder Nachteil wahrgenommen wurde. Anhand des ausgewählten Beispiels der französisch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1981 und 1984 lässt sich zeigen, dass diese Langzeitstrategie niemals aufgegeben wurde. Als François Mitterrand sein Amt antrat, befanden sich die internationalen Beziehungen nach einer Phase der Entspannung in den 1970er Jahren auf dem Weg zu einer neuen Zuspitzung des Ost-West-Kon iktes. Die Phase von 1979 bis 1985 wird gemeinhin in der Historiogra e des Kalten Krieges auch als „Nieder-
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gang der Entspannung“ 5 oder basierend auf zeitgenössischen Zuschreibungen als „Zweiter Kalter Krieg“ 6 bezeichnet: Der Einmarsch in Afghanistan schien den sowjetischen Expansionismus einmal mehr unter Beweis zu stellen, und Ronald Reagan versuchte durch seine ‚Politik der Stärke` gegenüber der Sowjetunion, das angekratzte Selbstvertrauen der Amerikaner wieder aufzubauen. Zudem trugen auch die Verhängung des Kriegsrechts in Polen und Unterdrückung der Solidarno´sc´-Bewegung im Dezember 1981 sowie der Abschuss einer koreanischen Passagiermaschine durch die sowjetische Luftabwehr am 1. September 1983 zur weiteren Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen bei. Die Modernisierungsanstrengungen auf der sowjetischen Seite durch die Aufstellung der SS-20-Raketen seit Mitte der 1970er Jahre drohten aus westlicher Perspektive zudem das Kräftegleichgewicht in Europa zu verschieben. Das atlantische Bündnis antwortete darauf zunächst im Dezember 1979 mit dem NATO-Doppelbeschluss, der schließlich – nach erfolglosen Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen in Genf – zum Beschluss einer westlichen Nachrüstung und der Aufstellung amerikanischer Raketen in Westeuropa Ende 1983 führen sollte. 7 In den ersten Amtsjahren von François Mitterrand war die französische Sicherheitspolitik von dieser sogenannten Euroraketenkrise bestimmt, in der die sowjetische Seite versuchte, die Aufstellung der westlichen Raketen und Marsch ugkörper mit einer offensiven Politik zu verhindern und gleichzeitig eigene Abrüstungsverp ichtungen möglichst gering zu halten. Im März 1983 drohte Reagans Ankündigung der Strategic Defense Initiative – eines geplanten Raketenabwehrsystems im Weltraum – das Wettrüsten zusätzlich anzuheizen und die Abrüstungsgespräche zu blockieren. Diese Spannungszunahme auf der einen Seite und die in die westliche Öffentlichkeit getragenen Informationen über das repressive Vorgehen der Sowjetunion gegen politische Oppositionelle und grobe Verletzungen der 1975 in Helsinki unterschriebenen Menschenrechtsverp ichtungen 8 auf der anderen Seite trugen zu einem Umschwung der öffentlichen Meinung in Frankreich bei. Der traditionelle französische Antiamerikanismus und die Unterstützung der Sowjetunion wichen einer „américano-philie“ und antisowjetischen Stimmung. 9 Mitterrands ehemaliger Berater für internationale Beziehungen, Hubert Védrine, 5 6
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Wilfried Loth: Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung. München 1998, 164. Philipp Gassert /Tim Geiger /Hermann Wentker (Hrsg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive. München 2011. Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Lutsch in diesem Band. Vgl. Yuliya von Saal: KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985–1991. München 2014, 45 ff. Vgl. Védrine: Les Mondes de François Mitterrand, 167.
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stellt in Retrospektive fest, dass Mitterrand im Gegensatz zu Giscard d'Estaing diese Welle wahrgenommen und sie sich im Wahlkampf zunutze gemacht habe. 1980 sei Mitterrand zum Symbol neuer „fermeté“ gegenüber der Sowjetunion geworden und gelegentlich entgegen seiner tatsächlichen Absicht als Verfechter eines antisowjetischen Kreuzzugs gesehen worden. 10 Als es im Frühjahr 1981 darum ging, eine spezi sche Politik gegenüber der Sowjetunion zu entwickeln, fanden sowohl im Quai d'Orsay als auch im Élysée Re exionen der französisch-sowjetischen Beziehungen der 1970er Jahre statt. 11 In einer Note des Centre d'Analyse et de Prévision mit dem Titel „La carte française“ wurde die Détente der 1970er Jahre als Schaden gedeutet: Um ihre Ziele zu erreichen, habe die Sowjetunion die Beziehungen zu Frankreich instrumentalisiert und so einseitig von ihnen pro tiert. Die künftigen Beziehungen müssten von ihren bisherigen Illusionen befreit und ohne Entgegenkommen pragmatisch ausgerichtet werden. Die Herausforderung bestünde darin, die Beziehungen zur Sowjetunion dort zu erhalten, wo sie den französischen Interessen dienlich seien, ohne dabei die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit Frankreichs zu beeinträchtigen. 12 Die Wahrnehmung der Détente war allerdings ambivalent. Davon zeugt ein kurzes Schreiben an Hubert Védrine, den Berater des französischen Präsidenten, in dem die Note des Außenministeriums bewertet wird: 13 Positive Effekte der Détente dürften nicht unterschätzt werden. Diese stelle demzufolge eine Möglichkeit dar, auch ideologisch auf Osteuropa einzuwirken, und sei so ein Mittel, eine Destabilisierung des Ostblocks und eine Finnlandisierung westlicher Räume des sowjetischen Imperiums voranzutreiben. 14 Dies deutet nicht nur auf unterschiedliche Strömungen innerhalb der Administration hin, sondern lässt vermuten, dass es sich bei ‚Détente` um eine Art ‚Triggerbegriff ` oder kulturellen Code handelte, mit dem bestimmte Assoziationen, aber nicht immer einheitliche Vorstellungen verbunden waren. Zugleich zeigt dies aber auch, dass die langfristige Vision einer Auflösung der als provisorisches System begriffenen Blöcke mithilfe der Entspannungspolitik weiterhin aktuell war: 15
10 Vgl. Védrine: Les Mondes de François Mitterrand, 107 f. 11 Pierre Grosser: Serrer le jeu sans le fermer. L'Élysée et les relations franco-soviétiques, 1981–1984. In: Serge Berstein /Pierre Milza /Jean-Louis Bianco (Hrsg.): François Mitterrand. Les années du changement 1981–1984. Paris 2001, 253. 12 Archives Nationales, AG/5(4)/CD /392, CAP, La carte française, 14. Mai 1981. 13 Der Absender dieser handschriftlichen Notiz ist nicht zweifelsfrei bestimmbar. 14 Archives Nationales, AG/5(4)/CD /392, handschriftliche Notiz an Hubert Vérdine an dem Dokument: CAP, La carte française, 14. Mai 1981. 15 Grosser: Serrer le jeu sans fermer, 258.
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„je souhaite le [sic] disparition simultanée des blocs militaires“ 16, erklärte Mitterrand selbst in einer Pressekonferenz des Élysée am 24. September 1981. Das Ergebnis aus antisowjetischem Wahlkampf und gleichzeitigem Interesse an einer Überwindung des ‚Systems von Jalta` war ein augenscheinlicher Bruch mit den politischen Praktiken von Giscard d'Estaing. Um zu verstehen, wie dieser Eindruck entstand und welche Funktionen damit verbunden waren, ist es notwendig zu untersuchen, über welche Medien versucht wurde, eine Abgrenzung von der Politik des Vorgängers zu kommunizieren.
III. Kommunikation in der Öffentlichkeit Am 6. Juni 1981 erklärte der französische Außenminister Claude Cheysson während einer Reise in den USA vor amerikanischen Journalisten, „tant que les troupes soviétiques seraient en Afghanistan, on ne saurait s'attendre à ce qu'il y ait des relations normales entre la France et l'Union Soviétique“ 17: Der gewohnte Rhythmus der französisch-sowjetischen Beziehungen wurde von Cheysson dadurch der Regelung der afghanischen Frage untergeordnet. 18 Die Abkühlung der bilateralen Beziehungen zu Moskau, stellte man im Quai d'Orsay fest, drücke sich konkret in der Reduzierung der bilateralen politischen Kontakte auf hohem Niveau aus: Of zielle Besuche der Staatschefs oder Außenminister waren bis auf Weiteres nicht mehr vorgesehen. 19 In einem Interview im Stern Anfang Juli 1981 machte François Mitterrand die Sowjetunion für das strategisches Ungleichgewicht in Europa verantwortlich und bezeichnete ihr Vorgehen in Afghanistan als eine „expansionistische Operation“. Diese sowjetische Aggression verdamme die französische Regierung ebenso wie eine mögliche ausländische Einmischung in Polen. Zugleich ließ er aber nicht unerwähnt, „daß die Sowjetunion eine große Nation und die Russen ein großes
16 Conférence de presse du Président de la République (extraits), Palais de l'Elysée, 24. September 1981. In: La Politique Étrangère de la France. Textes et Documents. Septembre – Octobre 1981, 31. 17 Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Direction d'Europe, Sous-Direction d'Europe Orientale, Note Relations franco-soviétique: le contexte générale, 9. Juli 1981. 18 Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Note pour le Directeur d'Europe: Réactions soviétiques à des déclarations du Ministre, 11. Juni 1981. 19 Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Note pour le Directeur d'Europe, Sous-Direction d'Europe Orientale, Note: Relations de la RFA et de la France avec l'URSS, 14. Oktober 1981.
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Volk“ seien. 20 Diese Ambivalenz ist charakteristisch für Mitterrands öffentliche Stellungnahmen: So erklärte er beispielsweise auch in seiner ersten Pressekonferenz im Élysée am 24. September 1981: „la France veut entretenir [avec l'Union soviétique] des relations mutuellement pro tables“ 21. Mitterrand habe aber, laut Védrine, stets darauf geachtet, keine zu konkreten Bedingungen an die Wiederaufnahme der Staatsbesuche zu knüpfen. 22 Offenbar war er auch der Meinung, dass sein Außenminister Claude Cheysson außenpolitische Handlungsoptionen einzuschränken drohte, indem er den politischen Dialog mit der Sowjetunion regelmäßig der Situation in Afghanistan unterordnete. 23 Es war kein Zufall, dass die Massenmedien als Kommunikationskanäle herhalten mussten – und sicherlich auch nicht, dass neben der französischen auch die amerikanische und die deutsche Presse dafür gewählt wurden. Zwar richteten sich diese Erklärungen an die Sowjetunion, um zu signalisieren, dass die neue französische Führung sich nicht mehr für sowjetische Ziele instrumentalisieren lasse. Moskau sollte verstehen, dass Paris fest zu den atlantischen Partnern stand und keine Angriffs äche für eine Spaltung der Allianz bot: „Frankreich ist ein loyaler Verbündeter und wird es auch bleiben“ 24, antwortete Mitterrand dem Stern. Allerdings war die französische Öffentlichkeit ebenfalls ein Adressat dieser Botschaften, da in öffentlichen Stellungnahmen des Außenministers oder
20 Vgl. den Artikel „Die deutsch-französische Freundschaft hängt doch nicht an einer Tasse Tee“. In: Stern, Nr. 29 vom 9. Juli 1981, 80–84, hier 82. 21 Conférence de presse du Président de la République (extraits), Palais de l'Elysée, 24. September 1981. In: La Politique Étrangère de la France. Textes et Documents. Septembre – Octobre 1981, 28. 22 Vgl. Védrine: Les Mondes de François Mitterrand, 238. 23 Vgl. Védrine: Les Mondes de François Mitterrand; für Erklärungen von Claude Cheysson vgl. u. a. Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Direction d'Europe, Sous-Direction d'Europe Orientale, Note Relations franco-soviétique: le contexte générale, 9. Juli 1981; Conférence de presse de M. Claude Cheysson, ministre des relations extérieures (extraits), Varsovie 9. Oktober 1981. In: La Politique Étrangère de la France. Textes et Documents. Septembre – Octobre 1981, 40; Discours de M. Claude Cheysson, ministre des relations extérieures devant l'Assemblé nationale, 18. November 1981. In: La Politique Étrangère de la France. Textes et Documents. Novembre – Décembre 1981, 20; Interview accordée par M. Claude Cheysson, ministre des relations extérieures au journal „Le Monde“, 2. Dezember 1981. In: La Politique Étrangère de la France. Textes et Documents. Novembre – Décembre 1981, 45; Discours prononcé par M. Claude Cheysson, ministre des relations extérieures, au Sénat (extraits), 2. Dezember 1981. In: La Politique Étrangère de la France. Textes et Documents. Novembre – Décembre 1981, 48. 24 Artikel „Die deutsch-französische Freundschaft hängt doch nicht an einer Tasse Tee“. In: Stern, Nr. 29 vom 9. Juli 1981, 82.
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Interviews in der französischen Presse antisowjetischen Emotionen in Frankreich Rechnung getragen wurde. 25 Drittens wandte man sich mit diesen Erklärungen an die französischen Bündnispartner: Indem sich die ‚Équipe Mitterrand` als verlässlicher Partner inszenierte, sollte westlichen Sorgen angesichts einer kommunistischen Beteiligung an der Regierung begegnet werden. Dies stellte einen Versuch dar, das Vertrauen im Bündnis wiederherzustellen, damit dieses der offensiven Politik und dem Druck der Sowjetunion standhalten konnte. Die Botschaft, die man an Moskau senden wollte, wurde durch symbolische Kommunikationsakte verstärkt: Dazu zählen die Abkehr von der bisherigen politischen Praxis institutionalisierter Gipfeltreffen sowie der Austausch des französischen Botschafters in Moskau Ende 1981, 26 der einen Politikwechsel symbolisierte. Die Absichten der neuen französischen Führung, Vertrauensbildung im Westen zu betreiben, verursachte Misstrauen im Osten. Zunächst lässt sich eine kurze Phase der Verunsicherung konstatieren, in der Moskau versuchte, Ein uss auf die künftige Ausrichtung der französischen Politik zu nehmen. Die sowjetische Führung machte dabei ihrerseits auch von den Massenmedien Gebrauch, indem sie – wenn auch in einer anderen Form als Paris – die Kommunikation über den Kanal der Öffentlichkeit suchte: Kritik an der wahrgenommenen Neuausrichtung der französischen Politik wurde weniger in of ziellen Stellungnahmen der sowjetischen Führung als vielmehr indirekt über die staatlich gelenkte Presse lanciert. Die Erklärungen des französischen Außenministers wurden als Beitrag zu einer Verschärfung des Wettrüstens diffamiert. Die Unterstützung für den NATO-Doppelbeschluss widerspreche einer von Frankreich angestrebten Politik der Unabhängigkeit, 27 hieß es. Die französischen Standpunkte seien dagegen zunehmend von einem „allignement croissant sur Washington“ 28 gekennzeichnet. Besonders beein usst wurde die französisch-sowjetische Kommunikation zudem durch Moskaus Kampagne, in der über sowjetische Massenmedien die Berücksichtigung der französischen und britischen Nuklearstreitkräfte bei den INF-Verhandlungen zur Bedingung für ein Abkommen gemacht wurde. Ab März 1982 wurde intensiv eingefordert, diese, wenn auch nicht direkt, so doch 25 Vgl. Fußnote 23. 26 Annuaire Diplomatique et Consulaire de la République Française 1990. Paris 1990, 72. 27 Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, TD Moscou 1831: Articles de la Pravda et de Temps Nouveaux sur la France, 22. Dezember 1981. 28 Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Direction d'Europe, Sous-Direction d'Europe Orientale, La presse soviétique et les déclarations du Ministre, 8. September 1981.
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zumindest indirekt in den Verhandlungen in Genf in Rechnung zu stellen. 29 Über das gesamte Jahr 1983 nahm diese Kampagne für die nale Phase der Euroraketenkrise stetig an Intensität zu. 30 Auch anhand dieser Beispiele lässt sich beobachten, dass nicht Frankreich allein Adressat dieser kommunikativen Akte in der Öffentlichkeit war. Zwar wurde einerseits versucht, durch scharfe Kritik an der französischen Politik Druck auf Paris auszuüben, um so möglicherweise Ein uss auf deren Ausrichtung zu gewinnen und eine Rückkehr zu den privilegierten Beziehungen zu bewirken. Dabei machte Moskau von einer doppelten Strategie Gebrauch. Wie das folgende Kapitel zeigen wird, wurde die Kritik über die Massenmedien ergänzt durch Beein ussungsversuche in persönlichen Gesprächen. Andererseits aber richtete sich die Kampagne insgesamt an die westliche Öffentlichkeit, um gleich mehrere Ziele zu erreichen; es galt, die westlichen Regierungen als Krieger in einem Feldzug gegen die Sowjetunion zu diffamieren und sie für den neuen Rüstungswettlauf verantwortlich zu machen. So hoffte man, die Friedensbewegung zu instrumentalisieren, um das endgültige Ziel zu erreichen: den Beschluss zur Nachrüstung zu vereiteln. In der Tat stieg in Deutschland der Druck der Friedensbewegung auf die Regierung zusehends, was innerhalb der SPD eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber den sowjetischen Forderungen verursachte. 31 Die Berücksichtigung der französischen und britischen Atomstreitkräfte drohte zum Schlüssel für ein Abkommen zu avancieren, das die Aufstellung neuer Raketen verhindern könnte. Hier schließt sich der Kreis, denn Mitterrand war unter keinen Umständen bereit, eine solche Forderung zu akzeptieren. Diese Frage drohte das westliche Bündnis also insofern zu spalten, als sie Interessenkon ikte
29 Vgl. z. B. Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5642, Ministère des relations extérieures, TD Moscou 387 Négociation de Genève sur les F. N. I.: inclusion des „forces tierces“, 12. März 1982. 30 Vgl. dazu insgesamt Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930INVA 5642. 31 Im Jahr 1983 näherte sich die of zielle Haltung der SPD dem linken Flügel der Partei an. Angesichts des Bundestags-Wahlkampfes forderte der SPD-Kanzlerkandidat Hans-Jochen Vogel eine Ausweitung der Verhandlungsziele in Genf und befürwortete prinzipiell auch eine Berücksichtigung der französischen und britischen Nuklearstreitkräfte. Vgl. dazu u. a. Archives Nationales, AG/5(4)/CD /161, dossier 2, Ministère des Relations Extérieures, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires stratégiques et du désarmement, Sous-Direction des Affaires Stratégiques et des Pactes, Note: Entretien du Président de la République avec M. Vogel. Questions stratégiques, 11. Januar 1983; AG/5(4)/6523, Présidence de la République, Le Conseiller Technique, Hubert Védrine, Note pour le Président de la République: développement sur le problème des euromissiles du 12 au 19 janvier, 19. Januar 1983.
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zwischen der französischen Regierung und ihren Bündnispartnern verursachte. Hinzu kam, dass selbst im Falle eines Scheiterns der Genfer Verhandlungen der Beschluss zur Nachrüstung keineswegs gesichert war. Der Druck der Friedensbewegung drohte die Entscheidung der Abgeordneten im Deutschen Bundestag zu beein ussen, sodass der Ausgang einer Abstimmung durchaus ungewiss war. Aus französischer Sicht stellte die deutsche Friedensbewegung daher einen hohen Risikofaktor für das westliche Bündnis dar. Aus Sicht der sowjetischen Führung wurde sie hingegen als Chance gesehen, und man war bestrebt, sie zu instrumentalisieren, um das Maximalziel zu erreichen: keine Abrüstung der sowjetischen SS-20-Raketen und ein Scheitern des Nachrüstungsbeschlusses. Insgesamt muss man die Kommunikation in der Öffentlichkeit, in der die Massenmedien strategisch als Medium genutzt wurden, von der rein bilateralen Kommunikation unterscheiden, da der Adressatenkreis größer war und unterschiedliche Funktionen erfüllt werden sollten. Für das Verständnis der Inszenierung ist dieser Punkt allerdings unumgänglich, erklärt sich hier doch auch, wie Botschaften durch das Medium geprägt, verändert oder zumindest verstärkt werden. Die französischen Stellungnahmen wurden in der sowjetischen Presse als Politikwechsel ausgelegt und diffamiert, ohne Zwischentöne zu berücksichtigen. Diese Sinnzuschreibung beruhte auf nur einer Facette gesendeter Botschaften und hatte neben anderen Faktoren Anteil an der Konstruktion der ‚atlantischen Wende` französischer Außenpolitik. Zugleich muss die massenmediale Öffentlichkeit also als Akteur dieser Konstruktion berücksichtigt werden. Auf diese Art und Weise wird verständlich, wie die Interpretation und die Darstellung der französischen Politik in den Massenmedien die öffentliche Wahrnehmung beeinussten und wie das Bild des ‚Atlantikers` François Mitterrand in den öffentlichen Diskurs und darüber hinaus in die Historiogra e einging. 32
IV. Bilaterale Kommunikation Anders als es die öffentlichen Stellungnahmen vermuten lassen, hatte die neue französische Regierung um François Mitterrand freilich keinerlei Interesse daran, die Kontakte zur Sowjetunion auch in anderen Bereichen einzuschränken. Zum einen diente ökonomischer Austausch den Wirtschaftsinteressen der europäischen Staaten, und zum anderen war der Handel zwischen Ost und West eine Facette des europäischen Verständnisses von Détente, indem er wechselseitige
32 Vgl. z. B. Philip H. Gordon: A Certain Idea of France. French Security Policy and the Gaullist Legacy. Princeton 1993.
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Interessen dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs schuf. 33 Außerdem diente der Dialog mit der Sowjetunion politischen Interessen, die nun angesichts der Euroraketenkrise nur kurzzeitig in den Hintergrund traten. Als wichtigster Partner der Sowjetunion in Westeuropa hoffte Frankreich seit Charles de Gaulle, den eigenen Status gegenüber den Supermächten zu stärken. 34 Die Analyse der Note „La carte française“ hat bereits gezeigt, dass es 1981 mehr um eine Reinigung als um eine Einstellung dieser Beziehungen ging, damit diese in Zukunft wieder pro tabler für Paris sein würden. Daher wurde die Kommunikation von der Ebene der Regierungschefs auf andere Kanäle verlagert. In den Bereichen Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik wurden die französisch-sowjetischen Beziehungen auch weiterhin unverändert fortgesetzt. 35 Inof ziellen Treffen zwischen den Außenministern Claude Cheysson und Andrei Gromyko am Rande der UN-Vollversammlung in New York kam ein anderer symbolischer Gehalt zu als of ziellen Staatsbesuchen, die durch solche informellen Treffen zumindest teilweise kompensiert werden sollten. Solche Treffen boten die Möglichkeit, die politische Kommunikation auf neutralem Boden fortzusetzen und der sowjetischen Führung dabei gleichzeitig zu signalisieren, dass Frankreich sich nicht für eine sowjetische Langzeitstrategie instrumentalisieren lasse. 36 Man kam also nicht umhin anzuerkennen, dass Face-to-face-Kommunikation zwischen den beiden Chefs der Diplomatie einen unverzichtbaren Kanal der Außenbeziehungen darstellte. Zugleich erlaubten persönliche Kontakte auf diplomatischen Ebenen Konsultationen zu verschiedenen Themen wie Afrika, dem Nahen Osten, den Vereinten Nationen oder der KSZE. 37 Seinem ehemaligen Berater für internationale Beziehungen zufolge hat Mitterrand darauf geachtet, verschiedene Informationskanäle mit den Sowjets zu erhalten und auch regel33 Samuel F. Wells Jr.: From Euromissiles to Maastricht. The Policies of Reagan-Bush and Mitterrand. In: Helga Haftendorn /Georges-Henri Soutou/Stephen F. Szabo/Samuel F. Wells Jr. (Hrsg.): The Strategic Triangle. France, Germany, and the United States in the Shaping of the New Europe. Washington, D.C. 2006, 287–307, hier 291. 34 Veronica Heyde: Ambiguous Détente. The French Perception of Stability at the End of the Seventies. In: Claudia Hiepel (Hrsg.): Europe in a Globalising World. Global Challenges and European Responses in the „long“ 1970s. Baden-Baden 2014, 71. 35 Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Fiche pour le Directeur des Affaires africaines et malgaches, 29. April 1982. 36 Archives Nationales, AG/5(4)/CD /392, dossier 2, Denis Delbourg: Note pour le Ministre: Entretien avec M. Gromyko, 23. September [1981]. 37 Vgl. z. B. Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Direction d'Europe, Sous-Direction d'Europe Orientale, Fiche Relation franco-soviétique, 28. Juni 1982.
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mäßig den sowjetischen Botschafter Stepan Tscherwonenko zu empfangen. Auf dessen Bemerkungen, dass Mitterrand in Moskau willkommen sei, habe dieser allerdings einen Staatsbesuch weder zugesagt noch abgelehnt, sondern ihn stets auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet. 38 Gleichzeitig traf der französische Botschafter in Moskau sowjetische Funktionäre; in Paris fanden regelmäßig Gespräche zwischen Mitarbeitern der sowjetischen Botschaft und Diplomaten des Quai d'Orsay oder Beratern des Präsidenten statt. Von der sowjetischen Verunsicherung über den künftigen Kurs des neuen Präsidenten zeugte nicht nur die bereits erwähnte harsche Kritik in den Massenmedien. Der Quai d'Orsay las in der persönlichen Nachricht von Leonid Breschnew an François Mitterrand vom Mai 1981 ebenfalls Beunruhigung über außenpolitische Prioritäten nach der Präsidentschaftswahl. 39 Zusätzlich wurde der Verunsicherung über inof zielle Face-to-face-Kontakte Ausdruck verliehen: Unmittelbar nach der Erklärung von Claude Cheysson am 6. Juni 1981 nutzten sowjetische Diplomaten die Gelegenheit, am Rande eines Empfangs in der sowjetischen Botschaft gegenüber dem stellvertretenden Direktor der Abteilung Osteuropa, Jean-Pierre Masset, Überraschung und Besorgnis über Cheyssons brüskierende Erklärung auszudrücken (die dieser noch dazu auf amerikanischem Territorium gegeben hatte!). Mit unterschwelliger Drohung machten sie deutlich, dass es nicht viel brauche, um Errungenschaften einer 15 Jahre währenden Kooperation zunichtezumachen. 40 Auch bei einem Treffen zwischen dem Direktor für politische Angelegenheiten, Jacques Andréani, und Stepan Tscherwonenko am 20. Oktober 1981 wurde versucht, die Position der neuen Regierung zu sondieren und Ein uss auf den Aushandlungsprozess in Paris zu nehmen: Ohne die anderen Aspekte minimieren zu wollen, bleibe doch der politische Dialog die Achse der Kooperation zwischen der Sowjetunion und Frankreich, hieß es von Tscherwonenko. 41 Die genannten Beispiele machen deutlich, dass die sowjetische Führung sowohl auf inof ziellem Weg als auch bei institutionalisierten, of ziellen Kontakten auf der Ebene der Botschafter und politischen Direktoren versuchte, eine Revision der Neuausrichtung der Beziehungen zu erreichen und ihnen den eins38 Vgl. Védrine: Les Mondes de François Mitterrand, 238. 39 Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Direction d'Europe, Fiche URSS, 22. Mai 1981. 40 Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Note pour le Directeur d'Europe: Réactions soviétiques à des déclarations du Ministre, 11. Juni 1981. 41 Archives Nationales, AG/5(4)/CD /392, dossier 14, Ministère des relations extérieures, Note: Entretien du Directeur des Affaires Politiques avec M. Tchervonenko, 21. Oktober 1981.
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tigen Status zurückzugeben. Der französischen Seite bot sich dadurch die Möglichkeit, einerseits weiterhin Interesse am wechselseitigen Dialog zu signalisieren und auf diese Art und Weise den öffentlichen Kurs in gewisser Weise zu relativieren. Andererseits wurde Moskau so zugleich auf Abstand gehalten, indem man in den Gesprächen die öffentliche Distanzierung von Gipfelgesprächen standhaft vertrat. Außerdem wurde die Bedeutung der persönlichen Kontakte durch den Wegfall der Gipfeltreffen zugleich auf untere Ebenen verlagert. Face-to-faceKommunikation zeichnete sich also im Kontext der französisch-sowjetischen Beziehungen durch unterschiedliche Funktionen aus: In vertraulicherem Rahmen konnten sanfte Kritik und Beein ussungsversuche unternommen werden oder aber die harte Linie, die über die Öffentlichkeit gefahren wurde, abgeschwächt werden. Die diplomatischen Kontakte dienten zudem gewissermaßen als Wegbereiter von Gesprächen auf höheren politischen Ebenen. Standpunkte zu politischen Fragen wurden ergründet, um zu erfahren, über welche Themen Gespräche auf höheren Ebenen interessant und sinnvoll sein könnten. 42 Ihre Funktion bestand darüber hinaus darin, die Fühler sanft nach einer Veränderung im politischen Kurs auszustrecken und den Kontakt so lange auf unteren Ebenen zu halten, bis man ihn wieder auf höheren Niveaus fortsetzte. Dies machte eine Rückkehr zu Treffen der Staatsoberhäupter oder Besuchen der Außenminister später umso leichter. Aber trotz – oder gerade wegen – des neuen Höhepunktes der Ost-West Spannungen im Jahr 1983 reiste der französische Außenminister Claude Cheysson vom 16. bis zum 21. Februar 1983 erstmals wieder nach Moskau. Dies mag zunächst als Widerspruch zu der neuen ‚fermeté` unter Mitterrand erscheinen. Plausibler ist es allerdings, die Reise als Antwort auf die erwähnte sowjetische Pressekampagne gegen die französischen und britischen Nuklearstreitkräfte zu interpretieren. Die fünf Punkte im Arbeitspapier 43 für die Gespräche in Moskau zeigen, welchen Zweck diese Reise erfüllen sollte: Es galt noch einmal auf der Notwendigkeit eines globalen Kräftegleichgewichts zwischen den USA und der UdSSR zu insistieren, das die Sowjetunion durch ihre Aufrüstung bedrohte. Dieses sollte bevorzugt durch Verhandlungen, aber notfalls auch durch eine west42 In seinem Bericht circa ein Jahr nach seiner Amtsübernahme gab der französische Botschafter Claude Arnaud Empfehlungen für Themen, bei denen sich ein Meinungsaustausch mit der Sowjetunion lohnen könnte, vgl. Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Arnaud an Cheysson, 22. September 1982. 43 Vgl. Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5641, Ministère des Affaires Etrangères, Direction des Affaires Politiques, Service des Affaires stratégiques et du désarmement, Fiche pour le Ministre: Entretiens de Moscou: Non prise en compte des forces françaises, 15. Februar 1983.
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liche Nachrüstung wiederhergestellt werden. Da diese Haltung in Moskau hinlänglich bekannt gewesen sein dürfte, erklären diese Punkte noch nicht, warum die französische Führung plötzlich dazu bereit war, den Außenminister nach Moskau zu schicken. Am wichtigsten war daher wohl die Botschaft, dass eine Berücksichtigung der französischen Streitkräfte in den Verhandlungen absolut inakzeptabel war. Kombiniert wurde dies mit einer Berufung auf die USA, die die französische Haltung unterstützen würden, sowie einer Kritik an der sowjetischen Führung, die Verhandlungen durch ihre Haltung zu blockieren. Seit dem Beginn des Jahres 1983 sah sich Frankreich einem stetig steigenden Druck ausgesetzt, denn auch seitens der eigenen Partner wurde die Unabhängigkeit der force de frappe teilweise infrage gestellt, um die Verhandlungen in Genf voranzubringen. 44 Anfang 1983 glaubten die französischen Akteure also offensichtlich, ihren Standpunkten in persönlichen Gesprächen der Außenminister mehr Nachdruck verleihen zu müssen, und waren dafür auch bereit, die prinzipielle Haltung ein Stück aufzuweichen. Die Sowjetunion nutzte parallel zu der Pressekampagne die sowjetische Botschaft in Paris für ihre Doppelstrategie aus öffentlichem Druck und Umgarnung. Am 5. Januar 1983 erklärte der Geschäftsträger der sowjetischen Botschaft, Afanassjew, dem stellvertretenden Direktor der Abteilung Osteuropa, Legras, die Orientierung der neuen sowjetischen Führung, die nach einer Verbesserung der internationalen Situation strebe. 45 Eine ähnliche Intention war wohl mit einer mündlichen Nachricht von Juri Andropow, dem neuen Generalsekretär der KPdSU, vom Dezember 1982 verbunden, die Mitterrand über den sowjetischen Botschafter als Medium vermittelt wurde. 46 Diese Kommunikationsform diente
44 Vgl. Fußnote 29. Darüber hinaus kam es im Juni 1983 zwischen Kanada und Frankreich zu Irritationen, da sich der kanadische Premierminister Pierre Trudeau und Vize-Premierminister Allan MacEachen bei dem G7-Treffen in Williamsburg gegen den Paragrafen ausgesprochen hatten, der den Einbezug dritter Nuklearsysteme in Genf ablehnte, vgl. dazu Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5641, Ministère des Relations Extérieures, TD Diplomatie 26839, Consultations politiques franco-canadienne, 15. Juni 1983. 45 Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Direction d'Europe, Note pour le Cabinet, 7. Januar 1983. 46 Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Direction d'Europe, Note pour le Cabinet, 7. Januar 1983. Ende Januar wurde im Quai d'Orsay über die Form einer Antwort von François Mitterrand auf diese mündliche Nachricht vom 27. Dezember 1982 nachgedacht, vgl. dazu Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Direction d'Europe, Sous-Direction d'Europe Orientale, Note pour M. Delbourg, Correspondance entre M. Mitterrand et Andropov, 26. Januar 1983.
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dazu, auf sehr vertraulichem Wege die ‚guten` Absichten der neuen Führung zu unterstreichen und so womöglich eine Öffnung auf französischer Seite und Risse im Zusammenhalt der Allianz zu provozieren. In der französischen Öffentlichkeit sollte die französische Politik 1983 nicht als Abschwächung der harten Linie gegenüber der Sowjetunion wahrgenommen werden. Daher wurde Andrei Gromyko im September 1983 auf seiner Rückreise von Madrid auch nur sehr diskret in Paris empfangen. Doch trotz des Abschusses der südkoreanischen Passagiermaschine am 1. September emp ng Mitterrand Gromyko am 9. September 1983 – erstmals seit seinem Amtsantritt 1981. Es war zwar bekannt, dass Gromyko zu Gesprächen über Paris reisen würde, die Audienz des Präsidenten wurde vorab allerdings nicht of ziell bestätigt. Védrine und Cheysson urteilten, dass ein knappes Kommuniqué ausreichen müsse. 47 In dem Gespräch offenbarte sich Mitterrands Verständnis der französisch-sowjetischen Beziehungen. Gromyko bemerkte die Ambivalenz aus öffentlichem Bekenntnis zur Verbesserung der Beziehungen und gleichzeitig gegenläu gen Tendenzen. „En fait, la chaleur de nos relations recule dans la mesure où les SS 20 avancent . . . “ 48, erklärte Mitterrand dem sowjetischen Außenminister und machte dadurch deutlich, dass die französisch-sowjetischen Beziehungen für ihn nicht in erster Linie von Afghanistan, Polen oder den Menschenrechten abhingen, sondern vorrangig von der sowjetischen militärischen Überlegenheit in Europa und der noch nicht überwundenen Euroraketenkrise. In diesem Gespräch zeigt sich zudem auch, dass seine politische Konzeption auf unterschiedlichen Zeithorizonten basierte: Denn auch wenn die „actualité à court terme“ 49 durch das Kräftegleichgewicht und die Genfer Verhandlungen bestimmt sei, so beträfen die „perspectives générales“ 50 doch die Veränderung der Welt und die Rolle, die Frankreich und die Sowjetunion dabei spielen könnten. Mitterrand sendete in dem Gespräch Signale, die Gespräche in den kommenden Wochen und Monaten fortsetzen zu wollen – auf der Ebene der wichtigsten Minister und der Staatschefs. Dieses Bekenntnis war zwar unverbindlich. Es deutet aber darauf hin, dass man sich im Élysée des krisenhaften Moments und des Risikos bewusst war, das die entscheidende Phase des NATO-Doppelbeschlusses und die Umsetzung der Nachrüstung enthielten. Im Unterton bedeutete dies aber auch: Wenn der Stolperstein der Beziehungen – die sowjetische Überlegenheit – erst einmal besei-
47 Archives Nationales, AG/5(4)/CD /414, dossier 3, Présidence de la République, Le Conseiller Technique, Hubert Védrine, Note pour le Président de la République, 8. September 1983. 48 Jacques Attali: Verbatim 1981–1986, Paris 1993, 9. September 1983, 592. 49 Attali: Verbatim 1981–1986, 9. September 1983, 587. 50 Attali: Verbatim 1981–1986, 9. September 1983, 588.
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tigt sein würde, könnte man sich wieder den „perspectives générales“ 51 widmen. Dafür streckte man vorsorglich schon einmal seine Fühler aus. Die Wiederaufnahme von Treffen der Staatschefs erfolgte schließlich im Juni 1984 mit Mitterrands Reise nach Moskau. Damit wurden bei den Beratern des Präsidenten mehrere Erwartungen verbunden. Nach dem Vollzug des Nachrüstungsbeschlusses Ende 1983 waren neue Unsicherheiten deutlich geworden: Die sowjetischen Entscheidungen nach dem Amtsantritt von Konstantin Tschernenko deuteten auf eine neue Verhärtung der sowjetischen Führung hin. 52 Die Umsetzung der Nachrüstung hatte zu einem Abbruch der Verhandlungen zwischen USA und Sowjetunion geführt und eine Wiederaufnahme der Gespräche war erst einmal nicht in Sicht. Das Kräftegleichgewicht in Europa sollte zwar wiederhergestellt werden, beruhte nun aber auf einem höheren Rüstungsniveau. Darüber hinaus bestand Anlass zu der Sorge, dass durch die Ankündigung der Strategic Defense Initiative durch Ronald Reagan am 23. März 1983 bereits die nächste Runde des Wettrüstens eingeläutet worden war. Neben der Bewältigung dieser neuen Unsicherheiten und dem Bedürfnis, die Ost-West-Gespräche in Gang zu halten, wurde aber ganz klar auch die Chance erkannt, sich selbst zur Verfügung zu stellen, um die entstandene Leerstelle in der Kommunikation der Supermächte als Gesprächspartner zu füllen. 53 Zudem hoffte Jean-Louis Gergorin, bis 1984 Chef des Centre d'Analyse et de Prévision, herauszu nden, welche Bedingungen Konstantin Tschernenko und Andrei Gromyko für eine Wiederaufnahme der amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen stellen würden; wobei es zugleich deutlich zu machen galt, dass Frankreich nicht bloß Dolmetscher der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen sei. 54 Interessanterweise sahen Mitterrands Berater Hubert Védrine und Elisabeth Guigou an erster Stelle das Ziel, die 51 Attali: Verbatim 1981–1986, 9. September 1983, 588. 52 Gemeint waren vor allem der Boykott der Olympischen Spiele und die Intensivierung der Verfolgung der Ehefrau von Andrei Sacharow, siehe: Archives Nationales, AG/5(4)/PM/ 98, Premier Ministre, Secrétariat Générale de la Défense Nationale, Fiche: Que signi e le Boycott des Jeux olympiques par les Soviétiques? 9. Mai 1984; Archives Nationales, AG/5(4)/PM/98, Présidence de la République, Le Conseiller Technique, Pierre Morel, Note pour Jean-Louis Bianco: Quelques ré exions sur l'URSS et les relations franco-soviétiques, 18. Juni 1984. 53 Archives Nationales, AG/5(4)/EG/195, Présidence de la République, Le Conseiller Technique, Hubert Védrine et Elisabeth Guigou, Note pour le Président de la République: Les enjeux de votre visite en URSS, 19. Juni 1984. 54 Archives Nationales, AG/5(4)/EG/195, Premier Ministre, Secrétariat d'Etat, Centre d'Etudes prospectives et d'informations internationales, Groupe de re exion sur les rapports est-ouest, Réunion du 15 juin 1984 zum Thema „Faut-il s'évertuer à relancer les relations franco-soviétiques?“, 18. Juni 1984.
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weltpolitische Bedeutung Frankreichs zu unterstreichen, indem man mit allen Mächten spreche. 55 Die Unabhängigkeit Frankreichs war in diesem Moment Botschaft und Trumpf zugleich. Auch wenn man sich keinen Hoffnungen hingab, die aktuelle Führungsgruppe zu beein ussen, so sah man doch die Chance, auf potenzielle Nachfolger einzuwirken. Vorausschauend argumentierte der Präsidentenberater Pierre Morel, dass die Sowjetunion sich bald umorientieren müsse, und hoffte, Frankreich für diesen Moment schon einmal in Stellung bringen zu können. 56 Mitte 1984 stand einem Besuch von Mitterrand in Moskau also offenbar nichts mehr im Weg – was auf einen Wandel der politischen Rahmenbedingungen hindeutete. Während zuvor noch die Wiederherstellung des Abschreckungsgleichgewichts oberste Priorität besessen hatte, ist dieser Staatsbesuch ein Indiz dafür, dass der Blick danach für andere Ziele wieder frei war. Die Langzeitstrategie trat, nachdem sie einige Jahre zurückgestellt worden war, angesichts der neuen Herausforderungen umso stärker wieder hervor und rechtfertigte eine Wiederaufnahme der Gipfelgespräche. Damit diese Reise in der westlichen Öffentlichkeit und bei den eigenen Partnern angesichts einer neuen Affäre um sowjetische Menschenrechtsverletzungen 57 keine Empörung auslöste, bediente sich Mitterrand eines geschickt kalkulierten Schachzugs: Bei seiner Tischrede in Moskau erwähnte er die ‚Affäre Sacharow` und den sowjetischen Umgang mit Menschenrechten, was dank der französischen Journalisten in der Delegation schnell einen Weg in die westliche Öffentlichkeit fand. 58 Die Angelegenheit im Kreml zu erwähnen hatte paradoxerweise zur Folge, den französischen Handlungsspielraum zu erweitern, anstatt diesen einzuschränken. In Moskau ging es nicht darum, konkrete Ergebnisse in Verhandlungen mit der Sowjetunion zu erreichen. Ziele der Reise waren vielmehr, die Rückkehr zu Gipfeltreffen zu demonstrieren und den Kontakt zwischen Ost und West nach dem Vollzug der Nachrüstung und in dem ‚Übergangsjahr` der amerikanischen Präsidentschaftswahlen 59 nicht
55 Archives Nationales, AG/5(4)/EG/195, Présidence de la République, Le Conseiller Technique, Hubert Védrine et Elisabeth Guigou, Note pour le Président de la République: Les enjeux de votre visite en URSS, 19. Juni 1984. 56 Archives Nationales, AG/5(4)/PM /98, Présidence de la République, Le Conseiller Technique, Pierre Morel, Note pour Jean-Louis Bianco: Quelques ré exions sur l'URSS et les relations franco-soviétiques, 18. Juni 1984. 57 Im Mai 1984 gelangten Meldungen in die westliche Öffentlichkeit, wonach der sich in sowjetischer Verbannung be ndende Dissident Andrei Sacharow in einen Hungerstreik getreten sei, um die Ausreise seiner Ehefrau Jelena Bonner zu erreichen. 58 Vgl. Védrine: Les Mondes de François Mitterrand, 263 ff. 59 Vgl. Védrine: Les Mondes de François Mitterrand, 251.
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abreißen zu lassen. Aus sowjetischer Perspektive muss es allein schon als Erfolg angesehen worden sein, dass jener französische Präsident den Kreml betrat, der in den Jahren zuvor doch den beharrlichen Bemühungen von sowjetischer Seite um Gipfeltreffen widerstanden und anscheinend eine atlantische Wendung vollzogen hatte. Das Risiko, die Reise mit der Ansprache zum Scheitern zu bringen, war also schon deswegen gering, weil die sowjetische Führung ihr viel Bedeutung beimaß. Nachdem sie ihre aggressive Politik der vergangenen Jahre als gescheitert betrachten musste, da sie letztlich zu der Aufstellung der Pershing-II-Raketen geführt hatte, befand sich die Sowjetunion in einer defensiven Position, und Mitterrand musste nicht befürchten, als ‚demandeur` nach Moskau zu reisen. Der Besuch führte schließlich dazu, den französischen Präsidenten zu seinen Bedingungen als Akteur der Ost-West-Beziehungen zu re-etablieren. Mitterrand erschien trotz seines Gangs nach Moskau als Anwalt westlicher Werte, der selbst nicht davor zurückschreckte, diese im Zentrum der sowjetischen Politik und vor deren Führungselite anzusprechen. In der Retrospektive mag es wie eine Konstellation erscheinen, in der Mitterrand nur gewinnen konnte; allerdings sollte man keine Zwangsläu gkeit unterstellen. In der französischen Delegation war man sich des Risikos durchaus bewusst, dass der Besuch in Moskau ein kurzer werden könnte, wenn man den Namen Sacharow vor der sowjetischen Führung erwähnte. 60 Dass die Reise nach Moskau in der Retrospektive als Erfolg gesehen wird, der noch dazu wenig risikobehaftet gewesen zu sein schien, ist keineswegs das Ergebnis von Zwangsläu gkeit als vielmehr von kalkulierter Planung und einer geschickten Medienpolitik. Mit Hilfe der in der französischen Delegation mitreisenden Journalisten nutzte Mitterrand die Chance, seine Reise in den Massenmedien strategisch zu inszenieren, sodass er am Ende sowohl als begehrter Gesprächspartner der Sowjetunion als auch als kompromissloser westlicher Bündnispartner dastand.
V. Kommunikation innerhalb der Administration Anhand der ausgewählten Beispiele wird deutlich, dass es für das Funktionieren zwischenstaatlicher Kommunikation nicht zuletzt gewisser Kommunikationspraktiken innerhalb der französischen Administration bedurfte. Um der Komplexität dieses Interaktionsge echts gerecht zu werden, reicht es also nicht aus, sich im Zuge bilateraler Beziehungen nur die Ebene der Außenminister oder Staatschefs anzusehen, sondern die Untersuchung sollte um eine Innenperspektive ergänzt werden. Schon der französischen Botschaft in Moskau kam eine 60 Attali: Verbatim 1981–1986, 20. Juni 1984, 777–780.
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Rolle als Gatekeeper zu, da von dort Berichte über sowjetische Reaktionen in der Presse nach Paris geschickt wurden. 61 Diese Papiere dienten in den meisten Fällen als Grundlage für die Analysen in den Direktionen des Außenministeriums: Aus einer Vielzahl an Telegrammen entstand so in Paris zum Beispiel ein Querschnitt der sowjetischen Reaktionen auf öffentliche Erklärungen von Claude Cheysson. 62 Diese Noten gingen wiederum auch an die Berater des Präsidenten, ebenso wie Berichte von persönlichen Gesprächen, wie sie zwischen sowjetischen Botschaftsangehörigen und politischen Direktoren geführt wurden. 63 Die unterschiedlichen Stationen machen deutlich, wie Informationen verschiedene Selektionsprozesse durchliefen und die Kommunikation dadurch vorstrukturiert wurde. Wenn Claude Arnaud, von 1981 bis 1985 französischer Botschafter in Moskau, Empfehlungen aussprach, über welche Themen mit der Sowjetunion gewinnbringend gesprochen werden könnte, so beruhte dies doch auf seinen persönlichen Eindrücken und Wahrnehmungen. Erneut manifestiert sich hier der Ein uss, den das Medium selbst auf eine Botschaft hat. Mitarbeiter der französischen Botschaft und im Quai d'Orsay waren demzufolge nicht nur Medien der Außenbeziehungen, sondern auch Akteure, wenn es um die Perzeption und Konstruktion von Wirklichkeit ging. Obwohl sie weisungsgebunden waren, hatten sie durch diese Arbeitspraktiken Anteil am Prozess der Erkenntnisgewinnung und somit Ein uss auf die Wahrnehmungen bei den Beratern im Élysée und dem Präsidenten selbst. Das ‚Auf-Eis-Legen` der Gipfeltreffen führte dazu, dass es keine Begegnungen zwischen den Staatschefs gab und diese somit auch keinen persönlichen Eindruck voneinander gewinnen konnten. Dies hob automatisch den Stellenwert der Begegnungen auf unteren Ebenen. Gleichzeitig gewannen die Staatsführungen durch die Berichte über Treffen einen ge lterten Eindruck voneinander. Die zu Anfang genannte Note über die Détente der 1970er Jahre und die handschriftliche Notiz an Védrine verweisen darauf, wie die Analysen der Diplomaten im Quai d'Orsay dafür genutzt wurden, Informationen zu gewinnen und auf deren Grundlage eine politische Konzeption zu de nieren.
61 Vgl. z. B. Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, TD Moscou 1831, Articles de la Pravda et de Temps Nouveaux sur la France, 22. Dezember 1981. 62 Archives diplomatiques du ministère des Affaires étrangères, 1930-INVA 5690, Ministère des relations extérieures, Direction d'Europe, Sous-Direction d'Europe Orientale, La presse soviétique et les déclarations du Ministre, 8. September 1981. 63 Vgl. u. a. Archives Nationales, AG/5(4)/CD /392, dossier 14, Ministère des relations extérieures, Note: Entretien du Directeur des Affaires Politiques avec M. Tchervonenko, 21. Oktober 1981.
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Um die Jahreswende 1982/1983 hatte diese Art des Informations usses offensichtlich zu der Einsicht geführt, handeln zu müssen. Indem man den Außenminister nach Moskau schickte, verließ man sich in diesem kritischen Moment nicht mehr auf die Kommunikationskanäle auf unteren Ebenen, sondern hielt es für notwendig, französische Standpunkte durch eine stärker autorisierte Kommunikation zu betonen. Freilich müssen die hier angedeuteten Prozesse als reziprok und mehrdimensional gedacht werden und dürfen nicht zu der vorschnellen Annahme einer Art Ein uss-Hierarchie 64 verleiten. Man muss davon ausgehen, dass die Interpretation und Weiterverarbeitung von Telegrammen und Noten wiederum auch auf deren Verfasser zurückwirkte und sich Wahrnehmungen verschiedener Abteilungen und Ebenen wechselseitig beein ussten. Unterschiedliche Wahrnehmungen und Beurteilungen, die es in Élysée und Quai d'Orsay gab, sollen ebenso wenig ausgeblendet werden 65 wie Informationen, die von Experten außerhalb der Administration eingeholt wurden. 66 Die kommunikativen Praktiken innerhalb der französischen Administration sind daher als Voraussetzung und Rahmung der zwischenstaatlichen Interaktion zu denken. Diplomaten und Berater als Medien verweisen darauf, dass das Medium Ein uss auf die Botschaft hat, da durch ihre Selektion und Subjektivität die Prozesse der Erkenntnisgewinnung beein usst wurden. Im Rahmen dieses Beitrags kann diese Facette des französisch-sowjetischen Kommunikationssystems allenfalls angerissen und nicht in erschöpfendem Ausmaß untersucht werden. Gleichwohl ergibt sich daraus doch eine Perspektive für künftige Studien bi- oder multilateraler Kommunikationskomplexe.
VI. Bilanz und Ausblick Die politischen Kontakte mit der Sowjetunion wurden zu Beginn der 1980er Jahre in veränderter Form und unter anderem Etikett fortgesetzt. Erstens war man den Langzeitzielen der Entspannungspolitik weiterhin verp ichtet und zweitens dienten die Beziehungen wirtschaftlichen und politischen Interessen. Eine Ver64 Jean Pierre Dubois: Le processus décisionnel. Le Président, le gouvernement et le Parlement. In: Serge Berstein /Pierre Milza /Jean-Louis Bianco (Hrsg.): François Mitterrand. Les années du changement 1981–1984. Paris 2001, 653. 65 Beispiele dafür wären unter anderem die Beurteilung der sowjetischen Ziele unter Michail Gorbatschow oder die Beurteilung des INF-Vertrages. Diesen Aspekt detaillierter darzustellen würde allerdings über den Rahmen dieses Beitrags hinausführen. 66 Vgl. z. B. Archives Nationales, AG/5(4)/CD /392, dossier 14, Ministère des Relations Extérieures, Centre d'Analyse et de Prévision, Note „Colloque sur l'URSS, 25–27 Septembre 1981 (European-american institute for security research)“, 20. Oktober 1981.
Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels? 433
änderung wurde vor allem im medienwirksamsten Teil der politischen Beziehungen lanciert: den Gipfeltreffen der Staatschefs und Staatsbesuchen der beiden Außenminister. Es konnte gezeigt werden, dass bestimmte Inhalte über spezi sche Medien transportiert wurden, was mit den Eigenheiten und Funktionen der jeweiligen Kommunikationspraktik zu erklären ist. Daher ist schon die Wahl des Mediums als politisches Statement zu interpretieren. Botschaften über Massenmedien richteten sich an einen größeren Adressatenkreis und entwickelten eine gewisse Eigendynamik in der Interpretation des französischen Auftretens. Faceto-face-Kontakte dagegen stellten einen persönlicheren Rahmen her, kompensierten den Wegfall der Gipfeltreffen und sorgten dafür, dass der Gesprächsfaden nicht abriss. Gesprächen der Staatsoberhäupter oder Außenminister lässt sich darüber hinaus ein größerer symbolischer Stellenwert zuschreiben als Kontakten auf diplomatischen Ebenen. Hier manifestiert sich auch, dass Medien Botschaften nicht unverändert übermitteln, sondern verändern oder verstärken, indem die Wahl des Mediums selbst eine Botschaft enthält und die Wahrnehmung des Empfängers in eine bestimmte Richtung lenkt. Auch der Empfänger und seine Interpretation der Botschaft haben dabei Ein uss. Es stellt sich die Frage, ob nun die intendierte, die gesendete oder die empfangene und interpretierte Nachricht als Botschaft zu bezeichnen ist, und die Antwort kann nur lauten: alles zugleich, denn Sender, Medium und Empfänger beein ussen die Botschaft in ihren unterschiedlichen Dimensionen. Daher müssen bei historischen Untersuchungen diese verschiedenen Facetten berücksichtigt werden. Denn hierdurch wird auch verständlich, wie Missverständnisse in Kommunikationsprozessen zustande kommen können. Darüber hinaus konnte dieser Beitrag zeigen, dass komplexe bilaterale Kommunikationssysteme nicht allein durch öffentliche Stellungnahmen oder direkte Gespräche der Staatsspitzen verstanden werden, sondern es in diesem Fall auch Kontakte auf tieferen Ebenen in Moskau und in Paris zu berücksichtigen gilt. Um Informationen darüber bis hinauf in die höchsten Ebenen weiterzugeben, bedurfte es gewisser kommunikativer Praktiken innerhalb der französischen Administration in Form von Briefen, Telegrammen oder Noten, die somit zum integralen Bestandteil des Interaktionsge echts werden. Die bilaterale Kommunikation erscheint dadurch als ein Apparat ineinandergreifender Praktiken, über den ein differenzierterer Blick auf die französisch-sowjetischen Beziehungen gewährt wird. Hierin ist das Potenzial zu sehen, das sich durch einen Zugriff über Medien auf die Außenbeziehungen bietet. Kehrt man noch einmal zu der Ausgangsfrage zurück, lässt sich nach dieser Untersuchung zeigen, dass die ‚Wende` in den französisch-sowjetischen Beziehungen keine strategische, sondern eine inszenierte Wende war. Dabei bediente
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man sich der Massenmedien und symbolischer Kommunikationsakte, da die Botschaften sich an verschiedene Adressaten richteten: die Sowjetunion, die atlantischen Partner und antisowjetische Tendenzen der französischen Öffentlichkeit. Innerhalb des komplexen Ge echts aus unterschiedlichen Kommunikationspraktiken wurde das Gewicht gleichzeitig so verlagert, dass nach außen der Eindruck eines Bruchs mit der Sowjetpolitik von Giscard d'Estaing entstand, ohne den politischen Dialog mit der Sowjetunion völlig aufzugeben. Auf den unteren diplomatischen Ebenen wurden die Kontakte fortgesetzt und teilweise aufgewertet, weil sie den Wegfall der Gipfeltreffen kompensieren mussten. Da Gipfelgespräche bis auf Weiteres eingestellt wurden, gewannen andere Kommunikationspraktiken ein größeres Gewicht für die Perzeption der sowjetischen Führung. Die Massenmedien wurden dabei zum Instrument dieser Inszenierung: Es scheint plausibel, dass die französischen Massenmedien, die nach anfänglicher Skepsis gegenüber dem „Cowboy“ Ronald Reagan laut Védrine „carrément reaganiens“ gewesen waren, sich auf die Bedingungen auswirkten, die bestimmten, wie Mitterrands Politik verstanden wurde. 67 In der Öffentlichkeit und durch die Massenmedien wurde nur ein Facette der Botschaften wahrgenommen beziehungsweise besonders hervorgehoben, wodurch sich erklärt, wie Medien Botschaften verändern oder verstärken. Medium und Empfänger sind hier aktiver Teil der Kommunikation. Für die Vermittlung der Botschaft französischer Bündnistreue el die Wahl bewusst auf die Massenmedien. Durch die Eigenlogik dieser Medien wurde die Botschaft beein usst, verändert und überformt und provozierte eine Interpretation in eine bestimmte Richtung. Dies weist darauf hin, dass nicht nur einer, sondern mehrere Akteure an dieser Inszenierung beteiligt waren und die französische Regierung keineswegs selbst in der Hand hatte, wie ihr Auftreten wahrgenommen wurde. Die neue französische Führung gab gewissermaßen einen Anstoß, indem sie ein Gespür für Fremdwahrnehmungen bewies und diese bediente. Die sowjetische und westliche Presse leisteten durch ihre Deutungen einen wichtigen Beitrag zu der Inszenierung. Der methodische Zugriff über Medien der Außenbeziehungen konnte also nicht nur die Inszenierung eines politischen Kurswechsels aufzeigen, sondern auch erklären, wie sie über öffentliche Stellungnahmen, symbolische Kommunikationsakte und massenmediale Berichterstattung zustande kam. Dies macht auch verständlich, wie das zeitgenössische Bild eines ‚atlantischen` Mitterrand in die frühe Forschung einging, als politische Akten einer Untersuchung nicht zugrunde gelegt werden konnten. 68 Schlussendlich bliebe nur noch die Frage 67 Védrine: Les Mondes de François Mitterrand, 168. 68 Gordon: A Certain Idea of France.
Die Inszenierung eines politischen Kurswechsels? 435
zu beantworten, welche Funktion diese Inszenierung erfüllen sollte. Es scheint im höchsten Maße plausibel, dass es sich nicht um eine Inszenierung um der Inszenierung willen handelte, sondern um eine funktionale, die auf politischem Kalkül beruhte und einen Zweck erfüllen sollte. Denn neben dem Einzug in den Élysée versprach sich Mitterrand ab 1981 davon, den Zusammenhalt des westlichen Bündnisses durch Vertrauensbildung wiederherzustellen. Dieses musste dem Druck der offensiven Politik der Sowjetunion standhalten, damit die Wiederherstellung des strategischen Gleichgewichts nicht gefährdet wurde. Ein militärisches Ungleichgewicht in Europa wurde von Mitterrand als Bedrohung für den Frieden gesehen. Dabei unterstellte er der Sowjetunion keineswegs kriegerische Absichten – jedenfalls nicht der aktuellen Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte. Allerdings fürchtete er, dass eine sowjetische Überlegenheit bei einer neuen Führungsgeneration, die die Kriegsleiden selbst nicht erlebt hatte, leicht zu einer akuten Bedrohung werden könnte. 69 Bei der Inszenierung achtete François Mitterrand auf eine Doppelstrategie. Einerseits stellte er sicher, dass er als Verbündeter der atlantischen Allianz und zugleich als Kritiker der aggressiven Politik der Sowjetunion galt. Andererseits bekundete er stets Interesse am Dialog mit der Sowjetunion, indem er sich nicht prinzipiell dagegen, sondern für eine spätere Wiederaufnahme von Gipfeltreffen aussprach. Dass er keine konkreten Bedingungen daran knüpfte, machte eine Rückkehr später umso leichter. 1984, als die Nachrüstung passé und das Vertrauen im Bündnis wiederhergestellt war, drohten die antisowjetischen Tendenzen in der Öffentlichkeit bei der Reise lästig zu werden. Denn die ‚Équipe Mitterrand` sah die Zeit reif, die Langzeitziele der Détente nun wieder stärker in den Vordergrund zu stellen.
69 Conférence de presse du Président de la République (extraits), Palais de l'Elysée, 24. September 1981. In: La Politique Étrangère de la France. Textes et Documents. Septembre – Octobre 1981, 31.
Friedrich Kießling
Einführung An der Frage nach Wahrnehmungskonstruktionen durch Medien lässt sich der in den letzten Jahren vollzogene methodische Wandel in der Internationalen Geschichte besonders gut ablesen. Während in traditionell politikhistorisch orientierten Arbeiten vor allem die Frage nach Perzeptionen beziehungsweise Fehlperzeptionen von Akteuren untersucht worden ist, spielt diese Unterscheidung inzwischen eine deutlich geringere Rolle. Nicht die Frage nach einer adäquaten oder missglückten Einschätzung einer bestimmbaren Wirklichkeit steht in vielen aktuellen Studien im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Frage nach der Art und Weise, wie Bilder über andere entstehen. Der Prozess des Wissenserwerbs selbst und dessen formative Auswirkungen auf Außenbeziehungen rücken ins Zentrum. 1 Dass Medien dabei besonderes Augenmerk auf sich ziehen, versteht sich vermutlich von selbst, ist Wissenserwerb doch gerade im Gegenstandsbereich der Internationalen Geschichte besonders auf Medien angewiesen. Die Frage ist allerdings, über welche Art von Medien wir in den Außenbeziehungen sprechen, in welcher – auch historisch unterschiedenen – Weise diese zur Wirklichkeitskonstruktion beitragen und, nicht zuletzt, wie der konkrete Kontakt über Außengrenzen hinweg dadurch geprägt wird. Vor diesem Hintergrund ist es besonders spannend, dass dieses Kapitel Beiträge zu ganz verschiedenen Medien aus unterschiedlichen Epochen zusammenführt. Medien im konkreten diplomatischen Austausch stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Daniel Potthast. Insofern zeigen sie eher das Ergebnis (als die Entstehung) einer Wahrnehmungskonstruktion. Interessant ist, wie weit die Dokumente islamischer Provenienz den vermeintlichen oder tatsächlichen Gewohnheiten des Gegenübers entgegenkamen. Nicht nur erschien die Herrschaftsbezeichnung gegenüber europäischen Monarchen entgegen islamischer Tradition lokalisiert, auch wurde das religiöse Formular in der diplomatischen Korrespondenz deutlich verkürzt und damit modi ziert. Die diplomatischen Schriftstücke 1
Siehe zur Aufnahme des „Konstruktivismus“ in der Internationalen Geschichte: Jürgen Osterhammel: Weltordnungskonzepte. In: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hrsg.): Dimensionen internationaler Geschichte. München 2012, 409–427, vor allem 412–419.
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lassen sich als Produkt eines erheblichen Lerneffekts im situativen Kontakt über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg lesen, der das Gegenüber freilich auch als ein „Anderes“, deutlich Unterschiedenes konstruierte. Gleichzeitig wird die Bedeutung des Mediums für die Kommunikation klar. Indem die Schriftstücke in einer bedeutsamen religiösen wie literarischen Tradition standen, prägte diese Form, gegen die keineswegs beliebig zu verstoßen war, ebenfalls den diplomatischen Austausch. Die Frage nach der Eigenlogik des Mediums war auch in einem nur mündlich vorgetragenen Beitrag von Inken Schmidt-Voges von Relevanz. 2 Im Mittelpunkt stand die Wahrnehmung von Frieden beziehungsweise von Friedensverhandlungen in Europa zwischen 1710 und 1721 in der periodischen Presse der Zeit (Vortragstitel: „Mediale Konstruktionen von Frieden in Europa 1710–1721“). Dabei betonte Schmidt-Voges die massiven Unterschiede ihres Untersuchungsgegenstandes zu anderen Medien in der Öffentlichkeit des frühen 18. Jahrhunderts. Während in den bisher viel häu ger untersuchten Pamphleten und Flugblättern Macht- und Interessensicherung des eigenen Lagers die Beurteilungsmaßstäbe bildeten, schrieb die periodische Presse von Ruhe und Sicherheit, die ein dauerhafter Frieden für die Menschen bedeuten könne. Schmidt-Voges erklärte die Differenz insbesondere mit dem unterschiedlichen Adressatenbezug und damit vor allem funktional. Während es den Autoren der frühneuzeitlichen Zeitungen und Zeitschriften um die Hoffnung ihrer meist bürgerlichen Leserschaft auf Frieden und Ordnung ging, diente die Pamphletliteratur den Bedürfnissen herrschaftlicher Propaganda. In der unterschiedlichen Deutung, so das Fazit, wurden Werte und Normen in Außenbeziehungen ausgehandelt und damit die Wahrnehmung von Frieden je unterschiedlich konstruiert. Nicht um Medien im Kontext von aktuellen Nachrichten oder im diplomatischen Kontakt geht es im Beitrag von Marc von Knorring. Die von ihm untersuchte Etiketteliteratur diente – als Vorbereitung von Auslandsbesuchen beziehungsweise zur besseren Orientierung in anderen Ländern – touristischen Zwecken. Das bemerkenswerte Ergebnis besteht darin, dass an dieser Literatur Wendungen der öffentlichen Meinung und selbst Ereignisse wie der Erste Weltkrieg offenbar mehr oder weniger spurlos vorübergingen. Sieht man auf touristische Benimmliteratur des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, scheint
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Siehe dazu: Inken Schmidt-Voges: Diverging Concepts of Peace in German Newspapers. A Case Study on the ‚Hamburger Relations-Courier` 1712/1713. In: dies./Ana Crespo Solana (Hrsg.): New Worlds? Transformations in the Culture of International Relations c. 1713. Aldershot [erscheint 2017].
Einführung 441
das Bild des Anderen kaum von der aktuellen zeithistorischen Lage abhängig gewesen zu sein. Patrick Merzigers Beitrag schließlich führt, zugespitzt formuliert, die Frage nach „Medien der Außenbeziehungen“ doppelt an eine Grenze. Zum einen sind die Medien, die er untersucht, nicht Medien in einem materiellen oder zumindest traditionellen Sinne (wie diplomatische Korrespondenzen, Zeitungen und Bücher oder das gesprochene Wort). Für ihn gelten die bundesdeutschen Hilfsaktionen selbst als „Medium der Außenpolitik“. Er nähert sich in seinem Medienbegriff damit einem Konzept symbolischen Handelns an, wie es etwa in der Kulturgeschichte des Politischen verwendet wird. Zum anderen ist zu fragen, ob es sich bei den untersuchten Wahrnehmungskonstruktionen überhaupt noch um Außenbeziehungen handelt. Zumindest bei der Identi zierung und damit der Konstruktion von humanitären Katastrophen sprachen die Medien offenbar vor allem über sich selbst. Die anschließenden Hilfsaktionen bedienten mehr innergesellschaftliche Bedürfnisse, als dass sie in einem traditionellen Sinne Teil eines wie auch immer gearteten Außenkontakts gewesen wären. Insgesamt ist damit auch in diesem Kapitel die Frage nach dem jeweiligen Medienbegriff aufgerufen. Vor allem der Beitrag von Patrick Merziger macht deutlich, dass es in Zukunft darum gehen muss, diesen nicht nur zu bestimmen, sondern auch zu anderen Konzepten, wie dem des symbolischen Handelns in der Kulturgeschichte, in Beziehung zu setzen. 3 Sehr deutlich wird in allen Beiträgen zudem die Eigenlogik der jeweils untersuchten „Medien“, die es neben der Funktionsdimension zu beachten gilt. In diesem Zusammenhang ist das Gespräch mit anderen Disziplinen, an erster Stelle Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie Philologien, für Historiker besonders wichtig, um nicht vorschnell aus dem allgemeinen historischen Kontext heraus Bedeutungen in Medien hineinzulegen, die sich möglicherweise viel besser aus deren eigenen Entwicklungen und spezischen Strukturen erklären lassen. Neben der Eigenlogik der Medien gilt es, bei den Wahrnehmungskonstruktionen die Eigenlogik der Öffentlichkeit zu beachten. Deutlich wurde dies während der Tagungssektion insbesondere an der an den Vortrag von Inken SchmidtVoges anschließenden Diskussion, in der mehrfach die Relevanz einer „eigensinnigen“ Öffentlichkeit, wie sie im Vortrag für die periodische Presse der Frühen
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Bisher ist moderne Außenpolitik erstaunlich selten aus der Perspektive der neuen Politikgeschichte beschrieben worden. Vgl. aber: Ute Daniel: Einkreisung und Kaiserdämmerung. Ein Versuch, der Kulturgeschichte der Politik vor dem Ersten Weltkrieg auf die Spur zu kommen. In: Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005, 279–328.
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Neuzeit beschrieben wurde, für die politischen Außenbeziehungen bezweifelt wurde. Was im Falle von Patrick Merzigers Beitrag offenbar einsichtig war, nämlich die die Außenbeziehungen insgesamt prägende Eigenlogik der Konstruktionsleistung von Öffentlichkeit, schien im Falle der Frühen Neuzeit weniger klar. Hier wäre – modern gesprochen – die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei den Wahrnehmungskonstruktionen im Vergleich zwischen Früher Neuzeit und etwa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl noch genauer zu bestimmen. Während der Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgreiches Agenda Setting in den Außenbeziehungen ohne weiteres zugetraut wurde, 4 war für das frühe 18. Jahrhundert eine vergleichbare aktive Rolle der Öffentlichkeit oder (für die Frühe Neuzeit besser:) der verschiedenen Öffentlichkeiten für die Diskussionsteilnehmer während der Sektion weniger einleuchtend. Hier bietet der Vergleich über die Epochengrenzen hinweg die Chance, die jeweiligen Mechanismen noch genauer zu beschreiben. Aufschlussreich könnte dabei unter anderem die Frage nach dem jeweiligen Selbstverständnis der in der Öffentlichkeit agierenden Akteure sein. Die periodische Presse jedenfalls war bis ins 18. Jahrhundert von einem Selbstverständnis ihrer Vertreter geprägt, dass das eigene Tun weniger als meinungsbildend denn vielmehr als rein informierend verstand. Historisch vergleichend interessant wäre zudem die Frage nach dem Zusammenspiel unterschiedlicher Medien in den jeweils untersuchten Epochen. Konkret angemahnt wurde eine solche Analyse des Medienverbundes vor allem in den Reaktionen auf den Beitrag von Marc von Knorring. Inwieweit lassen sich die Befunde für die Etiketteliteratur, wonach selbst ein Ereignis wie der Erste Weltkrieg in den vermittelten Bildern keine oder kaum eine Rolle spielte, auf andere Medien übertragen? Wie steht es um die Langlebigkeit von Wahrnehmungskonstruktionen in den Außenbeziehungen? Oder handelt es sich hier um ein ganz spezi sches Genre, dessen Eigenlogik wiederum auch ganz besonders stark ist? Abschließend sei noch einmal auf die anfangs angedeutete Frage verwiesen, ob der weithin akzeptierte Befund, wonach Wirklichkeit entscheidend medial konstruiert wird, der auch allen Beiträgen dieser Sektion zugrunde liegt und der für die Diskussion der Internationalen Geschichte inzwischen so wichtig ist, für die Außenbeziehungen zu spezi schen Konsequenzen führt. Ist es zum Beispiel sinnvoll, hier von besonderen Konstruktionsregeln auszugehen, die sich 4
In der Literatur ist die Kontroverse um die geplante Versenkung der Ölplattform Brent Spar von 1995 ein häu g genannter Fall für das Agenda Setting durch transnationale Öffentlichkeiten, vgl. z. B. Vian Bakir: Policy Agenda Setting and Risk Communication. Greenpeace, Shell, and Issues of Trust. In: The International Journal of Press/Politics 11 (2006), 67–88.
Einführung 443
von denen anderer Dimensionen historischer Wirklichkeit unterscheiden – und, wenn ja, welche sind das? Gibt es herausgehobene Medien oder Akteure und wie lassen sich diese für die Außenbeziehungen historisieren? Oder anders ausgedrückt: Gerade auch bezogen auf den Titel des Kapitels wäre es interessant, in Zukunft neben der Eigenlogik von Medien und Öffentlichkeit auch stärker nach einer übergreifenden Eigenlogik von Wahrnehmungskonstruktionen in Außenbeziehungen zu fragen. Auch dabei wird das Gespräch über die Epochengrenzen hinweg weiter von großem Nutzen sein, ließen sich doch so möglicherweise Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Bereich der Außenbeziehungen entdecken, die quer zu anderen Epochengrenzen liegen. 5 Vor dem Hintergrund der in diesem Kapitel versammelten Beiträge könnte ein Ansatz bei einem solchen Unterfangen sein, die Rolle von konkreten Außenkontakten bei den jeweiligen Wahrnehmungskonstruktionen systematischer einzubeziehen. Wie sinnvoll dies ist, zeigt noch einmal der Beitrag von Daniel Potthast. Die Autoren der von ihm untersuchten diplomatischen Schriftstücke mussten ihre Wahrnehmungskonstruktionen in den konkreten Außenkontakt einbringen und erproben. 6 Die Autoren und Autorinnen der von Marc von Knorring beschriebenen Literatur benötigten dagegen häu g nur wenig oder gar keine persönlichen Erfahrungen über das „Außen“, um über dieses dennoch zu schreiben. Bei der von Patrick Merziger beschriebenen medialen Konstruktion von Katastrophen spielte der konkrete Kontakt zunächst ebenfalls kaum oder gar keine Rolle. Katastrophen fanden dort und zu dem Zeitpunkt statt, wo beziehungsweise an dem sie statt nden „sollten“. Die darauf aufbauenden Hilfsaktionen dienten so konstruierten eigenen Zwecken, deren Erfolg wiederum medial überprüft wurde. Das Resultat solcher Wahrnehmungskonstruktionen konnte dennoch oder gerade deswegen ganz unterschiedlich ausfallen, und daran tritt noch einmal schlaglichtartig die Bedeutung der Konstruktionsleistung hervor:
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In diesem Zusammenhang verdient die von Hillard von Thiessen entwickelte Typologie der frühneuzeitlichen Diplomatie, von der Neuesten Geschichte stärker aufgenommen zu werden: Hillard von Thiessen: Diplomatie vom type ancien: Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens. In: ders./Christian Windler (Hrsg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln, Weimar, Wien 2010, 471–503. Ein ähnliches Beispiel für den Zusammenhang von Wahrnehmungskonstruktion und konkreter Interaktion vor Ort ndet sich bei: Alexander Keese: Mit „Primitiven“ verhandeln: Die britische Campbell-Mission von 1836/37 und die Rede nition von Diplomatiestilen in Sierra Leone. In: Hillard von Thiessen /Christian Windler (Hrsg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln, Weimar, Wien 2010, 357–372.
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Während in einem Fall wie dem Biafra-Krieg der späten 1960er Jahre die Wahrnehmungskonstruktion zur Begründung ziviler Hilfeleistung führte, diente sie im anderen, etwa dem Kosovo-Kon ikt von 1998/1999, zur Rechtfertigung militärischer Intervention.
Daniel Potthast
Diplomatischer Austausch zwischen Muslimen und Christen Religiöses Formular in mittelalterlichen Briefen arabischer Herrscher I. Medien der arabisch-islamischen Diplomatie im Mittelalter Der Informationsaustausch zwischen mittelalterlichen islamischen Herrschern basierte vor allem auf Briefen und den sie überbringenden Boten. Der Überbringer, im Arabischen als ras¯ul („Gesandter“), had¯m („Diener“) oder selten q¯as.id („Aufsuchender“) bezeichnet, bot zwar die Möglichkeit zu verhandeln, da Gesandte aber nur als ein aus praktischen Gründen erforderlicher Ersatz für das Treffen der Herrscher betrachtet wurden, wurde der Brief als einziges wahres Medium des Austausches betrachtet. In der Narratio von Briefen wird daher die Ankunft des Briefes als eigentliches Ereignis dargestellt, während der Gesandte nur als Überbringer meist nicht einmal namentlich erwähnt wird. 1 Die Übergabe des Briefes erfolgte im Rahmen einer Zeremonie, bei der für den Gesandten meist nicht einmal die Möglichkeit bestand, mit dem Herrscher zu sprechen; Verhandlungen konnten erst später ohne seine Beteiligung durchgeführt werden. Auch wenn es vorkommen konnte, dass der Gesandte mündlich vom Briefinhalt abwich – sich etwa für als unhöflich aufgefasste Briefe entschuldigen musste 2 –, wurde somit dem Brief als der direkten Willensäußerung des anderen Herrschers eine höhere Bedeutung als dem Überbringer zugesprochen. Da der Überbringer grundsätzlich nicht als dem Herrscher gleichrangig betrachtet wurde, wurde eine direkte Kommunikation zwischen ihm und dem Herrscher als nicht angemessen betrachtet.Trotz der praktischen Notwendigkeit
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Die im Original erhaltenen Antwortschreiben (gaw¯ab¯at), meist aus dem 14. Jahrhundert, leiten ihre Narratio meist mit einem wa-qad was.ala-n¯a kit¯abu-kum al-mukarram s.uh.bat ras¯uli-kum („Euer edler Brief ist mit eurem Gesandten eingetroffen.“) oder ähnlichen Formulierungen ein. Cihan Yüksel Muslu: The Ottomans and the Mamluks. Imperial Diplomacy and Warfare in the Islamic World. London 2014, 109–133.
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von Verhandlungen kam es daher nur selten zu Gesprächen zwischen Herrscher und Botschafter. Die Gesandten konnten also einem weiten Personenkreis entstammen. Neben Mitgliedern der Herrscherfamilie und der politisch-militärischen Elite wurden ebenso religiös oder intellektuell herausragende Persönlichkeiten auf diplomatische Missionen entsandt. Im Austausch mit europäischen Herrschern wurden, soweit Botschafter zu identi zieren sind, auch Händler, die teilweise aus Europa stammten, eingesetzt. 3 Auch wenn diese Personen nicht dem eigentlichen Herrscherkreis angehörten, waren sie als Personen, die durch ihre Handelsaktivitäten über notwendige Kenntnisse in der romanischen Umgangssprache (lingua franca) verfügten, besonders quali ziert. Als Händler besaßen sie bei diplomatischen Kontakten allerdings das Eigeninteresse, die politischen Beziehungen und damit die Handelsmöglichkeiten zu stabilisieren. Da im Spätmittelalter Zolleinnahmen aus dem Fernhandel einen nicht unerheblichen Teil der Einnahmen der muslimischen Reiche ausmachten, standen die Interessen der Händler damit grundsätzlich selten im Widerspruch zu den Erwartungen ihrer Auftraggeber. Die diplomatischen Briefe wurden von Sekretären (k¯atib, Pl. kutt¯ab) verfasst, 4 die selbst selten als Gesandte tätig waren. Sie quali zierten sich durch ihre Kenntnis des klassischen Arabisch, das insbesondere im Maml¯ukenreich von den turksprachigen Herrschern oft nur eingeschränkt beherrscht wurde. Die von ihnen geforderten Kenntnisse können anhand von Kanzleihandbüchern (inš¯a-Literatur) nachvollzogen werden. Darin wurden den kutt¯ab historische Dokumentformulare vorgestellt beziehungsweise die gerade gültigen Formulare in eine Genealogie eingeordnet, die letztlich auf dem Propheten Muh.ammad und seinen Gefährten zugeschriebene Dokumente zurückführt, 5 die etwa der Prophetenbiogra e des Ibn Ish.a¯q und anderen Quellen, die auf das 8. Jahrhundert zurückgehen, entnommen wurden. Über Beispiele aus den Kanzleien
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Mohamed Ouerfelli: Personnel diplomatique et modalities des négociations entre la commune de Pise et les États du Maghreb (1133–1397). In: Thierry Kouamé u. a. (Hrsg.): Les relations diplomatiques au Moyen Âge. Formes et enjeux. XLIe Congrès de la SHMESP (Lyon, 3–6 juin 2010) (Histoire ancienne et médiévale 108). Paris 2011, 119–132; Dominique Valérian: Les agents de la diplomatie des souverains maghrébins avec le monde chrétien (XIIe–XVe siècle). In: Anuario de Estudios Medievales 38 (2008), 885–900. Maaike van Berkel: The Development of the K¯atib's Social and Cultural Position. A Critical Review of the Present State of Research. In: Robin Ostle (Hrsg.): Marginal Voices in Literature and Society. Individual and Society in the Mediterranean Muslim World. Straßburg 2000, 79–87. Die Dokumente sind gesammelt in: Muh.ammad H . am¯id All¯ah: Magm¯uat al-wat¯a¯iq assiy¯as¯ya li-l-ahd an- nabaw¯ wa-l-hil¯afa ar-r¯ašida. Beirut 1956.
Diplomatischer Austausch zwischen Muslimen und Christen 447
verschiedener islamischer Dynastien wurde eine Entwicklung bis in die Gegenwart des jeweiligen Autors nachvollzogen. Dadurch unterlagen diese Briefe Normen der arabischen Stilistik, waren in ihrer Sprache aber auch religiös konnotiert. Für den Sonderfall der Beziehungen zu nichtmuslimischen Herrschern, die schon durch das islamische Recht erschwert wurden, indem nur zeitlich eng begrenzte Friedensschlüsse erlaubt waren, 6 waren die Vorgaben zum Briefformular prinzipiell nicht anpassbar. Für die Zeit der postalmohadischen Reiche im arabischen Westen beziehungsweise der Maml¯uken im Osten, die nach dem Ende der Kreuzzüge und der großen Reconquista von einer Intensivierung der Handelskontakte geprägt war, waren aber meist diplomatische Verfahrensweisen notwendig, die weder den Normen des inš¯a, der Dokumentproduktion nach literarischen Vorgaben, noch den siyar, den rechtlichen Umgangsnormen mit Nichtmuslimen, entsprachen. Eine Verbindung von praktischen Erfordernissen und normativen Ansprüchen ist aber meistens gelungen, sodass ein Austausch zwischen Botschaftern und Sekretären im d¯w¯an al-inš¯a erfolgt sein muss. Aufgrund des Verlustes arabischer Archive aus vorosmanischer Zeit sind unsere Kenntnisse von arabischen Originaldokumenten eingeschränkt. Während in europäischen Archiven insgesamt etwa 180 Briefe muslimischer Herrscher vom 12. bis zum 15. Jahrhundert erhalten geblieben sind, fehlen uns Beispiele für diplomatische Korrespondenz unter Muslimen fast völlig. Die Kanzleihandbücher und Sammlungen von beispielhaften Dokumenten vermitteln aber wohl zumindest vom Wortlaut des Kontexts von Dokumenten aus ihrer Entstehungszeit ein recht zutreffendes Bild, 7 sodass sie unser Bild von tatsächlich verwendeten Briefformularen ergänzen können.
II. Briefe als Medium der Diplomatie in frühislamischer Zeit Die Muh.ammad zugeschriebenen Briefe beinhalten als Formularelemente die basmala 8 als Invocatio, die Nennung von Sender und Empfänger, den Sal¯am-
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Hans Kruse: Islamische Völkerrechtslehre. Bochum 1979, 101–105. So ist ein Vertrag zwischen Aragon und dem Maml¯ukenreich sowohl in al-Qalqašand¯s (1355–1418) Kanzleihandbuch S.ubh. al-aš¯a als auch als (fragmentarischer) Originalvertrag in Archivo de la Corona de Aragón, Barcelona (ACA Cartas árabes 145), erhalten geblieben. Die Versionen weichen nur äußerst geringfügig voneinander ab, wobei al-Qalqašand¯ vor allem Formularbestandteile, die keine Besonderheiten aufweisen, abkürzt. Formel: bi-sm All¯ah ar-rah.m¯an ar-rah.¯m / „Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmenden!“
448 Daniel Potthast
Gruß, 9 Gotteslob in einer verbalisierten h.amdala, 10 an die der erste Teil des Glaubensbekenntnisses (šah¯ada) 11 angeschlossen wird. Dieses Formular entspricht dem, das aus Originalbriefen des 7. und 8. Jahrhunderts bekannt ist. 12 Diese enthalten zusätzlich Segenssprüche (ar. du¯a) 13 für die im Brief genannten Personen. Bei Briefen an Nichtmuslime wurde der Sal¯am-Gruß in Form eines Koranzitates wa-s-sal¯amu al¯a man ittabaa l-hud¯a (Q 20,47: „Heil sei über einem (jeden), der der rechten Leitung folgt!“) variiert, da als Gottesname das Wort sal¯am nur für Muslime verwendet werden durfte. 14 Auch Originalbriefe jener Zeit enthalten das Koranzitat, das den Adressaten als Nichtmuslim, der der rechten Leitung nicht folgt, übergeht. In Einzelfällen wurden Formulierungen wie as-sal¯am al¯a Muh.ammad an-nab¯ wa-rah.mat All¯ah („Heil dem Propheten Muh.ammad und Gottes Gnade!“), 15 die den Adressaten offensichtlich übergehen und ihn dadurch herabsetzen, genutzt. Als inhaltliche Besonderheit, für die allerdings keine feststehenden Formeln entwickelt wurden, weisen die Mohammed zugeschriebenen Briefe immer einen Konversionsaufruf auf. Als ältestes Originalzeugnis arabischer diplomatischer Korrespondenz besitzen wir einen Brief des ägyptischen Gouverneurs M¯us¯a b. Kab an den nubischen König Cyriakus von 758. Sein Protokoll aus basmala, Sender- und Adressaten-
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Formel: as-sal¯am alay-ka (wa-rah.mat All¯ah wa-barak¯atu-hu) / „Heil dir und die Gnade Gottes (und seine Segnungen!)“ mit Varianten. Formel: fa-inn¯ ah.madu ilay-ka ll¯ah. / „Ich lobe dir Gott“. Formel: allad¯ l¯a il¯ah ill¯a huwa / „außer dem es keinen Gott gibt“. ¯ Werner Diem: Arabic Letters in Pre-Modern Times. A Survey with Commented Selected Bibliographies. In: Eva Mira Grob /Andreas Kaplony (Hrsg.): Documentary letters from the Middle East. The evidence in Greek, Coptic, South Arabian, Pehlevi, and Arabic (1st– 15th c. CE) (Asiatische Studien 62,3). Bern, Berlin, Brüssel, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien 2008, 843–884. Eva Mira Grob: Documentary Arabic Private and Business Letters on Papyrus. Form and Function, Content and Context (Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete, Beiheft 29). Berlin, New York 2010, 26–27. Ein Untersuchung von Segenswünschen aus einem großen Briefkorpus bietet Werner Diem: Wurzelrepetition und Wunschsatz. Untersuchungen zur Stilgeschichte des arabischen Dokuments des 7. bis 20. Jahrhunderts. Wiesbaden 2005. Cornelis van Arendonk /Daniel Gimaret: sal¯am. In: Encyclopaedia of Islam VIII. Leiden 1995, 915–918. Adolf Grohmann: Ein Qorra-Brief vom Jahre 90 H. In: Aus fünf Jahrtausenden morgenländischer Kultur. Festschrift für Max Freiherrn von Oppenheimer. Berlin 1933, 37–38. Bei dem Brief handelt es sich um ein Empfehlungsschreiben des ägyptischen Statthalters Qurra b. Šar¯k (709–714) für einen Steuerbeamten.
Diplomatischer Austausch zwischen Muslimen und Christen 449
angaben, sal¯am und verbalisierter h.amdala mit šah¯ada entspricht dem, was aus literarisch wie im Original überlieferten Briefen des 8. Jahrhunderts bekannt ist:
Tﺑwة وﻧrqﺣﺐ ﻣA} [. . . ] Y ﺑﻦ ﻛﻌﺐ إﻟYFwﻢ ﻣﻦ ﻣyﺣrﻦ اﻟmﺣr اﻟüﻢ اsﺑ 16 w اﻟ@ي ﻻ إﻟﻪ إﻻ ﻫüﻢ اhy إﻟdm[ وأﺣ. . . ] ﻪtﻋAV وأﻫﻞüء اAy أوﻟYlﻢ ﻋlF „Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmenden! Von M¯us¯a b. Kab an [Cyriacus], Herr von Muqurra und Nubien. Heil den Freunden Gottes und denen, die ihm gehorchen! [. . . ] Für sie lobe ich Gott, außer dem es keinen Gott gibt!“ Damit wirkt dieser Brief sehr abweisend; dem Gegenüber wird keinerlei Höflichkeit erwiesen. Stattdessen wird die Religion des Absenders betont. Dies setzt sich im Kontext des Briefes fort, wo Koranzitate eingesetzt werden, um für den Wunsch nach der Freilassung eines muslimischen Händlers zu argumentieren. Das Eschatokoll wiederholt den Sal¯am-Gruß der Einleitung noch einmal. Ob der Brief auf den Empfänger auch so harsch gewirkt hat, lässt sich nicht beantworten. Da im 8. Jahrhundert in Nubien Arabischkenntnisse wahrscheinlich noch nicht verbreitet waren, kann man davon ausgehen, dass dem Überbringer des Briefes weit mehr Bedeutung zukam, während der arabische Brief mehr Bedeutung für die Selbstwahrnehmung des Gouverneurs aufwies. So wurden bis zum Umstellung der Verwaltung auf Arabisch um 730 in Ägypten Briefe des Gouverneurs zweisprachig (griechisch-arabisch) verfasst. Dabei war die arabische Version mit den genannten Formeln unhöflicher als die griechische, die aber allein von den Empfängern verstanden wurde. Wenn wir dies auf die Diplomatie übertragen, zeigt sich hier ein Primat der mündlichen Verhandlungen, während dem Brief nur ein Symbolgehalt hauptsächlich für den Absender zukam.
III. Entwicklungen des arabischen Briefformulars bis ins 14. Jahrhundert Durch die zunehmende Verbreitung des Arabischen als Schriftsprache unter Nichtmuslimen verlor es seine islamische Konnotation. Gleichzeitig wurde ein neues Briefformular eingeführt, 17 das nur noch für Muslime, Christen und Juden gleichermaßen tragbare monotheistische Formeln beinhaltete. 18 War eine reli-
16 Martin Hinds /Hamdi Sakkout: A letter from the governor of Egypt to the King of Nubia and Muqurra concerning Egyptian-Nubian Relations in 141/758. In: Wad¯ad al-Q¯ad.¯ (Hrsg.): Studia Arabica et Islamica. Festschrift for Ihsan Abbas. Beirut 1981, 218. 17 Grob: Documentary Arabic Private and Business Letters, 39–40. 18 Karin Almbladh: The „basmala“ in medieval letters in Arabic written by Jews and Christians. In: Orientalia Suecana 59 (2010), 45–60.
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giöse Zuordnung erwünscht, konnten religionsspezi sche Formeln ergänzt werden – bei Muslimen etwa die tas.liya. 19 Auch die Varianten für den Sal¯am-Gruß sind nicht mehr belegt – er war nur noch fakultatives Formularelement. 20 Sowohl Originaldokumente als auch literarische Quellen datieren diesen Formularwechsel auf um 800. 21 Bis ins 12. Jahrhundert besitzen wir keine originalen diplomatischen Briefe. Im weiteren Verlauf werde ich mich auf den islamischen Westen (Andalus, Magrib, Ifr¯q¯ya) und dort auf die Dynastien der Mar¯niden (Fes und östl. Magrib), Abdalw¯adiden (Tlemcen und zentr. Magrib) und Nas.riden (Granada) konzentrieren. 22 Zwar haben sich aus dem maml¯ukischen Ägypten einzelne diplomatische Briefe erhalten, 23 allerdings hatte sich in Ägypten spätestens seit f¯at.imidischer Zeit im 10. Jahrhundert ein eigenständiges Formular für amtliche Schreiben herausgebildet, das nicht mehr den früheren Regeln für das Verfassen von Briefen – die bei Privat- und Geschäftsbriefen immer noch Anwendung fanden – entsprach. Die diplomatischen Briefe aus dem islamischen Westen sind dagegen eine Weiterentwicklung des Briefformulars aus frühislamischer Zeit. Ob ein vergleichbares Formular hier auch in Privatbriefen Anwendung fand, wissen wir nicht, da keine Beispiele erhalten geblieben sind.
19 Formel s.all¯a ll¯ah al¯a Muh.ammad wa-sallama / „Gott segne Muh.ammad und schenke ihm Frieden!“ mit Varianten. 20 Allerdings sind arabische Originalbriefe nach dem 9. Jahrhundert bisher wenig ediert und weiter untersucht worden. Die in Li Guo: Commerce, Culture and Community in a Red Sea Port in the Thirtheenth Century. The Arabic Documents from Quseir (Islamic History and Civilization: Studies and Texts 52). Leiden 2004, edierten Briefe beinhalten allerdings fast alle den sal¯am. Wahrscheinlich wurde er wie die tas.liya zum Brief hinzugefügt, um die Zugehörigkeit zum Islam zu betonen. 21 Ignaz Goldziher: Ueber die Eulogien der Muhammedaner. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 50 (1896), 97–128, 105. 22 Die größte Sammlung arabischer diplomatischer Briefe be ndet sich im Archivo de la Corona de Aragón, Barcelona, ediert größtenteils in: Maximiliano A. Alarcón y Santón / Ramón García de Linares: Los documentos árabes diplomáticos del Archivo de la corona de Aragón. Madrid 1940. Andere europäische Archive (insbesondere Pisa und Florenz) besitzen immer wieder Einzelbriefe. 23 Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 147–152; Michele Amari: I diplomi arabi del r. archivio orentino. Florenz 1863, Nr. 37, 39, 41, 44; John Wansbrough: A Mamluk letter of 877/1473. In: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 24 (1961), 200–213.
Diplomatischer Austausch zwischen Muslimen und Christen 451
Das normale Formular für innerislamische diplomatische Korrespondenz kann über einen Brief des mar¯nidischen Sultan Ab¯u l-H.asan Al¯ an den nas.ridischen Sultan Y¯usuf I. von 1344 rekonstruiert werden. 24 In der Rayh.a¯ nat alkutt¯ab 25 hat Ibn al-Hat.¯b (1349–1359 und 1362–1371 Leiter der nas.ridischen Kanzlei in Granada) Briefe gesammelt, die er für nas.ridische Sultane verfasste. Die an mar¯nidische Herrscher gerichteten Briefe bestätigen, dass dieses Formular auch von anderen Dynastien verwendet wurde. Allerdings sind die einzelnen Formularelemente bei Ibn al-Hat.¯b deutlich umfangreicher als im Originalbrief. Auch wenn es dafür keine Belege gibt, kann davon ausgegangen werden, dass er sich in seinem Werk als überaus begabter Stilist darstellen wollte und er seine Briefe für die Rayh.a¯ nat al-kutt¯ab noch weiter ausarbeitete. 26 Im Gegensatz zu frühislamischen Briefen mit ihrem im Vergleich zum Kontext kurzen Protokoll und Eschatokoll wird hier weniger als die Hälfte des Textes für den Kontext verwendet. Als Gliederung ergibt sich dabei: Protokoll 1
Invocatio
basmala und tas.liya
2
Intitulatio
min abd All¯ah . . . („Vom Diener Gottes, . . . “), Titel, Name, nasab (Genealogie), du
3
Inscriptio
il¯a . . . („an . . . “), Beziehungsangabe, Titel (sult.a¯ n), ehrende Adjektive, Name mit Titelwiederholung, nasab (Genealogie, wieder mit Titelangabe und Adjektiven), du¯a
4
Salutatio I
Sal¯am-Gruß
24 Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 93. Der Brief ist nach Aragon weitergeleitet worden, weil er dem nas.ridischen Sultan die Vollmacht erteilte, einen Friedensvertrag mit Aragon auszuhandeln, der auch die Mar¯niden umfasste. 25 Lis¯an ad-D¯n Ibn al-Tat.¯ib: Rayh.a¯nat al-kutt¯ab wa-nagat al-munt¯ab, hrsg. v. Muh.a¯mmad Abdall¯ah In¯an, 2 Bde., Kairo 1980. Spanische Teilübersetzung (Briefe an mar¯nidische Herrscher): Mariano Gaspar Remiro: Correspondencia diplomática entre Granada y Fez (siglo XIV): Extractos de la Raihana alcuttab de Lisaneddin Albenajatib El-Andalosi; texto árabe, traducción española y prenociones. Granada 1916. 26 Wenn man davon ausgeht, dass die Kanzlei nicht größere (der mar¯nidisch-nas.ridische Brief ist 59 × 38 cm groß) oder mehrere Blätter nutzte, wäre auf den Blättern kein Platz für Ibn al-Hat.¯bs Texte gewesen.
452 Daniel Potthast 5
bad¯ya 27 I
h.amdala, h.asbala, 28 tas.liya, tard.iya, 29 du¯a für den Absender
6
bad¯ya II
fa-katabn¯a-hu ilay-kum . . . („Wir schreiben dies an euch“), du¯a für Empfänger, . . . min h.ad.rati-n¯a l-al¯ bi-F¯as . . . („aus unserer hohen Residenz in Fes . . . “), du¯a für den Ort
7
Gottes- und Adressatenlob
Zuschreibung alles Guten zu Gott, h.amdala, Herrscherlob Kontext
8
Einleitung der narratio
wa-il¯a h¯ada¯ . . . („Zu diesem . . . “), du¯a für ¯ Empfänger
9
Kontext
– Eschatokoll
10
Segensbekräftigung
d¯u¯a für Empfänger
11
Salutatio II
Sal¯am-Gruß
12
Datumsangabe
Datum, du¯a für das Datum
13
Gotteslob
Bekenntnis zum tawh.¯d (reinen Monotheismus)
14
Corroboratio
tawq¯ 30h al-muarrah / „Es wurde am genannten Datum geschrieben.“).
Im Vergleich zu den älteren Briefen sind erstens herrschaftslegitimierende und zweitens religiöse Formeln ausgeweitet worden. Während in frühislamischer Zeit
27 Formularelement eingeleitet mit amm¯a b¯ad („Was das danach betrifft . . . “). Ursprünglich leitete es den Kontext ein. In den behandelten Briefen bildet es dagegen einen Abschnitt des Protokolls, der die Herrschaftslegitimation und eine Ortsangabe umfasste. 28 Häu g in Urkunden und Briefen gebrauchtes Koranzitat (Q 3,173: h.asbu-n¯a ll¯ahu wanimatu l-wak¯l / „Denn er ist unser Genüge und der beste Sachwalter!“). 29 Segensformel für die Gefährten des Propheten Muh.ammad. 30 Mit tawq¯ (Unterschrift) wird ein kalligra sch gestalteter Schriftzug bezeichnet, der am Ende von of ziellen Dokumenten geschrieben wurde und diesen Rechtswirkung verlieh. Schon in den Briefen selbst (etwa Alarcón y Santón/García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 99) wird er als Gegenstück zum Siegel auf europäischen bezeichnet. Der Wortlaut des tawq¯ variiert bei den einzelnen Dynastien (bei den Mar¯nden wa-kutiba f¯ t-tar¯
Diplomatischer Austausch zwischen Muslimen und Christen 453
Briefe, soweit rekonstruierbar, nur Namen, Vatersnamen und Titel beinhalteten, werden hier umfangreiche Genealogien mit Titeln angegeben und gleichzeitig die Beziehung zwischen den Herrschern erläutert. Laut islamischem Ideal konnte es nur einen Herrscher – als Kalif in der Nachfolge Muh.ammads – geben. Auch wenn dieses Ideal nur bis ins 8. Jahrhundert verwirklicht werden konnte, 31 stellt sich der Absender in eine kalifenähnliche Position, indem in der bad¯ya an religiöse Formeln für Gott, für den Propheten und seine Gefährten, somit auch die rechtgeleiteten Kalifen, 32 ein du¯a für den mar¯nidischen Herrscher anschließt. Dagegen wird der Adressat nur als sult.a¯ n (wörtlich „Macht, Autorität“) aufgeführt. Dieser Titel war zwar seit dem 11. Jahrhundert von souveränen Herrschern geführt worden und gehörte auch zur nas.ridischen Titulatur, war aber im islamischen Westen (im Vergleich zum islamischen Osten) ungebräuchlich. Durch die zusätzliche Auslassung des eigentlichen Titels am¯r al-muslim¯n wurde eine Unterordnung der Nas.riden im mar¯nidischen Selbstverständnis ausgedrückt. Das Briefformular beinhaltete somit Informationen über das genaue Verhältnis der Herrscher, wobei bestimmte Erwartungen ausformuliert werden konnten – insbesondere das Lob des Empfängers konnte bestimmte Verhaltensweisen als tugendhaft darstellen. Die eigene Herrschaft und das Verhältnis zum Adressaten wurden so in einen Kontext gebettet, der sie allein religiös legitimierte. Bei Briefen an christliche Herrscher stand man dem Problem gegenüber, dass sich diese Herrscher nicht in ein islamisches Herrschaftsverständnis integrieren ließen; ihre Briefe zeigten eine andere Form von Titeln und Herrschaftsbeschreibung. Daneben blieb das Problem bestehen, ob man es rechtfertigen konnte, Segenswünsche, den Sal¯am-Gruß etc. für Nichtmuslime zu verwenden und inwieweit man Konversionsaufrufe in die Briefe einarbeiten sollte. Es stellte sich die Frage, ob man die religiöse Differenz hervorheben wollte, da in den meisten Briefe an christlichen Herrscher Wünsche geäußert wurden – wie militärische Hilfe, Handelsvereinbarungen oder Entschädigungen für Piraterieopfer. 31 Im islamischen Westen hatte sich in Anschluss an die umayyadischen Kalifen von Cordoba bei den vielen Herrschern durchgesetzt, den kalifalen Titel des am¯r al-mumin¯n („Herrscher der Gläubigen“) mit einem Anspruch der Herrschaft über alle Muslime zu führen. Als Alternative entstand der parallel gestaltete Titel am¯r al-muslim¯n („Herrscher der Muslime“), der eine Souveränität ohne einen Alleinherrschaftsanspruch implizierte. Zur Zeit der Abfassung des Briefes bezeichneten sich Mar¯niden und Nas.riden als am¯r almuslim¯n; die Mar¯niden nahmen aber wenige Jahre später den Titel am¯r al-mumin¯n an. 32 Rechtgeleitete Kalifen: Die ersten vier Kalifen Ab¯u Bakr, Utm¯an, Umar und Al¯, die alle ¯ Prophetengefährten waren und die von den Sunniten als rechtmäßige Herrscher anerkannt wurden.
454 Daniel Potthast
IV. Mar¯nidische und abdalw¯adidische Briefe an aragonesische Könige Die einfachste Umarbeitung wäre, ähnlich wie es beim erwähnten Formularwechsel in ägyptischen Privatbriefen um 800 belegt ist, das Weglassen religiöser Formeln, die islamisch und nicht rein monotheistisch zu verstehen sind, sich also auf den Propheten Muh.ammad beziehen. Bei Briefen, die von den nordafrikanischen Dynastien des 14. Jahrhunderts geschrieben wurden, nden sich nur wenige Beispiele, die so vorgehen. 33 Stattdessen wurden häu g nur die einzelnen Formularelemente gekürzt, sodass die Briefe sich immer noch der religiösen Legitimationsstrategien bedienten. Der Sal¯am-Gruß wurde meist weggelassen; die eigentliche Formel as-sal¯am alay-kum ist nicht belegt. 34 Bei den Abdalw¯adiden, deren Machtbasis im zentralen Magrib immer durch Invasionen ihrer Nachbarn gefährdet war 35 und deren Kanzlei ein eher wenig ausgearbeitetes Formular benutzte, nden wir dagegen den Rückgriff auf das archaische Formular: Als Sal¯am-Gruß wird das koranische „Heil sei über einem (jeden), der der rechten Leitung folgt!“ (Q 20,47), was so in Originalbriefen nach dem 8. Jahrhundert sonst nicht belegt ist, genutzt. 36 Sowohl Sender als auch Adressat erhalten Segenswünsche. Bei arabischen Briefen beinhalten diese häu g den Wunsch nach einem langen Leben (etwa at.a¯ la ll¯ah baq¯aa-ka / „Gott lasse dein Leben andauern!“). Im Lauf der Jahrhunderte entwickelten sich zahlreiche verschiedene Wünsche, die nicht mehr nur ein langes Leben abdeckten, aber immer aus einem Verb mit Subjekt All¯ah und einem Objekt bestanden. Im Fall der diplomatischen Briefe aus dem 14. Jahrhundert sind diese du¯as mehrteilig. Für den muslimischen Herrscher stammen die Verben meist aus dem Wortfeld „unterstützen, helfen, kräftigen, erleichtern “ (ayyada, aazza, amadda, ad.ada – meist mit einem Objekt nas.r „Sieg“, amr „Befehl“, sult.a¯ n „Macht“ kombiniert); seltener sind etwa yassara „erleichtern“, asada „beglücken“ oder hallada „verewigen“ belegt. Die du¯as für christliche Herrscher unterscheiden sich grundsätzlich. Vereinzelt ndet sich
33 Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 87. 34 In einzelnen Briefen (Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 95, 99, 100 und 103) wurden jedoch variierte Sal¯am-Formeln, die wohl als weniger problematisch empfunden wurden, verwendet. Die Nas.riden (s. u.) gingen regelmäßig so vor. 35 Jamil M. Abun-Nasr: A history of the Maghrib in the Islamic period. Cambridge 1987, 134–143. 36 Auch die h.amdala im das Protokoll abschließenden Gotteslob wird teilweise mit Verb und folgendem Relativsatz (Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 91, 111 und 113) ausgedrückt. In Briefen nach dem 8. Jahrhundert wurde der Relativsatz weggelassen.
Diplomatischer Austausch zwischen Muslimen und Christen 455
ein abq¯a 37 „andauern lassen“, was auch in Privatbriefen häu g belegt ist. Häuger sind aber religiöse Wünsche wie ihtad¯a und aršada „rechtleiten“ oder eigentlich religiös indifferente Verben wie akrama „ehren“, alhama „inspirieren“, asada „beglücken“, at.a¯ h.a „bestimmen“, sann¯a „erleichtern“, waffaqa „verleihen“, was.ala „schenken“, die aber durch ihr Objekt in einen religiösen Kontext gestellt werden: irš¯ad und rušd „Rechtleitung“, rid.a¯ ll¯ah „Zufriedenheit Gottes“, sad¯ad „rechtes Handeln“, .ta¯ at All¯ah „Gehorsam gegenüber Gott“, taqw¯a „Gottesfurcht“. Segenswünsche mit diesem religiösen Inhalt sind auch unter Muslimen nicht ungewöhnlich. 38 Die Häufung dieser Formeln lässt vermuten, dass sie gezielt als versteckte Konversionsaufrufe genutzt wurden. 39 Ähnlich wie bei dem Ersatz des muslimischen sal¯am durch das ähnliche Koranzitat wurden sie verwendet, da sie beiden Seiten die Interpretation offenlassen, ob sich die göttliche Führung in ihrer jeweiligen Religion äußert. Als letzter Bereich von Änderungen verbleiben die Titel des christlichen Herrschers. Nach den vorherigen Ergebnissen würde man eine Integration in islamische Herrschaftsvorstellungen erwarten. 40 Jedoch hat man versucht, territoriale Titel zu übernehmen, ohne dass sie in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Titeln stehen. Stattdessen ndet sich teilweise eine Aufzählung von Städ-
37 Du¯as mit abq¯a sind in Papyrusbriefen seit frühislamischer Zeit belegt, etwa aus dem 8. Jahrhundert (für die Abkürzungen der Papyri siehe Petra M. Sijpesteijn /Eva M. Youssef-Grob /Andreas Kaplony /John F. Oates /Daniel Potthast: Checklist of Arabic Papyri. In: Bulletin of the Society of American Papyrologists 42 (2005), 127–166; ständig aktualisierte Version unter URL: www.naher-osten.uni-muenchen.de/isap/isap_checklist/ [zuletzt abgerufen 27. 6. 2016]: P. Heid. Arab. II 42; P. Khalili I 15 recto; P. Berl. Arab. II 74; P. Prag. Arab. 55; P. Mird 46). 38 Belegt etwa als akrama-ka ll¯ah bi-t.a¯ ati-hi „Gott ehre dich durch seinen Gehorsam!“ seit dem 9. Jh. in CPR XVI 32; P. Berl. Arab. II 38; 62; P. Cair. Arab. 298; P. Heid. Arab. II 32; P. Khalili I 27; P. Marchands II 2; 5; 8–18, 22, 28; P. Marchands III 1–3; 6–14, 17; 18; 20; 22; 24– 27; 32; 34; 37; 38; 40; 41; 43; 44. Die übrigen Verben sind jedoch nicht belegt. 39 So auch Benjamin Z. Kedar: Religion in Catholic-Muslim Correspondence and Treaties. In: Alexander D. Beihammer /Maria G. Parani /Christopher D. Schabel (Hrsg.): Diplomatics in the Eastern Mediterranean 1000–1500: Aspects of Cross-Cultural Communication (The Medieval Mediterranean 74). Leiden 2008, 407–421. 40 So etwa im Mašriq bei den Briefen der Maml¯uken an europäische Herrscher. Die aragonesischen Könige wurde zwar mit ihren territorialen Titeln angeschrieben, zusätzlich kamen aber Titel, die nach Vorbild maml¯ukischer Titel gestaltet waren. Alarcón y Santón/ García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 149 etwa: al-¯alim f¯ millati-hi al-¯adil f¯ mamlakati-hi izz al-umma al-mas¯h.¯ya nas.rat d¯n an-nas.r¯an¯ya fahr al-milla al-¯sawiya umdat ban¯ al-mam¯ud¯ya / „Der Wissende in seiner Glaubensgemeinde, der Gerechte in seinem Königreich, die Kraft der messianischen Nation, der Beistand der christlichen Religion, der Stolz der Jesusgemeinde, die Stütze der Söhne der Taufe“.
456 Daniel Potthast
tenamen, die nur schwer ihre romanischen Äquivalente erkennen lassen: s.a¯ h.ib Rug¯un wa-Baršin¯una wa-Balans¯ya wa-Saraquss¯a wa-Š¯atib¯a wa-May¯urqa waMin¯urqa wa-Barbiy¯an wa-Rušil wa-B¯rl¯an wa-T.araguna wa-T.urt.u¯ ša wa-Murilla wa-Ših.¯t¯u wa-F¯rb¯rir¯a wa-m¯a il¯a da¯ lika min al-h.us.u¯ n wa-l-ma¯aqil as-sult.a¯ n ¯ al-gal¯l Bidr¯u / „Herr von Aragon, Barcelona, Valencia, Zaragoza, Játiva, Mallorca, Menorca, Perpignan, Roussillon, Perelada (?), Tarragona, Tortosa, Morella (?), Geltrú (?), Cervera (?) und was von Städten und Festungen des glorreichen Sultans Pedro dazugehört“. 41 Auch wird keine Unterscheidung zwischen Titeln wie „Graf“ und „König“ nachvollzogen, sondern einfach s.a¯ h.ib „Herr“ verwendet – um wenig später sult.a¯ n zu nutzen, was laut Staatstheorie nur für muslimische Herrscher verwendet werden durfte. 42 Der Titel eines Kapitän-Generals der Kirche, geführt von Jaime II., wird in keinem mar¯nidischen Brief an ihn genannt. Zwar war die mar¯nidische Kanzlei nicht in der Lage, die europäischen Titel zu reproduzieren, allerdings versuchte sie, die Stellung ihres Herrschers entsprechend ihrem Wissen von europäischen Titeln auszudrücken. In mehreren Briefen wird der eigentliche Titel am¯r al-muumin¯n durch ein sult.a¯ n und eine längere Aufzählung von Städten, größtenteils im Magrib und Ifr¯q¯ya, teilweise auch im Andalus, ergänzt, die den mar¯nidischen Territorialanspruch umreißen sollten. 43 Die Kanzleisekretäre haben somit einen Bedarf nach Anpassungen an europäische Erwartungen gesehen und auch versucht, für ihren Sultan territorial bestimmte Herrschaftstitel anzugeben, ihre Ziele aber nur teilweise erreichen können. Zu einem Austausch mit Botschaftern und Dolmetschern, die aus ihrer Erfahrung die Hintergründe europäischer Titel besser hätten erklären können, scheint es nicht gekommen zu sein. Das Briefformular wurde, abgesehen von den Änderungen bei den Titeln, daher nur abgekürzt, wobei man religiösen Erwartungen entsprach, indem man problematische Teile wie den sal¯am wegließ oder gezielt Segenswünsche nutzte, die als Konversionsaufrufe verstanden werden können. Da die Mar¯niden (und noch mehr die Abdalw¯adiden) verhältnismäßig wenig Kontakt nach Europa besaßen, könnte man vermuten, dass hier ein Mangel an Wissen über die dortigen Verhältnisse vorlag. Dagegen sprechen aber die Handelsbeziehungen der Häfen beider Dynastien als Endpunkte 41 Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 100. 42 In der politischen Theorie (etwa nach der Zubdat kašf al-mam¯alik des ägyptischen Autors Gars ad-D¯n Hal¯l Ibn Š¯ah¯n az.-Z.a¯hir¯ [1410/11–1468/69]) bedurfte ein Sultan der Ernennung durch den Kalifen. Vgl. Erwin I. J. Rosenthal: Political Thought in Medieval Islam. An Introductory Outline. Cambridge, New York 1958, 51. Andere Titel wie König (malik) waren dagegen, auch wenn sie von muslimischen Herrschern genutzt wurden, nicht religiös legitimiert. 43 Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 95, 99, 107 und 110.
Diplomatischer Austausch zwischen Muslimen und Christen 457
des Transsaharahandels. Von den 23 erhaltenen Briefen mar¯nidischer Herrscher sind immerhin sieben Initialschreiben, die von eigenen Botschaftern überbracht wurden. Namentlich erwähnt werden zwei Botschafter, jeweils mit Übersetzer: Ein Abd ar-Rah.m¯an b. Muh.ammad al-Udaw¯ mit dem Übersetzer Mas¯ud 44 und Bernat Seguí (Birn¯at. Sig¯n) mit dem Übersetzer Ab¯u l-Abb¯as at.-T.urt.u¯ š¯ s.ihr Ibn al-Kamm¯ad. 45 Gerade der zweite Botschafter hätte als Katalane die Kanzlei beraten können. Vermutlich hat der Primat der schriftlichen Kommunikation verhindert, dass man auf Kenntnisse der Personen zurückgriff, die als Botschafter eingesetzt waren und ja zum Teil christliche Händler aus Europa waren.
V. Nas.ridisches Briefformular an christliche Herrscher – Ansätze eines religionsunabhängigen Völkerrechts? Granada stand in weit engerem Kontakt zum lateinischen Europa – zum einen durch die geogra sche Lage, zum anderen durch die Bedrohungslage, der sich das Nas.ridenreich seit seiner Entstehung als letzter Rest des islamischen Andalus ausgesetzt sah. Im Gegensatz zu den übrigen zeitgenössischen arabischen Reichen wurde hier ein eigenständiges Formular für Briefe an christliche Herrscher entwickelt, das relativ standardisierte Formeln verwendete. 46 Es basiert ebenfalls auf dem vorgestellten Formular für Briefe zwischen muslimischen Herrschern, das gekürzt wurde und insbesondere auf als islamisch erkennbare Formeln verzichtet. Die Hinweise auf den Propheten Muh.ammad beschränken sich auf eine tas.liya in der Invocatio; alle anderen religiösen Wendungen sind rein monotheistisch und wurden etwa auch von arabisierten Christen verwendet. Daneben fällt auf, dass die Position von Sender und Empfänger im Formular vertauscht wurde. Diese
44 Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 99. 45 Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 78 und 80. Im zweiten Brief wird der Übersetzer allerdings nicht als s.ihr „Vetter“ von Ibn al-Kamm¯ad, sondern als Sohn von al-Kammad genannt. Möglicherweise ist dieser Übersetzer mit einem at.-T.urt.u¯ š¯ identisch, der in Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 93, als verstorbener Gesandter zwischen den Nas.riden und Mar¯niden erwähnt wird. 46 Wieder durch Briefe an aragonesische Könige aus dem 14. Jahrhundert belegt (ediert in Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 1–75). Aus dem 15. Jahrhundert kommen noch einzelne Briefe an kastilische Könige hinzu: Francisco Muriel Morales: Tres cartas de la cancillería de Muh.ammad IX de Granada. In: al-Andalus-Magreb 5 (1997), 171–188, und Mariano Gaspar Remiro: Documentos árabes de la corte nazarí de Granada. Madrid 1911.
458 Daniel Potthast
Anordnung wurde in arabischen Briefen genutzt, um eine unterlegene Stellung auszudrücken. Ab der Herrschaft Muh.ammads V. 47 nennen sich die nas.ridischen Sultane vor dem Empfänger. Protokoll 1
Invocatio
basmala und tas.liya
2
Inscriptio
as-sult.an / „Dem Sultan“ (selten al-malik / „Dem König“) . . . , ehrende Adjektive, Name und Titel, zweiteiliger du¯a
3
Intitulatio
Ergebenheitsformel, . . . am¯r abd All¯ah („dem Emir, dem Diener Gottes“) . . . , Name mit nasab (Genealogie), Titel
4
bad¯ya
Herkunftsangabe mit du¯a für Granada
5
Gotteslob
Zuschreibung alles Guten zu Gott mit h.amdala
6
Herrscherlob
Lob des Empfängers für Freundschaft, Vertragstreue, Stellung Kontext
7
Text
– ohne religiöses Formular –
Segensbekräftigung
Zweiteiliger du¯a
Salutatio
wa-s-sal¯am yur¯agiu sal¯ama-kum kat¯ran at¯ran / ¯ ¯ „Das Heil kehrt zu eurem Heil in vielerlei und bevorzugter Weise zurück!“
Datumsangabe
Datum und du¯a für das Datum
Corroboratio
tawq¯: s.ah.h.a h¯ada¯ (inta)h(¯a) / „Dieses ist ¯ richtig.“
Eschatokoll
Auch hier könnte man vermuten, dass eine relativ unwissende Kanzlei durch Kürzungen ein Briefformular erstellen konnte, das die religiösen Unterschiede wegen der gefährdeten Position Granadas überging. Bei einer genaueren Analyse zeigt sich, dass diese Briefe weit genauer auf die Adressaten abgestimmt waren. 47 Erster Beleg Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 70 von 1358.
Diplomatischer Austausch zwischen Muslimen und Christen 459
Wie die mar¯nidischen Briefe versuchen die nas.ridischen Briefe die Titel des aragonesischen Königs zu reproduzieren – allerdings in Übereinstimmung mit den tatsächlich geführten Titeln. 48 Seit der Herrschaft Y¯usufs I. wird auch ein territorial gefasster Titel für den nas.ridischen Sultan angegeben: sult.a¯ n Garn¯a.ta ¯ wa-m¯a ilay-h¯a wa-am¯r al-muslim¯n / wa-M¯alaqa wa-l-Marr¯ya wa-W¯ad¯ Aš „Sultan von Granada, Málaga, Almeria, Guadix und was dazu gehört und Führer der Muslime“. Im Gegensatz zu den Mar¯niden mit ihren nur unregelmäßigen und nichtstandardisierten Städteaufzählungen wurde dieser Titel in allen weiteren Briefen der Nas.riden bis zum Fall Granadas (1492) genutzt. Auch wenn wir nicht wissen, ob dieser Titel auch gegenüber Muslimen verwendet wurde, 49 zeigt sich deutlich, dass sich die Nas.riden gegenüber Europa als Herrscher über die genannten vier Städte darstellten und nicht mehr als Dynastie von Herrschern, die in Nachfolge Muh.ammads und der rechtgeleiteten Kalifen stand und die keinen genau de nierten Machtbereich besaß, da ihre Legitimation eine Oberhoheit über alle Muslime beinhaltete. Wir haben es mit einem deutlichen Versuch zu tun, Herrschaftsvorstellungen aus einem rein religiösen Kontext zu lösen. Diese Zurückdrängung von Religion aus den internationalen Beziehungen kann anhand der Briefe aber noch weiterverfolgt werden. Während bei den mar¯nidischen und abdalw¯adidischen Briefen keine Begründung von Beziehungen zu den fremden Herrscher gegeben wird, bleibt die Beziehungsangabe, die vor der Intitulatio das Verhältnis des nas.ridischen Sultans zum angeschriebenen Herrscher darstellt, erhalten. Sie beschränkt sich aber nicht mehr nur auf eine Beschreibung von Unter- oder Überordnung, 50 sondern de niert das Verhältnis zum Adressaten ausführlicher: 51 Der Absender bezeichnet sich als dankbar (š¯akir), wissend (¯arif), lobend 48 Allerdings wird der Titel eines Kapitän-Generals der Kirche mit einer Ausnahme (Alarcón y Santón /García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 10: al-miland an al-bab bi-l-kan¯sa al-uz.m¯a / „Admiral für den Papst in der gewaltigsten Kirche“) übergangen. 49 Die Maml¯uken zumindest bezeichnet den nas.ridischen Herrscher in ihrer Korrespondenz als s.a¯ h.ib al-H . amr¯a / „Herr der Alhambra“. Rachel Arié: L'Espagne musulmane au temps des Nas.rides (1232–1492). Réimpression suivie d'une postface et d'une mise à jour par l'auteur. Paris 1990, 185. 50 So in Nr. 93: il¯a mah.all waladi-n¯a allad¯ naškuru qas.da-hu wa-nuattiru f¯ mard.a¯ t All¯ah ¯ ¯¯ ad.da-hu / „An den Platz unseres Sohnes, für dessen Absicht wir danken und auf dessen Beistand im Wohlgefallen Gottes wir einwirken“. 51 Die folgenden Ausführungen basieren auf den Briefen Alarcón y Santón/García de Linares: Los documentos árabes, Nr. 5, 8–10, 13, 16, 18, 21, 23, 25, 26, 28, 33 bis 40, 41, 43, 44, 51–54, 57, 58, 60, 63–67, 69, 70, 73, 74, 159, 160, sowie Daniel Potthast: Drei Fragmente von arabischen Staatsbriefen (14. Jh.) im Archivo de la Corona de Aragón/Barcelona. In:
460 Daniel Potthast
(mutann¯a), verehrend (mukarrim), verherrlichend (mu¯az.z.im) und hebt jeweils ¯ eine besondere Tugend des Herrschers als Objekt dazu hervor. Durch die Kombination werden mindestens drei bis vier Tugenden benannt. Dazu gehören die Stellung und politische Macht des Adressaten (mah.all f¯ l-mul¯uk / „Platz unter den Königen“; mans.ib / „Rang“; is¯abat al-mamlaka / „Festigkeit des Reiches“; mak¯an / „Stellung“; sult.a¯ n / „Macht“). Seine guten Verhaltensweisen (maq¯as.id / „Absichten“; mada¯ hib / „Vorgehensweisen“; h.usn al-mada¯ hib / „Schönheit der ¯ ¯ Vorgehensweise“; qas.d / „Streben“) werden allgemein hervorgehoben; besonders betont wird seine Treue (waf¯a / „Treue“; madhab f¯ l-waf¯a / „Vorgehensweise ¯ in der Treue“). In einem Großteil der Briefe wird die Freundschaft hervorgehoben (mawadda / „Liebe“; s.idq al-mawadda / „Wahrhaftigkeit der Liebe“; s.uh.ba / „Kameradschaft“; s.idq as.-s.uh.ba / „Wahrhaftigkeit der Kameradschaft“; hul¯us alwadd / „Aufrichtigkeit der Liebe“; madhab al-mus.a¯ daqa / „Vorgehensweise in ¯ der Freundschaft“). Eine Beschreibung von Aktivitäten des Absenders erfolgt nur eingeschränkt als h.a¯ z. oder muh.a¯ z. („bewahrend“), dann immer um ahd („Vertrag“; auch als ahd as.-s.uh.ba / „Vertrag der Kameradschaft“) oder s.uh.ba („Freundschaft“) ergänzt. Das Gesamtkorpus der Briefe an aragonesische Könige im 14. Jahrhundert kann damit als Entfaltung eines Programms nichtreligiöser Legitimation von zwischenherrschaftlichen Beziehungen gelesen werden: Ein Herrscher muss nicht nur Macht besitzen, sondern sie auch in tugendhafter Weise ausüben. Auf internationaler Ebene zeigt sich diese Tugend in Freundschaft mit ebenso tugendhaften Herrschern. Der Vertrag ist Ausdruck dieser Freundschaft, sodass der Absender seine Einhaltung einfordern kann. Das Herrscherlob gegen Ende des Protokolls variiert diese Argumentationskette noch einmal. Hier wird der Herrscher oder seine Eigenschaft noch einmal gelobt, allerding ohne explizite Erwähnung der Beziehungsebene zwischen Sender und Empfänger. 52 Zwar nimmt das Lob für die Macht des Herrschers hier weit mehr Raum ein, aber die schon erwähnten anderen Bereiche werden ebenfalls häu g genannt (oft als q¯asd f¯ s.-s.uh.ba, l-wadd beziehungsweise l-waf¯a [„Streben in der Kameradschaft“, „Liebe“ beziehungsweise „Treue“]). Der Islam 92,2 (2015), 367–412, Nr. 2, und Antoine-Isaac Silvestre de Sacy: Mémoire sur un Correspondance de l'Empereur de Maroc Yakoub, ls d'Abd-alhakk, avec Philippele-Hardi, conservée dans les Archives du Royaume. In: Histoire et mémoires de l'institut royal de France, Académie des inscriptions et belles-lettres IX (1832), 478–506, Nr. 3. 52 Während die Beziehungsangabe aus einem auf den Absender bezogenen Partizip Aktiv mit einem Objekt besteht, ist das Herrscherlob meist ein Nominalsatz mit dem Adressat oder einer seiner Eigenschaften als Subjekt und einem Partizip Passiv, das semantisch mit den in der Beziehungsangabe verwendeten übereinstimmt.
Diplomatischer Austausch zwischen Muslimen und Christen 461
Die als lobenswert genannten Tugenden sind sicher nicht spezi sch für Briefe an nichtmuslimische Herrscher – auch im Formular des oben genannten Briefes vom mar¯nidischen an den nas.ridischen Sultan werden einige davon erwähnt. Wir können nicht einmal sicher wissen, ob sie vielleicht in Briefen zwischen muslimischen Herrschern nicht ebenso gehäuft verwendet wurden. 53 Die Nutzung in der Kommunikation mit Nichtmuslimen ist aber bedeutsam, weil sie den islamrechtlichen Vorstellungen zum Frieden widerspricht. Dort ist der Frieden mit nichtmuslimisch beherrschten Reichen der Ausnahmezustand, der gerechtfertigt werden muss. Als Rechtfertigungsgrund darf nur eine Reorganisation der eigenen Kräfte herangezogen werden, nach der der militärische gih¯ad gegen den jeweiligen nichtmuslimischen Gegner mit nun überlegener Kraft aufgenommen werden darf. Waffenstillstand über mehrere Jahre ist daher nur bei militärischer Unterlegenheit gestattet. Die Vorstellung von Freundschaft zwischen Herrschern ist überhaupt nicht existent. Unter den oben genannten Herrschertugenden analysieren die Juristen nur die Vertragstreue (waf¯a), aber auch diese noch im Hinblick auf die muslimische Seite, da sie diese Tugend vollkommener als Nichtmuslime vollziehen würde. 54 Das islamische Recht hat sich zwar immer als anpassungsfähig erwiesen; so wurde in Hinblick auf die Friedensverträge zwischen Granada und Aragon gezeigt, dass gerade dort Juristen über den Nutzen (mas.lah.a) für die muslimische Gemeinde Recht begründen konnten. 55 Die Briefe kann man dagegen als den Beginn eines von religiösen Erwägungen losgelösten natürlichen Völkerrechts sehen. Zumindest die Sekretäre, für die islamrechtliche Erwägungen immer schon eher nachgeordnet waren, haben damit Schritte unternommen, die die Möglichkeit einer Integration Granadas in ein europäisches Staatensystem eröffneten. Aber verweisen die diplomatischen Briefe die Religion immer in eine ideologisch unbedeutende Rolle? Wir haben gesehen, dass rein monotheistische Passagen weiterhin genutzt wurden. Bei einer Detailanalyse fallen einige Stellen auf, wo man an einem traditionellen, religiösen Briefformular festgehalten hat. Der Sal¯am-Gruß wird nie in seiner üblichen Form geschrieben; im Protokoll wird er sogar ganz übergangen. Im Eschatokoll ndet sich stattdessen immer
53 Ibn al-Hat.¯bs Briefe in seiner Rayh.a¯ nat al-kutt¯ab müssten hierfür noch ausgewertet werden. 54 Kruse, Islamische Völkerrechtslehre, 94 und 125. 55 Rüdiger Lohlker: Islamisches Völkerrecht. Studien am Beispiel Granada. Bremen 2006, 126–127.
462 Daniel Potthast
eine nur in nas.ridischen Briefen 56 belegte Formel wa-s-sal¯am yur¯agiu sal¯amakum kat¯ran at¯ran („Das Heil kehrt zu eurem Heil in vielerlei und bevorzug¯ ¯ ter Weise zurück!“). Das Verb r¯agaa bereitet Übersetzungsschwierigkeiten: Im klassischen Arabisch bedeutet es „zurückkehren, zurückweisen, zurückgeben“ 57, im klassischen Arabisch des Magrib und Andalus wird es dann schon als „zu Gott, zum Gehorsam zurückkehren, konvertieren“ verwendet, 58 was in einem „jmdn. zur Reue, zur Buße veranlassen“ im andalusischen Dialekt mündet. 59 Den nas.ridischen kutt¯ab war damit eine mögliche Bedeutung „Das Heil führt euch zu eurem Heil“ neben der genannten Übersetzungsvariante bewusst. Neben den Grußmöglichkeiten des sal¯am für muslimische Adressaten, der koranischen Variante, die sich nicht auf den Adressaten beziehen kann und dem Weglassen des Grußes wurde somit eine Möglichkeit geschaffen, weitgehend der Nichtverwendung des sal¯am für Nichtmuslime zu entsprechen, ohne in grobe Unhöflichkeiten zu verfallen, indem man den Gruß in eine versteckte Konversionsaufforderung umwandelte. Auch die Segenswünsche für den christlichen Adressaten beinhalten ähnlich wie in den mar¯nidischen und abdalw¯adidischen Briefen Konversionsaufforderungen. Der du¯a für den Adressaten besteht immer aus zwei Teilen: Der erste ist abgesehen von wenigen Ausnahmen ein was.ala ll¯ahu izzata-hu bitaqw¯a-hu („Gott schenke seiner [sc. des Adressaten] Macht Seine Furcht“), während der zweite variiert, aber als Objekt immer ein .ta¯ at All¯ah („Gottes Gehorsam“), rid.a¯ ll¯ah („Gottes Zufriedenheit“) oder m¯a yuh.ibbu-hu ll¯ah wa-yard.a¯ -hu
56 Eine ähnliche Formel ist aber schon bei den Abdalmuminiden, einer Dynastie des 12. und 13. Jahrhunderts, belegt, die in einem Brief an Papst Innozenz IV. schreiben: tah.¯ya kar¯ma nur¯agiu bi-h¯a m¯a taqaddama min tah.¯y¯ati-kum al-w¯arida ¯alay-n¯a / „Edle Grüße, durch die wir das wiederholen, was von euren an uns gerichteten Grüßen vorangegangen ist“ (Eugène Tisserant /Gaston Wiet: Lettre de l'almohade Murtad.a¯ au pape Innocent IV. In: Hespéris 6 [1926], 30). Diese Dynastie legitimierte sich über eine besonders strenge islamische Reformbewegung, den Almohadismus, sodass in diesem Brief das Wort sal¯am „Heil“ durch tah.¯ya „Gruß“ ersetzt wurde. – Auch die Mar¯niden verwendeten Varianten wie beispielsweise ein as-sal¯am yahas.s.u-kum („Das Heil zeichnet euch aus!“). Vgl. Silvestre de Sacy: Mémoire sur un Correspondance, Nr. 2. 57 Edward William Lane: An Arabic-English Lexicon III. London 1863, 1039. 58 Reinhart Dozy: Supplement aux dictionnaires arabes I. Leiden 1881, 512. 59 Federico Corriente: A Dictionary of Andalusi Arabic (Handbuch der Orientalistik, Erste Abteilung: Der Nahe und Mittlere Osten, Bd. 29). Leiden 1997, 202. Da zumindest in Aragon die meisten Übersetzer der Kanzlei für Arabisch die gesprochene Sprache besser als die klassische Schriftsprache beherrscht haben werden, können wir annehmen, dass ihnen diese Bedeutung bewusst gewesen sein wird.
Diplomatischer Austausch zwischen Muslimen und Christen 463
(„was Gott liebt und womit er zufrieden ist“) enthält. Segenswünsche, die keine Aufforderung zur Konversion implizieren, kommen nicht vor. Damit weisen die nas.ridischen Briefe hier eine konsequente islamische Prägung auf, sodass sich eine These, dass der diplomatische Schriftverkehr Granadas Ausdruck eines Versuchs sei, durch einen weitgehenden Verzicht auf religiöse Implikationen sich auch in ein europäisches diplomatisches System zu integrieren, als nicht haltbar erweist. Stattdessen handelt es sich um die Verbindung eines Festhaltens an normativen Vorgaben, wie ein Brief geschrieben sein müsse, mit dem taktisch klugen Angebot eines gemeinsamen völkerrechtlichen Rahmens, indem man auf die Freundschaft der Herrscher verwies, die damals sowohl als Legitimation von intramuslimischen wie intrachristlichen Beziehungen herangezogen wurde.
VI. Fazit: Schriftliche Korrespondenz als transmediterranes Kommunikationsmedium Inwieweit die nas.ridischen Neuentwicklungen im Formular mit den Botschaftern abgestimmt waren, bleibt schwierig zu bestimmen. Allerdings sind aus Granada immerhin drei Briefe, die nicht im Auftrag des Sultans, sondern eines Al¯ b. Kum¯aša, der nach einem Beglaubigungsschreiben von 1344 für Friedensverhandlungen nach Aragon gesandt war, verfasst worden. 60 Seine Briefe weichen im Formular nur wenig von den Sultansbriefen ab. So wird zwar der Sultan im Protokoll als Herr (mawl¯a) Al¯s eingefügt, die Ortsangabe enthält ebenfalls Verweise auf ihn, aber die wesentlichen Formularbestandteile bleiben bestehen: Durch die Beziehungsangabe und das Herrscherlob wird wieder das Ideal der Beziehung zwischen tugendhaften Herrschern evoziert, während der Sal¯am-Gruß die übliche nas.ridische Form für Nichtmuslime annimmt und die Segenswünsche die üblichen, die Konversion implizierenden Formeln umfassen. Nun wissen wir nicht, welchen Ein uss Al¯ b. Kum¯aša auf die Formulierung seiner Briefe hatte; dass die Kanzlei jedoch nicht ohne Erfahrungswissen arbeiten musste, zeigt eine Militärallianz zwischen Granada und Aragon von 1302. Neben dem eigentlichen Vertrag ist ein Vertragsentwurf erhalten geblieben. 61 Der Entwurf, eine Art Verhandlungsprotokoll, das in Zaragoza entstanden ist, wurde 60 Alarcón y Santón /Garcia de Linares: Los documentos árabes, Nr. 34, 39 und 49. Das Beglaubigungsschreiben (Nr. 56) wurde für einen Ab¯u l-H.asan b. Kum¯aša ausgestellt. Nach einem lateinischen Vermerk mit dem Namen Ali Abencomixa auf dem Schreiben kann es sich nur um Al¯ b. Kum¯aša gehandelt haben. 61 Alarcón y Santón /Garcia de Linares: Los documentos árabes, Nr. 2 (Entwurf) und 3 (Vertrag).
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teils auf Spanisch, teils in dialektalem Arabisch verfasst. Die nas.ridische Kanzlei musste ihn überarbeiten, sodass Spanischkenntnisse für sie nachgewiesen sind. Zusätzlich kann man vermuten, dass die Mitglieder der Verhandlungsdelegation um den nas.ridischen Kronprinzen an der Übersetzung beteiligt waren. Zwar lässt sich noch nicht im Detail beweisen, was für ein Wissenstransfer zwischen Botschaftern und Sekretären stattfand, die sorgfältige Ausarbeitung des Briefformulars zeigt aber, dass von islamischer Seite die schriftliche Korrespondenz als eigentlich relevantes Kommunikationsmedium betrachtet wurde. Auch wenn die Botschafter für praktische Belange der Verhandlungen von zentraler Bedeutung waren, dienten die Briefe als Mittel, durch das sich der Herrscher mit seiner Ideologie ausdrücken konnte. Das Briefformular mit seinen ins 7. Jahrhundert zurückreichenden Normen diente erst einmal dazu, bestimmte religiöse Vorgaben zu erfüllen und dadurch den Herrscher als Muslim und legitimen politischen Nachfolger Mohammeds darzustellen. Die Anpassungen bei Briefen an nichtmuslimische Herrscher erschöpften sich im Fall der Mar¯niden und Abdalw¯adiden weitgehend darin, diesen Anforderungen gerecht zu werden, ohne das Kon iktpotenzial der religiösen Differenz zu sehr zu betonen, während Anpassungen an europäische Vorstellungen mangels Wissen nur sehr eingeschränkt vorgenommen werden konnten. 62 Die nas.ridische Kanzlei entwickelte das Formular so weiter, dass sie auch Erwartungen an den Adressaten formulieren konnte. Auch wenn die religiösen Normen, die diplomatische Kontakte zu Nichtmuslimen einschränkten, damit noch nicht beseitigt wurden, kann dies als erster – wenn auch nach heutigem Forschungsstand folgenloser – Schritt zur Entwicklung eines säkularen Völkerrechts betrachtet werden. Es stellt sich dabei die Frage, inwieweit diese Anpassungen von den Adressaten überhaupt verstanden wurden. Der Umgang mit arabischen Briefen ist weitgehend unerforscht. 63 Laut Pascal Buresi wurde in den Pisaner Übersetzun62 Die H.afs.iden in Ifr¯q¯ya gingen ähnlich vor. Ihre Briefe wurden hier nicht untersucht, da sich ihre Legitimation durch den Almohadismus auch in einige Varianten in normalen Briefformular äußerten und daher schlecht verglichen werden konnte. Die Maml¯uken folgten einem ganz anderen Briefformular, in dem die religiöse Komponente stark eingeschränkt war und das mehr dazu diente, den Adressaten in eine Hierarchie einzuordnen. 63 Zur Übersetzung arabischer Briefe in Pisa siehe Pascal Buresi: Traduttore, Traditore, à propos d'une correspondance arabe-latine entre l'empire almohade et le cité de Pise (début XIIIe siècle). In: Oriente Moderno 88,2 (2008), 297–309; für Aragon siehe Daniel Potthast: Translations of Arabic Diplomatic Letters in the Aragonese Chancery. In: Peter Schrijver / Peter-Arnold Mumm (Hrsg.): Dasselbe mit anderen Worten? Sprache, Übersetzung und Sprachwissenschaft. Akten des 2. Symposiums des Zentrums historische Sprachwissenschaften (ZhS), München, 11. und 12. April 2014 (Münchner Forschungen zur historischen Sprachwissenschaft 16). Bremen 2015, 166–186.
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gen die religiöse Differenz entschärft, indem offensichtlich muslimische Passagen ausgelassen, muslimische Titel nur transkribiert oder Formeln ohne Berücksichtigung ihres Inhalts stereotyp übersetzt wurden, sodass die Übersetzung gerade des Protokolls nur noch entfernt an die Vorlage erinnerte. Im Fall Aragons stellt sich dies differenzierter da: So ist schon eine intensive Beschäftigung mit den arabischen Briefen belegt, dass sie nicht nur übersetzt, sondern auch kopiert wurden. Neben der deislamisierenden Übersetzungsstrategie ndet man wörtliche Übersetzungen, die allerdings auch schwere Übersetzungsfehler beinhalten können. Zumindest der Versuch, die Briefe, die von der muslimischen Seite auch als eigentliches Kommunikationsmedium verstanden wurden, angemessen zu übersetzen, ist damit gegeben. Ob die untersuchten Intentionen der Formeln wirklich verstanden wurden, lässt sich mit dem heutigen Forschungsstand noch nicht aussagen. Trotzdem muss man versuchen, die mittelalterliche islamische Diplomatie nicht nur über die Botschafter, die Zeremonien für ihren Empfang und ihre Geschenke als Kommunikationsmedien, die für die Praxis sicherlich hohe Bedeutung aufwiesen, sondern auch über die schriftliche Korrespondenz zu verstehen. Trotz ihres Bezugs auf Vorbilder des 7. Jahrhunderts zeigen die Briefe, dass man sowohl stilistische als auch religiös-rechtliche Normen an neue Bedingungen anpassen konnte. Gerade das Beispiel Granadas zeigt, dass sich in den scheinbar so traditionellen Briefen systematische Ansätze einer Überwindung von allein religiös normierten Beziehungen zu anderen Herrschern zeigen. Auch im Vergleich zum zeitgenössischen Europa können in der Diplomatie des nas.ridischen Granadas Spuren einer Fortschrittlichkeit gefunden werden, die ein deutliches Entwicklungspotenzial offenbaren.
Anhang I: Übersetzung von Protokoll und Eschatokoll eines Briefs Ab¯u l-H.asan Al¯s an Y¯usuf I. 64 Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers! Gott segne unseren Herrn Mohammed, seine Familie und seine Gefährten und schenke ihnen Frieden! Vom Diener Gottes, Führer der Muslime, Kämpfer auf dem Weg des Herrn der Welten, Sohn unseres Gebieters, Führers der Muslime, Kämpfers auf dem Weg des Herrn der Welten, Ab¯u Sa¯d, Sohn unseres Gebieters, Führers der Muslime, Kämpfers auf dem Weg des Herrn der Welten, Ab¯u Y¯usuf, Sohn des Abd al-H.aqq – Gott unterstütze seinen Befehl und stärke seinen Erfolg! – an den
64 Alarcón y Santón /Garcia de Linares: Los documentos árabes, Nr. 93, 187–188.
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Platz unseres Sohnes, für dessen Absicht wir danken und auf dessen Beistand im Wohlgefallen Gottes wir einwirken, den gewaltigsten mächtigsten, glänzendsten, ruhmreichsten, einzigartigen, wirksamsten, zufriedensten, glücklichsten, höchsten, reichhaltigsten, vollkommensten, geliebtesten Sultan Ab¯u l-H.agg¯ag, Sohn des gewaltigsten, mächtigsten, glänzendsten, ruhmreichsten, einzigartigen, wirksamsten, reinsten, zufriedensten, glücklichsten, erhabensten, höchsten, reichhaltigsten, edelsten, vollkommensten, gottseligen, heiligen, erbarmten Ab¯u l-Wal¯d, Sohn des gewaltigsten, mächtigsten, glänzendsten, ruhmreichsten, einzigartigen, wirksamsten, zufriedensten, ehrenhaftesten, reinsten, berühmtesten, bedeutendsten, tugendhaftesten, vollkommensten, ehrwürdigen, gottseligen, heiligen, erbarmten Anführers Ab¯u Sa¯d, Sohn des Ab¯u l-Wal¯d, Sohn des Nas.r – Gott schenke (ihm) Seine Rechtleitung und bringe ihm aus Seiner Gnade Sein Neues durch Sein Neues nah! Friede euch und die Gnade Gottes – er sei erhaben – und seine Segnungen! Was das nach dem Lob Gottes, des Gebieters des Schönen und Bringers des Reichlichen und Guten, der die Hoffnung, zu der man Zu ucht nimmt, in keinem Zustand scheitern lässt – denn er ist unser Genüge und der beste Sachwalter – (nach) dem Segen und Heil für unseren Herrn und Gebieter Muh.ammad, Seinen durch die Bevorzugung auserwählten Propheten und Seinen Gesandten, der aus den Abgründen der Verirrung errettet und Seinen Bund in Erwartung der Ungläubigen erfüllt, um die Arznei für den Rachedurst zu erkunden, (nach) der Zufriedenheit für seine Familie und seine Gefährten voll reiner Würde, die an seinem Sieg und der Offenbarung seiner Glaubensgemeinschaft entsprechend (seinem) Weg beteiligt waren, die ihm geduldig gegen Bedrängnis beistanden, (ihn) unterstützten und die Ein uss auf den reichlichen Lohn ausübten, und (nach) dem Gebet für diesen hohen, gewaltigen, alidischen Befehl um Hilfe, deren Angelegenheit ein klarer Beweis und deren Erfolg ihre wahrhaftige Mühe für die Beschäftigung ist, betrifft, so haben wir ihn [sc. den Brief] an euch – Gott spende das Gute bei euch freigiebig – aus unserer hohen Residenz im gottgeschützten Fes geschrieben. Gottes – er sei gepriesen – Tun ist durch Leichtigkeit und Einfachheit bekannt und Seine Gnade ist ein weites Angebot und Geschenk! Lob sei Gott in vielerlei Weise! Eure Häuser haben bei uns Eindruck hinterlassen, (unsere) Vorgehensweisen erleichtert und das Vergnügen der Glückseligkeit vermehrt! Zu diesem – Gott schenke (euch) eure Glückseligkeit und lasse eure Hilfe andauern! Euer Brief ist angekommen . . . ... . . . Er – gepriesen sei er – schenkt euch das Glück der klaren Leuchten, der frommen Traditionen, das zur Erfüllung der Wünsche zurückkehrt. Friede euch
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und die Gnade Gottes und seine Segnungen! Es wurde am 9. Gum¯ad¯a II des Jahres 745 [= 18. Oktober 1344] – Gott gebe seinen Segen und sein Gutes durch seine Gunst bekannt! – geschrieben.
Anhang II: Übersetzung von Protokoll und Eschatokoll eines Briefs Y¯usuf I. an Pedro IV. 65 Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! Gott segne unseren Herrn und Gebieter Muh.ammad – seinen edlen Propheten – und seine Familie und schenke ihnen Heil! Dem frömmsten, gottseligen, bedankenswertesten, geehrten, treuesten, erhabenen, stärksten, prächtigsten Sultan Don Pedro, König von Aragon, Sultan von Valencia, Sardinien, Korsika und Mallorca und Graf von Barcelona – Gott beschenke seine Macht mit Gottesfurcht und beglücke ihn mit Gottesgehorsam und seiner Zufriedenheit! Von dem seinen Bündnis bewahrenden, dem für die Vorgehensweise in der Treue und Zielsetzung dankbaren, dem seine Liebe lobenden, dem um die Festigkeit seiner Herrschaft wissenden Emir, dem Diener Gottes, Y¯usuf, dem Sohn des Führers der Muslime Ab¯u l-Wal¯d Ism¯a¯l b. Farag b. Nas.r, dem Sultan von Granada, Málaga, Almeria, Guadix und was dazu gehört und dem Führer der Muslime. Danach: Wir schreiben (den Brief) an euch von der Alhambra in Granada – Gott beschütze es! Durch die Gnade Gottes – er sei gepriesen! – geschieht nur das vollkommenste Gute und das umfassendste Angenehme! Lob sei Gott in vielerlei Weise! Eure Seite ist erhaben und gottselig, eurer Absicht in der Treue und Freundschaft wird gedankt und eure Macht unter den Großen der Könige der Christen ist bekannt und berühmt! Der Grund (des Briefes) an euch ist, dass . . . ... . . . Gott – er sei erhaben – beglückt euch mit seiner Zufriedenheit und beschenkt euch dadurch mit den Hilfen seiner Gunst. Das Heil kehrt zu eurem Heil in vielerlei und bevorzugter Weise zurück! (Der Brief) wurde zur Hälfte des geehrten Šab¯an im Jahr 745 [= 22. Dezember 1344] geschrieben – Gott gebe seinen Segen bekannt! Dies ist richtig!
65 Alarcón y Santón /Garcia de Linares: Los documentos árabes, Nr. 63, 122.
Marc von Knorring
Bilder fremder Nationen in Etiketteliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts Deutsche, britische und US-amerikanische Publikationen im Vergleich I. Nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Staaten und in den USA erlebte das Genre der Etiketteliteratur, also der Benimmbücher oder Umgangslehren, 1 spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung an Publikationen und Auflagen – und damit wohl auch an Lesern –, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein anhielt. 2 Vor diesem Hintergrund haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in erster Linie die volkskundliche, die soziologische und die Geschlechterforschung sowohl des deutschen als auch des angelsächsischen und des französischen Sprachraums der Erzeugnisse dieser Gattung 1
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In der Forschung nden sich auch die Bezeichnungen „Anstandsbücher“, „Manierenbücher“, „Verhaltensratgeber“ u. a. m. Vgl. dazu Karin Schrott: Das normative Korsett. Reglementierungen für Frauen in Gesellschaft und Öffentlichkeit in der deutschsprachigen Anstands- und Benimmliteratur zwischen 1871 und 1914 (Kulturtransfer, Bd. 2). Würzburg 2005, 18 ff. Vgl. für Deutschland die umfassende Bibliogra e bei Horst-Volker Krumrey: Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden. Eine soziologische Prozeßanalyse auf der Grundlage deutscher Anstands- und Manierenbücher von 1870 bis 1970. Frankfurt am Main 1984, 27 und 669 ff.; Krumrey listet hier allein für den Erscheinungszeitraum 1880– 1930 ca. 500 einschlägige Publikationen auf. Die vorliegenden Aufstellungen englischsprachiger Benimmbücher verzeichnen für Großbritannien und die USA jeweils rund zwei Drittel weniger Veröffentlichungen, erscheinen dabei jedoch weit weniger zuverlässig und vollständig als Krumrey. Siehe für Großbritannien: Michael Curtin: Propriety and Position. A Study of Victorian Manners (Modern European History). New York, London 1987, 305 ff.; Toni Weller: The Puffery and Practicality of Etiquette Books: A New Take on Victorian Information Culture. In: Library Trends 62 (2014), 663–680, hier 664; für Europa insgesamt Alain Montandon (Hrsg.): Bibliographie des traités de savoir-vivre en Europe, du Moyen Âge à nos jours. 2 Bde. Clermont-Ferrand 1995; für die USA: Sarah E. Newton: Learning to Behave. A Guide to American Conduct Books Before 1900. Westport, Conn. 1994.
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bedient, um zu Aussagen über zivilisatorische Entwicklungen, über soziale Verhaltensnormen, Mentalitäten und Abgrenzungen oder über das Verhältnis von Mann und Frau in den betrachteten Gesellschaften zu gelangen. 3 Unterdessen ist die Etiketteliteratur mit Blick auf ihren Überlieferungswert von Historikern immer wieder als leichtgewichtig und unbedeutend abgetan worden. 4 In jüngerer Zeit wurde sie jedoch zu Recht als wichtige Quelle für die Informationskultur ihrer Zeit gewürdigt, 5 und außerdem konnte gezeigt werden, dass Benimmbü-
3
4 5
Vgl. Schrott: Das normative Korsett; Krumrey: Entwicklungsstrukturen; Curtin: Propriety; Newton: Learning to Behave; sowie außerdem: Henriette Burmann: Die kalkulierte Emotion der Geschlechterinszenierung. Galanterierituale nach deutschen EtiketteBüchern in soziohistorischer Perspektive. Konstanz 2000; Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert (Historische Studien, 13). Frankfurt am Main, New York 1994; Silke Göttsch: „Motto: Bleibt natürlich!“ Zur Vermittlung geschlechtsspezi scher Körpersprache in Anstandsbüchern. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 92 (1996), 63–78; Heinrich Heckendorn: Wandel des Anstands im französischen und im deutschen Sprachgebiet. Bern 1970; Martina Kessel: Das Trauma der Affektkontrolle. Zur Sehnsucht nach Gefühlen im 19. Jahrhundert. In: Claudia Benthien /Anne Fleig /Ingrid Kasten (Hrsg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle (Literatur – Kultur – Geschlecht, Kleine Reihe, 16). Köln, Weimar, Wien 2000, 156–177; Thomas Klein: Verhaltensstandards in der Ehe: Kontinuität und Wandel. Eine Analyse von Anstandsbüchern der Jahre 1834 bis 1987. Hamburg 1993; Thomas Pittrof: Umgangsliteratur in neuerer Sicht: Zum Aufriß eines Forschungsfeldes. In: Forschungsreferate. 2. Folge (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 3. Sonderheft). Tübingen 1993, 63–112; Thomas Schürmann: Tisch- und Grußsitten im Zivilisationsprozeß (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, 82). Münster, New York 1994; Hans Trümpy: Anstandsbücher als volkskundliche Quellen. In: Klaus Beitl (Hrsg.): Probleme der Gegenwartsvolkskunde. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1983 in Mattersburg (Burgenland) (Buchreihe der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde. Neue Serie, 6). Wien 1985, 153–169. – Kathleen Dejardin: Etiquette and Marriage at the Turn of the 20th Century: Advice on Choosing One's Partner. In: Jacques Carré (Hrsg.): The Crisis of Courtesy. Studies in the Conduct-Book in Britain, 1600–1900 (Brill's Studies in Intellectual History, 51). Leiden, New York, Köln 1994, 167–179; John F. Kasson: Rudeness & Civility. Manners in Nineteenth-Century Urban America. 5. Au . New York 1999; Andrew St. George: The Descent of Manners. Etiquette, Rules & The Victorians. London 1993; Cas Wouters: Sex and Manners. Female Emancipation in the West, 1890–2000. London, Thousand Oaks, New Delhi 2004. – Alain Montandon (Hrsg.): Dictionnaire raisonné de la politesse et du savoir-vivre, du Moyen Âge à nos jours. Paris 1995; ders. (Hrsg.): Etiquette et politesse (collection littératures). Clermont-Ferrand 1992; ders. (Hrsg.): Über die deutsche Höflichkeit. Entwicklung der Kommunikationsvorstellungen in den Schriften über Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern. Bern, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Paris, Wien 1991. Weller: The Puffery, 664. Ebd., 664–666.
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cher eine ernst zu nehmende Quellengattung auch für Fragen etwa nach der Verbreitung ideologischer Dispositionen sowie nach bestimmten Facetten der öffentlichen Meinung darstellen. 6 Der Frage nach den Bildern fremder Nationen in der Etiketteliteratur ist bislang allerdings nicht nachgegangen worden und ebenso wenig wurden Benimmbücher in Forschungen zur Prägung von Fremd- und Nationenbildern als Quelle herangezogen. Das ist insofern erstaunlich, als nahezu jede Publikation, unabhängig von ihrer Provenienz, in verschiedenen Zusammenhängen auf Sitten, Gebräuche und Verhaltensweisen in anderen Ländern Bezug nimmt, diese Konventionen zumeist auch bewertet und den Lesern daran anknüpfend immer wieder Ratschläge für das Auftreten im eigenen oder in ausgewählten anderen Ländern gibt, wobei explizit oder implizit auch die Frage nach der Vorbildbeziehungsweise Sinnhaftigkeit von Lebensweisen im Ausland berührt wird. 7 Damit aber – so die Grundannahme – wurde den Lesern zugleich ein bestimmtes Bild von Charakter und Rang fremder Nationen vermittelt, das geeignet war, ihre Grundhaltung diesen gegenüber wie auch ihre Rezeption etwa politischer oder ökonomischer Spannungen zwischen dem eigenen und fremden Ländern zu beein ussen oder gar zu prägen. So gesehen kann die Etiketteliteratur mit Fug und Recht als ein Medium der Außenbeziehungen (im traditionellen Sinne, vergleichbar etwa mit Reiseliteratur und ähnlichen Publikationen) bezeichnet werden. Für die Signi kanz dieses Mediums spricht der bereits erwähnte rasante Anstieg der Publikationszahlen, auch wenn die Auflagenhöhen unklar sind und über die Leserschaft beziehungsweise die Adressaten der Benimmbücher nicht mehr bekannt ist, als dass es sich mal speziell um Jugendliche, mal speziell um Frauen, mal um Menschen jeden Alters und Geschlechts handelte, die einer bestimmten sozialen Schicht angehörten und sich der Konventionen dieser Schicht (und damit auch ihrer eigenen Identität) vergewissern wollten. 8 Abge-
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Marc von Knorring: Militär und Gesellschaft in Anstands- und Benimmliteratur der Wilhelminischen Zeit. Überlegungen zum Nutzen einer vernachlässigten Quellengattung. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N. F. 19 (2009), 217–242. Vgl. zu Hinweisen auf entsprechende Inhalte von Werken der Etiketteliteratur etwa Heckendorn: Wandel, 105 ff. (passim); St. George: The Descent, 138 ff. (passim). Vgl. hierzu wie zu den folgenden Ausführungen über die grundsätzlichen Quelleneigenschaften von Benimmbüchern Knorring: Militär, 222–224, mit weiteren Einzelnachweisen; ergänzend dazu s. Curtin: Propriety, 4 ff. Im hier verfolgten Zusammenhang ist die für die deutsche Etiketteliteratur typische Ausdifferenzierung nach gesellschaftlichen Schichten als Adressatengruppen irrelevant, die im Übrigen für Großbritannien und die USA bislang nicht festgestellt werden konnte (vgl. ebd., 41 ff.; Newton: Learning to
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sehen von Änderungen und Ergänzungen aus eigenem Antrieb, so ebenfalls der Stand der Forschung, erbaten die Verfasser der Umgangslehren Rückmeldungen von ihren Lesern und ließen sie in Neuauflagen ihrer Werke ein ießen, sodass Veränderungen der öffentlichen Meinung, die sich aus anderen Quellen speisten, sukzessive in die Etiketteliteratur Eingang nden konnten. Mit der Zeit bildeten sich freilich auch Verfasser-Leser-Beziehungen aus, die geeignet waren, den Inhalt der Publikationen klientelspezi sch zu beein ussen. Generell ist jedenfalls anzunehmen, dass hier zugleich etwaige tagespolitische Erregungszustände abgemildert oder gar ausgeblendet wurden, da die Benimmbücher nicht wie etwa die Presse kurzfristig auf Verwerfungen in den Außenbeziehungen reagieren konnten, was auch nicht ihre Aufgabe war und mithin sicherlich auch nicht von ihnen erwartet wurde. Insofern liegt nun die Vermutung nahe, dass sich zumindest in denjenigen Werken aus der betrachteten Quellengattung, die über längere Zeiträume hinweg im Abstand von einigen Jahren immer wieder neu aufgelegt wurden, längerfristige Grundeinstellungen gegenüber anderen Ländern und Völkern widerspiegeln und gegebenenfalls substanzielle Veränderungsprozesse deutlich werden. Um diese Annahmen zu überprüfen, wurden drei Benimmbücher ausgewählt – eine deutsche, eine britische und eine US-amerikanische Publikation –, die sich in den für die internationalen Beziehungen sehr bewegten Jahren vor und um 1900 etablierten, zumindest bis in die 1920er Jahre hinein, also über die Zäsur des Ersten Weltkriegs hinweg regelmäßig überarbeitet oder ergänzt und neu herausgegeben wurden und dabei zu den zentralen, hervorstechenden Werken ihres Entstehungs- und Verbreitungsraums gezählt werden können (und daher im Gegensatz zu anderen auch vergleichsweise leicht zugänglich sind). 9 Anhand dieser Benimmbücher soll im Folgenden versucht werden, die Eigenschaften und das Potenzial von Etiketteliteratur als Medium der Außenbeziehungen exemplarisch zu bestimmen, als eine erste Annäherung an diesen Gegenstand. Konkret ist danach zu fragen, 1. welche Bilder fremder Nationen in den Benimmbüchern evoziert werden und inwieweit sie sich im Lauf der Zeit veränderten, 2. welche Rolle dabei gegebenenfalls etwa politische oder ökonomische Entwicklungen, aber auch individuelle Wahrnehmungen und Einstellungen spielten, 3. ob tradierte Klischees oder Stereotype und Verkürzungen in diesen Bildern eine Rolle spielen, die generell für die Konstruktion von Fremd- oder
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Behave, 3; Weller: The Puffery, 664). Vgl. auch die weiteren Ausführungen zu den Zielsetzungen der Untersuchung. – Zur Frage des Zielpublikums von Etiketteliteratur bereite ich eine eigene Studie vor. Näheres hierzu jeweils am Beginn der folgenden Abschnitte in den Anmerkungen.
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Nationenbildern eine immense Bedeutung haben, 10 4. ob sich etwaige Tendenzen zu einer Kodi zierung festgefügter Vorstellungen von anderen Völkern und Nationen erkennen lassen und 5. ob es retardierende Momente gab, die die Ausformung der Darstellungen möglicherweise beein usst haben. Zu beachten sein wird dabei aber schließlich auch, wo die Grenzen der Aussagekraft beziehungsweise der Interpretierbarkeit von Hinweisen auf gesellschaftliche Konventionen und Verhaltensregeln im Ausland liegen, welche Einschränkungen möglicherweise die Form der Darbietung in den Benimmbüchern mit sich bringt und welchen Stellenwert respektive Ein uss die Etiketteliteratur im Vergleich mit anderen zeitgenössischen (Massen-)Medien der internationalen Beziehungen tatsächlich haben konnte.
II. Zunächst ein Blick auf das deutsche Referenzwerk „Der gute Ton in allen Lebenslagen“ von Franz Ebhardt, 1877 erstmals erschienen und bis Anfang der 1930er Jahre immerhin 23 Mal neu aufgelegt. 11 Dieses Etikettebuch enthält auf seinen (je nach Auflage) 600–800 Seiten zunächst zahlreiche verstreute Einzelhinweise auf Sitten und Gebräuche in anderen Ländern, vor allem Frankreich und Großbritannien, die mal als vorbildhaft, mal als nicht nachahmenswert gekennzeichnet werden, ohne dass hier ein einheitliches Bild entstehen würde oder gar
10 Dazu ebenso knapp wie aufschlussreich Lauritz Wichmann: „The Hun is at the gate“. Der Wandel nationaler Stereotypisierungen vor 1914 und die Perzeption des Deutschen Kaiserreichs durch die Entente-Mächte. In: Jürgen Angelow/Johannes Großmann (Hrsg.): Wandel, Umbruch, Absturz. Perspektiven auf das Jahr 1914. Stuttgart 2014, 179–195, hier 179–181. Vgl. ansonsten etwa Alexander Sedlmaier: Deutschlandbilder und Deutschlandpolitik. Studien zur Wilson-Administration (1913–1921) (HMRG Beihefte, 51). Stuttgart 2003, 9ff.; Thomas Wittek: Auf ewig Feind? Das Deutschlandbild in den britischen Massenmedien nach dem Ersten Weltkrieg (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts in London, 59). München 2005, 25 ff.; Stefan Dyroff/Juliette Wedl: Selbstbilder – Fremdbilder – Nationenbilder. Historische und zeitgenössische Beispiele kollektiver Konstruktionen in Europa. Eine Einleitung. In: Juliette Wedl/Stefan Dyroff/Silke Flegel (Hrsg.): Selbstbilder – Fremdbilder – Nationenbilder (Gesellschaft und Kultur, 4). Berlin, Münster 2007, 9–16, hier 9–12. 11 Krumrey: Entwicklungsstrukturen, 35, 676; vgl. Montandon: Bibliographie, Bd. 1: France – Angleterre – Allemagne, 385 ff. Zur Erstausgabe von 1877 vgl. Franz Ebhardt (Hrsg.): Der gute Ton in allen Lebenslagen. Ein Handbuch für den Verkehr in der Familie, in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben. Unter Mitwirkung erfahrener Freunde und autorisierter Benutzung der Werke Madame d'Alq's. 3. Au . Berlin 1878, Vorwort.
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eine geschlossene Charakterisierung der einen oder anderen Nation entstünde. 12 Ebhardt tat jedoch seinen Lesern seit 1884 regelmäßig den Gefallen, im Kapitel „Internationales“ 13 die seiner Meinung nach jeweils wichtigsten Aspekte und auffälligsten Unterschiede zu den Gebräuchen in Deutschland zusammenzufassen. Tatsächlich kommt der Verfasser hier gleich zu Beginn deutlich zur Sache: Frankreich sei zwar das Land „des echten savoir-vivre“ und in seinen Gep ogenheiten seit langem vielfach vorbildhaft für die gesellschaftlichen Umgangsformen in Deutschland, „doch dort, wo bei uns mehr als irgendwo das Herz in Frage kommt, bei Schließung des Bundes für das Leben, hat die kalt berechnende Ader, welche das französische Volk durchströmt, unseren warmen Herzschlag nicht verdrängen können“. 14 Es folgt eine ausführliche Schilderung der Art und Weise, wie eine Ehe in Frankreich angeblich zustande kommt, wobei das Prozedere von den ersten Sondierungen bis hin zu den letzten vertraglichen Vereinbarungen von Nützlichkeitsdenken und materiellen Erwägungen bestimmt sei, während die potenzielle Braut kaum etwas mitzusprechen habe. 15 Kritisiert werden darüber hinaus die generelle Unfreiheit von Mädchen und jungen Frauen in Frankreich, die Unannehmlichkeiten des jour xe für Besucher, die an einem Tag oft weite Wege zurückzulegen hätten, um alle Termine wahrnehmen zu können, sowie schließlich die Sitte, bei Abendeinladungen Personen geringerer gesellschaftlicher Stellung erst für die Zeit nach dem Essen zu bestellen 16 – allesamt Details also, die das Verdikt über die gefühlskalten, berechnenden Franzosen auf die eine oder andere Weise, direkt oder indirekt, unterstreichen. Positiver – und auch viel ausführlicher – werden im „Guten Ton“ die Engländer beschrieben. 17 An verschiedenen Punkten macht Ebhardt hier zunächst eine deutlich bevorzugte Stellung der Frau in Großbritannien fest, sowohl im eigenen Haushalt als auch in der Öffentlichkeit. Des Weiteren gibt er Beispiele für eine gewisse Ungezwungenheit der Briten im Umgang miteinander bei gesellschaftlichen Anlässen, zugleich aber auch für eine besondere Rücksichtnahme auf die Mitmenschen etwa durch das Vermeiden lauten Sprechens oder anstößiger Worte. Schließlich stellt er fest, dass das Titelwesen in England nur gering 12 Vgl. etwa Ebhardt: Der gute Ton. 13. Au . 1896, 9, 37 f., 68, 74, 76, 105, 115–117, 130 f., 149, 151 f., 173 f., 178 f., 193 f., 226, 272 f., 282, 285, 288, 299, 303, 319, 321, 332, 420, 480, 485 f., 511, 538, 590 f., 637 f., 676 f., 725, 730 f. 13 Ebhardt: Der gute Ton. 8. Au . 1884, 745–758. 14 Ebd., 746. 15 Ebd., 746–748. 16 Ebd., 748–750. 17 Zum Folgenden ebd., 750–757.
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ausgeprägt sei, dass man dort aber gerade in den Oberschichten sehr viel Wert auf die gesellschaftliche Distinktion und deshalb auf die Nuancen im Umgang lege und seine Vorrechte peinlich genau zu wahren trachte. Alles in allem entsteht so der Gesamteindruck, dass sich die Engländer durch Kultiviertheit und Distinguiertheit auszeichneten. Geht es um die USA, muss dagegen wieder ein Stereotyp herhalten: Allgemein be nde man sich ja im Zeitalter der Emanzipation, die allerdings „in dem Lande der Freiheit“ bereits erfolgreich zum Abschluss gekommen sei. 18 Diese Bezeichnung ist nun keineswegs positiv konnotiert, denn besondere Freiheiten nehme man sich in Amerika, so Ebhardt weiter, auch im Bereich der Manieren heraus, sodass der in deutschem Benehmen geschulte Reisende keinerlei Schwierigkeiten haben werde, die geringen Standards in Übersee zu erfüllen 19. Von Mitte der 1880er Jahre bis 1900 wiederholte Ebhardt nun seine Ausführungen über die Nachbarländer und die USA weitgehend wortwörtlich; kleinere Ergänzungen etwa hinsichtlich der sukzessiven Übernahme der einen oder anderen französischen oder englischen Sitte in Deutschland sind dabei für das Gesamtbild ohne Belang. 20 Erst die Ausgabe von 1908 zeigt einige Änderungen, wobei zu bemerken ist, dass Ebhardt schon 1901 verstorben war; gleichwohl schien er weiterhin als Herausgeber auf, und auch im Vorwort ndet sich kein Hinweis auf den – vorerst anonym bleibenden – neuen Verantwortlichen. 21 Marginal erscheint es dabei zunächst, wenn jetzt nicht mehr von der „kalt berechnenden Ader“ der Franzosen die Rede ist, sondern von ihrem „kühle[n], berechnende[n] Sinn“ 22, was im Endeffekt auf dasselbe hinauskommen dürfte; im Übrigen blieb die Schilderung der Verhaltensnormen in Frankreich gleich. Wichtiger sind eine Reihe von Ergänzungen zum Bild der Engländer: Die gesellschaftliche Zwanglosigkeit wird nun etwa am Beispiel des 5-Uhr-Tees und der „garden-parties“ stärker betont als zuvor. 23 Außerdem ndet sich hier erstmals ein Einschub von der Länge einer Seite, der den typischen Angehörigen der britischen Oberschicht charakterisiert: Er sei höflich und gutmütig, sehr zurückhal-
18 Ebd. 756 f. (Zitat 757). 19 Ebd., 757. 20 Vgl. Ebhardt: Der gute Ton. 9. Au . 1885, 721 f.; 11. Au . 1889, 650; 12. Au . 1892, 659; 13. Au . 1896, 688; 15. Au . [1900], 696 f. 21 Vgl. zum Sterbejahr Franz Ebhardts den Eintrag im „World Biographical Information System Online“; URL: http://db.saur.de/WBIS (zuletzt abgerufen 25. 2. 2015). Das Vorwort der Ausgabe von 1908 schweigt dazu; als Herausgeber erscheint Ebhardt noch auf dem Titelblatt der 20. Auflage von 1921. 22 Ebhardt: Der gute Ton. 16. Au . [1908], 521. 23 Ebd., 526.
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tend und sich dennoch der Bedeutung seines Vaterlandes bewusst. Sofern er im Ausland hin und wieder eine gewisse Rücksichtslosigkeit an den Tag lege, sei dies aber lediglich Ausdruck seiner „große[n] Sicherheit im Reiseverkehr“, „während der Deutsche eher dazu neigt, bescheiden und unsicher zurückzutreten“, was im „Ebhardt“ mit spürbarer Missbilligung konstatiert wird. Generell benehme sich aber nur der ungebildete Engländer laut und auffällig, was seinen feiner strukturierten Landsleuten peinlich sei, die auch einen Befehl an das Personal noch mit einem „please“ abmilderten; überhaupt be eißigten sich in Großbritannien selbst die Arbeiter einer gewissen Höflichkeit, und sie verstünden sogar, mit Messer und Gabel zu essen, im Gegensatz zu ihren deutschen Standesgenossen. 24 So wird das Englandbild hier noch positiver als zuvor, ja man kann wohl mit Fug und Recht eine gewisse Bewunderung für die Briten aus den Ausführungen herauslesen. Gleich drei neue Seiten widmet der „Gute Ton in allen Lebenslagen“ indes 1908 den Amerikanern, die zwar noch immer im „Land der Freiheit“ verortet, nun aber nicht nur weit ausführlicher gewürdigt, sondern vor allem im Vergleich zu vorher diametral entgegengesetzt beurteilt werden. 25 Von Manierenlosigkeit und ungehobeltem Wesen ist jetzt nicht mehr die Rede, vielmehr sei die früher verbreitete raue Formlosigkeit – die man allenfalls noch in einigen wenigen Grenzprovinzen des äußersten Westens antreffe – inzwischen durch ein neues, informelles Regelwerk beseitigt worden, das sowohl deutsche als auch englische Elemente aufweise und dabei zwar ganz klar auf die demokratische Gesellschaftsform zugeschnitten sei – und insofern auch die feineren europäischen Formen vermissen lasse –, jedoch für ein ausgeprägt gesittetes Verhalten der US-Bevölkerung sorge. Zugleich wird der Gesellschaft eine noch über die britischen Gep ogenheiten hinausgehende, dabei jedoch niemals unsittliche Zwanglosigkeit bescheinigt, vor allem was die Entfaltungsmöglichkeiten junger Frauen und den Umgang der Geschlechter bereits in der Jugend angeht; auch die Stellung der Frau im Privaten und in der Öffentlichkeit sei in den USA noch herausgehobener als in England. Schließlich sei der Amerikaner vorbildhaft im mäßigen Umgang mit Alkohol. Sowohl die letzte Vorkriegsausgabe 26 des „Guten Tons“ (1913) als auch die ersten Auflagen nach dem Weltkrieg enthalten alle diese Urteile und Neuerungen des Jahres 1908 unverändert; lediglich heißt es 1921 zu den Franzosen nicht mehr, dass sie „[d]as Volk des echten savoir-vivre“ seien – sondern dass sie es gewe24 Ebd., 529 f. (Zitate 529). 25 Zum Folgenden ebd., 530–532. 26 Ebhardt: Der gute Ton. 17. Au . 1913, 527ff.
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sen seien, 27 während jedoch die übrigen Ausführungen gleich blieben und sich „Ebhardts“ Frankreichbild damit allenfalls marginal verdunkelte. Mit Blick auf die Umgangsformen in Großbritannien wird dagegen der starke Zug zu gesellschaftlicher Distinktion und zur Höflichkeit als Allgemeingut noch etwas stärker betont als zuvor, 28 sodass auch hier das schon in der Vorkriegszeit etablierte Bild gefestigt erscheint. Die Ausführungen zu den USA blieben unterdessen gänzlich unverändert. Erst die Ausgabe von 1926 29 zeigt wieder eine Reihe von substanziellen Abweichungen; erstmals ndet sich nun mit Martha von Zobeltitz auch eine neue Bearbeiterin auf dem Titelblatt, 30 was schon a priori einen Wechsel in der Ausrichtung erwarten lässt. Die Franzosen 31 werden nun nicht mehr als „kühl“ und „berechnend“ bezeichnet; zwar entspricht dann die Schilderung des Wegs von der Anbahnung bis zur Besiegelung von Eheschließungen in Frankreich der bisherigen Darstellung, doch mit dem Zusatz, dass diese Gep ogenheiten durch die Zeitläufte vielfach aufgeweicht seien. Die übrigen Hinweise zu nicht nachahmenswerten gesellschaftlichen Formen bei den Nachbarn im Westen blieben freilich aufrechterhalten, doch erscheint das Frankreichbild jetzt insgesamt deutlich weniger negativ gefärbt. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die zusätzliche Bemerkung, dass sich in Frankreich und Deutschland in den letzten Jahren gleichartige Entwicklungen im Verhältnis zwischen Mann und Frau ergeben hätten, bedingt durch die Trennung etwa von Eheleuten im Weltkrieg. Die Engländer werden dagegen auch im „Guten Ton“ von 1926 im Prinzip beschrieben wie zuvor; 32 zusätzlich wird nun auch ihnen und nicht mehr nur den Franzosen bescheinigt, die Umgangsformen in Deutschland beein usst zu haben. 33 Eine weitere kleine Änderung zu ihren Gunsten leitet jetzt zugleich zu einer Beschreibung der Verhältnisse in den USA über, 34 die dem seit 1908 immer wieder reproduzierten dezidiert positiven Bild zumindest zwei kleine
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Ebhardt: Der gute Ton. 20. Au . 1921, 527. Ebd., 535. Spätere Auflagen waren bei Abfassung dieses Beitrags nicht verfügbar. Vgl. Krumrey: Entwicklungsstrukturen, 35. Zum Folgenden Ebhardt: Der gute Ton. 21. Au . (neu bearbeitet von Martha von Zobeltitz) 1926, 513–515. 32 Lediglich die „garden-parties“ werden nun nicht mehr als zwanglos, sondern als „fabelhaft elegant“ charakterisiert (ebd., 519). 33 Ebd., 513. 34 Zum Folgenden ebd., 521–524. Analog zum Wegfall des Stereotyps „kühl und berechnend“ bei der Beschreibung Frankreichs werden die USA nun zwar nicht mehr als „Land der Freiheit“ bezeichnet, sondern als „Paradies der Dame“ (ebd., 522), was sich jedoch unmittelbar
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Kratzer zufügt: Hieß es zuvor noch, dass ein Brite, der sich im Ausland ungehobelt benehme, nur ein ungebildeter Mensch sein könne, so heißt es jetzt, dass es sich in diesem Fall um einen Amerikaner handeln müsse! Im Übrigen fröne die Bevölkerung trotz Prohibition ausgiebig dem Genuss von Alkohol. Die übrigen Ausführungen blieben jedoch unverändert, gerade auch zur ausgesprochenen Sittlichkeit der US-Bürger, das Amerikabild damit in seinen wesentlichen Zügen konstant. Von den Nationenbildern her betrachtet, zeigt das deutsche Referenzwerk somit zunächst eine bemerkenswerte Kontinuität, was sein Urteil über Frankreich angeht. Bis 1921, also über fast vier Jahrzehnte hinweg werden die Franzosen hier durchgehend und ohne signi kante Änderungen der Darstellung als „kalt“ oder – nach dem ersten Herausgeberwechsel – zumindest „kühl“ und „berechnend“ beschrieben. Diese Charakterisierung fügt sich in die in Deutschland gängigen Klischees der Zeit um 1900 ein und mag als Ableitung aus dem Stereotyp des dekadenten, sittenlosen Frankreich gedeutet werden. Sie mutet dabei freilich harmlos an gegenüber dem, was sich beide Nationen bisweilen sonst noch vorhielten, 35 und vor allem ist bemerkenswert, dass sie über die politischen Verwerfungen der Zeit vor 1914 und insbesondere über die Zäsur des Weltkriegs hinweg konstant blieb, sich also auch nicht verschärfte. Ein freundlicheres Bild zeichnet dann die Ausgabe von 1926, was sowohl mit dem erneuten Wechsel der für den Inhalt verantwortlichen Person als zugleich auch mit der deutlichen Entspannung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Frankreich nach den
auf die sich anschließenden, bereits bekannten Ausführungen zu den Entfaltungsmöglichkeiten junger Frauen in der amerikanischen Gesellschaft bezieht, die auch jetzt nicht kritisiert werden. 35 Vgl. Marina Allal: ‚Der Feind im Landesinnern`? Zur Verbindung von Antisemitismus und nationalen Stereotypen im Frankreich und Deutschland des 19. Jahrhunderts. In: Michael Einfalt/Joseph Jurt /Daniel Mollenhauer /Erich Pelzer (Hrsg.): Konstrukte nationaler Identität: Deutschland, Frankreich und Großbritannien (19. und 20. Jahrhundert) (Identitäten und Alteritäten, 11). Würzburg 2002, 75–97, bes. 75–85; Michael Kissener: Wie Völker hassen lernen. Deutsche und Franzosen im 19. Jahrhundert. In: Franz J. Felten (Hrsg.): Frankreich am Rhein – vom Mittelalter bis heute (Mainzer Vorträge, 13). Stuttgart 2009, 181–198; speziell zu Dekadenz und Unmoral Michel Grunewald: Frankreich aus der Sicht der Preußischen Jahrbücher (1871–1914). In: Helga Abret/Michel Grunewald (Hrsg.): Visions allemandes de la France /Frankreich aus deutscher Sicht (1871–1914) (Collection Contacts, II/15). Bern, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Paris, Wien 1995, 193–212; Michael Jeismann: Frankreich, Deutschland und der Kampf um die europäische Zivilisation. In: ebd., 5–16, bes. 14.
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Verträgen von Locarno zusammenhängen mag, nicht zuletzt auch in der öffentlichen Wahrnehmung und Meinung. 36 Das Englandbild des „Guten Tons“ war dagegen schon lange vor 1900 ein vergleichsweise positives, was sich 1908 bis zur Betonung britischer Vorbildhaftigkeit steigerte, 1921 bekräftigt und schließlich 1926 nochmals, wenn auch nur geringfügig deutlicher, unterstrichen wurde. Dabei hatte sich das Verhältnis der Deutschen zu Großbritannien bis zum Weltkrieg aufgrund der Rivalität beider Nationen auf politischem, militärischem und nicht zuletzt ökonomischem Gebiet stark abgekühlt und war zumindest ambivalent geworden; Stereotype wie das vom englischen „Krämervolk“, seiner Verschlagenheit und seiner Selbstsucht hatten dabei Konjunktur. Unterdessen erhielt sich aber parallel dazu eine schon früh im 19. Jahrhundert aufgekommene Bewunderung für den Lebensstil im Vereinigten Königreich, die sich, wie eben auch der „Gute Ton“ und seine wechselnden Herausgeber zeigen, als besonders stark und dauerhaft erwies, 37 selbst über den Bruch des Weltkriegs und seine an Erbitterung herausragenden Propagandaschlachten 38 hinweg. Die USA wiederum wurden zunächst als „Land der Freiheit“ von Ebhardt ebenfalls mit einem seinerzeit gängigen Stereotyp belegt, das in der deutschen Öffentlichkeit tatsächlich vor allem auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezogen wurde und dabei freilich entweder positiv oder negativ konnotiert war. 39 Ebhardts bis 1900 konstante abwertende Stellungnahme ist damit also nichts 36 Vgl. Verena Schöberl: Two „Naughty Siblings“. France and Germany in the Public Discussion of the Interwar Period. In: Carine Germond/Henning Türk (Hrsg.): A History of Franco-German Relations in Europe. From „Hereditary Enemies“ to Partners. New York, Basingstoke 2008, 113–123. 37 Vgl. Editha Ulrich: „Old England for ever!“ England in den Wahrnehmungen und Deutungen deutschsprachiger Reisender 1870/71–1914 (Quellen und Forschungen zur Europäischen Kulturgeschichte, 1). Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Brüssel, New York, Oxford, Wien 2009, bes. 192–249; Dominik Geppert: Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts in London, 64). München 2007, passim; Christoph Jahr: „Das Krämervolk der eitlen Briten“. Das deutsche Englandfeindbild im Ersten Weltkrieg. In: ders./ Uwe Mai/Kathrin Roller (Hrsg.): Feindbilder in der deutschen Geschichte. Studien zur Vorurteilsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Dokumente, Texte, Materialien, 10). Berlin 1994, 115–142, hier 115–121; Peter Wende: Models of Britain for Nineteenth-Century Germany. In: Arnd Bauerkämper /Christiane Eisenberg (Hrsg.): Britain as a Model of Modern Society? German Views (Beiträge zur England-Forschung, 56). Augsburg 2006, 25–39, bes. 33 ff. 38 Vgl. etwa Jahr: „Das Krämervolk der eitlen Briten“, 121–139. 39 Vgl. Alexander Schmidt: Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich. Berlin 1997, 109.
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anderes als eine Parteinahme für die schlechtere der beiden Sichtweisen; deutlich knüpft er hier auch an weitere gängige Vorurteile wie die des amerikanischen Barbarentums und der Kulturlosigkeit an, die neben anderen seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts kursierten und sich ebenfalls als langlebig erwiesen. 40 Diese Parteinahme kehrte sich dann mit dem ersten Verfasserwechsel um und von 1908 bis 1921 lässt sich ein bemerkenswertes Abweichen, ja eine Negierung dieser Klischeebilder beobachten. Dabei bezog der „Gute Ton“ auch Position zu den seinerzeit aktuellen Debatten um die Stellung der Jugend und der Frauen in der amerikanischen Gesellschaft, 41 wobei er diesmal eben Partei für die positive Bewertung der „freiheitlichen“ Verhältnisse nahm. Nichts ndet sich in diesem Benimmbuch unterdessen von der in Deutschland durchaus verbreiteten Einschätzung des Konkurrenten USA als „Gefahr“ oder „Herausforderung“, 42 nichts ist außerdem zu merken von den politischen Spannungen zwischen den beiden Mächten seit 1898, die nach 1903 nachließen, doch unterschwellig bestehen blieben, 43 nichts schließlich auch von den massiven Verwerfungen im Weltkrieg. 44 Und auch Mitte der 20er Jahre blieb das positive Bild der USA im „Guten Ton“ weitgehend erhalten, und das trotz immer lauter werdender Kritik an amerikanischer Geistlosigkeit, an Kulturlosigkeit, an Materialismus und Ähnlichem und auch trotz einer zumindest in Teilen der deutschen Gesellschaft zunehmenden Furcht vor einer „Amerikanisierung“ der heimischen Verhältnisse im Sinne einer zunehmenden wirtschaftlich-technischen Rationalisierung des Lebens. 45
40 Vgl. Undine Janeck: Zwischen Gartenlaube und Karl May. Deutsche Amerikarezeption in den Jahren 1871–1913 (Berichte aus der Geschichtswissenschaft). Aachen 2003, 357 ff.; vgl. auch Schmidt: Reisen, 154 ff.; Wolfgang Helbich: Different, But Not Out of This World: German Images of the United States Between Two Wars, 1871–1914. In: David E. Barclay/ Elisabeth Glaser-Schmidt (Hrsg.): Transatlantic Images and Perceptions. Germany and America since 1776 (Publications of the German Historical Institute, Washington D.C.). Cambridge, New York 1997, 109–129 (passim). 41 Schmidt: Reisen, 190 ff. 42 Vgl. ebd., 275 ff. 43 Vgl. Gerhard Th. Mollin: Amerikanische Spiegelungen – Das Deutschlandbild in den USA 1870–1918. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 26 (1997), 75–120, hier 95 ff. 44 Vgl. Peter Krüger: Germany and the United States, 1914–1933. The Mutual Perception of Their Political Systems. In: David E. Barclay /Elisabeth Glaser-Schmidt (Hrsg.): Transatlantic Images and Perceptions. Germany and America since 1776 (Publications of the German Historical Institute, Washington D.C.). Cambridge, New York 1997, 171–190, hier bes. 173 ff. 45 Vgl. Bernd Weisbrod: Das doppelte Gesicht Amerikas in der Weimarer Republik. In: Frank Kelleter/Wolfgang Knöbl (Hrsg.): Amerika und Deutschland. Ambivalente Begeg-
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„Der gute Ton in allen Lebenslagen“ zeigt somit in seinen Bildern fremder Nationen innerhalb eines verhältnismäßig großen Zeitraums durchaus Veränderungen, die jedoch von tagesaktuellen Entwicklungen der Politik und der öffentlichen Meinung weitgehend unbeein usst erscheinen. Wichtiger waren augenscheinlich die individuellen Einstellungen und das Gutdünken der wechselnden Herausgeber, die sich gleichwohl ganz offensichtlich innerhalb grundsätzlicher, längerfristiger Debatten positionierten und dabei keineswegs immer dem Mainstream folgten – was schon insofern keine triviale Erkenntnis darstellt, als ja Etiketteliteratur a priori den Anspruch erhebt, die Realität zu beschreiben. Dieser Ein uss persönlicher Wahrnehmungen und Rücksichtnahmen konnte, wenn es zu einem Verfasserwechsel kam, als retardierendes Moment bei der Verfestigung bestimmter Nationenbilder wirken. Doch ist alles in allem eine bemerkenswerte Konstanz der Schilderungen festzustellen, die zumindest Ansätze einer Kodi zierung erkennen lassen, wobei Klischeebilder und Stereotype eine deutliche Rolle spielten. Unterstrichen wird dieser Befund durch eine Passage im Kapitel „Internationales“, die hier noch nicht erwähnt wurde: Von 1884 bis 1926 vermerkte der „Gute Ton“ durchgehend und unverändert, dass „in den südlichen Ländern“, also wohl vor allem in Italien und Spanien, grundsätzlich dieselben Regeln gelten würden wie in Deutschland beziehungsweise Mitteleuropa, wobei jedoch „ihre konsequente Durchführung bei den leichtlebigeren Völkern des Südens kaum erwartet werden“ dürfe. 46
III. Nun ein Blick nach Übersee, in die USA. Hier sticht aus zahlreichen Veröffentlichungen zu den gesellschaftlichen Benimmregeln die „Encyclopaedia of Etiquette“ von Emily Holt hervor, die im Jahr 1901 und damit eher spät zum ersten Mal erschien, sich dafür aber als vergleichsweise langlebig 47 erwies und bis 1923 mindestens 21 Auflagen erfuhr. 48 Spätestens ab 1905 enthielt dieses knapp 500 Seiten starke Werk ein abschließendes Kapitel „Etiquette in Foreign Coun-
nungen. Göttingen 2006, 194–210; Frank Kelleter: „We never cared for the money“: Geld und die Frage kultureller Identität in transatlantischer Perspektive. In: ebd., 30–53, hier 34– 36. 46 Ebhardt: Der gute Ton. 8. Au . 1884, 757; vgl. Ebhardt: Der gute Ton. 21. Au . (neu bearbeitet von Martha von Zobeltitz) 1926, 525. 47 Vgl. die Bibliogra e bei Newton: Learning to Behave. 48 Emily Holt: Encyclopaedia of Etiquette. What to write, what to wear, what to do, what to say. A Book of Manners for Everyday Use. New York 1901.
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tries“ 49, in dem auf die Gebräuche in Frankreich, England und Deutschland eingegangen wird – und das sich zunächst in allen Ausgaben bis einschließlich 1915 auf exakt denselben Seitenbereich erstreckt, was für sich genommen schon eine gewisse Konstanz in den Ausführungen vermuten lässt. Tatsächlich werden hier zunächst die Franzosen 50 über zehn Jahre hinweg ohne jegliche Änderung im Detail immer wieder als ein Volk von ausgesuchter Höflichkeit und Distinguiertheit beschrieben, dessen Angehörige sehr viel Wert auf den korrekten Gebrauch von Anreden und Titeln legen, sich bei jeder Gelegenheit verbeugen und gegebenenfalls den Hut ziehen, auf der Straße wie im Bahnabteil Rücksicht aufeinander nehmen, und zwar unabhängig von Rang und Stand des jeweiligen Gegenübers – alles Dinge, die man als Amerikaner unbedingt beachten müsse, um nicht unangenehm aufzufallen. Gleiches gelte für die angeblich stark formalisierte französische „Dinner Etiquette“, die beispielsweise vorsehe, Servietten nach dem Gebrauch zusammenzufalten und nicht etwa nach amerikanischer Sitte zerknüllt auf dem Teller zu hinterlassen. Korrespondierend dazu warnt Holt ihre Leser auch davor, bei Hochzeiten in Frankreich mit Reis oder alten Schuhen nach dem Brautpaar zu werfen. In England dagegen, so heißt es in der „Encyclopaedia“ weiter, 51 seien die Benimmregeln fast identisch mit denen in den USA und die Unterschiede vernachlässigbar, sodass man hierauf nicht weiter eingehen müsse – mit einer Ausnahme, nämlich der in Großbritannien gesellschaftlich entscheidenden peinlich korrekten Verwendung von Adels- und sonstigen Titeln. Diesem Aspekt und seinen Facetten räumt Holt dann mit rund acht Seiten ebenso viel Platz ein wie zuvor der Beschreibung der Sitten in Frankreich, angefangen bei den Regeln für die Anrede von Mitgliedern der königlichen Familie, über den Hochadel, die Geistlichkeit, Anwälte und Staatsdiener bis hinunter zu den Angehörigen bestimmter Berufsgruppen wie etwa den Ärzten. Doch nicht nur das, im Unterabschnitt „Going to Court“ wird dann auch berücksichtigt, was der US-Amerikaner zu beachten hat, falls er in den Genuss einer Audienz bei Hofe kommen sollte, was über den Botschafter in London zu arrangieren sei. Die Ausgabe der „Encyclopaedia“ von 1915 verweist hier in einer Fußnote darauf, dass das Hofleben durch den derzeit herrschenden Krieg unterbrochen worden und seine Wie-
49 Vgl. Holt: Encyclopaedia, Ausgabe von 1909, 451–469, nach der auch im Folgenden zitiert wird. 50 Zum Folgenden ebd., 451–458. 51 Zum Folgenden ebd., 459–466.
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deraufnahme unklar sei, 52 was allerdings für das vermittelte Englandbild ohne Bedeutung ist. Nach dem Krieg erschien die „Encyclopaedia of Etiquette“ dann in einer neuen, zweibändigen Ausgabe, mit nun auch geänderten Seitenzahlen – doch ohne inhaltliche Abweichungen, was zunächst das Frankreichbild anbelangt. Bezüglich der Sitten am Londoner Hof vermerkt die Ausgabe von 1921 nun, dass es in den vergangenen Jahren zwar kriegsbedingte Einschränkungen gegeben habe und man in der königlichen Familie inzwischen schlichtere Formen bevorzuge, eine Normalisierung im Sinne einer Rückkehr zu den alten Formen aber wahrscheinlich sei. 53 Umso erstaunter mag nun der regelmäßige Leser der „Encyclopaedia“ ein Jahr später gewesen sein, als es in der wiederum einbändigen Ausgabe von 1922 abermals in einer Fußnote hieß, dass das Hofleben durch den derzeit herrschenden Krieg unterbrochen worden und seine Wiederaufnahme ungewiss sei 54 – die Auflagen von 1922 und auch von 1923 entpuppen sich bei näherem Hinsehen sehr rasch als unveränderte Nachdrucke der Ausgabe von 1915! 55 Und so prolongieren auch diese beiden letzten Auflagen des US-amerikanischen Benimmbuchs von Emily Holt nicht nur das bereits sattsam bekannte Frankreichbild, sondern auch das Bild eines auf gesellschaftliche Distinktion immensen Wert legenden Großbritannien, an dem freilich mit keiner Silbe und auch nicht unterschwellig Kritik geübt wird. Für die Beschreibung der Manieren im Deutschen Reich genügen der „Encyclopaedia of Etiquette“ indessen ganze zwei Seiten, 56 was aber wohl kaum als eine offen zur Schau gestellte Geringschätzung dieses Landes, sondern vielmehr als Resultat einer gewissen Überforderung der Verfasserin zu deuten ist. „In Emperor William's country“, so heißt es etwa in der Ausgabe von 1909, „social rules differ slightly in every one of the various smaller Kingdoms and Duchies that compose the whole German empire. In consequence no hard and fast regulations can be laid down as xed and safe to be followed in all parts of the Teutonic land“ 57 (wobei Letzteres keineswegs als spöttische oder in bestimmter Weise quali zierende Bezeichnung interpretiert werden muss, wird Frankreich doch einige Seiten zuvor in vergleichbarer Weise als „Gallic republic“ tituliert 58). Als Beispiele 52 53 54 55
Holt: Encyclopaedia, Ausgabe 1915, 465, Anm. Holt: Encyclopaedia, Ausgabe 1921, Bd. 2, 493–495. Holt: Encyclopaedia, Ausgabe 1922, 465, Anm. Vgl. auch das Impressum der Ausgaben von 1922 und 1923 mit dem Hinweis auf die letzte Überarbeitung im Jahr 1915, nicht etwa 1921. 56 Holt: Encyclopaedia, Ausgabe 1909, 467–469 (vgl. ebd. zu allem Folgenden). 57 Ebd., 467. 58 Ebd., 456.
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für die Unterschiede in den Gebräuchen innerhalb Deutschlands werden dann etwa die Zeiten für Besuche oder die Gep ogenheiten beim Hinterlassen von Visitenkarten genannt, und dem potenziell verzweifelten Reisenden aus den USA werden einige Tipps gegeben, wie er zumindest grobe Fehler vermeiden könne. Ebenso wie in Frankreich und England seien in Deutschland Anreden und Titel enorm wichtig und ihre Regeln unbedingt zu beachten, mit der Abweichung, dass nur hier Ehefrauen die Titel ihrer Männer mitführten. Die Formen der Begrüßung seien ähnlich wie in Frankreich gehalten; anders als dort begegne man in Deutschland allerdings Dienstboten und Personal keineswegs höflich. Das US-amerikanische Referenzwerk vermittelt also kein besonders spezi sches Bild vom zeitgenössischen Deutschen Reich, das hier aber zumindest als ein schwer fassbares Gebilde auftritt, in dem die gesellschaftliche Distinktion noch ausgeprägter zu sein scheint als im übrigen Europa. Gerade am Beispiel der Aussagen über Deutschland wird aber der Charakter der „Encyclopaedia of Etiquette“ als Medium der Außenbeziehungen besonders augenfällig, weil sie hier mit einem Kuriosum aufwartet: Noch in der Auflage von 1915 wiederholte die Verfasserin auch in diesem Fall den Wortlaut der Ausgaben seit 1905. 59 Für die zunächst zweibändige Nachkriegsfassung ihres Benimmbuchs strich sie dann kurzerhand den Abschnitt über Deutschland; das Kapitel „Etiquette in Foreign Countries“ endet hier mit Bemerkungen zum britischen Hofwesen. 60 In der Ausgabe von 1922 heißt es dann wieder, auf derselben Seite wie schon 1915: „In Emperor William's Country“ usw. usf., und auch 1923 ndet sich bei Emily Holt noch die Klage über die unklaren Verhältnisse in dem aus vielen kleinen Königreichen und Herzogtümern zusammengesetzten deutschen Kaiserreich. Die Ausgabe von 1915 wurde also nach kurzer Unterbrechung tatsächlich völlig unverändert nachgedruckt, sodass der unbedarfte amerikanische Leser einen nicht ganz korrekten Eindruck von den politischen Verhältnissen im Zentraleuropa der frühen 1920er Jahre gewinnen musste. Was Frankreich und Großbritannien angeht, ndet sich also in der „Encyclopaedia of Etiquette“ keine Spur von der seinerzeit in Amerika durchaus präsenten Furcht vor einer „Europäisierung der US-Kultur“ oder vor einem unverhältnismäßig großen Ein uss Englands auf die inneren Entwicklungen. 61 Ganz im Gegenteil werden die Franzosen hier als geradezu vorbildhaft (wenn auch hier
59 Holt: Encyclopaedia, Ausgabe 1915, 467–469. 60 Holt: Encyclopaedia, Ausgabe 1921, Bd. 2, 496. 61 Vgl. Adelheid von Saldern: Amerikanismus. Kulturelle Abgrenzung von Europa und US-Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert (Transatlantische historische Studien, 49). Stuttgart 2013, 100 ff. (Zitat 100).
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und da unterschwellig als etwas sonderbar) in ihren Umgangsformen gekennzeichnet, die Briten als engstens verwandt beschrieben, unabhängig von ihrer Fixierung auf Titel und soziale Unterschiede, auf die geradezu respektvoll hingewiesen wird – und dies alles unverändert über immerhin knapp 20 Jahre hinweg. Auch zu den Verhältnissen in Deutschland nimmt die Verfasserin neutral Stellung und ihre Auswahl der wichtigsten Benimmregeln lässt die Spannungen zwischen den beiden Staaten seit um 1900 62 nicht erahnen. In der Breite der US-amerikanischen Bevölkerung dominierte freilich bis 1914 ein ausgewogenes, eher freundliches Deutschlandbild, vor allem mit Blick auf Bildung, Kultur und Sozialgesetzgebung und anderes im Kaiserreich – allerdings nicht mehr nach 1914 63 und erst recht nicht seit 1917. 64 Dennoch blieb die Beschreibung von Emily Holt auf geradezu groteske Weise konstant und nahm von der Zäsur des Jahres 1918 sowie von den neuen Entwicklungen und den bilateralen Be ndlichkeiten in den 20er Jahren, 65 die hier vernachlässigt werden können, erst recht keine Notiz. Alles in allem bestätigt und unterstreicht das amerikanische Referenzwerk somit zentrale Befunde aus der Analyse des deutschen Benimmbuchs, was zum einen die weitgehende Unabhängigkeit von der Tagespolitik und selbst von großen Zäsuren angeht, zum zweiten die hier noch deutlichere Tendenz zur Kodi zierung der Nationenbilder und zum dritten schließlich auch die Bedeutung der Verfasserpersönlichkeit für deren Ausrichtung.
IV. Wiederum anders verhält es sich nun mit dem in der betrachteten Zeit wohl meistgedruckten britischen Benimmbuch, dem 1879 erstmals erschienenen, anonym herausgegebenen Werk „Manners and Tone of Good Society“, seit 1887 „Manners and Rules of Good Society“ betitelt, das bis 1929 bemerkenswerte 48
62 Mollin: Amerikanische Spiegelungen, 95ff. 63 Jörg Nagler: From Culture to Kultur. Changing American Perceptions of Imperial Germany, 1870–1914. In: David E. Barclay /Elisabeth Glaser-Schmidt (Hrsg.): Transatlantic Images and Perceptions. Germany and America since 1776 (Publications of the German Historical Institute, Washington D.C.). Cambridge, New York 1997, 131–154, hier bes. 150 ff. 64 Vgl. Krüger: Germany, bes. 173 ff. 65 Vgl. hierzu etwa Elisabeth Glaser-Schmidt: Between Hope and Skepticism. American Views of Germany, 1918–1933. In: David E. Barclay/Elisabeth Glaser-Schmidt (Hrsg.): Transatlantic Images and Perceptions. Germany and America since 1776 (Publications of the German Historical Institute, Washington D.C.). Cambridge, New York 1997, 191–216.
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Auflagen erfuhr (und dann sowohl 1940 als auch 1955 nochmals erschien). 66 Hier ndet sich kein Kapitel wie bei Ebhardt und Holt, in dem Bilder fremder Nationen konzentriert dargeboten werden würden. Vielmehr geben die „Manners and Rules“ auf ihren gut 300 Seiten an gerade einmal acht Stellen Hinweise darauf, wie es im Ausland gehalten wird – und das ohne signi kante Änderungen zumindest über vier Jahrzehnte und einen Weltkrieg hinweg! Lediglich um 1890 kam im letzten Drittel des Buches der Hinweis hinzu, 67 dass die königliche Familie in Großbritannien den deutschen Brauch bekannt gemacht habe, nach 25 Jahren Ehe die Silberhochzeit zu feiern. Dies sei zwar durchaus interessant und auch poetisch bezeichnet, werde sich aber in England wohl nicht durchsetzen, weil es zu viel Zeit und Geld koste, dem Ehemann zu viel Trubel bereite und seiner Gattin als Anspielung auf ihr Alter unangenehm sei – die Deutschen übertreiben hier also und benehmen sich wenig rücksichtsvoll, so jedenfalls eine mögliche Deutung dieser Bemerkungen. 68 Das bleibt aber auch die einzige Bezugnahme auf die Verhältnisse im Kaiserreich. Lediglich in einem kurzen Abschnitt über den richtigen Gebrauch von Titeln und Anreden werden die wichtigsten Formen und Normen in Frankreich und – weit weniger ausführlich – in Deutschland zur Beachtung empfohlen, 69 was diesen beiden Nationen natürlich einen besonderen Stellenwert zumisst, verbunden freilich mit einer eindeutigen Abstufung im Rang. In Frankreich, so erfährt der Leser außerdem, sei es üblich, ein Abendessen pünktlich zu dem auf der Einladung vermerkten Zeitpunkt beginnen zu lassen und nicht auf Nachzügler zu warten, 70 was aber nicht weiter kommentiert oder bewertet wird. Ansonsten ist in den spärlichen Bemerkungen der „Manners and Rules“ zu den Gebräuchen außerhalb Großbritanniens in der Regel nicht von einem bestimmten Land die Rede, sondern vom „Continent“, wo es diverse Abweichungen in der Etikette zwischen Mann und Frau bei festlichen Anlässen gebe, was ebenfalls nur festgestellt wird. 71 Lediglich an zwei Stellen gibt der Verfasser der „Manners
66 Manners and Tone of Good Society or Solecisms to be avoided. By a member of the aristocracy. 2. ed. London 1880; Manners and Rules of Good Society or Solecisms to be avoided. By a member of the aristocracy. 14. ed. London u. a. 1887. Zur Bedeutung dieses Werks vgl. Curtin: Propriety, 12 und 40f.; Montandon: Bibliographie, Bd. 1, 257 ff. 67 Noch nicht enthalten in Manners and Rules, 15. ed. 1888; spätestens enthalten seit der 21. ed. 1895, 233. 68 Vgl. den Wortlaut in Manners and Rules, 38. ed. 1916, 253; nach dieser Ausgabe wird auch im Folgenden zitiert. 69 Ebd., 57–59. 70 Ebd., 102. 71 Ebd., 105, 112, 206.
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and Rules“ deutlich zu erkennen, dass kontinentaleuropäische Gebräuche ihm missfallen: Obwohl es vulgär sei, Erbsen mit dem Messer zu essen, nde man diese Angewohnheit bei wohlerzogenen Männern auf dem Kontinent häu g; 72 außerdem würde man einander dort beim Händeschütteln zu lange festhalten, ganz anders als beim „hearty English shake of the hand“, das zu bevorzugen sei. 73 Herauslesen lässt sich aus diesen wenigen, punktuellen Bemerkungen wohl allenfalls – überspitzt formuliert –, dass es außer Großbritannien noch andere Länder oder zumindest Ländergruppen gibt, in denen es hier und da anders zugeht, und zwar im Zweifel nicht so kultiviert wie im eigenen Land oder zumindest nicht nachahmenswert. Noch die Ausgabe von 1918 zeigt gegenüber den vorhergehenden keinerlei Änderungen; ergänzend ndet sich hier lediglich der Hinweis, dass der König angesichts der kriegsbedingten Umstände von denjenigen Mitgliedern seiner Familie, die deutsche Namen und Titel tragen, verlangt habe, sich englische Nachnamen zuzulegen, und dass er dementsprechend auch eine Reihe von „Peerages“ verliehen habe 74 – auch dies ohne Kommentar oder etwaige Seitenhiebe auf den Kriegsgegner. Die nachweisbar nach dem Krieg erschienenen Auflagen 75 der „Manners and Rules of Good Society“ standen für diesen Beitrag nicht zur Verfügung, doch ist angesichts aller übrigen Befunde mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sich der Blick über den Kanal auch in dieser Zeit nicht wesentlich verändert haben wird. Die äußerst spärlichen, knappen Erwähnungen und Wertungen der Sitten und Gebräuche in wenigen anderen Ländern korrespondieren jedenfalls mit einem verbreiteten, lange anhaltenden allgemeinen Überlegenheitsgefühl der Engländer gegenüber den Kontinentaleuropäern, 76 von den USA offenbar ganz zu schweigen. Bemerkenswert ist aber auch hier die Konstanz bis 1918, ungeachtet der inzwischen zutiefst deutschfeindlichen Atmosphäre in Großbritannien, die sich teilweise auch schon vor dem Krieg auszubilden begann, insbesondere seit 1890. Dabei waren die Engländer tendenziell ängstlich gegenüber der deutschen Konkurrenz in der Welt und belegten die Rivalen ihrerseits mit diversen Stereotypen, von denen das der barbarisch-brutalen „Hunnen“ wohl das bekannteste
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Ebd., 120. Ebd., 227. Manners and Rules, 39. ed. 1918, 64. So etwa Manners and Rules, 41. ed. 1920; 42. ed. 1921; 48. ed. 1929. Vgl. Jeremy Black: Convergence or Divergence? Britain and the Continent. Basingstoke, London 1994.
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sein dürfte 77 – all dies kommt in den „Manners and Rules“ nicht zum Ausdruck, sodass schließlich auch das britische Beispiel die bisherigen Erkenntnisse über die Etiketteliteratur generell in zentralen Punkten – Widerspiegelung längerfristiger Grundhaltungen, Losgelöstheit von der aktuellen Lage, Tendenz zur Kodi zierung – bestätigt.
V. Die exemplarische Untersuchung dreier in ihrer Konzeption durchaus deutlich voneinander abweichender Benimmbücher aus Deutschland, Großbritannien und den USA hat hinlänglich gezeigt, dass das Genre der Etiketteliteratur als Medium der Außenbeziehungen zumindest in den Jahrzehnten von ca. 1880 bis gegen 1930 grenzübergreifend eine Reihe gemeinsamer konstitutiver Merkmale aufwies. Die Bilder fremder Nationen, die hier entworfen und den Lesern vermittelt wurden, zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Konstanz aus, die einer Kodi zierung zumindest nahekommt, stellenweise sogar gleicht. Zum Tragen kamen dabei vor allem längerfristige Grundhaltungen gegenüber dem jeweils betrachteten anderen Land und seiner Bevölkerung und nicht zum wenigsten tradierte Klischees und Stereotype. Stimmungsumschwünge vor dem Hintergrund tagespolitischer Ereignisse und Entwicklungen und sogar die große Zäsur des Ersten Weltkriegs mit ihren mannigfachen Verwerfungen in den internationalen Beziehungen traten dagegen in ihren Auswirkungen fast völlig zurück. Diskontinuitäten in den Darstellungen zeichnen sich vielmehr dort ab, wo es zu einem Wechsel des Verfassers beziehungsweise Herausgebers kam, dessen Entscheidung für ein bestimmtes Bild einer anderen Nation generell ausschlaggebend war, 77 Vgl. John Ramsden: Don't mention the war. The British and the Germans since 1890. London 2011, 1–133; Richard Scully: British Images of Germany. Admiration, Antagonism & Ambivalence, 1860–1914. Basingstoke, New York 2012; Geppert: Pressekriege, passim; Peter Hoeres: Die Ursachen der deutschen Gewaltpolitik in britischer Sicht 1914–1918. Eine frühe Sonderwegsdebatte. In: Frank Becker /Thomas Großbölting/Armin Owzar/ Rudolf Schlögl (Hrsg.): Politische Gewalt in der Moderne. Festschrift für Hans-Ulrich Thamer. Münster 2003, 193–211; John M. MacKenzie: ‚Mutual goodwill and admiration` or ‚jealous ill-will`? Empire and Popular Culture. In: Dominik Geppert/Robert Gerwarth (Hrsg.): Wilhelmine Germany and Edwardian Britain. Essays on Cultural Af nity (Studies of the German Historical Institute London). Oxford, New York 2008, 91–113 (passim); Bernd Sösemann: „auß einem heimlichen Feind einen öffentlichen machen“. Deutschland-Stereotypen der britischen Propaganda im Ersten Weltkrieg. In: Detlev Hellfaier/ Helwig Schmidt-Glintze /Wolfgang Schmitz (Hrsg.): Der wissenschaftliche Bibliothekar. Festschrift für Werner Arnold (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 44). Wiesbaden 2009, 293–308.
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ungeachtet des Postulats von der Abbildung der Realität, das jedem Benimmbuch vorausging. Dabei kam es erkennbar nicht auf die jeweils in Politik und Gesellschaft vorherrschende Mehrheitsmeinung an, was zugleich den Schluss nahelegt, dass auch und gerade im Zusammenhang mit Bildern fremder Nationen die für jede Publikation aus dem Bereich der Etiketteliteratur vorhandene Leserklientel mit ihren spezi schen Einstellungen 78 eine wichtige Rolle gespielt hat (was dann auch die wahrscheinlichste Erklärung für die ansonsten merkwürdig anmutende Rückkehr der „Encyclopaedia of Etiquette“ zur Fassung von 1915 in den frühen 1920er Jahren darstellt). Insofern mögen die Bilder fremder Nationen in der deutschen, englischen und amerikanischen, aber auch etwa in der französischen oder italienischen Etiketteliteratur von Werk zu Werk variieren, was freilich mit dem jüngst unterstrichenen Befund korrespondierte, dass in der Regel von einer Pluralität der innerhalb eines Landes generell kursierenden Bilder fremder Nationen ausgegangen werden muss; 79 hierüber könnte natürlich erst die Untersuchung eines größeren Quellenkorpus genaueren Aufschluss geben. Entscheidend ist jedoch im hier verfolgten Zusammenhang die Feststellung, dass offensichtlich jedes Benimmbuch geeignet war, bestimmte Bilder fremder Nationen zu vermitteln und zu verfestigen, auch wenn, wie im sicherlich extremen Beispiel der „Manners and Rules of Good Society“, die aufmerksame Lektüre des ganzen Werks erforderlich war, um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie es jenseits der Grenzen des eigenen Landes (angeblich) zugeht. Dabei wurden freilich, wie zumindest die hier betrachteten Publikationen zeigen, in der Regel keine vollständigen Bilder vom „Nationalcharakter“ anderer Völker geboten, sondern lediglich Teilaspekte davon, die naturgemäß im engeren oder weiteren Sinne mit dem Bereich der „Manieren“ und der Umgangsformen zusammenhängen, wobei allerdings Urteile wie das über die „kalten“ und „berechnenden“ Franzosen oder die aus amerikanischer Sicht streng hierarchisch denkenden Engländer durchaus auch erkennbar darüber hinausgehen und die betrachtete Gesellschaft im Ganzen, wenn auch knapp, charakterisieren. Alles in allem erscheint das Genre der Etiketteliteratur vor diesem Hintergrund einerseits als Ergänzung zu anderen Medien der Außenbeziehungen, die Bilder oder Eindrücke vom Staatswesen, von den politischen Verhältnissen oder dem militärischen Potenzial anderer Länder vermittelten, andererseits als Bestätigung oder auch als mögliches Korrektiv zu solchen, die ausführlicher auf 78 Vgl. besonders die Ergebnisse bei Knorring: Militär, 237 ff. Zu dieser Frage bereite ich eine eigene Studie vor. 79 Vgl. Wichmann: „The Hun is at the gate“, 181.
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Lebensweisen und soziale Verhältnisse im Nachbarland oder in Übersee eingingen. 80 Dass die Benimmbücher dabei rein quantitativ etwa hinter der Presse als Massenmedium 81 zurückstehen mussten, liegt auf der Hand, während ihr Rang im Vergleich zu Reiseberichten, literarischen Schilderungen oder auch Schulbüchern 82 angesichts der eingangs konstatierten Publikationswelle seit dem späteren 19. Jahrhundert erst noch geklärt werden müsste, ganz abgesehen von Nachweisen tatsächlicher Rezeption und Wirksamkeit. Dass Etiketteliteratur vor und um 1900 sowie darüber hinaus international ein Medium der Außenbeziehungen mit ganz eigenem Charakter und ganz spezi schen Merkmalen darstellte, wobei vor allem ihr Potenzial zur Verfestigung bestimmter Grundhaltungen gegenüber anderen Nationen hervorsticht, hat diese Untersuchung jedenfalls zeigen können.
80 Vgl. etwa zur Vielschichtigkeit des deutschen Frankreichbilds neben der o.a. Literatur auch Mark Hewitson: National Identity and Political Thought in Germany. Wilhelmine Depictions of the French Third Republic, 1890–1914. Oxford 2000. 81 Zur immensen Bedeutung der Presse für die Rezeption des jeweils anderen Landes am Beispiel der durch die Zeitungsberichterstattung beider Seiten maßgeblich mitverantworteten Verschlechterung der deutsch-britischen Beziehungen seit Mitte der 1890er Jahre vgl. Geppert: Pressekriege. 82 Vgl. die oben jeweils im Zusammenhang mit der Entwicklung der Beziehungen zwischen den betrachteten Ländern angemerkte Literatur.
Patrick Merziger
Humanitäre Hilfsaktionen der Bunderepublik Deutschland (1951–1991) als Medium der Außenbeziehung Von der Beziehungsp ege zur Intervention
Während aktuelle humanitäre Hilfsaktionen in Katastrophenfällen einer durchaus kritischen Musterung in den Politik- und Sozialwissenschaften unterzogen werden, 1 galten sie bis 1991 als unproblematisch. Helfer und Unterstützer beschreiben die Zeit vor 1992 gar als ein „golden age of humanitarianism“, in dem sie noch ganz ohne politische Ein ussnahmen dem reinen Impuls der Menschlichkeit zu seinem Recht verhalfen. 2 Für viele Beobachter traten die politischen Implikationen der Hilfe erst mit dem komplizierten Einsatz in Somalia 1992 offen zutage, den eine von den USA geführte Koalition mit einem großen Militäraufgebot sichern musste. 3 Auch als Politikfeld stand die humanitäre Hilfe vor 1992 nicht im Mittelpunkt des Interesses. Die Aktionen wurden in der Bundesrepublik Deutschland von ad hoc zusammengerufenen Stäben unter Leitung des Auswärtigen Amtes oder des Innenministeriums koordiniert. Einen ständigen Ausschuss zur Koor1
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Didier Fassin /Mariella Pandolfi (Hrsg.): Contemporary States of Emergency. The Politics of Military and Humanitarian Interventions. Brooklyn 2010; Christopher J. Coyne: Doing Bad by Doing Good. Why Humanitarian Action Fails. Stanford 2013; Monika Krause: The Good Project. Humanitarian Relief NGOs and the Fragmentation of Reason. Chicago 2014. Tony Vaux: The Sel sh Altruist. Relief Work in Famine and War. London 2001, 43; David Kennedy: The Dark Sides of Virtue. Assessing International Humanitarianism. Princeton 2004; vgl. auch Rupert Neudeck: Abenteuer Menschlichkeit. Mein Leben für eine gerechtere Welt. München 2009. Wolf-Dieter Eberwein /Peter Runge (Hrsg.): Humanitäre Hilfe statt Politik? Neue Herausforderungen für ein altes Politikfeld. Hamburg 2002; Dieter Janssen: Menschenrechtsschutz in Krisengebieten. Humanitäre Interventionen nach dem Ende des Kalten Krieges. Frankfurt am Main 2008; Lidwien Kapteijns: Test-Firing the „New World Order“ in Somalia. The US/UN Military Humanitarian Intervention of 1992–1995. In: Journal of Genocide Research 15 (2013), 421–442.
Humanitäre Hilfsaktionen der Bunderepublik Deutschland (1951–1991) 491
dination humanitärer Hilfe im Auswärtigen Amt gibt es erst seit 1994, einen eigenen Beauftragten für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe seit 1998. Der eigentliche materielle Wert der humanitären Hilfe bei Katastrophen war verschwindend gering, besonders im Vergleich mit den Beträgen, die für die Entwicklungshilfe eingesetzt wurden. 4 Humanitäre Hilfe in Katastrophenfällen mag deshalb für die Zeit vor 1992 als Fußnote in der internationalen Politik erscheinen. Der Ansatz der public diplomacy und die neuere Diplomatiegeschichte, die sich als internationale Kulturgeschichte versteht, hat nun aber die Bedeutung von außenpolitischen Handlungen als Zeichen in den Mittelpunkt gerückt, die sich an das Gegenüber und die eigene Bevölkerung richten. 5 In neueren kommunikations- und politikwissenschaftlichen Publikationen werden Hilfsaktionen vor diesem Hintergrund als bedeutender Teil einer Außenpolitik gelesen, 6 die in der aufziehenden „international humanitarian order“ 7 ihre „humanitarian spheres of in uence“ 8 absteckte. Die Eigenschaft der Hilfsaktion, in diesem Rahmen ein Zeichen setzen zu können, macht hier ganz zentral ihre Bedeutung im Feld der internationalen Politik und für die Außenbeziehungen aus. Aus dieser Perspektive erschließt der Aufsatz die Bedeutung der Hilfsaktionen als Medium für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und verfolgt den Bedeutungswandel dieses Zeichens in den vier Jahrzehnten des „Kalten Krieges“. Gerade für die junge Demokratie, die sich nach den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands und unter den Bedingungen des „Kalten Krieges“ außenpolitisch neu positionieren musste, hatte die Hilfe als Zeichen den größten Wert. Von Beginn an sah die Bundesregierung in den Aktionen eine Möglichkeit, in der Außenpolitik wieder selbst aktiv zu werden und nach außen 4
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Thomas Henzschel: Internationale humanitäre Hilfe. Bestimmungsfaktoren eines Politikfeldes unter besonderer Berücksichtigung der Bundesrepublik Deutschland. Norderstedt 2006, 238–246. Joseph S. Nye: Public Diplomacy and Soft Power. In: The ANNALS of the American Academy of Political and Social Science 616 (2008), 94–109; Ursula Lehmkuhl: Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte. Theoretische Ansätze und empirische Forschung zwischen historischer Kulturwissenschaft und soziologischem Institutionalismus. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 394–423. Juyan Zhang: Public Diplomacy as Symbolic Interactions. A Case Study of Asian Tsunami Relief Campaigns. In: Public Relations Review 32 (2006), 26–32; Jan Melissen (Hrsg.): The New Public Diplomacy. Soft Power in International Relations. Basingstoke, New York 2005. Michael Barnett: The International Humanitarian Order, Security and Governance Series. London 2010, 2–3. Gary Jonathan Bass: Freedom's Battle. The Origins of Humanitarian Intervention. New York 2009, 360–362.
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den Wandel des Staates zum Besseren sichtbar zu machen. Hilfsaktionen waren ein Mittel, um international Herzen zu gewinnen, aber auch, um sich nach innen als „helfende Nation“ zu präsentieren. 9 Im ersten Teil des Aufsatzes wird der grundsätzlichen Frage nachgegangen, inwieweit die Hilfsaktionen als Medium verstanden werden können, über das außenpolitische Akteure ein Zeichen sandten. Denn gerade bei Katastrophenfällen mag es scheinen, als bestehe grundsätzlich keine große Wahlfreiheit, als sei Hilfe eine natürliche und alternativlose Reaktion auf das Leiden in der Welt. Im zweiten Teil soll es darum gehen, die außenpolitische Bedeutung der Hilfsaktionen in den 1950er und 1960er Jahren zu ermitteln. In diesem Zeitraum zeigte vor allem das Auswärtige Amt großes Interesse und schob in den meisten Fällen die Einsätze an. Im dritten Teil stehen dann die 1970er und 1980er Jahre im Mittelpunkt. Hier verloren die Hilfsaktionen zwar nicht als Medium der Außenbeziehungen, aber als Medium der Außenpolitik an Bedeutung. Denn bei der Gestaltung der Außenbeziehungen traten mit den Massenmedien, die seit den 60er Jahren intensiv Außenpolitik beobachteten, 10 und den zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in den 70er Jahren mit dem Schlagwort des „Internationalismus“ in unbekannte Weiten drängten, 11 neue Akteure auf die Bühne. Sie bestimmten zunehmend, wo, wann, wem und wie geholfen werden sollte, und dieser Wandel bei den Auslösern veränderte die Bedeutung der Hilfsaktionen tiefgreifend.
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Vgl. für die USA Jeffrey Crisp: Humanitarian Action and Coordination. In: Thomas George Weiss /Sam Daws (Hrsg.): The Oxford Handbook on the United Nations. Oxford 2008, 479–495; für die Blauhelmeinsätze Kanadas Jan Erik Schulte: Ein nationaler Weg: Kanada und die Schaffung der UN-Blauhelme in der Suez-Krise 1956. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 68 (2009), 49–74. 10 Frank Bösch /Peter Hoeres: Im Bann der Öffentlichkeit? Der Wandel der Außenpolitik im Medienzeitalter. In: dies. (Hrsg.): Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2013, 7–35; Peter Hoeres: Außenpolitik, Öffentlichkeit, öffentliche Meinung. Deutsche Streitfälle in den ‚langen 1960er Jahren`. In: Historische Zeitschrift 291 (2010), 689–720. Sönke Kunkel: Empire of Pictures. Global Media and the 1960s Remaking of American Foreign Policy. New York 2015. 11 Dorothee Weitbrecht: Aufbruch in die Dritte Welt. Der Internationalismus der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 2012; Akira Iriye: Cultural Internationalism and World Order. Baltimore 1997.
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I. Die humanitäre Hilfe als Medium der Übermittlung und Verständigung Es setzt erst einmal ein breites Medienverständnis voraus, im Zusammenhang der humanitären Hilfe von einem Medium sprechen zu können. Der in der Kommunikationswissenschaft etablierte Begriff des Mediums trägt aber durchaus, wenn er nicht apodiktisch auf die Massenmedien beschränkt wird. Er bezeichnet hier zunächst ein Mittel der Verbreitung, das der „Übermittlung von kommunikativen Äußerungen über die räumlichen oder (raum-)zeitlichen Grenzen direkter Kommunikation hinaus“ dient. 12 Das Mittel basiert auf einer bestimmten Technik, worunter in einer allgemeinen De nition die Verfahren und Institutionen zu verstehen sind, die in Handlungszusammenhängen als Mittler eingesetzt werden können. Insofern kann humanitäre Hilfe als konventionalisiertes Handlungsmuster in den internationalen Beziehungen, über das eine Verbindung hergestellt wird, durchaus als Medium gelten. Die konkrete Hilfsaktion innerhalb dieses Mediums ist dann in einem zweiten Sinne des Begriffs ein Medium. Er bezeichnet nicht nur den Übertragungskanal, sondern zugleich die Mittel der Verständigung. Gemeint sind damit „Zeichen und Zeichensysteme, die es überhaupt erst ermöglichen, Gedanken oder Bedeutungen sozusagen in materielle, übertragbare beziehungsweise wahrnehmbare Signale umzusetzen, denen sich dann (konventionalisierte) Bedeutungen zuordnen lassen.“ 13 Die einzelne Hilfsaktion setzte ein Zeichen, die Sender nutzten sie, um mit ihr etwas auszudrücken. Um aber bei den einzelnen Hilfsaktionen wirklich von einem „Zeichen“ sprechen zu können, das die Bundesrepublik Deutschland, „der Westen“ und inzwischen auch Staaten der islamischen Welt und China senden wollen, muss man voraussetzen, dass diese Einsätze nicht zufällig ausgelöst wurden, sondern dass die Akteure bewusst zu dem Mittel greifen konnten. Dem steht die gängige De nition von Katastrophen allerdings entgegen. Denn alle Versuche, den Begriff „Katastrophe“ zu de nieren, gehen davon aus, dass die bestimmende Eigenschaft eben darin besteht, dass Katastrophen wie ein „Blitz aus heiterem Himmel“ über uns hereinbrechen. In diesem Konzept ist Hilfe nichts Steuerbares, sondern zwangsläu ges Resultat eines Ereignisses, das sich menschlicher Verantwortung entzieht. Unterschieden wird klassisch allenfalls noch zwischen „natural disasters“ wie Erdbeben, Vulkanausbruch, Flut und Dürre und den „man-made
12 Thomas Mock: Was ist ein Medium? Eine Unterscheidung kommunikations- und medienwissenschaftlicher Grundverständnisse eines zentralen Begriffs. In: Publizistik 51 (2006), 191. 13 Ebd.
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disasters“. Letztere werden vom Menschen ausgelöst beziehungsweise sind auf menschliches Versagen zurückzuführen, zum Beispiel Vertreibung und Hunger infolge von Kriegen und Bürgerkriegen oder der Kollaps technischer Strukturen. Sie verlangen nach der klassischen De nition eher Abwägungen, ob einzugreifen sei, während Naturkatastrophen, die außerhalb der menschlichen Verantwortung liegen und unabwendbar erscheinen, eine Verp ichtung zu helfen transportieren, die als unabweisbar erscheint. 14 Diese Vorstellung von der Katastrophe als „Blitz aus heiterem Himmel“ ist zwar weiter konstitutiv für unser alltägliches Verständnis von humanitärer Hilfe als alternativloser Reaktion auf ein negatives Ereignis, sie ist aber in der Forschung inzwischen vielfach hinterfragt worden. Statistiker hoben hervor, dass alle Erdteile in gleichem Maß von negativen Ereignissen getroffen werden. Diese Negativereignisse natürlichen Ursprungs führten aber nur in Regionen, in denen staatliche Strukturen schwach ausgebildet waren oder in denen die technischen und ökonomischen Mittel zur Vorsorge fehlten, zu größten Zerstörungen und hohen Todesraten. 15 Insofern müsse jede Katastrophe, zumindest im 20. Jahrhundert, als ein „man made disaster“ gelten, 16 und wir hätten uns endgültig von der Idee zu verabschieden, dass Katastrophen gottgesandte Prüfungen seien. Vielmehr müsse man Katastrophen und Hilfe immer als politisches Ereignis verstehen, denn sie hätten ihren Grund immer in einer von Menschen gemachten Situation. 17 Aber inzwischen wird nicht nur das Ereignis einer Katastrophe der menschlichen Verantwortung zugerechnet, sondern es wird darauf hingewiesen, dass die Katastrophe als Konzept nicht neutral, sondern das Produkt vielfältiger, vor allem politischer und medialer Zuschreibungsprozesse ist, die im starken Kontrast zu der Erfahrung vor Ort stehen können. 18 Für politische und mediale Akteure kann es im Einzelfall sinnvoll sein, negative Ereignisse als Katastrophe zu beschreiben, auch wenn letztlich immer eine andere Darstellung möglich wäre. Im Fall
14 Peter H. Schuck: Crisis and Catastrophe in Science, Law, and Politics. In: Austin Sarat/ Javier Lezaun (Hrsg.): Catastrophe. Law, Politics, and the Humanitarian Impulse. Amherst 2009, 19–59. 15 David Strömberg: Natural Disasters, Economic Development, and Humanitarian Aid. In: The Journal of Economic Perspectives 21 (2007), 204–205. 16 Adi Ophir: The Politics of Catastrophization. Emergency and Exeption. In: Fassin/Pandolfi: Contemporary States, 59–88. 17 Neil Middleton /Phil O'Keefe: Politics, History & Problems of Humanitarian Assistance in Sudan. In: Review of African Political Economy 33 (2006), 543. 18 Dorothea Hilhorst (Hrsg.): Disaster, Con ict and Society in Crises. Everyday Politics of Crisis Response. Hoboken 2013.
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der USA scheinen in diesen Aktionen mehrere große Stränge politischer Motivationen zusammenzukommen: missionarische Barmherzigkeit, Imperialismus und die Durchsetzung eines westlichen Fortschrittsmodells. 19 Mehrere Autoren bemerkten auch, dass die Darstellung eines negativen Ereignisses als Katastrophe nicht nur vor dem Hintergrund politischer Interessen sinnvoll ist, sondern auch der Logik der Medien entspricht. 20 Denn erst als Katastrophe überspringen die Vorgänge in weit entfernten Ländern, die es generell schwer haben, Repräsentation in unseren Medien zu nden, 21 die Schwelle zum Berichtenswerten. So verstanden sind Katastrophen das Produkt unserer Sicht auf die Welt, das Ergebnis unterschiedlicher politischer Motivationen und der Effekt einer spezischen Medienlogik. Um die Zuschreibungsprozesse deutlich zu machen, ist es instruktiv, Katastrophen zu verfolgen, die statt nden, obwohl die Situation vor Ort kaum diesen Begriff rechtfertigt. So hat zum Beispiel Äthiopien in den letzten Jahrzehnten mehrere Hungerkatastrophen in der Folge von Dürre erlebt. Im Rückblick scheint die Situation Äthiopiens aber viel eher durch eine lang anhaltende strukturelle Krise in der Landwirtschaft gekennzeichnet, die ein dauerhaft schwelender kriegerischer Kon ikt mit Eritrea, in den nördlichen Provinzen des eigenen Landes und mit Somalia noch verstärkte. 22 Suzanne Franks hat im Detail analysiert, wie die spezi sche politische und mediale Situation im Herbst 1984 die Katastrophe entstehen ließ, für die der Wettlauf zweier britischer Fernsehsender um einen spektakulären Bericht konstitutiv war. 23 Lutz Mükke konnte in einer Reportage zur äthiopischen Hungerkatastrophe des Jahres 2000 zeigen, dass
19 Craig Calhoun: The Idea of Emergency. Humanitarian Action and Global (Dis)Order. In: Fassin/Pandolfi: Contemporary States, 29–58; Michael Barnett: Empire of Humanity. A History of Humanitarianism. Ithaca 2013. 20 Jonathan Benthall: Disasters, Relief and the Media. London 1993; Mervi Pantti /Karin Wahl-Jorgensen /Simon Cottle: Disasters and the Media. New York 2012; Simon Cottle: Mediatized Disasters in the Global Age. On the Ritualization of Catastrophe. In: Jeffrey C. Alexander /Ronald Jacobs /Philip Smith (Hrsg.): Oxford Handbook of Cultural Sociology. Oxford 2012, 259–283; Patrick Merziger: Konstruktionen der Katastrophe. Die Rolle der Medien bei der Auslösung und Formierung von Humanitären Hilfsaktionen 1968-1973-1979-1984. In: Arnulf Kutsch /Denise Sommer/Patrick Merziger (Hrsg.): Großbothener Vorträge zur Kommunikationswissenschaft XIV. Bremen 2015, 155–184. 21 Johan Galtung /Mari Holmboe Ruge: The Structure of Foreign News. In: Journal of Peace Research 2 (1965), 64–91. 22 Dawit Wolde Giorgis: Red Tears. War, Famine and Revolution in Ethiopia. Trenton 1989; Peter Gill: Famine and Foreigners. Ethiopia since Live Aid. Oxford 2010. 23 Suzanne Franks: How Famine Captured the Headlines. In: Media History 12 (2006), 291– 312; Suzanne Franks: Reporting Disasters. Famine, Aid, Politics and the Media. London 2013.
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Medienberichte nicht nur zuspitzen, sondern aufgrund eingefahrener Berichterstattungsmuster und politischer Opportunität Katastrophennarrative selbst produzieren können. Hier sei ein örtlich begrenzter Versorgungsengpass schlicht auf ganz Äthiopien hochgerechnet worden. 24 Am Nachbarland Somalia können wir ablesen, dass andersherum nicht notwendigerweise jede Hungersnot infolge einer Dürre zu einer Katastrophe werden muss. Nachdem sich Somalia Ende der 1970er Jahre dem westlichen Bündnissystem zuwandte, läutete 1980 eine erste Hungerskatastrophe den Beginn von immer neuen Hilfsaktionen in den 1980er Jahren ein. 1992 entsandte die UNO angesichts der wiederum katastrophalen Lage sogar Blauhelme nach Somalia, um die Versorgung der Menschen sicherzustellen. Es folgte unter Führung der USA 1993 ein multinationaler Eingreifverband, der in der „Schlacht von Mogadischu“ das bekannte militärische Debakel erlebte. Die nächste große Hungersnot in Somalia zwischen Oktober 2010 und April 2012 kostete 258.000 Menschen das Leben. Nur nahm die westliche Welt das Leiden der somalischen Bevölkerung praktisch nicht mehr wahr, obwohl die Zahl der Hungernden und der Hungertoten größer war als 1992. 25 2014 hätten schließlich aufmerksame Leser denken müssen, eine erneute Hungerkatastrophe habe das Land im Griff; die Vereinten Nationen warnten mehrfach dringlich, 26 und zumindest Norwegen fühlte sich zur Hilfe aufgerufen. 27 Wir, und da schließe ich die Leserin und den Leser mit ein, haben nie wieder etwas von dieser Katastrophe gehört. Für das Fehlen von Katastrophenberichten aus Somalia gibt es natürlich Gründe. Somalia hat im Vergleich zu 1992 sicher an geostrategischer Bedeutung eingebüßt, besonders seitdem die Combined Task Force 151 und die EU-Mission Atalanta vor der Küste Piratenschiffe bekämpfen, aber damit auch eine ständige Militärpräsenz sicherstellen. 28 Gleichzeitig sahen sich die Hilfsorganisationen im Land mit immer größeren Sicherheitsproblemen konfrontiert und sie zogen sich 24 Lutz Mükke: Äthiopien. Der inszenierte Hunger. In: Die Zeit, Nr. 17, 16. 4. 2003, 13–16. 25 Hunger in Somalia fordert 258000 Menschenleben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 102, 3.5. 2013, 8. 26 Humanitäre Hilfe: Uno warnt vor Hungersnot in Somalia. In: Der Spiegel Online, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/uno-warnt-vor-hungersnot-in-somalia-a-954334. html, 19. 2. 2014 (zuletzt abgerufen 6. 12. 2015); U.N. Warns of a Food Shortage 3 Years After Somalia's Famine. In: The New York Times, URL: http://nyti.ms/1taGLE9, 26. 7.2014 (zuletzt abgerufen 6. 12. 2015). 27 Urgent Need for Emergency Relief in Somalia. In: Website Norwegian Ministry of Foreign Affairs, URL: https://www.regjeringen.no/en/aktuelt/relief-somalia/id2001516/, 24. 9.2014 (zuletzt abgerufen 6. 12. 2015). 28 Christian Bueger /Jan Stockbruegger /Sascha Werthes: Pirates, Fishermen and Peacebuilding. Options for Counter-Piracy Strategy in Somalia. In: Contemporary Security
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nach und nach zurück. 2013 verließen schließlich auch die unentwegten „Ärzte ohne Grenzen“ das Land. Sie schätzen die Sicherheitslage als so prekär ein, dass sie dort schlicht keine Hilfe mehr leisten konnten; der Abzug ließ aber auch einen wichtigen Nachrichtenkanal versiegen. 29 Schließlich hielten in dem fraglichen Zeitraum andere Themen die Welt in Atem, 2010 und 2011 das Erbeben in Haiti und die Atomkatastrophe in Fukushima, 2014 die Ebola-Epidemie in Westafrika. Diese Katastrophen, die wir aus unterschiedlichen Gründen als näherliegend wahrnahmen, banden natürlich Kapazitäten in der Berichterstattung, aber auch ganz konkret in der Katastrophenhilfe. Die Katastrophe ist also eine sehr spezi sche Beschreibung und Auffassung von negativen Ereignissen und Vorgängen, die jeweils auch anders hätten beschrieben und aufgefasst werden können. Wo und wann eine Katastrophe statt ndet, ist nicht so sehr an die Situation vor Ort gebunden, sondern von den Interessen und Institutionen der Geberländer abhängig. Insofern sollen hier die Hilfsaktionen nicht als Handlungen verstanden werden, die sich zwangsläu g als Verp ichtung aus einer Ausnahmesituation ergeben. Die Ausrufung der Katastrophe, die dann Hilfe nach sich zieht, ist vielmehr ein Produkt politischer und medialer Zuschreibungsprozesse. Dadurch kann die humanitäre Hilfe als bewusst gesetztes Zeichen gelesen werden, auch wenn die Zuschreibungsprozesse für die einzelnen Akteure in der Situation nicht steuerbar erscheinen.
II. „Großmacht der Hilfsbereitschaft“ – Die außenpolitische Bedeutung der humanitären Hilfsaktionen in den 1950er und 1960er Jahren „Nach einer Mondnacht auf einem stehengebliebenen Deich im Katastrophengebiet zwischen Po und Etsch in der letzten Woche sagte ein Reporter: ‚Italien im Jahr Null.` Ueber [sic] die 75 Kilometer lange, 25 Kilometer breite Wasseröde spukt nachts das Heulen verlassener Hunde, das letzte jämmerliche Muhen verhungernder Kühe. Unmerklich langsam sinkt das Wasser. Schlammbänke kommen zum Vorschein, auf denen Tierkadaver und vereinzelte Menschenleichen stinkend verrotten.“ 30 Policy 32 (2011), 356–381; Karl Sörenson /J. J. Widen: Irregular Warfare and Tactical Changes. The Case of Somali Piracy. In: Terrorism and Political Violence 26 (2014), 399–418. 29 MSF forced to close all medical programmes in Somalia. In: Homepage Médecins Sans Frontières, URL: http://www.msf.org/article243/msf-forced-close-all-medical-programmes-somalia, 14. 8. 2013 (zuletzt abgerufen 6. 12. 2015). 30 Po-Katastrophe. Va bene, va bene. In: Der Spiegel, Nr. 49, 5. 12. 1951, 27–30.
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So dramatisch setzte der Spiegel-Artikel zur Flutkatastrophe in Italien 1951 ein, bei der die junge Bundesrepublik Deutschland zum ersten Mal international zur Hilfe eilte. Mit der Anspielung auf den berühmten Rossellini-Film „Germania anno zero“ (1948) stellte der Spiegel-Reporter umgehend eine Verbindung zu den zerstörten deutschen Städten nach dem Zweiten Weltkrieg und dem laufenden Wiederaufbau her. Nun sei es Zeit zurückzugeben – so wurde hier und in den nächsten Jahrzehnten das zentrale Motiv für die deutsche Hilfsbereitschaft formuliert. Der Bundesverband der Deutschen Industrie und andere, die sich aktiv in der Italienhilfe engagierten, betonten immer wieder ihr eigenes Erleben, auch um zu rechtfertigen, dass sie im Ausland halfen, obwohl in Deutschland noch Viele hilfsbedürftig waren. „Wir wissen aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, wenn weite Kreise der Bevölkerung plötzlich Heim und Arbeitsstätte verloren haben und wie hoch eine schnelle und energische Hilfe zu werten ist.“ 31 Gerade weil diese Hilfe von einstigen Kriegsgegnern gekommen war, fühlten sich die Deutschen verp ichtet, nun auch Katastrophenopfern in aller Welt ungeachtet ihrer Nationalität, Religion und Ideologie zur Seite zu stehen. Die Bundesregierung rief im Fall der Überschwemmung in Norditalien erstmals in ihrer jungen Geschichte of ziell zur Hilfe auf. 32 Dieser Schritt zur Tat war durchaus bemerkenswert, da es bis dahin, sieht man von der klandestin durchgeführten medizinischen Hilfe für das hungernde Sowjetrussland 1921–1923 ab, 33 keine staatlichen Initiativen für Hilfsaktionen außerhalb der Grenzen gegeben hatte. Das Hilfswerk der Evangelischen Kirche betonte, es handele sich bei der Italienaktion um ein „Novum“, „als sich in dem betreffenden Gebiet keine evangelische kirchliche Gemeinschaft be ndet.“ 34 Die Situation erschien im Italien des Jahres 1951 tatsächlich katastrophal. Po und Etsch hatten Ende November große Teile Norditaliens über utet, ganze Städte mussten evakuiert werden, die Behörden rechneten mit bis zu 200.000 31 Bundesverband der Deutschen Industrie, 24. 11. 1951, in Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Nr. 484; vgl. z. B. auch: Die große Flut. Helft den obdachlosen Italienern. In: Die Zeit, Nr. 47, 22. 11. 1951, 6. 32 In den Kabinettsprotokollen wurde festgehalten, dass die Bundesregierung „von dem Aufruf für eine Sammlung abzusehen“ gedenke (187. Kabinettssitzung am 20. November 1951, Hans Booms [Hrsg.]: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung Bd. 4–1951. Boppard am Rhein 1988, 776–777.) In den Unterlagen des DRK und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie ist allerdings durchgängig vom Aufruf der Bundesregierung die Rede, vgl. Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Nr. 484. 33 Dieter Riesenberger: Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1864–1990. Paderborn 2002, 188–189. 34 Hilfswerk der evangelischen Kirche in Deutschland, das Zentralbüro, 27. 11. 1951, in Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Nr. 484.
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Obdachlosen. Besondere Sorge bereitete, dass die Fluten die Ernte weitgehend vernichtet hatten und große Viehbestände umgekommen waren. Das Ackerland der fruchtbaren Ebene, die ganz Italien versorgte, lag unter einer dicken Schicht von Schlamm und schien auf Jahre hinaus unbrauchbar. Insgesamt schätzten die italienischen Behörden die Schäden auf 5 % des Nettoinlandsproduktes. 35 Italien war noch vom Krieg geschwächt und kaum in der Lage, die Menschen zu versorgen. Die internationale Gemeinschaft reagierte umgehend. Hilfslieferungen und -angebote kamen aus elf europäischen Staaten, die Amerikaner und Briten entsandten neben materieller Hilfe Truppen und Flugzeuge, aber auch die Sowjetunion engagierte sich auffallend stark. 36 Der deutsche Botschafter in Rom, Clemens von Brentano, drängte von Beginn an darauf, Italien beizustehen. Es sei moralisch geboten, vor allem aber politisch ein wichtiges Zeichen. Die Bundesregierung könne vor der anstehenden Sitzung der NATO in Rom am 24. November 1951 die Italiener darin bestärken, sich für die Einbindung Deutschlands in eine europäische Verteidigungsgemeinschaft einzusetzen. Man müsse auch sehen, dass die Kommunistische Partei Italiens die Katastrophe als Aufhänger nutze, um das Versagen der christdemokratischen Regierung anzuprangern, und für ihre „Propaganda gegen westeuropäische und Atlantikpolitik der Regierung“ einsetze. 37 Der Generalkonsul in Mailand, Rainer Kreutzwald, ergänzte, dass angesichts des Marzabotto-Prozesses in Bologna, bei dem der SS-Sturmbannführer Walter Reder wegen der Ermordung Hunderter Zivilisten vor Gericht stand, eine Aufhellung der Stimmung dringend vonnöten sei. 38 Insgesamt scheine, so wiederum von Brentano, „eine deutsche Hilfsaktion als Symbol der westeuropäischen Solidarität dringendst erforderlich“. 39 Die Bundesregierung ließ sich schnell überzeugen. Zuerst hatte Konrad Adenauer geplant, deutsche Polizisten einzusetzen, wovon man aber wieder Abstand nahm, da es zu heikel erschien, so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Uniformierte im Ausland auftreten zu lassen. 40 Die Bundesregierung entschied
35 PA AA, B11, Bd. 880. Vgl. auch Josef Schmitz van Vorst: Fünf Jahre wird es dauern. Die Tragödie in der Po-Ebene. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 283, 7.12. 1951, 2. 36 Hermann Behr: Nach der Po-Katastrophe. Die Ratten kommen. In: Der Spiegel, Nr. 50, 12. 12. 1951, 26–29. Vgl. auch PA AA, B11, Bd. 880. 37 Clemens von Brentano, 19.11. 1951, in PA AA, B10, Bd. 1718. 38 Rainer Kreutzwald, 22. 11. 1951, in PA AA, B10, Bd. 1718. 39 Clemens von Brentano, 19.11. 1951, in PA AA, B10, Bd. 1718. 40 Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Nr. 484.
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sich am 20. November 1951 dazu, einen Lazarettzug zu entsenden, 41 und griff damit auf ein Muster zurück, das von „humanitären“ Einsätzen im Zweiten Weltkrieg her bekannt war. 42 Das Auswärtige Amt bemühte sich intensiv, deutsche Waggons mit deutschem Personal zu beschaffen, „weil die Entleihung eines britischen Zuges aus naheliegenden Gründen nicht restlos befriedigt“. 43 Obwohl das Signal, handlungsfähig zu sein, damit nicht sehr überzeugend wirkte, musste letztlich die Britische Rheinarmee dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) mit einem Zug aushelfen. Das DRK stellte dem englischen Team dann aber den deutschen Arzt Leo Nonn, sechs Schwestern und sechs Sanitätshelfer zur Seite. 44 Diese Hilfsaktion stand ganz am Anfang der humanitären Hilfe in Katastrophenfällen, die die Bundesrepublik Deutschland in den folgenden Jahrzehnten leisten sollte. Schon bei dem Einsatz in Italien zeigt sich, warum es plausibel ist, Hilfsaktionen als ein Medium der Außenbeziehungen anzusehen. Im Norditalien des Jahres 1951 stand ganz offensichtlich nicht die Hilfe als solche im Vordergrund. Wie auch in vielen, wenn nicht den meisten Einsätzen danach, scheiterten die Helfer mit ihrem Ziel, den Menschen vor Ort beizustehen. Die Hilfe kam erst gar nicht an, oder die Helfer erreichten den Ort des Geschehens erst, nachdem alles vorbei war, die Maßnahmen waren nicht an die Situation vor Ort angepasst oder erwiesen sich als nutzlos. In Italien konnte der Lazarettzug nicht bis zum Zentrum der Katastrophe vordringen, da die über uteten Teile der Poebene über die Schiene nicht zu erreichen waren. Die Menschen, die die Ärzte und Sanitäter behandeln wollten, waren wenig begeistert. Sie weigerten sich wegen nicht ganz unbegründeter Assoziationen, einen deutschen Zug zu besteigen. „Die Abtransportierten benahmen sich so, als ob sie in ein Konzentrationslager zur Vergasung überführt werden sollten.“ 45 Es habe insgesamt eine feindselige Stimmung geherrscht. Niemand habe den Helfern gedankt, im Gegenteil hätten die Italiener auch in den deutschen Sanitätern die Besatzer erkannt und ihnen auf der Straße in Ferrara nachgerufen: „Heraus mit euch Deutschen“. 46 Auch die überraschende Spendenbereitschaft der deutschen Bevölkerung entwickelte sich schnell zum Problem. Die gutgemeinten Sachspenden, von Kleidung über Pferdegeschirre bis hin zu 41 187. Kabinettssitzung am 20. 11. 1951 (wie Fußnote 32); vgl. Aktennotiz, 22. 11. 1951, in Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Nr. 484. 42 Peter Poguntke: Gleichgeschaltet. Rotkreuzgemeinschaften im NS-Staat. Köln, Weimar, Wien 2010, 156–183. 43 Deesen (DRK), 28. 11. 1951, Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Nr. 4371. 44 Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Nr. 4371. 45 Rainer Kreutzwald, 12. 12.1951, in PA AA, B11, Bd. 880. 46 Ebd.
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Schlauchbooten, waren schlicht nutzlos und verstopften die Transportwege. Das italienische Rote Kreuz bat schließlich, alle Spenden zurückzuhalten. 47 Letztlich kam ein großer Teil der guten Gaben wohl nie in Italien an, zumindest musste das DRK-Generalsekretariat in Bonn auf Anfrage noch Ende Februar 1952 mitteilen, es werde „zur Zeit in einem Zentrallager des DRK in Bayern sortiert“. 48 Aber um die Effektivität der Hilfe ging es eben nicht, auch ein Scheitern der Hilfe konnte ein Erfolg sein. In der Auswertung zeigten sich das Auswärtige Amt und das DRK nämlich hochzufrieden. Das Auswärtige Amt sammelte die Glückwunschtelegramme aus Italien und freute sich, dass die Italiener die deutsche Bereitschaft zur Hilfe richtig interpretierten. 49 Selbst der Generalkonsul aus Mailand betonte, „dass mit der Wiedergabe der obigen unerfreulichen Eindrücke in keiner Weise die deutsche Hilfeleistung in ihrer Richtigkeit in Zweifel gezogen werden soll. [Sie] hat bei der italienischen Bevölkerung den besten Eindruck hinterlassen, der sich politisch außerordentlich günstig auswirkt und keinesfalls überzahlt worden ist.“ 50 Im DRK-Archiv sind diverse Materialen der italienischen Partnerorganisation überliefert, in denen ein Bearbeiter damals stolz die Erwähnungen des deutschen Beitrags mit grünem Strich markiert hat. Angestrichen ist auch eine Karte, die zeigt, aus welchen Teilen der Welt die Hilfe kam. Zumindest hier war die Bundesrepublik Deutschland wieder in der Staatengemeinschaft angekommen. 51 Auch wenn teilweise schon der Wettlauf der „westlichen Welt“ mit dem „Ostblock“ darum, wer sich als besserer Freund in der Not erweisen würde, anklang, so ging es der Bundesregierung doch hauptsächlich darum zu signalisieren, dass die Bundesrepublik Deutschland bereit und – mit Abstrichen, die es zu beheben galt – auch fähig war, auf die internationale Bühne zurückzukehren, und dass man sich einreihen wollte in eine internationale Solidargemeinschaft. Das Motiv, sich seiner Bündnispartner und der Zugehörigkeit zur „westlichen Welt“ beziehungsweise zur Solidargemeinschaft der helfenden Nationen über solche Einsätze bei den näheren oder ferneren Nachbarn zu versichern, ndet sich in den folgenden Jahren immer wieder. Auf Italien 1951 folgten die Niederlande 1953. Das kleine Land hatte eine verheerende Spring ut getroffen. Das Auswärtige Amt, das DRK, die kirchlichen Organisationen und auch die 47 Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Nr. 484. 48 Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes, 26. 2. 1952, in Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Nr. 484. 49 PA AA, B10, Bd. 1718, vgl. auch 187. Kabinettssitzung am 20. 11. 1951 (wie Fußnote 32). 50 Rainer Kreutzwald, 12. 12. 1951, in PA AA, B11, Bd. 880. 51 L'opera di soccorso dela Croce Rossa nelle alluvioni in Italia. O. O. 1952, in Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Nr. 484.
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deutsche Bevölkerung sahen sich wegen der Verheerungen, die man im Zweiten Weltkrieg über den Nachbarn gebracht hatte, besonders verp ichtet, mit der Hilfe zu einer guten Partnerschaft in der Zukunft beizutragen. 52 1956 unterstützte die Bundesrepublik Deutschland dann Österreich bei der Aufnahme von Ungarnüchtlingen. Das Auswärtige Amt sah sich dazu politisch aufgerufen, auch um Stellung gegenüber der sowjetischen Aggression zu beziehen. 53 In den folgenden Jahrzehnten sollten die Verbündeten, ob in Europa oder in der NATO, das Ziel von Hilfsaktionen bleiben. Man sprang immer wieder seinen Freunden bei, so etwa bei den zahlreichen Erdbeben in der Türkei (z. B. 1970 und 1971), in Italien (z. B. 1976 im Friaul) und Griechenland (z. B. 1966 und 1981). In einem zweiten Schritt ging die Bundesrepublik Deutschland mit ihren Hilfsbemühungen schon bald über die Bündnispartner im engeren Sinne hinaus und erweiterte den Radius, innerhalb dessen solche Einsätze denkbar schienen. Nun kamen auch die Länder des Nahen Ostens und der Subsahara, aber vor allem des Maghreb in den Blick. Den Auftakt zu dieser Ausweitung der Einsätze markierte das zerstörerische Erdbeben von Agadir am 2. März 1960, das die gesamte Innenstadt dem Boden gleichmachte. Es starben mindestens 10.000 Menschen, darunter viele französische Staatsbürger und auch deutsche, britische und amerikanische Touristen. Frankreich und die USA unterhielten in Marokko, das erst vier Jahre zuvor seine Unabhängigkeit erlangt hatte, noch Militärbasen und konnten mit ihren Truppen sofort die Rettungsarbeiten unterstützen. Aber auch Italien, Großbritannien und vor allem die Bundesrepublik Deutschland fühlten sich zur Hilfe aufgerufen. Die Hilfe sollte von Beginn an ein Zeichen setzen. Der Botschafter in Rabat, Hansjoachim von der Esch, beobachtete mit seinen Mitarbeitern peinlich genau die Aktivitäten der anderen Staaten und vermerkte, dass praktische Hilfeleistung durch Entsendung deutschen Personals und Materials sicher höher bewertet werden würde als Geldspenden. Die marokkanische Regierung teilte umgehend mit, dass vor allem bei den Seuchenschutzmaßnahmen und der Unterbringung Obdachloser Unterstützung gebraucht werde. Von der Esch erwartete, dass „jede Hilfeleistung auf diesem Gebiet [. . . ] sich auch politisch außerordentlich günstig auswirken“ würde. 54 Die Bundesregierung nahm die Empfehlung zumindest in Teilen auf und entschied sich zu dem aufsehenerregenden Schritt, erstmals die Bundeswehr einzusetzen. Die Lufttransportgeschwader 61 und 62 transportierten ein Feldlazarett mit den kurz zuvor angeschafften französischen Noratlas-Flug52 PA AA, B10, Bd. 1718; Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, HGST 1315. 53 Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Nr. 1177 und 1178. 54 Botschaft Rabat, 5. 3. 1960, in PA AA, B25, Bd. 68.
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zeugen nach Agadir. Insgesamt 140 Soldaten betrieben und sicherten die mobile Krankenstation. 55 Marokko erschien der Bundesrepublik Deutschland besonders bedeutsam, da es unter den Staaten des Maghreb noch am ehesten als Freund des Westens gelten könne. Das Auswärtige Amt warb intensiv um Marokko, 56 allerdings, so vermeldete das Auswärtige Amt 1959, „bildet [Marokko] einen Schwerpunkt der kommunistischen In ltrationsversuche“ und man müsse äußerst vorsichtig im Umgang mit dem Land sein, da ansonsten das Ansehen der Bundesrepublik im ganzen Maghreb leiden würde. 57 Wenn auch das Handelsvolumen bescheiden war, 58 so hatte Marokko für das Auswärtige Amt doch eine große geostrategische Bedeutung. Generell lag Marokko in einer Region, die es aus Sicht des Auswärtigen Amtes zu kontrollieren galt. Mit seiner geogra schen Lage am westlichen Ausgang des Mittelmeers und am Atlantik kam dem Land eine wichtige Rolle als Beobachtungsposten der Aktivitäten der Sowjetunion zu. 59 Der Konsul in Casablanca, Franz Obermaier, erwartete, dass nach einem sowjetischen Vormarsch in Europa die „Süd anke“ entscheidend sein werde, schließlich hätten die Briten im Zweiten Weltkrieg denselben Weg genommen. Gleichzeitig sei Marokko das „Tor zur Sahara“ mit ihren Phosphaten, Eisenerzen, der Kohle, den Kobalterzen und Edelmetallen, es zeichne sich aber auch ab, dass es „Sperrgebiet gegen Afrika“ sein werde. 60 Ganz konkret nutzten die USA die Militärbasen für die Bomberstaffeln des Strategic Air Command, die von Marokko aus Angriffsziele im Warschauer Pakt an iegen sollten und so wichtiger Bestandteil der Strategie waren, die nukleare Bedrohung gegenüber der Sowjetunion aufrechtzuerhalten. 61 Mit großer Sorge verfolgten die Diplomaten deshalb, dass der marokkanische König Mohammed V. darauf drängte, die Militärbasen aufzulösen, und das Jahr 1960 zum „Jahr des Abzuges“ erklärt hatte. Von der Hilfsaktion hatte sich das Auswärtige Amt erhofft, dass sie dem König Argumente gegen die Nationalisten liefern könnte, die eine „Reconquête“ fürchteten. Der Beistand hätte eigentlich der „marokkanischen Öffentlichkeit den Wert der fremden Stützpunkte im eigenen Land“ verdeutlichen sollen. Denn es sei kaum vorstellbar, „welches Ausmass diese Katastrophe noch hätte annehmen können, wäre der französische Marine-
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PA AA, B25, Bd. 68. PA AA, B25, Bd. 83. PA AA, AV, Bd. 5654. Referat 204/205, 30. 10. 1959, in PA AA, B25, Bd. 79. PA AA, AV, Bd. 5431 PA AA, AV, Bd. 5404. [Franz Obermaier], [5. 3. 1960], in BArch BW2/874. PA/AA, B 25, Bd. 79.
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Luftwaffenstützpunkt Agadir nicht intakt geblieben.“ 62 Trotzdem mussten die Franzosen, die als ehemalige Kolonisatoren verhasst waren, aber auch die USA bis 1963 ihre Stützpunkte aufgeben. Auf amerikanischer Seite erklärte man sich den geringen Effekt der Hilfsaktion und anderer ähnlicher Initiativen mit den Eigenheiten der marokkanischen Monarchie. Rückblickend sei es die falsche Strategie gewesen, die Herzen der einfachen Bevölkerung zu gewinnen, da sie für die Meinungsbildung keine Rolle spiele. 63 Trotz dieser Enttäuschungen auf der militärpolitischen Ebene zogen die deutschen Diplomaten, Soldaten und Experten durchweg eine positive Bilanz. Sie hatten zwar auch hier wieder ihren eigentlichen Auftrag, bei der Bewältigung der Katastrophe zu helfen, nur in Ansätzen erfüllen können. Das deutsche Kontingent wehrte sich entschieden gegen den Einsatz in der Seuchenbekämpfung, wo die marokkanische Regierung wiederholt den dringendsten Bedarf meldete. Die deutschen Helfer blieben stattdessen in ihrem Feldlazarett, das in der Katastrophenhilfe nur bedingt nützlich war, da die eigentlichen Opfer des Erdstoßes entweder tot oder von den Amerikanern und Franzosen ausge ogen worden waren. 64 Selbst der Einsatz als allgemeinmedizinische Station für Erkältungskrankheiten und Knochenbrüche gestaltete sich schwierig. Es fehlte Personal, das wenigstens Französisch hätte sprechen können. Die Marokkanerinnen wollten sich nicht von männlichen Ärzten aus dem Ausland behandeln lassen. 65 Die deutschen Logistiker hatten nicht an die muslimischen Speiseregeln gedacht und mussten enttäuscht feststellen: „Die Marros essen ja kein Schweine eisch.“ 66 Trotzdem sei der Einsatz als Symbol ein voller Erfolg gewesen. Die Diplomaten freute besonders, dass König Mohammed V. das Hospital besuchte und seine Anerkennung ausdrückte. Der Kronprinz Hassan habe ausgerufen: „Hier sieht man, dass die Deutschen in solchen Dingen grosse Erfahrung haben!“ 67 Einer möglichen „gezielten Wiederaufbauaktion des ‚Ostblocks` in Agadir mit politischem Hintergrund“ kamen die Diplomaten vor Ort mit dem Hinweis zuvor, dass „die Bundesrepublik Deutschland über erfahrene Enttrümmerungsund Wiederaufbauspezialisten“ verfüge. 68 Tatsächlich entsandte die Bundesrepublik schon am 18. März 1960 den bekannten Geologen Karl Lehmann 62 Botschaft Rabat, 17.3. 1960, in PA/AA, B 25, Bd. 79. 63 I. William Zartman: The Moroccan-American Base Negotiations. In: Middle East Journal 18 (1964), 27–40. 64 PA AA, B25, Bd. 68. 65 BArch BW2/874. 66 Gustav Klüter, 13. 3. 1960, BArch BW2/874. 67 Botschaft Rabat, 10. 3. 1960, in PA AA, B25, Bd. 68. 68 Konsulat Casablanca, 11. 3.1960, in PA AA, B25, Bd. 68.
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(Essen) und den Hafenbauspezialisten Drenkhahn (Lüneburg), gefolgt von drei Städteplanern, die besonders geeignet seien, da sie aus Pforzheim und Dortmund stammten, die bekanntlich im Zweiten Weltkrieg stark zerstört worden waren. 69 Die Bundeswehr hob die freundliche Aufnahme durch die Bevölkerung, die Of ziellen vor Ort und die Militärs der anderen Nationen hervor. Diplomaten und Soldaten war bewusst, dass sie sich in Agadir, dem Ziel des „Panthersprungs“ von 1911, auf vermintem Gelände bewegten. Sie fürchteten, dass ein Einsatz in dieser Stadt als Zeichen kolonialer Ansprüche Deutschlands interpretiert werden könnte. 70 Umso be issener betonten sie, dass das Auftreten in Uniform keinen Anstoß erregte. Typisch ist etwa die Anekdote, dass „einer dieser Geretteten, ein Jude“ ausgerufen habe: „Gottseidank in einem deutschen Lazarett!“ 71 Wichtiger war ihnen aber noch, dass die Zusammenarbeit mit den anderen Armeen reibungslos funktionierte und auf freundlicher Basis ablief. Die Bundeswehr konnte die französische Armee bei der Evakuierung ihrer Staatsbürger unterstützen, die Franzosen halfen bei der Reparatur der Noratlas, die US-Luftwaffe transportierte für die Bundeswehr sperriges Material. 72 Die Soldaten fühlten sich wieder willkommen im Kreis der westlichen Nationen, und auch hier ließen sie in ihre Berichte allerlei lustige Anekdoten ein ießen. Der Botschafter in Madrid berichtete zum Beispiel, dass es bei einer Zwischenlandung in Spanien „an humorvollen Anp aumereien seitens meiner spanischen Freunde, dass wir nun doch deutsche Soldaten nach Spanien gebracht hätten, nicht gefehlt“ habe. 73 Während in Italien noch die Rückversicherung im Vordergrund gestanden hatte, wieder als Staat in der Solidargemeinschaft angekommen zu sein, so markiert der Einsatz in Agadir einen Aufbruch zu neuen Ufern. Dabei wollten das Auswärtige Amt und die Bundesregierung nicht nur defensiv Ein ussversuche der Sowjetunion abwehren, auch wenn der symbolische Kampf gegen den „Ostblock“ gerade auf dem afrikanischen Kontinent durchgängig ein wichtiges Motiv für die Hilfseinsätze blieb. Vielmehr ging es auch darum, wieder in der Außenpolitik aktiv zu werden, neue politische und wirtschaftliche Kontakte zu knüpfen, das eigene Ein ussgebiet auszuweiten und sich Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Hilfsaktionen blieben damit ein Mittel für die Normalisierung der Außenbeziehung nach dem Zweiten Weltkrieg und für die Erweiterung der Reichweite. Der
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PA AA, B25, Bd. 68. Konsulat Casablanca, 9.3. 1960, in PA AA, B25, Bd. 68; vgl. auch BArch BW2/875. Tagebuch der Einsatzgruppe Marokko, 11. 3.1960, in BArch BW2/874. PA AA, B25, Bd. 68; BArch BW 1 21653; BArch BW2/874; BArch BW2/875. Botschaft Madrid, 10. 3. 1960, in BArch BW2/874.
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Stern fasste 1973 diesen Ansatz treffend zusammen: „Die Bundesrepublik ist keine militärische Großmacht, und mit Waffenlieferungen in Krisengebiete haben wir nichts im Sinn. [Mit Hilfsaktionen] hat unser Land die Gelegenheit sich als Großmacht der Hilfsbereitschaft zu bewähren“. 74 Die Auslösung der Hilfseinsätze blieb in den ersten beiden Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen unverändert. Das Auswärtige Amt ergriff bei praktisch allen kurzfristigen Hilfsaktionen die Initiative und schlug vor, wo wann wem und wie geholfen werden sollte. Die Regierung beauftragte die Wohlfahrtsorganisationen, vor allem das DRK, später auch die Caritas, das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche, teilweise auch die Arbeiterwohlfahrt und den Paritätischen Wohlfahrtsverband mit der Ausführung. Diese Organisationen nanzierten sich nur zu einem geringen Teil über Spendengelder und waren auf die staatlichen Zuschüsse angewiesen. 75 Deshalb war es für sie entscheidend, sich gegenüber der Politik als dienstwillig und leistungsfähig auszuweisen, da sie hofften, dieses Image würde sich positiv auf ihre Inlandsaktivitäten auswirken. Zusätzlich konnte die Regierung das Technische Hilfswerk als Katastrophenschutzorganisation des Bundes mit der technischen Unterstützung im Ausland beauftragen. 76 Seit Agadir 1960 stellte die Bundeswehr regelmäßig auf Anweisung Flugzeuge für den Transport bereit und kümmerte sich um die Logistik der Hilfsgüter. 77 Insgesamt war damit in den ersten beiden Jahrzehnten Hilfe im Ausland ein Unternehmen des Staates Bundesrepublik Deutschland. Die Bevölkerung zeigte sich zwar begeistert von der Idee, den Freunden Deutschlands und den entfernten Nächsten beizustehen, und auch die Medien berichteten breit über die Katastrophen und die Hilfsaktionen. Die Initiative ging aber von den staatlichen Stellen und of ziösen Organisationen aus. Dabei legte das Auswärtige Amt größten Wert darauf, dass diese Hilfe „nur auf ausdrücklichen Wunsch der Regierung eines betroffenen Landes“ erfolgen durfte. 78
74 Heiko Gebhardt: „Hilfe!“ In: Stern, 22. 11. 1973, Nr. 48, 36. 75 Peter Hammerschmidt: Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit. Reorganisation und Finanzierung der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtsp ege 1945 bis 1961. Weinheim 2005. 76 Gernot Wittling: Das THW 1950–1975. In: ders. (Hrsg.): Wir helfen. Das THW gestern – heute – morgen. Bonn 2000, 15–42; J. von Arnim: Aus der Arbeit des THW. In: Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (Hrsg.): 20 Jahre Helfen. Ein Rückblick. München 1971, 47– 58. 77 Bernhard Chiari /Magnus Pahl (Hrsg.): Wegweiser zur Geschichte. Auslandseinsätze der Bundeswehr. Paderborn 2010. 78 Bericht der Bundesregierung über die deutsche Humanitäre Hilfe im Ausland 1965 bis 1977. Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/2155, 3. 10. 1978, 5.
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III. Die Wendung nach Innen – Die humanitären Hilfsaktionen unter den Bedingungen der „radikalen Humanität“ in den 1970er und 1980er Jahren Ein Wendepunkt in der Geschichte der außenpolitischen Nutzung der Signale der Menschlichkeit war die Hilfsaktion in Biafra 1968. Der Osten Nigerias hatte sich 1967 von Nigeria abgespalten und sich als selbstständiger Staat den Namen „Biafra“ gegeben. Nigeria blockierte die Provinz und löste so eine gewaltige Hungersnot aus. Die Bundesregierung hatte in den Jahren zuvor enge Beziehungen zu der Zentralregierung Nigerias aufgebaut. Die Bundeswehr arbeitete seit 1963 zusammen mit der Firma Dornier an dem Aufbau einer Luftwaffe in dem Land. Jene unterstützte jahrelang deutsche Firmen mit Hermes-Bürgschaften beim Aufbau deutscher Fabriken in Nigeria, darunter war auch eine Munitionsfabrik. Nigeria hatte sich zum nach Südafrika wichtigsten Handelspartner auf dem afrikanischen Kontinent entwickelt. Das Auswärtige Amt hegte große Hoffnungen, dass sich das Land von der britischen Kolonie zu einer westlich orientierten Demokratie beziehungsweise zu einem stabilen Geschäftspartner entwickeln würde. Vor diesem Hintergrund nahmen die Diplomaten die Sezession von Biafra als gewaltigen Rückschritt wahr. 79 Trotzdem sah sich die Bundesregierung 1968 gezwungen, an der internationalen Hilfsaktion für Biafra teilzunehmen. Der Grund ist in der breiten zivilgesellschaftlichen und medialen Mobilisierung zu suchen. Studenten gründeten 1967 in Deutschland die Studentenvereinigung von Biafra, und mit der Biafra-Union entstand eine Organisation, die in den Kategorien der internationalistischen Studentenbewegung dachte und die Sezession als Kampf gegen den „großen Plan der ökonomischen Wiedereroberung Nigerias“ durch die Kolonialmächte beschrieb. 80 Da Ostnigeria christlich geprägt war, hatten vor allem die Studenten gute Kontakte in die deutschen Gemeinden hinein. Gleichzeitig ging die Regierung Biafras professionell mit den Medien um. Sie soll eine eigene PR-Agentur, die Schweizer „Markpress“, beauftragt haben, um Artikel zu Zielen der Sezessionisten und Berichte über die Situation im Osten Biafras verbreiten zu können. 81 Für eine Pressekonferenz in Biafras Hauptstadt Enugu am 13. März 1967 machten die Sezessionisten den Pressevertretern das großzügige Angebot, sie kostenlos einzu iegen und unterzubringen. 30 Journalisten und ein BBC-Fern-
79 PA AA, B34, Bd. 710. 80 Flugblatt der Biafra Union, Köln, undatiert, PA AA, B34, Bd. 712. 81 Gernot Zieser: Die Propagandastrategie Biafras im nigerianischen Bürgerkrieg (1967– 1970). In: Publizistik 16 (1971), 181–193.
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sehteam folgten dem Ruf. Um die Zensur in Lagos zu umgehen, bot man an, die Berichte über Duala in Kamerun auszu iegen. 82 Die ostnigerianische Regierung baute einen eigenen Radiosender auf. „Radio Biafra“ verbreitete zum Beispiel am 17. August 1968 das Gerücht, dass Nigeria im Rheinhotel Dreesen bei Bonn Söldner für den Kampf anwerbe, darunter auch ehemalige SS-Of ziere. Auf einer Pressekonferenz in München behauptete die Studentenvereinigung von Biafra in Deutschland eine Woche später, es gebe dort ein regelgerechtes Rekrutierungsbüro. 83 Entscheidend war schließlich der Stimmungsumschwung in der deutschen Presse, die sich von der Mobilisierung und der Pressearbeit beeindrucken ließ und von Ende Juli 1968 an spektakuläre Berichte über die Hungersnot brachte. Der Stern ergriff mit einer ausführlichen Fotoreportage Partei für die Sezessionisten, indem er einem verhungernden Kind, das verzweifelt an der Brust der abgemagerten Mutter saugt, ein wohlgenährtes nigerianisches Kind gegenüberstellte. 84 Der Konkurrent Spiegel gab ein Beispiel dafür, wie sich die Berichterstattung innerhalb weniger Wochen um 180 Grad drehte und von Ende Juli 1968 ganz aufseiten Biafras stand. In der Ausgabe vom 1. Juli 1968 nutzte der Spiegel ein Bild von jungen Männern mit bloßem Oberkörper, um die Aufrüstung Biafras zum Krieg zu bebildern. Die Bildunterschrift verkündete: „Biafra-Rekruten bei der Musterung: Mit Waffen aus Europa ein Krieg gegen Kinder und Frauen.“ 85 In der Ausgabe vom 19. August 1968 druckte die Zeitschrift dasselbe Bild in einem leicht veränderten Ausschnitt auf dem Titel. Unter der großen Überschrift „Biafra. Todesurteil für ein Volk“ sollte das Bild nun den „Genozid“ durch Verhungern anprangern und aufrufen, Biafra beizuspringen. 86 Das Aktenkonvolut zum Hilfseinsatz in Biafra, das das Bundesverteidigungsministerium anlegte, beginnt dann auch nicht wie sonst mit einer Anweisung aus dem Auswärtigen Amt oder der Bundesregierung, sondern mit einem Brief des CSU-Bundestagsabgeordneten Konstantin Prinz von Bayern. Er bittet das Verteidigungsministerium inständig, sich in der Hilfe für Biafra zu engagieren. Der Prinz von Bayern beteuerte, dass er um die politischen Probleme wisse, aber die studentischen Unterstützerkreise und seine klassische Klientel in den Kirchengemeinden setzten ihn arg unter Druck. 87 Auch die Bundesregierung zeigte sich
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Legionssekretär Jochum, 20. 3. 1968, PA AA, B34, Bd. 712. PA AA, B34, Bd. 712. Warten auf den Hungertod. In: Stern, Nr. 30, 28. 7. 1968, 18–19. Afrika/Biafra /Lebendig begraben. In: Der Spiegel, Nr. 27, 1. 7.1968, 70–76. Biafra. Todesurteil für ein Volk. In: Der Spiegel, Nr. 34, 19.8. 1968, Titelblatt. BArch BL1/4874.
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bald beeindruckt von der medialen und zivilgesellschaftlichen Mobilisierung. In der Kabinettssitzung vom 24. Juli 1968 durfte der Leiter der Afrika-Abteilung, Harald Graf von Posadowsky-Wehner, noch die Position des Auswärtigen Amtes vortragen: Nach der Dekolonisation setzte die Bundesrepublik Deutschland auf den Erhalt der territorialen Integrität der afrikanischen Staaten und die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. „Die Sezession der Ostprovinz stehe hiermit nicht in Einklang“. Hilfe sei allenfalls „für die bereits von der nigerianischen Zentralregierung besetzten Gebiete der Ostprovinz unproblematisch“ und solle über das nigerianische Rote Kreuz abgewickelt werden. 88 Aber nachdem sich von Ende Juli an die Presseberichte häuften, die das Leiden Biafras in den Vordergrund schoben, weichte das Kabinett die Linie immer weiter auf, bis es schließlich in der Sitzung vom 11. September 1968 direkt gegen die Empfehlungen des Auswärtigen Amtes handelte. Die Regierung entschied, eine Bundeswehrmaschine für die Luftbrücke des Internationalen Roten Kreuzes, das die Sezessionisten direkt versorgte, zur Verfügung zu stellen. 89 In den folgenden Jahren sollten die beiden neuen Akteure, Medien und nichtstaatliche Hilfsorganisationen, immer mehr an Bedeutung für die Auslösung von Hilfseinsätzen gewinnen. Während bei der Hilfsaktion für Biafra die Mobilisierung noch auf einen politischen Akteur zurückzuführen war, die Sezessionisten in Biafra, bestimmen deutsche Medien und deutsche Hilfsorganisationen in den Folgejahren zunehmend, wann wo wem und wie geholfen werden sollte. 90 Beispielhaft für den neuen Ein uss von publizistischen Organen ist die erfolgreiche Kampagne des Sterns 1973/1974 bei der Hungersnot in Äthiopien. 1973 lief bereits eine große internationale Hilfsaktion für die Sahelzone; Äthiopien hatte aber zumindest in der Bundesrepublik Deutschland noch keine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Den Stern erreichte der Hilferuf eines Missionars, der von den ebenso katastrophalen Zuständen in Äthiopien berichtet. Die Redaktion startete daraufhin eine eigene Hilfsaktion für das Land, konnte Prominente für das Kuratorium gewinnen, sammelte selbst Spenden und koordinierte mit ihren Journalisten sogar die Aktion vor Ort. Die Zeitschrift brachte im Heft dann exklusiv spektakuläre Berichte und Fotos, schließlich hatte man die Katastrophe
88 132. Kabinettssitzung am 24. Juli 1968, Michael Hollmann (Hrsg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung Bd. 21–1968. München 2011, 298–300. 89 Ebd., 365. 90 Vgl. dazu ausführlich Merziger: Konstruktionen der Katastrophe; Patrick Merziger: The ‚Radical Humanism` of ‚Cap Anamur`/‚German Emergency Doctors` in the 1980s. A Turning Point for the Idea, Practice and Policy of Humanitarian Aid. In: European Review of History 23 (2016), 171–192.
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ja entdeckt. 91 Der Stern lenkte damit selbst die Aufmerksamkeit auf eine Region, die in der Öffentlichkeit bis dahin nicht vorgekommen war. Das geschah gegen den erklärten Willen der äthiopischen Regierung, die sich jede „sensationelle Berichterstattung“ in der Weltpresse ausdrücklich verbeten hatte. 92 Mit guten Gründen, denn tatsächlich sollte die äthiopische Regierung über diese Hilfsaktion stürzen, da sie das Versagen bei der Versorgung öffentlich machte. Die Bundesrepublik verlor damit einen außenpolitischen Partner. Von nun an bestimmte eine kommunistisch ausgerichtete Regierung die Geschicke des Landes. Ähnlich unbekümmert gingen die neuen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen vor, deren erste sich nach Biafra gründeten. Verdichtet ndet sich diese Ablehnung jeglicher außenpolitischer Erwägung bei dem 1979 gegründeten Verein „Cap Anamur“. Sein Konzept fasste Cap Anamur unter dem Begriff des „radikalen Humanismus“ zusammen. In einer programmatischen Schrift von 1979 verkündete der Verein, dass man sich „nur so lange“ „an die Konventionen rechtlicher, praktischer und staatlicher Anweisungen halten“ wolle, „wie nicht sichtbar und vor aller Augen Menschen in unmittelbarer Lebensgefahr sind.“ 93 Die alten Wohlfahrtsorganisationen denunzierte der Gründer Rupert Neudeck als „gefräßige und bürokratisch-inerte Organisation“. 94 Tatsächlich traf man damit einen wunden Punkt. Das Auswärtige Amt hatte immer wieder zur Vorsicht gemahnt, wenn es um direkte Hilfe ging, und bis die diplomatischen Lageklärungen abgeschlossen waren, war es auch aus Sicht der Helfer im Auftrag der Bundesregierung meist schon wieder zu spät, um wirklich Leben zu retten. 95 Cap Anamur rückte mit dem südostasiatischen Raum jenseits von Vietnam und der Subsahara Regionen in den Blick, die bis dahin nicht von außenpolitischem Interesse waren und deshalb auch kaum auf Hilfe hoffen konnten. In ihrem Vorgehen vor Ort schlug die Organisation einen neuen Ton an. Da ihre Arbeit zu fast 100% durch Spenden nanziert wurde, meinte man durch ein „Plebiszit“ zu jeder Aktion ermächtigt zu sein, die Leben rettete. 96 Entschieden
91 Hans Nogly: Wohin keine Straße führt. In: Stern, Nr. 50, 6. 12.1973, 24–32; Peter-Hannes Lehmann: Rettung in letzter Stunde. In: Stern, Nr. 12, 21. 3. 1974, 38–57. 92 Gebhardt: „Hilfe!“, 36. 93 Konzeptpapier, undatiert, ohne Autor, in Archiv Cap Anamur Deutsche Notärzte e. V., Ordner „Schiff f. Vietnam, Komitee-Archiv 1979 1.“ 94 Flüchtlingshilfe. Hochgradig albern. Das Deutsche Rote Kreuz wehrt sich gegen private Hilfsorganisationen, die in Kambodscha tätig sind. In: Der Spiegel, Nr. 11, 10. 3. 1980, 118– 119. 95 Vgl. z. B. BArch BW24/9477. 96 Rupert Neudeck, 5. 6. 1981, in Privatarchiv Rupert und Christel Neudeck, Ordner „Komitee bis 24. 11. 1981 – Cap Anamur 1979–1981“.
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wandte sich Cap Anamur gegen jede Form der Kontrolle. Die Helfer weigerten sich, Verträge mit den Empfängerländern abzuschließen oder Büros in der Hauptstadt einzurichten, die als Repräsentanten gegenüber der Regierung vor Ort gedient hätten. Es könne nicht angehen, dass die Organisationen „zwischen den Mühlsteinen der Lebensrettung in den Lagern, dem vieltausendfältigen Krepieren und Verröcheln auf der einen Seite, sowie den Erfordernissen einer Bürokratie auf der anderen Seite“ zerrieben werde. Im Gegenteil müsse bei der „Hilfe in letzter Todesnot“ jede Bürokratie oder übliche Verfahrensweise ausgesetzt werden und unmittelbarer Zugang gewährleistet sein. 97 Sowohl die Massenmedien als auch die Hilfsorganisationen, die die humanitäre Hilfe trugen, verstanden sich nicht mehr wie noch die großen Wohlfahrtsorganisationen als verlängerter Arm der bundesdeutschen Außenpolitik, sondern brachten ihre eigenen Logiken bei der Identi zierung von Hilfsbedürftigen in Anschlag. Der Presse ging es neben der Hilfe natürlich auch um spektakuläre Bilder und um Auflagenzahlen, die mit der Konkurrenz des Fernsehens gerade bei den Bildmedien sanken. 98 Bei den zivilgesellschaftlichen Gruppierungen stand im Zentrum der Motivation ein scheinbar universelles Konzept von Menschlichkeit, vor dessen Hintergrund man keine politischen Rücksichten nehmen wollte. Hinzu kam, dass sich im Zuge der organisatorischen Verfestigung des Ad-hocEngagements auch das Motiv der Einwerbung von Spendengeldern in den Vordergrund schob. 99 Beide Akteure hatten ihren Bezugspunkt also nicht mehr im Ausland, sondern im Inland. Es gab durchaus Versuche des Auswärtigen Amtes, die humanitäre Hilfe als Medium der Außenpolitik zurückzugewinnen, um wieder mit Hilfsaktionen Zeichen setzen zu können. Parallel zum Aufstieg der neuen Akteure in dem Feld seit Beginn der 1970er Jahre hatten die Diplomaten die Organisation der Auslandseinsätze nach und nach an das Bundesministerium des Inneren abgegeben und 1974 hielten die beiden Ministerien die geübte Praxis in einer Übereinkunft fest. 1978 wollte das Auswärtige Amt dann die Kompetenzen wieder komplett an sich ziehen, weil das Politikfeld durch die enorm gestiegene öffentliche Aufmerksamkeit für die Zukunft an Bedeutung zu gewinnen versprach. Erstmals richtete das Amt 1978 eine eigene Arbeitsstelle und dann mit Wirkung vom 15. Januar 1980
97 Rupert Neudeck: Äthiopien: Gebeya, Wogedda, Arba Minch, Lalibela. Projektbeginn: Mai 1983. In: ders. (Hrsg.): Radikale Humanität. Notärzte für die Dritte Welt. Reinbek bei Hamburg 1986, 117–120. 98 Konrad Dussel: Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahrhundert. Münster 2004, 233–234. 99 Gabriele Lingelbach: Spenden und Sammeln. Der westdeutsche Spendenmarkt bis in die 1980er Jahre. Göttingen 2009, 269–306.
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sogar ein eigenes Referat „Humanitäre Hilfe, ausländische Flüchtlinge“ ein. Das Vorgehen des Auswärtigen Amtes war aber rein reaktiv und zielte auf eine Wiederherstellung bekannter Abläufe und Hierarchien. Es hoffte, die privaten Hilfsorganisationen unter Kontrolle bringen zu können, und versprach der Caritas, dem Diakonischen Werk und dem DRK, in Zukunft wieder nur mit ihnen Hilfsaktionen durchzuführen. 100 Eine Rückkehr zu den alten Verfahrensweisen ging natürlich an der neuen Realität der humanitären Hilfe vorbei. In den nächsten Jahren wurden das Auswärtige Amt und die Arbeitsstelle beziehungsweise das Referat „Humanitäre Hilfe“ von den zusätzlichen Anforderungen fast überrollt. 1978 lag der Etat noch bei 4 Millionen DM, über einen Nachtragshaushalt war er auf 9 Millionen aufgestockt worden, 1979 rechnete das Auswärtige Amt mit 25,5 Millionen DM, benötigte aber letztlich 64,5 Millionen, schließlich setzte das Referat 301 für 1980 60 Millionen DM an. Ständig kamen neue Hilfsaktionen hinzu, zuerst für die Flüchtlingshilfe auf dem Südchinesischen Meer, Notfälle „in Indochina (Vietnam, Kambodscha/Thailand), dann Pakistan, seit Ende vergangenen Jahres [1979] immer intensiver Afrika“. 101 Das waren Regionen und Probleme, die das Amt selbst als „politisch schwierig“ einschätzte und in denen ein Engagement nicht auf der Hand lag. Dort konnten sich die Diplomaten auch mit ihrer Vorstellung, die Hilfsorganisationen zu kontrollieren, nicht mehr durchsetzen. Der neue Leiter des Referats 301, Walter Goren os, berichtete Ende 1980, dass sie „angesichts der zwischen vielen Organisationen bestehenden Eifersüchteleien keine koordinierende Funktion wahrnehmen“ könnten. 102 Die Bundesregierung hatte noch 1978 in einem Bericht über ihre humanitäre Hilfe verkündet, dass solche Aktionen „nur auf ausdrücklichen Wunsch der Regierung eines betroffenen Landes“ ausgelöst werden dürften. 103 Schon 1978 war diese Verfahrensweise eigentlich überholt und ist im Rahmen des Versuchs zu lesen, die alten Verfahrensweisen wiederherzustellen. Im nächsten Bericht 1982 reagierten die Verfasser bereits auf die veränderte Lage und räumten nun die Möglichkeit ein, dass das „Eintreffen eines Hilfsaufrufs internationaler Organisationen oder eines Hilfsantrags privater deutscher Hilfsorganisationen“ 104 eine Aktion auslösen könnte. Sie gestanden ein, dass das Auswärtige Amt inzwischen 100 101 102 103
PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 131972. Referat 301, 13. 2. 1980, PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 131972. Walter Goren os, 12. 11. 1980, PA AA, Zwischenarchiv, Bd. 131972. Bericht der Bundesregierung über die deutsche Humanitäre Hilfe im Ausland 1965 bis 1977. Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/2155, 3. 10. 1978, 5. 104 Bericht der Bundesregierung über die deutsche Humanitäre Hilfe im Ausland 1978 bis 1981, Deutscher Bundestag, 9. Wahlperiode, Drucksache 9/2364, 23.12. 1982, 5.
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eine passive Rolle eingenommen hatte und die zwischenstaatlichen Relationen bei den Hilfsaktionen in den Hintergrund traten: „Während früher der bilaterale Weg als der übliche angesehen werden konnte, ergab sich in letzter Zeit immer häu ger die Notwendigkeit einer konkreten oder nanziellen Beteiligung der Bundesregierung an den aktuellen Hilfsprogrammen internationaler Organisationen.“ 105 Erst nach dem Ende des „Kalten Krieges“ gelang es der Außenpolitik, die Abläufe bei der Auslösung von humanitären Einsätzen grundlegend zu verändern und die humanitäre Hilfe als Medium der Diplomatie – allerdings unter veränderten Vorzeichen – wieder zurückzugewinnen. Entscheidend hierfür war, dass seit Mitte der 80er Jahre substanziell mehr staatliche Mittel in die Hilfe bei Notfällen und Katastrophen ossen. 106 Mit der Gründung des Of ce for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) bei den Vereinten Nationen, 107 des European Community Humanitarian Aid Of ce (ECHO) bei der Europäischen Union 108 und mit der Einrichtung eines Ausschusses zur Koordination humanitärer Hilfe im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland 1994 109 entstanden Institutionen, die einerseits Mittel bereitstellten oder vermittelten, die sich andererseits in der Koordination engagierten. So gewann die Außenpolitik der westlichen Welt Ein uss auf die humanitären Hilfsorganisationen zurück, die dann zunehmend außenpolitische Funktionen übernahmen. 110
IV. Schluss: Von der Beziehungsp ege zur Intervention Für die Bundesrepublik Deutschland waren die Hilfsaktionen in den ersten beiden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg ein vorzügliches Medium der Außenkommunikation. Hier konnten über relativ unverbindliche und wenig aufwendige Einsätze spektakuläre Signale gesendet, Beziehungen verfestigt und eine 105 Ebd., 4. 106 James D. Fearon: The Rise of Emergency Relief Aid. In: Michael Barnett/Thomas G. Weiss (Hrsg.): Humanitarianism in Question. Politics, Power, Ethics. Ithaca 2008, 49–72. 107 Crisp: Humanitarian Action and Coordination. 108 Marco Kuhn: Humanitäre Hilfe der Europäischen Gemeinschaft. Entwicklung, System und primärrechtlicher Rahmen. Berlin 2000, 228–262. 109 Vom Gesprächskreis zum „Koordinierungsausschuss Humanitäre Hilfe“. In: Vereinigung für Internationale Zusammenarbeit (Hrsg.): Handbuch für Internationale Zusammenarbeit. Baden-Baden 2001, II–D 45 06. 110 Andrew Rigby: Humanitarian Assistance and Con ict Management: The View from the Non-Governmental Sector. In: International Affairs 77 (2001), 957–966. Francois Audet: Humanitarian Space. In: Roger Mac Ginty /Jenny H. Peterson (Hrsg.): The Routledge Companion to Humanitarian Action. London 2015, 141–152.
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neue Ausrichtung im internationalen Rahmen angezeigt werden. Sie boten überhaupt erst wieder die Gelegenheit, sich international zu engagieren, ohne Einspruch befürchten zu müssen. Für die Helfer lieferten sie die Bestätigung, dass man wieder als Teil der internationalen (westlichen) Solidargemeinschaft gesehen wurde. Indem die Bundesregierung auf dem Feld des Humanitären Präsenz zeigte, konnte sie dem Odium des verbrecherischen nationalsozialistischen Deutschlands und des imperialistischen Kaiserreichs aktiv begegnen. Aber dieses Zeichen sollte auch nach innen wirken. Es ging um die Präsentation eines neuen Deutschlands mit Blick auf die eigene Bevölkerung und die Wiedergewinnung einer eigenen Identität als „helfende Nation“. In einem zweiten Schritt seit 1960 weiteten sich die Kreise, innerhalb derer die Bundesrepublik Deutschland aktiv Hilfe leistete, leisten konnte und wollte. Man sprang nicht mehr nur den Bündnispartnern bei, sondern dehnte die Aktionen auch auf den Maghreb, den Nahen Osten und die Subsahara aus. Es ging nun darum, die Reichweite der eigenen Außenpolitik zu vergrößern und in neuen Weltregionen Kontakte zu knüpfen oder Beziehungen zu vertiefen. Über die humanitären Hilfsaktionen konnte die Bundesregierung sogar das Militär ins Ausland entsenden, da aufgrund der humanitären Motive dessen Beteiligung nicht weiter problematisch erschien. Da andere Wege der Außenpolitik wie Waffenlieferungen in Krisengebiete verpönt und militärisches Eingreifen versperrt waren, versuchte sich die Bundesrepublik Deutschland mit der humanitären Hilfe als „Großmacht der Menschlichkeit“ zu etablieren. Die Hilfsaktionen blieben dabei zwangsläu g eine Staatsaktion. Die Entscheidung, wo wem wann und wie zu helfen sei, traf letztlich die Bundesregierung unter Anleitung des Auswärtigen Amtes. Von 1968 an entdeckten Medien und Hilfsorganisationen die humanitären Hilfsaktionen für sich und veränderten das „Signal der Menschlichkeit“ in seiner Bedeutung. Während man vorher vor allem nach außen seine neu gefundene Rolle als helfende Nation herausstellen wollte, wandte sich das Signal, das Hilfsorganisationen und Massenmedien aussandten, nach innen: Es richtete sich an die Spender und Leser. Es ging bei den Hilfsaktionen nun nicht mehr so sehr darum, dem Partner seine Solidarität zu bekunden, sondern das Motiv, sich selbst seines Humanismus zu versichern, trat in den Vordergrund, und natürlich unterlag diesem Motiv auch das Werben um Spendengelder und das Bemühen um Leserbindung durch ein positives Image und spektakuläre Bilder. Die bidirektionale außenpolitische Kommunikation wurde damit tendenziell durch eine unidirektionale Kommunikation ersetzt. Wo vorher das Auswärtige Amt Unterstützung auf Hilfsersuchen hin angeboten hatte und Verhandlungen mit dem Partner am Anfang jeder Hilfsaktion standen, lag nun die Entscheidung
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über Art, Zeit und Ort ganz auf der Seite des Geberlandes. Eine Mitsprache der Empfängerländer bei der Gestaltung der Hilfsleistung war nicht vorgesehen, ja sie wurde teilweise explizit zurückgewiesen, da sie als politisch motiviert erschien. Andererseits war eine Ablehnung der Hilfe praktisch unmöglich, da man unversehens als herzloser Schurkenstaat dagestanden hätte. Die Souveränität der Empfänger hatte hinter dem Ziel der Lebensrettung zurückzutreten. Die Hilfsaktionen entwickelten sich zu einer Demonstration des Durchsetzungsvermögens und der Fähigkeiten der Geberländer. Entgegen dem immer wieder zu beobachtenden Optimismus, dass neue außenpolitische Dynamiken und die Ausweitung und Multiplikation der Kommunikationskanäle gleichsam automatisch zur besseren Verständigung führen und dem Ausgleich unter den Völkern dienen, rückte die genaue Analyse dieses „Signals der Menschlichkeit“ eine gegenläu ge Entwicklung in den Fokus, die sich eher mit den Begriffen „Distanzierung“, „Abschottung“ und „Nationalisierung“ beschreiben lässt als mit „Internationalisierung“, „Transnationalität“ und „Ver echtung“. Die Bedeutung der beschriebenen Entwicklung unterstreicht noch, dass sich gerade die kurzfristigen Hilfsaktionen zu einem Erfolgsmodell entwickelten und die Bedeutung anderer Modelle, die wie die Entwicklungshilfe auf Zusammenarbeit setzten, schwand.
Autorenverzeichnis Agnes Bresselau von Bressensdorf Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin / Persönliche Referentin des Direktors, Institut für Zeitgeschichte München – Berlin. Peter Burschel Prof. Dr., Lehrstuhl für Kulturgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Georg-August-Universität Göttingen, Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Gabriele Clemens Prof. Dr., Professorin für neuere europäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hamburg; zugleich Inhaberin eines Jean Monnet-Lehrstuhls für Europäische Integrationsgeschichte und Europastudien. Lisa Dittrich Dr., Akademische Rätin auf Zeit, Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Ludwig-Maximilians-Universität München. Fabian Fechner Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt, Historisches Institut, FernUniversität Hagen. Peter Geiss Prof. Dr., Professor für Didaktik der Geschichte, Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn. Dominik Geppert Prof. Dr., Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn. Florian Greiner Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg. Mathias Haeussler Dr., Lumley Research Fellow, Magdalene College University of Cambridge. Tilman Haug Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster.
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Martin Herzer Doktorand, Department of History and Civilization, European University Institute. Claudia Hiepel PD Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Duisburg-Essen. Peter Hoeres Prof. Dr., Lehrstuhl für Neueste Geschichte, Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Friedrich Kießling Prof. Dr., Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt. Marc von Knorring PD Dr., Akademischer Oberrat auf Zeit, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau. Andreas Lutsch M. A., Stanton Nuclear Security Postdoctoral Fellow, CISAC, Stanford University/Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Geschichte, JuliusMaximilians-Universität Würzburg. Markus Meckl Prof. Dr., Faculty of Humanities and Social Sciences, University of Akureyri. Patrick Merziger Jun.-Prof. Dr., Juniorprofessur für Kommunikationsgeschichte, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig. Tobias Nanz Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter im ERC-Starting Grant „The Principle of Disruption“, Professur für Medienwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur, Technische Universität Dresden. Maria Osmers Dr., Wissenschaftliche Assistentin, Lehrstuhl für Alte Geschichte, JuliusMaximilians-Universität Würzburg. Daniel Potthast Dr., Akademischer Rat auf Zeit, Institut für den Nahen und Mittleren Osten, Ludwig-Maximilians-Universität München.
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Rainer F. Schmidt Prof. Dr., Professur für Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte, JuliusMaximilians-Universität Würzburg. Frederike Schotters M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln.“, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen. Stephanie Seul Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Deutsche Presseforschung, Fachbereich 9: Kulturwissenschaften, Universität Bremen. Guido Thiemeyer Prof. Dr., Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Anuschka Tischer Prof. Dr., Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Christine Vogel Jun.-Prof. Dr., Juniorprofessorin für Geschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts, Universität Vechta. Nadir Weber Dr., ZIF Marie Sk odowska-Curie Postdoctoral Fellow, Zukunftskolleg /Fachbereich für Geschichte und Soziologie, Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Konstanz. Hermann Wentker Prof. Dr., Leiter der Forschungsabteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. Christian Windler Prof. Dr., Direktor der Abteilung für Neuere Geschichte, Historisches Institut der Universität Bern.
EXTERNA GESCHICHTE DER AUSSEN BEZIEHUNGEN IN NEUEN PERSPEK TIVEN HERAUSGEGEBEN VON ANDRÉ KRISCHER, BARBARA STOLLBERG-RILINGER, HILLARD VON THIESSEN UND CHRISTIAN WINDLER
BD. 8 | CHRISTINA BRAUNER KOMPANIEN, KÖNIGE UND CABOCEERS INTERKULTURELLE DIPLOMATIE AN GOLD- UND SKLAVENKÜSTE IM 17. UND 18. JAHRHUNDERT 2015. 670 S. 9 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-22514-8
BD. 6 | TILMAN HAUG UNGLEICHE AUSSENBEZIEHUNGEN UND GRENZÜBERSCHREITENDE PATRONAGE DIE FRANZÖSISCHE KRONE UND DIE GEISTLICHEN KURFÜRSTEN (1648–1679) 2015. 540 S. GB. | ISBN 978-3-412-22360-1 BD. 9 | TILMAN HAUG, NADIR WEBER, CHRISTIAN WINDLER (HG.) PROTEGIERTE UND PROTEKTOREN ASYMMETRISCHE POLITISCHE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN PARTNERSCHAFT UND DOMINANZ (16. BIS FRÜHES 20. JAHRHUNDERT) 2016. 527 S. 8 S/W-ABB. GB. BD. 7 | NADIR WEBER LOKALE INTERESSEN UND GROSSE STRATEGIE DAS FÜRSTENTUM NEUCHÂTEL UND DIE POLITISCHEN BEZIEHUNGEN DER KÖNIGE VON PREUSSEN (1707–1806) 2015. 656 S. 4 S/W-ABB. GB.
HC575
978-3-412-22451-6
ISBN 978-3-412-50535-6 BD. 10 | MATTHIAS POHLIG MARLBOROUGHS GEHEIMNIS STRUKTUREN UND FUNKTIONEN DER INFORMATIONSGEWINNUNG IM SPANISCHEN ERBFOLGEKRIEG 2016. 458 S. GB. | ISBN 978-3-412-50550-9
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar