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German Pages [426] Year 2011
Eine Veröffentlichung des LVR-Institutes für Landeskunde und Regionalgeschichte
Jüdische Lebenswelten im Rheinland Kommentierte Quellen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart
Bearbeitet von Elfi Pracht-Jörns Mit einem Vorwort von Monika Grübel und Georg Mölich
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Titelseite: Synagoge in Wuppertal. Blick in die gläserne Pyramidenspitze über dem Hauptraum – Die drei Trägerpaare bilden einen Davidstern. Umschlagrückseite: Chuppa (hebr. Traubaldachin). Detail aus dem Tora-Wimpel von Mosche Spanier, geboren 1762. Ausgestellt im LVR-Kulturhaus Landsynagoge Rödingen. © LVR-Zentrum für Medien und Bildung, Düsseldorf /Fotograf: Andreas Schiblon Buchrücken: Synagoge in Düsseldorf (Detailaufnahme) © Sabine Simon Karte: Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, bearbeitet von Ursula Reuter (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande VIII.8) © Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, 2007
© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20674-1
Inhalt Vorwort............................................................................................................................. XIII Einleitung...............................................................................................................................
1
Verborgene Lebenswelten – Quellen zur jüdischen Geschichte im Rheinland .......................................................................................................................
6
I. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit
1. Einführung............................................................................................................. 23
2. Politisch-rechtliche Rahmenbedingungen.............................................. 30
1 Die Kurkölnische Judenordnung von 1599....................................................... 30
2 Ein Geleitbrief für zwei jüdische Familien in der Herrschaft Broich . (Mülheim an der Ruhr), 1686 ............................................................................. 35
3 Ordentliche und Außerordentliche Schutzjuden: Das Revidierte . General-Privilegium und Reglement für die Juden im preußischen . Staat, 1750................................................................................................................. 38
4 Schutz und Beschränkung: Die erneuerte Geleitskonzession für die . Juden im Herzogtum Jülich-Berg, 1779............................................................. 42
5 Appell der Witwe des Meyer Zaudy aus Xanten an König Friedrich II., . ihr die Abnahme von „Judenporzellan“ zu erlassen, 1779.............................. 46
6 Eine Verordnung des Kurfürsten Karl Theodor von Pfalz-Sulzbach . gegen „Pack- und Betteljuden“, 1782................................................................... 50
3. Jüdisches Alltagsleben................................................................................. 53
7 Vom „Judendoktor“ zum akademisch ausgebildeten Mediziner, . 1667/1802................................................................................................................ 53
8 Eine jüdische Hochzeit in Kleve, 1674............................................................... 59
9 Die Judengasse in Bonn: Ein Ghetto im 18. Jahrhundert, . 1715/16–1797......................................................................................................... 63
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Inhalt
10 Frühneuzeitliche Grabinschriften auf dem jüdischen Friedhof in . Bonn-Schwarzrheindorf, 1754 und 1779........................................................... 67 11 Hilfe in der Not: Juden und Christen während des . Rheinhochwassers, 1784........................................................................................ 74 12 Wendezeit: Die neue Düsseldorfer Synagoge in der. Kasernenstraße, 1792.............................................................................................. 78
II. Jüdisches Leben vom Beginn der Emanzipation bis zum Ende der Weimarer Republik
1. Einführung............................................................................................................... 81
2. Politisch-rechtliche Rahmenbedingungen................................................ 92
13 Der Präfekt des Rur-Départements erläutert die napoleonische . Judenpolitik bei der Einweihung der neuen Synagoge in Goch, 1812......... 92 14 Eingabe der Juden der linken Rheinseite an den Rheinischen . Provinziallandtag gegen das „Schändliche Dekret“, 1826.............................. 96 15 Plädoyer des Vorstehers der jüdischen Gemeinde in Siegburg für . die Annahme fester Familiennamen durch die Juden in den . rechtsrheinischen Gebieten der Rheinprovinz, 1840...................................... 99 16 Die Bürger der Stadt Köln bitten den Rheinischen Provinziallandtag, . sich für die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden einzusetzen, 1843..... 102 17 Der Landtagsabgeordnete Maximilian Freiherr von Loë spricht sich . gegen die Emanzipation der Juden aus, 1843.................................................... 108 18 Ehrenurkunde der Krefelder Juden für den liberalen Politiker. Hermann von Beckerath, 1847............................................................................. 112 19 Das „Gesetz, die Verhältnisse der Juden betreffend“ legt Grundsätze . für die Organisation jüdischer Gemeinden fest, 1847..................................... 117 3. Gemeindeleben und Religion zwischen Tradition und Modernisierung.......................................................................................... 121 20 Die Krefelder Synagogenordnung verlangt Ruhe und Ordnung . im Gottesdienst, 1836............................................................................................ 121 21 „Ein neuer Geist durchweht die Synagogengemeinden allüberall“ – . Erinnerungen an das Leben der jüdischen Gemeinde Bonn um die . Mitte des 19. Jahrhunderts.................................................................................... 126
Inhalt
VII
22 Synagogenarchitektur in Stadt und Land, 1841, 1861, 1872, 1913............. 131
23 „Die neuen Tempel der deutschen Israeliten“ – Synagogeninnenräume, . 1841 und 1913......................................................................................................... 138
24 Die erste deutschsprachige Predigt in der Synagoge in Brühl, 1842............ 142
25 „Dank den braven Mitbürgern“ – Synagogeneinweihungen als . öffentliches Ereignis, 1848, 1861, 1886.............................................................. 144 26 Die Bonner Synagogengemeinde bittet die Stadt um Unterstützung . beim Bau einer neuen Synagoge, 1869................................................................ 151 27 „Gerechtigkeit üben“ – Festrede des Rabbiners Dr. Israel Schwarz bei . der Einweihung des Jüdischen Krankenhauses in Köln, 1869....................... 155 28 Friedhofsanlagen und Grabsteingestaltung zwischen Tradition und . Moderne, 1886–1923/32 ..................................................................................... 158
29 Faszination Weihnachtsfest, vor 1914................................................................. 164
30 Ein Plädoyer für die jüdische Volksschule, 1914............................................... 166
31 In Duisburg wird ein Eruw (Schabbat-Bezirk) eingerichtet, 1929............... 170
32 „ Man hatte nichts miteinander zu tun“ – Gottesdienst im . ostjüdischen Betraum im Untergeschoss der Essener Synagoge am . Steeler Tor, um 1930............................................................................................... 173
4. Facetten des christlich-jüdischen Miteinanders................................... 178
33 „Gesottene Katze scheut den kochenden Kessel“ – Heinrich Heine . über seine erste Begegnung mit Judenfeindschaft in Düsseldorf, . Anfang des 19. Jahrhunderts................................................................................. 178 34 „Die trauernden Juden im Exil“ von Eduard Bendemann: Ein . „jüdisches Motiv“?, 1832....................................................................................... 181
35 Dürfen Juden in Moers als Schützenkönige amtieren?, 1843........................ 184
36 Der Kölner Bankier Simon Oppenheim unterstützt den Dombau, 1853..... 187
37 Die Familie Levison in Siegburg und ihre Berufe, zweite Hälfte . des 19. Jahrhunderts................................................................................................ 190 38 Jüdisches Leben auf dem Lande: Das Beispiel Rödingen, zweite Hälfte . des 19. Jahrhunderts................................................................................................ 194 39 Ostjüdische Arbeiter in der Rhein-Ruhr-Region während des . Ersten Weltkriegs, 1914–1918............................................................................. 200
VIII
Inhalt
40 Integriert in der Kleinstadt: Das Beispiel Viersen, erstes Drittel . des 20. Jahrhunderts................................................................................................ 204 5. Grenzen der Emanzipation: Judenfeindschaft und Antisemitismus.................................................................................................... 208 41 Die alte Ritualmordlüge lebt wieder auf: Der Pogrom von Neuenhoven . und Umgebung, 1834............................................................................................. 208 42 Wie Pogromstimmung entstehen kann: Zwei Jülicher Kinder . erzählen Lügengeschichten, 1840........................................................................ 213 43 Ritualmordlegende und politische Agitation am Ende des . 19. Jahrhunderts: Die Affäre Buschhoff in Xanten, 1891/92........................ 216 44 Eine zionistische Antwort auf den Antisemitismus: Die Kölner . Thesen, 1896............................................................................................................. 220 45 Die Perspektive des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen . Glaubens“: Juden sind ein Teil des deutschen Volkes und der . rheinischen Kultur, 1925 ...................................................................................... 223 46 Ein Beispiel für viele: Die Schändung der Synagoge in . Düsseldorf, 1928...................................................................................................... 227 47 Widerstände gegen die Berufung des Juristen Prof. Dr. Hans Kelsen . an die Universität zu Köln, 1930 . ....................................................................... 230
III. Jüdisches Leben im NS-Staat
1. Einführung............................................................................................................. 232
2. Soziale Ausgrenzung und wirtschaftliche Existenzvernichtung........................................................................................... 240 48 Der Überfall auf die jüdischen Juristen im Kölner Justizgebäude am . Reichenspergerplatz am 31. März 1933.............................................................. 240
49 Berufsverbote für Musiker in Bonn, 1935.......................................................... 246
50 Beschwerde des Amtsbürgermeisters von Ruppichteroth über die . geplante Einrichtung einer jüdischen Jugendherberge, 1935 . ...................... 248
Inhalt
IX
3. Jüdische Selbstbehauptung und Selbsthilfe........................................... 252
51 Ein Kölner Kaufmann protestiert gegen den Boykott am 1. April 1933........ 252
52 „Juden in Rheinland und Westfalen, jetzt ist Eure Aufgabe . gekommen!“ – Zur Gründung des Jüdischen Kulturbundes . Rhein-Ruhr, 1933.................................................................................................... 256 53 „Auch das Judentum kennt den unbekannten Soldaten“ – Die . Einweihung des Ehrenmals für die jüdischen Gefallenen des Ersten . Weltkriegs auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Bocklemünd, 1934 .......... 259 54 „Sei stark – fest bleibe dein Herz!“ – Der Duisburger Rabbiner . Dr. Manass Neumark zum Neujahrsfest, 1935.................................................. 262
55 Jüdische Selbsthilfe in Köln, 1930er Jahre......................................................... 265
56 Spendenappell der Jüdischen Winterhilfe, 1937.............................................. 268
4. Bleiben oder Gehen – und wohin?............................................................... 271
57 Ein rheinischer Kibbuz: Hachschara in Wesseling-Urfeld, 1936.................. 271
58 Ein Brief aus Essen nach England, 1939............................................................. 275
5. Der Novemberpogrom 1938............................................................................ 279
59 Eine Nachbarin sagt vor Gericht über die Verwüstung der Synagoge . in Grevenbroich-Hemmerden aus, 1938............................................................ 279 60 Der Düsseldorfer Rabbiner Dr. Max Eschelbacher über Ablauf und . Folgen des Novemberpogroms, 1938.................................................................. 283
61 Die „Arisierung“ eines Modehauses in Düsseldorf, 1938/39........................ 289
6. Zwischen Kriegsbeginn und Deportation................................................ 292
62 Lagerordnung für die im Lager Much internierten Juden aus . dem Siegkreis, 1941................................................................................................. 292 63 Denunziation wegen eines Kartoffelverkaufs in Mönchengladbach, . 1941/42..................................................................................................................... 294 64 Ausplünderung vor der Deportation: Eine Versteigerungsliste aus . Oberhausen, 1941.................................................................................................... 297
X
Inhalt
65 Ein in den Niederlanden getragener „Judenstern“ aus dem Besitz . jüdischer Flüchtlinge aus Köln, 1942–1944 ..................................................... 302 66 „… nicht zum Führen des Judensterns verpflichtet“ – Aussage von . Thekla L. bei der Essener Gestapo, 1943............................................................ 304 67 „Haben Sie doch Verständnis für meine seelische Not“ – Die . mörderischen Folgen der nationalsozialistischen Rassenpolitik für . die Familie N. in Duisburg, 1943......................................................................... 306 68 „Komme ich nun zu den Juden oder zu den Politischen?“ – Briefe des . Malers Franz Monjau aus dem Polizeigefängnis in Ratingen, 1944.............. 310
69 Leben im Schatten der Deportation in Mönchengladbach, 1941................ 313
IV. Jüdisches Leben von 1945 bis heute
1. Einführung............................................................................................................. 318
2. Schwierige Neuanfänge im Nachkriegs-Rheinland............................. 324
70 Erste Schritte zur Reorganisation der Jüdischen Gemeinde . Wuppertal, 1945...................................................................................................... 324
71 Das erste Jahr der neuen jüdischen Gemeinde Köln, 1946............................. 328
72 Gegen die Schändung jüdischer Friedhöfe, 1947............................................. 333
73 „Um so tiefer empfunden ist die Gesamtscham unserer Bürgerschaft . gegenüber diesen verbrecherischen Handlungen“ – Die Erklärung . des Kölner Rats zur Schändung der Synagoge Roonstraße an . Weihnachten 1959.................................................................................................. 336 74 „Ich verbitte mir, wie hier der Ausschuß tagt“ – Der Kampf um . Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes, 1952.......................................... 339 75 Nichts zugeben, nichts hergeben: Die Auseinandersetzung um die . Rückerstattung einer Schlafzimmereinrichtung aus Nümbrecht, 1952....... 341
3. Zwischen Gedenken und Verdrängen........................................................ 345
76 „Dieses Mahnmal, das wir als Ehrung und im Gedenken an unsere . Toten hier vor uns haben, ist auch gleichzeitig ein Mahnmal an die . deutsche Bevölkerung“ – Dr. Marcel Frenkel auf dem jüdischen . Friedhof in Köln-Bocklemünd, 1948.................................................................. 345
Inhalt
XI
77 „Auch sind zweitausend Jahre jüdischen Lebens in Deutschland der . Erinnerung der Lebenden wert“ – Heinrich Böll zur Gründung der . Kölner Bibliothek Germania Judaica, 1959....................................................... 348 78 „…vor allem von jungen Menschen besucht“ – Jüdische Pressestimmen. zur Ausstellung „Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und . Kultur der Juden am Rhein“, 1963/64................................................................ 352 79 Neue Formen der Erinnerung: Das Projekt Synagoge Stommeln, . seit 1990/91.............................................................................................................. 356
80 Pro und Contra „Stolpersteine“, seit 1995......................................................... 358
4. Zukunftsperspektiven: Die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre................................................................................................... 362 81 „Wer ein Haus baut, der will bleiben“ – Johannes Rau zur Einweihung . der neuen Synagoge in Aachen, 1995.................................................................. 362 82 „Hoffnung, dass jüdische Existenz wieder zu einem selbstverständlichen – . und auch ungefährdeten – Teil der Lebenswirklichkeit in Deutschland . wird“ – Die neue Synagoge in Wuppertal-Barmen, 2002............................... 365 83 „Das Judentum in Deutschland steht vor einer Renaissance!“ – . Paul Spiegel zur Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion, 2004..... 370 84 „Eine Brücke zur Tradition“ – Die Jüdische Liberale Gemeinde Köln, . seit 1996..................................................................................................................... 373 85 „Und ich fühle mich als Jude, als moderner Jude in Deutschland…“ – . Ein junger Zuwanderer erzählt von seinem Leben in Oberhausen, 2009...... 376
Anhang Zeittafel ..................................................................................................................................... 381 Auswahlbibliografie.................................................................................................................. 392 Monika Grübel: Glossar der hebräischen Begriffe............................................................ 394 Ursula Reuter: Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum Beginn des . 21. Jahrhunderts – Erläuterungen zur beiliegenden Karte............................................... 401 Schlagwortregister.................................................................................................................... 403 Bildnachweis.............................................................................................................................. 404
Vorwort Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) als großer regionaler Kommunalverband mit vielfältigen kulturellen Aufgabenfeldern hat in den letzten Jahren sein Engagement für die jüdische Geschichte im Rahmen der rheinischen Geschichte stetig erweitert und ausgebaut. Als ein Höhepunkt ist hier sicher die Eröffnung des LVRKulturhauses Landsynagoge Rödingen im September 2009 zu nennen – seitdem ist dieses eindrucksvolle Bauensemble mit einer Dauerausstellung zur jüdischen Geschichte im Rheinland der Öffentlichkeit zugänglich. Auch die vorliegende Publikation „Jüdische Lebenswelten im Rheinland – Kommentierte Quellen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ gehört in dieses Feld kultureller Aktivitäten des LVR rund um jüdische Geschichte und Gegenwart am Rhein. Die Quellensammlung knüpft inhaltlich und institutionell an den 2005 ebenfalls als Publikation des LVR erschienenen Aufsatzband „Jüdisches Leben im Rheinland – Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ an, der das Thema in insgesamt zwölf Fachbeiträgen behandelte und der in der Fachöffentlichkeit auf sehr positive Resonanz gestoßen ist. Mit der Quellensammlung, die nun nach mehrjähriger Vorarbeit präsentiert werden kann, wird ein neuer Blick auf die jüdische Geschichte im Rheinland ermöglicht. In den letzten gut zwei Jahrzehnten ist eine Fülle von Darstellungen zur jüdischen Geschichte in einzelnen Städten, Orten und Regionen des Rheinlandes erschienen – auch übergreifende Werke wären hier zu nennen. In diesem Buch wird ein anderer Zugang gewählt: Aussagekräftige Quellen aus ganz unterschiedlichen Bereichen vermitteln authentische Einblicke in die jüdischen Lebenswelten im Rheinland. Anknüpfend an erprobte Vorbilder, wie zum Beispiel die Bände der seit 1996 erscheinenden „Quellen zur Geschichte der Stadt Köln“, werden die 85 Quellen aus ganz unterschiedlichen Kontexten durch fachliche Einleitungen und Sachkommentare auch für Nichtspezialisten erschlossen und damit „lesbar“ gemacht. Eine solche chronologisch breit angelegte Quellensammlung zur jüdischen Geschichte einer Großregion von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart ist bisher noch für keine deutsche „Landschaft“ vorgelegt worden. Wenn man eine gewisse Essenz aus diesen im Einzelnen natürlich sehr differenziert zu bewertenden Quellen gewinnen will, so drehen sich doch viele Texte um die Frage, ob und wie jüdisches Leben im Rheinland in Freiheit und Selbstbestimmung möglich war bzw. ist. Auf den Punkt gebracht findet sich dies im appellativen Text von Bernhard Falk aus dem Jahre 1925 (Quelle 45): „Wir haben ein Recht, anerkannt zu werden als das, was wir sind und was wir sein wollen: Gleichberechtigte, freie deutsche Bürger.“ Wenn diese Sammlung von Zeugnissen jüdischer Lebenswelten im Rheinland zu einem vertieften Verständnis des Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden beitragen könnte, wäre sein Hauptanliegen erreicht. Als Bearbeiterin dieses Bandes konnten wir Frau Dr. Elfi Pracht-Jörns gewinnen, die durch die fünf umfangreichen Bände zum „Jüdischen Kulturerbe in Nordrhein-
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Vorwort
Westfalen“ und durch viele weitere Publikation bestens ausgewiesen ist, um das anspruchsvolle Projekt einer solchen epochen- und themenübergreifenden Quellensammlung zu realisieren. Knappe Epochenüberblicke, ein Beitrag zur Quellensituation, ein Glossar, eine Auswahlbibliografie, eine ausführliche Zeittafel und eine beigefügte historisch-thematische Karte runden den Band ab und machen ihn zu einem breit nutzbaren Kompendium zur jüdischen Geschichte im Rheinland seit dem 16. Jahrhundert. Wir freuen uns sehr, dass dieser umfangreiche Band anlässlich der „Jüdischen Kulturtage in NRW“ im Jahre 2011 publiziert werden kann. Es ist dies ein auf besondere Nachhaltigkeit hin angelegter gewichtiger Beitrag des LVR zu diesem kulturellen Ereignis im Rheinland und in Westfalen. Wir wünschen dem Buch viele interessierte Leserinnen und Leser, die sich mit den Texten auf eine hoffentlich anregende Zeitreise in die jüdische Geschichte des Rheinlandes begeben können. Monika Grübel – Georg Mölich
Bonn, im Dezember 2010
Einleitung Die Publikation „Jüdische Lebenswelten im Rheinland“ wendet sich in erster Linie an Lehrerinnen und Lehrer sowie an Multiplikatoren und Multiplikatorinnen in der außerschulischen und Erwachsenenbildung. Sie versteht sich als didaktisches Werkzeug, das in Oberstufenklassen, in Universitätsseminaren und in Bildungseinrichtungen aller Art eingesetzt werden kann. Die aussagekräftigen, sorgfältig ausgewählten und kommentierten, im originalen Wortlaut wiedergegebenen 85 Quellentexte ermöglichen es, Sachzusammenhänge zu erarbeiten, zu vertiefen und weiterzugeben. Die Quellensammlung soll aber auch ein Lesebuch für alle sein, die an jüdischer Geschichte und Kultur interessiert sind. Der Band ist allerdings keine wissenschaftliche Edition von Quellentexten zur jüdischen Geschichte im Rheinland. Um eine solche umfassende Edition erarbeiten zu können, wäre eine breit angelegte Forschungsarbeit in zahlreichen Archiven in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus notwendig gewesen. Mit dem vielschichtigen Problem der Überlieferung jüdischer Geschichte befasst sich einleitend das Kapitel „Verborgene Lebenswelten – Quellen zur jüdischen Geschichte im Rheinland“. Die Publikation beabsichtigt, einen neuen Blick auf die rheinisch- bzw. deutschjüdische Geschichte zu werfen. Innerhalb der Jüdischen Studien wird dieses Vorgehen heute gern als „Perspektivwechsel“ bezeichnet. Obgleich normative Dokumente – Gesetzestexte, Verordnungen, Behördenschriftgut etwa – in dieser Sammlung nicht fehlen dürfen, wird die jüdische Minorität doch nicht, wie so häufig, in erster Linie als Objekt von Herrschafts- und Behördenhandeln oder als kollektives Opfer kontinuierlicher Verfolgungsmaßnahmen betrachtet. Die rheinischen Jüdinnen und Juden kommen selbst zu Wort, sie stehen im Mittelpunkt der Dokumentation als gestaltende, selbstbewusste Personen – und als eine Gemeinschaft, die ihren Standort, d.h. ihre Chancen und Spielräume innerhalb der sich wandelnden Mehrheitsgesellschaft, sucht und diesen offen und kritisch reflektiert. Die Quellentexte sollen historische Entwicklungen dokumentieren, soziale Strukturen aufzeigen und einen – wenn auch begrenzten – Einblick in den Alltag jüdischer Gemeinden und jüdischer Menschen ermöglichen. Das Judentum – auch die jüdische Minderheit im Rheinland – stellte nie eine homogene Gruppe dar. Der Titel der Quellensammlung – „Jüdische Lebenswelten im Rheinland“ – deutet das bereits an. Anhand der Dokumente werden unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Orientierungen vorgestellt. Jüdische Geschichte im Rheinland erscheint in vielfältigen Facetten, wobei sie als Teil der Landesgeschichte begriffen wird, ohne das „Besondere“ jüdischen Daseins zu nivellieren. Auch die „Dichotomie von Fremdwahrnehmung und Binnenperspektive“ (Stefan Rohrbacher) wird stets im Auge behalten. Das Verhältnis von Minderheit und Mehrheit als Beziehungsgeschichte, die Frage nach der Integration der jüdischen Minderheit in die bürgerliche Gesellschaft, das
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Einleitung
Streben nach Emanzipation und Akkulturation bzw. deren Problematisierung und Verweigerung – das sind die Themen, die seit der beginnenden Neuzeit auf der Tagesordnung stehen und die uns auch heute noch unmittelbar beschäftigen. Daher sind sie auch die Leitthemen in dieser Dokumentation. Als geografischer Rahmen wurde der rheinische Teil des Landes Nordrhein-Westfalen gewählt. Die Dokumentation beschränkt sich ausdrücklich nicht auf die – in den meisten Fällen gut erforschten – Großstadtgemeinden. Dass sich jüdisches Leben nach den Vertreibungen aus den Städten am Ende des Mittelalters über mehrere Jahrhunderte hinweg vor allem in Kleinstadt- und Landgemeinden abspielte, spiegelt sich in dieser Quellensammlung wider. Auch das spezifisch Rheinische (bzw. Rheinisch-Westfälische), wie es sich mit den Emanzipationsdebatten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im preußischen „Gesetz, die Verhältnisse der Juden betreffend“ von 1847 andeutet, wird nicht außer Acht gelassen. Der zeitliche Rahmen spannt sich vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Der erste Quellentext ist die Kurkölnische Judenordnung von 1599, die Sammlung schließt mit einem Ausschnitt aus einem 2009 geführten Interview, in dem ein junger Oberhausener Jude erzählt, was für ihn jüdische Identität und jüdisches Leben heute und in der Zukunft bedeuten. Auf die Berücksichtigung des jüdischen Mittelalters wurde aus forschungspragmatischen und inhaltlichen Gründen verzichtet. Eine Einbeziehung des Mittelalters, das in den letzten Jahren zu einem Schwerpunkthema innerhalb der Jüdischen Studien geworden ist, hätte den Blick aufgrund der Quellenüberlieferung und der zentralen Bedeutung der Gemeinde ganz einseitig auf Köln gelenkt. Es war ohnehin bereits schwierig genug, den Blick von der rheinischen Metropole abzuwenden. Da es zudem die Absicht war, möglichst nur Quellentexte in der Originalfassung vorzustellen, hätte die Präsentation mittelalterlicher Texte in hebräischer, lateinischer oder auch in der zeitgenössischen deutschen Sprache erhebliche „Vermittlungsprobleme“ produziert Die Quellensammlung gliedert sich in chronologischer Reihenfolge in vier große Kapitel: I. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit II. Jüdisches Leben vom Beginn der Emanzipation bis zum Ende der Weimarer. Republik III. Jüdisches Leben im NS-Staat IV. Jüdisches Leben von 1945 bis heute Die vier Hauptabschnitte sind noch einmal untergliedert. Innerhalb der Unterkapitel werden die Quellentexte jeweils chronologisch angeordnet. Jedem der vier Hauptkapitel ist eine Einleitung vorangestellt, die Informationen zur historischen Entwicklung bietet. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit der Emanzipation (Ende des 18. Jahrhunderts bis 1933) – auch in dieser Hinsicht betritt die Dokumentation „Jüdische Lebenswelten im Rheinland“ durchaus Neuland. Ausführlich kommen die innerjüdi-
Einleitung
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schen Modernisierungsbestrebungen im 19. Jahrhundert und das sich wandelnde Verhältnis zwischen jüdischer Bevölkerung und Umgebungsgesellschaft zur Sprache. Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt liegt auf den Selbsthilfemaßnahmen der jüdischen Gemeinden während der nationalsozialistischen Herrschaft, den Bemühungen, gegen alle Widerstände soziale Unterstützung zu gewähren und die persönliche Würde im Zeichen von Diskriminierung und Terror zu bewahren. Besonders wichtig erschien es mir auch, die seit der Auflösung der ehemaligen Sowjetunion Ende der 1980er Jahre zu beobachtende Zuwanderung von Jüdinnen und Juden nach Deutschland und ins Rheinland zu thematisieren. Die Quellen sind durchnummeriert. Nach der Kopfzeile mit Nummer und Titel befindet sich die Herkunftsangabe für die Texte. Es folgen eine knapp gefasste Einleitung, die Hintergrundinformationen bringt und das jeweilige Dokument in den historischen Kontext einordnet, sowie der Quellentext. Anmerkungen erläutern schwer verständliche Begriffe und Zusammenhänge oder enthalten biografische Angaben zu den genannten Personen. Eine Zusammenstellung grundlegender Literaturtitel ermöglicht es, sich intensiver in die Materie einzuarbeiten. Daher wird häufig nicht nur regionale, sondern auch allgemeine Literatur zu einem Thema genannt. In der Rubrik „Hinweis“, mit der ausgewählte Quellentexte versehen sind, werden Hinweise zu Orten und Objekten der jüdischen Geschichte und Kultur im Rheinland gegeben, die heute noch in Augenschein genommen werden können. Des Weiteren werden Anregungen zu selbständigem Forschen gegeben und Kontaktadressen genannt. Die in den Quellen erwähnten Eigennamen sind in manchen Texten auf Verlangen der Archive anonymisiert worden. Im Anhang folgt eine Zeittafel mit wichtigen Daten zur jüdischen Geschichte und Kultur im Rheinland. Eine Auswahlbibliografie nennt noch einmal zusammenfassend die wichtigsten Buchtitel. Hebräische Begriffe werden in den Anmerkungen zu den einzelnen Quellentexten erläutert; einen schnellen Überblick erlaubt ein zusätzliches Glossar der hebräischen Begriffe, das auch die in den Einführungstexten verwandten hebräischen Termini erklärt. Schließlich ist dem Band eine Karte beigelegt, die die zahlenmäßige Entwicklung der jüdischen Gemeinden vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts aufzeigt und zudem Hinweise auf die Existenz von Synagogen bzw. Bethäusern und Friedhöfen gibt. Die Karte ist der von Dr. Ursula Reuter bearbeiteten und 2007 publizierten Lieferung des „Geschichtlichen Atlas der Rheinlande“ über „Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts“ entnommen. Ein besonderes Serviceangebot ist das inhaltliche Schlagwortregister, das es erlaubt, kapitel- und zeitübergreifend Dokumente mit ähnlicher Thematik zu recherchieren. Damit soll es ermöglicht werden, ein Thema (z.B. Gemeinde, Synagogen, Friedhöfe, Feste, Berufstätigkeit, rechtliche Stellung, Judenfeindschaft) über verschiedene Zeitstufen hinweg im „Längsschnitt“ zu verfolgen. Die Quellensammlung vereint sehr unterschiedliche Textsorten: Gesetzestexte und Verordnungen, Berichte aus jüdischen und nichtjüdischen Zeitungen und Zeit-
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Einleitung
schriften, Briefe, Reden, Festschriften, Petitionen, Plakate, Auszüge aus Autobiografien, Interviews und Internet-Homepages sowie Bildmaterial. Die Abbildungen sind kein illustratives Beiwerk, sondern werden als Geschichtsquelle eingesetzt. Manchmal werden Quellentexte kontrastiert, die unterschiedliche Entwicklungen, Zustände oder Einschätzungen beschreiben. So findet man beispielsweise frühneuzeitliche Grabsteininschriften, von denen eine für einen Mann, die andere für eine Frau verfasst wurde, Texte, die die Lebensumstände eines traditionellen „Judendoktors“ im 17. Jahrhundert und eines akademisch ausgebildeten jüdischen Arztes um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beleuchten, Fotos, die verschiedene Synagogen-Baustile dokumentieren, sowie Zeitungsartikel, die sich zustimmend oder kritisch mit Gunter Demnigs „Stolperstein“-Projekt auseinandersetzen. Solche Gegenüberstellungen, die ausführlich erläutert werden und auch aus dem Quellenmaterial erarbeitet werden können, fördern den Diskurs über deutsch-jüdische Geschichte im Rheinland. Eine Vielzahl von Personen hat die vorliegende Quellensammlung „Jüdische Lebenswelten im Rheinland“ mit der Bereitstellung von Dokumenten und Fotos, mit Anregungen, konstruktiver Kritik und ermunterndem Interesse begleitet. Herr Georg Mölich als Leiter der Fachstelle für Regional- und Heimatgeschichte des Landschaftsverbandes Rheinland in Köln/Bonn hat das Projekt initiiert. Zusammen mit Frau Monika Grübel M.A., wisssenschaftliche Referentin beim LVR, hat er die Entstehung des Projekts mit stetem Engagement begleitet und das Manuskript kritisch gegengelesen. Frau Grübel, der ich viele inhaltliche Anregungen verdanke und die meine Arbeit mit steter Anteilnahme begleitet, hat zudem das Glossar der hebräischen Begriffe und die Zeittafel verfasst. Herrn Mölich und Frau Grübel danke ich ganz besonders herzlich. Mein besonderer Dank gilt auch Frau Dr. Ursula Reuter, Köln, die den Text der Quellensammlung sehr sorgfältig und einfühlsam redaktionell bearbeitet hat. Sie hat auch die Karte „Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts“ erarbeitet und für den vorliegenden Band erläutert. Danken möchte ich auch Herrn Priv.-Doz. Dr. Stephan Laux für Informationen vor allem zur Frühen Neuzeit, Frau Kerstin Theis M.A., die das Projekt in seiner Anfangsphase begleitet hat, Frau Katrin Clever M.A. für die Überlassung ihres ungedruckten Manuskripts „Jüdische Ortsgeschichte(n). Wegweiser zu den Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts“ und Herrn Dr. Dirk Lukaßen für zahlreiche inhaltliche Hinweise, das mühsame Einholen der Abdruckrechte und die Beschaffung des Bildmaterials. Ohne die zahlreichen Archive und Institutionen, die die Quellentexte für „Jüdische Lebenswelten im Rheinland“ zur Verfügung stellten, wäre diese Publikation nicht zustande gekommen. Stellvertretend für viele danke ich ganz herzlich Frau Dr. Annette Haller, der Leiterin der Bibliothek Germania Judaica in Köln, die stets ein hohes Maß an Interesse für meine Arbeit zeigte und mir mit Ratschlägen zur Seite stand, Frau Angela Genger, Herrn Dr. Bastian Fleermann und Frau Hildegard Jakobs von der
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Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Frau Dr. Ulrike Schrader von der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal sowie Frau Dr. Edna Brocke und Frau Martina Strehlen M.A. von der Alten Synagoge Essen. Ohne die nie erlahmende, engagierte und ermutigende Unterstützung meines Mannes Klaus Jörns hätte ich diesen Band nicht vorlegen können; dafür danke ich ihm von ganzem Herzen. Elfi Pracht-Jörns
Verborgene Lebenswelten – Quellen zur jüdischen Geschichte im Rheinland Die in diesem Band publizierten Quellen beleuchten nicht nur verschiedene Aspekte der jüdischen Geschichte und Kultur im Rheinland, sondern sie vermitteln auch einen Einblick, wo und in welcher Form sich Informationen darüber finden lassen. Die Dokumente sind so ausgewählt, dass sie exemplarisch für bestimmte Themen und Entwicklungen, aber auch für verschiedene Quellengattungen und Textsorten stehen. Die Sammlung spiegelt das generelle Problem bei der Beschäftigung mit der deutsch-jüdischen Geschichte wider: die extreme Zersplitterung der Überlieferung und die immensen Quellenverluste durch den Kontinuitätsbruch in der NS-Zeit. Die Archive der Synagogengemeinden und anderer jüdischer Einrichtungen wurden in der NS-Zeit zum großen Teil beschlagnahmt, auseinandergerissen oder gar vernichtet. Von „archivischer Diaspora“ oder auch „Displaced archives“ ist häufig die Rede. In den letzten Jahrzehnten haben neue Aktenfunde sowie die modernen Kommunikationsmöglichkeiten, insbesondere das Internet, unser Wissen allerdings ganz erheblich vermehrt.1 Die Bemühungen, Überlieferungslücken durch intensive Sammlungstätigkeit einerseits, durch die Digitalisierung von Findmitteln zu Archivbeständen und ihre Einstellung ins Internet sowie die Anfertigung von Spezialinventaren2 andererseits zu lösen, wurden verstärkt. Gleichzeitig haben Historiker und Archivare begonnen, sich mit den Spezifika und Problemen des jüdischen Archivwesens zu beschäftigen.3 Für die Forschungen zur deutsch-jüdischen Geschichte sind diese Arbeiten unerlässlich. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die Überlieferung in verschiedenen Archiven gegeben werden, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, aber dazu anregen möchte, bei eigenen Forschungen und Recherchen die vorhandenen Ressourcen möglichst gut zu nutzen.
1. Jüdische Archive Eine Binnenansicht jüdischen Lebens geben insbesondere diejenigen Akten, die die jüdischen Gemeinden selbst produziert haben. Hier sind die größten Verluste zu beklagen. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Überlieferungen vieler jüdischer Gemeinden von Verlust bedroht. Um dieser Gefahr zu begegnen, wurde 1905 in Berlin das „Gesamtarchiv der deutschen Juden“ gegründet. Seit Mitte der 1990er Jahre ist ein Teil der dort gesammelten Akten wieder zugänglich. Sie sind einsehbar auf Mikrofilm im Archiv der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, am angestammten Ort also, im Gebäude der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße 28/29.4 Das „Gesamtarchiv der deutschen Juden“ war das erste wissen-
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schaftliche jüdische Zentralarchiv in Deutschland, initiiert von dem Historiker und Archivar Ezechiel Zivier und gefördert von der Großloge für Deutschland des „Unabhängigen Ordens B’nai B’rith“ (U.O.B.B.) sowie dem „Deutsch-Israelitischen Gemeindebund“. Bald fand das neue Archiv auch Unterstützung durch die Jüdische Gemeinde Berlin und den „Preußischen Landesverband jüdischer Gemeinden“. Die damalige Archivsituation war dadurch gekennzeichnet, dass mit wenigen Ausnahmen wie Frankfurt am Main zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine jüdischen Gemeindearchive in Deutschland bestanden und die systematische Sammeltätigkeit der meisten Gemeinden ohnehin erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts datierte. Mit der Initiative für ein „Gesamtarchiv der deutschen Juden“ übernahm Berlin in Europa eine Vorreiterrolle.5 Ziel war es, eine Zentrale zu schaffen, „wohin jede Gemeinde, eine jede jüdische Institution ihre älteren Akten, die für die laufenden Geschäfte nicht mehr in Frage kamen, zur weiteren Aufbewahrung und Nutzbarmachung für geschichtliche und andere Forschungen abgeben“ könne.6 Überlegungen über eine Verbreiterung der Quellenbasis für Forschungen zur jüdischen Geschichte waren bereits in der 1885 gegründeten „Historischen Kommission für die Geschichte der Juden in Deutschland“ angestellt worden und das Interesse an wissenschaftlicher Forschung begleitete auch die Gründung des Gesamtarchivs. Dem entsprach gleichfalls die Absicht, einen Überblick über Quellen zur Geschichte der Juden in den staatlichen und kommunalen Archiven zusammenzustellen. Die Erarbeitung von Quelleneditionen gehörte auch zu den Zielsetzungen des Gesamtarchivs: „Seine Gründung fiel in eine Phase weitreichender Bestrebungen, die – ganz im Sinne der ‚Erfindung einer Tradition’ – der Erforschung deutsch-jüdischer Geschichte dienten“, so Barbara Welker, Leiterin des Archivs der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“.7 Auch Peter Honigmann, der Leiter des „Zentralarchivs zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland“, betont, dass Forschungsinteressen die Voraussetzungen für die Dokumentationstätigkeit schufen: „Im Unterschied oder vielmehr in Ergänzung zu dem bis dahin vorwaltenden innerjüdischen Geschichtsbegriff, der sich im Wesentlichen auf rabbinische Literaturgeschichte reduzierte, wurde die Geschichte der Juden in Deutschland jetzt verstärkt als Teil der allgemeinen deutschen Geschichte aufgefasst. Diese Zugehörigkeit wurde insbesondere für die Rechts- und Wirtschaftsgeschichte geltend gemacht. Es war damit eine Plattform geschaffen, von der bis zum heutigen Tage immer wieder Programme zur Inventarisierung jüdischer Betreffe in staatlichen und kommunalen Archiven ausgehen.“8 Die Abgabe der Akten an das Gesamtarchiv erfolgte auf der Basis von Depositalverträgen und war freiwillig. Auch Inventare oder Aktenregesten wurden in Berlin gerne entgegengenommen, falls die Gemeinden ihre Akten nicht komplett abgeben wollten. Die Zentralisierungsbestrebungen im jüdischen Archivwesen waren jedoch nicht überall erfolgreich. So gab es auch einen Trend zur Regionalisierung: In ElsassLothringen9 und Schlesien wurden jüdische Regionalarchive ins Leben gerufen, in Hannover und Bayern dagegen scheiterten entsprechende Initiativen.10 Einige Be-
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standsinventare wurden in den erstmals 1908 erscheinenden „Mitteilungen des Gesamtarchivs der deutschen Juden“ veröffentlicht. In dieser Zeitschrift finden sich auch wissenschaftliche Beiträge und Spezialinventare zu Quellen zur Geschichte der Juden in Staats- und Stadtarchiven. Neben dem „Gemeindearchiv“ unterhielt das Gesamtarchiv als weitere Abteilungen eine Sammlung von Urkundenregesten zur Geschichte der Juden in Deutschland, ein „Vereinsarchiv“ für Dokumente jüdischer Vereine, Stiftungen etc., eine Abteilung für familiengeschichtliches Material und eine Präsenzbibliothek. Auf das genealogische Material legte das Gesamtarchiv besonders großen Wert. Man bemühte sich, die bei Gemeinden oder Privatpersonen vorhandenen Personenstandsregister, Mohel- und Memorbücher, Steuer- und Wählerverzeichnisse, Friedhofsverzeichnisse etc. zu sichern. Nach 1933 und verstärkt nach 1935 wurden diese Unterlagen von den Institutionen des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats als Informationsquelle für Personenstandsnachweise missbraucht. Allerdings wuchs in dieser Zeit auch unter den immer mehr ins reale und mentale Ghetto gedrängten Juden das Interesse an Familiengeschichte und somit das Interesse am Gesamtarchiv. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurden die gesamten Bestände des Gesamtarchivs beschlagnahmt, das Reichssippenamt richtete in den Räumen der Bibliothek eine „Zentralstelle für jüdische Personenstandsregister“ ein. Bis 1943 hatte das Gesamtarchiv offiziell Bestand. Wohl im gleichen Jahr kamen die Archivbestände in das Preußische Geheime Staatsarchiv in Berlin-Dahlem und wurden später von dort ausgelagert. Ein Teil der Archivalien gelangte unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen nach Kriegsende nach Merseburg. 1950 wurden sie der Jüdischen Gemeinde Berlin übergeben, dann aber bald als Depositum in der zentralen Archiveinrichtung der DDR, dem Deutschen Zentralarchiv, in Potsdam bzw. in der Zweigstelle in Coswig/Anhalt verwahrt. Im Jahre 1996 wurden die Aktenbestände schließlich an die Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ abgegeben. Andere Teile des Gesamtarchivs gelangten in der Nachkriegszeit in die „Central Archives for the History of the Jewish People“ (CAHJP) in Jerusalem; ein kleinerer Teil wurde 1972 zusammen mit dem Nachlass des letzten Archivars des alten Gesamtarchivs, Jacob Jacobson, dem Archiv des „Leo Baeck Institute“ (LBI) in New York übergeben.11 Weitere Bestände kamen zusammen mit anderen „Beuteakten“ in das Moskauer „Sonderarchiv“ (heute „Zentrum zur Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Sammlungen“), dessen Existenz erst seit 1989 bekannt ist, 12 sowie in das „Jüdische Historische Institut“ in Warschau.13 Unter der Bezeichnung Bestand 1, 75 A sind im Centrum Judaicum die Überlieferungen der einzelnen jüdischen Gemeinden zusammengefasst. Akten aus etwa 400 jüdischen Gemeinden, vorrangig aus Preußen, sind vorhanden. Allerdings ist Berlin die einzige jüdische Großstadtgemeinde, die ihre Akten an das Gesamtarchiv abgegeben hat. So ist die Überlieferungsdichte sehr unterschiedlich. Der Bestand Köln umfasst nur Sammlungsgut, der Bestand Bielefeld dagegen fast 80 Einheiten. Auch zu Müns-
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ter und Soest ist sehr umfangreiches Material erhalten. Für die relative Zurückhaltung der rheinischen jüdischen Gemeinden scheint ein starkes Misstrauen gegenüber der Archivzentrale in der preußisch-deutschen Hauptstadt Berlin ausschlaggebend gewesen zu sein. Das Gros der Akten stammt aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Für den Bereich des Landes Nordrhein-Westfalen sind Akten zu folgenden Orten vorhanden: Beverungen, Bielefeld, Bocholt, Bochum, Bonn, Burgsteinfurt, Dinslaken, Dortmund, Elberfeld, Emmerich, Hagen, Hamm, Haltern, Havixbeck, Herford, Höxter, Hohenlimburg, Köln, Levern, Münster, Neuenkirchen, Niedermarsberg, Paderborn, Preußisch-Oldendorf, Rheda, Rheinberg, Soest, Süchteln, Warburg und Wesel. Die Akten bieten eine seltene und intensive Binnenansicht jüdischen Gemeindelebens. Erhalten sind unter anderem folgende Dokumententypen: Mitgliederlisten, Protokolle von Vorstands- und Repräsentantensitzungen, Statuten und Synagogenordnungen, Materialien zu Steuern und Finanzen, Kauf- und Besitzverträge, Bauund andere Zeichnungen, Kostenvoranschläge, Projektbeschreibungen, Rechnungen, Inventare der Kultgegenstände, Dokumente zum Einbau von Orgeln, Akten betr. Kultus, Friedhöfe, Schulen, Mikwen, Sozialeinrichtungen, Personalangelegenheiten und Schächtangelegenheiten, Prozessunterlagen, Angelegenheiten der Untergemeinden sowie Vereinsakten. Der Bestand 1, 75 B umfasst die Akten der Gemeindeverbände und Rabbinate, zum Beispiel des „Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden“ mit Sitz in Berlin sowie des „Verbandes der Synagogen-Gemeinden Westfalens“ mit Sitz in Bielefeld. Der Bestand 1, 75 C enthält Akten der jüdischen Organisationen. Darunter befinden sich Überlieferungen des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“14, des „Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes“, des „Verbandes der deutschen Juden“, der „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“, des „Komitees zur Bekämpfung antisemitischer Bestrebungen“, des „Allgemeinen Rabbinerverbandes in Deutschland“, des „Verbandes der jüdischen Lehrervereine im Deutschen Reiche“, des „Vereins zur Unterstützung jüdischer Lehrer in Preußen“, des „Verbands für jüdische Wohlfahrtspflege“, des „Vereins für jüdische Geschichte und Literatur“ und des „Deutsch-jüdischen Wanderbundes Kameraden“. Die „Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ besitzt neben den Gesamtarchivsakten auch neu erworbenes Archivgut, das in der Regel, aber nicht ausschließlich, einen Bezug zu Berlin aufweist. Im Jahr 2000 wurde zum Beispiel ein Fotoalbum über jüdische Zwangsarbeiter in Köln aus den Jahren 1939/40 abgegeben. Aus dem Bereich Nachlässe können die Unterlagen der Rabbiner Dr. Leo Baeck für Düsseldorf und Dr. Emil Bernhard Cohn für Bonn und Essen interessant sein. Die gesamten Bestandsinventare der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, einschließlich des früheren „Gesamtarchivs der deutschen Juden“, sind inzwischen im Rahmen der von Stefi Jersch-Wenzel und Reinhard Rürup herausgegebenen Reihe „Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer“ erschienen.15
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Die Übersichten zu den in den „Central Archives for the History of the Jewish People“ in Jerusalem befindlichen Akten jüdischer Gemeinden in Deutschland sind teilweise publiziert und inzwischen online recherchierbar.16 Die „Central Archives“ bewahren 15.000 Akteneinheiten aus nahezu 800 Gemeinden auf; aus der Rheinprovinz sind 399 Akten aus 10 Gemeinden vorhanden. Das Archiv verfügt zudem über eine umfangreiche Mikrofilm-Sammlung. Bestände überregionaler Organisationen und genealogisches Material findet man ebenfalls in Jerusalem. Neben Dokumenten aus dem ehemaligen „Gesamtarchiv“ gelangte auch das gesamte nach 1945 in Deutschland aufgefundene Archivgut jüdischer Gemeinden, das von den NS-Behörden beschlagnahmt und häufig an die Staatsarchive abgegeben worden war, in die „Central Archives“. Führend bei der Rettung jüdischer Archivalien aus Deutschland und anderen von NS-Deutschland okkupierten Ländern waren Dr. Alex Bein (Direktor des „Zionistischen Zentralarchivs“ 1955–1990) und Dr. Daniel J. Cohen (Direktor der „Central Archives“ 1957–1986).17 Inka Arroyo bezeichnete die „Central Archives“ jüngst folgerichtig als virtuelles „‚Staatsarchiv’ der Diaspora“.18 Akten der jüdischen Gemeinden aus der Zeit nach 1945 finden sich entweder vor Ort in den Gemeinden oder im „Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland“ in Heidelberg, das an die Hochschule für Jüdische Studien angegliedert ist.19 Das 1987 gegründete Zentralarchiv ist eine Einrichtung des „Zentralrats der Juden in Deutschland“. In seiner Konzeption knüpft es an das „Gesamtarchiv der deutschen Juden“ in Berlin an. Hauptanliegen ist die Aufbewahrung und Erschließung von historisch wertvollem Archivgut jüdischer Gemeinden, Verbände, Organisationen und Personen. Nach Heidelberg geben beispielsweise folgende Einrichtungen ihre Akten ab: der „Zentralrat der Juden in Deutschland“, die „Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland“, der „Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein“, die „Jüdische Kultusgemeinde Groß-Dortmund“ sowie die „Jüdische Gemeinde Düsseldorf “. Das Heidelberger Zentralarchiv ist zudem bestrebt, die Akten deutsch-jüdischer Provenienz aus dem Moskauer „Sonderarchiv“ nach Deutschland zurückzuführen, bislang allerdings ohne Erfolg. Besonders interessant sind seine Bestände für die inzwischen zunehmenden Studien zur jüdischen Nachkriegsgeschichte. Einige jüdische Gemeinden haben in den letzten Jahren begonnen, ihre Archive zu ordnen und zugänglich zu machen. Die Aktenbestände der Synagogen-Gemeinde Köln konnten inzwischen durch Findmittel erschlossen werden. Für die Nachkriegsbestände (1945–2002) liegt ein 410-seitiges Übersichtsverzeichnis vor. In einem zweiten Band wurde das Sammlungsgut der Gemeinde dokumentiert, unter anderem 4.700 Photos, zahlreiche Zeitungen, Zeitschriften, Zeitungsausschnitte und Videokassetten.20 Die reichhaltigen Bestände des „Leo Baeck Institute“ in New York – darunter die umfangreichste deutsch-jüdische Memoirensammlung weltweit – sind über das Internet zu recherchieren. Das Archiv des Jüdischen Museums Berlin verfügt als Ber-
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liner Dependance des „Leo Baeck Institute“ inzwischen über Kopien großer Teile der New Yorker Sammlung.21 Auch die „Wiener Library“ in London besitzt eine bedeutende Sammlung jüdischer Selbstzeugnisse.22 Weitere Archivalien deutsch-jüdischer Gemeinden befinden sich in der Handschriftensammlung der „Jewish National and University Library“ in Jerusalem. Unter anderem werden dort wichtige Protokoll- und Memorbücher wie das Klever Memorbuch aufbewahrt.23 Auch hier ist eine Online-Recherche möglich.24 Das 1919 von Georg Herlitz in Berlin gegründete „Zionistische Archiv“ wurde 1933 mit den gesamten Beständen nach Jerusalem verlegt. Die heutigen „Central Zionist Archives“ beherbergen unter anderem den umfangreichen Nachlass des Kölner Zionisten Dr. Max Isidor Bodenheimer und seiner Familie sowie (Teil-) Nachlässe seines Mitstreiters David Wolffsohn, Präsident der Zionistischen Weltorganisation 1905–1911, des Duisburger Zionisten Harry Epstein und des Sozialisten und Vorkämpfer der zionistischen Bewegung Moses Hess. Da dort auch die Akten der „Zionistischen Weltorganisation“ seit 1897 aufbewahrt werden, sind in diesem Bestand auch für den Kölner Zionismus wichtige Informationen zu erwarten („Zionistisches Zentralbureau in Köln“). Auch hier sind Online-Recherchen möglich.25 Inzwischen sammeln auch verstärkt Museen26, Gedenkstätten27 und universitäre Forschungseinrichtungen28 Dokumente zur jüdischen Geschichte. Im Archiv des Jüdischen Museums Berlin und in den Gedenkstätten in NRW werden im wesentlichen Nachlässe und Familienpapiere gesammelt, die gerade für lokale und regionale Forschungen von großer Bedeutung sind. Nun noch einige Bemerkungen zur Überlieferung der genealogischen Unterlagen des ehemaligen „Gesamtarchivs der deutschen Juden“.29 Diese Materialien wurden, wie oben erwähnt, in der NS-Zeit beschlagnahmt. Zusammen mit anderen von der „Reichsstelle für Sippenforschung“ und dem „Reichssippenamt“ gesammelten jüdischen Personenstandsregistern und weiteren Sammlungen wurden sie während des Zweiten Weltkriegs nach Schloss Rathsfeld in Thüringen ausgelagert und im Auftrag des „Reichssippenamtes“ verfilmt (sog. Gatermann-Filme). Vermutlich 1945 sind die Originale vernichtet worden. Mikrofilme dieser Register sind nach 1945 an die zuständigen Staatsarchive gelangt.30 Heute befinden sich Fotoabzüge der NRW-Unterlagen in den Personenstandsarchiven in Detmold und Brühl, im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main sowie in einigen Archiven im Ausland (u.a. in den „Central Archives“ in Jerusalem). Zu den Beständen gehören jüdische Geburts-, Sterbe- und Heiratsregister, Mitgliederlisten jüdischer Gemeinden, Belegungslisten von Friedhöfen sowie Grabsteininschriften. Die Belegungslisten können besonders interessant sein, weil sich mit ihrer Hilfe zerstörte Friedhöfe vollständig rekonstruieren lassen. Die Personenstandsunterlagen zu den Regierungsbezirken Arnsberg, Detmold und Münster werden im Personenstandsarchiv Westfalen-Lippe in Detmold unter der Signatur P 10 geführt und durch ein Repertorium erschlossen. In Brühl existieren Findlisten.
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Es sei noch darauf hingewiesen, dass Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle von Juden im Rheinland bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts – lange vor der Einführung der Standesämter 1874/76 in Preußen bzw. im Deutschen Reich – auf staatliche Weisung registriert wurden, und zwar von den Bürgermeistern und den kirchlichen Behörden. Für die Erhebung personenbezogener Daten sind daher auch die Bestände der Staatsarchive und Personenstandsarchive, Kommunalarchive und Pfarrarchive von Interesse.31 Unverzichtbar für Recherchen zur NS-Zeit ist – neben den NS-Gedenkstätten und Archiven in NRW – das Archiv von „Yad Vashem“, der zentralen israelischen Schoa-Gedenkstätte. Dort werden unter anderem Dokumente aus dem KZ Theresienstadt, Mikrofilme von Akten des Auswärtigen Amtes und diverser NSDAP-Parteiformationen sowie von Akten staatlicher Institutionen aufbewahrt, die in der Nachkriegszeit von den Besatzungsbehörden beschlagnahmt wurden. Auf der Homepage von „Yad Vashem“ ist eine Opferliste „The Central Database of the Shoah Victims’ Names“, recherchierbar, die auch das vom Bundesarchiv erarbeitete Gedenkbuch berücksichtigt. Ebenso findet man dort „The Online Photo Archive“ und „The Shoah-related lists Database“.32
2. Zeitungen und Zeitschriften Eine wichtige, häufig auch die einzige Quelle zu vielen Aspekten des jüdischen Lebens sind die zeitgenössischen jüdischen Zeitungen. 1930 schrieb Georg Herlitz in dem von ihm herausgegebenen „Jüdischen Lexikon“ über die jüdische Presse: „Die 5000 j[üdischen] Zeitungen, die von 1667–1929 erschienen sind, verteilen sich auf alle fünf Weltteile, auf rund 70 Länder, d.h. auf alle Länder, in denen überhaupt J[uden] wohnen oder gewohnt haben, und auf alle Sprachen, in denen J[uden] je gesprochen haben. […] Inhaltlich sind am j[üdischen] Zeitungswesen alle religiösen, politischen und sozialen Richtungen innerhalb des J[udentums] gleichmäßig beteiligt; auch hat die j[üdische] P[resse] versucht, allen im J[udentum] vorhandenen Bedürfnissen, den wissenschaftlichen, beruflichen, literarischen, pädagogischen und denen der Jugend, gerecht zu werden, so dass sie, wie sie war und heute ist, wirklich ein getreues Abbild des j[üdischen] Lebens darstellt.“33 Die jüdischen Zeitungen und Zeitschriften erlauben eine „jüdische Sicht“ auf Ereignisse und Entwicklungen. Dass die Inhalte der Artikel – genauso wie andere Quellentexte – kritisch hinterfragt werden müssen, versteht sich indessen von selbst. Zudem ist wichtig zu wissen, dass es in Deutschland keine jüdische Tagespresse gab. Man las im deutsch-jüdischen Bürgertum die „Frankfurter Zeitung“, die „Kölnische Zeitung“ oder die „Gartenlaube“ – und möglicherweise auch eine oder mehrere jüdische Zeitungen und Zeitschriften. Gefördert von der „Deutschen Forschungsgemeinschaft“ sind in den Jahren 2000– 2006 in einem Großprojekt „Jüdische Periodika im deutschsprachigen Raum“ die
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wichtigsten bis 1938 erschienenen jüdischen Zeitschriften und Zeitungen, die heute weltweit zerstreut sind, digitalisiert und online bereitgestellt worden. Die Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, das Lehr- und Forschungsgebiet Deutsch-jüdische Literaturgeschichte in Aachen und die Bibliothek Germania Judaica in Köln haben bei der Realisierung des Projekts kooperiert. Über das Portal www.compactmemory. de ist der Bestand frei zugänglich. Allerdings sind bislang nur die kleineren Presseorgane über Volltextsuche abfragbar. Ansonsten ist eine erweiterte Datenbanksuche bei der Recherche hilfreich. Die „Allgemeine Zeitung des Judenthums“ wurde 1837 von dem Magdeburger Rabbiner Dr. Ludwig Philippson gegründet, der nach seiner Pensionierung in Bonn lebte und das Blatt von dort aus bis zu seinem Tod 1889 herausgab. Der religiös liberal orientierte Rabbiner war einer der Vorkämpfer der jüdischen Emanzipation in Preußen, Mitbegründer der „Lehranstalt“ bzw. „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ und des „Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes“ in Berlin. Erst 1922 wurde das Erscheinen der Zeitung eingestellt. In der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ finden sich tausende Lokalkorrespondenzen und lokale Belange betreffende Artikel, die in den 1890er Jahren sogar in einer speziellen Beilage, dem „Gemeindeboten“ zusammengefasst wurden. Ergiebig sind auch die Lokalnachrichten der Zeitung „Der Israelit“, die die strenge jüdisch-orthodoxe Richtung (Austrittsorthodoxie) vertrat und von 1860 bis 1938 erschien. Unter der Leitung des Rabbiners und Schriftstellers Marcus Lehmann (1831–1890) und später seines Sohnes Oscar Lehmann (1858–1928) verstand sich das „Centralorgan für das orthodoxe Judentum“ als Gegengewicht zur „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ sowie ihrer Nachfolgerin, der „C.V.-Zeitung“. Diese war das Zentralorgan des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Lokalnachrichten brachten auch die großen, überregional verbreiteten jüdischen Zeitungen des 20. Jahrhunderts, neben der C.V.-Zeitung (1922–1938) insbesondere die zionistische „Jüdische Rundschau“ (1902–1938). Wichtig waren auch das äußerst populäre, in Hamburg erscheinende „Israelitische Familienblatt“ und „Der Schild“, die Zeitung des „Reichbundes jüdischer Frontsoldaten“. Besonders interessant für die Lokal- und Regionalgeschichtsschreibung sind die von den jüdischen Gemeinden herausgegebenen Gemeindezeitungen, die auch im Rheinland in größerer Zahl publiziert wurden. Von 1928 bis 1932 erschien das „Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde Duisburg“ mit mehreren Ausgaben für verschiedene Städte. Das gleiche gilt für die „Düsseldorfer Gemeindezeitung“, die von 1930/31 bis 1938 herauskam und während der nationalsozialistischen Herrschaft auch mit einem eigenen Lokalteil für Duisburg, Essen, Mönchengladbach und Wuppertal vertreten war. Das „Gemeindeblatt“ bzw. die „Gemeindezeitung für den Synagogenbezirk Essen“ erschien wohl zwischen 1929 und 1938. Von 1888 bis 1921 wurde in Köln das „Israelitische Gemeindeblatt“ publiziert. Das „Gemeindeblatt für die Synagogengemeinde Köln am Rhein“ berichtete zwischen 1931 und 1938 auch über Angelegenhei-
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ten der kleineren Gemeinden in der Umgebung. Ab September 1933 hieß das Organ „Gemeindeblatt für die jüdischen Gemeinden in Rheinland und Westfalen“, ab April 1937 „Jüdisches Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen“. Für längere Zeit erschien auch das „Gemeindeblatt der Synagogengemeinde zu Aachen und Umgebung“ (1926–1938?). Kurzlebiger waren die Gemeindeblätter für Bochum und Mülheim an der Ruhr, für Bonn, Mönchengladbach und das Bergische Land. Die rheinische Metropole Köln hat in den 1920er und 1930er Jahren eine Vielzahl jüdischer Presseorgane hervorgebracht. Besonders interessant ist das zionistisch und sozialdemokratisch orientierte „Kölner Jüdische Wochenblatt“ („Ein Centralorgan für die Juden in Rheinland und Westfalen“), 1923 bis 1933 unter der Federführung von Joachim Fink verlegt. Von 1925 bis 1929 erschien die Kölner Ausgabe der „Jüdisch-liberalen Zeitung“. Nur 1921/22 wurde der „Jüdische Beobachter“ („Einziges Organ des gesetzestreuen Judentums Westdeutschlands“) mit seiner Beilage, dem „Jüdischen Volksfreund“ veröffentlicht. Das orthodoxe und antizionistische Blatt stand der „Agudas Jisroel“, dem 1912 gegründeten Weltverband der toratreuen Juden, und dem „Verein für die jüdischen Interessen Rheinlands“ unter seinem Rabbiner Dr. Benedikt Wolf nahe und verstand sich als Familienblatt auch für die kleinen Landgemeinden im Rheinland.34 Die genannten Zeitungen und Zeitschriften mit lokalem und regionalem Verbreitungsradius sind in der Kölner Bibliothek Germania Judaica35 als Mikrofilm oder in der Kölner Universitätsbibliothek auch im Original zugänglich. Die traditionsreiche Emigranten-Zeitung „Aufbau“, die ab 1934 in New York erschien, ist bis 1950 als Digitalisat im Internet einsehbar.36 Wer sich einen Eindruck über jüdisches Leben der Gegenwart verschaffen will, schaue auf die Homepages der „Jüdischen Allgemeinen. Wochenzeitung für Politik, Kultur, Religion und jüdisches Leben“, der „Jüdischen Zeitung“ oder in das Online-Portal „Hagalil“.37 Die allgemeine Lokalpresse, die von den großen Universitäts- und Stadtbibliotheken und der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf38, auch von manchen Kreisarchiven sowie im Internationalen Zeitungsmuseum der Stadt Aachen (in Einzelausgaben) oder im Institut für Zeitungsforschung in Dortmund gesammelt wird, ergänzt das Bild.39
3. Staatliche und kommunale Archive An dieser Stelle kann natürlich kein Überblick über die gesamten Aktenbestände zur rheinisch-jüdischen Geschichte in öffentlichen Archiven gegeben werden. Die Bundesarchive in Koblenz und Potsdam und das Landesarchiv in Koblenz müssen ebenso außerhalb der Betrachtung bleiben wie die Kreisarchive. Auch auf Archivalien zur jüdischen Geschichte in Kirchen-, Adels-, Universitäts- und Wirtschaftsarchiven kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden.40
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Manfred Jehle hat den Zusammenhang zwischen Repression einerseits und Dichte der Aktenüberlieferung andererseits prägnant benannt: „In den Beständen der staatlichen Verwaltungen sind die Akten zur Geschichte der Juden – oder jedenfalls der größte Teil davon – umso leichter aufzufinden, je rechtloser deren Status in der Gesellschaft war. Denn solange die Juden und die jüdischen Gemeinden einen besonderen Rechtsstand hatten, solange ihre Angelegenheiten getrennt von denen der übrigen Untertanen geregelt wurden, beschäftigten sich Behörden und Referate mit ihnen und hinterließen Konvolute, die eindeutig mit ‚Judensachen‘ und dergleichen etikettiert sind. Dies gilt für die Zeit des NS-Regimes ebenso wie für das 18. und 19. Jahrhundert. Daraus lässt sich die einfache Regel ableiten: Je weniger Rechtsstaatlichkeit und Rechtsgleichheit herrschte, kurz, je ‚unzivilisierter’ die Geschichte des Landes ist, desto mehr staatliche Akten zur Geschichte der Juden gibt es und desto leichter sind sie aufzufinden.“41 Das ist zwar etwas vereinfacht, grundsätzlich aber richtig; allerdings befinden sich Informationen zur jüdischen Geschichte in den Archiven nicht nur in den einschlägigen „Judenakten“. Das von Stefi Jersch-Wenzel und Reinhard Rürup herausgegebene mehrbändige Handbuch „Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer“, als Großprojekt von der Historischen Kommission zu Berlin initiiert, gibt einen nahezu vollständigen Überblick über Judaica-Aktenbestände im Bereich der ehemaligen DDR – in staatlichen, kommunalen und kirchlichen Archiven, in Adels-, Wirtschafts- und Universitätsarchiven sowie in den Archiven von Organisationen und Verbänden.42 Das gesamte altpreußische Staatsgebiet wird von dem ersten, 2003 erschienenen und ebenfalls von Stefi Jersch-Wenzel herausgegebenen Band der „Quellen zur Geschichte der Juden in polnischen Archiven“ abgedeckt.43 In den alten Bundesländern und vor allem in Nordrhein-Westfalen ist man weit von diesem Zustand entfernt. Am besten sind die Akten des Landesarchivs NRW, Abteilung Westfalen in Münster erschlossen. Das von Ursula Schnorbus erarbeitete und 1983 veröffentlichte Spezialinventar „Quellen zur Geschichte der Juden in Westfalen“ verzeichnet Akten vom 14. bis 20. Jahrhundert. Handschriften, Pergamenturkunden und Protokollreihen sowie Wiedergutmachungsakten sind nicht berücksichtigt.44 Das sachthematische Inventar geht auf Vorarbeiten aus der NSZeit zurück: Im Jahre 1937 verlangte der Generaldirektor der preußischen Staatsarchive von den ihm unterstellten Archiven die Einsendung von Findbuchauszügen betreffend „Archivalien zur Geschichte der Judenfrage“. Ziel war es, die Arbeiten der Forschungsabteilung „Judenfrage“ des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland“ mit einer Gesamtübersicht über die Judaica-Bestände in deutschen Archiven zu unterstützen – und damit zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung beizutragen.45 Direkt auf die Erhebungen in der NS-Zeit zurückzuführen sind zwei unpublizierte Spezialinventare des Landesarchivs NRW, Abteilung Rheinland in Düsseldorf. Die Verzeichnungen befinden sich in einem chaotischen Zustand und sind durch
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zahlreiche handschriftliche Einfügungen ergänzt. Sie sind insgesamt völlig veraltet, dokumentieren allerdings Betreffe zur jüdischen Geschichte in Beständen, in denen man sie vielleicht gar nicht vermutet hätte. Das Findbuch betitelt „Judenbetreffe in Urkunden und Aktenbeständen des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf “ umfasst auf 84 maschinengeschriebenen Seiten die Zeit zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert. Der schmale Band verzeichnet Dokumente aus den Jahren 1350–1600 hauptsächlich für die Gebiete Jülich-Berg, Kurköln und das Herzogtum Westfalen sowie für zahlreiche kleinere Herrschaften wie Abtei Siegburg, Abtei Werden, Stift Rees, Abtei Altenberg und Stift Essen sowie die Stadt Bonn (Depositum). Das umfangreichere Spezialinventar „Akten und Urkunden des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf betreffend Juden und jüdisches Religionswesen“ ist ebenfalls ein Typoskript, das auf 270 Seiten die Zeit vom 14. bis zum 20. Jahrhundert umfasst. Es verzeichnet für das Alte Reich Dokumente vor allem aus Jülich-Berg sowie zahlreichen Unterherrschaften, aber nur wenige kurkölnische Bestände, sodann das Archivgut der französischen Zeit und ausführlich die preußischen Registraturen. Für die Recherche nach Quellen zur Zeit vor 1800 ist unbedingt die Heranziehung sowohl der publizierten als auch der unveröffentlichten allgemeinen Inventare notwendig. Die preußischen „Judenakten“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts spiegeln das Bestreben der Behörden wider, das jüdische Leben und die jüdischen Gemeinden umfassend zu kontrollieren. Sie sind zugleich unverzichtbar, um die Situation der jüdischen Bevölkerung in Staat und Gesellschaft zu erforschen. Am bequemsten benutzbar sind die Judaica-Akten der Regierungen Köln, Aachen und Düsseldorf sowie der Landratsämter anhand der neuen allgemeinen Findbücher zu den Beständen. Besonders interessant und umfangreich sind hierbei die Akten, die die Organisation der Synagogengemeinden nach dem Gesetz vom 23. Juli 1847 betreffen, sowie die Schulakten. Aufschlussreich ist auch der Bestand „Rückerstattungen“, gebildet bei einzelnen Landgerichten, der im Lesesaal des Landesarchivs NRW, Abteilung Rheinland in der Düsseldorfer Mauerstraße (demnächst in Duisburg) eingesehen werden kann. Das Genehmigungsverfahren zur Einsichtnahme scheint in den letzten Jahren liberalisiert worden zu sein. Die die rheinischen Gebiete betreffenden Bestände sind hervorragend verzeichnet, erschlossen nach Antragstellern und „Arisierern“, nach Orten und nach der Art des entzogenen Eigentums. Die Akten sind nicht nur im Hinblick auf das „Arisierungsverfahren“, sondern auch für genealogische Recherchen interessant. Zur Geschichte der Bauten der jüdischen Gemeinden finden sich ebenfalls zahlreiche Hinweise. Auch andere Bestände der Justizüberlieferung, wie Amtsgerichte, Staatsanwaltschaften und Entnazifizierungsstellen, bieten interessantes Material. Einen Einblick in den jüdischen Alltag während der NS-Zeit geben nicht nur Gestapo-Akten, sondern auch die Akten der nach 1945 vor den Landgerichten angestrengten Prozesse. In diesen Prozessen wurde – zumeist allerdings nicht besonders energisch – versucht, die Zerstörung von Synagogen und anderem Eigentum der jüdischen Gemeinden sowie die Misshandlungen jüdischer Menschen vor allem im
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Zusammenhang mit dem Novemberpogrom 1938 zu ahnden: Es ging um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Vor allem die zahlreichen Zeugenaussagen konterkarieren die lakonischen Verlautbarungen der zeitgenössischen Presse und der Behördenakten zu den Ereignissen von 1938. Auch diese Akten finden sich in den einzelnen Abteilungen des Landesarchivs NRW. Über die Homepage www.archive.nrw.de kann man im Landesarchiv NRW und seinen Abteilungen gezielt nach einzelnen Akten recherchieren. Da zunehmend Archivbestände digitalisiert werden, dürfte diese Recherche mit der Zeit immer erfolgreichere Resultate zeitigen. Über die Homepage erreicht man auch digitalisierte Bestandsübersichten in Kommunal-, Wirtschafts-, Kirchen- und Universitätsarchiven sowie weiteren einschlägigen Einrichtungen.46 Zum Schluss noch einige Worte zu den in kommunalen Archiven aufbewahrten Dokumenten zur deutsch-jüdischen Geschichte. Wir sind weit davon entfernt, einen systematischen Überblick über diese Materialien zu haben, obwohl einiges natürlich in den in den letzten Jahrzehnten zahlreich erschienenen Monographien zur jüdischen Geschichte aufgearbeitet wurde. Relativ leicht zugänglich sind in Kommunalarchiven die typischen preußischen „Judenakten“, die entweder unter der Rubrik „Verhältnisse der Juden“ gesondert untergebracht oder in die Bestände betreffend die allgemeinen kirchlichen Verhältnisse inkorporiert sind. Man findet dort vor allem Akten zum Kultus im Allgemeinen, zu Grundstückskäufen und Synagogenbauten, zu Anlage, Schließung und Erweiterung von Friedhöfen, außerdem umfangreiche Schulakten, Unterlagen zur Aufstellung von Haushaltsetats, Hebelisten für die Steuerveranlagung und Wählerlisten für die Wahlen zu den Gemeindegremien sowie Schriftgut im Zusammenhang mit der Konstituierung der Gemeinden. Manchmal sind Beschwerden von Gemeindemitgliedern oder Unterlagen zu Stiftungen überliefert. Auch Bevölkerungslisten befinden sich in den Beständen, zuweilen mit Notizen zur sozialen Stellung und Berufsstruktur der einzelnen Personen versehen. Schülerlisten und Visitationsberichte sind sehr häufig überliefert. Über die Wohnsituation jüdischer Familien informieren Hausbücher oder Bauakten, die allerdings oft noch bei den Bauämtern in der laufenden Registratur zu finden sind. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass sich jüdische Betreffe auch in Beständen finden, die häufig nicht so leicht zu erschließen sind, beispielsweise in den Protokollen über die Sitzungen des Stadt- oder Gemeinderats und in der Oberbürgermeisterregistratur, in den Beständen der Steuerverwaltung und der Armenverwaltung, in den Schulakten, in der Gesundheitsregistratur, im Bereich der Polizeidirektion oder des Polizeipräsidiums, in den Personalakten, in Notariatsakten, in Bauakten u.s.w. Die Personenstandsüberlieferung der Standesämter kann seit 2009 unter Beachtung spezifischer Fristen als Archivgut ebenfalls in den Kommunalarchiven eingesehen werden. Das „Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland“ in Heidelberg sammelt Hinweise auf relevante Akten der Kommunalarchive. Auf
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der Homepage finden sich allerdings zur Zeit für den rheinischen Teil NordrheinWestfalens lediglich Angaben zu Aachen, Bonn, Dinslaken, Goch, Moers, Mülheim an der Ruhr, Oberhausen, Wesel, Xanten, Ratingen, Stolberg und Wuppertal, wobei es sich im Wesentlichen um Kopien aus Findbüchern handelt. Die Erarbeitung eines Spezialinventars „Quellen zur jüdischen Geschichte im Rheinland“, das vom Mittelalter bis zur Gegenwart reichen sollte, bleibt ein Desiderat – es würde ein wichtiges Hilfsmittel für die Forschung darstellen.
Anmerkungen 1 Zahlreiche hilfreiche Internet-Adressen finden sich in der folgenden Publikation: Claudia Maria Arndt (Hg.), Unwiederbringlich vorbei. Geschichte und Kultur der Juden an Sieg und Rhein. Zehn Jahre Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“, Siegburg 2005, S. 254–261; vgl. auch die Links auf der Homepage der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“: www.cjudaicum.de, 23.7.2010. 2 Hier ist vor allem folgendes Großprojekt zu nennen: Stefi Jersch-Wenzel/Reinhard Rürup (Hg.), Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer, 6 Bde., München 1996–2001; für den hessischen Bereich vgl. Hartmut Heinemann (Bearb.), Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden 1806–1866, Wiesbaden 1997; J. Friedrich Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1651–1806, 2 Teile, Wiesbaden 2008. Katrin Clever vom LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum in Pulheim-Brauweiler hat 2009 ein Manuskript „Jüdische Ortsgeschichte(n). Wegweiser zu den Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts“ erarbeitet, in dem anhand von drei rheinischen Beispielen (Dorf Lüxheim, Kleinstadt Jülich, Großstadt Bonn) die Bestandsübersichten in den Archiven im In- und Ausland durchforstet wurden. Der „Wegweiser zu den Quellen“ versteht sich vor allem als Hilfestellung für Historiker und interessierte Laien. Eine Veröffentlichung des „Wegweisers“ wäre dringend zu wünschen. Ich danke Frau Clever für die freundliche Überlassung ihres Manuskripts. 3 Grundlegend ist die folgende Publikation: Frank M. Bischoff/Peter Honigmann (Hg.), Jüdisches Archivwesen. Beiträge zum Kolloquium aus Anlass des 100. Jahrestages der Gründung des Gesamtarchivs der deutschen Juden, zugleich 10. Archivwissenschaftliches Kolloquium der Archivschule Marburg, 13.–15. September 2005, Marburg 2007. 4 Barbara Welker, Das Gesamtarchiv der deutschen Juden, in: Hermann Simon/Jochen Boberg (Hg.), „Tuet auf die Pforten“. Die Neue Synagoge 1866–1995. Begleitbuch zur ständigen Ausstellung der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“/Museumspädagogischer Dienst Berlin, Berlin 1995, S. 227–234; dies., Das Archiv der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, in: Menora. Jahrbuch für deutschjüdische Geschichte 12 (2001), S. 325–343; dies., Das Gesamtarchiv der deutschen Ju-
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den – Zentralisierungsbemühungen in einem föderalen Staat, in: Bischoff/Honigmann, Jüdisches Archivwesen, S. 39–73. Homepage: www.cjudaicum.de, 23.7.2010. 5 Georg Herlitz, Archive, jüdische, in: Jüdisches Lexikon, Bd. 1, ND Königstein/Ts. 1982, S. 458f. 6 Zit. nach Welker, Gesamtarchiv, S. 40. 7 Ebd., S. 42; vgl. auch Elisabeth Brachmann-Teubner, Sources for the History of the Jews from the Eighteenth Century to the Twentieth Century in the Archives of the Former DDR, in: Leo Baeck Institute Year Book 38 (1993), S. 391–408. 8 Peter Honigmann, Geschichte des jüdischen Archivwesens in Deutschland, in: Der Archivar. Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen 55, Heft 3 ( Juli 2002), S. 223–230, Zitat S. 223. 9 Vgl. zur Entwicklung im Elsass Peter Honigmann, Nichtstaatliches Schriftgut einer Grenzregion am Beispiel der Archivaliensammlung der Gesellschaft für die Geschichte der Israeliten in Elsass-Lothringen, in: Archive im zusammenwachsenden Europa. Referate des 69. Deutschen Archivtages und seiner Begleitveranstaltungen 1998 in Münster, Siegburg 2000, S. 131–140. 10 Welker, Gesamtarchiv, S. 51f. 11 Zum LBI vgl. Frank Mecklenburg, Deutsch-jüdische Archive in New York und Berlin: drei Generationen nach dem Holocaust, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 12 (2001), S. 311–323. Der Aufsatz von Mecklenburg thematisiert die Zusammenarbeit der beiden Institutionen als Zukunftsaufgabe. Seit 2000 hat sich das LBI mit vier weiteren Forschungseinrichtungen ( Jewish Historical Society, American Sephardi Federation, Yeshiva University Museum, YIVO Institute for Jewish Research) zum New Yorker Center for Jewish History zusammengeschlossen. Im Jüdischen Museum in Berlin existiert eine Dependance des New Yorker LBI. 12 Götz Aly/Susanne Heim, Das Zentrale Staatsarchiv in Moskau („Sonderarchiv“). Rekonstruktion und Bestandsverzeichnis verschollen geglaubten Schriftguts aus der NSZeit, Düsseldorf 1992; vgl. auch Welker, Gesamtarchiv, S. 73 und neuerdings Elijahu Tarantul, Raub oder Rettung? Jüdische Akten im Moskauer Sonderarchiv, in: Bischoff/ Honigmann, Jüdisches Archivwesen, S. 111–141. 13 Zur Arbeit des Archivs des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau vgl. Felix Tych, in: Bischoff/Honigmann, Jüdisches Archivwesen, S. 177–191. 14 Avraham Barkai, The C.V. and its Archives. A Reassessment, in: Leo Baeck Institute Year Book 45 (2000), S. 173–182. Vgl. jetzt auch die Dissertation von Christina Goldmann, Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Rheinland und Westfalen 1903–1938, Düsseldorf 2006, online: http://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/ DocumentServlet?id=8552, 25.7.2010. 15 Stefi Jersch-Wenzel/Reinhard Rürup (Hg.), Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer, Bd. 6, 2 Teile, München 2001; vgl. Manfred Jehle, Quellen-Inventare zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 12 (2001), S. 371–386.
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16 Homepage: http://sites.huji.ac.il/cahjp/, 25.7.2010; Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem, Newsletter, 3, 1973, S. 12–23. Einen ersten Überblick über die Bestände der Central Archives bietet Daniel J. Cohen, Jewish Records from Germany in the Jewish Historical General Archives in Jerusalem, in: Leo Baeck Institute Yearbook 1 (1956), S. 331–345. 17 Denise Rein, Die Bestände der ehemaligen jüdischen Gemeinden Deutschlands in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem. Ein Überblick über das Schicksal der verschiedenen Gemeindearchive, in: Der Archivar 55 (2002), S. 318–327. 18 Inka Arroyo, Raison d’être der „Central Archives for the History of the Jewish People“ als virtuelles ‚Staatsarchiv‘ der Diaspora, in: Bischoff/Honigmann, Jüdisches Archivwesen, S. 75–96. 19 Homepage: www.uni-heidelberg.de/institute/sonst/aj, 25.7.2010. Zum Zentralarchiv vgl. Peter Honigmann, Das Heidelberger Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 12 (2001), S. 345–371. 20 Homepage: www.sgk.de, 25.7.2010. Die Findmittel wurden von Dr. Kerstin Kähling in den Jahren 2001–2003 erstellt. 21 Homepages: www.jmberlin.de, 25.7.2010 und www.lbi.org, 25.7.2010 . Vgl. auch Max Kreutzberger (Hg.), Leo Baeck Institute New York. Bibliothek und Archiv. Deutschsprachige jüdische Gemeinden. Zeitungen, Zeitschriften, Jahrbücher, Almanache und Kalender, unveröffentlichte Memoiren und Erinnerungsschriften, Tübingen 1970; Fred Grubel (Hg.), Catalog of the Archival Collections of the Leo Baeck Institute, Tübingen 1990. 22 Homepage: www.wienerlibrary.co.uk, 25.7.2010. 23 Bernhard Brilling, Jüdisches Archivwesen nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland, Frankreich und Holland, in: Archivalische Zeitschrift 63 (1967), S. 167. 24 Homepage: www.jnul.huji.ac.il, 25.7.2010. 25 Homepage: www.zionistarchives.org.il, 25.7.2010. Vgl. auch Central Zionist Archives (Hg.), Guide to the Archival Record Groups and Collections. World Zionist Organisation, Central Zionist Archives, Jerusalem 2003. 26 Aubrey Pomerance, Jüdische Museen als Motor archivischer Sammeltätigkeit, in: Bischoff/Honigmann, Jüdisches Archivwesen, S. 331–351. 27 Homepage: www.ns-gedenkstaetten.de/nrw, 25.7.2010. 28 Vgl. die Homepage des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts: http://134.91.195.113/. wiki/index.php/Hauptseite, 25.7.2010. 29 Diana Schulle, Das Gesamtarchiv der deutschen Juden und die Zentralstelle für jüdische Personenstandsregister, in: Herold-Jahrbuch N.F. 9 (2004), S. 107–116. 30 Zu diesen Unterlagen vgl. auch Bernhard Brilling, Jewish Records in German Archives. Results of a Scientific Journey 1955-1956, in: Leo Baeck Institute Year Book 1 (1956), S. 358f. Zum abenteuerlichen Schicksal dieser Unterlagen vgl. auch Hartmut Heinemann, Das Schicksal der jüdischen Personenstandsregister: Die verschlungenen
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Wege der Gatermann-Filme, in: Bischoff/Honigmann, Jüdisches Archivwesen, S. 193–215. 31 Zur genealogischen Forschung vgl. auch den interessanten Aufsatz von Frank Mecklenburg, Jüdische Familienforschung im Internet, in: Bischoff/Honigmann, Jüdisches Archivwesen, S. 353–364. 32 Homepage: www.yadvashem.org, 25.7.2010. 33 Zit. nach Hans Otto Horch/Till Schicketanz, „Ein getreues Abbild des jüdischen Lebens“. Compact Memory – Ein DFG-Projekt zur retrospektiven Digitalisierung jüdischer Peridodika im deutschsprachigen Raum, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 12 (2001), S. 387. 34 Ursula Reuter, Jüdische Presse im Rheinland seit 1750, in: Ludger Heid/Julius H. Schoeps/Marina Sassenberg (Hg.), Wegweiser durch das jüdische Rheinland, Berlin 1992, S. 346-354; dies., Jüdische Zeitungen in Köln 1919-1938, in: Geschichte in Köln 29 (1991), S. 83–117 (beruhend auf der Magisterarbeit „Studien zu Profil und Funktion jüdischer Zeitungen in den Jahren 1921-1938“). Überregional: Herbert Freeden, Die jüdische Presse im Dritten Reich, Frankfurt/M. 1987; Herbert A. Strauss, The Jewish Press in Germany 1918-1939 (1943), in: The Jewish Press that was, Tel Aviv 1980, S. 321–354; Jacob Borut, Die jüdisch-deutsche Presse Ende des 19. Jahrhunderts als historische Quelle, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 7 (1996), S. 43–60; Barbara Suchy, Die jüdische Presse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Julius H. Schoeps (Hg.), Juden als Träger bürgerlicher Kultur in Deutschland, Stuttgart/Bonn 1989, S. 167–192. 35 Homepage: www.germaniajudaica.de (25.7.2010). Wichtige in der NS-Zeit in Deutschland erschienene Zeitungen und Zeitschriften, z.B. die „Blätter des Jüdischen Kulturbundes Rhein-Ruhr“ und das „Jüdische Nachrichtenblatt“ (1939–1943), sind über http://deposit.ddb.de/online/jued/jued.htm, 25.7.2010 zu recherchieren. 36 http://deposit.d-nb.de/online/exil/exil.htm, 25.7.2010. Der „Aufbau“ erschien von 1934 bis 2004 in New York, seit 2005 wird er in Zürich unter dem Titel „Aufbau. Das jüdische Monatsmagazin“ herausgegeben. Homepage: www.aufbauonline.com 25.7.2010. 37 Homepages: www.juedische-allgemeine.de, 25.7.2010; www.j-zeit.de, 25.7.2010; www. hagalil.com, 25.7.2010. 38 Homepage: www.ub.uni-duesseldorf.de, 25.7.2010. 39 Vgl. www.zeitschriftendatenbank.de, 25.7.2010. 40 An dieser Stelle sei nochmals auf das Manuskript von Katrin Clever, Jüdische Ortsgeschichte(n) verwiesen. 41 Manfred Jehle, Quellen-Inventare zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer, S. 379. 42 Stefi Jersch-Wenzel/Reinhard Rürup (Hg.), Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer, 6 Bde., München 1996–2001. 43 Stefi Jersch-Wenzel (Hg.), Quellen zur Geschichte der Juden in polnischen Archiven, 2 Bde., München 2003–2005.
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44 Ursula Schnorbus (Bearb.), Quellen zur Geschichte der Juden in Westfalen. Spezialinventar zu den Akten des Nordrhein-Westfälischen Staatsarchivs Münster, Münster 1983; vgl. auch J. Friedrich Battenberg, Die Inventarisierung der Quellen zur Geschichte der Juden in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Bischoff/Honigmann, Jüdisches Archivwesen, S. 365–385. 45 Brachmann-Teubner, Sources, S. 395. 46 Homepage: www.archive.nrw.de, 25.7.2010.
I. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit 1. Einführung Im Verlauf des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden die Juden aus fast allen großen Städten Deutschlands und zahlreichen Territorien ausgewiesen. Diese Entwicklung hatte vielfältige Ursachen. Neben der wirtschaftlichen Konkurrenz wurden immer wieder religiöse Gründe als Motivation für Vertreibungen angeführt, was sich mit den beginnenden konfessionellen Auseinandersetzungen, die in Reformation und Gegenreformation mündeten, zunächst noch verschärfte. 1424 wurden die Kölner Juden vertrieben und damit die größte jüdische Gemeinde im Rheinland aufgelöst. Bis 1798 war es Juden verboten, sich in Köln auf Dauer niederzulassen. Die Stadt durften sie nur tagsüber unter strengen Auflagen betreten. Die Ausgewiesenen versuchten zunächst, sich in den Städten, die ihnen noch offen standen, eine neue Existenz aufzubauen; so sind vermutlich die meisten Kölner Juden nach Frankfurt am Main gegangen. Erst etwa hundert Jahre nach der Vertreibung aus Köln, als urbanes Leben fast nirgendwo mehr möglich war, kam es im Erzstift zu einer vermehrten Ansiedlung der jüdischen Bevölkerung in Dörfern und Kleinstädten. Häufig lagen diese atomisierten, ländlichen Ansiedlungen im Streubesitz der Territorialstaaten und in den kleinen Herrschaften. Isolierte Kleingemeinden oder auch einzelne Familien fristeten ein Dasein in „Nischen“, am Rande bzw. außerhalb der ständischen Gesellschaft. Im Zuge der Zerstreuung mehrten sich die Kontakte zur nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft, die durch alltägliches Zusammenleben und enge wirtschaftliche Kontakte, aber stets auch durch Restriktionen, Vorurteile und Vorbehalte geprägt waren. Die Entwicklung von einer urban zu einer ländlich geprägten Existenz ist ein wichtiges Merkmal jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit. Im rheinischen Teil des heutigen Landes Nordrhein-Westfalen lebten Juden in drei größeren Territorien: zum einen im Kurfürstentum Köln mit der Haupt- und Residenzstadt Bonn, zum anderen im Herzogtum Jülich-Berg (seit 1521 Jülich-Kleve-Berg) mit der Hauptund Residenzstadt Düsseldorf, zum dritten unter preußischer Herrschaft: Nach dem Jülich-Klevischen Erbfolgestreit (1609–14) kam auf Grund eines Teilungsvertrages das Herzogtum Kleve zusammen mit einigen westfälischen Territorien an Brandenburg-Preußen. Das Verwaltungszentrum der westlichen Landesteile Preußens bildete Kleve. In den drei Territorien war die jüdische Bevölkerung mit unterschiedlichen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen konfrontiert. Kleinere jüdische Gemeinschaften bildeten sich auch im Herzogtum Geldern, dessen sogenanntes Oberquartier mit der Stadt Geldern 1713 an Preußen fiel, im Fürstentum Moers, das 1702 an Preußen kam, sowie in einigen Unterherrschaften, zum Beispiel in Hoerstgen am Niederrhein, in Hardenberg im niederbergischen Raum und in Broich (Mülheim an der Ruhr).
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Im Zuge des Zerfalls der kaiserlichen Zentralgewalt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (dem sogenannten Alten Reich) und der Herausbildung der Territorialherrschaften war das Judenregal, der hoheitliche Judenschutz, in der Regel vom Kaiser auf die Landesherren übergegangen, für die dieses Privileg ein wichtiges Instrument im Ausbau der Landesherrschaft war. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde die Verfügung der Landesherren über das Judenregal auch allgemein anerkannt. Zudem stabilisierte sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts die Situation der jüdischen Bevölkerung, vor allem weil nach dem Ende des verheerenden Krieges ihre wieder erstarkende Wirtschaftskraft zum Aufbau der verwüsteten Landstriche gebraucht wurde. Ausweisungsbefehle wurden gelegentlich noch erlassen, aber nur noch selten ausgeführt. In der Frühen Neuzeit gab es in rechtlicher Hinsicht drei Gruppen von Juden: die Schutzjuden, die einen mehr oder weniger umfassenden Schutz- oder Geleitbrief besaßen, die „unvergleiteten“ Juden, die kein gesichertes Aufenthaltsrecht erlangen und sich häufig nur durch Herumziehen und Betteln ernähren konnten, und die wirtschaftliche und soziale Elite der Hofjuden, die in einem besonderen, auch im Vergleich zu anderen Schutzjuden privilegierten Verhältnis zum Herrscher stand. Die Gewährung des Niederlassungsrechts durch Schutz- und Geleitbriefe war ein lukratives Geschäft für die Landesherren, erbrachte sie doch hohe jährliche Einnahmen, die Tribute. Bei Erneuerung der stets zeitlich befristeten Konzessionen oder bei Regierungswechseln waren erneut erhebliche Zahlungen fällig. Hinzu kamen die Beiträge der Juden zu den allgemeinen Steuern in Stadt und Land, der entehrende Leibzoll, der bei Überschreiten einer Grenze für die Person zu zahlen war, hohe Kriegskontributionen und zahlreiche andere Abgaben wie Neujahrsgelder, Sonderabgaben bei Ernennung des Landesrabbiners oder der Vorsteher, Stempel- und Strafgelder sowie teilweise Abgaben anlässlich einer Geburt, Heirat oder eines Todesfalles. Die aufgrund des Judenregals reklamierten Gelder waren für die Landesherren besonders wichtig, da sie von der Zustimmung durch die Stände unabhängig waren. Auf diese Weise festigte das Judenregal die Macht des Herrschers. Hier kristallisierte sich ein Konfliktherd heraus, denn auch die Städte und die Unterherrschaften konkurrierten um den Judenschutz und die damit verbundenen Einnahmen und Kontrollmöglichkeiten. Zunächst gewährte der Landesherr wahlweise einzelnen Juden oder der gesamten Judenschaft ein zeitlich befristetes Niederlassungsrecht, indem er Schutz- und Geleitbriefe ausstellte. Mit der Zeit wurden Judenordnungen oder Generalprivilegien erlassen, die zum Teil die individuellen Geleitbriefe ersetzten und der jüdischen Bevölkerung eine erhöhte Rechtssicherheit brachten. In Kurköln wurde die erste Judenordnung 1592 publiziert, im Herzogtum Jülich-Berg 1626 und im brandenburg-preußischen Herzogtum Kleve 1686. Nur der Inhaber eines Geleitbriefs, der sogenannte Schutzjude, besaß das Niederlassungsrecht für sich, seine Familie und zumeist auch sein Gesinde. Die Judenordnungen regelten die Ansiedlungsmodalitäten
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und Lebensverhältnisse der Juden in vielen Details. Bedingung für die Ansiedlung war ein bestimmtes Vermögen, dessen Höhe genau vorgeschrieben wurde. Die Anzahl der Schutzjudenfamilien war beschränkt und durfte nicht überschritten werden. Trotz dieser Limitierung wuchs die jüdische Bevölkerung in den Territorien de facto kontinuierlich an. Der Zuzug von illegal, das heißt ohne Geleitbrief im Lande lebenden Juden war kaum mehr zu kontrollieren. Offiziell fixierte das Generalgeleit für das Herzogtum Jülich-Berg von 1779 die Höchstzahl von 215 jüdischen Familien. Das preußische Generalprivileg von 1750 gewährte 175 Familien den Aufenthalt; laut Statistik waren es 1765 nur 98 Familien. In Kurköln lebten 1764 187 jüdische Familien. Des Weiteren wurden in den Schutzbriefen und Judenordnungen sehr genau die Tätigkeiten aufgelistet, die Juden ausüben durften. Insbesondere die Modalitäten der Geldleihe, das Verhältnis der Juden zur christlich geprägten Umwelt, ihre Selbstverwaltung und die zu leistenden Abgaben waren wichtige Regelungsbereiche. Durch die Judenordnungen und Geleitbriefe wurden die Juden und ihr Besitz geschützt, es wurde ihnen Unterstützung in Rechtsangelegenheiten gewährt. Wichtig war vor allem, dass sie zumeist der niederen Gerichtsbarkeit entzogen waren und an das Gericht des Landesherrn appellieren konnten. Allerdings hatten sie einen besonderen „Judeneid“ zu leisten, der häufig diskriminierende Floskeln enthielt. Der fiskalische Aspekt der Judenpolitik der Territorialherren – die Steigerung der Einnahmen – rückte mit der Zeit völlig in den Vordergrund. Einen Höhepunkt in der absolutistischen Politik der Kontrolle, Reglementierung und Zentralisierung bildete das von dem preußischen König Friedrich Wilhelm I. 1730 erlassene erste Judenreglement für das gesamte preußische Königreich, das mit dem Generalprivilegium von 1750 noch verschärft wurde. Die rigide Unterscheidung zwischen den wenigen privilegierten und vermögenden „ordentlichen Schutzjuden“, die ihren Status vererben konnten, und den lediglich auf Lebenszeit zugelassenen „außerordentlichen Schutzjuden“ verschärfte in Brandenburg-Preußen in höherem Maße als in den anderen Territorien die sozialen Konflikte innerhalb der Judenschaft und verstärkte den generellen Trend zur Bildung einer breiten jüdischen Unterschicht, der „Betteljuden“. Die Verarmung großer Teile der jüdischen Bevölkerung und das Abrutschen einiger Juden in die Kriminalität wurden im 18. Jahrhundert zu einem großen und letztlich unlösbaren Problem. In Brandenburg-Preußen und damit auch im Herzogtum Kleve litten die Juden unter einem enormen Steuerdruck. Besonders verhasst war die 1769 eingeführte Zwangsabnahme von Porzellan aus der Berliner Königlichen Porzellanmanufaktur. Im Zuge der voranschreitenden sozialen Differenzierung der Judenschaft entstand am anderen Ende der sozialen Skala eine neue, zum Teil sehr wohlhabende Elite, die sogenannten Hofjuden – wiederum ein für die Frühe Neuzeit typisches Phänomen. Die Hofjuden füllten Lücken, die sich durch das Fehlen einer effektiv arbeitenden Bürokratie in den Territorien auftaten. Der Begriff „Hofjude“ kann als Oberbegriff
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für diejenigen Juden definiert werden, „die in einem auf Kontinuität angelegten Dienstleistungsverhältnis zu einem höfisch strukturierten Herrschaftszentrum“ (B. Klein u. R. Ries, Zu Struktur und Funktion der jüdischen Oberschicht in Bonn, 1999, S. 311) standen. In größerem Umfang aufgetreten waren Hofjuden erstmals während des Dreißigjährigen Krieges, als sie die Fürsten mit Heereslieferungen und Krediten unterstützten. Nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen stellten sie Gelder für den Wiederaufbau der Länder zur Verfügung, förderten mit ihren Dienstleistungen das Repräsentationsbedürfnis der absolutistischen Hofhaltungen sowie die Durchsetzung der landesherrlichen Machtansprüche gegenüber den Ständen. Die Aufgaben von Hofjuden umfassten zum Beispiel die Versorgung der unter ständigem Geldmangel leidenden Landesherren mit Krediten für Hofhaltung und Kriegsführung, die Lieferung von Luxusgütern ( Juwelen, Porzellan und ähnliches), die Versorgung des Heeres mit Korn, Pferden etc., die Gründung von Manufakturen, den Betrieb von Münzprägestätten und Lotterien und sogar diplomatische Missionen. Hofjuden genossen eine herausragende und privilegierte Stellung, die allerdings auch durch Unsicherheit geprägt war. Entscheidend für ihre Tätigkeit waren das persönliche Verhältnis zum Herrscher sowie die Herausbildung von Familiennetzwerken, um ihren Einfluss zu verstetigen. Von der christlichen Hofgesellschaft kaum akzeptiert, von ihren Glaubensgenossen häufig wegen ihrer Privilegien nicht gerade geliebt, waren die Karrieren mancher Hofjuden kurz und endeten mit dem nächsten Regierungswechsel. Zahlreiche Hofjuden setzten sich allerdings sehr engagiert für die jüdischen Gemeinden ein: Sie hatten Führungsfunktionen in der Landjudenschaft inne, stifteten Lehrhäuser, Synagogen und andere Gemeindeeinrichtungen und gaben Meisterwerke jüdischer Zeremonialkunst in Auftrag. Während im Kölner Erzstift mit Meyer zum Goldstein, Moyses Kauffmann, Beyfuß Liebmann und Baruch Simon Mergentheim Einzelpersönlichkeiten in die Position des Hofjuden bzw. Hoffaktoren aufstiegen, bildeten sich in den Herzogtümern Kleve und Jülich-Berg regelrechte Hofjudendynastien: die Gomperz in Kleve, die fünf Generationen lang einflussreich blieben, und die van Geldern in Düsseldorf, deren Stern etwas schneller verblasste. Aus dieser Familie ging einer der bedeutendsten deutschen Dichter, Heinrich Heine, hervor. In der kurkölnischen Residenzstadt Bonn begann im 18. Jahrhundert der Aufstieg der Familie Oppenheim, die nach dem Ende des Ancien Régime in der Zeit der Französischen Revolution nach Köln übersiedelte und dort die Privatbank Sal. Oppenheim jr. & Cie. gründete. Die These, dass Hofjuden durch ihren Beitrag zum Ausbau des absolutistischen Staates einen innovativen Beitrag zur Entstehung des bürgerlichen Kapitalismus und der Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert geleistet hätten, wird heute nicht mehr vertreten. Unzweifelhaft ist, dass sich die Hofjuden und ihre Familien durch die zahlreichen Kontakte, die sie unterhielten, gegenüber der Gesamtgesellschaft und der zeitgenössischen Kultur in besonderem Maße öffneten und so die Akkulturation der jüdischen Bevölkerung im Emanzipationszeitalter vorbereiteten.
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Die Mehrheit der rheinischen Juden und Jüdinnen lebte in eher bescheidenen Verhältnissen. Die sozioökonomische Situation in den Kleinstaaten und auf dem Lande bot keine großen Wachstumschancen; zudem wurden wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten durch die Interessen der christlichen Gewerbetreibenden begrenzt. Juden spielten eine wichtige Rolle bei der Vermittlung des Wirtschaftsverkehrs zwischen Stadt und Land. Traditionell blieb die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung auf Geld- und Pfandleihgeschäfte verwiesen; häufig wurde der Geldhandel mit anderen Tätigkeiten kombiniert. Um die Versorgung mit koscherem Fleisch sicherzustellen, waren zahlreiche Juden als Schlachter und Viehhändler tätig. Sie verkauften ihre Fleischwaren zunehmend auch an die nichtjüdische Bevölkerung. Seltener verdienten sich Juden als nichtzünftische Handwerker, z. B. als Glaser und Anstreicher, ihren Lebensunterhalt. Zunftschranken verwehrten ihnen allerdings das Ergreifen der meisten handwerklichen Berufe. Weit verbreitet waren der Hausierhandel, zum Beispiel mit Kleidern, Stoffen und Fellen und der Handel mit alten Metallen, Goldund Silberwaren. Der Beruf des akademisch ausgebildeten Arztes bot Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. Nur mühsam konnten sich dagegen die Lehrer ernähren, die häufig gleichzeitig auch als Schächter und Vorbeter amtierten. Insgesamt standen die Juden in der Frühen Neuzeit als Schutzverwandte außerhalb der christlichen Ständegesellschaft. Sie waren eine Gruppe mit eigener Religion, Kultur, Sprache, Kleidung und Berufsstruktur. Insbesondere die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft und die Praktizierung der jüdischen Gebräuche im Jahresund Lebenskreislauf stifteten Identität und Zusammenhalt. Für die Schaffung der religiösen Infrastruktur war die Gemeinde (Kehilla) zuständig. In der Frühen Neuzeit entstanden überall dort, wo sich eine größere Zahl jüdischer Familien niederlassen konnte, Bethäuser und Beträume, zumeist bescheidene Räumlichkeiten, die sich in Privathäusern, Wirtschaftsgebäuden oder Anbauten und überwiegend in Hinterhoflage befanden. Auch Friedhöfe, Ritualbäder (Mikwen) und Schulen wurden an vielen Orten gegründet. Häufig wurden Gemeindeeinrichtungen von der privilegierten und wirtschaftlich potenten Gruppe der Hofjuden, von Vorstehern oder anderen einflussreichen Juden oder Jüdinnen gegründet. Ihnen fiel es vergleichsweise leicht, Hausbesitz zu erlangen. Im Jahre 1661 erteilte Kurfürst Friedrich Wilhelm dem in Emmerich wohnenden Elias Gomperz ein Generalschutzpatent für die Städte Emmerich, Wesel, Kleve und Duisburg. Elias Gomperz, Bankier und Hofjude des Großen Kurfürsten, aus einer Emmericher jüdischen Familie stammend, die sich um 1600 dort ansiedeln durfte, verlegte daraufhin seinen Wohnsitz nach Kleve, wo er sich ein repräsentatives Stadtpalais erbauen ließ, eine Dreiflügelanlage mit großem Innenhof. Hier richtete er – wie auch bereits in Emmerich – einen Betsaal ein. 1672 stiftete Gomperz den ersten eigenständigen Klever Synagogenbau im Gerwin, in dem auch ein Lehrhaus und vermutlich eine Mikwe untergebracht waren. In Wesel befand sich in einem zwischen 1692 und 1694 erbauten Barockbau ebenfalls eine Privatsynagoge der Familie Gomperz.
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Einen der ersten Beträume der Düsseldorfer Juden richtete Joseph Jakob van Geldern, Hoffaktor des Kurfürsten Johann Wilhelm und Obervorgänger der jülichbergischen Judenschaft, in seinem Haus ein. Im Jahre 1712 erhielt er das Privileg, in der südlichen Stadterweiterung vor dem Berger Tor an der heutigen Neusser Straße 25 ein Grundstück zu erwerben und mit einem Wohnhaus sowie einer „Juden-Schull“ zu bebauen. Das Gebäude wurde von dem Hofbaumeister Jakob Dubois errichtet und ist bis heute erhalten geblieben. Einfache Gemeindemitglieder hatten es schwerer, Räumlichkeiten für ihre Gottesdienste zu finden. Eigentum konnten sie in der Regel nur auf dem Wege des antichretischen Pfandbesitzes (Überlassung der Pfandnutzung an den Gläubiger) erwerben. Im Laufe der Zeit wurde es Juden ermöglicht, mit Genehmigung des Landesherrn Grundeigentum und Häuser anzukaufen; dieses Recht wurde regional sehr unterschiedlich gehandhabt. Ein angemieteter Betraum, sei er nun von einem Juden oder einem Christen zur Verfügung gestellt, konnte jederzeit gekündigt werden. Christen, die an Juden vermieteten, waren vielfach heftigem Druck ausgesetzt. In einigen Orten war es auch gar nicht möglich, Gottesdiensträume zu pachten. Plötzliche Kündigungen waren an der Tagesordnung. Vielfach überliefert sind feindselige Reaktionen der christlichen Umwelt, vor allem der Stadtbevölkerung und der kirchlichen Vertreter. Streng wurde überwacht, ob die Juden auch nicht zu selbstbewusst aufträten, ob sie die Hinterhoflage verlassen oder einen Betsaal ohne Genehmigung einrichten würden, ob sie der katholischen oder evangelischen Kirche zu nahe kämen. Denunziationen, Hausdurchsuchungen, Schließungen und auch Gewalttaten waren nicht selten. Im Bereich des heutigen Landes Nordrhein-Westfalen waren vor 1790 etwa 100 jüdische Betsäle vorhanden. Gerade im Rheinland sind vor allem als Folge der Modernisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts nur wenige solcher Synagogen erhalten geblieben: Abgesehen vom Palais des Joseph Jakob van Geldern in Düsseldorf steht in Bad Münstereifel an der Orchheimer Straße 17 noch das Haus, in dem sich der alte Betsaal befand. 207 jüdische Friedhöfe sind im Rheinland erhalten, gut 60 von ihnen reichen in die Frühe Neuzeit zurück (Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen II, S. 13). Die Friedhöfe vermitteln heute in erster Linie einen Eindruck von der jahrhundertelangen Verwurzelung jüdischer Menschen in Deutschland und von den Schwierigkeiten jüdischen Lebens in einer oft feindseligen Umwelt. Die hebräischsprachigen Inschriften zeugen von Traditionsverbundenheit, aber auch von sozialen Differenzierungen. Einige der vor 1800 angelegten Friedhöfe sind weiter belegt worden; nur wenige alte Grabsteine blieben erhalten. Manchmal existieren zwei Friedhöfe in einer Kommune: der alte und der im 19. Jahrhundert angelegte. Besonders die Begräbnisplätze in Bonn-Schwarzrheindorf und Köln-Deutz vermitteln ein anschauliches Bild davon, wie jüdische Friedhöfe im Rheinland in der Frühen Neuzeit ausgesehen haben. Neben den Bethäusern und Friedhöfen trugen noch andere Einrichtungen zum Funktionieren des Gemeindelebens bei. Die schlecht bezahlten und oft nicht son-
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derlich gut ausgebildeten Lehrer, die sich zumeist als Schächter (Schochet) und Beschneider (Mohel) ein Zubrot verdienten, fungierten als Kultusbeamte. Rabbiner gab es nur in größeren Gemeinden. Die Finanzierung der Einrichtungen erfolgte auf der Grundlage von (mehr oder weniger freiwilligen) Beiträgen und Spenden der Gemeindemitglieder. Eine allgemein verbreitete Methode der Mittelbeschaffung war die Versteigerung von liturgischen Dienstleistungen im Gottesdienst (Mizwot). Von besonderer Bedeutung war die Sozialfürsorge (Zedaka). Eine wichtige Wohltätigkeitseinrichtung war die Beerdigungsbruder und -schwesternschaft (Chewra Kaddischa), die sich um Kranke und Verstorbene kümmerte. Da die jüdischen Gemeinden nur klein und wirtschaftlich wenig leistungsfähig waren und keinen eigenen rechtlichen Status hatten, da zudem viele jüdische Familien vereinzelt auf dem Lande lebten, musste nach neuen, effektiven Formen der Organisation und des Zusammenschlusses gesucht werden. Analog zu den anderen sozialen Gruppierungen im Ständestaat erhielten auch die Juden eine korporative Verfassung mit autonomen Rechten zur Regelung ihrer internen Angelegenheiten und zur Vertretung ihrer kollektiven Interessen nach außen. Die Organisation, in der sich die autonome Sonderstellung der Juden manifestierte, war die Land(es)judenschaft, in der sich sämtliche Familienoberhäupter eines Territoriums zusammenfanden. Die Ursprünge der Landjudenschaften liegen im Mittelalter. Eine Stabilisierung ihrer Organisation erfolgte allerdings erst am Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts, so dass auch die Landjudenschaften ein typisches Phänomen der Frühen Neuzeit sind. Auf der Ebene der religiös-kultischen Angelegenheiten war die Landjudenschaft autonom. In religiösen Fragen und bei zivilrechtlichen Streitigkeiten zwischen Juden besaß sie auch eine eigene Gerichtsbarkeit, die allerdings im 18. Jahrhundert immer mehr eingeschränkt wurde. Die Hauptaufgabe der Landjudenschaft aus der Perspektive der Herrschaft war die Eintreibung der Steuern und diverser Abgaben. Fritz Baer hat 1922 das Protokollbuch der Klevischen Landjudenschaft bearbeitet und veröffentlicht, das den Zeitraum zwischen 1690 und 1807 umfasst. Die Informationen über die Organisation und Verwaltung der klevischen Landjudenschaft lassen sich im Großen und Ganzen auf die Landjudenschaften in den anderen rheinischen Territorien, auf das Herzogtum Jülich-Berg und das Kurfürstentum Köln, übertragen. Das Hauptorgan der Klevischen Landjudenschaft war der Landtag, die Versammlung sämtlicher steuerpflichtiger Familienoberhäupter, zu denen auch die Witwen gehörten. Prinzipiell sollten die Landtage jedes dritte Jahr einberufen werden, was aber kaum der Realität entsprach. Tagungsorte waren Kleve, Kalkar oder Xanten, später auch gelegentlich Wesel. Ab 1787 stand in Xanten ein Haus für die Versammlungen zur Verfügung. Die Aufgaben des Landtags umfassten die Neuwahl sämtlicher Vorsteher und Beamten, zu denen auch der Landesrabbiner gehörte, die Kassenrevision und die Steuerveranlagung, die im Laufe der Zeit einen immer größeren Raum einnahm. An der Spitze der Landjudenschaft stand der Schtadlan, auch Obervorgänger oder Syndikus genannt, der in der Regel aus einer der einflussreichsten und vermögends-
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ten (Hofjuden-) Familien stammte und die Vertretung der Interessen der Judenschaft gegenüber dem Herrscher und der Regierung übernahm. Der Schtadlan wurde auf Lebenszeit berufen. Eine Absetzung war aber möglich, wenn der Betreffende seine Aufgaben nicht verantwortungsbewusst erfüllte. Der Vorstand der Landjudenschaft bestand aus drei Vorstehern (Parnassim) und vier Untervorstehern (Towim) oder Beisitzern, wobei die Anzahl schwankte. Lange Zeit stellte die Klever Familie Gomperz sowohl den Schtadlan als auch einige Vorsteher, eine Ämterhäufung, die eigentlich nicht vorgesehen war. Die Vorsteher – wie auch der einflussreiche Schtadlan – wirkten bei der Erteilung der Geleite mit, sie verwalteten die Finanzen der Judenschaft, stellten den Etat auf und veranlagten die Gemeindemitglieder. Der Schtadlan war der oberste Steuereinnehmer und Kassenverwalter; die praktische Aufgabe der Steuereinziehung lag bei den beiden Steuerrezeptoren. Zur Organisation der Landjudenschaft gehörten auch der Landbote und der Landschreiber. Die höchste Instanz in religiösen und rituellen Angelegenheiten der Landjudenschaft war der Landesrabbiner, der alle drei Jahre vom Landtag gewählt wurde. Er hatte richterliche Befugnisse und nahm auch Einfluss auf die Verwaltung. Der Staat erkannte die Gerichtsbarkeit des Rabbiners an und bediente sich der rabbinischen Zwangsmittel für seine Zwecke. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren Auflösungstendenzen in der Landjudenschaft zu beobachten. Im Zuge des Ausbaus des staatlichen Gewaltmonopols und einer effektiveren Verwaltung galten Sonderorganisationen mit eigener Gerichtsbarkeit als Störfaktor. Die französische Besatzung bereitete den Landjudenschaften schließlich ein Ende.
2. Politisch-rechtliche Rahmenbedingungen 1 Die Kurkölnische Judenordnung von 1599 Heinrich Linn u.a. (Bearb.), Juden an Rhein und Sieg, Siegburg 21984, S. 423f., erstmals gedruckt in: Vollständige Sammlung deren die Verfassung des Hohen Erzstifts Coelln betreffender Stucken … und Edicten. Aus Gnaedigstem Befehl … Maximiliani Friderici …, Bd. I, Cölln am Rhein 1772, S. 216–221
Im Jahre 1592 erließ Kurfürst und Erzbischof Ernst von Bayern (1554–1612) die erste Judenordnung für das Erzstift Köln. Im Unterschied zu den für einzelne Juden ausgestellten Schutzbriefen, den sogenannten Partikulargeleiten, regulierten die Judenordnungen die Bedingungen der Niederlassung sowie die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, die das Dasein der gesamten Judenschaft eines Territoriums bestimmten. 1599 wurde eine neue Judenordnung erlassen, die zum größten Teil mit dem Dokument von 1592 identisch war, aber doch wichtige Abweichungen beinhaltete.
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ten (Hofjuden-) Familien stammte und die Vertretung der Interessen der Judenschaft gegenüber dem Herrscher und der Regierung übernahm. Der Schtadlan wurde auf Lebenszeit berufen. Eine Absetzung war aber möglich, wenn der Betreffende seine Aufgaben nicht verantwortungsbewusst erfüllte. Der Vorstand der Landjudenschaft bestand aus drei Vorstehern (Parnassim) und vier Untervorstehern (Towim) oder Beisitzern, wobei die Anzahl schwankte. Lange Zeit stellte die Klever Familie Gomperz sowohl den Schtadlan als auch einige Vorsteher, eine Ämterhäufung, die eigentlich nicht vorgesehen war. Die Vorsteher – wie auch der einflussreiche Schtadlan – wirkten bei der Erteilung der Geleite mit, sie verwalteten die Finanzen der Judenschaft, stellten den Etat auf und veranlagten die Gemeindemitglieder. Der Schtadlan war der oberste Steuereinnehmer und Kassenverwalter; die praktische Aufgabe der Steuereinziehung lag bei den beiden Steuerrezeptoren. Zur Organisation der Landjudenschaft gehörten auch der Landbote und der Landschreiber. Die höchste Instanz in religiösen und rituellen Angelegenheiten der Landjudenschaft war der Landesrabbiner, der alle drei Jahre vom Landtag gewählt wurde. Er hatte richterliche Befugnisse und nahm auch Einfluss auf die Verwaltung. Der Staat erkannte die Gerichtsbarkeit des Rabbiners an und bediente sich der rabbinischen Zwangsmittel für seine Zwecke. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren Auflösungstendenzen in der Landjudenschaft zu beobachten. Im Zuge des Ausbaus des staatlichen Gewaltmonopols und einer effektiveren Verwaltung galten Sonderorganisationen mit eigener Gerichtsbarkeit als Störfaktor. Die französische Besatzung bereitete den Landjudenschaften schließlich ein Ende.
2. Politisch-rechtliche Rahmenbedingungen 1 Die Kurkölnische Judenordnung von 1599 Heinrich Linn u.a. (Bearb.), Juden an Rhein und Sieg, Siegburg 21984, S. 423f., erstmals gedruckt in: Vollständige Sammlung deren die Verfassung des Hohen Erzstifts Coelln betreffender Stucken … und Edicten. Aus Gnaedigstem Befehl … Maximiliani Friderici …, Bd. I, Cölln am Rhein 1772, S. 216–221
Im Jahre 1592 erließ Kurfürst und Erzbischof Ernst von Bayern (1554–1612) die erste Judenordnung für das Erzstift Köln. Im Unterschied zu den für einzelne Juden ausgestellten Schutzbriefen, den sogenannten Partikulargeleiten, regulierten die Judenordnungen die Bedingungen der Niederlassung sowie die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, die das Dasein der gesamten Judenschaft eines Territoriums bestimmten. 1599 wurde eine neue Judenordnung erlassen, die zum größten Teil mit dem Dokument von 1592 identisch war, aber doch wichtige Abweichungen beinhaltete.
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Kurfürst Ernst hatte 1595 die Macht im Erzstift an seinen Neffen Ferdinand von Bayern abgeben müssen. Er bestimmte allerdings weiterhin die Leitlinien der Judenpolitik und sicherte sich die Abgaben der Juden zur Finanzierung seiner kostspieligen Hofhaltung. Beide Judenordnungen entstanden in einer Zeit, als sich das jüdische Gemeindeleben nach den Vertreibungen des Spätmittelalters langsam wieder zu konsolidieren begann, als aber auch eine feindselige Haltung den Juden gegenüber wieder stärker spürbar wurde. Vor allem die Vertreter der Städte in den Landständen, einer Art frühneuzeitlichem Parlament mit sehr beschränkten Vollmachten, forderten die Vertreibung der Juden aus Kurköln. Es häuften sich Klagen, dass immer mehr Juden ins Land kämen und das Erwerbsleben der Christen schädigten. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts kam es tatsächlich zu einer Zunahme der jüdischen Bevölkerung im Erzstift, das die aus dem Herzogtum Jülich ausgewiesenen Juden aufnahm. Die lautesten Proteste kamen aus Deutz bei Köln, wo eine relativ große jüdische Gemeinde bestand. Der Berufsstand, der die stärksten Aggressionen zum Ausdruck brachte, waren die Fleischhauer. Diese fürchteten die Konkurrenz der jüdischen Metzger, die traditionell nicht nur für den Eigenbedarf der jüdischen Bevölkerung schlachteten, sondern die Teile der Tiere, die Juden nicht verzehren durften, an die christliche Bevölkerung verkauften. Kurfürst Ernst wies die Forderung der Städte nach einer Ausweisung der Juden zurück. Die Kosten des ruinösen Krieges gegen seinen protestantisch gewordenen Vorgänger im Amt des Erzbischofs, Gebhard Truchsess von Waldburg, sowie die Finanzierung seiner Hofhaltung waren im Wesentlichen die Ursachen dafür, dass Ernst auf die Finanzquelle, die seine jüdischen Untertanen darstellten, nicht verzichten wollte. Diese waren jedoch mannigfachen Beschränkungen unterworfen. Die hier abgedruckten Abschnitte der Judenordnung von 1599 deuten einige Leitlinien der kurfürstlichen Judenpolitik an. Zunächst einmal wurde festgelegt, dass Juden nur dann das Erzstift betreten oder sich dort niederlassen durften, wenn sie einen Geleitbrief besaßen und das Eingangsgeld sowie den jährlichen Tribut bezahlt hatten. Auch das Verlassen des Erzstifts war geregelt: Ihren Geleitbrief mussten die Juden abgeben, woraufhin ihnen der Schutz aufgekündigt und besondere Entlassungspapiere ausgehändigt wurden. Sie mussten vor ihrem Abzug unter einem besonderen Eid ihr Vermögen deklarieren und ein Zehntel abführen. Ein Zehntel der Aussteuersumme wurde fällig, wenn sie ihre Kinder ins Ausland (also in ein anderes Territorium) verheiraten wollten. Die Judenordnung von 1599 machte sich die zahlreichen Klagen von christlicher Seite darüber zu eigen, dass Juden und deren Gesinde in enger Nachbarschaft mit den Christen wohnten und letztere bei ihren Kirchgängen und Gottesdiensten gestört und verspottet würden. Auch das aus den Zeiten der mittelalterlichen Judenverfolgungen stammende Argument, Juden verunreinigten die Brunnen und verursachten damit den Ausbruch der Pest, wurde in der Judenordnung von 1599 reaktiviert. Den Juden wurde nunmehr untersagt, nahe der Kirche und an Prozessionswegen zu woh-
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nen. An hohen christlichen Feiertagen oder bei Prozessionen sollten sie ihre – angemieteten – Häuser und Wohnungen nicht verlassen und sich generell friedlich und zurückhaltend verhalten. Des Weiteren wurde Juden verboten, mit Christen unter einem Dach zu leben. Ihre Läden sollten sie wie die Christen an Sonn- und Feiertagen geschlossen halten; auch das Eintreiben von Schulden oder die große Wäsche in der Öffentlichkeit an Sonn- und Feiertagen wurden untersagt. Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass die Juden in Kurköln in der Regel nicht in abgeschlossenen Vierteln, sondern mitten unter der christlichen Bevölkerung wohnten. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, durften die Juden Kredite gegen Zins und Stellung von Pfändern geben, die ihnen ins Haus gebracht wurden. Auf Immobilien, vor allem auf Haus- und Grundbesitz, durften Juden nicht leihen, da man verhindern wollte, dass sie in den Besitz dieser Güter kämen. Der zugestandene Zinssatz wurde gegenüber 1592 erhöht. Mit Ausnahme des Glasmacherhandwerks, das Juden traditionell ausübten, durften sie als Kaufleute, Händler oder Handwerker nicht tätig sein. Die Schlachtung von Vieh und der Verkauf von Fleisch waren ihnen lediglich für den eigenen Gebrauch gestattet. Als Fazit der Judenpolitik des Kurfürsten Ernst von Bayern, die im Wesentlichen auch von seinen Nachfolgern fortgesetzt wurde, kann man festhalten: Juden durften sich nur mit teuer erkauften Schutz- und Geleitbriefen im Lande aufhalten und mussten weitgehend von den Christen getrennt leben; eine wirtschaftliche Betätigung wurde ihnen vor allem deshalb zugestanden, damit sie als Geldquelle für den Landesherrn interessant blieben. Abschließend sei noch auf eine wichtige Änderung der Judenordnung von 1599 gegenüber ihrer Vorgängerin hingewiesen: Die Verpflichtung der Juden, zur Unterscheidung von den Christen als „öffentliches Zeichen“ einen gelben Ring auf ihrer Kleidung zu tragen, eine krasse Methode der sozialen Ausgrenzung, wurde 1599 fallen gelassen – um in der Judenordnung von 1686 reaktiviert zu werden. […] 1. Es sol sich aber hinfuero kein Jued oder Juedin in unserm Ertzstifft1 niderschlagen, betretten oder finden lassen, der oder sie habe dan zuvor rechtmessig gewoehnlich Gleidt, und Vorwardt2 under unser Hand und Siegel erlangt, Auch sich sunsten deß Inzugs3 und jaehrlichen Tributs vergliechen. Wie auch hinwiederumb kein Jued oder Juedin sich auß unserm Ertszstifft mit iren haeußlichen Nahrung und Wohnung begeben sollen, er oder sie haben dan zuvor bey rechter Zeit ire Geleydsbrieff wiederumb eingelieffert, darauf Schutz und Schirm auffgekuendigt, und ires Verhaltens halb gebuerenden Schein und Paßport (welche inen sonder Rechtliche Ursachen nicht abgeschlagen werden sollen) erhalten. 2. Dagegen aber bey irem Juedischen Eydt4, ohne einige gesuchte Gefehrlichkeit, ir Vermoegen aller und jeder irer Haab und Gueter, es seie viel oder wenig, nichts außgeschlossen, angezeigt, und darab den zehenden Pfennig, hinderlassen, Sollen
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auch keine Kinder, ohne unser Vorwissen, ausserhalb unsers Ertzstiffts verheyrahten, was sie aber ausserhalb demselben verheyrahten werden, davon, es sey Manns oder Frauwens Person, sollen sie gleichfalls, alles vermittels Eydes, ohn alle suchende Listigkeit, den zehenden Pfennig versteuern. 3. Und demnach Uns vor diesen Claegten5 einkommen, als solten sich etliche Jueden und ir Gesind, in nachbawrlichen Beiwohnungen mit den Christen und irem Gesind fast ubel und zaenckisch verhalten, sonderlich aber den Christen an irem Kirchengang und Gottesdienst aergerlich und hinderlich erzeigt, deßwegen verspottet und verachtet, auch durch ire Unstaetigkeit6, so sie zu gemeinen Puetzen7 tragen, dieselben verunreynet haben, so sollen sie sampt irem Gesindt an denen Orthen, da die Christliche Kirchen ligen, oder der Christen gewoehnliche Processiones gehalten, und Gottesdienst verrichtet werden, nicht wohnen, sondern sollen sich anderstwo, und an denen Orthen auch, da sie ihre Wohnung angestelt (deßwegen sie dan irer Gelegenheit nach mit den Christen in billigmaessige Weg dessen Haußzinß8 halb zu vergleichen, und in deme ihnen kein Ziel und Maß fuergesetzt wuerd) sich friedfertig, eingezogen und unstraefflich verhalten. Deren geclagten vor angedeuteten Zaenckerey, auch veraechtlicher hoenischer und spoettlicher Erzeigung gegen die Christen, deßgleichen deren Puetz und Bronnen9 Verwuestung, und aller anderer ungebuerlichen Sachen gaentzlich muessigen, Zu dem die Jueden und Juedinnen auch bey denen vier Hochzeitlichen und denen fuernehmsten hohen Festen10, Procession und Feyer-Tagen auff der Strassen sich nicht finden lassen, sondern inheimisch in iren Haeusern, alles bey Vermeidung Leibstraff verhalten. Dabey gleichwol diß verordnet wirdt, daß kein Jued oder Juedin mit den Christen unter einem Dach und Hauß wohnen, dan vielmehr sie, die Juden, auff Sonn- und Feyertagen, gleichs die Christen ihre Laden zuhalten, Auff solche Zeit auch deß Schuldt Einmahnens, zu muessigen, wie gleichfalß sich deß Schauren11 und Waschens ausserhalb ihren Haeusern, verbleiben zu lassen. […] Damit sie sich gleichwol sampt Weib und Kindern desto besser in unserm Ertzstifft ernehren und unterhalten, ist inen zugelassen und bewilliget, dass sie auffahrende Haab, gereide Gueter und Wahr12, so inen zu Hauß bracht leihen moegen und solches so wol in, als ausserhalb unsers Ertzstiffts. 4. Aber auff Hauß, Hoff, Weingarten, Wiesen, Landt, Buschrenten13, oder ander Erbschafften ins gemein14, auch die, so für Erbschafft geachtet werden moechten oder koendten, sollen sie nicht leihen, viel weniger understehen, dieselbe an sich zu kauffen, oder in andere Weg zu practiciren, wie inen auch darueber kein Einsetzung oder Erbung geschehen soll. 5. So sollen sie auch kein Kauffmanschaft, Handthierung15 oder Handtwerck ( jedoch das Glaßmaecher Handtwerck, so ihnen ins gemein, bis dahero jederzeit verstatt und zugelassen gewesen, welches inen auch hierdurch verstattet und zugelassen wuerdt) treiben.
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Insonderheit sollen sie den Fleischhawern ire Nahrung und Handthierung mit Vorkauff und Schlachtung mehren Viehs, weder sie in irer selbst Haußhaltung, beduerfftig, nicht entzihen, […]
Anmerkungen 1 Das Erzstift und Kurfürstentum Köln war eines der ursprünglich sieben Kurfürstentümer des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation; es umfasste den weltlichen Herrschaftsbereich der Erzbischöfe von Köln. 2 Bedingung, Voraussetzung. 3 Niederlassungsgelder. 4 Die aus dem Mittelalter stammende Rechtsform des more judaico ist eine den Juden aufgezwungene Form des Eides. Ursache für die Entstehung des besonderen Judeneides sind von christlicher Seite geäußerte Vorwürfe und Anschuldigungen; so wurde ihnen vorgeworfen, dass sie sich von einem geleisteten Eid nachträglich wieder lösen könnten oder dass der gegenüber einem Andersgläubigen vollzogene Eid keine Gültigkeit besitze. Der Gefahr des „Meineids“ glaubte man, mit demütigenden Zeremonien und krassen Selbstverfluchungsformeln begegnen zu müssen. 5 Klagen. 6 Mangelnde Ordnung, hier wohl im Sinne von Unsauberkeit. 7 (Gemauerte) Schöpf- oder Ziehbrunnen. 8 Pacht, Miete. 9 Quelle. 10 Karwoche, Ostern, Weihnachten, Pfingsten mit ihren Bußzeiten und Festkreisen. 11 Scheuern. 12 „Fahrende Güter und Waren“ (gereid = bereitet, fertig). 13 Auch Buschzehnt, eine an den jeweiligen Inhaber eines Lehens zu entrichtende Abgabe von neu gerodetem Land. 14 Allgemein. 15 Handel.
Literatur Horst Dinstühler, Die erste Kurkölnische Judenordnung von 1592. Zur Situation der Juden in Kurköln am Ende des 16. Jahrhunderts, in: Gerhard Rehm (Red.), Geschichte der Juden im Kreis Viersen, Viersen 1991, S. 25–38; Stefan Rohrbacher, Köln – Eine Stadt ohne Juden als zentraler Ort des rheinischen Judentums, in: Dieter Geuenich (Hg.), Köln und die Niederrheinlande in ihren historischen Raumbeziehungen, Pulheim 2000, S. 99–115; Stephan Laux, Zwischen Anonymität und amtlicher Erfassung. Herrschaftliche Rahmenbedin-
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gungen jüdischen Lebens in den rheinischen Territorialstaaten vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn der ‚Emanzipationszeit‘ in: Monika Grübel/Georg Mölich (Hg.), Jüdisches Leben im Rheinland vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 79–110; Birgit E. Klein, Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich, Hildesheim u.a. 2003
2 Ein Geleitbrief für zwei jüdische Familien in der Herrschaft Broich (Mülheim an der Ruhr), 1686 Zeitschrift des Geschichtsvereins Mülheim a. d. Ruhr e.V., N.F., Nr. 3, April 1936, S. 9f.
Johann Karl August Graf zu Leiningen und Dachsburg (1662–1698), der die Herrschaft in der Herrlichkeit Broich und im Kirchspiel Mülheim innehatte, verlieh am 8. Oktober 1686 das Geleit, eine Art Niederlassungsrecht, an zwei jüdische Familien: an Karst (Gerson) und seine Ehefrau Vogel sowie an Merten (Marcus) und dessen Ehefrau Sara zusammen mit ihren Kindern, Familienmitgliedern und Hausangestellten. Karst und Merten waren Söhne von David, der bereits das Geleit für Mülheim besaß. Die Vorgehensweise Johann Karl Augusts ist ein gutes Beispiel dafür, wie das Recht, Juden die Niederlassung zu gestatten, das ursprünglich ein Vorrecht des Kaisers war, im Zuge des Verfalls der Zentralgewalt im Alten Reich an die Territorialherren und schließlich sogar die Unterherrschaften und Städte überging. Das Geleitrecht war für die Herrscher besonders lukrativ, da es ihnen regelmäßig hohe Einnahmen sicherte. Broich war eine Unterherrschaft unter der Landesherrschaft der Herzöge von Jülich-Berg, die auch das Judenregal bzw. die Erteilung des Geleitrechts für sich beanspruchten. Im Laufe der Zeit wurde die Herrschaft Broich in Verbindung mit dem Kirchspiel und Gericht Mülheim immer unabhängiger von Jülich-Berg und die Inhaber der Herrschaft maßten sich landesherrliche Rechte und damit auch das Geleitrecht für Juden an. Eine Geleitserteilung durch die Herren von Broich ist erstmalig 1508 bezeugt. Im 17. Jahrhundert wurde das Geleitrecht zum ständigen Zankapfel zwischen den Herzögen von Jülich-Berg und den Unterherren von Broich. Die Herzöge von Jülich-Berg als Landesherren konnten sich letztendlich nicht durchsetzen. Der Geleitbrief für Karst und Merten von 1686 ist ein Individualgeleit für eine oder mehrere Familien im Gegensatz zur allgemeinen Geleitskonzession oder Judenordnung, die der Landesherr für die gesamte Judenschaft seines Herrschaftsgebiets erließ. Ganz ähnlich waren Individualgeleite auch in anderen Regionen formuliert. Der Geleitbrief fixierte die Rahmenbedingungen jüdischen Lebens am Niederlassungsort. Karst und Merten hatten für ihren Geleitbrief, der auf 14 Jahre befristet war, jährlich fünf Goldgulden zu zahlen und eine fette Gans abzuliefern. Das Niederlassungsrecht galt nur für die im Geleitbrief namentlich aufgeführten Personen.
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Wenn deren Kinder erwachsen wurden und einen eigenen Hausstand gründen wollten, durften sie sich nur dann in der Herrschaft Broich niederlassen, wenn ihnen auf Antrag ein neuer Schutzbrief erteilt wurde, für den wiederum fünf Goldgulden jährlich zu zahlen waren. Der Geleitbrief regelte insbesondere die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden, die vor allem als Viehhändler, Metzger und Geldverleiher ihren Lebensunterhalt verdienten. Der Zinssatz, zu dem die Juden Geld verleihen durften, war im Quellentext auf wöchentlich vier Heller von einem Taler festgelegt, was etwa 36 Prozent entsprach und ein für damalige Verhältnisse durchaus üblicher Zinssatz war. Die verpfändeten Gegenstände, die als Sicherheit für den Kredit genommen wurden, durften innerhalb eines Jahres nicht verkauft werden, wenn der Schuldner pünktlich seine Tilgungen und Zinsen zahlte. Nach einem Jahr und sechs Wochen durften die Pfänder verkauft werden, wenn keine Rückzahlungen erfolgt waren. Da Juden, die mit Altwaren handelten, häufig unwissentlich mit Diebesgut in Berührung kamen, wurde eine besondere Regelung getroffen: das sogenannte Hehlerprivileg, das den jüdischen Händler weitgehend vor Nachteilen schützte. Die überlassenen Gegenstände durften nur drei Monate nach dem Verlust und nur gegen volle Erstattung des vom Händler gezahlten Vorschusses zurückgefordert werden. Wichtig für die jüdischen Händler und Geldverleiher war außerdem, dass ihnen in Streitfällen vor Gericht eine Behandlung zugesichert wurde, die sie mit den Christen gleichstellte. Der Geleitbrief enthielt auch Regelungen zum religiösen Leben: Der Besuch der Synagoge und das Feiern von Festen waren gestattet, sollten aber unauffällig und mit Rücksicht auf die Christen geschehen. (Wir) Johann, Karl, Augustus Graff Zue Leiningen Und Dachsburg Herr zu Aspremont, Oberstein, Bruch1, Burgell und Reypoltz Kirchen p. Urkunden Und Zeugen hiemit, daß wir Karst Juden Und Vogell, Eheleuthen, Merten Juden Und Sara Eheleuthen, ihren Kindern, Hauß Und Brodtgenossen auf Unterthenig anhalten2 in Unserer Herrschaft Bruch Ein frey sicher geleith gegeben Und Verlehent3 haben, geben Und Verlehnen hiemit, Und in Krafft dieses, dergestalt, daß sie nun hinfüro in Unserem Dorff Mülheim Und Herrschafft Bruch Vier Zehn Jahr lang a dato dieses ab Zurechnen negst nach Einander folgende wohnen, wanderen, gehen und stehen, auch ihren Jüdischen handell und handtierunge mit Viehe, Rinder Und Küheschlachten, Kauffen Und Verkauffen treiben mögen. Und sollen von ihren Penningen, welche sie den Christen vorstrecken, zu interesse4 nehmen, als im Erzstifft Collen, Churfürstentumb Berge, Statt Achen5, Dortmundt, Und Essen und anderen umbliegenden Ortheren gebreuchlich, nemblich von einem Dahler Zur wochen vier heller. Die Pande6, So Sie von Unseren Unterthanen nehmen werden, Sollen sie innerhalb Jahrß nicht Verkauffen, wofern ihnen die Verschienenen pensiones7 Bezahlt wehren, aber nach Verlauff eines Jahrß und Sechs wochen Zeit Sollen sie macht haben, dafern keine pensiones Bezahlt die versetzte Pande zu verEußeren Undt um-
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bzuschlagen. Da ihnen gestohlene Wahren versetzt Und verKaufft, Und inwendig Dreyer Monath Zeit danach gefraget würde, Sollen sie dieselbe gegen Erlegung ihres außgelegten Geldes folgen laßen, Sonsten nach umbgang Dreyer Monathen davon Zu antworten nicht schuldig sein. Und da sie ihr schulden Einzunehmen oder Sonsten mit Unseren Unterthanen, oder anderen Mißverstandt bekommen würden, Soll ihnen an Unserem Verhoer oder gericht gleichmeßig Recht8 wiederfahren undt darbey manuteniert9 werden, im fall sie aber etwaß straffwürdiges begingen, deßwegen sollen sie Uns Jedesmahl Zur straff stehen, Und dadurch dieß geleith nicht verwirket haben: Waß die Jüdischen Ceremonien und deren Übung Bey der Beschneidung10, KindelBier11, Hochzeiten, gasterey, und ihren Eigenen Schulen betrifft, wollen wir ihnen auch Solches hiemit, Jedoch daß sie sich Eingezogen12 verhalten Und den Christen keine Ärgernuß geben, erlaubt haben, für welches geleidt Bemelte13 Juden Jährlich, so lange Es wehret, Unß Zum tribut geben Und Verrichten Sollen auff Martini14 Funff Goltgulden Und eine feiste Ganß. Indem wir auch denselben gnedig bewilliget, daß wofern ihre Kinder sich in Unserem Dorff Müllheim Und Herrschaft Bruch Verheirathen, und daselbst wohnhaft Bleiben würden, daß wir alßdan Einem jeden derselben Kinder Ein Besonder gleichmeßig geleidt, wan sie deßfalß Bey Unß willen machen, geben und darüber Unsere gleidts Brieffe Mittheilen lassen wollen. In Urkundt dessen haben wir Eingangs gemelter graff und Herr diesen gleidts Brieff mit Eigener Handt Unterschrieben Und Unser Insiegell15 darahn hengen laßen, geschehen Bruch am achten octobris lauffenden Tausendt Sechshundert Sechs Und achtzigsten Jahrß.
Anmerkungen 1 Die Herrschaft Broich, deren Mittelpunkt das Schloss Broich war; auf der anderen Seite der Ruhr lag das damalige Dorf Mülheim. 2 Auf deren untertäniges Gesuch. 3 Verliehen. 4 An Zinsen. 5 Erzstift Köln, Herzogtum Berg, Stadt Aachen. 6 Pfänder. 7 Zinszahlungen. 8 Gleichberechtigt; gleiches Recht wie die Christen. 9 Von lat. manutenere, beschützen, bewahren. 10 Mit der Beschneidung wird der von einer jüdischen Mutter geborene Knabe am achten Tag nach seiner Geburt in den Bund Abrahams mit Gott, also in die jüdische Gemeinschaft, aufgenommen. 11 Kindelbier bezeichnet das Bier, mit dem vor allem auf dem Lande nach einer Kindstaufe der Pate, die Patin oder die Nachbarn bewirtet werden; im weiteren Sinn das bei dieser
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Gelegenheit spendierte Essen. Hier ist vermutlich das Bier oder Essen aus Anlass der Beschneidung gemeint. 12 Zurückhaltend. 13 Vorgenannte. 14 Fest zu Ehren des hl. Martin am 11. November; Wechsel des Wirtschaftsjahres. 15 Siegel.
Literatur Barbara Kaufhold, Juden in Mülheim an der Ruhr, mit einem Beitrag von Gerhard Bennertz, hg. vom Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, Essen 2004; Bastian Fleermann, Marginalisierung und Emanzipation. Jüdische Alltagskultur im Herzogtum Berg 1779–1847, Neustadt/Aisch 2007, insbes. S. 89–94; Gerhard Bennertz, Leben der Juden in Mülheim von 1618 bis 1945. Tonbildserie, hg. vom Medienzentrum der Stadt Mülheim an der Ruhr, Mülheim 1988
3 Ordentliche und Außerordentliche Schutzjuden: Das Revidierte General-Privilegium und Reglement für die Juden im preußischen Staat, 1750 Ismar Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, Bd. 1.2: Urkunden, Berlin 1912, S. 26f. und 29
Das Revidierte General-Privilegium und Reglement, 1750 von König Friedrich II. erlassen, brachte eine Verschärfung des Reglements von 1730. Beide Generalprivilegien galten für den gesamten preußischen Staat und damit auch für die rheinischen Landesteile, das Herzogtum Kleve und das Fürstentum Moers. Die preußischen Juden wurden als eine Sondergruppe betrachtet, die sich ihren spezifischen Rechtsstatus, das Recht zur Niederlassung, zur Wirtschaftstätigkeit und zur Ausübung ihres Kultus durch festgesetzte Geldzahlungen erkaufen musste. Der besondere rechtliche Status wurde in Schutz- und Geleitbriefen fixiert. Ziel der Generalprivilegien von 1730 und 1750 war es, die Zahl der jüdischen Familien konstant zu halten und eine weitere Zuwanderung durch rigide Restriktionen zu unterbinden. Die kleine Gruppe jüdischer Familien erfuhr eine maximale finanzielle Ausbeutung durch den preußischen Staat. Als die Generalprivilegien von 1730 und 1750 in Kraft traten, war die Blütezeit der Klevischen Judenschaft vorbei, zahlreiche Familien waren verarmt. Sowohl die wachsenden finanziellen Belastungen und die Beschränkung der wirtschaftlichen Be-
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tätigung als auch der Niedergang der benachbarten Niederlande trugen zu dieser Entwicklung bei. Die Klevische Judenschaft verlor ihren Sonderstatus und wurde immer mehr zu einem „Trabanten der Berliner jüdischen Gemeinde“ (Fritz Baer, Protokollbuch, S. 45). Das Generalprivileg von 1750 war in noch viel stärkerem Maße als alle vorangegangenen Gesetze der Leitlinie verpflichtet, reiche und wohlhabende Juden zu fördern und die anderen nach Möglichkeit aus dem Land zu weisen. Scharfe Kontrollmaßnahmen sollten dafür sorgen, dass die Zahl der jüdischen Familien konstant blieb und dass sich keine Juden ohne Berechtigung ins Land „einschlichen“. Im Mittelpunkt der restriktiven Judenpolitik Friedrichs II. stand die Unterscheidung von privilegierten Juden, den so genannten „Ordentlichen Schutzjuden“ (Ordinarii), und Juden mit einem minderprivilegierten Schutzstatus, den „Außerordentlichen Schutzjuden“ (Extraordinarii). Nur die Ordentlichen Schutzjuden durften ihre Rechtstitel an den ältesten Sohn frei vererben. Dieser wurde „angesetzt“, d.h. er konnte sich niederlassen, einen selbständigen Haushalt führen, eine Familie gründen und im Rahmen der Bestimmungen des Generalreglements seinen Beruf ausüben. Zweite und dritte Kinder durften den Schutztitel nicht erben; sie konnten aber, sofern sie aus einer reichen Familie stammten oder selbst Vermögen hatten, um ein eigenes Privileg nachsuchen. In der Regel mussten sie allerdings das Land verlassen, wenn sie einen eigenen Haushalt gründen wollten. Töchter durften sich im Gegensatz zur Regelung 1730 wieder im Land verheiraten. Die „Außerordentlichen Schutzjuden“ waren nur persönlich und zu Lebzeiten abgesichert. Die Niederlassung von Kindern „Außerordentlicher Schutzjuden“ war stark erschwert. Auch die Witwe eines „Ordentlichen Schutzjuden“ und, nach einer erneuten Heirat, ihr Ehemann erhielten lediglich den außerordentlichen, auf die Dauer ihres Lebens befristeten Schutz. Kinder, die keinen eigenen Hausstand, keine Familie oder kein eigenes Handelsgeschäft gründeten, konnten ebenso bei ihrer Familie bleiben wie verarmte Eltern. Fremde Juden durften sich im Königreich Preußen generell nicht niederlassen, es sei denn, es gelang ihnen, ein Vermögen in Höhe von 10.000 Reichstalern nachzuweisen. Zu den weiteren folgenschweren Bestimmungen des Generalreglements von 1750 gehörte die Ausweisung der Juden vom platten Land in die Städte, wo sie wirkungsvoller zu kontrollieren waren; im Herzogtum Kleve waren elf Familien von dieser Regelung betroffen. Eine Verschlechterung des wirtschaftlichen und sozialen Status bedeutete auch die Beschränkung des Hausbesitzes: In den Klevischen Städten durfte nur eine von jeweils fünf jüdischen Familien ein Haus besitzen. Gewisse Erleichterungen der Wirtschaftstätigkeit konnten nicht verhindern, dass die Klevische Judenschaft – insbesondere nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756–63) – immer mehr verarmte und gegen Ende des 18. Jahrhunderts sehr viel schlechter dastand als die Juden in den benachbarten Territorien Jülich-Berg und Kurköln.
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[…] Grundsätze so bey Ansetzung der Juden beobachtet werden sollen. Wegen Ansetzung der Juden sollen hinkuenftig nachfolgende Grund-Sätze festgesetzet und beobachtet werden: Eintheilung der itzo vergleiteten und geduldeten, in ordentliche und ausserordentliche Juden. 1. Wird ein Unterschied gemacht, unter denen ordentlichen Schutz-Juden und denjenigen, so ausser der Ordnung auf Lebens-Zeit geduldet werden. Zu letztern gehoeren die, so eines Schutz-Juden Wittwe geheyrathet, oder sonst eine Concession1 erhalten haben, wie auch die Wittwen und uebrige Kinder von der Familie, worauf bereits ein Kind angesetzet, dergestalt, daß kuenftighin nur diejenige fuer ordentliche Schutz-Juden gehalten werden, welche das Recht Was ordentliche Schutz-Juden seyn. haben, ein Kind anzusetzen, solchen Behufs anitzo in der bestimmten Zahl der ordentlichen Schutz-Juden von neuem aufgenommen und der Liste A. mit einverleibet worden. Was ausserordentliche Schutz-Juden seyn. 2. Die vorhin benannte ausserordentliche Juden sind nicht befugt, ein Kind anzusetzen, noch ihres Ortes auf ihr Recht zu verheyrathen. Hiernaechst muß das eine Kind, so auf derer Eltern Schutz-Brief angesetzet werden will, ein Vermoegen von 1000 Rthlr. wozu jedoch das taegliche Haus-Geraethe und Kleidung samt ungewissen Schulden nicht zu rechnen, nachweisen; imgleichen die jedes Orts gewoehnliche Jura2 zur Chargen-Casse3 erlegen, und kann uebrigens das angesetzte eine Kind, so lange der Vater lebet, kein Kind wiederum ansetzen; sollten aber deshalb besondere Umstaende vorkommen, so haben sie sich deshalb bey dem General-Directorio4 zu melden; Wegen des zweyten Kindes aber bleibet es bey Unserer bereits unterm 27ten Oktobr. 1747. ergangenen und den 23ten May 1749. wiederholten Cabinets-Ordre5, daß solches hinkuenftig in allen Unsern Landen gar nicht mehr gestattet werden soll. Dafern jedoch von den bereits vorhin angesetzten Extraordinariis jemand ein durch Absterben, Wegziehen, oder auf andere Art vacant6 werdendes Schutz-Privilegium erlangen wollte, soll davon an Uns berichtet, und zugleich wie viel er im Vermoegen habe, gehoerig untersuchet, und mit angezeiget werden, da Wir Uns sodann darüber allergnaedigst entschliessen und zugleich die Chargen-Jura7 bestimmen wollen.
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3. Soll Inhalts Unser unterm 23ten May 1749. allergnaendigst ertheilten CabinettsOrdre die einmahl nunmehro festgesetzte Anzahl der Juden-Familien ohne Unsere allerhoechste Ordre nicht ueberschritten, und es forthin darunter dergestalt gehalten werden, dass derjenige Jude, welcher ein Privilegium hat, solches zuvorderst nur fuer seine Person geniesse, jedoch auch die Freyheit habe, seine Kinder bey sich zu behalten, so dass diese, so lange er lebet, seines Schutzes mit geniessen, jedennoch aber keine besondere Handlung vor sich fuehren müssen. 4. Wenn derjenige Jude, so ein Privilegium hat, mit Tode abgehet, so faellet nach eben dieser Unserer allergnaedigsten Ordre sodann das Privilegium auf sein aeltestes Kind, dessen Brueder und Geschwister aber, koennen keinen weitern Schutz zur Handlung darauf geniessen, wie denn auch, wenn bey Lebzeiten des Vaters die andern Kinder ausser dem aeltesten sich hinfuehro verheyrathen, solche fort muessen, und nicht bey dem Vater bleiben, wenigstens keine Handlung treiben koennen; Was aber die 2ten und 3ten Kinder reicher Juden anbetrifft, wenn sie 1000 Rthlr. zusammen bringen, so koennen diese zwar nach Absterben ihres Vaters von dessen gehabten Schutze nicht profitiren; es sollen aber dieselben alsdann sich gehoerig melden, und um ein besonderes Privilegium ansuchen, da Wir denn auf Unseres General-Directorii davon geschehenen allerunterthaenigsten Bericht, darauf jedesmahl besonders resolviren8 wollen, und muß ein solcher alsdann die fuer ein dergleichen Privilegium geordneten Jura zur Chargen-Casse erlegen. Uebrigens verstehet sich von selbsten, daß die jeden Orts eingebohrne, verarmten und abgelebten Eltern, gleich den Kindern bey jeder Familie geduldet werden. […] 8. Fremden Juden soll in Unseren Landen sich anzusetzen gar nicht erlaubet seyn; Jedoch dafern ein solcher wuercklich zehen tausend Rthlr. Vermoegen haette, und selbige ins Land braechte, auch dieses zugleich zuverlaeßig darthaete, soll bey Uns darueber, und was alsdann an Chargen-Juribus zu erlegen sey? angefraget werden. […]
Anmerkungen 1 Genehmigung, Erlaubnis. 2 Gebühren. 3 Kasse, an die Gebühren für die Erteilung bestimmter Ämter (Chargen), Titel, Standeserhöhungen, Pensionen, Privilegien, Konzessionen etc. abgeführt werden mussten. 4 Das General-Ober-Finanz-Kriegs- und Domainen-Directorium, kurz Generaldirektorium genannt, war eine zwischen 1723 und 1808 in Preußen (mit Ausnahme Schlesiens) bestehende zentrale Behörde, die für Finanz-, Wirtschafts- und weite Bereiche der Innenpolitik zuständig war; nach Departements gegliedert; an der Spitze jedes Departements stand ein „dirigirender Minister“; 1808 durch das Staatsministerium abgelöst. 5 Unmittelbarer Befehl des Fürsten, der quasi Gesetzeskraft hat.
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6 Frei, unbesetzt. 7 Gebühren für die Chargen-Kasse. 8 Beschließen.
Literatur Fritz Baer, Das Protokollbuch der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve, Teil 1: Die Geschichte der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve, Berlin 1922, inbes. S. 28–52; Franz Nienhaus, Die Juden im ehemaligen Herzogtum Cleve unter brandenburgisch-preußischer Verwaltung, Diss. Münster 1914; Mordechai Breuer, Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: Mordechai Breuer/Michael Graetz, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. I: Tradition und Aufklärung 1600–1780, München 1996, insbes. S. 126–150; Stephan Laux, Zwischen Anonymität und amtlicher Erfassung. Herrschaftliche Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in den rheinischen Territorialstaaten vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn der ‚Emanzipationszeit’, in: Monika Grübel/Georg Mölich (Hg.), Jüdisches Leben im Rheinland vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 79–110; Albert A. Bruer, Geschichte der Juden in Preußen (1750–1820), Frankfurt a. M./New York 1991, S. 39–48 u. 69–72
4 Schutz und Beschränkung: Die erneuerte Geleitskonzession für die Juden im Herzogtum Jülich-Berg, 1779 Beiträge zur Geschichte des Niederrheins/Jahrbuch des Düsseldorfer Geschichtsvereins, Bd. 2 (1887), S. 116f.
Die 1779 von Kurfürst Karl Theodor von Pfalz-Sulzbach (1724–1799) erlassene Geleitskonzession für die Herzogtümer Jülich und Berg, die das Generalgeleit von 1763 ablöste, war der letzte allgemeine und umfassende Geleitbrief für alle in Jülich-Berg lebenden Juden vor Ausbruch der Französischen Revolution. In der Geleitskonzession definierte der Landesherr die Voraussetzungen für die Niederlassung der Juden im gesamten Territorium sowie die Rahmenbedingungen ihres Alltagslebens. Die Judenpolitik der Herzöge von Jülich und Berg zeichnete sich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts durch Konzeptionslosigkeit aus. Vertreibungen, die sich kaum durchsetzen ließen, gingen mit halbherzigen Zulassungen einher. Die Lebensbedingungen der Juden in Jülich-Berg waren daher lange Zeit durch Rechtsunsicherheit und Instabilität geprägt. Die meisten jüdischen Gemeinden, deren Gründung recht spät erfolgte, blieben sehr klein. Lediglich in der Residenzstadt Düsseldorf entwickelte sich langsam eine bedeutende jüdische Gemeinde. Insgesamt galt auch für die
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Judenpolitik in den Herzogtümern Jülich und Berg, dass reiche und wohlhabende Juden gern gesehen und gefördert wurden, die Zahl der armen Familien aber konstant gehalten oder minimiert werden sollte. Das Generalgeleit von 1779 beschränkte die Höchstzahl der vergleiteten jüdischen Familien bzw. Haushalte auf 215. Die Zahl der tatsächlich im Land lebenden jüdischen Familien war allerdings höher, denn die Juden in den Unterherrschaften sowie die zahlreichen Juden, die ohne Geleitbrief illegal im Land lebten, blieben unberücksichtigt. Das Generalgeleit von 1779 brachte insofern einen großen Fortschritt, als den Juden eine recht weitgehende Handels- und Gewerbefreiheit (mit Ausnahme des Rechts, offene Läden zu halten) gewährt wurde. Das Generalgeleit, das auf sechzehn Jahre befristet war, kostete die Judenschaft von Jülich-Berg 10.000 Gulden, zu denen noch 4.000 Gulden jährlicher Tribut kamen. Diese und weitere Abgaben wurden auf alle vergleiteten Juden umgelegt. Die Zahlungen belasteten die Judenschaft schwer; insgesamt war der Steuerdruck in Jülich-Berg oder Kurköln aber nicht so hoch wie in den rheinischen Besitzungen Preußens. Der hier abgedruckte Abschnitt der Geleitskonzession von 1779 gibt einen Einblick in die innere Verfassung der Juden in Jülich-Berg, die sich in der Frühen Neuzeit zu einer sogenannten Landjudenschaft zusammenschlossen. Die Landjudenschaft organisierte die zerstreut in kleinen Gemeinden oder auch vereinzelt lebenden jüdischen Familien auf Landesebene. Sie bildete weitgehend autonome Verwaltungsgremien aus, die das jüdische Leben regulierten und die Beziehungen zum Landesherrn und den staatlichen Behörden pflegten. Artikel 8 der Geleitskonzession wies dem Rabbiner der Landjudenschaft weitreichende Kompetenzen zu. In allen zivilrechtlichen und religiösen Belangen lagen die richterlichen Befugnisse bei ihm. In Streitfällen konnten sich die Gemeindemitglieder an einen unparteiischen Rabbiner wenden. Bis 1704 war der kurkölnische Landesrabbiner auch für Jülich-Berg zuständig. Erst 1706 wurde ein für Jülich-Berg zuständiger Landesrabbiner berufen, der in Düsseldorf ansässig war. Bei Problemen, die sich aus dem neuen Geleitrecht ergaben, lag die Entscheidungskompetenz bei zwei kurfürstlichen Kommissaren. Artikel 10 regelte die Wahl der Repräsentanten bzw. des Vorstands der Judenschaft, der Vorgänger und Vorsteher, die für den Landesherrn sehr wichtig waren, da sie die Steuern und Tributgelder einzuziehen hatten. Zudem besaßen sie erheblichen Einfluss bei der Zuteilung der persönlichen Schutz- oder Geleitbriefe. Der Vorstand bestand aus dem Obervorgänger und seinem Stellvertreter, den drei Vorgängern und weiteren Beisitzern, die der sogenannte Judenlandtag zu wählen hatte. Einen großen Einfluss auf die Wahl des neuen Vorstands hatten der amtierende Vorgänger und sein Stellvertreter. Artikel 11 bestätigte, dass „öffentliche Bedienstete“ der Judenschaft von den meisten Abgaben befreit waren. Auch in diesem Fall bestimmten die Vorgänger und Vorsteher den begünstigten Personenkreis. Weiterhin sollten die Vorgänger, der älteste
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Vorsteher und Rabbiner am Wohnort von allen Kriegs-, Einquartierungs- und ähnlichen Lasten befreit sein. Des Weiteren durfte kein Jude am Schabbat oder an jüdischen Feiertagen von Behörden oder Gerichten vorgeladen oder mit der Eintreibung von Geldern behelligt werden. Wie zahlreiche frühere Geleitskonzessionen oder Judenordnungen schützte auch das 1779 erlassene Dokument die Juden vor Übergriffen von Seiten der Nichtjuden (wobei der Kreis der „Störer“ mit „Gesindel“ und „Jugend“ definiert wurde). Die erneuerte Geleitskonzession von 1779 machte deutlich, dass die Judenschaften in den Territorialstaaten der Frühen Neuzeit als von der christlichen Gesellschaft weitgehend separierte Korporationen, als ständische Organisationen mit Zwangscharakter und genau definierten Autonomierechten betrachtet wurden. […] 8vo. wann zwischen Jude und Juden Differentien1 außerhalb Kriminalsachen, es seye Heyraths- oder das jüdische Zeremoniel betreffende Vorfallenheiten, sich ereignen sollen, solche von der Gemeinde Judenschafts-Rabinern decidiert2, und ausgemacht werden, doch auch dem jenigen von beyden Theilen, so mit solcher Entscheidung graviert3 zu seyn vermeynen würde, zu einem andern unpartheyischen Rabiner zu provocieren4, und abzuberufen, auch daselbst die Sache zum Schluße prosequieren5 frey stehen; im Falle aber die Judenschaft über den Innhalt gegenwärtiger neuer Geleitsverleihung, und deren ertheilenden Geleitspatenten fürs künftige einiges Beschwer mit Fug zu erheben und anzubringen haben möchte, soll selbiges von Unserm hiezu specialiter kommittierten6 Gülich und Bergischen7 geheimen Räthen Tit.8 von Grein, und Knapp untersucht, und abgethan werden; […] und damit 10mo.die gemeine9 Judenschaft tüchtige und rechtschaffne Vorgänger, und Vorsteher haben möge, so sollen pro futuro10 von zeitlichem Vorgänger, und Vorsteher zwölf Personen in Vorschlag gebracht, daraus drey zu gemeinen Vorgängern, und drey zu Vorstehern von den zur Wahle bevollmächtigten erwehlet werden, bey solchen Vorschlag aber die Empfänger von Vorgängern, und Vorstehern allein bestellet werden sollen, da auch 11mo.bey der gemeinen Judenschaft über die oben Art.: 2do. bestimmte Familienzahl11 ohngefähr zehn befreyte bisher gewesen, welche für die unvermögenden Aeltesten, und zween Schuldiener, Vorsinger, Schulklöpfer12, Schreiber, und Bothen das Amt zu verrichten haben, also es auch in Zukunft dabey sein verbleiben haben, jedoch diese Personen von zeitlichen Vorgängern, und Vorstehern allein angeordnet, sodann für jedes von Unserer Hofkammer13 ausgefertigt werdendes Patent an Kanzleygebühr mehr nicht dann zween Reichsthaler entrichtet werden. Ferner sollen nach Maaßgebung der jüngern Geleitskoncession14 die Vorgänger, fort15 der älteste Vorsteher und Rabiner in dem Orte, wo sie wohnen, von allen Kriegs- und Einquartierungs-, auch sonstigen dergleichen Lasten frey bleiben, kein Jud auch auf einen Sabbath16, oder jüdischen Feyertage mit einer Citation17, oder Exekution18 belästiget werden dörfen. Wir wollen auch,
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12mo. auf daß in Zukunft die vergleitete Juden auf dem Lande, in Dörfern, und Städten, vom Gesindel, und Jugend ferner nicht molestiert19, und in ihrer Nahrung gestöret werden, durch Unsere nachgesetzte Gülich- und Bergische Regierung eine Generalverordnung zu jedermanns Wissenschaft gnädigst ergehen, und dahin publicieren lassen, daß, wenn sich dagegen eine Kontravention20 ereignen würde, ihnen alsdann prompte summarische21 Justiz mit Statuierung abschrökenden Exempels angedeihen solle. […]
Anmerkungen 1 Unstimmigkeiten, Zwist, Auseinandersetzungen. 2 Entschieden. 3 Beschwert, belastet. 4 An einen anderen unparteilichen Rabbiner appellieren. 5 Verfolgen, zur Ausführung bringen, beenden. 6 Besonders beauftragten, bevollmächtigten. 7 Jülich-Bergischen. 8 Amts- und Dienstbezeichnung. 9 Allgemeine. 10 In Zukunft, zukünftig. 11 Artikel 2 der erneuerten Geleitskonzession beschränkte die Judenschaft im Herzogtum Jülich-Berg auf 215 Haushaltungen. 12 Der Schulklopfer genannte Gemeindediener rief die Juden eines Ortes durch das Klopfen an der Haustür zum Gottesdienst in die Synagoge (jiddisch: Schul). 13 Die Hofkammer verwaltete die Einkünfte des Landesherrn; zunächst für die Finanzierung der Hofhaltung, dann auch für die Finanzverwaltung des Landes zuständig. 14 Die erneuerte Geleitskonzession von 1779 revidierte die älteren Bestimmungen von 1763. 15 Sowie, weiterhin. 16 Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und der Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 17 Vorladung. 18 Vollstreckung, hier in erster Linie: Eintreibung von Geldern und Steuern. 19 Belästigt. 20 Gesetzes- oder Vertragsbruch. 21 Sofortig, kurz und bündig.
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Literatur Bastian Fleermann, Marginalisierung und Emanzipation. Jüdische Alltagskultur im Herzogtum Berg 1779–1847, Neustadt/Aisch 2007, insbes. S. 56–88; Stephan Laux, Zwischen Anonymität und amtlicher Erfassung. Herrschaftliche Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in den rheinischen Territorialstaaten vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn der ‚Emanzipationszeit‘ in: Monika Grübel/Georg Mölich (Hg.), Jüdisches Leben im Rheinland vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 79–110; Andreas Schneider, Judenpolitik in den niederrheinischen Territorien in der frühen Neuzeit, in: Gerhard Rehm (Red.), Geschichte der Juden im Kreis Viersen, Viersen 1991, S. 11–24
5 Appell der Witwe des Meyer Zaudy aus Xanten an König Friedrich II., ihr die Abnahme von „Judenporzellan“ zu erlassen, 1779 GStA PK, II, HA, Generaldirektorium, Abt. 18 Kleve, Materialien, Tit. CLXI, Sekt I, Nr. 11, Bd. 2, Bl. 53–56
Die im brandenburg-preußischen Xanten ansässige Witwe des ordentlichen Schutzjuden Meyer Zaudy beklagte sich in einer an König Friedrich II. gerichteten Bittschrift über ein ihr widerfahrenes gravierendes Unrecht: Für das Eigentum an einem bereits 1746 erworbenen Haus habe sie nach dem Tod ihres Ehemannes eine Konzession einholen müssen, die 1770 auch erteilt worden sei. Kürzlich habe sie erfahren, dass sie aufgrund dieser Konzession nachträglich zur Abnahme von Porzellan aus der Königlichen Porzellanmanufaktur (KPM) in Berlin in Höhe von 300 Reichstalern gezwungen werden solle, das ins Ausland zu verkaufen sei. Von diesem Zwangskauf sei weder beim Erwerb des Hauses noch bei der Erteilung der Konzession 1770 die Rede gewesen. Die Witwe des Meyer Zaudy sprach in ihrer Bittschrift eine rechtliche Unsicherheit sowie eine finanzielle Belastung an, die sich neben zahlreichen anderen Steuern und Abgaben zu einem der bedrückendsten und folgenreichsten Probleme entwickelte, mit denen sich Juden im Königreich Preußen konfrontiert sahen. Ausschließlich die jüdischen Untertanen wurden gezwungen, KPM-Porzellan für den Export abzunehmen. Die Bezeichnung von KPM-Produkten als „Judenporzellan“ wirkte noch bis ins 19. Jahrhundert fort. Mit dem erzwungenen Porzellanexport beabsichtigte die Regierung, die Absatzprobleme der nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) vom preußischen Staat übernommenen KPM zu beheben. Die Lasten wurden – wie so oft – auf die Juden abgewälzt. Auf Befehl des Königs vom 21. März 1769 hatten Juden bei der Vergabe von Generalprivilegien für 500 Reichstaler, bei jeder anderen Erteilung von Rechten,
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demnach auch bei der Vergabe von Konzessionen für den Besitz von Wohnungseigentum, für 300 Reichstaler Porzellan aus der Königlichen Porzellanmanufaktur abzunehmen. Das eigentlich nicht konkurrenzfähige Porzellan sollten die Juden im Ausland weiterverkaufen. Die preußischen Behörden gingen davon aus, dass weit verzweigte jüdische Familiennetzwerke den Verkauf ins Ausland begünstigen würden. 300 Reichstaler waren eine hohe Summe, für die ein Berliner Manufakturarbeiter etwa zwei Jahre arbeiten musste. Zwischen 1769 und 1788 hatten die preußischen Juden Zwangsexporte von KPM-Porzellan in Höhe von 280.000 Reichstalern zu realisieren. Die Porzellansteuer entwickelte sich zur drückendsten Sonderabgabe im preußischen Staat. Zunächst allerdings wurde bei der Vergabe von Konzessionen zum Hausbesitz nur selten darauf bestanden, Porzellan im Wert von 300 Reichstalern auszuführen; die meisten Juden konnten mit der Reduzierung ihrer Abgaben rechnen. 1779 kam es zu einer eklatanten Verschärfung der geübten Praxis. Bis zum Jahre 1786 wurde keine Konzession zur Neuvergabe eines Schutzbriefes für ordentliche und außerordentliche Schutzjuden erteilt, ohne dass KPM-Porzellan im Wert von 300 Reichstalern abgenommen und nachweislich exportiert wurde. Die sogenannten „Porzellan-Restanten“, die bislang kein Porzellan erworben hatten, sollten nun nachträglich belastet werden. Betroffen waren alle Juden, die seit 1769 Konzessionen erhalten hatten. Damit fiel auch die Witwe des Meyer Zaudy unter die verschärfte Regelung. Die Zwangsmaßnahmen wurden rücksichtslos durchgeführt, wobei es auch zum Entzug von Konzessionen kam. Alle Juden, die den Porzellanexport nicht bewerkstelligen konnten, wurden in der Folgezeit lediglich toleriert, also auf einen überaus unsicheren Rechtsstatus verwiesen. Folgen dieser restriktiven Politik waren ein eklatanter Rückgang bei der Vergabe von Niederlassungskonzessionen, hohe Einbrüche bei der Heiratsquote und beim Hauserwerb, der soziale Abstieg zahlreicher jüdischer Familien und in etlichen Fällen die Veränderung der Sozialstruktur von ganzen jüdischen Gemeinden. Im Westen war die Lage besonders bedrückend, da auf Grund des geringen Handels mit dem Ausland das Porzellan kaum abzusetzen und zudem im Vergleich zu dem von den Niederlanden eingeführten chinesisch-japanischen Porzellan kaum konkurrenzfähig war. Auch die Witwe des Meyer Zaudy fürchtete die Verarmung. Ihr weiteres Schicksal kennen wir nicht. 1787 wurde der Zwangsexport von KPM-Porzellan gegen Zahlung einer Summe von 40.000 Reichstalern, die auf alle preußischen Juden umgelegt wurde, abgeschafft; die „Porzellan-Restanten“ wurden in ihre früheren Rechte eingesetzt.
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Allerdurchlauchtigster Großmächtigster König! Allergnädigster König und Herr. Ich habe mit meinem verstorbenen Manne, dem ordinairen Schutz-Juden1 Meyer Zaudy schon seit 1746 hierselbst eine kleine Wohnung eygenthümlich besessen und als mir ex post2 deshalb Schwierigkeit gemacht werden wollen, bin ich nach dem Tode meines Mannes nolens volens3 gezwungen worden, eine Allergnädigste Concession4 nachzusuchen, welche mir auch, wiewohl mit vielen Kosten, besage der Anlage, in anno 1770 den 1ten Oktbrs. von Ewr. Majestät hochpreisl. General Directorio5 allergnädigst erteilt ist. In dieser Allerhöchsten Concession, welche mir in betracht der bey mir obwaltenden besonderen Umstände, nicht abgeschlagen werden können, heißt es ausdrücklich, daß ich bey solchem Besitz des Hauses für mich und meine Erben kräftigst geschützt werden solle. Ich arme und verlaßene Wittwe habe auch der zeit, nach allen mir dafür abgeforderten und bezahlten Chargen Gelder6 und Sporteln7 nichts anderes gedacht, als daß ich völlig dabey sicher seyn würde; allein leyder erfahre ich das Gegentheil. Der Magistrat hierselbst, der mir vorstehen, und nach dem bitterlichen Inhalte der mehrgemelten8 Concession contra Quoscunque defendiren9 sollte, will mich jetzt quasi auf eine eingelauffene Requisition10 des Chur-Märkischen Officio Fisci11 sogar zwingen, daß ich de novo12 wegen obgedachter, bereits längst erhaltener Concession zum Besitz meines schon in Anno 1746 mit Wißen und Consens der Obrigkeit anerkaufften Haußes, für 300 Rthlr Berliner Porcelain und solche außerhalb Landes debitiren13 solle. Allergnädigster König und Herr! Ich begreiffe nicht unter welchem Pretext14 und Scheine Rechtens man mich hierzu forciren könne. Denn vor eins habe ich besagte illimitirte15 Allerhöchste Concession vor mir und es bewähret selbige mit ausdrücklichen Worten, daß in Anschauung dessen ganz besondere Umstände bey mir obgewaltet, mithin es von selbst spricht, daß ich vor allen anderen dabey kräftigst manuteniret16 werden muß, indhem nichts unerhörter und unbegreiflicher seyn kann, als daß Ewr. Königl. Majestät Dero höchst eigene, und, wie es darinnen heißt, Auf Allerhöchsten Special Befehl ausgefertigte Concessiones und Zusagen durch andere wieder vereiteln und aufheben laßen sollten. Vors andere ist mir der zeit, um eine gemäße Quantität Berliner Porcelain zu nehmen, nichts gesagt, oder injungiret17 worden, und es konnte auch nicht geschehen, weil ich angeführtermaßen bemeldtes18 Hauß nicht erst neulich aquiriret19, sondern schon über 30 bis 40 Jahre beseßen hatte, und wenn dieses auch nicht wäre, so hat es mir tunc temporis20 und sonst allemahl frey gestanden, ob ich unter anderen Condicionis die Concession zum eygenthümlichen Besitze des Hauses haben wollte oder nicht.
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Ich würde also, wenn mir dergleichen Anmuthen dabey geschähen wäre, in Freyheit nicht dazu resolviret21 haben. Denn wozu kann es mir in Xanten nützen, ob ich ein Hauß eygenthümlich besitze, oder nicht. Ich bin überdhem alt, und unvermögend, habe keine Kinder oder nahe Anverwandten, und kann bemeltes Hauß ohnehin nicht länger besitzen. Ich habe keinen Handel oder Vermögen, und werde mich daher bald, um meinen Unterhalt zu finden und die Abgaben bestreiten zu können, gemüßiget sehen, mein Hauß zu verkauffen, eine Wohnung, die in Xanten nicht viel bedeuten will und vielleicht nicht 400 Rthlr gemein Geld austragen wird. Aus allen diesen notoiren22 allenfalls erweislichen Umständen geht daher sattsam hervor, daß ich so wenig stricto jure23 verschuldet als im Stande bin, wegen solcher vorlängst erhaltenen bündigsten Concession noch jezo 300 Rtr Porcelain zu nehmen, eine Summe Geldes, die mich ganz zurück setzen und in meinem Alter an den Bettelstab bringen würde. […]
Anmerkungen Für den Hinweis auf den Quellentext sei Herrn Dr. Tobias Schenk, Marburg, gedankt. 1 Die Ordinarii oder „ordentlichen Schutzjuden“ waren nach dem Generalreglement von 1750 besonders privilegierte Juden. Sie besaßen als einzige frei vererbliche Rechtstitel, während die Extraordinarii oder „außerordentlichen Schutzjuden“ nur Rechte für die Dauer ihres Lebens besaßen (vgl. Dokument 3). 2 Im Nachhinein. 3 Wohl oder übel. 4 Genehmigung. 5 Das General-Ober-Finanz-Kriegs- und Domainen-Directorium, kurz Generaldirektorium genannt, war eine zwischen 1723 und 1808 in Preußen (mit Ausnahme Schlesiens) bestehende zentrale Behörde, die für Finanz-, Wirtschafts- und weite Bereiche der Innenpolitik zuständig war; nach Departements gegliedert; an der Spitze jedes Departements stand ein „dirigirender Minister“; 1808 durch das Staatsministerium abgelöst. 6 Gebühren für die Erteilung bestimmter Ämter (Chargen), Titel, Standeserhöhungen, Pensionen, Privilegien, Konzessionen etc., die an die sogenannte Chargen-Kasse abgeführt wurden. 7 Gebühren, die für bestimmte Amtshandlungen an Beamte zu zahlen waren. 8 Mehrfach vorher genannt. 9 Gegen alles Mögliche, in jeder Hinsicht verteidigen. 10 Untersuchung, Nachforschung. 11 Die „Officia fisci“ waren Kontrollbehörden in den einzelnen preußischen Provinzen gegenüber der allgemeinen Verwaltung in juristischen und fiskalischen Belangen; sie standen unter der Oberaufsicht des Generalfiskals in Berlin. 12 Von neuem.
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13 In Rechnung stellen. 14 Vorwand. 15 Beste. 16 Unterstützt. 17 Zur Pflicht gemacht, befohlen. 18 Vorgenanntes. 19 Erworben. 20 Damals. 21 Sich entscheiden. 22 Von frz. notoire, allgemein bekannt, offenkundig. 23 Nach strengem Recht.
Literatur Tobias Schenk, … dienen oder fort? Soziale, rechtliche und demographische Auswirkungen friderizianischer Judenpolitik in Westfalen (1763-1806), in: Westfalen 84 (2006), S. 27–64; Stefan Dowideit, Zahlmeister statt Tolerierte: Über die Judenpolitik Preußens zwischen 1771 und 1812, in: Birgit Kletzin (Hg.), Fremde in Brandenburg. Von Hugenotten, sozialistischen Vertragsarbeitern und rechtem Feindbild, Münster u.a. 2003, S. 134–153
6 Eine Verordnung des Kurfürsten Karl Theodor von Pfalz-Sulzbach gegen „Pack- und Betteljuden“, 1782 LAV NRW R Düsseldorf, HS L II 7, XII, Bl. 19RS
Im Jahre 1782 erließ Kurfürst Karl Theodor von Pfalz-Sulzbach (1724–1799) als Landesherr im Herzogtum Jülich-Berg eine Verordnung gegen die fremden „Packund Betteljuden“ in seinem Territorium. Es war nicht die erste derartige Verordnung in Jülich-Berg, und auch die Regierungen der anderen rheinischen Territorien gingen immer wieder rigide gegen die jüdischen Wanderarmen vor, wenn auch mit wenig Erfolg: Das Problem war strukturell bedingt und durch Verwaltungsmaßnahmen nicht zu lösen. Die ständige Wiederholung ist ein Hinweis auf die Wirkungslosigkeit solcher Verordnungen. Bei der Personengruppe, die mittels der Verordnung von 1782 aus dem Land entfernt werden sollte, handelt es sich um arme, fremde und umherziehende jüdische Menschen, die von einer jüdischen Gemeinde zur anderen wanderten, um dort eine Unterkunft und Unterstützung für ein oder zwei Nächte zu finden. Die sogenannten Packjuden waren mit „Packen“ auf dem Rücken unterwegs, d.h. sie lebten als Tröd-
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ler von einer Art Nothandel mit unterschiedlichen Waren, der sie kaum ernährte. Diese Angehörigen der jüdischen Unterschicht waren nicht nur arm und entwurzelt, sie waren auch rechtlos. Fremdheit bedeutete auch: Die Betteljuden besaßen keinen Geleitbrief, der ihnen gegen Bezahlung das Niederlassungsrecht und die Voraussetzungen für eine ausreichende ökonomische Existenz gesichert hätte. Seit etwa 1700 vergrößerte sich die Gruppe der Betteljuden so eklatant, dass es kaum noch eine Aufstiegsmöglichkeit gab; der Status des Betteljuden wurde sozusagen erblich. Neben den wandernden Bettlern existierten die Ortsarmen, die in den jüdischen Gemeinden lebten und von diesen unterstützt wurden. Der Übergang zu der wachsenden Unterschicht der Gemeindediener, Dienstboten männlichen und weiblichen Geschlechts, Lehrer und fahrenden Musikanten war fließend. Eine Ursache für die Zunahme der Unterschicht war die rasche Bevölkerungsvermehrung im 18. Jahrhundert – in einer Zeit also, die im Gegensatz zum vorangegangenen 17. Jahrhundert nicht mehr von verheerenden Seuchen oder anderen Katastrophen geprägt war. Man schätzt, dass sich die jüdische Bevölkerung in Deutschland im 18. Jahrhundert trotz aller von den Regierungen verordneten Beschränkungen verdreifachte. Diesem Bevölkerungswachstum standen keine entsprechenden sozialen und ökonomischen Entfaltungsmöglichkeiten gegenüber. Die vielfältigen und ständig wachsenden Abgaben und Tribute trugen zu einer beispiellosen Verarmung der jüdischen Bevölkerung bei. Vor allem die preußische Judenpolitik entließ nachgeborene Kinder von Schutzjudenfamilien überwiegend in eine existenzielle Perspektivlosigkeit. Um 1780 war es etwa 40 Prozent aller jüdischen Familien in Jülich-Berg unmöglich, ihre Abgaben zu zahlen. Man kann davon ausgehen, dass um 1800 15 bis 20 Prozent aller erwachsenen Juden im deutschen Sprachraum ihren Lebensunterhalt nicht oder nur zum Teil bestreiten konnten und von Unterstützungszahlungen lebten. Eine Folge der weitgehenden Verarmung der jüdischen Bevölkerung war die Zunahme der Kriminalität bis hin zur Bildung jüdischer Gauner- und Diebesbanden. Die jüdischen Gemeinden, die traditionell für die Armenfürsorge aufkamen, standen zunehmend vor unlösbaren Aufgaben. Wir Karl Theodor von Gottes Gnaden Pfalzgraf bey Rhein, Herzog in Ober- und Nieder Bayern, des Heil. Roem. Reichs Erztruchses1 und Churfuerst, zu Guelich2, Cleve und Berg Herzog, Landgraf zu Leuchtenberg, Fuerst zu Moers, Marquis zu Bergen op Zoom, Graf zu Veldenz, Sponheim, der Mark und Ravensberg, Herr zu Ravenstein, etc. etc. Unsern gnaedigsten Gruß zuvor! Liebe Getreue! Nachdem Wir mißfaelligst vernommen, daß in hiesig-Unsern Landen eine Menge fremder Bettel Juden sich einfinde, welche weder ihre ordentliche Wohnstatt, noch den Ort, woher sie kommen, anzeigen koennen, sondern von einem Lande zum andern herumwanderen, wodurch Unsere Untertanen vielen gefaehrlichen Folgen ausgesetzt sind, und Wir dahero, um denenselben alle Sicherheit zu verschaffen, gnaedigst verordnet haben, und wollen, daß denen Fremden,
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von einem Lande zum andern herumvagirenden, mit keinem Geleits Patent oder sonstig-tuechtigem Paße versehenen Bettel- und Pack-Juden der Ein- und Durchgang in hiesigen Landen weder erlaubet, noch Unseren Untertanen, dieselbe zu beherbergen, gestattet, mithin die, solche Juden aufnehmende, Untertanen empfindlich bestraft werden sollen; So unverhalten3 es euch mit dem gnaedigsten Befehl, darnach das gemessene verkuenden, auf die Uebertretter fleißig wachen, das ins Land sich heimlich einschleichende fremde Juden Gesindel auf die Landes Grenze fuehren lassen, und denselben zugleich die Ruckkehr scharfest zu untersagen. Duesseldorf den 15ten November 1782. Aus seiner Kurfuerstl. Durchleucht sonderbarem gnaedigsten Befehl. […]
Anmerkungen 1 Der Erztruchsess des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war ursprünglich der oberste Aufseher über die Tafel des Königs/Kaisers bzw. der Vorsteher der Hofhaltung; erblich mit einem Kurfürstentum (Rheinpfalz bzw. Bayern) verbunden. 2 Jülich. 3 Ohne zu zögern.
Literatur Stefan Rohrbacher, Räuberbanden, Gaunertum und Bettelwesen, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u.a. (Hg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 117–124; Bastian Fleermann, Marginalisierung und Emanzipation. Jüdische Alltagskultur im Herzogtum Berg 1779–1847. Bergische Forschungen, Neustadt/Aisch 2007, insbes. S. 208–227; Rudolf Glanz, Geschichte des niederen jüdischen Volkes in Deutschland. Eine Studie über historisches Gaunertum, Bettelwesen und Vagantentum, New York 1968; Yacov Guggenheim, Von den Schalantjuden zu den Betteljuden. Jüdische Armut in Mitteleuropa in der Frühen Neuzeit, in: Stefi Jersch-Wenzel u.a. (Hg.), Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa, hg. im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur e.V., Köln/Weimar/Wien 2000, S. 55–69
3. Jüdisches Alltagsleben 7 Vom „Judendoktor“ zum akademisch ausgebildeten Mediziner, 1667/1802 a) Aus dem Verhör des Levi Nathan, Judendoktor in Deutz bei Köln, 1667 Adolf Kober, Rheinische Judendoktoren, vornehmlich des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Festschrift zum 75jährigen Bestehen des jüdisch-theologischen Seminars Fraenkelscher Stiftung, Breslau 1929, S. 222f.
Die Berufstätigkeit der Juden in Deutschland konzentrierte sich seit dem Mittelalter aufgrund gesetzlicher Bestimmungen in erster Linie auf den Geld- und Warenhandel. Eine Ausnahme bildeten jüdische Ärzte, die vielfach als sehr kompetent galten und auch von Christen gerne aufgesucht wurden. Manche waren sogar als Leibärzte der Landesherren an den Höfen tätig. Zahlreiche Restriktionen machten den jüdischen Ärzten indessen das Leben schwer. In den christlichen Konkurrenten fanden sie häufig unnachgiebige Gegner. Immer wieder wurde es ihnen verboten, Christen zu behandeln und ihnen Medikamente zu verschreiben. Dass es „Judendoktoren“ gab, deren Kenntnisse eher bescheiden waren und die am Rande des Existenzminimums lebten, zeigt der Fall des Levi Nathan aus Deutz bei Köln. Levi Nathan unterschied sich damit in keiner Weise von den zahlreichen nichtjüdischen Barbieren und Wundärzten, die die Mehrheit der Bevölkerung versorgten. Nach der Ausweisung aus Köln 1424 durften Juden und Jüdinnen ohne eine besondere Erlaubnis der Stadtregierung Köln nicht mehr betreten. Wurden sie ohne Geleitschein angetroffen, drohten hohe Geldstrafen und Gefangenschaft. Der Aufenthalt in der freien Reichsstadt war Juden nur bei Tag und in Begleitung des Ratsboten gestattet; bei Nacht durften sie sich nur in Ausnahmefällen in Köln aufhalten. Diesem Verfahren mussten sich auch die in der Umgebung wohnenden „Judendoktoren“ unterwerfen, zumal die medizinische Fakultät der Universität Köln ihnen gegenüber eine ausgesprochen feindselige Haltung einnahm – während die Bevölkerung ihre Dienste gerne in Anspruch nahm. Am 12. Mai 1667 wurde Levi Nathan aus Deutz aufgegriffen, der sich wiederholt ohne Geleit in Köln aufgehalten hatte. Seine Dienste wurden in der Bevölkerung offenbar häufig nachgefragt. Levi Nathan wurde im Gereonsturm festgesetzt und am 13. Mai in Anwesenheit mehrerer Apotheker und Medizinprofessoren der Universität durch die Turmmeister einem Verhör unterzogen. Der Inhaftierte gab an, kein studierter Mediziner (doctorirter doctor) zu sein, er wollte aber auch nicht als Barbier gelten, der in der Regel bei chirurgischen Eingriffen gerufen wurde. Levi Nathan betonte seine Talente bei der damals recht verbreiteten Harnschau und brüstete
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sich damit, zahlreichen Patienten „Schlangen und Krebse“ ausgetrieben zu haben, eine rätselhafte Therapie, die vielleicht die Behandlung von Würmern meinte. Levi Nathan hatte seine Kenntnisse in Polen erworben. Die Rezepte entnahm er einem lateinischen Buch, obwohl er diese Sprache nicht verstand. Die anwesenden Ärzte und Apotheker fällten – wie zu erwarten – ein vernichtendes Urteil über Levi Nathans medizinische Fähigkeiten: Seine Tätigkeit, insbesondere die Verabreichung selbst gefertigter Medikamente, sei in höchstem Grade gefährlich. Nachdem Levi Nathan acht Tage lang bei Wasser und Brot im Gereonsturm gesessen hatte, wurde er aus der Stadt gewiesen; der Zutritt wurde ihm für alle Zeit versagt. Drei Jahre später ist er in Deutz gestorben. […] Erstlich der jud ahngeben, daß sein nahm: Levi Nathan, seines alters 51 Jahr und zu Siberich1 bürtig seye. Gefr.2 was seine profession seye? Ant.3 anders nichts, alß daß sich mit der artzeney und mediciren erhalte. Gefr. quo titulo4 und welcher gestalt dan darzu sich gebrauchen laße? Antw. alß ein laibartz. Gefr. ob sich vor ein doctor ausgebe? Antw. gebe sich nit aus vor ein gedoctorirter, auch nit vor einen ganzen doctor, auch vor keinen barbirer, sondern auf seine kunst. Gefr. warumb dan des tituli doctoris in seiner unterschrifft sich gebrauche? Antw. er gebe sich gleich anderen Juden doctoren vor einen doctor auß. Gefr. wohe dan die kunst erlehrent? Antw. in Pohlen5 unterm fürsten Krosenski6 in der statt Krogäncka7. Gefr. ob dan daselbst ein universitet oder studium generale seye? Antw. seye aldar ein studium vor die Juden. Gefr. ob seines studij ein zeugnus habe? Antw. habe eins gehabt, selbig seye aber ihme abgenohmen worden; sagtt dabey so viehl besichtigung und erkennung der urin betrifft, verstehe er darauf sich beßer alß ein doctor in der weldt, sonsten verstehe er sich nit auff allerley accidenten8, dan er kein doctorirter doctor seye. Gefr. wan er so trefflich auf erkennung des waßers sich verstehe, warumb dan fur diesem als von NN. die urin nach Deutz bracht worden und er bey deren besichtigung gesagt; es wehre ihme läit, das solches waß die fraw im leib, in seinem läib hette, meinent das sie befrücht wehre, welches doch nit wahr gewesen? Antw. man versehe sich auch wol einmahl. Gefr. welcher accidenten dan er sich verstehe? hierauf hat inhaftirter nichts specificiren wollen, sonder gesagtt: derjeniger so ihnnen nit brauchen wolte, mögte es pleiben laßen. Gefr. ob dan diejenige accidenten, deren er sich unternohmen, verstanden habe? Antw. selbige so er ahngenohmen, habe auch verstanden. Gefr. indeme verhaffter sich berümbt, das er so guthes verstandt habe in besichtigung der urin, was dan darin considerire9 und warin seine cognition10 bestehe? Antw. in den vier farben schwartz, weiß, roth und gelb.
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Gefr. ob dan kein farb mehr dan jetzgemelt erkenne? Antw. die ubrige farben kommen aus diesen vieren, könne darauf also nit antworthen, dan er gebe sich vor keinen doctorirten doctor auß, man solle ihme nur 10 wäßer dorthin setzen, wolle strackh erkennen, ob das waßer von man oder weib seye etc. Gefr. ob inhaftirter der medicamenten so er praescribire11 auch verstanden habe. Antw. ja. Gefr. ob er latinisch studiret? Antw. nein, sondern auf judisch. Gefr. warumb dann seine recepten latinisch in die apoteckh schicke? Antw. damit der apotecker es verstehen könne. Gefr. weilen er kein lateinisch verstehe, wie er es dan schreibe? Antw. er schreibe es aus den bücheren, davor wehren die bücher gemacht. Gefr. ob er sein ordinari pulverem12, also von ihme gnant mei purgantis13 aus seinem äigenen verstande erfunden und componirt, oder woher es sonsten habe? Antw. aus Polner landt14 habe er ein beschribenes buch mitgebrachtt, daraus selbiges gemacht. Gefr. ob dan alle die sachen so darin kommen verstehe? Antw. vermeine anders nit, als das selbige verstehe. […]
Anmerkungen 1 Siegburg. 2 Gefragt. 3 Antwort. 4 Mit welchem Titel. 5 Polen. 6 Gemeint ist das polnische Fürstengeschlecht Krasinski; zu Lebzeiten Levi Nathans regierte Gabriel Prinz Krasinski. 7 Krojanke, heute Krajenka, in der Nähe von Piła (Schneidemühl) gelegen. Der Ort gehörte bis 1772 zu Polen und kam in der ersten polnischen Teilung zu Preußen. 8 Unfälle, Krankheitsfälle. 9 Prüfend betrachten, besichtigen. 10 Erkenntnis. 11 Verordnen. 12 Verschriebenes Arzneipulver. 13 Von hebr. majjim = Wasser, also etwa abführendes Wasser. 14 Polen.
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b) Seelengedächtnis-Eintrag für Dr. Moses Wolff im Bonner Memorbuch, 1802 Memorbuch der jüdischen Gemeinde Bonn, British Library London, Ms. Or. 11,696, fol. 20b (Nr. 207) Das Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, das eine Edition des Memorbuchs vorbereitet, hat der Bearbeiterin den folgenden Abschnitt des Memorbuchs dankenswerterweise für diese Publikation überlassen. Übersetzt wurde der hebräische Text von Nathanja Hüttenmeister und Aubrey Pomerance.
Im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts konnten erstmals Juden in Deutschland eine akademische Ausbildung im Fach Medizin abschließen, vorher war dies nur im italienischen Padua möglich gewesen. 1724 promovierte in Halle ein jüdischer Arzt, 1727 fand die erste Promotion an der Universität in Duisburg statt. Der Prototyp dieser ersten jüdischen Medizinergeneration war Dr. Moses Wolff. In dem 1784 angelegten neuen Bonner Memorbuch, das dem liturgischen Totengedenken gewidmet war, wurde er nach seinem Tode am 16. September 1802 mit einem sehr wortreichen und aussagekräftigen Seelengedächtnis-Eintrag gewürdigt. Dr. Moses Wolff (im Memorbuch Mosche Sohn des Awraham genannt) wurde um 1715 in Neuwied geboren, besuchte das Jesuitengymnasium in Koblenz und das Gymnasium in Moers. Seit 1733 absolvierte er in Halle und Duisburg ein Studium der Medizin, das er 1737 mit der Promotion abschloss. 1740 ließ er sich in Bonn als Arzt nieder und heiratete Sara Meyer, die Tochter von Dr. Daniel Meyer, dem Hofarzt und Vorsteher der dortigen jüdischen Gemeinde. Dr. Moses Wolff wurde Leibarzt des Kölner Kurfürsten; dass er auch Papst Clemens XIII. behandelte, gehört allerdings ins Reich der Legenden. Da seine Praxis nach kurzer Zeit florierte und er auch im kaufmännischen Bereich tätig war, zählte er bald zu den wohlhabendsten Juden Bonns. Bereits vor 1764 erhielt er als einer der ersten Bonner Juden die Genehmigung, außerhalb des 1715 eingerichteten Ghettos wohnen zu dürfen. Moses Wolff bekleidete das Amt des Vorstehers der Landjudenschaft Kurkölns und trat als eines der ersten Mitglieder der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft von 1789 bei. Er vereinte in seiner Person fundierte medizinische Kenntnisse und Fähigkeiten mit säkularen Interessen und jüdischer Gelehrsamkeit, eine Kombination, die auch im Memorbuch-Eintrag mit blumigen Worten herausgestellt wurde. Dr. Moses Wolff war für seine Zeit ein sehr moderner Arzt, der sich intensiv um unbemittelte Patienten kümmerte, wenn er auch diesen andere Mittel verabreichte als den Reichen und Mächtigen. Daher genoss er in allen Volksschichten eine große Wertschätzung. Besonders gerühmt wurde seine grenzenlose Wohltätigkeit. Dr. Moses Wolffs Vita wies gleichermaßen Elemente der Traditionsverbundenheit wie der Moderne auf. Wie zahlreiche andere jüdische Ärzte war er ein Bindeglied zwischen jüdischem und christlichem Milieu und ein Wegbereiter der Emanzipation.
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Es gedenke G“tt1 der Seele des Hochbetagten und des Greises und des Hochgeachteten, des Ritters der Ärzte, kundiger [Arzt] Allen, der stattliche Einflußreiche, der selige Vorsteher und Leiter, der toragelehrte2 Herr Mosche, Sohn des toragelehrten Herrn Awraham, ein Fürst der Fürsten der Leviten3 und Statthalter, dies ist der Mann Mosche, groß ist sein Name unter den Völkern4, und er redete zum Heil seines ganzen Volkes, wie einer der Ersten an Größe seiner Weisheit und Übermaß seiner Einsicht, welche ihm der barmherzige Gott zuteil hatte werden lassen, Wissen in den Naturwissenschaften und den Geheimnissen der Kräuter und der Güte der Rauschmittel; sein guter Ruf ging bis in die Ferne, und er hatte einen Namen unter den Adjudanten, den fürstlichen Edlen des Landes, den Stattlichen und Einflußreichen, und denen, die auf Teppichen sitzen5, den überragenden Gelehrten des Landes, dies sind die Gelehrten und Rabbiner; und er hatte seinen Sitz unter den großen erhabenen Fürsten, den Adligen und Bischöfen, und sie glaubten an Mosche und folgten seinen Ratschlägen in medizinischen Belangen, als wären sie auf dem Sinai gegeben worden6, denn sowohl der Mann als auch seine Amulette und Arzneien waren bewährt aufgrund seiner großen Kenntnisse in den neuen wie den alten medizinischen Schriften; und er heilte einige durch überaus wunderbare Arzneien und Untersuchungen, daß seine Zeitgenossen die Dinge sahen und über alle Maßen erstaunt waren; an ihn wandten sich Völker7, und aus fernen Landen kamen Kittim und Dodanim8, denn wer ihn fand, fand Leben und Arznei für seine Plage, verborgene Plagen und offene Brüche mit bösen und andauernden Krankheiten, und er heilte jeden Menschen gemäß seiner Ordnung auf verschiedene Art und Weise, der Große, gemäß seiner Größe und der Fülle seines Reichtums, bekam ein Mittel durch wichtige Arzneien von höchsten Kosten und teurer als Perlen, doch des Darbenden nahm er sich an, und der Notdürftige [bekam] nichts außer einem kleinen Kästchen voller Kräuter, die verbreitet und häufig sind und auf freiem Felde wachsen, und auch durch diese erzielte er eine Heilung, so schnell, wie der Wind die Wolken wegbläst; auch war es seine Absicht, das Gebot der Erweisung von Liebesdiensten mit seinem Leib und seinem Vermögen zu vollenden, denn wenn sich ein armer Mensch vom Krankenlager erhob, doch seine Kräfte von ihm gewichen waren und er auch kein Geld mehr hatte, dann gab er ihm mächtige Kraft und große Stärke, und seinem Munde sandte er solches von seinem Tische – einem Tische übervoll an teuren Speisen, zarte und gute Gerichte und die verschiedensten Leckerbissen, auch erlesenen alten Wein, an dem die Alten Gefallen haben; dies ist nur ein Teil seiner guten Taten und ausgesuchte [Beispiele] seiner erlesenen exquisiten Tugenden, abgesehen von den vielen Wohltätigkeiten, die er zu Hunderten und Tausenden für Brautgaben von Waisenmädchen, an Talmudstudenten und an Arme von guter Herkunft, nahe wie ferne, verteilte und ausgab, und sie waren so zahlreich wie die Wohltätigkeiten [und] Almosen, die er an die Bedürftigen verteilte; […]
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Anmerkungen Die Edition des Bonner Memorbuchs durch das Salomon Ludwig Steinheim-Institut weist die Herkunft der Textstellen aus der hebräischen Bibel und aus dem Talmud sehr detailliert nach. Auf diese Nachweise wurde hier verzichtet. Der folgende Kommentar beschränkt sich auf die Erläuterung schwer verständlicher Begriffe; einige Erläuterungen aus der Edition des Steinheim-Instituts wurden übernommen. 1 Um den Gottesnamen nicht zu missbrauchen, wird dieser nicht ausgesprochen und in liturgischen Texten auch nicht ausgeschrieben. 2 Eine Person, die sich durch umfassende Kenntnisse der Fünf Bücher Mose (Pentateuch) bzw. des jüdischen Religionsgesetzes insgesamt auszeichnet. 3 Leviten sind Angehörige des Stammes Levi mit der Funktion von Diensttuenden im Tempel, den Priestern (Kohanim) unterstellt. Leviten, Kohanim und Israel bilden das gesamte jüdische Volk. 4 D.h. unter den Nichtjuden. 5 Umschreibung des Richteramtes mit Bezugnahme auf die hebräische Bibel (Ri 5,10). 6 Vergleich mit den Zehn Geboten, die Moses auf dem Berg Sinai übergeben wurden; Anspielung auf die Namensgleichheit des biblischen Moses mit dem Arzt Moses Wolff. 7 Hier wiederum in der Bedeutung von Nichtjuden. 8 Beinamen für Elischa und Tarschisch, die Söhne des Jawan; hier im Sinne von zahlreichen Verwandten und Fremden, die von weither kamen, um Dr. Moses Wolff zu konsultieren.
Literatur Steven u. Henry Schwarzschild, Two Lives in the Jewish Frühaufklärung. Raphael Levy Hannover and Moses Abraham Wolff. In: Leo Baeck Institute Year Book 29 (1984), S. 259– 276; Adolf Kober, Rheinische Judendoktoren, vornehmlich des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Festschrift zum 75jährigen Bestehen des jüdisch-theologischen Seminars Fraenkelscher Stiftung, Breslau 1929; Robert Jütte, „Es müssen dem Juden seine eingerosteten Ideen benommen werden“ – Anmerkungen zur Rolle jüdischer Ärzte in der Haskala, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 15 (2005), Heft 2, S. 573–581
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8 Eine jüdische Hochzeit in Kleve, 1674 Die Memoiren der Glückel von Hameln. Aus dem Jüdisch-Deutschen von Bertha Pappenheim, Weinheim 1994, S. 136–138
Die Memoiren der jüdischen Juwelen- und Perlenhändlerin, die 1646/47 in Hamburg als Glikl bas Juda Leib geboren und nach dem Geburtsort ihres ersten Ehemannes „von Hameln“ benannt wurde, sind ein einzigartiges Zeugnis jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit. Glikl von Hameln schrieb ihre Erinnerungen, die für ihre zwölf Kinder und deren Nachkommen bestimmt waren, seit 1691 in jiddischer Sprache nieder. 1896 veröffentlichte der jüdische Gelehrte David Kaufmann „Die Memoiren der Glückel von Hameln“ in der Originalsprache. Die hochdeutsche Übersetzung erarbeitete 1910 die jüdische Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim; nach der Neuauflage von 1994 wird nachfolgend zitiert. In dem hier ausgewählten Abschnitt beschreibt Glikl die Hochzeit ihrer ältesten, damals 13jährigen Tochter Zippora mit dem 18jährigen Kosman, Sohn des Hofjuden Elia Cleve, auch Elias Gomperz genannt, die 1674 in Kleve stattfand. Das Herzogtum Kleve mit der gleichnamigen Hauptstadt gehörte seit 1614 und endgültig seit 1666 zum Kurfürstentum Brandenburg, aus dem 1701 das Königreich Preußen wurde. Kleve war die Keimzelle des preußischen Besitzes im Westen und kulturelles Bindeglied zwischen den Niederlanden und Preußen. Diese Beziehungen, die auch in ehelichen Verbindungen beider Herrscherhäuser zum Ausdruck kamen, erlebten eine Blütezeit unter dem preußischen Statthalter Johann Moritz von Nassau, der in Kleve residierte. Dieser historische Hintergrund ist wichtig, um einschätzen zu können, welch gute Partie Glikl und ihr Ehemann Chajim für Zippora abschließen konnten. Der Vater des Bräutigams, Elias Gomperz, verlegte 1661 seinen Wohnsitz von Emmerich nach Kleve, nachdem ihm Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg ein besonderes Generalschutzpatent erteilt hatte. Er brachte es zum Bankier des Kurfürsten, war für Heereslieferungen und die Instandhaltung der Festungen verantwortlich. Sein Vermögen wurde auf 100.000 Reichstaler geschätzt. In der Wasserstraße in Kleve errichtete er ein Stadtpalais, in dem er ein Leben führte, das sich auch an adeligen Verhaltensmustern orientierte. Elias Gomperz und seine Familie waren sehr reich, kultiviert und der traditionellen jüdischen Lebensweise verpflichtet. Die Stellung der Familie Gomperz war nicht nur definiert durch ihr Verhältnis zum Landesherrn, sondern auch durch ihre Position innerhalb der Judenschaft. Elias Gomperz war Vorsteher der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve und setzte sich für die Rechte seiner Glaubensgenossen ein; so veranlasste er die zeitweise Abschaffung des entwürdigenden Judenleibzolls. In seinem Palais richtete er einen Betsaal ein, später stiftete er den ersten eigenständigen Synagogenbau in Kleve sowie ein Lehrhaus. Zipporas Eltern waren wohlhabende und angesehene Kaufleute, doch Kosmans Familie gehörte zur jüdischen Elite. Die Heirat, über die an der Amsterdamer Börse
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Wetten abgeschlossen wurden, war demnach ein großer Erfolg für Glikl und Chajim Hameln. Auch die meisten anderen Kinder des Ehepaares konnten „gut“ verheiratet werden. Durch einen hohen Grad an Mobilität und gezielte Heiratspolitik ließ sich ein überregionales Netzwerk verwandtschaftlicher Beziehungen aufbauen, das der wirtschaftlichen Betätigung und der Prestigesteigerung zugute kam. In diesem speziellen Fall wurden vor allem die Beziehungen zum wichtigen niederländischen Wirtschaftsraum ausgebaut, denn das junge Paar ließ sich in Zalt-Bommel nieder und Kosman wurde später in Amsterdam tätig. In Glikls Beschreibung des Hochzeitsfestes verdienen neben der Zurschaustellung von Luxus die Beziehungen zu den christlichen Gästen Beachtung. Neben nicht namentlich genannten „Fürsten und Vornehmen“ werden insbesondere der brandenburgische Statthalter Johann Moritz von Nassau sowie Prinz Friedrich genannt, der spätere König Friedrich I. von Preußen. Besonders deutlich wird die Abhängigkeit der jüdischen Elite vom Landesherrn, den es durch Geschenke zu gewinnen galt. Dass sich Elias Gomperz in dieser Hinsicht hatte schlecht beraten lassen, wird ihm lange in Erinnerung geblieben sein. Auch die Unruhe, die Störungen im Ablauf der jüdischen Zeremonie, verursacht durch die Anwesenheit der hochgestellten christlichen Gäste, wird sehr anschaulich beschrieben: In der Hektik hatte man vergessen, die Mitgift zu prüfen und den Ehevertrag aufzusetzen. So gibt die Schilderung der Klever Hochzeit auch einen kleinen Einblick in die Lebensweise und Mentalität einer Hofjudenfamilie, die als Mittler zwischen dem Landesherrn und der jüdischen Gemeinschaft fungierte. […] Vierzehn Tage vor der Hochzeit sind wir mit Pauken und Tanz mit mehr als zwanzig Leuten nach Cleve gereist und sind wohl und mit Ehren empfangen worden. Wir sind in ein Haus gekommen, das fast eine königliche Wohnung gewesen ist und in aller Art wohl möbliert wie ein Herrenhaus. Nun, den ganzen Tag hat man keine Ruhe gehabt von vornehmen Männern und Frauen, die alle gekommen sind und die Braut sehen wollten. Und in Wahrheit ist meine Tochter gar schön gewesen und hat nicht ihres Gleichen gehabt. Nun ist große Zurüstung zu der Hochzeit gewesen. Damals ist in Cleve der Prinz1 gewesen, und damals hat noch der älteste Prinz gelebt, welcher Kurprinz2 gewesen ist. Und dieser ist ein junger Herr von ungefähr dreizehn Jahren anzusehen gewesen. Aber nicht lange danach ist der älteste Kurprinz gestorben und dieser ist an seiner statt Kurprinz geworden. Auch sind dort Prinz Moritz3 und andere Fürsten und Vornehme gewesen. Alle haben sagen lassen, daß sie bei der Kopulation4 sein wollten. Also hat sich sicher der Vater des Bräutigams, Reb5 Elia Cleve, schon vorher eingerichtet auf solch hohe Gäste. Am Hochzeitstage gleich nach der Trauung war eine gute Kollation6 zugerichtet von allerhand Konfitüren und allerhand guten fremden Weinen und fremden Früchten.
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Nun kann man sich wohl denken, was für ein Durcheinander und Wesen als da gewesen ist und daß der Vater des Bräutigams, Reb Elia – er ruhe in Frieden – und all seine Leute all ihre Gedanken nur darauf gerichtet haben, die vornehmen Gäste zu traktieren7 und wohl zu akkomodieren8. Sie haben sogar nicht Zeit gehabt, einer dem anderen die Mitgift zu liefern und zuzuzählen, wie es Sitte war. Also haben wir unsere und der Schwiegervater Reb Elia – er ruhe in Frieden – seine Mitgift in Beutel getan und versiegelt, daß man sie nach der Hochzeit zählen sollte. Wie man nun mit Braut und Bräutigam unter dem Trauhimmel9 gewesen ist, hatte man in dem großen Durcheinander vergessen, den Ehevertrag10 zu schreiben. Nun, was hat man tun sollen? Alle Vornehmen mit dem jungen Prinzen sind dagestanden und wollten zusehen. Also hat der Vorsitzende des Rabbinerkollegiums Reb Meir gesagt, der Bräutigam sollte einen Bürgen stellen und sich verpflichten, daß er gleich nach der Hochzeit seiner Braut wolle einen Ehevertrag schreiben lassen, und der Vorsitzende des Rabbinerkollegiums hat den Ehevertrag aus einem Buch gelesen. Also ist die Trauung geschehen. Nach der Trauung hat man alle Vornehmen in Reb Elias, des Bräutigams Vaters, großes Prunkgemach geführt, welches ist mit goldenem Leder ausgeschlagen gewesen. Drinnen ist ein großer Tisch gestanden, worauf lauter königliche Leckerbissen gewesen sind. Also hat man die Vornehmen nach ihrem Rang traktiert. Mein Sohn Reb Mordechai ist ein Kind von ungefähr fünf Jahren gewesen; es ist kein schöneres Kind in der ganzen Welt zu ersehen gewesen. Und wir haben ihn gar schön und sauber gekleidet. Alle die Vornehmen haben ihn schier aufgefressen. Besonders der Prinz, Gott erhöhe seinen Ruhm, hat ihn stets bei der Hand gehalten. Wie nun die Vornehmen von den Konfekten und Früchten gegessen und auch wohl von den Weinen getrunken hatten, hat man den Tisch abdecken lassen und hinaus getan. Dann sind einige verkleidet hineingekommen und haben sich präsentiert und gar schön allerhand Possen gemacht, die zu einer Ergötzlichkeit gedient haben. Zuletzt haben die Verkleideten einen Totentanz gemacht, der sehr schön gewesen ist. Auf der Hochzeit sind auch viele vornehme Portugiesen11 gewesen, darunter einer, der hat Mocatta geheißen, der ist ein Juwelier gewesen, der hat gar ein schönes goldenes Uehrchen, mit Diamanten besetzt, gehabt. Es ist auf fünfhundert Reichstaler gekommen. Der Vater des Bräutigams, Reb Elia, hat das Uehrchen von dem Mocatta gefordert und wollte es dem Prinzen schenken. Aber ein guter Freund ist dabei gestanden, der hat solches verhindert und hat gesagt: ‚Wozu soll dir das? Du willst dem jungen Prinzen so ein großes Geschenk machen? Wenn es noch der älteste Kurprinz wäre, so ließe es sich noch tun.’ Aber wie schon erwähnt, ist der alte Kurprinz gestorben und der junge an seiner statt gekommen, welcher nun auch Kurfürst ist. Aber wenn Reb Elia, der Vater des Bräutigams, zu dem Freund gekommen ist, der ihm gewehrt hatte, dem jungen Prinzen das Geschenk zu geben, hat er es ihm allemal mit einem großen Zorn vorgehalten. Und in Wahrheit, wenn Reb Elia, der Vater des Bräutigams, dem jungen
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Prinzen das Geschenk gegeben hätte, er hätte es ihm vielleicht in Ewigkeit nicht vergessen, denn solch große Herren, die vergessen solche Sachen nicht. Nun, ‚wer um Vergangenes klagt, bittet umsonst’. Aber der junge Prinz samt dem Fürsten Moritz und allen Vornehmen sind alle gar vergnügt weggegangen und es hat in hundert Jahren kein Jude solche Ehre gehabt. Also ist die Hochzeit in Lustigkeit und Freude beendet gewesen. […]
Anmerkungen 1 Friedrich von Brandenburg-Preußen (1657–1713). Als sein Bruder Karl Emil 1674 stirbt, wird Friedrich Thronfolger, 1688 als Friedrich III. Kurfürst, 1701 als Friedrich I. erster König von Preußen. 2 Bezeichnung der Prinzen des kurfürstlichen Hauses Brandenburg. 3 Johann Moritz Fürst von Nassau-Siegen (1604–1679), seit 1621 in Diensten der holländischen Republik, 1644 Gouverneur des niederländischen Wesel und Reitergeneral; Freundschaft mit dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der 1646 Louise Henriette, die Tochter des niederländischen Statthalters Friedrich Heinrich von Oranien, heiratet; seit 1647 Statthalter in den brandenburgischen Besitzungen Kleve und Mark, seit 1658 auch in Minden, gleichzeitig Kommandant der niederländischen rechtsrheinischen Festungen. 4 Veraltete Bezeichnung für Trauung, eheliche Verbindung. 5 Hier als Ehrentitel verwendet, Elias Gomperz war kein Rabbiner. 6 Kleine Zwischenmahlzeit, Imbiss. 7 Behandeln. 8 Zufriedenstellen. 9 Gemeint ist die Chuppa, der Baldachin, unter dem Mann und Frau getraut werden und die das gemeinsame zukünftige Leben symbolisiert. 10 Der Ehevertrag, die Ketubba, dient vor allem der rechtlichen und finanziellen Absicherung der Ehefrau. 11 Gemeint sind portugiesische Juden. Die in Portugal lebenden Juden sowie die nach der Vertreibung 1492 dorthin geflüchteten spanischen Juden wurden 1497 aus dem Land gewiesen, sofern sie sich nicht zur Taufe entschlossen. Die von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Juden wurden Sefardim (hebr. Sefarad, Spanien) genannt; sie ließen sich u.a. in Nordafrika, im Osmanischen Reich, in Holland, England, Nordwestdeutschland und den amerikanischen Kolonien nieder. Große sefardische Gemeinden bildeten sich beispielsweise in Amsterdam und Hamburg. In der Blütezeit im 17. Jahrhundert wurden sefardische Juden als jüdische Elite betrachtet. Die Anwesenheit portugiesischer Juden in Kleve aus Anlass der Hochzeit von Zippora Hameln und Kosman Gomperz erklärt sich vermutlich durch die wirtschaftlichen Beziehungen Elias Gomperz’ zur Amsterdamer sefardischen Gemeinde.
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Literatur Rotraud Ries, Status und Lebensstil – Jüdische Familien der sozialen Oberschicht zur Zeit Glikls, in: Monika Richarz (Hg.), Die Hamburger Kauffrau Glikl. Jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit, Hamburg 2001, S. 280–306; David Kaufmann/Max Freudenthal, Die Familie Gomperz, Frankfurt/M. 1907 Zum Hofjudentum allgemein: Selma Stern, Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus, hg. von Marina Sassenberg, Tübingen 2001; Rotraud Ries, Hofjuden: Funktionsträger des absolutistischen Territorialstaates und Teil der jüdischen Gesellschaft. Eine einführende Positionsbestimmung, in: Friedrich Battenberg/Rotraud Ries (Hg.), Ökonomische Potenz und Interkulturalität. Bedeutung und Wandlungen der jüdischen Wirtschaftselite auf dem Weg in die Moderne, Wien 2001, S. 11–39; Sabine Hödl/Peter Rauscher/Barbara Staudinger (Hg.), Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin/ Wien 2004; Rotraud Ries, Hofjudenfamilien unter dem Einfluss von Akkulturation und Assimilation, in: Sabine Hödl/Martha Keil (Hg.), Die jüdische Familie in Geschichte und Gegenwart, Berlin/Bodenheim 1999, S. 79–105; Birgit E. Klein, „Hofjuden“ im Rheinland. Von Titeln und Privilegien, ihren Hintergründen und Folgen, in: Monika Grübel/ Georg Mölich (Hg.), Jüdisches Leben im Rheinland vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 46–78
9 Die Judengasse in Bonn: Ein Ghetto im 18. Jahrhundert, 1715/16–1797 a) Die Judengasse auf dem Bonner Stadtplan von 1773 Stadtarchiv Bonn
In den Bonner Stadtplan von 1773 ist auch die „Juden-gaß“ eingezeichnet. Anders als im mittelalterlichen „vicus Judeorum“, der Judengasse, die im heutigen Abschnitt der Friedrichstraße zwischen Bonn- und Wenzelgasse in der Nähe des Marktes lag, mussten die frühneuzeitlichen Bonner Juden seit 1715/16 in einem abgeschlossenen Viertel, einem Ghetto, leben. Diese Ghettobildung war einmalig im Kurfürstentum Köln und im gesamten Gebiet des rheinischen Teils von NordrheinWestfalen. Im Rahmen der absolutistischen Judenpolitik kann die Einrichtung eines Ghettos in der kurkölnischen Residenzstadt zu Beginn des 18. Jahrhunderts als eine recht antiquierte Maßnahme bezeichnet werden; in anderen Städten – wie auch zuvor in Bonn – lebten die Juden in selbst gewählter Nachbarschaft oder über den ganzen Ort verstreut. In Düsseldorf, der Hauptstadt des Herzogtums JülichBerg, sowie in der preußischen Residenzstadt Kleve errichteten wohlhabende jüdische Familien zur gleichen Zeit prächtige, palastähnliche Wohnhäuser (vgl. Doku-
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ment 8). Zudem war die Schutzfunktion der Judengassen anachronistisch geworden. 1715 ordnete der Kurfürst und Erzbischof Joseph Clemens (1671–1723) an, „einen sicheren, bequämen Platz zur Formierung einer bestendiger Judengasse zu erkauffen undt selbige mit tauglichen Häusern und Gebawden vordersahmst zu versehen“ (Bemmelen, Neue Judengasse, S. 201). Joseph Clemens hatte wegen seiner Involvierung in den Spanischen Erbfolgekrieg bis 1715 im Exil in Frankreich gelebt. Er plante nach seiner Rückkehr den Wiederaufbau seiner 1689 verwüsteten Residenzstadt Bonn, in der er auch der jüdischen Gemeinschaft einen Platz zuwies. Die Juden wurden verpflichtet, ein Grundstück des ehemaligen Predigerhofes, einen Weingarten in der Liliengasse, für 3.400 Reichstaler zu erwerben, was nur durch die Aufnahme von Krediten möglich war. 16 Häuser sollten entstehen, tatsächlich waren es schließlich 19. Die einzelnen Baugrundstücke wurden verlost, damit kein Eigentümer benachteiligt werde. Alle Grundstückseigentümer mussten sich an der Rückzahlung der Kredite beteiligen. 1716 begann der Bezug der Judengasse. Die Eingänge zur Judengasse waren mit Wachen und hölzernen Toren gesichert; diese mussten nachts und an christlichen Feiertagen geschlossen werden. Auch die vermutlich zwischen 1754 und 1758 erbaute Synagoge und das Haus des Landesrabbiners von Kurköln befanden sich im Ghetto. Lediglich die geschätzten Hofärzte, unter ihnen der kurfürstliche Leibarzt Dr. Moses Abraham Wolff, und die wirtschaftlich wichtigen Hofjuden waren von der Verpflichtung befreit, in der Judengasse zu wohnen (vgl. Dokument 7b).
1. Judengasse Bonn, Stadtplan 1773
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Die neue Judengasse wurde in einem Viertel am Rande der inneren Stadt eingerichtet; sie verlief parallel zur Josefstraße. Heute hat sich die Topographie an dieser Stelle Bonns völlig verändert: Die ehemalige Judengasse muss im Bereich Josefstraße, Doetschstraße und der Auffahrt zur Kennedybrücke gesucht werden. Das Gelände fiel zum Rhein hin ab, war hochwassergefährdet und feucht. Im 19. Jahrhundert, als kaum noch Juden dort lebten, war die Judengasse die schlechteste Gegend der Stadt. Allerdings befand sich immer noch die Synagoge in der Judengasse; erst 1879 konnte eine neue, zum Rheinufer hin verlegte Synagoge erbaut werden (vgl. Dokumente 21 und 26). 1886/87 wurde die Judengasse in Tempelstraße umbenannt. Nach 1945 wurde die Bezeichnung Tempelstraße auf eine Straße im Regierungsviertel übertragen; hier steht seit 1959 die neue Bonner Synagoge.
b) Anhänger der Französischen Revolution aus Köln berichten über die Zerstörung der Tore zur Bonner Judengasse, 1797 Joseph Hansen (Hg.), Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780–1801, Bd. IV, Nachdruck Düsseldorf 2004, S. 76
Bald nach der Besetzung des Rheinlands durch die Franzosen wurden in zahlreichen Städten Freiheitsbäume als Symbol der Solidarität mit dem revolutionären Frankreich aufgestellt. Die rheinischen Republikaner forderten die Bildung einer cisrhenanischen, d.h. diesseits des Rheins gelegenen Republik unter dem Schutz oder als Bestandteil Frankreichs. Am 17. September 1797 wurde die cisrhenanische Republik mit Köln als Hauptstadt ausgerufen. Dieses Ereignis wurde durch die Aufrichtung eines Freiheitsbaumes vor dem Rathaus und die Niederlegung der Schandsäule für Nikolaus Gülich als Symbol der Überwindung der alten Gesellschaftsordnung gefeiert. Einige Tage zuvor war der alte Kölner Rat als Stadtregierung abgesetzt worden. Der hier abgedruckte Text ist ein Bericht von Hermann Joseph Eschweiler und Dominikus Oestges, Mitglieder des neuen Kölner Magistrats, über ihre Reise am 22. September 1797 nach Bonn zu einem Freiheitsfest, das aus Anlass des fünfjährigen Bestehens der Französischen Republik begangen wurde. Den metallenen Gülich-Kopf, der Teil der Schandsäule war, nahmen die beiden Deputierten nach Bonn mit. Auch in Bonn wurde ein Freiheitsbaum errichtet und ein Relikt der alten Ordnung zerstört: Im Rahmen der Feierlichkeiten wurden die beiden Pforten zur Judengasse demonstrativ zertrümmert. Den Bonner Juden, die sich mehrheitlich von dieser Veranstaltung fernhielten, sollte signalisiert werden, dass auch sie nun freie, gleichberechtigte Bürger seien. […] Wir gingen hierauf zum Rathaus, nahmen unseren Jülichskopf1 wieder auf und verfolgten in vorheriger Ordnung den Zug um den Freiheitsbaum, stellten denselben dem Präsidenten und übrigen Gliedern der Mittelkommission2 vor, worauf das
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Magistratsglied Oestges in französischer und das Magistratsglied Eschweiler in deutscher Sprache das Wort nahmen und in einer Rede ihre Herzenswünsche antaglegten, daß von nun an alle Zänkereien, welche seit Jahrhunderten die Bürger Kölns und Bonn entzweiten, aufhören und ein ewiger Friedensbund unter beiden gestiftet werden mögte. Diesemnach wurde von Professor Gall zu Bonn ebenfalls eine auf die Feierlichkeit passende Rede gehalten. Der Präsident der Mittelkommission zeigte seine äußerste Zufriedenheit hierüber und ließ sämtliche Redner zum Bruderkusse zu, las sodann in deutscher Sprach das Arrêté3 des Obergeneral Hoche ab, wodurch alle Gemeinden, so sich durch Pflanzung der Freiheitsbäume unabhängig und frei erklärt hätten, von allen Zehnten, Frohndiensten und übrigen Lehnverbindligkeiten4 von nun an befreit wären. Hiemit schloß sich die Feierlichkeit beim Freiheitsbaume, der Zug ging sodann ferner unter Voraustretung einer Compagnie Grenadiere mit Begleitung der Mitglieder der Mittelkommission, Stadtkommandant und anderen Offizieren zu Pferd in vorheriger Ordnung nach dem Judenthor, wo dasselbe mit einer Axt in Stücke zerhauen und so hiedurch den Juden zu erkennen gegeben worden, daß sie von nun an in die allen anderen Menschen zukommenden Rechte wieder eingesetzt wären5. Wir setzten sodann unsern Zug durch verschiedene Straßen bis zum Freiheitsbaume fort und wurden unter Schutz und Bewachung eines Detachements6 Grenadiere nach unserm Logement7 begleitet. […]
Anmerkungen 1 Nikolaus Gülich (1644–1686), Besitzer einer Band- und Manufakturwarenhandlung und eines Weinhandels in Köln, Anführer einer Revolte gegen die Misswirtschaft der regierenden städtischen Elite. Der Widerstand gegen die alte Stadtregierung scheiterte auch an der Parteinahme des Kaisers gegen Nikolaus Gülich und seine Mitstreiter. Gülich wurde am 23. Februar 1686 hingerichtet. Sein Haus in der Straße Obenmarspforten wurde niedergerissen und dort eine Schandsäule errichtet, die den in Erz gegossenen Kopf Gülichs zeigte, der von einem Schwert durchbohrt wurde. 2 Die 1797 von General Louis-Lazare Hoche, dem Oberbefehlshaber der französischen Rhein-Maas-Armee, eingeführte Mittelkommission mit Sitz in Bonn war eine übergeordnete Verwaltungseinheit während der Besatzungszeit, unter der die Verwaltung des Alten Reichs für eine Übergangszeit weiterarbeitete. 3 Erlass, Verfügung. 4 Im Feudalstaat Abgaben und persönliche Dienste, zu denen der Lehnsempfänger oder Vasall gegenüber seinem Lehnsherren verpflichtet war. 5 Tatsächlich haben sich beispielsweise in Köln Juden erst 1798 niederlassen können. 6 Abteilung. 7 Wohnung, Unterkunft.
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Literatur Nicole Bemmelen, Die Neue Judengasse in Bonn – Entstehung und Zerstörung, in: Bonner Geschichtsblätter 51/52 (2001/2002), S. 197–284; Leah Rauhut-Brungs/Gabriele Wasser/ Peter Hodde (Hg.), Stadtrundgang durch Bonns jüdische Geschichte, Egling an der Paar 2001; Max Herschel, Die Judengasse und ihre alte Synagoge vor 50 Jahren. Festrede zur 25jährigen Jubelfeier der neuen Synagoge in Bonn (30. Januar 1904), Bonn 1904; Birgit Klein, „Unter der Herrschaft einer gnädigen Obrigkeit“ – Das Kurkölner Landesrabbinat von den Anfängen bis in die Zeit von Kurfürst Clemens August, in: Frank Günter Zehnder (Hg.), Hirt und Herde. Religiosität und Frömmigkeit im Rheinland des 18. Jahrhunderts. Der Riss im Himmel: Clemens August und seine Epoche, Bd. 5, Köln 2000, S. 251–278, insbes. 259f.; Birgit Klein/Rotraud Ries, Zu Struktur und Funktion der jüdischen Oberschicht in Bonn und ihren Beziehungen zum kurfürstlichen Hof, in: Frank Günter Zehnder (Hg.), Eine Gesellschaft zwischen Tradition und Wandel. Alltag und Umwelt im Rheinland des 18. Jahrhunderts. Der Riss im Himmel: Clemens August und seine Epoche, Bd. 3, Köln 1999, S. 289–315
Hinweis Die mittelalterliche Bonner Judengasse lag im Abschnitt der Friedrichstraße zwischen Bonngasse und Wenzelgasse, das Ghetto der Frühen Neuzeit wurde im Bereich der heutigen Josefstraße/Doetschstraße angelegt. Sagt die Lage der beiden Judengassen etwas aus über die Entwicklung der Lebenssituation der Juden? Am Beispiel eines Spaziergangs, der sich auch in vielen anderen Städten durchführen ließe, könnten Erläuterungen zu jüdischen Wohnvierteln und den Wohnplätzen jüdischer Familien bis ins 19./20. Jahrhundert gegeben werden.
10 Frühneuzeitliche Grabinschriften auf dem jüdischen Friedhof in Bonn-Schwarzrheindorf, 1754 und 1779 Michael Brocke/Dan Bondy, Der alte jüdische Friedhof in Bonn-Schwarzrheindorf 1623–1956. Bildlich-textliche Dokumentation, hg. von Udo Mainzer. Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege 50, Köln/Bonn 1998, S. 117f. und 177f. Fotos: Andreas Hemstege
Der jüdische Friedhof in Bonn-Schwarzrheindorf diente als Beerdigungsplatz für die Bonner jüdische Gemeinde (bis zur Anlage des neuen Friedhofs 1873) sowie für die rechtsrheinischen Landgemeinden. Er liegt nördlich des Dorfes Schwarzrheindorf in
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einem früheren Überschwemmungsgebiet des Rheins. Der Deich, auf dem man ihn heute erreicht, wurde erst im 20. Jahrhundert gebaut. Auch der Richtplatz von Rheindorf befand sich vermutlich in der Nähe. Wie so häufig in der Frühen Neuzeit, wurde den Juden kein günstig gelegenes Grundstück zugeteilt, sondern eines, das für keinen anderen Zweck brauchbar war. Möglicherweise gegen Ende des 16., sicher aber am Anfang des 17. Jahrhunderts wurde der Begräbnisplatz angelegt. Der älteste Grabstein stammt aus dem Jahre 1623. 445 Stelen sind erhalten. Der weitläufige ältere Teil vermittelt ein authentisches Bild eines frühneuzeitlichen jüdischen Friedhofs. In unregelmäßigen Reihen stehen schlichte, zumeist rundbogig abgeschlossene Sandsteinstelen mit ausschließlich hebräischsprachigen Inschriften. Die Steine tragen nur sehr zurückhaltende Schmuckelemente: Ab und an bemerkt man auf Grabsteinen für Angehörige des Priestergeschlechts (Nachkommen des ersten Hohepriesters Aaron) die „segnenden Hände“ der Kohanim (hebr. Priester). Gelegentlich sind diese segnenden Hände (entsprechend der Handhaltung beim Sprechen des Priestersegens) mit einer Krone, der Krone der Priesterschaft, verbunden. Levitenkannen verweisen auf die Zugehörigkeit des Begrabenen zu der den Priestern unterstellten Tempeldienerschaft (Angehörige des Stammes Levi). Obwohl der Tempeldienst nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem (70 n.Chr.) eingestellt wurde, haben Kohanim und Leviten im Gottesdienst eine Reihe von Vorrechten gegenüber den anderen Anwesenden behalten. Manche Grabsteine zieren auch florale Ornamente. Die schlichten Steine lenken die Aufmerksamkeit auf die teils sehr aussagekräftigen Inschriften. Eine Besonderheit in Schwarzrheindorf sind die erhaben eingemeißelten Schriftzüge, die auch auf den Grabsteinen für Bella Brendel Abraham und Moyses Kauffmann zu finden sind, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. Bella Brendel Abraham, eine Schwester des kurfürstlichen Leibarztes Dr. Moses Wolff (vgl. Dokument 7b), wurde um 1720 in Neuwied geboren. Wie ihr Bruder verfügte sie als Hebamme über medizinische Kenntnisse. Sie war die zweite Gattin von Salomon Herz Oppenheim, dem Großvater des Gründers des bedeutenden, später in Köln ansässigen Bankhauses Sal. Oppenheim jr. & Cie. (vgl. Dokument 36). Bella Brendel Abraham wohnte in der Bonner Judengasse. Sie starb am 8. November 1779 in Bonn. Moyes oder Moses Kauffmann wurde um 1698 in Neuwied geboren und war als Hoffaktor zu seinen Lebzeiten einer der bedeutendsten Lieferanten für den kurfürstlichen Hof. Seit 1722 war er Vorsteher der Bonner jüdischen Gemeinde, von 1735 bis zu seinem Tod am 18. November 1754 Vorsteher der kurkölnischen Judenschaft, die ihre Versammlungen in Deutz abhielt. Beide Grabsteininschriften, in die zahlreiche Bibel- und Talmudzitate eingearbeitet sind, folgen trotz mancher Abweichungen einem Schema, das bis ins 20. Jahrhundert auf Grabsteinen jüdischer Verstorbener zu finden ist:
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1) Einleitungsformel: „Hier ist verborgen und aufbewahrt“ für Bella Brendel Abraham, „Hier ist geborgen“ für Moyses Kauffmann. Verbreitet waren auch Formulierungen wie: „Hier ist begraben“ oder „Hier ruht“. 2) Ein oder mehrere dem Namen vorangestellte lobende Beiworte (Epitheton/Epitheta): Während Bella Brendel mit der für Frauen typischen Formel als „tugendhafte und würdige Frau“ geehrt wird, wird bei Moyses Kauffmann auf seine jüdische Gelehrsamkeit, seinen weltlichen Reichtum und seine Führungsfunktion in der Judenschaft hingewiesen. 3) Die Lobrede (Eulogie): Bei Bella Brendel wird auf die im Talmud fixierten drei religiösen Verpflichtungen, die der Frau obliegen, Bezug genommen: die Beachtung der Teighebe, d.h. die Absonderung der Erstlingsgabe vom Brotteig (Challa), die Reinigungsvorschriften (Gang zur Mikwe) und das Anzünden der Schabbat-Kerzen. Zudem wird sie als fromm und wohltätig charakterisiert. Auch Moses Kauffmann wird als wohltätig und freigiebig bezeichnet, was den jüdischen Gemeinden, aber auch einzelnen Bedürftigen wie heiratswilligen Waisen zugute kam. Sein uneigennütziger Einsatz für die Judenschaft wird gelobt, seine Führungsqualität betont. So setzte er sich bei Kurfürst Clemens August für die Revision ungünstiger Verordnungen ein und richtete in seinem Haus eine Synagoge ein. 4) Die Namensnennung: Brendla, d. i. Bella Brendel, ist über zwei Männer, ihren Vater und ihren Ehemann, definiert. Bei Moyses Kauffmann (dessen Namen der Eulogie vorangestellt ist) wird nur der Name des Vaters genannt. 5) Das Sterbedatum wird nach dem jüdischen Kalender angegeben; die Zahlen werden durch hebräische Buchstaben ausgedrückt, die auch einen Zahlenwert haben. Das Geburtsdatum fehlt in der Regel auf frühneuzeitlichen Grabsteinen. Sowohl Bella Brendel als auch Moyses Kauffmann starben an einem Montag und nach der christlichen Zeitrechnung im November – Bella am Vorabend des Neumonds (=1.) Kislew (d.i. 30. Cheschwan) 5540, Moyses am 4. Kislew 5515. (Die Jahrtausendzahl wird meistens fortgelassen, daher heißt es „nach der kleinen Zählung“.) Das jüdische Jahr wird nach der Erschaffung der Welt berechnet, die auf das Jahr 3760 vor der Zeit (v.Chr.) datiert wird. Daraus ergibt sich, dass Moyses Kauffmann 1754 starb. (Da das jüdische Jahr im Herbst beginnt, war man nach dem jüdischen Kalender im November schon „ein Jahr weiter“ als im christlichen.) Bella Brendels Todesjahr wird nicht explizit genannt, es ergibt sich, wenn man den Zahlenwert der eigens zu diesem Zweck gekennzeichneten Buchstaben zusammenzählt. Dabei kommt man auf die Summe 540 „nach der kleinen Zählung“. 6) Zum Abschluss erscheint die traditionelle Schlussformel: „Ihre/Seine Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens“.
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2. Grabstein für Moyses Kauffmann in Bonn-Schwarzrheindorf, 1754
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a) Grabstein für den Vorsteher der kurkölnischen Judenschaft Moyses Kauffmann, 1754 Hier ist geborgen ein treuer Hirte, der Edle, der Vermögende, der geehrte Vorsteher und Leiter, der toragelehrte Herr Mosche Jizchak Awraham Sohn des Jekutiel, seine Gerechtigkeit den Bergen Gottes gleich, in seiner Gerechtigkeit leitete er seine Zeitgenossen für viele Jahre wie ein Hirte seine Herde, und seine Hände blieben verläßlich bis seine Sonne unterging, und all seine Tage schonte er die Kasse der Gemeinde, und war freigiebig mit seinem Vermögen und seinem Besitz, er wandelte lauter und wirkte Wohltun, trat vor in die Bresche und fügte zusammen die Risse, wahrlich, niemanden hinterließ er der wie er, das ganze Haus Israel beweinte(n) ihn, verschieden mit gutem Namen am Tag 2 [Montag], 4. Kislev und begraben bei Begin des Tages 3 [Dienstag], 5. Kislev 515 nach kleiner Zählung. Seine Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens
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3. Grabstein für Bella Brendel Abraham in Bonn-Schwarzrheindorf, 1779
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b) Grabstein für Brendel, Tochter des Abraham Halevi, zweite Gattin von Salomon Herz Oppenheim, 1779 Hier ist verborgen und aufbewahrt eine tugendhafte und würdige Frau, Mutter der Einsicht, ihr Lob, wer könnte es zählen, alle Tage ihres Lebens war sie achtsam in den Geboten der Teighebe, der Reinheit und des Kerzenanzündens, ihre Hand öffnete sie dem Armen und ihr Gebet war rein (und) in Andacht, Frau Brendla, Tochter des Seligen, des geehrten Herrn, Vorstehers und Leiters, des toragelehrten Herrn Awraham Halevi, sie war die Gattin des Seligen, des geehrten Herrn Steuereinnehmers der Landjudenschaft, des toragelehrten Herrn Schlomo Awram Oppenheim, es vollendete sich ihre Seele und kehrte zurück in das Haus ihres Vaters der im Himmel (am) Tag 2 [Montag], Vorabend des Neumonds Kislev „Aufstehe Sie“ Zu Ihrem Lose Am Ende Der Tage nach kleiner Zählung. Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens
Literatur Als hervorragende Einführung kann folgendes Internetangebot des Salomon Ludwig-Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen gelten: Spurensuche. Jüdische Friedhöfe in Deutschland. Eine Einführung für Lehrer und Schüler (http://spurensuche.steinheim-institut.org/index.html, 25.7.2010) Michael Brocke/Dan Bondy, Der alte jüdische Friedhof in Bonn-Schwarzrheindorf 1623– 1956. Bildlich-textliche Dokumentation, hg. von Udo Mainzer. Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege 50, Köln/Bonn 1998; Michael Brocke/Hartmut Mirbach, Grenzsteine des Lebens. Auf jüdischen Friedhöfen am Niederrhein, Duisburg 1988; Michael Brocke/Christiane E. Müller, Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Deutschland, Leipzig 2001; Stefan
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Bajohr (Hg.), Archiv aus Stein. Jüdisches Leben und jüdische Friedhöfe in Nordrhein-Westfalen, Oberhausen 2005
Hinweis Der jüdische Friedhof in Bonn-Schwarzrheindorf ist tagsüber stets zugänglich. Der Deich, über den man ihn erreicht, darf mit Fahrzeugen nicht befahren werden.
11 Hilfe in der Not: Juden und Christen während des Rheinhochwassers, 1784 Carl Brisch, Geschichte der Juden in Cöln und Umgebung aus ältester Zeit bis auf die Gegenwart. Nach handschriftlichen und gedruckten Quellen bearbeitet, Bd. 2, Mülheim/Rh. 1879, S. 141–144
Die verheerenden Schäden, die durch die schweren Überschwemmungen und den sogenannten Eisgang in Bonn, Köln und den heutigen Kölner Stadtteilen Deutz und Mülheim am Rhein am 27. und 28. Februar 1784 verursacht wurden, sind vielfach beschrieben worden. Neben den Berichten christlicher Autoren stehen jüdische Überlieferungen, die die Panik der Menschen, die Zerstörung der Wohnhäuser wie der Gebetsstätten, der Ritualgegenstände und Bücher veranschaulichen. In Bonn wurde die in der Nähe des Stroms liegende Synagoge stark beschädigt. Sie blieb aber ebenso wie die Tora-Rollen erhalten. Die Synagoge in Deutz und das Haus, in dem sich in Mülheim der jüdische Betraum befand, wurden dagegen vollständig zerstört. Die Memorbücher der Bonner, Deutzer und Mülheimer Gemeinden – Schriften, die dem liturgischen Totengedenken dienen - wurden während des Hochwassers stark beschädigt oder zerstört. Die neu angelegten Memorbücher thematisieren die Katastrophe von 1784. Aubrey Pomerance, Archivar der Dependance des Leo Baeck Institute im Jüdischen Museum Berlin, veröffentlichte 2005 einen sehr präzisen, in jiddischer Sprache abgefassten Bericht aus der Feder des Mülheimer Juden Mendel Nathan, der vermutlich bald nach den Ereignissen verfasst wurde. Der Bericht blieb im Nachlass des Kölner Rabbiners und Historikers Dr. Adolf Kober im New Yorker Leo Baeck Institute erhalten. Der hier abgedruckte Text stellt eine sekundäre Überlieferung dar. Der Autor Carl Brisch schildert die Katastrophe von 1784 in seiner 1879 erschienenen „Geschichte der Juden in Cöln und Umgebung aus ältester Zeit bis auf die Gegenwart“. Brisch, einer der ersten Historiker des jüdischen Köln und Lehrer der jüdischen Gemeinde in Mülheim, hat sicher auf bald nach 1784 entstandene Quellen zurückgegriffen. Insbesondere kannte er die Memorbuch-Überlieferung, fertigte er doch Abschriften des alten und des neuen Deutzer Memorbuchs an.
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Mendel Nathan aus Mülheim berichtet nur am Rande vom Schicksal der christlichen Nachbarn, die er „Fremde“ nennt. Allerdings waren es gerade diese „Fremden“, die ihn und die in seinem Haus befindlichen Glaubensgenossen aus den Fluten retteten. Die Schilderung bei Brisch dagegen betont besonders die Fürsorge der kurfürstlichen Regierung und die Hilfeleistung der christlichen Nachbarn, vor allem des Kölner Domkapitels und der Mönche der Deutzer Benediktinerabtei. […] Eine furchtbare Ueberschwemmung verheerte Städte und Dörfer im Winter 1784 und am härtesten wurden Bonn, Cöln, Deutz und Mülheim betroffen. Vom 11. Januar bis zum 27. Februar hatte sich bei sehr hohem Wasserstande und grimmiger Kälte eine 10-15 Fuß1 hohe Eisdecke über den Rhein gelegt. Während es in den untern Gegenden des Stromes noch fortwährend fror, trat in dessen oberen Gegenden gelindes Wetter ein, welches die Eisfesseln brach und die Schollen des Rheinstromes und seiner Nebenflüsse in furchtbarer Menge abwärts trieb. Die von obenher kommenden Eismassen fanden unten an der noch auf dem Rheine lagernden Eisdecke immer mehr Hindernisse, thürmten sich, da sie nicht weiter konnten, zu hohen Bergen und Klippen auf und übereinander und versperrten den Lauf des Stromes, so daß die Wassermassen immer höher anschwollen und sich in Strömen überall hin landeinwärts ergossen. Innerhalb weniger Stunden wurden ganze Ortschaften zu Grunde gerichtet. Die dahinbrausenden Fluthen wühlten die stärksten Bäume aus der Erde und die mit reißender Gewalt dahinrollenden Eisblöcke schnitten die Häuser von ihren Fundamenten ab, Menschen in ihrem Sturze begrabend. Besonders empfindlich wurde dieses Unglück für die Juden der genannten Orte, die ihre Quartiere in den unteren Stadttheilen am Rheinufer hatten. In Bonn stieg das Wasser zusehends am Donnerstag den 27. Februar und drang in die Judenhäuser ein, so dass die Bewohner sich in die oberen Stockwerke flüchten mußten. Aber auch dort fanden sie keine Ruhe, da die heranrückenden Eisschollen die stärksten Gebäude bis in ihre Grundfesten erschütterten. Doch durch die Fürsorge des Kurfürsten Maximilian Friedrich2 wurde ihnen Hülfe in der Noth gebracht. Schon in aller Frühe erschienen der Premier-, Staats- und Conferenz-Minister3, Herr v. Gymnich, der Conferenzminister und Kammerpräsident Graf v. Metternich und der General Baron v. Kleist und verweilten stundenlang, um durch ihre Gegenwart das plünderungslüsterne Gesindel, welches immer dergleichen Ereignisse auszubeuten pflegt, einzuschüchtern. Zugleich trafen sie alle Vorkehrungen zur Rettung der von der Gefahr Bedrohten durch Nachen4. Die Thorarollen5 aus der Synagoge holend, verließen die meisten Juden ihre überschwemmte Straße und begaben sich in die obere Stadt, wo sie in christlichen Häusern freundliches Entgegenkommen fanden. Der kurfürstliche Leibarzt Moses Wolf6, sowie der Vorsteher Baruch ben Simeon Mergentheim7 zeichneten sich durch ihre aufopfernde Thätigkeit in der Zeit der Noth aus und öffneten ihren unglücklichen Glaubensgenossen Haus, Herz und Hand, so daß diese den kommenden Tagen ruhig entgegensehen konnten. In Deutz
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floh der größte Theil der Stadtbewohner in die Benediktiner-Abtei. Die Juden und manche christliche Nachbarn kamen in dem Hillesheimschen Hause zusammen. Aber nicht lange konnten sie der Festigkeit des letztgenannten Gebäudes trauen, sie ließen um Aufnahme in der Abtei anfragen, die ihnen bereitwilligst gewährt wurde. Die Mönche wiesen ihnen Zimmer an und theilten Brod, Butter und Trinkwasser mit ihnen. Am Freitag vor Tagesanbruch (5. Adar8 = 28. Februar) wagten sich einige beherzte Männer in die Synagoge hinüber und es gelang ihnen, dreizehn Thorarollen zu retten, mit denen sie den Rückweg über die Dächer der benachbarten Häuser nahmen. Am Sabbathnachmittag9 sah man die Synagoge bis auf den Grund zusammenstürzen. – Am furchtbarsten aber wüthete das entfesselte Element in Mülheim. Der Ueberfall des Wassers kam hier (am 27.) den Bewohnern mit solcher Geschwindigkeit und Gewalt über den Hals, daß sie nackt und blos sich flüchten mußten. Hunderte von Menschen, die ihre Wohnung nicht zeitig genug verlassen hatten, wurden von den Wogen und Eisthürmen in ihre Häuser eingeschlossen und mußten sich von dem ersten Stock auf den zweiten und von da auf den Speicher flüchten. Auch dorthin folgte ihnen der Alles verschlingende Feind und bereitete Manchem sein Grab. In ganz kurzer Zeit waren 164 Häuser spurlos verschwunden, darunter die am Rheinufer liegende Synagoge nebst vier Judenhäusern. Hier war es nicht möglich gewesen, irgend etwas zu retten. Sechs Thorarollen mit Gold- und Silberornamenten, sowie die Gebetbücher, wurden von den Wellen verschlungen. Auf einem kleinen Flecken, der noch wie eine Insel aus dem Meere hinausragte, kauerten tausende Unglückliche, die alles verloren hatten, Christen und Juden, Katholiken und Protestanten, von einerlei Angst gepeinigt, von einer Unruhe gequält. Starrend vor Frost, aller Lebensmittel bar, ohne Obdach für die kommende Nacht, waren sie nahe daran zu verzweifeln, hätte sich die allgemeine Menschenliebe nicht ihrer angenommen. Die Besitzer der wenigen hochgelegenen und deßhalb verschont gebliebenen Häuser öffneten den Unglücklichen alle ihre Räume und theilten mit ihnen die kärglichen Lebensmittel. Es ging knapp genug her, denn die Zufuhr von anderen Orten war unmöglich, weil die Stadt ringsum von Wellen und Eis umwogt war. Da endlich nach 2 schrecklichen Tagen erbarmte die Vorsehung sich ihrer. Unter fürchterlichem Getöse und donnerähnlichem Krachen löste sich am Sabbat Mittag 12 Uhr die Eisdecke des Stromes, der Rhein floß wieder abwärts und das Wasser fiel zusehends. In demselben Augenblicke, als der Ruf erscholl: Der Rhein geht! waren alle Schrecknisse der durchlebten Stunden vergessen. In der Abtei zu Deutz erscholl der ambrosianische Lobgesang10. Die Juden daselbst stimmten zu gleicher Zeit, wie ein Augenzeuge berichtet, einen so verworrenen und lärmenden Freudengesang an, daß die Christen, die der hebräischen Musik ungewohnt, darüber fast betäubt wurden. Nach einigen Tagen war der Rhein wieder in sein Bett zurückgekehrt. Die Flüchtlinge konnten ihre Wohnungen, soweit diese stehen geblieben, wieder aufsuchen. […] Montag den 1. März versuchte es zuerst das Cölner Domkapitel11, den
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Darbenden in Deutz Lebensmittel zuzuführen, die ohne Unterschied des Bekenntnisses vertheilt wurden. Die Juden hatten bald Gelegenheit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, als die oben genannten Bonner Vorsteher und der Rabbiner in reichlichem Maaße Nahrungsmittel, Kleider und Geld übersandten. Der Chronist versichert, daß noch nie ein so glücklicher Purimtag12 in Deutz sei gefeiert worden, wie dieser. […]
Anmerkungen 1 Altertümliches Längenmaß, ca. 30 cm. 2 Maximilian Friedrich, Reichsgraf von Königsegg-Rothenfels (1708–1784), seit 1761 Erzbischof von Köln und Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, seit 1762 Fürstbischof von Münster. 3 Ein Konferenzminister ist ein Minister ohne Portefeuille (Mappe), der dem Gesamtministerium angehört und im Ministerrat Sitz und Stimme hat, ohne an der Spitze eines besonderen Fachministeriums zu stehen. 4 Einbaum, flaches, kompaktes Boot bzw. Kahn für die Binnenschifffahrt. 5 Die Tora-Rolle ist eine an zwei Holzstäben befestigte Rolle aus Pergament, die mit den Fünf Büchern Mose (Pentateuch) beschrieben ist. Tora bedeutet wörtlich Lehre; der Begriff beinhaltet die schriftliche und die mündliche Überlieferung. Die Tora als Offenbarung und Weisung Gottes ist Lebensgrundlage der jüdischen Gemeinschaft; die ToraRollen sind der heiligste Kultgegenstand im Judentum. 6 Vgl. Dokument 7b. 7 Baruch ben Simeon Mergentheim (gest. 1802), Geschäftsagent des Deutschen Ordens in Mergentheim, Hoffaktor des Kurfürsten Clemens August, seit 1773 Vorsteher der Kurkölnischen Judenschaft, durfte wie Dr. Moses Wolff außerhalb der Judengasse wohnen. Baruch Mergentheim und Dr. Moses Wolff konnten daher 1784 ihre vor dem Rheinhochwasser fliehenden Glaubensgenossen in ihren höher gelegenen Häusern aufnehmen. 8 Sechster Monat des jüdischen Kalenders (Februar/März). 9 Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und der Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 10 Im 4. nachchristlichen Jahrhundert entwickelte Liturgie und geistliche Musik, wurde um 800 von der Gregorianischen Kirchenmusik abgelöst. 11 Wichtiges politisches Leitungsgremium im Erzbistum Köln, entstanden aus der Klerikergemeinschaft des Kölner Doms.
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12 In Erinnerung an die im biblischen Buch Esther erzählte wunderbare Errettung der persischen Juden zur Zeit des Königs Ahasveros oder Xerxes I. durch die Jüdin Esther, die zweite Gattin des Herrschers, wird im Februar oder März das Fest Purim (hebr. „Lose“) gefeiert.
Literatur Aubrey Pomerance, „Wasser wie nie seit Menschengedenken“. Eine unbekannte jiddische Quelle zum Rheinhochwasser von 1784, in: Birgit E. Klein/Christiane E. Müller (Hg.), Memoria – Wege jüdischen Erinnerns. Festschrift für Michael Brocke zum 65. Geburtstag, Berlin 2005, S. 177–192
12 Wendezeit: Die neue Düsseldorfer Synagoge in der Kasernenstraße, 1792 Gülich- und Bergische Wöchentliche Nachrichten, Nr. 35 vom 28. August 1792 Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf
Am 28. August 1792 berichteten die „Gülich- [ Jülich-] und Bergischen Wöchentlichen Nachrichten“ über eine Feier, die in der neu erbauten Synagoge in der Düsseldorfer Kasernenstraße aus Anlass des fünfzigsten Hochzeitstags des Landesherrn Karl Theodor und seiner Ehefrau Elisabeth Auguste von der Pfalz stattfand. Die in der Residenzstadt lebenden Juden feierten ihre Gottesdienste zunächst in Räumen, die ihnen Gemeindemitglieder in ihren Privathäusern zur Verfügung stellten. Vor 1712 war der Betraum im Haus des Rabbiners der Jülich-Bergischen Landjudenschaft, Samson Levi Fröhlich, in der Hunsrückenstraße untergebracht. 1712 kam ein neuer Betsaal in dem prächtigen Palais des kurfürstlichen Hoffaktors Joseph Jakob van Geldern – des Ururgroßvaters Heinrich Heines – in der Neusser Straße hinzu. Das Haus musste vermutlich in den 1740er Jahren verkauft werden, da mit dem Niedergang Düsseldorfs nach dem Tod des Kurfürsten Johann Wilhelm 1716 auch der Einfluss und Wohlstand der Familie van Geldern abnahm. 1776 erfolgte die Verlegung des Betsaals in ein Haus in der Neustraße, das aus dem Besitz des Geheimrats von Boolen in den der Judenschaft übergegangen war. Infolge einer vor den Gerichten ausgetragenen Erbstreitigkeit musste die Eigentumsübertragung rückgängig gemacht werden. Die jüdische Gemeinde war daher gezwungen, das Gebäude 1787 von den neuen Besitzern zu sehr viel ungünstigeren Konditionen zu pachten. Wenig später musste sie das Haus räumen und alle für die Einrichtung der Synagoge getroffenen baulichen Veränderungen entfernen. Es existierte demnach eine große Rechtsunsicherheit, die nur mit dem Bau einer im Eigentum der jüdischen Gemeinde befindlichen Synagoge überwunden werden konnte.
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1790 genehmigte die kurfürstliche Regierung den Bau einer Synagoge an der Kasernenstraße, die sich in der seit Mitte des 18. Jahrhunderts geschaffenen Karlstadt befand. Erste Entwürfe für die Synagoge lieferte der kurfürstliche Architekt Peter Joseph Krahe. Sie sahen einen Bau im klassizistischen Stil vor, der sich gemäß den Weisungen der Behörden hinter einem Vorderhaus verbarg. Krahe konnte sich mit seiner anspruchsvollen Architektur nicht durchsetzen, zumal auch die Mittel des Baufonds begrenzt waren. Hofmaurermeister Peter Köhler errichte seit 1790 das neue jüdische Gemeindezentrum in vereinfachten Formen, aber mit qualitätvollen Baumaterialien. Das Vorderhaus war nur noch zwei Stockwerke hoch, die kleinere Synagoge wurde freistehend im Hof errichtet. Am 24. März 1792 wurde die Einweihung gefeiert. Trotz der ungünstigen Hinterhoflage konnten mit dem Neubau in der Kasernenstraße die Provisorien früherer Zeiten überwunden werden. Erstmals entstand in Düsseldorf ein kleines jüdisches Gemeindezentrum mit Rabbinerwohnung, Schule, Ritualbad und Synagoge. Neu war auch die glanzvolle Feier unter Beteiligung „hoher Herrschaften“, mit der das Bauwerk vermutlich erstmals in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit rückte. Mit Musik, Trompetensignalen und einer Illumination machte die jüdische Gemeinde selbstbewusst auf sich aufmerksam. Diese neue Offenheit und das Interesse der Öffentlichkeit weisen auf die tief greifenden Veränderungen hin, die das jüdische und das nichtjüdische Leben im Rheinland mit der Französischen Revolution erfassten. Düsseldorf, den 17. August 1792. Heute feierte auch die hiesige Judenschaft, zum Erstenmal in ihrer dahier neuerbauten Synagoge in der Carlstadt, das glorreiche Jubelfeste der 50jährigen Vermählung1, und gnadenvollen Regierung unseres Durchl.2 Landesfürsten. Dieses Fest nahm um zwei Uhr Nachmittags seinen Anfang, und wurde nach den gebräuchlichen Ceremonien, in Gegenwart sämtlicher hiesigen hohen Herrschaften, auf das prächtigste vollzogen. Es wurden unter Begleitung einer fortdauernden vollständigen Harmonie, besondere Gebethe gehalten, für das ewige Wohl des besten der Fürsten, unsers gnädigsten Landesvaters; unter dessen huldreichen Schutz dies Gebäude zur Ehre Gottes errichtet ward, und so oft der hohe Name Er. Kurfürstl. Durchl.3 ausgesprochen wurde, kündigte ein Trompetenstoß solches vorher an. Gegen 7 Uhr, als den Eintritt des sabbats4 beschloß ein dreifacher Trompetenstoß die völlige Musik, und alsdann folgte das gewöhnliche Abendgebeth. Zugleich endigte eine schöne Beleuchtung in und außer dem Tempel5, dies freudenvolle Fest. Unter andern prangten über einem Altar worauf drei brennende Kerzen die aus Blumen gewundenen Worte: Vivat Carl Theodor und Elisabeth Augusta, und weiter unten sah man mit hebräischer Innschrift den 7. V. des 61 Ps. Vermehre die Tage des Fürsten, dass seine Jahre währen für und für.
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Anmerkungen Für den Hinweis auf die Quelle sei Herrn Dr. Bastian Fleermann, Düsseldorf, gedankt. 1 Der Landesherr Kurfürst Karl Theodor von Pfalz-Sulzbach (1724–1799), seit 1743 Herzog von Jülich-Berg, seit 1777 Kurfürst von Bayern, war seit 1742 mit seiner Cousine Elisabeth Auguste (1721–1794), Enkelin des Kurfürsten Karl Philipp von der Pfalz, verheiratet. Unter der Herrschaft Karl Philipps wurde die Residenz von Düsseldorf zunächst nach Mannheim, später dann nach München verlegt. 2 Abkürzung für „Durchlauchtigsten“. 3 Abkürzung für „Euer Kurfürstlichen Durchlaucht“. 4 Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und der Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 5 Der Begriff Tempel wurde seit Ende des 18. Jahrhunderts als Bezeichnung der Synagoge populär.
Literatur Barbara Suchy, Synagogen in Düsseldorf, in: Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf (Hg.), Aspekte jüdischen Lebens in Düsseldorf und am Niederrhein, Düsseldorf 1997, S. 60–75; Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Regierungsbezirk Düsseldorf, Köln 2000, S. 32–40; Bastian Fleermann, Marginalisierung und Emanzipation. Jüdische Alltagskultur im Herzogtum Berg 1779–1847, Neustadt/Aisch 2007, S. 280–292; Abraham Wedell, Geschichte der jüdischen Gemeinde Düsseldorfs, in: Geschichte der Stadt Düsseldorf in zwölf Abteilungen. Festschrift zum 650jährigen Jubiläum, hg. vom Düsseldorfer Geschichtsverein, Düsseldorf 1888, S. 149–254
II. Jüdisches Leben vom Beginn der Emanzipation bis zum Ende der Weimarer Republik 1. Einführung Am Ende der Frühen Neuzeit waren der bevorstehende umfassende Wandel der Lebensverhältnisse und die Auswirkungen, die die politisch-rechtliche Emanzipation auf die jüdische Bevölkerung im Rheinland haben sollte, noch kaum zu erahnen. Große Teile der rheinischen Judenschaft lebten in niederdrückenden Verhältnissen am Rande der Gesellschaft. Die vielfältigen Abgaben hatten zahlreiche jüdische Familien verarmen lassen. Einer Oberschicht von höchstens zwei bis fünf Prozent der Judenschaft standen eine Mehrheit jüdischer Familien, die als Händler, Metzger, Viehhändler, Hausierer, Geld- und Pfandleiher ein zumeist bescheidenes Auskommen fanden, sowie eine nicht unbeträchtliche Anzahl von recht- und vermögenslosen „Betteljuden“ gegenüber. Die meisten Juden lebten in Gemeinschaften von nur wenigen Familien auf dem Lande oder in Kleinstädten. Nur diejenigen, die in den jeweiligen Territorien durch Aufnahme in Generalgeleite oder Erteilung von Schutzbriefen „privilegiert“ waren, besaßen ein Aufenthaltsrecht. Der ernorme Zuwachs der jüdischen Bevölkerung im 18. Jahrhundert – teils durch Zuwanderung, teils durch Geburtenüberschuss bedingt – verschärfte die sozialen Probleme, da immer mehr Menschen weder ein auskömmliches Dasein noch einen gesicherten Rechtsstatus erlangen konnten. Die Französische Revolution beendete das Ancien Régime und setzte das Thema der jüdischen Emanzipation, der politisch-rechtlichen Gleichberechtigung, in allen westeuropäischen Staaten auf die Tagesordnung. Der Wunsch nach Emanzipation und die Hoffnungen, die das revolutionäre Frankreich bei weiten Teilen der Bevölkerung weckte, wurden auch von vielen Juden und Jüdinnen geteilt, obgleich es auch zahlreiche jüdische Gemeinden gab, die am Althergebrachten hingen. Am 27. September 1791 proklamierte die französische Nationalversammlung die rechtliche Gleichstellung der Juden mit allen anderen Staatsbürgern. Mit der Besetzung der linksrheinischen deutschen Gebiete im Herbst 1794 und ihrer endgültigen Eingliederung in den französischen Staat nach dem Frieden von Lunéville 1801 erreichten die Juden in diesen Regionen ebenfalls die rechtliche Gleichstellung. Am 22. September 1797 rissen fortschrittlich gesinnte Bürger das Tor zur Bonner Judengasse nieder (siehe Dokument 9b). 1798 konnten sich mit Joseph Isaak Stern und seiner Ehefrau Sara aus Mülheim am Rhein erstmals seit der Vertreibung von 1424 wieder Juden in der Stadt Köln niederlassen. Am 12. Oktober 1801 wurde in Köln eine neue jüdische Gemeinde gegründet. Die neue Zeit befreite die rheinischen Juden jedoch nicht von alten Lasten: Noch jahrzehntelang trugen sie schwer an der Tilgung der sogenannten „Judenschulden“, der Kredite, die man im Ancien Régime zur Auf-
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Von der Emanzipation zur Weimarer Republik
bringung der zahlreichen Abgaben hatte aufnehmen müssen. 1806 bis 1808 lebten im Rhein-Mosel-Département 4.063 Juden, im Rur-Département 5.488 Juden, 1808 in den Arrondissements Wesel, Duisburg, Düsseldorf, Mülheim, Elberfeld und Siegburg des Großherzogtums Berg 2.241 Juden. 1806 berief Napoleon eine Versammlung jüdischer Notabeln nach Paris, der auch der Kölner Bankier Salomon Oppenheim jr. als Deputierter des Rur-Départements sowie Lion Marx und Mayer Marx als Vertreter des Rhein-Mosel-Départements angehörten. Im Frühjahr 1807 wurde – ebenfalls auf Geheiß des Kaisers – der nach antiken Vorbildern konzipierte „Große Sanhedrin“ als Gesamtvertretung der französischen Juden in Paris ins Leben gerufen. Wie die Notabelnversammlung hatte der Große Sanhedrin den Auftrag, die Integration der Juden in den nationalen Einheitsstaat voranzutreiben, die Religion als Privatsache und den staatsbürgerlichen Pflichten untergeordnet zu propagieren und letztlich das französische wie das europäische Judentum für die politische Konzeption des Kaisers zu instrumentalisieren. Die Beratungen des „Großen Sanhedrin“ sowie vor allem auch Klagen christlicher Kaufleute über den angeblichen Wucher von Juden in Elsass und Lothringen leiteten eine Wende in der Judenpolitik Napoleons ein, der immer stärker an der Integrationsfähigkeit der „jüdischen Nation“ in die „Grande Nation“ zweifelte. Am 17. März 1808 erließ er das „Décret Imperial concernant des juifs“, das sogenannte „Schändliche Dekret“, das die jüdische Gewerbetätigkeit von der Erteilung staatlicher Patente bzw. Konzessionen abhängig machte, weitere Einschränkungen der Handelstätigkeit, des Kreditgeschäfts und der Niederlassungsfreiheit brachte und auf diese Weise den Emanzipationsprozess teilweise wieder rückgängig machte. Das Dekret betraf auch die im Rheinland lebenden Juden. Es behielt in preußischer Zeit bis in die 1840er Jahre Gültigkeit. Aus rheinischen Archiven ist überliefert, dass es bis auf wenige Ausnahmen keine Schwierigkeiten bei der Patenterteilung gab, die mit der Zeit zu einer Routineangelegenheit wurde. Die diskriminierte jüdische Bevölkerung sowie auch Teile der nichtjüdischen Öffentlichkeit setzten sich jahrzehntelang vergeblich für die Aufhebung des „Schändlichen Dekrets“ ein. Mit dem ebenfalls am 17. März 1808 erlassenen „Règlement organique du culte mosaïque“ wurde auch das jüdische Gemeinde- und Kultuswesen neu geordnet. Den jüdischen Gemeinden oblag nur noch die Regelung religiöser und kultischer Angelegenheiten, sie besaßen in rechtlich-sozialer Hinsicht keine Autonomie mehr. Mit dem Konsistorialsystem wurden die jüdischen Gemeinden zu zentralisierten, hierarchisch aufgebauten und staatlich kontrollierten Verwaltungseinheiten zusammengefasst. Das Konsistorium für das Rur-Département saß in Krefeld. Für das RheinMosel-Département war zunächst Koblenz, später Bonn zuständig. In Mainz und Trier wurden weitere Konsistorien ins Leben gerufen. Den Konsistorialsynagogen auf Départementsebene war das Zentralkonsistorium in Paris übergeordnet. Am 20. Juli 1808 erließ Napoleon schließlich das Dekret zur Annahme fester, amtlich registrierter Familiennamen, das von der jüdischen Bevölkerung weitgehend begrüßt wurde.
Einführung
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In den beiden Napoleonischen Satellitenstaaten auf deutschem Boden – im Großherzogtum Berg und im Königreich Westfalen – wurden die drei 1808 erlassenen Gesetze nicht eingeführt. Hier wurde die jüdische Emanzipation weitgehend realisiert. Als die bislang französischen oder unter französischer Oberhoheit stehenden Gebiete im Rheinland und in Westfalen nach dem Wiener Kongress 1815 Preußen zugesprochen wurden, blieb in der wenig später gebildeten Rheinprovinz und in der Provinz Westfalen die sehr heterogene Gesetzgebung zur Regelung der jüdischen Verhältnisse bestehen. Das am 11. März 1812 verabschiedete „Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“, das die Juden zu „Einländern und preußischen Staatsbürgern“ machte, galt nur in den preußischen Kernländern, nicht aber in den neupreußischen Gebieten im Westen. Unter preußischer Herrschaft waren mannigfache Rückschritte zu verzeichnen. Insbesondere wurde den Juden der Zugang zu zahlreiche Berufen wie dem des Offiziers, Lehrers, Richters, Anwalts und Apothekers sowie zu manchen Ehrenämtern verwehrt. Dennoch geriet das Thema der jüdischen Emanzipation nicht mehr in Vergessenheit und wurde in großen Teilen der politisch interessierten Öffentlichkeit vehement und kontrovers diskutiert. Ein wichtiger Wegbereiter der jüdischen Emanzipation war der Rheinische Provinziallandtag, in dem die Liberalen im Laufe der Zeit eine starke Stellung erlangten. Als im Juli 1843 in Düsseldorf der 7. Rheinische Provinziallandtag zusammentrat, stand auf der Tagesordnung unter anderem die Beratung eines Regierungsentwurfs für die neue Gemeindeordnung, der den Ausschluss der Juden vom passiven Wahlrecht beinhaltete. Die führenden Köpfe des rheinischen Liberalismus sprachen sich gegen eine Schlechterstellung der Juden und für die Aufhebung des „Schändlichen Dekrets“ aus. Der 7. Rheinische Provinziallandtag verwarf schließlich mit großer Mehrheit den diskriminierenden Paragraph 48 der neuen Gemeindeordnung. Er erbat weiterhin am 13. Juli 1843 mit 68 zu 5 Stimmen die Aufhebung des Dekrets von 1808 und mit 54 zu 19 Stimmen die Vorbereitung der vollständigen Gleichstellung der Juden. Die Debatten des Provinziallandtags waren begleitet von einer Flut von Petitionen aus der Öffentlichkeit. Die Begeisterung nach der Abstimmung äußerte sich in zahlreichen Dankadressen für die liberalen Abgeordneten. Der Westfälische Provinziallandtag, in dem konservative und agrarische Interessen den Ton angaben, wollte diesem Beschluss noch nicht folgen. Die preußische Regierung lehnte die Beschlüsse des Rheinischen Provinziallandtags ohnehin ab. Fortschritte brachten die Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845, die das „Schändliche Dekret“ außer Kraft setzte, und das Gesetz „die Verhältnisse der Juden betreffend“ vom 23. Juli 1847. Dieses sah für ganz Preußen eine rechtliche Vereinheitlichung vor, regelte die Organisation der Synagogengemeinden und fixierte Niederlassungsfreiheit und das passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Die vollständige rechtliche Gleichstellung brachte schließlich 1869 das Gesetz, das für das Gebiet des Norddeutschen Bundes alle aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten
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Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte aufhob. Insbesondere war von nun an neben der Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung die Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig. Allerdings galt die Gleichstellung nicht für diejenigen Bereiche, die als Hoheitsaufgaben definiert wurden. Das Gesetz von 1869 wurde in die Deutsche Reichsverfassung von 1871 aufgenommen. Mit der schrittweisen Emanzipation gingen der ökonomische Aufstieg und der Eintritt zahlreicher jüdischer Familien in das Bürgertum einher. Die jüdische Bevölkerung stieg weiter an, und immer mehr Juden zogen vom Land in die Städte – der Beginn eines durchgreifenden Urbanisierungsprozesses. Den rasantesten Bevölkerungsanstieg hatte Köln zu verzeichnen, wo sich 1798 die erste jüdische Familie niederließ. Bereits 1808 wohnten in Köln 133 Juden und Jüdinnen, 1816 waren es 150, 1840 615, 1872 3.172, 1890 6.858, 1910 12.156, 1925 16.093 und 1933 14.819 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Auch in anderen größeren Städten des Rheinlands war ein signifikantes Wachstum der jüdischen Bevölkerung festzustellen: Aachen:
Düsseldorf:
1808
55
1816
Bonn:
1808
309
114
1828
747
1840
223
1871
987
1871/72
825
1905
1.503
1895
1.342
1933
1.268
1905
1.665
1933
1.345
1816
306
1807
32
1858
608
1817
43
1885
1.127
1845
91
1895
1.780
1870
226
1905
2.897
1889
455
1933
5.052
1905 1925
971
Duisburg:
1.597 (mit Ruhrort und Meiderich 2.084)
85
Einführung
Essen:
1816
279
1834
Krefeld:
1806
160
222
1850
551
1895
1.480
1858
780
1912
3.403
1925
1.626
1925
4.209
(Wuppertal-) Elberfeld:
1810
87
1850
134
um 1880
1.249
1905
1.754
1925
2.335
Die Entwicklung verlief allerdings regional unterschiedlich. Während die großen jüdischen Gemeinden im Rheinland und im Ruhrgebiet von der jüdischen Binnenwanderung profitierten, hatten beispielsweise der Niederrhein wie generell die ländlichen Regionen einen eklatanten Verlust an jüdischer Bevölkerung zu verzeichnen. Nicht wenige jüdische Kleingemeinden lösten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weitgehend auf. Beispiele für diese demografische Entwicklung, die mit dem Begriff der „jüdischen Landflucht“ umschrieben wird, sind im Rheinland das Dorf Titz-Rödingen bei Jülich, in dem 1872 59 jüdische Einwohner, in der Weimarer Zeit aber nur noch drei Juden lebten, sowie Pulheim-Stommeln in der Nähe von Köln und Issum am Niederrhein. In den drei Gemeinden blieben die schlichten Hinterhofsynagogen – in Issum mit Schulhaus und Mikwe – erhalten, die restauriert und als Begegnungsstätte, Kulturhaus und Kunstraum genutzt werden. Neben der Binnenwanderung ist seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch eine bemerkenswerte Auswanderung insbesondere ärmerer Juden nach Übersee festzustellen. Der Zuzug in die Mittel- und Großstädte eröffnete größere Chancen für den sozialen Aufstieg – und den Zugang zu besseren Schulen. Immer mehr Hausierern, Trödlern und kleinen Geldverleihern gelang der Sprung ins Bürgertum, in angesehenere berufliche Positionen. Sie bzw. ihre Söhne wurden Kaufleute, Manufakturwaren- und Einzelwarenhändler, Warenhausbesitzer, Bankiers, waren im Landhandel, in der Konfektionsbranche und im Stahl- und Metallhandel tätig. Der Bankier Salomon Oppenheim jr., der aus einer angesehenen jüdischen Familie in Bonn stammte, wurde im Jahre 1822 einstimmig zum Mitglied der Kölner Handelskammer gewählt. Er war der erste Jude, der in Köln ein öffentliches Amt bekleiden konnte. Sein Sohn Abraham wurde 1846 – allerdings nur für kurze Zeit – Mitglied des Stadtrats. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte die Familie Oppenheim als Förderer von Kunst und Kultur im öffentlichen Leben der Stadt Köln eine große Rolle. Auch wenn
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das soziale Prestige dieser jüdischen Familie mit ihrer Spitzenposition im wirtschaftlichen Bereich zu erklären ist, so war die Eingliederung von Einzelpersönlichkeiten doch Symbol und Katalysator für die Integration der jüdischen Gemeinschaft insgesamt. Auch in anderen und kleineren Städten engagierten sich Juden in den Gemeinde- und Stadträten sowie in Vereinen. Die Nachfahren der Familie Oppenheim konvertierten im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Christentum. Auch einige berühmte Kulturschaffende wie der Dichter Heinrich Heine oder der Komponist Jacques Offenbach ließen sich taufen, entweder aus persönlicher Überzeugung oder weil sie sich als Christen bessere berufliche Entfaltungsmöglichkeiten versprachen. So konnten Juden an den preußischen Universitäten vor 1918 nur nach erfolgter Taufe eine ordentliche Professur erhalten. Verbreitet stiegen Juden auch in das Bildungsbürgertum auf, wurden Juristen, Ärzte, Hochschullehrer, Journalisten. Im Kaiserreich gehörte schließlich die Mehrzahl der deutschen Juden dem politisch national und liberal eingestellten, aufstiegsorientierten bürgerlichen Mittelstand an. Die Integration in die bürgerliche Gesellschaft ging mit einem religiösen Wandel einher. Aus dem traditionellen Judentum entwickelten sich die modernen jüdischen Strömungen: Orthodoxie, konservatives und liberales Judentum, radikale Reform. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Gottesdienstreformen durchgeführt (deutschsprachige Predigten, Gebete und Lieder, Reformgebetbücher, Konfirmation der Kinder, Orgel, gemischter Chor), deren Einführung in zahlreichen Gemeinden erbittert umkämpft wurde. Für Deutschland typisch waren die Einheitsgemeinden, die alle jüdischen Bewohner eines Ortes bzw. einer Region zusammenfassten und dabei entweder einer oder – wie in vielen großstädtischen Gemeinden – den verschiedenen religiösen Richtungen verpflichtet waren. Seit Mitte der 1870er Jahre entstanden aber auch streng orthodoxe Gemeinden, die den Austritt aus den Großgemeinden wagten, wie die orthodoxe „Austrittsgemeinde“ Adass Jeschurun in Köln, die 1884 ihre eigene Synagoge einweihte und seit 1910 einen eigenen Friedhof unterhielt. Die vermehrte Zuwanderung von Juden aus Osteuropa, den sogenannten Ostjuden, führte zu einer weiteren Diversifizierung des religiösen Lebens. Zahlreiche, oft landsmannschaftlich organisierte Gruppierungen unterhielten eigene kleine Betsäle, Mikwen und Religionsschulen. In Köln gab es um 1930 neun solcher Betsäle. Während sich die Mehrzahl der jüdischen Gemeinden in den größeren rheinischen Städten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als liberal begriff und Modernisierungen aufgeschlossen gegenüberstand, hielt man in ländlichen Gegenden eher an den religiösen Traditionen fest. Mit dem Wachstum der Gemeinden und dem steigenden Wohlstand ihrer Mitglieder ging eine Blüte der Gemeindeeinrichtungen einher. Die traditionelle religiöse Kinderschule für Jungen (Cheder) mit ihren schlecht ausgebildeten und schlecht bezahlten Lehrkräften wurde von schulischen Reformeinrichtungen abgelöst, die religiöse
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mit weltlicher Allgemeinbildung zu verbinden suchten. Allerdings besuchten immer weniger Kinder die jüdischen Schulen, in denen nun Jungen und Mädchen unterrichtet wurden. Viele Eltern schickten ihre Kinder auf allgemeine Schulen, in denen sie nur gesonderten Religionsunterricht erhielten. Wichtig für den sozialen Aufstieg wurde der Besuch von Höheren Bürgerschulen, Gymnasien oder Reformrealgymnasien, die vielfach den Weg zur Universität ebneten. Jüdische Schulen hielten sich vor allem auf dem Lande. In den Großstädten wurden sie zunehmend von Kindern besucht, die aus ärmeren und/oder ostjüdisch-orthodoxen Familien stammten. Die Ausbildung, wenn auch nicht immer die Besoldung der Lehrer wurde mit der Zeit verbessert. Neben den staatlichen Seminaren waren der von Alexander Haindorf 1826 gegründete „Verein zur Beförderung von Handwerken unter den Juden und zur Errichtung einer Schulanstalt“ in Münster, der auch ins Rheinland hinein wirkte, sowie das 1876 von Düsseldorf nach Köln verlegte „Jüdische Lehrerseminar“ wichtige Ausbildungsstätten. In Köln wurde 1919 auch die einzige jüdische höhere Schule des Rheinlands, das Reformrealgymnasium „Jawne“, gegründet. Ein breit gefächertes System von Wohlfahrtseinrichtungen entstand, von jüdischen Kindergärten über Waisen- und Kinderheime zu Einrichtungen für alte und pflegebedürftige Menschen sowie Volksküchen. In Köln, zunächst in der Südstadt, dann in Ehrenfeld, stand das einzige jüdische Krankenhaus im Rheinland, das „Israelitische Asyl für Kranke und Altersschwache“. Zahlreiche Vereine – jüdische Sportund Jugendvereine, Wandervereine, Studentenverbindungen, wohltätige Vereine – vervollständigten das Netzwerk. Auch im Synagogenbau waren Veränderungen festzustellen. Im Zuge der voranschreitenden Emanzipation entstanden mehr und mehr jüdische Gotteshäuser, die den Anspruch der jüdischen Bürger unterstrichen, Teil der deutschen Gesellschaft zu sein. In den Großstädten, aber auch in kleineren Orten konnten Synagogen erstmals in exponierter Lage errichtet werden, an der Hauptstraße, am Markt und neben der Kirche. Die Synagogen waren Gotteshäuser einer konfessionellen Minorität, wurden nun aber als bauliche Bezugspunkte im städtischen und dörflichen Leben akzeptiert. Festredner rühmten während der Einweihungsfeierlichkeiten häufig das neue Gotteshaus als „Zierde der Stadt“. Die architektonischen Spitzenobjekte in den Großstädten wurden überwiegend euphorisch aufgenommen. Einige Gemeinden und ihre Architekten versuchten, die zeitgenössische Kirchenbauweise zu adaptieren, wobei die Neoromanik bevorzugt wurde. Das war zum Beispiel in Köln in der Roonstraße, Düsseldorf, Mülheim an der Ruhr oder Solingen der Fall. Andere Gemeinden strebten danach, einen eigenen, als spezifisch jüdisch definierten Baustil zu verwirklichen, der die damals vor allem für Profanbauten allgemein beliebten „neoislamischen“ oder orientalisierenden Formen aufnahm, wie in Köln in der Glockengasse, in Bonn, Aachen, Düren, Euskirchen, Erftstadt-Lechenich oder noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Bonn-Poppelsdorf. Bauten im klassizistischen Stil waren dagegen recht selten, Beispiele findet man in
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Kleve oder Krefeld. Die Gotik wurde wegen ihres ausgeprägt christlich-religiösen Symbolgehalts von jüdischen Gemeinden fast nie favorisiert. Synagogenbau war im 19. und 20. Jahrhundert eine Gratwanderung zwischen dem Versuch, jüdische Identität zu visualisieren, und der Gefahr, durch Anpassung an den Stil christlicher Sakralbauten Selbstaufgabe zu signalisieren. Weder die Befürworter neoromanischer Gestaltung noch die Wortführer einer neoislamischen Stilrichtung schufen reine Formen: Im Zeitalter des Historismus wurden fast ausnahmslos vom stilistischen Eklektizismus geprägte Entwürfe realisiert. So ließ beispielsweise die jüdische Gemeinde in Krefeld 1903 einen ursprünglich klassizistischen Bau mit einem Stuckmantel in gotisierenden Formen verkleiden, der durch Renaissance-Elemente ergänzt wurde. Insgesamt waren die Synagogenbauten von einer Orientierung an profaner Architektur geprägt. Jenseits aller Stilfragen waren die Gotteshäuser, die zumeist von christlichen Architekten entworfen wurden, Teil einer gemeinsamen Kultur von Juden und Nichtjuden in Deutschland, an vielen Orten prägten sie den Stadtraum. Neue, moderne Wege wiesen 1913 die Synagogenbauten in Linnich und insbesondere in Essen. In den Kleinstädten und Dörfern entstanden überwiegend architektonisch schlichte Bauten. Sie standen auf rechteckigem Grundriss, waren vorzugsweise aus Ziegelsteinen erbaut und mit einem Sattel- oder Walmdach geschlossen, hatten vielleicht einen kleinen Vorraum im Westen und einen apsisähnlichen Anbau im Osten, wiesen Rundbogenfenster auf und waren höchstens mit einem Fries unter der Traufe und Aufsätzen geschmückt. Wer etwas aufwändiger bauen wollte, blendete eine Fassade mit Treppengiebel vor, brachte Dekalogtafeln, Davidsterne oder Inschriften an und gestaltete einen Vorgarten. In sehr kleinen Gemeinden oder auch in manchen orthodoxen Separatgemeinden wurde der Gottesdienst weiterhin in Beträumen gefeiert, die in Privathäusern untergebracht waren. Als Unikum kann ein ostjüdischer Betsaal in Remscheid gelten, dessen vier Wände mit Tiermotiven und biblischen Szenen ausgemalt waren – eine vor allem in Osteuropa weit verbreitete Ausstattungsweise von Synagogeninnenräumen. Um 1900 bestanden im Rheinland (bezogen auf den rheinischen Teil des heutigen Landes Nordrhein-Westfalen) 150 Synagogen, wozu noch zahlreiche Beträume in Privathäusern kamen. Insgesamt kommt man vermutlich auf das vier- bis fünffache der in der Frühen Neuzeit vorhandenen Gottesdiensteinrichtungen. Der lange und nicht geradlinige Weg der Integration der jüdischen Minderheit in die bürgerliche Gesellschaft ist auch an der Lage und Größe der Friedhöfe sowie an der Gestaltung der Anlagen und der Inschriften abzulesen. Im 19. Jahrhundert wurden die meisten jüdischen Friedhöfe im Rheinland angelegt, die nun anders als in der Frühen Neuzeit überwiegend auch Eigentum der Synagogengemeinden waren. An die Stelle der Begräbnisplätze vor der Stadtmauer, weit draußen im Wald oder in steiler Hanglage traten innerstädtische oder stadtnahe Friedhöfe, die in den größeren Städ-
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ten teilweise mit monumentalen Eingangshallen ausgestattet waren. Die neuen Friedhöfe wurden entsprechend den allgemeinen Trends der Sepulkralkultur nach Plan angelegt und gärtnerisch gestaltet. Bestattet wurde nunmehr in gekennzeichneten Reihen und Feldern. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Parkfriedhöfe angelegt. Friedhofsordnungen sorgten für einen würdevollen Ablauf der Bestattungen. Eine wichtige, für das 19. Jahrhundert typische Veränderung betrifft die Entwicklung der Grabsteininschriften: Anstelle der ausschließlich hebräischsprachigen Inschriften der Frühen Neuzeit kamen im 19. Jahrhundert zweisprachige Texte auf, wobei die hebräischen Teile allmählich zugunsten der deutschen zurückgedrängt wurden. Eine wirkliche Zweisprachigkeit gab es allerdings selten, entweder dominierte der hebräische oder der deutsche Text; insgesamt wurden die Inschriften immer floskelhafter. Am Ende der Entwicklung stand die bloße Nennung von Namen und Lebensdaten. Auch auf dem Land ist diese Entwicklung festzustellen, wenn auch nicht in der gleichen Intensität wie in den Städten. Orthodoxe Gemeinden hielten überall an der traditionellen Gestaltung fest. Insbesondere galt das für den Niederrhein, eher modern war man in Westfalen. Pluralismus und Individualismus hielten Einzug in die Sepulkralkultur. Granit und Marmor verdrängten häufig die schlichten Sandsteinstelen. Die Grabsteine wurden mit Reliefs geschmückt, die Trauermotive zeigten oder auf die Arbeitswelt des Verstorbenen hinwiesen. Auch Porträts waren nicht mehr verpönt, gelegentlich wurden sogar freiplastische Skulpturen aufgestellt. Engelsfiguren, Obelisken, gebrochene Säulen, geknickte Rosen, (Schein-) Sarkophage, Mausoleen, Urnen, Pult- und Kissensteine wurden immer beliebter. Manche Grabsteine erhielten kunstvolle schmiedeeiserne Einfassungen. Die Grabmäler repräsentierten vielfach den sozialen Aufstieg, Wohlstand und die bürgerliche Lebensweise der jüdischen Familien. Der neue Status ließ sich besonders gut mit sogenannten Erbbegräbnissen in hervorgehobenen Lagen dokumentieren, die es früher auf jüdischen Friedhöfen nicht gegeben hatte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts rief der Verlust an Sepulkralkultur auf jüdischen wie auch auf christlichen Friedhöfen eine Reformbewegung auf den Plan. Im jüdischen Bereich ist ihr Anliegen vor allem mit dem Namen des Düsseldorfer Bildhauers Leopold Fleischhacker (1882–1938) verbunden, dessen innovative Entwürfe sich vielerorts im Rheinland finden. Im Rheinland (bezogen auf den rheinischen Teil von NRW) sind heute noch 207 Friedhöfe erhalten. Man muss zusätzlich mit etwa 80 Begräbnisstätten rechnen, die als Anlagen im Laufe der Zeit verschwunden oder als jüdische Friedhöfe nicht mehr erkennbar sind. Die Emanzipation der Juden ist nie unangefochten von allen gesellschaftlichen Gruppierungen akzeptiert worden. Die Wirtschaftskrise von 1873, die drei Jahre später durch eine Agrarkrise verschärft wurde, brachte mit dem Niedergang des die Modernisierung tragenden Liberalismus neue Gefahren mit sich. Die stets latent vorhan-
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dene Judenfeindschaft gewann eine neue Dimension, indem der traditionelle Antijudaismus aus christlichem Vorurteil, der vor allem in ländlichen Regionen weiterhin verbreitet war, durch einen rassistisch geprägten Antisemitismus überformt wurde. Getragen von so einflussreichen Verbänden und Gruppierungen wie dem „Deutschnationalen Handlungsgehilfenverein“, dem „Bund der Landwirte“, der Konservativen Partei und weiten Teilen der Professorenschaft an den Universitäten sowie manchen Studentenverbindungen machte sich der neue Antisemitismus in der Gesellschaft breit. Die Kombination von tief verwurzeltem christlichen Antijudaismus, der zum Beispiel in den Ritualmordbeschuldigungen von 1819 in Dormagen und 1834 in Neuenhoven (heute Gemeinde Jüchen) seinen Ausdruck fand, mit einem wissenschaftlich verbrämten biologistisch-rassistischen Antisemitismus führte zur Radikalisierung längst überwunden geglaubter Vorurteile. 1892 führte eine substanzlose Ritualmordbeschuldigung zu einem Prozess gegen den Xantener Metzger Adolf Buschhoff vor dem Klever Landgericht. Auch wenn dieser mit einem Freispruch des Angeklagten endete, war dessen Lebensplanung zerstört. Von Xanten bis zu den Dörfern um Neuss und Grevenbroich tobten am Ende des 19. Jahrhunderts Ausschreitungen, die zahlreiche jüdische Familien zur Abwanderung in die größeren Städte des Rheinlands veranlassten. Ausgelöst durch den erstarkenden Antisemitismus formierte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine breite jüdische Abwehrbewegung: 1890 wurde der konfessions- und parteiübergreifende „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ und 1893 der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (C.V.) gegründet, in dem die seit Jahrzehnten akkulturierten, bürgerlich-liberalen deutschen Juden organisiert waren, die das Streben nach einer jüdischen Nation als unzeitgemäß ablehnten. Diese Forderung hatte indessen die sich formierende zionistische Bewegung auf ihre Fahnen geschrieben, die mit dem Erstarken des Antisemitismus das emanzipatorische Programm des Diaspora-Judentums als gescheitert erklärte und eine „Lösung der Judenfrage“ nur in der Schaffung einer nationalen Heimstätte der Juden in Palästina sah. Ein Zentrum des Zionismus wurde Köln, die Heimatstadt von Moses Hess (1812–1875), der bereits 1862 in seinem Buch „Rom und Jerusalem“ den Aufbau eines jüdischen Staates gefordert hatte. Spätere Protagonisten des rheinischen Zionismus waren Justizrat Dr. Max Isidor Bodenheimer (1865–1940) und der aus dem russisch-litauischen Gouvernement Kowno stammende Holzhändler David Wolffsohn (1856–1914). 1896 veröffentlichte Bodenheimer die von ihm verfassten „Thesen der National-jüdischen Vereinigung Köln“, die sogenannten „Kölner Thesen“, die der erste zionistische Weltkongress in Basel 1897 mit kleineren Änderungen als Programm annahm. Nach dem Tode Theodor Herzls 1904 wurde Wolffsohn Präsident der Zionistischen Weltorganisation. Damit war Köln bis 1911 Zentrum des internationalen Zionismus. Der politische Zionismus konnte allerdings in Deutschland vor 1933 keine Breitenwirkung entwickeln und blieb eine Angelegenheit kleiner
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intellektueller und studentischer Gruppen und der aus Osteuropa stammenden Juden und Jüdinnen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellten sich auch die rheinischen Juden unabhängig von ihrer politischen und religiösen Orientierung vorbehaltlos hinter die Politik der Reichsregierung. Viele Männer meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst; Gemeinden und Vereine bauten ein engmaschiges karitatives Netzwerk auf. Jüdische Zeitungen druckten Durchhalteparolen und Rabbiner hielten patriotische Predigten. Umso enttäuschender musste sich die 1916 vom preußischen Kriegsministerium angeordnete spezielle „Judenzählung“ auswirken, die auf rechtsradikale und nationalistische Propaganda zurückging. Angesichts der ausbleibenden Kriegserfolge Deutschlands suchte man nach Sündenböcken. Die Ergebnisse der Zählung, die die Behauptung, Juden drückten sich vor dem Einsatz an der Front, Lügen straften, wurden bezeichnenderweise erst nach 1918 veröffentlicht. 12.000 Juden ließen im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite ihr Leben. Als Reaktion auf die fortgesetzte Agitation antisemitischer und völkischer Kreise bildete sich 1919 der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“, der in zahlreichen Städten des Rheinlands Ortsgruppen hatte. In unzähligen Synagogen wurden Gedenktafeln für die jüdischen Gefallenen gestiftet und auf den Friedhöfen zahlreiche Mahnmale eingeweiht, so noch 1934 das Ehrenmal auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Bocklemünd. Gerade in den ersten Jahren der Weimarer Republik waren „Ostjuden“, die als Kriegsgefangene und Zivilarbeiter nach Deutschland gekommen waren, eine Hauptzielscheibe antisemitischer Propaganda. Nach 1918 wanderten verstärkt Juden aus Osteuropa nach Deutschland ein, wobei das Ruhrgebiet und die Großstädte Köln, Düsseldorf, Duisburg und Essen bevorzugte Niederlassungsorte waren. Von vielen alteingesessenen deutschen Juden wurden die Neuankömmlinge mit mildtätigen Gaben bedacht, aber auch der kulturellen Rückständigkeit verdächtigt und mit kaum versteckter Ablehnung betrachtet. Die Weimarer Republik, die für Juden und Jüdinnen endlich die vollständige staatsbürgerliche Gleichberechtigung brachte, bestätigte zunächst das Konzept der Akkulturation, das erfolgreiche Miteinander von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen. Gerade in den 1920er Jahren entwickelten die Juden im Rheinland ein eigenständiges Selbstbewusstsein und den Willen, mit ihren Leistungen und kulturellen Traditionen in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten. Drei besonders glanzvolle Beispiele waren 1925 die jüdische Abteilung der „Jahrtausendausstellung der Rheinlande“ in Köln, 1926 die Sonderausstellung „Hygiene der Juden“ im Rahmen der Düsseldorfer Messe „Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen“ (Gesolei) sowie 1928 die „Jüdische Sonderschau“ auf der Kölner Presseausstellung „Pressa“. Jüdische Bürger und Bürgerinnen nahmen in dieser Zeit wesentlichen Einfluss auf das öffentliche Leben und prägten das geistige und kulturelle Klima entscheidend mit.
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Jüdische Persönlichkeiten leisteten in der Weimarer Republik einen wichtigen Beitrag zur politischen und gesellschaftlichen Liberalität und zum intellektuellen und künstlerischen Fortschritt in der Region; die jüdische Bevölkerung war scheinbar gut integriert. Aber Krisensymptome waren nicht zu übersehen: Neben der rasanten Zunahme gemischt konfessioneller Ehen gehörten dazu die Vielfalt der religiösen und politischen Orientierungen, die an Zersplitterung grenzte, sowie eine um sich greifende religiöse Indifferenz. Die immer noch einseitige Berufsstruktur der jüdischen Minderheit konnte in wirtschaftlichen Krisenzeiten katastrophale Folgen haben; schon seit den 1920er Jahren ließ sich eine zunehmende Verarmung beobachten. Hinzu kamen schließlich die wachsende Hilflosigkeit gegenüber einem aggressiven, sich politisch organisierenden, immer bedrohlicher werdenden Antisemitismus und die Erfahrung einer zumindest schleichenden Ausgrenzung aus Teilbereichen des gesellschaftlichen Lebens schon lange vor 1933.
2. Politisch-rechtliche Rahmenbedingungen 13 Der Präfekt des Rur-Départements erläutert die napoleonische Judenpolitik bei der Einweihung der neuen Synagoge in Goch, 1812 1812–1912 Festschrift zur Erinnerung an die feierliche Einweihung der Synagoge zu Goch bei Gelegenheit des 100jährigen Bestehens am 7. Juni 1912, Goch 1912, nicht paginiert Stadtarchiv Goch, D 627
Jean Charles François de Ladoucette (1772–1848), Präfekt des Rur-Départements, eines von den französischen Behörden eingeführten größeren Verwaltungsbezirks, hielt die folgende Festrede am 7. Juni 1812 aus Anlass der Einweihung der neuen Synagoge in der Herzogenstraße in Goch. Der hohe französische Verwaltungsbeamte sprach zu einer Festversammlung, zu der sich die jüdische Gemeinde Gochs sowie nichtjüdische Gocher versammelt hatten. Der Text formuliert sehr pathetisch die Grundlinien der französischen „Judenpolitik“, die auch für die linksrheinischen deutschen Gebiete galten, die seit 1801 Bestandteil des französischen Staatsgebiets waren. Es wird der Beginn einer „neuen Zeit“, einer „schönen Morgenröte“ für die Juden beschworen. Der Neubeginn ist bereits in der Vorgeschichte der Zeremonie greifbar: Die Gocher jüdische Gemeinde wollte die Einweihung des neuen Gotteshauses mit einem feierlichen Umzug begehen, in dessen Verlauf die Tora-Rollen vom alten Bethaus in die neu errichtete Synagoge überführt werden sollten. Dieser Absicht stand das
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Jüdische Persönlichkeiten leisteten in der Weimarer Republik einen wichtigen Beitrag zur politischen und gesellschaftlichen Liberalität und zum intellektuellen und künstlerischen Fortschritt in der Region; die jüdische Bevölkerung war scheinbar gut integriert. Aber Krisensymptome waren nicht zu übersehen: Neben der rasanten Zunahme gemischt konfessioneller Ehen gehörten dazu die Vielfalt der religiösen und politischen Orientierungen, die an Zersplitterung grenzte, sowie eine um sich greifende religiöse Indifferenz. Die immer noch einseitige Berufsstruktur der jüdischen Minderheit konnte in wirtschaftlichen Krisenzeiten katastrophale Folgen haben; schon seit den 1920er Jahren ließ sich eine zunehmende Verarmung beobachten. Hinzu kamen schließlich die wachsende Hilflosigkeit gegenüber einem aggressiven, sich politisch organisierenden, immer bedrohlicher werdenden Antisemitismus und die Erfahrung einer zumindest schleichenden Ausgrenzung aus Teilbereichen des gesellschaftlichen Lebens schon lange vor 1933.
2. Politisch-rechtliche Rahmenbedingungen 13 Der Präfekt des Rur-Départements erläutert die napoleonische Judenpolitik bei der Einweihung der neuen Synagoge in Goch, 1812 1812–1912 Festschrift zur Erinnerung an die feierliche Einweihung der Synagoge zu Goch bei Gelegenheit des 100jährigen Bestehens am 7. Juni 1912, Goch 1912, nicht paginiert Stadtarchiv Goch, D 627
Jean Charles François de Ladoucette (1772–1848), Präfekt des Rur-Départements, eines von den französischen Behörden eingeführten größeren Verwaltungsbezirks, hielt die folgende Festrede am 7. Juni 1812 aus Anlass der Einweihung der neuen Synagoge in der Herzogenstraße in Goch. Der hohe französische Verwaltungsbeamte sprach zu einer Festversammlung, zu der sich die jüdische Gemeinde Gochs sowie nichtjüdische Gocher versammelt hatten. Der Text formuliert sehr pathetisch die Grundlinien der französischen „Judenpolitik“, die auch für die linksrheinischen deutschen Gebiete galten, die seit 1801 Bestandteil des französischen Staatsgebiets waren. Es wird der Beginn einer „neuen Zeit“, einer „schönen Morgenröte“ für die Juden beschworen. Der Neubeginn ist bereits in der Vorgeschichte der Zeremonie greifbar: Die Gocher jüdische Gemeinde wollte die Einweihung des neuen Gotteshauses mit einem feierlichen Umzug begehen, in dessen Verlauf die Tora-Rollen vom alten Bethaus in die neu errichtete Synagoge überführt werden sollten. Dieser Absicht stand das
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Verbot der französischen Regierung entgegen, öffentliche Umzüge mit religiösem Charakter abzuhalten. Auch ein Gespräch der Repräsentanten der jüdischen Gemeinde mit Bürgermeister van den Bosch führte zu keinen Resultaten. Er gab ihnen allerdings den Rat, persönlich beim (Unter-) Präfekten in Kleve vorzusprechen. Als Beauftragter der Gemeinde reiste der Vorsteher Josef Heymann zu Pferd nach Kleve. Nach einiger Zeit kehrte Heymann hocherfreut zurück: Er brachte nicht nur die Genehmigung für den Umzug mit, sondern sogar die Zusage des Präfekten, die Festrede während der Einweihungsfeierlichkeiten zu halten. Bürgermeister van den Bosch reagierte auf die freudige Nachricht mit den Worten: „Nau Myn Heer Heymann trekke we erst driemohl öm de Märt“, was auch geschah. In den Jahren nach der Besetzung des Rheinlands durch die französischen Revolutionsarmeen 1794 wurde die Gewährung der Menschen- und Bürgerrechte auch für die Juden sukzessive Realität. Alle Sondergesetze und Sonderregelungen, die die Judenschaften vor der Französischen Revolution zu einem Dasein am Rande der ständischen Gesellschaft verurteilt hatten, wurden weitgehend aufgehoben. Im Jahre 1802 wurden die Gesetze und Verordnungen der französischen Revolutionsregierung auch in den vier rheinischen Départements eingeführt. An den Grundsatz, dass die Juden gleichberechtigte Bürger waren, knüpfte auch Ladoucette an. Er schätzte die napoleonische Gesetzgebung als beispielhaft ein. Napoleon, der die korporativ organisierten jüdischen Untertanen als Fremdkörper im Staat betrachtete, ging es vor allem um die vollständige Integration dieses Bevölkerungsteils in die französische Nation. Das Zugeständnis der religiösen Toleranz und staatsbürgerlichen Emanzipation sollte durch Gegenleistungen und Wohlverhalten, durch „Assimilation“ (Régénération) erkauft werden. Die Emanzipation wurde als Erziehungsprozess betrachtet. Ladoucette spricht zwei wichtige Punkte an: Die jüdischen Staatsbürger hätten ihre Loyalität gegenüber der französischen Nation und dem Herrscher durch ihre Einreihung in die kaiserliche Armee unter Beweis zu stellen. Zum anderen wird eine Überwindung der spezifisch jüdischen Berufsstruktur für notwendig erachtet: Juden müssten sich vermehrt für „bürgerliche“ Berufe (Handwerk, Künste, Landwirtschaft, „ehrbare“ Gewerbetätigkeit) entscheiden. Mit den Schlagworten „nationale Zuverlässigkeit“ und „Berufsumschichtung“ sind zwei „Dauerbrenner“ der Emanzipationsdebatte der nächsten Jahrzehnte benannt. An dieser Stätte, die der Anbetung des Allerhöchsten geweiht ist, in dieser Versammlung von angesehenen und achtungswerten Männern dieser Stadt und ihrer Umgebung, umgeben von Bekennern aller Konfessionen, die unter dem Szepter unseres erhabenen Fürsten anerkannt sind, ergreife ich das Wort, um zur Uebergabe dieses Gebäudes an die hier versammelten Israeliten1 in Goch, denen es zur Synagoge dienen soll, zu schreiten. Dieser Tag ist ein feierlicher, ein Freudentag für diejenigen, die sich zur mosaischen2 Religion bekennen, ein Tag der Freude für denjenigen, der von ganzem Herzen seinen Mitbürgern die Freiheit des religiösen
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Bekenntnisses gönnt. Und mir im Besonderen ist es eine angenehme Aufgabe, an dieser Stelle der Dolmetsch der Gefühle meiner untergebenen Verwaltungsbeamten bei den so lange unterdrückten und verfolgten Glaubensbekennern zu sein. Es ist ein schönes Schauspiel für mich, die Nachkommen des ältesten Volkes der Erde vor mir zu sehen, die Sprösslinge eines Stammes, dessen Schicksale zu den ausserordentlichsten gehören, welche jemals die Geschichte in ihren Annalen zu verzeichnen hat. Dieser Tag ist doppelt feierlich. Dieses Schauspiel ist doppelt interessant, wenn man bedenkt, dass die Unglücksfälle und Leiden der Bekenner der mosaischen Religion erst in unseren Tagen aufgehört haben, und dass Napoleon, eben so gross als Gesetzgeber, wie als Kriegsheld, der Erste gewesen ist, der durch weise und dauerhafte Gesetze diesem unglücklichen Ueberreste die Freiheit zur Ausübung der bürgerlichen und religiösen Rechte zugestanden hat. Eine schöne Morgenröte hat endlich begonnen, diesen Menschen zu leuchten, welche seit Jahrhunderten allen Grausamkeiten einer barbarischen Verfolgung preisgegeben, nicht aufgehört haben der mosaischen Religion treu zu bleiben. Aber ich muss auch hinzufügen, dass es von den Israeliten allein abhängen wird, dass diese Morgenröte sich in den schönsten und längsten Tag verwandele. Diese glückliche Zukunft ist an Vorbedingungen geknüpft, die Napoleon, der Gesetzgeber für Jahrhunderte, indem er den Israeliten dieselben Rechte, wie allen anderen Bürgern einräumte, in seiner väterlichen Weisheit festgestellt hat. Ohne in’s Einzelne dessen einzugehen, was eine weise und aufgeklärte Regierung von denen fordert und erwartet, die zur mosaischen Lehre sich bekennen, kann ich diese Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, ohne in dieser Synagoge meine Wünsche vorzubringen, welche im Einklange mit denen der Regierung stehen. Einer dieser Wünsche ist, dass an diesem heiligen Orte oft und sehr oft von den Pflichten gesprochen werde, die uns an den Fürsten und seine erhabene Familie binden, dass die Pflicht, dem Kaiser in seinen Heeren zu dienen eurer Jugend mit Nachdruck und Begeisterung vorgehalten, dass die Schuldigkeit, allen Franzosen heilig und mit eurer Religion vereinbar, sich unter die Fahnen jenes unbesiegbaren Helden zu scharen, ihr von der zartesten Kindheit angelehrt werde, ich berede mich gerne, dass die Väter und Mütter sich beeifern, ihren Kindern bürgerliche und religiöse Gesinnungen einzuflössen, und dass, wenn sie die Synagoge verlassen, erleuchtet durch den Diener der mosaischen Religion, sie nur mit Verachtung den Namen derjenigen ihrer Kinder aussprechen würden, welche wie feige Ueberläufer die Fahne der Ehre verlassen haben würden, als Abtrünnige sich weigern würden, das Vaterland und den Fürsten zu verteidigen. Ein anderer jener Wünsche, welche meine Funktion und mein Herz mich drängt kund zu geben, ist, dass alle Israeliten meines Verwaltungsbezirkes, denen ich im Allgemeinen meine Achtung nicht versagen kann, anfangen, durch die Ausleger des mosaischen Gesetzes angefeuert, sich auf Handwerke und Künste zu verlegen und die verschiedenen Zweige der Landwirtschaft und einer ehrbaren Gewerbstätigkeit zu kultivieren. Der mosaische Religionsbekenner muss als verständiger Landmann den Boden,
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den er bewohnt, bebauen, da er sich heute nicht mehr als Wanderer oder Fremder auf französischem Boden betrachten kann, wo uns gleich vor dem Gesetze, Ihr unsere Brüder sowohl, wie unsere Mitbürger geworden seid. Und Sie, Diener der mosaischen Religion, geschätzt von der Obrigkeit und als Mensch bei Ihren Mitbürgern, tragen Sie aufs Eifrigste dazu bei, dass diese heilsamen Wünsche verwirklicht, die Liebe zum Fürsten, der Gehorsam gegen unsere Gesetze, die Redlichkeit und Rechtschaffenheit inmitten Eurer Familien heimisch werden. Unter diesen Gesichtspunkten allein und mit diesen großen Hoffnungen übergebe ich Eure Synagoge mit den Wünschen, dass die Israeliten in Goch und meines Bezirks fortfahren mögen, sich durch ihre Anhänglichkeit an den Fürsten auszuzeichnen, und dass an diesem feierlichen Tage der Ausdruck unserer Liebe tausendmal wiederholt werde durch den nationalen Ruf! ES LEBE DER KAISER!
Anmerkungen 1 Der Begriff „Israeliten“, der sich von Israel, dem zweiten Namen des Stammvaters Jakob, ableitet (1. Mose 32,29), ging um 1800 in die Amtssprache des napoleonischen Frankreich und der besetzten Gebiete ein. Die Bezeichnungen „Israelit“ und „israelitisch“ beziehen sich im Wesentlichen als Synonyme für „Jude“ und „jüdisch“ auf den konfessionellen Charakter des Judentums. Im Laufe der Zeit erhielten die Begriffe in der nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft und auch innerjüdisch einen positiveren Klang als „Jude“, „Judentum“, „jüdisch“: Wer im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Grundsatz der political correctness wahren wollte, sprach von „Israelit“ und „israelitisch“. 2 Das oben Gesagte gilt auch für den Begriff „mosaisch“, abgeleitet von Moses als Stifter der jüdischen Religion.
Literatur Hansgeorg Molitor, Die Juden im französischen Rheinland, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u.a. (Hg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 87–94; Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz (Hg.), Dokumentation zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Rheinland-Pfalz und im Saarland von 1800 bis 1945, Bd. 1: Zur rechtlichen Situation der Juden im 18. Jahrhundert. Die Juden in der Französischen Zeit von 1798/1801 bis 1814, Koblenz 1982, insbes. S. 67–282; Jörg Engelbrecht, Die französische Judenpolitik und Judengesetzgebung im Rheinland, in: Geschichte der Juden im Kreis Viersen, Viersen 1991, S. 39–49; Arno Herzig, Die erste Emanzipationsphase im Zeitalter Napoleons, in: Peter Freimark u.a. (Hg.), Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung, Hamburg 1991, S. 130–147; Bastian Fleermann,
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Napoleon und die Judenemanzipation. Die rheinischen und westfälischen Juden zur Zeit der französischen Vorherrschaft unter besonderer Berücksichtigung des Großherzogtums Berg, in: Veit Veltzke (Hg.), Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 307–324; Jean Charles François Ladoucette, Reise im Jahre 1813 und 1814 durch das Land zwischen Maas und Rhein, hg. von Birgit Gerlach, Mönchengladbach 2009
14 Eingabe der Juden der linken Rheinseite an den Rheinischen Provinziallandtag gegen das „Schändliche Dekret“, 1826 Dieter Kastner (Bearb.), Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland 1825–1845. Eine Dokumentation, Teil 1, Köln/Bonn 1989, S. 134
Am 23. November 1826 formulierten vier Interessenvertreter der in den linksrheinischen Gebieten Preußens wohnenden Juden eine Petition an den von König Friedrich Wilhelm III. einberufenen Rheinischen Provinziallandtag, der unter anderem über Aspekte der jüdischen Emanzipation zu beraten hatte. Petitionen waren damals das einzige Medium, in dem sich die jüdischen Untertanen wirkungsvoll öffentlich äußern konnten. Die vier Honoratioren aus Koblenz, Simmern und Kreuznach nahmen zu einem Zentralthema der Emanzipationsdebatte Stellung, dem am 17. März 1808 von Napoleon als Reaktion auf Berichte über den angeblichen Wucher von Juden im Elsass und in Lothringen zum Schutz der Landbevölkerung erlassenen sogenannten „Schändlichen Dekret“ (Decrèt infâme). Das Dekret schränkte die Niederlassungsfreiheit und Erwerbstätigkeit der Juden erheblich ein und bedeutete allgemein eine empfindliche Minderung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden mit ihren nichtjüdischen Mitbürgern. Es unterwarf Schuldverschreibungen, Wechsel und Obligationen von Juden einem scharfen Kontrollverfahren und beschnitt die Zinsfreiheit. Die wirtschaftliche Betätigung von Juden war von vornherein unter das Verdikt des Betrugs und Wuchers gestellt. Bei ihnen lag die Beweislast, dass sie nicht betrogen hatten. Nicht weniger diskriminierend war der Zwang, ein Gewerbepatent einzuholen, das zunächst der Präfekt, ab 1815 dann der preußische Regierungspräsident auf Vorschlag der jeweiligen Ortsbehörde ausstellte und dem ein Leumundszeugnis des Oberrabbiners beizulegen war. Nur „patentierte Juden“ durften ein Gewerbe ausüben. Das Patent war jedes Jahr zu erneuern. Es liegt auf der Hand, dass mit dem Patentierungsverfahren die jüdischen Gewerbetreibenden in eklatanter Weise dem Wohlwollen bzw. der Willkür der lokalen Bürokratie ausgesetzt waren. Weiterhin bestimmte das Dekret, dass sich in den beiden elsässischen Départements Ober- und Unterrhein keine Juden niederlassen durften und in den übrigen
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Départements nur dann, wenn sie Landbesitz erwerben oder Ackerbau betreiben würden. Auch mussten die Juden ihren Militärdienst persönlich ableisten; sie durften nicht – wie alle anderen Bürger – bezahlte Stellvertreter stellen. Das Dekret war zunächst auf zehn Jahre befristet. Als 1815 die ehemals französischen Landesteile des Rheinlands an Preußen fielen, blieben die Bestimmungen in Kraft, wurden aber zunehmend zum Stein des Anstoßes. In den rechtsrheinischen Territorien besaßen sie keine Gültigkeit. Die erste große Protestwelle formierte sich 1818 vor Ablauf der Geltungsfrist des Dekrets. Damals wurden zahlreiche Petitionen formuliert, so zum Beispiel von Heinrich Marx aus Trier, dem Vater von Karl Marx. Eine Erhebung bei den preußischen Provinzialregierungen sollte prüfen, wie sich die Verhältnisse der Juden in den einzelnen Landesteilen gestalteten und ob die gesetzlichen Regelungen aufrecht zu erhalten waren. Das Ergebnis der zahlreichen auf Landratsebene eingeholten Berichte war, dass am 3. März 1818 eine Königliche Kabinettsordre das Dekret auf unbestimmte Zeit verlängerte. Auch in der bayerischen Rheinpfalz und in Rheinhessen blieben die Bestimmungen in Kraft, während sie in Frankreich, Belgien und Luxemburg aufgehoben wurden. Auch der am 29. Oktober 1826 zusammengetretene erste rheinische Provinziallandtag lehnte die Emanzipation der Juden und die Abschaffung des „Schändlichen Dekrets“ ab, das bis 1845/47 in Kraft blieb. An die hochzuverehrenden hohen Landstände der Königlich Preußischen Rheinprovinzen Hochzuverehrende Herren Landstände! Es ist Ihnen, meine Herren, die schöne Aufgabe geworden, sich über das Wohl Ihrer Mitbürger zu berathen und über dasjenige, was Sie einer Aenderung wünschenswerth halten, bey Sr. Majestät, Unserm allergnädigsten Könige, Vorschläge einzureichen, die sich gewiß einer besonderen Berücksichtigung werden zu erfreuen haben. Mit sehr vielem Zutrauen wenden wir uns deshalb an Sie, deren angenehmste Pflicht es ist, für das Wohl Ihrer Mitbürger besonders zu wirken und das Organ derselben bey Sr. Majestät, Unserm allerverehrtesten Könige, zu seyn. Durch ein Kaiserliches Dekret vom 17ten Merz 1808, welches durch die im Elsaß und in Lothringen wohnenden Israeliten1 veranlaßt, jedoch mit wenigen Ausnahmen2 auf ganz Frankreich ausgedehnt wurde, sind wir und unsere Religionsgenossen des linken Rheinufers gegen alle unsere übrigen Mitbürger sehr zurückgesetzt; das fragliche Dekret wurde schon im Jahre 1808 nur für die Dauer von 10 Jahren ertheilt, und nach Ablauf dieser Zeit ist es nicht allein in Hessen, Bayern, Belgien und allen übrigen zum damaligen Frankreich gehörigen Landestheilen aufgehoben worden, sondern sogar in denjenigen Provinzen, welche die ursprüngliche Veranlassung zu obigem Dekret waren, in Elsaß und Lothringen besteht es nicht mehr, und nur die Königlich Preußischen Provinzen des linken Rheinufers sind es, wo es zufolge einer Königlichen Kabinettsordre3 vom Jahre 1818 noch in Anwendung kommt.
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Wie drückend es für uns seyn muß, gegen alle unsere Religionsgenossen der benachbarten Länder und gegen unsere Mitbürger zurückgesetzt zu seyn, die wir doch gewiß an Rechtschaffenheit gegen unsere Religionsgenossen der übrigen Länder nicht zurückstehen, sondern vielmehr denselben als Vorbild dienen können, werden Sie, hochverehrte Herren, einsehen; Sie, mit denen wir und unsere Religionsgenossen zusammenleben, werden aber auch am besten im Stande seyn zu beurtheilen, wie sehr ungeeignet eine fernere Zurücksetzung gegen unsere übrigen Mitbürger seyn würde, und wir hegen deshalb die Hoffnung, daß Sie sich unserer annehmen und auf die Aufhebung des oben angeführten französischen und des späterhin erfolgten Königlich Preußischen Dekrets antragen werden. Wir glauben uns dann überzeugt halten zu dürfen, daß Unser Allergnädigster König, der alle seine Unterthanen ohne Berücksichtigung der Religion mit väterlicher Sorgfalt ganz gleich behandelt, Ihren Vorschlag höchstgeneigt berücksichtigen werde. Indem wir Sie, hochzuverehrende Herren, ganz gehorsamst bitten, sich des Wohles so vieler Ihrer Mitbürger annehmen zu wollen, sind wir mit der allergrößten Hochachtung der hohen Stände Unterthänigste Leopold Seligmann aus Coblenz, Samuel Rothschild aus Simmern, Sig. Scheyer aus Creuznach, B. Wog deßgleichen, im Namen der israelitischen Bewohner des linken Rheinufers.
Anmerkungen 1 Der Begriff „Israeliten“, der sich von Israel, dem zweiten Namen des Stammvaters Jakob, ableitet (1. Mose 32,29), ging um 1800 in die Amtssprache des napoleonischen Frankreich und der besetzten Gebiete ein. Die Bezeichnungen „Israelit“ und „israelitisch“ beziehen sich im Wesentlichen als Synonyme für „Jude“ und „jüdisch“ auf den konfessionellen Charakter des Judentums. Im Laufe der Zeit erhielten die Begriffe in der nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft und auch innerjüdisch einen positiveren Klang als „Jude“, „Judentum“, „jüdisch“: Wer im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Grundsatz der political correctness wahren wollte, sprach von „Israelit“ und „israelitisch“. 2 Das Dekret war in Südfrankreich nicht gültig, da die dort lebenden überwiegend sefardischen Juden als vollständig integriert angesehen wurden. 3 Unmittelbarer Befehl des Fürsten, der quasi Gesetzeskraft hat.
Literatur Zusätzlich zu den in Dokument 13 genannten Titeln: Rolf Hahn, Das „schändliche Dekret“ vom 17.3.1808 und seine Auswirkungen auf die rechtliche Stellung der Kölner Juden,
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Köln 1967; Dieter Kastner (Bearb.), Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland 1825–1845. Eine Dokumentation, Teil 1, Köln/Bonn 1989, S. 15f. und 21–23
15 Plädoyer des Vorstehers der jüdischen Gemeinde in Siegburg für die Annahme fester Familiennamen durch die Juden in den rechtsrheinischen Gebieten der Rheinprovinz, 1840 Schreiben des Isaac Abraham an den Siegburger Bürgermeister Kuttenkeuler, 8. Mai 1840 LAV NRW R Düsseldorf, Regierung Köln 3669, Bl. 3 RS–4 RS, zit. nach: Heinrich Linn (Bearb.), Juden an Rhein und Sieg, Siegburg 21984, S. 444f.
Am 8. Mai 1840 wandte sich Isaac Abraham, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde Siegburg, mit einem Schreiben an den Siegburger Bürgermeister Kuttenkeuler, um auf die Probleme aufmerksam zu machen, die mit der traditionellen Namensgebung für die jüdischen Untertanen in den rechtsrheinischen Gebieten, die bis 1815 zum Großherzogtum Berg, einem napoleonischen Satellitenstaat, gehört hatten, verbunden waren. Dort hatte das Dekret Napoleons vom 20. Juli 1808 keine Gültigkeit erlangt, das alle Juden verpflichtete, binnen drei Monaten einen festen, unabänderlichen Familiennamen anzunehmen. Mit dieser Regelung verfolgten die Behörden das Ziel, ein einheitliches Namensrecht für alle Bürger Frankreichs zu verwirklichen. Das „Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ vom 11. März 1812, das gleichfalls alle Juden auf die Annahme fester Familiennamen verpflichtete, galt lediglich in den Gebieten, die vor dem Frieden von Tilsit 1807 zum preußischen Staat gehörten. Isaac Abraham wies in seinem Schreiben darauf hin, dass der jüdische Brauch, den Vornamen des Vaters zum Familiennamen des Sohnes zu machen, große Verwirrung stiften würde. In jeder Generation entstünden neue Nachnamen, so dass Familienzusammenhänge nicht mehr nachzuvollziehen seien. Umgekehrt stünden hinter ähnlichen oder gleichen Namen ganz verschiedene Personen, die nicht miteinander verwandt seien. Im Laufe der Zeit tauchten immer wieder die gleichen Kombinationen von Namen auf. Der Höhepunkt der Konfusion sei bei Namen erreicht, bei denen Vor- und Nachnamen gleich lauteten. Die Sitte der jüdischen Namensgebung habe zur Folge, dass Briefe und vor allem Schreiben im Zusammenhang mit Prozessverfahren häufig nicht ordnungsgemäß zugestellt werden könnten. Isaac Abraham führte sehr geschickt das Argument an, dass die bestehende Regelung es den Behörden unmöglich mache, eine wirksame Kon-
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trolle über den jüdischen Bevölkerungsteil auszuüben. Abrahams Anliegen wurde von der preußischen Bürokratie unterstützt. Dennoch dauerte es noch mehr als fünf Jahre, bis die Reform Realität wurde. Am 31. Oktober 1845 erließ König Friedrich Wilhelm IV. eine Kabinettsordre, in der die Annahme fester Namen durch die Juden „in denjenigen Theilen der Monarchie, in denen gesetzliche Vorschriften über Familiennamen der Juden noch nicht bestehen“, angeordnet wurde. Innerhalb von 14 Tagen mussten die „Familienväter“ die von ihnen gewählten Namen dem Bürgermeister ihres Heimatortes anzeigen. Die Namen wurden listenmäßig erfasst und im Juli 1846 in den Amtsblättern der Provinzialregierungen veröffentlicht. Noch heute finden sich in zahlreichen Archiven diese Namenslisten, die die alten und neuen Namen aller Familienmitglieder, Geburtsort, Geburtstag und teilweise Beruf festhalten und somit eine wichtige Quelle für die jüdische Familienforschung darstellen. Die preußischen Behörden übten keinen Einfluss auf die Wahl der Namen aus. Auch die Einschränkung, keine Städtenamen oder die Namen bekannter christlicher Familien nicht ohne deren Einverständnis anzunehmen, wurde nur selten beachtet. Mehrheitlich (wohl mehr auf dem Land als in der Stadt) wurden offensichtlich die alten Namen als neue feste Familiennamen angenommen. Das Dekret über die Namensgebung der Juden vom 31. Oktober 1845 war ein wichtiger Schritt auf dem Wege der Integration der jüdischen Bevölkerung. Der Siegburger Isaac Abraham wählte den Familiennamen „Bürger“ und demonstrierte damit Selbstbewusstsein und Staatsloyalität. Hochgeehrtester Herr Bürgermeister! In demjenigen Theile der Rheinprovinz1, welcher früher zum Großherzogthum Berg2 gehörte, haben die Juden keine eigentlichen Familien-Namen, indem der Vorname des Vaters immer den Familiennamen des Sohnes ausmacht; zum Beispiel: heißt der Vater Abraham David und der Vorname des Sohnes ist Samuel, so wird alsdann der Sohn Samuel Abraham genannt. Hierdurch kömmt es nun häufig vor, daß: 1., viele Juden hier wohnen, deren Vor- und Familien-Namen ganz gleichlautend sind. 2., bei vielen der Vornamen mit dem Familien-Namen verwechselt wird; zum Beispiel hat man hier mehrere, die Abraham Samuel, Samuel Abraham, Elias Levi, Levi Elias, Isaac Abraham, Abraham Isaac, Levi Hirsch, Hirsch Levi u[nd] d[er] gl[eichen] m[ehr] heißen. 3., daß der Umstand hinzukommt, daß seit einiger Zeit in den Geburtsregistern der Namen in der Art eingeführt wird, daß nicht dem Kinde der Vorname des Vaters als Familienname gegeben wird, sondern jenen des Großvaters, und ist schon hier in
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der Stadt der Fall, daß vollbürtige rechte Geschwister in den Geburtsregistern verschiedene Familiennamen haben. 4., daß man mehrere hat, deren Vornamen mit dem Familiennamen gleichlautend ist, zum Beispiel Levi Levi, Abraham Abraham. Hierdurch entsteht es, daß sehr häufig die Briefe des Einen an den Anderen kommen, ebenso daß bei gerichtlichen Verhandlungen die Zustellungen nicht an die betreffenden Personen gemacht werden. Diese Wirren haben sich seit einigen Jahren so vermehrt, daß ich schon oft von vielen Beamten ersucht worden bin, mich an die betreffende Behörde zu wenden und Hochdieselbe zu bitten, eine Abänderung in Betreff der Namen der Juden, wenn auch nicht für die ganze rechte Rheinseite, doch wenigstens für die Stadt Siegburg anzuordnen, in der Art, daß alle hier wohnenden selbstständigen Juden sich einen Familiennamen annehmen müssen, welcher alsdann bei sämmtlichen Kindern, Enkeln und so fort beibehalten werden muß. Schon im Jahre 1838 habe ich mich deshalb an Sie, Herr Bürgermeister, verwendet, worauf mir durch Euer Wohlgeboren im Schreiben des Königlichen Oberprokurators3, Herrn Grundschöttel zu Cöln vom 7ten Juli 1838 mitgetheilt wurde. Aus diesem Schreiben, welches abschriftlich anbei folgt, habe ich zuvor ersehen, dass es zwar auch der Wunsch des Herrn Oberprokurators ist, daß in Betreff der Namen der Juden eine Änderung gemacht werde, dass jedoch diese Änderung nur auf legislativem Weege [!] geschehen könne. Nochmals bin ich daher so frei, Euer Wohlgeboren ergebenst zu bitten, bei der betreffenden Königlichen Behörde das Erforderliche gütigst zu veranlassen, damit doch endlich diesem Übelstande abgeholfen wird. Euer Wohlgeboren Unterdienstlichster Isaac Abraham Vorsteher der hiesigen Israelitischen4 Gemeinde
Anmerkungen 1 1816 wurde das preußische Rheinland in zwei Provinzen aufgeteilt: Kleve-Jülich-Berg mit dem Oberpräsidialsitz in Köln, umfassend die Regierungsbezirke Köln, Düsseldorf und Kleve (Kleve wurde 1821 aufgelöst und zu Düsseldorf geschlagen), und das Großherzogtum Niederrhein mit dem Oberpräsidium in Koblenz, bestehend aus den Regierungsbezirken Aachen, Koblenz und Trier. 1822 wurden beide Provinzen zur Rheinprovinz (der Name war seit 1830 gebräuchlich) zusammengefasst. Sitz des Oberpräsidenten wurde Koblenz. 2 1806 trat Kurfürst Maximilian IV. Joseph das rechtsrheinisch gelegene Herzogtum Berg im Tausch gegen das Fürstentum Ansbach an Napoleon ab, der die Herzogtümer Berg
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und Kleve seinem Schwager Joachim Murat übereignete und ihm den Titel eines Großherzogs verlieh. Das Gebiet wurde in den folgenden Jahren vergrößert. 1808 übernahm Napoleon selbst die Herrschaft. Im Großherzogtum Berg regelten insgesamt sehr fortschrittliche Gesetze die Verhältnisse der Juden. 3 Die Aufgaben eines Oberprokurators ähneln denen eines Staatsanwalts als Strafverfolgungsbehörde. 4 Der Begriff „Israeliten“, der sich von Israel, dem zweiten Namen des Stammvaters Jakob, ableitet (1. Mose 32,29), ging um 1800 in die Amtssprache des napoleonischen Frankreich und der besetzten Gebiete ein. Die Bezeichnungen „Israelit“ und „israelitisch“ beziehen sich im Wesentlichen als Synonyme für „Jude“ und „jüdisch“ auf den konfessionellen Charakter des Judentums. Im Laufe der Zeit erhielten die Begriffe in der nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft und auch innerjüdisch einen positiveren Klang als „Jude“, „Judentum“, „jüdisch“: Wer im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Grundsatz der political correctness wahren wollte, sprach von „Israelit“ und „israelitisch“.
Literatur Heinrich Linn (Bearb.), Juden an Rhein und Sieg, Siegburg 21984, S. 97–99; Ernst G. Löwenthal, Die Familiennamen der rechtsrheinischen Juden, in: Gemeindeblatt für den Synagogenbezirk Duisburg, 2. Jg., 8. März 1929; Dietz Bering, Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933, Stuttgart 21988
16 Die Bürger der Stadt Köln bitten den Rheinischen Provinziallandtag, sich für die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden einzusetzen, 1843 Dieter Kastner (Bearb.), Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland 1825–1845. Eine Dokumentation, Teil 2, Köln/Bonn 1989, S. 587–589
Die Petition der Bürger der Stadt Köln vom Mai 1843 lag gemeinsam mit Bittschriften beispielsweise aus Aachen, Düsseldorf, Bonn, Saarbrücken und Trier als Beilage zu einem Antrag auf „Gleichstellung der Juden mit den übrigen Staatsbürgern“ des Kölner Abgeordneten Heinrich Merkens dem 7. Rheinischen Provinziallandtag vor. Der Provinziallandtag war eine ständisch gegliederte Vertretung mit nur sehr eingeschränkten Befugnissen. 1843 kam er in Düsseldorf zusammen, um den Regierungsentwurf für die neue Gemeindeordnung zu beraten, der die Juden vom passiven Wahlrecht ausschloss.
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Die Kölner Petition – als Autor wird der Elberfelder Kaufmann und Politiker Heinrich Kamp vermutet – kann als „beeindruckendes Zeugnis des liberalen Bürgertums im Rheinland zur Zeit des Vormärz“ (Dieter Kastner) gelten. Die Unterschriftenliste repräsentiert einen Großteil der bürgerlichen Elite der Stadt. Um nur einige Personen zu nennen: Als Vertreter der von den Behörden verfolgten „Rheinischen Zeitung“ Dagobert Oppenheim, der aus der bekannten Kölner Bankiersfamilie stammte, sowie G. G. Jung, daneben der Verleger Joseph DuMont, der Kölner Oberbürgermeister und Landtagsabgeordnete Adolf Steinberger, der Großkaufmann und Industrielle Gustav Mallinckrodt, Gustav Mevissen, einer der Führer der Liberalen, die Bankiers Deichmann, Schaafhausen und Herstatt, Joh. Franz Heinrich Anton von Wittgenstein, der Vorsitzende des Zentral-Dombau-Vereins, der Parfümhersteller Mülhens, der Zuckerraffinerieeigentümer Karl Joest, der Maler Matthias Joseph de Noel, zahlreiche Juristen, Ärzte, Kaufleute und Stadträte. Die Unterzeichner der Kölner Petition waren Teil der sich zunehmend seit den 1840er Jahren politisch artikulierenden bürgerlichen Elite im Rheinland, die eine politische und wirtschaftliche Modernisierung Preußens erstrebte. Für die rheinischen Liberalen war die Emanzipation der Juden integraler Bestandteil ihres auf Rechtsstaatlichkeit und Handelsfreiheit ausgerichteten politischen Konzepts. Die Vertreter des bürgerlichen Liberalismus, die zunehmend auch in den Rheinischen Provinziallandtagen an Einfluss gewannen, konnten sich der Unterstützung der Öffentlichkeit sicher sein, die sich in der Presse („Kölnische Zeitung“, “Rheinische Zeitung“, „Düsseldorfer Zeitung“, „Trier’sche Zeitung“) und einer breiten Petitionsbewegung organisierte, wobei die inner- mit der außerparlamentarischen Bewegung eng verbunden war. Die wichtigsten Forderungen der Petitionen waren die Abschaffung des 1808 erlassenen „Schändlichen Dekrets“ und die Ausdehnung des Emanzipationsedikts vom 11. März 1812 auf das gesamte preußische Staatsgebiet und somit eine Vereinheitlichung der rechtlichen und staatsbürgerlichen Stellung der Juden in Preußen sowie die Aufhebung aller seit 1815 erlassenen diskriminierenden Gesetze und Verordnungen (z.B. Ausschluss vom Geschworenenamt, von der Bekleidung akademischer Ämter und Universitätsprofessuren, von der Betätigung als Lehrer, Richter, Advokat, Apotheker, von allen höheren Dienstgraden in der preußischen Armee, Wiedereinführung eines besonderen „Judeneides“). Zudem sollte die liberale Grundforderung der wirtschaftlichen Freizügigkeit auch auf die Juden Anwendung finden, deren Mobilität durch das Verbot der Zuwanderung aus Gebieten mit abweichender „Judenverfassung“ eingeschränkt war. Diese Anliegen machte sich auch der 7. Rheinische Provinziallandtag in Düsseldorf zu eigen, an den die Kölner Petition adressiert war. Nach heftigen und auf hohem intellektuellen Niveau geführten Debatten erbat der Landtag am 13. Juli 1843 mit 68 zu 5 Stimmen die Aufhebung des Dekrets von 1808 und mit 54 zu 19 Stimmen die Vorbereitung der vollständigen Emanzipation der Juden. Das deutliche Votum
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hatte wahre Begeisterungsstürme und Verbrüderungsaktionen in der Bevölkerung zur Folge. Die jüdischen Gemeinden formulierten Dankadressen und stifteten bedeutende Geldbeträge für soziale Zwecke. Wenn wir uns vertrauensvoll der Hoffnung hingeben dürfen, daß Sie die Ihnen vorgetragenen Wünsche für die Abwendung einer Maaßregel theilen und mit allen Ihnen zu Gebot stehenden Mitteln gerne unterstützen werden, wodurch die gegenwärtig hier zu Lande bestehende Gesetzgebung und Gerichtsverfassung in irgend einer Weise gefährdet werden könnten, wenn Sie, wie wir nicht minder überzeugt sind, mit uns in dem Grundsatze der Gleichheit vor dem Gesetze das Fundamental-Prinzip der bürgerlichen Freiheit anerkennen, dann haben wir nicht zu befürchten, von ihnen mißverstanden oder zurückgewiesen zu werden, wo wir Ihre Mitwirkung und Ihre Verwendung für eine spezielle Anwendung dieses Prinzips in Anspruch nehmen. Es ist dies die Gleichberechtigung der Juden in ihren bürgerlichen Rechten mit den christlichen Bewohnern der Monarchie. Ein großer Schritt dazu war in den alten Provinzen durch das Gesetz vom 11ten März 1812 geschehen, 47 und namentlich in den Landestheilen des linken Rheinufers in der Rhein-Provinz fand diese Gleichstellung unter der Fremdherrschaft in einer noch größern Ausdehnung in Folge der fünf französischen Gesetzbücher48 und der Gesetze vom 29. September und 27. November 179149, der Rudler’schen Proklamation vom 21. Frimaire Jahrs VI50 und der Konstitution des Jahres VIII51 statt. Das bekannte Juden-Decret von 180852 dehnte sich nicht auf alle französischen Departements7 aus; es war nur eine transitorische8 Bestimmung, die aufhören sollte, wenn sie nicht bei Ablauf der zehn Jahre, für welche sie gegeben worden, erneuert wurde, und die gleich nach der Restauration9 in Frankreich aufgehoben worden ist, wo die Juden zu allen Aemtern, ja als Mitglieder der Deputirten-Kammer wahlfähig sind. Wie hat sich die Sache seitdem hier gestaltet? Obgleich der Höchstselige König in dem Besitznahms-Patente vom 5. April 181510 allen Bewohnern der Provinz und unter ihnen auch den Juden die Worte zugerufen: „Eure Religion, das Heiligste, was dem Menschen angehört, werde ich ehren und schützen“ und hierdurch angelobt, des Glaubens wegen keinem Bewohner der Provinz die bürgerlichen Rechte anzutasten. Obgleich die Allerhöchste Cabinets-Ordre vom 8. August 183011 die fernere Anwendung des bei der Besitznahme in der Rheinprovinz geltenden Judenrechts befohlen, ist dennoch das Juden-Decret, da, wo es 1818 von selbst wegfallen sollte, aufrecht erhalten und mit ihm eine für das Gefühl des Rheinländers peinliche Rechtsungleichheit zwischen dem Bewohner des rechten und linken Rheinufers. Wir haben – es ist noch nicht lange her - eine ministerielle Verfügung gelesen, die, in grellem Widerspruche gegen die Kabinetts-Ordre vom 8. August 1830, jüdische Rechtskandidaten von der dritten Prüfung ausschließt und ihnen den Weg zu ir-
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gend einer gerichtlichen Anstellung, selbst zu dem Advokatenstande versperrt.12 Wir wissen, daß sie nach dem neuesten Entwurfe der Kommunal-Ordnung nicht einmal Gemeinde-Verordnete, viel weniger Gemeinde-Räthe u. s. w. werden können, und ohne daß ein Gesetz ihnen das Recht an dem ehrenvollen Geschäfte des Geschwornen-Instituts abgesprochen13 , vermissen wir sie schon seit langer Zeit unter den Mitgliedern desselben, ebenso wie auf dem Katheder14, kurz, es ist so zu sagen keine Laufbahn mehr, wo Ehre und Auszeichnung zu gewinnen wären, aus der man sie nicht verdrängt hätte. Fragen wir aber, warum dies geschehen, so wird selbst der eifrigste Juden-Feind nicht behaupten wollen oder dürfen, daß allgemeine Unwürdigkeit oder Untüchtigkeit der Juden ein solches Verfahren nothwendig gemacht oder rechtfertigen könne. Es ist in der neuesten Zeit aus amtlichen Berichten sogar mit Zahlen nachgewiesen worden, daß, nach der Seelenzahl gerechnet, den Juden weniger Vergehen und Verbrechen zur Last gelegt werden können als ihren christlichen Mitbrüdern; wir haben sie dagegen häufig in den vordersten Reihen gesehen, wo es galt, gemeinnützige Anstalten zu begründen, und wem von uns sind nicht der ehrenwerthen Bekenner jenes Glaubens genug bekannt, mit denen er gerne die Sorge für des Vaterlandes Besten theilen und in der Berathung desselben an ihrer Seite sitzen würde? Der Landtag von 1826 war aufgefordert, über die Verbesserung des Zustandes der Juden sein Gutachten abzugeben, respective sich darüber zu äußern, was für Vorschläge und Wünsche er etwa in Rücksicht der bürgerlichen und Rechtsverhältnisse der Juden in der Provinz anzubringen haben möchte. Dieses Gutachten ist erstattet und darauf im Landtags-Abschiede vom 13. Juli 1827 die Zusicherung ertheilt worden, daß es bei definitiver Entschließung über den Gegenstand in Erwägung gezogen werden solle. Sechzehn Jahre sind seitdem verflossen, und noch ist diese Entschließung nicht erfolgt; fast ist eine andere Generation an die Stelle derjenigen getreten, deren Thun und Treiben, Leiden und Freuden der damalige Landtag zu beurtheilen hatte. Vieles ist seitdem geordnet und hat einen festen Bestand gewonnen, nur auf der RechtsVerfassung der Juden ruht noch der Fluch des Provisoriums und mit demselben der Stachel der peinlichsten Ungewißheit, wie ihre Verhältnisse geregelt werden sollen, doppelt peinlich, da von Zeit zu Zeit die widersprechendsten und mitunter sehr beunruhigende Gerüchte auftauchen; dieser Ungewißheit muß ein Ende gemacht und das Schicksal der Juden endlich entschieden werden. Dem Rheinischen Landtage, der sich durch manchen freimüthigen Antrag sowie durch gründliche Erwägung der Provinzial- und Staats-Interessen schon oft ausgezeichnet, steht es wohl an, in dieser Angelegenheit die Initiative zu ergreifen. Wir bitten gehorsamst darum und glauben nicht zu irren, wenn wir uns der Hoffnung hingeben, daß eine hohe Stände-Versammlung gerne für die Aufhebung aller gesetzlichen und faktischen Beschränkungen das Wort führen werde, wodurch un-
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sere jüdischen Brüder und Mitbürger bisher an dem Genusse einer völligen Gleichheit der Rechte gehindert worden sind, während ihnen keine der Pflichten erlassen worden ist, die jeden Unterthan des Staates trifft. Wir hoffen, Ihre Stimme wird nicht vergeblich erklingen und dem Rheinischen Landtage von 1843 die Ehre und Freude zu Theil werden, durch sein Vorwort einer zahlreichen Klasse seiner Mitbürger das wieder erwirkt zu haben, was ihr nicht hätte genommen werden sollen. In tiefster Verehrung [Es folgen die Unterschriften]
Anmerkungen 1 Am 11. März 1812 trat das „Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ in Kraft: Die legal in Preußen lebenden Juden wurden zu „Einländern und Preußischen Staatsbürgern“ erklärt. Mit der Einschränkung, dass Juden keine Offiziere werden und Staatsämter bekleiden durften, war eine weitgehende Gleichstellung mit den christlichen Staatsbürgern erreicht. Das Edikt wurde nach 1815 nicht auf die westlichen Landesteile Preußens ausgedehnt. 2 Die fünf französischen Gesetzbücher (Cinq Codes) sind der Code Civil (Bürgerliches Gesetzbuch, 1807–1815 und 1852–1871 als Code Napoléon bezeichnet), der Code Pénal (Strafgesetzbuch), der Code de procédure civile (Zivilprozessbuch), der Code de commerce (Handelsgesetzbuch) und der Code d’instruction criminelle (Strafprozessordnung). 3 Nach der von der Nationalversammlung am 22. September 1792 beschlossenen neuen Jahreszählung: Am 29. September 1791 verlieh die Französische Nationalversammlung allen Juden Frankreichs die Bürgerrechte und befreite sie von allen Sondergesetzen; einige Wochen später trat das Gesetz in Kraft. 4 Am 11. Dezember 1797 (dem 21. Frimaire des Jahres VI nach dem von der Nationalversammlung im Herbst 1792 beschlossenen neuen Kalender) erklärte der für das RurDépartement zuständige Regierungskommissar Francois Joseph Rudler die Aufhebung der „Sklaverei“ und damit auch der spezifischen Judengesetze. Die Proklamation stand im Zusammenhang mit der Annexion des linksrheinischen Rheinlands an Frankreich, die 1801 abgeschlossen wurde. 5 Die Verfassung des Jahres VIII (1799) zementierte vor allem die Alleinherrschaft des Ersten Konsuls Napoleon Bonaparte, in den die Juden große Hoffnungen setzten. 6 Das sogenannte „Schändliche Dekret“ vom 17. März 1808, das die Gleichstellung der Juden auf empfindliche Weise wieder einschränkte, galt nur für die ostfranzösischen Gebiete (inklusive der linksrheinischen ehemals deutschen Gebiete).
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7 Die Départements als übergeordnete französische Verwaltungsbezirke lösten durch Gesetz vom 22. Dezember 1789 die historischen Provinzen ab. 1790 wurde Frankreich in 83 ungefähr gleich große Départements unterteilt, die ihre Namen von charakteristischen Flüssen und Gebirgen erhielten. An der Spitze des Départements stand der Präfekt. 1800 wurden die Départements in Arrondissements und Kantone unterteilt. Die unterste Verwaltungseinheit war die Gemeinde. Rheinische Départements waren (im Bereich des heutigen Landes NRW) nach der Eroberung der Franzosen 1794 und der Eingliederung in den französischen Staat Rhin-et-Moselle (Rhein-Mosel) mit dem Hauptort Koblenz und Roer (Rur) mit dem Hauptort Aachen. 8 Vorübergehende. 9 Der Begriff Restauration bezeichnet in der französischen Geschichte die Epoche der Wiederherstellung der Bourbonenmonarchie zwischen dem Ende des ersten französischen Kaiserreichs nach der Abdankung Napoleons 1814/15 und der Julirevolution 1830. 10 Mit dem sogenannten Besitzergreifungspatent vom 5. April 1815 wurde das Rheinland in den preußischen Staat eingegliedert. 11 Die Königliche Kabinettsordre vom 8. August 1830 bestimmte, dass das Emanzipationsedikt vom 11. März 1812 in den neuen und wieder erworbenen Provinzen keine Gültigkeit besitzen sollte; dort habe man sich nach den Vorschriften zu richten, die „bei der Besitznahme dieser Provinzen als darin gesetzlich bestehend vorgefunden worden sind.“ 12 Seit 1816/18 wurden Juden sukzessive von allen Tätigkeiten ausgeschlossen, für die eine staatliche Approbation nötig war oder die mit obrigkeitlichen Funktionen verbunden waren; hiervon waren auch Juristen betroffen, wie das Beispiel von Heinrich Marx aus Trier, dem Vater von Karl Marx, zeigt, der 1816 nur Anwalt bleiben konnte, weil er zum Christentum konvertierte. Die Tätigkeit des Apothekers, Lehrers an öffentlichen Schulen, Baumeisters, Schiedsmannes etc. war Juden ebenfalls versagt. 13 Seit 1821 durften die preußischen Juden nicht mehr die Tätigkeit von Geschworenen ausüben. 14 Seit 1822 waren die preußischen Juden von der Bekleidung akademischer Ämter und Universitätsprofessuren ausgeschlossen.
Literatur Dieter Kastner, Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland 1825–1845. Eine Dokumentation, 2 Teile, Köln/Bonn 1989 (Einführung); Helmut Hirsch, Karl Marx und die Bittschriften für die Gleichberechtigung der Juden, in: Archiv für Sozialgeschichte 8 (1968), S. 229–245; Eleonore Sterling, Der Kampf um die Emanzipation der Juden im Rheinland. Vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in: Konrad Schilling (Hg.), Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte
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und Kultur der Juden am Rhein. Handbuch, Köln 1963, S. 282–308; Suzanne ZittartzWeber, Zwischen Religion und Staat. Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815–1871, Essen 2003; Alwin Müller, Die Geschichte der Juden in Köln von der Wiederzulassung 1798 bis um 1850, Köln 1984; Shulamit S. Magnus, Jewish Emancipation in a German City. Cologne, 1798–1871, Stanford 1997; Jürgen Herres, Bürgertum und politische Bewegung in Köln. Die Petitionskampagnen 1840–1845, in: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte 38 (1995), S. 53–66 Allgemein zum Thema Emanzipation: Michael Brenner/Stefi Jersch-Wenzel/Michael A. Meyer, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. II: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 1996; Jacob Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870, Frankfurt/M. 1986.
17 Der Landtagsabgeordnete Maximilian Freiherr von Loë spricht sich gegen die Emanzipation der Juden aus, 1843 Dieter Kastner (Bearb.), Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland 1825–1845. Eine Dokumentation, Teil 2, Köln/Bonn 1989, S. 691f.
Maximilian Freiherr von Loë (1801–1850), als Rittergutsbesitzer auf Schloss Allner an der Sieg residierend, preußischer Kammerherr, Landrat des Siegkreises und prominenter Vertreter der rheinischen Ritterschaft, sprach sich in seiner Rede auf dem 7. Rheinischen Provinziallandtag in Düsseldorf am 13. Juli 1843 gegen die Emanzipation der Juden aus. Er widersprach ausdrücklich dem Referenten Gisbert Lensing, einem katholischen Geistlichen aus Emmerich, der den Antrag auf Aufhebung des „Schändlichen Dekrets“ vom 17. März 1808 verbunden hatte mit der Forderung, „die fernere Gleichstellung der Juden mit den übrigen Einwohnern des Staates in politischen und bürgerlichen Dingen“ zu realisieren. Maximilian Freiherr von Loë war einer der wenigen Redner, die das ländliche Judentum aus eigener Anschauung kannten; es spiegelt sich in seiner Rede allerdings der vorurteilsbehaftete Blick des konservativ-katholischen adeligen Abgeordneten auf die Judenschaft in der von ihm als Landrat überschauten ländlichen Region wider. Die Juden hätten, so seine Einschätzung, alle Verfolgungen, Diskriminierungen und drückenden sozialen Verhältnisse überstanden, weil sie ihre Identität, ihre „traditionellen Vorstellungen“ bewahren konnten. Sie seien ein besonderes Volk, eine abgesondert lebende Korporation, sich selbst isolierend, nicht integrierbar und nicht anpassungsfähig. Inzwischen seien die Juden sozial aufgestiegen, „im Besitz der größten Macht, der Geldmacht“, Träger des Materialismus, beherrschende Bankiers in den Städten, Profiteure der Verschuldung der christlichen Bevölkerung auf dem Lande.
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Von Loë zeigt sich als Gegner der Freizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit für die Juden, da er daran interessiert ist, dass die jüdische Bevölkerungsgruppe zahlenmäßig beschränkt und damit beherrschbar bleibt. Es äußert sich hier die Furcht eines Angehörigen der vorindustriellen herrschenden Schichten vor dem ökonomischen Fortschritt im Zuge der Ausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. In von Loës Argumentation scheint auch die zwiespältige Haltung nicht weniger katholischer Christen gegenüber den Juden auf, die zwar als „auserwähltes Volk“ die älteren Brüder der Christen seien, aber seit ewigen Zeiten „Hass und Verfolgung der übrigen Völker“ auf sich zögen. Auch getaufte, sich auf diese Weise emanzipierende Juden könnten nicht als überzeugte Christen gelten, sondern würden lediglich die Entwicklung zum säkularen Staatswesen vorantreiben. Von Loës zentrale These lautet: Das Judentum sei nicht in den bestehenden, als christlich definierten Staat integrierbar, die Emanzipation der Juden, das Zugeständnis der politischen Gleichberechtigung zerstöre die Grundlage des christlichen Staates. Von Loë, der katholische Politiker, trat damit dem Emanzipationsbefürworter Lensing entgegen, dem Humanismus und Christentum eins waren. Der Siegburger Landrat, ein Gegner des Berliner Zentralismus, unterstützte voll und ganz die Linie der preußischen Politik, die seit dem Regierungsantritt von König Friedrich Wilhelm IV. 1840 zunehmend von dem Leitgedanken des christlichen Staates geprägt war, in dem Juden nur Fremde sein konnten. Bei der Schlussabstimmung im Rheinischen Provinziallandtag am 13. Juli 1843 fanden die Vorschläge von Loës allerdings keine Mehrheit. Die Frage der Juden-Emancipation oder ihrer gänzlichen Gleichstellung mit den Christen ist in neuerer Zeit vielfach in Anregung gebracht und der Gegenstand weitläufiger Erörterungen geworden. Er wolle versuchen, dieselbe auf einige Haupt-Momente zurückzuführen und diese dann zum Gegenstand einer kurzen Erörterung zu machen.1 Was ein durch Form und Geist eng verbundenes, keine Opfer und Entbehrungen scheuendes und nur das eine Ziel verfolgendes Ganzes den ungünstigsten Konjunkturen zum Trotz zu erreichen im Stande ist, dafür liefert das Volk Israel einen merkwürdigen Beweis. Während dasselbe Jahrhunderte lang und in der tiefsten Erniedrigung eine kümmerliche Existenz fristete, deren Erhaltung es nur seiner Isolirung und Eigenthümlichkeit verdankte, erblicken wir dasselbe jetzt im Besitz der größten Macht, der Geldmacht, als den Inhaber vielleicht des vierten Theils des beweglichen Kapital-Vermögens unsrer Staaten, als den Buchführer und Gläubiger der Fürsten, als den großen Säckelträger und Wechselzieher2 der Völker, als den Autokraten im Börsen-, Papier- und Aktienwesen in den Staaten und als den Herrscher über Gut und Blut in ganzen Strichen des platten Landes. Wer hierin eine Ueberschätzung der Bedeutung der Juden und des Judenthums erblickt, dessen Verblendung ist nur zu beklagen, die allein die großen Vorzüge übersehen kann, mit denen das Volk der Juden ausgestattet ist und die ihm durch seine traditionellen Vorstellungen und Sit-
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ten dem verflachenden Indifferentismus3 und Kosmopolitismus4 gegenüber gesichert sind. Das Volk der Juden bildet den Centralstamm des menschlichen Geschlechtes, und alles, was dem Menschen an Gaben wie an Fehlern und Mängeln von der ersten Schöpfung und dem Falle herzukommt, ist darum in reicherem Maaße und in größerer Fülle bei ihm vereinigt als bei irgend einem anderen. Daher war es von jeher, auch vor der christlichen Zeit, Gegenstand des Hasses und der Verfolgung der übrigen Völker, darum aber war es auch das auserwählte Volk des Herrn, und darum bleibt es uns, selbst in dem Zustand der Erniedrigung, wann und wo sie auf ihm lastet, ehrwürdig und ein Gegenstand der innigsten Theilnahme. Handelte es sich blos um den Genuß der bürgerlichen Rechte, ich würde keinen Anstand nehmen, ihnen denselben, da wo sie sind, in reichlichem Maaße zu gewähren. Ich sage, da wo sie sind, denn die Gewährung unbedingter Freizügigkeit müßte stets den größten Bedenken unterliegen, da die Juden überall als heterogenes Element auftreten, dessen Abwehr nach so vielen und langen Erfahrungen Niemand verdacht werden kann. Eine ganz andere Frage aber ist die, ob der Staat durch Gewährung aller politischen Rechte sich seines bisherigen christlichen Charakters vollends und bis auf das letzte entkleiden soll. Er wird dadurch nothwendig auf die einzige Grundlage der materiellen Interessen und der rohen Gewalt zurückgeführt, eine Grundlage, die keinem Weiterdenkenden zusagen dürfte. Ich weiß sehr wohl, dass man jene christliche Grundlage durch das Wort Humanität ersetzen möchte, doch kann dieser Ausdruck immer nur die beiden Bestandtheile des Menschen, das geistige und das sinnliche Element, bezeichnen. Das erstere wird uns stets auf das Christenthum und das letztere auf die Herrschaft der materiellen Interessen oder der rohen Gewalt zurückführen. Ein merkwürdiges Beispiel hierfür liefert Frankreich, wo, um nur einer der handgreiflichen äußern Erscheinungen zu gedenken, in allen Gerichtshöfen ohne Ausnahme nicht das Bildniß des lorbeerbekränzten Regenten, sondern das Bildniß des mit Dornen gekrönten gekreuzigten Erlösers hängt und hinreichend beweißt, in wessen Namen hier in letzter Instanz Recht gesprochen wird. Kann aber der Jude in diesem Namen Recht sprechen, kann er als Verwaltungs-Beamter christliche Zustände auffassen, schützen und fördern, kann er z.B. Schulrath, kann er Kultusminister werden, und er muß es können, wenn die Emancipation zur Wahrheit werden soll. Ich weiß sehr wohl, daß ein großer Theil der Juden dem Glauben und den Sitten ihrer Vorväter entsagen und auf diesem Wege zur Emancipation zu gelangen hoffen, aber ich weiß auch, daß dieses nur ebenso viele Gegner des Christenthums mehr sind, die in das Lager des mächtigeren und gefährlicheren Feindes, des Indifferentismus, übergegangen sind, was die Erfahrungen der neuesten Zeit hinreichend bewiesen haben, wenn es noch eines solchen Beweises bedürfen könnte. Einer der früheren Redner5 habe geäußert, daß er es nicht unternehmen wolle, die Sache vom religiösen Standpunkte aus zu betrachten, wie es der Herr Referent wegen seines geistlichen Charakters gethan habe,6 er, der Redner, aber wolle es unternehmen, und zwar von demselben Standpunkte aus, den jener bezeichnet.
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Wenn aber der Herr Referent die Emancipation der Juden als eine nothwendige Folge der Grundsätze des Christenthums darstellen zu können glaubt, so stelle ich dem Referenten von meinem Standpunkte aus eine höhere Autorität entgegen. Es ist die Autorität der katholischen Kirche, die diese Folge nirgends und zu keiner Zeit ausgesprochen hat, während sie zu allen Zeiten die Sklaverei als mit den Grundsätzen des Christenthums unverträglich erklärt hat. So lange aber diese Autorität nicht gesprochen, so lange er sich nicht von seiner irrigen Auffassungsweise überzeugt, könne und dürfe er trotz dem Referenten, der Emancipation der Juden als mit den christlichen sozialen Zuständen unverträglich, stets und laut widersprechen.
Anmerkungen 1 Die Landtagsprotokolle waren keine wortgenauen Mitschriften, sondern sie referierten die Reden der Abgeordneten in der dritten Person, wie es auch hier bei der Rede des Abgeordneten von Loë der Fall ist. 2 Das Bild steht für die angebliche Beherrschung des Finanzmarktes durch die Juden. 3 Gleichgültigkeit in religiösen Angelegenheiten. 4 Weltbürgertum, das die nationalen Besonderheiten gering schätzt. 5 Johann Schuchard (1782–1855), Kaufmann und Fabrikbesitzer in Barmen, Stadtrat in Barmen, Mitglied des Barmer Fabrikantenvereins und der Handelskammer in Elberfeld, Engagement vor allem für die Einschränkung und Beseitigung der Kinderarbeit, liberalkonservativer Landtagsabgeordneter. 6 Gisbert Lensing (1783–1856), ehemals Kanoniker der aufgehobenen Stiftskirche St. Martini zu Emmerich, Gutsbesitzer, Politiker, Landtagsabgeordneter, einer der profiliertesten Befürworter der Emanzipation der Juden.
Literatur Heinrich Linn, Die Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert, in: ders. (Bearb.), Juden an Rhein und Sieg, Siegburg 21984, S. 97–103; Rainer Erb/Michael Schmidt (Hg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zur Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin 1987
Hinweis Informationen darüber, wie die Juden zur Zeit des Landrates von Loë auf dem Lande lebten, erhält man in der Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“ in Windeck-Rosbach (c/o Archiv des Rhein-Sieg-Kreises, Kaiser-Wilhelm-Platz 1, 53721 Siegburg, E-Mail: gedenkstätte@ rhein-sieg-kreis.de, Homepage: www.ns-gedenkstaetten.de/nrw, 25.7.2010)
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18 Ehrenurkunde der Krefelder Juden für den liberalen Politiker Hermann von Beckerath, 1847 Paul Günter Schulte, Eine Ehrenurkunde für Hermann von Beckerath aus dem Jahr 1847, in: Die Heimat 60 (1989), S. 73
Am 9. Juli 1847 überreichte eine Deputation unter der Führung des Oberrabbiners Dr. Löb Bodenheimer im Namen des in Krefeld ansässigen „Israelitischen Konsistoriums“, der von Napoleon eingerichteten regionalen jüdischen Kultusorganisaton, sowie der dortigen jüdischen Gemeinde dem liberalen Politiker Hermann von Beckerath eine kalligrafisch gestaltete Ehrenurkunde. Mit diesem Geschenk zollte man von Beckerath Anerkennung für seine Bemühungen um die Emanzipation der Juden, die ihm als Mitglied des Rheinischen Provinziallandtags und des Vereinigten Landtags ein ernstes Anliegen war. Die Pergamenturkunde gestaltete der bekannte Kölner Lithograf und Maler David Levy Elkan (1808–1865), der in der Kölner jüdischen Gemeinde eine wichtige Rolle spielte und seine überaus geschätzten Kunstwerke auch im Kampf um die bürgerliche Gleichstellung der Juden einsetzte. Die silberne Hülse der Ehrenurkunde schuf der Kölner Goldschmied Carl Nikolaus Becker. Die Originalurkunde ist heute im LVR-LandesMuseum in Bonn ausgestellt. Die Adresse für Hermann von Beckerath ist nicht nur ein bedeutendes Beispiel für die neogotische Miniaturmalerei, sie ist auch ein äußerst wichtiges Dokument für die Geschichte der Juden im preußischen Rheinland und „ein politisches Kunstwerk für einen großen Vertreter des rheinischen Liberalismus“ (Paul Günter Schulte). In der Mitte der Silberhülse ist auf einem rechteckigen Elfenbeinplättchen die Widmung „Dem Landtagsdeputirten Herrn Hermann von Beckerath die Mitglieder des israelitischen Consistoriums und der Gemeinde zu Crefeld“ zu lesen. Vier geschwungene Spruchbänder sind mit Ortsnamen und Daten versehen: Düsseldorf 13.6.1843 [richtig ist 13.7.], Coblenz 12.3.1845, Berlin 19.5.1847, Berlin 14.6.1847. An diesen Tagen hielt von Beckerath auf den Provinziallandtagen und dem Vereinigten Landtag in Berlin Reden zugunsten der Gleichstellung der Juden. Der 7. Rheinische Provinziallandtag, der in Düsseldorf im Statthalterpalais in der Mühlenstraße tagte, beschloss am 13. Juli 1843 mit 68 zu 5 Stimmen die Aufhebung des Napoleonischen „Schändlichen Dekrets“ vom 17. März 1808 und mit 54 zu 19 Stimmen die Gleichstellung von Juden und Christen. Dem Versuch der preußischen Regierung, die Juden von der Teilnahme an den Gemeindevertretungen auszuschließen, obwohl diese bereits in einigen rheinischen Städten im Gemeinderat saßen, und generell dem Konzept des christlichen Staates, das religiöse Minderheiten an den Rand der Gesellschaft drängte, erteilten die rheinischen Liberalen mit Hermann von Beckerath, Gottfried Ludolf Camphausen, Gustav Mevissen und David Hansemann an der Spitze eine klare Absage.
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Am 12. März 1845 lieferte sich von Beckerath auf dem 8. Rheinischen Provinziallandtag in Koblenz eine heftige Redeschlacht mit dem konservativen Abgeordneten von Loë (vgl. Dokument 17). Als Folge davon kam es wiederum zu einem eindeutigen Votum für die Emanzipation der Juden. Auf dem Vereinigten Landtag in Berlin 1847 bekämpfte von Beckerath am 19. Mai das „Judengesetz“ der Regierung, plädierte für die Trennung von Staat und Religion und für die politische Gleichberechtigung aller ohne Ansehen der Konfession – Programmpunkte, die der von den Vertretern der altpreußischen Provinzen dominierte Landtag schließlich ablehnte. Am 14. Juni nahm von Beckerath nochmals zum Entwurf des „Gesetzes über die Verhältnisse der Juden“ Stellung. Was die Emanzipation der Juden betrifft, spielte Preußen durchaus eine Vorreiterrolle, die sich in erster Linie auf das in den altpreußischen Provinzen geltende Emanzipationsedikt von 1812 gründete. Die Aussicht auf innenpolitische Reformen, die den Grundsatz der Gleichheit aller Bürger auch über das Emanzipationsedikt von 1812 hinaus realisieren würden, hatte bereits um 1813 zahlreiche Juden veranlasst, sich mit Begeisterung auf preußischer Seite am Befreiungskrieg gegen das französische Kaiserreich zu beteiligen. Weite Kreise der preußischen Judenschaft erwarteten von dem von der Regierung initiierten Gesetz über die „Verhältnisse der Juden“ von 1847 die staatsbürgerliche Gleichberechtigung als Teil der Verwirklichung der inneren Einheit Preußens. Das am 23. Juli 1847 von König Friedrich Wilhelm IV. erlassene Gesetz brachte zwar manche Verbesserungen, nicht aber die volle bürgerliche Gleichstellung der Juden – trotz des Engagements der rheinischen Liberalen. Das Gesetz war ein wichtiger Markstein im Prozess der jüdischen Emanzipation. Hochgeehrtester Herr! Ein denkwürdiger Tag, der vor vier und Dreißig Jahren ein gedrücktes aber großes Volk zum Kampfe um den Besitz wahrer Freiheit begeisterte, der jetzt ein Versprechen, das treue Unterthanen als Kleinod bewahrten, in Erfüllung brachte und durch das Königliche Wort eine neue Aera für die kräftige und segensreiche Entfaltung des Staatslebens begründete, strahlt einer Sonne gleich in den Annalen Preußens.1 Um des Thrones Stufen versammelten sich die Auserkorenen, mit ächtem Patriotismus im Herzen, der Krone in den schwierigsten Fragen aus den Quellen der Wissenschaft und Erfahrung Rath zu ertheilen.2 Unserer Vaterstadt gereicht es aber zum besonderen Stolze, Sie, hochverehrter Kämpfer für Wahrheit, am Firmamente dieser hohen Versammlung als Stern erster Größe leuchten zu sehen. Sie haben Angesichts der Majestät – ein würdiges Beispiel männlicher Charakterstärke – das Gegebene mit dem Versprochenen geprüft, den Werth des Geschenkes nach Verhältniß seiner harmonischen Übereinstimmung mit dem Gesetze erachtet und im wilden Tone eines Isokrates3 Ihre Überzeugung ausgesprochen. Ihre Rede hat sich mit der
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ganzen Fülle des Gemüthes über das nothwendige Erforderniß einer vollkommenen Staatseinheit und Wichtigkeit des gegenseitigen Opferbringens ergossen und mit wahrhaftem Liberalismus strebten Sie, die ärmere Klasse des Volkes von mancher schwer-lastenden Bürde zu befreien. Nicht nur Deutschland blickt auf dieses edle Streben, auch Europas’s Auge ist darauf gerichtet und seine Flaggen verkünden es fremden Zonen. Aber wie ein sanftes Windessäuseln der Aeolsharfe4 harmonische Laute entlockt, so melodisch klangen unseres Herzens Fasern, als der Hauch Ihrer Worte über Menschenrecht, Menschenachtung und Menschenliebe sie anfächelte; als Sie – eine Feuersäule in der Wüste – reich ausgestattet mit erhebenden Empfindungen, die das Menschengeschlecht mit warmer Theilnahme umschließen, das Prinzip des christlichen Staates bekämpften, in die Gefühle und Leiden eines Familienvaters eindrangen, dem beim Abschied von den Seinigen der Trost ermangelt, seine Kinder in den Reihen anderer Landeskinder zu sehen; als sie später – ein Verdienst, das ihre Beredsamkeit schon in den Provinzial-Landtagen um unsere Glaubensgenossen erworben – bei Berathung des Gesetzentwurfes über unsere Verhältnisse, der so manches wohlerworbene Recht absorbirt, dem Taucher ähnlich, aus den Tiefen humaner und philanthropischer Ideen eine Perle an’s Licht förderten, die den großen Namen ‚Emanzipation’ trägt. Erlauben Sie daher, edler Mann, dass wir uns Ihnen mit gerührtem und dankerfülltem Herzen nahen. Genehmigen Sie mit diesem schwachen Zeichen unserer nie erlöschenden innigsten Dankbarkeit zugleich die Versicherung, dass unseren Nachkommen, die doch mit göttlicher Hilfe, nach endlicher Verscheuchung mittelalterlicher Vorurtheile durch das helle Licht der Aufklärung, einmal das Glück haben werden, die Früchte Ihrer liebevollen Anstrengungen zu ärnten, der Name von Beckerath ewig theuer seyn wird, und dass einst die Geschichte der Israeliten5, die neben jeder Trauerweide einen Schutzengel gefunden, ihren Pinsel in die schönsten Farben taucht, wenn sie Ihr erhabenes Bild zeichnet. Mit vorzüglichster Hochachtung Die Mitglieder des israelitischen Consistoriums und der Gemeinde zu Crefeld. Crefeld, im Juli 1847. [Es folgen die Unterschriften]6
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4. Ehrenurkunde der Krefelder Juden für Hermann von Beckerath, 1847
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Anmerkungen 1 Bezugnahme auf das während der Befreiungskriege gegen Napoleon gegebene Versprechen Friedrich Wilhelms III., eine Verfassung und ein gesamtstaatliches Parlament zu gewähren. 2 Anspielung auf den Vereinigten Landtag. Bereits das Verfassungsversprechen von 1815 besagte, dass eine zukünftige Nationalrepräsentation aus den Provinzialständen heraus gewählt werden sollte. Statt eines gesamtstaatlichen Parlaments kam es in der Folgezeit lediglich zur Einberufung von acht Provinziallandtagen, die äußerst geringe Befugnisse besaßen und in denen der grundbesitzende Adel den Ton angab. Lediglich im Rheinland gewannen die fortschrittlichen Kräfte des Bürgertums größeren Einfluss. Als in den 1840er Jahren die Verfassungsfrage neue Aktualität gewann, entschloss sich König Friedrich Wilhelm IV., Mitglieder aller Provinziallandtage für das Frühjahr 1847 zu einem Vereinigten Landtag nach Berlin zu berufen, an dem auch Hermann von Beckerath als Vertreter Krefelds teilnahm. 3 Berühmter Redner (436–338 v.Chr.) in Athen zur Zeit der Perserkriege. Mit dem Vergleich wird auf die überragende rednerische Begabung von Beckeraths Bezug genommen. Beckeraths Reden, die er stets frei vortrug, zeichneten sich vor allem durch eine eingängige Bildhaftigkeit aus. 4 Die Äolsharfe, benannt nach Aiolos, in der griechischen Mythologie Beherrscher der Winde und König der Insel Aiolia, wird durch den Wind zum Klingen gebracht. 5 Der Begriff „Israeliten“, der sich von Israel, dem zweiten Namen des Stammvaters Jakob, ableitet (1. Mose 32,29), ging um 1800 in die Amtssprache des napoleonischen Frankreich und der besetzten Gebiete ein. Die Bezeichnungen „Israelit“ und „israelitisch“ beziehen sich im Wesentlichen als Synonyme für „Jude“ und „jüdisch“ auf den konfessionellen Charakter des Judentums. Im Laufe der Zeit erhielten die Begriffe in der nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft und auch innerjüdisch einen positiveren Klang als „Jude“, „Judentum“, „jüdisch“: Wer im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Grundsatz der political correctness wahren wollte, sprach von „Israelit“ und „israelitisch“. 6 Die Unterschriften sind abgedruckt und erläutert bei Schulte, Ehrenurkunde, S. 73f.
Literatur Paul Günter Schulte, Eine Ehrenurkunde für Hermann von Beckerath aus dem Jahr 1847, in: Die Heimat 60 (1989), S. 73–77; Heinz Boberach, Hermann von Beckerath (1801– 1870), in: Rheinische Lebensbilder, Bd. 2, 1966, S. 177–193; Ulrich Hettinger, Hermann von Beckerath, Ein preußischer Patriot und rheinischer Liberaler, Krefeld 2010; Annegret H. Brammer, Judenpolitik und Judengesetzgebung in Preußen 1812 bis 1847. Mit einem Ausblick auf das Gleichberechtigungsgesetz des Norddeutschen Bundes von 1869, Berlin 1987; Elfi Pracht-Jörns, Der Kölner Lithograf und Maler David Levy Elkan, in: Bernd Wa-
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cker/Rolf Lauer (Hg.), Der Kölner Dom und „die Juden“. Fachtagung der Karl Rahner Akademie Köln in Zusammenarbeit mit der Dombauverwaltung Köln vom 18. bis zum 19. November 2006 (Kölner Domblatt 2008), S. 207–248; Suzanne Zittartz-Weber, Zwischen Religion und Staat. Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815– 1871, Essen 2003, insbes. S. 163–171
19 Das „Gesetz, die Verhältnisse der Juden betreffend“ legt Grundsätze für die Organisation jüdischer Gemeinden fest, 1847 Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1847, S. 263–278
Das nach langwierigen Vorarbeiten am 23. Juli 1847 erlassene „Gesetz, die Verhältnisse der Juden betreffend“ brachte erstmals eine gesetzliche Regelung der rechtlichen Stellung der Juden für das gesamte Königreich Preußen (mit Ausnahme des Großherzogtums Posen) und damit auch eine Vereinheitlichung des rechtlichen Status der Juden in der Rheinprovinz. Der erste Artikel des Gesetzes bestimmte, dass die Juden gleiche bürgerliche Rechte und Pflichten wie die christlichen Untertanen hätten. Allerdings wurden zahlreiche Einschränkungen festgeschrieben, die aus dem christlich definierten Grundcharakter des Staates hergeleitet wurden. So gesehen waren die Juden wiederum nur Bürger zweiter Klasse. Lediglich im Bereich der wirtschaftlichen Betätigung fielen alle Beschränkungen. Für die vorliegende Quellensammlung wurden aus dem umfangreichen Text die Bestimmungen über den Status der jüdischen Gemeinden ausgewählt, die im Großen und Ganzen bis in die NS-Zeit ihre Gültigkeit behielten. Erstmals wurde die jüdische Bevölkerung flächendeckend in staatlich anerkannten Synagogengemeinden organisiert. Die Prinzipien der Einheitsgemeinde, die alle religiösen Richtungen zusammenfasste, und des Gemeindezwangs wurden festgeschrieben. Das Konsistorialsystem war damit hinfällig. Die jüdischen Gemeinden waren im Hinblick auf das Kultuswesen weitgehend autonom; sie besaßen in Bezug auf ihre Vermögensverhältnisse die Rechte einer juristischen Person, konnten also als Körperschaft auftreten, Steuern erheben und eintreiben. Organe der Selbstverwaltung waren der Vorstand sowie die Repräsentantenversammlung als eine Art kontrollierendes Gemeindeparlament, deren Zusammensetzung von der Größe des Gemeindegebietes abhängig war. Der Vorstand vertrat die Synagogengemeinde gegenüber den staatlichen Behörden, die Angestellten der jüdischen Gemeinden waren weitgehend von ihm abhängig. Das betraf insbesondere die Rabbiner, deren Status im Gesetz völlig ungeklärt blieb. Die Wahl und die Tätigkeit von
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Vorstand und Repräsentanten unterlagen einer weitreichenden Kontrolle der staatlichen Behörden. Eine staatliche Genehmigung war insbesondere notwendig für die Aufnahme von Krediten, die Veränderung der Besteuerung der Gemeindemitglieder sowie den Erwerb und Verkauf von Grundstücken. Auch die Festsetzung des jährlichen Etats der Synagogengemeinden wurde durch die Bezirksregierungen überwacht. Die Bezirksregierungen hatten auch über die Beschwerden einzelner Gemeindemitglieder, die sich in ihren Rechten beeinträchtigt fühlten, zu entscheiden. Naturgemäß finden sich in den in den Archiven aufbewahrten Akten vor allem Vorgänge, bei denen die Oberaufsicht der staatlichen Stellen zum Zuge kam. Einzelheiten der Gemeindeorganisation regelten die in der Folgezeit durch die sich neu konstituierenden jüdischen Gemeinden erlassenen Statuten, von denen sehr viele erhalten sind. Insgesamt schuf das „Gesetz, die Verhältnisse der Juden betreffend“ Rechtssicherheit für die jüdischen Gemeinden sowie handlungsfähige und autoritative Leitungsgremien. Beklagt wurde allerdings vielfach, dass der preußische Staat, um seine Machtbefugnisse nicht zu schmälern, nach der Abschaffung der Konsistorien keine übergeordneten Zusammenschlüsse jüdischer Gemeinden und Organisationen duldete. Trotz einiger Versuche, eine Gesamtorganisation der deutschen Juden ins Leben zu rufen, und der Gründung von Landesverbänden zumeist nach dem Ersten Weltkrieg („Preußischer Landesverband jüdischer Gemeinden“ 1922), gelang es vor der Konstituierung der „Reichsvertretung der deutschen Juden“ 1933 nicht, eine deutschlandweite, staatlich anerkannte Gesamtvertretung der jüdischen Interessen zu schaffen. […] Titel II. Kultus- und Unterrichts-Angelegenheiten der Juden. Abschnitt I. Bestimmungen für alle Landestheile, mit Ausschluß des Großherzogthums Posen. § 35. Die Juden sollen nach Maaßgabe der Orts- und Bevölkerungs-Verhältnisse dergestallt in Synagogengemeinden (Judenschaften) vereinigt werden, daß alle innerhalb eines Synagogenbezirks wohnenden Juden einer solchen Gemeinde angehören. § 36. Die Bildung der Synagogenbezirke erfolgt durch die Regierungen1 nach Anhörung der Betheiligten. Die Regierungen sind ermächtigt, die in dieser Weise gebildeten Synagogenbezirke nach dem Bedürfnisse abzuändern und die hierauf bezüglichen Verhältnisse, unter Zuziehung der Betheiligten, einschließlich der etwa vorhandenen Gläubiger, zu ordnen. § 37. Die einzelnen Synagogengemeinden erhalten in Bezug auf ihre Vermögensverhältnisse die Rechte juristischer Personen.
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§ 38. Jede Synagogengemeinde erhält einen Vorstand und eine angemessene Zahl von Repräsentanten. § 39. Der Vorstand besteht aus mindestens 3, höchstens 7 Mitgliedern, welche ihr Amt unentgeltlich verwalten. § 40. Die Zahl der Repräsentanten soll mindestens 9 und höchstens 21 betragen. […] § 42. Das Wahlgeschäft wird durch einen Abgeordneten der Regierung geleitet. Nach Ablauf der ersten 3 Jahre scheidet die Hälfte der Vorstandsmitglieder und der Repräsentanten nach dem Loose, demnächst jedesmal die ältere Hälfte aus. § 43. Die Wahlen der Mitglieder des Vorstandes unterliegen der Genehmigung der Regierung, welche die ganze Wirksamkeit des Vorstandes zu beaufsichtigen hat und befugt ist, einzelne Mitglieder wegen vorsätzlicher Pflichtwidrigkeit oder wiederholter Dienstvernachlässigung nach vorangegangener administrativer Untersuchung durch Beschluß zu entlassen. § 44. Der Vorstand ist das Organ, durch welches Anträge oder Beschwerden der Synagogengemeinde an die Staatsbehörde gelangen. Er hat über alle, die Synagogengemeinde betreffenden Angelegenheiten und über einzelne, zu ihr gehörige Mitglieder den Staats- und Kommunalbehörden auf Erfordern pflichtmäßig und unter eigener Verantwortlichkeit Auskunft zu ertheilen. Derselbe führt die Verwaltung der Angelegenheiten der Synagogengemeinde, hat die Beschlüsse der Repräsentanten (§ 47.) zu veranlassen und zur Ausführung zu bringen, auch die Synagogengemeinde überall gegen dritte Personen, insbesondere in allen Rechtsgeschäften, sie mögen die Erwerbung von Rechten oder die Eingehung von Verbindlichkeiten betreffen, zu vertreten. § 45. Dem Vorstande steht die Wahl der Verwaltungs-Beamten zu. Derselbe hat jedoch vor jeder Anstellung die Repräsentanten über die Würdigkeit der anzustellenden Personen zu hören. […] § 49 Die Regierungen haben nicht nur in den Fällen zu entscheiden, welche ihnen in diesem Gesetze ausdrücklich überwiesen sind, sondern sind auch im Allgemeinen berechtigt und verpflichtet: 1) sich Ueberzeugung zu verschaffen, ob in jeder Synagogen-Gemeinde die Verwaltung nach den Gesetzen überhaupt und nach gegenwärtiger Verordnung insbesondere eingerichtet ist;
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2) dafür zu sorgen, daß die Verwaltung fortwährend in dem vorgeschriebenen Gange bleibe und angezeigte Störungen beseitigt werden; 3) die Beschwerden Einzelner über die Verletzung der ihnen als Mitglieder zustehenden Rechte zu untersuchen und zu entscheiden. In allen Angelegenheiten der Synagogen-Gemeinden geht der Rekurs2 an die Regierung, und gegen deren Entscheidung an die Oberpräsidenten.3 […] § 51. Die auf den Kultus bezüglichen inneren Einrichtungen bleiben in jeder einzelnen Synagogengemeinde, so lange und soweit nicht das Statut ein Anderes festsetzt (§ 50.), der Vereinbarung des Vorstandes und der Repräsentaten überlassen. Die Regierung hat von diesen Einrichtungen nur soweit Kenntniß zu nehmen und Entscheidung zu treffen, als die öffentliche Ordnung ihr Einschreiten erfordert. […]
Anmerkungen 1 Gemeint ist die Regierung als staatliche Mittelbehörde zwischen dem Ministerium als oberer Staatsbehörde und dem Landrat bzw. dem Bürgermeister als unterer Staatsbehörde für einen Land- bzw. Stadtkreis. An der Spitze der Regierung stand der Regierungspräsident. Neben den rheinischen Regierungsbezirken Köln und Düsseldorf existierte bis 1822 kurzzeitig auch der Regierungsbezirk Kleve und bis 1972 der Regierungsbezirk Aachen. 2 Einspruch, Beschwerde gegen Verwaltungsakte oder gerichtliche Entscheidungen. 3 Ab 1808 bzw. 1815 Verwaltungschef einer Provinz, dem die Regierungspräsidenten zu berichten hatten; der Oberpräsident für die Rheinprovinz saß in Koblenz.
Literatur Suzanne Zittartz-Weber, Zwischen Religion und Staat. Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815–1871, Essen 2003; Annegret H. Brammer, Judenpolitik und Judengesetzgebung in Preußen 1812 bis 1847. Mit einem Ausblick auf das Gleichberechtigungsgesetz des Norddeutschen Bundes von 1869, Berlin 1987; Jörg Fehrs, Der preußische Staat und die jüdischen Gemeinden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Überblick, in: Robert Jütte/Abraham P. Kustermann (Hg.), Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart, Wien u.a. 1996, S. 195–219 Zur demografischen Entwicklung vgl. Ursula Reuter, Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Geschichtlicher Atlas der Rheinlande VIII/8, Bonn 2007
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3. Gemeindeleben und Religion zwischen Tradition und Modernisierung 20 Die Krefelder Synagogenordnung verlangt Ruhe und Ordnung im Gottesdienst, 1836 Synagogen-, Trauungs- und Begräbniß-Ordnung für die Israelitische Gemeinde des Konsistorialsprengels Crefeld, Crefeld 1836, S. 8–13 LAV NRW R Düsseldorf, Landratsamt Geldern 158
Dr. Lion (Baruch Löb bzw. Ludwig) Ullmann (1804–1843) wurde 1835 zum neuen Oberrabbiner des Krefelder Konsistorialbezirks gewählt. Das Konsistorialsystem war eine von den französischen Behörden geschaffene einheitliche, staatlich kontrollierte und hierarchisch aufgebaute Kultusorganisation auf Basis der Départements. In der preußischen Zeit wurde es in den linksrheinischen Gebieten zunächst beibehalten, obwohl der Bezug zu dem Zentralkonsistorium in Paris abgebrochen war. Das Konsistorium mit Sitz in Krefeld war für die Juden in Teilen der Regierungsbezirke Düsseldorf, Aachen und Köln zuständig. Der akademisch gebildete, gemäßigt reformorientierte Rabbiner Ullmann, der sowohl eine traditionelle Rabbinerausbildung als auch ein Studium der orientalischen Philologie an der Universität Bonn absolviert hatte, musste sich gegen starke Widerstände orthodoxer Kräfte vor allem in den Landgemeinden durchsetzen. Eine seiner ersten und wichtigsten Maßnahmen als Oberrabbiner war die Abfassung einer „Synagogen-, Trauungs- und Begräbnisordnung“ für die Gemeinden seines Bezirks, die mit staatlicher Genehmigung 1836 in Kraft trat. Aus dem umfangreichen Text werden hier einige Abschnitte der Synagogenordnung vorgestellt. Seit den 1820er Jahren und vor allem um 1835 wurden zahlreiche Synagogenordnungen in West- und Südwestdeutschland erlassen; in diese Bemühungen fügt sich Ullmanns Text ein, der seinerseits auch spätere Synagogenordnungen inspirierte. Die Krefelder Synagogenordnung steht für den Versuch einer vorsichtigen Modernisierung des jüdischen Kultus. Ziel war es, den Gottesdienst zu „verschönern“. Ullmann zielte auf eine Intensivierung des religiösen Lebens und auf die Förderung der religiösen Bildung der Gemeindemitglieder. Intellekt und Innerlichkeit waren die Säulen des neuen Gottesdienstes. Dass mit der Synagogenordnung auch der Zweck verbunden war, den jüdischen Kultus bürgerlichen Gepflogenheiten anzupassen, somit die gesellschaftliche Akzeptanz des Judentums in der christlich geprägten Umgebungsgesellschaft zu erhöhen, zeigt das Bemühen um Ruhe und Ordnung im Gottesdienst. Dem alten Vorurteil von der „Judenschule“ (das jiddische Wort „schul“ bezeichnet das jüdische Gotteshaus, in dem studiert und gebetet wurde), in der es laut und chaotisch zugehe, sollte der Wind aus den Segeln genommen werden. Die traditionelle Mitwirkung der männlichen
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Gottesdienstbesucher wurde reduziert. Diese sollten still und ruhig auf ihren Plätzen verharren. Die Aufgaben im Gottesdienst übernahmen die Funktionsträger der Gemeinde, insbesondere der Vorsänger (Kantor). Der Gemeindevorsteher oder ein Mitglied des Vorstandes hatten den Ablauf des Gottesdienstes zu kontrollieren. Großer Wert wurde auf eine angemessene Bekleidung gelegt. Die Kleidung des Vorsängers wie auch die des Rabbiners war der Amtstracht des evangelischen Pfarrers angeglichen. Es wurde ausdrücklich der Hut als Kopfbedeckung in der Synagoge gefordert. Einige Paragraphen widmeten sich der Abschaffung liebgewordener, aber geräuschvoller Bräuche: Das „Hamanklopfen“, die Bewirtung von Gottesdienstbesuchern in der Synagoge an Simchat Tora oder die Versteigerung gottesdienstlicher Handlungen sollten nicht mehr oder nur eingeschränkt geduldet werden (vgl. die Anmerkungen). Das Benehmen von Kindern und Frauen wurde ebenfalls stark reglementiert und diszipliniert. Es bestand weiterhin ein Unterschied zwischen ordentlichen Gemeindemitgliedern und sonstigen Besuchern des Gottesdienstes. Am Schluss der Synagogenordnung wurden Strafen angedroht, die im Falle von Zuwiderhandlungen wirksam wurden: öffentliche Ermahnungen, Entfernung des Übeltäters aus der Synagoge, Geldstrafen, schlimmstenfalls eine Anrufung der Gerichte. Ullmanns Synagogenordnung fand in den Gemeinden zunächst nur geringe Beachtung. Langfristig aber änderte sich das Erscheinungsbild des jüdischen Gottesdienstes nachhaltig. Synagogenordnung § 1. Ordnung, Ruhe und Andacht im Gotteshause, welche diese Synagogenordnung bezweckt, zu erhalten und zu sichern, ist Pflicht des Vorstehers. Zu diesem Ende muß der Gemeindevorsteher, und da, wo mehrere Vorsteher sind, mindestens Ein Mitglied des Vorstandes, oder dessen Stellvertreter, wenigstens an Sabbath-1 und Festtagen in der Synagoge gegenwärtig seyn. § 2. Jeder Israelite,2 welcher zum Gottesdienste kommt, muß anständig gekleidet seyn, und wenn er das 20. Jahr erreicht hat, darf er nicht anders, wenigstens an Sabbathund Festtagen, als mit einem Hute bedeckt, und nicht in einer sogenannten kurzen Jacke erscheinen. § 3. Den angestellten Vorsängern und Gemeindedienern wird, schon durch Verfügung des Centralconsistoriums vom 19. Jan. 1811, § 5. befohlen, an Sabbath- und Festtagen,
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in schwarzer Kleidung, mit einer hohen schwarz sammtnen Mütze, einem schwarz seidenen Mantel und weißen Priesterkragen (Bäffchen), in der Synagoge zu erscheinen. § 4. In den Wochentagen muß der Vorbetende mit einem Hute bedeckt seyn. § 5. Kein Anderer als der angestellte Vorsänger oder dessen Stellvertreter, unter welchem Vorwande es auch sey, darf vorbeten. § 6. Nur am Neujahrs- und Versöhnungsfeste und an den Bußtagen3 sollen durch den Gemeinde-Vorstande die verschiedenen Gebet-Abtheilungen, nach Gutbefinden an Würdige vertheilt werden. […] § 8. Der Gebrauch, aus jeder beliebigen Opera, oder aus andern weltlichen Musikalien profane Melodien zu singen, ist den Vorbetern streng untersagt. § 9. Während des Gottesdienstes muß die vollkommenste Ruhe und Stille herrschen. Besprechen weltlicher Gegenstände, das Mitsingen beim Gebete, das Mitvorlesen der Thora4 mit dem Vorsänger, oder das laute Corrigiren desselben, ebenso das laute Beten überhaupt, wodurch die allgemeine Andacht gestört wird, ist streng untersagt. […] § 11. Während des Gottesdienstes sich von seinem Platze zu entfernen, oder irgend ein Geräusch zu machen, welches Störung verursachen könnte, ist verboten. […] § 15. Unter keinem Vorwande dürfen während des Gottesdienstes im Hofe oder Vorhause oder vor der Thüre der Synagoge Versammlungen Statt finden, oder dürfen Eltern ihre Kinder dort spielen lassen; noch weniger darf daselbst Tabak geraucht werden. § 16. Tabakspfeifen ins Gotteshaus mitzubringen, oder sie vor die Thüre desselben zu stellen, ist untersagt.
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§ 17. Eltern, Vormünder und Erzieher, welche Kinder in die Synagoge einführen, haben dieselben auf ihren Plätzen bei sich zu behalten und sind für deren gute Aufführung verantwortlich. § 18. Kinder unter 4 Jahren dürfen während des Gottesdienstes, weder in die Männernoch in die Frauensynagoge5 mitgebracht werden. […] § 25. Um die störende Überfüllung der Frauensynagoge am Purimabende6 zu verhindern, wird angeordnet, dass die Mädchen an diesem Abende die Frauensynagoge nicht besuchen, sondern des Purimmorgens erst die Megilla7 hören sollen. § 26 Das im Allgemeinen aufgehobene aber doch hie und da noch im Gebrauche sich vorfindende sogenannte Hamanklopfen8 am Purimfeste, das höchst unanständige gegenseitige Bewirthen in der Synagoge am Freudenfeste (Simchat Thora)9 ist durchaus verboten. […] § 31. Die herkömmliche Unterscheidung zwischen wirklichen und nicht wirklichen Gemeindegliedern bleibt, wo solche sich vorfindet, ebenfalls in Kraft. […] § 33. Es wird den Vorstehern zur Pflicht gemacht, es möglich zu machen, daß die Versteigerung der gottesdienstlichen Funktionen in der Synagoge10 bald aufhöre, und soll dafür ein Turnus einzuführen, und der dadurch entstehende Nachtheil der Gemeindekasse, je nach den verschiedenen Verhältnissen der Gemeinden, anderweitig zu ersetzen seyn. § 34. Tumult, Zank, überhaupt jede vorfallende Unordnung im Gotteshause während der gottesdienstlichen Zeit, soll als Störung des Gottesdienstes betrachtet, und die Pausen nicht als entschuldigender Vorwand geltend gemacht werden. […]
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Anmerkungen 1 Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und der Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 2 Der Begriff „Israeliten“, der sich von Israel, dem zweiten Namen des Stammvaters Jakob, ableitet (1. Mose 32,29), ging um 1800 in die Amtssprache des napoleonischen Frankreich und der besetzten Gebiete ein. Die Bezeichnungen „Israelit“ und „israelitisch“ beziehen sich im Wesentlichen als Synonyme für „Jude“ und „jüdisch“ auf den konfessionellen Charakter des Judentums. Im Laufe der Zeit erhielten die Begriffe in der nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft und auch innerjüdisch einen positiveren Klang als „Jude“, „Judentum“, „jüdisch“: Wer im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Grundsatz der political correctness wahren wollte, sprach von „Israelit“ und „israelitisch“. 3 Gemeint sind die Hohen Feiertage im Herbst: Rosch ha-Schana, das Neujahrfest, und Jom Kippur, das Versöhnungsfest, an dem 24 Stunden lang gefastet wird. Die Tage zwischen dem Neujahrs- und dem Versöhnungsfest dienen der Gewissenserforschung und Buße; weitere Bußtage werden im Verlauf des jüdischen Jahres begangen. 4 Hebr. Lehre, Unterweisung. Die Tora umfasst die fünf Bücher Mose (Pentateuch), deren Text sich auf der Tora-Rolle befindet; im weiteren Sinne die Gesamtheit des jüdischen Religionsgesetzes. 5 Männer und Frauen saßen (und sitzen) im traditionellen Judentum in der Synagoge getrennt, die Männer in der Regel im Hauptraum, die Frauen auf einer Empore, seltener in einem eigenen, an die Synagoge anschließenden Raum. 6 In Erinnerung an die wunderbare Errettung der persischen Juden vor dem Anschlag Hamans, eines Günstlings des Perserkönigs Ahasveros (Xerxes I.) durch die Jüdin Esther, die zweite Gattin des Herrschers, wird im Februar oder März das Fest Purim (hebr. „Lose“) gefeiert. 7 Hebr. Rolle, auf Pergament geschriebenes, auf- und zusammenrollbares Buch; Bezeichnung speziell für das Buch Esther, in dem die Geschichte der Errettung der persischen Juden geschildert wird. Wegen der weiblichen Heldin sind alle Mädchen und Frauen verpflichtet, an Purim der Lesung der Megilla (Buch Esther) beizuwohnen. 8 Haman ist der Bösewicht in der Esther-Geschichte, der die im Persischen Reich lebenden Juden vernichten wollte und schließlich selbst am Galgen endete. Jedes Mal, wenn im Purim-Gottesdienst der Name Haman vorgelesen wird, klopfen die Anwesenden auf ihr Pult oder machen mit Ratschen Lärm. 9 Das Fest der Gesetzesfreude wird aus Anlass des Abschlusses und Neubeginns des jährlichen Tora-Vorlese-Zyklus gefeiert; bei dieser Gelegenheit finden Umzüge mit den Tora-Rollen in der Synagoge statt.
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10 Bestimmte gottesdienstliche Funktionen, wie das Ausheben der Tora, das Tragen der Tora zum Lesepult, das Aufrollen etc., waren ehrenvolle Aufgaben, die versteigert wurden. Da die auf diese Art eingesammelten Gelder einen wichtigen Teil des Haushalts der jüdischen Gemeinden ausmachten, war die Abschaffung der von den Reformern als „unwürdig“ kritisierten Versteigerung im Gottesdienst nicht unproblematisch.
Literatur Suzanne Zittartz-Weber, Zwischen Religion und Staat. Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815–1871, Essen 2003; Michael A. Meyer, Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Wien/Köln/Weimar 2000; Steven M. Lowenstein, The 1840s and the Creation of the German-Jewish Religious Reform Movement, in: Werner E. Mosse/Arnold Paucker/Reinhard Rürup (Hg.), Revolution and Evolution 1848 in German-Jewish History, Tübingen 1981, S. 255–297; Guido Rotthoff (Red.), Krefelder Juden, Bonn 1980
21 „Ein neuer Geist durchweht die Synagogengemeinden allüberall“ – Erinnerungen an das Leben der jüdischen Gemeinde Bonn um die Mitte des 19. Jahrhunderts Max Herschel, Die Judengasse und ihre alte Synagoge vor 50 Jahren. Festrede zur 25jährigen Jubelfeier der neuen Synagoge in Bonn (30. Januar 1904), Bonn 1904, S. 4–8 Stadtarchiv und wissenschaftliche Bibliothek, Bonn
Max Herschel (1840–1921), Buchbinder, Kaufmann, Heimatdichter und mehr als fünfzig Jahre lang Vorstandsmitglied der Bonner Synagogengemeinde, wirft in seiner Festrede zum 25jährigen Jubiläum der Einweihung der neuen Synagoge in der Tempelstraße am Rheinufer einen wohlwollenden und nostalgischen Blick auf das Leben in der Judengasse und in der alten Synagoge in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Seine Milieuschilderung bezieht sich auf eine Zeit, die er als Kind noch selbst miterlebt hatte. Die Momentaufnahme des Lebens in der Bonner Judengasse, die 1715/16 auf Befehl des Kurfürsten Joseph Clemens als vom Rest der Stadt abgesonderter Bereich eingerichtet und 1797 offiziell wieder aufgehoben worden war (vgl. Dokument 9), erfolgt aus der Perspektive eines Anhängers der religiösen Reformbewegung. In einer Zeit, als die Modernisierung des religiösen Lebens längst Wirklichkeit geworden war, als die neue Synagoge bereits ein Vierteljahrhundert existierte, als deutschsprachige
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Gebete, Gesänge und Predigten, Orgelmusik und Chorbegleitung den Gottesdienst prägten, ein gut organisiertes Schulwesen und eine funktionierende Gemeindeverwaltung bestanden, stellt Herschel die Frage: „Wie war das damals?“ Die bescheidene, zwischen 1754 und 1758 erbaute Synagoge war ein typischer Bau der Voremanzipationszeit. Sie lag im Ghetto hinter dem Gemeindehaus; wie in allen traditionellen Gemeinden stand die Bima mit dem Pult für die Lesung aus der Tora-Rolle in der Mitte des Raums; die Betpulte gruppierten sich um die Bima herum. Die Frauen nahmen auf einer vergitterten Empore Platz; auch für ärmere männliche Mitglieder gab es eine Empore. Hebräisch war die ausschließliche Gottesdienstsprache. Herschel berichtet, dass regelmäßig Gottesdienste stattfanden, zu denen sich stets die notwendigen zehn religionsmündigen männlichen Gläubigen (Minjan) zusammenfanden – was später in zahlreichen Gemeinden nicht mehr der Fall war. Die Synagoge wurde im 18. Jahrhundert auch für weltliche Zwecke genutzt: So musste der besondere „Judeneid“, der im Zuge der Emanzipation abgeschafft wurde, vor dem geöffneten Tora-Schrein geleistet werden. Das religiöse Leben in der Judengasse schildert Herschel – sicherlich nicht frei von Klischees – als geprägt von manchmal überbordender Spontaneität und Emotionalität: Das Ritualgesetz prägte den Alltag umfassend, das Einhalten der zahlreichen Feiertage und Traditionen war eine Selbstverständlichkeit. Einer lebendigen Religiosität entsprachen funktionierende soziale Beziehungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. In Herschels Rede werden einige Gebräuche erwähnt, die schon im 19. Jahrhundert als veraltet galten: Die Hammerschläge des „Schulklopfers“ sind hier zu nennen, die die Gläubigen zum Gottesdienst riefen und die naturgemäß nur in sehr überschaubaren Gemeinwesen Sinn machten. Das Klopfen mit dem Hammer auf die Betpulte am Purim-Fest, das Werfen von Nüssen, das Schwenken der Feststräuße am Laubhüttenfest (vgl. die Anmerkungen) wurden später in vielen Synagogenordnungen untersagt oder eingeschränkt. Das Festnageln des Mantels des Synagogendieners am Fußboden war ein Streich, der in der neuen Synagoge nicht gelungen wäre. Auch der beschriebene Trauerritus der Eltern, deren Tochter zum Christentum übergetreten war, war später nicht mehr denkbar. Hier deuten sich bereits Risse im jüdischen Mikrokosmos an. Die Schilderung Herschels spart – dem Anlass entsprechend – Missstände und Konflikte weitgehend aus; lediglich der Hekdesch, eine Art Hospiz, Armen- und Siechenhaus, wird mit dem Attribut „entsetzlich“ belegt. Unter dem orthodoxen Bonner Oberrabbiner Abraham Auerbach (1770–1845) und seinem Sohn Dr. Aaron Auerbach (1810–1886), den Herschel noch selbst erlebt hat, hatte es indessen schwerwiegende Konflikte, Willkür und Streit in der Bonner Gemeinde gegeben. So gesehen bedeutete das Ende des Bonner Ghettos 1798 den Beginn eines schwierigen und konfliktreichen Modernisierungsprozesses, der erst in den 1870er Jahren zu einem vorläufigen Abschluss kam (vgl. auch Dokument 26).
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[…] Sabbath1 ist es geworden. Eingezogen ist die herrliche Braut, die schöne neue Zeit. Versunken ist das Mittelalter, gefallen die Ghettomauern. Ein neuer Geist durchweht die Synagogengemeinden allüberall. – Auch unsrer Gemeinde nahte er. Ganz besonders seit der Errichtung des neuen Tempels2. Deutsche Gebete, deutsche Gesänge, deutsche Predigt beleben unsern Geist und stimmen unser Herz zur Andacht. Begleitet von den Klängen der Orgel, läßt ein wohlgeschulter Chor in selbstloser Hingebung an die heilige Sache herrliche Lieder zum Lob und zum Preise des Höchsten ertönen.- Ein wohlgeordnetes Schulwesen kommt unsern Kindern zu Gute. Die ganze Verwaltung ist festgegliedert, und wenn auch noch mancher berechtigte Wunsch nach der einen oder anderen Verbesserung sich in uns regt, wir müssen anerkennen, dass in unsrer Gemeinde Fortschritt, kein Stillstand herrscht. Fünfundzwanzig Jahre sind heute verflossen, seitdem unsre Gemeinde das alte, ehrwürdige Gotteshaus verlassen, in welchem fast zwei Jahrhunderte die frommen Weisen unsrer Väter emporstiegen. Mitten im ehemaligen Ghetto, versteckt hinter dem Gemeindehause, lag die Synagoge. Ein einfacher, steinerner Bau, mit Steinfliesen, zu dem man einige Stufen hinabsteigen mußte. Denn: „Aus der Tiefe ruf’ ich zu Dir!“3 singt der Psalmist, und unsre Altvordern liebten die wörtlichen Auslegungen der Schrift. Das Almemor4, die über ihre Umgebungen hervorragend gebaute Betstelle, wo die heilige Schrift vorgelesen wurde, erhob sich in der Mitte, rund um dasselbe die Betpulte, so daß jeder zu seinem Platze gelangen konnte, ohne den andern zu stören. Die Frauen mußten durch das Gemeindehaus, zwei Etagen hoch, in die für sie bestimmten Galerien wandern, welche in meiner Jugend noch (ich spreche überhaupt von einer Zeit, die 50 Jahre hinter uns liegt) nach dem Innern der Synagoge zu eng vergittert waren. In der Männerschul5 war im Hintergrund, etwa eine Etage hoch, eine Galerie für die minder Bemittelten angebracht. Gewichtige Hammerschläge gegen das Synagogentor, welche unser damals noch jugendlicher Jakob Abraham, unser wohlbestallter Schammes6, führte, riefen die Gemeinde jeden Morgen und jeden Abend zum Gottesdienst. […] Und die Gemeinde versammelte sich. An Minjan7 (zehn Personen) fehlte es nie. Aber es war dies damals auch leicht möglich. Noch waren kaum 50 Jahre vergangen, seitdem die Ghettotore gefallen, und nur sehr vereinzelt wohnten jüdische Familien in der Stadt. Dreiviertel der Gemeinde wohnten in und um die Judengasse. Speziell in der Gasse war wohl jedes Haus von mehreren jüdischen Familien bewohnt. Nur in der Mitte wohnte ein christlicher Bäcker, der von den Juden lebte, und alljährlich seine Backstube zum Mazzenbacken8 hergab. Damals buk noch jede Familie für sich selbst. Am Freitag Nachmittag schob er die unzähligen Töpfe mit ‚gesetztem Essen’9 in seinen Ofen, worin dieselben eingesiegelt bis Samstag Mittag verblieben. Am Samstag Nachmittag saß bei schönem Wetter die halbe Khille (Gemeinde) auf den vor die Türen getragenen Stühlen und machte sich gegenseitig nachbarliche Besuche.- Die Gemeinde, Arm und Reich, führte ein Familienleben, welches uns heute leider verloren gegangen ist […]
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Entsetzlich waren die alten Baracken, die Hekdesch10 genannt, den Kranken und Siechen zur Zuflucht dienten. Sie standen in dem vorhin genannten, ganz schmalen Verbindungsgäßchen zwischen Judengasse und Josefstor. […] Die übermütige Jugend verschonte selbst die Synagoge nicht. Am Purim bei Nennung des Namens Haman11 dröhnten unsere eisernen Hämmer auf die Betpulte nieder. Am Simchas-Thora-Abend12 wurden unsere Ältesten und Besten mit Nüssen beworfen. Am Tischebaw13, beim Eichosingen14, nagelten wir den alten Rabbi Schmul15 mit seinem langen Mantel an die Erde fest. Und doch hat die alte Synagoge und ihr alter Gottesdienst uns gar oft mächtig ergriffen. […] Wenn auch immer weniger die Worte in der heiligen Sprache verstanden wurden, wir fühlten in unserem Innern die wichtigen Vorgänge und huldigten ihnen.- Das Herz, der Hauptfaktor bei allen religiösen Handlungen, fand seine volle Befriedigung. Auch zu mancherlei zeremonieller Handlung, die unser neuer Tempel nicht mehr kennen gelernt, diente die alte Synagoge. Mußte ein Jude schwören16, so konnte beansprucht werden, dass dies im Tempel vor geöffneter Lade17 geschehe. Der Schwörende hatte Tefillin18 anzulegen und stand in den Tallis19 gehüllt. […] Noch sehe ich im Geiste Keb Leiser mit seiner betagten Gattin tief gebückt zur Synagoge ziehen, dort seine Kleider zerreißen und sich Schiwwe20 setzen. – Seine Tochter war abtrünnig geworden und Abtrünnige wurden als Verstorbene betrachtet. Aber auch fröhliche Hochzeiten gab es im Tempel, und glücklich strahlte die Mutter, die ihren einjährigen Sohn die buntgestickten Wimpel21 zur Thora bringen sah. Am Schwuos22 (Pfingsten) glänzte die Synagoge im Blumenschmuck. Am Suckos23 hob und senkte sich an jedem Betpulte der mit Myrthen und dem Paradiesapfel geschmückte Palmenzweig. Am Simchas-Thora zogen wir mit Fähnchen, den Thorarollen voran, durch den Tempel. […]
Anmerkungen 1 Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und der Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 2 Die neue Bonner Synagoge in der Tempelstraße wurde am 31. Januar 1879 eingeweiht. Der Begriff Tempel wurde seit dem 19. Jahrhundert vor allem von liberal geprägten Gemeinden als Bezeichnung der Synagoge benutzt.
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3 Vgl. Psalm 130,1: De Profundis – Aus der Tiefe ruf ’ ich zur Dir. Mit Berufung auf diesen Psalm war häufig das Bodenniveau von Synagogen abgesenkt. 4 Almemor (arab. Kanzel), Bima (hebr. Tribüne): abgegrenzter, erhöhter Platz in der Synagoge mit einem Pult zur Tora-Lesung. 5 Hauptraum zu ebener Erde in der Synagoge, wo die Männer Platz nahmen; Schul ist die jiddische Bezeichnung für Lehr- und Bethaus, Synagoge. 6 Hebr. Diener, Synagogendiener, auch „Schulklopfer“ genannt, da er durch das Klopfen an die Haustüren die Gemeindemitglieder zum Gebet in die Synagoge rief. 7 Hebr. Zahl, Mindestzahl von zehn (männlichen) religionsmündigen Personen, die für die Abhaltung eines öffentlichen Gottesdienstes vorgeschrieben ist. 8 Mazzen (hebr. Mazza, pl. Mazzot) sind ungesäuerte Brote, die an Pessach gegessen werden zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, der in solcher Hast erfolgte, dass man das Brot nur ungesäuert backen konnte (Exodus 12, 33-34). 9 Damit ist eine Art Eintopfgericht gemeint, das lange Garzeiten vertragen kann. Es wird vor dem Schabbat in den Ofen geschoben, um dann stundenlang vor sich hin zu köcheln; das Kochen gehört zu den am Schabbat verbotenen Tätigkeiten. 10 Hospiz, Armen- und Siechenhaus einer jüdischen Gemeinde, in dem die Kranken notdürftig versorgt, kaum aber medizinisch behandelt werden konnten. 11 Haman ist der Bösewicht in der Esther-Geschichte, der die im Persischen Reich lebenden Juden vernichten wollte und der schließlich selbst am Galgen endete. Jedes Mal, wenn im Purim-Gottesdienst der Name Haman vorgelesen wird, klopfen die Anwesenden auf ihr Pult oder machen mit Ratschen Lärm. 12 Das Fest der Gesetzesfreude wird beim Abschluss und Neubeginn des jährlichen ToraVorlese-Zyklus gefeiert; aus diesem Anlass finden Umzüge mit den Tora-Rollen in der Synagoge statt. Jüdische Feste beginnen immer am Vorabend. 13 Hebr. Tischa be-Aw (9. Aw):Trauertag aus Anlass der Zerstörung des Ersten und des Zweiten Tempels in Jerusalem (586 v.Chr. und 70 n.Chr.). 14 Hebr. E’cha: das biblische Buch der Klagelieder Jeremias. 15 Rabbi Schmul war Schächter und Synagogendiener der Bonner jüdischen Gemein-. de; die Bezeichnung Rabbi (auch Rebbe) wird hier im Sinne eines Ehrentitels be-. nutzt. 16 Die aus dem Mittelalter stammende Rechtsform des more judaico ist eine den Juden aufgezwungene Form des Eides. Ursache für die Entstehung des besonderen Judeneides sind von christlicher Seite geäußerte Vorwürfe und Anschuldigungen; so wurde ihnen vorgeworfen, dass sie sich von einem geleisteten Eid nachträglich wieder lösen könnten oder dass der gegenüber einem Andersgläubigen vollzogene Eid keine Gültigkeit besitze. Der Gefahr des „Meineids“ glaubte man mit demütigenden Zeremonien und krassen Selbstverfluchungsformeln begegnen zu müssen. 17 Tora-Schrein zur Aufbewahrung der Tora-Rollen, hebr. Aron ha-Kodesch. 18 Hebr. Tefillin, Gebetsriemen. Zwei schwarze Lederkapseln, die von männlichen religionsmündigen Juden am Arm und an der Stirn beim Morgengebet an Wochentagen ge-
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tragen werden; die Kästchen, in denen sich vier auf Pergament geschriebene Tora-Abschnitte befinden, werden mit schwarzen Riemen befestigt. 19 Hebr. Tallit, Gebetsmantel. 20 Hebr. Schiwa, Sieben. Die intensive Phase der Trauer umfasst die ersten sieben Tage nach der Bestattung. In dieser Zeit verlassen die Angehörigen des Toten – auf niedrigen Schemeln sitzend – das Hause nicht. 21 Windeln, die bei der Beschneidung eines Knaben getragen und danach zu einem langen Band zusammengenäht, bestickt oder bemalt werden. Der sogenannte Beschneidungswimpel wird der Synagoge gestiftet und dient dazu, die aufgerollten Tora-Rollen zusammenzubinden. 22 Hebr. Schawuot, Wochenfest, das an die göttliche Offenbarung am Sinai erinnert, als Moses die Tora übergeben wurde; Schawuot ist auch ein Wallfahrtsfest mit dem Charakter eines Erntedankfestes. 23 Hebr. Sukkot, Laubhüttenfest, das an das Wohnen in Hütten (Sukka, hebr. Hütte) und an Gottes Schutz nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnert. Während des siebentägigen Festes verbringt man möglichst viel Zeit in der schön geschmückten Laubhütte, die in Höfen, Gärten oder auf Balkonen stehen kann.
Literatur Manfred van Rey, Jüdisches Leben in Bonn, in: Claudia Maria Arndt (Hg.), Unwiederbringlich vorbei. Geschichte und Kultur der Juden an Sieg und Rhein. 10 Jahre Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“, Siegburg 2005, S. 218–237; Leah Rauhut-Brungs/Gabriele Wasser/Peter Hodde (Hg.), Stadtrundgang durch Bonns jüdische Geschichte,. Egling an der Paar 2001; Leah Rauhut-Brungs/Gabriele Wasser, Max Herschel. Jüdisches Leben im Rheinland, Bonn 2005; Nicole Bemmelen, Die Neue Judengasse in Bonn – Entstehung und Zerstörung, in: Bonner Geschichtsblätter 51/52 (2001/2002), S. 197–284
22 Synagogenarchitektur in Stadt und Land, 1841, 1861, 1872, 1913 Solingen. Die 1872 in der Malteserstraße eingeweihte Synagoge Stadtarchiv Solingen Köln. Die 1861 eingeweihte Synagoge in der Glockengasse, Chromolithografie von J. Hoegg nach einem Aquarell von Anton Meder, Düsseldorf, um 1861 Kölnisches Stadtmuseum, Graphische Sammlung Rheinisches Bildarchiv Köln
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Titz-Rödingen. Die 1841 erbaute Synagoge am Mühlenend, 2007 LVR-Zentrum für Medien und Bildung, Düsseldorf Essen. Die 1913 eingeweihte Synagoge am Steeler Tor, um 1914 Stadtbildstelle Essen
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es bedingt durch die Verbesserung der rechtlichen und sozioökonomischen Verhältnisse der jüdischen Bevölkerung zu einer verstärkten Bautätigkeit der jüdischen Gemeinden. Es entstanden zahlreiche repräsentative Neubauten in Großstädten; aber auch im kleinstädtischen und dörflichen Bereich wurde eine große Anzahl schlichterer Gotteshäuser erbaut. Das Erscheinungsbild der Bauten war höchst unterschiedlich. Zwei wichtige Stilrichtungen bildeten sich im Laufe der Zeit heraus: Die Befürworter der neoromanischen Bauweise plädierten dafür, dass die von den jüdischen Gemeinden in Auftrag gegebenen Bauten Ausdruck des Integrationswillens der Juden sein sollten. Wortführer dieser Richtung war der jüdische Architekt Edwin Oppler (1831–1880), der unter anderem die Synagogen in Hannover, Breslau, Hameln und Bleicherode erbaute. Unter dem Einfluss seiner Bauten und theoretischen Schriften entstanden vielerorts Synagogen, die sich im Außenbau von Kirchenbauten hauptsächlich durch spezifische Symbole wie den Davidstern auf der Kuppel, Dekalogtafeln über dem Eingang oder hebräische Inschriften unterschieden. Ein anschauliches Beispiel für den neoromanischen Synagogenbaustil im Rheinland ist das 1872 in Solingen an der Malteserstraße Ecke Gerichtstraße eingeweihte jüdische Gotteshaus, ein Zentralbau auf dem Grundriss eines griechischen Kreuzes, der von einem hohen oktogonalen Tambour mit Zeltdach überragt wurde. Architekt war der Kölner Domwerkmeister Franz Schmitz. Der Architekturhistoriker Harold Hammer-Schenk schrieb über den Bau: „Der Entwurf orientiert sich im Baustil stark an den auch von Oppler genannten Vorbildern der ‚deutschen’ Romanik; Vorbilder, die auch bei der formalen Gestaltung des Aufrisses erkennbar werden. Die Westfassade erinnert stark an St. Pantaleon oder die Stiftskirche in Münstereifel. Die Vertrautheit mit dieser Zeitstufe hatte sich Schmitz während seiner Tätigkeit bei dem Kölner Dombaumeister von Schmidt erworben und in späteren Jahren hat er selbst ja eine große Zahl von romanischen Kirchen, vor allem in Köln restauriert. Wir finden hier eine Ausbildung der Romanik, wie sie, außer bei den besprochenen Bauten Opplers, erst wieder in den achtziger Jahren in großer Zahl auftritt und dann zum fast verbindlichen Stil für den Synagogenbau wird.“ (Synagogen in Deutschland, Bd. 1, S. 331) Im neoromanischen Stil entstand auch in Düsseldorf an der Kasernenstraße eine Synagoge, die 1904 eingeweiht wurde. Der Architekt Joseph Kleesattel hatte auch die dortige St. Rochus-Kirche nach dem Vorbild von St. Aposteln in Köln erbaut. Die Ähnlichkeit des Synagogenbaus mit St. Rochus muss frappierend gewesen sein, denn
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manche Zeitzeugen waren felsenfest davon überzeugt, dass es in Düsseldorf zwei Synagogen gegeben habe, die eine in der Kasernenstraße und die andere im Stadtteil Derendorf. Die vermeintliche Synagoge in Derendorf war natürlich die St. RochusKirche. Es gab daneben auch Architekten und jüdische Gemeinden, die die Meinung vertraten, die Synagogenbauten hätten als Ausdruck des Strebens der Juden nach einem eigenen, als spezifisch jüdisch empfundenen Baustil zu gelten. Dieser nahm vor allem „neoislamische“, „orientalische“ oder, wie es zeitgenössisch oft hieß, „maurische“ Formen auf. Man bezog sich dabei auf die Herkunft der Juden aus dem „Orient“. Ein solcher repräsentativer Baustil, der damals für Profanbauten in Mode war, wurde von denen bevorzugt, die eine allzu große Nähe zum Kirchenbaustil als unpassend erachteten. 1861 wurde die von Dombaumeister Ernst Zwirner im „neoislamischen“ Stil entworfene Synagoge in der Glockengasse in Köln eingeweiht; sie zeigte „maurische“ Bögen (Hufeisenbögen) an Fenstern und Türen, „gestreiftes“ Mauerwerk, Zinnen und minarettähnliche Türmchen. Die Befürworter dieses Stils, der freilich auch eine Modeerscheinung war und unter anderem für die Synagogen in Bonn, Aachen, Düren, Euskirchen und Wuppertal-Barmen gewählt wurde, betrachteten sich natürlich auch als Teil der deutschen Gesellschaft. Ohnehin schufen weder die Befürworter neoromanischer Gestaltung noch die Anhänger einer neoislamischen Stilrichtung reine Formen, es handelte sich – entsprechend den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts – bei den Entwürfen mehrheitlich um Mischformen. Allein die Gotik als Synagogenbaustil war in jüdischen Gemeinden nicht beliebt, da sie als der eigentliche Kirchenbaustil in Deutschland galt. Der für unsere Gegend typische Synagogenbau in ländlichen oder kleinstädtischen Gemeinden war ein Backsteinbau auf rechteckigem Grundriss. Er war mit einem Satteldach geschlossen, besaß vielleicht einen kleinen Vorraum im Westen und eine apsisähnliche Nische im Osten, hatte Rundbogenfenster und war mit einem Fries unter der Traufe oder Aufsätzen geschmückt. Die erhaltene Synagoge in TitzRödingen (vgl. Dokument 38) mag als Beispiel für diese Gruppe von Bauten dienen. Einen ganz neuen Weg deutet die 1910–1913 errichtete Essener Synagoge an, mit der versucht wurde, jüdische Eigenständigkeit und Identität mit den Mitteln qualitätvoller zeitgenössischer Architektur zu betonen. Der kompakte Bau mit einer Fassade aus Muschelkalk, bei dem Formen des damals modernen Jugendstils dominieren, wird vertikal rhythmisch gegliedert durch einen Vorhof als Kommunikationsort, als Abgrenzung zur belebten Straße und als Hinweis auf die Raumfolge des Jerusalemer Tempels, durch eine große Vorhalle sowie schließlich die zentrale Halle auf kreisförmigem Grundriss, die außen durch die flache Kuppel mit Tambour und die Flankierungstürme gekennzeichnet war. Drei schwere doppelflügelige Bronzetüren zeigen die Embleme der zwölf Stämme Israels und jüdische Symbole (z. B. Krone der Tora, segnende Priesterhände etc.). Die zentrale Fensterrosette zeigt Maßwerk in der Form des siebenarmigen Tempelleuchters (der Menora) und ist flankiert von zwei Tafeln
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5. Synagoge in der Malteserstraße in Solingen, eingeweiht 1872
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6. Synagoge in der Glockengasse in Köln, eingeweiht 1861
mit Inschriften in Hebräisch und Deutsch: „Und du sollst lieben deinen Nächsten wie dich selbst, ich der Herr“ (Lev. 19,18) und „Wahrlich, mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker“ ( Jes. 56,7). Die differenzierte Verwendung jüdischer Symbolik setzte sich im Innern fort. Der Außenbau der Essener Synagoge ist – mit Ausnahme des Vorhofs – erhalten geblieben. Die Gestaltung des Innenraums ist seit dem im Sommer 2010 abgeschlossenen Umbau zumindest virtuell wieder nachzuempfinden.
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7. Synagoge am Mühlenend in Rödingen, erbaut 1841
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8. Synagoge am Steeler Tor in Essen, eingeweiht 1913
Literatur Claudia Gemmeke, Die Alte Synagoge in Essen (1913), Essen 1990; Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil I: Regierungsbezirk Köln, Köln 1997; Elfi PrachtJörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Regierungsbezirk Düsseldorf, Köln 2000; Michael Brocke (Hg.), Feuer an Dein Heiligtum gelegt. Zerstörte Synagogen 1938. Nordrhein-Westfalen, Bochum 1999; Von der Straße aus gesehen. Synagogen und Bethäuser in NRW heute. Ausstellung in der Alten Synagoge Essen vom 10.11.1998 bis 10.01.1999, Essen 1998; Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert, 2 Bde., Hamburg 1981; Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Architektur der Synagoge. Katalog Deutsches Architekturmuseum Frankfurt/M., Frankfurt/M. 1988; Synagogen in Deutschland. Eine virtuelle Rekonstruktion. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland 17. Mai bis 16. Juli 2000, Bonn 2000; Aliza Cohen-Mushlin/Harmen Thies (Hg.), Synagogenarchitektur in Deutschland vom Barock zum „Neuen Bauen“. Dokumentation zur Ausstellung, 2., durchges. u überarb. Auflage, Braunschweig 2002; Katrin Keßler, Ritus und Raum der Synagoge. Liturgische und religionsgesetzliche Voraussetzungen für den Synagogenbau in Mitteleuropa, Petersberg 2007
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Hinweise Zahlreiche schlichte Synagogen sind als Gebäude im Rheinland erhalten geblieben. Besichtigt werden können nach Absprache die ehemaligen jüdischen Gotteshäuser in PulheimStommeln und in Grevenbroich-Hülchrath. In Titz-Rödingen wurde 2009 das „LVR-Kulturhaus Landsynagoge Rödingen – Jüdisches Leben im Rheinland“ eröffnet (www.synagoge-roedingen.lvr.de, 25.7.2010). Die „Alte Synagoge Essen“ an der Steeler Straße 29 wird nach einem 2010 beendeten Umbau als „Haus jüdischer Kultur“ genutzt (www.alte-synagoge.essen.de, 25.7.2010) Die Internetdatenbank der TU Darmstadt zu Synagogen in Deutschland und im Rheinland ist aufzurufen unter www.cad-cook.architektur.tu-darmstadt.de/synagogen/, 25.7.2010 Für Schüler und Schülerinnen ist es lohnenswert, im Stadtarchiv oder der in Bibliothek zu recherchieren, wie die Synagoge ihres Ortes aussah. Existieren noch Bauzeichnungen und Pläne, Fotos und Zeugenaussagen? Welche Bauweise wurde gewählt, wo stand das Gotteshaus, gibt es heute Hinweise auf das Gebäude?
23 „Die neuen Tempel der deutschen Israeliten“ – Synagogeninnenräume, 1841 und 1913 Siegburg. Die 1841 eingeweihte Synagoge in der Holzgasse, 1937 Archiv des Rhein-Sieg-Kreises, Siegburg Essen. Die 1913 eingeweihte Synagoge am Steeler Tor, um 1914 Stadtbildstelle Essen
Die aus der Antike stammende Institution der Synagoge (hebr. Bet ha-Knesset) – Ort der Versammlung der Gemeinde, des Gottesdienstes und der religiösen Unterweisung – ist kein Sakralbau wie eine katholische Kirche. Dort wird auch kein Opfer vollzogen wie einst im Tempel in Jerusalem. Deshalb besitzt die Synagoge auch keinen Altar. Charakteristisch für die Synagoge ist der Wortgottesdienst: die Lesung aus der Tora und den Propheten, die Schriftdeutung und die Gebete. Das jüdische Gotteshaus gewinnt seine Bedeutung daher durch die Anwesenheit einer oder mehrerer Tora-Rollen (mit den fünf Büchern Mose) in der „Heiligen Lade“ (hebr. Aron haKodesch). Werden die Tora-Rollen aus der Synagoge entfernt (beispielsweise nach Errichtung eines Neubaus), kann der Raum im Prinzip jedem anderen Zweck dienen. Andererseits kann ein jüdischer Gottesdienst überall stattfinden, sofern eine ToraRolle vorhanden ist. Die primäre Zwecksetzung der Synagoge, die Lesung des Wort Gottes aus der Tora, spiegelt sich in der Gestaltung des Innenraums wider. Dazu gehören traditionell folgende Elemente: Tora-Rolle(n), Tora-Schrein (Aron ha-Kodesch) und Lesepult
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(Almemor/Bima). Die mit Tora-Mantel, Tora-Krone oder Rimmonim (Tora-Aufsätzen) und Zeiger „angezogene“ Tora-Rolle wird in dem an der Ostwand, häufig in einer Nische aufgestellten hölzernen Tora-Schrein aufbewahrt, der mit einem ToraVorhang (Parochet) geschmückt ist. Während des Gottesdienstes wird sie zu einem erhöhten Vorlesepult in der Mitte des Raumes gebracht, das Bima (hebr. Tribüne) oder Almemor (hebr., von arab. al-minbar, Kanzel des Imams in Moscheen) genannt wird. Nach der Lesung wird die Tora-Rolle wieder in den Tora-Schrein zurückgestellt. Um dieses typisch aschkenasische „bipolare System“ (Salomon Korn) sind alle anderen Ausstattungsstücke herumgruppiert; in traditionellen Bethäusern waren die häufig mobilen Betpulte um die Bima herum angeordnet und auf sie ausgerichtet. Die traditionelle Gestaltung des Synagogeninnenraums mit dem Tora-Schrein im Osten und der Bima in der Mitte ist auch auf dem Foto der Siegburger Synagoge zu erkennen, die 1841 erbaut wurde. Die Bänke sind allerdings nicht mehr um die Bima gruppiert, sondern nach Osten zum Tora-Schrein hin orientiert. Das bipolare Gestaltungssystem mit der zentral aufgestellten Bima weist eine Gemeinde als traditionell bzw. orthodox aus. Im Gefolge von Emanzipation und Akkulturation der deutschen Juden kam es zu einer Modernisierung der Gottesdienstformen, die sich auch in der Gestaltung der Synagogeninnenräume niederschlug. Alle Funktionen des jüdischen Gottesdienstes wurden nun in Angleichung an den christlichen Kultus nach Osten hin orientiert, d.h. die Bima wurde nach Osten gerückt. Tora-Schrein und Bima bildeten nunmehr optisch eine Einheit. Der Innenraum der Essener Synagoge 1914 zeigt einen Zustand, der eine sehr weit fortgeschrittene Modernisierung widerspiegelt. Hier feierte eine liberale Synagogengemeinde ihren Gottesdienst. Im Osten befindet sich eine aufwändig gestaltete Architekturwand, die den Tora-Schrein und die Bima sowie die spezifischen Elemente eines reformierten Kultus aufnimmt: die Kanzel für die Predigten in deutscher Sprache, die Sänger-Empore für den Chor und die Orgel. Dass die Orgel im Osten platziert wurde, ist allerdings sehr selten und kann als eine Angleichung an die Gestaltung insbesondere protestantischer Kirchenräume gelten. Die Bänke im Parterre sind auf die Ostwand hin ausgerichtet. Geblieben ist auch in Essen die traditionelle Frauenempore (an drei Seiten). Die Bestrebungen, sowohl Männer als auch Frauen im Hauptraum Platz nehmen zu lassen, haben sich in den jüdischen Gemeinden in Deutschland vor der NS-Zeit nicht durchgesetzt. Salomon Korn hat die Entwicklung der Synagogalarchitektur prägnant zusammengefasst: „So wurden aus den lange als ‚Judenschulen’ verpönten Gotteshäusern unter Aufgabe der originären synagogalen Raumordnung Synagogen-Kirchen: die neuen Tempel der deutschen Israeliten.“ (Synagogen in Deutschland. Eine virtuelle Rekonstruktion, S. 28)
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9. Innenraum der Synagoge in der Holzgasse in Siegburg, eingeweiht 1841
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10. Innenraum der Synagoge am Steeler Tor in Essen, eingeweiht 1913
Literatur Vgl. die Literatur zu Dokument 22
Hinweise Infolge der Zerstörungen in der NS-Zeit (bzw., wie im Falle Essens, in der Nachkriegszeit) sind historische Innenräume von Synagogen orthodoxer oder liberaler Gemeinden aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert in Nordrhein-Westfalen nicht erhalten. Eine Führung durch die historische Synagoge in der Kölner Roonstraße (1899 eingeweiht, 1959 in veränderter Gestalt wiedererrichtet) vermittelt aber einen anschaulichen Eindruck davon, was einen Synagogenraum auszeichnet: Synagogen-Gemeinde Köln, Roonstraße 50, 50674 Köln, Tel. 0221/921560-0, Internet: www.sgk.de, 25.7.2010. Für Führungen durch die Alte Synagoge Essen vgl. www.alte-synagoge.essen.de ,25.7.2010.
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24 Die erste deutschsprachige Predigt in der Synagoge in Brühl, 1842 Allgemeine Zeitung des Judenthums, Heft 52, 31. Dezember 1842, S. 766
Am 31. Dezember 1842 erschien in der einige Jahre zuvor gegründeten und in Leipzig erscheinenden „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ eine Mitteilung, die vermutlich ein Mitglied der kleinen jüdischen Gemeinde in Brühl „bei Köln“ verfasst hatte. Der Artikel berichtet begeistert von der Einführung deutschsprachiger Predigten in den Gottesdienst. Diese hatte Moses Wittich, ein junger Prediger, der möglicherweise in Bonn ein Universitätsstudium als Ergänzung seiner rabbinischen Ausbildung absolvierte, mit Zustimmung des Vorstands der jüdischen Gemeinde initiiert. In Anwesenheit des katholischen Geistlichen und von Vertretern der Zivilgemeinde predigte er über die Geschichte Noahs und fand damit großen Beifall in der Gemeinde, die das Experiment fortsetzen wollte. Wittich strebte weitere Gottesdienstreformen an. Zur Einführung des Chorgesangs hatte der Vorstand der jüdischen Gemeinde bereits seine Zustimmung gegeben. Die Einführung deutschsprachiger Predigten in die weitgehend hebräische Gottesdienstliturgie war diejenige Reform, die in den jüdischen Gemeinden am weitestgehenden akzeptiert wurde. Ein neuer Stil der Andacht, die Vermittlung moralischtheologischer Inhalte und eine aktualisierende Bibelauslegung waren beabsichtigt; gerade auch Frauen sollten damit angesprochen werden. Widerspruch wurde lediglich insofern laut, als zu befürchten stand, dass die deutschsprachigen Elemente auf Kosten der traditionellen hebräischen Liturgie ausgeweitet werden sollten. Auch die Einführung des Chorgesangs führte zunächst kaum zu Streitigkeiten. Die Auseinandersetzungen um „gemischte“, aus männlichen und weiblichen Mitgliedern bestehende Chöre sollten ebenso wie die „Orgelfrage“ erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Tagesordnung stehen. Auf größere Widerstände stieß dagegen die Einführung deutschsprachiger Gebete und Gesänge in den jüdischen Gottesdienst. Vielfach abgelehnt wurde auch die Ergänzung der traditionellen Bar Mizwa-Feier, mit der die Jungen nach Vollendung ihres 13. Lebensjahres religionsmündig wurden, durch Elemente, die mit der christlichen Konfirmation vergleichbar waren – wie zum Beispiel durch eine Prüfung des religiösen Wissens und das Sprechen eines Glaubensbekenntnisses. Besonders umstritten war die Streichung von Stellen aus der jüdischen Gottesdienstliturgie. Vor allem ging es hierbei um Gebete für die Wiederherstellung des Tempels in Jerusalem, die Wiedereinführung der Tieropfer und die Rückkehr der Juden in das Land Israel in messianischer Zeit. Die Frage nach dem Charakter des Judentums – Religion, Nation oder beides – wurde von den Vertretern der sich entwickelnden religiösen Richtungen zunehmend unterschiedlich beantwortet. Die Einführung von Gottesdienstreformen und von disziplinierenden „Synagogenordnungen“ (vgl. Dokument 20) war letztendlich eine Antwort auf die religiöse
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und institutionelle Krise, die eine Folge der staatsbürgerlichen Emanzipation der Juden sowie der zunehmenden Säkularisierung seit Ende des 18. Jahrhunderts war. Die traditionellen Formen der Religionsausübung wurden zunehmend als erstarrt erlebt. Auf eine weit verbreitete religiöse Gleichgültigkeit sollte mit Reformen geantwortet werden, die auf ein zeitgemäßes Judentum zielten. Im Grunde ging es um die Neuverortung des Judentums als Konfession in der sich modernisierenden deutschen Gesellschaft, die weiterhin mehrheitlich christlich geprägt war. Brühl (bei Köln), 12. Dezember. (Privatmitth.) Seit einiger Zeit hat sich ein Theologe, Herr Moses Wittich, hier niedergelassen, der den Vorsteher hiesiger Gemeinde ersuchte, ihm zu seiner weiteren Ausbildung auf dem jüdisch-theologischen Gebiete zu gestatten, Vorträge in hiesiger Synagoge zu halten. Die Erlaubniß hierzu erhielt er. Am Sabbat xn t#rp1 hielt er seine erste treffliche Rede, und welchen Eindruck dieselbe auf die hiesige Gemeinde, die zum erstenmale einen in deutscher Sprache abgefaßten Vortrag hörte, machte und welche Sensation sie bei der zugleich anwesenden Geistlichkeit und Ortsbehörde erregte, kann nur der beschreiben, der sich gerade in loco2 befand. An dem darauf folgenden Sonntage wurden Anstalten getroffen, denselben zu ferneren Vorträgen an jedem Samstage zu engagiren, und eine eröffnete Subskription3 deckte sofort die Kosten dieses Unternehmens. Seitdem hielt der junge Gelehrte regelmäßig gottesdienstliche Vorträge, welche auf die Gemüther unsrer Glaubensgenossen ihre Wirkung nicht verfehlten. Mit diesen Predigten hatte Herr Wittich den Anfang zu einer neuen Gestaltung des Gottesdienstes gemacht. Durch seine mit Wärme gesprochenen und in das Herz der Gemeinde tief eingreifenden Worte hatte er es so weit gebracht, daß der Vorstand einen Chor bestehend aus fünfzehn Knaben und acht Männern errichten und sich einen zur Leitung des Chorgesanges tauglichen Kantor kommen ließ. Noch viele Aenderungen im Gottesdienste beabsichtigt Herr W. vorzunehmen, sobald der Bau der neuen Synagoge, an dem man schon dreiviertel Jahre arbeitet, vollendet sein wird. 4
Anmerkungen 1 Hebr. „Paraschat Noach“ (Gen. 6,9 – 11,32): Die Geschichte Noahs ist der Abschnitt der Tora, der am zweiten Schabbat im neuen Jahr gelesen wird, das nach dem jüdischen Kalender im Herbst (September/Oktober) beginnt. Die Tora ist in 54 Wochenabschnitte eingeteilt, von denen an jedem Schabbat ein Abschnitt (selten zwei) vorgetragen wird, so dass im Laufe des Jahres die fünf Bücher Mose einmal ganz gelesen werden. 2 Vor Ort, am Ort. 3 Vorbestellung mit Vorauszahlung.
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4 Der jüdische Gottesdienst fand in Brühl im hinteren Bereich des Hauses Uhlstraße 30/32 statt, das seit 1840 im Besitz der Familien Kahn und Kappel war. In den 1860er Jahren wurde dieser Betraum als unzureichend empfunden. Vermutlich 1884 wurde die Synagoge in der Friedrichstraße errichtet. Im obigen Dokument wird vermutlich auf einen Umbau oder Neubau auf dem Grundstück Uhlstraße 30/32 Bezug genommen.
Literatur Barbara Becker-Jákli, Juden in Brühl, Brühl 1988; Suzanne Zittartz-Weber, Zwischen Religion und Staat. Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815–1871, insbes. S. 280–285; Yvonne Rieker/Michael Zimmermann, Von der rechtlichen Gleichstellung bis zum Genozid, in: Michael Zimmermann (Hg.), Die Geschichte der Juden im Rheinland und in Westfalen, Köln/Stuttgart/Berlin 1998, S. 164–169; Michael A. Meyer, Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Wien u.a. 2000; Michael A. Meyer, Jüdische Gemeinden im Übergang, in: Michael Brenner/Stefi JerschWenzel/Michael A. Meyer (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. II: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 1996, insbes. S. 125–134
25 „Dank den braven Mitbürgern“ – Synagogeneinweihungen als öffentliches Ereignis, 1848, 1861, 1886 Anders als in der Voremanzipationszeit wurden Synagogeneinweihungen im 19. Jahrhundert zu öffentlich zelebrierten Veranstaltungen, durch die Juden wie Nichtjuden die Zugehörigkeit der jüdischen Gemeinde zur örtlichen Gesellschaft bekräftigen konnten. Die folgenden Texte geben einen Eindruck davon, in welcher Form diese Feierlichkeiten abliefen und wie sie bzw. das neue Gebäude von jüdischen und christlichen Zeitgenossen wahrgenommen wurden. Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass jüdische Gemeinden im Rheinland und in Preußen erst seit der Verabschiedung des „Gesetzes, die Verhältnisse der Juden betreffend“ vom 23. Juli 1847 (vgl. Dokument 19) in eigener Regie bauen konnten. Zuvor konnte dies nur durch Einzelpersonen geschehen. Das bedeutete, dass Gemeindemitglieder oder auch Nichtjuden die Räumlichkeiten errichteten bzw. mietweise oder kostenlos zur Verfügung stellten; die Bindung an Einzelne erzeugte häufig große Unsicherheit. Nicht selten kam es vor, dass der Betraum oder das Bethaus den jüdischen Gemeinden entzogen wurde. Im ersten Text berichtet Hieronymus Hirsch, Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Zülpich, in enthusiastischen Worten von der Einweihung der neuen Synagoge in
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der Normannengasse am 12. August 1848. Während das alte, bereits 1602 erwähnte Bethaus bescheiden und versteckt im Hinterhof lag, stand nun direkt und freigestellt an der Straße und inmitten des Ortskerns ein massiver Backsteinbau im landestypischen Rundbogenstil. Waren die Synagogenbauten der Voremanzipationszeit auf ungünstig gelegenen, isolierten Grundstücken, weit entfernt von allen öffentlichen Gebäuden, vor allem von Kirchen, entstanden, so änderte sich das nun. Und weiterhin: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte der jüdische Kultus unauffällig und geräuschlos vonstatten zu gehen; die christliche Umgebung durfte sich nicht belästigt fühlen. Auch das war in Zülpich – wie in vielen anderen Orten im Rheinland – seit Beginn des 19. Jahrhunderts anders geworden. Berichte von Synagogeneinweihungen fanden sich nun in den Tageszeitungen. Das Zülpicher Beispiel zeigt, dass die jüdische Presse den Bericht aus der viel gelesenen „Kölnischen Zeitung“ entnahm. Eine Synagogeneinweihung war kein Ereignis mehr, dass nur die jüdische Gemeinde etwas anging. H. Hirsch erwähnt zwar die zahlreichen Glaubensgenossen und den Krefelder Oberrabbiner Dr. Löb Bodenheimer, besonders stolz ist er aber über die Anwesenheit der örtlichen Honoratioren, des katholischen Pfarrers, des Bürgermeisters, des Stadtrats und des Landrats; sogar ein Landtagsabgeordneter ist in Zülpich dabei. Die Krönung der Feier dürfte die Beteiligung der Bürgerwehr gewesen sein, die beim Einzug der Tora-Rollen in das neue Gotteshaus die Gewehre präsentierte, Zeichen der Ehrerbietung und Symbol der Hoffnung, die zahlreiche Juden mit den demokratischen Reformbestrebungen der bürgerlichen Revolution von 1848/49 verbanden. In Köln konnte die jüdische Gemeinde am 29. August 1861 ihre neue, repräsentative Synagoge in der Glockengasse einweihen, nachdem sie jahrzehntelang ein baufällig gewordenes, zu kleines Bethaus in einem säkularisierten Kloster genutzt hatte. Gestiftet von dem jüdischen Bankier Abraham Oppenheim, einem Mitglied der wohlhabendsten und einflussreichsten jüdischen Familie Kölns, und realisiert nach Plänen des protestantischen Dombaumeisters Ernst Zwirner konnte das von „neoislamischen“ Stilformen geprägte Bauwerk noch nicht freistehend errichtet werden. Es fügte sich in die Straßenflucht ein, war aber dennoch ein ausgesprochen monumentaler Kuppelbau. Vor allem aber demonstrierte der in der „Kölnischen Zeitung“ erschienene Bericht des Nichtjuden Leonard Ennen, des Direktors des Kölner Stadtarchivs, dass ein bislang für Synagogenneubauten im Rheinland unvorstellbarer Materialluxus realisiert werden konnte: Carrara-Marmor, Vergoldungen, echter Stuck, kunstvolle Wandmalereien und Schnitzereien sowie prachtvoll verzierte Seidenornamente verschönerten den Innenraum. Auch technisch war man auf der Höhe der Zeit, wie die Verwendung gusseiserner Säulen für die Frauenemporen und die moderne Gasbeleuchtung zeigten. Die Zeichnung von Jean Bungartz, angefertigt aus Anlass der Einweihung der neuen Synagoge in der Judengasse in Lechenich (heute zu Erftstadt gehörend) am 10. September 1886 für eine der beim bürgerlichen Publikum beliebten illustrierten
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Zeitschriften, zeigt sehr anschaulich den Ablauf einer Synagogeneinweihung, wie sie an vielen Orten ähnlich gestaltet wurde. Wir sehen in der Mitte der Collage den Innenraum und unten das Äußere der Synagoge, flankiert von dem siebenarmigen Leuchter, den Gesetzestafeln, dem Tora-Schrein und zwei Tora-Rollen. Im oberen Bildteil bewegt sich ein Zug festlich gekleideter Frauen und Männer, Jungen und Mädchen von der alten zur neuen Synagoge. Den Anfang des Festzugs bildet eine Kapelle, danach durchschreiten weiß gekleidete Mädchen gerade ein mit Girlanden geschmücktes Tor, gefolgt von Wimpel schwingenden Knaben. Die männlichen Mitglieder der Gemeinde tragen die geschmückten Tora-Rollen, gefolgt von dem die Einweihungszeremonie leitenden Rabbiner, Dr. Abraham Frank aus Köln, sowie Isidor Blumenthal, dem Kantor der Kölner Gemeinde. Drei festlich gekleidete Frauen – eine trägt den Schlüssel zur neuen Synagoge auf einem samtenen Kissen – sowie die geladenen Ehrengäste, Vorstand und Repräsentanten der Lechenicher Synagogengemeinde und die „von nah und fern herbeieilenden Glaubensgenossen beiderlei Geschlechts“ beschließen den Zug. Rechts schaut eine Gruppe nichtjüdischer Bürger dem Ereignis zu. Weitere Details zeigen die Schlüsselübergabe an den Rabbiner – in Lechenich trug bei dieser Gelegenheit ein Mädchen ein Gedicht vor –, den Einzug der Tora-Rollen in das Gotteshaus sowie ihre Einbringung in den Tora-Schrein. Eine kleine Abbildung ist dem Rabbiner gewidmet, der einen Ornat trägt, der an die Amtstracht evangelischer Geistlicher erinnert. Seine wichtigste Aufgabe bei Synagogeneinweihungen war es, eine erbauliche Predigt zu halten. Rabbiner Dr. Frank predigte in Lechenich über den Bibelvers „Wenn Gott der Herr das Haus nicht bauet, so arbeiten die Bauleute umsonst, wenn der Herr die Stadt nicht behütet, so wachet der Wächter umsonst“ (Psalm 127,1). Danach wurde das Gebet für Kaiser und Vaterland und zum Schluss ein Psalm gesprochen. In Lechenich nahmen auch christliche Gäste am Einweihungsgottesdienst teil. Wir sehen also: Synagogeneinweihungen im 19. Jahrhundert vollzogen sich vor den Augen der Öffentlichkeit, mit Festzug und Musik. Manchmal – auch in Lechenich – wurden im Anschluss an die religiöse Feier die christlichen Gäste zur weltlichen Feier geladen, die mit Essen, Tanz, musikalischen und theatralischen Darbietungen einen weiteren Höhepunkt setzte.
a) Zülpich, Synagoge in der Normannengasse Allgemeine Zeitung des Judenthums, Heft 36, 28. August 1848 (Übernahme eines Berichts aus der Kölnischen Zeitung, 15. August 1848) Dank den braven Mitbürgern von Zülpich, welche bei der am 12. d. M. stattgehabten Einweihung der neuen Synagoge unser glänzendes Fest verherrlichten. Dank der Bürgergarde1, welche bewiesen hat, daß sie nicht an alten Vorurteilen hängt, viel-
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mehr nach den Grundsätzen der Humanität auch unsere Konfession mit Achtung behandelt. Wen mußte es nicht tief rühren, als die Bürgergarde beim Eintritte der heiligen Bücher2 in das neue Gotteshaus präsentirte! Wir werden es nie vergessen, daß uns so freundschaftlich die Hand zur Liebe geboten worden! Von Nah und Ferne waren unsere Glaubensgenossen zu dem schönen Feste herbeigekommen, und Alle haben sich gefreut über die schöne, kunstreiche Ausschmückung des Tempels3, haben sich erbaut an den geistreichen, gehaltvollen Reden unsers würdigen Oberrabbiners, des Herrn Bodenheimer4, und Alle waren tief ergriffen, zu sehen, wie brüderlich ihm im Festzuge die katholische Geistlichkeit der Stadt folgte, wie sich Herr Landrath Schröder, Herr Bürgermeister Wachendorff, die übrigen Beamten und der Stadtrat in Freundschaft anschlossen. Jeder mußte sich gestehen: hier herrscht wahre Nächstenliebe, hier herrscht echter deutscher Biedersinn! Herr Landrat Schröder öffnete die Thür zur neuen Synagoge; Herr Landtagsabgeordneter Notar Peter Pfahl befehligte die Bürgergarde und überzeugte uns durch seine warme Theilnahme, daß echte Bruderliebe auch unsrer Konfession gegenüber im Vaterlande zur geltenden Wahrheit geworden. Dank, warmen Dank allen diesen edel gesinnten Herren! Zülpich, den 14. August 1848 Im Namen der israelitischen Gemeinde: Der Vorsteher, H. Hirsch
Anmerkungen 1 Bürgergarden, paramilitärische Einrichtung der Bürger einer Stadt zur Selbstverteidigung, spielten in den revolutionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts, auch 1848/49, eine große Rolle. Ihren Ursprung hatten sie in der Idee der allgemeinen Wehrpflicht, die in der Französischen Revolution erstmals propagiert wurde. 2 Gemeint sind die Tora-Rollen mit den fünf Büchern Mose. 3 Mit Bezugnahme auf das jüdische Zentralheiligtum der Antike in Jerusalem wurde das Wort Tempel seit dem 19. Jahrhundert vor allem von liberal geprägten Gemeinden zur Bezeichnung der Synagoge benutzt. 4 Dr. Löb (Levi) Bodenheimer (1807–1868), Studium an der Universität Würzburg und Schüler der Jeschiwa (Talmudhochschule) von Oberrabbiner Abraham Bing, 1828 Promotion, 1830, 1831 und 1845 Rabbinerdiplome, 1831 Rabbiner in Hildesheim, 1845 Konsistorial-Oberrabbiner in Krefeld, gehörte der konservativen Richtung an.
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b) Köln, Synagoge in der Glockengasse Bericht des Kölner Stadtarchivars Leonard Ennen über die gerade eingeweihte Synagoge in der Glockengasse in der Kölnischen Zeitung vom 31. August 1861, nach dem Abdruck in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums vom 10. September 1861 […] Die innere Fläche der Kuppel ist gleich den Flächen der Seitengewölbe als blauer, mit goldenen Sternen besäeter Grund gemalt. Den Mittelpunkt der Kuppel bildet eine Sonne. Außerhalb über der Kuppel steigt ein reich vergoldetes Minarett in die Höhe, über welchem der vergoldete Davidsstern [sic!] glänzt. Kehren wir in das Innere des Tempels zurück, so sehen wir an der Ostseite desselben die heilige Lade (Bundeslade)1 angebracht, in welcher die Thoras (Gesetzbücher), das Allerheiligste des israelitischen Cultus, aufbewahrt werden. Nach Außen hin ist die Bundeslade aus carrarischem Marmor2 gefertigt. Auf jeder Seite derselben dient ihr eine schmuckreiche Säule zur Einfassung oder zum Abschluß. Die mit Schnitzwerk gezierte Thür der Bundeslade ist durch einen Vorhang verhüllt, der aus Atlas gefertigt und von dem Hof-Goldsticker H.J. Heimerdinger in Karlsruhe mit reichen Stickereien geschmückt ist. An der südlichen, westlichen und nördlichen Seite des neuen Tempels sind übereinander in zwei Etagen die Frauenlogen angebracht, die von schlanken Säulen aus Eisenguß getragen werden und nach vorn mit eisernen, in zierlichen Arabesken ausgeführten Brustlehnen versehen sind. Die Wölbungen über den Frauenlogen sind, wie der maurische Styl3 solches vorschreibt, in Hufeisenform construirt. Die Fenster anlangend, so sind dieselben aus farbenprächtigem Glase aus dem Atelier des Glasmalers P. Graß von hier gefertigt worden und zwar an der Südseite in Rosettenform4. In den vier Ecken der Synagoge sind da, wo die Gewölbe beginnen, Medaillons5 angebracht, auf deren Goldgrund sich hebräische Inschriften befinden. Die inneren Wandflächen des Tempels sind mit reichen, von Jos. Hartzheim hierselbst angefertigten Stuckarbeiten und außerdem mit arabeskenartigen6 Malereien verziert. Dergleichen Malereien bedecken überhaupt alle Bautheile im Innern: Pfeiler, Träger, Geländer u.s.w. Sie sind von der Hand des Decorationsmalers Friedr. Petri aus Gießen mit höchster Mannigfaltigkeit und Eleganz ausgeführt, dergestalt, dass dieselben trotz des außerordentlichen Farbenreichthums durchaus harmonisch wirken. Die Dielung der Synagoge besteht aus Parquetböden, deren Herstellung dem Fabrikanten Bembé zu Ehrenfeld übertragen war. Der heiligen Lade gegenüber, nach der Mitte der Synagoge hin, steht eine vierseitige Estrade7 (der Almemor, Betstuhl), deren Brustlehnen, eben so wie die Kanzel, in reichster Schnitzarbeit von Bildhauer Stephan in Köln ausgeführt wurden. Diese Estrade, zum Vorlesen der Thoras dienend, ist an den Ecken mit vier prächtigen Candelabern8 mit je sieben Flammen versehen. Die Beleuchtung der Synagoge überhaupt erfolgt durch Gas und es sind auch die hierzu dienenden Leitungen und Leuchterarme reich und zierlich gestaltet.
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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6
Gemeint ist der Tora-Schrein zur Aufbewahrung der Tora-Rollen. Marmor aus der italienischen Stadt Carrara gilt als besonders qualität- und wertvoll. Vgl. zur Synagogenarchitektur Dokument 22. Ein rundes Ornament in Blütenform. Ein rundes oder ovales (gerahmtes) Relief oder Bild. Im islamischen Bereich Ornament aus geometrischen Formen und abstrakten Pflanzenranken. Auch in der griechisch-römischen Antike und später in der Renaissance verbreitetes Laub- und Rankenwerk. 7 Durch Stufen abgesetzte Erhöhung des Fußbodens, gemeint ist hier der Almemor, auf dem das Lesepult steht. 8 Standleuchter.
c) Lechenich (Erftstadt), Synagoge in der Judengasse Illustration von Jean Bungartz für die Zeitschrift „Die illustrierte Welt“, 1886 Stadtarchiv Erftstadt
Literatur Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil I: Regierungsbezirk Köln, Köln 1997; Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Regierungsbezirk Düsseldorf, Köln 2000; Michael Brocke (Hg.), Feuer an Dein Heiligtum gelegt. Zerstörte Synagogen 1938. Nordrhein-Westfalen, Bochum 1999; Alte Synagoge Essen (Hg.), Von der Straße aus gesehen. Synagogen und Bethäuser in NRW heute. Ausstellung in der Alten Synagoge Essen vom 10.11.1998 bis 10.01.1999, Essen 1998
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11. Jean Bungartz, Einweihung der Synagoge in Lechenich, 1886
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26 Die Bonner Synagogengemeinde bittet die Stadt um Unterstützung beim Bau einer neuen Synagoge, 1869 Von Dr. Ludwig Philippson formulierte Eingabe der Bonner Synagogengemeinde, Mai 1869 LAV NRW R Düsseldorf, Regierung Köln 3681, Bl. 31–32 RS
Seit Beginn der 1860er Jahre bemühte sich die Bonner Synagogengemeinde um eine Modernisierung ihrer Gemeindeeinrichtungen, denn zahlreiche Gemeindemitglieder erachteten inzwischen umfassende Reformen des jüdischen Kultus als dringend erforderlich. Diese Bestrebungen waren in den Gesamtzusammenhang der Emanzipation, der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, eingeordnet. Im Jahre 1863 bildete sich in Bonn ein Komitee für den Bau einer neuen Synagoge, die „schön, lichtvoll und geräumig“ werden sollte. Vorsitzender dieses Komitees und Vorsteher der Bonner Synagogengemeinde war der seit 1862 in Bonn als Pensionär lebende Rabbiner Dr. Ludwig Philippson. Damit hatte man einen äußerst prominenten Fürsprecher gewinnen können. Philippson wurde am 22. Dezember 1811 in Dessau geboren. Nach seiner Rabbinerausbildung und Promotion in Berlin wirkte er als Rabbiner in Magdeburg. 1834 gründete er das „Israelitische Predigt- und Schulmagazin“, eine der ersten regelmäßig erscheinenden jüdischen Monatsschriften. Dieses wurde 1837 durch die „Allgemeine Zeitung des Judenthums“ abgelöst, die sich unter Philippsons Herausgeberschaft zum wichtigsten Presseorgan des liberalen Judentums in Deutschland entwickelte. Bereits während der Revolution von 1848/49 profilierte sich Philippson als Wortführer der jüdischen Emanzipation und Anhänger einer liberalen Demokratie. Nach der Übersiedlung in die Universitätsstadt Bonn intensivierte Philippson seine schriftstellerische und journalistische Tätigkeit. Er starb am 29. Dezember 1889 in Bonn. Sein Grabstein ist auf dem jüdischen Friedhof an der Römerstraße erhalten. Im Mai 1869 formulierte Philippson die Eingabe der jüdischen Gemeinde an den Bonner Oberbürgermeister und die Stadtverordneten, den Bau einer neuen Synagoge finanziell zu unterstützen. Er appellierte an die Bonner Stadtoberen, Weltoffenheit, religiöse Toleranz und Gleichberechtigung der Konfessionen erneut unter Beweis zu stellen. Auch andere rheinische Kommunen, so Philippson, fühlten sich verpflichtet, ihre jüdischen Gemeinden zu unterstützen, die sich selbst ganz eindeutig als Teil der städtischen Bürgergesellschaft definierten. Die Stadt Bonn reagierte auf den Wunsch der jüdischen Gemeinde positiv. Die Stadtverordnetenversammlung fasste am 20. August 1869 den Beschluss, der Synagogengemeinde einen Baukostenzuschuss in Höhe von 1.500 Talern, zahlbar in drei Jahresraten, zu bewilligen. Der Synagogenneubau ließ noch viele Jahre auf sich warten. Zuvor mussten weitere finanzielle Schwierigkeiten überwunden und andere Forderungen des umfassen-
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den Modernisierungsprogramms realisiert werden. 1872/73 wurde der neue Friedhof an der Römerstraße, also in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums, angelegt. 1874 konnte der als „lähmend“ empfundene Einfluss der als orthodox geltenden Landgemeinden gebrochen werden, die Gegner aller Reformbestrebungen waren. Die Juden von Beuel, Godesberg und Poppelsdorf trennten sich nun endgültig von Bonn. 1876 erwarb die Bonner Synagogengemeinde die der Familie Zuntz gehörenden Grundstücke in der Judengasse (später Tempelstraße) 2–6 zum Zwecke des Synagogenbaus. Am 17. April 1877 fiel die Entscheidung für den Einbau einer Orgel in die neue Synagoge. 1877 wurde eine Rabbinerstelle ausgeschrieben und eine „Commission für die Einführung von Reformen im Gottesdienste“ gebildet. 1878 entstand ein aus „Damen und Herren“ bestehender Synagogenchor. Eine „Commission für die innere Einrichtung der Synagoge“ trat in Aktion. Am 7. Juli 1877 wurde mit Dr. Emanuel Schreiber ein entschiedener Anhänger der Reform nach erbitterten Auseinandersetzungen zum Rabbiner gewählt. Auf sein Anraten hin beschloss die Repräsentantenversammlung im November 1878 die Einführung des von Abraham Geiger verfassten Reformgebetbuchs. Schreiber sorgte auch für die Verbesserung des Religionsunterrichts. Am 31. Januar 1879 schließlich konnte die neue Synagoge am Rheinufer in der Tempelstraße eingeweiht werden. An den Herrn Oberbürgermeister und die Herrn Stadtverordneten von Bonn. Wenn der ergebenst unterzeichnete Vorstand sich erlaubt, das folgende Gesuch an Sie zu richten, so fühlt er sich dazu ermuthigt durch den besonderen Charakter der Stadt Bonn, durch die Bedürftigkeit der Gemeinde, die er vertritt und durch das hochherzige Beispiel, welches von so vielen Communen der Rheinprovinz1 bereits gegeben worden ist. Die Stadt Bonn, der bevorzugte Sitz der Wissenschaft2 in der Rheinprovinz, die vielgerühmte Stätte, wo sich so gerne Fremde aller Länder niederlassen, wird in diesen bedeutungsvollen Eigenthümlichkeiten ihrer Existenz vorzugsweise durch den Geist der confessionellen Parität3 getragen und erhalten, der ihre Bevölkerung beseelt, von ihren Behörden genährt und gepflegt, und in ihren Instituten verwirklicht wird. Die jüdische Gemeinde zu Bonn hat eine lange Vergangenheit, und besitzt aus dieser heraus Einrichtungen und Eigenthum, die durch den Charakter der Zeit, aus welcher sie stammen, völlig veraltet und unbrauchbar geworden. Seit langer Zeit wurde ihr das Bedürfnis nach Bessergestaltung fühlbar, da das religiöse Leben unter diesen Umständen keine Befriedigung fand und dadurch überaus litt. Zurückgeblieben hinter den Bestrebungen und Erfolgen der [sic!] fast aller Gemeinden am Rheinstrom, muß sie jetzt unabweislich an die Neugestaltung aller ihrer Einrichtungen gehen, ohne eine der andern nachsetzen zu dürfen. Sie muss ihren sehr gesunkenen Religionsunterricht reorganisiren und durch Heranziehung besserer Lehrkräfte heben;4 sie muß ihr Spezial-Armen-Wesen neugestalten und mit bedeutenden Geldmitteln ausstatten; sie muß einen neuen Begräbnißplatz auf
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dem diesseitigen Ufer und einen Todtenwagen sich erwerben;5 sie muß endlich, und dies ist das Schwierigste, ein neues Gotteshaus erbauen.6 Dies Alles ohne irgend eine Mithülfe zu erreichen, ist ihr um so schwerer, vielleicht unmöglich, als sie zwar einige begüterte Mitglieder zählt, die Mehrzahl aber nur zu den weniger Bemittelten gehört. Das Grundstück, auf welchem die bisherige Synagoge steht, befasst nicht mehr als 3600 [Quadratfuß]. Das neue Gotteshaus, wenn es den Bedürfnissen nur irgend entsprechen soll, muss 3000 [Quadratfuss] befassen.7 Das alte Grundstück ist dennoch unbrauchbar, weil somit das neue Gebäude kaum 2’ von den Mauern der Nachbarhäuser auf allen drei Seiten entfernt gehalten werden könnte, des Lichtes also entbehren und den Störungen aus den Nachbarhäusern ausgesetzt sein würde, welche jetzt gegenwärtig fast jeden Gottesdienst unterbrechen, und weil für ein unentbehrliches Gemeindehaus, in welchem Küsterwohnung, zwei Klassen für die Religionsschule, ein Sitzungssaal für die Repräsentanten8 u.s.w. vorhanden ein müssen, kein Raum bleibe. Wir sind also genöthigt, ein anderweitiges Grundstück anzukaufen, und das erfordert eine Kaufsumme, deren Betrag in Verbindung mit den Baukosten des neuen Gebäudes von der Gemeinde nicht zu erschwingen ist. Wir wenden uns daher an Sie, hochverehrte Herren, die für die Pflege der religiösen und sittlichen Gesinnung und Bildung in allen confessionellen Gemeinden, die sich im Schoße der Ihrer Obhut vertrauten Stadt befinden, einen gleich offenen Sinn und eine gleiche Thatkraft besitzen, mit dem ganz ergebenen Gesuche, der jüdischen Gemeinde zum Baue einer neuen Synagoge einen Zuschuß aus städtischen Mitteln zu gewähren. Wir würden zu dieser Bitte in der That nicht den Muth haben, wenn wir nicht die Beispiele ähnlicher Unterstützungen aus zahllosen Städten des Vaterlandes, und ganz besonders auch der Rheinprovinz vor uns hätten. So hat die Stadt Aachen der dortigen jüdischen Gemeinde zur Erweiterung ihres Friedhofs und der Mauer desselben die Summe von 1550 Rhlr.9 gewährt, zahlt seit einer langen Reihe von Jahren zur Erhaltung ihrer Schule – ohne daß diese den Charakter einer öffentlichen besitzt – einen Zuschuß von jährlich 260 Rhlr., und hat endlich zum Bau einer neuen Synagoge der Gemeinde 16.000 Rhlr. zu 4 % vorgestreckt, die jährlich mit 1000 Rhlr. zurückerstattet werden. Die Stadt Coblenz zahlt schon seit 1848 der jüdischen Gemeinde zu Cultus- und ReligionsunterrichtsZwecken jährlich einen Zuschuß von 220 Rhlr. Die Stadt Elberfeld10 trug zu dem Bau einer neuen Synagoge 2000 Rhlr. bei und gibt für den Religionsunterricht der schulpflichtigen Kinder jährlich 100 Rhlr. Cöln erhält gegenwärtig die Schule der jüdischen Gemeinde vollständig und baut ihr in Bälde ein schönes, geräumiges Schulhaus. Dasselbe findet in Mülheim an der Ruhr statt. Wir genügen uns mit diesen wenigen Beispielen, welche wir von fast allen Orten vermehren könnten. Wir halten uns überzeugt, dass Sie, hochzuverehrende Herren, den Ruf um Unterstützung nicht überhören werden, welchen eine vom besten Stre-
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ben beseelte, aber in ihren Mitteln beschränkte Religionsgemeinde an Sie richtet; Sie werden es um so weniger thun, als Sie auch gegen die hiesige evangelische Gemeinde Ihre paritätische Gesinnung durch eine reiche jährliche Unterstützung zur Erhaltung ihrer Freischule thatkräftig erwiesen haben. Die numerische Stärke und das Ansehen der hiesigen jüdischen Gemeinde lassen es nicht zu, dass wir auswärts unsere Glaubensgenossen um milde Gaben angehen. Eine Mithülfe der Stadt würde aber außer dem finanziellen Beistande auch eine so erhebende Einwirkung auf die Mitglieder der Gemeinde machen, daß sie um so mehr zu allen möglichen Opfern bis zur Erreichung der vorgesteckten Ziele sich bereit fühlen werden. Weisen Sie uns also nicht ab, und die Gefühle der Dankbarkeit werden unverlöschlich in unseren Herzen bleiben. Bonn, Mai 1869 Der Vorstand der Synagogengemeinde Gez. Dr. Ludwig Philippson
Anmerkungen 1 1816 wurde das preußische Rheinland in zwei Provinzen aufgeteilt: Kleve-Jülich-Berg mit dem Oberpräsidialsitz in Köln, umfassend die Regierungsbezirke Köln, Düsseldorf und Kleve (Kleve wurde 1821 aufgelöst und zu Düsseldorf geschlagen), und das Großherzogtum Niederrhein mit dem Oberpräsidium in Koblenz, bestehend aus den Regierungsbezirken Aachen, Koblenz und Trier. 1822 wurden beide Provinzen zur Rheinprovinz (der Name war seit 1830 gebräuchlich) zusammengefasst. Sitz des Oberpräsidenten wurde Koblenz. 2 Der preußische König Friedrich Wilhelm III. gründete 1818 in Bonn die später nach ihm benannte Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität als preußische Landesuniversität, die schnell große Reputation erlangte. 3 Gleichstellung, hier im Sinne von Gleichberechtigung der Konfessionen. 4 1819 und 1850 unternahm die jüdische Gemeinde in Bonn Versuche, eine eigene Volksschule einzurichten, die aber beide scheiterten. Unter den Rabbinern Dr. Emanuel Schreiber (Amtszeit 1877–1881) und Dr. Falk Cohn (Amtszeit 1882–1901) gelang es dann, einen geregelten Religionsunterricht anzubieten, der von staatlich geprüften Lehrkräften erteilt wurde und sich gut entwickelte. Ansonsten besuchten die Kinder die allgemeinen Elementar- und höheren Schulen. 5 Der seit dem 16./17. Jahrhundert belegte alte Friedhof der Bonner jüdischen Gemeinde liegt auf der rechten Rheinseite nördlich des Dorfes Schwarzrheindorf in der Siegniederung, heute nahe der Friedrich-Ebert-Autobahnbrücke. Die Bonner und die Beueler Juden nutzten ihn gemeinsam (vgl. Dokument 10).
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6 Zwischen 1754 und 1758 wurde die Synagoge im jüdischen Ghetto an der Judengasse 810 (später 10) erbaut. Vor der Synagoge stand ein Gemeindehaus. 7 Das Grundstück für die neue Synagoge war etwa 777 qm groß, die neue Synagoge selbst 555 qm. Da ein preußischer Quadratfuß etwa 0,1 qm entspricht, war der schließlich realisierte Synagogenbau sehr viel größer als ursprünglich geplant. 8 Nach dem „Gesetz, die Verhältnisse der Juden betreffend“ vom 23. Juli 1847 erhielten die neu geschaffenen Synagogengemeinden einen Vorstand sowie eine Repräsentantenversammlung, eine Art Gemeindeparlament (vgl. Dokument 19). 9 Reichstaler. 10 Elberfeld wurde 1929 mit Barmen zur Stadt Wuppertal vereinigt.
Literatur Manfred van Rey, Jüdisches Leben in Bonn, in: Claudia Maria Arndt (Hg.), Unwiederbringlich vorbei. Geschichte und Kultur der Juden an Sieg und Rhein. Zehn Jahre Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“, Siegburg 2005, S. 218–237; Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen. Teil I: Regierungsbezirk Köln, Köln 1997, S. 467–488; Michael J. Wieseler, Die Reform der Synagogengemeinde Bonn im ersten Jahrzehnt der Kaiserzeit, in: Dietrich Höroldt/Manfred van Rey (Hg.), Bonn in der Kaiserzeit 1871– 1914. Festschrift zum 100jährigen Jubiläum des Bonner Heimat- und Geschichtsvereins, Bonn 1986, S. 275–288; Johanna Philippson, Ludwig Philippson und die Allgemeine Zeitung des Judentums, in: Hans Liebeschütz/Arnold Paucker (Hg.), Das Judentum in der deutschen Umwelt 1800–1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation, Tübingen 1977, S. 243–291; Julius H. Schoeps, Deutsch-jüdische Symbiose oder Die missglückte Emanzipation, Berlin u.a. 1996
27 „Gerechtigkeit üben“ – Festrede des Rabbiners Dr. Israel Schwarz bei der Einweihung des Jüdischen Krankenhauses in der Silvanstraße in Köln, 1869 Die Einweihung des von den Herren Gebrüder Eltzbacher gegründeten Israelitischen Asyls für Kranke und Altersschwache in Cöln am 12. Januar 1869, Köln 1869, 12–14 Bibliothek Germania Judaica, Köln
Am 12. Januar 1869 wurde in der Silvanstraße in der Kölner Südstadt das Israelitische Asyl für Kranke und Altersschwache eingeweiht. Zu diesem Anlass hielt Dr. Israel Schwarz (1828–1875), seit 1857 Rabbiner in Köln und überhaupt der erste neuzeitliche Gemeinderabbiner in der rheinischen Metropole, eine Festrede, in der er die Leitlinien sozialen Engagements (hebr. Zedaka) im Judentum erläuterte.
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Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gegenüber den jüdischen Glaubensgenossen werden von Schwarz als religiöse Verpflichtung definiert. Aus dem Glauben an Gott resultiert aber auch religiöse Toleranz und damit das Streben, auch Nichtjuden gegenüber Gerechtigkeit und Wohltätigkeit zu üben. Rabbiner Schwarz’ Rede ist ein Plädoyer gegen religiösen Fanatismus. Diesen ordnet er der „Wüste des Mittelalters“ zu. In der modernen Welt, die im Deutschen Reich von geistigem Fortschritt und Rechtsstaatlichkeit geprägt ist, kann er als überwunden gelten. Das neue jüdische Krankenhaus (mit Altersheim), das einzige im Rheinland und später das fünftgrößte in Deutschland (nach Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main und Breslau), wird in Schwarz’ Rede als ein Ort vorgestellt, an dem religiöse Toleranz verwirklicht ist. Und tatsächlich war das „Jüddespidohl“ bald nach seiner Eröffnung in der Kölner Bevölkerung wegen der ausgezeichneten Ärzte, der modernen technischen Ausstattung und der hervorragenden hygienischen Verhältnisse hoch angesehen. 1891 waren 53,5 Prozent und 1899 67 Prozent der Patienten und Patientinnen Christen. Vor 1933 war das Krankenhaus zeitweise bis zu 80 Prozent von Nichtjuden belegt. Das Israelitische Asyl für Kranke und Altersschwache, eine Stiftung, die die Brüder Louis, Jacob Löb und Julius Eltzbacher aus Köln und Moritz und Gustav Eltzbacher aus Amsterdam zum Andenken an ihre verstorbenen Eltern ins Leben gerufen hatten, war ein Symbol jüdischer Emanzipation und Integration, aber ebenso jüdischer Identität und traditionsverbundenen jüdischen Engagements. Der Erfolg der Einrichtung war so groß (1869 26, 1891 185 und 1906 644 behandelte Kranke), dass Ende des 19. Jahrhunderts an einen Neubau gedacht werden musste, der am 19. Februar 1908 in Köln-Ehrenfeld an der Ottostraße eingeweiht werden konnte. Das Krankenhaus, das Haus für Altersschwache (Alters- bzw. Elternheim), das Schwesternhaus und die Wirtschaftsgebäude standen in einem weitläufigen Parkgelände. Langjähriger ärztlicher Leiter der Anstalt war Dr. Benjamin Auerbach. 1942 wurde das Israelitische Asyl von der Stadt Köln beschlagnahmt und übernommen, die Patienten und das medizinische Personal wurden kurz darauf deportiert. In der Nachkriegszeit wurde die teilweise zerstörte Einrichtung zur Anlaufstelle nach Köln zurückkehrender Juden, die das nationalsozialistische Terrorregime überlebt hatten. Hier wurde die Verwaltung der neu entstandenen jüdischen Gemeinde eingerichtet, hier fand seit Juni 1945 wieder jüdischer Gottesdienst statt (vgl. Dokument 71). Von 1950 bis 1995 nutzten die belgischen Streitkräfte das Areal als Militärhospital. Seit 2003 unterhält die Kölner Synagogengemeinde in der Ottostraße nach der Sanierung des Hauptgebäudes und der Errichtung von Neubauten ein modernes Wohlfahrtszentrum mit Grundschule, Kindergarten, Jugendzentrum, Elternheim und Synagoge. […] „Gerechtigkeit üben“, das heißt nicht nur jedes selbstsüchtige Begehren, jede rechtlose That meiden, die Hände rein halten von Krümme1, das Wort hüten vor Trug, „Gerechtigkeit üben“, darunter versteht der Prophet die Pflichten der Humani-
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tät erfüllen, also in weiterem Sinne, Allen Denen ihr moralisches Recht angedeihen zu lassen, das unsere Brüder vermöge ihrer gemeinsamen Abkunft mit uns, von uns beanspruchen können. Mischpat2 und Zedaka3, Recht und Gerechtigkeit, nennt der Genius der heiligen Sprache das Werk der Barmherzigkeit, das wir den Armen und Gedrückten spenden; eine Schuld ist es, die wir abzutragen haben, da wir Hab und Gut nur als Darlehen empfangen, und als ihre provisorischen Verwalter Rechenschaft ablegen müssen vor dem Throne dessen, der der wahre Gutsherr der Erde ist und aller Schätze, die sie verleiht. Nun, gestehen wir es, die edlen Brüder, die harmonisch vereint zu Rath und That dieses Asyl gegründet, die aus dankerfüllter Brust, weil der Allgültige ihrer Hände Fleiß gesegnet und sie genießen ließ die Früchte unermüdlichen, gemeinnützigen Strebens, ein solch schönes Opfer der Menschenliebe vor ihm niedergelegt, sie haben das Wort des Propheten tiefinnig erfaßt. – […] Wandeln wir aber in Wahrheit vor Gott, anerkennen wir Ihn als den Lenker unserer Geschicke, Ihn, dessen Vaterauge wacht über groß und klein, reich und arm, gut und bös, über Völker- und Menschen-Geschlechter allzumal, - wer gibt uns da die Befugniß mit unserm Stolz und Dünkel beengende Grenzen unseres Wohlthuns zu ziehen, oder gar auszuschließen von unserem Erbarmen die, die ihren Gott in anderer Weise verehren als wir, in ihren religiösen Anschauungen eine andere Meinung hegen als wir, zu ihrem Vater im Himmel auf einem andern Wege gelangen als wir? Welche Vermessenheit, uns als die allein berechtigten Gott-Erkorenen zu halten! Führt dieser sündige Gedanke nicht zum Glaubenswahn, verzehrt dieses unheilige Glaubens-Feuer nicht den glorreichen Tempel des religiösen Friedens, zertrümmert den hehren Altar der Menschenliebe und wandelt Segen in Fluch, Menschenwürde in Schmach und Fall, Gottes Preis in Gotteslästerung? Heil uns, daß sie hinter uns liegt die schreckensvolle Nacht des finstern Fanatismus, der wie eine grimmige Hyäne durch die Wüste des Mittelalters raste, Heil uns, daß das Morgenroth der Licht verbreitenden reinen Gottes-Erkenntniß den hellen Tag der Menschheits Zukunft verkündet. Ja, hier erhebt sich jetzt zu Gottes Ruhm und Preis, ein Haus, das seine Pforten öffnet für alle Einlaß Begehrenden, ohne zu fragen, ob sie im Judenthum oder im Christenthum das Heil ihrer Seelen finden? ein Haus – Gottes Segen auf das Haupt seiner Erbauer! – in welchem nicht Glaubenslosigkeit herrschen wird, wohl aber ächte Gottesfurcht und Glaubensinnigkeit, die sich gerade in der Hochachtung vor jedem Bekenntnisse und in dem aufrichtigen Streben, durchaus gerecht zu werden allen Anforderungen desselben auszeichnen wird. Solch erleuchtete Anschauung wahrer religiöser Toleranz ist die Frucht unseres geistigen Fortschrittes, ihm huldigen mehr und mehr die Gesetze unseres intelligenten Staates, der sich der beglückenden Leitung unseres ruhmgekrönten Königs4 – der Allgütige schütze und erhalte ihn – und seiner weisen Regierung erfreut. Und solch hochherzige Opferwilligkeit, wie sie der Bau dieses Hauses bekundet, ist der
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Widerhall der strahlendsten Tugenden hehrer Munificenz5, welche unserer geliebten Vaterstadt, des goldenen Rheines weltberühmter Metropole, trefflichste Söhne schon so oft und seit den letzten Dezennien6 insbesondere, auf den verschiedenen Gebieten des Schönen, Guten und Wahren, der Kunst, der Humanität und der Religiösität in bewunderungswürdiger Weise bekundet haben – zum Vor- und Nachbild kommender Geschlechter. […]
Anmerkungen 1 Unredlichkeit, Ungerechtigkeit, „Winkelzüge“. 2 Hebr. Recht, Rechtssatzung, Gericht. 3 Hebr. Gerechtigkeit, Wohltätigkeit. In der Bibel steht Zedaka für Frömmigkeit, Gerechtigkeit und rechtschaffene Taten, die Ausübung sozialer Gerechtigkeit durch die Abgabe eines Teils des eigenen Vermögens zum Wohle der Bedürftigen. Zedaka bewahrt den Menschen vor der Sünde und hilft den Bedürftigen, für sich selbst zu sorgen. 4 Wilhelm I. (1797–1888), seit 1861 König von Preußen, seit 1871 deutscher Kaiser. 5 Freigebigkeit. 6 Jahrzehnte.
Literatur Barbara Becker-Jákli, Das jüdische Krankenhaus in Köln. Die Geschichte des Israelitischen Asyls für Kranke und Altersschwache 1869–1945, Köln 2004; Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt a. M. und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (Hg.), Zedaka. Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit. 75 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland 1917–1992. Ausstellungskatalog, Frankfurt/M. 1992
28 Friedhofsanlagen und Grabsteingestaltung zwischen Tradition und Moderne, 1886–1923/32 Kempen. Die Grabsteine der Familie Kounen auf dem jüdischen Friedhof an der Breslauer Straße, 1886–1910 Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Duisburg Solingen. Grabstein für das Kind Robert Feist auf dem jüdischen Friedhof am Estherweg, 1908 LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland, Pulheim-Brauweiler
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Duisburg. Grabmal für Ludwig und Natalie Lilienfeld auf dem jüdischen Friedhof am Sternbuschweg, nach einem Entwurf von Leopold Fleischhacker, 1923/32 LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland, Pulheim-Brauweiler
Die Veränderungen in den rechtlichen und politischen Verhältnissen spiegeln sich auch in den Friedhofsanlagen und der Grabsteingestaltung wider. In der Voremanzipationszeit war es den jüdischen Gemeinden kaum möglich, Friedhofsgrundstücke als Eigentum zu erwerben; diese wurden von den Territorialherren oder den Städten zugeteilt oder auch entzogen. Gute Lagen waren selten: Die Friedhöfe befanden sich häufig weit von den Ortschaften entfernt, in Wäldern, an steilen Hängen, auf feuchtem, steinigem und felsigem Terrain, auf Flächen also, die für andere Zwecke kaum zu gebrauchen waren. Die rechteckigen, oben oft abgerundeten Grabsteine aus Sandstein waren schlicht und gleichförmig gestaltet (vgl. Dokument 10). Der lange und von Rückschlägen gekennzeichnete Weg zur Integration in die bürgerliche Gesellschaft ist auch an der Lage und Größe der Friedhöfe, an der Gestaltung der Grabsteine und an den Inschriften ablesbar. Neue, stadtnahe Begräbnisplätze wurden angelegt, die nun Eigentum der Synagogengemeinden waren. Sie wurden häufig gärtnerisch gestaltet. In Großstadtgemeinden entstanden zahlreiche Trauerhallen. Friedhofsordnungen sorgten für einen würdevollen Ablauf der Bestattung. Eine wichtige, für das 19. Jahrhundert typische Veränderung betrifft die Entwicklung der Grabsteininschriften: Anders als die ausschließlich hebräischsprachigen Steine der Frühen Neuzeit kamen im 19. Jahrhundert zweisprachige Inschriften auf, wobei die hebräischen Elemente allmählich zugunsten der deutschen zurückgedrängt wurden. Für das Rheinland hat Michael Brocke beobachtet, dass das Deutsche auf der Rückseite oder im unteren Bereich des Steins „für längere Zeit eine knappe, fast marginale Ergänzung war, bis die Texte übergangslos ganz ins Deutsche wechseln und dem Hebräischen nunmehr einen Randplatz lassen“. Auch auf dem Lande ist diese Entwicklung festzustellen, wenn auch nicht mit der gleichen Intensität wie in den Städten. Orthodoxe Gemeinden hielten an der traditionellen Gestaltung fest. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Inschriften auf den Grabsteinen der Familie Kounen auf dem jüdischen Friedhof in Kempen am Niederrhein, die zwischen 1886 und 1910 gesetzt wurden und alle die gleiche Form haben. Die Steine für Isaac und Ester Kounen zeigen im Mittelteil einen ausführlichen hebräischen Text, der wichtige biographische Details vermittelt. So werden die jüdische Gelehrsamkeit des Mannes, seine wohltätigen Stiftungen, seine Mitarbeit im Stadtrat und in der Synagogengemeinde ebenso erwähnt wie die besondere Frömmigkeit der Frau, die Schmuck für die Tora-Rollen in der Synagoge anfertigen ließ und ihr Haupthaar beim Ausgehen „züchtig“ verbarg. Die deutschen Namen und Lebensdaten des Ehepaares zeigen die unteren Felder der Grabsteine.
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Auf den jüngeren Grabsteinen, links neben den Stelen für Isaac und Esther Kounen, wird die hebräische Sprache immer stärker zurückgedrängt. Die Inschrift auf dem Grabstein der 1910 verstorbenen Rosette Behr, geb. Kounen, wirkt fast verloren auf der großen Grabsteinfläche. Jüdische Friedhöfe des 19. Jahrhunderts lassen den Anspruch der jüdischen Familien auf Gleichberechtigung, bürgerliches Selbstbewusstsein, auch das Repräsentationsbedürfnis der wirtschaftlich und sozial Arrivierten erkennen. Prunk und Protz sind vor allem bei Familiengrüften auch auf jüdischen Friedhöfen zu finden. In der zweiten Hälfte des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstehen zahlreiche, oft künstlerisch wertvolle, figürliche Darstellungen. Am Ende der Entwicklung stehen plastische Figuren, wie sie exemplarisch der Grabstein für den vierjährig verstorbenen Robert Feist auf dem jüdischen Friedhof in Solingen zeigt. Anliegen der Friedhofsreformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts war es, den überbordenden Formenreichtum in der Grabsteingestaltung zu mäßigen, Form und Inhalt wieder in Einklang zu bringen. Auch auf jüdischen Friedhöfen sind diese Einflüsse nachweisbar. Das Anliegen der Reformbewegung spiegelt sich eindrucksvoll in den Entwürfen des Düsseldorfer Bildhauers Leopold Fleischhacker wider, die auf zahlreichen jüdischen Friedhöfen im Rheinland umgesetzt wurden. Auf dem Grabstein für Ludwig und Natalie Lilienfeld auf dem jüdischen Friedhof am Sternbuschweg in Duisburg fügt sich die schlichte, in moderner Typografie gehaltene Inschrift harmonisch in die außergewöhnliche Form des Grabsteins ein.
Literatur Michael Brocke/Hartmut Mirbach, Grenzsteine des Lebens. Auf jüdischen Friedhöfen am Niederrhein, Duisburg 1988; Michael Brocke, Der jüdische Friedhof in Solingen. Eine Dokumentation in Wort und Bild, Solingen 1996; Michael Brocke/Christiane E. Müller, Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Deutschland, Leipzig 2001; Stefan Bajohr (Hg.), Archiv aus Stein. Jüdisches Leben und jüdische Friedhöfe in Nordrhein-Westfalen, Oberhausen 2005; Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil 1: Regierungsbezirk Köln, Köln 1997; Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil 2: Regierungsbezirk Düsseldorf, Köln 2000; Ulrich Knufinke, Bauwerke jüdischer Friedhöfe in Deutschland, Petersberg 2007
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12. Grabsteine der Familie Kounen in Kempen, 1886–1910
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13. Grabstein für Robert Feist in Solingen, 1908
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14. Grabstein für Ludwig und Natalie Lilienfeld in Duisburg, 1923/32
Hinweis Beim Besuch eines jüdischen Friedhofs können die skizzierten Entwicklungen nachvollzogen werden. Es bietet sich an, die Schüler und Schülerinnen zu Lage und Geschichte des Friedhofs Recherchen anstellen und einzelne Grabsteininschriften analysieren zu lassen. Informationen über jüdische Friedhöfe in der Umgebung bieten die Handbücher über „Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen“; auch die Denkmalbehörde jedes Ortes kann Auskünfte erteilen. Empfohlen sei auch ein Blick in das Internetangebot des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen „Spurensuche. Jüdische Friedhöfe in Deutschland – Eine Einführung für Lehrer und Schüler“: http://spurensuche.steinheim-institut.org/index.html, 3.8.2010
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29 Faszination Weihnachtsfest, vor 1914 Artur Joseph, Meines Vaters Haus, Köln/Berlin 1979, S. 69f.
Artur Joseph (1897–1983), dessen Eltern in der Kölner Schildergasse ein exklusives Schuhgeschäft besaßen, das er später übernahm, schildert in seinen Memoiren, die er nach der Emigration in den 1950er Jahren in Israel verfasste, die Feste seiner Kindheit und Jugendzeit in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Er beschreibt zunächst die jüdischen Feste, wie sie in seiner Familie gefeiert wurden. Deren Mitglieder waren „treue Deutsche und gottesfürchtige Juden“, ihr Alltagsleben durch einen Balanceakt zwischen Tradition und Moderne geprägt. Die Gebote des Schabbat als eines echten Ruhetages waren kaum mehr einzuhalten; der Vater ging ins Geschäft, die Kinder zur Schule, wo sie den Schulranzen tragen und schreiben mussten – alles Tätigkeiten, die nach dem jüdischen Religionsgesetz verboten waren. Die Pessach-Feiern wurden von Artur Joseph als altmodisch und ohne Leben empfunden; die Kinder wurden zur Ernsthaftigkeit ermahnt und ständig reglementiert. Chanukka, das historische Lichterfest, das an die Wiedereinweihung des Tempels durch die Makkabäer 164 v.Chr. erinnert und das meistens in die Adventszeit fällt, wird als sehr schlicht, langweilig und kaum die Gefühlswelt des Kindes ansprechend beschrieben. An diesen Festen hielt aber Artur Josephs Familie fest, um die eigene religiöse Identität zu wahren, die längst brüchig geworden war, und um sich zumindest im religiösen Bereich gegen die christliche Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen. Zwar wurden in der Familie Joseph die weihnachtlichen Gebräuche nicht adaptiert, wie dies in vielen jüdischen Familien in Deutschland um 1900 üblich geworden war. Auf den jugendlichen Artur übt das christliche Weihnachtsfest aber einen großen Zauber aus. Er bewundert die Geschenksitten und liebt die Atmosphäre der weihnachtlich geschmückten Stadt, die Lieder und die Erzählungen der Hausangestellten von den Gottesdiensten im Kölner Dom. Er bedauert, dass ihn die Distanz zum Weihnachtsfest, die Betonung der „religiösen Selbständigkeit“ – wie er es nennt – von seinen christlichen Freunden trennt und betrachtet das Weihnachtsfest als „Zeit der Freude“, als Friedensfest. Im Alter von 15 Jahren setzt er bei seinen Eltern durch, die Weihnachtsmesse im Kölner Dom besuchen zu dürfen. Der musisch begabte Junge interessiert sich vor allem für die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes, und natürlich ist er neugierig auf den unbekannten Ritus. Indem Artur Joseph in seinen Memoiren den kulturellen und ethischen Aspekt des Religiösen betont, fällt es ihm auch im Rückblick nicht schwer, seinen Wunsch, am Heiligabend die Messe im Kölner Dom zu besuchen, zu rechtfertigen; als gläubiger Jude fühlt er sich einer Kultur verbunden, die sehr wohl christlich geprägt ist, aber im Judentum ihre Wurzeln hat. Joseph sieht seine jüdische Identität nicht dadurch bedroht, dass er an einem zentralen christlichen Fest teilnimmt. Jüdisches Selbstbewusstsein und Teilhabe am religiös-kulturellen Leben der Mehrheitsgesellschaft sind für ihn kein Widerspruch.
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Es ist anzunehmen, dass Josephs Wunsch, an der Weihnachtsmesse teilzunehmen, auch in der Begeisterung der meisten Kölner Bürger für „ihren“ Dom begründet ist. Am Ende seiner Memoiren schreibt er über seine Liebe zu Köln – im Angesicht der Schoa: „Ich liebe die alte Vaterstadt: im Erwachen des Morgens denke ich an den Dom, an die Stadt am Rhein, an alles, was einmal war. Oft wandere ich durch ihre Straßen, und sie tut mir gut: Meine Heimat. Ich spüre sie noch durch die Rauchwolken hindurch.“ Artur Joseph, der 1938 nach Palästina/Israel emigrierte, kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurück und lebte als Schriftsteller und Journalist in Frankfurt am Main. […] Man wird mich kaum mißverstehen und mir etwa unterstellen, ich wolle unsere Feste herabsetzen. Ich berichte nur eben, daß man früher in der Diaspora1 wohl trefflich verstand, den Kindern ihren Ernst vorzuführen, aber alles unterließ, was sie ihnen hätte anziehend machen können. Man hütete ängstlich die „religiöse Selbständigkeit“ so sehr, daß man die „christliche Sitte“ der Bescherung geradezu ablehnte, weil weder in der Bibel noch im Talmud davon die Rede sei. Daß man damit Religiöses und Kulturelles verwechselte und den Anschluß an eine normale Entwicklung verlor, begriff man offenbar nicht. Ich habe denn von mir selbst einfach zu gestehen, daß ich meine christlichen Freunde um ihr Weihnachtsfest beneidete, an dem ich nicht teilhatte. Es war gewiß nicht allein das Schenken und Beschenktwerden, es war die Atmosphäre insgesamt, die Ausstellungen der Warenhäuser und aller Geschäfte bis zum kleinsten, der Nikolaus und Knecht Ruprecht, die Adventswochen und die letzten, schon gedrängt eiligen Tage vor dem Fest – Weihnachten als Zeit der Freude, die ich schon früh empfand, wenn ich die Lieder auf meiner Geige spielte oder die Hausmädchen von der Frühmette im Dom erzählen hörte. So kam es, daß ich als Bub von fünfzehn einige Tage vor Weihnachten der verwunderten Mutter ankündigte, ich werde in der „Heiligen Nacht“ in den Dom gehen, um die herrlichen Messen zu hören, von denen ich auch in der Zeitung gelesen hatte. Daraufhin befahl der Vater mich zu einer Aussprache in sein Büro: mit strenger Miene saß er an seinem Schreibtisch – ich stand in entsprechender Haltung vor ihm – und fragte mich allen Ernstes, ob ich etwa die Absicht habe, mich taufen zu lassen. Nein, erklärte ich ihm, ich wolle keineswegs zum Christentum übertreten, und es seien keinerlei religiöse Probleme, deretwegen ich diesen Gang vorhabe, vielmehr sei es die Musik und, zugegeben, vielleicht auch der Wunsch, Unbekanntes und Fremdes kennenzulernen. Während ich reinen Gewissens das wiederholte, versuchte der Vater mir einsichtig zu machen, der Besuch der Heiligen Messe bedeute entscheidend mehr als der einer sonstigen Veranstaltung, und schloß wie gewöhnlich: „Ich werde es mir überlegen.“ Dann aber, obgleich er zunächst mein Vorhaben zu mißbilligen schien, gab er mir die Erlaubnis, und ich bin seither, so oft es mir möglich war, zur Weihnachtsmesse gegangen. Und immer wieder ergreift mich die Friedensbotschaft des Weihnachtsfestes, die ich als Geschenk für alle
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Welt, für Juden wie Christen, betrachte. Mit den alten Liedern wandern meine Gedanken zurück in die Zeit, da sie zum erstenmal mir erklangen, und kreisen um die Wurzeln unserer Kultur, die man christliche nennt und auf Jüdisches gegründet sieht, und die man, wo immer sie herkommt, erhalten muß. Daß diese Teilnahme am Weihnachtsfest meine Verbundenheit mit dem Glauben meiner Vorväter nie minderte, brauche ich kaum zu betonen, und ebenso, ja noch weniger zu sagen, daß ich meinen Vater dankbar bewunderte für einen Entschluß, der ihm sicher nicht leicht fiel. […]
Anmerkung 1 Zerstreuung, Exil.
Literatur Monika Richarz, Der jüdische Weihnachtsbaum – Familie und Säkularisierung im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts, in: Michael Grüttner/Rüdiger Hachtmann/ HeinzGerhard Haupt (Hg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt/M./ New York 1999, S. 275–289; Bernward Deneke, Zwischen Anpassung und Differenz. Bemerkungen zu Chanukkafeiern in Bielefeld im 19. Jahrhundert, in: Rheinischwestfälische Zeitschrift für Volkskunde 46 (2001), S. 275–290; Cilly Kugelmann (Hg.), Weihnukka. Geschichten von Weihnachten und Chanukka. Begleitbuch zur Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin, Berlin 2005. Auch Hanele Zürndorfer, die ihre Kindheit und Jugend in Düsseldorf verlebte, widmet den jüdischen Festen und dem Weihnachtsfest einigen Raum in ihren Memoiren: Verlorene Welt. Jüdische Kindheit im Dritten Reich, hg. von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Düsseldorf e.V. und der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, bearb. von Rolf Schörken, Düsseldorf 1997
30 Ein Plädoyer für die jüdische Volksschule, 1914 Bergische Tageszeitung Nr. 126 vom 3. Juni 1914 Sammlung der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal
Während der Jahresversammlung israelitischer Lehrer der Rheinprovinz und Westfalen, die Anfang Juni 1914 in der Stadthalle in Elberfeld (heute Wuppertal) stattfand, hielt Julius Ransenberg, seit 1896 Lehrer und Kantor der Synagogengemeinde Neuwied, das Hauptreferat. Er setzte sich engagiert für die Einrichtung neuer jüdischer
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Schulen ein, obwohl sich das jüdische Schulwesen zu dieser Zeit bereits seit langem auf dem Rückzug befand. Vor Beginn des 19. Jahrhunderts fand die Unterweisung jüdischer Jungen überwiegend im sogenannten „Cheder“ (hebr. Zimmer, Stube) statt, wo schlecht ausgebildete und miserabel bezahlte Lehrer den Kindern die Grundlagen der jüdischen Religion (Bibel, jüdische Traditionsliteratur) beibrachten. Besser gestellte Familien engagierten Privatlehrer. Im Zuge von Aufklärung und Emanzipation kam die Forderung auf, jüdische Erziehung auf eine breitere Basis zu stellen. Die religiösen Fächer sollten durch weltlichen Unterricht ergänzt werden. Es entstanden jüdische Elementarschulen, in denen die Religion nur noch ein Teilbereich des Unterrichts war. Besonderes Gewicht wurde erstmals auf die Mädchenbildung gelegt. Die schulische Bildung wurde zu einem wichtigen Faktor für die Akkulturation der deutschen und der rheinischen Juden. 1824 führte der preußische Staat die allgemeine Schulpflicht auch für jüdische Kinder ein. Lehrer, die an jüdischen Schulen unterrichteten, mussten sich einer staatlichen Prüfung unterziehen. Große Verdienste um die Lehrerbildung erwarb sich der 1826 von dem jüdischen Arzt und Gelehrten Alexander Haindorf in Münster gegründete „Verein zur Beförderung von Handwerken unter den Juden in Verbindung mit einer Schulanstalt“, der auch von den jüdischen Gemeinden in der Rheinprovinz finanziell unterstützt wurde; zahlreiche Absolventen der Münsteraner Anstalt unterrichteten an jüdischen Volksschulen im Rheinland. Mit dem Gesetz über die Verhältnisse der Juden vom 23. Juli 1847 erhielten die größeren jüdischen Volksschulen in Preußen den Status von öffentlichen Schulen. Sie wurden nun von den Kommunen finanziell unterstützt. Die Anstellung, Entlassung und Besoldung der jüdischen Lehrer wurde der Verfügungsgewalt der jüdischen Gemeinden entzogen, wodurch sich ihr Status erheblich verbesserte. Die gesetzliche Neuregelung bewirkte auch einen regelmäßigeren Schulbesuch der jüdischen Kinder. Insgesamt begann bereits vor der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Rückgang des jüdischen Schulwesens. Immer mehr Eltern bevorzugten allgemeine oder christliche Schulen für ihre Kinder, um ihnen die bestmögliche schulische Ausbildung als Sprungbrett für ein Universitätsstudium zu geben. Die Schülerzahlen in den jüdischen Schulen sanken kontinuierlich. Während 1886 in Preußen 13.249 Kinder in jüdischen Volksschulen unterrichtet wurden, waren es 1896 nur noch 8.123 und 1901 6.337 Kinder. 1914 besuchte die Mehrzahl der jüdischen Kinder christliche oder allgemeine Schulen. Der jüdische Religionsunterricht wurde in besonderen Religionsschulen erteilt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Ruf nach einer Renaissance des jüdischen Schulwesens laut. Reformpädagogische Ansätze zielten darauf, den Religionsunterricht aus seinem Nischendasein zu befreien. Eine bewusst jüdische Lebensweise sollte den gesamten Unterricht durchdringen. Auch das Argument, jüdischen Kindern in Zeiten des immer weiter um sich greifenden Antisemitismus einen Schutz-
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raum zu bieten, gewann an Gewicht. Solche Überlegungen spielten auch bei der 1919 erfolgten Gründung der einzigen höheren jüdischen Schule im Rheinland, dem Reformrealgymnasium „Jawne“ in Köln, eine wichtige Rolle. Zu einem letzten „Aufschwung“ des jüdischen Schulwesens in Deutschland kam es unter gänzlich veränderten Bedingungen in der Zeit des Nationalsozialismus, nachdem die jüdischen Schülerinnen und Schüler sukzessive vom Besuch der allgemeinen Schulen ausgeschlossen worden waren. […] Alsdann nahm Herr Ransenberg-Neuwied das Wort zu seinem Referat: „Warum sollen jüdische Volksschulen errichtet werden?“ Er erörterte zunächst die verschiedenen Formen des Volksschulunterrichts für jüdische Kinder, wie sie jetzt üblich sind. In einzelnen Orten bestehen noch jüdisch-christliche Schulen1, in anderen erteilen jüdische Lehrer an christlichen Schulen den Religionsunterricht an die jüdischen Kinder und nebenher Unterricht in einzelnen allgemeinen Fächern. Am meisten gebräuchlich jedoch ist, daß man die jüdischen Kinder in die christlichen Schulen schickt und sie nebenher am Unterricht einer besonderen jüdischen Religionsschule teilnehmen läßt. Daß besonders letztgenannte Art des Unterrichts schwere Nachteile für die jüdischen Kinder hat, läßt sich nicht abstreiten. Der Religionsunterricht ist vom Gesamtunterrichte gelöst, er muß der Unterstützung und Verknüpfung mit andern Unterrichtsfächern entbehren, obwohl doch der ganze Unterricht religiöse Werte prägen kann. Hier liegt der besondere Wert der jüdischen Volksschule. Der Religionsunterricht braucht in derselben nicht Nebenfach zu sein, er wird nicht vom Gesamtunterricht isoliert. Die jüdisch-konfessionelle Schule ermöglicht die Sabbatheiligung und die Teilnahme am Gottesdienst, sie ermöglicht die Schulung des Gemeindegesanges bei den Kindern. Das alles spricht für die jüdische Volksschule. Man macht gegen die Einführung derselben zwar geltend, daß sie die Gegensätze zwischen Judentum und Christentum stärken soll. Aber mit demselben Grunde könnte man es ablehnen, katholische und evangelische Schulen zu gründen. Zudem machen wir ja auch die Erfahrung, daß da, wo jüdische Volksschulen schon gegründet sind, der Antisemitismus nicht stärker geworden ist. In der christlichen Schule dagegen kann das jüdische Kind vor Verletzungen seiner religiösen Gefühle nicht hinreichend geschützt sein, dieselben können dem christlichen Lehrer, auch ohne daß er es will, beim Unterricht unterlaufen. Wie viel mehr kann und wird das geschehen, wenn der Lehrer Antisemit ist. Auch vor Unbilden seitens der Mitschüler ist das jüdische Kind nicht hinreichend geschützt. Leider ist selbst in unsern Reihen vielfach die Stimmung der jüdischen Volksschule nicht günstig. Man bedenkt nicht, daß man auf Staatsmittel unbedacht Verzicht leistet, die uns doch gehören. Man wendet ein, dass die jüdische Volksschule zu einer Armenschule werden würde. Zweifellos aber würden viele Eltern ihr Kind in die Volksschule schicken, die es jetzt nur zur höheren Schule senden, um es der christ-
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lichen Schule fernzuhalten. Und für uns Lehrer gibt es ja keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. (Sehr richtig!) Wir fordern daher: Solange in Preußen die konfessionelle Schule festgesetzt ist, die Einrichtung jüdischer Volksschulen im Interesse der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, im Interesse der Erziehung der Kinder, im Interesse unseres jüdischen Lehrerstandes. Möge unsere Forderung erfüllt werden der Judenheit zur Ehre und zum Heile. Lebhafter Beifall, der den Worten des Redners folgte, bewies die Zustimmung der Versammlung zu seinen Ausführungen, die dann in einer längeren Diskussion nochmals zum Ausdruck kam. […]
Anmerkung 1 Gemeint ist die Simultanschule, die in Preußen vor allem der damalige liberale Minister für Kultur und Unterricht Albert Falk zu Beginn der 1870er Jahre förderte. Hauptgedanke war die Überwindung der Konfessionsschule. In der Simultanschule wurden christliche und jüdische Kinder von Lehrern beider Konfessionen in allen Fächern mit Ausnahme des jeweiligen Religionsunterrichts unterrichtet.
Literatur Yvonne Rieker/Michael Zimmermann, Von der rechtlichen Gleichstellung bis zum Genozid, in: Michael Zimmermann (Hg.), Die Geschichte der Juden im Rheinland und in Westfalen, Köln u.a. 1998, insbes. S. 159–164; Gisela Miller-Kipp, Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte. Die jüdische Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf (1815–1945). Archive, Dokumente und Geschichte, Köln 2010. Eine zusammenfassende Darstellung des jüdischen Schulwesens in der gesamten Rheinprovinz, vergleichbar der Arbeit von Klaus Pohlmann, Das jüdische Schulwesen in Lippe im 19. und 20. Jahrhundert (Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 57 (1988), S. 251–341) existiert nicht; Modechai Eliav, Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und Emanzipation, Münster u.a. 2001; Monika Richarz, Jüdische Lehrer auf dem Lande im Kaiserreich, in: Jahrbuch für deutsche Geschichte 20, Tel Aviv 1991, S. 181–194; Susanne Freund, Jüdische Bildungsarbeit zwischen Emanzipation und Ausgrenzung. Das Beispiel der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster (1825–1942), Paderborn 1997; Andreas Brämer, Leistung und Gegenleistung. Zur Geschichte jüdischer Religionsund Elementarlehrer in Preußen 1823/24 bis 1872, Göttingen 2006
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31 In Duisburg wird ein Eruw (Schabbat-Bezirk) eingerichtet, 1929 Gemeindeblatt für den Synagogenbezirk Duisburg 2. Jg., Nr. 16, 1. November 1929 Bibliothek Germania Judaica, Köln
Am 1. November 1929 berichtete das „Jüdische Gemeindeblatt für den Synagogenbezirk Duisburg“ in einem Artikel über die von der ostjüdischen Gemeinschaft initiierte Einrichtung eines Eruw. Der Artikel zeigt, dass im orthodoxen Milieu traditionelle Bräuche weiterhin lebendig blieben bzw. neu belebt wurden. Wie der Verfasser des Artikels sehr anschaulich erklärt, bedeutet das hebräische Wort Eruw „Vermischung“, „Vermengung“, „Vereinigung“, wobei es vorrangig darum geht, während des Schabbat getrennte Bereiche zu einer ideellen Einheit zu verbinden. Durch die Einrichtung des Eruw werden der öffentliche und der private Bereich zusammengeschlossen; es entsteht ein größerer Bezirk, innerhalb dessen das Verbot, Objekte am Schabbat herumzutragen, nicht gilt. Der Eruw bewirkt, dass die Ruhe des Schabbat, der Frieden und die Freude, die Abwendung vom Alltag, von der Arbeit und allen drückenden Problemen in einem größeren Bereich als dem des Privathauses Wirklichkeit werden können. Ein Eruw wird durch eine durchgängige, zumeist kaum sichtbare Begrenzung definiert. In Duisburg war es nicht notwendig, einen Draht oder eine sogenannte Schabbat-Schnur zu spannen, da die topografischen Gegebenheiten sozusagen einen natürlichen Eruw bildeten: Ähnlich wie in früheren Zeiten die abgeschlossene Judengasse oder die von hohen Mauern umgebene Stadt dienten hier Rhein, Bahndamm und Häfen als Grenzen des Schabbat-Bezirks. Eingeweiht wurde der Eruw von dem Rabbinatsassessor der Duisburger ostjüdischen Gemeinschaft, Jakob Markus (Mordechai) Bereisch (1895–1976). Neben den Mitgliedern der eher religiös liberal orientierten jüdischen Großgemeinde lebten in Duisburg zahlreiche seit dem Ersten Weltkrieg aus Russland, Galizien und Polen zugewanderte Juden (1920: ca. 1.500 Personen), die sich zu einer selbständigen Gemeinde mit Betsälen in der Charlottenstraße 29 und der Universitätsstraße 29, mit Mikwe (Ritualbad), Schechita (Schlachtung von Tieren nach jüdischem Religionsgesetz) und Religionsschule zusammengeschlossen hatten. Die ostjüdische Gemeinschaft bildete aber keine von der Großgemeinde getrennte Separatgemeinde, sondern war in dieser verblieben. Für das friedliche Miteinander beider Richtungen spricht auch, dass Dr. Manass Neumark (1875–1942), der Rabbiner der Hauptgemeinde, der Einweihung des Eruw beiwohnte. Er warb damit um Verständnis für Bräuche, die den deutschen Juden mehrheitlich fremd geworden waren, die aber durchaus ein belebendes Element im religiösen Leben darstellen konnten.
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Ein Eruw in Duisburg. Eine seltene Feier hat am letzten Sabbat vor Rosch Haschanah1 beim Nachmittagsgottesdienst [am 28.9.1929] in der Synagoge in der Charlottenstraße stattgefunden. Die Einweihung eines Eruw. Eruw heißt Vereinigung und bezeichnet im talmudischen Schrifttum2 insbesondere die Zusammenfassung getrennter Teile eines Gebietes zu einem Gesamtgebiet, innerhalb dessen das Tragen am Sabbat3 als erlaubt gilt. Gewiß ist es nicht mehr in allen jüdischen Kreisen bekannt, daß zu den altjüdischen Sabbatvorschriften auch die gehört, daß man aus einem Privatgebiet in öffentliches Gebiet nichts hinaustragen soll, als was man als Kleidung an sich trägt. Darin lag eine wirksame Ablösung vom Alltag, und in eigenartiger Freiheit und Unbeschwertheit ging man einher. Aber am stärksten machte sich wohl die Nebenwirkung bemerkbar, daß mit diesem Trageverbot von selbst auch der Bewegungsfreiheit am Sabbat Grenzen gezogen waren. Denn gerade dadurch wurde der traulich ruheatmende Sabbatbezirk des Hauses und der Gemeinde geschaffen. Freilich, oft genug war solche sabbatliche Grenzumfriedung mit mancher Einschränkung und Unbequemlichkeit erkauft. Schon der Talmud suchte durch manche Begriffserweiterung des Privatgebietes dem Verkehr wieder größere Freiheit zu schaffen. Wie das einzelne Familienhaus, wurde auch ein ganzes Gehöft als Einheit zum Tragen freigegeben, und auch viele Gehöfte konnten zur Einheit zusammengefaßt werden, wenn sie in gewisser Form auch äußerlich umgrenzt waren. Und so fehlte denn kaum in einer mittelalterlichen Gemeinde, wenn nicht die Ghettomauern selbst schon die Einheit bildeten, der Eruw, der mit Draht oder dergleichen den ganzen Wohnbezirk als einheitliches Sabbatgebiet umschloß. Für Duisburg war eine besondere Maßnahme in dieser Hinsicht nicht nötig. Der ostjüdische Dajan4, Herr Bereisch, hatte festgestellt, daß hier der Rhein, die Häfen und die Bahndämme eine vollkommene Umschließung darstellen, so daß zu den örtlichen Voraussetzungen nur noch feierlich bekundet werden mußte, daß die Juden dieses Bezirkes sich als solche sabbatlich umhegte Einheit fühlen wollen. Und dieser Wille kam in der Einweihungsfeier der Eruw [sic!] zum Ausdruck. Der Dajan erklärte den Besuchern der Synagoge, zu denen auch Vorstand und Rabbiner der Gemeinde geladen waren, den Sinn und die Bedingungen des Eruw und mahnte in eindringlichen Worten, innerhalb des nun zur Einheit zusammengeschlossenen Gebietes auch wirklich den Geist des Friedens und der Einigkeit zu bestätigen, Verträglichkeit und Versöhnlichkeit als Auswirkung der nun gefestigten Sabbatstimmung auch im Alltagsleben walten zu lassen. Herr Rabbiner Dr. Neumark brachte das Interesse der Gesamtgemeinde an dieser religiösen Feier zum Ausdruck, denn auch Bräuchen, die fremd geworden sind, kann und soll Verständnis und Achtung entgegengebracht werden, wenn sie bei denen, die sie aufrechterhalten, wahrhaft religiöse Vertiefung bewirken. Als äußeres Symbol der neugebildeten Gemeinschaft ist nach überliefertem Brauch eine große Mazzoh5 in der Synagoge Charlottenstraße angebracht worden, die das ganze Jahr dort hängen bleibt. Ihre symbolische Bedeutung als Unterpfand der Einigkeit und des gegenseitigen Verständnisses
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zwischen allen Teilen unserer Gesamtgemeinde wurde in beiden Ansprachen betont. Herr Dajan Bereisch gab seiner Freude Ausdruck, daß nun auch den gesetzestreuen Mitgliedern der Gemeinde die Sabbatfeier wesentlich erleichtert sei. Und auch wir wollen ihnen oneg schabbat – echte Sabbatfreude – an dem neuen Eruw wünschen.
Anmerkungen 1 Hebr. Haupt des Jahres, jüdisches Neujahrsfest im Herbst. 2 Hebr. Lernen, Lehre, Studium. Der Talmud besteht aus zwei Teilen, der Mischna (hebr. Wiederholung, Sammlung von Rechtssatzungen) und der Gemara (hebr. Vollendung, Kommentar zur Mischna). Man unterscheidet zwischen dem Jerusalemer Talmud (Ende 5. Jh.) und dem Babylonischen Talmud (6./7. Jh.). 3 Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und der Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 4 Hebr. Richter, hier Rabbinatsassessor. 5 Mazzen sind ungesäuerte Brote, die an Pessach gegessen werden zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, der in solcher Hast erfolgte, dass man das Brot nur ungesäuert backen konnte.
Literatur Günter von Roden, Die Geschichte der Duisburger Juden, Duisburg 1986, insbes. S. 379– 409; Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Regierungsbezirk Düsseldorf, Köln 2000, S. 80–82; Stephen M. Lowenstein, Das religiöse Leben, in: Steven M. Lowenstein u.a., Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. III: Umstrittene Integration 1871–1918, München 1997, S. 101–122; Mordechai Breuer, Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, Frankfurt/M. 1986
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32 „Man hatte nichts miteinander zu tun“ – Gottesdienst im ostjüdischen Betraum im Untergeschoss der Essener Synagoge am Steeler Tor, um 1930 Interview mit Mordechai Netzer, früher Max Schanzer, geführt von Benno Reicher am 12. August 1983 Alte Synagoge Essen, Archiv, IN. 061 Das auf einer Kassette gespeicherte Interview wurde von der Bearbeiterin verschriftlicht und sprachlich leicht bearbeitet.
Mordechai Netzer wurde als Max Schanzer am 16. März 1926 in Essen geboren. Beide Elternteile stammten aus Polen: der Vater Josef Schanzer aus Brzezinka (Birkenau), die Mutter Bertha, geb. Turteltaub, aus Kamionka. Zur Familie gehörte noch der ältere Bruder Dov. Nach dem Zuzug nach Essen betrieb Josef Schanzer ein Fotogeschäft zunächst in der Friedrich-Ebert-Straße, später in der Kastanienallee. Im Zuge der sog. Polenaktion wurden am 28. Oktober 1938 etwa 20.000 polnische Juden, die häufig schon lange im Deutschen Reich lebten, zur polnischen Grenzstation Zbąszyń (Bentschen) deportiert, darunter auch die Familie Schanzer. Mordechai Netzer überlebte die Deportation. 1948 konnte er nach Israel auswandern. Er starb am 23. Dezember 2007 in Haifa. Die Familie Schanzer gehörte in Essen zu einer Minderheit in der Minderheit: Sie hatte sich der ca. 200 Mitglieder zählenden eigenständigen orthodox-ostjüdischen Gemeinschaft angeschlossen (Hauptgemeinde 1933: 4.500 Mitglieder, davon 1.459, d.h. 35,5 Prozent osteuropäischer Herkunft). Es existierten in Essen mehrere Betstuben, in denen orthodoxe Juden ihre Gottesdienste feierten. Die Gruppierung, der die Familie Schanzer angehörte, benutzte die durch einen Nebeneingang zugängliche Wochentags-Synagoge im Untergeschoss der Hauptsynagoge am Steeler Tor (vgl. Dokumente 22 und 23). Mordechai Netzer beschreibt im Gespräch mit Benno Reicher den Gottesdienst in der Wochentags-Synagoge und das Verhältnis von zugewanderten „Ostjuden“ und alteingesessenen „Westjuden“ in Essen zu Beginn der 1930er Jahre. Besonders auffallend sind die Unterschiede im religiösen Leben: Der Gottesdienst der orthodoxen Gemeinde kennt keine Orgelbegleitung und wird ausschließlich in hebräischer Sprache gehalten. Lichtanschalten gilt als Arbeit und verstößt somit gegen die SchabbatRuhe. Eine gewisse Unruhe ist normal, Unterhaltungen, Emotionen, das Hin- und Hergehen der Gottesdienstbesucher sind nicht verpönt. Oben in der Hauptsynagoge ist der Gottesdienst christlichen Formen angepasst; es gibt eine Orgel direkt über dem Tora-Schrein (vgl. Dokument 23), man betritt die Synagoge in festlicher Kleidung, sitzt diszipliniert auf seinem Platz und vermeidet Privatgespräche. Es herrschen Ordnung und Konzentration (vgl. Dokument 20). Den religiösen entsprechen soziale Unterschiede. Die „Westjuden“ leben in den „guten“ Stadtvierteln, gehen bürgerlichen Berufen nach und sind häufig wohlhabend.
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Die ostjüdischen Familien leben vor allem in der Essener Altstadt und im Arbeiterviertel Segeroth, in ihrer Mehrzahl ernähren sie sich durch Kleinhandel, auch die Frauen sind häufig berufstätig. Viele der Zuwanderer halten an der jiddischen Sprache fest und tragen ihre traditionelle Kleidung. Ein eigenes Vereinswesen dient der Selbsthilfe, verstärkt aber auch die Isolation. Mordechai Netzer beschreibt auf seine recht wortkarge Art eindrucksvoll das Verhältnis von „Ostjuden“ und „Westjuden“: Es herrschte Distanz, jede Gruppe blieb unter sich, man lebte in „zwei Welten“. Die Eingesessenen hegten starke Vorbehalte, zuweilen Verachtung, höchstens Mitleid gegenüber den Zuwanderern. Diese konterten mit dem Vorwurf des Verlusts an jüdischer Substanz (vgl. die schöne Anspielung auf den Namen des Küsters der Hauptsynagoge). Allerdings näherten sich viele Migranten, die bereits länger in Deutschland lebten, sowie ihre Nachkommen der modernen Lebenswelt zunehmend an. Mordechai Netzer hat später die Hauptsynagoge häufig besucht, allerdings nicht auf Veranlassung seiner Familie, sondern auf Anregung von Karola Heumann, 1933–1937 Lehrerin an der jüdischen Schule in Essen. Mordechai Netzer (M. N.) Warum haben wir eigentlich da [in der Wochentagssynagoge der Hauptgemeinde] gebetet? Weil nach Auffassung der Orthodoxen das Gebet am Schabbat1 oder an Feiertagen mit Orgel untersagt ist. Das ist nicht die orthodox-religiöse Auffassung und außerdem hat der Rabbiner oder Chasen2, der Kantor, während des Gebets haben die das Licht eingeschaltet und die Orgel zum Einsatz gebracht. Also, das war im Gegensatz zur orthodoxen Auffassung und deshalb haben wir hier gebetet. Benno Reicher (B.R.) Aber das war nicht der einzige Unterschied…? M.N. Sagen wir, es war der ganze Stil. Man hat sich nicht so gefühlt wie ein Teil der Gemeinde. Das war wie auf einer Bühne [in der Hauptgemeinde; d. Bearb.]. Oben saß der Rabbiner und der Kantor und die Gemeinde saß unten, da war irgendwie eine Distanz. Beim Aufrufen zur Tora musste man einen Zylinder anziehen und wer keinen Zylinder hatte in der großen Synagoge, der konnte sich in der Garderobe einen Zylinder borgen. Und der Küster von der großen Synagoge hieß ironischerweise Heide, wissen Sie das, wir haben immer darüber gelacht, dass der Küster einer Synagoge Heide heißt. […] B.R. Also, es gab auch diesen optischen Unterschied?
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M.N. […] Aufgerufen wurde man nur mit Zylinder und in der großen Synagoge wurde man nicht beim Namen aufgerufen, sondern rischon scheni hamischi3 und so weiter. […]. Aber auch in der kleinen Synagoge kam zu den Hohen Feiertagen4 immer ein Chasen von auswärts, meistens aus Polen. Also, noch etwas von der Synagoge. Man durfte auch nicht sprechen oben, unten ja. Man wurde mit Namen aufgerufen. Man konnte rausgehen, man konnte reingehen. Dort musste man sitzen, wie Sie es sagten, wie in einer Oper oder einem Konzert, während der Vorstellung darf man nicht rein- oder rausgehen. Disziplin… Wer später kam, saß hinten, bis dann die Orgel spielte. B.R. Auf reservierten Plätzen? M.N. Das gab es unten auch, die Plätze hat man gekauft. Man hat dafür bezahlt. Meistens vor Neujahr, vor Rosch ha-Schana hat man die Plätze gekauft, für das ganze Jahr. Das Geld war für die Unterhaltung des Bethauses bestimmt. B.R. Aber unten war es lebendiger. Disziplin gab es nicht? M.N. Nein, nein. Man konnte hinausgehen, man konnte hineingehen, man konnte sprechen. Wenn es zuviel Gerede war, dann hat man auf den Tisch geschlagen, um Ruhe zu schaffen, irgendwie, damit man weiter beten konnte. B.R. Sagen Sie etwas zu den Beziehungen zwischen oben und unten. Das hatte ja auch einen sozialen Aspekt: oben und unten. M.N. Ja, gut, dass Sie mich daran erinnern, ich hatte es ja fast ganz vergessen. Das war ein Unterschied, das war jedenfalls mein Gefühl und das Gefühl meines Bekanntenkreises, dass die Ostjuden nicht so von den deutschen Juden, wie man sagt, akzeptiert wurden, ja, sie wurden gewissermaßen von den deutschen Juden als Juden niedrigerer Stufe angesehen. Ich weiß nicht, ob das richtig ist, mein Gefühl: Die deutschen Juden haben sich mehr als Deutsche gesehen. Wir waren irgendwie fremd. Gewissermaßen. Auch sozial waren wir eine andere Klasse. Die waren die Reichen, Bürgerlichen…
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B.R. Können Sie sich vorstellen, wie das Zahlenverhältnis zwischen diesen beiden Gruppen war. Die untere Klasse, war die größer als die obere Klasse? M.N. Nein, ich glaube nicht. B.R. Es war die Minderheit. M.N. Ja, es war die Minderheit. B.R. Und gab es Kontakte zwischen diesen beiden Gruppen, gab es ein Verhältnis, gab es Spannungen oder hatte man gar nichts miteinander zu tun? M.N. Spannungen nicht. Kein Verhältnis. B.R. Kein Verhältnis? Man hatte nichts miteinander zu tun? M.N. Nein. B.R. Man hatte gar nichts miteinander zu tun? Sogar nicht in der Schule und auch hier im Hause nicht? Man war unten und dann ging man nach Hause? M.N. Ja. B.R. Hier oben kam man nicht hinein? M.N. Nein.
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Anmerkungen 1 Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und der Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 2 Hebr. Chasan, Kantor, Vorbeter in der Synagoge. 3 Hebr. „Erster, Zweiter, Fünfter“, gemeint ist der Aufruf zur Tora-Lesung, der nach Zahlen erfolgte; in der Synagoge in Essen teilte der Küster vor dem Gottesdienst entsprechend nummerierte Zettel aus. 4 Die Hohen Feiertage sind Rosch ha-Schana, das Neujahrsfest, und – zehn Tage später – Jom Kippur, das Versöhnungsfest.
Literatur Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986; Shulamit Volkov, Die Dynamik der Dissimilation: Deutsche Juden und die ostjüdischen Einwanderer, in: dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, S. 166–180; Ludger Heid, Ostjüdische Kultur im Deutschland der Weimarer Republik, in: Julius H. Schoeps (Hg.), Juden als Träger bürgerlicher Kultur in Deutschland, Stuttgart/ Bonn 1990, S. 329–355; Michael Zimmermann, Zur Geschichte der Essener Juden im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Ein Überblick, in: Alte Synagoge (Hg.), Jüdisches Leben in Essen 1800–1933, Essen 1993, insbes. S. 45–54; ders., Alltagssynagoge und Hoffnungsstraße. Erinnerungen an Essen in den dreißiger Jahren, in: Naftali Bezem. Katalog zur Ausstellung des Museums Folkwang in der Alten Synagoge Essen 21.2. – 5.4.1992, Essen 1992, S. 7–13
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4. Facetten des christlich-jüdischen Miteinanders 33 „Gesottene Katze scheut den kochenden Kessel“ – Heinrich Heine über seine erste Begegnung mit Judenfeindschaft in Düsseldorf, Anfang des 19. Jahrhunderts Heinrich Heine, „Memoiren“-Fragment. In: Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (Düsseldorfer Ausgabe), hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 15, bearb. von Gerd Heinemann, Hamburg 1982, S. 75f.
Die „Memoiren“ des Dichters Heinrich Heine (1797–1856) entstanden in einem Zeitraum von mehr als dreißig Jahren, von der Studentenzeit bis zur Leidenszeit als Schwerkranker in der „Matratzengruft“ in Paris. Den Abschnitt über seine Kindheit, aus dem hier die Schilderung eines traumatisierenden schulischen Erlebnisses ausgewählt wurde, verfasste Heine in den Jahren 1853/54. Die vom Dichter breit angelegten „Memoiren“ waren ursprünglich als selbständige Veröffentlichung geplant, gingen dann aber in anderen Publikationen auf: Die Jugendjahre finden sich im „Buch Le Grand“, die zeithistorischen Erinnerungen im Buch über Ludwig Börne. Das sogenannte „Memoiren“Fragment wurde erst 1884, lange nach Heines Tod, herausgegeben und der ursprünglich von Adolf Strodtmann betreuten Gesamtausgabe als Supplementband hinzugefügt. Im gleichen Jahr erschienen die „Memoiren“ auch in der populären Zeitschrift „Gartenlaube“. Heute bildet das „Memoiren“-Fragment zusammen mit den „Geständnissen“ und kleineren autobiografischen Texten den Band 15 der Historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke Heinrich Heines (Düsseldorfer Ausgabe). Die folgende Textstelle schildert eine für Harry Heine (erst nach der Taufe 1825 erfolgte die Änderung des Vornamens) sehr unangenehme Erfahrung in der Volksschule im ehemaligen Franziskanerkloster in der Düsseldorfer Citadellstraße, die er 1804 bis 1807 besuchte: Für das Chaos und den Lärm, den eine Mitteilung Heines über seinen Großvater unter den Mitschülern provoziert, wird dieser von seinem Lehrer Pater Bernhard Dickerscheid mit den ersten Prügeln seines Lebens bestraft. Der Anlass für die plötzlich ausbrechende und dem Kind völlig unverständliche gewalttätige Feindseligkeit der Mitschüler und die folgende Bestrafung war die Weitergabe der vom Vater mitgeteilten, humorvoll gemeinten Beschreibung von Heymann Heine aus Hannover, dem Großvater väterlicherseits: „Dein Großvater war ein kleiner Jude und hatte einen großen Bart.“ Das beschriebene Ereignis sticht aus den „Memoiren“ förmlich heraus, in denen Heines Kindheit im idyllischen Düsseldorf ansonsten stark verklärt wird. Es bezeichnet zugleich einen Konflikt, der Heinrich Heines gesamtes Leben prägte: die Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität. Auf das Erlebnis antijüdischer Ressenti-
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ments in einer Schule, an der offiziell Religions- und Gewissensfreiheit hochgeschätzt wurden, reagierte Heine mit dem Verschweigen seiner jüdischen Herkunft: „Gesottene Katze scheut den kochenden Kessel“. Allerdings empfand Heinrich Heine seine Gymnasialzeit 1809 bis 1814 im humanistischen Gymnasium, das ebenfalls im früheren Franziskanerkloster untergebracht war und von dem toleranten ehemaligen Minoritenpater Dr. Aegidius Jacob Schallmayer geleitet wurde, stets als prägende und positive Erfahrung. […] Mein Vater selbst war sehr einsilbiger Natur, sprach nicht gern, und einst als kleines Bübchen, zur Zeit wo ich die Werkeltage in der Franziskanerschule1, jedoch die Sonntage zu Hause zubrachte, nahm ich hier eine Gelegenheit wahr meinen Vater zu befragen: wer mein Großvater gewesen sey? Auf diese Frage antwortete er halb lachend halb unwirsch: „Dein Großvater war ein kleiner Jude und hatte einen großen Bart.“ Den andern Tag, als ich in den Schulsaal trat, wo ich bereits meine kleine Kameraden versammelt fand, beeilte ich mich sogleich ihnen die wichtige Neuigkeit zu erzählen, daß mein Großvater ein kleiner Jude war welcher einen langen Bart hatte. Kaum hatte ich diese Mittheilung gemacht, als sie von Mund zu Mund flog, in allen Tonarten wiederholt ward, mit Begleitung von nachgeäfften Thierstimmen, die Kleinen sprangen über Tisch und Bänke, rissen von den Wänden die Rechentafeln welche auf den Boden purzelten nebst den Tintenfässern, und dabey wurde gelacht, gemeckert, gegrunzt, gebellt, gekräht, ein Höllenspektakel dessen Refrain immer der Großvater war, der ein kleiner Jude gewesen und einen großen Bart hatte. Der Lehrer welchem die Classe gehörte, vernahm den Lerm und trat mit zornglühendem Gesichte in den Saal und fragte gleich nach dem Urheber dieses Unfugs. Wie immer in solchen Fällen geschieht, ein jeder suchte kleinlaut sich zu diskulpiren2 und am Ende der Untersuchung ergab es sich daß ich Aermster überwiesen ward durch meine Mittheilung über meinen Großvater den ganzen Lerm veranlaßt zu haben und ich büßte meine Schuld durch eine bedeutende Anzahl Prügel. Es waren die ersten Prügel die ich auf dieser Erde empfing und ich machte bey dieser Gelegenheit schon die philosophische Betrachtung, daß der liebe Gott, der die Prügel erschaffen, in seiner gütigen Weisheit auch dafür sorgte, daß derjenige welcher sie ertheilt am Ende müde wird, indem sonst am Ende die Prügel unerträglich würden. Der Stock womit ich geprügelt ward, war ein Rohr von gelber Farbe, doch die Streifen welche dasselbe auf meinem Rücken ließ waren dunkelblau. Ich habe sie nicht vergessen. Auch den Namen des Lehrers der mich so unbarmherzig schlug vergaß ich nicht: es war der Pater Dickerscheit; er wurde bald von der Schule entfernt, aus Gründen die ich ebenfalls nicht vergessen aber nicht mittheilen will.3 Der Liberalismus hat den Priesterstand genug verunglimpft und man könnte ihm wohl jetzt einige Schonung angedeihen lassen wenn ein unwürdiges Mitglied Verbrechen begeht die am Ende doch nur der menschlichen Natur oder vielmehr Unnatur beyzumessen sind. Wie der Namen des Mannes, der mir die ersten Prügel ertheilte,
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blieb mir auch der Anlaß im Gedächtniß und jedesmahl wenn von kleinen Juden mit großen Bärten die Rede war, lief mir eine unheimliche Erinnerung grüselnd über den Rücken. „Gesottene Katze scheut den kochenden Kessel“ sagt das Sprüchwort und jeder wird leicht begreifen daß ich seitdem keine große Neigung empfand nähere Auskunft über jenen bedenklichen Großvater und seinen Stammbaum zu erhalten oder gar dem großen Publikum wie einst dem kleinen dahinbezügliche Mittheilungen zu machen. […]
Anmerkungen 1 1803 wurde der seit Mitte des 17. Jahrhunderts in der heutigen Citadellstraße bestehende Franziskanerkonvent aufgelöst. 1804 kam es zur Einrichtung der zweiten Düsseldorfer Normalschule (Volksschule) im an der Citadellstraße gelegenen Teil des ehemaligen Franziskanerklosters. 1805 wurde das ehemalige Düsseldorfer Jesuitengymnasium zu einem humanistischen Lyzeum umgestaltet und ebenfalls im Franziskanerkloster (im Trakt an der Schulstraße) untergebracht. Heinrich Heine hat beide Schulen besucht, woran heute Gedenktafeln erinnern. 2 Entschuldigen. 3 Bernhard Dickerscheid, 1804–1812 Lehrer an der zweiten Düsseldorfer Normalschule in der Citadellstraße, geriet als berüchtigter „Prügelpädagoge“ bald ins Visier der Schulbehörde. 1812 wurde ein Ermittlungsverfahren wegen sexueller Belästigung von Schulkindern gegen ihn eröffnet, dem er sich entzog, indem er spurlos aus Düsseldorf verschwand.
Literatur Joseph A. Kruse, Heinrich Heine. Leben und Wirkung, Frankfurt/M. 2005; Jan-Christoph Hauschild/Michael Werner, Heinrich Heine, München 2002; Christian Liedtke, Heinrich Heine, Reinbek bei Hamburg 2006; Gerhard Höhn, Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 3., überarb. und erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004; Willi Jasper, Deutsch-jüdischer Parnass. Literaturgeschichte eines Mythos, München 2004, S. 163–190; Klaus Briegleb, Bei den Wassern Babels. Heinrich Heine. Jüdischer Schriftsteller in der Moderne, München 1997; Joseph A. Kruse, „Sehr viel von meiner mütterlichen Familie“ (H. Heine). Geschichte und Bedeutung der van Geldern, in: Düsseldorfer Jahrbuch 61 (1988), S. 79–118; Friedrich Lau, Über Heines mütterliche Familie und seine Eltern, in: Düsseldorfer Jahrbuch 26 (1913/14), S. 283–286; Hans Otto Horch, Heimat und Fremde. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur oder Probleme einer deutsch-jüdischen Literaturgeschichte, in: Julius H. Schoeps (Hg.), Juden als Träger bürgerlicher Kultur in Deutschland, Stuttgart 1989, S. 41–65; Regina Grundmann, „Rabbi Faibisch, Was auf Hochdeutsch heißt Apollo“. Judentum, Dichtertum, Schlemihltum in Heinrich Heines Werk, Stuttgart 2008
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Hinweis Einen anschaulichen Einblick in das Leben Heinrich Heines bietet die ständige Ausstellung „Heinrich Heine – Nähe und Ferne“ im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf: Bilker Straße 12-14, 40213 Düsseldorf, Tel. 0211/8995571 oder 8992902, Internet: www.duesseldorf.de/heineinstitut, 25.10.2010, E-Mail: [email protected] Vgl. auch die überaus anschauliche Publikation von Cordula Hupfer, Mit Heine durch Düsseldorf, Düsseldorf 2010
34 „Die trauernden Juden im Exil“ von Eduard Bendemann: Ein „jüdisches Motiv“, 1832 „Die trauernden Juden im Exil“, Öl auf Leinwand, 1832, 183 x 280 cm, Wallraf-Richartz-Museum – Fondation Corboud, Köln (Inv.-Nr. 1939)
Das 1832 von Eduard Bendemann (1811–1889) geschaffene Historiengemälde „Die trauernden Juden im Exil“, dem der Maler selbst den Titel „Gefangene Juden in Babylon“ gab, erregte bei seinen Zeitgenossen großes Aufsehen. Nachdem der „Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen“ das Werk des 20jährigen Künstlers erworben hatte, wurde es bis zum Sommer 1833 unter anderem in Berlin, Königsberg, Hannover, Braunschweig und Madgeburg ausgestellt. 1834 ging es in den Besitz des heutigen „Wallraf-Richartz-Museums – Fondation Corboud“ in Köln über. Das Publikum war überaus begeistert. Es entstanden in der Folgezeit mehrere Fassungen im kleineren Format, Lithografien und Kupferstiche, ja, „die babylonischen Juden [waren] schon auf Strickmustern, Tabacksdosen und Bilderbogen zum Ausmalen für Nürnberger Tuschkastenkünstler“ (Karl Gutzkow) zu sehen. Bendemann schuf noch weitere großformatige Historienbilder wie „Jeremias auf den Trümmern Jerusalems“ (1837) und „Wegführung der Juden in die babylonische Gefangenschaft“ (1872), was dazu führte, dass er bis heute als „Idyllenmaler des Alten Testaments“ rezipiert wird. Seine Gemälde wurden nicht selten als „Judenbilder“ bezeichnet, und die Bedeutung der Bildinhalte wurde aus der jüdischen Herkunft des Künstlers abgeleitet. Der Kölner Kunsthistoriker Guido Krey hat in seiner 2003 erschienenen Dissertation „Gefühl und Geschichte. Eine Studie zur Historienmalerei der Düsseldorfer Malerschule“ Bendemanns wenige erhaltene Werke einer Neubewertung unterzogen. Er weist die bis heute gültige Sicht zurück, dass Bendemann ein „jüdischer Maler“ gewesen sei. Eduard Julius Friedrich Bendemann wurde 1811 als Sohn eines Bankiers in Berlin geboren und einige Wochen nach seiner Geburt in der dortigen Marienkirche evangelisch getauft. Die Eltern waren jüdischer Herkunft und bereits vor der Geburt ihres Sohnes zum Christentum konvertiert. Das künstlerische Talent des Knaben wurde bald entdeckt und gefördert. 1827 folgte der 16jährige Bendemann seinem Lehrer
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Gottfried Schadow nach Düsseldorf, nachdem dieser zum Direktor der renommierten Kunstakademie berufen worden war. Bendemann hatte wesentlichen Anteil am Aufschwung der Düsseldorfer Malerschule, die sich unter anderem eine Modernisierung der Historienmalerei zum Ziel gesetzt hatte. 1838 übersiedelte Bendemann nach Dresden, wo er zum Professor für Historienmalerei und Leiter eines Malerateliers an der Kunstakademie berufen worden war. Zudem erhielt er den Auftrag, drei Säle im Residenzschloss auszuschmücken. Im gleichen Jahr heiratete Bendemann Lida Schadow, die Tochter Gottfried Schadows. 1859 kehrte er nach Düsseldorf zurück, wo er die Leitung der Kunstakademie übernahm. 1868 erfolgte die krankheitsbedingte Entlassung in den Ruhestand. 1889 starb Bendemann in Düsseldorf an einer Lungenentzündung; seine letzte Ruhe fand er auf dem heutigen Nordfriedhof. Bendemann war Zeit seines Lebens ein gläubiger Christ und diese religiöse Orientierung bildet auch die Grundlage für sein „stilllebenartiges Wandgemälde“ „Die trauernden Juden im Exil/Gefangene Juden in Babylon“ von 1832. Ausgangspunkt für die Gestaltung des Themas ist Psalm 137, das Klagelied der Juden im babylonischen Exil, wohin große Teile der jüdischen Bevölkerung nach dem Untergang des Königreichs Juda und der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier im Jahre 586 v.Chr. verschleppt worden waren. Eine fast unbewegte, sitzende Figurengruppe ist vor dem Fluss Tigris und einer staubbedeckten Wüstenstadt (Babylon) angeordnet. Die Mittelachse der Darstellung bildet eine Weide, die von Weinranken fast ganz überwuchert ist. Die Figuren sind durch einen flachen, halbrunden Rahmen überfangen. In den Zwickeln des Rahmens ist der erste Vers von Psalm 137 zu lesen: „An den Wassern zu Babylon sassen wir und weineten wenn wir an Zion gedachten“. Der Verzicht auf die Darstellung von Handlung führt zu einer Konzentration auf die innere Befindlichkeit der Figuren, die vom Betrachter meditativ erfühlt werden muss. Nach der Interpretation von Guido Krey ist die Bildbedeutung nicht ausschließlich durch die Klage der Juden über Unterdrückung und Heimatverlust bestimmt. Während der Greis in der Bildmitte, die Figur des Harfners, an alttestamentarische Prophetengestalten erinnert, sieht Krey in der links sitzenden weiblichen Figur mit Kind das Motiv der Madonna evoziert. Die rechts sitzende weibliche Figur, die die Augen niedergeschlagen hat, erinnert an mittelalterliche Synagoga-Figuren. (Die Figur der Synagoga steht in der christlichen Bildsprache für den Bedeutungsverlust des Alten Bundes gegenüber dem zukunftsweisenden Neuen Bund des Christentums, der durch die Figur der Ecclesia symbolisiert wird.) Im Bildmittelpunkt ist die Weinranke zu sehen, die Pflanze der Eucharistie. Die Prophetengestalt wendet sich der „Madonna“ zu. Bendemanns Gemälde thematisiert somit das Spannungsverhältnis von Judentum und Christentum. Altes und Neues Testament stehen in einem Zusammenhang. Auf der Grundlage des Judentums wächst das Neue, die messianische Erfüllung, das Christentum. Auf der Folie dieser Interpretation ist es verständlich, dass das Gemälde urspünglich als Altarbild für die Kirche St. Maria im Kapitol in Köln in Erwägung gezogen worden war.
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15. Eduard Bendemanns Gemälde „Die trauernden Juden im Exil“, 1832
Literatur Guido Krey, Gefühl und Geschichte. Eduard Bendemann (1811–1889). Eine Studie zur Historienmalerei der Düsseldorfer Malerschule, Weimar 2003; Guido Krey, Eduard Bendemann, in: Jürgen Wilhelm (Hg.), Zwei Jahrtausende jüdische Kunst und Kultur in Köln, Köln 2007, S. 222–224; Ekkehard Mai (Hg.), Historienmalerei in Europa. Paradigmen in Form, Funktion und Ideologie, Mainz 1990; Hans Wille, „Die trauernden Juden im Exil“ von Eduard Bendemann, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch LVI (1995), S. 307–316
Hinweis Bendemanns Gemälde „Die trauernden Juden im Exil“ von 1832 kann im „Wallraf-RichartzMuseum – Fondation Corboud“ besichtigt werden (Martinstraße 39, 50667 Köln, Tel. 0221/22122372, Internet: www.museenkoeln.de, 25.7.2010)
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35 Dürfen Juden in Moers als Schützenkönige amtieren?, 1843 Der Sprecher oder Rheinisch-Westphälischer Anzeiger (Wesel) Nr. 94, 25. November 1843, in: Dieter Kastner (Hg.), Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland 1825–1845. Eine Dokumentation, Teil 2, Köln/Bonn 1989, S. 801f.
Am 31. Oktober 1843 hatte die „Aachener Zeitung“ beifällig die Nachricht kommentiert, dass der Moerser Bürgerschützenverein seine Statuten ändern wolle, die Juden bislang von der Würde des Schützenkönigs ausschlossen. Zu diesem Artikel nimmt die in Wesel erscheinende Zeitung „Der Sprecher oder Rheinisch-Westphälischer Anzeiger“ am 25. November 1843 Stellung. Der aus Moers („Meurs“) stammende Verfasser zeigt sich davon überzeugt, dass in seiner Heimatstadt Toleranz und Vorurteilslosigkeit gegenüber Andersgläubigen herrschen. Desto betrüblicher sei es, dass vor einiger Zeit die Statuten des Bürgerschützenvereins zum Nachteil der jüdischen Bürger geändert worden seien. Dies führt der Verfasser auf den Einfluss von auswärts zugezogener Kräfte zurück, die vermutlich in kirchlichen Kreisen zu suchen seien. Beschwerden von jüdischer Seite seien mit dem (vorgeschobenen) Argument abgewehrt worden, dass das jüdische Ritualgesetz die Teilnahme von jüdischen Schützenkönigen am Volksfest während des Schabbat verbieten würde. Demgegenüber betont der Verfasser, dass man es den Juden selbst überlassen solle, zu entscheiden, was sie am Schabbat, dem wöchentlichen jüdischen Feiertag, tun und lassen wollten. Auch Christen, für die ja das sonntägliche Ruhegebot gelte, nähmen schließlich am Schützenfest teil. Der Artikel endet mit dem Hinweis auf die Verhandlungen des Rheinischen Provinziallandtags, der sich am 13. Juli 1843 für die Emanzipation der Juden ausgesprochen hatte (vgl. Dokument 16). Die Gleichberechtigung und Integration der Juden sei von einer Bevölkerungsmehrheit gewollt; der „Zeitgeist“ erfordere, dass die Moerser Bürgerschützen schleunigst ihre Statuten änderten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts sind auch im Rheinland Juden zahlreichen in den Städten und Dörfern bestehenden Vereinigungen und geselligen Vereinen beigetreten oder haben sie selbst mitbegründet. Ihr Engagement gilt allgemein als Indikator für das erreichte Maß an Integration, bürgerlicher Gleichstellung und gesellschaftlichem Ansehen. Es existierten allerdings auch Grenzen. Hier sind zum einen sehr exklusive und elitäre Vereinigungen wie die Freimaurergesellschaften zu nennen, die die Mitgliedschaft von Juden ablehnten, was dazu führte, dass 1882 die erste deutsche Loge des jüdischen Ordens „B’nai Brith“ („Söhne des Bundes“) ins Leben gerufen wurde. Auch in studentischen Verbindungen hatten es Juden schwer. Zum anderen ist an christlich-konfessionelle Gruppen wie die Schützenvereine zu denken, die gerade im katholischen Rheinland eine große Rolle spielten.
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Antijüdische Vorbehalte waren eher bei den religiös orientierten Schützenbruderschaften zu finden als bei den weltlichen Bürgerschützen-Vereinen, die Juden deshalb auch favorisierten. Im lokalen Bereich sah die Praxis indessen sehr unterschiedlich aus. Es gab Orte, in denen Juden in die traditionellen Schützenvereine aufgenommen und auch einmal „König“ oder „Königin“ werden konnten. Manche Juden besuchten ganz selbstverständlich die Gottesdienste während des Schützenfestes. Zahlreiche überlieferte Fotos bezeugen die Teilnahme von Jüdinnen und Juden an den Festlichkeiten. Aus Meurs, den 20. November. (Bürger-Schützen-Verein) Ein Artikel in Nro. 303 der Aachener Zeitung, die Stellung der Juden beim BürgerSchützen-Verein zu Meurs betreffend, veranlaßt uns, denselben mit einigen Worten zu beleuchten, damit das sonst so aufgeklärte Meurs beim Publicum nicht in den Verdacht einer wahrhaft obscuranten1 Intoleranz gerathe. Die guten Lehr- und Erziehungs-Anstalten, deren sich unser Städtchen von jeher zu erfreuen hatte, haben immer dahin gestrebt, jede veraltete, abgedroschene, Geist und Herz tödtende, mit dem aufgeklärten Geiste unserer Zeit unvereinbare Idee, wo eine solche nur aufzutauchen schien, radical zu verbannen; daß dieser edle Zweck größtentheils erreicht wurde, dafür bürgen die namhaften Wohlthaten, die vor einiger Zeit einem hiesigen, vom Unglück hart getroffenen jüdischen Bürger von vielen christlichen Einwohnern der Stadt Meurs zu Theil geworden ist.- Es haben sich aber von Zeit zu Zeit und besonders in den letzten Decennien2 von Außen her viele Individuen, theils durch amtlichen Beruf, theils aber auch auf’s Gerathewohl hier niedergelassen, welche die sonst rühmliche Toleranz des Meurser Völkchens zu verdunkeln sich bestreben und sich, Gott weiß wodurch, bei den untern Volksclassen eine dictatorische Gewalt der Art zu verschaffen gewußt haben, daß ihre Anträge, wie überhaupt, so auch bei der Leitung des Meurser Schützenfestes blindlings genehmigt werden. Nur so hat sich jener schwarze Dämon der Unduldsamkeit: „der Jude kann nicht König werden“ in die Statuten des sogenannten Volksfestes der Meursischen Bürger-Schützen einschleichen können. Merkwürdig aber war es und ist es noch, mit welcher Gewandtheit jene Helden der Obscuranten-Schaar ihren gleich platten, wie schmutzigen Judenhaß – den, öffentlich an den Tag zu legen, sie sich wol geschämt haben mögen – hinter das Palladium3 der Unfehlbarkeit zu verstecken wußten. Es konnte nämlich nicht ausbleiben, daß die theilnehmenden jüdischen Bürger, bei gleichen Pflichten und Lasten, sich über dergleichen Zurücksetzungen beschweren mußten; hierüber bei dem, aus allen Classen construirten Comité eingekommen, wurden sie mit der seelsorgerischen Antwort: „der Jude könne am Sabbath4 nach den bei ihnen bestehenden Ritual-Gesetzen die volksfestlichen Verrichtungen als König nicht mitmachen“, mit unverschämt-simulirter Naivität zurückgewiesen. Aber meine geehrten Herren Seelsorger, glaubt Ihr denn, daß auch der liebe Herr Gott Euch vor den Juden bevorzugt und Euch erlaubt hätte, das den Juden, wie den
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Christen, gegebene Gesetz, den Sabbath betreffend, zu brechen, während es jene binden soll! Sind die göttlichen Stimmen, die so warnend von der Kanzel herab in Eure Ohren, nicht aber in Eure Herzen tönten, ja, die sogar das Schützenzelt das „Teufelshaus“ nannten, so ganz verhallt! Sagt, Ihr Dunkelmänner, wer hat Euch zum Vormunde der Juden gemacht, daß Ihr Euch erlaubt, ihnen vorzuschreiben, was sie nach dem Mosaischen Gesetze dürfen oder nicht dürfen! Wenn Euch das Wohl der Juden wirklich so am Herzen lag, wie Ihr den Schein annehmet, konntet Ihr denn nicht bei Ihnen anfragen, ob es sich auch mit ihren Gesetzen und Gebräuchen vertrüge, am Sabbath eine königliche Würde zu bekleiden? Wie des Volkes Stimmung heute gegen die Juden ist, darüber sprechen am besten die Verhandlungen, welche auf dem letzten Rheinischen Landtage über die Emancipations-Frage der Juden gepflogen worden sind.5 Daß ein gleicher Geist wie jener, der des Landes Vertreter beseelte, auch in unserm Meurs sich wieder regt und seine Rechte geltend zu machen sucht, darüber kann sich jeder Menschenfreund mit uns nur freuen. Wir zweifeln aber um so weniger daran, daß der fragliche Artikel in den Statuten des Meurser Bürger-Schützen-Vereins: „der Jude kann nicht König werden“ in der nächsten General-Versammlung gestrichen werde, da nicht allein die Mehrzahl des Volkes jenes Brandmal ausmerzen möchte, sondern auch die ehrenwerthen Gesinnungen des diesjährigen, durch sehr achtbare Bürger restaurirten Comité’s Bürge dafür sind, dass der Juden Recht auch von dieser Seite sich der bessern Fürsprache zu erfreuen haben wird. Ein alter Meurser
Anmerkungen 1 2 3 4
Dunkel, verdächtig, hier im Sinne von fortschrittsfeindlich. Jahrzehnte. Schutzschild, Schutzmantel. Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und der Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 5 Vgl. Dokumente 16 und 17.
Literatur Brigitte Wirsbitzki, Juden in Moers. Eine Minderheit in einer niederrheinischen Kleinstadt bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin 1997; Edelgard Dalbram, Zur Geschichte der
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Juden in Moers. Vom frühesten Vorkommen bis ca. 1933, Moers 1984; Marion Kaplan (Hg.), Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003; Till van Rahden, Juden und andere Breslauer: Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 1999; Margret Wensky (Hg.), Moers. Geschichte einer Stadt von der Frühzeit bis zur Gegenwart, 2 Bde., Köln 2000
Hinweis Bei einem Besuch im Stadtarchiv kann man erfahren, wie sich konkret vor Ort die Mitwirkung von Juden in Schützenvereinen gestaltete. Auch Interviews mit älteren Mitgliedern von Schützenvereinen bieten sich an. Eine Sammlung von Dokumenten und Fotos könnte angelegt und analysiert werden. Hat die Mitgliedschaft in den Schützenvereinen zu Freundschaften und Kontakten im privaten Bereich geführt? Lässt sich eine Änderung der Haltung der christlichen gegenüber den jüdischen Schützen im Laufe der Jahrzehnte beobachten?
36 Der Kölner Bankier Simon Oppenheim unterstützt den Dombau, 1853 Plakat, gedruckt bei M. DuMont Schauberg Dombauarchiv Köln, ZDV, II d. 21
Der 1842 gegründete Zentral-Dombau-Verein in Köln hatte sich die Vollendung der mittelalterlichen Ruine des Kölner Doms, an dem 1560 die Bauarbeiten eingestellt worden waren, auf die Fahnen geschrieben. Dazu bediente man sich auch unkonventioneller Mittel. Im August/September 1853 wurde ein Plakat verteilt, das für eine neuartige und sehr originelle Methode der Kulturförderung warb. Der Kölner Bankier Simon Oppenheim hatte sich bereit erklärt, den Garten seiner Villa am Türmchen nahe der Kunibertstorburg für das zahlende Publikum zu öffnen; die Eintrittsgelder sollten der Kasse des Zentral-Dombau-Vereins zugute kommen. Die große Attraktion im Garten der Villa Oppenheim war eine blühende „Victoria Regia“, eine seltene Riesenseerose. Die Aktion, die von zahlreichen Presseberichten begleitet wurde, war ein großer Erfolg und musste sogar verlängert werden. Insgesamt wurden 1.350 Besucher gezählt und 450 Taler eingesammelt. Simon (1803–1880) und sein Bruder Abraham (1804–1878) Oppenheim waren herausragende Vertreter der wirtschaftlichen Elite der Stadt und gläubige Juden, während ihr Bruder Dagobert (1809–1889) 1839 als junger Mann zum Christentum konvertiert war. Von Anfang an engagierten sich die Brüder als Förderer des Dom-
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baus. Alle Familienangehörigen waren Mitglieder im Zentral-Dombau-Verein, die Spendenbereitschaft war hoch. Dass der Kölner Dom nicht „nur“ ein katholisches Gotteshaus war, sondern im 19. Jahrhundert zunehmend auch als Kulturobjekt allerersten Ranges und zudem als nationales Denkmal, als Symbol für den Wunsch nach einem deutschen Nationalstaat (vornehmlich) unter preußischer Führung, betrachtet wurde, erleichterte es den Oppenheims, das Engagement für die Kathedrale mit ihrer Identität als Juden in Einklang zu bringen. Die Wohltätigkeit, die alle großbürgerlichen Familien übten, brachte gesellschaftliches Ansehen und förderte den ökonomischen Erfolg. Simon und Abraham Oppenheim waren zwar keine gewählten Mitglieder im Vorstand des Zentral-DombauVereins, sie wurden aber wegen ihrer zahlreichen Stiftungen zu Ehrenmitgliedern ernannt. 1842 war aus Anlass der Grundsteinlegung des Kölner Doms das preußische Königspaar Friedrich Wilhelm IV. und Elisabeth zu Gast in Simon Oppenheims Stadtpalais am Domkloster – eine herausragende Auszeichnung, die später durch die Erhebung in den Adelsstand noch übertroffen wurde. 1861 war Abraham Oppenheim einer der Initiatoren der Dombaulotterie, eines modernen Finanzierungsinstruments, das den Domweiterbau, der in eine finanzielle Krise geraten war, auf Jahrzehnte hinaus auf eine sichere Basis stellte. Simon und Henriette von Oppenheim stifteten 1880 für den vollendeten Dom ein Glasfenster mit der Darstellung der alttestamentlichen Patriarchen und Könige Josias, Josaphat, Salomon und Jesse, das nach einer vom Bankhaus Sal. Oppenheim jr. & Cie. geförderten Restaurierung seit 2005 wieder in vollem Glanze erstrahlt. Ebenfalls 1880 stiftete Charlotte von Oppenheim zum Andenken an ihren verstorbenen Ehemann Abraham ein weiteres Fenster für den Dom. Die Beteiligung an der Dombaubewegung war ein Indiz unter vielen, dass Abraham und Simon (von) Oppenheim Teil des herrschenden Establishments der Stadt Köln geworden waren. Simons Nachfahren vollzogen den aus ihrer Sicht konsequenten letzten Schritt: Sie konvertierten zum Christentum. Kölner Dombau Victoria Regia. Herr Commercienrath1 S. Oppenheim hat sich erboten, während acht Tagen Einheimischen und Fremden den Besuch des Gartens seiner Villa beim Thürmchen, unterhalb Köln, und den Zutritt zu dem neu errichteten Glashause, worin neben vielen seltenen Warmhaus-Pflanzen und Orchidaeen [sic!], die herrliche Victoria regia eben jetzt ihre Blüthen treibt, zum Besten des Dombaues zu gestatten. Mit aufrichtigem Danke haben wir dies schöne Anerbieten eines bewährten Dombaufreundes und Ehrenmitglieds unseres Vorstandes angenommen. Der geschmackvoll angelegte Garten in der unmittelbaren Nähe Kölns mit seinen Zierpflanzen und Gewächshäusern ist allein schon der Besichtigung werth; das
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großartige Rundhaus von Glas mit seinen beiden Nebenflügeln, seinem Wasserbecken, seinen Heizapparaten, worin die ausgezeichnetsten und kostbarsten Pflanzen der heißen Zone sich in üppiger Fülle entwickeln, gewährt dem Beschauer den überraschenden Anblick einer blühenden Victoria regia, der ersten, welche in dieser Vollkommenheit in der Rheinprovinz2, vielleicht im westlichen Deutschland, gezogen worden ist. In der Überzeugung, dass der lobenswerthe Zweck des Herrn Commercienraths S. Oppenheim Anerkennung finden werde, laden wir Einheimische und Fremde zu zahlreichem Besuche ein und bemerken, dass, ohne die Freigebigkeit zum Besten des Dombaus beschränken zu wollen, der Eintrittspreis auf zehn Silbergroschen à Person festgesetzt worden ist. Eintritts-Karten sind zu haben: 1) in den Gasthöfen der Stadt Köln. 2) in unserem Secretariate, Rathausplatz Nr. 3 3) an den beiden Zugängen zum Garten, rhein- und landstraßenwärts. Der Zutritt findet von Freitag den 9. dieses Monats täglich von Morgens 9 bis Nachmittags 6 Uhr statt. Köln, den 5. September 1853. Der Verwaltungs-Ausschuss des Central-Dombau-Vereins
Anmerkungen 1 Ehrentitel, der in Preußen und im Deutschen Reich bis 1919 an in der Wirtschaft tätige Persönlichkeiten verliehen wurde, die sich durch Förderung des Gemeinwohls in herausragender Weise verdient gemacht hatten. 2 1816 wurde das preußische Rheinland in zwei Provinzen aufgeteilt: Kleve-Jülich-Berg mit dem Oberpräsidialsitz in Köln, umfassend die Regierungsbezirke Köln, Düsseldorf und Kleve (Kleve wurde 1821 aufgelöst und zu Düsseldorf geschlagen) und das Großherzogtum Niederrhein mit dem Oberpräsidium in Koblenz, bestehend aus den Regierungsbezirken Aachen, Koblenz und Trier. 1822 wurden beide Provinzen zur Rheinprovinz (der Name war seit 1830 gebräuchlich) zusammengefasst. Sitz des Oberpräsidenten wurde Koblenz.
Literatur Michael Stürmer/Gabriele Teichmann/Wilhelm Treue, Wägen und Wagen. Sal. Oppenheim jr. & Cie. Geschichte einer Bank und einer Familie, München/Zürich 21989; Gabriele Teichmann, Sal. Oppenheim jr. & Cie. Geschichte einer Bank und einer Familie [Kurzfassung] Köln 2004; Viola Effmert, Sal. Oppenheim jr. & Cie. Kulturförderung im 19. Jahr-
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hundert, Köln 2006; Werner E. Mosse, Jews in the German Economy. The German-Jewish Economic Élite 1820–1935, Oxford 1987; Werner Mosse/Hans Pohl (Hg.), Jüdische Unternehmer in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992; Michael S. Cullen, Juden als Sammler und Mäzene, in: Julius H. Schoeps (Hg.), Juden als Träger bürgerlicher Kultur in Deutschland, Stuttgart 1989, S. 123–148; Gabriele Teichmann, Die Familie Oppenheim – Jüdische Stifter für die Domvollendung, in: Bernd Wacker/Rolf Lauer (Hg.), Der Kölner Dom und „die Juden“. Fachtagung der Karl Rahner Akademie Köln in Zusammenarbeit mit der Dombauverwaltung Köln vom 18. bis zum 19. November 2006 (Kölner Domblatt 2008), S. 165–206
Hinweis Im Kölner Dom sind neben dem von der Familie Oppenheim gestifteten Salomonfenster noch zahlreiche weitere Objekte vorhanden, die das christlich-jüdische Verhältnis von unterschiedlichen Seiten aus beleuchten. Genannt seien das sogenannte Judenprivileg des Erzbischofs Engelbert II. von 1266, das Chorgestühl mit der Darstellung einer „Judensau“ (um 1310), die Chorschrankenmalereien (1332–1349) sowie die Verkündigungsgruppe des vom Judentum zum Christentum übergetretenen Geistlichen Victor von Carben aus dem 16. Jahrhundert. Die meisten Objekte sind von antijüdischer Tendenz geprägt. Ist das im 19. und 20. Jahrhundert anders geworden? Diese Frage könnte im Rahmen einer Themenführung im Kölner Dom diskutiert werden.
37 Die Familie Levison in Siegburg und ihre Berufe, zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Wilhelm Levison, Die Siegburger Familie Levison und verwandte Familien, Bonn 1952, S. 30f.
Wilhelm Levison (1876–1947), Historiker und Professor an der Universität Bonn, beschreibt am Beispiel seiner eigenen, aus Siegburg stammenden Familie die Auswirkungen der Emanzipation der Juden auf die jüdische Berufsstruktur. Zahlreiche Christen und Juden erwarteten und forderten seit Beginn des 19. Jahrhunderts, dass mit der Überwindung des rechtlichen Sonderstatus und der Integration in die bürgerliche Gesellschaft auch die spezifische jüdische Berufsstruktur beseitigt werden müsse. Diese war ein Produkt der jahrhundertelangen Beschränkungen, Repressionen und der rechtlichen Sonderstellung der jüdischen Bevölkerung. Da die Zünfte nur Christen als Mitglieder zuließen, durften Juden nicht in „zünftigen“ Handwerksberufen tätig sein. Lediglich die Betätigung als Schlachter und Bäcker, die im Zusammenhang mit der Eigenversorgung der jüdischen Minderheit ausgeübt
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wurde, war ihnen seit alters her erlaubt. Gelegentlich arbeiteten Juden als Glaser oder in anderen nichtzünftigen Gewerben. In den östlichen preußischen Landesteilen waren zahlreiche Juden als Schneider tätig, die im 19. Jahrhundert verstärkt in den westlichen Provinzen ihr Auskommen suchten. Die weitaus meisten Juden suchten ihr Auskommen im Handelssektor, wobei der Waren- und Produktenhandel häufig mit Geldgeschäften kombiniert wurde. Diese Berufsstruktur, die sich deutlich von der der Gesamtbevölkerung unterschied, blieb auch im Zeitalter der Emanzipation bestehen. Die Bemühungen von Einzelpersonen und Vereinen (z.B. der Marks-Haindorf-Stiftung „zur Beförderung von Handwerken unter den Juden und zur Errichtung einer Schulanstalt“ in Münster), eine „Berufsumschichtung“ oder „Produktivierung“ zu erreichen und jungen Juden eine Ausbildung im Handwerk oder in der Landwirtschaft nahe zu legen, blieben weitgehend erfolglos. Die Tätigkeiten im Handelssektor wurden bevorzugt, weil sie gute berufliche Perspektiven boten, weil die jüdischen Familien über große Erfahrungen in diesem Bereich verfügten und vor allem weil sie Selbständigkeit ermöglichten, die weitgehend unabhängig von möglichen Repressionen und Diskriminierungen machte. Selbständige Wirtschaftstätigkeit – vorzugsweise in Familienunternehmen – war im 19. Jahrhundert bei Juden doppelt so häufig anzutreffen wie in der Gesamtbevölkerung. Ein Zeichen für eine im Großen und Ganzen gelungene Integration in das Wirtschaftsleben war, dass die hohe Zahl der jüdischen Bettler und Almosenempfänger im 19. Jahrhundert rasch sank. Auch der Charakter der Handelstätigkeit veränderte sich: Der traditionelle Altwaren- und Hausierhandel verlor ebenso wie der Geldhandel an Bedeutung. Aus umherziehenden Handelsleuten wurden qualifizierte Kaufleute mit Ladengeschäft, die häufig Tradition und Innovation (Werbung, Warenhäuser, Versandhandel, Billigpreisgeschäfte) zu verbinden wussten. Überdurchschnittlich häufig war eine Kombination von Handel und Produktion zu beobachten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind Juden auch in neuen Berufssparten anzutreffen: Sie arbeiteten als Reisende und Vertreter, zunehmend auch als Angestellte. Die auf dem Lande lebenden Juden fanden dagegen weiterhin fast ausschließlich im Waren- und Geldhandel im kleinen Maßstab ihre Lebensgrundlage. Unter den seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus Osteuropa einwandernden Juden ist im Vergleich zu den Einheimischen ein deutlich höherer Anteil von Handwerkern und (Industrie-) Arbeitern festzustellen (vgl. Dokument 39). Während jüdische Frauen in der voremanzipatorischen Zeit ganz selbstverständlich zum Familieneinkommen beitrugen bzw. selbständig tätig waren, war in bürgerlich-jüdischen Familien die Berufstätigkeit von Frauen noch stärker verpönt als in der Gesamtbevölkerung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stieg das Interesse jüdischer Mädchen und Frauen an weiterführender Bildung bis hin zum Universitätsstudium und an sozialen Berufen an. Auf dem Lande gehörte die (mithelfende) Berufstätigkeit der Frauen weiterhin unverändert zum Alltagsleben.
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Die herausragende Veränderung im Bereich der jüdischen Berufsstruktur war der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Hier verbanden sich Bildungsstreben und der Wunsch nach sozialem Aufstieg. Dem „Lernen“ wurde im Judentum stets ein hoher Stellenwert zugemessen, der auch auf die säkulare Bildung übertragen wurde. Wilhelm Levison selbst und zahlreiche seiner Familienmitglieder wurden erfolgreiche Geistes- und Naturwissenschaftler, Juristen und Ärzte. Allerdings überwogen aufgrund der weiterhin bestehenden Restriktionen vor allem im Beamtentum Karrieren als selbständige Anwälte, Journalisten und Ärzte, wobei der Beruf des Mediziners eine lange Tradition im Judentum hatte (vgl. Dokument 7). Auch der Historiker Wilhelm Levison, einer der renommiertesten Experten für die Zeit des frühen Mittelalters, konnte erst in der Weimarer Republik eine ordentliche Professur an der Universität Bonn bekleiden. Insgesamt ist festzustellen, dass seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Zahl der deutschen Juden der sozialen Schicht des mittleren und höheren Bürgertums angehörte. […] Im 19. Jahrhundert trat die jüdische Gemeinde Siegburgs, wie überhaupt die Mehrzahl der Juden Deutschlands, in erheblichem Maße aus ihrer Sonderstellung heraus; die Zeit um 1800 bedeutete für sie, wie man mit Recht gesagt hat, in gewissem Sinne das Ende ihres „Mittelalters“. Die Zeit äußerer und innerer traditioneller Gebundenheit ging allmählich zu Ende. Wirtschaftliche und politische Schranken fielen. Isaac Abraham1 wählte 1846 für sich und seine Kinder bewußt den Namen Bürger; sein Sohn Samuel Bürger2, der 1848 im Constitutionellen Bürgerverein3 Siegburgs als Redner auftrat, beschloß sein Leben 1885 als ehrenamtlicher Beigeordneter der Vaterstadt. Er, wie sein Schwager Dr. Isaac Levison4, gehörten dem Stadtrat an. Die einseitige Berufswahl von Jahrhunderten wirkte begreiflicherweise nach; auch die meisten Mitglieder der hier behandelten Familien wurden Kaufleute, nur daß der allgemeine Begriff des „Handelsmanns“ allmählich verschwand und entsprechend der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung eine Spezialisierung und daher auch eine bessere Berufsausbildung in einer eigentlichen Lehrzeit erfolgte. Manche Familienmitglieder kamen von der Kaufmannschaft her in die Industrie hinein, wurden „Fabrikanten“. Man kämpfte auch gegen Mißstände in den eigenen Reihen. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gab es noch immer vagabundierende, im Grunde berufslose Juden, die vom Bettel, dem „Schnorren“ lebten. Unter denen, die dagegen ankämpften und wiederholt das Einschreiten der Polizei verlangten, wird Josue Abraham5 genannt, der Bruder von Isaac Abraham (Bürger). Man wurde sich auch der ungesunden Überzahl jüdischer Kaufleute bewußt; im letzten Viertel des Jahrhunderts waren die Brüder Levison eifrige Vorkämpfer für die Verbreitung der Handwerke unter den Juden. Der Wunsch geistiger „Assimilation“ im guten Sinne führte auch hier zu einem weitgehenden Bildungsstreben. Wer irgend dazu wirtschaftlich in der Lage war,
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besuchte nicht nur die jüdische Volksschule Siegburgs, sondern auch die Lateinschule. Die Ablegung der Einjährig-Freiwilligen-Prüfung6 erscheint früh als Ziel, später die Abiturientenprüfung, die den mehrjährigen Besuch eines auswärtigen Gymnasiums (etwa in Bonn oder Köln) voraussetzte, bis die Lateinschule Siegburgs, das spätere Progymnasium, zum vollen Gymnasium ausgebaut wurde. Isaac Levison war der erste seines Hauses, der eine Universität besuchte, 1857 in Greifswald zum Dr. med. promovierte und fast ein halbes Jahrhundert als tüchtiger Arzt in der Heimat gewirkt hat; zwei Söhne, ein Neffe und ein Enkel folgten seinem Beispiel. Der Arztberuf begegnet ja auch in früheren Jahren bei den Juden. Isaac Levisons Gattin Eva Leubsdorf und sein Schwager Samuel Bürger hatten unter ihren Ahnen, jene als Ururgroßvater, dieser als Urgroßvater, den Düsseldorfer Arzt Gottschalk van Geldern7, der als einer der ersten Juden 1751 die medizinische Doktorwürde an der Universität Duisburg erworben hat. Isaacs Enkel, Wilhelm (William) Levison8, Dr. med. der Universität Köln, heute praktischer Arzt in Newark (New Jersey, U.S.A.), kann also in seinem Beruf nicht nur Vater und Großvater als Vorbilder ansehen, sondern hat schon mehr als ein Jahrhundert vorher unter seinen Vorfahren jenen Düsseldorfer Arzt als Träger der gleichen Lebensaufgabe. Isaac Levisons ältester Sohn Heinrich war der erste Jurist der Familie, sein Neffe Josua Bürger der erste Chemiker, ein anderer Neffe, der Verfasser dieser Zeilen, der erste Historiker. Sie dürften alle das Bewußtsein haben, der deutschen akademischen Welt keine Unehre bereitet zu haben. […]
Anmerkungen 1 Isaac Abraham (Bürger) (1791–1864), Kaufmann, Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Siegburg (vgl. Dokument 15). 2 Samuel Bürger (1818–1885), Kaufmann in Siegburg. 3 Verein, der sich in der Revolution von 1848/49 für eine konstitutionelle Monarchie in Preußen engagierte. 4 Dr. Isaac Levison (1834–1909), Arzt in Siegburg, geheimer Sanitätsrat. 5 Josue Abraham (ca. 1784–1832), Kaufmann in Siegburg. 6 Bezeichnung für die mittlere Reife. Die Einjährig-Freiwilligen, die an einem Gymnasium, einem Realgymnasium oder einer Realschule die mittlere Reife abgelegt hatten, mussten nur eine verkürzte Form des Wehrdienstes absolvieren (ein Jahr statt zwei oder drei Jahre). Die Wehrpflichtigen mussten selbst für Ausrüstung, Unterkunft und Verpflegung aufkommen, so dass die Regelung nur für Söhne aus wohlhabenderen Familien in Frage kam. Nach Ableistung des Wehrdienstes und weiterer Übungen erfolgte die Beförderung zum Reserveoffizier. Die Regelung wurde 1813 erstmals in Preußen eingeführt und von zahlreichen europäischen Staaten übernommen.
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7 Gottschalk van Geldern (1726–1795), Sohn des kurfürstlichen Hoffaktors Josef Jacob ( Juspa) van Geldern, lebte in Düsseldorf als beliebter Arzt und Obervorgänger der Jülich-Bergischen Judenschaft. 8 Über den Arzt Dr. Wilhelm Levison konnte nichts in Erfahrung gebracht werden. 9 Josua Bürger (1861–1929), Dr. Phil., Chemiker in Manchester.
Literatur Rudolf Schieffer, Der Mediävist Wilhelm Levison (1876–1947), in: Kurt Düwell (Hg.), Vertreibung jüdischer Künstler und Wissenschaftler aus Düsseldorf 1933–1945, Düsseldorf 1998, S. 165–175; Avraham Barkai, Jüdische Minderheit und Industrialisierung. Demographie, Berufe und Einkommen der Juden in Westdeutschland 1850–1914, Tübingen 1988; Monika Richarz, Berufliche und soziale Struktur, in: Steven M. Lowenstein u.a., Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. III: Umstrittene Integration 1871–1918, München 1997, S. 39–68; Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678–1848, Tübingen 1974; Jakob Toury, Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum, in: Hans Liebeschütz und Arnold Paucker (Hg.), Das Judentum in der deutschen Umwelt 1800–1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation, Tübingen 1977, S. 139–241; Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum: Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004; Heinrich Silbergleit, Die Bevölkerungs- und Berufsverhältnisse der Juden im Deutschen Reich, Bd. 1: Freistaat Preußen, Berlin 1930
38 Jüdisches Leben auf dem Lande: Das Beispiel Rödingen, zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Die israelitische Gemeinde und Schule in Rödingen. Aus dem Verwaltungsbericht der Bürgermeisterei Rödingen 1923, in: Rur-Blumen. Heimatbeilage zum Jülicher Kreisblatt Nr. 15, 12. April 1930
Mitte des 19. Jahrhunderts lebten im Rheinland 85 Prozent aller Juden in ländlichen Gemeinden, die meist weit voneinander entfernt lagen und kaum mehr als 100, überwiegend unter 50 Mitglieder zählten. Letztlich war die Konzentration jüdischer Ansiedlung auf dem Lande eine Folge der Vertreibungen der Juden aus den größeren Städten und diversen Territorien des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation im Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit. Bis ins 19. Jahrhundert blieb die Siedlung in den Landgemeinden die bestimmende Lebensform der Juden in vielen deutschen Regionen, vor allem in Süd- und Westdeutschland.
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Das Beispiel Rödingen zeigt zunächst, dass schon im Mittelalter Juden auf dem Land lebten, denn 1271 wird ein Joselin von Rödingen als Gläubiger des Erzbischofs von Köln genannt. Der erste Beleg für die Anwesenheit von Juden in der Frühen Neuzeit stammt aus dem Jahr 1679, als sich Hirz „judt“ in Rödingen niederlassen durfte. Die Anfänge der neuzeitlichen jüdischen Gemeinde in Rödingen liegen also in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. In dieser Epoche entstanden vielerorts jüdische Landgemeinden, weil sich die Territorialherren von der Aufnahme jüdischer Siedler einen wirtschaftlichen Aufschwung ihrer verwüsteten und entvölkerten Länder versprachen. Die Schilderung jüdischen Alltagslebens im Verwaltungsbericht der Bürgermeisterei Rödingen, die die lange Zeitspanne zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und den 1920er Jahren umfasst, zeigt für das Landjudentum im Rheinland typische Strukturen auf und deutet tiefgreifende Veränderungen des Gemeindelebens an. Da eine wichtige Grundlage für den Verwaltungsbericht die Melderegister waren, wird ausführlich über die jüdischen Familien berichtet. Der ausgewählte Textabschnitt handelt von der Familie des 1781 aus Eger/Böhmen zugezogenen Philipp Susmann, dem Stammvater der Familie Ullmann, die in der jüdischen Gemeinde eine große Rolle spielte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Familien teilweise sehr groß; die meisten Ehepartner kamen aus den Dörfern und Städten der Umgebung, Verwandtenehen waren nicht selten. Vorherrschend waren traditionelle Berufe, auf die die Juden durch jahrhundertelang geltende Verbote verwiesen waren: Metzgerei, Vieh- und Pferdehandel, Handel mit Getreide, Samen und Futtermitteln. Erhebliche Bedeutung hatte auch in Rödingen die im Text nicht genannte Kreditvergabe. Seit Beginn der Emanzipation durften Juden ohne Einschränkungen Häuser und Grundstücke erwerben; der im Verwaltungsbericht erwähnte „Makler im Grundstücksgeschäft“ erweiterte folglich das traditionelle Berufsspektrum der Juden. Weit verbreitet wiederum war von alters her die Berufstätigkeit der Frauen: Sibilla Ullmann betrieb in Rödingen ein gut gehendes Geschäft mit Ellenwaren (Stoffgeschäft). Juden besaßen in der dörflichen Wirtschaftsgemeinschaft eine wichtige Mittlerstellung: Sie verkauften die im Dorf produzierten Waren auf den Märkten der Umgebung und in den größeren Städten und versorgten die Landbevölkerung mit Fertigwaren aus der Stadt (Textilien, Schuhe, Möbel etc.). Das Zusammenleben von Christen und Juden scheint in Rödingen weitgehend problemlos gewesen zu sein. Konflikte, die sich aus der wirtschaftlichen Tätigkeit der Juden ergaben, werden im Verwaltungsbericht nicht erwähnt. Der geplante Schulunterricht an Sonn- und Feiertagen in der Nähe der katholischen Pfarrkirche wurde allerdings von den Christen als normverletzend empfunden und verhindert. Zwischen 1840 und 1870 erlebte die jüdische Gemeinde ihre Blütezeit (1843 37, 1855 50, 1861 60, 1872 59 Mitglieder). Sie besaß seit 1841 eine Synagoge, für deren Bau Isaak Ullmann, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, die nötigen Geldmittel
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und das Grundstück zur Verfügung gestellt hatte, einen Friedhof, eine Herberge für arme durchreisende Juden und einen Frauenverein. Die jüdische Schule bestand von 1850 bis 1870. Wie in zahlreichen anderen Orten verlief ihr Betrieb schwierig. Das Schullokal wechselte häufig, es war schlecht ausgestattet, die Lehrer blieben nicht lange, da sie schlecht bezahlt wurden und bald nach besser entlohnten Stellungen Ausschau hielten. Den wenigen jüdischen Kindern blieb schließlich nichts anderes übrig, als die christlichen Schulen zu besuchen. Der Verwaltungsbericht von 1923 kommt auch auf die krisenhaften Erscheinungen zu sprechen, die die Rödinger Juden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts betrafen. Umstrukturierungen in der Landwirtschaft führten dazu, dass der häufig von Juden ausgeübte Handel mit Samen und Kleesamen bedeutungslos wurde. Auch eine Anbindung Rödingens an das regionale Eisenbahnnetz konnte nicht erreicht werden, was für Händler von großem Nachteil war. Andere, größere Orte in der Umgebung wurden attraktiver: Düren, Jülich, Düsseldorf, Mönchengladbach. Die meisten jüdischen Familien verließen Rödingen. Die Synagoge wurde seit etwa 1900 nicht mehr für Gottesdienste benutzt. 1933 lebte als einzige Jüdin nur noch die betagte Sibilla Ullmann in Rödingen. […] Wie früher angeführt, gründete Abraham Ullmann (die Schreibweise ist verschieden, Ulman, Ullmann), geb. in Rödingen 1786, gest. daselbst am 21.2.68, alt 82 Jahre, in dem von ihm angekauften Hause (Nr. 99 und 100) eine Familie. Er heiratete am 6.3.1820 Sibilla Ahrends oder Arons (Bela Ahron), geb. in Heinsberg 1802, gest. in Rödingen am 18.2.1860, alt 58 Jahre. Dieselben hatten 10 Kinder, das jüngste war geb. 1840, und zwar 4 Töchter und 6 Söhne, zwei Söhne und eine Tochter starben früh; zwei Töchter heirateten nach auswärts, eine Tochter in Rödingen ihren Oheim. Zwei Söhne heirateten in Rödingen und zogen nach kurzem Wohnsitze hierselbst von hier nach Düren, ein Sohn zog ebenfalls dahin und einer starb in hohem Alter in Rödingen. Die Hauptbeschäftigung der Familie war Metzgerei, Viehhandel, Samen- und Kleesamenhandel und Makler im Grundstücksgeschäft. Die Frau Sibilla Ullmann betrieb ein gut gehendes Ellwarengeschäft.- Der andere Sohn Isaak Ullmann, geb. in Rödingen am 17.7.1800, gest. in Rödingen am 6.3.77, alt 76 Jahre, verblieb im elterlichen Hause, er war Vorsteher der jüdischen Gemeinde von 1840 bis zu seinem Tode und heiratete in erster Ehe 1836 Bloema Winter, geb. in Hemmerden 1810, gest. in Rödingen am 28.4.1840, alt 30 Jahre; mit dieser hatte er zwei Söhne, einer starb früh, einer zog nach auswärts und heiratete daselbst. In zweiter Ehe lebte er mit seiner Nichte, der Tochter seines Bruders Abraham, mit Namen Esther, geb. in Rödingen am 22.11.1823, verehelicht am 19.1.1855, gest. am 23.7.96, alt 73 Jahre. Dieselben hatten 1 Sohn und zwei Töchter, der Sohn heiratete in Rödingen gegen 1883 Zerline geb. Kohnen, verzog nach kurzer Zeit nach Düsseldorf, woselbst er 1923 starb. Eine Tochter Sophie heiratete am 6.6.1891 Ludwig Wallach, geb. in Oberembt am 15.9.1838, Sohn von Markus Wallach und Frau Gertrud geb. Küpper. Derselbe
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starb ebenfalls in Rödingen. Die jüngste Tochter Sibilla Ullmann, geb. in Rödingen am 24.1.1860, lebt mit ihrer Schwester Witwe Wallach, wie früher gesagt, noch heute im elterlichen Hause. Die Beschäftigung von Isaak Ullmann und Ludwig Wallach war dieselbe wie von Abraham Ullmann. Philipp Ullmann betrieb in Rödingen und Ameln einen lebhaften Handel mit Getreide und Futtermitteln, welchen er in Düsseldorf noch bedeutend erweiterte. […] Nachdem sich um 1840 die jüdische Gemeinde in Rödingen bedeutend vermehrt hatte, so wurde dem Vorsteher der israelitischen1 Gemeinde in Rödingen, Isaak Ullmann, auf seinen im israelitischen Consistorium in Crefeld2 befürworteten Antrag unter dem 20.7.1841 von der Königlichen Regierung zu Aachen3 mitgeteilt, daß die Genehmigung zum Bau einer Synagoge in Rödingen erteilt sei. Der Plan zum Bau war von dem Baumeister Cremer in Aachen zu 902 Taler 24 Sgr. 4 7 Pfg5, außerdem 25 Taler für unvorhergesehene Ausgaben entworfen und veranschlagt. Die Baumittel schoß der Vorsteher Isaak Ullmann vor und erklärte sich bereit, den nötigen Bauplatz herzugeben. Die Baukosten sollten durch freiwillige Beiträge der Gemeindeglieder getilgt werden. Bis zum Jahre 1875 war in Rödingen eine Herberge, in welcher reisende arme Juden meist auf Kosten der israelitischen Gemeinde Unterkunft fanden. […] Da sich die allgemeine Wirtschaftsweise infolge des Zuckerrübenbaues im letzten Drittel des abgelaufenen Jahrhunderts wesentlich für den Rödinger Handel dadurch geändert hatte, daß Kleesamen fast nur für den eigenen Bedarf geerntet, während derselbe früher viel mehr gezogen wurde, ferner, daß Rübsen und Raps in der Fruchtfolge ausfielen, wodurch der Klee- und andere Samenhandel sozusagen ganz in Wegfall kam4, da auch noch infolge der Errichtung der Eisenbahn JülichAmeln-Gladbach das Dorf Rödingen leer ausgegangen war und endlich auch keine Aussicht vorhanden war, daß Rödingen von der Bergheimer Kreisbahn berührt wurde, so sahen wir, daß vor und nach fast alle Israeliten von Rödingen, welches früher ein Handelsmittelpunkt war, nach Düren, Jülich usw. verzogen und jetzt nur noch eine geringere Anzahl Israeliten hier wohnen als 1745. Die israelitischen Kinder besuchten anfänglich die katholische Volksschule hierselbst. Jedoch hören wir schon um das Jahr 1850 von einem Fellhändler Heymann Bär, der von Dernau bei Ahrweiler nach hier verzog und sich des Unterrichts der jüdischen Schulkinder gegen ein Entgeld annahm. Als Unterrichtsraum diente eine Stube in dem früheren Hause von Abraham Ullmann in der Geraden-Eiche. Die Knaben hatten vollen Unterricht, während die Mädchen nur morgens hebräisch sprechen, lesen und beten lernten und nachmittags die kath. Volksschule besuchten. […] Vom 12. März 1860 bis 1. März 1862 amtierte an der israelitischen Privatschule der Lehrer Elkan Filehne, vorgebildet im Seminar zu Petershagen, zuletzt tätig gewesen in Wickrath. Er besaß ein besonderes Talent, die jüdische Gemeinde fest zusammenzuschließen und gründete ebenfalls hierselbst einen israelitischen Frauenverein. Laut Bericht des damaligen Schulinspektors Herrn Pfarrer Schumacher schied
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der Lehrer Elkan Filehne am 1. März 1862 aus Rödingen und übernahm eine andere Beschäftigung bei israelitischen Kindern in Lechenich. […] Laut Bericht vom 28. Juni 1865 zählte die hiesige Judenschule 26 Kinder, wovon 14 zu Rödingen gehörten. Die Schulstube war in sehr schlechtem Zustande und für die anwachsende Schülerzahl viel zu klein – im Winter konnte der Ofen kaum untergebracht werden – sodaß sie als Unterrichtsraum für Lehrer wie Schüler aus sanitären Gründen für nicht geeignet erschien. Der israelitische Vorstand beantragte, ein unter dem Bürgermeisteramte gelegenes und schon zu Schulzwecken verwandtes Zimmer für die jüdische Schule frei benutzen zu dürfen. Der Plan scheiterte an der jährlichen Miete. Ferner mußte ein Schulunterricht an allen Sonn- und Feiertagen in der Nähe der katholischen Pfarrkirche störend und ärgerniserregend wirken. Das alte Schulzimmer wurde somit nach einer Ausbesserung weiter benutzt. Dem Gesuch des Lehrers Heinemann um Anstellung auf zwei weitere Jahre, wie sein Kontrakt mit der jüdischen Spezial-Gemeinde5 lautete, wurde von Regierungsseite aus nicht stattgegeben, er erhielt nur die Genehmigung zur weiteren vorläufigen Unterrichtserteilung. Bald darauf schied er jedoch von Rödingen und die israelitischen Kinder besuchten wieder die katholische Volksschule hierselbst […].
Anmerkungen 1 Der Begriff „Israeliten“, der sich von Israel, dem zweiten Namen des Stammvaters Jakob, ableitet (1. Mose 32,29), ging um 1800 in die Amtssprache des napoleonischen Frankreich und der besetzten Gebiete ein. Die Bezeichnungen „Israelit“ und „israelitisch“ beziehen sich im Wesentlichen als Synonyme für „Jude“ und „jüdisch“ auf den konfessionellen Charakter des Judentums. Im Laufe der Zeit erhielten die Begriffe in der nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft und auch innerjüdisch einen positiveren Klang als „Jude“, „Judentum“, „jüdisch“: Wer im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Grundsatz der political correctness wahren wollte, sprach von „Israelit“ und „israelitisch“. 2 Die 1808 von Napoleon eingeführte Konsistorialverfassung schuf mit den Konsistorien auf Départementebene eine zentralisierte Struktur für die jüdischen Gemeinden. Ziel war die Verstärkung der Staatsaufsicht über die jüdischen Gemeinden. Unter preußischer Herrschaft blieb die Konsistorialverfassung zunächst bestehen, bis sie 1847 von den staatlich anerkannten Synagogengemeinden abgelöst wurden. Krefeld war der Sitz des für Rödingen zuständigen Konsistoriums. 3 Rödingen gehörte seit 1815 zum Regierungsbezirk Aachen. 4 Silbergroschen. 5 Pfennige. 6 In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verdrängte im Gebiet von Rödingen die Zuckerrübe den Anbau von Kleesamen, einer Futterpflanze. Raps und Rübsen, eine Vor-
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frucht von Raps, vertrugen sich nach landläufiger Meinung nicht mit dem Anbau von Zuckerrüben und wurden daher ebenfalls häufig nicht mehr angebaut. Zahlreiche Juden, die in der Gegend um Rödingen und Jülich als Kleesamen- und Samenhändler tätig waren, wurden von den Umstrukturierungen in der Landwirtschaft hart getroffen. 7 Rödingen war seit 1859 zusammen mit allen anderen jüdischen Gemeinden im Kreisgebiet (sowie Kinsweiler und Hoengen im Landkreis Aachen) eine Filial-Gemeinde im Synagogenverband Jülich.
Literatur Zur Geschichte der Juden in Rödingen und zur Rödinger Synagoge: Hermann-Josef Paulißen, Genealogie, Familienstruktur und wirtschaftliche Verhältnisse der Juden im nördlichen Jülicher Land im 19. Jahrhundert, Jülich 2007; Monika Grübel, Synagoge und Vorsteherhaus Titz-Rödingen. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, Köln/Pulheim 2001; dies., Ehemalige Landsynagogen im Rheinland: Gedenkstätte – Kulturraum – Museum - Denkmal? in: Museen im Rheinland 3 (2006), S. 3–11; Video „Die Tante mit der Synagoge im Hof “. Aus dem Leben rheinischer Landjuden. Ein Film des Landschaftsverbands Rheinland, 2002; Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in NordrheinWestfalen, Teil I: Regierungsbezirk Köln, Köln 1997, S. 120–126 (in diesem Band auch Beiträge zur jüdischen Sachkultur in anderen Ortschaften der Umgebung) Zum Thema Landjudentum allgemein: Monika Richarz/Reinhard Rürup (Hg.), Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, Tübingen 1997 (hier vor allem die Aufsätze von Monika Richarz, Ländliches Judentum als Probleme der Forschung, S. 1–8; von Michael Toch, Die ländliche Wirtschaftstätigkeit der Juden im frühmodernen Deutschland, S. 59–67; von Jakob Borut, Religiöses Leben der Landjuden im westlichen Deutschland während der Weimarer Republik, S. 231–248); Stefan Rohrbacher, Die jüdische Landgemeinde im Umbruch der Zeit. Traditionelle Lebensform, Wandel und Kontinuität im 19. Jahrhundert, Göppingen 2000; Monika Grübel, Landjuden – ein Leben zwischen Land und Stadt, in Claudia Maria Arndt (Hg.), Unwiederbringlich vorbei. Geschichte und Kultur der Juden an Sieg und Rhein. 10 Jahre Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg, Siegburg 2005, S. 52–71; Monika Richarz, Landjuden – ein bürgerliches Element auf dem Dorf ? in: Wolfgang Jacobeit u.a. (Hg.), Idylle oder Aufbruch? Das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Ein europäischer Vergleich, Berlin 1990, S. 181–190; dies., Viehhandel und Landjuden im 19. Jahrhundert. Eine symbiotische Wirtschaftsbeziehung in Südwestdeutschland, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1990, S. 66–88. Nur wenige Autobiographien beschreiben das Alltagsleben der in den Dörfern und Kleinstädten lebenden Juden. Ein interessantes Beispiel aus der Gegend um Aachen ist das Buch von Eric Lucas, Jüdisches Leben auf dem Lande. Eine Familienchronik, Frankfurt/M. 1991
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Hinweis Jüdisches Leben auf dem Land kann man im Rahmen einer Exkursion nach Rödingen näher kennenlernen. Die Synagoge mit Synagogenhof und das Wohnhaus des Vorstehers der jüdischen Gemeinde Rödingen Isaak Ullmann am Mühlenend 1 sind erhalten geblieben. 1999 erwarb der Landschaftsverband Rheinland das Gebäudeensemble. Nach der Restaurierung wurde das „LVR-Kulturhaus Landsynagoge Rödingen – Jüdisches Leben im Rheinland“ im September 2009 der Öffentlichkeit übergeben. Die ehemalige Synagoge dient als öffentlicher Veranstaltungsraum für Vorträge, Lesungen, Konzerte, Gesprächs- und Diskussionsrunden sowie kleinere Sonderausstellungen. Mit den sichtbaren Spuren der früheren Nutzung als Synagoge und später als Werkstatt eines Schaustellers (Frauenempore, Nische für den Tora-Schrank, Reste der Schablonenmalerei, Werkstattnutzung) ist sie selbst ein Exponat. Im ehemaligen Wohnhaus von Isaak Ullmann und seiner Familie lädt eine Dauerausstellung dazu ein, verschiedene Aspekte jüdischen Lebens im Rheinland kennenzulernen. Die sozial- und kulturgeschichtlichen Dimensionen des jüdischen Alltagslebens auf dem Lande stehen im Mittelpunkt der Präsentation. Auch der kleine jüdische Friedhof ist erhalten geblieben. Infos unter: www.synagoge-roedingen.lvr.de, 25.7.2010
39 Ostjüdische Arbeiter in der Rhein-Ruhr-Region während des Ersten Weltkriegs, 1914–1918 Max Eschelbacher, Ostjüdische Proletarier in Deutschland, in: Der Jude 3 (1918/19), Heft 11, S. 512–521; online: www.compactmemory.de, 25.7.2010
Dr. Max Eschelbacher (1880–1964), seit 1913 Rabbiner in Düsseldorf, beschäftigt sich in seinem 1919 in der Zeitschrift „Der Jude“ (Hg. Martin Buber) erschienenen Aufsatz „Ostjüdische Proletarier in Deutschland“ mit einem wichtigen sozialen Problem der jüdischen Gemeinden: der Zuwanderung jüdischer Arbeiter aus „Kongress-“ oder „Russisch-Polen“ (dem seit 1815 zum Russischen Reich gehörenden Teil Polens) in das rheinisch-westfälische Industriegebiet während des Ersten Weltkriegs. Eschelbacher kam im Rahmen seiner seelsorgerischen Tätigkeit in Kontakt mit dieser Bevölkerungsgruppe. Der hier ausgewählte Abschnitt hat das Verhältnis der jüdischen Arbeiter zur Umgebungsgesellschaft zum Thema. Es geht Eschelbacher in erster Linie um die Frage: Wie entwickelt sich eine ethnisch-religiöse Minderheit in einem fremden Milieu? Die jüdische Zuwanderung nach Deutschland während des Ersten Weltkriegs ist im Zusammenhang mit der allgemeinen jüdischen Wanderungsbewegung von Ost nach West zu sehen. Zwischen 1881 und 1914 verließen etwa drei Millionen Juden
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Osteuropa in Folge verschiedener Porgromwellen, politischer Diskriminierung und wirtschaftlicher Not. Das Deutsche Reich war allerdings zumeist nur eine Zwischenstation für die Familien, deren Ziel vor allem die USA waren. Als Russisch-Polen während des Ersten Weltkriegs von der deutschen Armee besetzt wurde, kamen zahlreiche Juden zunächst als Kriegs- und Zivilgefangene nach Deutschland. Seit 1916 warben deutsche Unternehmen mit Unterstützung der Militäradministration freie Arbeiter an, die mit Verträgen nach Deutschland reisten, um den kriegsbedingten Arbeitskräftemangel auszugleichen. Zudem verfolgte die „Judenpolitik“ der Militärs und der deutschen Regierung in Russisch-Polen den Zweck, das zaristische Regime zu destabilisieren. Bei den von Eschelbacher als „ostjüdische Proletarier“ bezeichneten Menschen handelte es sich im Wesentlichen um ein Handwerkerproletariat, das in RheinlandWestfalen in der Landwirtschaft, in den Stahlwerken und im Bergbau Beschäftigung fand. Schlechte Arbeitsbedingungen, mangelnde Niederlassungsfreiheit und Isolation prägten ihr Arbeitsleben. Dabei waren laut Eschelbacher ihre Verdienstmöglichkeiten vielfach recht gut. Statistische Angaben fehlen, man kann daher die Zahl der ostjüdischen Arbeiter in Rheinland-Westfalen nur schätzen, wobei die Zahlen zwischen 3.000 und 15.000 Personen gegen Ende des Ersten Weltkriegs schwanken. Eschelbacher vertritt die Meinung, dass die Mehrzahl der ostjüdischen Arbeiter zur weitgehenden Integration in die Umgebungsgesellschaft und zur Aufgabe ihrer jüdischen Identität bereit sei. Ohne den Familienzusammenhalt seien die jungen, aufstiegsorientierten Männer schnell der Religion entfremdet worden, nur wenige hätten die bestehenden „ostjüdischen“ Betstuben aufgesucht. Einen Grund für diese Entwicklung sieht der Rabbiner in der von ihm kritisierten sozialistischen Grundeinstellung der „ostjüdischen“ Arbeiter. Der starke Wille zur Integration zeige sich in der Kleidung, in der Sprache (Abkehr vom Jiddischen) und Namensgebung, in der Identifikation mit der Geschichte und Kultur des Gastlands sowie im ausgeprägten Bildungswillen. Diese Prozesse seien dadurch verstärkt worden, dass die Zuwanderer kaum Kontakt zu den einheimischen jüdischen Gemeinden hätten, wobei Eschelbacher recht beschönigend die Tatsache in den Hintergrund drängt, dass die etablierten deutsch-jüdischen Gemeinden aus Furcht vor antisemitischen Ausbrüchen in der Mehrheitsgesellschaft den „Ostjuden“ weitgehend ablehnend gegenüberstanden. Nach Ende des Ersten Weltkriegs kehrte ein Teil der jüdischen Arbeitskräfte freiwillig in ihre Heimat zurück; viele wurden von den preußischen Behörden rigide abgeschoben. Zu Beginn der 1920er Jahre brachten Pogrome und Unruhen in Polen und Russland noch einmal eine große Anzahl von jüdischen Migranten aus Osteuropa in die Städte an Rhein und Ruhr. Der Krieg hat uns eine große, ergreifende Aufgabe gebracht. Unbemerkt von der großen Öffentlichkeit sind ganze Scharen jüdischer Männer und Frauen aus Rußland als Arbeiter bei uns eingewandert und haben in unseren Fabriken Stellung
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gefunden. Sie sind still gekommen, sie fielen nicht auf, während sie bei uns weilten, und am Ende des Krieges sind sie ebenso lautlos und verschwiegen wieder gegangen. Und dennoch war es der Mühe wert, sie kennen zu lernen und mit aller Sorgfalt auf sie zu achten. Denn mitten in Deutschland durften wir hier die jüngere Generation des russischen Judentums beobachten, in ihrem ursprünglichen Zustand und zugleich mitten in ihrer Assimilation1 an eine neue und fremde Welt. Wir konnten ihnen für den Augenblick helfen und uns gleichzeitig an der Quelle ein Urteil über Lebensfragen des russischen Judentums, ja des Judentums überhaupt bilden. Und diese erste Welle hat uns auf die Aufgaben vorbereitet, die uns eine weitere Einwanderung russischer Juden in Zukunft stellen wird. […] Gewiß hat es unter ihnen auch fromme Juden gegeben, die nach Möglichkeit auch in der Fremde ihr Leben nach dem alten jüdischen Brauch einrichteten und so oft es nur ging die Synagoge besuchten. Die große Synagoge der Gemeinde haben sie allerdings selten betreten, Chor, Orgel und der mannigfach veränderte Ritus sagten ihnen nicht zu. Dafür fühlten sie sich in den kleineren Betstuben der Russen und Galizier wohl. Hier war der Gottesdienst gerade so, wie bei ihnen zu Hause, und hier trafen sie auch Chassidim2. Diese „Stübel“ haben also auch hier ihre wichtige Aufgabe erfüllt und manchem Zuwanderer den Übergang von der Heimat zum Westen erleichtert. Aber die Zahl dieser Synagogenbesucher war gering, und die meisten standen dem religiösen Leben fremd gegenüber. […] Begreiflich ist unter diesen Umständen ihr außerordentlicher Drang nach radikaler Assimilation. Sie haben die Krisis noch vor sich, die das deutsche Judentum bereits überstanden hat. Es ist durch eine Emanzipationszeit von 150 Jahren hindurch gegangen und hat in dieser Epoche an innerer Festigkeit und an jüdischen Werten viel verloren. Aber was es sich erhalten hat, das besitzt es nun mit einer gewissen Sicherheit. Nach langem Siechtum scheint es gegen weitere Erkrankung einigermaßen immun geworden zu sein. Auf diese sozialistischen Proletarier aus dem polnischen Industriegebiet aber wirkt die neue Kultur noch mit ihrem ganzen Reiz und mit ihrem vollen Zauber. Äußerlich und innerlich gleichen sie sich nach Möglichkeit radikal an, in ihrem Anzug, wie in ihrem innersten Denken. Die Kleidung der Wohlhabenderen haben wir schon geschildert, sie unterscheiden sich in nichts von jungen Leuten irgendwelcher Nationalität. Wo sie mit der Außenwelt in Berührung traten, änderten sie sofort ihre Vornamen. Dann verwandelte sich der bisherige Awrohom in einen Alfred und Pinchas in einen Paul. Aber bezeichnenderweise nur bei denen, die in der Stadt wohnten, nicht bei denen, die von der Welt abgeschieden waren. 65 Mann lebten in einem großen Werk der Umgebung kaserniert und ohne Berührung mit der Welt. Bei ihnen fand man auch nach dreijährigem Aufenthalt nur die alten jüdischen Vornamen. Die andern aber blieben nicht bei dieser äußerlichen Mimicry3, sondern erarbeiteten sich mit einem erstaunlichen Fleiß rasch jene Vertrautheit mit dem Lande und seinem Geist, die im natürlichen Verlauf der Dinge erst das Ergebnis eines langen Aufenthalts sein kann. Einige nahmen deutschen Unterricht und sprachen
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bald ein tadelloses Deutsch ohne Dialekt. Andere besuchten in den akademischen Kursen Semester hindurch die Vorlesungen über Landeskunde der Rheinlande und wußten nun besser als viele Eingeborene Bescheid über rheinische Städte, Dichter und Humoristen. Rasch gaben sie die eigene Art auf, und noch rascher lebten sie sich in eine fremde ein. Diese Gabe ist bewundernswürdig und eine mächtige Waffe im Kampfe ums Dasein, und trotzdem konnte der nachdenkliche Beschauer ihrer nicht recht froh werden. Denn diese Virtuosität bedeutet auch eine schwere Gefahr für den Charakter und das ursprüngliche Selbst. Das polnische Judentum, mindestens das proletarische, muß erst noch die Lust gewinnen, in der Freiheit zu wachsen, und muß die Kraft sich erwerben, sich selber zu bewahren, nachdem alle äußeren Bindungen gefallen sind, um das eigene Wesen mit dem neuen Dasein zu versöhnen. Hier findet es eine gewaltige Aufgabe der Erziehung und der Selbsterziehung. Verstärkt wurde der Trieb zur fessellosen Assimilation durch die freiwillige Absperrung von dem einheimischen deutschen Judentum. Man wußte hier nur wenig von ihnen, sie selber hatten kein Begehren nach dem Umgang mit den ansässigen jüdischen Familien, sie wurden nur in einzelnen Fällen herangezogen und verkehrten nur selten dort. Eher schon waren sie in den Familien der eingewanderten russischen und galizischen Familien heimisch. Und wie ihre Synagogen, so haben auch diese Familien selbst, wenigstens in manchen Fällen, den russischen Zuzug sanft und ohne allzu schroffen Übergang in eine neue Welt hineingeführt. Im wesentlichen aber haben sie untereinander verkehrt und sich das Leben verschönt durch Kunst und Lektüre, durch ihr Theater und ihre Lesehalle. […]
Anmerkungen 1 Der Begriff „Assimilation“ wurde seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts im Sinne von (zumeist negativ bewerteter) „Anpassung“, „Angleichung“, „Aufgehen“ oder „Verschmelzung“ der jüdischen Minderheit mit der Mehrheitsgesellschaft benutzt. Da dem Begriff der Aspekt der Selbstaufgabe, des Verlusts jüdischer Identität innewohnt, wird er heute meistens durch die Bezeichnung „Akkulturation“ ersetzt. 2 Anhänger einer mystisch-religiösen jüdischen Bewegung, die Mitte des 18. Jahrhunderts in Südostpolen entstand und weite Bevölkerungskreise vor allem in Osteuropa ergriff. 3 Nachahmung, Anpassung.
Literatur Ludger Heid, Maloche – nicht Mildtätigkeit. Ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914– 1923, Hildesheim/Zürich/New York 1995; Ludger Heid, „Proletarier zu sein und Jude dazu, das bedeutet unsägliches Leid…“ Sozialisten zur „Ostjudenfrage“, in: Ludger Heid/
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Arnold Paucker (Hg.), Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933. Soziale Utopien und religiös-kulturelle Traditionen, Tübingen 1992, S. 177–191; Ludger Heid, Das ostjüdische Proletariat in Duisburg, in: Ludger Heid/Julius H. Schoeps (Hg.), Arbeit und Alltag im Revier, Duisburg 1985, S. 213–232
40 Integriert in der Kleinstadt: Das Beispiel Viersen, erstes Drittel des 20. Jahrhunderts Israel Nussbaum, „Gut Schabbes!“ Jüdisches Leben auf dem Lande. Aufzeichnungen eines Lehrers (1869–1942), hg. und mit einem Nachwort versehen von Michael Philipp, Berlin 2002, S. 193–197
Israel Nussbaum, geboren am 24. März 1869 im hessischen Vollmerz als Sohn eines Viehhändlers, lebte seit 1897 mit seiner Ehefrau Berta, geborene Kronenberg, und den Kindern Otto, Rudolf, Ilse und Annie in Viersen, wo er als Lehrer im Staatsdienst, Vorsteher und Kantor der jüdischen Gemeinde tätig war. Seine autobiographischen Aufzeichnungen „Familienchronik und Stammbaum der Familie Israel Nussbaum in Viersen“ wurden zwischen 1932 und 1937 verfasst und richteten sich vor allem an seine Angehörigen, insbesondere seine Kinder. Der Text war ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Nussbaum schildert in seiner Autobiographie seinen materiellen und gesellschaftlichen Aufstieg, der durch mehrere Stationen markiert ist: Ablegung der Mittelschulund Rektorenprüfung, Erwerb von Grund- und Hausbesitz, Studium der Kinder, Engagement in zahlreichen Vereinen und Verbänden seiner Heimatstadt. Aus einer kleinen Landgemeinde stammend und zunächst dem jüdisch-orthodoxen Milieu verhaftet, entwickelte sich Nussbaum im Laufe der Zeit zu einem Anhänger des liberalen Judentums. Die hier ausgewählten Passagen zeigen Nussbaum als Mitglied des deutschen Sprachvereins, des deutschen Lehrervereins und des Winterhilfswerks. Er war ebenfalls Mitglied des Viersener Geflügelzüchtervereins und Vorsteher eines Wahlbezirks bei den Reichstagswahlen. Politisch stand er der liberalen Deutschen Demokratischen Partei nahe, in der sich zahlreiche Juden engagierten, da hier sowie in der SPD antisemitische Parolen noch am wenigsten Fuß gefasst hatten. Berta Nussbaum war im Viersener Hausfrauenverein und gleichzeitig im jüdischen Frauenverein tätig. Israel Nussbaum beschreibt ausführlich die Mitarbeit von Juden in den Vereinen, die Zusammenarbeit von jüdischen und überkonfessionellen Vereinen, das freundschaftliche und tolerante Einvernehmen zwischen den Konfessionen, auch seine Identifikation mit der deutschen Kultur, insbesondere mit Goethe und der deutschen Klassik. Das Ehepaar Nussbaum gehörte zu den Honoratioren der Kleinstadt.
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Nussbaums Aufzeichnungen sind zwischen 1932 und 1937 entstanden, d.h. in einer Zeit, in der aufgrund der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten keine Mitgliedschaft in den genannten Vereinen mehr möglich war. Seine Schilderungen dienen in erster Linie der Selbstvergewisserung, der Bestätigung seiner Lebensleistung. Die Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft zeigte aber bereits in der Weimarer Republik, in der von Nussbaum beschriebenen Zeit, tiefe Risse. Das Miteinander von Juden und Nichtjuden wird von ihm außergewöhnlich stark betont. Dies scheint also letztlich auch für ihn keine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein. Im Rückblick sieht Nussbaum im Zionismus, der die Zukunft der Juden in einem eigenen Staat in Palästina gesichert sieht, die allein Erfolg versprechende Perspektive. Am 24. Juli 1942 wurden Israel und Berta Nussbaum und die behinderte Tochter Annie nach Theresienstadt deportiert. Am 4. Dezember 1942 starb Israel, am 17. April 1943 Berta Nussbaum. Annie Nussbaum wurde in Auschwitz ermordet. Den Kindern Rudolf, Otto und Ilse gelang die Emigration. […] Auf allen Gebieten zeigte sich ein erfreulicher Fortschritt. Der Unterschied gegen frühere Zeiten bestand darin, daß man sich nicht dem Wohlwollen eines oder mehrerer Mächtigen anvertrauen wollte, sondern die Gestaltung der Dinge selbst in die Hand nahm. Die Juden haben 2.000 Jahre auf das Erscheinen des Messias gewartet, aber erst nachdem der Zionismus1 die Selbsthilfe proklamierte, wendete sich das traurige Schicksal des Judentums. In die Reihe dieser Erscheinungen ist auch die Organisation der Hausfrauen einzufügen. Sie wollen Fortschritte im Gebiete des Hauswesens herbeiführen durch gemeinsame Bemühungen. Vor allem soll das Nachdenken der Hausfrau geweckt werden, soll ihre Berufstüchtigkeit gefördert werden durch Schriften, Vorträge, Ausstellungen und Kurse. Es zeigte sich dabei auch eine erfreuliche Begleiterscheinung: Die Scheidewände, die früher durch die Klassenzugehörigkeit und Konfessionsverschiedenheit hervorgerufen waren, wurden geringer. Man lernte sich kennen und schätzen. Nicht zu vergessen ist der erzieherische Einfluß, der von den würdigsten Frauen auf die anderen ausgeübt wurde. In dem Viersener Hausfrauenverein gelangte meine Frau zu einer führenden Stellung. Die Frau Kommerzienrat Kaiser2 war die erste Anregerin zur Gründung des hiesigen Hausfrauenvereins. Sie warb auch meine Frau für den Verein. Sie sollte als Vertreterin der jüdischen Frauen in den Vorstand eintreten. Aber weit über diesen Rahmen hinaus hat sie sich Geltung verschafft und sich die Liebe und Verehrung aller gewonnen. Als nach dem Wechsel von 1933 die Juden aus allen Vereinen, mit Ausnahme der rein jüdischen, ausscheiden mußten, da kam Frau Kaiser zu uns, umfaßte die Hände meiner Frau, und unter Schluchzen und Tränen rief sie: „Warum gibt Gott das zu? Soll man da nicht an Gott zweifeln?“ Ich suchte sie zu trösten durch den Hinweis, daß das Geschehene nicht dem Willen Gottes entspreche. Auch die Frau Kommerzienrat Zahn3, die Vorsitzende des Vaterländischen Frauenvereins,
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kam zu uns und sprach ihr Bedauern aus und so noch viele andere. Besonders herzlich gestaltete sich unser Verhältnis zu der evangelischen Familie Rolloff, das noch 1933 so innig weiterbestand wie vorher. […] Der rührige Verein [der Hausfrauenverein; d. Bearb.] veranstaltete mehrere Ausstellungen in der schönen Festhalle. Eine trug das Motto: „Einst und Jetzt“, die andere das Motto: „Der gedeckte Tisch“, die dritte: „Die Frau“. Bei der Ausstellung „Der gedeckte Tisch“, die sehr hübsch war, stellte der jüdische Frauenverein einen Sedertisch4 aus, der vielleicht die größte Beachtung erreichte. Wenn ich anwesend war – ich hatte freien Eintritt – übernahm ich das Amt des Erklärers, und ich hatte immer eine zahlreiche Hörerschaft um mich herum. Wenn ich nicht anwesend war, vertrat mich öfters die Frau Kaiser und gab das weiter, was sie von mir gehört hatte. Eigenartig! Eine katholische Frau erklärt den Seder. Nichts zeigt eindringlicher den warmherzigen Geist der damaligen Zeit – es war kurz vor 1933 – als dieser Umstand. […] Die verschiedenen Frauenvereine hatten in den letzten Jahren gemeinsam „Das Fest der alten Leute“ veranstaltet. Es war eine Art Weihnachtsfeier für alle über 70 Jahre alten Leute. Es wurde in der großen Festhalle in der ersten Hälfte des Januar abgehalten. An geschmückten Tischen saßen die alten Leutchen bei Kaffee, Kuchen und belegten Broten und ließen es sich wohlschmecken. Nicht schied da der Stand oder das Geld. Man ehrte eben das Alter, das graue würdige Haupt. Erst recht spielte die Konfession oder Rasse keine Rolle. Ein Geistlicher der christlichen Gemeinden hielt eine Rede, die religiös durchhaucht war. Auf der Bühne wurden meist sehr schöne Darbietungen von der Viersener Jugend geboten. Die mächtigen Akkorde der Orgel, die hellen Stimmen der Kinder, die tiefen der tausend Alten, der Glanz der vielen Lichter am Weihnachtsbaum, der grüne Schmuck überall – das alles löste eine tiefe herzliche Weihestimmung aus. Und die liebevolle Bedienung erfolgte durch die leitenden Damen der Vereine, von denen jede eine weiße Schürze trug. Und der Urgrund all dieses Geschehens war die Liebe von Mensch zu Mensch. Zu diesem Fest der alten Leute wurden Ehrengäste eingeladen, zu denen auch ich gehörte. Es waren die Spitzen der Stadt, der Kirchengemeinden, der höheren Schulen und sonstige hervorragende Persönlichkeiten. Wir saßen zusammen am Tisch der Ehrengäste. Die Galerie war angefüllt von Zuschauern, denen gegen Entrichtung eines Eintrittsgeldes gestattet war, zuschauen zu dürfen. Unter den bedienenden Frauen waren natürlich auch jüdische, nämlich meine und Frau Meyer. Wie zu diesem Fest, so wurde ich auch bei allen Anlässen als Ehrengast eingeladen, so bei einer Handwerks- und Gartenbauausstellung und dergleichen mehr. Ebenso gehörte ich dem Ausschuß für das Winterhilfswerk5 an. Bei den ersten beiden Reichstagswahlen war ich der Vorsteher eines Wahlbezirkes. In den Wahlversammlungen habe ich einigemal in der Aussprache meiner Meinung Ausdruck gegeben. In Süchteln trat ich einem Judenfeind entgegen.
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Als eine Ortsgruppe der demokratischen Partei sich hier bildete, trat ich ihr bei. Eine Wahl in den Vorstand lehnte ich aber ab. So standen wir wie alle im Leben und Weben der deutschen Nation. Von meiner Jugend an war uns das Bewußtsein, ein Deutscher jüdischer Konfession zu sein, etwas Selbstverständliches. Für die zwei Spezialfächer, in denen ich die Mittelschullehrerprüfung ablegte, wählte ich Deutsch und Geschichte, obwohl ‚Deutsch’ das schwerste und umfangreichste Fach ist. Ich war Mitglied des deutschen Sprachvereins. Innerhalb der Viersener Volksschullehrerschaft, besonders in der Viersener Ortsgruppe des deutschen Lehrervereins, der ich angehörte, hielt man mich für den Zuständigen in den Fächern Deutsch und Geschichte. In der Prüfung mußte man angeben, welchen Dichter man besonders eingehend behandelt habe. Ich hatte mir Goethe dafür erwählt, obwohl er hinsichtlich des Umfangs und der Schwierigkeit in der ersten Reihe steht. Aber ich hatte mich innerlich für den Größten der deutschen Nation entschieden. […]
Anmerkungen 1 Die Anhänger der zionistischen Bewegung vertraten die Auffassung, dass angesichts des in Europa herrschenden Antisemitismus die Politik der Emanzipation gescheitert sei; die Überwindung der Diaspora durch die Gründung eines jüdischen Nationalstaats in Palästina wurde als der einzig mögliche Weg zur „Lösung der Judenfrage“ gesehen“; vgl. auch Dokument 44. 2 Julie Kaiser, geb. Didden (1870–1942), Tochter eines Brauereibesitzers, heiratete 1891 Josef Kaiser, den Besitzer von Kaisers Kaffeegeschäft in Viersen; sie war vielfältig sozial engagiert und übte auch Einfluss auf die Geschäftsleitung aus. 3 Fanny Zahn, geb. Fabricius (1869–1944), verheiratet mit Carl Zahn, dem Teilhaber einer Textilfabrik, der nationalsozialistisch orientiert war. Die Tochter einer alteingesessenen Familie engagierte sich auf sozialem Gebiet, noch heute trägt in Viersen ein Kinderheim ihren Namen. 4 Mit dem Seder-Abend beginnt das Pessach-Fest, das an den Auszug der Israeliten aus ägyptischer Knechtschaft erinnert. Seder heißt Ordnung und bezeichnet ein besonderes Ritual, das in der Familie gefeiert wird. Zum Ritual des Seder-Abends gehört der Verzehr bestimmter traditioneller Speisen. Der Tisch ist mit einem eigens für das PessachFest vorgesehenen Geschirr gedeckt. 5 Die Winterhilfe, die Nussbaum hier meint, wurde bereits in der Weimarer Republik von verschiedenen Wohlfahrtsverbänden ins Leben gerufen. An ihr beteiligte sich auch die „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“, der 1917 geschaffene Zusammenschluss aller jüdischen Wohlfahrtsorganisationen. Das „Winterhilfswerk des Deutschen Volkes“ war dagegen eine im September 1933 von den Nationalsozialisten gegründete Stiftung des öffentlichen Rechts, die die staatliche Fürsorge durch Privatinitiative finanziell entlasten sollte. Die diversen Sammelaktionen dienten auch der Stärkung der „Volksgemeinschaft“.
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Literatur Jochem Ulrich, Juden in Viersen, in: Geschichte der Juden im Kreis Viersen, Viersen 1991, S. 307–338; Ferdinand Dohr, Chronik der Viersener Juden 1809–1942, Viersen 1965; Jakob Toury, Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena zu Weimar, Tübingen 1966
Hinweis Im Stadt- oder Gemeindearchiv lassen sich Informationen über die Mitarbeit von Juden und Jüdinnen in Kunst- und Literaturvereinen, Kriegervereinen, Männergesangsvereinen, Heimat- und Wandervereinen, Turnvereinen oder der freiwilligen Feuerwehr finden. Wer hat sich engagiert, was ist daraus geworden und finden sich heute noch Erinnerungen an das Wirken von jüdischen Menschen in örtlichen Vereinen und Verbänden?
5. Grenzen der Emanzipation: Judenfeindschaft und Antisemitismus Die Dokumente 41–43 thematisieren den Zusammenhang von Ritualmordglauben, Massenhysterie und antijüdischer bzw. antisemitischer Agitation und Gewalt in zahlreichen niederrheinischen Gemeinden im 19. Jahrhundert. Die drei Quellentexte können in einer Unterrichtssequenz im Zusammenhang behandelt werden.
41 Die alte Ritualmordlüge lebt wieder auf: Der Pogrom von Neuenhoven und Umgebung, 1834 Bericht des Regierungspräsidenten in Düsseldorf, Anton Graf von Stolberg-Wernigerode, an den Königlichen Minister des Innern und der Polizei in Berlin, 23. Juli 1834 (Abschrift) LAV NRW R Düsseldorf, Regierung Aachen 2483, Bl. 5f.
Am 15. Juli 1834 wurde in einem Roggenfeld unweit von Neuenhoven, heute Gemeinde Jüchen im Rhein-Kreis Neuss, der sechsjährige Peter Wilhelm Hoenen, Sohn des Zimmermeisters Peter Heinrich Hoenen in Neuenhoven, ermordet aufgefunden. Der nicht veröffentlichte Obduktionsbericht ließ erkennen, dass das Kind einem Sexualmord zum Opfer gefallen war. Der Täter wurde nie gefunden. Bald nach der Tat kam das Gerücht auf, Juden hätten das Kind ermordet, weil sie das Blut von Christen für rituelle Zwecke benötigten, insbesondere für das Backen des
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Literatur Jochem Ulrich, Juden in Viersen, in: Geschichte der Juden im Kreis Viersen, Viersen 1991, S. 307–338; Ferdinand Dohr, Chronik der Viersener Juden 1809–1942, Viersen 1965; Jakob Toury, Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena zu Weimar, Tübingen 1966
Hinweis Im Stadt- oder Gemeindearchiv lassen sich Informationen über die Mitarbeit von Juden und Jüdinnen in Kunst- und Literaturvereinen, Kriegervereinen, Männergesangsvereinen, Heimat- und Wandervereinen, Turnvereinen oder der freiwilligen Feuerwehr finden. Wer hat sich engagiert, was ist daraus geworden und finden sich heute noch Erinnerungen an das Wirken von jüdischen Menschen in örtlichen Vereinen und Verbänden?
5. Grenzen der Emanzipation: Judenfeindschaft und Antisemitismus Die Dokumente 41–43 thematisieren den Zusammenhang von Ritualmordglauben, Massenhysterie und antijüdischer bzw. antisemitischer Agitation und Gewalt in zahlreichen niederrheinischen Gemeinden im 19. Jahrhundert. Die drei Quellentexte können in einer Unterrichtssequenz im Zusammenhang behandelt werden.
41 Die alte Ritualmordlüge lebt wieder auf: Der Pogrom von Neuenhoven und Umgebung, 1834 Bericht des Regierungspräsidenten in Düsseldorf, Anton Graf von Stolberg-Wernigerode, an den Königlichen Minister des Innern und der Polizei in Berlin, 23. Juli 1834 (Abschrift) LAV NRW R Düsseldorf, Regierung Aachen 2483, Bl. 5f.
Am 15. Juli 1834 wurde in einem Roggenfeld unweit von Neuenhoven, heute Gemeinde Jüchen im Rhein-Kreis Neuss, der sechsjährige Peter Wilhelm Hoenen, Sohn des Zimmermeisters Peter Heinrich Hoenen in Neuenhoven, ermordet aufgefunden. Der nicht veröffentlichte Obduktionsbericht ließ erkennen, dass das Kind einem Sexualmord zum Opfer gefallen war. Der Täter wurde nie gefunden. Bald nach der Tat kam das Gerücht auf, Juden hätten das Kind ermordet, weil sie das Blut von Christen für rituelle Zwecke benötigten, insbesondere für das Backen des
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ungesäuerten Brotes (Mazzen) in der Pessach-Zeit. So lautet die klassische Version des Ritualmordaberglaubens, der sich seit dem 12. Jahrhundert im christlichen Europa verbreitete. Genährt wurden diese Gerüchte von der ebenso absurden Nachricht, der Körper des Knaben sei völlig ausgeblutet gewesen. Die Gerüchte führten innerhalb kurzer Zeit zu Tumulten unter der Bevölkerung des heutigen Rhein-Kreises Neuss und zu Ausschreitungen gegen jüdische Bewohner der Region, die zwei Monate lang anhielten. An den Gewalttaten waren offenbar ausschließlich Angehörige der Unterschichten beteiligt. Die Unruhen waren Anlass für den Bericht des Düsseldorfer Regierungspräsidenten von Stolberg-Wernigerode an den Innenminister in Berlin vom 23. Juli 1834. In diesem konnte er seinem Vorgesetzten bereits einige Erfolge bei der Bekämpfung der Ausschreitungen melden, die auf den Einsatz des Militärs zurückzuführen waren. Eine Befriedung der Region gelang jedoch erst Wochen später. In fast allen Ortschaften im heutigen Rhein-Kreis Neuss sowie in den Städten Mönchengladbach und Düsseldorf gab es Unruhen. Zentren der Pogrome waren die Orte Neuenhoven und Bedburdyck. In der Nacht zum 21. Juli zerstörte eine Menschenmenge, die fast doppelt so groß war wie die Bevölkerung des Ortes Neuenhoven, die Häuser der Juden Jakob Baumgarten und Leon Aretz. Jakob Baumgarten und seine Töchter wurden misshandelt. In Bedburdyck zerstörte ein Mob die Synagoge und verbrannte die Tora-Rollen. Mitte August wurden bei Noithausen zwei jüdische Kaufleute, die vom Markt in Grevenbroich kamen, überfallen und schwer misshandelt. Fast überall erklangen Spottlieder, flogen Steine und wurden Häuser beschädigt. Einen weiteren Höhepunkt erreichten die Gewalttaten am 16. August in Bedburdyck. Etwa 300 Menschen aus diesem Ort und dem benachbarten Stessen führten abends einen behinderten jungen Mann auf einem Schubkarren und in einem Tragriemen herum, grölten und schrien: „Ein gehängter Jude“. Zu beobachten war, dass die zum Schutz der jüdischen Bevölkerung aufgestellten Bürgerwachen teilweise gemeinsame Sache mit den Gewalttätern machten und dass der Hass, der den Juden entgegenschlug, auch auf die preußischen Behörden übertragen wurde. Erst Wochen später konnten diese den Ausschreitungen ein Ende bereiten. Dies geschah zum einen durch massives Einschreiten des Militärs, zum anderen durch Verträge der Bürgermeister mit den bemittelten und angesehenen Einwohnern der Ortschaften, die mit ihren Unterschriften für Recht und Ordnung eintraten und ihre aktive Unterstützung beim Schutz der Juden zusagten. Der Ritualmordaberglaube war im katholischen Rheinland weit verbreitet und historisch verwurzelt, wobei die mündliche Überlieferung eine große Rolle spielte. Bereits der Fall des Werner von Oberwesel, dessen Leiche 1287 in der Nähe von Bacharach gefunden wurde, führte zu einem Flächenbrand von Gewalttätigkeiten. Vor allem die bald einsetzenden Wallfahrten, die Einbeziehung des Aberglaubens in den religiösen Kultus und die Volksfrömmigkeit sorgten für den Fortbestand des Ritualmordaberglaubens. 1761 wurde Werner als Diözesanheiliger in das Kalendarium des
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Bistums Trier aufgenommen und erst 1963 wieder gestrichen. Auch der Mord an Johanneken von Troisdorf konstituierte in einer Überlieferung von 1645 eine örtliche Verehrung. Die Amtskirche hat den Ritualmordlegenden wiederholt widersprochen, die Verehrung der „Volksheiligen“ aber auch geduldet. Genährt und wach gehalten wurde der Ritualmordaberglaube vor allem durch die katholische Erbauungsliteratur, insbesondere die Heiligenviten. Stefan Rohrbacher hat ermittelt, dass es noch im vermeintlich aufgeklärten 19. Jahrhundert elf Fälle von Ritualmordbeschuldigungen am Niederrhein gegeben hat. Bereits 1819 führte die Ermordung eines kleinen Mädchens in Dormagen zu Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Die Frage, warum die Ritualmordlüge in den Gebieten um Neuss und Grevenbroich immer wieder zu massiven Ausschreitungen führte, muss letztlich unbeantwortet bleiben. Stefan Rohrbacher konstatiert eine „regionale Tradition des Ritualmord-Glaubens“. Wirtschaftliche Motive, Neid und der Glaube an eine Ausbeutung der Landbevölkerung durch die Juden kamen hinzu. Als eine Erklärung für das besondere antijüdische Konfliktpotential in der landwirtschaftlich strukturierten Gegend um Neuss und Grevenbroich mögen auch die dichte Besiedlung und ein relativ hoher jüdischer Bevölkerungsanteil dienen. Seit Sonntag den 13.ten d. M. vermißte man den 6jährigen Knaben des Zimmermeisters Peter Hoenen zu Neuenhoven1 im Kreise Grevenbroich, nachdem er Nachmittags auf dem Markte zu Bedburdyk2 in der Nähe seines Wohnortes gewesen war und am 15. d. M. wurde derselbe auf einem Roggenfelde nahe bei Neuenhoven ermordet gefunden. Nach der Untersuchung war derselbe auf eine empörende Weise geschändet und unmittelbar darauf erstochen worden. Diese verruchte That machte großes Aufsehen in der Umgegend, und theils aus unbekannten Gründen, theils aber nach Wiederaufnahme eines bestehenden Wahnes, daß die Juden von Zeit zu Zeit Christenblut vergießen und aufsammeln müßten, hörte man plötzlich das Volk die Juden derselben beschuldigen. In Folge der dadurch entstandenen Aufregung und Erbitterung hat darauf in der Nacht vom 20./21.ten d. M. ein großer Auflauf Statt gefunden, und mit wahrer Rohheit sind in Neuenhoven die Häuser der daselbst wohnenden Juden Leon Aretz und Jacob Baumgarten erstürmt und mit den darin befindlichen Mobilien, Büchern und Waaren fast gänzlich verwüstet, - die Hausbewohner selbst aber theilweise mißhandelt worden, bis ein aus Odenkirchen3 im Kreise Gladbach4 herbeigeholtes Detachement5 des Königl. 8. Husaren-Regiments die Ruhe wieder hergestellt hat. Gleichzeitig war eine ähnliche Gewaltthat auch zu Bedburdyk zum Ausbruch gekommen, wobei die dortige Synagoge erstürmt und völlig zerstört wurde. Die Nachricht von diesen rohen und gewaltthätigen Ruhestörungen empfing ich folgenden Tages bei meiner Rückkehr von Crefeld, wo ich in Dienstgeschäften gewesen
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war und nach vorheriger Rücksprache mit den geeigneten Männern begab ich mich am frühen Morgen des gestrigen Tages an Ort und Stelle, um nach Lage der Sache unter Mitwirkung der Militärbehörde die weiter erforderlichen Maaßregeln sofort treffen zu können. Nach den von allen Seiten mir entgegenkommenden Nachrichten wurde es mir bald klar, daß die leicht entzündliche Aufregung wider die Juden sich schon weit verbreitet und der getroffenen Vorkehrungen ungeachtet am Abend des 21. d. M. und in der darauf folgenden Nacht neue Ruhestörungen zu Gladbach6, Glehn7 und in mehreren andern kleineren Orten des Kreises Grevenbroich8 veranlaßt hatte. Es war zwar nur bis zum Einwerfen der Fenster gekommen; der Ruf: hep! hep!9 ging jedoch schon von Ort zu Ort und soll selbst bis in die Gegend von Bonn vorgedrungen sein, und da man nicht ganz ohne Grund eine Wiederholung der geschilderten Auftritte in den Dörfern Hemmerden10, Grevenbroich, Jüchen, Elsen11, Giesenkirchen12, Odenkirchen pp. befürchtete, so hielt ich es für angemessen, keine der geeigneten Vorsichtsmaaßregeln zu verabsäumen. Demzufolge habe ich im Einverständnisse mit dem Major v. Forstner im Königl. 8ten Husaren Regimente angeordnet, daß sofort 2. Pikets13 zu 20. Pferden jedes inmitten der bewegten Ortschaften der beiden Kreise Gladbach und Grevenbroich und zwar so stationirt werden, daß sie nach allen Seiten augenblickliche Hülfe leisten können. Ein drittes Piket wird gleichzeitig für den Fall der Noth an einem geeigneten Orte zur Disposition gestellt. Zur Verhütung jeglichen Auflaufes ist ein Patrouillen-System eingerichtet, nach welchem sämmtliche verdächtigen Gegenden und Orte der vorgenannten Kreise Tag und Nacht beaufsichtigt und namentlich Nachts wenigstens 3. mal militärisch durchsucht werden. Durch diese Anordnungen hoffte ich die fernere Ruhe sichern zu können; daß sie bereits für die verflossene Nacht ihren Zweck erfüllt haben, darf ich in diesem Augenblicke, da mir noch keine weitere Nachricht zugegangen, kaum bezweifeln. Und da zu gleicher Zeit auch auf die Beruhigung der durch Irrwahn und Fanatismus aufgeregten Gemüter gewirkt werden wird, so steht eine Erneuerung der beklagenswerthen Vorfälle nicht mehr zu erwarten. Euer Excellenz habe ich mich verpflichtet gehalten, davon sofort diese ausführliche Anzeige sofort [sic!] ganz gehorsamst zu machen, welcher ich nur noch die Versicherung ehrerbietigst hinzufüge, daß von einer politischen Tendenz bei diesen Ruhestörungen überall nicht die Rede sein kann, sondern daß sie lediglich als Geburten des Wahns und der Roheit betrachtet werden müssen. […]
Anmerkungen 1 Heute Teil der Gemeinde Jüchen im Rhein-Kreis Neuss. 2 Heute Teil der Gemeinde Jüchen im Rhein-Kreis Neuss. 3 Heute Teil der Stadt Mönchengladbach.
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4 Der Kreis Gladbach bestand von 1816 bis 1929 und umfasste Teile der heutigen Städte Mönchengladbach, Viersen, Willich und Korschenbroich. 1888 enstand der Stadtkreis München-Gladbach, 1929 wurden Mönchengladbach und Rheydt im Rahmen einer Gebietsreform mit Teilen des Landkreises zum Stadtkreis Gladbach-Rheydt vereinigt, heute Stadt Mönchengladbach. 5 Für besondere Aufgaben abkommandierte Truppenabteilung. 6 Gemeint ist die heutige Stadt Mönchengladbach. 7 Heute Teil der Stadt Korschenbroich im Rhein-Kreis Neuss. 8 Der Kreis Grevenbroich bestand von 1816 bis 1929. 1929 wurde er mit dem Kreis Neuß und Teilen des Kreises Gladbach vereinigt und in Landkreis Grevenbroich-Neuß umbenannt, 1946 Rückbenennung in Kreis Grevenbroich. 1975 wurde im Zuge der kommunalen Neugliederung der Kreis Grevenbroich und die kreisfreie Stadt Neuß zum Kreis Neuss zusammengefasst, heute Rhein-Kreis Neuss. 9 Antijüdischer Hetz- und Spottruf ungeklärten Ursprungs, meist abgeleitet aus den Anfangsbuchstaben von „Hierosolyma est perdita“ („Jerusalem ist verloren“), einem Schlachtruf der Kreuzritter. 10 Heute Stadtteil von Grevenbroich. 11 Heute Stadtteil von Grevenbroich. 12 Heute Teil von Mönchengladbach. 13 Vorposten.
Literatur Hans Georg Kirchhoff, Der Kindesmord in Neuenhoven und das Judenpogrom von 1834, in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Grevenbroich 6 (1985), S. 45–78; Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek bei Hamburg 1991; Stefan Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815–1848/49), Frankfurt/M./New York 1993; Stefan Rohrbacher, Volksfrömmigkeit und Judenfeindschaft. Zur Vorgeschichte des politischen Antisemitismus im katholischen Rheinland, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 192/193 (1990), S. 125–144; Stefan Rohrbacher, Ritualmord-Beschuldigungen am Niederrhein. Christlicher Aberglaube und antijüdische Agitation im 19. Jahrhundert, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1 (1990), S. 299–326; Stefan Rohrbacher, Die „Hep-Hep-Krawalle“ und der „Ritualmord“ des Jahres 1819 zu Dormagen, in: Rainer Erb/Michael Schmidt (Hg.), Antisemitismus und Jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin 1987, S. 135–147; Rainer Erb (Hg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, Berlin 1993; Gerd Mentgen, Über den Ursprung der Ritualmordfabel, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 4 (1994), S. 405–416.
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42 Wie Pogromstimmung entstehen kann: Zwei Jülicher Kinder erzählen Lügengeschichten, 1840 Bericht des Oberprokurators von Kösterlitz in der Stadt-Aachener Zeitung Nr. 82 vom 22. März 1840
Am 22. März 1840 veröffentlichte die „Stadt-Aachener Zeitung“ den Bericht des Oberprokurators (Oberstaatsanwalt) von Kösterlitz über einen Vorfall, der sich einige Tage zuvor in Jülich und dem nördlich davon gelegenen Dorf Broich abgespielt hatte. Eine Mutter von zwei Kindern hatte der Polizei in Jülich zur Anzeige gebracht, dass ihre neunjährige, zum Betteln ausgeschickte Tochter im Beisein des jüngeren Bruders in der Nähe von Broich von einem Juden misshandelt und mit einem Messer verletzt worden sei. Kurz nach der ersten Untersuchung durch die Justizbehörden bezichtigte das Mädchen ein zufällig vorbeikommendes altes jüdisches Ehepaar, David Levi und seine Ehefrau, den Übergriff ausgeführt zu haben. Eine Beschuldigung zog die nächste nach sich: Bei weiteren Vernehmungen behaupteten die Kinder, der jüdische Händler habe einen alten Mann ermordet, der ihnen zu Hilfe gekommen sei. Eine medizinische Untersuchung des Mädchens sowie Zeugenaussagen, die das jüdische Ehepaar eindeutig entlasteten, ließen schnell erkennen, dass die Kinder gelogen und die beiden zu Unrecht bezichtigt hatten. Im Hintergrund der Erzählung des Mädchens steht wiederum eine Ritualmordverdächtigung, die hier noch zusätzlich durch sexuelle Assoziationen aufgeladen ist. Das hysterische Verhalten der Kinder zielt offenbar auf ein Publikum, das beeinflusst werden will. Das Vorgehen der Untersuchungsbehörden verhindert allerdings im Jülicher Fall, dass es zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung kommt. Der Vorfall kann als Nachhall der Pogrome von 1834 bezeichnet werden. Der Fall der Jülicher Kinder erinnert stark an eine Erzählung von Hütekindern aus Weisweiler (bei Aachen) aus dem Jahre 1834, denen aufgrund einer Unachtsamkeit das Vieh fortgelaufen war und die nun zu ihrer Entlastung angaben, Juden hätten sie überfallen und mit Ermordung bedroht. Die Kinder in Weisweiler wollten sich der Strafe entziehen. Warum die Jülicher Kinder logen, ist nicht so offenbar. Auffällig ist in jedem Fall, wie präsent den Kindern die Mär vom blutrünstigen Juden war. Es war schon eine erstaunliche „Leistung“ der neun- und sechsjährigen Kinder, den preußischen Beamten mehrere Tage lang dreiste Lügen und immer stärker ausgeschmückte Bezichtigungen aufzutischen. Auch das Jülicher Beispiel zeigt deutlich, wie tief antijüdische Ressentiments, wach gehalten durch religiös fundierten Aberglauben, in der Landbevölkerung verwurzelt waren. Den preußischen Behörden fiel es schwer, den Vorfall zu erklären: „Leider ist es bis jetzt nicht gelungen, den Ursprung und Zweck des mitgetheilten Lügengewebes zu entdecken.“ Der Hinweis auf zwei aus Düsseldorf angereiste Anstifter oder Nutznießer – antisemitische Agitatoren ? – ist der recht kurz greifende Versuch,
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eine rationale Erklärung des Geschehens zu finden. Die Veröffentlichung des Berichts des Oberprokurators von Kösterlitz verfolgte die Absicht, mit der Entlarvung der lügnerischen Kinder dem Publikum die Unhaltbarkeit „eines alten, bis jetzt nie bewährt gefundenen Vorurteils“ zu demonstrieren und somit die Deutungshoheit über den Vorfall zu reklamieren. Ein Vorfall, welcher sich kürzlich in meinem Amtsbezirke zugetragen, viel Aufsehen erregt und bereits Stoff zu verschiedenen Zeitungsartikeln1 gegeben hat, veranlaßt mich zu folgender amtlicher Bekanntmachung: Am 6. d. M. machte eine Frau zu Jülich dem dortigen Beamten der gerichtlichen Polizei die Anzeige, ihr neunjähriges Töchterchen, welches sie morgens um etwa 7 Uhr nach Broich geschickt habe, um dort einiges Brod zu erbetteln, sei unterwegs von einem Juden angefallen und auf eine schreckliche Art gemißhandelt worden. Das Mädchen, in genauester Übereinstimmung mit ihrem sechsjährigen Bruder, welcher sie begleitet hatte, gab bei wiederholten Vernehmungen, scheinbar in großer Gemüthsbewegung, an, als sie hinter der Broicher Gasse gewesen, sei ihr der Jude von Broich her entgegengekommen, habe sich gesetzt, sie plötzlich ergriffen und über die Knie gelegt und habe ihr dann, nachdem er ein Messer gezogen und ihr die Kleider aufgehoben, einen Stich in den Unterleib versetzt. Wirklich waren diejenigen Theile ihres Körpers, wohin der Stoß nach der Versicherung der Kinder geführt seyn sollte, mit Blut besudelt. Bald nach der Eröffnung der demnächst mit vieler Sorgfalt und Umsicht geführten polizeilichen Untersuchung, erblickte das angeblich gemißhandelte Kind ein altes jüdisches Ehepaar, welches über den Markt zu Jülich ging, und rief, indem es ganz außer sich zu gerathen schien: „Da ist er, der mich gestochen hat!“ Die Juden wurden sogleich festgehalten und bei der Zusammenstellung mit den Kindern mit der größten Bestimmtheit als die Thäter anerkannt. Die Judenfrau, von welcher ursprünglich keine Erwähnung geschehen war, sollte sich, nach der Versicherung des Kindes, dem Mädchen auf das Gesicht gesetzt haben, so daß es nicht gut habe schreien können. Im Verlaufe der verschiedenen Vernehmungen wurde von den Kindern weiter angegeben, bei ihrem Geschrei sei ein alter Mann herbeigekommen, welchen der Jude mit seinem Messer todt gestochen habe, und erst nach dem Erscheinen anderer Personen hätten die Juden die Flucht ergriffen. Nachdem mir die Verhandlungen zugegangen waren, veranlaßte ich eine gerichtliche Untersuchung, zu deren Behuf sich einer der H.H.2 Instruktionsrichter3 und einer der H.H. Staatsprokuratoren4 am 12. d. M. nach Jülich begaben. Das Resultat der geführten Untersuchung ist nun folgendes gewesen: Eine von einem gerichtlichen Medizinal-Beamten unter Zuziehung noch eines Arztes vorgenommene, ganz genaue körperliche Untersuchung des angeblich gestochenen Mädchens hat weder eine Verwundung, noch eine Geschwulst, noch eine Entzündung der nach ihrer Angabe verletzten Theile entdecken lassen.
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Die verhafteten Juden waren mit guten Pässen versehen; sie behaupteten, gar nicht in Broich oder auf dem Wege zwischen Broich und Jülich gewesen zu seyn, sondern in der Nacht vom 5. und 6. d. M. in Aldenhoven (in einer ganz andern Richtung von Jülich) geschlafen und von dort auf der Landstraße nach Jülich gegangen zu seyn. All dies bestätigte sich vollkommen durch das Zeugnis der (christlichen) Leute, bei denen sie übernachtet haben wollten, und zweier Gendarmen, welche am Morgen des 6. Gefangene von Jülich nach Aldenhoven geleitet hatten und unterwegs dem jüdischen Ehepaare, welches in Richtung von Aldenhoven her kam, begegnet waren. Eine Vergleichung der verschiedenen Zeitbestimmungen ergibt, daß die Beschuldigten zur Zeit des ihnen zur Last gelegten Attentats allerwenigstens eine, höchstwahrscheinlich aber mehrere Stunden von dem Orte, wo es verübt seyn sollte, entfernt gewesen waren. Der von den Kindern als ermordet bezeichnete Mann wurde leicht ermittelt. Er war völlig unverletzt und gab an, er habe die Kinder an dem Orte der angeblichen Mißhandlung angetroffen, wo sie ihm weinend geklagt, was ihnen soeben begegnet sei; er aber, so wie die andern von den Kindern bezeichneten Personen, versicherte, an jenem Orte durchaus keinen fälschlich bezüchtigt zu haben. Aber auch ihre letzten Angaben, die jedoch ohne öffentliches Interesse sind, enthalten augenscheinlich Unwahrheiten und stehen miteinander in Widerspruch. Unter den mitgetheilten Umständen sind die verhafteten Juden sogleich zu entlassen, und das Königl. Landgericht hat jedes Verfahren gegen sie eingestellt. Leider ist es bis jetzt nicht gelungen, den Ursprung und Zweck des mitgetheilten Lügengewebes zu entdecken. Dem Vernehmen nach sollen zwei Privatpersonen aus Düsseldorf in einem Bierhause in Jülich mit dem als Angeberin auftretenden Mädchen und deren Mutter ein Verhör abgehalten, beiden Geld geschenkt und ihre Aussagen aufgeschrieben haben. Jedermann wird ein solches Benehmen zu würdigen wissen, welches eine schändliche, lügenhafte Anklage, wenn auch nicht hervorgerufen, so doch belohnt hat. Es wäre doch zu wünschen, daß dieser Vorfall dazu beitragen möchte, ein altes, bis jetzt nie bewährt gefundenes Vorurteil zu beseitigen, dessen Grundlosigkeit dem Aufgeklärten schon lange mehr als zweifelhaft ist.
Anmerkungen 1 Der Bericht erschien auch in der „Kölnischen Zeitung“ Nr. 84 vom 24. März 1840 und in der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ vom 18. April 1840. 2 Herren. 3 Gerichtsreferent oder Richter, zu dessen Aufgaben die Vorbereitung der gerichtlichen Hauptverhandlung gehörte. 4 Bevollmächtigter in Gerichtssachen, hier Staatsanwalt.
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Literatur Achim Jaeger, Ein „Zeichen der Zeit“. Zum Ritualmord-Vorwurf gegen die Eheleute David Levi ( Jülich 1840), in: Neue Beiträge zur Jülicher Geschichte 14 (2003), S. 127–141. Zum Thema Antisemitismus allgemein: Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700–1933, München 1989; Werner E. Mosse (Hg.), Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870–1945, Hamburg 1988; George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt/M. 1995; Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.), Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, Frankfurt/M. [1995]; Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ in der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1987; Shulamit Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990; Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 22000; Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 32006; Christina von Braun/Ludger Heid (Hg.), Der Ewige Judenhass. Christlicher Antijudaismus, deutschnationale Judenfeindlichkeit, rassistischer Antisemitismus, Stuttgart/Bonn 1990; Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus, Frankfurt/M. 1987; Henryk M. Broder, Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls, Frankfurt/M. 1986
43 Ritualmordlegende und politische Agitation am Ende des 19. Jahrhunderts: Die Affäre Buschhoff in Xanten, 1891/92 Der Xantener Knabenmord vor dem Schwurgericht zu Cleve 4.–14. Juli 1892. Vollständiger stenographischer Bericht, Berlin 1893, S. 442f. und 446f. Bibliothek Germania Judaica, Köln
Am 29. Juni 1891, am Peter- und Pauls-Tag, wurde in Xanten in der Scheune des Schankwirts und Stadtverordneten Wilhelm Küppers die Leiche des noch nicht sechsjährigen Heinrich Hegemann aufgefunden. Nachdem er die Leiche untersucht hatte, erklärte der örtliche Arzt Joseph Steiner, es sei nicht so viel Blut in der Scheune vorhanden wie aufgrund des Schnittes an der Kehle des Knaben zu erwarten gewesen sei; der Fundort könne nicht der Tatort sein. Diese nachweisbar falsche Beobachtung führte dazu, dass in der Xantener Bevölkerung sehr schnell der Metzger, Viehhändler und ehemalige Schächter der jüdischen Gemeinde Adolf Buschhoff als Täter feststand. Buschhoff, der mit seiner Familie ganz in der Nähe der Küpperschen Scheune wohnte, habe einen Ritualmord begangen – so ging das Gerücht. Es folgten Verhaftungen und Freilassungen Buschhoffs und seiner ebenfalls verdächtigten Ehefrau Sibilla und der Tochter Hermine, gerichtliche Voruntersuchungen, die eingestellt und wieder aufgenommen wurden. Buschhoff floh mit seiner Familie vor den Drangsalie-
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rungen in Xanten schließlich nach Köln, was in der örtlichen Bevölkerung als Schuldeingeständnis gewertet wurde. Der Fall stieß im In- und Ausland auf enormes Interesse und wurde von einer bislang nicht da gewesenen antisemitischen Agitation begleitet; vor allem der in Xanten erscheinende, von dem katholischen Ortsgeistlichen redigierte „Bote für Stadt und Land“ sowie der „Gladbacher Merkur“, die „Rheinische Volksstimme“ und die „Rheydt-Odenkirchener Volkszeitung“, die „Kölnische Volks-Zeitung“ und überregional die „Neue Deutsche Zeitung“, die katholische „Germania“ und die konservative „Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung“ veranstalteten eine antijüdische Kampagne, die die Massenhysterie anheizte. Am 9. Februar und 19. März 1892 fand im Preußischen Abgeordneten-Haus in Berlin eine Debatte über die Xantener Affäre statt, in deren Verlauf der linksliberale Abgeordnete Heinrich Rickert daran erinnern musste, dass die Juden keine Gäste im preußischen Staat, sondern gleichberechtigte Mitbürger seien. Vor allem um den vielfach geäußerten Verdacht zu entkräften, die preußische Justiz ergreife einseitig für die Juden Partei, erhob die Staatsanwaltschaft in Kleve schließlich Anklage gegen Adolf Buschhoff wegen Mordes sowie gegen seine Frau und Tochter wegen Beihilfe zum Mord. Eröffnet wurde das Hauptverfahren am 4. Juli 1892 allerdings nur gegen Adolf Buschhoff. Zehn Tage lang wurden vor dem Schwurgericht in Kleve 160 Zeugen verhört und mehrere Sachverständige gehört. Es erwies sich, dass Buschhoff ein unwiderlegbares Alibi besaß. Er wurde am 14. Juli wegen erwiesener Unschuld freigesprochen. Seine Existenz allerdings war vernichtet, sein Haus in Xanten von einem wütenden Mob zerstört. Buschhoff, der vierzig Jahre lang in Xanten gewohnt hatte, verstarb am 8. Juni 1912 in Köln und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Deutz bestattet. Die Inschrift auf seinem Grabstein bezieht sich ungewöhnlich direkt auf sein Schicksal. Das Leid des Verstorbenen als „Ein Märtyrer seines Glaubens“ wird in der deutschen und der hebräischen Inschrift deutlich angesprochen. Der Prozess zog eine Reihe von Gewalttaten gegen Juden nach sich, die sich in der Gegend um Neuss und Grevenbroich konzentrierten. Nach dem Ende des Prozesses erschien ein stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Schwurgerichts in Kleve, wiederum Ausdruck der Bemühungen der Justizbehörden um vollständige Aufklärung des Falles. In seinem Schlussplädoyer führte der Verteidiger Rechtsanwalt Gammersbach vor den Geschworenen am 14. Juli 1892 noch einmal die Vermutung ad absurdum, in Xanten sei ein Ritualmord verübt worden. Auch den ersten Christen seien solche Taten nachgesagt worden, um die Bekenner der neuen Religion, die damals noch in der Minderheit waren, zu diffamieren. Gammersbach wies die Blutbeschuldigung auch mit dem Hinweis auf die Tabuisierung des Blutes im Judentum und die Verbindlichkeit der Zehn Gebote zurück. Das Neue am Xantener Ritualmordfall war die Instrumentalisierung der Vorgänge durch politische Parteien, die Konservativen, Teile des politischen Katholizismus und
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antisemitische Gruppierungen. Die alte Legende gewann durch die Politisierung eine neue Qualität und ging schließlich auch in das agitatorische Standardrepertoire der Nationalsozialisten ein. […] Plaidoyer des Vertheidigers Rechtsanwalt Gammersbach Meine Herren Geschworenen! Der „Fall Buschhoff“, der uns zehn Tage lang zu gemeinschaftlicher Thätigkeit an dieser Stelle zusammengeführt hat, geht seinem raschen Ende entgegen. Er wird zwar noch auf längere Zeit als Anknüpfungspunkt und Mittel politischer Bestrebungen die Zeitungen füllen, er wird auch wohl bei der Xantener Bevölkerung noch auf lange Zeit eine sagenumsponnene Existenz führen; für uns aber, meine Herren, für Sie als Richter des Angeklagten Adolf Buschhoff wird er in wenigen Stunden zu einem Ende gelangt sein, das wir, die wir die Akten kannten, erwartet hatten, und das jetzt für uns durch die Resultate der Beweisaufnahme zur Gewißheit geworden ist. Nachdem die Herren Vertreter der Staatsanwaltschaft sich in dem Antrage auf Freisprechung mit dem Antrage der Vertheidigung vereinigt haben, nachdem eine neuntägige Beweisaufnahme das lauteste und beredteste Zeugniß abgelegt hat für die Unschuld des Angeklagten Buschhoff, kann meine Aufgabe, wie die meiner Kollegen, nur eine überaus kurze sein. […] Meine Herren Geschworenen! Die Behauptung, die Juden hätten Christenblut zu ihren religiösen Zwecken nöthig, die in so vielen unglücklichen Köpfen und nicht zum wenigsten während dieses Prozesses unter der Xantener Bevölkerung spukt, diese Behauptung, die den Mallman1 sagen ließ: „Ist das nicht ein gutes Geschäft?“, sie ist in der That eine so thörichte, daß man nur mit kurzen Worten darüber hinweggehen kann. Es ist ja selbstverständlich nicht Aufgabe der Gerichtsverhandlung, die Frage, über die sich gewisse Parteien hin und her streiten und befehden, hier zum Austrag zu bringen und erschöpfend zu untersuchen; es ist nicht unsere Aufgabe, uns zu verlieren auf ein Gebiet, das uns Allen an sich fern liegt; aber einige wesentliche Gesichtspunkte daraus muß ich doch hervorheben. Meine Herren! Wenn Einer zu uns Christen sagen würde: „Ihr Christen habt Blut nöthig zu rituellen Zwecken,“ würde man da eine Vertheidigung gegenüber einer solchen Behauptung noch für nöthig finden? Würde man sich, meine Herren, nicht mit einem verächtlichen Lächeln von Demjenigen abwenden, der solches behauptet? Und doch, meine Herren, haben die Christen lange Zeit hindurch unter demselben Aberglauben der Blutbeschuldigung gelitten, und heute noch giebt es Gegenden, in denen auch der Christ unter dieser Anschuldigung zu leiden hat. Ich weise Sie, meine Herren, auf China und Madagaskar hin. Dort wird die eingeborene Bevölkerung gegen die christlichen Missionare mit derselben Behauptung aufgehetzt: man redet ihnen vor, die Christen haben zu gewissen Zwecken Blut nöthig, das Blut von Kindern! Und meine Herren, im Anfang unserer christlichen Zeitrechnung, als das Christenthum seinen gewaltigen Siegeslauf begann über alle Länder der Erde, als
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es aber noch nicht geworden war zu dem, als was wir es heute sehen, zur herrschenden Religion, da, meine Herren, erhoben die Römer, die damals noch das Schwert in der Hand hielten, dieselbe ungeheuerliche Beschuldigung gegen die ersten Christen. […] Sie sehen, meine Herren Geschworenen, das Alles ist da gewesen wider die Christen, und ich meine nun, wer sich mit diesem Gedanken vertraut macht, wer daran denkt, daß die Christen selbst diese nämliche Anschuldigung erlitten haben, der wird sich doch bedenken müssen, diesen Vorwurf gegen eine andere Religionsgesellschaft zu erheben! Wenn wir Christen uns gegen einen solchen Vorwurf vertheidigen müßten, da wüßte ich nur ein Wort zu sagen, ein Wort – es steht geschrieben in unserem von Gott gegebenen Gesetze: „Du sollst nicht tödten!“ [Kursive = Im Original gesperrt] Und, meine Herren Geschworenen, es würde keine schärfere Waffe gegenüber dem Vorwurf des „rituellen Mordes“ geben als jenes Grundgesetz: „Du sollst nicht tödten!“ Aber, meine Herren, wenn wir uns auf dieses Gebot berufen können, das für uns seit 1800 Jahren gilt, so sind die Juden in der Lage, sich auf dieses nämliche Gebot berufen zu können, das für sie seit mehr als 3000 Jahren gilt, und ferner auf das Gesetz, daß den Juden der Genuß des Blutes verboten ist und daß der Todte den, der ihn trägt oder berührt, unrein macht.2 Dann, meine Herren, ist doch der Gedanke an der Schwelle seines Auftretens abzuweisen, daß der Jude, der diese Gesetze besitzt, dazu übergehen sollte, sich noch mit dem Genusse des Blutes eines Menschen zu beflecken! […]
Anmerkungen 1 Der Kutscher Mallmann sagte im Prozess gegen Buschhoff aus und verwickelte sich dabei in erhebliche Widersprüche. 2 Juden ist der Verzehr von Blut verboten (Deut. 12,23–24 u.ä.), daher werden Tiere entsprechend dem jüdischen Religionsgesetz auf besondere Art und Weise geschlachtet („geschächtet“), eine Methode, die sicherstellt, dass das Tier schnell und vollkommen ausblutet. Die Berührung von Toten macht unrein; dieser Zustand muss durch eine rituelle Reinigung überwunden werden.
Literatur Zusätzlich zu der im Anschluss an Dokument 42 genannten Literatur: Julius H. Schoeps, Ritualmordbeschuldigung und Blutaberglaube. Die Affäre Buschhoff im niederrheinischen Xanten, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u.a. (Hg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 287–299; Barbara Suchy, Antisemitismus in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, in: ebenda, S. 252–285;
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Holger Schmenk, Xanten im 19. Jahrhundert. Eine rheinische Stadt zwischen Tradition und Moderne, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 310–367 Die Vorgänge in Xanten 1891/92 sind von Willi Fährmann in einem Jugendbuch literarisch verarbeitet worden: Es geschah im Nachbarhaus. Die Geschichte eines gefährlichen Verdachtes und einer tapferen Freundschaft, Würzburg 21977. Zusätzlich zum Dokument 43 kann ein antisemitisches Gedicht analysiert werden, das auf die Affäre Buschhoff Bezug nimmt, abgedruckt in: Landschaftsverband Rheinland/Landesbildstelle Rheinland/Medienstelle des LVR (Hg.), Juden im Rheinland, Teil I: Das antisemitische Vorurteil bis 1933. Beiheft zur Lichtbildreihe, Düsseldorf 1991, S. 27
44 Eine zionistische Antwort auf den Antisemitismus: Die Kölner Thesen, 1896 Henriette Hannah Bodenheimer (Bearb.), Der Durchbruch des politischen Zionismus in Köln 1890 bis 1900. Eine Dokumentation, Köln 1978, S. 114f.
Im Jahre 1896 veröffentlichte Dr. Max Isidor Bodenheimer das Programm der „National-jüdischen Vereinigung Köln“, die sogenannten „Kölner Thesen“. Dr. Max Isidor Bodenheimer (1865–1940) war seit 1893 Rechtsanwalt in Köln und einer der führenden zionistischen Politiker in Deutschland. Zusammen mit dem Kölner Kaufmann David Wolffsohn (1856/58–1914) gründete er 1894 die „National-jüdische Vereinigung Köln“. Die „Kölner Thesen“, eine grundlegende programmatische Schrift des Zionismus, wandten sich an Gesinnungsgenossen in ganz Deutschland; sie sollten der Sammlung von Einzelkämpfern und vereinzelten Gruppierungen auf der Grundlage eines Minimalkonsenses dienen. Der erste Punkt der „Kölner Thesen“ versuchte eine Gratwanderung: Deutsche und jüdische Identität sollten sich nicht ausschließen. Die Betonung der jüdischen Abstammungs- und Kulturgemeinschaft allerdings wies über den deutschen Nationalstaat hinaus. Wie im zweiten Punkt ausdrücklich formuliert, wurde die „Lösung der Judenfrage“ in der Schaffung eines eigenständigen jüdischen Nationalstaats im damaligen Palästina gesehen. Diese Forderung war eine Folge der zionistischen Analyse, dass angesichts des Anwachsens der antisemitischen Bewegungen (Entstehung eines aggressiven Rassenantisemitismus, Politisierung der antisemitischen Bestrebungen, Pogrome in Russland, Dreyfus-Affäre in Frankreich) im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Prozess der Emanzipation und Integration gescheitert sei – auch in Deutschland. Die dritte These nennt als Nahziele auf dem Wege zum jüdischen Nationalstaat die Förderung von Ackerbaukolonien, kulturelle Bildungsarbeit und Sozialpolitik. Damit zielte man vor allem auf die Verbesserung der Lage der unterdrückten und verelendeten jüdischen Massen in Osteuropa.
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Auf der Grundlage der drei Thesen sollte eine zionistische Organisation geschaffen werden. Die vorläufige Zentrale befand sich in Köln. Die „Kölner Thesen“ wurden mit Änderungen vom ersten zionistischen Weltkongress in Basel 1897 angenommen. Sie dokumentieren somit die wichtige Rolle, die Köln in der Geschichte des politischen Zionismus und damit im Entstehungsprozess des Staates Israel spielt. Max Isidor Bodenheimer wurde der erste Vorsitzende der „National-jüdischen Vereinigung für Deutschland“, die sich seit dem Baseler Kongress „Zionistische Vereinigung für Deutschland“ (ZVfD) nannte. Nach dem Tode Theodor Herzls 1904 wurde Köln für einige Jahre sogar zum Zentrum des internationalen Zionismus, da der Kölner Kaufmann David Wolffsohn die Nachfolge Herzls antrat und bis 1911 als Präsident der Zionistischen Organisation amtierte. In Köln selbst blieben die Zionisten bis 1933 in der Minderheit. Hier war der Widerstand offenbar besonders stark, was Bodenheimer veranlasste, in seinen Memoiren „So wurde Israel“ zu schreiben: „Es ist eine merkwürdige Verkettung der Umstände, dass sowohl der deutsche Zionismus selbst als auch seine Gegnerschaft die stärksten Impulse von Köln aus empfingen.“ Thesen der national-jüdischen Vereinigung Köln. I. Durch gemeinsame Abstammung und Geschichte verbunden, bilden die Juden aller Länder eine nationale Gemeinschaft. Die Betätigung patriotischer Gesinnung und die Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten seitens der Juden insbesondere der deutschen Juden für ihr deutsches Vaterland wird durch diese Überzeugung in keiner Weise beeinträchtigt. II. Die staatsbürgerliche Emancipation der Juden innerhalb der anderen Völker hat, wie die Geschichte zeigt, nicht genügt, um die sociale und kulturelle Zukunft des jüdischen Stammes zu sichern, daher kann die endgültige Lösung der Judenfrage nur in der Bildung eines jüdischen Staates bestehen; denn nur dieser ist in der Lage die Juden als solche völkerrechtlich zu vertreten und diejenigen Juden aufzunehmen, die in ihrem Heimatland nicht bleiben können oder wollen. Der natürliche Mittelpunkt für diesen auf legalem Wege zu schaffenden Staat ist der historisch geweihte Boden Palästinas. III. Dieses Endziel muß sowohl durch die Hebung des jüdischen Selbstbewußtseins als durch zielbewußte praktische Thätigkeit vorbereitet werden. Als Mittel hierzu dienen: a) Die Förderung der jüdischen Kolonien in Syrien und Palästina.
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b) Die Pflege jüdischen Wissens und jüdischer Sitte (Literatur, Geschichte und hebräische Sprache). c) Die Verbesserung der socialen und kulturellen Lage der Juden. Wer sich zu diesen Thesen bekennt ist für uns ein Zionist, mit dem wir zusammen arbeiten können. Den Organisationsplan denken wir uns folgendermaßen: 1. In jeder Stadt, wo auch nur einige Zionisten vorhanden sind, treten dieselben zu einer Vereinigung auf Grund der obigen Thesen zusammen. Diese Vereinigung hat regelmäßige Zusammenkünfte zum Zwecke der Vertiefung und Orientierung. 2. Jede solche Vereinigung wählt einen Vertrauensmann aus ihrer Mitte, der mit der Centrale in Fühlung steht. 3. Die Centrale verkehrt mit den Vertrauensmännern regelmäßig durch Briefe und Rundschreiben, sie gibt Flugblätter heraus, betreibt die Propaganda und beruft einmal jährlich einen Delegirtentag der deutschen Zionisten ein. 4. Ort der Centrale ist bis zur definitiven Bestimmung des nächsten Delegirtentages Köln am Rhein. Als ersten Schritt zur Erreichung dieser Organisation erachten wir die Herstellung eines Verzeichnisses der deutschen Nationaljuden. Wir bitten Sie daher, uns gütigst die Namen aller Ihnen bekannten Gesinnungsgenossen anzugeben und uns mit Rat und That bei unserm Unternehmen zu unterstützen. Briefe sind zu richten an die Adresse des Herrn Rechtsanwalt Dr. Bodenheimer in Köln, Hohenzollernring No. 18. Mit Zionsgruß Die nationaljüdische Vereinigung in Köln. I. V. Der geschäftsführende Ausschuß Rechtsanwalt Dr. Bodenheimer. D. Wolffsohn Mor. Levy jr.
Literatur Max Isidor Bodenheimer, So wurde Israel. Aus der Geschichte der zionistischen Bewegung. Erinnerungen, hg. von Henriette Hannah Bodenheimer, Frankfurt/M. 1958; Jehuda Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882–1933, Tübingen 1981; Richard Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, Jerusalem 1954
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45 Die Perspektive des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“: Juden sind Teil des deutschen Volkes und der rheinischen Kultur, 1925 Bernhard Falk, Der deutsche Jude auf rheinischer Erde, in: C. V.-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum. Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e.V., IV. Jg., Nr. 26 vom 26. Juni 1925 Bibliothek Germania Judaica, Köln; online: www.compactmemory.de, 25.7.2010
Am 26. Juni 1925 veröffentlichte Bernhard Falk in der „C.V.-Zeitung“, dem Zentralorgan des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ seinen Leitartikel „Der deutsche Jude auf rheinischer Erde“. Bernhard Falk (1867–1944) war Rechtsanwalt und ein prominenter liberaler Politiker, Mitglied der Kölner Stadtverordnetenversammlung, des Rheinischen Provinziallandtags und des Preußischen Landtags. Falk spielte auch in der Kölner Ortsgruppe des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ eine große Rolle. Seine Thesen formulierte Falk anlässlich der „Jahrtausendausstellung der Rheinlande“, die von Mai bis August 1925 in den Kölner Messehallen stattfand. Diese hatte auch eine Abteilung „Juden und Judentum im Rheinland“, die von dem Kölner Rabbiner Dr. Adolf Kober und der Kölner Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Moses erarbeitet worden war. Die Kölner Jahrtausendausstellung war Teil der als politische Demonstration angelegten „Tausend-Jahr-Feier der Rheinlande“. Die Betonung der „tausendjährigen Zugehörigkeit des Rheinlandes zum Deutschen Reich“ (seit 925 gehörte das Rheinland als Teil des lotharingischen Mittelreichs zum ostfränkischen Reich, aus dem sich das Reich der Deutschen entwickelte) sollte in Zeiten, die durch militärische Besetzung und separatistische Bestrebungen geprägt waren, dazu beitragen, die junge demokratische Weimarer Republik zu stabilisieren. Bernhard Falk argumentiert in seinem Artikel, dass das Rheinland integraler Bestandteil des deutschen Reiches und die kulturelle Keimzelle für „deutsches Wesen und deutsches Wollen“ sei. Die Juden seien Teil und Mitgestalter der rheinischen Geschichte und Kultur: In Köln, Worms, Speyer und Mainz lebten Juden schon seit 1.500 Jahren; Abkömmlinge jüdischer Familien (wenn auch konvertierte) gehörten im Mittelalter zur Kölner städtischen Oberschicht. Die konfessionellen Unterschiede hätten im Rheinland nicht in dem Maße ein soziales Konfliktpotential und antisemitische Bestrebungen erzeugt wie in anderen Gegenden Deutschlands – so seine optimistische Einschätzung. Die jüdischen Rheinländer sind laut Falk deutsche Bürger, die ihre erworbenen Rechte weiter ausbauen und verteidigen müssen. Ihr Deutschtum haben sie als Soldaten und Offiziere im Ersten Weltkrieg unter Beweis gestellt; die Integrität des Deutschen Reiches haben sie in den Jahren nach 1918 verteidigt, indem sie alle Bestrebungen ablehnten, die auf eine Abtrennung des Rheinlands vom Deutschen Reich zielten.
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Falks patriotisches und kämpferisches Bekenntnis fügt sich hervorragend ein in Programm und Politik des 1893 gegründeten „Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV), der sich zum Ziel gesetzt hatte, die staatsbürgerlichen Rechte der Juden zu verteidigen, Deutschtum und Judentum in einer Art doppelten Identität zu verbinden, das jüdische Selbstbewusstsein zu stärken und alle Angriffe auf die Juden, ihre Religion und ihren staatsbürgerlichen Status abzuwehren. Der CV, dessen ideologisches Programm von der Mehrheit der deutschen Juden unterstützt wurde, grenzte sich von den Bestrebungen der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ ab, insofern diese eine Zukunftsperspektive für die deutschen Juden nur außerhalb Deutschlands sah. Des rheinischen Liedes Zauberklang dringt zum Ohr und zum Herzen des Rheinländers, auch wenn er ferne dem Boden ist, dem er entstammt. Die Sehnsucht zum Rheinland, die Liebe zur Heimat geben dem Wollen und Denken des Rheinländers Richtung und Ziel. Ohne diese in Tradition und Gewöhnung wurzelnde und unter den Hammerschlägen, die auf unsere Köpfe niedersausten, gefestigte und gestählte, unerschütterliche Treue, hätten wir Rheinländer die Last nicht tragen können, die auf uns ruhte und die heute noch nicht ganz von uns genommen ist.1 Das gilt selbstverständlich – hier darf man das Wort einmal mit Recht anwenden – auch für uns rheinische Juden. Aus der Kölner Jahrtausendausstellung [Kursive = im Original gesperrt] spricht eine große und erhebende Vergangenheit zu uns. Sie zeigt die unlösliche Verflochtenheit des Rheinlandes mit Deutschland seit ungezählten Generationen, sie zeigt in ihren romanischen und gotischen Kunstschätzen, in ihren Urkunden und Bauten, in Schrift und Bild den bodenständigen, kerndeutschen Charakter rheinischer Kultur. An dieser Kulturarbeit haben wir deutschen Juden reichen Anteil. Sie ist auch unser Erbe, unser Besitz, unser Stolz und unsere Arbeit. Mit Bewunderung sieht der Nichtjude die Jüdische Abteilung der Ausstellung, die Rabbiner Dr. Kober2 geschaffen hat. Was wir Juden längst gewußt haben, wird jetzt unseren christlichen Mitbürgern vor die Seele geführt werden. Das jahrhundertelange Ringen des rheinischen Juden um Teilnahme an Wissenschaft und Kunst, an der Gestaltung der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens, an sozialer Arbeit und werktätiger Nächstenliebe und – sobald es uns gestattet war – an Staat und Volk. Die ältesten jüdischen Siedlungen am Rhein stammen aus den Zeiten der Römer. Die Gemeinden von Worms und Speyer, von Mainz und Köln haben schon vor 1500 Jahren bestanden. Duldung und Verfolgung kennzeichnen in immer wiederkehrendem Wechsel ihre Geschichte, bis die Morgenröte der Emanzipation das Dunkel der engen, übervölkerten Judengassen erhellte. Die Memorbücher3 reden eine beredte Sprache von Judennot und Judenstandhaftigkeit. Reiches geistiges und religiöses Leben herrschte trotz allen Druckes in den Gemeinden; das Brauchtum der Synagoge brachte ein blühendes und hochstehendes Kunstgewerbe hervor. 4 Jüdische
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Bauten aus grauer Vorzeit sind nur in ganz geringer Zahl erhalten; die Stürme der Verfolgungen haben sie vernichtet. Noch steht die fast 1000 Jahre alte Synagoge in Worms5; die Rathauskapelle in Köln ist an der Stelle errichtet, auf der einst die Synagoge gestanden hat.6 Unter dem Patriziat der Stadt Köln ragt seit dem zwölften Jahrhundert die Familie „Jude“ hervor, deren jüdischer Ursprung zwar nicht vollständig sicher, aber von den Historikern als wahrscheinlich angenommen wird.7 Etwa um dieselbe Zeit lebte in Köln der Münz- und Zollmeister Constantin, der unzweifelhaft jüdischer Abkunft war. Ist die Darstellung Luise v. Winterfelds (“Handel, Kapital und Patriziat in Köln bis 1400“ [Pfingstblätter des Hansischen Geschichtsvereins, 1925, Seite 13]) zutreffend, so sind seine Enkelinnen Stammmütter der vornehmsten Kölner Patriziergeschlechter, der Overstolz und der v. Lyskirchen.8 Doch genug der historischen Erinnerungen. Aus den Charaktereigenschaften der rheinischen Bevölkerung ergab es sich für unsere Zeit von selbst, daß der Glaubensunterschied nicht zu so tiefgreifender, sozialer und gesellschaftlicher Entfremdung geführt hat wie in anderen Teilen unseres Vaterlandes. Allerdings ist auch der Antisemitismus in das Rheinland hereingetragen worden, aber er hat an den Ufern des deutschen Stromes niemals die Bedeutung erlangen können, die er im Norden und im Osten gewonnen hat, also in Gegenden, die nicht wie das Rheinland auf eine fast zweitausendjährige Kultur zurückblicken können und die sich nicht mit demselben Recht wie das Rheinland rühmen können, das Kernstück und der Ausgangspunkt deutschen Wesens und deutschen Wollens zu sein. Die deutschen Juden haben sich auch in unseren Tagen des Rechts, freie deutsche Bürger zu sein, wert gemacht. Die Ehrentafeln auf den jüdischen Friedhöfen und in den Synagogen nennen eine schmerzlich-stolze Reihe von Männern, die für das Vaterland gestorben sind.9 Unter der Rotte der Separatisten10 findet sich meines Wissens kein Jude. Wohl aber kenne ich nicht wenige rheinische Deutsche jüdischen Glaubens, die in den furchtbar schweren Tagen des Separatismus mit Standhaftigkeit und Treue dem Vaterlande gedient haben. Freilich läßt sich nicht leugnen, dass wir Juden immer noch um unser Recht am deutschen Boden und am deutschen Volkstum kämpfen müssen. Wir haben ein Recht an diesem Boden und an diesem Volke, in dem wir wurzeln und dem wir dienen. Wir haben ein Recht, anerkannt zu werden als das, was wir sind und was wir sein wollen: Gleichberechtigte, freie deutsche Bürger. Unser deutsches Vaterland, unsere Zugehörigkeit zum deutschen Volke lassen wir uns nicht aus dem Herzen reißen. Wie wir den angestammten Glauben als hohes Erbgut bewahren und unseren Kindern übermitteln wollen, so betrachten wir unser Deutschtum als Erbe der Väter, das wir rein und unverfälscht unseren Nachkommen erhalten wollen und werden. Von rheinischer Erde zogen einst die Männer, die den deutschen Osten der Kultur und dem Deutschtum gewannen;11 auf rheinischem Boden hat sich in unseren Ta-
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gen das Geschick des Volkes, die Einheit und das feste Gefüge des Reiches siegreich entschieden.12 Große Vorbilder sieht der rheinische Jude in Vergangenheit und Umwelt. Zusammen mit unseren Glaubensbrüdern im übrigen Deutschland werden wir beweisen, daß uns niemand im Dienst an Volk und Vaterland übertreffen kann.
Anmerkungen 1 Falk spielt hier auf die Besetzung des Rheinlandes durch die Alliierten als Folge des Ersten Weltkriegs und im Anschluss an das Waffenstillstandsabkommen vom November 1918 an. Das mit dem Versailler Friedensvertrag verbundene Rheinlandabkommen sah eine befristete Besetzung des Rheinlands in drei Zonen vor. 1923 wurde die Besetzung auf das Ruhrgebiet ausgedehnt. Teilweise unterstützt durch die Besatzungsmächte, vor allem die Franzosen, erlebten in dieser Zeit separatistische Strömungen einen Aufschwung, die eine Ablösung des Rheinlands vom Deutschen Reich oder dessen Einbindung in einen föderalen Staat anstrebten. Bernhard Falk war ein strikter Gegner aller separatistischen Bewegungen. Ab 1924 erfolgte die Räumung der besetzten Gebiete. 2 Dr. Adolf Kober (1879–1958) war von 1918 bis zu seiner Emigration 1939 Rabbiner der Synagogengemeinde Köln. Er amtierte an der liberalen Synagoge in der Roonstraße. Kober, der mit einer Arbeit über die Geschichte der Juden in Köln im Mittelalter promoviert worden war, galt als einer der besten Kenner der Geschichte des Kölner und des rheinischen Judentums. 3 Ein Memorbuch dient dem liturgischen Totengedenken. 4 Bereits 1908 wurde im Düsseldorfer Kunstmuseum eine von Heinrich Frauberger für die Frankfurter „Gesellschaft zur Erforschung jüdischer Kunstdenkmäler“ erarbeitete „Ausstellung von jüdischen Bauten und Kultusgegenständen für Synagoge und Haus“ gezeigt. Während der Jahrtausendausstellung der Rheinlande war ein Raum dem Thema „Kunst und Kultgerät“ gewidmet. 5 Die 1034 vollendete Synagoge in Worms wurde 1938 zerstört und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Die älteste erhaltene Synagoge Deutschlands und das benachbarte Jüdische Museum im Raschi-Haus können besichtigt werden. 6 Nach der Vertreibung der Juden aus Köln 1424 wurde die Synagoge nicht zerstört, sondern als Ratskapelle St. Maria in Jerusalem weitergenutzt. Das Gebäude wurde erst im Zweiten Weltkrieg bis auf die Fundamente zerstört. 7 Im Wappen der Kölner Patrizierfamilie Judden ( Jüdden) sind sogenannte Judenhüte (oben spitz zulaufende Hüte) abgebildet, was Anlass zu der Vermutung gab, dass die Familie jüdischer Herkunft sei. Die Familie stellte Ratsherren und Bürgermeister der Stadt. 8 Constantin, Sohn des Fordolf, geb. 1130, Kaufmann, Zoll- und Münzmeister in Köln. Constantin entstammte einer ursprünglich jüdischen Familie, er war aber, wie schon sein Vater und Großvater, getauft. Eine Tochter Constantins heiratete in die bedeutende
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Kölner Familie Hardefust ein, die Schwester in die Familie Lyskirchen und eine Cousine in die Familie Overstolz; vgl. auch den historischen Roman von Karina Kulbach-Fricke, Der Münzmeister von Köln, München 2006. 9 Auch Bernhard Falk verlor einen Sohn im Ersten Weltkrieg. Auf deutscher Seite sind 12.000 jüdische Soldaten gefallen. 10 Vgl. Anm. 1 in diesem Dokument. 11 Falk denkt hier vermutlich an die Sachsenkriege Karls des Großen. 12 Gemeint ist das Scheitern der separatistischen Bestrebungen im Rheinland.
Literatur Arnold Paucker, Der jüdische Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik, Hamburg 1968; Reiner Bernstein, Zwischen Emanzipation und Antisemitismus. Die Publizistik der deutschen Juden am Beispiel der C. V.-Zeitung, Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1924–1933, Diss. Berlin 1969; Christina Goldmann, Selbstbesinnung und Opposition: der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im Vergleich mit der Reichsvertretung der deutschen Juden 1928-1935, Magisterarbeit Universität Trier, Typoskript Trier 1996; die Dissertation Christina Goldmanns, Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Rheinland und Westfalen 1903–1938, Düsseldorf 2006, ist noch nicht in Buchform publiziert worden. Zum Kontext der „Jahrtausendausstellung“: Tobias Arand, Die jüdische Abteilung der Kölner ,Jahrtausend-Ausstellung der Rheinlande‘ 1925. Planung, Struktur und öffentlich-zeitgenössische Wahrnehmung, in Monika Grübel/Georg Mölich (Hg.), Jüdisches Leben im Rheinland. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/ Weimar/Wien 2005, S. 194–213.
46 Ein Beispiel für viele: Die Schändung der Synagoge in Düsseldorf, 1928 Kölner Jüdisches Wochenblatt. Ein Centralorgan für die Juden im Rheinland und Westfalen 6. Jg., Nr. 33, 17. August 1928
Das „Kölner Jüdische Wochenblatt“ stellte in einem am 17. August 1928 erschienenen Leitartikel „Synagogenschändung in Düsseldorf “ eine Häufung antisemitischer Übergriffe und Sachbeschädigungen in der rheinischen Großstadt fest. Der Verfasser des Artikels führte einige Beispiele an: Die Synagoge in der Kasernenstraße war am letzten Schabbat mit riesigen Hakenkreuzen in roter Farbe, ein gegenüberliegender Bretterzaun mit der Aufschrift „Nieder mit Juda“ beschmiert worden. Vor dem Ein-
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gang des Hohenzollerngymnasiums in der Bastionstraße mussten Passanten am Verfassungstag das antidemokratische Bekenntnis „Nieder mit der Judenverfassung!“ lesen. Ein Blumengebinde des „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten“ für ein Gefallenendenkmal wurde zerstört. Eine vom „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (vgl. Dokument 45) 1932 herausgegebene Broschüre „Friedhofsschändungen in Deutschland 1923–1931. Dokumente der politischen und kulturellen Verwilderung unserer Zeit“ belegt die These von der Zunahme antisemitischer Gewalttaten im Rheinland mit Zahlen. Im Zeitraum zwischen 1923 und 1931 waren in Deutschland 40 Synagogenschändungen sowie 106 Schändungen von Friedhöfen zu verzeichnen – im rheinischen Teil des heutigen Landes NRW beispielsweise in Kerpen, Neviges, Krefeld, Moers, Essen, auf mehreren Friedhöfen in Köln, in Eilendorf bei Aachen, Flammersheim und Kirchheim bei Euskirchen sowie in Rödingen bei Jülich. Die Liste ist keineswegs vollständig. 1932 erlitt ein jüdischer Kaufmann aus der Schweiz Verletzungen, als Nationalsozialisten einen Überfall auf die Synagoge in der Kölner St.-ApernStraße verübten. Im gleichen Jahr warfen Unbekannte eine Granate über das Gitter der Synagoge in der Roonstraße in Köln, die glücklicherweise nicht explodierte. Als Täter vermutete der Journalist des „Kölner Jüdischen Wochenblatts“ Anhänger völkischen bzw. antisemitischen Gedankenguts, die in den letzten Jahren der Weimarer Republik in der NSDAP eine Plattform gefunden hatten. Polizei und Justiz gingen sehr nachlässig mit den Schändungen von jüdischen Friedhöfen und Synagogen um. Häufig wurde das Delikt als „Dummerjungenstreich“ verharmlost; von einem energischen Vorgehen gegen die Täter konnte keine Rede sein. Wenn sie denn – was selten vorkam – überhaupt gefasst wurden, konnten sie mit einer milden Strafe rechnen. So scheint auch in dem Artikel „Synagogenschändung in Düsseldorf “ ein resignativer Unterton durch. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die Verschärfung der Krise des politischen und sozialen Systems, die Verbreitung des gewalttätigen Antisemitismus und dessen schleichende Akzeptanz am Ende der Weimarer Republik. Die Träger des Hakenkreuzes veranstalten in letzter Zeit im Rheinlande eine geradezu unerhörte Tätigkeit gegen die Juden. Wenn es nun nicht Exzesse gegen die Toten sind, die allmählich selbst den Häuptlingen der Antisemiten unangebracht schienen, dann verlegt man seine „Heldenhafte“ Betätigung zu einer solchen Stunde, in der man nicht ertappt werden kann. Jetzt haben sich völkische Schmutzfinken die Synagogen zum Angriffsziele genommen. So wird aus Düsseldorf gemeldet, daß in der Nacht vom Freitag zum Samstag die Synagoge in der Kasernenstraße auf das schimpflichste mit roter Anilinfarbe besudelt worden ist. Riesengroße Hakenkreuze sind die Unterschriften dieser Helden. Wer mag das sein, wer ist der Träger des Hakenkreuzes? Es hat sich allmählich herumgesprochen, daß hier nur eine Antwort möglich ist, die Völkischen.1 Mehrere Inschriften wie „Juda verrecke“ ziehen sich an der Straßenfront entlang. Gegenüber der Synagoge befindet sich ein Bretter-
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zaun. Auch auf diesem haben sich die nationalsozialistischen Schmutzfinken ihrer Sudeleien entledigt. Meterhohe Inschriften „Nieder mit Juda“ zeugen von diesen teutschesten aller Teutschen. So dokumentiert man den nationalen Aufbau, das ist die Visitenkarte derjenigen, die Deutschland säubern wollen. Und da es gerade Verfassungstag war, musste man sein Bekenntnis zum deutschen Volksstaate in dieser Weise niederlegen, daß man in der Bastionstraße vor dem Eingange des Hohenzollerngymnasiums auf dem Bürgersteig in großen Lettern aufmalte: „Nieder mit der Judenverfassung!“ Auch hier haben diese Erneuerer Deutschlands ihr Signum in der Gestalt eines Hakenkreuzes hinzugegeben, man weiß also, daß die hier in Frage kommenden Täter, es muß eine Gruppe von 10 bis 12 Flegeln sein, ihre Brust mit diesem Schmachzeichen schmücken. Die Synagogen-Gemeinde Düsseldorf hat für die Ergreifung der Täter eine Belohnung von Mk. 1000.- ausgesetzt. Leider werden wir die Täter sicher nicht vor Gericht gestellt sehen, und wenn sie ergriffen werden sollten, dann wird das Gericht nicht erst der Feststellung bedürfen, daß die Täter schwachsinnig seien; eine solche Handlungsweise wie die oben geschilderte kann nur solchen zugerechnet werden, die geistig minderwertig sind. Einige Tage vorher hatten diese Heldenjünglinge eine andere Schandtat begangen. Ein Blumenarrangement mit Namenszug und Schleife des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten2, das zur Einweihung eines Gefallenendenkmales von der Düsseldorfer Ortsgruppe niedergelegt worden war, wurde zerstört. Man hat die Blumen herausgerissen und die Schleifen abgeschnitten. So betätigt sich völkischer Heldengeist! Man fragt sich nur, wie diese Schandbuben dauernd ihr Handwerk ausführen können. Es muß doch eine Möglichkeit geben, ihnen für dauernd die Hände lahmzulegen. Aber darüber wird die Polizei Ueberlegungen anstellen.
Anmerkungen 1 Als „Völkische“ wurden Anhänger einer Bewegung des radikalen rassistischen Antisemitismus bezeichnet, die ab 1879/80 zunächst in Berlin entstand; diese erhob einen Herrschaftsanspruch der „nordisch-germanischen Rasse“ gegen die als minderwertig diffamierte „jüdische Rasse“ und wollte die Emanzipation der Juden rückgängig machen. Die völkische Ideologie war eine diffuse Mischung von rassistischen und nationalistischen Elementen. Die verschiedenen völkischen Gruppierungen gingen schließlich in der NSDAP auf. 2 Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) wurde 1919 gegründet. Ziele der Organisation waren die Pflege der sozialen Beziehungen zwischen den ehemaligen Frontkämpfern des Ersten Weltkriegs und die Abwehr antisemitischer Vorwürfe, insbesondere der bereits während des Krieges aufgekommenen Verleumdung, die Juden seien Feiglinge und „vaterlandslose Gesellen“. Demgegenüber hielt der RjF das Andenken an die 12.000 jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkrieges wach.
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Literatur Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999; Nicola Wenge, Integration und Ausgrenzung in der städtischen Gesellschaft. Eine jüdisch-nichtjüdische Beziehungsgeschichte Kölns 1918–1933, Mainz 2005
47 Widerstände gegen die Berufung des Juristen Prof. Dr. Hans Kelsen an die Universität zu Köln, 1930 „Zentrums-Antisemiten rüffeln Adenauer“, in: Rheinische Zeitung Nr. 191, 15. Juli 1930
Das SPD-Organ „Rheinische Zeitung“ berichtete am 15. Juli 1930 unter der Schlagzeile „Zentrums-Antisemiten rüffeln Adenauer“ über einen Skandal aus Anlass der Berufung des renommierten Juristen und Hochschullehrers Prof. Dr. Hans Kelsen (1881–1973) an die 1919 neu gegründete Kölner Universität. Kelsen, der jüdischer Herkunft und zum protestantischen Christentum übergetreten war, lehrte bis 1930 an der Universität Wien als Professor für Staats- und Verwaltungsrecht; er war federführend bei der Ausarbeitung der demokratischen Verfassung der österreichischen Republik gewesen. Bereits 1925 sollte Kelsen in Köln auf den Lehrstuhl für Internationales Recht berufen werden, was am Widerstand des preußischen Staatsministeriums unter Ministerpräsident Otto Braun vorrangig aus finanziellen Gründen gescheitert war. Oberbürgermeister Dr. Konrad Adenauer und der gesamte Lehrkörper der Universität hatten sich für Kelsen ausgesprochen, der damals allerdings dazu neigte, in Wien zu bleiben. Erst als seit 1929 in Österreich ein Rechtsruck die politische Landschaft veränderte und Kelsen sich in Wien einer gehässigen antisemitischen Kampagne ausgesetzt sah, folgte er im August 1930 dem Ruf an die Kölner Universität, wo er als Ordinarius für Öffentliches Recht lehrte. Die Gewinnung des angesehenen Juristen bedeutete für Köln eine große Prestigesteigerung. Seiner Reputation angemessen war die finanzielle Ausstattung seiner Stelle sehr gut. Auch in Köln stieß Kelsen auf Widerstand. Während Oberbürgermeister Konrad Adenauer ihn stützte, blieben Teile des Zentrums, der Partei des politischen Katholizismus, ablehnend. Die „Kölnische Volkszeitung“ und der „Kölner Lokal-Anzeiger“ bezeichneten in mehreren Artikeln die Berufung Kelsens als Skandal und als Verstoß gegen die Parität der Konfessionen, da die Universität bereits mit Gelehrten jüdischen Bekenntnisses „überbesetzt“ sei. Die Autoren übersahen dabei geflissentlich, dass Kelsen gar kein Jude mehr war – ein Lapsus, den auch die „Rheinische Zeitung“ beging. Der Widerstand gegen Kelsen wurde nicht nur an seiner jüdischen Herkunft, sondern auch an seiner demokratischen Grundeinstellung festgemacht. Neid als Resultat der finanziellen Besserstellung des Gelehrten mag auch eine Rolle gespielt haben.
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Die „Rheinische Zeitung“ wies die Kritik an Kelsen energisch zurück. Der Verfasser kritisierte insbesondere, dass die Presse der Zentrumspartei den aufkeimenden Antisemitismus fördere und gemeinsame Sache mit den Nationalsozialisten Adolf Hitlers mache. Kelsen war 1933 eines der ersten Opfer der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik. Am 11. April 1933 wurde er als Dekan abgesetzt, bald danach von seinen Lehrverpflichtungen entbunden und 1934 zwangsweise in den Ruhestand versetzt. […] Wenn die Zentrumspresse ihrem hervorragenden, sonst in den Himmel gehobenen Parteifreund Adenauer öffentlich bescheinigt, daß seine Handlungsweise „unverständlich“ und „befremdend“ ist, so ist das ganz bestimmt „starker Tobak“. Wenn es der Leitung der Universität gelingt oder gelungen ist, eine wissenschaftliche Kapazität wie Professor Kelsen für Köln zu gewinnen, so wäre es geradezu ein Attentat gegen die Geistesfreiheit, diese Berufung deswegen zu bekämpfen, weil Kelsen Jude ist. So dumm ist nun auch Adenauer bestimmt nicht. Hat übrigens die Zentrumspresse ihrer Partei einen Dienst erwiesen, indem sie gerade jetzt, in der Blütezeit des Antisemitismus, derartige Ausführungen in die Öffentlichkeit bringt? Wenn an der Kölner Universität wirklich einige jüdische Professoren mehr amtieren als an andern deutschen Universitäten – es sind übrigens summa summarum1 nur etwa ein halbes Dutzend – so ist das nur ein Zeichen dafür, daß in Köln von vornherein der alte muffige Geist der Vorkriegszeit, in dem das Daseinsrecht der Juden – gelinde gesagt – stark beschränkt war, sich nicht breit machen konnte. Die Radaubrüder um Hitler und andre politische Strolche werden zweifellos dem Kölner Görres-Haus2 eine Ovation darbringen. Wir freuen uns, diesmal mit Herrn Adenauer auf der andern Seite stehen zu dürfen.
Anmerkungen 1 Alles in allem. 2 Zentrale der Kölner Zentrumspartei, nach dem berühmten katholischen Publizisten Joseph Görres (1776–1848) benannt.
Literatur Frank Golczewski, Jüdische Hochschullehrer an der neuen Universität Köln vor dem Zweiten Weltkrieg, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u.a. (Hg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 363–396; ders., Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus. Personengeschichtliche Ansätze, Köln/Wien 1988; Nicola Wenge, Integration und Ausgrenzung in der städtischen Gesellschaft. Eine jüdischnichtjüdische Beziehungsgeschichte Kölns 1918–1933, Mainz 2005
III. Jüdisches Leben im NS-Staat 1. Einführung Am 30 Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Damit wurde der Antisemitismus zu einer offiziellen Leitlinie der Regierungspolitik. Innerhalb kurzer Zeit wurden Staat und Gesellschaft „gleichgeschaltet“ bzw. passten sich auf eigene Initiative den Prinzipien der herrschenden Macht an. Terrormaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung begannen im lokalen Bereich unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Die Gewaltaktionen richteten sich vor allem gegen den jüdischen Einzelhandel – von „ostjüdischen“ Kleingewerbetreibenden bis hin zu Warenhausketten – und gegen Viehhändler, aber auch gegen jüdische Ärzte, Juristen und Angehörige des öffentlichen Dienstes. Am 18. März überfielen SS-Männer in Duisburg den ostjüdischen Betsaal, misshandelten den im gleichen Haus lebenden Jozef Mordka Jablonower und den Gemeindevorsteher Markus Bereisch. Wenige Tage später wurde Markus Bereisch – in eine schwarz-rot-goldene Fahne gewickelt – zusammen mit zwei anderen Juden durch die Duisburger Altstadt getrieben. Am 31. März 1933 überfielen SSund SA-Leute das Justizgebäude am Reichenspergerplatz in Köln, misshandelten jüdische Rechtsanwälte und Juristen und transportierten sie auf Müllfahrzeugen und Bereitschaftswagen der Polizei zum Polizeipräsidium in der Krebsgasse. Das demokratische Ausland reagierte mit scharfen Protesten gegen diese Übergriffe. Die von den Nationalsozialisten als „Gräuelmärchen“ bezeichneten Proteste aus dem Ausland lieferten dann der deutschen Reichsregierung und der NSDAP-Führung den Vorwand für die Planung eines groß angelegten Boykotts gegen jüdische Geschäftsleute, Ärzte und Rechtsanwälte. Die Aktion sollte den Parteimitgliedern vor allem auch eine Gelegenheit geben, lange angestauten Hass und Aktionsdrang auf Kosten einer weitgehend schutzlosen Minderheit aggressiv auszuleben. Die Leitung der Boykottaktion, die von lokalen nationalsozialistischen Aktionskomitees organisiert wurde, lag in den Händen des fränkischen Gauleiters Julius Streicher, einem der radikalsten und fanatischsten Antisemiten in der NSDAP und Herausgeber des Hetzblattes „Der Stürmer“. Offiziell hielt sich die Regierung zurück. Am 1. April 1933 um 10 Uhr begann der Boykott gegen „jüdische“ Geschäfte, Warenhäuser, Kanzleien und Arztpraxen. Ausländische Firmen und Personen waren vom Boykott nicht betroffen. Plakate mit antijüdischen Aufschriften sollten die Bevölkerung verunsichern und abschrecken. Diejenigen, die sich der Aktion widersetzten, wurden durch persönliche Gespräche, das Fotografieren der Kunden, sowie die Aufnahme der Personalien unter Druck gesetzt. Manche fanden ihre Fotos am nächsten Tag in den nationalsozialistischen Zeitungen. Jüdische Geschäftsleute wurden durch die Straßen getrieben, gedemütigt und misshandelt. SA- und SS-Leute zwan-
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gen sie, diffamierende Plakate zu tragen. Die Öffentlichkeit verhielt sich abwartend, distanziert beobachtend. Offene Solidaritätsbekundungen waren selten. Mit Rücksicht auf die Proteste des Auslands wurde der Boykott bereits am 4. April beendet. Die Regierung stellte fest, dass ihre vorrangigen ökonomischen Ziele – Stabilisierung der Wirtschaft, Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und Ankurbelung des Außenhandels – rigide Maßnahmen gegen jüdische Unternehmen und Geschäfte zunächst nicht erlaubten. Die Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben wurde bis etwa 1937 in „ruhigere Bahnen“ gelenkt. Die Phase der „schleichenden Arisierung“ begann. Auf den Boykott folgten Schlag auf Schlag gesetzgeberische Maßnahmen, die Juden und Jüdinnen in ihrer beruflichen Existenz schädigten und die Ausbildungschancen der jungen Leute drastisch verringerten. Als erstes wurde am 7. April 1933 das Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen, mit dessen Hilfe politisch unliebsame und „nichtarische“ Beamte in den Ruhestand versetzt werden konnten. Eingaben vor allem des „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten“ bei Reichspräsident Paul von Hindenburg führten zur Verankerung einiger Ausnahmen im Gesetzestext. So wurden die sogenannten „Altbeamten“, die bereits vor dem 1. August 1914 im Amt gewesen waren, von den Maßnahmen ausgenommen. Gleiches galt für Frontsoldaten, die im Ersten Weltkrieg auf Seiten des Deutschen Reiches oder der Verbündeten gekämpft hatten, sowie für Beamte, die ihre Väter, Söhne und Ehemänner im Krieg verloren hatten. Abgesehen von diesen Ausnahmen entschied fortan der „Ariernachweis“ über die berufliche Existenz. Die Bestimmungen des Berufsbeamtengesetzes wurden bald auch auf Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst sowie auf freiberuflich Tätige wie Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte sowie Rechtsanwälte ausgedehnt. Das Reichskulturkammergesetz vom 22. September 1933 bot die Handhabe, die Tätigkeit jüdischer Schriftsteller, Journalisten, Theaterleute, Musiker und bildender Künstler zu unterbinden. Das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 diente der Verdrängung jüdischer Redakteure. Parallel zu diesen durch Gesetz pseudolegal abgesicherten Maßnahmen verlief die Verdrängung aus dem öffentlichen Leben, die soziale Ausgrenzung, der Ausschluss aus Vereinen, Verbänden und Organisationen. Die „Arisierung“ jüdischen Eigentums begann. Sie wurde in den ersten Jahren noch auf der Grundlage privatwirtschaftlicher Verträge durchgeführt, die allerdings ebenso wie die nach 1938 stattfindende „Zwangsarisierung“ zur Folge hatten, dass die jüdischen Eigentümer letztlich vor dem wirtschaftlichen Ruin standen. In den ersten Monaten nach Hitlers Machtübernahme waren zahlreiche Selbstmorde zu verzeichnen, eine erste Auswanderungswelle setzte ein. Die Integration der jüdischen Bürger in die deutsche Gesellschaft und damit der mehr als hundertjährige Prozess der Emanzipation des deutschen Judentums wurden seit Beginn des Jahres 1933 brutal beendet. Den Betroffenen selbst wurde die ganze Tragweite dieser Vorgänge anfangs noch nicht voll bewusst. Viele versuchten zunächst, sich auf die neue Situation einzustellen, Lebensmut, Selbstvertrauen, Stolz,
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Hoffnung und eine Perspektive wiederzugewinnen. Die jüdische Selbstbehauptung manifestierte sich in der Schaffung eines breit gefächerten Netzwerks von Selbsthilfeorganisationen. Als Antwort auf die Diskriminierungen, die Ausgrenzung aus Staat und Gesellschaft und die immer knapper werdenden finanziellen und personellen Ressourcen galt es, alle Kräfte auf den Zusammenschluss der jüdischen Gemeinschaft und auf solidarische Hilfe in allen Lebensbereichen zu richten. Innerjüdische Streitigkeiten traten in den Hintergrund. Erstmals gelang am 17. September 1933 die Gründung eines zentralen Dachverbandes, in dem Vertreter aller religiösen und weltanschaulichen Richtungen des Judentums zusammenarbeiteten. Im Vorstand der „Reichsvertretung der deutschen Juden“ saßen unter anderem Rabbiner Dr. Leo Baeck, der 1907 bis 1912 als Rabbiner in Düsseldorf gewirkt hatte, und der Kölner Rechtsanwalt Rudolf Callmann. Auf den Ausbau des Sozialwesens wurden große Energien verwandt. Die zahlreichen privaten Hilfsvereine schlossen sich zusammen. Der Schwerpunkt der Tätigkeit lag auf der Beratung der Auswanderer, der Jugendhilfe und der Wirtschaftshilfe. Die „Jüdische Winterhilfe“ versorgte Bedürftige mit Grundnahrungsmitteln, Kleidung und Brennmaterial. Die jüdischen Gemeinden und zionistische Organisationen wie der „Hechaluz“ (wörtl. Der Pionier) boten Jugendlichen die Chance, Handwerksberufe zu erlernen. Mädchen wurden auf Tätigkeiten in der Hauswirtschaft vorbereitet. Durch den Ausschluss aus den allgemeinen Jugendorganisationen gewannen die jüdischen Jugendbünde wie der zionistische „Jüdische Pfadfinderbund“, der „Bund Deutsch-Jüdische Jugend“, die zionistisch-sozialistischen „Haschomer hazair“ (wörtl. Der junge Wächter) und „Habonim“ (wörtl. Die Bauleute), der traditionellreligiöse „Esra“ oder der zionistisch-religiöse „Brit Hanoar schel Zeire Misrachi“ (wörtl. Jugendbund des Misrachi) zahlreiche neue Mitglieder. Die Jüdischen Kulturbünde, die arbeitslosen jüdischen Schauspielern, Musikern, Regisseuren und Schriftstellern einen Lebensunterhalt geben wollten, ermöglichten dem jüdischen Publikum – wenngleich stets unter dem Damoklesschwert der Zensur – Stunden der Entspannung und Freude. Zum Jüdischen Kulturbund Rhein-Ruhr ( JKRR), dessen Zentrale in Köln war, gehörten die Städte Aachen, Düren, Dortmund, Bochum, Bonn, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Krefeld, Wuppertal und Recklinghausen. Die jüdischen Gemeindezeitungen, die in Köln, Düsseldorf, Essen, Duisburg, Wuppertal und Aachen bestanden, wurden zu wichtigen Informationsbörsen. Den jüdischen Schulen, Krankenhäusern, Kindergärten, die mit dem sukzessiven Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus den allgemein zugänglichen Einrichtungen enormen Zulauf erhielten und dadurch vor große Herausforderungen gestellt wurden, galt das besondere Augenmerk des Selbsthilfewerks. In manchen Städten wie Bonn, Düsseldorf und Bielefeld entstanden jüdische Schulen erst in der NS-Zeit. Vor allem das 1919 von der orthodoxen Gemeinde „Adass Jeschurun“ gegründete Reformrealgymnasium „Jawne“ in Köln sah sich vor besondere Aufgaben gestellt.
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Die „Jawne“ war das einzige jüdische Gymnasium im Gebiet des heutigen Landes Nordrhein-Westfalen. Mehr und mehr wurden allerdings mit der Radikalisierung der nationalsozialistischen Politik die Grenzen der Selbsthilfemaßnahmen offenbar. Ein entscheidender Schritt auf dem Wege der Entrechtung war die Verabschiedung der sogenannten „Nürnberger Gesetze“ im September 1935 und die anschließenden konkretisierenden Verordnungen. Auf der Grundlage der „Nürnberger Gesetze“, denen Verfassungsrang zukam, konnten alle Juden aus Arbeitsverhältnissen des öffentlichen Dienstes ausgeschlossen werden. Die Ausnahmen von 1933 entfielen. Das „Reichsbürgergesetz“ vom 15. September 1935, das die Bevölkerung in „Reichsbürger“ und „Staatsangehörige“ einteilte, sowie die folgenden Ausführungsbestimmungen machten die Juden als „Staatsangehörige“ zu Einwohnern zweiter Klasse, denen entscheidende politische Rechte wie das Wahlrecht entzogen wurden. Die erste Durchführungsverordnung zum „Reichsbürgergesetz“ vom 14. November 1935 definierte, wer als Jude zu gelten habe: Jude war derjenige, der „von mindestes drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammte“. Die Zugehörigkeit der Großeltern zur „jüdischen Rasse“ bestimmte sich nach der Konfessionszugehörigkeit. Auch der Status des „jüdischen Mischlings“, der von zwei „volljüdischen Großeltern“ abstammte, war genau definiert. Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15. September 1935 verbot Eheschließungen und außereheliche Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. Zuwiderhandlungen wurden unter drakonische Strafandrohungen gestellt. Die „Nürnberger Gesetze“ und die dreizehn nachfolgenden Verordnungen bezweckten die vollständige Absonderung der jüdischen Bevölkerung aus Staat und Gesellschaft. Mit dieser „Gesetzgebung“, die den Ausschluss der Juden aus der „Volksgemeinschaft“ vollzog, hatte das NS-Regime einen wesentlichen Teil seiner rassistischen Zielsetzungen verwirklicht. Die „Nürnberger Gesetze“, die privateste und persönlichste Bereiche tangierten, bereiteten alle folgenden Diskriminierungen und schließlich den Massenmord an den europäischen Juden vor. Wie sollte man sich in dieser Situation verhalten? Den meisten jüdischen Männern und Frauen fiel es äußerst schwer, ihre Heimat, in der ihre Familien teilweise seit Jahrhunderten verwurzelt waren, zu verlassen. Die Furcht vor der Ungewissheit in der Fremde und auch der Glaube an die Kurzlebigkeit des nationalsozialistischen Regimes ließen manche zögern. Vor einer Auswanderung mussten zudem vielfältige ökonomische, kulturelle und familiäre Probleme gelöst werden. Schließlich stellte sich die Frage, welche Länder überhaupt bereit waren, jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufzunehmen. Der Auswanderung ging häufig eine Binnenwanderung voraus: Jüdische Dorf- und Kleinstadtbewohner versuchten in der relativen Anonymität der Großstädte wenigstens vorübergehend eine Existenznische zu finden. Angesichts des immer stärker werdenden Auswanderungsdrucks bot sich gerade aus dem Rheinland die legale oder illegale Auswanderung in das benachbarte Ausland, nach Frankreich, Belgien und in die Niederlande an.
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Die nationalsozialistische Reichsregierung forcierte die Auswanderung in rigoroser Weise und unterstützte zunächst sogar die Tätigkeit von jüdischen, vor allem zionistischen, Organisationen, die ihre Mitglieder auf die Emigration vorbereiteten. Die Bemühungen, die jüdischen Deutschen zu vertreiben, scheiterten aber häufig am Interesse der meisten Staaten, den Flüchtlingen die Tore zu verschließen. Forderungen nach bestimmten beruflichen Qualifikationen, finanziellen Voraussetzungen, Bürgschaften von Verwandten sowie Kontingentierungen wurden mit dem Ziel erhoben, die Flüchtlinge fernzuhalten. Die Konferenz von Evian im Juli 1938 und die Veröffentlichung des britischen Weißbuches über die jüdische Einwanderung nach Palästina im Mai 1939 waren schwarze Tage in der Flüchtlingspolitik der Aufnahmeländer. Um alle sich bietenden Chancen der Rettung zu nutzen, riefen jüdische Organisationen und engagierte Privatleute Hilfswerke zur Förderung und Planung der Auswanderung ins Leben. Auf zentraler Ebene gewährten das „Palästinaamt“ als Abteilung der „Jewish Agency for Palestine“, der „Hilfsverein der deutschen Juden“ (zuständig für alle Länder außer Palästina) und die „Hauptstelle für deutsche Wanderfürsorge“ (zuständig für nichtdeutsche Juden) Unterstützung. Die jüdischen Gemeinden schufen ein Netzwerk zur Auswanderungsvorbereitung, das sich vor allem die Rettung der Jugend zum Ziel setzte. Vorlehren, Handwerker- und Hauswirtschaftsschulen sowie verstärkter Fremdsprachenunterricht dienten der Vorbereitung auf die Auswanderung. Die zionistische Organisation „Hechaluz“ richtete 1934 in Urfeld am Rhein (heute zur Stadt Wesseling gehörend) eine landwirtschaftliche Ausbildungsstätte ein, die Jugendliche auf die Auswanderung nach Palästina und die Arbeit in einem Kibbuz vorbereitete. Zwischen 1934 und 1937 bestand in Schermbeck bei Dorsten das überregionale jüdische Bildungs- und Freizeit-Zentrum „Haus Bertha“. Gegen den erbitterten Widerstand der lokalen Behörden nahm 1936 in Schönenberg (Gemeinde Ruppichteroth) ein „Jüdisches Übernachtungsheim“, eine Art Jugendherberge, seine Arbeit auf („Bröltalhaus“). Die deutsche Reichsregierung verband die Vertreibung mit einer immer perfider ausgestalteten, systematisch betriebenen ökonomischen Ausplünderung. Zahlreiche hohe Abgaben machten denen, die bis zum Verbot der Auswanderung im Oktober 1941 Deutschland verlassen konnten, den Neuanfang im Ausland schwer. Sozialer Abstieg und harter Überlebenskampf prägten die ersten Jahre in der Emigration. Mit dem Pogrom vom November 1938 erlangte dann die Verfolgung des deutschen Judentums eine neue schreckliche Dimension. Die Vorgänge vom 9. und 10. November wurden vor allem seit dem Frühjahr 1938 durch eine verschärfte antijüdische Politik vorbereitet. Die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens der Juden“ vom 26. April 1938 machte es allen jüdischen Männern und Frauen zur Pflicht, Vermögenswerte, die 5.000 Reichsmark überschritten, registrieren zu lassen. Die Verordnung war ein entscheidender Schritt zur Kontrolle und schließlich zur
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„Zwangsarisierung“ der jüdischen Vermögen. Am 28. März 1938 trat mit Wirkung zum 1. Januar 1938 das „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen“ in Kraft, das den jüdischen Gemeinden den privilegierten Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts entzog und sie zu eingetragenen Vereinen degradierte. Sie konnten nun nicht mehr mit staatlicher Hilfe „Synagogensteuern“ einziehen lassen, was die finanzielle Misere der Gemeinden verschlimmerte. Im Juli und September 1938 wurden die Approbationen jüdischer Ärzte und die Zulassungen zur Anwaltschaft widerrufen. Nur wenige Ärzte und Rechtsanwälte waren fortan noch als „Krankenbehandler“ bzw. „Konsulenten“ ausschließlich für eine jüdische Klientel zuständig. Auch die sogenannte Polen-Aktion, die überraschende Abschiebung von bis zu 17.000 seit Jahren in Deutschland lebenden polnischen Juden Ende Oktober 1938, gehörte zur Strategie einer rigiden antijüdischen Politik. Die Polen-Aktion war der Auslöser für das Attentat des jungen, aus Hannover stammenden Herschel Grynszpan auf den Gesandtschaftssekretär Ernst vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris. Diese Tat eines verzweifelten Jugendlichen, dessen Familie aus Deutschland abgeschoben worden war, nutzte die nationalsozialistische Presse zu einer beispiellosen Hetze gegen die jüdische Minderheit. Die Nachricht vom Tod des Botschaftsangestellten vom Rath lieferte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels den Vorwand, am vorgerückten Abend des 9. November 1938 mit einer Rede vor den in München versammelten nationalsozialistischen Parteiführern den Pogrom zu initiieren. Innerhalb weniger Stunden waren die Anweisungen auf den lokalen Ebenen angekommen und fanden allerorten willige Vollstrecker. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 sowie am nächsten Tag brannten in ganz Deutschland die jüdischen Gotteshäuser, wurden Synagogen, Betsäle und Gemeindehäuser demoliert und geplündert. Die Synagogengrundstücke wurden in der Regel zwangsweise an Nichtjuden (häufig an Kommunen) verkauft, die Gebäude umgebaut oder abgerissen und erneut bebaut, die Spuren der Verbrechen getilgt. Neuere Schätzungen gehen von 1.800 bis 2.000 zerstörten jüdischen Gotteshäusern im Reichsgebiet aus. Mit den Synagogen wurde auch die Innenausstattung vernichtet. Die Ritualgegenstände, die der Zerstörungswut entgingen, verschwanden oft genug in den Häusern nichtjüdischer Nachbarn. Nicht gezählt werden können die verwüsteten und geplünderten Geschäfte und Privatwohnungen. Die Gewalttäter machten auch vor den jüdischen Waisenhäusern in Dinslaken und Köln nicht Halt. Das jüdische Jugendheim in Essen ging in Flammen auf. Etwa 30.000 jüdische Männer aus dem gesamten Reichsgebiet wurden in Konzentrationslager, vor allem nach Dachau und Buchenwald, verschleppt. Die Demütigungen, Misshandlungen und Todesfälle sind bislang keineswegs hinreichend dokumentiert. Die in der Nachkriegszeit bei den Landgerichten geführten Prozesse, die die Verbrechen der Pogromnacht vom November 1938 ahnden sollten, entwerfen ein
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erschütterndes Bild der Aggression, Zerstörungswut, Habgier, später der Lüge, der Feigheit, des Vertuschens, des Sichherausredens nicht nur bei den NS-Kadern, sondern auch in weiten Teilen der „normalen“ Bevölkerung. Die Mehrheit verhielt sich ruhig, beobachtend, desinteressiert, allenfalls still missbilligend, nur wenige leisteten aktive Hilfe. Alle Bevölkerungsschichten profitierten mehr oder weniger von der Entrechtung und Ausplünderung der jüdischen Nachbarn. Als nach 1945 der ehemalige Ortsvorsteher des Dorfes Lüxheim im Dürener Land nach den Beteiligten an der Zerstörung der Synagoge befragt wurde, antwortete er: „Wer diese Leute waren, kann ich nicht sagen, es waren ihrer zu viele.“ In den 1940er und 1950er Jahren schienen sich Zeugen und Täter an nichts erinnern zu können. „Das ist doch schon so lange her“ – hieß es allenthalben. Auch die jüdischen Friedhöfe ließ man nicht unberührt: Umgeworfene, zerschlagene und schließlich verschwundene Grabsteine, reduzierte Friedhofsgrundstücke zeugen vom staatlicherseits verordneten und geduldeten Vandalismus jener Zeit. Man kann davon ausgehen, dass etwa ein Viertel aller jüdischen Friedhöfe in Deutschland in der NS-Zeit völlig zerstört wurde. Mit der Zerstörung der Synagogen, Gemeindezentren, Schulen und Begräbnisplätze, der Häuser und Wohnungen traf man die Menschen, die physisch und psychisch gequält, entwürdigt, eingesperrt, ihrer Heimat und ihrer Lebensgrundlage beraubt wurden. Der Pogrom löste auch bei denen, die sich vorher noch nicht dazu entschließen konnten, fieberhafte Anstrengungen aus, Deutschland zu verlassen. Die Zeit der Massenflucht begann. Zurück in Deutschland blieben in vielen Fällen die schwächsten, hilflosesten und ältesten Menschen. Dem Pogrom folgten sofort weitere Maßnahmen, die die Entrechtung und Ausplünderung der Juden verschärften. Jüdische Kinder durften keine allgemeinen Schulen mehr besuchen, weil die Erteilung des Unterrichts – so die nationalsozialistische Sprachregelung – deutschen Lehrern nicht zugemutet werden konnte und es für die Schüler „unerträglich“ sei, „mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen“. Am einschneidendsten waren die Maßnahmen, die die berufliche und wirtschaftliche Existenz der jüdischen Minderheit trafen und auf eine systematische Ausplünderung abzielten. Neben der Einziehung der Versicherungsleistungen für die während des Pogroms an jüdischem Eigentum angerichteten Schäden zugunsten des Reiches wurde den Juden als „Sühneleistung“ eine Vermögensabgabe von 20 Prozent, ab Oktober 1939 25 Prozent ihres Vermögens auferlegt. Die „Sühneleistung“ erbrachte rund 1,1 Milliarden Reichsmark für den deutschen Staat. Die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“, die Emigranten zu zahlen hatten, bescherte dem Fiskus 900 Millionen Reichsmark. Die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 bedeutete das Ende jeder Wirtschaftstätigkeit von jüdischen Handwerkern, Einzelhändlern und Unternehmern bis zum Ende des Jahres. Am 10. Dezember 1938 ordnete Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan an, dass die „Arisierung“ jüdischen Vermögens nun unter der Federfüh-
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rung staatlicher Behörden zu vollziehen sei. Diese Anordnung sowie der Durchführungserlass zum „Einsatz jüdischen Vermögens“ vom 6. Februar 1939 bildeten die Grundlage für die sogenannte „Zwangsarisierung“. Der nationalsozialistische Staat griff in jeder Form auf jüdisches Eigentum zu. So wurde unter anderem im Februar 1939 angeordnet, alle Gegenstände aus Edelmetall und alle Edelsteine abzuliefern. Grund- und Hauseigentum mussten verkauft werden; in den allermeisten Fällen ging dies mit einer krassen Benachteiligung der jüdischen Verkäufer einher. 1941 setzte die letzte Phase der „Arisierung“ ein: Das Eigentum aller aus Deutschland geflohenen und nun im Ausland lebenden Juden verfiel dem Reich. Das Reichssicherheitshauptamt beanspruchte das Eigentum der jüdischen Institutionen, der 1939 zwangsweise (als Nachfolgeorganisation der „Reichsvertretung“) gebildeten „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ und der jüdischen Kultusgemeinden. Unmittelbar vor dem Abtransport entzogen die Behörden den zur Deportation vorgesehenen Männern, Frauen und Kindern ihre persönlichen Gegenstände: Hausrat, Möbel, Kleidung. Das zurückgelassene Wohnungsinventar wurde später öffentlich zu günstigen Konditionen versteigert oder ausgebombten Nichtjuden zugeteilt. Die Erfassung, Stigmatisierung und Zentralisierung der verarmten, in elenden Verhältnissen lebenden jüdischen Bevölkerung wurde mit Kriegsbeginn noch einmal verstärkt. Seit Frühjahr 1941 erfolgte die Ghettoisierung in sogenannten „Judenhäusern“. Die Menschen wurden auf engstem Raum in Privathäusern sowie in Gebäuden untergebracht, in denen jüdische Institutionen ihren Sitz hatten. Die Kasernierung erfolgte als Vorbereitung auf die Deportation in die Ghettos und Vernichtungslager im von den Deutschen besetzten Osteuropa. Im November 1941 erging das Verbot der Auswanderung. Überall wurden Lager eingerichtet, in denen die jüdischen Zwangsarbeiter zusammengefasst waren, die bis zur Deportation vor allem in größeren, kriegswichtigen Betrieben arbeiteten. Zahllose Verordnungen schränkten den Handlungs- und Bewegungsspielraum der jüdischen Bevölkerung immer weiter ein und schnitten sie zunehmend von der Außenwelt ab. Der Zutritt zu Theatern und Kinos, Konzertsälen, Museen, Büchereien, Zoos, Badeanstalten, Sportanlagen und Parks war schon lange untersagt. Juden durften nun nur noch mit speziellen, mit J-Eindrucken gekennzeichneten Lebensmittelkarten in vorgeschriebenen Geschäften zu sehr eingeschränkten Geschäftszeiten einkaufen. Hinzu kamen Verbote, öffentliche Fernsprechzellen zu benutzen, Haustiere zu halten, Bücher in Buchhandlungen zu kaufen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, den Wohnort zu verlassen sowie die Forderung nach Ablieferung von Schreibmaschinen, Radios, Fahrrädern, Ferngläsern und Pelzen. Die infamste, die persönliche Würde des Einzelnen massiv verletzende Form der Ausstoßung war die öffentliche Kennzeichnung. Bereits 1938 wurden Reisepässe von Juden mit dem Aufdruck J versehen, und ab Anfang 1939 mussten die Namenszusätze „Sara“ und „Israel“ geführt werden. Mit der Einführung des „Judensterns“ auf der Kleidung durch die Verordnung vom 1. September 1941 wurde die Stigmatisierung
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jedes Einzelnen perfektioniert. Das Prinzip der Kennzeichnung wurde im April 1942 auch auf die Wohnungen jüdischer Familien übertragen, die durch einen schwarzen „Judenstern“ auf weißem Papier auszuweisen waren. Ab Mitte 1941 trat in der NS-Politik an die Stelle der „Vertreibung“ das Konzept der „Endlösung“, endgültig in organisatorische Formen gebracht auf der Berliner Wannseekonferenz im Januar 1942. Im Oktober 1941 begannen die ersten Deportationen aus dem Rheinland in Ghettos wie Izbica, Litzmannstadt (Lodz), Minsk und Riga, seit 1942 auch nach Theresienstadt und Auschwitz, meist von Nebenbahnhöfen wie Köln-Deutz-Tief, dem Düsseldorfer Güterbahnhof in Derendorf oder dem Wuppertaler Bahnhof Steinbeck. Sammellager waren unter anderem das Kloster „Zur Ewigen Anbetung“ in Bonn-Endenich, der Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf, das Lager Holbeckshof in Essen-Steele, Fort V in Köln-Müngersdorf und das angrenzende Barackenlager sowie die Köln-Deutzer Messehallen. Mit dem Beginn der Deportationen nahmen die Selbstmorde unter den verzweifelten jüdischen Menschen zu. Spätestens 1943 waren mit der Deportation fast aller Juden aus dem „Altreich“ die letzten Reste eines organisierten jüdischen Lebens auch im Rheinland zerstört. Nur wenige Deportierte überlebten die mörderischen Bedingungen in den Lagern oder die systematischen Mordaktionen. Auch die Chancen, versteckt oder illegal in Deutschland zu überleben, waren nicht groß. Am ehesten gelang dies in sogenannter „privilegierter Mischehe“ lebenden jüdischen Ehepartnern und ihren Kindern sowie Menschen mit einer sehr starken christlich-konfessionellen Einbindung.
2. Soziale Ausgrenzung und wirtschaftliche Existenzvernichtung 48 Der Überfall auf die jüdischen Juristen im Kölner Justizgebäude am Reichenspergerplatz am 31. März 1933 Das maschinenschriftliche Original stellte Michael Koll, der Sohn Dr. Wilhelm Kolls, dem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln 1988 für die Ausstellung „Jüdisches Schicksal in Köln 1918–1945“ zur Verfügung; der Text wurde erstmals abgedruckt im Ausstellungskatalog Jüdisches Schicksal in Köln 1918–1945, Köln 1988, S. 144f. Der folgende Text wurde diesem Katalog entnommen.
Überall in Deutschland wurden nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten Gewalttaten verübt, die darauf abzielten, die Wirtschaftstätigkeit von Juden und Jüdinnen zu behindern. Im Blickfeld der SA- und SS-Verbände standen der Einzelhandel – kleine Läden „ostjüdischer“ Inhaber ebenso wie Warenhäuser in jüdi-
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jedes Einzelnen perfektioniert. Das Prinzip der Kennzeichnung wurde im April 1942 auch auf die Wohnungen jüdischer Familien übertragen, die durch einen schwarzen „Judenstern“ auf weißem Papier auszuweisen waren. Ab Mitte 1941 trat in der NS-Politik an die Stelle der „Vertreibung“ das Konzept der „Endlösung“, endgültig in organisatorische Formen gebracht auf der Berliner Wannseekonferenz im Januar 1942. Im Oktober 1941 begannen die ersten Deportationen aus dem Rheinland in Ghettos wie Izbica, Litzmannstadt (Lodz), Minsk und Riga, seit 1942 auch nach Theresienstadt und Auschwitz, meist von Nebenbahnhöfen wie Köln-Deutz-Tief, dem Düsseldorfer Güterbahnhof in Derendorf oder dem Wuppertaler Bahnhof Steinbeck. Sammellager waren unter anderem das Kloster „Zur Ewigen Anbetung“ in Bonn-Endenich, der Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf, das Lager Holbeckshof in Essen-Steele, Fort V in Köln-Müngersdorf und das angrenzende Barackenlager sowie die Köln-Deutzer Messehallen. Mit dem Beginn der Deportationen nahmen die Selbstmorde unter den verzweifelten jüdischen Menschen zu. Spätestens 1943 waren mit der Deportation fast aller Juden aus dem „Altreich“ die letzten Reste eines organisierten jüdischen Lebens auch im Rheinland zerstört. Nur wenige Deportierte überlebten die mörderischen Bedingungen in den Lagern oder die systematischen Mordaktionen. Auch die Chancen, versteckt oder illegal in Deutschland zu überleben, waren nicht groß. Am ehesten gelang dies in sogenannter „privilegierter Mischehe“ lebenden jüdischen Ehepartnern und ihren Kindern sowie Menschen mit einer sehr starken christlich-konfessionellen Einbindung.
2. Soziale Ausgrenzung und wirtschaftliche Existenzvernichtung 48 Der Überfall auf die jüdischen Juristen im Kölner Justizgebäude am Reichenspergerplatz am 31. März 1933 Das maschinenschriftliche Original stellte Michael Koll, der Sohn Dr. Wilhelm Kolls, dem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln 1988 für die Ausstellung „Jüdisches Schicksal in Köln 1918–1945“ zur Verfügung; der Text wurde erstmals abgedruckt im Ausstellungskatalog Jüdisches Schicksal in Köln 1918–1945, Köln 1988, S. 144f. Der folgende Text wurde diesem Katalog entnommen.
Überall in Deutschland wurden nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten Gewalttaten verübt, die darauf abzielten, die Wirtschaftstätigkeit von Juden und Jüdinnen zu behindern. Im Blickfeld der SA- und SS-Verbände standen der Einzelhandel – kleine Läden „ostjüdischer“ Inhaber ebenso wie Warenhäuser in jüdi-
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schem Besitz – sowie Angehörige von Berufen, in denen Juden traditionell besonders stark vertreten waren, beispielsweise Viehhändler und Metzger, aber auch Juristen und Ärzte. Die spezifische Berufsstruktur der jüdischen Minderheit, die ihre Wurzeln teilweise noch in der Diskriminierung der Voremanzipationszeit hatte, machte sie zu bevorzugten Opfern antisemitischer Propagandisten und Aktivisten. Am 31. März 1933 verkündete Julius Streicher, der berüchtigte Gauleiter von Franken und Redakteur des antisemitischen Hetzblatts „Der Stürmer“, die Richtlinien für einen Boykott gegen jüdische Geschäfte, Warenhäuser, Anwaltskanzleien und Arztpraxen. In diesem Zusammenhang steht auch der Überfall von SA- und SS-Leuten auf jüdische Juristinnen und Juristen im Justizgebäude am Reichenspergerplatz in Köln am Freitag, den 31. März 1933, einen Tag vor dem offiziellen Beginn des Boykotts am 1. April. Das Gebäude am Reichenspergerplatz war das Zentrum der Kölner Justiz; es beherbergte das Amts-, Land- und Oberlandesgericht, das Arbeits- und Landesarbeitsgericht sowie die Generalstaatsanwaltschaft. Insbesondere unter den Rechtsanwälten waren Juden und Jüdinnen „überproportional“ (gemessen am Anteil der jüdischen an der deutschen Bevölkerung insgesamt) häufig vertreten. So waren 1933 im Oberlandesgerichtsbezirk Köln 14 Prozent aller Rechtsanwälte Juden, im Deutschen Reich insgesamt 25 Prozent. Der Kölner Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Koll, der in einer Kanzleigemeinschaft mit seinem jüdischen Kollegen Dr. Ernst Falk arbeitete, verfasste vermutlich kurz nach den Vorfällen einen Bericht über den Ablauf des Überfalls, der nicht zur Veröffentlichung bestimmt war. Koll hatte selbst nur das Eindringen der Gewalttäter in das Justizgebäude und die Aufstellung der SS- und SA-Verbände vor dem Gebäude erlebt. Für die weitere Schilderung der Ereignisse bezieht er sich auf „absolut zuverlässige Zeugen“. Tatsächlich wird sein Bericht im Wesentlichen durch Berichte von Betroffenen bestätigt, zum Beispiel von Dr. Elsbeth von Ameln in ihren Erinnerungen und von Dr. Kurt Wolff, der sich in seinem Beurlaubungsgesuch an den OLG-Präsidenten auf die Misshandlung der jüdischen Juristen am 31. März 1933 bezog. Bemerkenswert ist vor allem das planmäßige Vorgehen der Gewalttäter, die offenbar Listen mit den Namen jüdischer Richter und den Nummern ihrer Dienstzimmer sowie Aufzeichnungen über die am Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsanwälte hatten. Bei den Festnahmen kam es zu Misshandlungen. Einige Anwälte wurden aus ihren Büros in der Stadt ins Gerichtsgebäude gebracht. Die jüdischen Juristen wurden auf zwei Bereitschaftswagen der Polizei und einem offenen Müllfahrzeug (ein anderer Zeitzeuge berichtet von mehreren Mülltonnenfahrzeugen) langsam durch die Stadt über die Hohe Straße zum Polizeipräsidium in der Krebsgasse gefahren, also gleichsam auf perfideste Weise vorgeführt. Dort wurden sie dann wieder freigelassen. Auf dem Müllwagen mussten die prominentesten Juristen stehen. Den Zug, der am späten Vormittag oder mittags stattfand, werden zahlreiche Passanten beobachtet haben. Verschiedene Augenzeugen berichten von Beispielen kollegialer Solidarität. So zog der Amtsgerichtsrat Walter Müller, ein Anhänger des Nationalsozialismus, den jüdi-
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schen Rechtsanwalt Weil in sein Zimmer und verschloss die Tür. Eine Referendararbeitsgemeinschaft nahm die jüdischen Referendare in die Mitte und verließ mit ihnen über den Hinterausgang das Gebäude. Die Rechtsanwältin Ruth Bodenheimer wurde von einem Gerichtsinspektor durch den Keller ins Freie geleitet. Koll berichtet von einem „blonden arischen Referendar“, der seine jüdischen Kollegen in Schutz nahm und dafür selbst misshandelt wurde. Ein Polizeibeamter, der die Eindringlinge zurückwies, wurde beschimpft. Abgesehen von solchen Einzelfällen gab es aber keine öffentlichen Proteste, weder in der Berufsgruppe der Juristen noch in der Bevölkerung. Nur wenige Tage nach der Aktion wurde den jüdischen Juristen – bis auf vier Ausnahmen – Hausverbot für das Justizgebäude am Reichenspergerplatz erteilt. Am 7. April begann mit dem Erlass des „Gesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ und des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ die systematische Verdrängung jüdischer Männer und Frauen auch aus den juristischen Berufen. Gegen 10 ¼ Uhr verlies ich mit meinem Sozius Ernst Falk1 das Justizgebäude. Im Treppenhause kam uns eine Schar junger Burschen entgegen, die sich im Treppenhause verteilten. Ein Parteiabzeichen habe ich nur bei einem gesehen, die übrigen trugen keine Abzeichen oder nur Sportabzeichen. Wir kamen ungestört aus dem Gebäude heraus. Vor der Türe standen 2 oder 3 SA-Leute2 in Uniform. Wir fuhren mit dem Auto zur Sedanstraße und stellten fest, daß einige hundert Meter vom Justizgebäude entfernt ein Trupp von ca. 60–80 SS-Leuten3 Aufstellung genommen hatte und dort wartete. Soweit meine eigenen persönlichen Feststellungen. (Nachträglich erfuhr ich noch von verschiedenen zuverlässigen Zeugen, daß es sich bei der in das Justizgebäude eingedrungenen Schar junger Burschen um SA-Leute gehandelt habe, die am Vortage Befehl erhalten hatte, an diesem Morgen in Zivil anzutreten. Das stimmt mit meiner eigenen Feststellung überein, daß es sich nicht um eine gemischte Menschenmenge, sondern eine offensichtlich einheitliche Schar von dem Aussehen handelte, das einer SA-Truppe eigen ist.) Von verschiedenen absolut zuverlässigen Persönlichkeiten habe ich über den weiteren Hergang folgendes erfahren: Die im amtlichen Bericht als größere Menschenmenge bezeichneten Burschen verteilten sich in den Gängen mit dem Rufe „Juden heraus“. Die SS-Leute besetzten daraufhin sämtliche Ausgänge des Gebäudes, so daß niemand herauskommen konnte. Sie drangen in alle Zimmer ein und beschauten jeden im Gebäude Anwesenden auf seine Rassenzugehörigkeit. Jeder, der auch nur irgendwie jüdisch aussah, ob amtierender Richter, Rechtsanwalt, Referendar oder sonstiger Beamter, auch anwesendes Publikum wurde von den SS-Leuten in den Plenarsaal des OLG4 verbracht. Alle, bei denen jüdische Abstammung festgestellt wurde, wurden dort festgehalten. Zu den Festgenommenen gehörte auch z.B. Senatspräsident Forschbach,
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der nach Feststellung seiner arischen Abstammung freigelassen wurde und seinerseits andere z.B. den Aktuar5 Windelen als Arier legitimieren konnte. Die Festgenommenen wurden im allgemeinen in Ruhe und ohne besondere Tätlichkeiten abgeführt. Mehrere jüdische Anwälte, z.B. RA6 Cappel7 und Heidenheim8, wurden durch die Gänge geschleift und misshandelt. Ein blonder arischer9 Referendar, der sich um das Schicksal eines verhafteten Kollegen kümmerte und die Äußerung fallen ließ: „Das sind doch nur Zivilisten“, erhielt nicht unerhebliche blutige Kopfverletzungen. Auch weitere Tätlichkeiten leichterer Art sollen vorgefallen sein, jedoch habe ich darüber noch nichts Genaueres feststellen können. Die SS-Leute waren im Besitz von Listen, in denen Richter (unter Angabe der Nummer ihres Dienstzimmers) und Anwälte aufgeführt waren, gegen die sich die Maßnahmen insbesondere richten sollten. Verschiedene Anwälte, die am Gericht nicht angetroffen wurden, wurden von SA oder SS aus ihren Büros geholt und zum Justizgebäude geschafft und den übrigen Verhafteten zugesellt, z.B. Justizrat A. Cohen10, RA Hans Callmann11, dessen Bruder Rudolf12 eigentlich gesucht wurde und RA Haas13, der als einziger Anwalt des OLG festgenommen wurde. JR14 A. Cahen II15 wurde mehrfach vergeblich gesucht und schließlich verhaftete man an seiner Stelle einen zufällig im gleichen Haus wohnenden Herrn Cohn. Zum Schluß durchsuchte man noch einmal das ganze Gebäude, wobei man auch hinter die Richtertische und in Robenschränke etc. schaute. Die im Plenarsaal Verhafteten wurden darauf in zwei Bereitschaftswagen der Polizei und in einen Wagen der Städtischen Müllabfuhr, von dem man die Mülltonnen entfernt hatte, verladen. Auf dem Müllwagen mußten die prominentesten Richter und Anwälte zusammengepfercht stehen, darunter: Oberlandesgerichtsrat Professor Goldschmidt16, Oberlandesgerichtsrat Kurt Wolf17 und die Rechtsanwälte JR Cohen, Callmann und Haas. Es befand sich dabei auch ein älterer jüdischer Kaufmann. Der Transport ging in langsamer Fahrt durch die Stadt, am Dom vorbei und über die Hohe Straße zum Polizeipräsidium18. Dort wurden die Verhafteten sofort freigelassen. Das Polizeipräsidium hatte vorher auf Anruf den Bescheid erteilt, daß gemäß Anordnung von Berlin nicht eingeschritten werden könne. Ein Polizeibeamter aus dem Revier am Reichenspergerplatz wurde, als er den Eindringlingen entgegengetreten war, mit Beschimpfungen zurückgewiesen. Auch die nationalsozialistischen Anwälte, die Zeugen dieser Vorfälle waren, waren beschämt. Eine Ausnahme machte der seit kurzer Zeit am Oberlandesgericht zugelassene Rechtsanwalt Pfleiderer, der seiner Freude darüber Ausdruck gab, daß er zweien seiner früheren Richterkollegen, von denen der eine ein besonders tüchtiger und beliebter Richter, der andere RA am OLG ist, eins auswischen könne.
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Anmerkungen 1 Dr. Ernst Falk (1901–1978), Sohn des Juristen und Politikers Bernhard Falk (vgl. Dokument 45) und seiner Ehefrau Else, Rechtsanwalt am Oberlandesgericht in Köln, 1938 Emigration über Brüssel und Frankreich nach Brasilien, nach 1945 Rückkehr nach Deutschland; erneut aktiv als Rechtsanwalt am Oberlandesgericht in Köln. 2 SA (Sturmabteilung), 1920 als parteieigener Ordnerdienst gegründet, paramilitärische Organisation der NSDAP. Die SA war ein wichtiges Gewaltinstrument bei der Eroberung und Befestigung der innenpolitischen Macht der Nationalsozialisten in der Zeit vor und während der Machtübernahme. 1934 weitgehend entmachtet, diente sie danach vor allem der vormilitärischen Ausbildung von Jugendlichen und veranstaltete Sammlungen. Am Novemberpogrom 1938 war die SA maßgeblich beteiligt. 3 SS (Schutzstaffel), 1925 als Adolf Hitlers Leibgarde gegründet, Elitetruppe der. NSDAP. Nach dem erfolgreichen Machtkampf mit der SA 1933/34 wurde die SS zum Hauptinstrument des NS-Regimes bei der Ausübung von Terror, z.B. als Wachpersonal in den KZ. Im 1939 eingerichteten Reichssicherheitshauptamt waren Kriminalpolizei, Gestapo und Sicherheitsdienst der SS zusammengefasst. Während des Zweiten Weltkriegs war die SS die treibende Kraft in der Rassen-, Siedlungs- und Sicherheitspolitik, besonders bei der Ermordung der europäischen Juden und bei zahllosen anderen Verbrechen in den von den Deutschen überfallenen und besetzten Ländern. 4 Oberlandesgericht. 5 Gerichtsangestellter. 6 Rechtsanwalt. 7 Dr. Paul Cappel (geb. 1884), Rechtsanwalt in Köln, in der Kölner Synagogengemeinde aktiv, emigrierte über England in die USA. 8 Dr. Arthur Heidenheim (1888–1945), Rechtsanwalt am Amts- und Landgericht Köln, Vorstandsmitglied des Kölner Anwaltsvereins, emigrierte in die Niederlande, wurde von dort aus nach Auschwitz deportiert und ermordet. 9 Als „Arier“ wurden zunächst Mitglieder der indoeuropäischen Sprachfamilie bezeichnet, doch schon im 19. Jahrhundert wurde der Begriff biologisch-rassistisch überformt. In der nationalsozialistischen Rassenideologie stand der Begriff „Arier“ für Menschen „deutscher oder artverwandter Abstammung“. Als „Nichtarier“ galten dementsprechend Menschen, die einen oder mehrere jüdische Eltern- bzw. Großelternteile hatten. 10 Dr. Alfred Cohen (1873–1944), Rechtsanwalt und Justizrat am Landgericht in Köln, emigrierte nach Paris, wurde von dort aus nach Auschwitz deportiert, am 31. August 1944 für tot erklärt. 11 Dr. Hans Callmann (geb. 1897), Rechtsanwalt in Köln, Mitglied des Vorstands der Synagogengemeinde, Emigration in die USA. 12 Dr. Rudolf Callmann (1892–1976), Rechtsanwalt beim Oberlandesgericht bzw. beim Amts- und Landgericht Köln, Stadtverordneter, aktiv in der „Rheinland-Loge“, im „Central-Verein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und in der 1933 gegrün-
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deten „Reichsvertretung der deutschen Juden“. Emigration in die USA, dort als Rechtsanwalt und in jüdischen Verbänden aktiv, Vizepräsident und Mitglied des Hauptvorstands der „Claims Conference“, die Rückerstattungsansprüche jüdischer Bürger in Deutschland vertritt. 13 Albert Haas (geb. 1881), Rechtsanwalt am Oberlandesgericht in Köln, sein Schicksal ist unbekannt. 14 Justizrat. 15 Albert Cahen II (1871–1943), Rechtsanwalt und Justizrat in Köln, Spezialist für Handels-, Bank- und Gesellschaftsrecht, Mitglied des Rechtsausschusses der Industrie- und Handelskammer. Emigration nach Amsterdam, von dort Deportation nach Sobibor, wo er am 23. April 1943 ermordet wurde. 16 Prof. Dr. Hans Walter Goldschmidt (1881–1940), Oberlandesgerichtsrat, a.o. Professor für preußische Rechtsgeschichte, Wirtschaftsrecht und englisches Recht an der Kölner Universität, politisches Engagement in der DDP bzw. in der Deutschen Staatspartei. Er starb am 2. Juli 1940, als sein Schiff, das sich auf dem Weg nach Kanada befand, von einem deutschen Torpedoboot versenkt wurde. 17 Dr. Kurt Wolff (1879–1945), Oberlandesgerichtsrat, Mitglied der Deutschen Staatspartei, in der Kölner Synagogengemeinde aktiv. 1941 Deportation in das Ghetto Lodz, im Juli 1942 in Auschwitz ermordet. 18 Das Kölner Polizeipräsidium befand sich 1933 in einem Gebäude an der Ecke Schildergasse und Krebsgasse.
Literatur Inzwischen ist ein weiterer Zeitzeugenbericht von Friedrich Reichenstein bekannt geworden, der am 31. März 1933 als Rechtsanwalt im Justizgebäude am Reichenspergerplatz vereidigt werden sollte: Dr. Friedrich Reichenstein, Yedioth Hayom – Ich und meine Zeitung, eine erlebte Geschichte, Tel Aviv 2007, S. 3f. Louis Peters, Köln, Freitag 31.3.1933, ein Tag verändert die Kölner Anwaltschaft, Köln 2004, S. 8–10; Klaus Luig, … weil er nicht arischer Abstammung ist. Jüdische Juristen in Köln während der NS-Zeit, hg. von der Rechtsanwaltskammer in Köln, Köln 2004; Elsbeth von Ameln, Köln Appellhofplatz. Rückblick auf ein bewegtes Leben, Köln 1985; Otto Geudtner/Hans Hengsbach/Sibille Westerkamp, … nicht mehr zugelassen – das Schicksal des Kölner Juristen Victor Loewenwarter, Köln 1995; Wolfgang Benz, Von der Entrechtung zur Verfolgung und Vernichtung. Jüdische Juristen unter dem nationalsozialistischen Regime, in: Hellmut Heinrichs u.a. (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993; Simone Ladwig-Winters, Richter und Staatsanwälte jüdischer Herkunft im Preußen des Nationalsozialismus, Köln 2004
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49 Berufsverbote für Musiker in Bonn, 1935 Schreiben des Bonner Kreisleiters Hans Weisheit an den Bonner Oberbürgermeister Ludwig Rickert, 6. August 1935 Stadtarchiv Bonn Pr 10/815
Am 6. August 1935 beschwerte sich der Bonner NSDAP-Kreisleiter Hans Weisheit beim Bonner Oberbürgermeister Ludwig Rickert darüber, dass dem Städtischen Orchester noch immer ein jüdischer und zwei mit Jüdinnen verheiratete Musiker angehören würden. Der Auftritt von Ludwig Waldmann, Josef Lieberz und Heinrich Geese während einer NSDAP-Veranstaltung sei zwar verhindert worden, Weisheit forderte aber darüber hinaus die Auflösung der Verträge und die Entfernung der Künstler aus dem Orchester. Der Jude Ludwig (Louis) Waldmann (1879–1940) spielte seit 1907 als städtischer Angestellter Oboe und Englisch Horn im Orchester der Stadt Bonn, dem heutigen Beethovenorchester Bonn. Seit 1933 war Waldheim mit der Nichtjüdin Therese Spindler verheiratet. Aus dieser Ehe ging ein Kind hervor. Aus erster Ehe hatte Waldmann die Töchter Karola und Else. Die nationalsozialistische Regierung verfolgte das Ziel, das am 7. April 1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ zügig auch auf Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst – vor allem im Kulturbereich – auszudehnen. Da Waldmann bereits vor 1914 städtischer Angestellter gewesen war und zudem als Frontkämpfer am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, fiel er aber unter die Ausnahmeregelungen des „Berufsbeamtengesetzes“. Der Bonner Oberbürgermeister reagierte zügig auf Weisheits Beschwerde, der offenbar auch die Einschaltung der NSDAP-Gauleitung Köln-Aachen Nachdruck verliehen hatte: Er sprach bereits am 8. August 1935 die sofortige Dienstenthebung der drei Musiker aus, der eine Kündigung folgen sollte. Allerdings wehrten sich die Betroffenen zunächst erfolgreich gegen ihre Entlassung. Ludwig Waldmann und seine Kollegen Josef Lieberz und Heinrich Geese wurden schließlich aufgrund des „Reichskulturkammergesetzes“ vom 22. November 1933 aus dem Orchester entfernt. Die Zugehörigkeit zu einer Kammer, hier der Reichsmusikkammer, war die Voraussetzung für die Ausübung eines Berufs. „Nichtarier“ oder „mit Nichtariern Verheiratete“ waren von der Kammerzugehörigkeit ausgeschlossen – sie erhielten Berufsverbot. Das Vertragsverhältnis mit Ludwig Waldmann löste die Stadt Bonn am 27. Februar 1936 mit sofortiger Wirkung. Die Gehaltszahlungen wurden ab dem 1. März eingestellt; der vertraglich festgelegte Versorgungsausgleich fiel fort. Waldmanns Situation verschlechterte sich weiter, nachdem seine nichtjüdische Ehefrau 1936 die Scheidung eingereicht hatte. Ludwig Waldmann musste in den folgenden Jahren von seinen Töchtern Karola und Else unterstützt werden. Er starb am 26. Dezember 1940 an Herzversagen, zermürbt von den Aufregungen und Enttäuschungen der letzten Jahre.
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Auch Lieberz und Geese wurden aufgrund des „Reichskulturkammergesetzes“ entlassen. Während es Lieberz gelang, die Zahlung einer Pension einzuklagen, blieb Geese ohne jede materielle Unterstützung. Zu der Gestaltung der Feierstunde am Vorabend des Kreistages1 hatte sich das städt. Orchester liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellt. Am 2.8.35 erfuhr ich nun durch einen Ortsgruppenleiter, dass in diesem Orchester ein Vollblutjude2 Waldmann und 2 jüdisch Versippte3 und zwar Liebers4 und Geese5 noch Mitglied sind. Ich teilte diese Tatsache Dr. Hirtz6 mit, der zusagte, dass die 3 am Samstag nicht mitwirkten. Damit war die Angelegenheit für diesen Abend erledigt und das städt. Orchester konnte spielen. Ich nehme nicht an, dass Ihnen diese Tatsache bekannt war und möchte nicht verfehlen, Sie darauf aufmerksam zu machen. Ich bitte Sie zu prüfen und mir mitzuteilen bis zu welchem Zeitpunkt die Verträge gelöst werden können. Sollte, wie Dr. Hirtz mir mitteilte, Waldmann unter den Arierparagraph fallen, so muss es eine Möglichkeit geben, ihn dennoch zu entfernen, andernfalls werde ich von mir aus und damit von der Kreisleitung Bonn aus, keine Veranstaltung des städt. Orchesters mehr besuchen können. Heil Hitler [Unterschrift: Weisheit] Kreisleiter
Anmerkungen Herr Dr. Manfred van Rey, Königswinter, überließ der Verfasserin freundlicherweise sein ungedrucktes Manuskript „Waldmann, Geese, Lieberz: aus dem Städtischen Orchester entlassen“. 1 Ein Treffen von NSDAP-Funktionären auf Kreisebene. 2 Gemeint ist „Volljude“. Gemäß der ersten Durchführungsverordnung vom 14. November 1935 zu dem auf dem Nürnberger Parteitag erlassenen „Reichsbürgergesetz“ vom 15. September 1935 wurde als Jude definiert, wer mindestens drei jüdische Großelternteile hatte. 3 Gemeint sind Nichtjuden, die mit Jüdinnen verheiratet waren. 4 Josef Liebertz, geb. 1892, Kammermusiker, Geiger im Städtischen Orchester Bonn. 5 Heinrich Geese, geb. 1905, Kammermusiker, Oboist im Städtischen Orchester Bonn. 6 Dr. Hirtz war Beigeordneter für Schule und Kultur der Stadt Bonn.
Literatur Horst-Pierre Bothien, Das braune Bonn. Personen und Ereignisse (1925–1939). Mit zwei Beiträgen von Ansgar Sebastian Klein, Forum Geschichte 5, Bonn 2005; Leah RauhutBrungs/Gabriele Wasser/Peter Hodde (Hg.), Stadtrundgang durch Bonns jüdische Ge-
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schichte, Egling an der Paar 2001, S. 106–114; Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933–1943, Frankfurt/M. 1987
50 Beschwerde des Amtsbürgermeisters von Ruppichteroth über die geplante Einrichtung einer jüdischen Jugendherberge, 1935 Amtsbürgermeister Hubert Manner aus Ruppichteroth an die Kreisleitung der NSDAP in Siegburg, 11. Juni 1935. Gemeindearchiv Ruppichteroth Nr. 011/1 (Bröltalheim in Schönenberg)
Der Ruppichterother Amtsbürgermeister Hubert Manner sprach sich in einem Schreiben an die Kreisleitung der NSDAP in Siegburg vom 11. Juni 1935 vehement gegen die Einrichtung einer jüdischen Jugendherberge im sogenannten Bröltalhaus in Schönenberg aus, das zur Gemeinde Ruppichteroth gehörte. Das Haus befand sich seit 1930 im Besitz eines jüdischen Vereins und wurde als Erholungsheim für Mütter und berufstätige junge Frauen genutzt. Auch Fortbildungskurse fanden hier statt. 1935 stellte der „Reichsausschuss der jüdischen Jugendverbände“ in Berlin als zentrale Organisation bei der Regierung in Berlin den Antrag, in Schönenberg eine jüdische Jugendherberge einzurichten. Der Antrag wurde von dem Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust auch genehmigt. Dies entsprach der in vielen gesellschaftlichen Bereichen verfolgten Politik der Nationalsozialisten, Juden von der „Volksgemeinschaft“ zu separieren. So sollten die jüdischen Jugendlichen aus den allgemeinen Jugendherbergen entfernt und möglichst dort konzentriert werden, wo bereits eine Einrichtung in jüdischem Besitz tätig war. Bürgermeister Manner teilte die Meinung Rusts keineswegs und fand damit auch beim Landrat des Siegkreises Unterstützung. Er wandte sich an die Kreisleitung der NSDAP, die ihren Einfluss in Berlin dahin geltend machen sollte, die geplante jüdische Jugendherberge zu verhindern. Seine Gegnerschaft begründete er damit, dass in Ruppichteroth ohnehin bereits zu viele Juden wohnten. Er beschwor den „Volkszorn“ gegen das jüdische Heim und seine Bewohner, gegen die „hereinbrechende jüdische Invasion“, wie er es nannte. Die antisemitische Haltung der Bevölkerung würde zu Übergriffen und Unruhen führen. Außerdem war Manner der Meinung, dass die Anwesenheit von zahlreichen Juden aus ganz Deutschland in Schönenberg den im Siegtal aufblühenden Tourismus schädigen werde. Schließlich wollten die Gemeindeverwaltung und die NSDAP-Ortsgruppe das Bröltalhaus für eigene Zwecke nutzen. Manners krude antisemitische Argumentation spiegelt sich in seiner Wortwahl wider.
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Manner konnte sich trotz seiner zur Schau getragenen Linientreue nicht durchsetzen. Unter der Bezeichnung „Jüdisches Übernachtungsheim“ nahm das Bröltalhaus am 28. Juni 1936 seinen Betrieb auf. In der Folgezeit besuchten jüdische Jugendbünde und Schulklassen aus dem Einzugsbereich zwischen Essen und Frankfurt am Main das Haus. Auch junge Erwachsene kamen nach Schönenberg, um hier Kurse zu besuchen, die von der „Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ veranstaltet wurden. Die „Mittelstelle“ war 1933 von Martin Buber in Frankfurt am Main gegründet worden; der berühmte Religionsphilosoph war häufig als Referent Gast im Bröltalhaus. Weitere Vortragende waren unter anderem der Düsseldorfer Rabbiner Dr. Max Eschelbacher, die Journalistin und Schriftstellerin Eva Reichmann-Jungmann, der Chefredakteur des zionistischen Zentralorgans „Die jüdische Rundschau“ Dr. Robert Weltsch und Dr. Josef Burg, später Innenminister des Staates Israel. Der Bröltalhaus war somit für einige Jahre ein Ort der Selbstbehauptung, ein kulturelles Zentrum in barbarischen Zeiten, das weit über die Region hinaus Bedeutung erlangte. Das Bröltalhaus blieb erhalten und wird heute als Wohnhaus genutzt. In früherer Zeit habe ich verschiedentlich dorthin berichtet, dass sich in Schönenberg ein Haus befindet, welches sich im Besitze der jüdischen Wohlfahrtsorganisation Verein Erholungsfürsorge des Schwesternbundes der Rheinland- und Moriahloge e.V. Köln1 befindet. Vor der Machtübernahme sind in diesem Heim in den Frühjahrs- und Sommermonaten jüdische Kinder, Jungen und Mädchen sowie einmal alte Judenweiber zur Erholung untergebracht gewesen. Nach der Machtübernahme haben in diesem Heim 3 mal kurzfristige Kurse von Juden mit Genehmigung der Staatspolizeistelle Köln2 unter polizeilicher Überwachung stattgefunden. Da wir im hiesigen Bezirk in der Ortschaft Ruppichteroth 9 jüdische Familien mit 40 Köpfen haben und überreichlich mit dieser Sorte schon gesegnet sind, so habe ich verschiedene Organisationen der Bewegung auf dieses Heim aufmerksam gemacht, damit dasselbe evtl. angekauft und für die Zwecke unserer Bewegung3 verwertet werden könnte. Dieser Plan scheitert aber daran, dass der Jude das Haus in seiner gerissenen Art mit Hypotheken belastet hat – es sollen 34000 .- RM sein – dass ein Kauf unmöglich ist, da das Anwesen entsprechend der heutigen Preisgestaltung auf dem Grundstücksmarkte diesen Preis in keiner Weise präsentiert. Neuerdings hat der Reichsausschuss der jüdischen Jugendverbände an den Herrn Reichs- und Preussischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung4 durch die Hand des Herrn Reichsjugendführers5 einen Antrag gestellt, dieses Heim als jüdische Jugendherberge einrichten zu dürfen. Zum Bericht aufgefordert, hat sich sowohl die Ortsgruppe wie das Amt6 entschieden gegen den von vorgenannter Organisation gestellten Antrag ausgesprochen, da wir einerseits schon in überreichlichem Maße von Juden gesegnet sind, andererseits durch das arrogante Verhalten der Juden Empörung herrscht und durch die Einrichtung dieses Hauses in
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eine jüdische Jugendherberge die nationalsozialistisch denkende Bevölkerung wie auch die Bevölkerung im Allgemeinen in eine Siedehitze der Empörung geraten würde, sodass die öffentliche Ruhe und Ordnung bestimmt in starkem Masse gefährdet würde. Ferner würde durch diese Maßnahme eine ausserordentlich fühlbare wirtschaftliche Schädigung der Bewohner des Bezirks eintreten, da der hiesige Bezirk einen ständig aufstrebenden Fremdenzustrom hat, worauf er angewiesen ist, dieser Fremdenverkehr aber bestimmt sinken müsste, da jeder anständig denkende Deutsche nichts mit den Juden zu tuen haben will und die Erholungssuchenden Deutschen das hiesige Gebiet nicht mehr aufsuchen würden infolge der hereinbrechenden jüdischen Invasion. Diese Argumente scheinen bei der Centralstelle in Berlin keine Schlagkraft zu besitzen, denn der Herr Minister hat einen Erlass folgenden Inhalts an den Herrn Regierungs-Präsidenten gegeben: „Ihre Bedenken gegen die Errichtung einer jüdischen Jugendherberge in Schönenberg vermag ich nicht zu teilen. Es ist unbedingt erforderlich, die jüdischen Wanderer(innen) von den deutschen Wanderern zu trennen. Da in dem Bröltalheim in Schönenberg bereits jüdische Kinder, jüdische Jünglinge und Mädchen bezw. Frauen untergebracht worden sind, dürfte die Umwandlung des Heimes in eine Jugendherberge das Bild nicht wesentlich ändern. Ich ersuche daher, die Angelegenheit nochmals zu prüfen. Gegebenenfalls ist mir ein anderer Ort für eine jüdische Jugendherberge in Ihrem Bezirk in Vorschlag zu bringen.“ Auf diesen Erlass hin ist erneut durch den Herrn Landrat am 27.5.1935 Bericht erstattet worden und zwar unter Anführung nachfolgender Gesichtspunkte: „Wenn auch in dem Bröltalheim hin und wieder jüdische Einquartierung war, so habe ich Weihnachten 1934 die Feststellung machen müssen, dass unter nationalsozialistisch denkender Bevölkerung und insbesondere auch unter den Mitgliedern der Bewegung wie den Angehörigen der S.A.7 durch das Auftreten dieser jüdischen Kursusteilnehmer eine starke Erregung Platz gegriffen hat. Diese Erregung würde sich zur Siedehitze steigern, wenn im hiesigen Bezirk eine jüdische Jugendherberge eröffnet werden sollte, da die Bewohner des Bezirks durch die Anwesenheit der vielen in der Ortschaft Ruppichteroth ansässigen Juden sich mit diesem Zustand, der vorab nicht zu ändern sein dürfte, schon nicht abfinden können. Ferner erlaube ich mir zu erwähnen, dass der hiesige Bezirk in wirtschaftlicher Hinsicht auf den Fremdenverkehr angewiesen ist. Dieser ist durch den Aufenthalt von deutschen Volksgenossen im Aufstieg begriffen, würde aber M.E.8 durch den Aufenthalt der anderen Rasse im Bezirk einen empfindlichen Rückschlag erleiden, da der Erholungssuchende in einem von Juden überlaufenen Bezirk sich nicht wohl fühlen dürfte und diesen Bezirk meiden wird. Ich halte es auch nicht für angebracht, dass man der jüdischen Rasse die landschaftlich hervorragenden Gegenden zu ihrer Erholung zur Verfügung stellt und dass unsere eigenen Volksgenossen sich mit minder schönen Gebieten begnügen sollen. Bei der vorhandenen starken Abneigung der Bewohner des Bezirks gegen alles Jüdische glaube ich, dass bei einer Erklärung des Bröltalhei-
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mes zu einer jüdischen Jugendherberge der hiesige sonst ruhige von deutschen Volksgenossen zur Erholung gern aufgesuchte Bezirk zum wirtschaftlichen Nachteil seiner Bewohner veröden wird und dass es zu Excessen mit den Juden kommen würde, die eine Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung im Gefolge haben würden. Vielleicht wäre zu erwägen, den Juden die Genehmigung für den Betrieb einer Jugendherberge in einem abgelegenen nicht besiedelten Winkel der Provinz zu erteilen. In den Anlagen füge ich die Stellungnahme des Ortsgruppenleiters der N.S.D.A.P. Ortsgruppe Ruppichteroth bei. Ich muss mich aus den in meinem vorstehenden Bericht erwähnten Gründen gegen die Errichtung einer Jugendherberge in Schönenberg ganz entschieden aussprechen.“ Es darf unter keinen Umständen geduldet werden, dass das Jugendheim in Schönenberg in eine jüdische Jugendherberge umgewandelt wird. Das Vorstehende berichte ich zwecks Orientierung und unterbreite Ihnen Herr Kreisleiter die Bitte, sich auch der Sache anzunehmen um die dem hiesigen Bezirk drohende Gefahr der jüdischen Verseuchung abzuwenden, da wir leider übergenug von der Sorte Moses haben.
Anmerkungen 1 Die 1888 gegründete „Rheinlandloge“ widmete sich unter der Devise „Wohltätigkeit, Brüderlichkeit, Eintracht“ vor allem der Unterstützung sozial unterprivilegierter Juden, der Abwehr des Antisemitismus, der Stärkung des jüdischen Zusammenhalts sowie dem Kampf gegen die weit verbreitete Gleichgültigkeit in Glaubensfragen. 2 Die Geheime Staatspolizei (Gestapo), 1933 zunächst in Preußen, dann im gesamten Reichsgebiet tätig, ging aus der politischen Abteilung des Berliner Polizei-Präsidiums hervor und wurde nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten – vor allem in ihrer Bindung an die SS – zu einem der wichtigsten Unterdrückungs- und Vernichtungsinstrumente des NS-Staats. Die Kölner Staatspolizeistelle war Teil der Gestapohierarchie, an deren Spitze das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa) und seit 1939 das Reichssicherheitshauptamt stand; es folgten auf der Ebene der Provinzen die Staatspolizeileitstellen (für die Rheinprovinz mit Sitz in Koblenz, seit 1939 in Düsseldorf ), der schließlich die Staatspolizeistellen untergeordnet waren. Die Staatspolizeistelle Köln war für den Regierungsbezirk Köln, seit 1943 auch für den Regierungsbezirk Aachen zuständig; sie war zunächst im Polizeipräsidium in der Krebsgasse, seit 1935 im EL-DEHaus am Appellhofplatz untergebracht (heute NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, Internet: www.museenkoeln.de/ns-dok, 4.8.2010). 3 Gemeint ist die nationalsozialistische Bewegung in allen ihren Gliederungen. 4 Bernhard Rust (1883–1945), 1933 kommissarischer preußischer Kultusminister, seit 1934 außerdem Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. 5 Reichsjugendführer war 1933–1940 Baldur von Schirach (1907–1974).
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6 Gemeint sind die Ortsgruppe der NSDAP in Ruppichteroth und das Amt Ruppichteroth, d.h. Partei und Verwaltung auf lokaler Ebene. 7 SA (Sturmabteilung), 1920 als parteieigener Ordnerdienst gegründet, paramilitärische Organisation der NSDAP. Die SA war ein wichtiges Gewaltinstrument bei der Eroberung und Befestigung der innenpolitischen Macht der Nationalsozialisten in der Zeit vor und während der Machtübernahme. 1934 weitgehend entmachtet, diente sie danach vor allem der vormilitärischen Ausbildung von Jugendlichen und veranstaltete Sammlungen. Am Novemberpogrom 1938 war die SA maßgeblich beteiligt. 8 Meines Erachtens.
Literatur Karl Schröder, Juden in Ruppichteroth, in: Claudia Maria Arndt (Hg.), “Unwiederbringlich vorbei”. Geschichte und Kultur der Juden an Sieg und Rhein. Zehn Jahre Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“, Siegburg 2005, S. 178–185; Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil I: Regierungsbezirk Köln, Köln 1997, S. 545–550
3. Jüdische Selbstbehauptung und Selbsthilfe 51 Ein Kölner Kaufmann protestiert gegen den Boykott am 1. April 1933 Foto und Flugblatt Kölnisches Stadtmuseum, Graphische Sammlung Rheinisches Bildarchiv Köln
Das Foto zeigt den Kaufmann Richard Stern (1899–1967) am 1. April 1933 im Eingang seines Bett- und Polsterwarengeschäfts am Marsilstein 20 in Köln. Er trägt das ihm 1918 für seine Teilnahme als Frontsoldat am Ersten Weltkrieg verliehene „Eiserne Kreuz 2. Klasse“. Vor dem Geschäft hat ein SA-Mann in Uniform Posten bezogen. Sowohl Richard Stern als auch der SA-Mann scheinen mit vorübergehenden Personen, vielleicht Kunden, zu sprechen. Den historischen Hintergrund für das Fotodokument bildet der von der neuen Reichsregierung unter Adolf Hitler verkündete und von der NSDAP unter Federführung Julius Streichers organisierte Boykott gegen jüdische Einzelhändler, Kaufhäuser, Ärzte und Rechtsanwälte am 1. April 1933. Der Boykott lief fast überall in Deutschland auf die gleiche Weise ab: Am Morgen dieses Tages, einem Samstag, bezogen im
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6 Gemeint sind die Ortsgruppe der NSDAP in Ruppichteroth und das Amt Ruppichteroth, d.h. Partei und Verwaltung auf lokaler Ebene. 7 SA (Sturmabteilung), 1920 als parteieigener Ordnerdienst gegründet, paramilitärische Organisation der NSDAP. Die SA war ein wichtiges Gewaltinstrument bei der Eroberung und Befestigung der innenpolitischen Macht der Nationalsozialisten in der Zeit vor und während der Machtübernahme. 1934 weitgehend entmachtet, diente sie danach vor allem der vormilitärischen Ausbildung von Jugendlichen und veranstaltete Sammlungen. Am Novemberpogrom 1938 war die SA maßgeblich beteiligt. 8 Meines Erachtens.
Literatur Karl Schröder, Juden in Ruppichteroth, in: Claudia Maria Arndt (Hg.), “Unwiederbringlich vorbei”. Geschichte und Kultur der Juden an Sieg und Rhein. Zehn Jahre Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“, Siegburg 2005, S. 178–185; Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil I: Regierungsbezirk Köln, Köln 1997, S. 545–550
3. Jüdische Selbstbehauptung und Selbsthilfe 51 Ein Kölner Kaufmann protestiert gegen den Boykott am 1. April 1933 Foto und Flugblatt Kölnisches Stadtmuseum, Graphische Sammlung Rheinisches Bildarchiv Köln
Das Foto zeigt den Kaufmann Richard Stern (1899–1967) am 1. April 1933 im Eingang seines Bett- und Polsterwarengeschäfts am Marsilstein 20 in Köln. Er trägt das ihm 1918 für seine Teilnahme als Frontsoldat am Ersten Weltkrieg verliehene „Eiserne Kreuz 2. Klasse“. Vor dem Geschäft hat ein SA-Mann in Uniform Posten bezogen. Sowohl Richard Stern als auch der SA-Mann scheinen mit vorübergehenden Personen, vielleicht Kunden, zu sprechen. Den historischen Hintergrund für das Fotodokument bildet der von der neuen Reichsregierung unter Adolf Hitler verkündete und von der NSDAP unter Federführung Julius Streichers organisierte Boykott gegen jüdische Einzelhändler, Kaufhäuser, Ärzte und Rechtsanwälte am 1. April 1933. Der Boykott lief fast überall in Deutschland auf die gleiche Weise ab: Am Morgen dieses Tages, einem Samstag, bezogen im
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ganzen Reich SA-Leute und Angehörige anderer NS-Formationen Posten vor den Geschäften jüdischer Kaufleute und Händler und den Büros und Praxen freiberuflich Tätiger. Die Schaufenster wurden mit Davidsternen und antisemitischen Parolen beschmiert und mit Plakaten beklebt. Kunden wurden daran gehindert, die Läden zu betreten, und, falls sie sich widersetzten, fotografiert, ihre Personalien wurden aufgenommen. In der Lokalpresse wurden sie am nächsten Tag denunziert und diffamiert. Da der Boykott zuvor in der Presse angekündigt worden war, öffneten zahlreiche jüdische Geschäftsleute erst gar nicht. Offiziell legitimiert wurde der Boykott als Abwehrmaßnahme gegen die angeblich von jüdischen Organisationen im Ausland verbreitete „Gräuelpropaganda“. Dabei ging es um kritische Berichte über die zahlreichen Gewalttaten gegen jüdische Bürger nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Das war allerdings nur ein vorgeschobenes – und zudem verlogenes – Argument. Der eigentliche Sinn des Boykotts war es, den Weg zu bereiten für die Verdrängung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben zugunsten der nichtjüdischen Konkurrenz. Der Boykott wurde offiziell am 4. April 1933 beendet. Was folgte, war die schleichende „Arisierung“ vor allem im wirtschaftlichen Bereich, vorangetrieben durch Diskriminierungsmaßnahmen und den Terror der Parteiorganisationen und durch „gesetzliche“ Initiativen der Reichsregierung. Richard Sterns mutige Demonstration war kein Einzelfall. Auch aus anderen Orten sind Versuche jüdischer Bürger bekannt, sich gegen Entrechtung, Einschüchterung und gesellschaftliche Isolierung mit dem Hinweis auf ihren Einsatz im Ersten Weltkrieg zu wehren. Richard Stern aber ging noch einen Schritt weiter: Er ließ auf eigene Kosten in der benachbarten Druckerei des Schwagers Heinz Flögerhöver ein Flugblatt drucken und verteilte es. Der Text des Flugblattes geht gegen den Versuch an, die jüdischen Bürger durch den Boykott zu diskriminieren, zu diffamieren und aus dem deutschen „Vaterland“ auszuscheiden. Stern betont die Verdienste seiner Familie um die Verteidigung Deutschlands im Ersten Weltkrieg und appelliert an die Solidarität der „Frontkameraden“ und der „anständigen Bürger“. Er weist auf das Schutzversprechen des Reichskanzlers Adolf Hitler, des Reichsinnenministers Wilhelm Frick und des Reichsministers Hermann Göring für die deutschen Frontsoldaten hin, zu denen auch er gehört. Richard Stern wurde am Nachmittag des 1. April verhaftet, nach einigen Stunden aber wieder freigelassen. In der Folgezeit musste er erkennen, dass es sehr wohl denkbar und möglich war, Juden, die unter Einsatz ihres Lebens Deutschland verteidigt hatten, zu entrechten und um ihre Existenz zu bringen. Mit einer Solidarität der nichtjüdischen Mitbürger war nicht zu rechnen. Sterns Glaube an die rechtsstaatlichen Strukturen, der in dem Flugblatt artikuliert wird, war bald zerstört. Sein Geschäft, das immer mehr zurückging, wurde während des Pogroms am 10. November 1938 zerstört.. Richard Stern emigrierte 1939 in die USA, wo er sich zunächst als Fabrikarbeiter durchschlug. Mut bewies er auch weiterhin: 1942 trat er als Freiwilliger in die US Army ein, 1944 erhielt er den „Silver Star“. Richard Stern starb 1967 in den USA.
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16. Richard Stern vor seinem Geschäft am Marsilstein in Köln, 1. April 1933
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17. Flugblatt, von Richard Stern verfasst, 1933
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Literatur Dieter Corbach, „Ich kann nicht schweigen“. Richard Stern, Köln, Marsilstein 20, Köln 1988; Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933–1943, Frankfurt/M. 1987; Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972; Kurt Düwell, Die Rheingebiete in der Judenpolitik des Nationalsozialsmus vor 1942, Bonn 1967; Arnold Paucker u.a. (Hg.), Die Juden im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1943, Tübingen 1986
52 „Juden in Rheinland und Westfalen, jetzt ist Eure Aufgabe gekommen!“ – Zur Gründung des Jüdischen Kulturbundes Rhein-Ruhr, 1933 Mitteilungen des Jüdischen Kulturbundes Rhein-Ruhr, November 1933 Bibliothek Germania Judaica, Köln; online: http://deposit.ddb.de/online/jued/jued. htm
Dr. Paul Moses (1897–1965), Arzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde in Köln und erster Vorsitzender des im Oktober 1933 gegründeten Jüdischen Kulturbundes Rhein-Ruhr ( JKRR) warb in der ersten Nummer der Mitteilungen des JKRR für die neue Einrichtung und formulierte programmatische Leitlinien. Die erste und wichtigste Aufgabe der jüdischen Kulturbünde war es, eine Antwort auf die Ausgrenzung und Verdrängung der Juden aus dem deutschen Kulturleben zu finden. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 und das „Reichskulturkammergesetz“ vom 22. September 1933 machten jede Art von Beschäftigung im kulturellen Sektor abhängig von der „arischen“ Abstammung der Künstler. Um der wachsenden Arbeitslosigkeit unter den jüdischen Kulturschaffenden und im Kulturbereich Tätigen zu begegnen, wurde im Juni 1933 zunächst in Berlin ein jüdischer Kulturbund gegründet. Regionale Bünde in Frankfurt am Main, Breslau, Dresden, Hamburg und Köln folgten. Die Bünde veranstalteten Theateraufführungen, Konzerte, Vorträge und Kunstausstellungen. Beim JKRR mit Sitz in Köln wurde schwerpunktmäßig Theater gespielt; der Star des Kulturbundtheaters war die Schauspielerin Friedl Münzer, die vor 1933 und auch nach 1945 wieder beim Kölner Schauspielhaus engagiert war. Die Kölner Produktionen wurden auch in Aachen, Bochum, Duisburg, Essen, Krefeld und Wuppertal gespielt, später kamen Dortmund, Oberhausen, Gelsenkirchen, Recklinghausen und Düsseldorf als Spielorte hinzu. Alle Veranstaltungen fanden vor „geschlossener Gesellschaft“ statt: Nur Juden durften Mitglieder der Kulturbünde werden; sie erhielten mit einem Lichtbild versehene Ausweise, die allein zum Besuch der Veranstaltungen berechtigten. Auffüh-
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rungsorte in Köln waren die Synagoge in der Roonstraße, das Reichshallentheater, der Weiße Saal der Bürgergesellschaft und der Saal der „Rheinlandloge“ im jüdischen Gemeindehaus in der Cäcilienstraße. Die Veranstaltungen unterlagen der Zensur und strenger Überwachung: Stets waren Gestapo-Leute oder Abgesandte der örtlichen Nachrichtenstelle der NSDAP anwesend. Paul Moses machte in seinem Artikel deutlich, dass der JKRR nicht nur das Ziel der Arbeitsbeschaffung für die jüdischen Künstler verfolgte. Zugleich sollte der drohenden kulturellen Isolierung der jüdischen Bevölkerung entgegengetreten werden. Diesen Anspruch spiegelte die Programmgestaltung wider: Der Ausschluss aus der Gesellschaft sollte durch die Teilhabe an Werken der deutschen und europäischen Kultur durchbrochen werden. Auf dem Spielplan standen Werke von Goethe, Hauptmann, Schnitzler, Hoffmannsthal, Ibsen, Molière, Shakespeare oder Calderón, aber auch zahlreiche unterhaltsame Gesellschaftskomödien und Kriminalstücke. Das Ziel, dem Publikum Ablenkung von den drückenden Problemen des Alltags zu bieten, verfolgten auch die Musikveranstaltungen, die Vorträge, die Tanz-, Kabarett- und Varietévorstellungen sowie die Bunten Abende. Weniger erfolgreich waren Ausstellungen bildender Künstler. Von Anfang an wurde in den Kulturbünden die Frage diskutiert, wie in und mit Hilfe der Kunst eine neue jüdisch-kulturelle Identität gestiftet werden könne. Wie diese aussehen sollte und könnte – darüber gingen die Meinungen weit auseinander, So forderten nicht nur zionistische Gruppierungen eine stärkere Berücksichtigung „jüdischer“ Themen und Probleme. Der JKRR brachte sechs Stücke mit spezifisch jüdischer Thematik zur Aufführung, von denen „Der Pojaz“ von Georg Hirschfeld nach dem Roman von Karl Emil Franzos, „Joseph ben Matthias“, das Erstlingswerk des jungen Autors Julius Wolffsohn, und „Reubeni. Fürst der Juden“ nach einem Roman von Max Brod großen Erfolg beim Publikum hatten. Letztlich wurde die vieldiskutierte „Judaisierung des Spielplans“ von den Behörden erzwungen. Schiller und die Romantiker durften bereits 1934 nicht mehr aufgeführt werden, 1936 wurden Goethe und die Klassiker verboten, bald darauf durften gar keine deutschen Autoren mehr gespielt werden. Der Spielplan wurde im Laufe der Zeit ausgedünnt: Boulevard und Varieté dominierten nun, daneben wurde gelegentlich ein Kammermusikabend angeboten. Am Ende war nur noch die Aufführung unterhaltsamer Spielfilme möglich. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde die Arbeit der Kulturbünde weitergeführt, aber immer mehr zentralisiert. Am 11. September 1941 erfolgte das Verbot des Jüdischen Kulturbundes, das Eigentum wurde konfisziert, zahlreiche Künstler wurden verhaftet. Zeitzeugen berichteten, dass noch im Lager in Köln-Müngersdorf, in dem viele hundert Menschen vor der Deportation in die Vernichtungslager interniert waren, künstlerische Veranstaltungen stattfanden.
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Wenn ein Schiff vom Stapel läuft, ist sein Rohbau vollendet. Es erhält seinen Namen, feierliche Sprüche werden gesagt und dann wird festgestellt: es kann schwimmen. Es fährt hinaus auf die hohe See seinem Ziele entgegen. Soweit ist in diesem Augenblick der „Jüdische Kulturbund Rhein-Ruhr“. Juden in Rheinland und Westfalen, jetzt ist Eure Aufgabe gekommen! Ihr [im Original gesperrt] müßt sorgen, daß die Maschinen geheizt werden können! Wenn alle, die an dieser Fahrt teilnehmen wollen, wenn alle, deren Ziel das des Kulturbundes ist, Mitglieder werden, dann steht der Erfüllung unserer Aufgaben nichts mehr im Wege. Wir wollen jüdischen Künstlern Brot geben und dadurch, daß sie überhaupt wieder künstlerisch arbeiten können, ihnen materiell und seelisch helfen. Wir wollen den Meistern des Wortes Gelegenheit geben, zu uns zu sprechen. Jüdische bildende Künstler sollen uns ihr Werk zeigen. Uns selbst aber bereiten wir so den Weg, den wir nötiger denn je haben: uns durch den Genuß künstlerischer Dinge aufzurichten in Zeiten, die uns seelisch so tief niederbeugen. Wir wollen uns keineswegs beschränken auf jüdische Kunst, aber ausübend soll bei uns – wie es auch die behördliche Vorschrift verlangt – nur der jüdische Künstler sein. Niemand, der Mitglied unseres Bundes wird, darf glauben, damit eine wohltätige Geste getan zu haben. Alle sollen es wissen: Die Wohltat erweist Ihr Euch selbst!
Literatur Elfi Pracht, Jüdische Kulturarbeit in Köln 1933–1941, in: Geschichte in Köln 29 (1991), S. 119–155; Kurt Düwell, Der Jüdische Kulturbund Rhein-Ruhr 1933–1938. Selbstbesinnung und Selbstbehauptung einer Geistesgemeinschaft, in: Maritta Hein-Kremer/Hein Hoebink/Falk Wiesemann (Hg.), Landes- und Zeitgeschichte im Westen Deutschlands. Ausgewählte Beiträge von Kurt Düwell zu seinem 65. Geburtstag, Essen 2004, S. 219–236 (erstmals 1984); Dorothea Bessen, Der Jüdische Kulturbund Rhein-Ruhr 1933–1938, in: Alte Synagoge Essen (Hg.), Entrechtung und Selbsthilfe. Zur Geschichte der Juden in Essen unter dem Nationalsozialismus, Essen 1994, S. 43–65; Herbert Freeden, Jüdisches Theater in Nazideutschland, Tübingen 1964; Eike Geisel/Henryk M. Broder, Premiere und Pogrom. Der Jüdische Kulturbund 1933–1941. Texte und Bilder, Berlin 1992; Akademie der Künste (Hg.), Geschlossene Vorstellung. Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933– 1941. Ausstellungskatalog, Berlin 1992
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53 „Auch das Judentum kennt den unbekannten Soldaten“ – Die Einweihung des Ehrenmals für die jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Bocklemünd, 1934 Unseren Gefallenen. In: Gemeindeblatt für die jüdischen Gemeinden im Rheinland und in Westfalen Nr. 26, 13. Juli 1934 Bibliothek Germania Judaica, Köln
Am 13. Juli 1934 berichtete das „Gemeindeblatt für die jüdischen Gemeinden in Rheinland und Westfalen“ über die Einweihung des Ehrenmals für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitglieder der Kölner Synagogengemeinde auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Bocklemünd am 8. Juli 1934. Das Ehrenmal wurde von der Kölner Ortsgruppe des „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten“ (RjF) gestiftet und mit Unterstützung der Synagogengemeinde errichtet. Der Artikel im „Gemeindeblatt“ stellt die „kaum je erlebte Massenbeteiligung“ heraus, die auch ein historisches Foto belegt. Die Veranstaltung auf dem jüdischen Friedhof wurde zu einer Demonstration jüdischen Selbstbewusstseins gegen die Unterdrückungsmaßnahmen des NS-Staats. Nach einer religiösen Feier in der Friedhofshalle unter Leitung des konservativen Gemeinderabbiners Dr. Ludwig Rosenthal sang zunächst der Kinderchor der jüdischen Volksschule in der Lützowstraße die Hymne „Die Himmel rühmen“ von Ludwig van Beethoven. Danach ergriff der Kölner Kaufmann Albert David Süskind (1889–1951) das Wort. Süskind hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen, war Mitglied des Bundesvorstandes des RjF, Vorsitzender des RjF-Landesverbandes Westdeutschland, der Kölner Ortsgruppe des RjF und Mitglied der Repräsentantenversammlung der Kölner Synagogengemeinde. Süskind erinnerte zunächst an die 12.000 auf deutscher Seite im Ersten Weltkrieg getöteten jüdischen Soldaten und Offiziere. Er gedachte aber auch aller Juden in Vergangenheit und Gegenwart, die – „eine einzige, große gewaltige Vereinigung der Frontkämpfer“ – im Kampf gegen Unterdrückung, Diffamierung und Entrechtung bestehen mussten. Süskind griff damit – mit großem Pathos und eigenwilligen Metaphern – die beiden Hauptpunkte des Programms des 1919 gegründeten RjF auf: Erinnerung an die jüdischen Gefallenen und Abwehr antisemitischer Angriffe und Propaganda. Es gehörte großer Mut dazu, diese Anliegen auch nach 1933 noch öffentlich zu vertreten. Dass Süskind 1934 noch eine Zukunft für die jüdische Jugend „auf deutscher Erde“ sah, entsprach vermutlich der Ansicht einer Mehrheit der akkulturierten deutschen Juden – was sich jedoch innerhalb weniger Jahre als schmerzhafte Illusion herausstellen sollte. Nach Süskind sprach Leo Löwenstein, der Gründer und Bundesvorsitzende des RjF. Danach wurde das Ehrenmal eingeweiht, während ein Bläserchor das Lied „Ich
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hatt’ einen Kameraden“ intonierte und an den Masten Fahnen in den Farben der Stadt Köln und der kaiserlichen Armee hochgezogen wurden. Die Feier endete mit dem Kaddisch, dem Totengebet, gesprochen von dem liberalen Gemeinderabbiner Dr. Adolf Kober. […] Diese Klänge leiteten über zu der Ansprache des RjF-Vorsitzenden des Westdeutschen Landesverbandes und der Ortsgruppe Köln, Herrn Albert Süskind [im Original gesperrt]. „Nicht einen Trauertag wollen wir begehen – so sagte er u.a. – sondern einen Heldengedenktag. Nicht nur der 12000 Gefallenen gilt es zu gedenken, sondern aller, die im Zusammenhang mit den Ereignissen Helden im Leid geworden sind, im Leid um das Vaterland, im Leid um das Judentum, im Leid um ihr persönliches Schicksal. Ist es selbstsüchtig, wenn wir in dieser Stunde auch von unserem Judentum reden, nicht bloß von den 12000 Gefallenen, vor denen wir uns in Ehrfurcht neigen? Es kann nicht selbstsüchtig sein, es ist unser Recht, ist heilige Pflicht. Man darf es sagen, ohne damit Schlagworten zu verfallen: Seitdem wir in die Zerstreuung gingen, seitdem wir aufhörten, ein geschlossenes Volk zu sein, wurden wir gleichsam eine einzige, große gewaltige Vereinigung der Frontkämpfer. Immer wieder haben wir an der Front gestanden, der Front des Leides. Mehr als einmal sind wir angerannt gegen den Stacheldraht, mit dem eine uns wenig wohlwollende Umwelt uns absperren wollte von Freiheit und Licht. Mehr als einmal haben wir unsere Leiber den Sperrketten entgegengeworfen, um uns eine neue Zukunft zu schaffen. Auch das Judentum kennt den unbekannten Soldaten, den unbekannten Kämpfer seiner Weltgeschichte. Auf Massengräber können wir genugsam hinweisen: und will man auch noch die Orden und Ehrenzeichen nennen, die unsere Kämpfer erhielten, sie alle haben nur einen Namen: es ist die Kraft im Ueberwinden, die uns als heiliges Erbe von unseren Ahnen überliefert worden ist. Jüdische Jugend im deutschen Land „was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“1 Der Frontkämpfergeist all’ Deiner Ahnen ist auf Dich überkommen, damit Du Dir eine Zukunft aufbauen sollst als aufrechter Jude auf deutscher Erde. Wenn gerade in diesen Tagen wieder von den führenden Männern des Staates auf die Leiden, auf den Wagemut, auf das gläubige Hoffen in den vergangenen 14 Jahren hingewiesen wird2, so dürften wir offen bekennen: Solche 14 Jahre haben wir hundertmal, ja mehr als hundertmal erlebt. Lassen wir uns, meine lieben Kameraden, auch in dieser Zeit, die seelisch schwer auf uns lastet, nie das Wort eines Juden vergessen, der einmal davon gesprochen hat, dass wir Juden das vorwärtswuchtende Element der Weltgeschichte darstellen. Lassen Sie uns dieses Wortes stets gedenken, nicht mit Hochmut und Ueberheblichkeit, sondern aus der mit innerer Größe erwachsenden Bescheidenheit. […]
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Anmerkungen 1 Faust. Eine Tragödie. In: Goethes Werke. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz [Hamburger Ausgabe], Bd. 3, München 1998, Vers 682/683. 2 Anspielung auf die Mordaktion der deutschen Reichsregierung unter Adolf Hitler gegen SA-Führer (u.a. Ernst Röhm) und politische Gegner vom 30. Juni bis 2. Juli 1934, mit der sich Hitler innenpolitscher Gegner entledigte und die als „Staatsnotwehr“ gegen „hoch- und landesverräterische Angriffe“ legitimiert wurde.
Literatur Ulrich Dunker, Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1918–1938. Geschichte eines jüdischen Abwehrkampfes, Düsseldorf 1977; Rolf Vogel, Ein Stück von uns. Deutsche Juden in deutschen Armeen 1813–1976. Eine Dokumentation, Mainz 1977; Frank Nägler (Bearb.), Deutsche Jüdische Soldaten. Von der Epoche der Emanzipation bis zum Zeitalter der Weltkriege. Eine Ausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Zusammenarbeit mit dem Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam, und dem Centrum Judaicum, Berlin/ Hamburg u.a. 1996
Hinweis Das Ehrenmal befindet sich bis heute am ursprünglichen Ort am Ende der von der Friedhofshalle ausgehenden Mittelallee auf dem jüdischen Friedhof in Bocklemünd. Es ist ein monumentaler pyramidenförmiger Stein mit der Inschrift „Unseren Gefallenen – Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“. Der Entwurf stammte von dem RjF-Mitglied Ludwig Marx, der bei dem jüdischen Architekten Robert Stern Unterstützung fand. Für die Bildhauerarbeit war Géza Schwarcz verantwortlich, für die Kunstschmiedearbeiten Isaak Meyer. In unmittelbarer Nähe stehen auch die Tafeln mit den Namen der Gefallenen, die bis zum Novemberpogrom 1938 in der Synagoge in der Roonstraße aufgestellt waren (Kontakt unter der Telefonnummer 0221-508119). Auch auf zahlreichen anderen Friedhöfen jüdischer Großstadtgemeinden finden sich Gedenksteine und Ehrenmale. Auf allgemeinen Kriegerdenkmälern wurden die Namen der jüdischen Kriegsteilnehmer in der NS-Zeit häufig entfernt.
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Jüdisches Leben im NS-Staat
54 „Sei stark – fest bleibe dein Herz!“ – Der Duisburger Rabbiner Dr. Manass Neumark zum Neujahrsfest, 1935 Gemeindeblatt für die jüdischen Gemeinden in Rheinland und Westfalen Nr. 29, 26. September 1935 Bibliothek Germania Judaica, Köln
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ergriffen Rabbiner in jüdischen Zeitungen immer wieder das Wort, um den Mitgliedern ihrer Gemeinden Trost zu spenden und Mut zu machen. Insbesondere 1933, 1935 und unter starken Einschränkungen auch noch 1938 war dies der Fall. 1935 stand das jüdische Neujahrsfest – das nach dem jüdischen Kalender im Herbst gefeiert wird – unter dem Zeichen einer verschärften antijüdischen Politik. Die am 15. September auf dem Nürnberger Parteitag von den Nationalsozialisten verabschiedeten „Nürnberger Gesetze“ degradierten die deutschen Juden zu Bürgern und Menschen zweiter Klasse. Im öffentlichen wie im privaten Bereich wurde der Trennungsstrich zwischen ihnen und den „arischen“ Deutschen gezogen. Die politischen Verhältnisse veranlassten den Duisburger Rabbiner Dr. Manass Neumark (1875–1942), in seinem Artikel zum Neujahrsfest an die Botschaft des 27. Psalms anzuknüpfen. Dieser verheißt Gottvertrauen, Geborgenheit in Gott, die Gnade Gottes, Zukunftshoffnung in einer Situation der Bedrängnis, in einer feindlichen Umgebung. Der Glaube an Gott bringt Stärke und Sicherheit – „seelische Erhebung“ bzw. „Erneuerung“, wie es Neumark formuliert. Für Neumark, der in Duisburg eine vermittelnde Position zwischen den alteingesessenen deutschen Juden und den seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus Osteuropa eingewanderten Juden einnahm und Sympathien für die zionistische Bewegung entwickelte (vgl. Dokument 31), war seit 1933 die Periode der politischen und sozialen Gleichberechtigung der Juden in Deutschland eine abgeschlossene Episode. Diese habe, so Neumark, die Juden aus der sozialen Isolation herausgeführt, allerdings habe die Integration in die Umgebungsgesellschaft auch die jüdische Eigenart und das jüdische Selbstbewusstsein geschwächt; Austritte aus den jüdischen Gemeinden und aus dem Judentum waren vielfach die Folge. Die Zeit der Verfolgung seit 1933 deutete Neumark als eine Periode der Besinnung und des Zusammenschlusses der deutschen Juden. Religiöse und weltanschauliche Gegensätze seien überwunden worden, die hebräische Sprache und die jüdische Schule hätten an Bedeutung gewonnen. In der Auswanderung und in der Schaffung einer neuen Heimat in Palästina, auf dem „Boden der Väter“, sah Neumark die einzige positive Perspektive für die deutschen Juden. Wie zahllose andere Juden hatte Dr. Neumark, dem seine Gemeinde zum 60. Geburtstag 1935 eine Reise nach Palästina schenkte, keine Chance, sich in einem neuen Heimatland eine Lebensperspektive aufzubauen. Er kehrte nach Deutschland zurück,
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um seine seelsorgerischen Aufgaben weiter wahrzunehmen. 1942 wurde er im KZ Theresienstadt ermordet. […] Enger und enger wird der Lebensraum, in dem Generationen ihre Lebensarbeit freudig vollbracht haben. Und in diesen Zeiten entfaltete sich, zumal auch in unserer Gegend, die jüdische Gemeinde, nicht nur in der Zahl ihrer Mitglieder, sondern auch in Einrichtungen für das religiöse und geistige Leben, für den Unterricht und die soziale Fürsorge. Und nun ist diese Sicherheit dahin. Sorge ist in jedes Haus eingezogen, die Jugend schaut vergebens nach Berufen und Ausbildungsmöglichkeiten in der Heimat aus und muß, oft schweren Herzens, den Weg in die Ferne suchen. Ein großes Wandern [im Original gesperrt] hat begonnen, und die Gemeinden werden kleiner von Woche zu Woche, manche schon um ein ganzes Drittel ihrer Mitglieder. Da kann uns schon Bangigkeit ergreifen, und in seiner ganzen Innigkeit entringt sich mancher Brust das Gebetswort aus dem Psalm: „Mein Beistand bist du gewesen, verwirf mich nicht, verlaß mich nicht, Gott meiner Hilfe.“1 Aber wenn wir uns dieses Wort wirklich in seinem ganzen Ernst zu eigen machen, dann kann auch in uns die seelische Erhebung und Erneuerung sich vollziehen, von der unser Psalm ein so wunderbares Zeugnis ist. Und daß die Anfänge solcher Einkehr und Umkehr in unserer jüdischen Gegenwart zu erblicken sind, das gibt ihr mitten in ihren grenzenlosen Nöten Trost und Hoffnung. Wir fangen wieder an, unsere Zeit und unser Schicksal in dem großen Zusammenhang unserer jüdischen Geschichte zu sehen, aus dem sie sich mehr und mehr gelockert hatten. Auch unsere Zeit, so schwer sie ist, hat schon Beispiele und Vorbilder in der Vergangenheit, und Gott ist unser Beistand gewesen. Aber auch die Zeit verhältnismäßiger Ruhe und scheinbaren Friedens, und wenn sie auch ein Jahrhundert andauerte, an den Jahrtausenden jüdischer Geschichte gemessen, war sie nur eine Epoche, eine Episode. Sicherlich von hohem Wert durch die edlen Kulturgüter, die wir nach Jahrhunderte langer Abschließung aufnehmen konnten, durch die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die sich in ihr entfalten konnten. Aber unser jüdisches Erbgut ist schwächer und schwächer in uns geworden. Die Gemeinden haben vielfach an innerer Kraft des Zusammenhalts verloren, in so erschreckendem Maße, daß Einzelne sogar den Gedanken des Austritts aus der Jüdischen Gemeinde, schließlich gar aus dem Judentum erwägen, ja vollziehen konnten. Und jetzt, in der Stunde der Not, wissen wir, um wie viel wir damit ärmer und schwächer geworden sind. Und aus dieser Erkenntnis ist schon manche neue, kraftvolle Tat geworden. Ueber Gegensätze hinweg, die das Gemeindeleben zerklüftet haben, hat man sich die Bruderhand gereicht. Die Namen Zion und Jerusalem, oft nur noch träumerische Erinnerungsworte, sind mit Hoffnung und Zukunftsglauben erfüllt worden. Die hebräische Sprache, nur noch heilig als Sprache des Gotteshauses, und auch da immer weniger verstanden, erlebt das Wunder der Auferstehung. Die Jugend findet sich freudig zurück zu den alten Quellen der Lehre, zu der
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heiligen Stätte der Gemeinschaft. Die jüdische Schule, einst hart umkämpft und zaghaft gegründet, ist die seelische Heimat unserer Kinder geworden, eine wahre „Judenschule“, nicht eine, auf die man glaubt, geringschätzig herabblicken zu können, sondern eine Schule für das Judentum und für stolze junge Juden. Und die Heranwachsenden arbeiten kraftvoll daran, Körper und Geist im Freundeskreis zu stärken. Und so bahnt sich mitten in Drangsal und Weh ein seelisches Erstarken an. Zukunftsaufgaben erstehen zur Wiederaufrichtung und Belebung der Gemeinden, und als größte Aufgabe das allen gemeinsame Bemühen, neue Heimat, neues Land für die Zerstreuten und Verstoßenen zu finden, in dem sie arbeitend und schaffend zum Boden zurückkehren, zum Boden der Väter, Aufgaben, zu deren Erfüllung berghohe Schwierigkeiten zu überwinden sind, aber an deren Recht und Größe wir glauben, die unsere Hoffnung wecken, zu denen unsere Kräfte sich spannen. Ihrer Förderung, ihrer Durchführung wird das kommende Jahr, werden viele kommende Jahre gehören müssen. Aber daß wir sie vor uns schauen, dass wir ihnen fest und mutig entgegengehen, das soll das Werk der erhabenen Tage sein, an denen wir ins neue Jahr eintreten. In ihrer tiefen Stille, ihrer die Seelen aufwühlenden und doch Friede und Versöhnung bereitenden Botschaft sollen sie uns den Mut und die Kraft zuströmen lassen, wie einst dem Psalmisten, „dass wir wieder schauen Gottes Güte im Lande des Lebens“. Und wie für ihn, so tönt auch für uns durch alle Nöte der Zeit als letztes Wort der Ruf entgegen: „Hoffe auf Gott, sei stark – fest bleib dein Herz, hoffe auf Gott!“
Anmerkungen 1 Alle Zitate im Text stammen aus Psalm 27.
Literatur Günter von Roden, Die Geschichte der Duisburger Juden, 2 Bde., Duisburg 1986; Ludger Heid, „Wahrhaftiger Seelsorger mit heiterem Gleichmut“. Der Duisburger Rabbiner Manass Neumark, in: Jan-Pieter Barbian/Michael Brocke/Ludger Heid (Hg.), Juden im Ruhrgebiet. Vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Gegenwart, Essen 1999, S. 47–66
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55 Jüdische Selbsthilfe in Köln, 1930er Jahre Bruno Kisch, Wanderungen und Wandlungen. Die Geschichte eines Arztes im 20. Jahrhundert, Köln 1966, S. 274f.
Prof. Dr. Bruno Kisch (1890–1966) berichtet in seinen nach 1945 verfassten Memoiren über die Selbsthilfemaßnahmen der Kölner Synagogengemeinde während des Nationalsozialismus. Kisch, der in Prag geboren wurde und 1913 nach Köln kam, war niedergelassener Kardiologe und von 1925 bis zu seiner Entlassung 1936 Professor an der Kölner Universität. 1938 gelang ihm die Emigration in die USA, wo er bis 1962 als Professor an der Yeshiva University in New York tätig war. Kisch und seine Ehefrau Ruth Kisch-Arndt, eine bekannte Konzertsängerin, die nach 1933 nur noch im Rahmen des Jüdischen Kulturbundes auftreten konnte, erkannten nach der nationalsozialistischen Machtübernahme sehr bald, dass sich die Existenzbedingungen für Juden massiv verschlechterten. Mitte der 1930er Jahre unternahm Kisch eine Reise in die USA, wo ihm eine Stelle als Arzt in einem Kurort angeboten worden war; als sich die beruflichen Zukunftspläne zerschlugen, kehrte er nach Köln zurück. Dort engagierte er sich in den folgenden Jahren verstärkt in der Synagogengemeinde, die nach 1933 ein Netzwerk sozialer Institutionen unterhielt, die den jüdischen Menschen, die ihre Heimat nicht oder noch nicht verlassen konnten, das Leben erträglicher machten und sie auf die Auswanderung vorbereiteten. In der hier ausgewählten Passage beschreibt er einige dieser Institutionen. Bruno Kisch war unter anderem der letzte Kuratoriums-Vorsitzende des Reformrealgymnasiums „Jawne“ in Köln; in dieser Funktion erlebte er mit, wie durch die Initiative des Direktors Dr. Erich Klibansky zahlreiche jüdische Kinder nach England flüchten und auf diese Weise ihr Leben retten konnten. Zusammen mit Klibansky organisierte Kisch Fremdsprachen-Intensivkurse für Erwachsene, die zur Vorbereitung der Auswanderung dienen sollten. Die Handwerkerschule, die ebenfalls von Kisch mitinitiiert wurde, setzte den Gedanken der „Berufsumschichtung“ in die Praxis um: Man ging davon aus, dass junge Juden in den von ihnen bislang favorisierten intellektuellen und kaufmännischen Berufen im Ausland kaum eine Chance haben würden und bildete sie daher im Handwerk aus. Zudem wollte die Handwerkerschule jüdischen Schülern, die nach der Schulentlassung in der Regel arbeitslos wurden, eine sinnvolle Tätigkeit anbieten. Die Lehrwerkstätten der Kölner Synagogengemeinde gliederten sich in die „Vorlehre“ in der Lützowstraße für die 14 bis 18jährigen und die seit 1937 bestehende eigentliche Handwerkerschule in der Utrechter Straße für die Älteren. Bereits 1929 hatte Bruno Kisch zusammen mit dem Gemeinderabbiner Dr. Adolf Kober das Jüdische Lehrhaus ins Leben gerufen, eine Art jüdische Volkshochschule, die nun in den Zeiten der Entrechtung und Unterdrückung immer wichtiger wurde. Aufgabe des Jüdischen Lehrhauses war die Vermittlung des gesamten Spektrums jüdi-
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schen Wissens in Vorträgen und Kursen. Sprachkurse, Palästinakunde sowie Vorträge über die Lage in den Emigrationsländern dienten der Vorbereitung auf die Auswanderung. […] Ich hatte nicht viel Zeit in Köln, darüber nachzudenken, ob dieser Ausgang des Amerika-Projekts ein Segen oder ein Unglück war. In Köln selbst gab es mehr als genug zu tun. Hatte ich, wie erwähnt, in früheren Jahren unter Ausschluß der Öffentlichkeit gelebt, so war das jetzt ganz anders. Die Kölner jüdische Gemeinde verlor von ihren leitenden Persönlichkeiten viele durch Auswanderung, und die noch da waren, konnten sich nun, sozusagen in der belagerten Festung, den Aufgaben nicht entziehen, die ihnen zugemutet wurden. Unser Haus in der Kaesenstraße wurde mehr und mehr eine Zufluchtsstätte für Menschen, die Rat und Hilfe suchten. Das jüdische Realgymnasium der Stadt „Jawne“1 wurde ein Zentrum des kulturellen Lebens der jüdischen Gemeinde. Nach dem Tode des Gemeinde-Rabbiners Rosenthal2 wurde ich der letzte Vorsitzende des Kuratoriums dieser Schule, die unter der Leitung ihres vortrefflichen Direktors Klibanski3 ihr Bestes zur Erziehung der jüdischen Jugend tat. Klibanski, der später eine Überführung vieler Schüler der Jawne nach England organisiert hat, hat es leider verabsäumt, seine eigene Familie, Frau, Mutter und drei prächtige Söhne, in Sicherheit zu bringen, und ist mit ihnen allen ein Opfer der Nazi-Mörder geworden. Mit Klibanski organisierten wir sehr bald eine Erwachsenenschulung, vor allem Intensiv-Kurse in fremden Sprachen, für die wir eigens neue Lehrer engagierten, um den zur Auswanderung bereiten Menschen die wichtigste Hilfe, nämlich die Kenntnis der neuen Landessprache, zu vermitteln. Daß für die jüdische Jugend in Köln keine Zukunft mehr sei, erkannten wir bald, und ebenso die Wichtigkeit, gerade die jungen Menschen zu retten. Es war die Initiative von vier Menschen, für diese jungen Leute eine eigene Handwerkerschule zu schaffen, in der sie Schlosserei, Schreinerei und die Mädchen Nadelarbeit lernen konnten, um sich bei einer etwaigen Auswanderung sogleich in der Fremde durch ein ehrliches Handwerk ernähren zu können. Die Initiative zu dieser Idee, die von dem Kölner Zahnarzt Julius Schwarzschild4, dem Dermatologen Dr. H. Seligmann5, von Frau Szilard6 und mir ausging, fand nach anfänglichem Widerspruch die vollste Förderung und Unterstützung der Gemeinde und hat sich in der segensreichsten Weise ausgewirkt. Erst die Pogrom-Nacht des 10. November 1938 hat diese Werkstätten in bestialischer Weise zerstört und ausgeplündert. Ein anderes Unternehmen, das einen guten Teil meiner Zeit in Anspruch nahm, war das jüdische Lehrhaus. Der Kölner Gemeinde-Rabbiner Dr. Kober7 war sein erster Vorsitzender und ich der zweite. In jener Zeit der seelischen Mißhandlung aller deutschen Juden war eines der größten Probleme, den Menschen die innere Kraft und die Moral zu stärken, damit sie dem auf sie einstürmenden Unglück überhaupt widerstehen konnten. Viele nahmen sich das Leben, und daß es nicht mehr taten, war zum Teil ein Verdienst all der kulturellen Unternehmungen, die sich schnell in
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allen größeren jüdischen Gemeinden Deutschlands bildeten. Wir hatten einen Stab von Lehrern herangezogen, die in all den folgenden Jahren regelmäßige Kurse für die in großen Mengen herbeiströmenden lernbegierigen Erwachsenen bildeten. Jedes Jahr wurde eine Reihe bekannter Persönlichkeiten aus Deutschland zu EinzelVorlesungen im Lehrhaus eingeladen, und der Segen dieser Tätigkeit für die unglückliche jüdische Bevölkerung war unverkennbar. Ich selbst mußte in verschiedensten jüdischen Gemeinden Deutschlands ähnliche Vorträge von zeitgemäßem Interesse halten, zum Beispiel in Essen, in Dortmund, in Hamburg, in Berlin, in Nürnberg und vielen anderen Orten, die mir entfallen sind. Bei allen diesen Unternehmungen in Köln und außerhalb mußte man dauernd zwischen den Forderungen des jüdischen Lebens jener Zeit und den gehässigen Gefahren balancieren, die einem von der Geheimen Staatspolizei, der berüchtigten Gestapo8, drohten. Jeder falsche Schritt konnte einen ins Konzentrationslager bringen, und niemand wußte, ob er von da wieder zurückkehren konnte. […]
Anmerkungen 1 Das jüdisch-orthodox orientierte Reformrealgymnasium „Jawne“ in der St.-ApernStraße wurde 1919 auf Initiative der Rabbiner Dr. Emanuel Carlebach und Dr. Benedikt Wolf gegründet. Es war bis zu seiner erzwungenen Auflösung 1941/42 die einzige höhere jüdische Schule im Rheinland. 2 Der konservative Gemeinderabbiner Dr. Ludwig Rosenthal (1870–1938), seit 1897 in Köln tätig, amtierte an der Synagoge Glockengasse. Bis 1933 brachte er das Judentum einer breiteren Öffentlichkeit in Rundfunksendungen und in Artikeln in der „Kölnischen Zeitung“ nahe. 3 Dr. Erich Klibansky (1900–1942), Philologe, 1929–1941 Direktor des jüdischen Reformrealgymnasiums „Jawne“ in Köln. 1938/39 konnte er ca. 130 Schülerinnen und Schüler im Rahmen der „Kindertransporte“ nach England retten. Im Juli 1942 wurde er mit seiner Ehefrau Meta und den Söhnen Hans Raffael, Alexander und Michael nach Minsk deportiert und dort sofort ermordet. 4 Dr. Julius Schwarzschild konnte nach Palästina auswandern, sonst ist über ihn nichts bekannt. 5 Dr. H. Seligmann war 1934 im Vorstand der Kölner Ortsgruppe der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD); sonst ist über ihn nichts bekannt. 6 Frida Szilard war Mitglied der Repräsentantenversammlung der Kölner Synagogengemeinde, Vorstandsmitglied der Kölner Ortsgruppe der ZVfD und Vorsitzende des Vereins „Jugendamt der Synagogengemeinde e.V. Köln“. Ihr Ehemann, der ungarische Staatsbürger Aladar Szilard, war seit 1914 Leiter und Anteilseigner der „Rheinischen Filmgesellschaft Cöln/Rhein“. 1933 verlor Aladar Szilard seinen Posten. Ende 1936 wanderte das Ehepaar nach Haifa/Palästina aus.
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7 Der liberale Gemeinderabbiner Dr. Adolf Kober (1879–1958), von 1918 bis zu seiner Emigration 1939 in Köln tätig, amtierte in der Synagoge in der Roonstraße. Historiker des Kölner und rheinischen Judentums, 1940 Veröffentlichung einer englischsprachigen Gesamtdarstellung zur jüdischen Geschichte Kölns in den USA. 8 Die Geheime Staatspolizei (Gestapo), 1933 zunächst in Preußen, dann im gesamten Reichsgebiet tätig, ging aus der politischen Abteilung des Berliner Polizei-Präsidiums hervor und wurde nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten – vor allem in ihrer Bindung an die SS – zu einem der wichtigsten Unterdrückungs- und Vernichtungsinstrumente des NS-Staats. Die Kölner Staatspolizeistelle war Teil der Gestapohierarchie, an deren Spitze das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa) und seit 1939 das Reichssicherheitshauptamt stand; es folgten auf der Ebene der Provinzen die Staatspolizeileitstellen (für die Rheinprovinz mit Sitz in Koblenz, seit 1939 in Düsseldorf ), der schließlich die Staatspolizeistellen untergeordnet waren. Die Staatspolizeistelle Köln war für den Regierungsbezirk Köln, seit 1943 auch für den Regierungsbezirk Aachen zuständig; sie war zunächst im Polizeipräsidium in der Krebsgasse, seit 1935 im EL-DEHaus am Appellhofplatz untergebracht (heute NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, Internet: www.museenkoeln.de/ns-dok, 4.8.2010).
Literatur Zvi Asaria (Hg.), Die Juden in Köln von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Köln 1959, insbes. S. 320–400; Jüdisches Schicksal in Köln 1918–1933. Katalog zur Ausstellung des Historischen Archivs der Stadt Köln/NS-Dokumentationszentrum, Köln 1988; Dieter Corbach, Die Jawne zu Köln. Zur Geschichte des ersten jüdischen Gymnasiums im Rheinland und zum Gedächtnis an Erich Klibansky, Köln 1990; Ursula Reuter/Cordula Lissner, „Andererseits komme ich anfangs nächster Woche – nicht ohne Hoffnungen auf Verlegung meiner Schule nach Cambridge zurück“. Der Versuch, die Kölner Jawne nach England zu transferieren, in: Arbeitskreis der Gedenkstätten NRW (Hg.), Gewalt in der Region. Der Novemberpogrom 1938 in Rheinland und Westfalen, Düsseldorf 2008, S. 86–91
56 Spendenappell der Jüdischen Winterhilfe, 1937 Zum dritten Jahre der Jüdischen Winterhilfe. In: Mitteilungen der Jüdischen Winterhilfe, Köln, 8. Oktober 1937. Beilage zum Jüdischen Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen Nr. 36, 15. Oktober 1937 Bibliothek Germania Judaica, Köln
Die antijüdische Politik der nationalsozialistischen Regierung, insbesondere die schleichende „Arisierung“ jüdischen Eigentums und die Ausdehnung des Berufsbe-
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amtengesetzes (vgl. Dokument 49) auf weitere Berufsgruppen, verstärkten die Arbeitslosigkeit und soziale Verelendung der jüdischen Bevölkerung. Die Folgen dieser Entwicklung versuchte die „Jüdische Winterhilfe“ ( JWH) mit einer Fülle von Maßnahmen vor allem in den Wintermonaten abzumildern. Wie dringend notwendig die Unterstützung war, zeigt ein Aufruf zur dritten Hilfskampagne der JWH 1937/38 in den „Mitteilungen der jüdischen Winterhilfe“ vom 8. Oktober 1937, die dem in Köln erscheinenden „Jüdischen Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen“ vom 15. Oktober 1937 beigelegt war. Die sogenannte Winterhilfe wurde bereits in der Weimarer Republik von den großen Wohlfahrtsverbänden ins Leben gerufen. An ihr beteiligte sich auch die „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“, der 1917 geschaffene Zusammenschluss aller jüdischen Wohlfahrtsorganisationen, z.B. mit der Bereitstellung koscherer Verpflegung. 1933/34 wurde das vom NS-Regime initiierte „Winterhilfswerk des Deutschen Volkes“ gegründet. Als man 1935 alle Juden von den Spendensammlungen und den Leistungen des allgemeinen Winterhilfswerks ausschloss, wurde als Reaktion die „Jüdische Winterhilfe“ gegründet. Träger waren die „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“ sowie die regionalen und lokalen jüdischen Wohlfahrtsverbände. Ziel der Einrichtung war die Versorgung der jüdischen Bevölkerung mit Lebensmitteln, Kleidung, Wäsche, Schuhen, Brennmaterialien, Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen. Die Methoden des „Winterhilfswerks des Deutschen Volkes“ wurden auch von der „Jüdischen Winterhilfe“ übernommen: Lohn- und Gehaltsempfänger sowie Gewerbetreibende sollten jeweils einen bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens pro Wintermonat entrichten. Hinzu kamen Lebensmittelsammlungen („Pfundsammlungen“), Spenden für die Kleiderkammer, Bücherspenden, Sammlungen z.B. bei Veranstaltungen des „Jüdischen Kulturbundes“ sowie „Eintopfsammlungen“, bei denen besser gestellte Familien an bestimmten Sonntagen sich mit einem Eintopf als Mittagsmahl zufrieden geben sollten; die eingesparten Gelder wurden von den zahlreichen ehrenamtlichen Helfern kassiert. Die JWH wollte nicht nur materielle Not lindern, sondern auch die seelische Stabilität der diskriminierten Menschen fördern. Im Rahmen der Aktion „Freude im Winter“ wurden daher von Oktober bis März Konzerte, Vorträge, Dichterlesungen, Bridge- und Skatabende, Kindernachmittage oder Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit dem „Jüdischen Kulturbund“ angeboten. Außerdem wurden Freiabonnements jüdischer Zeitungen, gebrauchte Radioapparate und Bücher für Alleinstehende oder Kranke zur Verfügung gestellt. Schon zu Beginn der Tätigkeit des JWH im Jahr 1935 waren reichsweit 20,5 Prozent der jüdischen Bevölkerung unterstützungsbedürftig. Im Dezember 1936 mussten in Köln 17 Prozent der Mitglieder der jüdischen Gemeinde, 1937/38 20 Prozent unterstützt werden. Die Spendenbereitschaft der Kölner Gemeindemitglieder war beachtlich: So wurden im Winter 1937/38 20.000 Pfund Brot, 17.000 Pakete Mehl, 17.000 Pakete Zucker,
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16.000 Portionen Frischfisch, 20.000 Eier, 5.000 Liter Milch für Schulkinder und 8.000 Zentner Braunkohlenbriketts verteilt. Zum Pessach-Fest wurden 14.000 Pakete Mazzen, ungesäuerte Brote, verschenkt: „Unsere Mazzenverteilung, übereinander geschichtet, ergab 840 m oder 5 ½ mal die Höhe des Kölner Doms“ (Mitteilungen der Jüdischen Winterhilfe vom 8. Oktober 1937). Das Zentrallager in Köln versorgte in enger Zusammenarbeit mit der „Jüdischen Winterhilfe in der Rheinprovinz“ des Provinzialverbands für jüdische Wohlfahrtspflege in der Rheinprovinz mehr als 200 jüdische Gemeinden in der Region. Zum dritten Jahre der Jüdischen Winterhilfe Wieder stehen wir vor einer schweren Aufgabe! Über sechs lange, dunkle Wintermonate soll für fast dreitausend jüdische Menschen so gesorgt werden, dass Not und Elend, soweit es in Menschenkraft steht, gebannt sind. Es gilt dafür zu sorgen, dass kein Herd ohne Feuer und keine Familie ohne Nahrung ist. Es gilt, weit über tausend Familien das Gefühl zu vermitteln, dass sie trotz wirtschaftlicher Not, trotz grosser Sorgen nicht allein und verlassen dastehen. Es gilt, ihnen durch Gewährung von Nahrung, Kleidung und Brennmaterial zu jeder Zeit zu beweisen, dass alle diejenigen ihre Not mitfühlen und miterleben, denen das Schicksal freundlicher gegenübersteht. Im dritten Jahr der Jüdischen Winterhilfe diese Aufgabe zu meistern, sie nach Möglichkeit in der beispielhaften Form der Vorjahre, oder besser noch zu erledigen, erfordert Gebefreude, Opfersinn und Bereitwilligkeit zu jeder Stunde. In solchen Notzeiten wird der Wille zu helfen als eine Selbstverständlichkeit bei Jedem vorausgesetzt. Aus tausend und abertausend Kanälen muss sich die Hilfsbereitschaft zu einem grossen Strom vereinigen, der die Mittel für die Winterhilfearbeit in das Sammelbecken der Jüdischen Winterhilfe einfließen lässt. Wir richten an alle jüdischen Menschen in Köln die herzliche und dringende Bitte, ja, wir erheben die heilige Forderung, wir appellieren an das Gefühl der Menschlichkeit, der Ethik und der Moral, dass nicht ein einziger in unserer Stadt sich dem hohen Werk der Jüdischen Winterhilfe verschliesse. Es gilt, wo und wie es auch immer sein mag, die Not zu brechen und sie zu lindern, Notleidenden, Siechen, Kranken, Alten, Gebrechlichen, Erwerbslosen und Arbeitsunfähigen, Männern, Frauen und Kindern in vielfacher Art beizustehen. Die Vorstände der Kölner Synagogen-Gemeinden,1 die Vorstände sämtlicher jüdischer Vereine, Vereinigungen und Organisationen [vorstehender Absatz im Original hervorgehoben; die Bearb.] fassen zu Beginn dieses Winters ihren Wunsch und ihre Bitte, ihre Hoffnung und ihren Glauben in den Ausspruch zusammen: Gebt der Jüdischen Winterhilfe im dritten Jahre ihrer segensreichen Tätigkeit aus vollem Herzen und mit vollen Händen Geldspenden und Spenden jeder Art in einem
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Mass, das die oberste Grenze der Möglichkeiten darstellt, damit sie in gewissenhafter, geordneter Arbeit den Kampf gegen die Not erfolgreich führen kann. Wer das tut, beweist Judentum der Tat [im Original gesperrt]. Unsere Arbeit soll unter dem Motto stehen: Wir müssen helfen, wir wollen helfen.
Anmerkungen 1 In Köln gab es zwei jüdische Gemeinden, die Synagogengemeinde Köln („Einheitsgemeinde“) und die orthodoxe Gemeinde Adass Jeschurun; sie arbeiteten in der NS-Zeit im Bereich der Wohlfahrtspflege eng zusammen.
Literatur Salomon Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933–1939. Im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974, insbes. S. 161– 165; Wolf Gruner, Die Berichte über die Jüdische Winterhilfe 1938/39 bis 1941/42. Dokumente jüdischer Sozialarbeit zwischen Selbstbehauptung und Fremdbestimmung nach dem Novemberpogrom, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 1 (1992), S. 307–341; Christina Schwarz, Tschaikowsky für die Seele, Brote für den Hunger. Die Jüdische Winterhilfe – ihre materielle und ideelle Bedeutung für die jüdische Bevölkerung im Deutschland des Nationalsozialismus, in: ZEDAKA. Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit. 75 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland 1917–1992. Katalog zur Ausstellung im Jüdischen Museum der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt/M. 1992, S. 114–123
4. Bleiben oder Gehen – und wohin? 57 Ein rheinischer Kibbuz: Hachschara in Wesseling-Urfeld, 1936 Gemeindeblatt für die jüdischen Gemeinden in Rheinland und Westfalen Nr. 19, 8. Mai 1936 Bibliothek Germania Judaica, Köln
Der Artikel schildert den Besuch eines Berichterstatters des „Gemeindeblattes für die jüdischen Gemeinden in Rheinland und Westfalen“ im Hachschara-Zentrum „Kibbuz Bamaaleh“ (wörtl. „im Aufstieg“) in dem Dorf Urfeld bei Wesseling. Das hebräische Wort „Hachschara“ bedeutet Vorbereitung, Ausbildung; im zionistischen Sinn
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Mass, das die oberste Grenze der Möglichkeiten darstellt, damit sie in gewissenhafter, geordneter Arbeit den Kampf gegen die Not erfolgreich führen kann. Wer das tut, beweist Judentum der Tat [im Original gesperrt]. Unsere Arbeit soll unter dem Motto stehen: Wir müssen helfen, wir wollen helfen.
Anmerkungen 1 In Köln gab es zwei jüdische Gemeinden, die Synagogengemeinde Köln („Einheitsgemeinde“) und die orthodoxe Gemeinde Adass Jeschurun; sie arbeiteten in der NS-Zeit im Bereich der Wohlfahrtspflege eng zusammen.
Literatur Salomon Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933–1939. Im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974, insbes. S. 161– 165; Wolf Gruner, Die Berichte über die Jüdische Winterhilfe 1938/39 bis 1941/42. Dokumente jüdischer Sozialarbeit zwischen Selbstbehauptung und Fremdbestimmung nach dem Novemberpogrom, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 1 (1992), S. 307–341; Christina Schwarz, Tschaikowsky für die Seele, Brote für den Hunger. Die Jüdische Winterhilfe – ihre materielle und ideelle Bedeutung für die jüdische Bevölkerung im Deutschland des Nationalsozialismus, in: ZEDAKA. Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit. 75 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland 1917–1992. Katalog zur Ausstellung im Jüdischen Museum der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt/M. 1992, S. 114–123
4. Bleiben oder Gehen – und wohin? 57 Ein rheinischer Kibbuz: Hachschara in Wesseling-Urfeld, 1936 Gemeindeblatt für die jüdischen Gemeinden in Rheinland und Westfalen Nr. 19, 8. Mai 1936 Bibliothek Germania Judaica, Köln
Der Artikel schildert den Besuch eines Berichterstatters des „Gemeindeblattes für die jüdischen Gemeinden in Rheinland und Westfalen“ im Hachschara-Zentrum „Kibbuz Bamaaleh“ (wörtl. „im Aufstieg“) in dem Dorf Urfeld bei Wesseling. Das hebräische Wort „Hachschara“ bedeutet Vorbereitung, Ausbildung; im zionistischen Sinn
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war damit die Vorbereitung auf die „Alija“, die Auswanderung nach Palästina, gemeint. Hintergrund für die Einrichtung auch der Urfelder Hachschara im Jahre 1934 waren die restriktiven britischen Einwanderungsbestimmungen. Bevorzugt durften Personen in das Mandatsgebiet Palästina einreisen, die eine für das Leben im Auswanderungsland brauchbare praktische Ausbildung vorweisen konnten. Ein Hachschara-Zentrum war also eine Einrichtung, die junge Leute auf die Auswanderung vorbereitete, indem sie ihnen Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelte, auf Grund. derer sie eine landwirtschaftliche oder handwerkliche Tätigkeit in Palästina ausüben konnten. Auch wenn der Artikel ein sehr positives Bild von dem Gemeinschaftsgeist im Urfelder Kibbuz, von dem Lerneifer und der Bereitschaft zeichnete, als Pionier am Aufbau eines jüdischen Staates in Palästina mitzuwirken, so darf doch nicht verkannt werden, dass die Einrichtung als Reaktion auf die antijüdische Politik der Nationalsozialisten gegründet worden war, die jungen Menschen bald alle Chancen versperrte, eine Berufsausbildung oder ein Studium zu absolvieren. Getragen wurde das Hachschara-Zentrum in Urfeld von der sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation „Hechaluz“ (wörtlich „Der Pionier“) die das Wohnhaus, den früheren Dietkirchener Hof, von dem Urfelder Architekten Albrecht Doering angemietet hatte. Der Textilfabrikant Arthur Stern aus Rheydt finanzierte das Projekt. Auch die Reichsregierung, die die Auswanderung der Juden aus Deutschland zunächst förderte, zahlte in der ersten Zeit Zuschüsse. Der Urfelder Kibbuz war eine sogenannte „Älteren-Hachschara“, in der junge Menschen ausgebildet wurden, die älter als 18 Jahre waren. Anfang 1938 wurde er in eine „Mittleren-Hachschara“ für 15bis 17-Jährige umgewandelt. Die Gruppen bestanden jeweils aus 50 bis 70 Personen. Jungen waren in der Mehrheit, da Mädchen auch die Beschäftigung in einer jüdischen Familie als hauswirtschaftliche Ausbildung anerkannt wurde. Die Mitglieder arbeiteten zunächst auf den umliegenden Ländereien der Bauern und Gärtner. Seit 1937 durfte die Ausbildung nur noch in einem einzigen großen Obstanbaubetrieb erfolgen, der von Josef Giesen, bis 1933 Gartendirektor bei der Stadt Köln, geleitet wurde. Abends fanden sich die jungen Leute zu theoretischem Unterricht (Hebräisch, Palästinakunde, Studium der marxistischen Klassiker u.a.) zusammen. Beziehungen der Hachschara-Bewohner zur jüdischen Gemeinde in Wesseling ergaben sich aufgrund der weltanschaulichen Orientierung der jungen Menschen kaum. Die Kontakte zur Urfelder Dorfbevölkerung waren Zeitzeugenberichten zufolge freundlich. Bald nach dem Novemberpogrom 1938 löste sich die Einrichtung auf. Auswanderer der ersten Jahrgänge gründeten in Palästina/Israel den Kibbuz Afek. Urfeld liegt rheinaufwärts, gleich oberhalb Wesseling, unmittelbar am Rhein. Der Weg, der von der Landstraße dorthin führt, läuft auf einen schönen alten Herrensitz aus. Wir durchschreiten das große eiserne Tor und werden mit einem freudigen
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„Schalom“1 und einem kräftigen Händedruck begrüßt. Hier leben 70 junge Menschen auf Hachschara2. Wir betreten zunächst die große Küche zur ebenen Erde, an die die Wirtschaftsräume angeschlossen sind, so eine große Spülküche, eine Waschküche, Vorratsräume u.a.m. Die Chawera3 vom Küchendienst zeigt uns mit berechtigtem Stolz ihr Reich mit dem großen Herd, auf dem in riesigen Töpfen das Mittagsmahl brodelt und schmort. In der Vorratskammer stehen riesige Mengen Butterbrote bereit für den Nachmittag, „denn heute“, so sagt sie, „wird mehr gegessen, als sonst, nicht nur weil Sabbat4 ist, sondern weil wir heute mehr Zeit haben.“ Nicht alle Tage gibt es, wie heute, außer einer guten kräftigen Suppe, Fleisch, Kompott und dazu Brot, aber die Kost ist immer reichlich und kräftig, und ein großer Gemüsegarten trägt das seine zur Vervollständigung der Verpflegung bei. Von da aus treten wir in einen großen Eßsaal mit einer Vierfensterfront zum Rhein. Ein großer Leuchter schmückt den Raum, und die Schmalseite wird von einem Bild eingenommen, das, wie das aus der hebräischen Widmung hervorgeht, ein Geschenk der Frankfurter Hachschara ist. Es stellt in lichten kräftigen Farben drei Landarbeiter dar, wie sie bei Sonnenaufgang gemeinsam zur Arbeit auschreiten.Um diese Stunde ist der Saal noch leer. Dagegen wird im anschließenden Gemeinschaftsraum Schach gespielt und gelesen. Hier steht auch ein Klavier. Die Räume sind wohnlich, sauber und einfach eingerichtet, fast immer mit Möbeln und Gegenständen, wie sie der Zufall zur Verfügung gestellt hat. Die Chawerim haben alles gut instandgesetzt, vom Dach bis zum Keller, wobei ihnen ihre handwerkliche Tüchtigkeit wohl zustatten kam. Alle werden umgeschichtet, die meisten von ihnen waren Kaufleute, einige gehörten den freien Berufen, andere dem Handwerkerstande an; auch ein früherer Schauspieler ist unter ihnen. Die meisten Zimmer der weitläufigen Gebäude (es sind zwei) dienen als Schlaf- und Unterkunftsräume, aber bevor wir diese betreten, finden wir die meisten Jungen und Mädchen in mehreren Iwritkursen5 vereint. […] Jeder weiß, daß in einer Gemeinschaft von 70 Jungen und Mädels, nur wenige Mädchen und einige Ehepaare, strenge Zucht und Ordnung walten muß und daß die Menschen sich verstehen und ertragen lernen müssen, um demnächst ihr Gemeinschaftsleben in Erez Israel6 fortzusetzen. Eine Gruppe von 30 Jungen und Mädels ist bereits drüben in Erez Israel, und nicht ohne Stolz erzählt man uns, daß die HOG7 sich sehr lobend über ihre Ausbildung und geistige Schulung ausgesprochen hat, auch was die hebräische Vorbildung anbelangt. […] „Warum treiben Sie nicht in diesen Abendstunden landwirtschaftliche Fachstudien?“ so fragen wir. „Das tun wir während der Arbeitsstunden. Die, welche im Gemüse- und Obstgarten arbeiten, werden auch theoretisch gut geschult, und die beim Bauer zur Arbeit gehen, müssen es mit der Arbeit lernen, denn der Bauer ist nicht gewöhnt, viel zu sprechen und zu erklären, und was würde es uns auch wohl nützen, denn drüben ist alles ganz anders. Die Erde ist anders, die Pflanzen, ja selbst die Arbeitsgeräte sind nicht die gleichen. Wir müssen dort alles von neuem lernen,
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und es ist schon viel gewonnen, wenn wir uns hier an die schwere Landarbeit gewöhnen.“ Es sind verhältnismäßig wenig Mädchen in der Hachschara, denn neuerdings werden bei der großen Nachfrage nach Hausgehilfinnen die meisten in Haushaltungen untergebracht. Diese Arbeit wird ihnen als Hachschara angerechnet. Sie müssen vorher 6 Monate lang Mitglieder des Hechaluz8 gewesen sein. [...] Unser Rundgang, der fast eine Stunde gedauert hat, wird durch das Zeichen des Gongs, der zum Mittagessen einlädt, beendet. Wir werden dringend und vielfach gebeten, daran teilzunehmen und gestehen, daß es uns schwer gefallen ist, die Einladung auszuschlagen, besonders, als wir das schöne und freudige Bild des vollbesetzten Speisesaales sahen. An langen, sauber gedeckten Tischen saßen freudige, hungrige Menschen. Die Speisen wurden zugetragen, und diese kurze Zeit, die bei allen Table d’hotes9 zu den wenigst angenehmen gehört, wurde in schöner Weise ausgefüllt durch den gemeinsamen Gesang eines hebräischen Liedes. Als wir alle gut bedient sahen, verließen wir mit guten Wünschen und herzlichem Händedruck diese Stätte fruchtbaren jüdischen Aufbaues. Zurückwandernd gewahrten wir eine ausgedehnte, herrlich bestellte Obst- und Gemüsewirtschaft. Hier hatte sich ein früherer Gartenbaudirektor10 angesiedelt, bei dem eine Kolonne von etwa 15 Jungen und Mädels täglich zur Arbeit geht. Sie alle arbeiten kostenlos und erhalten vielfach, aber nicht immer, beim Bauer dafür ein kleines Taschengeld. Ihr Lohn ist: erfüllte Pflicht und die Hoffnung auf ein arbeitsreiches jüdisches Leben in Erez Israel.
Anmerkungen 1 Wörtl. Frieden, Begrüßungsformel. 2 Wörtl. Vorbereitung, hier Vorbereitung der jungen Auswanderer auf ein Leben in Palästina. 3 Chawera: Gefährtin, Genossin (m. Chawer, pl. Chawerim), in der zionistischen Arbeiterbewegung als Anrede benutzt. 4 Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 5 Iwrit = (modernes) Hebräisch. 6 Wörtl. Land Israel. 7 Abkürzung für „Hitachduth Olej Germania“, Vereinigung der Einwanderer aus Deutschland, 1932 gegründete Selbsthilfeorganisation der deutsch-jüdischen Einwanderer in Palästina.
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8 Zionistisch-sozialistische Organisation, die seit 1921 ihre Mitglieder auf ein Leben als Handwerker oder Arbeiter in Palästina vorbereitete. Die Mitglieder arbeiteten vor allem in der Landwirtschaft und organisierten sich genossenschaftlich in Kibbuzim. Der „Hechaluz“ war ein Träger der Hachschara-Arbeit in Deutschland. 9 Gäste-Tafel. 10 Josef Giesen (um 1888–1962), Gartenbaustudium in Geisenheim, seit 1918 bei der Gartenverwaltung der Stadt Köln, 1922–1926 Betriebsdirektor der Gartendirektion Köln, 1926–1933 Gartendirektor in Köln, nach seiner Entlassung 1933 selbständiger Gartengestalter. 1945 wurde er von Konrad Adenauer zum Beigeordneten berufen (Garten- und Friedhofsamt, Tiefbauamt und Schuttabfuhr), nach seinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst 1950 war er als Kreisbeauftragter für Naturschutz und Landschaftspflege im Stadtkreis Köln tätig. Ich danke Herrn Thomas Deres vom Historischen Archiv der Stadt Köln für die Hinweise zur Biographie Giesens.
Literatur Wolfgang Drösser, Vom Leben der Juden in Wesseling – eine Dokumentation über 600 Jahre Geschichte, Wesseling 2004 (hier auch Erinnerungen von ehemaligen Mitgliedern des Kibbuz); Christoph Ehmann, Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wesseling, Wesseling 1980, S. 53–60; Norbert Zerlett, Die Urfelder „Vorbereitungs“-Schule, in: Heinrich Linn u.a., Juden an Rhein und Sieg, Siegburg 21984, S. 204f.; Zeitzeugenbericht Hannah Levy, in: Barbara Becker-Jákli (Bearb.), Ich habe Köln doch so geliebt. Lebensgeschichten jüdischer Kölnerinnen und Kölner, Köln 1993, S. 231–246; Juliane Wetzel, Auswanderung aus Deutschland, in: Wolfgang Benz (Hg.), Die Juden in Deutschland 1933– 1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München 1988, S. 413–498
58 Ein Brief aus Essen nach England, 1939 Handschriftlicher Brief von Selma Krieger an Klara Kleimann, heute Chaja Chowers, und Paula Waldhorn, heute Pnina Galili, 28. März 1939 Alte Synagoge Essen, Archiv AR. 0997
Am 28. März 1939 verfasste Selma Krieger, die mit ihrer Familie in Essen wohnte, einen Brief an ihre Freundinnen Klara Kleimann, heute Chaja Chowers, und Paula Waldhorn, heute Pnina Galili, die nach England ausgewandert waren. Die Mädchen kannten sich aus der zionistischen Jugendbewegung in Essen. Selma Krieger wurde am 3. November 1923 als Tochter von Jakob und Henny Krieger in Essen geboren; sie hatte eine ältere Schwester Frieda und einen jüngeren
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Bruder Sally. Ihre Eltern waren beide nach dem Ersten Weltkrieg ins Ruhrgebiet gekommen. Die Familie lebte streng religiös und besuchte die „kleine Synagoge“ in der Hauptsynagoge in der Steeler Straße (vgl. Dokument 32). Selma ging zur jüdischen Volksschule in der Sachsenstraße. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten stürzte die Familie in große wirtschaftliche Schwierigkeiten, da der Vater sehr bald arbeitslos wurde. Auswanderungspläne ließen sich nicht realisieren. Mit der Zeit verließen immer mehr Freundinnen und Freunde von Selma Essen. Als während der sogenannten Polen-Aktion vom 28. Oktober 1938 bis zu 17.000 in Deutschland lebende Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit an die polnische Grenze abgeschoben wurden, gehörten auch 22 Mitglieder der Familie von Selma Krieger zu den Deportierten. Da Jakob Krieger die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, blieb seine engere Familie von der Abschiebung verschont. Nach dem Novemberpogrom am 9./10. November 1938 vereinsamte Selma Krieger immer mehr. Der Turnklub „Hakoah“ und der zionistische Jugendbund „Habonim Dror“, deren Mitglied sie war, wurden verboten. Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte Selmas Schwester Frieda nach England emigrieren, um dort als Hausangestellte zu arbeiten. Sie war das einzige Familienmitglied, das die Schoa überlebte. Selma Krieger, ihr Bruder Sally und ihre Eltern wurden am 27. Oktober 1941 in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz) deportiert. Dort verliert sich die Spur der Familie. Auch Selma Kriegers Briefpartnerinnen Klara Kleimann und Paula Waldhorn, beide Jahrgang 1923, stammten aus „ostjüdischen“ Familien und wurden in Essen geboren. Beide wurden zusammen mit ihren Verwandten im Oktober 1938 an die polnische Grenze abgeschoben. Im Februar 1939 konnten Klara Kleimann und Paula Waldhorn zusammen mit drei anderen Jugendlichen im Rahmen eines Kindertransports von Lodz aus nach England emigrieren. Klara Kleimann, die heute in Israel lebt, hat das Schicksal ihrer Eltern nie klären können. Paula Waldhorns Mutter wurde in Stanislawow in der Ukraine zusammen mit anderen Jüdinnen und Juden erschossen. Sie selbst wanderte schon 1940 von England nach Palästina weiter und lebt heute in einem Kibbuz in Israel. Der Brief von Selma Krieger an ihre beiden Freundinnen berichtet von der trostlosen Situation jüdischer Menschen in Essen, von Existenzvernichtung und Perspektivlosigkeit, von den wachsenden Schwierigkeiten, ein religiöses Leben aufrechtzuerhalten, der zunehmenden Isolation, der Trennung von Familienangehörigen und Freunden durch die Emigration. Selma Krieger sehnte sich danach, das Schicksal der Freundinnen zu teilen. Sie interessierte sich für fremde Länder. Die Familie plante, nach Australien auszuwandern. Andererseits war Selma froh, noch mit ihrer Familie zusammenzuleben. Sie bedauerte ihre Freundinnen, die ihre Familien in Unsicherheit zurücklassen mussten und die sich in der „neuen Heimat“ noch nicht einleben konnten.
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Meine lb. Klärchen und lb. Paula! Heute erhielt ich Euren so lang ersehnten Brief, mit welchem ich mich natürlich sehr gefreut habe. Und deshalb ihn sofort beantworten will. Lb. Klärchen und lb. Paula, ich kann Euch ganz gut verstehen, wenn Ihr sagt: „Wir sind noch nicht glücklich.“ Selbstverständlich, wenn man seine Eltern in so einem Elend zurück läßt. Aber was soll man machen, wenn das Schicksal der Juden heute so gekommen ist, daß alles zerrissen wurde. Dann muß eben jeder selbst versuchen, sich zu helfen. Ich bin, wie Ihr wisset, G. s. D. noch mit meinen Eltern und Geschwistern zusammen. Aber glaubet mir, meine Eltern ärgern sich sehr, daß wir noch hier sind. Keiner in meinem Alter, den ich gut kenne, ist hier. Ich bin den ganzen Tag zu Hause und arbeite selbstverständlich im Haushalt, aber sonst habe ich keine Beschäftigung. Keine Schule – kein Bund1 – keinen Menschen, mit dem man immer zusammen gewesen ist, und über dieses und jenes gesprochen hat. Ja, es ist mir sehr einsam. Wir hoffen aber, daß unsere ganze Familie bald nach Australien auswandern kann. Ihr schreibt mir, daß Ihr in zwei Jahren wieder England verlassen müßt, aber wohin dann? Wenn Eure Eltern keine Möglichkeit haben, von Zbaszyn2 heraus zu kommen. Und übrigens geltet Ihr doch als Staatenlose?3 Ich verstehe Euch nicht ganz recht. Seid Ihr bei Pflegeeltern? Aber das Komitee4 oder die Regierung zwingt Euch, zur Schule zur gehen. Oder ist es anders? Wie habt Ihr Euch in der Gemeinschaft eingelebt? Was macht Ihr Schabbes5 und Sonntag? Gibt es nichts? Der „Habonim“6, wie ich aus Eurem Schreiben ersehe, ist ganz anders wie bei uns. Überhaupt nicht chaluzisch7 eingestellt. Es scheint so wie hier der „Tanzclub“ oder irgend so etwas zu sein. Wie ist Euer Zukunftsplan? 2 Jahre in England lernen, und dann…? Beschreibt mir mal im nächsten Brief London an sich. Wie die Menschen dort sind. Ich stelle mir natürlich in jedem Land die Menschen anders vor. (Nicht nur im Aussehen, sondern in der ganzen Art.) Lb. Paula, ich möchte Dir auf Deine Fragen Antwort geben. Von Horst Kaufmann und Walter Dublon weiß ich gar nichts. Ich habe sie zum letzten Male auf dem Mühlenplatz, als die Abschiebung der Polen war, gesehen. Von der Zeit ab besteht auch der Bund nicht mehr. Ich schätze, daß sie schon längst weg sind. Ebenso von Sallo, ich kann Dir nicht genau mitteilen, ob er noch hier ist, ich weiß nur, daß er letztens in der Gustafstraße, welche Nummer, kann ich Dir nicht sagen, gewohnt hat. Ich stehe mit Lenchen in Briefaustausch. Ich freue mich jedes Mal riesig, wenn ich von irgendjemand aus unserer Gruppe Post bekomme. Wir sind weit über Grenzen getrennt, hoffe und glaube aber, daß wir [uns] noch genau so nah stehen wie früher. Sonst kein Neues. Es ist bald Pessach8 und wir haben keine Mazzoth9 u. s. w. Wir bekommen auch sicher keine. Woher? In der Hoff-
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nung, daß es Euch gut geht, will ich schließen. Mit vielen herzlichen Grüßen und Küssen. Eure Euch nie vergessende Selma Ich muß hinzufügen: Vielen Dank für die Karte, die ich von Dir, Paula, vom Schiff bekommen habe. Meine Eltern + Geschwister danken bestens für die ihr übersandten Grüße und erwidern diese.
Anmerkungen 1 Selma Krieger und ihre Briefpartnerinnen gehörten in Essen dem Jugendbund „Habonim Dror“ und dem Turnklub „Hakoah“ an, die beide zionistisch orientiert waren. Die Veranstaltungen fanden im jüdischen Jugendheim statt, das 1930/32 nach Entwürfen des Berliner Architekten Erich Mendelsohn errichtet worden war. 2 Zbaszyn (Zboncyn, dt. Bentschen), polnische Grenzstadt, in der sich die von den deutschen Behörden im Oktober 1938 abgeschobenen Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit sammelten. 3 Die aus Deutschland abgeschobenen Jüdinnen und Juden hatten in der Regel die polnische Staatsangehörigkeit. Falls es ihnen jedoch bis zum 29. Oktober 1938 nicht gelang, ihre Pässe zu verlängern, verloren sie diese und galten dann als staatenlos. 4 Die wichtigste Hilfsorganisation für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland in Großbritannien war das 1933 gegründete „Jewish Refugees Committee“, zeitweise auch „Jewish Aid Committee“ genannt. Für ausgewanderte Kinder waren das „Children’s Inter-Aid Committee“ und das „Movement for the Care of Children from Germany“ zuständig, die sich nach 1939 zum „Refugee Children’s Movement“ (RCM) zusammenschlossen; die Organisationen unterhielten auch lokale Komitees. 5 Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 6 Siehe oben, Anm. 1. 7 Wörtl. Pionier, gemeint ist ein landwirtschaftlicher Pionier beim Aufbau Palästinas. 8 Das siebentägige Fest erinnert an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. 9 Mazzen (hebr. Mazza, pl. Mazzot) sind ungesäuerte Brote, die an Pessach gegessen werden zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, der in solcher Hast erfolgte, dass man das Brot nur ungesäuert backen konnte (Exodus 12, 33-34).
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Literatur Bernhard Graf von Schmettow, Jüdische Kindheit in Essen. Zur Rekonstruktion der Lebensverhältnisse jüdischer Kinder in Essen 1920 bis 1945, Diss. Essen 2007; Alte Synagoge Essen (Hg.), Entrechtung und Selbsthilfe. Zur Geschichte der Juden in Essen unter dem Nationalsozialismus, Essen 1994; Wolfgang Benz (Hg.), Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrungen deutscher Juden in der Emigration, München 1991; Brita Eckert (Bearb.), Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933–1941. Die Geschichte einer Austreibung, Frankfurt/M. 1985; Rolf Vogel, Ein Stempel hat gefehlt. Dokumente zur Emigration deutscher Juden, München/Zürich 1977
5. Der Novemberpogrom 1938 59 Eine Nachbarin sagt vor Gericht über die Verwüstung der Synagoge in Grevenbroich-Hemmerden aus, 1938 Zeugenaussage zu den Geschehnissen am 10. November 1938 im Rahmen eines Prozesses in der Nachkriegszeit, 19. Juli 1946 und 19. Dezember 1947 LAV NRW R, Rep. 10, 201, Bl. 7 VS u. 7 RS sowie 18 VS und 18 RS
Der Pogrom vom 9./10. November 1938 wurde seit dem Frühjahr durch eine verschärfte antijüdische Politik der Reichsregierung vorbereitet. Zu den Maßnahmen gehörten vor allem die zwangsweise Anmeldung jüdischen Vermögens und die Beantragung einer besonderen Kennkarte, die mit dem Buchstaben „J“ gekennzeichnet war. Auch die sogenannte Polen-Aktion Ende Oktober 1938, die überraschende Abschiebung von bis zu 17.000 polnischen Juden, die zum großen Teil bereits seit langem in Deutschland lebten, gehörte zur Strategie einer rigiden antijüdischen Politik. Die Polen-Aktion war der Anlass für das Attentat des jungen Herschel Grynszpan auf den Gesandtschaftssekretär vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris. Die Tat eines verzweifelten Jugendlichen, dessen in Hannover lebende Familie von der Polen-Aktion betroffen war, nutzte die nationalsozialistische Regierung zu einer beispiellosen Hetze gegen die Juden. Die Nachricht vom Tode des Diplomaten lieferte Propagandaminister Joseph Goebbels den Vorwand, am vorgerückten Abend des 9. November vor den in München versammelten Parteiführern die Parole zum Pogrom auszugeben. Innerhalb weniger Stunden waren die Anweisungen auf der lokalen Ebene angekommen und fanden allerorten willige Vollstrecker, obwohl es auch erhebliches Kompetenzgerangel und widersprüchliche Informationsstände bei den
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NS-Organisationen gab. Die Reichsregierung war daran interessiert, den Pogrom als „spontanes“ Aufbegehren des deutschen Volkes gegen das „jüdische Verbrechen“ darzustellen; daher hatten sich SA- und SS-Verbände und auch die Gremien der Partei bei den Aktionen offiziell zurückzuhalten. In der Nacht vom 9. zum 10. November und am folgenden Tag brannten in ganz Deutschland jüdische Gotteshäuser. Allerorts wurden Synagogen und Gemeindeeinrichtungen demoliert und geplündert und unzählige Geschäfte und Privatwohnungen verwüstet. Neuere Schätzungen gehen von 1.800 bis 2.000 zerstörten jüdischen Gotteshäusern im damaligen Reichsgebiet aus. Circa 30.000 jüdische Männer wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Auch in dem Dorf Hemmerden, das heute zu Grevenbroich gehört, wurde die kleine, etwas zurückgesetzt liegende Synagoge in der Gartenstraße, der heutigen Mauristraße 6, attackiert. Da in einem benachbarten Haus Benzin gelagert wurde, wagte man in Hemmerden allerdings nicht, die Synagoge anzuzünden. Sie wurde aber verwüstet, ebenso die Privathäuser jüdischer Familien. In Hemmerden wurden, wie an anderen Orten, Täter aus den Nachbarorten eingesetzt, weil sich damit die Chancen reduzierten, dass sie am Tatort erkannt wurden. Auf Initiative der Alliierten, häufig auch auf Anzeigen von Betroffenen wurden in der Nachkriegszeit zahlreiche Gerichtsverfahren gegen Tatbeteiligte der Novemberpogrome angestrengt. In den meisten Prozessen traten Zeugen auf, die vorgaben, sich an nichts erinnern zu können, da das Geschehen so lang zurückliege. Die Täter stritten in der Regel ohnehin alles ab. Die Voruntersuchung und das Gerichtsverfahren zu den Vorgängen in Hemmerden wurden durch eine Strafanzeige in Gang gesetzt, die die in den Ort zurückgekehrte Marianne Stern, geb. Winter (vgl. Dokument 74), am 25. Juni 1946 gegen die Brüder A.B. und H.B. stellte. Marianne Stern hatte als einzige ihrer Familie die Schoa überlebt. In dem Verfahren sagte die Zeugin A. H., die 1938 mit ihrem Mann im Vorderhaus der Synagoge gewohnt hatte, am 19. Juli 1946 und am 19. Dezember 1947 aus. Sie gab einen vergleichsweise präzisen und nüchternen Bericht von den Ereignissen. Nur einmal brachen Emotionen hervor, als sie ihre Sorgen über das Schicksal der jüdischen Familie Rübsteck formulierte. Das Verfahren vor der I. Strafkammer des Landgerichts Mönchengladbach wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit endete am 31. Mai 1948 mit der Verurteilung eines Angeklagten zu zehn Monaten. Drei andere wurden zu sechs Monaten Haft verurteilt, ein Angeklagter wurde freigesprochen. Nur A.B. musste seine Strafe fast vollständig absitzen. Die Synagoge in der Mauristraße 6 ist erhalten und wird heute als Wohnhaus genutzt.
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Am 19. Juli 1946 sagte Frau H. vor Gericht folgendes aus: […] An dem fraglichen Tage, als die Synagoge in Hemmerden zerstört wurde, war es abends sehr unruhig. Ich wohne vor dem Eingang zur Synagoge und war mit meinem Mann bereits zu Bett gegangen. Als dann auch unser Hund unruhig wurde, glaubte mein Mann, der Hund hätte kein Wasser und stand auf, um dem Hund Wasser zu bringen. Hierbei ging er auch in den Garten und hörte dort, dass es im Dorf sehr unruhig war. Als er wieder zurückkehrte, sagte er zu mir: ‚Was mag doch nur im Dorf los sein? Da ist ein Gebummse und Spektakel. Ich gehe aber nicht dahin!’ Wie spät es war, weiß ich nicht. Als es dann noch schlimmer wurde, bin ich auch noch aufgestanden, weil wir doch nicht schlafen konnten. Nach kurzer Zeit kamen ein oder zwei Kraftfahrzeuge in die Gartenstraße gefahren. Sie kamen aus der Pfannenstraße und hielten vor unserem Haus. Ob es Lastwagen oder Pkw. waren, kann ich nicht sagen. Ich habe sie nicht gesehen, sondern nur gehört. Da ich nicht wußte, was los war, hatte ich zuviel Angst, um nachzusehen. Nachdem die Autos gehalten hatten, klopfte es an unserem Fenster. Als mein Mann es öffnete, stand der T. B. vor unserem Fenster und sagte zu meinem Mann: ‚J., Du mußt uns Gelegenheit geben, daß wir in die Synagoge können!’ Mein Mann gab ihm zur Antwort: ‚T., ihr habt in der Synagoge nichts zu tun!’ B.: ‚Wir haben oder wir handeln nach höherem Befehl!’ Daraufhin kamen eine ganze Reihe Männer durch das Tor in unseren Hof, überstiegen den Drahtzaun, welcher zum Eingang zur Synagoge führte. Einige Minuten nachher hörten wir schwere Schläge, sodaß wir das Empfinden hatten, als wenn die Synagogentüre eingeschlagen würde. Das dann folgende Spektakel war derart schlimm, dass man es nicht beschreiben kann. Es wurde in der Synagoge alles zerstört, was nur zerstört werden kann. Wer die Synagogentüre eingeschlagen hat, weiß ich nicht. Ich habe nicht gesehen, daß B. etwas wie ein Beil oder eine Axt oder ähnliches in der Hand hatte. B. hat sich auch bei uns ein derartiges Werkzeug nicht geliehen. Meines Wissens waren die übrigen Männer, die bei B. waren, alle aus Kapellen. Mein Mann, welcher vor etwa 3 Jahren gestorben ist, hat einen Teil davon gekannt, weil er in Kapellen geboren war. Ich kannte die Männer, außer B., nicht. Ich kann mich auch nicht entsinnen, wer noch dabei gewesen sein könnte. Auch von Hemmerden habe ich keinen gesehen oder irgendwie an der Stimme oder sonst erkannt. Ich glaube nicht, daß aus Hemmerden jemand dabei gewesen ist. […] Dann stiegen die Männer wieder in den Wagen ein. Hierbei sagte ich noch zu B.: ‚Ihr werdet doch den armen Strängen, (womit ich die Familie Rübsteck meinte), nicht auch noch etwas tun?’ Er erwiderte noch, daß diesen nichts passiere. Mein Mann machte mir nachher noch Vorwürfe, weil er befürchtete, daß es bei den Sa.-Leuten1 so ausgesehen hätte, als ob ich die Juden in Schutz nehmen wollte. Die Rübstecks2 sind vom Ältesten bis zum Jüngsten, in ihrer Jugend immer bei uns ein- und ausgegangen und waren mir immer lieb und wert. Ich machte mir deshalb an diesem Abend wirklich Sorgen um die Familie.
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Am 19. Dezember 1947 ergänzte Frau H. ihre Aussage: Mein Mann schloss daraufhin [nach dem Gespräch mit A. B.; die Bearb.] die Fenster und begab sich in den Hof. Vorher war er noch einmal kurz ins Schlafzimmer zu mir hineingekommen und sagte zu mir: es sei ein großer Betrieb bei uns auf dem Hof. Inzwischen waren nämlich die Leute von den Autos aus durch unser Tor in unseren Hof hineingegangen. Ich erhob mich dann auch und begab mich ebenfalls in den Hof, wo ich mich mit meinem Mann in der Nähe der Synagoge hinstellte. Ich konnte erkennen, daß viele Personen dort herumliefen. Ich hörte dann auch, daß vom Anstecken der Synagoge die Rede war, worauf ich noch warnend rief, man solle dies nur ja unterlassen, denn sonst würde unsere alte Scheune mit in Brand gehen. Es lägen auch noch auf der anderen Seite Benzinfässer und ein Auto stünde in der Garage. Daraufhin war vom Anstecken nicht mehr die Rede. Vielmehr hörte ich, daß die Synagoge aufgeschlagen wurde und daß in ihr schließlich ein starker Krach entstand. Wie ich am anderen Tag festgestellt habe, hat man alles kurz und klein geschlagen. Während dieser Zertrümmerung stand der T. B. neben uns. Ich habe ihn zwar nicht in aller Deutlichkeit erkannt, d. h. ich habe nicht mit den Augen festgestellt, daß es sich um ihn handelte, aber an der Stimme habe ich ihn wohl erkannt. B. war mir nämlich seit langem bekannt, weil er mit dem Eierwagen herumfuhr. Nach kurzer Zeit kamen die Leute von der Synagoge zurück, gingen wieder durch unseren Hof durch und fuhren mit den Autos weg. B. begab sich mit ihnen weg. Mein Mann und ich sahen anschließend einmal in die Synagoge durch die zerschlagene Türe hinein, wo wir ein brennendes Buch liegen sahen. Ich meine, daß einer nachher noch hineingegangen ist, um dieses Feuer auszutreten. Einzelheiten weiß ich darüber jedoch nicht. Danach gingen wir wieder zu Bett und unterhielten uns über den Vorfall. […]
Anmerkungen 1 SA (Sturmabteilung), 1920 als parteieigener Ordnerdienst gegründet, paramilitärische Organisation der NSDAP. Die SA war ein wichtiges Gewaltinstrument bei der Eroberung und Befestigung der innenpolitischen Macht der Nationalsozialisten in der Zeit vor und während der Machtübernahme. 1934 weitgehend entmachtet, diente sie danach vor allem der vormilitärischen Ausbildung von Jugendlichen und veranstaltete Sammlungen. Am Novemberpogrom 1938 war die SA maßgeblich beteiligt. 2 Die Familie bestand aus dem Viehhändler Jakob Rübsteck, seiner Ehefrau Henriette, geb. Blum, den Söhnen Paul, Kurt, Fritz, Ernst, der Tochter Sabine und der Enkelin Hannelore. Die gesamte Familie wurde deportiert, nur Kurt Rübsteck überlebte.
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Literatur Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Regierungsbezirk Düsseldorf, Köln 2000, S. 444–448; Hubert Cames, Geschichte der Juden in Greven-. broich. Fragmente sieben jüdischer Gemeinden, bearb. von Ulrich Herlitz, hg. vom Pfarrgemeinderat St. Peter und Paul Grevenbroich, Grevenbroich 1994; Anselm Faust (Bearb.), Die „Kristallnacht“ im Rheinland. Dokumente zum Judenpogrom im November 1938, Düsseldorf 1987; Rita Thalmann/Emmanuel Feinermann, Die Kristallnacht, Frankfurt/M. 1987; Walter H. Pehle, Der Judenpogrom 1938. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völkermord, Frankfurt/M. 1988
60 Der Düsseldorfer Rabbiner Dr. Max Eschelbacher über Ablauf und Folgen des Novemberpogroms, 1938 Max Eschelbacher, Der zehnte November 1938. Nach dem Druck in: Falk Wiesemann, Der zehnte November 1938. Rabbiner Max Eschelbacher und der Pogrom in Düsseldorf, in: Geschichte im Westen 2 (1987), S. 219–221
Dr. Max Eschelbacher (1880–1964), seit 1913 als Nachfolger von Dr. Leo Baeck Gemeinderabbiner in Düsseldorf, schrieb seinen Bericht über die Ereignisse während des Pogroms am 9./10. November 1938 bald nach seiner Emigration nach England, vermutlich im Frühsommer 1939, nieder. Das 42 Seiten umfassende Manuskript wird im „Institute of Contemporary History and Wiener Library“ in London aufbewahrt. Teile des Textes wurden bereits mehrfach abgedruckt, so schon kurz nach dem Krieg am 29. Oktober und 5. November 1948 im „Jüdischen Gemeindeblatt für die britische Zone“. 1987 wurde erstmals der gesamte Bericht nach einer im Stadtarchiv Düsseldorf befindlichen Kopie veröffentlicht. Rabbiner Dr. Max Eschelbacher wurde in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in Düsseldorf festgenommen und in das Polizeigefängnis gebracht. Den Beginn der Verwüstung seiner Wohnung erlebte er noch mit, die Zerstörung der Synagoge und der anderen Einrichtungen nicht mehr. Eschelbacher verbrachte zwölf Tage im Polizeigewahrsam, seit dem vierten Tag in einer Einzelzelle. Dass der Pogrom in ganz Deutschland stattfand, wusste er, da ihm gestattet wurde, die „Frankfurter Zeitung“ zu lesen. Am 22. November 1938 wurde Eschelbacher aus dem Gefängnis entlassen. Von einer Haft im KZ Dachau, die so viele seiner Gemeindemitglieder traf, blieb er verschont. Offenbar war den Behörden an der schnellen Auswanderung des Rabbiners gelegen, von der man eine weitere Desintegration der Gemeinde erwartete. Der erste Weg nach seiner Entlassung führte Eschelbacher zur einst so prachtvollen Synagoge
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in der Kasernenstraße, seiner Wirkungsstätte, die nur noch eine Ruine war. Die ToraRollen, das Allerheiligste, waren geschändet und zerstört worden. Auch vor dem alten Friedhof, dem Gemeindehaus, der jüdischen Schule, dem Waisenhaus in Dinslaken und dem Altersheim in Essen-Werden waren die Gewalttäter nicht zurückgeschreckt. Eschelbachers eigene Wohnung war völlig zerstört; er teilte damit das Schicksal der Mehrzahl der jüdischen Familien in Deutschland, deren Lebenswerk und Eigentum vernichtet worden waren. Die Läden, Kaufhäuser und Gewerbebetriebe mussten auf Anordnung der Reichsregierung von den Juden selbst mit Brettern verkleidet werden. Erschütternd sind Eschelbachers Aussagen zu den Misshandlungen und Todesfällen während des Pogroms, die bis heute im öffentlichen Bewusstsein kaum präsent sind. Nach dem Novemberpogrom begann die letzte große Auswanderungs- bzw. Fluchtwelle aus Deutschland. Das Gemeindeleben wurde zwar aufrechterhalten, die Gottesdienste in kleinem Rahmen wieder gefeiert, die Auflösungstendenzen aber waren nicht mehr aufzuhalten. […] Bisher hatte ich nur gewußt, was mir selbst widerfahren ist. Was sonst im Hause und in Düsseldorf geschehen, sollte ich jetzt erst erfahren. Ein großer Teil unserer Möbel war vernichtet, ein großer Teil meiner Bibliothek durch das Fenster hinaus auf die Straße geworfen worden. Unsere Bilder waren zerschnitten oder zerrissen, viele Scheiben zertrümmert, viele Möbel hoffnungslos beschädigt. In vielen Häusern war die Vernichtung so vollkommen gewesen, weil die Plünderer zweimal gekommen waren, einmal in der Nacht zum Donnerstag und am Donnerstag selber. Auch uns hatte das gedroht. Ein Hausbewohner, der über uns wohnte, ein Beamter im Landeshaus, war den ganzen Tag über auf der Treppe gestanden und hatte angekündigt, daß eine Bande vor vier Uhr kommen werde. Er war dann sehr nervös geworden, als sie so lange nicht kamen. Kurz vor vier erschienen sie wirklich. Aber Berta1 zeigte ihnen die Wohnung und sagte ihnen mit großer Energie: „Hier gibt es nichts mehr zu zerstören“, worauf sie abzogen. Es ist schrecklich, einen solchen Nachbarn zu haben. Meine Bücher und Akten, auch die kostbare Privatkorrespondenz aus annähernd vierzig Jahren, alles war durch die Doppelfenster auf die Straße hinausgeworfen worden und bildete dort einen hohen Haufen. Den Anfang hatte ich selber noch in der Nacht gesehen. Am Donnerstag hatten Leute Papiere und Bücher mitgenommen, aber im Laufe des Vormittags kamen andere und zündeten das Ganze an. Es brannte viele Stunden lang. Ich bin froh darum. Besser verbrannt, als in fremden Händen. Spätere Fälle haben gezeigt, daß der eine oder andere in Untersuchungshaft genommen worden ist auf Grund von Papieren, die vor seinem Hause auf der Straße aufgelesen worden waren. Es hatte viele Tote gegeben. Was sich in der Nacht abgespielt hatte, war ein Pogrom gewesen. Paul Marcus, der Inhaber des Cafés Karema2, flüchtete, als sein Restaurant vollkommen zerstört war. Er ist in der Nacht erschossen worden und wurde am
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frühen Morgen vor der Wohnung von Dr. Max Löwenberg, am Martin-Lutherplatz3, tot aufgefunden. In Hilden4 sind Frau Isidor Willner und ihr Sohn Ernst erstochen worden. Ferner sind dort Carl Herz und Nathan Mayer entweder erstochen oder erschossen worden. Der 68jährige Dr. Sommer in Hilden, ein Mann, der in Mischehe lebte und sich nie um Jüdisches bekümmert hatte, ging, als sein Haus geplündert und er selber schwer mißhandelt worden war, mit seiner Frau und ihrem alten, ebenfalls arischen Mädchen in den Garten. Dort haben sich alle drei vergiftet. Die Leichen von Marcus, Herz und Mayer sowie von Frau Willner und Ernst wurden zunächst beschlagnahmt. Berta wandte alle ihre Energie an, um bei der Gestapo5 die Freigabe für die Beerdigung zu erwirken. Sie wurde endlich bewilligt. Die Leichen kamen von der Polizei in verschlossenen Särgen an. Sally Rosenbusch6 sprach die Gebete, ich war ja im Gefängnis. Kein Jude sonst durfte an diesem späten Abend des 15. November, beinahe acht Tage nach ihrer Ermordung, zugegen sein. Dafür waren mehrere Beamte der Gestapo da. Keine Untersuchung wegen Mordes ist eingeleitet worden. Noch zwei andere Tote hat die Nacht des Zehnten November gefordert. Stefan Goldschmidt7 und Lewkowitz8, beide in den Siebzigern. Ob auch sie erschlagen worden sind oder ob sie durch den Schrecken einen Herzschlag bekommen haben, konnte ich nicht erfahren. Viel mehr sind verwundet worden. […] Der erste Gang über die Straße nach meiner Entlassung zeigte ein verändertes Straßenbild. Eine Menge Läden waren mit Brettern verschalt. Es waren die jüdischen Geschäfte, die zwölf Tage vorher demoliert und zum Teil ausgeraubt waren. Gleich am 12. November war eine Verfügung ergangen, wonach den jüdischen Mietern, Hausbesitzern und Ladenbesitzern die Auflage gemacht wurde, die zerschlagenen Scheiben auf ihre Kosten unverzüglich wieder herzustellen. Die Ladenfenster wurden daraufhin mit Brettern verdeckt. Vor der Beerdigung des Herrn vom Rath9 durchzogen Trupps von S.A.10 die Straßen und strichen die Bretter schwarz an, so daß sie nunmehr wie eine Trauerdekoration aussahen. In den Häusern sah es furchtbar aus. Es war sinnlos zerstört worden. Bei Schneider Albert Wolf11, Dorotheenstraße, einem ganz armen Mann, hatten die S.A. Leute Salzsäure in die Betten geschüttet und Möbel und Werkzeuge entzwei geschlagen. Bei Dr. Zaudy12, Bismarckstraße, aber auch bei anderen, waren Möbel und Flügel zum Fenster hinausgeworfen worden. Bei blutarmen Leuten in der Hüttenstraße war der ganze Hausrat zum Fenster hinausgepflogen, bei Ärzten waren die kostbaren Instrumente zerstört worden. Dr. Max Löwenberg, der eine ungewöhnliche Röntgeneinrichtung besaß, sagte mir, sie sei vollkommen zertrümmert, aber mit einer solchen Sachkenntnis, daß nur ein Arzt, der mit einem solchen Apparat umgehen konnte, die Anweisung dazu gegeben haben konnte. Alle führenden Männer von Düsseldorf waren an diesen Zerstörungen beteiligt. Es wurde mir gesagt, bei der Demolierung des Modegeschäfts von Steinberg13, Königsallee, habe Oberbürgermeister Dr. Otto14 die Leitung übernommen. Besonders schwer wurden die getroffen, bei denen die
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Plünderer zum zweiten Male, am Donnerstag Nachmittag erschienen. Bei ihnen ist alles zerschlagen worden. Manche sind auch verschont geblieben. Am ehesten passierten solche glücklichen Fügungen in Oberkassel. Wieder anderen sind nicht nur die Möbel zertrümmert und die Wohnung demoliert worden, sondern das Haus ist ihnen über dem Kopf angezündet worden. So geschah es meinem Kollegen Hahn15 in Essen und meinem Kollegen Auerbach16 in Recklinghausen. Beide wohnten im Hause der jüdischen Gemeinde. Hahn und Frau Auerbach wurde eine Frist von zehn Minuten gegeben, um zusammenzupacken, was in einem Handkoffer untergebracht werden konnte. Der S.S. Mann17, der im Hause von Hahn die Brandlegung kommandierte, war außerdem noch unverschämt gegen Hahn, bis das Töchterchen sagte: „Vater, reg Dich nicht auf. So gehen sie heute eben mit Juden um“. Bei diesen Worten erlitt der S.S. Mann eine Art von Zusammenbruch und war von da an menschlicher, soweit ihm das möglich war. Auerbach war in der Nacht in Berlin. Seine Frau und sein elf Monate altes Töchterchen konnten nur noch mit Mühe aus dem in Brand gesteckten Gemeindehaus gerettet werden. Sie kamen ins Gefängnis. In dem Augenblick, in dem sie zwei Tage darauf entlassen wurden, wurde der inzwischen aus Berlin zurückgekehrte Mann eingeliefert. Er konnte Frau und Kind wenigstens ein paar Minuten lang auf diese Weise sehen. Das Kind konnte nach der Entlassung zehn Tage lang nicht gehen und nicht sprechen. In Düsseldorf sah das Gemeindehaus in der Grafen[berger] Allee furchtbar aus. […] Mein erster Weg führte mich zur Synagoge. Ein hoher Bretterzaun umgab sie, die Scheiben waren geborsten, die Kuppel noch auf dem Dach, aber ausgebrannt, die Sparren ragten zum Himmel empor. In der Pogromnacht war eine Bande dort erschienen, einige sollen Ärzte von den Städtischen Krankenanstalten, einige Landgerichtsräte gewesen sein. Aus der Flora-Apotheke am Schadowplatz waren Mengen von Benzin herbeigeschafft worden, von anderen Orten Teer. Die Thorahrollen18 wurden aus dem Aron Hakkodesch19 geholt und im Hof angezündet, wobei die Mordbrenner um sie herumtanzten, zum Teil in den Ornaten der Rabbiner und Chassanim20. Dann wurde alles Holz, insbesondere der Dachstuhl und die Bänke mit Benzin und Teer bestrichen und angezündet. Bald brannte der Dachstuhl lichterloh. So ist unsere Synagoge verbrannt worden. Andere Synagogen sind gesprengt worden. Die Leichenhalle auf unserem alten Friedhof ist zerstört worden, dem neuen Friedhof ist nichts geschehen, der Friedhofswärter soll der Bande gesagt haben, er sei städtisches Eigentum. An anderen Orten ist man anders verfahren. Es ist mir gesagt worden, in Hannover sei der Friedhof mit Tanks21 zerstört worden. Die Anstalten sind so wenig verschont worden wie die Synagogen oder die Privathäuser. Die alten Leute auf der Rosenau, dem Altersheim der Synagogengemeinde Düsseldorf bei Werden, auf dem Pastoratsberg22, die Waisenkinder in Dinslaken mußten Hals über Kopf in der dunklen Novembernacht Altersheim oder Waisenhaus verlassen und sehen, wo ein Unterkommen für sie gefunden werden konnte. Unsere Volksschule ist über Nacht vernichtet worden. […]
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Anmerkungen Dr. Bastian Fleermann, dem stellvertretenden Leiter der Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf, danke ich ganz herzlich für die Informationen für die Kommentierung des obigen Textes. 1 Berta Eschelbacher, geb. Kahn (1884–1962), Ehefrau von Rabbiner Dr. Max Eschelbacher. 2 Paul Marcus (1882–1938), Inhaber des Café Karema in der Marienstraße 3. Seine Ehefrau Hedwig, die man während der Pogromnacht schwer misshandelt hatte, wurde in der Praxis von Dr. Löwenberg behandelt. Dort wurden beide von SS-Leuten angeschossen, Hedwig Marcus (geb. 1893 in Solingen) überlebte schwer verletzt, ihr Mann starb. 3 Dr. Max Löwenberg (geb. 1880 in Kördorf, 1939 Emigration nach England). Am Martin-Luther-Platz 20 befanden sich die Wohnung und das sehr gut ausgestattete Labor Dr. Löwenbergs. 4 Zu den Gewalttaten in Hilden, die in ihrer Brutalität einzigartig sind, vgl. den unten zitierten Artikel von Wolfgang Horn. 5 Die Geheime Staatspolizei (Gestapo), 1933 zunächst in Preußen, dann im gesamten Reichsgebiet tätig, ging aus der politischen Abteilung des Berliner Polizei-Präsidiums hervor und wurde nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten – vor allem in ihrer Bindung an die SS – zu einem der wichtigsten Unterdrückungs- und Vernichtungsinstrumente des NS-Staats. Die Kölner Staatspolizeistelle war Teil der Gestapohierarchie, an deren Spitze das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa) und seit 1939 das Reichssicherheitshauptamt stand; es folgten auf der Ebene der Provinzen die Staatspolizeileitstellen (für die Rheinprovinz mit Sitz in Koblenz, seit 1939 in Düsseldorf ), der schließlich die Staatspolizeistellen untergeordnet waren. 6 Sally Rosenbusch (geb. 1864-Emigration nach Amsterdam), langjähriges Mitglied der Düsseldorfer Chewra Kaddischa (Beerdigungsbruderschaft). 7 Stefan (Salomon) Goldschmidt (1864–1938), Kaufmann. 8 Zu dem genannten Herrn Lewkowitz konnten keine Angaben recherchiert werden 9 Ernst Eduard vom Rath (1909–1938), Diplomat und Botschaftssekretär in Paris. Nach seiner Ermordung wurde er im Rahmen eines Staatsbegräbnisses im Beisein Adolf Hitlers am 17. November 1938 in Düsseldorf beigesetzt. 10 SA (Sturmabteilung), 1920 als parteieigener Ordnerdienst gegründet, paramilitärische Organisation der NSDAP. Die SA war ein wichtiges Gewaltinstrument bei der Eroberung und Befestigung der innenpolitischen Macht der Nationalsozialisten in der Zeit vor und während der Machtübernahme. 1934 weitgehend entmachtet, diente sie danach vor allem der vormilitärischen Ausbildung von Jugendlichen und veranstaltete Sammlungen. Am Novemberpogrom 1938 war die SA maßgeblich beteiligt. 11 Albert Wolf (1870–1942 KZ Theresienstadt), Uhrmachermeister. 12 Dr. Carl Zaudy (1874–1943 KZ Theresienstadt), seit 1901 Facharzt für innere Krankheiten in Düsseldorf.
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13 Albert Steinberg (1884–1927) hatte das Modegeschäft in der Königsallee gegründet; vgl. das folgende Dokument. 14 Dr. Hellmuth Otto, 1937–1939 kommissarischer Oberbürgermeister von Düsseldorf. 15 Dr. Hugo Hahn (1893–1967), liberaler Rabbiner in Essen. 16 Dr. Selig Auerbach (geb. 1906), 1934–1938 orthodoxer Bezirksrabbiner mit Sitz in Recklinghausen. 17 SS (Schutzstaffel), 1925 als Adolf Hitlers Leibgarde gegründet, Elitetruppe der. NSDAP. Nach dem erfolgreichen Machtkampf mit der SA 1933/34 wurde die SS zum Hauptinstrument des NS-Regimes bei der Ausübung von Terror, z.B. als Wachpersonal in den KZ. Im 1939 eingerichteten Reichssicherheitshauptamt waren Kriminalpolizei, Gestapo und Sicherheitsdienst der SS zusammengefasst. Während des Zweiten Weltkriegs war die SS die treibende Kraft in der Rassen-, Siedlungs- und Sicherheitspolitik, besonders bei der Ermordung der europäischen Juden und bei zahllosen anderen Verbrechen in den von den Deutschen überfallenen und besetzten Ländern. 18 Die Fünf Bücher Mose. Für den Gebrauch im Gottesdienst werden die Texte unter Beachtung strenger Richtlinien auf eine Pergamentrolle geschrieben. 19 Tora-Schrein oder -Schrank an der Ostwand der Synagoge, in dem die Tora-Rollen aufbewahrt werden. 20 Chasan (pl. Chasanim), Kantor, Vorbeter in der Synagoge. 21 Panzer. 22 Das erhaltene Gebäude liegt heute auf dem Gebiet der Stadt Essen.
Literatur Bastian Fleermann/Angela Genger (Hg.), Novemberpogrom 1938 in Düsseldorf, Essen 2008 [hier auch Neuabdruck der Erinnerungen von Max Eschelbacher]; Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf (Hg.), Verfolgung und Widerstand in Düsseldorf 1933–1945. Ausstellungskatalog, Düsseldorf 1990; Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf (Hg.), Aspekte jüdischen Lebens in Düsseldorf und am Niederrhein. Redaktion und Bearbeitung: Angela Genger und Kerstin Griese, Düsseldorf 1997; Barbara Suchy, Düsseldorf, Donnerstags, den 10. November 1938. Texte, Berichte, Dokumente, hg. von der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf und dem Stadtarchiv Düsseldorf, Düsseldorf 1989; Hannelore Lutz/Andrea Sonnen, Spuren jüdischen Lebens in Düsseldorf. Ein Stadtrundgang, hg. vom Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten NRW e.V. und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Düsseldorf e.V., Düsseldorf 1997; Hildegard Jakobs/Carolin Huber/Vera Luchtenberg, Zeitspuren in Düsseldorf. Ein Stadtführer, hg. vom Förderkreis der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Düsseldorf 2002; Wolfgang Horn, Zur Geschichte der Juden in Hilden. In: Hildener Jahrbuch, N.F. II (1979), S. 75–150
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61 Die „Arisierung“ eines Modehauses in Düsseldorf, 1938/39 Schreiben des Rechtsanwalts Dr. G. an das Amtsgericht in Düsseldorf, 29. August 1939 LAV NRW R, Rep. 65, 4431, Bl. 95-97 Die im Quellentext erwähnten Eigennamen wurden gemäß den Richtlinien des LAV NRW anonymisiert.
Das renommierte Modehaus Steinberg in der Königsallee 46 in Düsseldorf, das von den Geschwistern Richard Magnus und Anna Steinberg, geb. Magnus, geführt wurde und bis zum Herbst 1938 vergleichsweise gute Ergebnisse erzielte, wurde während des Pogroms am 9./10. November 1938 weitgehend zerstört. Das Inventar und die Einrichtungsgegenstände wurden vernichtet, die teilweise beschädigten Warenbestände von Trümmern bedeckt. Die Inhaber waren daher gezwungen, wegen Zahlungsunfähigkeit am 18. November 1938 Konkurs anzumelden. Am 29. August 1939 übermittelte der Konkursverwalter Rechtsanwalt Dr. G. in einem Schreiben an das Düsseldorfer Amtsgericht seine Schlussrechnung in dem Konkursverfahren. Bereits ab dem 1. Dezember 1938 war das Modehaus von zwei ehemaligen Angestellten fortgeführt worden, die die meisten Mitarbeiter weiter beschäftigten. Der Novemberpogrom 1938 bildete den Übergang zu der letzten Phase der „Arisierung“, der Entfernung der deutschen Juden aus dem Wirtschafts- und Berufsleben und der Überführung des gesamten jüdischen Besitzes (Gewerbebetriebe, Grundbesitz, Geldvermögen, Wertpapiere, Renten und Versicherungsansprüche bis hin zum Hausrat) in nichtjüdische Hände. Bis Ende 1937 erfolgte im Rahmen einer „schleichenden Arisierung“ der Eigentumstransfer durch privatwirtschaftliche Verkäufe – zumeist unter Wert. Zwar gab es keine rechtliche Grundlage für diese Art der „Arisierung“, doch vermochten die lokalen und regionalen Parteiinstanzen, Verwaltungsbehörden und Wirtschaftsverbände häufig genug Druck auszuüben. Insgesamt scheute die nationalsozialistische Regierung in der Phase der Machtkonsolidierung aber mit Rücksicht auf das Ausland und die Stabilisierung der deutschen Wirtschaft die Anwendung staatlicher Zwangsmaßnahmen. Schon in der Phase der „schleichenden Arisierung“ wurde die Wirtschaftskraft der deutschen Juden in eklatanter Weise geschädigt: Zu Beginn des Jahres 1938 waren 60 bis 70 Prozent der im Januar 1933 bestehenden jüdischen Unternehmen bereits in nichtjüdischen Besitz übergegangen. Die staatlich gelenkte systematische „Arisierung“ setzte im April 1938 mit der Verpflichtung zur Anmeldung aller jüdischen Vermögen im In- und Ausland ein, die die Summe von 5.000 Mark überstiegen. Für alle geplanten Besitzveränderungen musste fortan die Bewilligung der höheren Verwaltungsbehörden eingeholt werden. Die Registrierung der Vermögen war die Voraussetzung für die vollständige „Entju-
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dung“ der deutschen Wirtschaft, die nach dem Novemberpogrom radikal durchgeführt wurde. Unmittelbar nach den Gewalttaten vom 9./10. November 1938 wurden die Juden mit einer „Sühneleistung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark belegt; in der Praxis bedeutete das, dass jeder jüdische Mann und jede jüdische Frau 25 Prozent ihres Vermögens an den Staat abführen mussten. Die Versicherungsleistungen, die die Schäden gedeckt hätten, wurden nicht an die Geschädigten ausgezahlt, sondern zugunsten des Deutschen Reichs eingezogen. Bereits am 23. November brachte die „Erste Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ das Verbot nahezu aller selbständigen Erwerbsmöglichkeiten. Die „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938 leitete die endgültige „Zwangsarisierung“ aller noch bestehenden jüdischen Betriebe ein, die seit dem Pogrom nicht mehr tätig sein durften. Gleichzeitig waren alle Vermögenswerte auf Sperrkonten zu deponieren, jede Geldbewegung musste von den Behörden genehmigt werden. Profiteure der „Arisierung“ waren die neuen Eigentümer, die Vermittler (Treuhänder, Konkursverwalter, Banken) und in erster Linie der nationalsozialistische Staat. In der Konkurssache Modehaus S. G.m.b.H. 8 N 87/38 In dem Konkursverfahren lege ich wie folgt Schlussrechnung: I. Bericht über die Verwaltung und Verwertung der Konkursmasse. Das Geschäftslokal der Gemeinschuldnerin1 war am 26. November 1938, dem Tage der Konkurseröffnung bereits geschlossen, der Betrieb ruhte seit dem 9. November, an welchem Tage die Fensterscheiben des Ladenlokals zertrümmert worden waren und auch im Innern des Geschäftslokales sehr erhebliche Zerstörungen angerichtet worden waren. Der Hauseigentümer P. hatte das Geschäftslokal schon am 1. Dezember 1938 an eine andere Firma vermietet, welche zunächst R., L. & Co., später aber nur unter der Bezeichnung R. & Co. firmierte und denselben Geschäftszweig pflegte, wie ihn die Gemeinschuldnerin gehabt hatte. Die sehr erheblichen Warenvorräte wurden von dem Unterzeichneten im Einvernehmen mit den Inhabern der vorbezeichneten Firma zunächst in den Kellerräumlichkeiten untergebracht und unter Verschluss genommen. Sie wurden ferner genau listenmäßig inventarisiert und nach unbeschädigten, leicht beschädigten und schwer beschädigten Waren sortiert. Gemäss Beschluss des Gerichts vom 29.11.1938 wurde die Aufzeichnung der zur Masse gehörigen Gegenstände von dem Unterzeichneten ohne Hinzuziehung einer obrigkeitlichen oder Urkundeperson vorgenommen.
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Bei der Feststellung der Warenbestände war insbesondere darauf Rücksicht zu nehmen, dass ein grosser Teil der Waren, insbesondere der neueste und modernste noch nicht bezahlt war, und weil unter Eigentumsvorbehalt geliefert, ausgesondert werden musste. Die ausgesonderten Waren wurden an die Lieferanten zurückgesandt. Hierbei musste mit den Lieferanten wegen des Rücknahmepreises schon aus dem Grunde vielfach verhandelt werden, weil die Waren zum Teil in beschädigtem Zustande zurückgeliefert wurden. Bei der Erledigung aller dieser umfangreichen Arbeiten bediente sich der Unterzeichnete der Mithilfe des Geschäftsführers Richard M. und des noch vorhandenen nicht unbeträchtlichen Personals der Gemeinschuldnerin. Dieses Personal war bereits vor Konkurseröffnung mit Rücksicht darauf gekündigt, dass die Gemeinschuldnerin die Arisierung ihres Unternehmens beabsichtigt hatte. Ein Teil des Personals wurde ab 20.12.1938 von der neuen Firma übernommen. Im Einzelnen verweise ich auf die in dieser Sache von mir überreichten Berichte vom 28.11.1938, 12.12.1938, 31.1.1939, 3.4.1939 und 2.6.1939. a) Zu II. des Inventars vom 21.12.1938. Der Warenbestand durfte nach der Durchführungsverordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 23.11.1938 an letzte Verbraucher nicht verkauft werden, musste vielmehr der Wirtschaftsgruppe2 für den Einzelhandel angeboten werden.3 Diese liess den Warenbestand durch 2 Sachverständige abschätzen und nahm einen Wert von 37.000.-- RM. an, der auch gerechtfertigt wäre, wenn der Verkauf an letzte Verbraucher zulässig gewesen wäre. Die Versteigerung durch den Gerichtstaxator K. durfte aber nur an Wiederverkäufer erfolgen. Die Versteigerung fand in der Zeit vom 16. bis 21. Januar 1939 durch den Taxator K. in den Räumen des Unterhauses4, Straße der SA5 No. 103a statt. Sie ergab, wie aus dem beigefügten Kassenbuch unter A VI und der in Belegmasse I befindlichen Gesamtaufstellung des Taxators K. ersichtlich ist, nur einen Betrag von 21.891,80 RM. Hiervon gingen noch die Versteigerungskosten mit 858,58 RM. ab. Gegenüber dem Inventar ist also ein Mindererlös von rund 16.000.-- RM. festzustellen. […]
Anmerkungen 1 Die früheren jüdischen Geschäftsinhaber Anna Steinberg, geb. Magnus, und Richard Magnus. 2 Fachgruppe der Handelskammer, hier vermutlich Textilwirtschaft. 3 Das Verbot, die verbliebenen Waren an den Endverbraucher abzugeben, verminderte häufig den Erlös, da Wiederverkäufer kein Interesse an beschädigter Ware hatten. 4 Im unteren Teil des Gebäudes. 5 Oststraße.
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Literatur Frank Sparing, Boykott, Enteignung, Zwangsarbeit. Die „Arisierung“ jüdischen Eigentums in Düsseldorf während des Nationalsozialismus, Düsseldorf 2000; ders., Konkursverfahren infolge der Pogromnacht vom 9. November 1938, in: Augenblick 12/13 (1998), S. 18–21; Britta Bopf, „Arisierung“ in Köln. Die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden 1933–1945, Köln 2004; dies., „Arisierung“ in Köln im „Dritten Reich“, in: Monika Grübel/Georg Mölich (Hg.), Jüdisches Leben im Rheinland vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 214–237; Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttingen 1966; Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933–1943, Frankfurt/M. 1987; Johannes Ludwig, Boykott, Enteignung, Mord. Die „Entjudung“ der deutschen Wirtschaft, Hamburg 1989; Fritz Bauer Institut (Hg.), „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt/M. 2000
6. Zwischen Kriegsbeginn und Deportation 62 Lagerordnung für die im Lager Much internierten Juden aus dem Siegkreis, 1941 LAV NRW R, RW 18/14, Bl. 289 RS
Bereits seit 1935 wurde es für Juden und Jüdinnen immer schwieriger, Wohnungen in Häusern zu finden, die auch von Nichtjuden bewohnt wurden. Der Novemberpogrom 1938 machte die Wohnungen und Häuser vieler jüdischer Familien unbewohnbar; die Obdachlosigkeit nahm immer mehr zu. Seit Anfang 1939 war die deutsche Reichsregierung bestrebt, jüdische Familien und Einzelpersonen in bestimmten Häusern zusammenzulegen. Damit bezweckte man sowohl die „Arisierung“ des restlichen jüdischen Wohn- und Hauseigentums als auch die Vorbereitung der 1941 beginnenden Deportationen der jüdischen Bevölkerung in Ghettos und Vernichtungslager im vom Deutschen Reich besetzten Osteuropa. Eine rechtliche Handhabe für die Einrichtung von „Judenhäusern“, in denen die Menschen äußerst beengt zusammenleben mussten, bot das „Gesetz über die Mietverhältnisse der Juden“ vom 30. April 1939, das den Kündigungsschutz für Juden aufhob und jüdische Haus- und Wohnungseigentümer zwang, andere Juden aufzunehmen. Ab 1939 entstanden Lager für jüdische Zwangsarbeiter. 1941 wurden die ersten Sammellager für die jüdische Wohnbevölkerung eingerichtet Bis zum 16. Juni 1941 wiesen die Behörden die im Siegkreis wohnenden jüdischen Menschen, die nicht Zwangsarbeit in kriegswichtigen Unternehmen zu leisten
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Literatur Frank Sparing, Boykott, Enteignung, Zwangsarbeit. Die „Arisierung“ jüdischen Eigentums in Düsseldorf während des Nationalsozialismus, Düsseldorf 2000; ders., Konkursverfahren infolge der Pogromnacht vom 9. November 1938, in: Augenblick 12/13 (1998), S. 18–21; Britta Bopf, „Arisierung“ in Köln. Die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden 1933–1945, Köln 2004; dies., „Arisierung“ in Köln im „Dritten Reich“, in: Monika Grübel/Georg Mölich (Hg.), Jüdisches Leben im Rheinland vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 214–237; Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttingen 1966; Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933–1943, Frankfurt/M. 1987; Johannes Ludwig, Boykott, Enteignung, Mord. Die „Entjudung“ der deutschen Wirtschaft, Hamburg 1989; Fritz Bauer Institut (Hg.), „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt/M. 2000
6. Zwischen Kriegsbeginn und Deportation 62 Lagerordnung für die im Lager Much internierten Juden aus dem Siegkreis, 1941 LAV NRW R, RW 18/14, Bl. 289 RS
Bereits seit 1935 wurde es für Juden und Jüdinnen immer schwieriger, Wohnungen in Häusern zu finden, die auch von Nichtjuden bewohnt wurden. Der Novemberpogrom 1938 machte die Wohnungen und Häuser vieler jüdischer Familien unbewohnbar; die Obdachlosigkeit nahm immer mehr zu. Seit Anfang 1939 war die deutsche Reichsregierung bestrebt, jüdische Familien und Einzelpersonen in bestimmten Häusern zusammenzulegen. Damit bezweckte man sowohl die „Arisierung“ des restlichen jüdischen Wohn- und Hauseigentums als auch die Vorbereitung der 1941 beginnenden Deportationen der jüdischen Bevölkerung in Ghettos und Vernichtungslager im vom Deutschen Reich besetzten Osteuropa. Eine rechtliche Handhabe für die Einrichtung von „Judenhäusern“, in denen die Menschen äußerst beengt zusammenleben mussten, bot das „Gesetz über die Mietverhältnisse der Juden“ vom 30. April 1939, das den Kündigungsschutz für Juden aufhob und jüdische Haus- und Wohnungseigentümer zwang, andere Juden aufzunehmen. Ab 1939 entstanden Lager für jüdische Zwangsarbeiter. 1941 wurden die ersten Sammellager für die jüdische Wohnbevölkerung eingerichtet Bis zum 16. Juni 1941 wiesen die Behörden die im Siegkreis wohnenden jüdischen Menschen, die nicht Zwangsarbeit in kriegswichtigen Unternehmen zu leisten
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hatten, in das ehemalige Reichsarbeitsdienstlager in Much ein. In den Jahren 1941 und 1942 lebten dort 115 Jüdinnen und Juden aus dem Siegkreis. Für die überbelegten und ausgesprochen maroden Wohnungen mussten sie völlig überhöhte Mietzahlungen leisten. Die hier abgedruckte Lagerordnung vom 15. August 1941 zeigt, dass die im Lager Much lebenden Juden völlig von der Bevölkerung des Ortes abgesondert wurden. Jegliche Kontakte waren verboten. Zudem konnten die Internierten zum „Arbeitseinsatz“ verpflichtet werden, das heißt, sie mussten Zwangsarbeit leisten. Die Bewohner litten unter ständiger Lebensmittelknappheit. Nahrungsmittel als Lohn durften nicht angenommen werden. Die Ruppichterother Gemeindeschwester Aureliana half den Lagerinsassen, indem sie Lebensmittel über den Zaun des Lagers warf. Vornehmlich in den Monaten Juni und Juli 1942 wurden die Bewohner des Lagers zur Vorbereitung ihrer Deportation von Much in die Kölner Messe oder vorübergehend in das Barackenlager in Köln-Müngersdorf verlegt. Vom Bahnhof Deutz-Tief mussten sie dann die Reise antreten, die fast alle in den Tod führte – nach Riga, Minsk, Lublin, Theresienstadt, Auschwitz und in andere Orte des Grauens. Als einziger der in Much inhaftierten Juden überlebte Moses Aron aus Honnef die Schoa. Heute ist der Standort der Fachwerkbaracken ein Wiesengelände. Eine schlichte Gedenktafel erinnert an die im Lager Much internierten jüdischen Menschen. Lagerordnung 1. Es ist den jüdischen Insassen des Lagers untersagt, den Ort Much zu betreten. 2. Juden dürfen Geschäfte aller Art in Much und Umgebung nicht betreten. Die Lagerverwaltung hat zur Tätigung von Einkäufen und zur Ausführung erforderlicher geschäftlicher Obliegenheiten eine einzelne Person besonders zu beauftragen. 3. Der Besuch von Gastwirtschaften ist Juden verboten. 4. Die Bänke in den Anlagen der Gemeinde Much stehen nur den Einheimischen und den Kurgästen zur Verfügung. 5. Die vorgeschriebenen Ausgehzeiten für Juden (vom 1.4. – 30.9. zwischen 6 Uhr und 21 Uhr, vom 1.10. – 31.3. zwischen 7 und 20 Uhr) sind einzuhalten. 6. Der Arbeitseinsatz von jüdischen männlichen oder weiblichen Personen kann nur mit Genehmigung des Bürgermeisters als Ortspolizeibehörde erfolgen. 7. Im übrigen ist jeglicher Verkehr von Juden mit der Bevölkerung untersagt. 8. Es ist verboten, als Entgelt für Arbeitsleistungen aller Art Lebensmittel anzunehmen. Die Löhnung für geleistete Arbeit darf nur in Bargeld erfolgen. 9. Die Nichtbeachtung vorstehender Anweisungen zieht polizeiliche Maßnahmen nach sich. Much/Siegkreis, den 15. August 1941 Der Bürgermeister als Ortspolizeibehörde
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Literatur Bruno H. Reifenrath, Die Internierung der Juden in Much. Ein Buch des Gedenkens, [Siegburg] 1982; ders., Die „Evakuierung“ der Juden des Siegkreises unter besonderer Berücksichtigung ihrer Internierung im RAD-Lager Much, in: Heinrich Linn u.a., Juden an Rhein und Sieg, Siegburg 21984, S. 238–250; Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Schicksal im Nationalsozialismus 1933–1945, in: Claudia Maria Arndt (Hg.), Unwiederbringlich vorbei. Geschichte und Kultur der Juden an Sieg und Rhein. Zehn Jahre Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“, Siegburg 2005, S. 30–51; Stefan Kraus unter Mitarbeit von Walter Rummel, Stätten Nationalsozialistischer Zwangsarbeit. Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Beiheft V/13, Bonn 2007, S. 39f. und 76
63 Denunziation wegen eines Kartoffelverkaufs in Mönchengladbach, 1941/42 LAV NRW R, RW 58, 32428 Die im Quellentext erwähnten Eigennamen wurden gemäß den Richtlinien des LAV NRW anonymisiert. Da das Dokument bereits in der vorliegenden Form veröffentlicht wurde, wurde der Name des jüdischen Mönchengladbachers Rosen nicht anonymisiert.
Der nichtjüdische Bauer und Fuhrmann J. Cl. (Kl.) aus Mönchengladbach wurde am 20. Dezember 1941 von dem Mönchengladbacher Bürger Emil L. bei der Gestapo (Außenstelle Mönchengladbach der Staatspolizeistelle Düsseldorf ) denunziert. In einem Schreiben, das wegen der zahlreichen Orthographie- und Grammatikfehler nur schwer zu verstehen ist, gibt Emil L. an, Cl. habe einem Juden eine Ladung Kartoffeln geliefert, während eine nichtjüdische Frau leer ausgegangen sei. Cl. habe sich ausdrücklich dazu bekannt, Juden mit Kartoffeln versorgen zu wollen. Die Angabe des Cl., er habe nicht gewusst, dass der Empfänger der Kartoffeln Jude gewesen sei, wies L. als offensichtliche Schutzbehauptung zurück. Mit Kriegsbeginn verschärfte das nationalsozialistische Regime nochmals seine antijüdische Politik, die nun auf eine vollständige Isolation der Juden als Vorbereitung auf die Deportationen in die Vernichtungslager und Ghettos in den deutsch besetzten Gebieten in Osteuropa gerichtet war. Das Netz der Verbote und Beschränkungen wurde immer dichter. Auch die Ernährungslage für die jüdische Bevölkerung verschlechterte sich dramatisch. Lebensmittel waren nur mit Bezugsscheinen erhältlich, die mit einem „J“ gekennzeichnet waren. Größere Mengen oder qualitätvollere Lebensmittel waren nicht zu bekommen. Gerade bei der Versorgung mit Lebensmitteln war allerdings noch am ehesten Unterstützung aus der nichtjüdischen Bevölke-
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rung zu erwarten. Es existieren zahlreiche Schilderungen, wie Juden heimlich Nahrungsmittel zugesteckt wurden. Dem Denunzianten L. war die Versorgung von Juden mit Grundnahrungsmitteln ein Dorn im Auge. Seiner Darstellung nach gab er damit die Meinung zahlreicher Mönchengladbacher wieder, die den Bauer Cl. als „Judenlümmel“ beschimpften. Allerdings nennt das Schreiben auch Menschen, die sich mit Cl. solidarisierten: der Wirt R. und der Metzger K. Aufgrund der Denunziation wurde Cl. zur Außenstelle Mönchengladbach der Staatspolizeistelle Düsseldorf vorgeladen. Dort konnte er glaubhaft machen, dass er die Kartoffeln ordnungsgemäß auf Bezugsschein geliefert hatte. Er erklärte, dass er den Kunden nicht versorgt hätte, wenn ihm klar gewesen wäre, dass dieser Jude sei. Diese Aussage bewahrte Cl. vor schlimmeren Repressionen; er erhielt nur eine Verwarnung durch die Gestapo. Die zahllos überlieferten Denunziationen zeigen die tiefe Verstrickung der Bevölkerung, der „kleinen Leute“, in das Unterdrückungssystem sowie das folgenschwere Eingreifen des Terrors in den privaten Bereich, in das Alltagsleben. In der vorliegenden Quellensammlung finden sich zwei weitere Dokumente (66 und 68), aus denen hervorgeht, wie radikal eine Denunziation, eine Anzeige bei einer staatlichen Behörde, vor allem der Gestapo, in das Leben eines Menschen eingreifen konnte: Die Witwe Jenny N. aus Duisburg und der Düsseldorfer Maler Franz Monjau wurden aufgrund von Denunziationen verhaftet und ermordet. Hier in Engelbleck wohnt ein Bauer Kl. der einem Juden 14 oder 20 Zentner Kartoffel geliefert hat. Kl. ist seitdem dermasen verhast das sogar Männer aus der S.A.1 ihn aus der Wirtschaft werven wollten wo dieser Judenlümmel noch von dem Wirt R. und den Metzger K. in Schutz genommen wurde. Eine Frau welche auch bei Kl. Kartoffel hohlen wollte bekam keine darauf wurde Kl. von ihr auch als Judenlümmel bezeichnet, darauf erklärte Kl. wenn ich noch mehr Juden wüste tät ich diese auch mit Kartoffel besorgen dies erzählte die Frau einem gewissen Schlesier mit Namen… Man kann schon wenn man auf den Hof des Kl. kommt sehen was er ist Ich mus noch bemerken das Kl. sich seitdem niergendwo mehr aufhalten kann weil jeder es weis. Kl. erklärt jetzt er hätte nicht gewust das es ein Jude war es ist aber durch die aussagen der Frau wiederlegt oder er hate den Stern nicht. Aber als der Kartoffel verkauf anfing war der Judenstern schon. Ich bin bereit mit einem Zeugen und jemant von der Staatspolizei nach Kl. hin zu gehen um ihn da selbst fest zu Nageln. Emil L. Heil Hitler
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Der denunzierte J. Cl. wurde zur Außendienststelle Mönchengladbach der Staatpolizeistelle Düsseldorf vorgeladen. Über die Vernehmung am 9. Januar 1942 führte man Protokoll: 1) Auf Vorladung erschien der Fuhrmann J. Cl., M.-Gladbach, Engelbleckerstraße 239 und erklärte, dass er im Herbst an die Hausbewohner des Hauses M.-Gladbach, Hindenburgstr. 3602 insgesamt 14 Zentner Kartoffeln auf Bezugsscheine geliefert habe. Er habe diese Hausbewohner schon seit 7 Jahren beliefert und er habe auch nicht gewusst, dass diese Juden waren. Ihm sei aufgetragen worden die Kartoffeln des Abends zu liefern, dann würde ihm auch bei dem Abladen der Kartoffeln geholfen. Bei dieser Gelegenheit habe er festgestellt, dass der Rosen3 Judenstern getragen habe. Zu Hause hätte er seiner Frau von dieser Feststellung sofort Kenntnis gegeben. Auf Befragen warum er denn nicht die Arier4 beliefert hätte erklärte er: Er habe jedem der gekommen wäre und hätte Kartoffeln haben wollen, soviel gegeben wie er hätte abgeben können. Er sei sogar eines Abends noch spät zu Miete gegangen und hätte dort noch Kartoffeln geholt für einen Mann der keine Kartoffeln zu Hause hätte um seine Familie zu ernähren. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass Rosen ein Jude sei, hätte ich ihm keine Kartoffeln geliefert. 2) Cl. wurde eindringlich verwarnt, dass er im Wiederholungsfalle mit den schärfsten staatspolizeilichen Massnahmen zu rechnen habe 3) Es ist zunächst weiter nichts zu veranlassen. 4) Zu den Pers. Akten Cl.
Anmerkungen 1 SA (Sturmabteilung), 1920 als parteieigener Ordnerdienst gegründet, paramilitärische Organisation der NSDAP. Die SA war ein wichtiges Gewaltinstrument bei der Eroberung und Befestigung der innenpolitischen Macht der Nationalsozialisten in der Zeit vor und während der Machtübernahme. 1934 weitgehend entmachtet, diente sie danach vor allem der vormilitärischen Ausbildung von Jugendlichen und veranstaltete Sammlungen. Am Novemberpogrom 1938 war die SA maßgeblich beteiligt. 2 In der Hindenburgstraße 360 befand sich eines von 32 in Mönchengladbach bestehenden Ghettohäusern, in denen die jüdische Bevölkerung im Hinblick auf ihre spätere Deportation zusammengepfercht wurde. 3 Vermutlich handelt es sich um den früheren Kaufmann Alfred Rosen (1890–1942), der in der Hindenburgstraße 360 wohnte. Er wurde am 10. Dezember 1941 nach Riga deportiert und im Januar 1942 dort erschossen. Es ist anzunehmen, dass die Deportation und der Tod Rosens mit der Denunziation zusammenhingen. Alfred Rosens Vater Samson Rosen (1862–1943), dem das Haus Hindenburgstraße 360 gehörte, war damals
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bereits sehr alt, so dass er wohl keine Kartoffeln schleppen konnte (freundliche Mitteilung von Herrn Gerd Lamers, Stadtarchiv Mönchengladbach). 4 Als „Arier“ wurden zunächst Mitglieder der indoeuropäischen Sprachfamilie bezeichnet, doch schon im 19. Jahrhundert wurde der Begriff biologisch-rassistisch überformt. In der nationalsozialistischen Rassenideologie stand der Begriff „Arier“ für Menschen „deutscher oder artverwandter Abstammung“. Als „Nichtarier“ galten dementsprechend Menschen, die einen oder mehrere jüdische Eltern- bzw. Großelternteile hatten.
Literatur Katrin Dördelmann, Die Macht der Worte. Denunziationen im nationalsozialistischen Köln, Köln 1997; Robert Gellately, „In den Klauen der Gestapo“. Die Bedeutung von Denunziationen für das nationalsozialistische Terrorsystem, in: Anselm Faust (Hg.), Verfolgung und Widerstand im Rheinland und in Westfalen 1933–1945, Köln/Stuttgart/Berlin 1992, S. 40–49; Helga Schubert, Judasfrauen. 10 Fallgeschichten weiblicher Denunziation, Berlin 1989; Gisela Diewald-Kerkmann, Politische Denunziationen im NS-Regime oder Die kleine Macht der ‚Volksgenossen’, Bonn 1995; Robert Gellately, Gestapo and German Society. Enforcing Racial Policy 1933–1945, Oxford 1990; Martin Broszat, Politische Denunziation in der NS-Zeit. In: Archivalische Zeitschrift 73 (1977), S. 221–238
64 Ausplünderung vor der Deportation: Eine Versteigerungsliste aus Oberhausen, 1941 Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen, Berlin Akte VV 6299/458, Bl. 22 und 23 Die Eigennamen wurden gemäß den Richtlinien des Bundesamts für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen anonymisiert.
Kurz vor der Deportation in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz) am 27. Oktober 1941 mussten der seit 1914 in Oberhausen lebende Metzgermeister Moritz M. ( Jg. 1888) und seine Ehefrau Emma, geb. P. ( Jg. 1877), ihr gesamtes Vermögen in einer Aufstellung für die Finanzbehörden offen legen. Die „gesetzliche“ Grundlage für die dann folgenden letzten Ausplünderungsmaßnahmen war die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941, nach der diejenigen Juden, die sich im Ausland aufhielten oder ihren Aufenthalt ins Ausland verlegten, die deutsche Staatsangehörigkeit verloren; damit verfiel ihr Vermögen dem Reich. Von dieser Regelung waren auch die „nach dem Osten“ deportierten Juden betroffen.
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Die Enteignung lief stets nach dem gleichen Muster ab, das Wolfgang Dreßen in seiner Dokumentation „Betrifft: ‚Aktion 3’. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn“ eindrücklich beschrieben hat. Diesem Verfahren war auch die Familie M. aus Oberhausen unterworfen. Der zuständige Gerichtsvollzieher schickte ihnen eine Verfügung in die Wohnung Mülheimer Straße 51, die über die „gesetzlichen“ Grundlagen der Vermögensentziehung aufklärte. Für jede Person – Ehemann, Ehefrau und Kinder – war ein gesondertes Formular auszufüllen. Moritz M. schrieb: „Meine Vermögenserklärung ist dieselbe wie die meiner Frau.“ Alle auf das Vermögen bezüglichen Urkunden mussten beigelegt werden, sofern sie greifbar waren. Alle Familienmitglieder hatten das Formular zu unterschreiben. In den amtlichen Formularen war das noch vorhandene Vermögen genau anzugeben: Wertpapiere, Geldkonten, Immobilienbesitz. Moritz M. hatte sein Wohnhaus in der Mülheimer Straße 51 bereits veräußern müssen, die gesamte Kaufsumme aber noch nicht erhalten. Es stand eine Restkaufsumme von 3.900 Reichsmark offen, die der Käufer in Raten von 100 RM abzahlte. Über sein Geld konnte Moritz M. schon lange nicht mehr verfügen, da es auf einem „Sicherungskonto“ bei der Stadtsparkasse Oberhausen lag. Zusammen mit der Abgabe des Formulars für die Vermögenserklärung informierte die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“, eine Zwangsorganisation unter der Aufsicht der Gestapo, über den Ablauf der Deportation: über die Gegenstände, die mitgenommen werden durften, über das Sammellager, in das man eingewiesen wurde, über die Person, der die Haus- oder Wohnungsschlüssel zu übergeben waren. Nachdem die Menschen deportiert worden waren, prüften ein Vertreter des Finanzamtes, die Hausverwaltung, ein Taxator und häufig auch ein im Gebrauchtwarenhandel Tätiger die in der Wohnung verbliebenen Gegenstände. Der Taxator schätzte das gesamte Hab und Gut; dann folgte die Versteigerung. Der Besitz der Familie M. wurde am 16. Dezember 1941 im Restaurant Deutsches Haus in Oberhausen durch einen ortsansässigen Versteigerer versteigert. Die Auflistung des Versteigerungsguts, die im Folgenden abgedruckt wird, dokumentiert die Akribie, mit der die deutschen Finanzbehörden die letzten Besitztümer der jüdischen Menschen verwerteten; sie führt alles auf, was von einem einst respektablen bürgerlichen Haushalt übrig geblieben war: nur das Nötigste, kein Zierrat, kein Schmuck, keine guten Kleider, wohl aber den Gehrock mit Zylinder, den Moritz M. trug, wenn er die Synagoge besuchte. Die Aktion erbrachte 597,10 Reichsmark, von denen die Unkosten für die Anzeige der Versteigerung in der Zeitung, für die Spedition und die Saalmiete abgezogen wurden. Der Hausrat und die Kleidung gingen in den Besitz Oberhausener Bürger über, oft Nachbarn, die genau über die Herkunft der Gegenstände Bescheid wussten. Am 6. Februar 1942 teilte der Oberfinanzpräsident in Düsseldorf der Sparkasse in Oberhausen mit, dass das Guthaben von Moritz M. in Höhe von 2.503,85 Reichs-
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mark zugunsten des Reiches einzuziehen und sofort an die Oberfinanzkasse zu überweisen sei. Einige Wochen, nachdem sich Oberhausener Bürger und die staatlichen Stellen den Besitz der Familie M. angeeignet hatten, wurden Moritz und Emma M. im Vernichtungslager Chelmno ermordet. Ihre Tochter Antonie R. wurde in Riga zusammen mit ihrem Mann und dem kleinen Kind ermordet. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32
Blumenständer, Tischchen + Sockel 1 Ledertuchsofa 2 Stühle 1 Vertikov 1 Tisch (Sofatisch) 1 Schlafzimmer kompl. Alt Waschampel + Krug 1 Küchenschrank 1 Ledersessel 2 Stores u Uebergardinen 1 Küchenanrichte 1 Gasherd 1 alter Herd 3 Stühle 1 Küchentisch 1 kl. Schrank 15 Küchenteile 1 Gehrock mit Hose 2 Kissen 1 Putzschränkchen 1 Wanne 1 Wanne 1 Brottrommel 4 Teile 1 Paar alte Schuhe 1 Bild 1 Körbchen Flicklappen 1 Korb u 20 Küchenteile kl. Wäschelappen 6 Deckchen 6 Deckchen 8 Deckchen 6 Deckchen 6 Deckchen
5,50 40.– 6,50 17.– 6.– 260.– 5.– – 10.– 22,50 15.– 5.– 15.– 5,20 7.– 5,50 29,– 5.– 8,50 0,50 1,50 0,50 – 2.– 0,50 3,50 0,20 1,50 1,00 1,50 1.– 0,50
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33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72
2 Deckchen 2 Deckchen 1 Tischdecke 1 Tuch u Lappen Flicklappen 2 Bettücher 2 Bettücher 1 Bettuch 1 Kittel 1 Nachthemd 1 Hemd kl. Wäscheteile 2 Kissenbezüge 2 Kissenbezüge 1 Nachthemd 1 Kissen Flicklappen 2 Bettücher 1 Schoner 1 kl. Deckchen 2 Schürzen 1 kl. Rock 1 Nachthemd 1 Hemd 1 Hose Wäscheteile 1 Bettlaken 1 Bettlaken 1 Bettlaken 1 Vorhang 1 Bettbezug 4 Kissenbezüge 2 Kissenbezüge 2 Kissenbezüge 2 Kissenbezüge 4 Deckchen Deckchen u Flicklappen Deckchen u Flicklappen 3 alte Hüte 1 Joppe 6 Löffel 4 Gabeln 1 Schüssel 3 Küchenteile 3 Teile Küchengerät 6 Teller 3 Teile Glas
1,– 1,20 3,50 1,50 1,20 1,50 3.– 1,50 3,50 2.– 1,50 2.– 2.– 2,50 1,– 2.– 2,60 1.– 2.– 1,10 0,70 0,60 2,50 2.– 1,80 1.– 2.– 2.– 2.– 1,50 2,– 1.– 1.– 0,20 5,50 1,50 1.– 1.– 1,50 1,20
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2 Schüsseln 4 Teller 6 Teile Küchengerät Kasten Messer, Gabeln u.s.w. Kasten Messer, Gabeln u.s.w. 6 kl. Teller 8 Teile Glas Küchenteile 8 Teller 2 Kissen 12 Teile Kleinkram 2 Stücke Läufer 1 gr. u 1 kl. Decke Partie Tassen u Teller Partie Tassen u. Teller 5 Schüsseln 2 Fleischplatten Glasschalen 3 Teile 1 Cylinder 11 Glasteile 15 Glasteile 5 Teller 5 Teller 6 Teller 7 Glasteile Porzellan 1 Arbeitshose kleine Glassachen einige Kleiderbügel ein Ausklopfer
1,50 1,30 3,30 1,50 2,50 2,50 1.– 1.– 1,60 1,50 4.– 2,10 2.10 2.90 1.– 1,00 1,50 1,50 1,90 1,50 1,35 1,50 1,05 1.– 0,50 1.– 1.– 0,50 0,50
Literatur Wolfgang Dreßen, Betrifft: „Aktion 3“. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung ausgewählt und kommentiert, Berlin 1998; Michael Alfred Kanther, Finanzverwaltung zwischen Staat und Gesellschaft. Die Geschichte der Oberfinanzdirektion Köln und ihrer Vorgängerbehörden 1824–1992, Köln 1993; H. G. Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974 Zur allgemeinen Literatur zum Thema „Arisierung“ vgl. Dokument 61
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65 Ein in den Niederlanden getragener „Judenstern“ aus dem Besitz jüdischer Flüchtlinge aus Köln, 1942–1944 Kölnisches Stadtmuseum, Graphische Sammlung Rheinisches Bildarchiv Köln
Als die deutsche Wehrmacht am 9./10. Mai 1940 die Niederlande überfiel, lebten dort 140.000 Juden, unter ihnen zahlreiche Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei. Ab 1941 waren auch die Juden in den Niederlanden, die in der Hauptstadt Amsterdam konzentriert wurden, von den Deportationen in die KZs und Vernichtungslager im deutsch besetzten Osteuropa betroffen. Seit dem 3. Mai 1942 musste jeder jüdische Mann, jede jüdische Frau und jedes jüdische Kind, das älter als sechs Jahre war, einen gelben Stern tragen, der die Aufschrift „Jood“ trug. Gegen diese Maßnahme regte sich heftiger Widerstand von Seiten der Bevölkerung. Zahlreiche Nichtjuden trugen den Stern und im Mai 1942 druckte eine niederländische Untergrundzeitung 300.000 Sterne mit der Inschrift „Juden und Nichtjuden sind ein und dasselbe“. Auch Alfred Isay (geb. 1885 in Köln) und seine Ehefrau Sophie Isay-Adelsberger (geb. 1897 in Nürnberg) aus Köln mussten den „Judenstern“ tragen. Afred Isay war zusammen mit seinem Bruder Adolf Inhaber der oHG Gebrüder Isay in Köln gewesen, die 1871 als Manufakturwarenhandlung gegründet und 1933 in das Unternehmen „Wistra“ (Gesellschaft für deutsche Wirk- und Strickwaren GmbH) umgewandelt worden war. Firmensitz war das Haus Zeppelinstraße 4. Das Ehepaar Isay lebte privat in der Marienburger Straße 37. Nach einer Hausdurchsuchung in der Villa der Isays flüchteten Alfred und Sophie Isay mit den Kindern Ruth Marlis und Walther schon am 31. März 1933 nach Amsterdam. Der Bruder Adolf, der mit einer Nichtjüdin verheiratet war, blieb in Köln und überlebte die NS-Zeit in einem Versteck. Das Unternehmen „Wistra“ musste unter Wert verkauft werden. Alfred Isay wurde während der deutschen Okkupation 1941 in Amsterdam Mitglied des auf Druck der Besatzungsbehörden ins Leben gerufenen „Joodse Raad“. Nach Verhaftungen 1943 und 1944 tauchte er mit seiner Familie unter. Die Isays wurden von einer niederländischen Familie versteckt und konnten so überleben. Am 3. Juni 1948 starb Alfred Isay in Amsterdam. Seine Ehefrau und die Kinder nahmen nach dem Krieg die niederländische Staatsbürgerschaft an. Den „Judenstern“, den Alfred Isay oder seine Ehefrau getragen hatte, übergab der Rechtsanwalt, der die Familie in der Nachkriegszeit in einem Wiedergutmachungsverfahren vor dem Landgericht Köln vertrat, dem Kölnischen Stadtmuseum.
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18. „Judenstern“, getragen in den besetzten Niederlanden, 1942–1944
Literatur Anne Frank, Anne Frank Tagebuch, autorisierte und ergänzte Fassung, Frankfurt/M. 32002; Volker Jakob/Annet van der Voort, Anne Frank war nicht allein: Lebensgeschichten deutscher Juden in den Niederlanden, Berlin/Bonn 1988; Werner Schäfke (Hg.), „Drittes Reich“ und Nachkriegszeit 1933–1948. Eine Auswahl aus den Beständen des Kölnischen Stadtmuseums, Köln 1993, S. 136
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66 „… nicht zum Führen des Judensterns verpflichtet“ – Aussage von Thekla L. bei der Essener Gestapo, 1943 Erklärung von Thekla L. vor der Außendienststelle Essen der Geheimen Staatspolizei/Staatspolizeistelle Düsseldorf, 22. Februar 1943 LAV NRW R, RW 58, 61391 Die im Quellentext erwähnten Eigennamen wurden gemäß den Richtlinien des LAV NRW anonymisiert
Mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 wurden alle Juden im deutschen Reichsgebiet ab sechs Jahren verpflichtet, ab dem 15. September den „Gelben Stern“, der sie öffentlich als Juden kennzeichnete, sichtbar an der Kleidung zu tragen. Entsprechende Bestimmungen wurden auch in allen von Deutschland besetzten Ländern erlassen. Diese Maßnahme, mit der jüdische Menschen auf infamste Weise aus der „Volksgemeinschaft“ ausgesondert und im Wortsinn gekennzeichnet wurden, war kurz vor dem Beginn der Deportationen aus dem Reichsgebiet ein letzter Schritt auf dem Weg in die vom NS-Regime geplante Vernichtung. Bereits 1938 waren die Reisepässe der jüdischen Deutschen mit dem Buchstaben „J“ versehen worden. Anfang 1939 wurden Sonderausweise für Juden eingeführt, die sogenannten „Judenkennkarten“, die auf der Innen- und Außenseite den aufgedruckten Buchstaben „J“ trugen. Im August 1938 ordnete ein Reichsgesetz die Namensgebung der Juden neu: Ab dem 1. Januar 1939 durften sie nur noch als „typisch jüdisch“ angesehene Vornamen tragen. Diese waren einer von den Behörden vorgegebenen Liste zu entnehmen. Soweit sie andere Vornamen trugen, hatten jüdische Männer und Frauen einen zusätzlichen Namen anzunehmen, „Israel“ bzw. „Sara“. Diese Zwangsbeinamen mussten bis Ende Januar 1939 in den örtlichen Standesämtern beurkundet und den zuständigen Ortspolizeistellen schriftlich bekannt gegeben werden. Mit der nationalsozialistischen Namensgesetzgebung für die Juden wurden die Errungenschaften der Emanzipation zunichte gemacht: Jüdische Namen wurden wieder zum Stigma (vgl. Dokument 15). Das Kennzeichen an der Kleidung verwies gar ins Mittelalter. Die auf Erfassung, Kenntlichmachung und Ausgrenzung zielende Politik der Reichsregierung bereitete die Deportation und physische Vernichtung der jüdischen Menschen vor. Versuche von Einzelnen, sich den bürokratischen Anweisungen zu entziehen, den Zusatznamen nicht zu benutzen, den „Judenstern“ zu verdecken oder von der Kleidung abzunehmen, wurden mit Schutzhaft, Einweisung in ein KZ oder Deportation bestraft, wie das Beispiel von Thekla L. aus Essen zeigt. Thekla L. (geb. 1883 in Schmieheim/Baden) war jüdischer Herkunft und hatte die evangelische Konfession angenommen. Sie war mit einem nichtjüdischen Mann verheiratet gewesen, der inzwischen verstorben war. Am 22. Februar 1943 wurde sie auf Veranlassung der Gestapo-Außenstelle Essen in „Schutzhaft“ genommen, weil sie keinen „Judenstern“ trug. Ihr wurde vorgeworfen, damit gegen die Verordnung der
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Kennzeichnung der Juden vom 1. September 1941 verstoßen zu haben. Im Fall von Thekla L. war die Sachlage besonders kompliziert: Aufgrund ihrer persönlichen Situation ergaben sich für sie ebenso wie für die örtlichen Behörden Unsicherheiten in Bezug auf die Interpretation der genannten Verordnung. So hatte ihr das örtliche Polizeirevier mitgeteilt, sie müsse den Stern nicht tragen, da sie mit einem Nichtjuden verheiratet gewesen war, den sie gemäß den herrschenden Rassengesetzen als „deutschblütig“ bezeichnete. Nach der nationalsozialistischen Interpretation genossen aber Menschen jüdischer Herkunft unabhängig von der Religionszugehörigkeit keinen Schutz mehr, wenn ihr nichtjüdischer Ehepartner verstorben war und sie keine ehelichen christlichen Kinder hatten. Thekla L. wurde zwar aus der „Schutzhaft“ entlassen, aber „für den nächsten Termin“ zur Deportation nach Theresienstadt vorgemerkt. Ihr weiteres Schicksal ist bislang unbekannt: Es ist weder im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft noch in den Unterlagen der Alten Synagoge Essen verzeichnet. Ich bin aus der Ehe der jüdischen Eheleute Max Bloch und Jette, geb. Bloch, hervorgegangen und somit Volljüdin1. Eine Kennkarte besitze ich seit 1941 (Kennort: Essen, Kennnr. unbekannt, da sich die Kennkarte bei den Asservaten2 befindet). Ebenso führe ich den zusätzlichen Namen Sara seit dieser Zeit. Den Standesämtern meiner Geburt und meiner Eheschließung, sowie der zuständigen Polizeibehörde habe ich mitgeteilt, dass ich zur Führung des zusätzlichen Vornamens Sara verpflichtet bin. Den Judenstern habe ich bis vor etwa 4 Wochen nicht getragen, weil man mir auf meinem zuständigen Pol. Rev.3 (Pol. Rev. 20 in Essen) mitteilte, dass ich nicht zum Führen des Judensterns verpflichtet sei, da mein Mann deutschblütig gewesen und mein von einem Deutschblütigen abstammender unehelicher Sohn evgl. 4 erzogen sei. Auf diesen Bescheid hin habe ich den Judenstern nicht getragen und auch keine Kennkarte beantragt. Erst auf den Bescheid der Geheimen Staatspolizei5 hin (19401941) habe ich eine Kennkarte beantragt. Z. Zt. der Beantragung bestand die Verordnung über die Kennzeichnung der Juden noch nicht. Ich habe im Jahre 1911 den Deutschblütigen Albert L. geheiratet und lebte in Mischehe. Aus dieser Ehe sind keine Kinder hervorgegangen. Bemerken möchte ich, dass ich den Judenstern getragen hätte, wenn mir der Pol. Meister6 des 20. Pol. Rev. nicht die obige Auskunft gegeben hätte. Ein böswilliger Verstoss gegen die bestehende Verordnung liegt nicht vor.
Anmerkungen 1 Gemäß der Definition in den Durchführungsverordnungen zu den „Nürnberger Gesetzen“ eine Person, die mindestens drei „volljüdische“ Großeltern besaß. Die Zugehörigkeit der Großeltern zur „jüdischen Rasse“ bestimmte sich nach der Konfessionszugehörigkeit.
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2 Amtlich aufbewahrte, für eine Gerichtsverhandlung als Beweismittel bedeutsame Gegenstände. 3 Polizeirevier. 4 Evangelisch. 5 Die Geheime Staatspolizei (Gestapo), 1933 zunächst in Preußen, dann im gesamten Reichsgebiet tätig, ging aus der politischen Abteilung des Berliner Polizei-Präsidiums hervor und wurde nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten – vor allem in ihrer Bindung an die SS – zu einem der wichtigsten Unterdrückungs- und Vernichtungsinstrumente des NS-Staats. Die Kölner Staatspolizeistelle war Teil der Gestapohierarchie, an deren Spitze das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa) und seit 1939 das Reichssicherheitshauptamt stand; es folgten auf der Ebene der Provinzen die Staatspolizeileitstellen (für die Rheinprovinz mit Sitz in Koblenz, seit 1939 in Düsseldorf ), der schließlich die Staatspolizeistellen untergeordnet waren. 6 Polizeimeister.
Literatur Guido Kisch, The Yellow Badge in History, in: Historia Judaica 19 (1957), S. 89–146; Wolf Stegemann/S. Johanna Eichmann, Der Davidstern. Zeichen der Schmach – Symbol der Hoffnung. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden, Dorsten 1991; Gershom Scholem, Das Davidschild. Geschichte eines Symbols, in: ders., Judaica I, Frankfurt/M. 1963, S. 75–188
67 „Haben Sie doch Verständnis für meine seelische Not“ – Die mörderischen Folgen der nationalsozialistischen Rassenpolitik für die Familie N. in Duisburg, 1943 Schreiben von Felix N., dem Ehemann von Jenny N., an die Kommandantur des KZ Auschwitz, 16. Juni 1943 LAV NRW R, RW 58, 67815 Die im Quellentext erwähnten Eigennamen wurden gemäß den Richtlinien des LAV NRW anonymisiert.
Die am 15. September 1935 auf dem Nürnberger Parteitag erlassenen „Nürnberger Gesetze“ – insbesondere das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, das die Eheschließung und außereheliche Beziehungen von Juden und Nichtjuden als „Rassenschande“ verbot – griffen in eklatanter Weise in das Privatleben der Bürger ein und öffneten dem Denunziantentum Tor und Tür. Sie zerstörten zahlreiche Familien, so auch die Familie N. aus Duisburg.
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Am 20. Januar 1943 wurde Jenny N., geborene Nathan (geb. 1900 in Dortmund), auf Anordnung der Staatspolizeileitstelle Düsseldorf in Schutzhaft genommen. Jenny N. war jüdischer Herkunft, evangelischer Konfession und mit einem Nichtjuden verheiratet. Aus der Ehe ging der Sohn Rolf hervor. Jenny N. wurden die „versuchte Verschleierung der rasseschänderischen Beziehungen ihres Sohnes“, die „Sabotierung“ der „zur Erhaltung der Rassereinheit ergangenen Bestimmungen“ sowie staatsfeindliche Äußerungen vorgeworfen. Der „Halbjude“ Rolf N. hatte ein Liebesverhältnis mit einer Nichtjüdin, die ein Kind von ihm erwartete. Jenny N. hatte versucht, ihren nichtjüdischen Schwager dazu zu überreden, sich als Vater des Kindes zu bekennen. Außerdem wurde ihr vorgeworfen, dass sie feindliche Rundfunksender abgehört habe. Am 1. April erging der Schutzhaftbefehl der Geheimen Staatspolizei. Am 15. April wurde Jenny N. mit einem Sammeltransport in das KZ Auschwitz gebracht. Auch ihr Sohn wurde verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Die Mutter ihres Enkels starb bei der Geburt. Ihr Ehemann Felix, der an einer Kriegsverletzung aus dem Ersten Weltkrieg und Depressionen litt, kümmerte sich um das Baby. Am 16. Juni 1943 schrieb Felix N. einen Brief an die Lagerkommandantur in Auschwitz und bat um ein Lebenszeichen seiner Frau. Ungeschönt und voller Verzweiflung legte er seine eigene katastrophale körperliche und seelische Situation offen. Seine Hoffnung, dass das „arische Aussehen“ seiner Frau, ihre christliche Konfession, die nationale Gesinnung ihrer Familie und ihr vorbildliches soziales Verhalten von Bedeutung seien, erwies sich als trügerisch. Als Felix N. den hier abgedruckten Brief nach Auschwitz abschickte, lebte seine Frau bereits nicht mehr. Sie war am 10. Juni im Häftlingskrankenbau gestorben – angeblich an Fleckfieber. Das Schreiben von Felix N. übersandte am 4. Juli 1943 ein SS-Untersturmführer aus Auschwitz der Staatspolizeileitstelle Düsseldorf mit dem Ersuchen, die Angehörigen über den Tod von Jenny N. zu informieren. Felix N., dem die Ehefrau und der Sohn genommen worden waren, wurde fortan von einer Haushaltshilfe unterstützt. Sein Sohn Rolf wurde 1945 von Auschwitz aus auf einem Todesmarsch in das KZ Mauthausen geschickt; er konnte überleben. Mit Schreiben vom 25. 5. 1943 habe ich Sie gebeten, mich über die Ankunft meiner Frau Sara Jenny N., geb. 12. 6. 1900, und Schreibmöglichkeit zu unterrichten. Bis heute bin ich noch ohne Antwort von ihnen. Täglich muß ich die besorgten Fragen von allen mir bekannten Personen, ob ich Post habe, verneinend beantworten. Da nun schon 9 Wochen seit der Verbringung meiner Frau in das Konzentrationslager vergangen sind und ich noch immer kein Lebenszeichen von ihr habe, habe ich die schlimmsten Befürchtungen. Haben Sie doch Verständnis für meine seelische Not! Die Frau, mit der man 24 Jahre in glücklichster Ehe lebt, ist doch das Wesen, das einem auf der Welt am nächsten steht. Wenn Sie auf meine Frau keine Rücksicht nehmen, dann üben Sie wenigstens Rücksicht gegen mich.
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Ich bin 51 Jahre alt, Arier1 und von Beruf Buchhalter bei der Duisburger Kupferhütte. Infolge Gewehrschuß in den linken Oberschenkel bin ich Schwerkriegsbeschädigter des Weltkrieges 1914/18, habe ein steifes Knie- und Fußgelenk mit Spitzfußstellung, 5 cm Beinverkürzung. Die Wunde eitert noch – Fistel. Außerdem leide ich an Ischias. Hieraus können Sie ersehen, dass mir meine Frau auch als Helferin und Pflegerin fehlt. Meine Frau, die der evgl.2 Religion angehört und arisches Aussehen hat, stammt aus national eingestellter Familie. Der verstorbene Vater meiner Frau hat sich als Vierundvierzigjähriger freiwillig gemeldet und war bis Ende des Krieges Soldat, davon 2 Jahre an der Front. Der Großvater meiner Frau war Veteran der Kriege 1864, 1866 und 1870/713 und außer anderen Ehrenzeichen mit dem Düppeler Sturmkreuz4 ausgezeichnet. Letzteres wurde nur Wenigen verliehen. Meine Frau wird wegen ihrer Zurückhaltung und Hilfsbereitschaft von allen Hausbewohnern (7 Familien), Nachbarn, Bekannten und meinen zahlreichen Verwandten allgemein als selten anständiger Mensch angesehen und geachtet. Bei allen Haussammlungen, ob in Geld, Büchern oder Wintersachen, wirkte sie direkt vorbildlich, was allgemein anerkannt wurde. Das Verhältnis meines Sohnes hat sie weder gefördert noch unterstützt, sondern sich vollkommen ablehnend verhalten. Ihrer ganzen Aufführung nach kann ihr weder staatsfeindliches noch staatsgefährdendes Verhalten vorgeworfen werden. Es wäre ihr auch bei ihrer Erziehung und bei meiner Einstellung gar nicht möglich gewesen. Mir ist nicht bekannt, was meine Frau verbrochen haben soll, dass sie so lange festgehalten und dazu noch in ein Konzentrationslager verbracht wird. Die seelischen Qualen, die mir dadurch auferlegt sind, werden von Tag zu Tag schlimmer. Die furchtbarsten Gedanken und Vorstellungen nehmen mir den Schlaf und jede Ruhe. Es ist mir fast unmöglich, meine Berufspflichten zu erfüllen. Zu der durch die fortwährenden Fliegeralarmierungen und Terrorangriffe bedingten Nervenanspannung, die mich als Körperbehinderter noch schwerer als einen Gesunden trifft, tritt die unsagbar schwere seelische Belastung durch die Sorge um Frau und Kind. Ich wüsste nicht, womit ich solche Quälerei verdient habe. Außer meiner selbstverständlichen Pflichterfüllung im Kriege habe ich als Körperbehinderter noch 1920, während der kommunistischen Wirren5, Dienst in der Bürgerwehr getan. Dieses kann der Gaustabsleiter des Gaues6 Essen, Herr Arno F. bezeugen, der der Wache, die ich als Wachhabender führte, zugeteilt war. So mancher, der sich damals gleichgültig, ja sogar ablehnend verhielt, genießt heute alle Rechte und Vorteile des Staates, während ich, der der Heimat auch in ihren schwersten Stunden die Treue gehalten hat, heute so schweres Leid ertragen muss. Meine Gesundheit habe ich im Dienste des Vaterlandes verloren, auch noch meine Frau zu verlieren, wäre nicht mehr zu ertragen.
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Ich appelliere an Ihr menschliches – und Gerechtigkeitsgefühl! Geben Sie mir die gewünschte Auskunft und meiner Frau die Schreiberlaubnis, wodurch der auf mir lastende seelische Druck etwas gemildert wird. Anlage: 1 Freiumschlag Heil Hitler! [Unterschrift]
Anmerkungen 1 Als „Arier“ wurden zunächst Mitglieder der indoeuropäischen Sprachfamilie bezeichnet, doch schon im 19. Jahrhundert wurde der Begriff biologisch-rassistisch überformt. In der nationalsozialistischen Rassenideologie stand der Begriff „Arier“ für Menschen „deutscher oder artverwandter Abstammung“. Als „Nichtarier“ galten dementsprechend Menschen, die einen oder mehrere jüdische Eltern- bzw. Großelternteile hatten. 2 Evangelisch. 3 1864 Deutsch-Dänischer Krieg, 1866 Preußisch-Österreichischer Krieg, 1870/71 Deutsch-Französischer Krieg. 4 Auszeichnung für die Teilnahme am Sturm auf die Düppeler Schanzen, einer entscheidenden Schlacht im Deutsch-Dänischen Krieg. 5 Infolge des Kapp-Putsches, eines Angriffs rechtsgerichteter Kreise auf die demokratische Verfassung der Weimarer Republik, brach im Ruhrgebiet ein großer Aufstand der Arbeiterschaft aus, dessen Führung rasch die Kommunisten übernahmen. 6 Parteibezirk der NSDAP. Insgesamt gab es im Deutschen Reich 42 Gaue.
Literatur Otto Dov Kulka, Die Nürnberger Rassengesetze und die deutsche Bevölkerung im Lichte geheimer NS-Lage- und Stimmungsberichte, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 32 (1984), S. 582–624; Martin Feyen, Verbotene Liebe. Die Verfolgung von „Rassenschande“ im Ruhrgebiet 1933–1945, in: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 115 (2003), S. 99–186
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68 „Komme ich nun zu den Juden oder zu den Politischen?“ – Briefe des Malers Franz Monjau aus dem Polizeigefängnis in Ratingen, 1944 Franz Monjau 1903–1945. Gemälde – Aquarelle – Dokumente. Zur Erinnerung an den 80. Geburtstag des Künstlers. Stadtmuseum Düsseldorf 30.1. – 27.2.1983, Düsseldorf 1983, S. 15 und 17
Am 23./24 Dezember und an Silvester 1944 schrieb Franz Monjau zwei Briefe im Polizeigefängnis in der Wiesenstraße in Ratingen. Diese wurden – wie auch andere Schreiben – durch einen unbekannten Helfer hinausgeschmuggelt und erreichten auf diesem Weg ihren Empfänger: Franz Monjaus Ehefrau Mieke Monjau (1903–1995). Die schriftlichen Dokumente übergab Mieke Monjau später gemeinsam mit den wenigen erhaltenen Bildern und Graphiken ihres Mannes dem Düsseldorfer Stadtmuseum. Franz Monjau wurde am 30. Januar 1903 in Köln als Kind katholischer Eltern geboren; sein Vater Max Monjau war Fabrikant in Barmen, seine Mutter Pauline, geb. Meyer, entstammte einer jüdischen Familie in Mainz. 1910 siedelte die Familie nach Düsseldorf um. Nach dem Abschluss des Gymnasiums besuchte Franz Monjau 1922 bis 1926 die Düsseldorfer Kunstakademie, die er als Meisterschüler von Heinrich Nauen verließ. Franz Monjau war Mitglied der Künstlergruppe „Neues Rheinland“, später der „Rheinischen Sezession“ und verstand sich als progressiver Künstler. Politisch stand er der KPD nahe. Einen seiner ersten großen Aufträge erhielt er 1926 anlässlich der “Gesolei“ (Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen) in Düsseldorf: Zusammen mit anderen Künstlerkollegen schuf er die Fresken im Rheingoldsaal der Rheinterrassen. Um seiner Arbeit als freischaffender Künstler eine solide materielle Basis zu geben, begann Franz Monjau ein Studium, das ihm eine Laufbahn als Werklehrer ermöglichte. 1931 bis 1933 war er Studienreferendar in Duisburg und Düsseldorf (Rethel-Gymnasium). 1930 heiratete er Maria (Mieke) Mertens. Kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde Franz Monjau zusammen mit seiner Frau, dem befreundeten Maler Julo Levin und anderen Freunden wegen seiner politischen Orientierung verhaftet, bald aber wieder freigelassen. Den Staatsdienst musste er verlassen. Da er der nationalsozialistischem Rassenideologie zufolge als „Mischling 1. Grades“ bzw. „Halbjude“ galt, erhielt er Mal- und Ausstellungsverbot, was seine Karriere als Maler beendete. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schulte ihn das Arbeitsamt zum technischen Zeichner um. Als 1944 Gerüchte laut wurden, dass auch „Halbjuden“ die Deportation drohe, tauchte Franz Monjau unter, wurde aber von einer Nachbarin denunziert und in das Gefängnis in der Ratinger Wiesenstraße gebracht. Am 16. Januar 1945 wurde Franz Monjau in das Lager Buchenwald bei Weimar deportiert und am 28. Februar 1945 ermordet.
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Mein liebes Kind. In Erwartung für mich entscheidender Dinge schreibe ich Dir. - Leider recht verzagt bin ich u. ungeduldig. Die Öde der Haft drückt mich nieder, ich weiß nicht, wo ich vor Langeweile bleiben soll. Und dazu kommt die Ungewißheit der Zukunft. Gerade jetzt möchte man verzweifeln – und dann hört man so viel Grausiges aus den Lagern der Halbjuden. Komme ich nun zu den Juden oder zu den Politischen? Daß ich diese Strapazen nicht aushalten werde, darüber bist Du Dir doch klar. So werde ich also nicht das Ende überleben – so oder so gehe ich vor die Hunde. Und auch Du wirst mir nicht helfen können; die wenigen Situationen in Deinem Leben, wo auch Du hilflos, machtlos bist. Und ich hatte nach Deinem letzten Bericht so viel Hoffnung gehabt, nun wo Du in Berlin zu spät gekommen bist – weiß ich, daß alles aus ist.1 […] Ich stehe kurz vor meinem Abtransport – wie zu vermuten ist – wie gerne hätte ich Dich noch gesehen, ein paar Worte gesprochen – etwas Trost gehabt – und Nachricht von Dir habe ich auch noch nicht, obwohl schon seit Tagen etwas von Dir auf der Mülheimerstr.2 liegt. So wird man gequält! Dabei habe ich die stille Hoffnung, daß Du Weihnachten kommen würdest wie im vorigen Jahr – obschon diese versauten Tage nichts für die Zukunft Gutes vorhersagten –. Aber Du kannst ja gar nicht kommen, Du bekommst keinen Urlaub oder Reisegenehmigung. Das Schicksal spielt mir übel mit. Ich hätte nie geglaubt, daß ich einmal so armselig, elend u. verlassen sein würde. – Dabei ließe sich das alles noch ertragen, wenn man wüßte, daß dieses Leid nicht umsonst ist, daß man herauskommt am Ende, u. wann ist das Ende da? Zum Schluß dann doch noch den Genickschuß? Ich denke an unsere Freunde, was die wohl machen, an die man viel zu wenig gedacht hat, wenn man zufrieden war. – So schön, harmonisch verlief unsere letzte Ferienfahrt – nur daß ich Dich allein auf Tausch gehen ließ – war ein Schönheitsfehler – die Bilder von dort, es sind meine letzten u. besten. Die müssen sichergestellt werden. Eines von diesem, eines vom vorigen Jahr. Jetzt kommt das neue Jahr, das schlimmste unseres Lebens, in dem wir nicht zu Ostern am Rhein bei Kaiserswerth sonnen können oder gar im Sommer an der See sind. Du wirst jetzt in dieser Hinsicht auch sehr einsam werden. Das Leben wird furchtbar. Verzeih, wenn ich Dir den Kopf vollhänge. Aber manchmal überkommt es einen u. man ist totunglücklich. Ich sage immer: hart werden – doch wie schwer fällt das. Eben erhalte ich 2 kleine Paketchen von Dir mit je 2 Äpfelchen. Ich danke Dir sehr, aber auch ein Zeichen, daß Du nicht kommst, was mir doch viel lieber gewesen wäre, auch wenn Du mit leeren Händen gekommen wärest. Du glaubst gar nicht, was es bedeutet, einen lieben Menschen zu sehen. Und daran denken, daß wir uns vielleicht gar nicht mehr sehen, das macht mich so traurig, bringt mich zum Weinen. Ich bin so schrecklich nervös. Und sollten wir uns nicht mehr sehen, so danke ich Dir für all das Gute, was Du für mich getan – all die langen Jahre hindurch. Ich möchte nur hoffen, daß ich nicht den
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Kelch vollends zur Neige trinken muß, u. auch, daß Du mich nicht im Stich läßt und mir hilfst. Du glaubst gar nicht, wie einsam ich mich fühle – nicht weil Weihnachten ist – haben ja nie viel um diese Feste gegeben – aber eine solche Häufung der Feiertage – läßt den Verlust der Freiheit ganz besonders schmerzlich empfinden. Eben d. 24. morgens war I. hier mit Paketen. Jetzt weiß ich, daß Du nicht kommst! ich bin für die Tage gut versorgt worden. Man hat sich sehr, sehr angestrengt. – Hoffentlich quält man mich im Lager nicht allzu sehr mit Schlägen etc. Wenn ich kann, gebe ich Dir natürlich sofort Bescheid u. Du gibst diesen dann weiter. Wie lange mag man mich einsperren? Wie lange mag das wohl dauern? Ich denke an Dich, viel und in tiefen Gedenken. Aus dem Kerker heraus grüße ich Dich viel tausendmal, mein gutes liebes Mückchen – Dein F.
Am 31. Dezember 1944 schrieb Franz Monjau einen weiteren Brief an seine Frau: Heute Sylvester – ich konnte den Brief, den ich Dir Weihnachten schrieb, nicht wegbekommen – erhielt Deine Plätzchen mit Energen3 u. zum 2. x Zigaretten, habe auch die wundervollen Haferflockenplätzchen erhalten. Vielen Dank. Währenddessen haben hier 8 Mann aus 3 Zellen Ausbruchsversuch gemacht – ist aber vorzeitig entdeckt worden u. es hat Prügel gehagelt – ich wußte davon – machte jedoch keinen Gebrauch – weil Du sonst meines Erachtens dafür als Geisel gefaßt wirst – es genügt, daß ich allein leide. Natürlich – jetzt hier alles verschärft – ich habe es noch am besten hier – wegen guter Führung. Aber wenn ich jemals solche Prügel bekomme, dann mache ich Schluß mit mir – ich wünschte, ich hätte etwas Gift hier. Die ganze Nacht ging es im Haus rund mit Gummiknüppeln etc. Deinen Brief habe ich noch immer nicht – er liegt immer noch bei der Gestapo. Aber Deine Paketchen zeigen, daß Du noch wohlauf bist. Wann es hier weggeht, weiß ich noch nicht. – Hier ist es ja auch zum Aushalten – ich nehme an, dass die Unterlagen von Berlin wieder hier sind. Nun erleben alle, die uns nahe stehen, dasselbe Schicksal4 –. Ich verlebe in Gedanken all unsere schönen Reisen noch einmal durch, die Stunden auf, an dem Strom, an der See, im Norden, in Holland, in Brügge. Auf dem Rhein bei Mainz. All dieses Schöne sinkt jetzt in Schutt u. Asche. Es bleibt nicht mehr viel Schönes – nur noch einmal malen können – noch einmal schaffen – was man erlebt. Die Hoffnung muß ich eben behalten. Vielen Dank für die Zigaretten, die ich so schmerzlich vermisse, die Tage sind so lang. Heute wieder Ddorf5 bombardiert. Soviel ich sehen konnte: der Norden. Die Plätzchen sind sehr gut. In 6 Stunden beginnt 1945. Ich hoffe, daß alles gut geht, ein neues schönes u. besseres Jahr u. Beginn eines gesammelteren u. vernüftigeren besonders planvolleren Lebens. Dir alles Gute. Dein F.
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Anmerkungen 1 Mieke Monjau hatte sich in Berlin vergeblich beim Reichssicherheitshauptamt, der Gestapozentrale, bemüht, ihren Mann freizubekommen. 2 Seit 1943 hatte im Gebäude Mülheimer Straße 47 in Ratingen die Gestapo-Leitstelle Düsseldorf ihren Sitz, nachdem deren Gebäude in Düsseldorf bei einem Bombenangriff zerstört worden war. 3 Traubenzucker. 4 Gemeint sind der Freund Julo Levin, Maler und Zeichenlehrer an der jüdischen Schule in Düsseldorf, und dessen Mutter, Franz Monjaus eigene Mutter sowie die Freunde Peter Ludwigs, Alfred I. Oppenheim und Martha Cohn-Schweriner. 5 Düsseldorf.
Literatur Mieke Monjau, „… zu denen halten, die verfolgt sind“, hg. von Bernd H. Stappert, Mössingen-Talheim 1993; dies., Meine Erinnerungen an Julo Levin und Franz Monjau und die Geschichte der Schülerzeichnungen, in: Stadtmuseum Düsseldorf (Hg.), Verjagt, ermordet. Zeichnungen jüdischer Schüler 1936–1941, Düsseldorf 1988, S. 26–37; Holger Berschel, Bürokratie und Terror. Das Judenreferat der Gestapo Düsseldorf 1935–1945, Essen 2001; Reinhard Mann, Protest und Kontrolle im Dritten Reich. Nationalsozialistische Herrschaft im Alltag einer rheinischen Großstadt, Frankfurt/M. 1987
69 Leben im Schatten der Deportation in Mönchengladbach, 1941 Hilde Sherman, Zwischen Tag und Dunkel. Mädchenjahre im Ghetto, Frankfurt/M./ Berlin 41993, S. 26–29 Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Literatur-Agentur Liepman AG, Zürich
Ihre Erinnerungen an die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung ihrer Familie. in der NS-Zeit schrieb Hilde Sherman nach 1945 vor allem für ihre Kinder und. Enkel auf: „Weil es nicht nur Geschichte ist“. Der Text, der 1984 erstmals in. Deutschland publiziert wurde, ist auch ihrem neuen Heimatland Kolumbien gewidmet. Die Autorin wurde als Hilde Zander am 8. März 1923 in Wickrathberg bei Mönchengladbach geboren. Sie entstammte einer jüdisch-orthodoxen Familie. Ihre Eltern waren der Gerbereiarbeiter Albert Zander und seine Ehefrau Paula, geb. Wiesenfel-
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der. Hilde hatte noch zwei Geschwister: Herbert und Ruth. Die Familie wohnte in einem Haus neben der kleinen Synagoge in der Berger Dorfstraße. In dem hier ausgewählten Abschnitt der Erinnerungen beschreibt Hilde Sherman die seit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sich immer mehr verschärfenden Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung. Die Kennzeichnung der Menschen mit dem „Judenstern“ erlebte die junge Frau als eklatanten Einschnitt. In dem Text erwähnt sie Anpöbelungen und Distanz der Nachbarn, aber auch Solidarität von Seiten ausländischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter. Im Oktober 1941 wurden die ersten Familienangehörigen nach Minsk in Weißrussland deportiert; andere Verwandte und Freunde wurden in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz) in Polen gebracht. Ausgangspunkt der Deportationen war der Düsseldorfer Schlachthof. Die in Deutschland Gebliebenen lebten in ständiger Unsicherheit, keiner wusste, wann er an der Reihe war. Hilde Zander beschreibt die Vorbereitungen, die Schwierigkeiten, Ausrüstungsgegenstände zu erstehen, die einen gewissen Schutz gegen Kälte, Hunger und andere widrige Lebensumstände boten. Leidvoll wird der Abschied von Familienangehörigen erfahren, vor allem von der Großmutter. Allein der Familienzusammenhalt konnte Hilde Zander in dieser Phase noch ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln. Kurz vor ihrer eigenen Deportation in das Ghetto Riga in Lettland heiratete sie im Dezember 1941 Kurt Winter aus Mönchengladbach. Hilde Sherman hat als einzige ihrer großen Familie die NS-Zeit überlebt. Ihr erster Mann Kurt starb schon am 27. April 1942 in Lager Salaspils bei Riga, angeblich an „Lungenentzündung“. Sie selbst blieb bis 1944 im Ghetto Riga. Von dort wurden die Überlebenden zunächst nach Libau, einer lettischen Hafenstadt, dann nach Hamburg-Fuhlsbüttel und schließlich in das Arbeitslager Kiel-Hassee gebracht. Dort wurde Hilde Sherman befreit und gelangte dank der Intervention von Folke Graf Bernadotte nach Schweden. Schwerkrank und völlig unterernährt konnte sie sich nur langsam und mühsam erholen. Später wanderte Hilde Sherman nach Kolumbien aus. […] Ab 19. September 1941 mußten wir den Judenstern tragen, an sichtbarer Stelle auf der linken Brustseite aufgenäht. Und durften nicht mehr auf dem Bürgersteig gehen, sondern nur am Rand der Gosse. Wir durften keine Züge und keine Straßenbahnen mehr benutzen. Jetzt waren wir nicht nur Gefangene, sondern auch noch Gezeichnete. Als wir am nächsten Morgen aus dem Haus zur Arbeit gingen, wandten sich die Nachbarn wortlos von uns ab. Ein paar Halbwüchsige schrien uns ordinäre Worte nach, dann fingen sie an zu singen: „Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt…“ Ein paar französische Kriegsgefangene, die in einer Kolonne vorbeigeführt wurden, winkten uns verstohlen zu. Auf dem Wege zur Arbeit, in der Regentenstraße, traf ich meine Freundin Ilse Elkan.1 Da kamen zwei holländische Arbeiter auf uns zu und drückten uns ihre Frühstücks-
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brote in die Hände mit den Worten: „Seid tapfer, Mädchen, betrachtet diesen Stern als Auszeichnung.“ Trotzdem war es schwer; wir waren auf alles gefaßt, nur nicht auf Mitleid. Im Oktober 1941 wurde mein Onkel Emil Zander mit seiner Frau Sofia und den beiden Söhnen Otto, fünfzehn, und Dieter, neun Jahre alt, zusammen mit seinen Schwiegereltern und den Brüdern und Schwestern seiner Frau von Düsseldorf nach Minsk deportiert. Insgesamt dreizehn Personen. Nicht einer von ihnen überlebte. Welch ein Glück: Herr Weil starb gerade im richtigen Augenblick. Seine Frau Elise wurde mit dem ersten Transport aus Mönchengladbach nach Lodz deportiert, mit insgesamt 1080 anderen jüdischen Leuten aus Mönchengladbach. Aus dem Düsseldorfer Schlachthof, wo der Transport gesammelt wurde, konnte Frau Weil mir eine Karte senden. Sie beschwor uns, wenn es an der Zeit sei, sollten wir warme Sachen mitnehmen, so viele wie möglich. Ihr hatte man in Düsseldorf den Pelzmantel abgenommen, sie war schon halbtot vor Kälte, bevor die Deportation begann. Mit diesem Transport gingen zwei Onkel, eine Tante, drei Vettern mit drei Kindern im Alter von einem, vier und fünf Jahren nach Lodz (Litzmannstadt, wie es auf deutsch umgetauft wurde), weiter Julie Ullmann, die Eigentümerin des Hauses, in dem wir wohnten. Zehn Mitglieder unserer Familie. Nicht einer von ihnen kam zurück. Die freiwerdenden Wohnungen wurden von der Gestapo versiegelt. Im November 1941 wurden meine Tante Sophie, Onkel Benno Wolf und dessen beide Schwestern mit allen Angehörigen von Köln nach Lodz in Polen deportiert. Alle wurden umgebracht. Im selben Transport fuhr der Ex-Schwager meiner Mutter, Alex Harf, mit Frau und Stiefsohn nach Lodz. Keiner kam zurück. Im November wurde mein Onkel Sigmund Wiesenfelder mit Frau und Kindern – Herbert, fünfzehn, Berta, elf, Miriam, vier – von Frankfurt nach Minsk deportiert. Meiner Cousine Margot gelang es, einen Aufseher in Berlin zu erweichen, indem sie ihm ihre Armbanduhr schenkte. Sie durfte nach Frankfurt reisen und kam gerade rechtzeitig an, um mit ihren Eltern und Geschwistern den Zug nach Minsk zu besteigen. Niemand von ihnen überlebte. Anfang Dezember 1941 bekamen meine Tante Emma und Onkel Sigmund die Aufforderung zur Deportation, zusammen mit Gustav Harf und dessen Familie, in deren Haus sie wohnten. Meine Großmutter, inzwischen 78 Jahre alt, wurde sterbenskrank. Wir bemühten uns fieberhaft, sie zu uns nach Mönchengladbach zu holen. Es wurde uns strikt untersagt. Statt dessen wurde sie zusammen mit sechzehn anderen alten, alleinstehenden, fast hilflosen Frauen zu Dora Harf in Wickrath gebracht. Wir alle waren außer uns vor ohnmächtiger Wut. Ich sagte zu meinen Eltern: „Hoffentlich stirbt Oma bald, dann wissen wir wenigstens, dass sie auf dem Friedhof neben Großvater ruht.“
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Mein Vater sagte gar nichts, meine Mutter war empört über meine Ketzerei. Aber ich liebte meine Oma abgöttisch. Was wäre ihr alles erspart geblieben, wenn sie in ihrem Bett gestorben wäre… Später stellte sich jedoch heraus, daß Juden nicht einmal in ihren Gräbern Ruhe hatten. Der Friedhof wurde verwüstet, die Grabsteine wurden zertrümmert. Auch Winters standen auf der Liste für die Deportation. Ich meldete mich freiwillig, um zusammen mit Kurt, den ich nach dem Krieg heiraten wollte, deportiert zu werden. Meine Eltern und Geschwister meldeten sich ebenfalls, wurden aber nicht akzeptiert. Niemand wußte, nach welchen Gesichtspunkten das alles vor sich ging. Bei der Firma R. mußten wir Arbeiterinnen aus Holland und Belgien anlernen, denn alle Jüdinnen waren zur Deportation „freigegeben“. Es war so einfach, Ersatz zu finden… Uns wurde vorgeschrieben, was wir mitnehmen mußten: pro Person einen Koffer von fünfzig Kilo mit Kleidung, eine Bettrolle von dreißig mal siebzig Zentimetern, pro Familie einen Zentner Hülsenfrüchte, einen Kanonenofen, Brennspiritus, Waschmittel, Verbandzeug und so weiter. Aber offiziell konnten wir nichts kaufen. Denn: Juden sind von der Zuteilung… und jener Zuteilung… und dieser Zuteilung… ausgeschlossen. Es gelang uns, das eine und andere zu phantastischen Überpreisen schwarz zu kaufen oder andere Gegenstände dafür einzutauschen; zum Beispiel gaben wir Bettwäsche für Kerzen, ein Leinenkostüm für eine Garnitur wollene Unterwäsche, eine handgestickte Tischdecke für eine Taschenlampe. Natürlich preßte jeder seine besten Sachen in den Koffer. Wir wußten ja nicht, wann wir wieder etwas kaufen konnten. Wie naiv wir immer noch waren… Am 6. Dezember, abends nach Schabbat2, heirateten Kurt Winter und ich im Haus meiner Eltern. Lehrer Heymann aus Rheydt, ein Freund meines Vaters, vollzog die Trauung unter dem Tallith3. Kurt zertrat das Glas: „Masel tow. Le Shanah habaa be Jeruschalajim.“4 Shanah habaa…5 Außer Kurts Familie und seiner „halb arischen“ Cousine aus Düsseldorf waren meine Eltern, Geschwister und Emma zugegen. Sie waren trotz des großen Risikos gekommen, die Judensterne hatten sie abgenommen. Kurz nach Mitternacht versuchten sie, heil nach Hause zu kommen. Am nächsten Morgen, dem 7. Dezember 1941, hörten wir von dem Überfall der Japaner auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbour, ohne vorherige Kriegserklärung der mit Deutschland verbündeten Japaner an die USA. Amerika trat in den Krieg ein. Welche Ausmaße hatte dieser Weltbrand angenommen! Montag morgen gingen Kurt und ich durch die Felder und fuhren, teilweise mit der Straßenbahn und natürlich ohne Judenstern, zu meiner Großmutter, um uns von ihr zu verabschieden. Damals habe ich das Weinen verlernt.
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Wir blieben noch zwei Tage bei meinen Eltern und Geschwistern. Am Mittwoch, dem 10. Dezember, verabschiedeten wir uns von meiner Mutter und Ruth. Für immer. Gut, daß wir es nicht wußten. Mein Vater und Herbert begleiteten uns zum Bahnhof. Als wir uns verabschiedeten, sah ich meinen Vater zum zweiten Mal in meinem Leben weinen. Das erste Mal war beim Tode seines Vaters gewesen. Mein Bruder sagte nur: „Bis bald…“ Ich aber konnte nicht weinen. Ein riesengroßer Stein saß in meiner Brust. Und sitzt noch immer da, bis in alle Ewigkeit…[…]
Anmerkungen 1 Zu den Lebensschicksalen der Menschen, die in diesem Text genannt werden, vgl. Günter Erckens, Juden in Mönchengladbach, 2 Bde., Mönchengladbach 1988/89. 2 Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 3 Gebetsmantel. Er ersetzt hier die Chuppa, den Trauhimmel. 4 Hebr. Viel Glück. Das kommende Jahr in Jerusalem! 5 Hebr. Kommendes Jahr.
Literatur Hildegard Jakobs/Carolin Huber/Vera Luchtenberg, Zeitspuren in Düsseldorf. Ein Stadtführer, hg. vom Förderkreis der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Düsseldorf 2002; Karola Fings, Messelager Köln. Ein KZ-Außenlager im Zentrum der Stadt, Köln 1996; Birthe Kundrus/Beate Meyer (Hg.), Die Deportation der Juden aus Deutschland. Pläne – Praxis – Reaktionen 1938–1945, Göttingen 2004; Gedenk- und Bildungsstätte Haus der WannseeKonferenz (Hg.), Katalog der ständigen Ausstellung, Berlin 2006
IV. Jüdisches Leben von 1945 bis heute 1. Einführung Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Kaum 15.000 jüdische Menschen in Deutschland hatten außerhalb der Konzentrationslager das nationalsozialistische Terrorregime überlebt. In Köln waren es etwa 30 bis 80 Personen – die Angaben sind sehr unterschiedlich. Ab Mai 1945 organisierte die Stadt Köln Rückholaktionen für jüdische Bürgerinnen und Bürger, die in den Konzentrationslagern Buchenwald und Theresienstadt befreit worden waren. Nach Düsseldorf kamen ab Mai 1945 57 Personen, die im Versteck oder in Konzentrationslagern überlebt hatten. Die Rückkehrer waren in ihrer großen Mehrzahl allein, krank bzw. in schlechter körperlicher Verfassung und traumatisiert, wohnungslos, unterernährt und belastet durch die Ungewissheit des Schicksals ihrer Angehörigen. Bald mussten die meisten von ihnen erfahren, dass viele oder auch alle Familienmitglieder ermordet und sie die einzigen Überlebenden waren. Die meisten Überlebenden hatten die NS-Zeit überstanden, weil sie ein nichtjüdisches Elternteil oder einen nichtjüdischen Ehepartner hatten und daher länger vor Verhaftung und Deportation geschützt gewesen waren. Viele hatten keiner jüdischen Gemeinde angehört oder waren wenig vertraut mit der jüdischen Religion und Kultur. 1946 befanden sich in Deutschland zusätzlich zu den deutschen Juden, die im Untergrund oder in Ghettos und KZs überlebt hatten, etwa 200.000 aus den Vernichtungslagern befreite jüdische Menschen, die zumeist aus osteuropäischen Ländern stammten. Die sogenannten Displaced Persons (DPs) lebten in besonderen Lagern, vor allem in der amerikanischen Besatzungszone. Hinzu kamen bald weitere Flüchtlinge insbesondere aus Polen, die vor dem dort in der Nachkriegszeit grassierenden Antisemitismus und Pogromen flohen. Eine weitere Gruppe waren Remigranten, die aus den unterschiedlichsten Gründen nach Deutschland zurückkehrten. Zunächst kamen vor allem politisch engagierte Männer und Frauen, zum Teil als Angehörige der alliierten Militärverwaltung. Die Mehrzahl der jüdischen Menschen, die sich in den ersten Nachkriegsjahren in Deutschland befanden, betrachtete Deutschland als „Wartesaal“ oder „Transitland“, das sie möglichst rasch wieder verlassen wollten, um in den USA oder Palästina/Israel eine neue Heimat zu finden. Anders als in Süddeutschland hielten sich im Land Nordrhein-Westfalen, das Teil der Britischen Besatzungszone war, nur relativ wenige jüdische DPs auf. Die Mehrzahl der dort lebenden Juden waren Heimkehrer aus den Konzentrationslagern und Menschen, die versteckt oder unter falscher Identität überlebt hatten und sich für eine Übergangszeit in ihren Wohnorten einrichteten. Die sich nach Kriegsende neu formierenden Gemeinden wurden als Provisorien begriffen, deren erste Aufgabe die Organisation von Hilfe für die Opfer der NS-Verfolgung war. 1948 bestanden im Rheinland die folgenden jüdischen Gemeinden: Aachen, Bonn, Düsseldorf, Duis-
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burg, Essen, Hamborn, Köln, Krefeld, Mönchengladbach, Mülheim an der Ruhr, Oberhausen, (Mönchengladbach-) Rheydt, Ruppichteroth (Siegkreis) und Wuppertal. Die jüdische „Wohnbevölkerung“ umfasste 1949 im Land Nordrhein-Westfalen 2.912 Gemeindemitglieder. Eine vordringliche Aufgabe für die Gemeinden war die Beschaffung von Büros und Gottesdiensträumen. Die neu gegründete Kölner Gemeinde feierte ihren ersten Gottesdienst am 29. April 1945 – also noch vor dem offiziellen Ende des Krieges – in der Synagogenruine in der Roonstraße. Später richtete sie eine Gemeindeverwaltung und einen Betsaal im teilweise zerstörten ehemaligen Israelitischen Asyl für Kranke und Altersschwache in der Ottostraße in Köln-Ehrenfeld ein. Die jüdische Gemeinde Düsseldorf beging ihr Rosch ha-Schana-Fest (Neujahr) im September 1945 in einem Sitzungssaal des Oberlandesgerichts in der Cecilienallee. 1948 konnten ein Betsaal, Sitzungsräume und Büros in der Arnoldstraße 6 bezogen werden. In Bonn fanden sich die Gemeindemitglieder im Haus des Vorsitzenden Siegfried Leopold in der Quantiusstraße 4 zusammen. In Essen feierte die Gemeinde Gottesdienste in einem von der evangelischen Kirche zur Verfügung gestellten Notkirchensaal. Die soziale und religiöse Betreuung der Gemeindemitglieder, von denen viele vor allem zur Abwicklung ihrer Wiedergutmachungsansprüche in Deutschland geblieben waren, sowie die Unterstützung bei der Auswanderung: das waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Aufgaben der jüdischen Gemeinden, die von hoher Fluktuation gekennzeichnet waren. Unterstützt wurden sie von internationalen jüdischen Organisationen wie der „Jewish Relief Unit“ oder dem „American Jewish Joint Distribution Committee“ ( JOINT). Dagegen erleichterten es weder die deutsche Zivilverwaltung noch die britischen Militärbehörden den jüdischen Gemeinden im Rheinland, ihre Aufgaben zu erfüllen. Die britische Militärregierung behandelte die jüdische Minderheit wie die übrige deutsche Bevölkerung und lehnte strikt eine „Privilegierung“ der Überlebenden ab. Als überregionale Interessenvertretung der jüdischen Gemeinden wurde bereits 1945 der „Landesverband der jüdischen Gemeinden der Nord-Rheinprovinz“ mit Sitz in Düsseldorf gegründet. Rabbiner Dr. Leo Baeck, der das KZ Theresienstadt überlebt hatte, äußerte 1945, dass die „Epoche der Juden in Deutschland […] ein für allemal vorbei“ sei. Die jüdische Öffentlichkeit im Ausland betrachtete die neu entstehenden jüdischen Gemeinden in Deutschland, im Land der Mörder, mit Misstrauen und Unverständnis. Vor allem der „Jüdische Weltkongress“ vertrat die Forderung, dass alle Juden Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen hätten. Das Judentum in Deutschland wurde als „Liquidationsgemeinschaft“ verstanden. Sehr viel differenziertere Positionen vertrat das 1946 von Karl und Lilli Marx gegründete „Gemeindeblatt für die britische Zone“, aus dem das „Jüdische Gemeindeblatt für die Nord-Rheinprovinz“ und schließlich ab 1950 die „Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland“ mit Sitz in Düsseldorf hervorgingen. Karl Marx hielt stets an der Einschätzung fest, dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland eine Zukunft hätten.
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Nur zu bald mussten die in Deutschland gebliebenen Juden die erschreckende Erfahrung machen, dass Antisemitismus und antijüdische Gewalttaten auch im Nachkriegsdeutschland an der Tagesordnung blieben. Vor allem Friedhofsschändungen häuften sich. Zudem war es den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unbegreiflich, wie glimpflich die nationalsozialistischen Täter davonkamen. Die deutsche Bevölkerung und, bis auf wenige Ausnahmen, auch die politische Elite sperrten sich nach einer kurzen Phase der Offenheit gegen eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Justiz zog schon bald einen Schlussstrich. Die an zahlreichen Landgerichten stattfindenden Prozesse, die die während des Novemberpogroms 1938 begangenen Gewalttaten ahnden sollten, endeten überwiegend mit geringfügigen Haftstrafen und baldigen Begnadigungen oder Freisprüchen. Die juristische Verfolgung von weiteren NS-Verbrechen lief sehr schleppend an; erst in den 1960er Jahren begann hier ein Wandlungsprozess. Die antisemitischen Orientierungen in großen Teilen der Bevölkerung und der Verwaltung, die Vielzahl an praktischen Problemen, vor die sich die kleinen jüdischen Gemeinden in Deutschland gestellt sahen, und die anstehenden Verhandlungen um die ersten Wiedergutmachungsgesetze der Bundesrepublik ließen die Bildung eines Dachverbandes als Repräsentanz der jüdischen Gemeinden als Gebot der Stunde erscheinen. Am 19. Juni 1950 wurde in Frankfurt am Main der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ gegründet, der in Düsseldorf seinen Sitz nahm. Im Bereich des Landes Nordrhein-Westfalen waren und sind bis heute Mitglieder im „Zentralrat“ der „Landesverband der jüdischen Gemeinden der Nord-Rheinprovinz (später: von Nordrhein)“, der „Landesverband der jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe“ und die Synagogen-Gemeinde Köln. Mit der Gründung der zentralen Organisation war die erste Phase im Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland abgeschlossen. Stabile rechtliche Grundlagen für eine Existenz jüdischer Gemeinden und das Leben jüdischer Menschen im Rheinland und in der Bundesrepublik Deutschland wurden zu Beginn der 1950er Jahre geschaffen. Im Dezember 1951 beschloss der Düsseldorfer Landtag, den Synagogengemeinden in Nordrhein-Westfalen auf Antrag die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu verleihen. Damit erhielten die jüdischen Gemeinden wieder den rechtlichen Status, den sie vor 1933 besessen hatten. Es folgte die Verabschiedung der sogenannten Wiedergutmachungsgesetze, mit deren Hilfe den jüdischen Verfolgten ein Teil ihres entzogenen Vermögens zurückerstattet werden sollte; auch für erlittene Lagerhaft und entgangene Ausbildungschancen waren finanzielle Kompensationen vorgesehen. Für NRW wurde im Mai 1949 ein Rückerstattungsgesetz verabschiedet, dessen Umsetzung allerdings recht schleppend voranging. Zudem waren jüdische Antragsteller nicht selten bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche einem schikanösen Verhalten von Verwaltungsbeamten ausgesetzt, die oft noch die gleichen waren wie in der NS-Zeit. 1953/56 wurden die Landesgesetze im Bundesentschädigungsgesetz vereinheitlicht, wobei die ausländi-
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schen Organisationen nach langen Verhandlungen, an denen auch der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ beteiligt war, teilweise auf Ansprüche zugunsten der jüdischen Gemeinden in Deutschland verzichteten. Die demografische Situation innerhalb der jüdischen Gemeinden war zunächst überaus ungünstig. Die jüdische Bevölkerung in Deutschland war „überaltert“, die Hälfte der Gemeindemitglieder 60 Jahre alt und älter. Geburten waren selten zu verzeichnen. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurde die jüdische Gemeinschaft allerdings durch eine Rückkehrwelle aus der Emigration, vor allem aus Israel, verstärkt. Trotz einer Konsolidierung der jüdischen Gemeinden, trotz der wachsenden Anerkennung der Vertretungsgremien auch im Ausland und einer Verbesserung der materiellen Verhältnisse blieb es ein Leben „auf gepackten Koffern“. Wählten die Eltern zumeist den Verbleib in Deutschland als notgedrungene Zukunftsperspektive, so wurden die Kinder häufig sehr früh auf eine Auswanderung nach Israel orientiert, wo eine lebendige soziale und religiöse Gemeinschaft eine starke Anziehungskraft entwickelte. Baulich wurde die Zeit der Provisorien dagegen allmählich überwunden. Neben einigen Betsälen wurden in den 1950er und 1960er Jahren in NRW folgende Synagogen erbaut bzw. wiederhergestellt: 1956 Dortmund (Architekt: Helmut Goldschmidt), 1957 Aachen (Architekt: Karl Gerle), 1958 Düsseldorf (Architekt: Hermann Zvi Guttmann), 1958 Minden (Architekt: Karl Gerle), 1959 Bonn (Architekt: Helmut Goldschmidt), 1959 Essen (Architekten: Dieter Knoblauch und Heinz Heise), 1959 Köln Roonstraße (Architekt des Umbaus: Helmut Goldschmidt), 1959 Paderborn (Architekt: Karl Gerle), 1960 Hagen (Architekt: Karl Gerle) und 1961 Münster (Architekt: Helmut Goldschmidt). Elternheime, Kindergärten, Religionsschulen und Jugendclubs kamen hinzu. Die vorherrschende Organisationsform war, wie vor der NS-Zeit, die „Einheitsgemeinde“, die nun aber fast immer religiös orthodox ausgerichtet war. Da in Deutschland keine Rabbiner ausgebildet wurden und ausländische Rabbiner hier nur selten wirken wollten, mangelte es den meisten Gemeinden an einer religiös-geistigen Leitung; auch Kantoren und Religionslehrer fehlten häufig. Ein lebendiges religiöses und kulturelles Leben konnte sich in den kleinen jüdischen Gemeinden nur schwer entfalten. Die neu erbauten Synagogen wurden von antisemitischen Übergriffen nicht verschont: Im Januar 1959 beschmierten unbekannte Täter die Türen der Synagoge in der Düsseldorfer Zietenstraße und die Gedenktafel für die in der Pogromnacht 1938 zerstörte Synagoge in der Kasernenstraße mit Hakenkreuzen. Die Schändung der kurz zuvor wiederhergestellten Synagoge in der Kölner Roonstraße zu Weihnachten 1959 erregte international Aufsehen und Entsetzen. Ende der 1960er Jahre, als ein intensives Modernisierungsstreben die verkrusteten Strukturen der deutschen Gesellschaft insgesamt aufbrach, artikulierte sich in den jüdischen Gemeinden eine neue Generation von jungen Männern und Frauen, von denen viele das Abitur oder einen Hochschulabschluss besaßen. Soweit sie sich dafür
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entschieden, in Deutschland zu bleiben, begannen sie, sich auch in den jüdischen Gremien zu engagieren. Damit kam auch „frischer Wind“ in dieses Establishment. Die materiellen Verhältnisse der jüdischen Gemeinden verbesserten sich, als seit 1969 in Nordrhein-Westfalen die Kultussteuer ähnlich wie die Kirchensteuer über das Finanzamt eingezogen werden konnte und öffentliche Mittel vermehrt zur Verfügung standen. Diskussionen über die Folgen der zahlreichen „gemischten“ Eheschließungen und der Integration der Kinder solcher „gemischter“ Ehen in die Gemeinden ließen deutlich werden, dass innerhalb der orthodoxen Einheitsgemeinden inzwischen unterschiedliche und auch liberalere Strömungen vorhanden waren. Insgesamt stand die Zeit bis zum Ende der 1980er Jahre im Zeichen der Konsolidierung und noch zaghafter Aufbrüche. Die Auflösung der Sowjetunion seit Ende der 1980er Jahre und die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten 1990 brachte eine in ihren Auswirkungen kaum vorhersehbare Wende. Der Zuzug von Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion führte zu einem zahlenmäßigen Aufschwung der jüdischen Gemeinden. Die Menschen, die vor dem erstarkenden Antisemitismus, politischen Chaos und wirtschaftlichen Elend nach Deutschland flohen, erhielten 1991 den Status von sogenannten Kontingentflüchtlingen mit Rechtsanspruch auf Einreise und staatliche Eingliederungshilfen. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland wurde dadurch nach 1990 die prozentual am schnellsten und stärksten wachsende jüdische Gemeinschaft außerhalb Israels. Während 1991 die Zahl der Mitglieder jüdischer Gemeinden in Deutschland bei 30.000 lag, ist sie bis 2009 auf ca. 105.000 angewachsen. In Nordrhein-Westfalen verdoppelte sich die Zahl der Gemeindemitglieder von 1991 bis 1997 knapp: von 6.000 auf 11.500 Personen. 2009 lebten im Bereich der beiden Landesverbände und der Synagogen-Gemeinde Köln 28.607 Mitglieder jüdischer Gemeinden. Heute existieren in ganz Deutschland 108 jüdische Gemeinden und 23 Landesverbände, in NRW sind es 19 Gemeinden. Seit einigen Jahren ist der Bevölkerungszuwachs leicht rückläufig, zumal die Kontingentflüchtlingsregelung zum 1. Januar 2005 durch das neue Zuwanderungsgesetz abgelöst wurde. Nordrhein-Westfalen entwickelte sich zu einem Zentrum der Zuwanderung. Die folgende Übersicht zeigt den Mitgliedsstand der jüdischen Gemeinden im rheinischen Landesteil im Jahre 2009: Gemeinde Aachen Bonn Düsseldorf Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen Essen Köln
Mitglieder 1.366 963 7.130 2.787 905 4.404
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Krefeld Mönchengladbach Wuppertal
1.053 718 2.373
(Quelle: Homepage www.zentralratdjuden.de, 11.8.2010)
Zahlreiche neue Synagogen konnten seit den 1990er Jahren im Rheinland eingeweiht werden: 1995 in Aachen am Standort der alten Synagoge am Synagogenplatz (Architekt: Alfred Jacoby), 1999 in Duisburg die Synagoge mit Gemeindezentrum am Springwall (Architekt: Zvi Hecker), 2002 Synagoge und Gemeindezentrum Gemarker Straße in Wuppertal-Barmen (Architekt: Hans-Christoph Goedeking), 2003/2005 Jüdisches Wohlfahrtszentrum mit Synagoge in Köln (Umbau des ehemaligen Israelitischen Asyls für Kranke und Altersschwache in Köln-Ehrenfeld in der Ottostraße; Architekten: Alfred Jacoby/Ulrich Coersmeier), 2008 in Krefeld in der Wiedstraße (Architekt: Klaus Reymann). Auch in Mönchengladbach und Neuss gibt es aktuelle Pläne für Synagogenneubauten. Im westfälischen Landesteil wurden 2007 die neuen Synagogen in Gelsenkirchen und Bochum und 2008 die Synagoge in Bielefeld eingeweiht. Der Fülle neuer Aufgaben und dem erheblichen finanziellen Mehrbedarf der jüdischen Gemeinden trug der Staatsvertrag des Landes NRW mit den beiden Landesverbänden der jüdischen Gemeinden und der Kölner Synagogen-Gemeinde vom 1. Dezember 1992 Rechnung, der in mehreren Abänderungsverträgen – zuletzt am 7. Dezember 2006 – den aktuellen Erfordernissen angepasst wurde. Am 27. Januar 2003 wurde zwischen der Bundesrepublik und dem „Zentralrat der Juden in Deutschland“ ein Staatsvertrag geschlossen, der die kulturelle, soziale und integrationspolitische Zusammenarbeit erstmals auch auf Bundesebene regelt. Die Zuwanderung brachte und bringt, wie nicht anders zu erwarten, zahlreiche Probleme mit sich. Neben der sozialen, sprachlichen und beruflichen Integration der Zuwanderer in die deutsche Gesellschaft steht die Integration der Migranten in die jüdischen Gemeinden. Die Mehrheit der Zuwanderer ist als Folge der offiziellen Politik in der sozialistisch-atheistischen Sowjetunion der jüdischen Religion entfremdet. Viele, die in der Sowjetunion als Juden kategorisiert wurden und die sich als Juden verstehen, sind dies nicht im Sinn der Halacha, des jüdischen Religionsgesetzes. Dieses definiert die Zugehörigkeit zum Judentum über die Mutter (matrilinear). Andererseits sind auch viele Nichtjuden mit jüdischen Angehörigen nach Deutschland gekommen. Vor allem die Heranführung der Kinder und Jugendlichen an jüdische Religion und Kultur stellt sich als wichtige Zukunftsaufgabe der Gemeinden dar. Im Gemeindeleben und im Gottesdienst müssen Sprachbarrieren überwunden werden. Zahlreiche Gemeindeblätter haben inzwischen einen russischsprachigen Teil. Gebetbücher enthalten russische Übersetzungen. In Hagen werden die Gebete und auch die Wochenabschnitte der Tora in Hebräisch, Russisch und Deutsch gelesen.
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Jüdisches Leben von 1945 bis heute
Seit den 1990er Jahren sind innerhalb der sich demografisch, religiös und kulturell verjüngenden jüdischen Gemeinschaft Strömungen entstanden, die sich nicht mehr an der bislang verbindlichen orthodoxen Einheitsgemeinde orientieren. Das jüdische Gemeindeleben beginnt sich wieder zu differenzieren. Es haben sich liberale und reformierte Gruppierungen gebildet, so 1996 in Köln die „Jüdische Liberale Gemeinde Gescher LaMassoret“ (Brücke zur Tradition), die ein liberales Gebetbuch, den „Kölner Siddur“, benutzt. Insgesamt ist in den letzten Jahren ein verstärktes Engagement der Synagogengemeinden im öffentlichen, vor allem im kulturellen Bereich zu beobachten. So sind der Landesverband der jüdischen Gemeinden von Nordrhein und die jüdischen Gemeinden Partner des Projekts „Jüdische Kulturtage im Rheinland“, die einen interessanten Einblick in Kunst, Literatur, Musik, filmisches Schaffen, Theater u.a. bieten und die 2011 in erweiterter Form als „Jüdische Kulturtage in NRW“ stattfinden werden. Angesichts der Entwicklungen in den letzten Jahren formulierte Paul Spiegel, der 2006 verstorbene Präsident des „Zentralrats der Juden in Deutschland“, folgende Einschätzung: „Schließlich gibt es ungeachtet aller Probleme Anlass zur Freude: Das Judentum in Deutschland steht vor einer Renaissance!“ Allerdings ist zu erwarten, dass angesichts der Herkunft der eingewanderten Frauen und Männer eine ganz neue deutsch-jüdische Kultur entstehen wird.
2. Schwierige Neuanfänge im Nachkriegs-Rheinland 70 Erste Schritte zur Reorganisation der Jüdischen Gemeinde Wuppertal, 1945 Schreiben des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Wuppertal, Gustav Brück, an den Wuppertaler Oberbürgermeister Eugen Thomas, 21. August 1945 Archiv der Jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal/Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal
In dem hier abgedruckten Schreiben bat Rechtsanwalt Gustav Brück (1877–1956) am 21. August 1945 den Wuppertaler Oberbürgermeister Eugen Thomas, darauf hinzuwirken, dass die britischen Besatzungsbehörden die Reorganisation der jüdischen Gemeinde Wuppertal gestatteten. Gustav Brück war lange Jahre in leitender Position in der Wuppertaler Synagogengemeinde tätig. Von 1929–1943 und von 1945–1950 amtierte er als Vorsitzender; daneben bekleidete er zahlreiche weitere Ehrenämter. Brück war mit einer Nichtjüdin verheiratet und konnte deshalb die NS-Gewaltherrschaft bis 1944 relativ
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Seit den 1990er Jahren sind innerhalb der sich demografisch, religiös und kulturell verjüngenden jüdischen Gemeinschaft Strömungen entstanden, die sich nicht mehr an der bislang verbindlichen orthodoxen Einheitsgemeinde orientieren. Das jüdische Gemeindeleben beginnt sich wieder zu differenzieren. Es haben sich liberale und reformierte Gruppierungen gebildet, so 1996 in Köln die „Jüdische Liberale Gemeinde Gescher LaMassoret“ (Brücke zur Tradition), die ein liberales Gebetbuch, den „Kölner Siddur“, benutzt. Insgesamt ist in den letzten Jahren ein verstärktes Engagement der Synagogengemeinden im öffentlichen, vor allem im kulturellen Bereich zu beobachten. So sind der Landesverband der jüdischen Gemeinden von Nordrhein und die jüdischen Gemeinden Partner des Projekts „Jüdische Kulturtage im Rheinland“, die einen interessanten Einblick in Kunst, Literatur, Musik, filmisches Schaffen, Theater u.a. bieten und die 2011 in erweiterter Form als „Jüdische Kulturtage in NRW“ stattfinden werden. Angesichts der Entwicklungen in den letzten Jahren formulierte Paul Spiegel, der 2006 verstorbene Präsident des „Zentralrats der Juden in Deutschland“, folgende Einschätzung: „Schließlich gibt es ungeachtet aller Probleme Anlass zur Freude: Das Judentum in Deutschland steht vor einer Renaissance!“ Allerdings ist zu erwarten, dass angesichts der Herkunft der eingewanderten Frauen und Männer eine ganz neue deutsch-jüdische Kultur entstehen wird.
2. Schwierige Neuanfänge im Nachkriegs-Rheinland 70 Erste Schritte zur Reorganisation der Jüdischen Gemeinde Wuppertal, 1945 Schreiben des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Wuppertal, Gustav Brück, an den Wuppertaler Oberbürgermeister Eugen Thomas, 21. August 1945 Archiv der Jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal/Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal
In dem hier abgedruckten Schreiben bat Rechtsanwalt Gustav Brück (1877–1956) am 21. August 1945 den Wuppertaler Oberbürgermeister Eugen Thomas, darauf hinzuwirken, dass die britischen Besatzungsbehörden die Reorganisation der jüdischen Gemeinde Wuppertal gestatteten. Gustav Brück war lange Jahre in leitender Position in der Wuppertaler Synagogengemeinde tätig. Von 1929–1943 und von 1945–1950 amtierte er als Vorsitzender; daneben bekleidete er zahlreiche weitere Ehrenämter. Brück war mit einer Nichtjüdin verheiratet und konnte deshalb die NS-Gewaltherrschaft bis 1944 relativ
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geschützt überleben. Im September 1944 wurde er in das Jüdische Krankenhaus Iranische Straße in Berlin deportiert; dort erlebte er im Mai 1945 die Befreiung. Nach Kriegsende kehrte er nach Wuppertal zurück. Wie anderswo auch wurde die Neuorganisation jüdischen Lebens in Wuppertal von jüdischen Menschen, die im Untergrund die NS-Zeit überlebt hatten, sowie Rückkehrern aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern getragen. Die Bedingungen, unter denen dies geschah, waren äußerst schwierig. Gustav Brück ging es vor allem darum, eine Klärung des rechtlichen Status der jüdischen Gemeinde herbeizuführen, eine Voraussetzung für die Bewältigung der zahlreichen Aufgaben, denen man sich gegenübersah. Wie alle im Entstehen begriffenen jüdischen Gemeinden war auch die Wuppertaler daran interessiert, als Rechtsnachfolgerin der Vorkriegsgemeinde anerkannt zu werden, um Ansprüche auf deren Besitz erheben zu können. Die Synagogengemeinde Elberfeld war 1852 gegründet worden, 1894 verselbständigten sich die Juden in Barmen und gründeten eine eigene Gemeinde. Den rechtlichen Rahmen für die jüdischen Gemeinden in Preußen und damit auch. in der Rheinprovinz gab bis 1938 das „Gesetz, die Verhältnisse der Juden betreffend“ vom 23. Juli 1847 vor (vgl. Dokument 19). Dieses schrieb die Einheitsgemeinde. und den Gemeindezwang fest und verlieh den jüdischen Gemeinden den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Damit waren sie den christlichen Kirchen formal gleichgestellt, so dass sie ihre Belange gegenüber den staatlichen Stellen mit Selbstbewusstsein und Nachdruck vertreten konnten. Die jüdischen Gemeinden. erhielten auch das Recht, Steuern zu erheben und durch den Staat eintreiben zu lassen. Mit dem Erlass des „Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen“ vom 28. März 1938 verloren die Gemeinden den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, sie wurden zu Vereinen bürgerlichen Rechts. Diese Rechtsminderung bedeutete auch, dass sie die staatliche Unterstützung bei der Einziehung der Gemeindesteuern verloren. Im Rahmen der Zentralisierung des jüdischen Vereinswesens durch das NS-Regime wurden mit der 10. Verordnung zum „Reichsbürgergesetz“ vom 4. Juli 1939 alle Juden im Sinne der „Nürnberger Gesetze“, die im Reichsgebiet wohnten, in der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ mit Sitz in Berlin zwangsweise zusammengeschlossen. Die Synagogengemeinden verloren ihre Selbständigkeit und wurden zu Zweigstellen der „Reichsvereinigung“. Diese war im Grunde seit 1939 eine von der Gestapo kontrollierte Institution zur Liquidierung der jüdischen Gemeinden, zur staatlichen Aneignung des Vermögens der aufgelösten Gemeinden und Organisationen und seit 1941 auch zur Deportation der jüdischen Menschen. Die „Reichsvereinigung“ hatte jedoch auch eine andere Seite: Bis zu ihrer eigenen Deportation taten die Funktionsträger der „Reichsvereinigung“ mit Rabbiner Dr. Leo Baeck an der Spitze unter widrigsten Umständen alles, um die verfolgten und verarmten deutschen Juden zu unterstützen.
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Gustav Brück musste noch einige Jahre auf die Realisierung seiner Forderungen warten. Erst im Mai 1953 wurde die jüdische Kultusgemeinde Wuppertal wieder eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister! Betr: Jüdische Gemeinden Wuppertal-Elberfeld und Wuppertal-Barmen Ich bin seit 1904 Mitglied der Synagogengemeinde W.-Elberfeld und seit 1929 deren erster Vorsitzender. Ich bitte, die Genehmigung der Militärregierung dazu einzuholen, dass die Synagogengemeinden Elberfeld und Barmen unter Vereinigung zu einer einheitlichen „Jüdischen Gemeinde Wuppertal“ ihre Tätigkeit wieder aufnehmen können. Ich bemerke dazu, dass die Gemeinde Barmen seit 1939 in Folge der Verringerung ihres Mitgliederbestandes und ihrer hierdurch bedingten Leistungsunfähigkeit von der Gemeinde Elberfeld bereits mitverwaltet wurde. Die Tätigkeit der Jüdischen Gemeinde Wuppertal soll umfassen: 1. Die religiöse Betreuung ihrer Mitglieder durch Wiederaufnahme des Kultes, insbesondere des Gottesdienstes 2. Die Beerdigungen und Pflege der vorhandenen Friedhöfe 3. Die Ausübung der im Rahmen einer Religionsgemeinde üblichen Fürsorge und Wohltätigkeit für Juden 4. Die Einrichtung eines Religionsunterrichtes 5. Die Verwaltung des vorhandenen Vermögens 6. Die Ermittlung der seit 1933, insbesondere der im Jahre 1941 und 1942 verschleppten früheren Gemeindemitglieder und die Vermittlung der Wiedervereinigung auseinandergerissener Familien 7. Alle sonstigen in den Rahmen einer Religionsgemeinde fallenden Aufgaben. Als Mitglieder kommen lediglich Religionsjuden in Frage, gleichviel welcher Rasse. Rassejuden im Sinne der Hitlergesetze, welche der jüdischen Religion nicht angehören, kommen als Mitglieder nicht in Frage.1 [Im Folgenden wird das Immobilienvermögen der Jüdischen Gemeinde aufgezählt] Zur Begründung sei noch folgendes ausgeführt: Auf Grund des Preussischen Gesetzes über die Synagogengemeinden von 1847 bestanden in Wuppertal seit langem die Synagogengemeinden Wuppertal-Elberfeld und Wuppertal-Barmen. Die Synagogengemeinde Wuppertal-Elberfeld umfasste auch die in Neviges, Velbert, Langenberg, Mettmann, Remscheid und Lennep wohnenden Juden. Den Gemeinden gehörten alle der jüdischen Religion angehörenden Personen kraft Gesetzes an, soweit sie nicht auf Grund der bestehenden Gesetze aus dem Judentum
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bzw. den Gemeinden ausgetreten waren. Die Gemeinden hatten den Charakter einer öffentlich-rechtlichen Korporation. Diese Sach- und Rechtslage erfuhr unter der Hitlerregierung folgende Änderungen: Aufgrund eines Gesetzes von 1939 wurden die Gemeinden in s. g.2 jüdische Kultusvereinigungen umgewandelt, welche lediglich den Charakter bürgerlich-rechtlicher Vereine hatten. Im Jahre 1941 wurden die Kultusvereinigungen […] aufgelöst. Ihr Vermögen ging auf die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland e.V. in Berlin über, einer Einrichtung aufgrund der 10. Durchführungs-V.O.3 zum Reichsbürgergesetz. Im Jahre 1943 ist das Vermögen der Reichsvereinigung beschlagnahmt und vom Reich eingezogen worden. Infolge der Aufhebung der nationalsozialistischen Rassegesetze und insbesondere des Reichsbürgergesetzes und seiner Durchführungs-Bestimmungen hat nun die Reichsvereinigung der Juden zu existieren aufgehört, und ist der frühere Zustand wieder hergestellt. Die Folge ist, dass die früheren Synagogengemeinden wieder aufgelebt sind und weiter existieren. […]
Anmerkungen 1 Das „Reichsbürgergesetz“ war ein Bestandteil der sogenannten „Nürnberger Gesetze“. In der ersten Durchführungsverordnung zu diesem Gesetz vom 14. November 1935 wurde festgelegt, dass als Jude galt, „wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammte“. Als jüdisch galt ein Großelternteil, wenn dieses der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte. Damit galten auch Christen jüdischer Herkunft als Juden und wurden Opfer der nationalsozialistischen „Judenpolitik“. Die sich in der Nachkriegszeit neu konstituierenden jüdischen Gemeinden machten die Mitgliedschaft wiederum von der Zugehörigkeit zur jüdischen Religion abhängig. 2 Sogenannte. 3 Durchführungsverordnung.
Literatur Trägerverein Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal (Hg.), Hier wohnte Frau Antonie Giese. Die Geschichte der Juden im Bergischen Land. Essays und Dokumente, Wuppertal 1997; Ulrike Schrader, Tora und Textilien. Zur Geschichte der Juden im Wuppertal, hg. vom Trägerverein Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal e.V., Wuppertal 2007, insbes. S. 215–221; Ulrike Schrader/Bastian Fleermann (Hg.), Jüdischer Alltag. Geschichte und Kultur der Juden im Bergischen Land von 1500 bis zur Gegenwart, Wuppertal 2009
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71 Das erste Jahr der neuen jüdischen Gemeinde Köln, 1946 Die jüdische Gemeinde Köln, in: Jüdisches Gemeindeblatt für die Nord-Rheinprovinz und Westfalen Nr. 11 vom 9. September 1946 Bibliothek Germania Judaica, Köln
Der Artikel, der am 9. September 1946 im „Jüdischen Gemeindeblatt für die NordRheinprovinz“ (Vorgänger der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“) ohne Angabe des Verfassers veröffentlicht wurde, schildert die erste Phase der Etablierung einer neuen jüdischen Gemeinde in Köln nach der Befreiung Die Bemühungen um den Aufbau der Gemeinde wurden zunächst von jüdischen Menschen getragen, die in der Stadt versteckt die NS-Herrschaft überlebt hatten. Um wieviele Menschen es sich hierbei handelte, ist ungewiss. Manche Quellen sprechen von 30 bis 40, andere von 80 Personen. Im Untergrund überleben konnten vor allem Juden mit einem nichtjüdischen Elternteil oder Ehepartner und Christen jüdischer Herkunft, die von Verwandten oder kirchlichen Organisationen unterstützt wurden. Am 29. April 1945 fand in der Synagoge in der Roonstraße der erste jüdische Gottesdienst nach der Befreiung statt; an ihn schloss sich die Gründungsversammlung der Synagogen-Gemeinde an. Die amerikanische Militärregierung beauftragte Fritz Löwenstein mit der Reorganisation der Gemeinde, Friedrich Jacoby wurde erster Vorsitzender. Im Sommer 1945 wurden in vier Aktionen Kölner jüdische Bürgerinnen und Bürger in die Stadt zurückgeholt, die in Konzentrationslagern überlebt hatten. Die meisten Rückkehrer kamen aus dem KZ Theresienstadt. Die Geretteten wurden zunächst im Vinzenz-Hospital in Köln-Nippes und dann im jüdischen Flüchtlings- und Altersheim in der Blankenheimer Straße 55 in Köln-Sülz untergebracht. Die Synagogen-Gemeinde Köln bestand im Herbst 1945 aus Menschen, die ohne Besitz, Wohnung und Arbeit waren, da ihr Eigentum während der NS-Herrschaft „arisiert“ und sie aus ihren Berufen herausgedrängt worden waren. Viele waren zudem körperlich äußerst geschwächt und psychisch traumatisiert. In den allermeisten Fällen war der Verlust von Verwandten und Freunden zu beklagen. Der Konflikt zwischen denen, die in Köln überlebt, und denen, die eine KZ-Haft erlitten hatten, war vorprogrammiert und führte am 24. Februar 1946 zur Neuwahl des Vorstands, an dessen Spitze nun Dr. Herbert Lewin und Moritz Goldschmidt standen. Die Behebung der Wohnungsnot, die Versorgung mit Lebensmitteln und die Reorganisation des religiösen Lebens waren Schwerpunkte der Vorstandsarbeit. Trotz zahlreicher Solidaritätsbekundungen von Seiten der Stadtspitze leistete die Stadtverwaltung insgesamt nur widerstrebend und unzureichend Hilfestellung. Die Synagogen-Gemeinde war im Wesentlichen auf sich selbst gestellt. Schon im April 1945 wurde die private „Fürsorgestelle für die politischen Opfer der Naziherrschaft“ von Fritz Löwenstein ins Leben gerufen, deren Arbeit allerdings bald von der städ-
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tischen „Hilfsstelle für politisch Verfolgte“ behindert wurde. Im Juni 1945 fand der erste Gottesdienst im neu eingerichteten Betsaal im ehemaligen Israelitischen Asyl für Kranke und Altersschwache in der Ottostraße in Köln-Ehrenfeld statt (vgl. Dokument 27). Auch in der Blankenheimer Straße 55 wurden regelmäßig Gottesdienste gefeiert. Äußerst wichtig waren auch die Reorganisation des jüdischen Religionsunterrichts und die Wiederherstellung des Friedhofs an der Venloer Straße. 1945 wurde die „Chewra Ahawas Raim“ wiederbegründet, die bei Erkrankungen sowie dem Tod und der Beerdigung von Gemeindemitgliedern aktiv wurde. 1946 begann der „Jüdische Frauenverein“ seine Arbeit; der Kulturverein, der „Sportklub Makkabi“ und einige zionistische Organisationen wurden ins Leben gerufen. Die Wiederherstellung der Synagoge in der Roonstraße konnte erst 1959 abgeschlossen werden. Trotz dieser auf eine Konsolidierung jüdischen Lebens in Köln zielenden Maßnahmen sah die Mehrheit der Gemeindemitglieder in der unmittelbaren Nachkriegszeit keine Zukunft in Deutschland: Zwei Drittel strebten eine Auswanderung an (Mitte 1949 weniger als 30 Prozent). Doch gab es vielfältige individuelle Gründe, die eine Auswanderung verhinderten oder zumindest hinauszögerten. Aber auch diejenigen, die blieben, konnten in Deutschland nur noch „auf gepackten Koffern“ leben. Wesentliche Voraussetzung dafür, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder eine Zukunft haben würde, war die Bekämpfung des Antisemitismus (vgl. Dokumente 72–74), die Verfolgung und Bestrafung der NS-Täter und die schnelle Verwirklichung einer materiellen „Wiedergutmachung“ (vgl. Dokumente 74 und 75). […] Die Kölner Jüdische Gemeinde hatte einstmals (im Jahre 1933) zirka 20000 Mitglieder – im Jahre 1938 waren es fast noch 16000 und im Jahre 1941 zirka 6000.1 Von diesen 6000 sind aus den Konzentrationslagern nur 5 bis 6 Prozent zurückgekehrt. Wenn wir heute von etwa 7000 durch den Naziterror umgekommenen (Kölnern) sprechen, so kommt diese Zahl dadurch zustande, daß wir naturgemäß die Kölner Juden hinzurechnen müssen, die ihren Leidensweg vom benachbarten Ausland (Belgien, Holland, Frankreich) antraten.2 Die Gemeinde zählt wieder etwa 600 Mitglieder. Diese Zahl kommt nicht durch Zuwanderung, sondern auch dadurch zustande, daß sich eine ganze Anzahl jüdischer Menschen durch die Mithilfe christlicher Menschen, und nicht zuletzt durch offizielle Vertreter der katholischen Kirche, hat versteckt halten können. Als die amerikanischen Truppen das Rheinland befreit hatten, konnten viele jüdische Menschen ihr Versteck verlassen. Sie schlossen sich sofort zu einer Religionsgemeinschaft zusammen und hielten auf den Trümmern einer der Synagogen den ersten Gottesdienst ab. Die damals noch amerikanische Militär-Regierung, die diesem Gottesdienst beiwohnte, bestimmte zum Vorsitzenden der sich neubildenden Gemeinde Herrn Fritz Loewenstein3, der auch heute noch der Repräsentanz4 angehört. Zwei Monate danach fand die erste Vollversammlung und Wahl zur Repräsentanz statt. Damals zählte die Gemeinde erst
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etwa 50 Mitglieder, die an dem schrecklichen Erlebnis der Konzentrationslager glücklicherweise vorbeigekommen waren. […] Das jüdische Leben in Köln pulsiert wieder nach jeder Richtung. Unter der Leitung des Kultus-Dezernenten, Herrn Siegmund Bachenheimer5, hat sich die ChewraAhawas Raim6 wieder gebildet, und auch die jüdischen Frauen haben sich unter Leitung der Damen Dünnwald7, Rein8 und Drucker9 zusammengefunden, um in caritativen Fällen mit eingreifen zu können. Es wird eifrig daran gearbeitet, den jüdischen Friedhof in Köln-Ehrenfeld wieder instandzusetzen.10 Die von den Nazis zerstörten Grabdenkmäler wurden zum größten Teil wieder in Ordnung gebracht. Auch der Platz um das vom RJF11 errichtete Ehrenmal für die jüdischen Gefallenen des Weltkriegs 1914–1918 wird wieder in einen würdigen Zustand versetzt. – Leider können tägliche Gottesdienste in dem sehr wirkungsvoll hergerichteten Betsaal in der Ottostraße noch nicht durchgeführt werden, weil morgens und abends kein Minjan12 zusammengebracht werden kann. Zu berücksichtigen ist, daß der Betsaal außerhalb der Stadt liegt und dorthin nur wenige Straßenbahnen verkehren. Es ist aber von Seiten der Gemeinde in Aussicht genommen, ein ständiges Minjan durch bezahlte Herren einzurichten, um jedem jüdischen Menschen Gelegenheit zu geben, seine Jahrzeit13, Kaddischgebete14 etc. täglich in der Synagoge verrichten zu können. An den Freitag-Abenden und am Sabbat-Morgen15 ist die Teilnahme an den Gottesdiensten sehr rege. Am ersten Sabbat eines jeden Monats findet ein Gottesdienst in unserem Alters- und Flüchtlingsheim, Köln-Sülz, Blankenheimerstraße 55 statt, um auch diesen Menschen, die den weiten Weg nach Ehrenfeld nicht zurücklegen können, wenigstens einmal im Monat Gelegenheit zur Teilnahme an einem Gottesdienst zu verschaffen. Wöchentlich zweimal finden für die jüdischen Kinder und diejenigen, die zum Judentum übertreten wollen, hebräische Unterrichtsstunden statt, deren Durchführung Herr Leopold Faber16 übernommen hat. […] Der Erfolg dieser Arbeit macht sich schon sehr bemerkbar. Auf der Auswanderungsliste nach Erez17 sind bis heute ca. 45 Menschen vermerkt. Diese Zahl besagt aber nichts, weil eben sehr wenige das Vertrauen haben, in absehbarer Zeit nach Erez auf legalem Wege zu kommen. In dem Augenblick, wo sich die Tore Palästinas für die Auswanderung öffnen, würde das Bild ein ganz anderes werden. Zur Auswanderungsfrage sei noch bemerkt, daß selbstverständlich wie überall ein großer Teil der Kölner Juden nicht in Deutschland verbleiben will und jeder bemüht ist, durch seine Beziehungen zu Verwandten und Freunden ein Affidavit18 nach USA und Südamerika zu erhalten. Gerade die Aufbaumöglichkeit von Existenzen ist in Köln mit großen Schwierigkeiten verknüpft. Besonders bei den dafür in Frage kommenden deutschen Stellen vermißt man das notwendige Verständnis, daß wir ein Anrecht darauf haben, bevorzugt behandelt und berücksichtigt zu werden. Wer noch im arbeitsfähigen Alter steht und genügend Initiative aufbringen kann, versucht durch Selbsthilfe festen Fuß zu fassen. Aber die ganze Zukunft in dieser Hinsicht hängt
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von der endgültigen Regelung unserer Wiedergutmachungsansprüche ab, die wohl hoffentlich bald eine Klärung zu unseren Gunsten bringt. […]
Anmerkungen 1 Gemeint ist die Synagogen-Gemeinde Köln, deren Grenzen über das Stadtgebiet hinausreichten. In Köln selbst wurden 1933 14.819, 1939 7.975 und 1941 6.277 Juden gezählt. 2 Von Köln aus wurden etwa 11.000 jüdische Menschen deportiert, die allerdings nicht alle aus Köln stammten. Belegen lassen sich die Namen von 7.184 jüdischen Männern, Frauen und Kindern, die zwischen 1933 und 1945 in Köln wohnten und in der Schoa ermordet wurden. Die tatsächliche Zahl der Opfer unter den Kölner Juden ist mit Sicherheit höher. 3 Der Kaufmann Fritz Löwenstein (1888–1963) konnte der Deportation entgehen und überlebte zwischen September 1944 und März 1945 in einem Versteck in Köln. Er wurde von der amerikanischen Militärregierung mit dem Aufbau der jüdischen Gemeinde Köln beauftragt und initiierte im April 1945 eine private „Fürsorgestelle für die politischen Opfer der Naziherrschaft in Köln“. 1946 bis 1949 war er Mitglied der Vertretung der Synagogen-Gemeinde Köln. 4 Die durch die Gemeindemitglieder gewählte Vertretung, die die anderen Gemeindegremien kontrolliert. 5 Siegmund Bachenheimer (1884–1954), Metzgermeister, überlebte das KZ Theresienstadt. Nach seiner Rückkehr nach Köln gab er zusammen mit Leopold Faber den Kindern der Synagogen-Gemeinde Unterricht in jüdischer Religion und hebräischer Sprache. 6 Die Chewra Ahawas Raim (wörtl. Vereinigung der Nächstenliebe) wurde 1899 in Köln gegründet. Als Beerdigungsbruderschaft hatte sie nach jüdischer Tradition die Aufgabe, Kranke zu besuchen, Sterbende zu betreuen und die Beerdigung der Verstorbenen zu organisieren. 7 Zu Erna Dünnwald, gest. 1971, ließen sich leider keine weiteren Informationen ermitteln. 8 Elfriede Rein (1898–1976), Kindergärtnerin, seit 1930 in Köln, wo sie die Leitung der Kinderferienstation der Synagogen-Gemeinde Köln und des Lehrlingsheims in der Raumerstraße 2 und der Agrippastraße 10 innehatte. Sie überlebte das Ghetto Riga und die KZ Riga-Kaiserwald und Stutthof bei Danzig. Nach der Neugründung des „Jüdischen Frauenvereins“ 1946 war sie dessen zweite Vorsitzende. Sie wanderte 1948 nach Israel aus, kehrte jedoch später nach Köln zurück. 9 Paula Drucker (1869–1952), Hausfrau. Sie überlebte das KZ Theresienstadt und engagierte sich nach 1945 in der Kölner Synagogen-Gemeinde. 10 Der 1918 eröffnete jüdische Friedhof in Köln-Bocklemünd an der Venloer Straße Ecke Militärring wurde während der NS-Herrschaft geschändet und teilweise zweckentfremdet. 11 Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (vgl. Dokument 53).
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12 Hebr. Zahl, Mindestzahl von zehn (männlichen) religionsmündigen Personen, die für die Feier eines Gottesdienstes vorgeschrieben ist. 13 Todestag der Eltern oder naher Verwandter, an dem die nächsten Angehörigen das Kaddisch in der Synagoge sprechen. 14 Gebet, das die Heiligkeit Gottes verkündet und die Hoffnung auf Erlösung zum Ausdruck bringt. Als Totengebet wird es von dem nächsten (männlichen) Angehörigen bei der Beerdigung, im Trauerjahr oder am Jahrzeit-Tag gesprochen – dafür wird ein Minjan, die Anwesenheit von 10 religionsmündigen Männern, benötigt. 15 Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Sabbat/Schabbat, ein Tag der Ruhe und der Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. 16 Der Kaufmann Leopold Faber (1880–1963) betätigte sich nach 1945 in der Kölner Synagogen-Gemeinde als Lehrer und bereitete 1946 bis 1950 sechs Jungen auf die Bar Mizwa vor. 17 Hebr. Land, gemeint ist Erez Israel, das Land Israel. 18 Beglaubigte Bürgschaftserklärung, zumeist von Freunden und Bekannten, die die meisten Einreiseländer als Voraussetzung für die Erteilung einer Einreiseerlaubnis verlangten.
Literatur Günther B. Ginzel, Phasen der Etablierung einer Jüdischen Gemeinde in der Kölner Trümmerlandschaft 1945–1949, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u.a. (Hg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 445–461; Monika Grübel, Nach der Katastrophe. Jüdisches Leben in Köln 1945 bis 1949, in: Günther B. Ginzel/ Sonja Güntner (Hg.), „Zuhause in Köln…“ Jüdisches Leben 1945 bis heute, Köln/Weimar/ Wien 1998, S. 42–55; Zvi Asaria, 1945 und danach – Unstet und flüchtig – Wiederaufbau, in: ders. (Hg.), Die Juden in Köln, Köln 1959, S. 401–432; Jürgen Zieher, Im Schatten von Antisemitismus und Wiedergutmachung. Kommunen und jüdische Gemeinden in Dortmund, Düsseldorf und Köln 1945-1960, Berlin 2005, insbes. S. 39–92; Micha Guttmann, „Normalisierung“ unter Polizeischutz? Die Entwicklung der jüdischen Gemeinden in Deutschland und Nordrhein-Westfalen von 1945 bis heute – ein Essay, in: Monika Grübel/ Georg Mölich (Hg.), Jüdisches Leben im Rheinland vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 286–307; Miguel Freund, Jüdisches Leben heute, in: Jürgen Wilhelm (Hg.), Zwei Jahrtausende jüdische Kunst und Kultur in Köln, Köln 2007, S. 278– 300
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72 Gegen die Schändung jüdischer Friedhöfe, 1947 Flugblatt der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Karl Arnold, undatiert [1947] Gemeindearchiv Nümbrecht
Mit diesem „Aufruf !“ nahm die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Karl Arnold (1901–1958) in scharfer Form Stellung zu einer Welle von Schändungen jüdischer Friedhöfe in der frühen Nachkriegszeit. Das unter anderem im Gemeindearchiv Nümbrecht überlieferte Dokument ist nicht mit einem Datum versehen, lässt sich aber auf die Zeitspanne zwischen der Bildung des ersten Kabinetts Arnold am 17. Juni 1947 und dem 18. Dezember 1947 datieren, da Kultusminister Prof. Dr. Heinrich Konen als Unterzeichner aufgeführt ist. Am 18. Dezember 1947 wurde er von Christine Teusch abgelöst. In Deutschland sind rund 1.700 jüdische Friedhöfe erhalten, in NRW 474 und in den rheinischen Landesteilen 207. Prof. Dr. Julius H. Schoeps, Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, geht davon aus, dass in der NS-Zeit 80 bis 90 Prozent aller Begräbnisstätten geschändet wurden. Als Folge der Auswanderung bzw. Deportation der jüdischen Gemeindemitglieder fielen die Friedhöfe zunehmend der Verwahrlosung anheim. Die Zivilgemeinden waren an der Aneignung der Friedhofsgrundstücke interessiert, die aufgehoben, bebaut, in Parks und Grünanlagen umgewandelt oder an Privatpersonen verkauft werden sollten. Eine Analyse der Akten des Deutschen Gemeindetags durch Andreas Wirsching ergab, dass die Mehrzahl der Friedhöfe in der NS-Zeit erhalten blieb, weil die Reichsregierung – anders als in fast allen anderen Bereichen – kein antijüdisches Sonderrecht im Bestattungswesen geschaffen hatte. Der Verlauf des Zweiten Weltkriegs verhinderte dann, dass die Zivilgemeinden die jüdischen Friedhöfe in ihrer Gesamtheit auf der Grundlage der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938 „arisieren“ und umwidmen konnten. Bald nach Kriegsende waren erneut Gewalttaten gegen jüdische Friedhöfe und Gräber zu beklagen. Zwischen 1948 und 1957 wurden in NRW 79 Friedhofsschändungen gezählt, davon allein 50 in den Jahren von 1948 bis 1951. Nach einem Bericht im „Jüdischen Gemeindeblatt. Die Zeitung der Juden in Deutschland“ (Vorgänger der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“) vom 4. März 1949 sollen 1947/48 mehr als 100 Friedhofsschändungen begangen worden sein. Die meisten Friedhöfe befanden sich in einem trostlosen Zustand; den Kommunen gelang es häufig mit Erfolg, Instandsetzungs- und Pflegearbeiten zu verschleppen. In Düsseldorf, am Sitz der Landesregierung, war bereits 1946 eine Gewalttat gegen einen jüdischen Friedhof verübt worden, weitere folgten. In der Nacht vom 10. auf den 11. August 1947 warfen Unbekannte auf dem jüdischen Friedhof im Stadtteil Gerresheim 40 Grabsteine um, die kurz zuvor aufgerichtet worden waren. Die jüdische Ge-
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meinde Düsseldorf sah in dem Gewaltakt ein Symptom für das Weiterleben antisemitischer Ideologien in der deutschen Bevölkerung und machte zudem die Stadtverwaltung für den unzureichenden Schutz der Begräbnisplätze verantwortlich. Insbesondere die Einfriedung der Friedhöfe war in einem sehr schlechten Zustand. Dagegen leugnete die Stadtverwaltung eine antisemitische oder politische Motivation für die Gewalttaten. In fast allen Fällen von Friedhofsschändungen nach 1945 war von „Dummenjungen-Streichen“, der „Unbesonnenheit einiger Jugendlicher“ oder der „Verwilderung der Sitten“ die Rede – so auch in Düsseldorf 1947. Die Frage nach der Indoktrination von Kindern und Jugendlichen stellten nur wenige. Die politisch Verantwortlichen verfolgten die Strategie, durch Bagatellisierung der Gewalttaten den Schaden zu minimieren, den das Ansehen Deutschlands im Ausland genommen hatte. Am 17. August 1947 fand in Düsseldorf eine von der Jüdischen Gemeinde und der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) organisierte Protestveranstaltung statt, an der sich etwa 1.000 Personen beteiligten. Einen Tag nach der Kundgebung setzte die Landesregierung eine hohe Belohnung zur Ergreifung der Täter aus. Im Zusammenhang mit den Geschehnissen in Düsseldorf, die sich in anderen Städten wiederholten, scheint auch der „Aufruf “ der Landesregierung entstanden zu sein, der weite Verbreitung fand. In deutlichen Worten wird das Weiterwirken antisemitischen Gedankenguts für die Gewalttaten verantwortlich gemacht. Dem Gedanken einer wehrhaften Demokratie ist die Aufforderung an die Adresse der Bevölkerung verpflichtet, die Ermittlung der Täter zu unterstützen und weitere Schändungen jüdischer Friedhöfe zu verhindern.
Literatur Donate Strathmann, Auswandern oder Hierbleiben. Jüdisches Leben in Düsseldorf und Nordrhein 1945–1960, Essen 2003, insbes. S. 319–345; Jürgen Zieher, Im Schatten von Antisemitismus und Wiedergutmachung. Kommunen und jüdische Gemeinden in Dortmund, Düsseldorf und Köln 1945–1960, Berlin 2005, insbes. S. 148–157; Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil I: Regierungsbezirk Köln, Köln 1997; Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Regierungsbezirk Düsseldorf, Köln 2000 Zum Umgang mit jüdischen Friedhöfen in der NS-Zeit und nach 1945 vgl. Andreas Wirsching, Jüdische Friedhöfe in Deutschland 1933–1957, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 1–40; Julius H. Schoeps, Sepulcra hostium religiosa nobis non sunt. Zerstörung und Schändung jüdischer Friedhöfe in der Bundesrepublik Deutschland 1945, in: Alphons Silbermann/Julius H. Schoeps (Hg.), Antisemitismus nach dem Holocaust. Bestandsaufnahme und Erscheinungsformen in deutschsprachigen Ländern, Köln 1986, S. 33–39. Eine erste, inzwischen sehr ergänzungsbedürftige Bestandsaufnahme der geschändeten jüdischen Friedhöfe findet sich bei Adolf Diamant, Geschändete jüdische Friedhöfe in Deutschland 1945–1980, Frankfurt/M. 1982
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19. Aufruf der Landesregierung Nordrhein-Westfalen gegen die Schändung jüdischer Friedhöfe, 1947
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73 „Um so tiefer empfunden ist die Gesamtscham unserer Bürgerschaft gegenüber diesen verbrecherischen Handlungen“ – Die Erklärung des Kölner Rats zur Schändung der Synagoge Roonstraße an Weihnachten 1959 Erklärung der Fraktionen des Rats der Stadt Köln, verlesen durch Oberbürgermeister Theo Burauen, in: Verhandlungen des Rates der Stadt Köln vom Jahre 1960, Sitzung vom 28.1.1960, S. 4f.
Am 28. Januar 1960 verlas der Kölner Oberbürgermeister Theo Burauen vor Beginn der Ratssitzung eine Erklärung der Fraktionen des Rats der Stadt Köln. In dieser wurde die Schändung der Synagoge in der Kölner Roonstraße zu Weihnachten 1959 scharf verurteilt. Erstes Ziel der Täter war am 24. Dezember 1959 der Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus am Hansaring gewesen: Der Satz „Dieses Mal erinnerte an Deutschlands schandvollste Zeit 1933–1945“ wurde mit schwarzer Lackfarbe unleserlich gemacht. Danach zogen die Täter zur Synagoge in der Roonstraße, die sie mit Hakenkreuzen und der Aufschrift „Deutsche fordern Juden raus“ beschmierten. Die Täter, zwei junge Männer, die Mitglieder der rechtsradikalen und antisemitischen Deutschen Reichspartei (DRP) waren, konnten bald festgenommen werden. Sie hatten sich symbolträchtige Orte herausgesucht: Der Gedenkstein am Hansaring war in Köln die erste Erinnerungsstätte an die Opfer des Nationalsozialismus und diente in den 1950er Jahren jeweils am 8. Mai als Ort offizieller Gedenkfeiern. Die Kölner Tat wurde zu dem Thema, das die Diskussionen in der Öffentlichkeit für die nächsten zwei Monate bestimmte. Die Sudelei, die Erinnerungen an den Novemberpogrom 1938 weckte, wurde als Angriff auf die erneute Etablierung jüdischen Lebens in Köln verstanden. Zudem geschah die Tat in der Weihnachtszeit, in der die Öffentlichkeit für Verstöße gegen den religiösen Frieden besonders sensibilisiert ist. Das Kölner Ereignis setze eine Kettenreaktion ähnlicher antisemitischer und nazistischer Gewalttaten in Gang: Bis zum 28. Januar 1960 wurden 685 Vorfälle in der Bundesrepublik Deutschland gezählt, doppelt so viele wie jeweils in den Jahren 1959 und 1961 insgesamt. Das Land NRW stand mit 167 Vorkommnissen an der Spitze der Statistik, gefolgt von Niedersachsen und West-Berlin. Aber auch im Ausland trieben Nachahmungstäter ihr Unwesen. In der Zeit vom 25. Dezember 1959 bis zum 20. Januar 1960 wurden in 34 Ländern rund 500 antisemitische Handlungen registriert. In der bundesdeutschen Öffentlichkeit stieß die Gewalttat auf Empörung und einhellige Ablehnung. Die politisch Verantwortlichen reagierten schnell, da das Ansehen des Landes im Ausland auf dem Spiel stand. Eine intensiv geführte Diskussion über die Ursachen und Hintergründe der Kölner Gewalttat begann.
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Die Kölner Erklärung vom 28. Januar 1960 nimmt einige wichtige Thesen auf, die in der öffentlichen Diskussion eine Rolle spielten. Die Schändung des jüdischen Gotteshauses wird als Angriff auf die Stadt Köln und die Bürgerschaft betrachtet. Ebenso wie auf gesamtstaatlicher Ebene immer wieder betont wurde, dass in der neuen Demokratie kein Raum für Antisemitismus und Neonazismus sei, verweist der Kölner Rat auf Toleranz und Humanität als Grundwerte bürgerschaftlichen Handelns und Zusammenlebens. Gerade im „widerständigen“ Köln habe die Schandtat nicht geschehen dürfen. Diese Einschätzung blendet allerdings die Tatsache aus, dass es – entgegen dem langlebigen „Mythos“ – auch in Köln keine außergewöhnliche Opposition gegen den Nationalsozialismus gegeben hatte. Burauen rief im Namen des Stadtrats zum harten Vorgehen gegen antisemitische und rechtsradikale Täter auf. Die Demokratie und ihre Repräsentanten müssten sich wehrhaft zeigen. Ehemalige Nationalsozialisten seien von verantwortlichen Positionen in Staat und Gesellschaft fernzuhalten, eine Forderung, die im In- und Ausland auf Resonanz stieß – zu einer Zeit, in der die Skandale um den Staatssekretär Hans Globke, den Mitautor eines offiziellen Kommentars zu den „Nürnberger Gesetzen“ und zum „Erbgesundheitsgesetz“ von 1935, und um den Bundesminister Theodor Oberländer, dem eine Beteiligung an Kriegsgräueln vorgeworfen wurde, große Lücken in der Entnazifizierungspolitik aufzeigten. Indem die Erklärung des Kölner Rats schließlich das Augenmerk auf die umfassende Aufklärung der Jugend richtet, werden auch Versäumnisse und Defizite in der schulischen Bildungsarbeit sowie eine mangelhafte Aufarbeitung autoritären und demokratiefeindlichen Gedankenguts eingeräumt, das in der älteren Generation noch weit verbreitet war. Insgesamt markiert die Schandtat von Köln den Beginn einer in weiten Teilen der Gesellschaft geführten Diskussion, die zu einer intensivierten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands führte. Nicht zuletzt bereitete dieser Diskurs eine durchgreifende Reform des schulischen Geschichtsunterrichts, vor allem im Bereich der Zeitgeschichte, vor. Als Vorsitzender des Rates dieser Stadt habe ich namens der Fraktionen folgende Erklärung abzugeben: Der Rat der Stadt Köln verurteilt mit tiefer Empörung und schmerzlichem Mitempfinden die verwerflichen Vorgänge in der Weihnachtsnacht, in der die Synagoge und das jüdische Kulturzentrum in der Roonstraße mit Hakenkreuzen und Inschriften nationalsozialistischen Inhalts beschmiert und das Ehrenmal für die Opfer des Terrors der Nazidiktatur nebst den dazu gehörenden Grabstätten besudelt wurden. Wir beklagen auch, daß dieser Untat in anderen Städten und Ländern ähnliche Schandtaten gefolgt sind. Wir verurteilen aufs schärfste, was hier vor allem unseren jüdischen Mitbürgern angetan wurde. Wir verurteilen diese frevlerischen Akte um so mehr, als sie mit der Besudelung des Gotteshauses und des Mahnmals zugleich den Namen unserer
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Stadt entehrten und die gesamte Bürgerschaft schmähten. Die Bürgerschaft unserer Stadt hat immer Toleranz und Humanität als hohe Werte bürgerschaftlichen Gemeinschaftslebens geübt. Kaum eine andere Stadt hat in der Zeit der unseligen nationalsozialistischen Gewaltherrschaft so nachhaltig inneren und äußeren Widerstand geleistet wie Köln.1 Eine große Zahl von Blutzeugen aus unserer Stadt ist mit dem Leben eingestanden gegen den verabscheuungswürdigen Ungeist und die Tyrannei. Um so tiefer empfunden ist die Gesamtscham unserer Bürgerschaft gegenüber diesen verbrecherischen Handlungen. Wo solcher Ungeist sich zeigt, muß er ausgemerzt werden. Wir fordern, daß staatliche Tatkraft dem wirksamen Schutz der höchsten Güter der menschlichen Gemeinschaft zu dienen entschlossen ist. Unverändert aber muß für uns die sittliche Verpflichtung gelten, unseren jüdischen Mitbürgern das Bewußtsein uneingeschränkt gleichen Heimatrechts zurückzugeben. Wir bitten unsere Bürgerschaft nun umso deutlicher, den humanen Geist der Achtung anderer Überzeugung zu bewahren. Diese hohe Achtung wollen wir vor allem unseren Kindern vorleben und unsere Jugend dahin erziehen, daß sie von Abscheu gegen die Gesinnung und die Taten dieser dunkelsten Jahre der deutschen Vergangenheit durchdrungen ist. Die Schmähungen müssen innenpolitisch den Bemühungen einen Anstoß geben, die Quellen ständiger Vergiftung zu verstopfen, Diener des Ungeistes von verantwortlichen Stellen in Staat und Gesellschaft fernzuhalten und die Geschichtsbücher, den Geschichtsunterricht und die Ausbildung aller Lehrenden so zu gestalten, daß unsere Jugend den Ungeist einer verabscheuungswürdigen Zeit auch von daher zu erkennen lernt und sich die Werte der Freiheit und der Humanität zu eigen macht. Namens des Rates spreche ich der Synagogengemeinde und allen, die durch die frevlerische Tat geschmäht werden, unser tiefes Bedauern aus. Damit verbinden wir den klaren Willen, die Schmach wieder gutzumachen, soweit das irgend in unseren Kräften steht. Ich danke Ihnen.
Anmerkung 1 Die vielfach geäußerte These von einer besonderen Widerständigkeit der Kölner in der NS-Zeit ist eine Legende. Die Fakten sprechen gegen einen signifikanten Widerstand der Kölner Bevölkerung gegen das sich formierende nationalsozialistische Regime (vgl. Carl Dietmar/Werner Jung, Kleine illustrierte Geschichte der Stadt Köln, Köln 81996, S. 242ff.).
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Literatur Juliane Lange (Schwibbert), Die Kölner Synagogenschmierereien Weihnachten 1959 und die Reaktionen in der Politik und Öffentlichkeit. Magisterarbeit im Fach Geschichte, Köln 1992 (vorhanden in der Bibliothek Germania Judaica in Köln); Juliane Schwibbert, Die Kölner Synagogenschmierereien Weihnachten 1959 und die Reaktionen in Politik und Öffentlichkeit, in: Geschichte in Köln 33 (1993), S. 73–96; Werner Bergmann, Antisemitismus als politisches Ereignis. Die antisemitische Schmierwelle im Winter 1959/1960, in: Werner Bergmann/Rainer Erb (Hg.), Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1990, S. 253– 275; Manfred Kittel, Peripetie der Vergangenheitsbewältigung. Die Hakenkreuzschmierereien 1959/60 und das bundesdeutsche Verhältnis zum Nationalsozialismus, in: Historisch Politische Mitteilungen. Archiv für Christlich-Demokratische Politik 1 (1994), S. 49–67
74 „Ich verbitte mir, wie hier der Ausschuß tagt“ – Der Kampf um Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes, 1952 Das Interview mit Marianne Stern führte Stadtarchivar Wolfgang Brandt am 29. Dezember 1992 im Stadtarchiv Grevenbroich Stadtarchiv Grevenbroich
Marianne Stern, geb. Winter, wurde am 16. September 1919 als Tochter des Schneiders Karl Winter und seiner Ehefrau Rosalie in Hemmerden bei Grevenbroich geboren. Sie hatte noch eine ältere Schwester Hertha. Der Vater betrieb zusammen mit seinem Bruder Benno in der Landstraße 13 das gut eingeführte Stoffgeschäft „Lazarus Winter & Söhne“. Im Dezember 1941 wurde die Familie in das Ghetto Riga deportiert. Marianne Winter, die in Riga Zwangsarbeit leisten musste, überlebte als einziges Mitglied ihrer Familie die Schoa. 1945 kehrte Marianne Winter nach Hemmerden zurück und heiratete 1946 den aus Rheydt bei Mönchengladbach stammenden Josef Stern, den sie im Ghetto Riga kennen gelernt hatte. Es begann ein zermürbender Kampf um die Anerkennung als Verfolgte der NS-Gewaltherrschaft und um die Rückerstattung ihres Eigentums. Von den neuen Mietern in ihrem Elternhaus wurde Marianne Stern ausgesprochen feindselig empfangen. Man verhehlte nicht, wie enttäuscht man darüber war, dass jemand aus der Familie wieder nach Hemmerden zurückgekommen war. Marianne Stern versuchte jahrelang hartnäckig, das Eigentum ihrer Familie, das nach der Deportation versteigert worden war, zurückzuerhalten und führte zu diesem Zweck zahlreiche Prozesse. Sie gelangte in den Besitz der Versteigerungslisten, in denen genau verzeichnet war, wer welche Gegenstände in der NS-Zeit erworben
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hatte (vgl. Dokument 64). Mehrfach entdeckte sie in den Wohnungen von Dorfbewohnern „arisiertes“ Eigentum aus dem Besitz ihrer Familie. Immer wieder hatte sich die Familie mit menschlichen Enttäuschungen, mit Widerstand und Schikanen von Seiten der Dorfbewohner und der Behörden auseinanderzusetzen. Die beiden Söhne von Marianne und Josef Stern erlebten in der Schule schlimme antisemitische Beschimpfungen und körperliche Attacken. Die in dem nachfolgenden Dokument geschilderte Szene vor dem Kreis-Anerkennungsausschuss für NS-Verfolgte spiegelt die gängige Praxis der Behörden wider, die Anerkennungen restriktiv zu handhaben. Die Anerkennung als Verfolgte war die Voraussetzung für Entschädigungszahlungen, die möglichst begrenzt werden sollten. Marianne Stern hat auf ihre hartnäckige und sehr direkte Art dazu beigetragen, dass das Unrecht, das ihr und ihrer Familie widerfahren war, nicht verdrängt werden konnte und dass zahlreiche Bewohner des Dorfes Hemmerden aufgrund ihres Verhaltens in der NS-Zeit mit einem schlechten Gewissen leben mussten. Mit ihrem Kampf für Gerechtigkeit hat sie für Unruhe in Hemmerden gesorgt. Eine Zeitzeugin formulierte es so: „Sie hat sich unbeliebt gemacht.“ Marianne Stern starb am 2. Februar 1998 und wurde an der Seite ihres Ehemannes auf dem kleinen jüdischen Friedhof in Hemmerden bestattet. Als wir 1952 von Paraguay zurückkamen1, stellten wir einen Antrag, um als politischrassistisch Verfolgte anerkannt zu werden (Gesetz über die Anerkennung der Verfolgten und Geschädigten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und über die Betreuung der Verfolgten vom 4.3.1952, GV. NW, S. 39). Die alte Anerkennung von 1946 war nicht mehr gültig. Im Dezember 1952 tagte der zuständige Ausschuß, vorher konnten wir ja keine Wiedergutmachungsansprüche geltend machen. Der Vorsitzende sagte zu uns: „Tja, Frau und Herr Stern, daß sie in Riga waren, das müssen wir Ihnen ja glauben.“ Da wurde ich schon hellhörig. Ich fragte ihn: „Warum müssen sie das glauben?“ Er antwortete: „Wir haben hier eine Bescheinigung der Amtsverwaltung Kapellen/Hemmerden, dass sie nach Riga gekommen sind, ebenso bestätigt das eine Bescheinigung der Stadtverwaltung Rheydt für Ihren Mann, desgleichen bestätigt der Internationale Suchdienst Arolsen2. Aber wer sagt uns denn, daß Sie von da aus später ins KZ3 gekommen sind. Darüber haben wir keine Unterlagen und deshalb können wir Ihren Antrag nicht anerkennen.“ Mein Mann wurde weiß wie eine Wand. Ich sprang auf, ging zum Tisch des Vorsitzenden und sagte sehr laut: „Herr Baues, Sie haben ganz recht, daß sie zweifeln. Können Sie schweigen? Dann will ich Ihnen sagen, wo wir waren.“ Da habe ich durch den ganzen Saal gebrüllt: „Unsere Angehörigen sind da alle beim Skifahren tödlich verunglückt.“ Er fuhr mich daraufhin an: „Geben Sie mir nicht so eine Antwort.“ Ich sagte: „Ich verbitte mir, wie hier der Ausschuß tagt.“ Ich bin sofort zum Gilka4 und habe mich über den Ausschuss beschwert. Am 10.1.1953 wurde uns die Anerkennung als politisch-rassistisch Verfolgte ausgesprochen.
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Anmerkungen 1 Im Jahr 1948 war das Ehepaar Stern nach Paraguay ausgewandert, kehrte aber 1952 wegen der ungünstigen klimatischen Verhältnisse nach Deutschland zurück. 2 Der Internationale Suchdienst, der seit 1946 seinen Sitz im hessischen Bad Arolsen hat, wird durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz geleitet und verwaltet. Seine Hauptaufgabe ist die Sammlung und Auswertung von Unterlagen über das Schicksal der zivilen Opfer der NS-Gewaltherrschaft zwecks Erteilung von Auskünften für die Opfer der NS-Verfolgung und ihre Angehörigen. 3 Konzentrationslager. 4 Marianne Stern beschwerte sich beim Oberkreisdirektor Dr. Otto Gilka über das Verhalten des Vorsitzenden des Kreis-Anerkennungsausschusses.
Literatur Hubert Cames, Geschichte der Juden in Grevenbroich. Fragmente sieben jüdischer Gemeinden, bearb. von Ulrich Herlitz, Grevenbroich 1994; Ulrich Herlitz, Das Ende der jüdischen Gemeinde in Hemmerden, in: Geschichtsverein für Grevenbroich und Umgebung e.V. (Hg.), Zur Geschichte Hemmerdens, Grevenbroich 1999, S. 152–184; ders., Rückkehr aus dem Rigaer Ghetto. Marianne Stern-Winter erinnert sich, in: Josef Wißkirchen (Hg.), Neubeginn 1945 in Grevenbroich, Grevenbroich 1995, S. 63–67 Film: Gert Monheim/Stefan Röttger, Mariannes Heimkehr. Die Jüdin, der Beamte und das Dorf, WDR 2003
75 Nichts zugeben, nichts hergeben: Die Auseinandersetzung um die Rückerstattung einer Schlafzimmereinrichtung aus Nümbrecht, 1952 Schreiben des Rechtsanwalts des Käufers H. an das Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Köln, 2. Juli 1952 LAV NRW R, Rep. 226, 1869 Die im Quellentext erwähnten Eigennamen wurden gemäß den Richtlinien des LAV NRW anonymisiert. Über die betroffene jüdische Familie berichten einige Publikationen ausführlich, so dass ich in meiner Einleitung zum Quellentext auf die Anonymisierung verzichtet habe.
In dem nachfolgend geschilderten Fall geht es um einen Rückerstattungsanspruch von sehr geringem materiellen Wert. Das jüdische Ehepaar Julius und Ida Bär aus
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Nümbrecht musste in der NS-Zeit eine Schlafzimmereinrichtung verkaufen. Die Tochter Käthe L., der im September 1939 kurz vor Kriegsausbruch die Flucht nach England gelang und die als einzige ihrer Familie die Schoa überlebte, machte nach dem Krieg Rückerstattungsansprüche hinsichtlich des Eigentums ihrer Eltern gelten. Hierzu gehörten neben dem Grund- und Hausbesitz auch die Schlafzimmermöbel. Nach längeren Recherchen der Behörden, die sich auch durch falsche Zeugenaussagen verzögerten, wurde als Käufer der Möbel Karl H. aus Geringhausermühle bei Nümbrecht ausfindig gemacht. Zunächst ein kurzer Rückblick: Julius Bär war ein wohlhabender Viehhändler, der mit seiner Ehefrau Ida, geb. Friesen, und den Kindern Helmut, Käthe und Else und seinem Bruder Siegmund in einem stattlichen, 1921 erbauten Haus in bester Ortslage am Spreitger Weg 1 in Nümbrecht lebte. In der NS-Zeit wurde der Familie Bär die Lebensgrundlage entzogen, denn Julius Bär durfte nicht mehr als Viehhändler arbeiten. Um den wirtschaftlichen Absturz der Familie aufzuhalten, betrieb Ida Bär seit 1935 in ihrem Haus eine Pension für jüdische Gäste. 1938 musste das Wohnhaus verkauft werden – an einen Postschaffner, der sich bislang nur eine Zweizimmerwohnung im Nümbrechter Postgebäude leisten konnte. Die Familie durfte zunächst als Mieter in ihrem ehemaligen Haus wohnen bleiben, bis sie 1940 ausziehen musste. Sie kam dann im Haus der Familie Herz unter. 1941 mussten die Familien Herz und Bär in „alte, leerstehende und für arische Familien nicht mehr infrage kommende Wohnhäuser in Oberbreunfeld“ umziehen – wie es in einem Schreiben der Gemeindeverwaltung Nümbrecht heißt. Am 19. Juli 1942 wurden die beiden Familien deportiert. Julius, Ida und Helmut Bär wurden in Theresienstadt, Else Bär in Minsk ermordet. Nach dem Krieg schufen zunächst die Besatzungsmächte in ihren Zonen – im Fall der Nord-Rheinprovinz also die Briten – und dann 1947 bis 1952 das Land Nordrhein-Westfalen die rechtlichen Grundlagen für die Rückerstattung von Grundstücken, Immobilien und anderen Vermögenswerten. Was folgte, war für die jüdischen Antragsteller ein stets mühsamer, häufig erfolgloser bürokratischer Prozess. Am 2. Juli 1952 schrieb der Anwalt des Käufers H. an das Wiedergutmachungsamt beim Landgericht in Köln. Das kurze Schriftstück enthält einige typische Argumentationslinien, mit denen Rückerstattungspflichtige ihr Handeln in der NS-Zeit zu rechtfertigen versuchten: – Wie fast alle Rückerstattungspflichtigen betonte H. sein freundschaftliches Verhältnis zu der jüdischen Familie, das auch nach Beginn der NS-Herrschaft fortgeführt worden sei. H. gab an, die Familie Bär mit Lebensmitteln versorgt zu haben. – Die Initiative zum Kauf ging nicht von den Käufern aus, fast immer boten vorgeblich die Juden ihr Eigentum zum Verkauf an. Der Kauf kam zustande, weil man den Juden einen Gefallen tun wollte, keineswegs aus Eigennutz. – H. versuchte, den Wert der gekauften Gegenstände als gering erscheinen zu lassen, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass der Kaufpreis angemessen war.
Schwierige Neuanfänge im Nachkriegs-Rheinland
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– Die Behauptung, dass Julius Bär seine Möbel habe verkaufen wollen, um den Erlös seiner Tochter nach London zu schicken, lässt den Vorwurf „vaterlandsfeindlichen“ Verhaltens anklingen. In Wirklichkeit war eine Transferierung von Vermögenswerten ins Ausland vor dem Kriegsbeginn kaum, nach Kriegsbeginn überhaupt nicht mehr möglich. (Die Tochter Käthe kam erst im September 1939 in England an.) Tatsächlich wird H. auch gewusst haben, das der Möbelverkauf in einem Zusammenhang mit den von den Verfolgungsbehörden erzwungenen Wohnsitzwechseln der Familie stand. – Der Anspruch auf Rückerstattung soll verspätet geltend gemacht worden sein. Freilich kann man eher von einer Verschleppung des Verfahrens durch den Rückerstattungspflichtigen ausgehen. Aufgrund der langen freundschaftlichen Beziehungen zur Familie Bär lässt H. schließlich eine Ausgleichszahlung von 100 DM anbieten; eine rechtliche Verpflichtung zu diesem Angebot sieht H. nicht. Dabei blieb es: Das Wiedergutmachungsamt und Käthe L. stimmten dem Vergleich zu. Die Entlastung der Psyche und des Geldbeutels hatte auch in diesem Fall funktioniert. In der Wiedergutmachungssache1 L./. H. führe ich für H. folgendes auf: Der Vater der Antragstellerin war Viehhändler und stand lange Jahre mit H. in Geschäftsverbindung. Hierdurch hatte sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Aufgrunddesselben unterstützte H. nach der Machtergreifung die Eltern der Antragstellerin und verhalfen [sic!] ihnen in größerem Umfange zu Lebensmitteln. Eines Tages erschien der Vater der Antragstellerin bei H. Er erklärte, er wolle sich durch Verkauf von Möbeln Geld verschaffen und dieses möglichst für alle Fälle zu der Antragstellerin nach London schaffen. Er bot H. zum Kaufe 2 Bettstellen, einen Kleiderschrank, 2 Nachtschränkchen und 2 Stühle, jedoch keine Waschtoilette. Die Möbelstücke hatte der Verstorbene B. vor langen Jahren bei einem Schreiner in Nümbrecht anfertigen lassen, was H. bekannt war. Nicht weil H. die Gegenstände nötig hatte, sondern, weil er B. einen weiteren Gefallen erweisen wollte, erklärte sich H. grundsätzlich mit dem Kaufe einverstanden. Er einigte sich mit B. auf einen Kaufpreis von M. 320.-, den er auch gezahlt hat. Danach blieben die freundschaftlichen Beziehungen zwischen H. und den Eltern der Antragstellerin in alter Weise bestehen. H. unterstützte diese nach wie vor bei dem Erwerb von zusätzlichen Lebensmitteln. H. war der Auffassung, daß der Vater der Antragstellerin auf irgend einem Wege den Kaufpreis an diese gesandt habe, wie er bei den Verhandlungen über den Ankauf der Möbel angedeutet hatte. Der Anspruch auf Wiedergutmachung gegen H. dürfte verspätet geltend gemacht worden sein. Für das tatsächliche Vorbringen benennt er als Zeugin seine Ehefrau, die bei den Verhandlungen zugegen war.
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Wenn der Anspruch aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen auch nicht begründet ist, so bietet H. dennoch mit Rücksicht auf die jahrelangen freundschaftlichen Beziehungen zu den Eltern der Antragstellerin einen Betrag von DM 100.an.
Anmerkung 1 Als Rückerstattung bezeichnet man Ausgleichszahlungen für entzogene Grundstücke, Immobilien und andere Vermögenswerte unmittelbar an die Eigentümer und ihre Erben oder mittelbar als erbenloses Vermögen an jüdische Organisationen wie die Jewish Trust Corporation. Wiedergutmachung meint Schadensersatzzahlungen für Gesundheitsschäden, Haftzeiten, geleistete Zwangsarbeit, vorenthaltene Ausbildung sowie berufliche Nachteile.
Literatur Zur Familie Bär vgl. Anne Voglmayr, Mein Name ist Meta Herz. Erinnerungen an die jüdische Gemeinde Nümbrecht, Nümbrecht 2000. Zu den Themen Rückerstattung und Wiedergutmachung allgemein: Jürgen Zieher, Im Schatten von Antisemitismus und Wiedergutmachung. Kommunen und jüdische Gemeinden in Dortmund, Düsseldorf und Köln 1945–1960, Berlin 2005, insbes. S. 110–116; ders., Die Grenzen der Wiedergutmachung auf der lokalen Ebene. Die Beispiele Dortmund, Düsseldorf und Köln, in: Geschichte im Westen 17 (2002), S. 165–181; Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945– 1954), München 1992; Rainer Erb, Die Rückerstattung: ein Kristallisationspunkt für Antisemitismus, in: Werner Bergmann/Rainer Erb (Hg.), Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1990, S. 238–252; Ursula Büttner, Not nach der Befreiung. Die Situation der deutschen Juden in der britischen Besatzungszone 1945–1948, Hamburg 1986; Bundesminister der Finanzen in Zusammenarbeit mit Walter Schwarz (Hg.), Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1–6, München 1974–1986
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3. Zwischen Gedenken und Verdrängen 76 „Dieses Mahnmal, das wir als Ehrung und im Gedenken an unsere Toten hier vor uns haben, ist auch gleichzeitig ein Mahnmal an die deutsche Bevölkerung“ – Dr. Marcel Frenkel auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Bocklemünd, 1948 Ansprache des Ministerialdirigenten Dr. Marcel Frenkel aus Anlass der Enthüllung des Mahnmals am 6. Juni 1948, in: Jüdisches Gemeindeblatt für die Britische Zone, 23. Juni 1948 Bibliothek Germania Judaica, Köln
Am 6. Juni 1948 hielt Ministerialdirigent Dr. Marcel Frenkel aus Anlass der Einweihung des Ehrenmals für die Kölner Opfer der Schoa auf dem jüdischen Friedhof an der Venloer Straße in Köln-Bocklemünd eine Ansprache, die vom „Jüdischen Gemeindeblatt für die Britische Zone“ (Vorgänger der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“) unter der Überschrift „Mahnmal gegen Faschismus und Antisemitismus“ veröffentlicht wurde. Die Initiative für die Errichtung des Mahnmals war vom Vorsitzenden der Kölner Synagogen-Gemeinde Moritz Goldschmidt ausgegangen, der Entwurf stammte von seinem Sohn, dem Architekten Helmut Goldschmidt; finanziert wurde das Mahnmal durch Zuschüsse des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen. Das Mahnmal besteht aus einem hohen Mittelteil, den im oberen Bereich ein Davidstern schmückt, und zwei niedrigen Seitenteilen, auf denen zwei bronzene Tafeln mit folgender Inschrift in hebräischer und deutscher Sprache angebracht sind: „Zum Andenken an die über 11.000 Schwestern und Brüder unserer Gemeinde, die als Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns für das Judentum in den Jahren 1933 bis 1945 gefallen sind.“ Am 4. Juli 1954 wurde am Mittelteil des Mahnmals eine Tafel zur Erinnerung an den Kölner Rabbiner Dr. Isidor Caro (1876–1943) angebracht, der im KZ Theresienstadt ermordet wurde. Seine Ehefrau Klara Caro, die überlebt hatte, war bei der Zeremonie anwesend. An den Einweihungsfeierlichkeiten für das Mahnmal nahmen fast alle Mitglieder der Synagogen-Gemeinde, Repräsentanten der Stadt und des Landes NRW sowie zahlreiche Vertreter von Behörden, Parteien, der katholischen Kirche, jüdischer Organisationen und der „Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes“ (VVN) teil. Alle Redner verurteilten scharf die nationalsozialistische Herrschaft und forderten eine demokratische Erneuerung Deutschlands.
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Besonders deutliche Worte fand Dr. Marcel Frenkel (1907–1960), der als Vertreter des Landes NRW in Köln-Bocklemünd anwesend war. Der jüdische Jurist war 1933 in die Niederlande emigriert und hatte sich dort der KPD angeschlossen. Nach seiner Rückkehr nach Düsseldorf wurde er zum Mitglied der Repräsentanten-Versammlung der Düsseldorfer Synagogen-Gemeinde gewählt, seit 1946 war er Ministerialdirigent im Innen- und Sozialministerium des Landes NRW, Leiter der Abteilung Wiedergutmachung, bis 1949 auch Leiter der Abteilung Kommunalaufsicht im Innenministerium sowie Mitglied der VVN. Im Zuge des sich zuspitzenden „Kalten Krieges“ und der Repressionen gegen Mitglieder der KPD wurde Frenkel 1950 vom Dienst suspendiert. Frenkel äußerte sich in seiner Ansprache über den Sinn eines Mahnmals gegen Faschismus und Antisemitismus: Zum einen sei es ein selbstverständliches Anliegen der jüdischen Gemeinden, die Erinnerung an die Opfer der Schoa zu ehren. Zum anderen solle das Mahnmal dazu beitragen, dass die Deutschen sich ihrer Verantwortung und ihrer Schuld an den NS-Verbrechen bewusst werden, dass sie sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen und zur Wiedergutmachung des Unrechts beitragen. Frenkel würdigte zwar die Unterstützung der NRW-Landesregierung für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft. Insgesamt kam er jedoch zu dem Schluss, dass im konkreten Alltagsleben kaum Hilfe für die jüdischen Bürger festzustellen sei, dass ihnen im Gegenteil Ablehnung, Gleichgültigkeit und ungeschminkter Antisemitismus entgegengebracht würden. […] Nichts liegt näher, als daß diese neu geformten Jüdischen Gemeinden es sich angelegen sein lassen, das Andenken ihrer hingemordeten Familienangehörigen, Freunde und Bekannten durch würdige Mahnmale zu ehren. Und so ist auch dieses Mahnmal im Gedenken an unsere ums Leben gekommenen 11000 Kölner jüdischen Mitbürger1 errichtet worden. Ich darf Ihnen namens der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, deren Kabinettsmitglieder durch die Düsseldorfer Konferenz an der heutigen Gedenkfeier leider nicht teilnehmen können, versichern, daß sie mit tiefem Mitgefühl dieser 11000 verstorbenen jüdischen Mitbürger und all der anderen Millionen ermordeter und vergaster Juden gedenke. Die Landesregierung hat auf der letzten Landtagssitzung in dieser Woche zum Ausdruck gebracht, dass sie es als ihre besondere Verpflichtung betrachtet, mit allen nur erdenklichen Mitteln die Lebens- und Existenzmöglichkeiten der überlebenden Juden und aller Opfer des Naziregimes zu schaffen und zu sichern. Und die Sprecher aller Parteien haben es bedauert, daß aus Gründen, die mit der Gesetzgebungsbefugnis der Länderparlamente zusammenhängen, die notwendigen Wiedergutmachungsgesetze noch nicht erlassen sind. Liebe Kameraden und Kameradinnen, lassen Sie mich auch einige Worte als Kamerad und als Jude zu Ihnen sagen. Dieses Mahnmal, das wir als Ehrung und im Gedenken an unsere Toten hier vor uns haben, ist auch gleichzeitig ein Mahnmal an
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die deutsche Bevölkerung. Es soll mahnend auf die große Blutschuld, die das deutsche Volk auf sich geladen hat, hinweisen und es soll den Vorübergehenden aufrütteln und ihn zwingen, darüber nachzudenken, was er dazu getan hat, um sich von dieser furchtbaren Schuld zu entlasten. Sagen wir es doch offen. Wir haben, abgesehen von einigen Erklärungen prominenter antifaschistischer Politiker, bisher noch nicht viel davon wahrnehmen können, daß man sich dieser Schuld im deutschen Volk bewußt ist. Ich spreche hier nicht nur von der materiellen Wiedergutmachung, sondern ich spreche in erster Linie von der Geisteshaltung des deutschen Volkes. Wie wäre es sonst möglich, daß heute zahlreiche jüdische Familien keine anständige Wohnung, keine ausreichende Existenz, nicht genügend Kleidung besitzen? Haben nicht die deutschen Behörden im Gesamten gesehen auf diesen Gebieten aus Gleichgültigkeit oder aus Widerstreben versagt? Und müssen wir es nicht erleben, daß der Antisemitismus bereits offen und frech wieder überall uns entgegentritt? […]
Anmerkung 1 Von Köln aus wurden etwa 11.000 jüdische Menschen deportiert, die allerdings nicht alle aus Köln stammten. Belegen lassen sich die Namen von 7.184 Juden, die zwischen 1933 und 1945 in Köln gewohnt haben und während der NS-Herrschaft ermordet wurden. Die tatsächliche Zahl der Opfer unter den Kölner Juden ist mit Sicherheit höher.
Literatur Martin Stankowski, Wem gehört die Erinnerung? – Formen des Gedenkens und die Auseinandersetzung um Gedenktafeln in Köln, in: Horst Matzerath/Harald Buhlan/Barbara Becker-Jákli (Hg.), Versteckte Vergangenheit. Über den Umgang mit der NS-Zeit in Köln, Köln 1994, S. 307–321; Ulrike Schrader, „… wie ein Mann, der gräbt.“ Erinnerungszeichen für die vertriebenen und ermordeten Juden im Bergischen Land, in: Romerike Berge 48 (1998), Heft 2, S. 12–27; Alte Synagoge Essen (Hg.), Ein Haus, das bleibt. Aus Anlass 20 Jahre Alte Synagoge, Essen 2000; James E. Young (Hg.), Mahnmale des Holocaust. Rituale und Stätten des Gedenkens, München 1993; Ulrike Haß, Mahnmaltexte 1945 bis 1988. Annäherung an eine schwierige Textsorte, in: Dachauer Hefte 6 (1990), S. 135–161; Ulrike Puvogel/Martin Stankowski, Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Bd. I, 2. überarb. u. erw. Aufl., Bonn 1995 (Ausgabe als CD-Rom, Bonn 2003)
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Hinweis Es bietet sich an, die Geschichte der Mahnmale und Gedenksteine für jüdische Menschen vor Ort zu erforschen und mit anderen Erinnerungszeichen zu vergleichen.
77 „Auch sind zweitausend Jahre jüdischen Lebens in Deutschland der Erinnerung der Lebenden wert“ – Heinrich Böll zur Gründung der Kölner Bibliothek Germania Judaica, 1959 Maschinenschriftliches Manuskript, undatiert [Köln 1959] Bibliothek Germania Judaica, Archiv
Der in Köln lebende Schriftsteller Heinrich Böll (1917–1985) stellte mit der folgenden programmatischen Erklärung Mitte 1959 die aus einer Bürgerinitiative hervorgegangene „Germania Judaica. Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums“ der Öffentlichkeit vor. Die Gründungsmitglieder, die auch den ersten Vorstand des Trägervereins der Bibliothek bildeten, waren neben Heinrich Böll der Schriftsteller Paul Schallück, der Buchhändler Karl Keller, der Verleger Ernst Brücher, der Journalist Wilhelm Unger, der Bankier Iwan D. Herstatt und der Kulturdezernent der Stadt Köln Dr. Kurt Hackenberg. Die Initiatoren verfolgten vor allem politisch-pädagogische Ziele: die Bekämpfung der Vorurteile gegenüber Juden und Judentum durch Information und Aufklärung – und damit perspektivisch die Ermöglichung einer neuen „Eintracht zwischen Juden und Nichtjuden“. Im Schulunterricht der Nachkriegszeit wurde das Thema jedoch kaum behandelt, Neuerscheinungen beschäftigten sich vor allem mit der Verfolgung der Juden und der Schoa. Aus mangelnder Wissensvermittlung und unzureichender Aufklärung der Öffentlichkeit resultierten langlebige Vorurteile. Hier sollte eine Bibliothek Abhilfe schaffen, die Bücher zur Geschichte des Judentums sammelte und dem allgemeinen Lesepublikum zur Verfügung stellte. Dem breit angelegten Bildungsauftrag entsprach auch, dass die Bibliothek Germania Judaica schnell an den allgemeinen Leihverkehr der Bibliotheken angeschlossen werden sollte. Wie Bölls Erklärung zeigt, wurden die Aufgaben der Bibliothek anfangs sehr umfassend verstanden. Es existierte keine zeitliche Beschränkung für die gesammelte Literatur, auch Archivgut war willkommen. Eine eigene Schriftenreihe war ebenso geplant wie Aktivitäten, die eher zum Aufgabenbereich einer Volkshochschule oder Akademie gehörten. Böll machte auch deutlich, dass die Bibliothek zwar in Köln beheimatet, dass ihr Wirkungsfeld aber überregional angelegt sei. Von Anfang an erfolgte eine ideelle und finanzielle Förderung der Neugründung durch die Stadt Köln
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und das Land Nordrhein-Westfalen, was allerdings die Existenz der Bibliothek zunächst keineswegs sicherstellte. Als die Bibliothek im Juli 1959 mit etwa 180 gestifteten Büchern die beiden von der Stadt Köln zur Verfügung gestellten Räume in der Merlostraße 24 bezog, war die erste, mehr als einjährige Gründungsphase abgeschlossen. Im Juni 1958 hatte während eines Besuchs des Philosophen Martin Buber in Köln (auf Einladung der Kölner Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Volkshochschule) der Schriftsteller Paul Schallück die Gründung einer Bibliothek zur Geschichte des Judentums in Köln angekündigt. Die Idee ging offenbar auf Karl Keller, den Geschäftsführer der Universitätsbuchhandlung Witsch, zurück, der in Gesprächen mit Studenten immer wieder auf unzureichende Informationsmöglichkeiten hingewiesen worden war. Am 28. Februar 1959 wurde der Trägerverein der Bibliothek gegründet und am 1. Juni 1959 auf einer Pressekonferenz die Eröffnung der Bibliothek angekündigt. Unter der langjährigen Geschäftsführerin Dr. Jutta Bohnke-Kollwitz wurde die Sammlung der Bibliothek kontinuierlich erweitert. Es wurden Kooperationen mit der Wiener Library (London) und den Leo Baeck Instituten (New York, London, Jerusalem) geknüpft. 1976 war die Bibliothek Germania Judaica Gründungsmitglied der „Arbeitsgemeinschaft Jüdische Sammlungen“, die seither Fachleuten auf jährlichen Tagungen die Möglichkeit zu einem informellen Gedankenaustausch gibt. Auf die ursprünglich geplante Akademie und eigene Publikations- und Forschungsvorhaben wurde bald verzichtet. Nur bis 1969 wurde die Zeitschrift „Germania Judaica“ herausgegeben. 1963 erschienen die bis heute wichtigen „Arbeitsinformationen“ zu laufenden Publikationsprojekten zur Geschichte und Kultur des deutschen Judentums zum ersten Mal. Eine zentrale Aufgabe der Bibliotheksarbeit ist bis heute die Beratung von Studierenden, Schülern und Pädagogen. Im Jubiläumsjahr 1984 konnte die Festschrift „Köln und das rheinische Judentum“ herausgegeben werden, die wichtige und lange gültige Forschungsergebnisse zusammenführte. Heute ist die Bibliothek Germania Judaica mit etwa 87.000 Bänden zur Geschichte des deutschsprachigen Judentums seit der Frühen Neuzeit die größte wissenschaftliche Spezialbibliothek auf diesem Gebiet in Deutschland und Europa. Seit 1979 ist die Bibliothek Germania Judaica in der Zentralbibliothek der Kölner Stadtbücherei am Neumarkt untergebracht, wo große Teile der Sammlung freihand aufgestellt sind. Die wichtigsten Sammelgebiete sind: Geschichte des deutschsprachigen Judentums seit dem 18. Jahrhundert, Allgemeine jüdische Geschichte und Kultur, Zionismus und Israel, Antisemitismus, Darstellung von Juden in Literatur und Film, Lokal- und Regionalgeschichte, Geschichte des Judentums nach 1945, Didaktik zum Judentum. Besonders wichtig für die Forschung sind die über 500 verschiedenen deutsch-jüdischen Zeitungen und Zeitschriften im Bestand der Bibliothek Germania Judaica. Diese beteiligte sich auch an dem DFG-Projekt „Jüdische Periodika im deutschsprachigen Raum“, das im Rahmen eines Fachportals die wichtigsten
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bis 1938 erschienenen Zeitungen und Zeitschriften online kostenfrei zur Verfügung stellt (www.compactmemory.de, 4.8.2010). GERMANIA JUDAICA. Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums Die Bibliothek Germania Judaica, die wir Ihnen hiermit vorstellen möchten, ist gegründet worden aus der Erkenntnis, daß die Öffentlichkeit nur in unzureichendem Maße über die Geschichte des Judentums in Deutschland informiert ist. Diese Unkenntnis hat in der Vergangenheit die Propagierung von Vorurteilen ermöglicht. Es ist dieselbe Unkenntnis, die heute noch die alten Vorurteile nährt. Es soll die Aufgabe der GERMANIA Judaica sein, Bücher und Dokumente aller Art zu sammeln, die geeignet sind, das Judentum in unserm Lande bekannter zu machen. Der Bereich der Sammlung wird durch kein historisches Datum begrenzt; den Begründern ist jedes Buch oder Dokument willkommen – ein Bericht über das Leben einer jüdischen Gemeinde im achtzehnten Jahrhundert, ein Dokument über die Deportation jüdischer Mitbürger oder der Lebenslauf eines Juden, der im Jahre 1959 in seine Heimat zurückgekehrt ist. Über diese Sammlung von Büchern und Dokumenten hinaus publiziert die Bibliothek eine eigene Schriftenreihe, deren erstes Heft hiermit vorgelegt werden kann, und Forschungsergebnisse, die über die Geschichte des Judentums in Deutschland Auskunft geben können. In den Räumen der Bibliothek werden auch Gespräche stattfinden. Die Gründer denken vor allem an Gespräche mit solchen Personen, die für die Information der Öffentlichkeit verantwortlich sind, mit Erziehern, Publizisten, Politikern. Eins der Ziele dieser Gespräche ist die Klärung der Begriffe, die Reinigung der Umgangssprache vom Vokabular des Vorurteils. Drei oder viermal jährlich, beginnend mit dem 1. Oktober 1959, wird die Bibliothek ein Mitteilungsblatt herausgeben, das über Neuerwerbungen der Bibliothek und über Neuerscheinungen auf ihrem Arbeitsgebiet berichten wird. Diese Aufgaben können nur erfüllt werden, wenn mithilft, wer sich, wie die Gründer der Bibliothek, für die Unterrichtung einer breiten Öffentlichkeit verantwortlich fühlt. Über die Vorurteile der Vergangenheit aufklären heißt, gegen zukünftige Vorurteile immun machen. Auch sind zweitausend Jahre jüdischen Lebens in Deutschland der Erinnerung der Lebenden wert. Wenn diese Erinnerung gegenwärtig wird, ist neue Eintracht zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland möglich. Die Stadt Köln hat der Bibliothek einige Räume zur Verfügung gestellt, die Anfang Juli bezogen wurden. Die Bibliothek hat ihren Sitz in Köln, sie ist jedoch kein lokales, sondern ein bundesdeutsches Institut mit gemeinnützigem Charakter. Der Herr Kultusminister von Nordrhein-Westfalen, Dr. Werner Schütz1, hat den Start der Bibliothek finanziell unterstützt. Ein Förderkreis ist gegründet worden2. Die Bibliothek wird ständig mit der Wiener Library in London3 zusammenarbeiten; sie ist dem Zentralkatalog und dem allgemeinen Leihverkehr der Bibliotheken angeschlossen;
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sie hat einen wissenschaftlichen Beirat einberufen. Die Gründer der Bibliothek bitten um Hilfe jeder Art, um Geld und Spenden von Büchern und anderen Publikationen, auch von noch nicht veröffentlichten Dokumenten. Alles, was geeignet ist, dieses neue Instrument arbeitsfähig zu machen, ist willkommen, auch das Werben von Freunden, die sich mit den Gründern der Bibliothek gleichgesinnt wissen. Für den Vorstand der GERMANIA JUDAICA Heinrich Böll
Anmerkungen 1 Dr. Werner Schütz (1900–1975), Jurist, Politiker, 1954–1956 und 1958–1962 Kultusminister in Nordrhein-Westfalen. 2 Dem Förderverein gehörten in der Gründungszeit unter anderem Jan Brügelmann, Dr. Klaus von Dohnanyi, Alfred Neven DuMont und Christoph Scheibler an. 3 Dr. Alfred Wiener (1885–1964), Orientalist und Syndikus des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, gründete 1933 im niederländischen Exil ein Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus in Deutschland, zu ähnlichen Bewegungen in Europa und zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime. 1939 wurde die Sammlung, die auch Archivgut, vor allem Augenzeugenberichte, enthielt, nach London gebracht. Nach 1945 entstand die Privatbibliothek „Wiener Library“ als wichtige zeitgeschichtliche Sammlung. Wegen finanzieller Schwierigkeiten wurde die Bibliothek 1975 verkauft und an die Universitätsbibliothek Tel Aviv angegliedert. In London besteht weiterhin das „Institute of Contemporary History and Wiener Library“, das über eine umfangreiche Zeitungsausschnittsammlung, eine Sammlung von Zeitzeugenberichten und ein Fotoarchiv verfügt.
Literatur Willehad Paul Eckert, Köln in der Nachkriegszeit: das Verhältnis zu den Juden, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u.a. (Hg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, insbes. S. 467–469 und 481f.; Alwin Müller-Jerina, Germania Judaica – Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums. Die Entwicklung und Bedeutung einer wissenschaftlichen Spezialbibliothek, Köln 1986; Jutta Bohnke-Kollwitz, Die Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums GERMANIA JUDAICA e.V., Teil 1: Die Anfänge, in: Günther B. Ginzel/Sonja Güntner (Hg.), „Zuhause in Köln…“ Jüdisches Leben 1945 bis heute, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 161–163; Annette Haller, Die Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums GERMANIA JUDAICA e.V., Teil 2: Die Entwicklung 1979–1998, in: ebenda, S. 164f.
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Germania Judaica, Josef-Haubrich-Hof 1, 50676 Köln (Zentralbibliothek, 2. Etage), eMail: [email protected] und [email protected] Aktuelle Informationen im Internet: www.germaniajudaica.de, 4.8.2010
78 „…vor allem von jungen Menschen besucht“ – Jüdische Pressestimmen zur Ausstellung „Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein“, 1963/64 Kurt Hackenberg (Hg.), Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. Eine Ausstellung im Kölnischen Stadtmuseum 15. Oktober 1963 bis 15. März 1964. Fazit, Köln 1965, S. 97 und 100
Ein wichtiger Anlass für die Initiierung der Ausstellung „Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein“, die vom 15. Oktober 1963 bis zum 15. März 1964 im Kölnischen Stadtmuseum gezeigt wurde, waren die antisemitischen Schmierereien an der Kölner Synagoge in der Roonstraße im Dezember 1959 (vgl. Dokument 73), die eine Welle antisemitischer Vorfälle in der Bundesrepublik Deutschland auslösten. Der Wunsch nach Aufklärung und Vermittlung von Wissen über das Judentum führte zunächst zu der Idee, die in Recklinghausen 1960/61 gezeigte Ausstellung „Synagoga. Kultgeräte und Kunstwerke von der Zeit der Patriarchen bis zur Gegenwart“ nach Köln zu holen. Die politisch Verantwortlichen entschieden sich dann aber für eine neu zu erarbeitende Sonderausstellung, die unter der Leitung von Dr. Konrad Schilling zwei Jahre lang vorbereitet wurde. Anders als die „Synagoga“, die erste große Ausstellung zum Judentum in der Nachkriegszeit, die vor allem prachtvolle jüdische Kultgeräte zeigte, orientierte sich die „Monumenta Judaica“ mehr an den landesgeschichtlichen Ausstellungen der Weimarer Zeit, vor allem an der Jüdischen Abteilung im Rahmen der Jahrtausendausstellung der Rheinlande 1925 (vgl. Dokument 45). Bezogen auf den geografischen Raum des Rheinlands zwischen Basel und Emmerich entstand eine im Rheinland bis heute einmalige, umfassende kulturhistorische Schau, die insgesamt 114.350 Besucher anzog. Der zeitliche Rahmen wurde von der Römerzeit bis zur Gegenwart der 1960er Jahre gespannt. Die Ausstellung begleiteten ein Katalog und ein Aufsatzband, von denen wichtige Impulse für die wissenschaftliche Forschung ausgingen. Nach Abschluss der Ausstellung wurde ein Fazit-Band erarbeitet. Die staatsbürgerlich-erzieherische Zielsetzung war den Ausstellungsmachern besonders wichtig. Das Miteinander von jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheit, die gegenseitige Befruchtung der Religionen und Kulturen und die Überwin-
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dung der während der NS-Zeit herrschenden ideologischen Sichtweise auf das Judentum waren weitere Schwerpunktthemen. Als geradezu modern und heute noch gültig können die Leitlinien gelten, die für die Entwicklung der Ausstellung bezeichnet wurden: – Darstellung vom innerjüdischen Standpunkt aus – Vielfältigkeit der Umwelteinflüsse auf das Schicksal der jüdischen Minderheit – Vermeidung des Eindrucks, als sei jüdische Geschichte nur Verfolgungsgeschichte – Darstellung des Lebens auch der „kleinen Leute“, nicht nur Lebensgeschichten Prominenter. Den Ausstellungsmachern und -organisatoren lag eine Adressatengruppe besonders am Herzen: die Jugendlichen. Die Besucherzahlen belegten den Erfolg dieser Bemühungen: Über 61 Prozent der Besucher, 70.232 Personen, waren Jugendliche und junge Erwachsene. Dass die „Monumenta Judaica“ das Interesse gerade junger Menschen geweckt hatte, bewerteten auch die hier zitierten jüdischen Zeitungen in ihren Besprechungen sehr positiv. Dr. Curt C. Silbermann kritisiert im New Yorker „Aufbau“ zwar, dass Kontaktmöglichkeiten mit jüdischen Menschen gefehlt hätten, betonte aber ebenso wie Heinz Gerling vom israelischen „Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkas Europa“ die Wichtigkeit des Besuchs einer großen Zahl Jugendlicher, die sich mit dem ihnen fremden Thema ernsthaft auseinandersetzten und die in den Elternhäusern häufig manifesten Vorurteile zu überwinden suchten. Die Autoren schlossen sich letztlich der Leitlinie und Hoffnung der Ausstellungsverantwortlichen an, wonach vor allem die Erziehung der jungen Deutschen zu Toleranz und Weltoffenheit eine stabile Basis für die noch junge Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland bilden werde.
Aufbau, New York, 7. Februar 1964 (Dr. Curt C. Silbermann)1 […] Von dem Frohsinn junger Menschen war im Museum nichts zu verspüren; sie waren außerordentlich ernst und fühlten sich einigermaßen unsicher in einer Umgebung, die ihnen fremd oder vom Elternhaus verzerrt geschildert war. Wenn man diese Gruppe junger Menschen als Maßstab nehmen kann, so ergibt sich als positives Resultat, daß diese Jugend den Kontakt sucht, um zu lernen und um sich eine unabhängige, d.h. von ihrem Elternhaus unabhängige Vorstellung zu machen. Dabei muß zugegeben werden, daß eine Begegnung mit Museumsobjekten trotz aller guten Erklärung durch Wort und Schrift nicht eine Begegnung mit dem lebenden Organismus ersetzen kann. Deshalb ist es auch schwierig für die jungen Besucher, hinter den Ausstellungsgegenständen die so dokumentierte Vergangenheit zu rekonstruieren. Trotz dieser Schwierigkeit und trotz des Fehlens der Unmittelbarkeit erfüllt die Ausstellung ihre Aufgabe, das Interesse dieser jungen Generation zu wecken.
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MB-Wochenzeitung des Irgun Olej Merkas Europa, Tel Aviv, Nr. 10, 6. März 1964 (Heinz Gerling)2 […] Die Ausstellung ist nicht nur mit großem Ernst und Fleiß zusammengestellt, sie ist würdig, schön und eindrucksvoll in Unterbringung, Anordnung und Darstellung des Gezeigten. Deshalb wahrscheinlich, und vor allem deshalb ist sie attraktiv. Man rechnet bis zum Schluß der Ausstellung, die um einen Monat verlängert wurde, mit etwa 100000 Besuchern, eine Zahl, die bei einem so speziellen, der Mehrheit sicherlich fremden Gegenstand durchaus beachtlich ist. Wichtiger und viel eindrucksvoller aber ist die Tatsache, die jedem Besucher, gleichgültig an welchem Tage und zu welcher Zeit er kommt, auffallen muß, daß sie vor allem von jungen Menschen besucht wird. Sie kommen einzeln und in Gruppen, werden von sachkundigen Führern, größtenteils Studenten geführt, die besonders dafür geschult wurden. Ihre Erklärungen, denen ich verschiedentlich zugehört habe, mögen hier und da kleine Fehler in der Darstellung eines Einzelgegenstandes oder der Aussprache eines hebräischen Wortes aufweisen, im ganzen sind sie sachlich richtig und von dem gleichen Geist der Verantwortung und Achtung gegenüber dem Dargestellten getragen. Diese Tatsache des Besuches einer großen Anzahl junger Menschen, die in diesem Umfang weder gelenkt noch organisiert sein kann, spricht offenbar für den Wunsch und das Bedürfnis weiter Kreise der deutschen Jugend, zu wissen und sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, wer eigentlich diese Juden waren, von denen sie so viel gehört haben. Diesem Wunsch wird die Ausstellung in ihrem Gesamteindruck in einem Sinne gerecht, der auch uns nur befriedigen kann.
Anmerkungen 1 Die von 1934 bis 2004 in New York erscheinende Zeitung „Aufbau“ war die wichtigste Zeitung der deutschsprachigen Emigration in den USA. Seit 2005 wird sie in Zürich unter dem Titel „Aufbau. Das jüdische Monatsmagazin“ herausgegeben (www.aufbauonline.com, 4.8.2010). 2 1932 wurde in Tel Aviv die „Hitachdut Olej Germania“ (wörtl. Vereinigung der Einwanderer aus Deutschland) gegründet, die später den Namen „Irgun Olej Merkas Europa“ (wörtl. Organisation der Einwanderer aus Mitteleuropa) annahm. Diese Vereinigung der in Palästina bzw. Israel lebenden Juden mitteleuropäischer Herkunft hat sich die Bewahrung des Kulturerbes des mitteleuropäischen Judentums und die Vermittlung seiner Werte an die israelische Öffentlichkeit zum Ziel gesetzt. 1932 erschien das Mitteilungsblatt (MB) der Organisation zum ersten Mal in deutscher und hebräischer Sprache. Das MB besteht bis heute, seit einigen Jahren unter dem Titel „MB Jakinton“; die Hauptsprache ist inzwischen Hebräisch (www.irgun-jeckes.org, 4.8.2010).
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Literatur Konrad Schilling (Hg.), Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. Eine Ausstellung im Kölnischen Stadtmuseum 15. Oktober 1963 bis 15. März 1964, 2 Bde. (Aufsätze und Katalog), Köln 1963; Kurt Hackenberg (Hg.), Monumenta Judaica. Fazit einer Ausstellung, Köln 1965; Sabine Offe, Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich, Berlin/Wien 2000; Jens Hoppe, Jüdische Geschichte und Kultur in Museen. Zur nichtjüdischen Museologie des Jüdischen in Deutschland, Münster u.a. 2002; Katharina Rauschenberger, Jüdische Tradition im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Zur Geschichte des jüdischen Museumswesens in Deutschland, Hannover 2002
Hinweise Im Rheinland ist seit der „Monumenta Judaica“ keine ähnlich umfassende Gesamtschau jüdischer Geschichte gezeigt worden. • Im Juli 2010 wurde die Alte Synagoge Essen als „Haus der jüdischen Kultur“ wiedereröffnet: www.alte-synagoge.essen.de, 4.8.2010. • Zum LVR-Kulturhaus Landsynagoge Rödingen vgl. die Dokumente 22 und 38 in diesem Band sowie www.synagoge-roedingen.lvr.de, 4.8.2010. • Regionalen Aspekten und Facetten des religiösen Lebens widmet sich das Jüdische Museum Westfalen in Dorsten: www.jmw-dorsten.de, 4.8.2010. • Das Jüdische Museum in Berlin bietet eine sehr lebendige Gesamtschau jüdischen Lebens in Deutschland: www.jmberlin.de, 4.8.2010. • Das Jüdische Museum in Frankfurt am Main widmet sich der Geschichte der Frankfurter Juden: www.juedischesmuseum.de, 4.8.2010. • Zum 2007 eröffneten Jüdischen Museum in München vgl. www.juedisches-museummuenchen.de, 4.8.2010. Alle Museen bieten pädagogische Programme und Gruppenführungen an. Umfassende Informationen zu weiteren Museen und Gedenkstätten in NRW, deren Thema jüdische Geschichte und Kultur ist, findet man hier: www.ns-gedenkstaetten.de/nrw, 4.8.2010.
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79 Neue Formen der Erinnerung: Das Projekt Synagoge Stommeln, seit 1990/91 Gerhard Dornseifer, Die Synagoge Stommeln. Zerstört und doch erhalten, in: Stadt Pulheim (Hg.), Arts Projects – Synagoge Stommeln – Kunstprojekte, Ostfildern-Ruit 2000, S. 16f.
1882 wurde auf dem Grundstück Hauptstraße 85 in Stommeln, heute Teil der Stadt Pulheim, eine Synagoge erbaut, die als einziges jüdisches Gotteshaus im Rhein-ErftKreis erhalten blieb. Sie wurde nicht zerstört, weil sie bereits vor 1933 nicht mehr genutzt wurde und 1937 in nichtjüdisches Eigentum überging. Der neue Besitzer, der das Gebäude als Schweinestall und Abstellraum zweckentfremdete, verteidigte während des Novemberpogroms 1938 sein Eigentum gegen die Gewalttäter. Die Synagoge geriet dann in Vergessenheit. Wiederentdeckt vom Verein für Geschichte und Heimatkunde Pulheim und der Freiwilligen Feuerwehr ging das Gebäude 1979 in den Besitz der Stadt Pulheim über. 1983 wurde die ehemalige Synagoge nach einer gründlichen Sanierung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dr. Gerhard Dornseifer, bis zu seinem Tode 2001 Kulturdezernent der Stadt Pulheim, beschreibt im hier abgedruckten Text die Geschichte der Synagoge und die Entwicklung eines innovativen Gedenkkonzepts. Diskussionen um die Nutzung der sanierten Synagoge führten zu dem Ergebnis, dass das häufig in erhaltenen Synagogen absolvierte „Programm besinnlicher kultureller Veranstaltungen“ in Stommeln überwunden werden sollte. 1990/91 wurde nach Ideen des Kölner Künstlers Werner Gies das „Projekt Synagoge Stommeln“ entwickelt, das neue Formen der Erinnerung und der Auseinandersetzung mit historischen Entwicklungen erprobt. Organisiert wird das Projekt von der Kulturabteilung der Stadt Pulheim. Bedeutende Gegenwartskünstler und -künstlerinnen werden aufgerufen, für den Kunstraum Synagoge Stommeln Objekte zu entwerfen, die „mit dem Raum, seiner Architektur, seiner Geschichte eine enge Wechselbeziehung eingehen“. Jedes Jahr stellt sich ein Künstler dem historischen Ort der Synagoge und entwickelt in Auseinandersetzung mit ihm ein Kunstwerk. So erstarrt die Erinnerung nicht in Ritualen, sondern wird in stets neuen Formen aktiviert und problematisiert. Auch hinter dem „Projekt Synagoge Stommeln“ steht letztlich der Wille zu vernunftgeleiteter Aufklärungsarbeit – hier mit Hilfe des Mediums der Kunst: Die Auseinandersetzung mit dem Fremden, die bewusste Veränderung des eigenen Wahrnehmungsverhaltens sollen zum Abbau von Vorurteilen führen. Aus der Vergangenheit sind Lehren für die Gegenwart und Zukunft abzuleiten. Renommierte Künstler wie Jannis Kounellis, Richard Serra, Georg Baselitz, Eduardo Chillida, Rebecca Horn, Micha Kuball, Rosemarie Trockel oder Sol LeWitt haben Werke für die Synagoge Stommeln geschaffen. Die Arbeit „245 m3“ von Santiago Sierra 2006, die den Synagogenraum in eine Gaskammer verwandelte, und die seit
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2007 dauerhaft in Stommeln wahrnehmbare Klanginstallation von Max Neuhaus „Time Piece Stommeln“ provozierten in der Öffentlichkeit sehr kontrovers geführte Auseinandersetzungen um die angemessene Form der Erinnerung und die Freiheit der Kunst. Unter dem Druck des seit dem Ersten Weltkrieg immer offener zutage tretenden Antisemitismus hatte sich die Stommelner Synagoge bereits vor 1933 aufgelöst.1 Die Jüdische Gemeinde Köln als Rechtsnachfolgerin der Stommelner Gemeinde verkaufte im Jahre 1937 das Gebetshaus an einen benachbarten Landwirt, der es dann als Scheune, Abstellkammer und Stall nutzte. Der Landwirt konnte den anrückenden SA-Trupp in der Reichspogromnacht unter Hinweis auf sein Eigentumsrecht abweisen. So ging die Synagoge nicht, wie die meisten Gebetshäuser, in Flammen auf, sondern in Folge der veränderten Nutzung verfiel das Gebäude mehr und mehr und geriet nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit. Ende der siebziger Jahre kümmerten sich der neu gegründete Geschichts- und Heimatverein sowie die Freiwillige Feuerwehr Stommeln um den Erhalt des Gebäudes. 1979 erwarb die Gemeinde Pulheim die Synagoge und begann 1981 mit der Restaurierung. 1983 dann wurde sie in einer eindrucksvollen Feier, in der Kantor und Mitglieder der Synagogengemeinde Köln das Minchagebet2 sprachen, der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht. Seitdem wird das Gebäude in das städtische Kulturprogramm einbezogen und steht zudem jüdischen Gemeinden in Köln zur Verfügung. Auf Dauer konnte das Programm besinnlicher, kultureller Veranstaltungen – Solokonzerte, Lesungen, Bilderausstellungen – nicht überzeugen. Immer drängender stellte sich die Frage nach dem angemessenen Umgang mit einem Denk-Mahnmal. Um die Öffentlichkeit auf den historischen Ort aufmerksam zu machen, wurde 1990/91 das Projekt Synagoge Stommeln entwickelt: Die erste Idee dazu hatte der in Köln lebende Künstler W. Gies3. Außergewöhnliche Ausstellungen bedeutender Gegenwartskünstler sollen für den historischen Gehalt sensibilisieren und das Wissen um die Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft fruchtbar machen. Der allgegenwärtigen Geschichte des Ortes stellen sich die Künstler. Sie sind aufgerufen, die geistige Auseinandersetzung aufzunehmen und den Besucher der Synagoge in einen spannenden Dialog mit einzubeziehen. Das eröffnet die Chance, ein DenkMahnmal nicht als leere Raumhülle erstarren zu lassen, sondern teilzuhaben an einer geschichtlichen Lehrwerkstatt, die Neuorientierung möglich macht. Das Konzept sieht eine Reihe von künstlerischen Interventionen vor, die mit dem Raum, seiner Architektur, seiner Geschichte eine enge Wechselbeziehung eingehen. Abseits des laufenden Kulturbetriebs mit seinen monumentalen Bauten und Ausstellungssuperlativen will der Kunstraum Synagoge Stommeln einen anderen Weg einschlagen, den Weg der Reduktion: ein Ort – ein Raum – eine Arbeit. Das Projekt ist der Idee verpflichtet, einen Mosaikstein zu einer Ethik der Erinnerung beizutragen. Der Umgang mit Geschichte darf nicht in resignativer Erstarrung
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münden. Stellen wir uns der Herausforderung, Spuren zu suchen, sie wiederholt und wiederholt zu markieren, erneut zu lesen, zu befragen, dann sind Verdrängen und Vergessen obsolet. Die Inszenierungen der Kunst in der Synagoge können Aufschluss geben über die Prozessualität des Erinnerns und die Einsicht stärken, dass ein kollektives Gedächtnis sich beständig zu verändern hat. An diesem Prozess mitzuwirken ist die Herausforderung an die Gegenwartskunst.
Kommentar 1 Die jüdische Gemeinde in Stommeln, die 1863 71 Mitglieder, 1901 36 und 1933 nur noch 10 Personen zählte, löste sich vermutlich offiziell schon 1926 auf. 2 Nachmittagsgebet, zweites der drei täglichen Gebete. 3 Werner Gies, geb. 1945, Studium der Malerei in Köln, 1976 Förderstipendium der Stadt Köln, 1992 Auszeichnung durch den Hamburger Architekten- und Ingenieurverein, lebt in Köln.
Literatur Verein für Geschichte und Heimatkunde Pulheim (Hg.), Juden in Stommeln. Geschichte einer jüdischen Gemeinde im Kölner Umland, 2 Bde., Pulheim 1983–1987; Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil I: Regierungsbezirk Köln, Köln 1997, S. 210–212; Gerhard Dornseifer, Zerstört und doch erhalten. Die Stommelner Synagoge, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 33 (1994), Heft 129, S. 148–154; Gerhard Dornseifer/Angelika Schallenberg (Hg.), Art Projects – Synagoge Stommeln – Kunstprojekte, Ostfildern-Ruit 2000
80 Pro und Contra „Stolpersteine“, seit 1995 Das Kunstprojekt „Stolpersteine“ gilt als eines der „herausragenden Erinnerungsprojekte der Welt“, so Werner Jung, Direktor des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln im Jahr 2007. Es geht auf eine von dem in Berlin geborenen und in Köln lebenden Künstler Gunter Demnig 1990 initiierte Aktion zurück, mit der er an die Deportation der Sinti und Roma aus Köln im Jahre 1940 erinnerte. Es folgte eine intensive Auseinandersetzung des Künstlers mit den Verbrechen des Nationalsozialismus, die 1995 zur Verlegung der ersten „Stolpersteine“ im Kölner Griechenmarktviertel führte, wo bis in die NS-Zeit zahlreiche ostjüdische Einwanderer lebten. Im Jahr 2000 nahm der Kölner Stadtrat die „Stolpersteine“ als Geschenk an und legitimierte damit die Aktion. Bis Herbst 2007 wurden von Gunter Demnig in Köln
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1.539 Steine, jeweils auf dem Gehweg vor dem letzten Wohnort der Verfolgten, verlegt. Es handelt sich um 10 mal 10 mal 10 cm große beschlagene Betonquader, in die eine Messingplatte verankert ist. Außer dem Namen des/der Ermordeten sind auf der Platte Geburts- und Todesjahr sowie Ort des Todes verzeichnet. Im Zuge der „Stolperstein“-Erfolgsgeschichte wurden in den letzten Jahren in 280 weiteren Orten Deutschlands „Stolpersteine“ verlegt. Inzwischen arbeitet Demnig auch im internationalen Bereich, er nennt seine Arbeit „Ein Projekt für Europa“. Finanziert werden die „Stolpersteine“ über Stiftungen und Vereine, Initiativen, Schulklassen und Privatpersonen. Nach der Verlegung gehen die Steine in dem Besitz der Kommunen über. Befürworter des Projekts bezeichnen die Arbeit Demnigs als dezentrales Mahnmal im öffentlichen Bereich, das Erinnerung konkret und unmittelbar zum Ausdruck bringt. Es soll ein Kontrapunkt zu der von oben verordneten, ritualisierten Erinnerungskultur gesetzt werden. Spuren sollen sichtbar, Verdrängung unmöglich gemacht werden. Inzwischen ist auch Kritik am „Stolperstein“-Projekt laut geworden. Die Angehörigen von Opfern der NS-Gewaltherrschaft reagieren sehr unterschiedlich. Manche bezweifeln die Angemessenheit des Gedenkens, sie stoßen sich daran, dass die Namen ihrer Verwandten mit Füßen getreten werden. Bewohner haben Angst, dass ihre Häuser stigmatisiert und sie fälschlicherweise für „Arisierungen“ verantwortlich gemacht werden. Kritiker warnen vor der „Inflation des Erinnerns“, die zur Abstumpfung führe. Im Verlauf der Ausdehnung des „Stolperstein-Projekts“ von einer Kölner Initiative in europäische Dimensionen ist die Kritik lauter und differenzierter geworden. Dr. Edna Brocke, die Leiterin der Alten Synagoge Essen, kritisiert die rückwärtsgewandte Form des Erinnerns, die vor allem der seelischen Entlastung der Initiatoren und Unterstützer des „Stolperstein“-Projekts dienen soll: „Sie [die Form der Erinnerung; d. Bearb.] will die Trauer und Traumata der Mehrheitsgesellschaft konservieren, sie will ein ‚Mea culpa’ festschreiben, um so in einem nur vordergründigen Selbstverständnis behaupten zu können, aus der Geschichte gelernt zu haben“ (unveröffentlichte Stellungnahme Brockes an die Bearb., 2.11.2007). Die ausschließliche Erinnerung an die Toten, die eine Begegnung mit den Nachfahren der Opfer und mit der lebendigen jüdischen Kultur der Gegenwart verhindere, lenke auch von der Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen (Rechtsradikalismus, Antisemitismus) ab. Edna Brocke stört zudem die von ihr als aggressiv, aufdringlich und selbstgerecht bezeichnete Art, Erinnerung zu produzieren, die dadurch entsteht, andere Menschen zum Stolpern bringen zu wollen („Mahn- und Betroffenheitspädagogik“). Zudem gebe es keine Differenzierung zwischen Opfergruppen, deren Angehörige im Leben kaum etwas gemeinsam hatten. Besonders problematisch sei das Argument der Initiatoren, die „Stolpersteine“ wollten Menschen, die ermordet wurden und in den meisten Fällen kein Grab fanden, wenigstens den Namen wiedergeben: „Also eine Art ‚Ersatz’ für das fehlende Grab. Welch ein blecherner und entwürdigender Ersatz!“
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Die hier abgedruckten Zeitungsartikel zeigen den unterschiedlichen Umgang mit dem „Stolperstein“-Projekt in zwei rheinischen Kommunen. Für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema seien die im Literaturverzeichnis genannten Titel empfohlen.
Bianca Wilkens, Stolpersteine für Lechenich. In: Kölner Stadt- Anzeiger, 17.5.2006 Die Kirchengemeinden wollen die Erinnerung wach halten. Im Dezember sollen die ersten Stolpersteine liegen. Erftstadt-Lechenich – Immerzu musste Mirjam Schmerschneider an die Kinder denken, die aus den Armen ihrer Eltern gerissen wurden. Hart getroffen hat die Lechenicherin von der evangelischen Kirchengemeinde das Buch „Stolpersteine“. Darin erzählt eine Journalistin die Lebensgeschichte der Kölner Juden, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden.1 Vor den Häusern, aus denen sie verschleppt wurden, stehen ihre Namen – eingraviert in Messingsteine. Der Kölner Gunter Demnig ist Schöpfer dieser Steine. In weit mehr als 100 Orten und Städten wie etwa Köln, Berlin, Leverkusen und Euskirchen hat der Künstler mehr als 6000 dieser Steine verlegt. Auch in der Nachbarkommune Brühl gibt es 18 Steine. Die Messingplatten haben eine Größe von zirka zehn mal zehn Zentimetern und tragen Namen und Geburtsjahr der Opfer sowie Angaben, wann und wohin sie verschleppt wurden und wann und wo sie starben. „Ich dachte, das wäre vielleicht etwas für Erftstadt“, sagt Schmerscheider. Und so hat sich Ende Januar auf Initiative der evangelischen und katholischen Pfarrgemeinde St. Kilian in Lechenich ein Arbeitskreis gebildet. Dem gehören auch Ratsund Verwaltungsmitglieder sowie die Bürgerschaft an. Jetzt steht der Tag fest, an dem die ersten Steine verlegt werden. Am 15. Dezember, 14 Uhr, will sich Demnig vor den ehemaligen Wohnstätten der Lechenicher Juden an die Arbeit machen. Zehn Steine sollen zunächst ihren Platz finden. Pro Stück kostet die Verlegung 95 Euro und wird über Spenden finanziert. Die Kirchengemeinden sowie Privatpersonen werden für die Kosten aufkommen. Außerdem will der Arbeitskreis durch Veranstaltungen und gezielte Öffentlichkeitsarbeit auf die Aktion aufmerksam machen. Er sieht Informationsstände, ein Literaturcafé, Filmvorführungen sowie Informationsveranstaltungen vor. Sie sollen im Rahmen des Schweigemarsches zur Pogromacht am 9. November stattfinden. Den Zweifel einer Jüdin, dass die Stolpersteine eine falsche Art der Erinnerung sei, teilt Schmerschneider nicht. Die Jüdin lebte in Lechenich, wohnt inzwischen aber in den USA und hatte vor einiger Zeit Bedenken an dieser Aktion angemeldet. Bildungsprogramme hält sie für richtiger. „Jeder kann sich doch auf seine eigene Art engagieren“, findet dagegen Schmerschneider. „Und wir treten die Opfer ja nicht
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mit den Füßen, weil die Steine im Bürgersteig eingelassen sind.“ Im Gegenteil: „Wenn man innehält, nach unten schaut und den Text liest, ist es doch eine Art Verbeugung.“ Um es vor allem in den jungen Köpfen wieder in Erinnerung zu rufen, wollen die Initiatoren auch die Schulen miteinbeziehen. Schmerschneider: „Man darf es nicht vergessen.“
Krefeld ohne „Stolpersteine“. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 11.10.2005 Die Stadt kritisiert Gunter Demnigs Aktion, die an die Naziopfer erinnern soll. Die Stadt Krefeld will sich nicht an der Kunstaktion „Stolpersteine“ beteiligen, mit der schon in 97 deutschen Kommunen an NS-Opfer erinnert wird. Die Stadt und auch die jüdische Gemeinde in Krefeld lehnten das Projekt ab, sagte ein Stadtsprecher. Die mit den Namen der Opfer versehenen messingfarbenen Steine erinnern im Bürgersteig eingelassen an die letzten Wohnstätten der überwiegend jüdischen Opfer. Gegner der Aktion des Kölner Künstlers Gunter Demnig kritisieren, dass Passanten „über das Gedenken hinwegtrampeln“. Zudem könne „ein falscher Eindruck“ von den heutigen Besitzern der damals von Juden bewohnten Häuser entstehen. Mit einer NS-Dokumentationsstelle, verschiedenen Gedenksteinen und dem vielfältigen jüdischen Gemeindeleben pflege man bereits ein aktives Gedenken. Krefelder Schüler einer Gesamtschule und einer Körperbehindertenschule hatten bereits Geld für die „Stolpersteine“ gesammelt. Krefeld ist nicht die erste Stadt, die die Aktion kritisiert. In München wurden im vergangenen Jahr zwei bereits eingelassene Gedenksteine entfernt.
Anmerkung 1 Kirsten Serup-Bilfeldt, vgl. Literatur.
Literatur NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln (Hg.), Stolpersteine. Gunter Demnig und sein Projekt, Köln 2007; Kirsten Serup-Bilfeldt, Stolpersteine. Vergessene Namen, verwehte Spuren. Wegweiser zu Kölner Schicksalen in der NS-Zeit, Köln 22004; Ulrike Schrader, Die „Stolpersteine“ oder Von der Leichtigkeit des Gedenkens. Einige kritische Anmerkungen, in: Geschichte im Westen. Zeitschrift für Landes- und Zeitgeschichte 21 (2006), S. 173– 181 Vgl. auch die Homepage www.stolpersteine.com, 4.8.2010
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4. Zukunftsperspektiven: Die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre 81 „Wer ein Haus baut, der will bleiben“ – Johannes Rau zur Einweihung der neuen Synagoge in Aachen, 1995 Rede des Ministerpräsidenten des Landes NRW, Johannes Rau, aus Anlass der Einweihung der neuen Synagoge in Aachen am 18. Mai 1995 Archiv Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal
Anlässlich der feierlichen Einweihung der neuen Synagoge in Aachen am 18. Mai 1995 hielt der SPD-Politiker Johannes Rau (1931–2006), 1978 bis 1998 Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und 1999 bis 2004 Bundespräsident, eine viel beachtete Rede. Die Aachener Synagoge war einer der ersten Synagogenneubauten in NRW, die als Folge der Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und der damit einhergehenden Vergrößerung der Gemeinde entstanden. Bereits am 8. Juli 1993 wurde der Grundstein für die Wiedererrichtung einer Synagoge und eines jüdisches Gemeindezentrums am historischen Ort gelegt, für die sich der Rat der Stadt Aachen einstimmig ausgesprochen hatte. Die nach den Plänen des Frankfurter Architekten Prof. Alfred Jacoby erbaute Synagoge steht auf dem Grundstück des 1862 entstandenen Gotteshauses an der Promenadenstraße, das während des Novemberpogroms am 10. November 1938 zerstört wurde. Die Promenadenstraße heißt heute Synagogenplatz. Für die neue Synagoge wählte Jacoby die Form eines elliptischen Zentralbaus mit großem gläsernen Eingangsbereich, den die niedrigeren Bauten des Gemeindezentrums umgeben. Dem protestantischen Christen Johannes Rau kommt es in seiner Rede vor allem darauf an zu betonen, dass der Synagogenneubau von Aachen ein Signal für die Konsolidierung jüdischen Lebens sei, trotz der Erfahrung der Schoa, die zahlreiche jüdische Familien prägt, und trotz der antisemitischen Gewalttaten der jüngsten Vergangenheit. Raus Formulierung „Wer ein Haus baut, der will bleiben“ ist seither vielfach zitiert worden. Der Politiker fand damit eine sehr griffige Formel für den Willen der jüdischen Gemeinschaft, ihre Existenz in Deutschland auf Dauer zu gestalten. Liebe Festversammlung, diese Erfahrung hat mancher von uns gemacht: Wer ein Haus baut, der will bleiben. Es gibt kein sichtbareres Zeichen dafür, daß jemand sagt, hier bin ich zu Hause, als wenn er ein Haus baut. Das hat die jüdische Gemeinde in Aachen getan, und das ist
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ein Wunder vor unseren Augen. Wie begreiflich, wie menschlich, wie normal, wie selbstverständlich wäre es, daß jüdische Menschen sagen: Da nicht, da nicht mehr! Denn es liegen ja die Geschehnisse auf unseren Schultern, und der Kalender der Grausamkeiten ist längst nicht zu. Wir haben den Tag der Befreiung gefeiert am 8. Mai.1 Heute vor zehn Tagen haben wir in Lübeck erfahren: wir sind noch nicht befreit von Antisemitismus, von Rassismus, von Völkerhaß.2 Wir erleben es oft und wir erleben es bis an die Stammtische, daß wir nicht befreit sind. Und dennoch erleben wir die Freiheit, ein Haus zu bauen. Das ist ein Wunder und ein Anlaß zur Freude. Der Oberbürgermeister3 hat von dem gesprochen, was geschehen ist. Vom 9. November 19384, von all den anderen Tagen. Von Auschwitz, von Treblinka, von Dachau, von Majdanek.5 Das war Alltag. Das liegt auf den Schultern von Menschen und das liegt auf unseren Schultern. Und dennoch wird ein Haus gebaut. Wer die heiligen Schriften liest, der stellt fest, das Haus Gottes ist nicht nur ein fester Begriff, sondern das ist ein Ankerpunkt im Leben des jüdischen Volkes. Und darum sage ich: Wir haben dafür zu danken, daß Sie ein Haus gebaut haben. Daß Sie sagen: Ja, wir bleiben. Wir sind zu Hause. Denn wir haben es ja erlebt und erfahren: Die Deutschen haben nicht nur Juden vernichtet, sie haben sich selber ärmer gemacht und amputiert. Und als wir vor fast zwei Jahren, lieber Simon Schlachet6, das Richtfest gefeiert haben, da haben wir an die Stationen der jüdischen Gemeinde in Aachen gedacht seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts; an die verschiedenen Etappen von der Anmietung bis zum Bau der ersten Synagoge am Hirschgraben7, und dann bis zum Bau der Synagoge, die hier gestanden hat.8 Eine Geschichte, die uns reicher gemacht hat. Und wie viele unter den Christen haben das nicht begriffen, haben das nicht gesehen, haben mitgemacht bei der Herstellung von Klischees, die zu schrecklichen Bildern und dann zu schrecklichen Taten geführt haben. Ein Haus bauen, heißt sagen: Ich bin zu Hause. Nun sagt die Jüdische Gemeinde, das soll ein Haus des Gebets für alle Völker sein. Also nicht irgendein Haus, sondern ein Haus des Gebets, nicht irgendein Haus für eine exklusive Gruppe, sondern für alle Völker. Und wer ein Haus baut und sagt „Ich will ein guter Nachbar sein“, und wer ein Haus baut und sagt „Die Türen sind auf, kommt“, der ist in guter biblischer Tradition. Dazu sage ich einen Glückwunsch. Dafür danke ich, und ich wünsche diesem Haus und allen Menschen, die es besuchen, Unversehrtheit und dies Gefühl, das ein Christ aus Dänemark einmal ausgedrückt hat, Sören Kierkegaard9: Gott nötig haben, das ist des Menschen höchste Vollkommenheit. Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß dies ein Haus des Gebets ist für alle Völker und ein Signal des Friedens, und ich danke dafür, daß wir dabei sein können und daß wir haben helfen können. Shalom10 dieser Gemeinde, dieser Stadt, unserem Land und allen seinen Bürgern.
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Anmerkungen 1 Am 8. Mai 1945 kapitulierte das Deutsche Reich bedingungslos. Der 8. Mai ist somit der Tag der Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Diktatur durch die britischen, amerikanischen, französischen und sowjetischen Truppen. 2 Am Vortag der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1995 wurde die Lübecker Synagoge in der St.-Annen-Straße Opfer eines Anschlags. Bereits in der Nacht vom 24. zum 25. März 1994 hatten vier junge Männer Molotow-Cocktails auf die Synagoge geworfen; ein Gebäudeflügel, in dem auch Menschen wohnten, ging in Flammen auf. 1996 fanden bei einem Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in Lübeck zehn Menschen den Tod. 3 Der langjährige Oberbürgermeister der Stadt Aachen Dr. Jürgen Linden (1989–2009), unterstützte den Synagogenneubau engagiert. 4 Während des Novemberpogroms am 9. und 10. November 1938 wurden auf Geheiß des NS-Regimes überall in Deutschland Synagogen und jüdische Einrichtungen sowie Geschäfte und Wohnungen jüdischer Menschen überfallen und zerstört. Neuere Schätzungen gehen von 1.800-2.000 zerstörten Synagogen im damaligen Reichsgebiet aus. Circa 30.000 jüdische Männer wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. 5 Nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager. 6 Simon Schlachet war bis zu seinem Tod am 1. Dezember 1997 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Aachen und Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland. 7 Die Einweihung der Synagoge am Hirschgraben erfolgte am 4. Januar 1839; vorher hatte der jüdische Gottesdienst in angemieteten Räumen in Privathäusern stattgefunden. 8 Am 18. September 1862 wurde die neue Synagoge an der Promenadenstraße eingeweiht. Der Architekt Wilhelm Wickop bediente sich beim Bau des repräsentativen Gotteshauses orientalisierender architektonischer Gestaltungsmittel. 9 Sören Kierkegaard (1813–1855), dänischer Philosoph, Theologe und religiöser Schriftsteller. 10 Hebr. Friede.
Literatur Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Aachen bis zur Schoa vgl. Herbert Lepper (Bearb.), Von der Emanzipation zum Holocaust. Die Israelitische Synagogengemeinde zu Aachen 1801–1942. Geschichtliche Darstellung. Bilder – Dokumente – Tabellen – Listen, 2 Bde., Aachen 1994. Zur Gemeinde nach 1945 vgl. Wolfgang Krücken/Alexander Lohe (Hg.), Wer baut, will bleiben. Simon Schlachet zu Ehren, Aachen 1997; zur neuen Synagoge vgl. Nähe und Distanz. Synagoge in Aachen, in: Deutsche Bauzeitschrift 45 (1997), Nr. 1, S. 45–50; Stiftung Baukultur Rheinland-Pfalz (Hg.), Gebauter Aufbruch. Neue Synagogen in Deutschland, Regensburg 2010
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82 „Hoffnung, dass jüdische Existenz wieder zu einem selbstverständlichen – und auch ungefährdeten – Teil der Lebenswirklichkeit in Deutschland wird“ – Die neue Synagoge in Wuppertal-Barmen, 2002 Leonid Goldberg in: Pfarrbrief der Gemeinde St. Antonius in Wuppertal-Barmen, 4/2002, S. 5–8 Archiv der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal
Am 8. Dezember 2002 wurde die neue Wuppertaler Synagoge an der Gemarker Straße, Ecke Paul-Humburg-Straße eingeweiht. Das nach Plänen des Architekten Hans Christoph Goedeking im Stadtteil Barmen erbaue Gotteshaus steht unmittelbar neben der evangelischen Gemarker Kirche, die der jüdischen Gemeinde das Grundstück ihres ehemaligen Pfarrhauses überließ. In der Nachbarschaft befindet sich außerdem die katholische St. Antonius-Kirche. Anlässlich der Einweihung stellte Leonid Goldberg, der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal, den katholischen Nachbarn die Synagoge und die Jüdische Kultusgemeinde im Pfarrbrief der Gemeinde vor. Wie alle Synagogenneubauten der letzten Zeit entstand auch das Barmer Gotteshaus als Folge der Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion seit Ende der 1980er Jahre. Zwischen 1992 und 2002 wuchs die Jüdische Gemeinde Wuppertal, zu der auch die in Remscheid, Velbert, Solingen, Wermelskirchen, Wülfrath, Heiligenhaus und Radevormwald wohnenden Juden gehören, von 70 auf über 2.000 Mitglieder an. Heute ist Wuppertal die drittgrößte Gemeinde im Landesverband der jüdischen Gemeinden von Nordrhein. Wie Goldberg es für Wuppertal schildert, sahen sich die um 1990 völlig überalterten jüdischen Gemeinden durch die neue Situation vor große Chancen, aber auch große Probleme gestellt. Um die soziale Integration der Neuankömmlinge zu fördern, mussten – mit Unterstützung der Kommunen und Kirchen – Sprachförderung, Wohnungssuche, Arbeitsvermittlung, Berufsförderung, Kultur- und Freizeitangebote organisiert werden. Besondere Schwierigkeiten bereitete die Tatsache, dass die neuen Mitglieder in der atheistisch geprägten Sowjetunion, in der zudem der Antisemitismus zum Alltagsleben gehörte, kaum die Möglichkeit hatten, ihre Religion zu praktizieren. Sie an jüdische Religion, Geschichte und Kultur heranzuführen, erfordert großes Engagement. Das neue Gemeindezentrum in Barmen mit Betraum, Gesellschaftsraum und Verwaltung soll ganz praktisch dazu beitragen, das religiöse, soziale und kulturelle Leben der Gemeinde zu fördern. Der Synagogenneubau ist laut Goldberg darüber hinaus ein „Zeichen für das Weiterleben der jüdischen Gemeinschaft nach den Verbrechen des Nationalsozialismus“. Trotz der Hoffnung, dass die jüdische Gemeinschaft wie-
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der ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft sein kann, sieht sich der Gemeindevorsitzende gezwungen, um Verständnis dafür zu werben, dass dies auf absehbare Zeit nur unter Polizeischutz möglich sein wird. Goldberg betont, dass das nicht immer unproblematische Verhältnis der christlichen Kirchen zum Judentum, das durch antisemitische Propaganda und die Unterstützung des Nationalsozialismus belastet war, durch eine neue Phase des christlichjüdischen Dialogs abgelöst worden sei. Das Gegeneinander sei einem Miteinander gewichen. Die Nachbarschaft von St. Antonius, Gemarker Kirche und Synagoge bedeute für die jüdische Gemeinde auch Schutz und Solidarität. Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Nachbargemeinde von St. Antonius, das Areal am Alten Markt, Barmens historisches und gegenwärtiges Zentrum, wird um einen Ort religiöser Vielfalt reicher. Am 8. Dezember 2002 findet in Sichtweite der St. Antonius-Kirche die feierliche Einweihung der neuen Synagoge statt. Mit dieser Einweihung steht die jüdische Gemeinschaft in Wuppertal und dem bergischen Städtedreieck1 vor dem wohl bedeutendsten und zugleich freudigsten Ereignis nach der Katastrophe des Holocaust. Der Wunsch zur Errichtung einer neuen Synagoge entstand Mitte der 1990er Jahre, nachdem die Jüdische Kultusgemeinde durch den Zuzug von Juden aus der früheren Sowjetunion innerhalb weniger Jahre um ein Vielfaches angewachsen war und die provisorischen Räumlichkeiten in Elberfeld sich zunehmend als ungeeignet erwiesen hatten.2 Sie werden es sicher über die örtlichen Medien erfahren haben: Die jüdische Gemeinschaft Wuppertals und unserer Nachbarstädte hat sich binnen eines Jahrzehnts von rund 70 Seelen auf jetzt über 2000 vergrößert. Der enorme Anstieg der Mitgliederzahlen ging einher mit einem gravierenden Wandel der Funktionen und Aufgaben unserer Gemeinde. Dieser Wandlungsprozess stellt zugleich eine Facette der Entwicklung hin zu einer modernen Einwanderungsgesellschaft in Deutschland dar. Um nur einige der aktuellsten Herausforderungen, denen sich die Jüdische Kultusgemeinde zu stellen hat, zu nennen: Sprach- und Integrationsförderung, Beratung und Vermittlung von Wohnungen, von Arbeit und Möglichkeiten beruflicher Umschulung und Qualifizierung, die Schaffung kultureller und freizeitorientierter Angebote für junge und ältere Menschen, soziale Betreuung, Gesundheitsfürsorge und schließlich das behutsame Heranführen an die Traditionen des Judentums und die Vermittlung einer jüdischen Identität. Für die Neuankömmlinge aus den GUS-Staaten3 ist die jüdische Gemeinde die wichtigste Brücke zwischen alter und neuer Heimat, zwischen Herkunftsland und Aufnahmegesellschaft. Neben der notwendigen sozialen Integration bietet die Gemeinde – oft zum ersten Mal überhaupt – die Möglichkeit einer lebendigen Begegnung mit jüdischer Kultur, Geschichte und Religion und damit die Chance, jüdische Identität frei, selbstbestimmt und aktiv zu gestalten. Vor diesem Hintergrund hat die Jüdi-
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sche Kultusgemeinde in den zurückliegenden Jahren – teils in Kooperation und mit Hilfe städtischer und kirchlicher Institutionen – ein vielfältiges Angebot im Bereich der sozialen, beruflichen und kulturellen Integration und des Wohlfahrtswesens geschaffen. Allen, die uns in dieser Zeit mit Rat und Tat geholfen haben, nicht nur die schwierigsten sozialen Herausforderungen zu meistern, sondern auch das Projekt des Synagogenbaus gegen alle Widrigkeiten zu realisieren, möchte ich noch einmal an dieser Stelle im Namen unserer Gemeinde herzlich danken. Neben der eher pragmatischen Notwendigkeit, neue Räumlichkeiten für Gebet und ein funktionierendes soziales und kulturelles Gemeindeleben zu schaffen, bedeutet die Einweihung einer neuen Synagoge für uns aber noch etwas anderes: Eine neue Synagoge ist ein Zeichen für das Weiterleben der jüdischen Gemeinschaft nach den Verbrechen des Nationalsozialismus. Sie steht zugleich für unsere Zuversicht und unsere Hoffnung, dass jüdische Existenz wieder zu einem selbstverständlichen – und auch ungefährdeten – Teil der Lebenswirklichkeit in Deutschland wird. Bundespräsident Johannes Rau, der am 8. Dezember an der Einweihungszeremonie teilnehmen wird, hat es einmal so treffend formuliert: Wer ein Haus baut, der will bleiben! Verglichen mit der Geschichte und der Tradition der katholischen Gemeinde ist die der jüdischen in unserer Stadt noch sehr jung. Erst mit Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert kann von einem spürbaren Anwachsen gesprochen werden. Anders als in Elberfeld blieb die jüdische Gemeinschaft Barmens über viele Jahrzehnte stets eine sehr kleine Gruppe. 4 Erst 1894 trennte man sich von der Elberfelder Hauptgemeinde und weihte drei Jahre später in der Straße Zur Scheuren eine eigene Synagoge ein. Ich brauche Ihnen sicher nicht lange zu erklären, dass es die Juden im protestantisch geprägten Wuppertal, aber auch in anderen Städten, nicht immer leicht hatten. Die Gleichberechtigung als religiöse Minderheit musste im 19. Jahrhundert mühsam erkämpft werden und blieb immer eine gefährdete Angelegenheit. […] Aber trotz aller formalen Gleichstellung, Annäherungen und persönlichen Freundschaften gab es stets einen manifesten Antisemitismus, der im Kaiserreich und in den Jahren der Weimarer Republik auch von kirchlicher Seite nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert wurde und der schließlich im Nationalsozialismus so furchtbare, mörderische Konsequenzen hatte. Angesichts des bevorstehenden freudigen Ereignisses der Synagogeneinweihung liegen mir aber gegenwärtig mehr die aktuellen und auf die Zukunft gerichteten Aspekte einer christlich-jüdischen Nachbarschaft am Herzen. Dass sich diese Nachbarschaft auf sehr konkrete Weise durch die unmittelbare Nähe zweier christlicher Gemeinden ausdrückt, die mit der Barmer Erklärung5 von 1934 und mit dem Namen Bernhard Letterhaus6 und seinem mutigen Widerstand gegen die Nazis verbunden sind, erfüllt uns Juden natürlich mit einem Gefühl der Anerkennung
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und Achtung. Die enge Nachbarschaft von Kirche und Synagoge, von jüdischer und christlicher Gemeinschaft, soll an unsere gemeinsamen Wurzeln gemahnen, aber auch zugleich Symbol sein für Vertrauen und Partnerschaft in gegenseitigem Respekt, die die Unterschiede anerkennt und die Eigenständigkeit beider bewahren will. Mit der neuen Synagoge beginnt für die jüdische Gemeinschaft in unserer Stadt eine weitere aufregende Phase. Mehr noch als zuvor, wenigstens vorübergehend, wird sie im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit stehen und auf die Neugier und das Interesse vieler Menschen reagieren müssen. Wir werden abermals mit neuen Herausforderungen konfrontiert werden, die Geduld und Zähigkeit erfordern und bei deren Bewältigung wir auf die Solidarität und Unterstützung unserer nichtjüdischen Umgebung angewiesen sind. Einige der Gemeindemitglieder von St. Antonius – und vermutlich nicht nur sie – mögen diese in räumlicher Sicht sehr konkrete und enge Nachbarschaft zur neuen Synagoge vielleicht mit gemischten Gefühlen betrachten, birgt sie doch möglicherweise ein Risiko und wird gewiss manche Unbequemlichkeit zur Folge haben. Als Juden sind wir leider immer noch gefährdet, müssen von der Polizei bewacht werden. Es wird also auf unabsehbare Zeit immer einen besonderen Schutz geben, denn die Synagoge wird ein Angriffsziel bilden für Judenfeinde. Aber die Nähe zweier mit so starken und widerstandsfähigen Traditionen verbundenen Gemeinden – Gemarke und St. Antonius – vermitteln auch ein Gefühl der Beruhigung, dass Sie als Christen sich solidarisch mit uns zeigen und durch Ihre Nachbarschaft zu uns selbst schon schützend wirken. Dieser Nachbarschaft, die ja vielleicht eine neue Phase des christlich-jüdischen Dialogs einleitet, sehe ich mit Spannung und hoffnungsvoller Erwartung entgegen. Im Namen der Jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal möchte ich Sie zur Begegnung mit der jüdischen Gemeinschaft ermuntern und Sie herzlich einladen, uns und die neue Synagoge in absehbarer Zeit mit Ihrem Besuch zu beehren. Schalom!7
Anmerkungen 1 Wuppertal, Solingen und Remscheid. 2 1956 richtete die Jüdische Kultusgemeinde Wuppertal im ehemaligen Jüdischen Altersheim in der Friedrich-Ebert-Straße 73 in Elberfeld einen Betsaal ein. Seit 1964 befand sich das Gemeindezentrum im Haus an der Aue 82 in Elberfeld. 3 Im Dezember 1991 schlossen sich verschiedene Nachfolgestaaten der Sowjetunion zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zusammen. 4 In Barmen siedelten sich erstmal während der Franzosenzeit Ende des 18. Jahrhunderts Juden an. 1812 wohnten zwei jüdische Familien mit 10 Personen in Barmen.
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Erst seit der Reichsgründung entwickelte sich die jüdische Gemeinde aufgrund der zunehmenden Industrialisierung im Tal der Wupper kontinuierlich positiv. 1885 zählte die jüdische Gemeinde 312, 1900 592, 1910 643 und 1925 721 Mitglieder. Bis 1894 war die jüdische Gemeinde Barmen eine Filiale von Elberfeld. Am 20. Januar 1897 wurde die von Ludwig Levy im neoislamischen Stil erbaute Synagoge an der Scheurenstraße eingeweiht. Seit 1895 wurde der jüdische Friedhof an der Hugostraße belegt. 5 Vom 29. bis 31. Mai 1934 tagte in der Gemarker Kirche in Wuppertal-Barmen die Erste Bekenntnissynode der Deutschen evangelischen Kirche, die die „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche“ (Barmer Erklärung) verabschiedete, mit der Teile der evangelischen Kirche Widerstand gegen die Vereinnahmung durch den nationalsozialistischen Staat leisteten. Die „Barmer Erklärung“ nahm allerdings nicht zur Verfolgung der Juden Stellung, was heute auch in der evangelischen Kirche als schuldhaftes Versäumnis angesehen wird. 6 Der in Barmen geborene Bernhard Letterhaus (1894–1944), war christlicher Gewerkschaftsführer und Abgeordneter der Zentrumspartei im Preußischen Landtag. Er organisierte im katholischen Milieu den Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime („Kölner Kreis“); nach dem Attentat gegen Hitler am 20. Juli 1944 wurde Letterhaus verhaftet und am 14. November 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. 7 Friede.
Literatur Freundeskreis Neue Synagoge e.V./Jüdische Kultusgemeinde Wuppertal/Trägerverein Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal e.V. (Hg.), Dies soll ein Haus des Gebets sein für alle Völker. Festschrift zur Einweihung der neuen Bergischen Synagoge in Wuppertal, Wuppertal 2002; Trägerverein Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal e.V. (Hg.), Hier wohnte Frau Antonie Giese. Die Geschichte der Juden im Bergischen Land. Essays und Dokumente, Wuppertal 1997; Ulrike Schrader, Tora und Textilien. Zur Geschichte der Juden in Wuppertal, Wuppertal 2007; Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal (Hg.), Zwischen Webstuhl und Synagoge. Jüdisches Leben in Wuppertal. Eine Arbeitsmappe für den Unterricht, Wuppertal 2008
Hinweis Führungen in der neuen Synagoge Gemarker Straße 15, 42275 Wuppertal, bietet die Jüdische Kultusgemeinde Wuppertal nach Vereinbarung an, Tel. 0202/371183. Für Informationen über die Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal vgl. www.ns-gedenkstaetten.de/nrw/wuppertal, 4.8.2010.
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83 „Das Judentum in Deutschland steht vor einer Renaissance!“ – Paul Spiegel zur Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion, 2004 Paul Spiegel, Jüdisches Leben in Deutschland, in: Stefan Bajohr (Hg.), Archiv aus Stein. Jüdisches Leben und jüdische Friedhöfe in Nordrhein-Westfalen, Oberhausen 2005, S. 28–30 Am 16. November 2004 sprach Paul Spiegel, von 2000 bis zu seinem Tod am 30. April 2006 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, in Düsseldorf über „Jüdisches Leben in Deutschland“. Der Vortrag war Teil einer Tagung zum Thema „Jüdische Friedhöfe“, die vom damaligen Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes NRW organisiert wurde. Nach einer breit angelegten Schilderung der jüdischen Geschichte seit der Emanzipationszeit ging Spiegel auf die umwälzenden Veränderungen infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung ein. Spiegel skizzierte zunächst die Situation in den Nachfolgestaaten der UdSSR, den sogenannten GUS-Staaten (Gemeinschaft unabhängiger Staaten): Dort lässt sich seit Beginn der 1990er Jahre eine Radikalisierung der schon immer vorhandenen antisemitischen und antizionistischen Strömungen beobachten, die vielfach durch einen extremen Nationalismus verstärkt werden. Diese bedrohliche Entwicklung, die Furcht vor Nationalitätenkonflikten und Umweltkatastrophen ebenso wie die wirtschaftliche und soziale Unsicherheit sind die Gründe dafür, dass die überwiegende Mehrheit der in der früheren Sowjetunion lebenden Juden das Land verlassen will. Danach analysierte Spiegel die Attraktivität Deutschlands für potentielle Zuwanderer: Zunächst waren die USA und Israel die bevorzugten Einwanderungsländer. Nachdem die USA ihre Einwanderungsbestimmungen in den letzten Jahren erheblich verschärften und Israel an Anziehungskraft verlor, konnte sich Deutschland als Zielland profilieren, obwohl fast jede jüdische Emigrantenfamilie im Zweiten Weltkrieg Opfer zu beklagen hatte. Vereinfacht wurde die Einreise nach Deutschland bis 2004 durch den 1991 erfolgten Beschluss, Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Kontingentflüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu betrachten. Deutschland verpflichtete sich, eine bestimmte Anzahl an Flüchtlingen aufzunehmen, die dann nach einem Verteilungsschlüssel auf die Länder und weiter auf die Kommunen verteilt wurden. Der Status des Kontingentflüchtlings bedeutete zudem ein erleichtertes Verfahren bei der Antragstellung und eine vergleichsweise gute soziale Absicherung der Zuwanderer in Deutschland. Paul Spiegel zog am Ende seiner Rede ein positives Resümee: „Schließlich gibt es ungeachtet aller Probleme Anlass zur Freude. Das Judentum in Deutschland
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steht vor einer Renaissance!“ Insgesamt teilen die jüdischen Gemeinden heute seine. Einschätzung, dass der Zuzug der Juden aus Osteuropa zu einem Aufschwung jüdischen Lebens in Deutschland geführt habe. Die bestehenden Gemeinden sind rasant gewachsen, es sind neue Gemeinden entstanden, der Altersdurchschnitt wurde. gesenkt. Zahlreiche neue Institutionen und Vereine sind entstanden, in vielen Orten konnten neue, größere Synagogen erbaut werden. Renaissance jüdischen Lebens. in Deutschland – dafür spricht auch, dass zahlreiche Neuankömmlinge die jüdischen Gemeinden nicht nur als soziale Anlaufstationen betrachten, sondern als Einrichtungen, die ihnen eine Rückbesinnung auf ihre religiösen und kulturellen Wurzeln und die Entwicklung einer neuen (deutsch-) jüdischen Identität ermöglichen. […] Die Wiedervereinigung Deutschlands und die zeitgleich stattfindende politische Wende in Osteuropa haben für unser Land und damit auch für die jüdischen Gemeinden grundlegende Veränderungen mit sich gebracht. Seit 1990 verzeichnet die jüdische Gemeinschaft einen steten Zustrom überwiegend russischsprachiger Zuwanderer. Immer wieder ist in den Medien von ihnen die Rede, doch kaum jemand weiß Näheres über die so genannten Kontingentflüchtlinge. Wer sich also vorurteilslos mit dem Schicksal dieser Menschen beschäftigen will, muß sich zunächst ein zeitgemäßes, realistisches Bild von der Lebenssituation der Auswanderer und ihren Motiven machen. Wie sich zeigt, erleben besonders die Juden in Russland, trotz politischer Wende in den GUS-Republiken, trotz Glasnost1 und Perestroika2 und einigen kritischen Stellungnahmen und Appellen von Regierungsseite, ein Ausmaß an Antisemitismus, das die Bewohner Westeuropas weitgehend für überwunden halten. Sicher auch, weil in den Nachrichten kaum darüber berichtet wird. Boykotte gegen jüdische Geschäftsleute, Hilfspolizeitruppen in SAähnlichen3 Uniformen, Aufrufe wie „Plündert die Wohnungen der Juden, steckt ihre Häuser an!“, Schändungen jüdischer Friedhöfe oder Sprengstoffanschläge auf Synagogen – rechtsradikale, antisemitische Parolen und Vorkommnisse dieser Art sind nicht etwa einem Geschichtsbuch über die Zeit des „Dritten Reichs“ entnommen, sondern Zeitungsmeldungen aus dem Russland unserer Tage, genauer der Zeitspanne zwischen 1998 und 2001. Diese Form von Antisemitismus und Rassismus tritt in vielen Regionen der GUS unverblümt und massiv in Erscheinung und gehört fast schon zum Alltag. Eine verhängnisvolle Folge davon ist vielerorts, dass die jüdische Bevölkerung, obschon größtenteils nicht einmal religiös, sich längst nicht mehr öffentlich zum Judentum bekennt, über die Bedrohung schweigt und jede kritische Stellungnahme zu den rechtsradikalen Umtrieben vermeidet. Die Auswanderung in den Westen bietet die Möglichkeit, dieser beängstigenden Situation zu entfliehen. Aus der Sicht vieler russischsprachiger Juden kommen weitere Gründe hinzu, die ihren Entschluss, die Heimat zu verlassen, zusätzlich befördert haben oder sogar noch mehr Gewicht hatten als der allgegenwärtige Antisemitismus.
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Die Liste der angegebenen Beweggründe reicht von der Sorge angesichts der immer wieder aufbrechenden Nationalitätenkonflikte über Umweltkatastrophen, Perspektivelosigkeit für junge Menschen, fehlende Alterssicherung und berufliche Beschränkungen bis hin zu Zukunftsängsten aufgrund der instabilen wirtschaftlichen und politischen Lage. Nach wie vor sind Israel und die USA die begehrtesten Ziele der Auswanderungswilligen. Deutschland, das jahrzehntelang lediglich als Durchgangsstation in Richtung Amerika galt, steht an dritter Stelle. Da die Vereinigten Staaten die Einwanderung inzwischen stark beschränkt haben und Israel vielfach als politisch und wirtschaftlich zu unsicher oder als zu fremdländisch empfunden wird, erscheint Deutschland als geeignete Alternative. Zusätzlich ermutigend wirkt die 1991 verabschiedete Einreisegesetzgebung, die jüdische Auswanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bevorzugt behandelt und auf diskriminierende Auswanderungsbeschränkungen verzichtet. Bis Juni 2004 nahmen die 83 jüdischen Gemeinden in Deutschland insgesamt 80.000 jüdische Emigranten aus der GUS auf. Sie kamen wohlgemerkt in ein Land, das bis zum Jahr 2000 nach offizieller Sprachregelung noch immer kein Einwanderungsland war. Auch deshalb ist es wichtig, dass an dieser Stelle zunächst die positiven Auswirkungen der jüdischen Einwanderung aus Osteuropa angeführt werden. Schließlich gibt es ungeachtet aller Probleme Anlass zur Freude. Das Judentum in Deutschland steht vor einer Renaissance! Bis etwa 1985 drohten jüdische Kultusgemeinden auszusterben wegen Überalterung der Mitglieder und des Wegzugs der wenigen Jugendlichen nach Israel oder Amerika oder innerhalb Deutschlands in die großen Städte nach Frankfurt, Berlin oder München. Vielfach verkümmerte die Infrastruktur und es wurden keine Rabbinerseminare mehr aufgebaut. Nun wachsen diese Gemeinden durch den Zuzug aus Russland und benachbarten Staaten wieder an. […] Die größte jüdische Gemeinde Deutschlands lebt in Berlin und zählt rund 13.000 Mitglieder. Von ihnen sind fast 70 Prozent in den vergangenen zwölf Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert. Die meisten anderen jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik sind mit 200 bis 1.000 Mitgliedern weitaus kleiner. Der Anteil russischsprachiger Juden liegt hier bei zwischen 90 und 100 Prozent. […]
Anmerkungen 1 Offenheit, Transparenz, Informations- und Meinungsfreiheit – Prinzipien, die Michael Gorbatschow bei seinem Amtsantritt als Generalsekretär der KPdSU 1985 verkündete. 2 Umbau, Umgestaltung – Bezeichnung für den von Michael Gorbatschow seit 1985 eingeleiteten Prozess der Demokratisierung der Sowjetunion.
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3 SA (Sturmabteilung), 1920 als parteieigener Ordnerdienst gegründet, paramilitä-. rische Organisation der NSDAP. Die SA war ein wichtiges Gewaltinstrument bei. der Eroberung und Befestigung der innenpolitischen Macht der Nationalsozialisten in der Zeit vor und während der Machtübernahme. 1934 weitgehend entmachtet, diente sie danach vor allem der vormilitärischen Ausbildung von Jugendlichen und veranstaltete Sammlungen. Am Novemberpogrom 1938 war die SA maßgeblich beteiligt
Literatur Alphons Silbermann/Herbert Sallen, Juden in Westdeutschland. Selbstbild und Fremdbild einer Minorität, Köln 1992; Franziska Becker, Angekommen in Deutschland. Einwanderungspolitik als biographische Erfahrung im Migrationsprozeß russischer Juden, Berlin 2001; Judith Kessler, Jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990, www. berlin-judentum.de/gemeinde/migration.htm, 27.5.2010); Julius H. Schoeps/Willi Jasper/Bernhard Vogt (Hg.), Russische Juden in Deutschland. Integration und Selbstbehauptung in einem fremden Land, Weinheim 1996; Svetlana Jebrak/Norbert Reichling (Hg.), Angekommen?! Lebenswege jüdischer Einwanderer, Berlin 2010; Dimitrij Belkin/Raphael Gross (Hg.), Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Begleitpublikation zur Ausstelllung im Jüdischen Museum Frankfurt, o.O. [Berlin 2010]
84 „Eine Brücke zur Tradition“ – Die Jüdische Liberale Gemeinde Köln, seit 1996 Ausschnitte aus: „35 Grundsätze des Liberalen Judentums“, http://www.gescherlamassoret.de/grundsatz.html,4.8.2010
Seit den 1990er Jahren ist innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ein Differenzierungsprozess zu beobachten, wie er bereits im 19. Jahrhundert stattfand. Zahlreiche Juden und Jüdinnen, die sich in den orthodoxen Einheitsgemeinden nicht mehr heimisch fühlen, suchen nach neuen Orientierungen und Formen jüdischen Lebens. Die „Jüdische Liberale Gemeinde Köln – Gescher LaMassoret e.V.“ (wörtlich „Brücke zur Tradition“) wurde 1996 gegründet. Ihre Entstehung reicht zurück in die frühen 1980er Jahre, als politische Diskussionen im Zusammenhang mit dem Libanon-Krieg und in Auseinandersetzung mit dem wachsenden Antisemitismus der Linken zur Bildung unabhängiger „Jüdischer Gruppen“ führten. In Köln entstand
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das „Jüdische Forum“, in dessen Rahmen schließlich auch die Entwicklung neuer religiöser Formen angestrebt wurde. Die Bewahrung der jüdischen Tradition geht im liberalen Judentum einher mit der Modernisierung des religiösen Regelwerks, das nicht als statisch, sondern als historisch gewachsen und daher veränderbar begriffen wird. Die jüdisch-liberalen Gemeinden von heute knüpfen an die Reformen des 19. Jahrhunderts an, die allerdings im Verlauf der Zeit selbst schon starken Veränderungen unterworfen worden sind. Der Absolutheitsanspruch einer religiösen Richtung wird abgelehnt. Für das heutige liberale Judentum ist die Gleichberechtigung von Männern und Frauen zentral. Beide Geschlechter nehmen gleichberechtigt am Gottesdienst und öffentlichen und privaten Ritualen teil; es amtieren Rabbinerinnen und Rabbiner. Die etwa 100 Mitglieder zählende Kölner Gemeinde feiert regelmäßig Gottesdienste in eigenen Räumlichkeiten, unterhält einen eigenen kleinen Friedhof, bietet Erwachsenen- und Kinderunterricht und die Vorbereitung zur Bar bzw. Bat Mizwa (Feier der Religionsmündigkeit) an. Als betreuender Rabbiner amtiert Rabbiner Walter Rothschild. Die Jüdische Liberale Gemeinde Köln ist Mitglied in der „Union progressiver Juden in Deutschland“, die wiederum der „World Union for Progressive Judaism“ angehört. Sie hat sich den Grundsätzen der Union verpflichtet, von denen einige im folgenden Quellentext genannt und erläutert werden. Nachfolgend möchten wir Sie mit den Grundsätzen des liberalen Judentums in Deutschland bekannt machen. Diese Grundsätze gelten für unsere Gemeinde wie auch für die anderen Gemeinden, die der Union der progressiven Gemeinden in Deutschland1 angeschlossen sind. – Das Judentum als solches hat sich zu jeder Zeit verändert und gewandelt. Das progressive Judentum betrachtet die Schriften als menschlichen Ausdruck einer existentiellen, religiösen Erfahrung des jüdischen Volkes, in denen sich der eine Gott offenbart. Wir glauben, dass jede Generation die Lehre und Gesetze immer wieder neu studieren und im Lichte von Toleranz, Humanität und unter Vorrang der Ethik vor dem Ritual interpretieren muss. – Wir verstehen die jüdische Religion, unsere kulturelle Tradition und die historischen Erfahrungen des jüdischen Volkes als Bestandteile unserer eigenen Identität. – Wir akzeptieren den individuellen Grad der rituellen Observanz2 unserer Mitglieder als Ausdruck ihrer persönlichen Entscheidung. Dennoch halten wir es für wichtig, die Tradition zu kennen, die mündliche und schriftliche Tora zu studieren, um eine bewusste und eigenständige Entscheidung zu treffen.
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– Unsere Aufgabe ist es, eine „Brücke der Tradition“ zu sein. Wir wollen eine Umgebung schaffen, in der allen Jüdinnen und Juden die Möglichkeit geboten wird, eine jüdische Heimat zu finden. – Jüdin oder Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter abstammt oder zum Judentum übergetreten ist. – Jeder Jude/jede Jüdin kann Mitglied unserer Gemeinde werden. – Frauen und Männer sind gleichberechtigte Mitglieder unserer religiösen Gemeinschaft mit gleichen Rechten und Pflichten.
Anmerkungen 1 Die „Union progressiver Juden in Deutschland“, die 2008 22 Gemeinden mit ca. 3.000 Mitgliedern umfasste, wurde 1997 in München gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Hannover. Im Jahre 1999 rief die Union das Abraham-Geiger-Kolleg an der Universität Potsdam ins Leben, eine wissenschaftliche Institution zur Ausbildung religiös-liberaler Rabbiner/innen und Religionslehrer/innen. 2 Das Einhalten der Ge- und Verbote, insbesondere der rituellen Bestimmungen der Halacha (Religionsgesetz).
Literatur Michael Lawton, Die Jüdische Liberale Gemeinde in Köln. Gescher Lamassoret, in: Günther B. Ginzel/Sonja Güntner (Hg.), „Zuhause in Köln…“ Jüdisches Leben 1945 bis heute, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 83–86; Heinz-Peter Katlewski, Judentum im Aufbruch. Von der neuen Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Berlin 2002; Jonathan Romain/Walter Homolka, Progressives Judentum. Leben und Lehre, Berlin 1999; zur historischen Entwicklung vgl. Michael A. Meyer, Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Wien/Köln/Weimar 2000; ders., Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824, München 1994; Max Dienemann, Liberales Judentum, Berlin 2000 (Reprint der Ausgabe von 1935)
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85 „Und ich fühle mich als Jude, als moderner Jude in Deutschland…“ – Ein junger Zuwanderer erzählt von seinem Leben in Oberhausen, 2009 Interview mit Roman Gorbachov, geführt von Dr. Svetlana Jebrak am 3. Februar und 16. April 2009 Jüdisches Museum Westfalen, Dorsten Ausschnitte aus dem Interview wurden veröffentlicht in: Svetlana Jebrak/Norbert Reichling (Hg.), Angekommen?! Lebenswege jüdischer Einwanderer, Berlin 2010, S. 76–80
Roman Gorbachov wurde 1983 in der ukrainischen Stadt Chmelnizkij geboren; seine Eltern und Großeltern stammen aus dem etwa 100 Kilometer entfernten Kamenez-Podolsk. Die Mutter arbeitete als Ärztin in einem Labor, der Vater, der Fußballtrainer war, starb, als der Junge erst vier Jahre alt war. Roman Gorbachov wuchs bei der Mutter und den Großeltern auf. Der engeren Familie waren jüdische Religion und Tradition fremd, erst in der Grundschule erfuhr Roman, dass er Jude ist. Entferntere Verwandte feierten Schabbat und andere jüdische Feste; ein Großonkel kam einmal ins Gefängnis, weil er heimlich Mazzen, ungesäuerte Brote für das Pessach-Fest, gebacken hatte. Die jüdische Religion konnte in der Sowjetunion bzw. Ukraine nicht öffentlich gelebt werden. Was es bedeutet, bewusst als Jude zu leben und jüdische Traditionen zu befolgen, erfuhr Roman Gorbachov erst nach seiner Auswanderung nach Deutschland. 1992 wanderte Roman zusammen mit seiner Mutter, dem Großvater und der Urgroßmutter nach Deutschland ein. Die Großmutter war kurz vor der Ausreise gestorben. Die Möglichkeit, nach Israel zu immigrieren, war wegen der unsicheren politischen Lage und vor allem wegen des für die alten Menschen problematischen Klimas verworfen worden. Roman Gorbachov fiel es schwer, seine Heimatstadt zu verlassen. Der Abschied von den Freunden und der vertrauten Umgebung war sehr leidvoll. Viele jüdische Menschen aus dem Bekanntenkreis wählten damals den Weg der Auswanderung. Da man Repressionen befürchtete, wurde über das Vorhaben aber nicht geredet. Um die Fahrt nach Deutschland bezahlen zu können, verkaufte die Familie einen großen Teil ihres Besitzes. Man reiste mit der Bahn über Weißrussland nach Deutschland. Nach einigen Tagen in Berlin, wo die Mutter eine Freundin hatte, ging es weiter nach Unna-Massen, in die nordrhein-westfälische Aufnahmestelle für Aussiedler, Zuwanderer und ausländische Flüchtlinge. Zwei Monate lang blieb die Familie in Unna, wo Roman auch eingeschult wurde. Er hatte in seiner Heimat schon etwas Deutsch gelernt, die sprachlichen Schwierigkeiten waren dennoch groß. Die Familie ließ sich dann in Mülheim an der Ruhr nieder. Die Mutter fand nach einigen Schwierigkeiten Arbeit in einem Labor, Roman besuchte die Grundschule. Hier wurde er zum ersten
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Mal bewusst mit Antisemitismus konfrontiert, der von Kindern aus polnischen und ukrainischen Aussiedlerfamilien ausging. Von seinem Großvater wurde Roman Gorbachov in die kleine Mülheimer jüdische Gemeinde zum Gottesdienst mitgenommen. Er begann, Hebräisch zu lernen und sich jüdisches Wissen anzueignen. Roman Gorbachov schloss die Realschule ab und arbeitete nebenbei in einer Software-Firma, in der er später eine Ausbildung zum Informatiker machte. Während der Ausbildung entschloss er sich, die Abendschule zu besuchen und das Fachabitur zu machen. Er erhielt dann eine Stelle in Mülheim und nahm ein Studium an der Fachhochschule in Düsseldorf auf. Er blickt heute optimistisch in seine berufliche Zukunft. Seit eineinhalb Jahren ist Roman Gorbachov verheiratet. Seine Frau stammt aus Cherkessy, einer Stadt in der Nähe von Kiew. Frau Gorbachova hatte sich in Duisburg zunächst einer freikirchlich-baptistischen Gruppierung angeschlossen, um dann zu ihrer jüdischen Identität zu finden. Die Eheleute sind Mitglieder in der Jüdischen Gemeinde Duisburg-MülheimOberhausen, der offiziellen, orthodox geprägten Gemeinde. Aktiv engagiert sich Roman Gorbachov als Vorstandsmitglied in der Liberalen Jüdischen Gemeinde „Perusch“ (hebr. Auslegung) mit Sitz in Oberhausen, die 2005 gegründet wurde und Mitglied in der „Union Progressiver Juden in Deutschland“ ist. Es ist ihm ein Anliegen, jüdisches Leben moderner und lebendiger zu gestalten. Er wirkt auch aktiv bei der Vorbereitung des Israel-Tags in Dortmund mit und ist Mitglied in „ILI – I like Israel“. Aus dem umfangreichen Interview, das Dr. Svetlana Jebrak mit Roman Gorbachov am 3. Februar und 16. April 2009 führte und das von Dr. Norbert Reichling zur Verfügung gestellt wurde, wird im Folgenden ein kurzer Ausschnitt abgedruckt, in dem Roman Gorbachov erläutert, was Judentum für ihn bedeutet und wie er die Zukunft jüdischen Lebens in Oberhausen sieht. […] Svetlana Jebrak (S.J.): Warum war Ihnen eine jüdische Trauung wichtig? Was haben Sie mit dieser Trauung für sich gewonnen? Roman Gorbachov (R.G.): Also, es gehörte einfach dazu. Im Laufe der Jahre ist mir klar geworden, dass man, wenn man schon nicht vollständig jüdisch leben kann, zumindest die großen Feste und die schöne jüdische Tradition erhalten und sie weiterführen muss. Und diese Tradition sollte man auch an seine Kinder weitergeben. Daher war es für mich und auch für meine Frau klar, dass wir jüdisch heiraten und das auch weitergeben wollen. Wir haben uns zu dem Zeitpunkt auch schon hier in der Gemeinde1 engagiert, wo wir versuchen, jüdische Tradition auch jungen Menschen zu vermitteln. Und wir
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arbeiten auch immer noch daran, dass jüdisches Leben wieder ein bisschen aufblüht; deshalb war es für uns logisch: Wenn wir von anderen fordern, jüdische Traditionen einzuhalten, müssen wir das auch selbst tun. S. J: Was bedeutet für Sie jüdische Identität? R. G.: Also, das ist schwer zu sagen, was es für mich bedeutet, weil es ja keine andere Identität für mich geben kann. Es kann ja nicht mehrere Identitäten geben. Entweder ist man jüdisch oder man ist es nicht. Und ich fühle mich als Jude, als moderner Jude in Deutschland, was natürlich zu einer außergewöhnlichen Identität führt, die es so vermutlich in Deutschland bisher noch nicht gab: Aufgewachsen in der Ukraine, der Opa, der gegen die Deutschen gekämpft hat, wohnt jetzt hier, und wir entwickeln jüdisches Leben und fühlen uns als deutsche Juden mit unserem Hintergrund und allem, was daran hängt – das ist schon ein außergewöhnliches Gefühl, und die Geschichte wird zeigen, wie sich das entwickelt. Also, vermutlich wird sich ein ganz neuer Zweig des Judentums irgendwann in Deutschland herauskristallisieren. Vermutlich ein liberalerer Zweig, kein orthodoxer. Das ist für die deutschen Juden wahrscheinlich die Zukunft. Es ist eine spannende Entwicklung. Für mich zumindest. […] S.J.: Was wäre Ihre Vision, wenn Sie sich vorstellen: Jüdisches Leben in Oberhausen in zwanzig Jahren? Wie sieht das aus? Wird es das dann noch geben? R. G.: Ich denke schon. Ich denke, es wird sich eine kleine, aber aktive jüdische Gemeinde in Oberhausen entwickeln, mit einer eigenen Identität, die sich von der heutigen Identität sehr unterscheiden wird. Vielleicht eine Mischung aus dem Judentum, wie es vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland war, und dem Judentum, wie es heute in den USA existiert. Ich glaube nicht, dass jüdisches Leben völlig zurückgehen wird. Es sind ja auch einige jüdische Gruppen sehr aktiv. Zum Beispiel die Chassiden2 haben in Düsseldorf ein Chabad-Zentrum3 gegründet, sie sind da sehr stark. Ich denke, das Interesse ist auch da. Es interessieren sich ja auch sehr viele nichtjüdische Menschen für das Judentum und wollen es erhalten. Und ich denke, dass sich hier in zwanzig Jahren eine Gemeinde gebildet haben wird mit vielleicht einem harten Kern von 100 bis 150 Leuten, und damit wird es hier irgendwie weiter gehen müssen. Ich glaube nicht, dass das Judentum aussterben wird. Aber ich glaube auch nicht, dass diese große Hoffnung, die es gibt, dass hier ein sehr großes und aktives jüdisches Leben aufkeimt, dass die in Erfüllung gehen wird. Das wird
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nicht passieren. In zwanzig Jahren, da wird ganz Anderes in der Demografie eine Rolle spielen. Es wird sehr viele Muslime in Deutschland geben, sehr viele Menschen aus Afrika und Asien allgemein, die Welt wird sich sehr verändert haben. Viele dieser Menschen wird man nicht vollständig in die deutsche Gesellschaft integrieren können. Jüdisches Leben im Ruhrgebiet in zwanzig Jahren? Also, ich bin ja der Meinung, dass man eigentlich ein deutsches Judentum entwickeln muss, welches ja nicht einfach von sich aus besteht oder sich selbständig entwickeln wird, sondern das muss man aktiv gestalten. Und ich denke, dass wir in den nächsten zwanzig Jahren vor der großen Herausforderung stehen, das heutige jüdische Leben zu erhalten und so zu gestalten, dass es überlebensfähig in Deutschland ist. Mit allen Facetten, die mit der Einwanderung und dem Leben mit anderen Religionen, mit dem Leben in der modernen Zeit allgemein verbunden sind und es bereichern können. Ja. Wie man das macht? Das steht in den Sternen. Ja, wir versuchen es…[…] S. J: Wie würden Sie sich das wünschen? Was soll sich entwickeln? Was würden Sie sagen: Genau das ist meine Vorstellung von jüdischem Leben im Ruhrgebiet!? R. G.: Ich glaube, ich habe da keine richtige Vorstellung, ich habe da keine Vision: So soll das sein! Aber ich wünsche mir, dass es eine jüdische Identität gibt, in der sich viele Menschen, viele Juden zu Hause fühlen und sich damit identifizieren können. Also, ich sehe es in meiner Gemeindearbeit und auch im Freundeskreis, dass man sich mit dem Judentum nicht identifizieren kann, weil es entweder mit streng religiösen Regeln verbunden ist, oder weil man der Meinung ist: Das ist veraltet, das wollen wir nicht mehr haben, das ist nicht mehr modern. Das ist natürlich ein Zersetzungsprozess, der im Prinzip alles innerhalb von zwanzig Jahren zerstören kann. Das, was die Mehrheit der jüdischen Gemeinden tut, ist, glaube ich, auch nicht so ganz produktiv, und die sind nicht ganz unschuldig daran, dass es so ist, wie es ist. Deshalb muss man sich dagegen stellen, und das machen wir. Wir versuchen in unserer Gemeindearbeit zu erreichen, dass sich da wirklich ein Judentum entwickelt, mit welchem man sich als moderner Mensch identifizieren kann, ohne irgendwie schief angesehen zu werden. […]
Anmerkungen 1 Gemeint ist die Liberale Jüdische Gemeinde Ruhrgebiet „Perusch“, die in Oberhausen ihren Sitz hat.
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Jüdisches Leben von 1945 bis heute
2 Anhänger des Chassidismus, einer volkstümlichen mystisch-religiösen Bewegung innerhalb des Judentums, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Südostpolen entstand. 3 Chabad (hebr. Akronym für die Begriffe „Chochma, Bina, Daat“, wörtl. Weisheit, Erkenntnis, Wissen) ist eine chassidische Richtung, die von Schneur Salman aus Ladi (1745–1812) begründet wurde. Nach dem Wirkungsort seines Sohns und Nachfolgers werden die Anhänger von Chabad auch Lubawitscher genannt. Unter der Leitung des siebten und (vorerst) letzten Rebbe der Chabad-Dynastie, Menachem Mendel Schneerson (1902–1994 New York), wurde Chabad zu einer weltweit aktiven Bewegung.
Literatur Vgl. die bei den Dokumenten 83 und 84 angegebenen Literaturangaben
Zeittafel Seit dem 15. Jh.
Das jüdische Leben verlagert sich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts immer mehr von den großen Städten aufs Land und in die Kleinstädte. Ursachen dafür sind die spätmittelalterlichen Vertreibungen aus den großen Städten, vor allem den Reichsstädten, aber auch die wirtschaftlichen Interessen geistlicher und weltlicher Landesherren, die die Ansiedlung von Juden in ihren Territorien fördern. 1551/52 Frühester Nachweis des jüdischen Friedhofs vor dem Wirteltor in Düren, der aber sicher schon früher angelegt wurde. Ende 16. Jh. Die ersten bekannten kurkölnischen Landesrabbiner amtieren in Bonn und Ahrweiler. Sie tragen den Titel „Gerichtsvorsitzende im Land Köln“. 1592 Erste Judenordnung im Erzstift Köln, mit der die Niederlassungsbedingungen sowie die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen festgelegt werden, die das Dasein der Judenschaft in Kurköln bestimmen; erneuerte Judenordnungen werden 1599, 1614, 1686 und 1700 erlassen. 1598 Kurfürst Ernst von Bayern setzt den Juden „Levi zu Poppelsdorf “ als „Uffseher“ über die Juden im Kölner Erzstift ein. Levi ist faktisch der erste kurkölnische „Hofjude“, der Titel selbst erscheint allerdings erst gegen Ende des 17. Jh. in kurkölnischen Quellen. Ende 16., Der jüdische Friedhof in Bonn-Schwarzrheindorf wird angelegt; der früAnfang 17. Jh heste datierbare Grabstein stammt aus dem Jahr 1623. 1602 „Juddenschol“ (Bethaus) in Zülpich erwähnt. 1636 Erste allgemeine Geleitskonzession für die Juden im Herzogtum JülichBerg. 1654, 1689, 1720, 1733, 1747, 1763 und 1779 werden erneuerte Geleitskonzessionen erlassen. Seit Mitte 15. Jh. Jüdischer Betsaal in Münstereifel in der Orchheimer Straße 17. 1671 Elias Gomperz stiftet den ersten eigenständigen Klever Synagogenbau im Gerwin (mit Lehrhaus und möglicherweise Mikwe). 1698/99 Erste Beerdigungen auf dem neu angelegten jüdischen Friedhof in KölnDeutz am heutigen Judenkirchhofsweg. 1706 Erster Landesrabbiner für das Herzogtum Jülich-Berg mit Sitz in Düsseldorf. Bis 1704 wurden die Juden in Jülich-Berg vom kurkölnischen Landesrabbiner betreut. 1711 Den Juden in Preußen wird die Verpflichtung, ein Zeichen auf ihrer Kleidung zu tragen, gegen die Zahlung von 8.000 Reichstalern erlassen. 1712 Josef Jacob ( Juspa) van Geldern, der Hoffaktor des Herzogs Johann Wilhelm von Jülich-Berg, errichtet mit Erlaubnis seines Landesherrn in Düsseldorf ein Stadtpalais an der Neusser Str. 25, in dem sich auch der Betsaal der jüdischen Gemeinde befindet.
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1727 1730 Mitte 18. Jh. Seit 1754 1769–86
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Seit 1794
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Einrichtung einer separaten Judengasse in Bonn, in die alle Bonner Juden umziehen müssen. Es handelt sich um das einzige abgeschlossene jüdische Wohnviertel in Kurköln. Die Handschrift der „Van-Geldern-Haggada“ wird für den Düsseldorfer Hoffaktor Lazarus von Geldern, einen Vorfahren von Heinrich Heine, fertiggestellt. Im Besitz der Familie van Geldern befindet sich auch die wertvolle „Darmstädter Haggada“. Das Memorbuch der jüdischen Gemeinde Bonn wird angelegt. Memorbücher enthalten neben Gebeten zum Totengedenken und Märtyrerlisten Einträge über verstorbene Gemeindemitglieder. Das Bonner Memorbuch enthält insgesamt ca. 450 Einträge. Die ersten 70 Einträge wurden aus dem Memorbuch der jüdischen Gemeinde Deutz kopiert und sind daher vorwiegend Mitgliedern dieser Gemeinde gewidmet. Die etwa 380 Bonner Einträge umfassen den Zeitraum von 1726 bis 1899. Erstmals schließt ein jüdischer Student an der Universität Duisburg sein Medizinstudium mit der Promotion ab. Das Generalprivilegium für die Juden in Preußen gilt auch für die rheinischen Landesteile Kleve und Moers; 1750 neues Generalprivilegium. Bau einer Synagoge in der Bonner Judengasse. Bethaus in der Hauptstraße in Königswinter (bis 1933 genutzt). Die preußischen Juden, auch die in den westlichen Landesteilen Kleve und Moers Ansässigen, werden gezwungen, Porzellan der Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM) in Berlin abzunehmen und ins Ausland zu exportieren. Neben zahlreichen anderen Abgaben und Steuern wird der Porzellanexportzwang als besonders drückend empfunden. Moses Levi in Siegburg schenkt das in seinem Besitz befindliche Bethaus in der Holzgasse der jüdischen Gemeinde. Rheinüberschwemmung und Eisgang führen zur Zerstörung der Synagogen in Deutz und Mülheim (beide heute Stadt Köln), die aber bald neu errichtet werden. Die Synagoge in Bonn wird stark beschädigt. Einweihung des Synagogenneubaus in der Freiheitsstraße in Deutz. Einweihung des Synagogenneubaus in Mülheim an der Mülheimer Freiheit. Mit der Einweihung der Synagoge in der Kasernenstraße in Düsseldorf wird erstmals ein repräsentatives jüdisches Gotteshaus im Rheinland in Gebrauch genommen. Mit der Besetzung des Rheinlands und der Annexion der linksrheinischen Gebiete durch den französischen Staat als Folge des Friedens von Lunéville 1801 ändert sich die Lage der dort lebenden jüdischen Bevölkerung grundlegend. 1802 wird die französische Verfassung von 1791 mit der Statuierung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte in den neufranzösi-
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schen Gebieten eingeführt, die jüdischen Untertanen werden damit gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger. 1808 Am 17. März wird das sogenannte „Schändliche Dekret“ (Décret infâme) erlassen, das nur für die jüdischen Gewerbetreibenden gilt und ihre Rechte im wirtschaftlichen Bereich wieder einschränkt. Auch nachdem die ehemals französischen Landesteile des Rheinlands 1815 an Preußen fallen, bleibt das Dekret in Kraft und wird erst 1845/47 aufgehoben. 1808 Am 18. März wird das „Règlement organique du culte mosaïque“ erlassen, das das jüdische Gemeindewesen neu ordnet. Es werden streng zentralisierte und hierarchische Strukturen auf der Grundlage des das gesamte Staatsgebiet umfassenden Konsistorialsystems geschaffen. Im Rheinland werden Konsistorien in Krefeld, Koblenz/Bonn, Mainz und Trier eingerichtet. 1808 Am 20. Juli werden die Juden im französischen Staatsgebiet verpflichtet, feste und vererbliche Namen anzunehmen. Die in den rechtsrheinischen Gebieten lebenden Juden erhalten erst 1845/46 feste Familiennamen. 1812 Das Emanzipationsedikt vom 11. März hat nur in den Landesteilen Gültigkeit, die nach dem Frieden von Tilsit 1807 zu Preußen gehören, also nicht im Rheinland. 1815 Das Rheinland fällt an Preußen. Da auf dem Wiener Kongress beschlossen wurde, dass für die Juden die vorrevolutionären Rechtsverhältnisse maßgeblich sind, gelten für die Juden im Rheinland ganz unterschiedliche rechtliche Regelungen. Die Errungenschaften der französischen Zeit werden in der Folgezeit durch zahlreiche Verordnungen auf dem Verwaltungsweg wieder eingeschränkt. Um 1817 Errichtung einer Synagoge in der Bechemer Straße in Ratingen. 1819 Der Mord an einem kleinen Mädchen in Dormagen führt zum Aufleben der Ritualmord-Lüge und zu Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. 1820/21 Bau einer Synagoge und eines Schulhauses an der Reitbahn in Kleve. 1834 Nach dem Mord an einem Knaben in der Nähe von Neuenhoven kommt in der Landbevölkerung erneut das Gerücht auf, die Juden hätten einen Ritualmord begangen. In der Folge kommt es zu Ausschreitungen in fast allen Ortschaften im heutigen Rhein-Kreis Neuss und in den Städten Mönchengladbach und Düsseldorf. Zentrum der Gewalttaten sind die Orte Neuenhoven und Bedburdyck. 1837 Gründung der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ durch den Magdeburger Rabbiner Dr. Ludwig Philippson, die sich bald zum wichtigsten Presseorgan des liberalen Judentums in Deutschland entwickelt. Philippson, der seit 1862 in Bonn lebt, gibt die Zeitung bis 1889 heraus. 1841 Einweihung der Synagoge in der Holzstraße in Siegburg.
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1843 Der 7. Rheinische Provinziallandtag in Düsseldorf, ein Wegbereiter der Emanzipation der jüdischen Minderheit, votiert am 13. Juli mit 68 zu 5 Stimmen für die Aufhebung des Napoleonischen „Schändlichen Dekrets“ von 1808 und mit 54 zu 19 Stimmen für die volle rechtliche Gleichstellung von Juden und Christen. 1845 Erst mit der Gewerbeordnung vom 17. Januar entfällt für die Juden im linksrheinischen Preußen die seit 1808 geltende Pflicht, jährlich um „Handelspatente“ nachzusuchen („Schändliches Dekret“). Im Zuge der Neuregelung des Militärwesens am 31. Dezember 1845 unterliegen Juden von nun an der allgemeinen Wehrpflicht. 1847 Das am 23. Juli verabschiedete „Gesetz, die Verhältnisse der Juden betreffend“ bringt eine Vereinheitlichung der rechtlichen Stellung der Juden im gesamten Königreich Preußen und damit auch in der Rheinprovinz. Den Juden werden gleiche Rechte und Pflichten wie den christlichen Untertanen zugestanden, die allerdings de facto vielfältig eingeschränkt sind. Im Bereich des Wirtschaftslebens fallen alle Diskriminierungen. Gleichzeitig wird die innere Verfassung der jüdischen Gemeinden vom Staat neu geregelt. 1848 Einweihung der Synagoge in der Normannengasse in Zülpich. Seit den Die 1840er Jahre bringen den rheinischen Juden nicht nur eine grundle1840er Jahren gende Revision ihrer gesetzlichen Verhältnisse, sondern auch eine beschleunigte demografische und sozioökonomische Entwicklung. So verfügen immer mehr Gemeinden über genügend Mitglieder und finanzielle Ressourcen, um Institutionen für ihre religiösen und kulturellen Bedürfnisse zu unterhalten. Es beginnt ein regelrechter Synagogenbauboom, der bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anhält. Auch in rheinischen Landgemeinden und Kleinstädten entstehen zahlreiche Synagogenneubauten, so in Titz-Rödingen (1841), Oberhausen-Holten (1858), Issum (1865), Rheinberg-Orsoy (1867), Grevenbroich-Hülchrath (1879), Pulheim-Stommeln (1882), Weilerswist-Lommersum (1904) – um nur einige zu nennen, die bis heute erhalten sind. Auch zahlreiche neue Friedhöfe werden angelegt. 1850 Die sogenannte revidierte „Verfassungsurkunde für den preußischen Staat“ schreibt in Artikel 12 die allgemeine Religionsfreiheit fest, bestimmt aber in Artikel 14, dass die christliche Religion bei allen Einrichtungen des Staates, die mit der Religionsausübung im Zusammenhang stehen, zu Grunde gelegt wird. 1851 Einweihung der Synagoge in der Petersstraße in Krefeld. 1861 Einweihung der Synagoge in der Glockengasse in Köln, die nach Plänen des protestantischen Dombaumeisters Ernst Zwirner erbaut worden ist. 1861 Gründung einer Talmud-Tora-Schule in Köln.
1862 1862 1865
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Einweihung der Synagoge in der Promenadenstraße in Aachen. Einweihung der Synagoge in der Grünstraße in Jülich. Einweihung der Synagoge in der Genügsamkeitstraße in (Wuppertal-) Elberfeld. 1867 Einweihung der Synagoge an der Promenade in Neuss. 1869/71 Ein Gesetz deklariert für das Gebiet des Norddeutschen Bundes die Religionsfreiheit. Alle aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden aufgehoben. Insbesondere ist die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig. Dieses Gesetz wird 1871 mit der Gründung des Deutschen Reiches in die Reichsverfassung übernommen. 1869 Einweihung des Israelitischen Asyls für Kranke und Altersschwache in der Silvanstraße in Köln. 1872 Einweihung der Synagoge in der Malteserstraße/Ecke Gerichtstraße in Solingen. 1872 Einweihung der Synagoge in der Schützenstraße in Düren. 1873/78 Mit der ökonomischen Krise ab 1873 und dem Ende der liberalen Ära im Deutschen Reich gewinnt die stets latent vorhanden gebliebene Judenfeindschaft eine neue Dimension. Der traditionelle christliche Antijudaismus wird mehr und mehr durch einen wissenschaftlich verbrämten biologistisch-rassistischen Antisemitismus abgelöst. 1875 Einweihung der neuen Synagoge in der Junkernstraße in Duisburg. 1875 In Bonn erscheinen die ersten jüdischen Presseorgane rheinischer Provenienz, z.B. die liberale Zeitschrift „Die Reform“ und der konservative „Israelitische (Reichs-) Bote“. Typisch für die Periodika dieser Zeit ist, dass sie einer religiösen Richtung verpflichtet, also (religiös) liberal, konservativ oder orthodox sind. 1879 Einweihung der neuen Synagoge in Bonn am Rheinufer in der Tempelstraße. 1883 Einweihung der Synagoge in der Karlstraße in Mönchengladbach. 1884 Einweihung des jüdischen Lehrerseminars und der Synagoge in der St. Apern-Straße in Köln, beides Einrichtungen der orthodoxen Trennungsgemeinde Adass Jeschurun. 1885 Gründung des Israelitischen Waisenhauses der Rheinprovinz in der Neustraße in Dinslaken. 1886 Einweihung der Synagoge in der Judengasse in Erftstadt-Lechenich. 1891 Der Xantener Metzger Adolf Buschhoff wird eines „Ritualmordes“ bezichtigt. Die antijüdische Presse nimmt den Prozess zum Anlass für eine Hetzkampagne gegen die jüdische Minderheit. Der Prozess endet mit dem Frei-
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spruch Buschhoffs, doch seine Existenz ist zerstört. Im Umkreis des Prozesses kommt es im Rheinland zu zahlreichen antijüdischen Ausschreitungen. Gründung des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, der das Ziel verfolgt, die staatsbürgerlichen Rechte der Juden zu stärken und zu verteidigen. Die Anfänge des deutschen Zionismus sind eng mit dem Rheinland, speziell mit Köln, verbunden. Die „National-jüdische Vereinigung Köln“ unter der Federführung von Dr. Max Isidor Bodenheimer formuliert die „Kölner Thesen“, die mit geringfügigen Änderungen vom ersten zionistischen Weltkongress in Basel 1897 angenommen werden. Nach Theodor Herzls Tod amtiert der Kölner Kaufmann David Wolffsohn 1905– 1911 als Präsident der Zionistischen Weltorganisation. In dieser Zeit erscheint auch „Die Welt“ in Köln, das Zentralorgan der zionistischen Bewegung. Einweihung der Synagoge in der Scheurenstraße (Zur Scheuren) in (Wuppertal-)Barmen. Die Zuwanderung von Juden aus Osteuropa, vor allem aus den 1815 unter Preußen, Österreich und Russland aufgeteilten polnischen Gebieten, in die Städte des Rheinlands nimmt seit der Jahrhundertwende zu. Im Ersten Weltkrieg kommen verstärkt jüdische Arbeiter aus Russisch-Polen in das rheinisch-westfälische Industriegebiet. In der Zeit der Weimarer Republik ist eine neue Zuwanderungswelle zu verzeichnen. Einweihung der Synagoge in der Kasernenstraße in Düsseldorf. Einweihung der Synagoge am Victoriaplatz in Mülheim an der Ruhr. Am 19. Februar wird der Neubau des Israelitischen Asyls für Kranke und Altersschwache in der Ottostraße in Köln-Ehrenfeld eingeweiht. Einweihung der Synagoge am Steeler Tor in Essen. Einweihung der Synagoge an der Nordpromenade in Linnich. Eröffnung eines neuen Friedhofs an der Venloer Straße in Köln-Bocklemünd (Vogelsang), der bis heute belegt wird. Gründung des „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten“ (RjF), der sich zum Ziel setzt, die Erinnerung an die während des Ersten Weltkriegs gefallenen jüdischen Soldaten und Offiziere wachzuhalten. Auch Abwehr antisemitischer Angriffe und Propaganda gehört zu den Aufgaben des Vereins. Gründung des ersten und bisher einzigen jüdischen Gymnasiums im Rheinland als „Reform-Realgymnasium Jawne“ in Köln. Der Kölner Gemeinderabbiner Dr. Adolf Kober und der Arzt Prof. Dr. Bruno Kisch gründen das „Jüdische Lehrhaus“ in Köln, eine jüdische Volkshochschule.
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Am 1. April wird ein reichsweiter Boykott gegen von Juden geführte Geschäfte, Warenhäuser, Anwaltskanzleien und Arztpraxen ausgerufen – eine der ersten öffentlichen Terrormaßnahmen der neuen nationalsozialistischen Machthaber gegen die jüdische Bevölkerung. Am 7. April wird das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen, das die Grundlage für die Verdrängung der Juden aus dem Berufsleben bildet. Die jüdischen Gemeinden rufen als Antwort auf die Entrechtungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Staates ein Netz von sozialen und kulturellen Selbsthilfemaßnahmen ins Leben. Im Oktober erfolgt die Gründung des „Jüdischen Kulturbundes RheinRuhr“ ( JKRR) mit Sitz in Köln, einer jüdischen Selbsthilfeorganisation, die arbeitslos gewordenen jüdischen Kunstschaffenden neue Beschäftigungsmöglichkeiten bietet. Der JKRR veranstaltet unter anderem Theateraufführungen, Konzerte, Vorträge und Kunstausstellungen. Das am 22. November erlassene „Reichskulturkammergesetz“ macht die Ausübung eines Berufs im Kulturbereich von der Zugehörigkeit zu einer Kammer abhängig. „Nichtarier“ oder „mit Nichtariern Verheiratete“ sind von der Mitgliedschaft ausgeschlossen. Einrichtung des Hachschara-Zentrums „Kibbuz Bamaaleh“ in WesselingUrfeld, das junge Juden und Jüdinnen auf Tätigkeiten in der Landwirtschaft und im Handwerk vorbereitet, um ihnen die Einwanderung nach Palästina zu ermöglichen. Nach dem Ausschluss der Juden von den Leistungen des allgemeinen Winterhilfswerks wird die „Jüdische Winterhilfe“ gegründet, deren Aufgabe die Versorgung der verarmten jüdischen Bevölkerung mit Lebensmitteln, Kleidung, Wäsche, Schuhen, Brennmaterialien, Möbeln etc. ist. Am 15. September werden die sogenannten „Nürnberger Gesetze“ erlassen. Das „Reichsbürgergesetz“ macht Juden zu „Staatsangehörigen“ (im Gegensatz zu „Staats- oder Reichsbürgern“) und nimmt ihnen alle politischen Rechte. Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbietet die Eheschließung und außereheliche Beziehungen von Juden und Nichtjuden als „Rassenschande“. Auf der Grundlage der „Nürnberger Gesetze“ erfolgt die vollständige Ausschaltung der Juden aus allen öffentlichen Arbeitsverhältnissen. Einrichtung des „Jüdischen Übernachtungsheims Bröltalhaus“ in (Ruppichteroth-) Schönenberg, das von jüdischen Jugendbünden und Schulklassen aus dem Einzugsbereich zwischen Essen und Frankfurt am Main besucht wird und auch als Zentrum der Erwachsenenbildung dient. Gemäß Reichsgesetz vom 28. März verlieren die jüdischen Gemeinden den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts; sie haben nur noch den
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Status von eingetragenen Vereinen. Die Gemeinden können daher keine Steuern mehr durch den Staat erheben lassen, sie sind fortan auf freiwillige Beiträge angewiesen. 1938 Die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens der Juden“ vom 26. April bereitet die umfassende „Arisierung“ jüdischen Vermögens vor. 1938 Am 6. Juli bringt eine Änderung der Gewerbeordnung das Verbot des Hausierhandels und der gewerblichen Reisetätigkeit von Juden. 1938 Durch die 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli (mit Wirkung zum 30. September) wird allen noch praktizierenden jüdischen Ärztinnen und Ärzten die Approbation entzogen. Nur wenige Mediziner, die sich nun „Krankenbehandler“ nennen müssen, erhalten die Genehmigung zur Behandlung von Juden. 1938 Durch die 5. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 27. September wird ein Berufsverbot für alle noch praktizierenden jüdischen Rechtsanwälte ausgesprochen. Wenige jüdische Rechtsanwälte, die sich nun „Konsulenten“ nennen müssen, erhalten die Genehmigung zur Vertretung von Juden. 1938 Am 9. und 10. November werden im heutigen Nordrhein-Westfalen 278 Synagogen und Betstuben zerstört, viele Menschen verhaftet und misshandelt. Es sind zahlreiche Todesfälle zu beklagen. Mit dem Novemberpogrom beginnt die letzte Phase der Verfolgung der Juden in Deutschland, die Vorstufe zum Massenmord. 1938 Am 12. November werden die deutschen Juden mit einer „Sühneleistung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark belegt. Sie werden verpflichtet, das Straßenbild wiederherzustellen, die ihnen zustehenden Versicherungsleistungen werden zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen. 1938 Einige Tage nach dem Novemberpogrom werden alle jüdischen Schülerinnen und Schüler von den allgemeinen Schulen verwiesen. 1938 Die „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember bereitet die vollständige Zwangsarisierung jüdischen Eigentums vor. 1939 Alle Juden und Jüdinnen, die keinen als „jüdisch“ charakterisierten Namen tragen, müssen ab dem 1. Januar zusätzlich den Namen „Israel“ bzw. „Sara“ annehmen. 1939 Ab dem 1. Januar Einführung von Sonderausweisen (Kennkarten), die mit dem Buchstaben „J“ gekennzeichnet sind. 1939 Am 30. April erfolgt der Erlass des „Gesetzes über die Mietverhältnisse der Juden“, das den Kündigungsschutz aufhebt und jüdische Haus- und Wohnungseigentümer zwingt, andere Juden aufzunehmen. Es entstehen zahlreiche „Judenhäuser“, in denen die jüdische Bevölkerung zusammengefasst wird. Diese Maßnahmen dienen der Vorbereitung auf die Deportation in die Ghettos und Vernichtungslager im Osten.
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Alle im Reichsgebiet lebenden Juden müssen der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ mit Sitz in Berlin angehören. Die örtlichen jüdischen Gemeinden sind nur noch Zweigstellen der „Reichsvereinigung“. Am 23. Oktober wird ein Auswanderungsverbot erlassen. Einrichtung von Sammellagern für die jüdische Bevölkerung vor der Deportation. Sammellager bestehen z.B. in Köln-Müngersdorf, Bonn-Endenich und in Much, wo die im damaligen Siegkreis wohnenden Juden interniert werden. Seit dem 15. September müssen alle Juden, die älter als sechs Jahre sind, den „Gelben Stern“ gut sichtbar auf ihrer Kleidung tragen. Im Herbst beginnen die Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager im Osten. Im heutigen Nordrhein-Westfalen überleben nur etwa 2.500 jüdische Menschen in der Illegalität. Schon kurz nach der Befreiung werden die ersten Gemeinden wiedergegründet. In Köln geschieht das am 29. April 1945 mit einem Gottesdienst in den Trümmern der Synagoge in der Roonstraße. Seit 1946 erscheint in Düsseldorf das „Jüdische Gemeindeblatt für die Nord-Rheinprovinz und Westfalen“, aus dem die überregionale „Allgemeine Jüdische Wochenzeitung“ hervorgeht. Die britischen Besatzungsbehörden und dann das Land Nordrhein-Westfalen schaffen die Grundlagen für die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der Nord-Rheinprovinz. Am 19. Juli wird in Frankfurt mit dem „Zentralrat der Juden in Deutschland“ eine Dachorganisation für die in Deutschland lebenden Juden gegründet. Der Zentralrat hat seinen Hauptsitz mehrere Jahrzehnte in Nordrhein-Westfalen, seit 1999 in Berlin. Nach Abschluss der deutsch-israelischen Wiedergutmachungsverhandlungen wird in Köln eine israelische Einkaufsorganisation, die „Israel-Mission“, eingerichtet. Am 7. September wird die neue Düsseldorfer Synagoge in der Zietenstraße in Anwesenheit von Ministerpräsident Franz Meyers eingeweiht. Am 20. September wird die wieder errichtete Synagoge in der Kölner Roonstraße eingeweiht. Unter den Gästen ist auch Bundeskanzler Konrad Adenauer. Wenige Wochen später, am 24./25. Dezember, wird die Synagoge von zwei jungen Männern durch Schmierereien geschändet. Diese Schändung bildet den Auftakt zu einer Vielzahl antisemitischer Vorfälle in der Bundesrepublik und im Ausland um den Jahreswechsel 1959/60. Die „Germania Judaica. Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums“ wird auf Initiative Kölner Bürger gegründet. Heute ist sie mit ca. 85.000 Bänden sowie ca. 500 Zeitungen und Zeitschriften zur Ge-
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schichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums seit der Zeit der Aufklärung die größte Fachbibliothek auf diesem Gebiet in Europa. Vom 15. Oktober 1963 bis zum 15. März 1964 wird im Kölnischen Stadtmuseum die Ausstellung „Monumenta Judaica. Zweitausend Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein“ gezeigt. Israel und die Bundesrepublik Deutschland nehmen diplomatische Beziehungen auf. Die erste israelische Botschaft wird am 24. August 1965 in Köln eröffnet, erst später zieht sie nach Bonn um. An der Universität zu Köln wird das zweite judaistische Institut in der Bundesrepublik Deutschland, das Martin Buber-Institut für Judaistik, gegründet. Im Rheinland entstehen zahlreiche Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen, die sich mit jüdischer Geschichte und mit dem Schicksal jüdischer Menschen in der NS-Zeit beschäftigen: Alte Synagoge Essen (1980), Verein An der Synagoge in Bonn (1984), Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf (1987), NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln (1988), Jüdisches Bethaus Issum (1990), Villa Merländer Krefeld (1991), Alte Synagoge Wuppertal (1994), Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“ in Windeck-Rosbach (1994). Das Salomon Ludwig Steinheim-Institut an der Gesamthochschule/Universität Duisburg (heute Universität Duisburg-Essen) nimmt seine Forschungsarbeit auf. Im Zusammenhang mit den Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Novemberpogroms wird an vielen Orten die lokale jüdische Geschichte erforscht und in Publikationen und Ausstellungen vorgestellt. Seit Beginn der 1990er Jahre verfünffacht sich die Zahl der Mitglieder der 19 jüdischen Gemeinden Nordrhein-Westfalens vor allem durch die Einwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion auf knapp 30.000. Viele Gemeinden entschließen sich zum Um- bzw. Neubau einer Synagoge mit Gemeindezentrum, wie z. B. in Aachen (Alfred Jacoby, 1995), Recklinghausen (Hans Stumpf/Nathan Schächter, 1997), Duisburg (Zvi Hecker, 1999) und Wuppertal (Hans Christoph Goedeking, 2002). In Köln wird das ehemalige „Israelitische Asyl für Kranke und Altersschwache“ von den Architekten Ulrich Coersmeier und Alfred Jacoby für eine Nutzung als „Jüdisches Wohlfahrtszentrum“ saniert und erweitert (2003/04). Das Land Nordrhein-Westfalen schließt mit den Landesverbänden Nordrhein und Westfalen-Lippe und der Synagogen-Gemeinde Köln einen Staatsvertrag, in dem die gegenseitigen Beziehungen erstmals auf eine rechtliche Grundlage gestellt werden. Im Oktober wird ein Anschlag auf das Gemeindezentrum der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf verübt. Durch das beherzte Eingreifen einer Passantin
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entsteht nur Sachschaden. Bundeskanzler Gerhard Schröder ruft bei einem Besuch des Gemeindezentrums zu einem „Aufstand der Anständigen“ auf. Am 25. April unterzeichnen der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement und Vertreter der jüdischen Gemeinden einen neuen Staatsvertrag, um den Bedürfnissen der wachsenden jüdischen Gemeinden Rechnung zu tragen. Am 27. Januar unterzeichnen Bundeskanzler Gerhard Schröder für die Bundesregierung und Paul Spiegel, der Präsident des „Zentralrats der Juden in Deutschland“, einen Staatsvertrag, in dem erstmals die kulturelle, soziale und integrationspolitische Zusammenarbeit auf Bundesebene geregelt wird. Die Abgeordneten aller Parteien im nordrhein-westfälischen Landtag verabschieden am 2. Juli einstimmig den Entschließungsantrag „Mehr Wissen voneinander schafft mehr Vertrauen“. Darin wird gefordert: „Das Wissen voneinander zu fördern, um die Integration der jüdischen Zuwanderer zu erleichtern und das Zusammenleben zu stärken“. Am 19. August besucht Papst Benedikt XVI. während seines Aufenthaltes beim XX. Weltjugendtag auf Einladung der Synagogen-Gemeinde Köln die Synagoge in der Roonstraße. Am 1. Februar wird die neue Synagoge in Gelsenkirchen eingeweiht (Architekten: Reinhard Christfreund und Benedikta Mihsler). Am 16. Dezember wird die neue Synagoge in Bochum eingeweiht (Architekt: Peter Schmitz, Köln). Am 14. September wird die neue Synagoge in Krefeld eingeweiht (Architekt: Dirk Jost, Meerbusch). Am 6. September wird in Titz-Rödingen die ehemalige Synagoge mit dem dazugehörigen Wohnhaus als „LVR-Kulturhaus Landsynagoge Rödingen – Jüdisches Leben im Rheinland“ eröffnet. Am 13. Juli wird die Alte Synagoge Essen als „Haus jüdischer Kultur“ wiedereröffnet.
Auswahlbibliografie Einführungen und Überblicke Michael Brenner, Kleine jüdische Geschichte, München 2008 Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939. Die Jahre der Vernichtung 1939–1945, Gesamtausgabe, München 2008 Monika Grübel, Schnellkurs Judentum, Köln 72006 Alfred Haverkamp (Hg.), Geschichte der Juden im Mittelalter zwischen Nordsee und Südalpen. Kommentiertes Kartenwerk, 3 Bde., Hannover 2002 Alfred J. Kolatch, Jüdische Welt verstehen. Sechshundert Fragen und Antworten, Wiesbaden 41999 Hannelore Künzl, Jüdische Kunst von der biblischen Zeit bis in die Gegenwart, München 1992 Julius H. Schoeps (Hg.), Neues Lexikon des Judentums, Gütersloh 2000 Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Architektur der Synagoge, Frankfurt/M. 1988 Paul Spiegel, Was ist koscher? Jüdischer Glaube, jüdisches Leben, München 52005 Simon Philip de Vries, Jüdische Riten und Symbole, Wiesbaden 2005
Deutsch-jüdische Geschichte J. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001 Michael Brenner, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950, München 1995 Michael Brocke/Christiane E. Müller, Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Deutschland, Leipzig 2001 Ruth Gay, Geschichte der Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zum Zweiten Weltkrieg, München 1993 Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert, 2 Bde., Hamburg 1981 Arno Herzig/Cay Rademacher (Hg.), Die Geschichte der Juden in Deutschland, Hamburg 2007 Marion Kaplan (Hg.), Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003 Stefan Litt, Geschichte der Juden Mitteleuropas 1500–1800, Darmstadt 2009 Michael A. Meyer/Michael Brenner (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, 4 Bde., München 1996–97 Andreas Reinke, Geschichte der Juden in Deutschland 1781–1933, Darmstadt 2007 Monika Richarz/Reinhard Rürup (Hg.), Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutschjüdischen Geschichte, Tübingen 1997 Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, München 1998
Auswahlbibliographie
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Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780–1918, München 22000 Mosche Zimmermann, Die deutschen Juden 1914–1945, München 1997
Juden im Rheinland Arbeitskreis Gedenkstätten (Hg.), Gewalt in der Region. Der Novemberpogrom 1938 in Rheinland und Westfalen, Düsseldorf u.a. 2008 Stefan Bajor (Hg.), Archiv aus Stein. Jüdische Friedhöfe in Nordrhein-Westfalen, Oberhausen 2005 Jan-Pieter Barbian/Michael Brocke/Ludger Heid (Hg.), Juden im Ruhrgebiet. Vom Zeitalter der Aufklärung bis in die Gegenwart, Essen 1999 Jutta Bohnke-Kollwitz u.a. (Hg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984 Michael Brocke (Hg.), Feuer an Dein Heiligtum gelegt. Zerstörte Synagogen 1938 in Nordrhein-Westfalen, Bochum 1999 Bastian Fleermann, Marginalisierung und Emanzipation. Jüdische Alltagskultur im Herzogtum Berg 1779–1847, Neustadt/Aisch 2007 Monika Grübel/ Georg Mölich (Hg.), Jüdisches Leben im Rheinland. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2005 Ludger Heid/Julius H. Schoeps/Marina Sassenberg (Hg.), Wegweiser durch das jüdische Rheinland, Berlin 1992 Svetlana Jebrak/Norbert Reichling (Hg.), Angekommen?! Lebenswege jüdischer Einwanderer, Berlin 2010 Dieter Kastner (Bearb.), Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland 1825–1845. Eine Dokumentation, 2 Bde., Köln 1989 Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport (Hg.), Zeitzeugen. Begegnungen mit jüdischem Leben in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1998 Konrad Schilling (Hg.), Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein, 3 Bde. (Handbuch, Katalog, Fazit), Köln 1963–1964 Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe im Rheinland. Teil 1: Regierungsbezirk Köln, Köln 1997 Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe im Rheinland. Teil 2: Regierungsbezirk Düsseldorf, Köln 2000 Ursula Reuter, Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert. Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Karte/Beiheft VIII.8, Bonn 2007 Jürgen Wilhelm (Hg.), Zwei Jahrtausende. Jüdische Kunst und Kultur in Köln, Köln 2007 Michael Zimmermann (Hg.), Geschichte der Juden im Rheinland und in Westfalen, Köln/ Stuttgart/Berlin 1998 Suzanne Zittartz-Weber, Zwischen Religion und Staat. Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815–1871, Essen 2003 Franz-Josef Ziwes, Jüdische Niederlassungen im Mittelalter. Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Karte/Beiheft VIII.7, Köln 2002
Glossar der hebräischen Begriffe Die Erläuterungen beschreiben die religiöse Praxis im traditionellen Judentum. Für das Hebräische wurde eine vereinfachte Umschrift gewählt, die keine philologische Genauigkeit beabsichtigt, sondern die Aussprache der Wörter erleichtern soll. Einige hebräische Begriffe erscheinen in den Quellen in unterschiedlichen Schreibweisen oder sie werden in einer dem Deutschen oder Jiddischen angepassten Form wiedergegeben, z.B.: hebr. Mazza, pl. Mazzot als „Mazzoh“ oder „Mazzen“. Hier werden jeweils die alternativen Schreibweisen angegeben. Almemor: Hebraisierter Begriff, der von der arabischen Bezeichnung „al minbar“ für die Kanzel in der Moschee abgeleitet ist. Bezeichnung für einen abgegrenzten, meist erhöhten Platz mit Lesepult in der Synagoge, von dem aus die *Tora-Lesung im Gottesdienst erfolgt. Siehe auch *Bima. Aron ha-Kodesch: Wörtlich „Heilige Lade“. In Anlehnung an die biblische Bundeslade wird der *Tora-Schrein als Aron ha-Kodesch, als „Heilige Lade“ bezeichnet (2. Chronik 35, 3). Der *Tora-Schrein dient zur Aufbewahrung der *Tora-Rollen. Aschkenas / aschkenasisch / Aschkenasim: Aschkenas ist ursprünglich der Name eines in Genesis 10,3 erwähnten Volkes. Im Mittelalter wurde Aschkenas im jüdischen Kontext die geläufige Bezeichnung für Deutschland und Nordostfrankreich. Von der Zeit der Kreuzzüge an umfasste der Begriff auch die nach Polen und Russland geflohenen Juden und ihre Nachfahren (im Gegensatz zu *Sefarad). Bar Mizwa: Wörtlich „Sohn des Gebots“. Bezeichnung eines Knaben, der mit Vollendung des 13. Lebensjahres die religiöse Volljährigkeit erreicht. Er ist nun ein vollgültiges Mitglied der Gemeinde mit allen Rechten und Pflichten, die das Religionsgesetz festlegt. Der Beginn der religiösen Mündigkeit wird mit der Bar Mizwa-Feier festlich begangen. Bat Mizwa: Wörtlich „Tochter des Gebots“. Mädchen werden bereits mit Vollendung des 12. Lebensjahres religiös volljährig. Eine spezielle Zeremonie ist nicht obligatorisch und in traditionellen Gemeinden nicht üblich. In liberaleren Gemeinden gibt es aber seit dem 19. Jahrhundert auch Bat Mizwa-Feiern. Bima: Hebraisierter Begriff, der von der griechischen Bezeichnung „Bema“ für „Pult“, „Podium“ abgeleitet ist. Bezeichnung für einen abgegrenzten, meist erhöhten Platz mit Lesepult in der Synagoge, von dem aus die *Tora-Lesung im Gottesdienst erfolgt. Siehe auch *Almemor.
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Brit Mila: Wörtlich „Bund der Beschneidung“. Die Entfernung der Vorhaut des männlichen Glieds am achten Tag nach der Geburt eines Jungen ist ein grundlegendes Gebot des Judentums. Die Beschneidung wird auf Abraham zurückgeführt (Genesis 17, 9-14) und ist das äußere Zeichen für den Bund Gottes mit dem jüdischen Volk. Chabad: Hebräisches Akronym für die Begriffe „Chochma, Bina, Daat“, wörtlich „Weisheit, Erkenntnis, Wissen“. Chabad ist eine chassidische Richtung, die von Schneur Salman aus Ladi (1745–1812) begründet wurde. Nach dem Wirkungsort seines Sohns und Nachfolgers werden die Anhänger von Chabad auch Lubawitscher genannt. Unter der Leitung des siebten und (vorerst) letzten Rebbe der Chabad-Dynastie, Menachem Mendel Schneerson (1902–1994 New York), wurde Chabad zu einer weltweit aktiven Bewegung. Challa, pl. Challot: Wörtlich „Teighebe“. Weißbrot in Zopfform, das am *Schabbat gegessen wird. Chanukka: Wörtlich „Einweihung“. Achttägiges Lichterfest, das an die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem durch Juda Makkabi im Jahr 164 v.Chr. erinnert. Nach einer talmudischen Legende reichte das Fläschchen mit reinem Öl, das die Makkabäer im Tempel fanden, in wunderbarer Weise acht Tage lang. In Erinnerung daran wird am Chanukka-Leuchter am ersten Tag ein, dann an jedem folgenden Tag jeweils ein weiteres Licht angezündet. Chasan, pl. Chasanim: Kantor, Vorbeter in der Synagoge. Chassid, pl. Chassidim: Anhänger des Chassidismus, einer volkstümlichen mystisch-religiösen Bewegung innerhalb des Judentums, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Osteuropa entstand. Cheder: Wörtlich „Zimmer“, „Stube“. Bezeichnung für die traditionellen, religiös geprägten Elementarschulen für Jungen. Chewra Kaddischa: Wörtlich „Heilige Vereinigung“. Eine Beerdigungsbruderschaft bzw. -schwesternschaft, deren Aufgabe es ist, Kranke zu besuchen, Sterbende zu betreuen und die Beerdigung der Verstorbenen zu organisieren. Solche Vereinigungen bestanden seit der Frühen Neuzeit in jeder jüdischen Gemeinde. Chuppa: Trauhimmel, Traubaldachin, unter dem die Hochzeitszeremonie vollzogen wird. Cohen, pl. Cohanim (auch: Kohen/Kohanim): Wörtlich „Priester“. Bezeichnung für die Angehörigen des Priestergeschlechts, den Nachfahren des ersten Hohepriesters Aaron. Die Cohanim erfüllten im Jerusalemer Tempel bestimmte kultische Aufgaben, z.B. die Darbringung von Opfern. Durch die Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n.Chr. verloren sie ihre
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eigentliche Funktion. In Erinnerung an ihre Priesterwürde haben die Cohanim bis heute im Synagogengottesdienst einige Vorrechte, so werden sie als Erste zur *Tora-Lesung aufgerufen und sprechen den Priestersegen. Auf Grabsteinen von Nachkommen des Priestergeschlechts befinden sich häufig Darstellungen mit den segnenden Händen der Priester. Eruw: Wörtlich „Vermischung“, „Vereinigung“. Bezeichnung für die zeitlich begrenzte Verbindung von normalerweise getrennten Gebieten zu einer Einheit. Durch die Einrichtung eines Eruw für den *Schabbat, z.B. durch das Spannen einer *Schabbat-Schnur, kann ein größerer Bereich geschaffen werden, innerhalb dessen das Verbot, Objekte am *Schabbat herumzutragen, nicht gilt. Haggada: Wörtlich „Erzählung“. Im engeren Sinn die Erzählung vom Auszug aus Ägypten und der Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft. Die Haggada wird am *Seder-Abend zu Beginn des *Pessach-Fests gelesen. Halacha: Wörtlich „Gehen“, „Wandeln“. Begriff für das gesamte System der religionsgesetzlichen Bestimmungen. Die Halacha umfasst die Gebote und Verbote der mündlichen und schriftlichen Überlieferung. Sie regelt das Leben in allen Bereichen und Einzelheiten, nicht nur die religiöse Sphäre. Hekdesch: Wörtlich „Geweihtes“, „Tempelschatz“, „religiöse Stiftung“. Im engeren Sinn eine den Armen und Kranken geweihte Institution, also ein Hospiz, Armen- oder Siechenhaus. Jom Kippur. Wörtlich „Versöhnungstag“. Der Versöhnungstag ist der höchste jüdische Feiertag, Höhepunkt und Abschluss der zehn Bußtage nach *Rosch ha-Schana, dem Neujahrsfest. Er wird mit Fasten und Gebet in der Synagoge verbracht. Im Schlussgottesdienst wird das Widderhorn (Schofar) geblasen. Kaddisch: Wörtlich „Heiligung“. Gebet in aramäischer Sprache, in dem die Heiligkeit Gottes gepriesen wird. Es ist Bestandteil des täglichen Gottesdienstes und Totengebet, das von dem nächsten (männlichen) Angehörigen bei der Beerdigung, im Trauerjahr und am Jahrzeit-Tag gesprochen wird. Es kann nur dann gesprochen werden, wenn zehn religionsmündige Männer (*Minjan) anwesend sind. Kehilla (auch: Khille): Wörtlich „Gemeinde“. Ketubba: Wörtlich „Geschriebenes“. In aramäischer Sprache abgefasste Heiratsurkunde, Ehevertrag, den der Ehemann der Ehefrau unter der *Chuppa überreicht. Kaschrut / Koscher: Das hebräische Wort Kaschrut bedeutet „rituelle Eignung“ und leitet sich von dem Wort „kascher“ (jiddisch: „koscher“), wörtlich „erlaubt, geeignet“, ab. In Bezug
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auf Lebensmittel sind damit solche gemeint, die nach jüdisch-religiösen Maßstäben zum Verzehr erlaubt sind. Die Bestimmungen der Kaschrut, der jüdischen Speisevorschriften, stammen größtenteils direkt aus der *Tora. Mazza, pl. Mazzot (auch: Mazzoh, Mazzen): Ungesäuertes Brot, das während der sieben (in der Diaspora acht) Tage des *Pessach-Festes gegessen wird, um an den eiligen Auszug aus Ägypten zu erinnern, als keine Zeit blieb, Teig säuern zu lassen (Exodus 12, 33-34). Menora: Wörtlich „Leuchter“. Bezeichnung insbesondere des siebenarmigen Leuchters, wie er in der Bibel beschrieben wird (Exodus 25,31ff und 37,17ff ). Mikwe: Wörtlich „Wasseransammlung“. Bezeichnung für ein rituelles Tauchbad, das den Zustand von Menschen und Geräten vom kultisch Unreinen zum Reinen verändert. Mincha: Wörtlich „Speiseopfer“. Ursprünglich das am Nachmittag dargebrachte Speiseopfer im Tempel, später Bezeichnung für das Nachmittagsgebet in der Synagoge. Minjan: Wörtlich „Zahl“. Mindestzahl von zehn (männlichen) religionsmündigen Personen, die für die Abhaltung eines öffentlichen Gottesdienstes vorgeschrieben ist. Mohel: Wörtlich „Beschneider“. Fachmann (heute häufig ein Arzt), der die rituelle Beschneidung vollzieht. Siehe auch *Brit Mila. Parnas, pl. Parnassim: Wörtlich „Versorger“, „Ernährer“. Vorsteher oder Verwalter einer Gemeinde oder eines Gemeindeverbands. Pessach: Wörtlich „Überschreitung“, denn Gott „überschritt“, d.h. verschonte die Häuser der Israeliten, als er die Erstgeborenen Ägyptens tötete (Exodus 12 u.ö.). Siebentägiges (in der Diaspora achttägiges) Fest zur Erinnerung an die Befreiung des Volkes Israel aus der ägyptischen Knechtschaft. Charakteristisch für das Pessach-Fest ist das häusliche Mahl (*Seder), bei dem die *Haggada gelesen und symbolische Speisen, z. B. *Mazzot, verzehrt werden. Purim: Wörtlich „Lose“. Das freudige Purim-Fest erinnert an die Errettung der persischen Juden vor dem Anschlag Hamans, eines Günstlings des Perserkönigs Ahasveros, der, wie das Buch Esther berichtet, ein „Los“ geworfen hatte, um das Datum zu bestimmen, an dem alle Juden umgebracht werden sollten. Bei der Lesung des Buchs Esther in der Synagoge wird gelärmt und geklopft, sobald der Name des Judenfeindes Haman genannt wird. Ein weiterer Purim-Brauch ist es, sich zu verkleiden. Rabbiner: Abgeleitet von hebräisch „Rabbi“ = „mein Meister“. Bezeichnung für jüdische Gelehrte seit der Antike. Seit dem späten Mittelalter ist eine „Ordination“ durch drei rabbinische
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Autoritäten üblich. Traditionell ist der Rabbiner das religiöse Oberhaupt einer jüdischen Gemeinde, Lehrer und Richter gemäß der *Halacha. In der Moderne hat sich das Amt des Rabbiners in den verschiedenen religiösen Strömungen unterschiedlich entwickelt. Rosch ha-Schana: Wörtlich „Kopf des Jahres“. Das jüdische Neujahrsfest. Schabbat (auch: Sabbat oder Sabbath): Abgeleitet von „schawat“ = „ruhen“. Allwöchentlich wiederkehrender Festtag, der an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt, an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und an die Gesetzgebung am Sinai erinnert, wo der siebte Tag der Woche als Wochenfeiertag in den Zehn Geboten festgeschrieben wurde. Der Schabbat, ein Tag der Ruhe und Abwendung vom Alltag, ist der wichtigste Tag im jüdischen Kalender, er markiert den Höhepunkt der Woche. Er beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend nach Eintritt der Dunkelheit. Schalom: Wörtlich „Frieden“. Schammes: Jiddische Form des hebräischen Wortes „Schammas“, „Diener“. Der von der jüdischen Gemeinde angestellte Synagogendiener kümmerte sich um das Synagogengebäude und war häufig damit betraut, die Gemeindemitglieder an das Gebet in der Synagoge zu erinnern. Schawuot: Wörtlich „Wochen“, sg. Schawua. Das „Wochenfest“ wird sieben Wochen nach *Pessach gefeiert. Es erinnert an die göttliche Offenbarung am Sinai (daher Lesung der Zehn Gebote) und ist zugleich das Fest der Erstlingsfrüchte. Schechita: Wörtlich „Schächten“, also das rituelle Schlachten reiner, gesunder Tiere gemäß den religiösen Vorschriften. Das Schächten erfolgt durch einen Fachmann, den *Schochet. Schiwa: Wörtlich „sieben“. Bezeichnung für die siebentägige Trauerperiode, die auf das Begräbnis folgt. Die Trauernden “sitzen Schiwa“, d.h. sie bleiben zu Hause, verrichten keine Arbeit und sitzen auf niedrigen Schemeln. Schoa: Wörtlich „Vernichtung“. Schoa ist der heute in der jüdischen Welt gebräuchliche Begriff für die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Machtbereich während des Zweiten Weltkriegs 1939–45. Aus dem angelsächsischen Bereich stammt das Wort „Holocaust“ (griech./lat.: „Brandopfer, Ganzopfer“). Schochet: Wörtlich „Schächter“. Fachmann für die *Schechita, das rituelle Schlachten. Schtadlan: Wörtlich „Fürsprecher“, „Vermittler“. Bezeichnung für einen Vermittler zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der nichtjüdischen Obrigkeit. Meist wurde ein Gemeindemitglied für dieses Amt ernannt, das aufgrund seines Vermögens, seiner geschäftlichen Verbin-
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dungen und seiner Persönlichkeit auch in der nichtjüdischen Gesellschaft über Einfluss verfügte. Seder: Wörtlich „Ordnung“, „Reihenfolge“. Bei der häuslichen *Seder-Feier am ersten Abend (in der Diaspora an den zwei ersten Abenden) des *Pessach-Festes wird an den Auszug aus Ägypten erinnert. Der Ablauf der Feier orientiert sich an der in der *Haggada vorgegebenen Reihenfolge. Sefarad / sefardisch / Sefardim: Ursprünglich der Name eines Lands in der Bibel (Obadia 1, 20), wurde Sefarad im Mittelalter die geläufige hebräische Bezeichnung für die Iberische Halbinsel. Als sefardisch bezeichnet man die vom spanischen und portugiesischen Judentum geprägte Kultur und Tradition (im Gegensatz zu *Aschkenas). Die Nachkommen der vertriebenen spanischen und portugiesischen Juden werden bis heute in der ganzen Welt Sefardim genannt. Simchat Tora: Wörtlich „Tora-Freude“. Fest, an dem der letzte Abschnitt der *Tora nach dem einjährigen Zyklus im Gottesdienst gelesen und sofort der neue Zyklus begonnen wird. Charakteristisch sind fröhliche Umzüge mit den *Tora-Rollen, die die Freude an der *Tora zum Ausdruck bringen. Sukkot: Wörtlich „Laubhütten“, sg. Sukka. Das Laubhüttenfest erinnert daran, dass die Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten 40 Jahre lang in provisorischen Hütten wohnten. Sieben Tage lang verbringt man möglichst viel Zeit in der geschmückten Laubhütte. Talmud: Wörtlich „Lehre“, „Lernen“, „Studium“. Der Talmud ist das Hauptwerk des rabbinischen Judentums, das aus der mündlichen Überlieferung entstanden ist und bis heute als die autoritative Quelle der Religionslehre und des Religionsgesetzes gilt. Tallit: Bezeichnung für den Gebetsschal, auch Gebetsmantel genannt. Er besteht aus einem viereckigen Tuch zum Umhängen. An den vier Enden des Tuches sind die „Zizit“ („Schaufäden“) angebracht. Der Gebetsmantel wird vom Tag der *Bar Mizwa an von den Männern beim Morgengebet getragen. Tefillin: Bezeichnung für die ledernen Gebetsriemen mit zwei Kapseln, die der erwachsene jüdische Mann an Werktagen, jedoch nicht am *Schabbat und an Feiertagen, zum Morgengebet anlegt. Tischa be-Aw: Wörtlich „9. Aw“. Trauer- und Gedenktag, an dem von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang gefastet wird. Der 9. Aw erinnert an verschiedene Katastrophen, die sich nach der Tradition an diesem Tag ereignet haben sollen, z.B. die Zerstörung des Ersten und Zweiten Tempels in Jerusalem (586 v.Chr. und 70 n.Chr.).
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Tora / Tora-Rolle / Tora-Lesung: Der Begriff Tora (wörtlich: „Lehre“, „Unterweisung“) wird im engeren Sinne für die ersten fünf Bücher der Bibel verwendet, die nach der jüdischen Überlieferung Moses am Sinai durch Gott offenbart wurden. Für die liturgische Lesung in der Synagoge wird der Text in hebräischer Quadratschrift auf Pergamentstücke geschrieben. Die aneinandergenähten Pergamentstücke werden als Rolle auf zwei Holzstäbe aufgewickelt. Diese Tora-Rolle wird bei der Tora-Lesung im Gottesdienst im Verlauf eines Jahres abschnittsweise gelesen. Zedaka: Wörtlich „Wohltätigkeit“. Das Gebot der Zedaka nimmt in der jüdischen Gemeinschaft einen hohen Stellenwert ein. Man versteht darunter vor allem das Bemühen um soziale Gerechtigkeit, u.a. durch Spenden und die Sorge für Arme, Kranke, Witwen und Waisen. Monika Grübel
Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts – Erläuterungen zur beiliegenden Karte Die dem Band „Jüdische Lebenswelten im Rheinland“ beigefügte großformatige Karte wurde ursprünglich für den „Geschichtlichen Atlas der Rheinlande“ erarbeitet und 2007 zusammen mit einem Beiheft publiziert. Sie zeigt die Topografie der jüdischen Gemeinden in dem vorgegebenen Kartenausschnitt, der in etwa die historische preußische Rheinprovinz und umliegende Gebiete umfasst, vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Für nähere Informationen zu den Kriterien, die der Erstellung der Karte zugrunde lagen, zu den Rahmenbedingungen und der historischen Genese der jüdischen Gemeindelandschaft und den demografischen Entwicklungen sei auf das Beiheft hingewiesen. Dieses enthält in seinem zweiten Teil außerdem Basisinformationen zu allen kartierten Orten. Die wichtigste Organisationsform der jüdischen Minderheit vor dem Beginn der Emanzipation war die Gemeinde (hebr. Kehilla). Trotz aller Veränderungen hat die Institution der Gemeinde auch in der Moderne ihre zentrale Bedeutung für das Leben der jüdischen Gemeinschaften in der Diaspora behalten. Das Streben nach gemeindlicher Autonomie drückte sich in dem Untersuchungszeitraum in erster Linie in der Unterhaltung einer Betstube oder Synagoge sowie in der Anlage eines Friedhofs aus. Die Karte verzeichnet insgesamt 618 Orte links und rechts des Mittel- und Niederrheins, in denen in mindestens einem der vier gewählten Zeitschnitte (siehe unten) eine – zumeist, aber nicht immer staatlich anerkannte – Gemeinde bestand, sowie 54 Orte, an denen ein Friedhof oder eine Synagoge, aber keine eigenständige Gemeinde existierte. Um den Wandel in der jüdischen Gemeindelandschaft zu veranschaulichen, wurden vier Zeitschnitte ausgewählt: als Ausgangspunkt die Jahre um 1815 (Übergang zum Emanzipationszeitalter), dann die Zeit um 1880 (Zustand nach dem Abschluss der rechtlichen Gleichstellung und zu Beginn der Hochindustrialisierung), als drittes das Jahr 1932 (Situation vor Beginn der NS-Herrschaft) sowie als Abschluss das Jahr 2006 (Stand beim Abschluss der Kartenbearbeitung). Auf der Karte nicht sichtbar, aber stets mitzubedenken ist der totale Bruch in der NS-Zeit: Die antijüdische Politik des NS-Regimes richtete sich nicht nur gegen die jüdische Bevölkerung als Individuen, sondern spätestens seit 1938/39 auch gegen die jüdischen Gemeindestrukturen. Mit der Deportation und fast vollständigen Ermordung der jüdischen Deutschen, denen eine Flucht nicht gelungen war, gingen auch die letzten Reste jüdischer Gemeinden zugrunde, so dass jede nach 1945 entstandene Gemeinde „neu“ oder „wieder“ gegründet werden musste. Für jeden verzeichneten Ort sind drei Merkmale dargestellt: Vorhandensein einer oder mehrerer Synagogen/Betstuben, eines oder mehrerer Friedhöfe und die Gemeindegröße in den Stichjahren. Aufgrund der großen Zahl jüdischer Klein- und Kleinstgemeinden in den untersuchten Gebieten wurden drei Größenstufen ausgewählt, die die großen städtischen Gemeinden des 20. Jahrhunderts kartografisch „diskriminieren“: 1. bis 50 Gemeindemitglieder
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– 2. bis 200 – 3. über 200 Gemeindemitglieder. Unterlegt ist die Karte mit den bei der Volkszählung vom 16. Juni 1933 gültigen Kreisgrenzen (Deutsches Reich; die Zahlen für das Saargebiet stammen aus dem Jahr 1927). Die unterschiedlich gelb schattierten Flächen geben Auskunft über den prozentualen Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung der Kreise zu Beginn der NS-Herrschaft. Die Gestaltung der Karte wurde bewusst so gewählt, um einen visuell gut erfassbaren Überblick über die sich wandelnde jüdischen Gemeindetopografie im Rheinland in den letzten zwei Jahrhunderten zu ermöglichen. Die Entwicklung der rheinisch-jüdischen Gemeindelandschaft verlief allerdings weder linear noch überall gleichförmig. Zum Abschluss daher einige Hinweise auf Themen, die mithilfe der Karte bearbeitet werden können: 1. Die Veränderung der jüdischen Siedlungsmuster von der Frühen Neuzeit bis zum Zeitalter der Emanzipation. 2. Geografische Verteilung und demografische Entwicklung der für die rheinischen Gebiete typischen Land- und Kleinstadtgemeinden in den verschiedenen Regionen. 3. Die jüdische Urbanisierung: Entstehung und Wachstum der jüdischen Großstadtgemeinden in der Rhein-Ruhr-Region. 4. Der Neubeginn nach der Schoa: Kontinuität und Diskontinuität der jüdischen Gemeindetopografie. Ursula Reuter Literaturhinweis: Ursula Reuter, Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande VIII/8, Karte und Beiheft), Bonn 2007
Schlagwortregister Die folgenden sachthematischen Verweise bieten einen Orientierungsrahmen zur inhaltlichen Erschließung der Quellen. Es wurden jeweils nur die Hauptsachzusammenhänge der Quellen erfasst. Die ausgewählten Schlagworte sind bewusst allgemein gehalten, damit aber auch nicht immer gleichwertig und trennscharf. Viele Quellen sind mehreren Schlagworten zugeordnet. Angegeben werden die Nummern der Quellen (siehe Inhalt S. V bis XI). Berufstätigkeit Bildung/Schule Familie Feste Frauen Friedhöfe Gedenken, Erinnerung Gemeinde, jüdische Judenfeindschaft Konflikte Organisationen, jüdische Politik Rechtliche Stellung Synagogen Tod Wirtschaft Wohnen
1, 2, 3, 6, 7a, 7b, 14, 37, 39, 47, 48, 49, 51, 57 7a, 30, 33, 38, 40, 47, 55, 57 2, 15, 29, 37, 58, 69 8, 12, 13, 25, 27, 29, 31, 53, 54, 81 5, 8, 10b, 40, 69, 74 10a, 10b, 28, 53, 72, 76 7b, 10a, 10b, 18, 21, 34, 53, 76, 77, 78, 79, 80 4, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 31, 32, 38, 54, 55, 60, 70, 71, 76, 81, 82, 83, 84, 85 17, 41, 42, 43, 46, 47, 48, 49, 50, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 72, 73 7a, 33, 35, 41, 42, 43, 46, 47,48, 51, 59, 60, 63, 67, 72, 73, 74, 75 7b, 10a, 27, 44, 45, 50, 52, 53, 55, 56, 57 1, 3, 4, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 26, 30, 43, 44, 45, 50, 60, 67, 70, 73, 74, 83 1, 2, 3, 4, 5, 6, 9a, 9b, 13, 14, 15, 16, 17, 19, 35, 37, 51, 62, 65, 66 11, 12, 13, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 32, 38, 46, 59, 73, 79, 81, 82 3, 7b, 10a, 10b, 28 2, 3, 4, 5, 6, 7a, 14, 38, 39, 56, 57, 61, 63, 64 9a, 11, 31, 62, 64, 75
Bildnachweis 1: Stadtarchiv Bonn 2: Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, Duisburg 3: Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, Duisburg 4: Stadtarchiv Krefeld 5: Stadtarchiv Solingen 6: Rheinisches Bildarchiv Köln 7: LVR-Zentrum für Medien und Bildung, Düsseldorf / Fotograf: Andreas Schiblon 8: Stadtbildstelle Essen 9: Archiv und Wiss. Bibliothek des Rhein-Sieg-Kreises, Siegburg 10: Stadtbildstelle Essen 11: Stadtarchiv Erftstadt 12a bis d: Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, Duisburg / Fotograf: Dr. Bert Sommer 13: LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland, Pulheim-Brauweiler /Fotografin: Silvia M. Wolf 14: LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland, Pulheim-Brauweiler /Fotografin: Silvia M. Wolf 15: Rheinisches Bildarchiv Köln 16: Rheinisches Bildarchiv Köln 17: Rheinisches Bildarchiv Köln 18: Rheinisches Bildarchiv Köln 19: Gemeindearchiv Nümbrecht