Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart: Band 4: Neuzeit 2 3534736419, 9783534736416


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German Pages 460 Year 2014

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Abkürzungen
Vorwort
I. Hauptstück: Die Aufklärung
1. Kapitel: Die Ausgangslage um 1700
1. Die gesellschaftliche Entwicklung
2. Das Lob der Moderne
3. Gedankenfreiheit
4. Sensualismus
2. Kapitel: Die Hauptströmungen der Aufklärung
1. Aufklärung als pädagogische Provinz
2. Enzyklopädie
3. Der Materialismus
3. Kapitel: Die Entdeckung der Geschichte
1. Vom göttlichen Heilsplan zur Weltgeschichte
2. Giambattista Vico
3. Erziehung und Selbstentfaltung
4. Kapitel: Moralität und Historizität
1. Individuelle Moral und gesellschaftlich Allgemeines
2. Antinomie von individueller Moralität und historischer Teleologie
3. Die Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit in der Kunst
II. Hauptstück: Die Wiederkehr des Irrationalen
1. Kapitel: Pascal
1. Esprit de géometrie und esprit de finesse
2. Pascals Bild des Menschen
3. Der unaufgehobene Widerspruch
2. Kapitel: Rousseau
1. Die Geburt der sentimentalischen Subjektivität
2. Dialektik als Zynismus
3. Dialektik der Geschichte
4. Europäische Wirkung
3. Kapitel: Gegen-Dialektik
1. Friedrich Heinrich Jacobi
2. Friedrich Schlegel
3. Friedrich Schleiermacher
III. Hauptstück: Kant. Dialektik als Logik des Scheins
1. Kapitel: Die Revolution der Denkart
1. Krise der Metaphysik?
2. Kant und Wolff
3. Kant und Hume
2. Kapitel: Von der Subjektivität der Wahrnehmung zur Objektivität des Begriffs
1. Die Anfangsbestimmungen der Kritik der reinen Vernunft
2. Der Begriff der Erfahrung als Synthesis
3. Konsequenzen des Urteils-Paradigmas
3. Kapitel: Das System der Verstandestätigkeiten
1. Die Architektur der Kritik der reinen Vernunft
2. Der Schematismus in zwei Bedeutungen
3. Die Welt als Erscheinung und Schein
4. Kapitel: Die Analogien der Erfahrung
1. Die Ordnung der Analogien und ihre Umkehrbarkeit
2. Phänomenalität und Zeit
3. Phaenomenon und Noumenon
5. Kapitel: Die Antinomien
IV. Hauptstück: Der transzendentale Idealismus
1. Kapitel: Das hypertrophe Ich Fichtes
1. Von Kants »ich denke« zum reinen Ich der Tathandlung
2. Der geheime Realismus in der Deduktion der Anschauung
3. Der Umschlag zur Mystik
2. Kapitel: Natur und schöpferischer Geist
1. Der Begriff der Natur in Schellings spekulativem System
2. Das spekulative Verhältnis von Natur und Freiheit
3. Sein und Offenbarung
3. Kapitel: Die zwei Linien des 19. Jahrhunderts
Namenregister
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Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart: Band 4: Neuzeit 2
 3534736419, 9783534736416

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Hans Heinz Holz

Dialektik Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart

Band IV Einheit und Widerspruch II. Pluralität und Einheit

Die DeutscheNationalbibliothek verzeichnet diese Publikation Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; in bibliografische der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Datensind im Internet über detaillierte bibliografische Daten sind im. Internet über http://dnb .d-nb.de abrufbar http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allenseinenTeilenurheberrechtlich geschützt. Das Verwertung Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede ist ohne Zustimmung des Verlagsunzulässig. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das giltinsbesondere für Vervielfältigungen , Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungin Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durchelektronische Systeme. und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Darmstadt Tl. Überarbeitete Neuausgabe des BandesBuchgesellschaft), "Einheitund Widerspruch Überarbeitete Neuausgabe des Bandes „Einheit Pluralität und Einheit " , 1998und Widerspruch II. Pluralität des undWerkes Einheit“, 1998durch Die Herausgabe wurde Die Herausgabe des der Werkes durch die Vereinsmitglieder WBGwurde ermöglicht. die Vereinsmitglieder der&WBG ermöglicht. Bumiller, Stuttgart Einbandgestaltung: Finken Einbandgestaltung: & Bumiller, Satz: FrankFinken I-lermenau, Kassel Stuttgart Satz: Frankund Hermenau, Kassel alterungsbeständigem Papier Gedrucktaufsäurefreiem Gedruckt auf säurefreiem alterungsbeständigem Papier in Germany Prinredund Printed in Germany www.wbg-wissenverbindet .de BesuchenSie uns im Internet: Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-23163-8 ISBN 978-3-534-23163-8 Elektronisch sind folgendeAusgabenerhältlich: Elektronisch folgende Ausgaben erhältlich: eBook sind (PDF): 978-3-534-71163-5 eBook(epub): (PDF):978-3-534-71164-2 978-3-534-71163-5 eBook

Inhalt

Abkürzungen Vorwort

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................................................................................................

8 9

I. Hauptstück: Die Aufklärung 1. Kapitel: Die Ausgangslage um 1700 ...................................... 13 1. Die gesellschaftliche Entwicklung .................................... 13 2. Das Lob der Moderne ....................................................... 27 3. Gedankenfreiheit ............................................................... 34 4. Sensualismus ....................................................................... 42 2. Kapitel: Die Hauptströmungen der Aufklärung .................. 53 1. Aufklärung als pädagogische Provinz .............................. 53 2. Enzyklopädie

.....................................................................

68

3. Der Materialismus ............................................................. 87 3. Kapitel: Die Entdeckung der Geschichte

.............................

1. Vom göttlichen Heilsplan zur Weltgeschichte 2. Giambattista Vico

................

.............................................................

3. Erziehung und Selbstentfaltung 4. Kapitel: Moralität und Historizität

.......................................

......................................

1. Individuelle Moral und gesellschaftlich Allgemeines

.....

104 104 114 120 131 131

2. Antinomie von individueller Moralität und historischer

Teleologie

...........................................................................

141

3. Die Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit

in der Kunst

.......................................................................

151

6

Inhalt

II. Hauptstück: Die Wiederkehr des Irrationalen 1 . Kapitel: Pascal

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1 . Esprit de geometrie und esprit de finesse 2. Pascals Bild des Menschen

„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„.

3. Der unaufgehobene Widerspruch 2. Kapitel: Rousseau

„„„„„„„„„„„„

„„„„„„„„„„„„„„„„„„

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1 . Die Geburt der sentimentalischen Subjektivität 2. Dialektik als Zynismus

3. Dialektik der Geschichte 4. Europäische Wirkung 3. Kapitel: Gegen-Dialektik

„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„

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1 . Friedrich HeinrichJacobi 2. Friedrich Schlegel

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3. Friedrich Schleiermacher

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1 61 1 61 1 68 1 83 1 91 1 91 1 99 204 209 21 7 21 7 224 239

III. Hauptstück: Kant. Dialektik als Logik des Scheins 1 . Kapitel: Die Revolution der Denkart ................................... 251 1 . Krise der Metaphysik? 2. Kant und Wolff 3. Kant und Hume



.................................................... 251

.................................................................

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257 265

2. Kapitel: Von der Subjektivität der Wahrnehmung

zur Objektivität des Begriffs

...........................................„„„

273

1 . Die Anfangsbestimmungen der Kritik der

reinen Vernunft ................................................................. 273 2. Der Begriff der Erfahrung als Synthesis



........................ 280

3. Konsequenzen des Urteils-Paradigmas ........................... 295 3. Kapitel: Das System der Verstandestätigkeiten

„„

............... 301

1 . Die Architektur der Kritik der reinen Vernunft 2. Der Schematismus in zwei Bedeutungen 3. Die Welt als Erscheinung und Schein

....... 301

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.................. 309

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31 4

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Inhalt 4. Kapitel: Die Analogien der Erfahrung

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1. Die Ordnung der Analogien und ihre Umkehrbarkeit 2. Phänomenalität und Zeit

3. Phaenomenon und Noumenon 5. Kapitel: Die Antinomien



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322 322 340 346 351

IV. Hauptstück: Der transzendentale Idealismus 1. Kapitel: Das hypertrophe Ich Fichtes

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367

1. Von Kants »ich denke« zum reinen Ich der Tathandlung 367 2. Der geheime Realismus in der Deduktion

der Anschauung

. . . . . . . . . . . . . . . . „„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„

3. Der Umschlag zur Mystik

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2. Kapitel: Natur und schöpferischer Geist

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376 390 400

1. Der Begriff der Natur in Schellings spekulativem

System

................................................................................

2. Das spekulative Verhältnis von Natur und Freiheit 3. Sein und Offenbarung

„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„

3. Kapitel: Die zwei Linien des 19. Jahrhunderts

Namenregister

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400 429 450 459 463

Abkürzungen

Die zitierten Ausgaben werden jeweils beim ersten Zitat in jedem Kapitel nachgewiesen. Die Orthographie älterer Ausgaben wird in den Zitaten beibehalten. Kants Schriften werden jeweils in der Paginierung des Originals zitiert, die in allen relevanten Kantausgaben vermerkt ist. Im Falle mehrerer Auflagen wird unterschieden nach A, B, C. Für die

der reinen Vernunft steht in der Regel das Kürzel KrV. Im Übrigen gelten folgende Abkürzungen: GW KA SW W

=

=

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=

Gesammelte Werke Kritische Ausgabe Sämtliche Werke Werke

Kritik

Vorwort

Auch für diesen zweiten Band der Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit gilt, wie für den vorhergehenden und den folgenden, dass es nicht die Absicht ist, Gesamteinschätzungen von Epochen oder Werken zu geben, sondern nur, die »Knotenlinien« (Hegel) heraus­ zuarbeiten, die für die Formulierung von Problemen der Dialektik wichtig sind. Die Formulierungen selbst werden mit philosophischer Stringenz immer erst dann ausgearbeitet, wenn sich die Widersprü­ che in Systemkonzepten als unversöhnbar erwiesen haben - so wie am Ende des 17. Jahrhunderts durch Leibniz oder an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert durch den deutschen Idealismus. Leibniz

reagierte mit einem spekulativen Entwurf auf die Aporien der Sys­ temmetaphysik der beginnenden Neuzeit. Der Widerspruch zwischen philosophischem Systemanspruch und zunehmender Partikularisie­ rung des Wissens, zwischen in der Vernunft begründeter Gattungs­ allgemeinheit der Menschheit und der im Empfinden und Verhalten sich manifestierenden Einzelheit der Individuen provozierte die spe­ kulative Dialektik von Fichte bis Hegel. Zwischen 1700 und 1781, dem Erscheinungsjahr der Kritik der reinen Vernunft, vollzieht sich der Prozess der Systemkritik und der Reorganisation des Erkennt­ nismaterials, aus dem Weltmodelle geformt werden. Mit Kant setzt die Wiederaufnahme systemkonstituierenden Philosophierens ein. Dieser Doppelbewegung wird unsere Darstellung in der Weise zu folgen haben, dass sie von Anfang an auch in der kritischen Zer­ setzung der klassischen Metaphysik schon die Motive herausschält, die dann im weiteren für die Neubegründung totalisierender Ent­ würfe bestimmend werden. Unter dem Gesichtspunkt der Problemgeschichte der Dialektik erweist sich das 18. Jahrhundert mithin als eine Periode des Über­ gangs. Die Ausgestaltung spekulativer Denkfiguren in den großen Systemen der Metaphysik von Descartes bis Leibniz hatte Modelle begrifflicher Integrationsstrategien für die Mannigfaltigkeit der Welt­ inhalte hervorgebracht, die gegenüber dem sich rasch vermehrenden

10

Vorwort

Wissen der Erfahrungswissenschaften nicht mehr griffig genug schie­ nen und zunächst durch die Rezeption der Fülle des Stoffs ersetzt wurden, die je nach Standpunkt und Erkenntnisinteresse gliedern­ den Verallgemeinerungen unterworfen wurde. Es entsteht nicht nur eine Pluralität von Weltkonzepten, sondern auch die Bereitschaft, einen Pluralismus der Konzepte zu akzeptieren, ja die Welt selbst als pluralistisches Gebilde von disparaten Elementen zu betrachten. Erst gegen Ende des Jahrhunderts strömen diese Tendenzen in der Sys­ temphilosophie der deutschen Klassik wieder zusammen. Aufs neue entstehen dann konstruktive Entwürfe des Ganzen, die unterein­ ander durch ein gemeinsames Prinzip der Einheitsstiftung verknüpft sind; wie von Descartes bis Leibniz dieses Prinzip die Idee des Sub­ stanz war, so ist es nun von Fichte bis Hegel die Idee des Geistes. Der Übergangscharakter des 18. Jahrhunderts bringt es mit sich, dass die chronologische Linearität der Darstellung, die der Ge­ schichtsschreibung eigen ist, nicht streng durchgehalten werden kann. Problemstränge laufen nebeneinander her, die nicht auf eine Linie in diachroner Folge gebracht werden können, sondern sich nun um Pro­ blemzentren schlingen, auf Vorausliegendes zurück- und auf Späteres vorgreifend. Die Komplexe Sensualismus - Materialismus - Enzy­ klopädistik, Entstehung des Geschichtsbewusstseins und geschichts­ philosophische Bedeutung der Kunst, Ausbildung einer irrationalis­ tischen Gegendialektik sind gleichzeitig aufscheinende Konstellationen am Sternhimmel der Ideen und treten auch ständig in Konjunktion. Dem trägt der Aufbau des Buches Rechnung. Er gleicht nicht so sehr einer Turmpagode mit sich übereinanderstapelnden Geschossen, als vielmehr einem Palaste mit mehreren Flügeln und zahlreichen Zimmern. Der Grundriss eines so weitläufigen Gebäudes wird aller­ dings hoffentlich sichtbar, wenn auch manche Räume verschlossen bleiben oder nur sparsam möbliert sind.

L Hauptstück: Die Aufklärung

1. Kapitel:

Die Ausgangslage um 1700

1. Die gesellschaftliche Entwicklung Nähme man die Lobpreisungen des »siede de Louis XIV « und den Fortschrittsoptimismus der französischen Aufklärungsphilosophen

140 Jahre zwischen dem West­ (1648) und der Französischen Revolution (1789),

als Maßstab für die Einschätzung der fälischen Frieden

so müsste man diese Epoche als eine Zeit wachsender Produktivität, steigenden Wohlstands und zunehmender Verbesserung der mensch­ lichen Lebensverhältnisse betrachten. In der Tat spricht man im Blick auf das spätere

17. und auf das 18. Jahrhundert vom »Aufstieg

des Bürgertums« bzw. der aufsteigenden bürgerlichen Gesellschaft; und das Wort insinuiert eher die Vorstellung einer positiven Wachs­ tumskurve als die Assoziation der Schwierigkeiten und Hindernisse bei einer extrem schwierigen Kletterpartie im Hochgebirge. Von Intellektuellen geprägt, spiegelt diese Fortschrittsideologie die Erfahrung der Erweiterung des wissenschaftlichen Wissens (dem erst relativ spät im

18. Jahrhundert nach etwa 1760 die technische Revo­

lution folgt) und, noch wichtiger, die damit verbundene Sprengung weltanschaulicher Fesseln der kirchlichen Zensur. Vergleicht man die Generationen von Galilei und Descartes mit denen von Malebranche und Leibniz, so ist das Ausmaß an geistiger Freiheit und Souverä­ nität des eigenen Denkens, das in wenigen Jahrzehnten gewonnen wurde, in der Tat erstaunlich (wenn wir auch am Schicksal Spinozas dessen Grenzen erkennen). Aber die Blüte intellektueller Kultur ist nur ein Aspekt der ge­ sellschaftlichen Wirklichkeit. Die Daten der Wirtschafts- und Sozial­ geschichte sprechen eine ganz andere Sprache;1 ganz zu schweigen

Einen eingehenden Überblick gibt Josef Kulischer, Al/gemeine Wirtschafts­ geschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Darmstadt 1958, Bd. II, knapper, aber übersichtlich die großen Linien herausarbeitend Hans Hausherr, Wirt­ schaftsgeschichte der Neuzeit, Weimar 1955.

14

Die Aufklärung

davon, dass Europa vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende des Sie­ benjährigen Kriegs, also fast anderthalb Jahrhunderte lang, ständig von Kriegen zwischen den Mächten erschüttert wurde, die einen großen Aderlass für den wirtschaftlichen Aufbau bedeuteten, weil für die Kriegführung die finanziellen Ressourcen der Länder drü­ ckend beansprucht wurden, wenn auch die Feldzüge immer nur Teil­ regionen berührten. Es scheint mir ein großer Mangel, der vielen Deutungen der Ideengeschichte aus politisch- oder sozial-histori­ scher Sicht anhaftet, dass sie realhistorische Veränderungen zu global aus einem Epochenverständnis heraus zur Begründung spezifischer ideengeschichtlicher Erscheinungen benutzen. Nehmen wir ein be­ sonders einleuchtendes Beispiel. In seiner Studie über die Aufklärung schreibt Lucien Goldmann: »Die Entwicklung der Tauschwirtschaft musste daher schon vom 13. Jahrhundert an eine fortschreitende Veränderung im Denken der westeuropäischen Menschen hervorru­ fen. Das scheint die soziologische Grundlage der beiden großen Weltanschauungen zu sein, die dieses Denken bis Pascal und Kant und länger - neben den tragischen, dialektischen und romantischen Weltanschauungen - charakterisieren und beherrschen: Rationalis­ mus und Empirismus, deren Synthese die französische Aufklärung war.«2 In dieser Allgemeinheit ist das sicher nicht falsch, sagt aber gerade nichts über die Spezifik der beiden von Goldmann genannten und doch voneinander sehr verschiedenen Beispielsfälle Pascal und Kant. Zudem hat sich der Charakter des Warentauschs zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert so stark verändert - z.B. durch die Ausbil­

dung transregionaler Marktbeziehungen in großem Maßstab, durch die wachsende Bedeutung von Geldgeschäften, durch den Kolonia­ lismus - dass unter dem Individualismus eines Petrarca und dem eines Voltaire nicht einfach übereinstimmende Strukturen vermutet wer­ den dürfen; und wenn sie sich finden sollten, so müssten die Ursache und die Form dieser Übereinstimmung genau begründet werden. All­ gemeine Epochenformeln verdecken eher den Blick auf die determi­ nierenden Faktoren des historisch Besonderen, auch wenn sie für

2

Lucien Goldmann, Der christliche Bürger und die Aufklärung, Neuwied/ Berlin 1968, S. 22. In seinen Studien zu Pascal und zum Jansenismus ist Goldmann dann viel differenzierter. Es ist indessen charakteristisch, dass ein globaler Epochenbegriff wie Aufklärung zu solchen im Grunde nichtssagen­ den Allgemeinheiten verleitet. Das gilt z. B. auch für den ersten Teil von Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1969, unter dem Titel »Der Begriff der Aufklärung.«

Ausgangslage um 1700

15

einen Begriff vom Kontinuum der Geschichte unentbehrlich sind nur eben vorsichtig und differenzierend gehandhabt werden müssen. Blicken wir auf die Kernlande der europäischen Aufklärung England, Frankreich, die Niederlande und mit etwas Verspätung Deutschland - so stellen wir sehr unterschiedliche gesellschaftliche Ausgangsbedingungen und Entwicklungen fest. Am frühesten hatten sich die Niederlande aus dem System spätmittelalterlicher Feudal­ verhältnisse gelöst. Auf der Grundlage eines blühenden Handels und einer handwerklichen Kultur gab es eine breite Schicht städtischen Bürgertums;3 aber auch die Intensivierung der Landwirtschaft durch den Übergang zu abwechselnder Bestellung mit Getreide- und Fut­ terpflanzen, die die Dreifelderwirtschaft mit jeweils einem Drittel Brachland ablöste, trug zu steigender Produktivität und Wohlstand bei. So wurden die Niederlande früh zu einem Zentrum auch der neuen Wissenschaften;4 dank ihrer liberalen Publikationspraxis wur­ den die wissenschaftlichen und weltanschaulichen Diskussionen der Zeit in niederländischen Verlagshäusern geführt.5 Die Blüte der Nie­ derlande begann erst mit dem Aufstieg der englischen Konkurrenz im Überseehandel zu welken - und in diesem Sinne war die Be­ rufung Wilhelms von Oranien auf den englischen Thron 1688 und die damit verbundene endgültige Beilegung der lähmenden Streitig­ keiten zwischen Hof und Parlament, zwischen den Ständen und Klassen und zwischen den Konfessionen zwar ein augenblicklicher Erfolg der niederländischen Position in Europa, langfristig aber eher eine Schädigung zugunsten des Nachbarn jenseits des Kanals. England hatte unter den in einem Bürgerkrieg endenden Ausein­ andersetzungen zwischen den Stuart-Königen und den Ständen wäh-

3

Johan Huizinga, Holländische Kultur im 17. Jahrhundert, Frankfurt am Main

1977. 4

Ein Zentrum naturwissenschaftlicher Forschung war die 1575 gegründete Universität Leiden, zum ersten Mittelpunkt des Cartesianismus wurde gleich nach ihrer Gründung 1636 die Universität Utrecht, im Norden stand die

1614 gegründete Universität Groningen in der Tradition des Humanismus eines Rodolphus Agricola, die von Ubbo Emmius und Martinus Schoock in die Universitätsneugründung eingebracht wurde. Vgl. dazu Arjo Vonderjagt, Rodolphus Agricola Groningensis, Allgemeene Tijdschrift voor Wijsbegeerte, Jg. 77/4, 1985, S. 209 ff. - Ders., Filosofie tussen humanisme en eclecticisme, in: G. van Gemert e.a. (Hg.), Om niet aan onwetendheid en barbarij to be­ zwijken. Groningse geleerden 1614-1989, Hilversum 1989, S. 30 ff.

5

Siehe z.B. T heo Verbeek, Descartes and the Dutch, Carbondale and Ed­ wardsville 1992.

16

Die Aufklärung

rend eines halben Jahrhunderts zu leiden. Volkswirtschaftlich führten die Übergriffe des Adels und der großgrundbesitzenden Bauern auf das Gemeindeeigentum (die sog. Einhegungen) zu einer fortschrei­ tenden Verarmung der Kleinbauern und kleinen Pächter, die ihre Güter nur unter Rückgriff auf die Gemeinrechte (z. B. das Weide­ recht auf Gemeindeland) rentabel bewirtschaften konnten. Die Aus­ dehnung der Schafzucht auf Kosten des Ackerbaus machte die An­ stellung von Tagelöhnern in großem Umfang überflüssig" und trieb diese ins Elend bzw. zur Abwanderung in die Städte, wo sie eine billige Reservearmee für die Wollindustrie bildeten, die ihrerseits an der Ausdehnung der Schafweiden interessiert war. »Die englische Wollindustrie war(...) im 17.-18. Jahrhundert über ganz England ver­ breitet.(...) Ihre Hauptstätten waren die Grafschaften Yorkshire(mit den Mittelpunkten Leeds und Halifax), Norfolk, dessen Zentrum Norwich war, und der südöstliche Teil Englands. In jedem dieser Bezirke war wiederum dieses Gewerbe über ein Unzahl von Dör­ fern, Weilern und Flecken zerstreut.(...)Die produzierten Rohzeuge wurden in den Marktflecken an Verleger abgesetzt, die sie daraufhin zur Veredelung weitergaben. Häufig gehörte auch die Rohwolle dem Verleger und wurde von ihm anDorfmeister ausgegeben, wodurch die Abhängigkeit des Meisters dem Verleger gegenüber weit drückender wurde. Besonders seit Ende des 17. Jahrhunderts waren sowohl die Wolle, als auch das Garn, der Webstuhl, die Walkmühle Eigentum des Verlegers.«7 Wir dürfen uns also den Industrialisierungsprozess und auch die technische Perfektion der englischen Wollproduktion um 1700 nicht zu weit entwickelt denken. Im wesentlichen herrschte das Verlagssystem; die hohen Gewinne, die aus England im 18. Jahr­ hundert dann eines der reichen Länder Europas machten und ihm erlaubten, Außenpolitik durch finanzielle Subsidien an kriegführende Staaten zu betreiben, wurden in der Kombination von vorindust­ rieller Produktion, Handel und Kolonialexpansion erwirtschaftet.8

6

J. Kulischer, a. a. 0., S. 66: »Wo früher 30, 40, ja 50 Tagelöhner beschäftigt

7

Kulischer, a. a. 0., S. 166.

8

H. Hausherr, a. a. 0., S. 219 verweist auf die zeitgenössische Literatur: Thomas

waren, finden sich nunmehr 3 bis 4.«

Mun, England's Treasure by Foreign Trade, London 1664 (geschrieben 1630), Josiah Child, Discourse upon Trade, London 1668, und The New Discourse of Trade, London 1690. Charles Davenant, An Essay on the Probable Methods of Making a People Gainers in the Balance of Trade, London 1699 ( Bd. II, London 1771).

=

Works,

Ausgangslage um 1700

17

»Jedenfalls war und blieb die Herstellung und der Export von Woll­ tuchen für die gesamte Epoche des Merkantilismus die eigentliche Quelle des englischen Reichtums. Nicht umsonst saß der Lordkanz­ ler im Oberhaus auf dem Wollsack. Um 1700 entfiel fast die Hälfte des gesamten englischen Exports auf Wolltuche. Von ihm hing der Beschäftigungsgrad der Masse der Bevölkerung ebenso ab wie der Wohlstand der Kaufleute.«9 Natürlich gab es Interessengegensätze zwischen den Gutsbesitzern und den städtischen Unternehmern, insbesondere den Überseehan­ delsgesellschaften (deren größte die berühmte East India Company war). »Der Gegensatz zwischen dem Landinteresse, von dem immer noch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung abhing, und dem Geld- und Gewerbeinteresse war durch den Zusammenhang von Landwirtschaft, Handel und Gewerbe innerhalb der englischen Ober­ schicht keineswegs beseitigt, stellte er sich doch auch in dem Ge­ gensatz zwischen den großen Parlamentsparteien dar.«10 Aber es kam im ganzen doch zur Ausbildung einer Volkswirtschaft, deren Teile organisch ineinandergriffen - wenn auch auf Kosten der besitzlosen Schichten, die in großer Armut verharrten, obschon der Reichtum der Nation kontinuierlich zunahm. Aber diese Schichten waren eben auch politisch entrechtet, da die W ählbarkeit ins Parlament an einen beachtlichen Einkommenstand geknüpft war.11 Die Klassenkompro­ misse zwischen Adel, Gutsbesitzern und Gewerbebürgertum, die Deklassierung der Mittel- und Kleinbauern und die Entmachtung der plebejischen Schichten unter der Diktatur von Cromwell waren bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts bereits so weit gediehen, dass die theoretische Reflexion der gesellschaftlichen Widersprüche bei Thomas Hobbes als Gegenstand der Philosophie und Gesellschafts­ theorie von einer Ideologie des harmonischen Gleichgewichts ver­ drängt werden konnte, die dann von John Locke bis zu Adam Smith

9

H. Hausherr, a. a. 0., S. 246.

10 Ebd., S. 248. 11 Die Missstände beim Wahlverfahren - Stimmenkauf, Übertölpelung der poli­ tisch gleichgültigen, weil einflusslosen unteren Volksschichten, Wahlgeschenke und die das Volk drückenden Lasten hat William Hogarth in seinem Zyklus »The Election Series« von 1755 bildlich dargestellt. In Literatur und Bild­ kunst Englands hat sich eine spontane Dialektik erhalten, die der englischen Philosophie im 18. Jahrhundert verloren gegangen ist.

18

Die Aufklärung

das Grundmuster englischen common-sense-Denkens entwarf.12 So ist es nicht erstaunlich, dass die angelsächsische Philosophie nach Hobbes keine wesentlichen Beiträge mehr zur Ausarbeitung dialek­ tischer Probleme lieferte. Ganz anders stellt sich die Situation in Frankreich dar. Unter der Regierung der beiden großen Kardinäle Richelieu und Mazarin hatte eine Zentrierung der politischen Macht beim Königtum stattge­ funden, der Feudaladel war als noblesse d'epee in den Dienst der mi­ litärischen Expansion des Staates - beginnend mit dem Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg auf Seiten des protestantischen Schweden und endend mit der Eindämmung der französischen Hegemonie durch die englisch-habsburgisch-niederländische Koalition im spanischen Erbfolgekrieg - gestellt und so vom Königtum abhängig gemacht worden. Für die administrative Ausübung der Staatsmacht stützte sich der Hof auf eine neue Schicht, den von ihm aus dem reichen Bürgertum durch Ämterverkauf geschaffenen Amtsadel (noblesse de robe), dessen natürliche Konkurrenz zum alten Erbadel dem König die Möglichkeit gab, die beiden Träger der weltlichen Gewalt in einem Gleichgewichtsakt gegeneinander auszuspielen. Der monarchische Absolutismus hatte so von Anfang an in Frankreich eine stärkere Stellung als in England, wo der König kräfteverzehrende Auseinan­ dersetzungen mit dem Parlament durchzustehen hatte. Die Entwicklung des Frühkapitalismus vollzog sich in Frankreich auf eine bemerkenswert at ypische Weise. W ährend im 16. und frü­ hen 17. Jahrhundert die französische Überseeschifffahrt, insbeson­ dere in spanischen Auftragsgeschäften, beträchtliche Gewinne ins Land brachte und die französischen Verkehrswege, die eine günstige Verbindung zwischen Nordsee und Mittelmeer darstellten, die Basis für einen lukrativen Transithandel abgaben, dessen Hauptumschlag­ plätze die großen Messen von Flandern über Lyon bis Avignon waren, blieb die industrielle Eigenproduktion auf wenige Zweige beschränkt: die Lyoner Seidenherstellung - meist im Verlagswesen betrieben -, flandrische Tuche und vor allem Luxusgüter: Möbel, Juwelierwaren, Parfümerie, Tapisserie, Uhren waren die hauptsächlichen Exportar­ tikel. Colberts Versuche, Kapitalinvestitionen zum Aufbau von Manu­ fakturbetrieben zu ermuntern und durch staatliche Kreditbeihilfen zu fördern, scheiterte letztlich an dem dauernden Finanzbedarf des

12

Vgl. hierzu die gesammelten Studien von Hermann Klenner zur englischen Phi­ losophie des 17. und 18. Jahrhunderts, Dialectica minora, Bd. 13, Köln 1998.

Ausgangslage um 1700

19

Staates infolge seiner Kriegspolitik. Da die Steuereinnahmen nie aus­ reichten, war die königliche Regierung genötigt, die Einnahmen aus dem Ämterverkauf zu steigern, und große Geldsummen flossen aus reich gewordenen Bürgerhaushalten in die Staatskasse, um so den sozialen Aufstieg in die noblesse de robe zu erlangen. Diese Gelder wurden aber der Reinvestition entzogen. In gleicher Weise wirkte sich die Möglichkeit aus, den Adel durch Aufkauf titularberechtigter Güter verschuldeter Seigneurs zu erwerben. Besonders verhängnis­ voll war schließlich der Brauch der Regierung, gegen sofortige Bar­ zahlung das Recht auf Steuerhebung künftiger Jahre bezirksweise zu verpachten, die reichen Bürger, die durch solche Geschäfte Steuer­ pächter wurden, hatten die Möglichkeit, die ihnen überlassenen Ge­ biete bis aufs äußerste auszupressen, was in besonderem Maße die Landbevölkerung treffen musste. Hans Hausherr fasst diesen Zustand so zusammen: »Der Aufstieg des französischen Absolutismus war mit einer ausgreifenden und kostspieligen Außenpolitik Hand in Hand gegangen. Die Kosten dafür konnten eigentlich niemals aus bereiten Steuermitteln gedeckt werden, so daß private Kapitalisten als Staats­ gläubiger und Steuerpächter in die Bresche springen mußten. Die gesamten indirekten Steuern kamen in die Hand solcher Konsortien, die ganze Heere von Angestellten für die Eintreibung unterhiel­ ten.

(„.) In Frankreich gab es ein besonderes System des Ämterkaufs,

das dem Inhaber dieser Ämter Steuerfreiheit sicherte. Die gesamte Magistratur der Parlamente saß auf solchen gekauften Sesseln.

(„.)

Soweit Interessengruppen von Kapitalisten den französischen Staat beherrschten, waren es die Staatsgläubiger, die Steuerpächter und Amtsinhaber, während das gewerbliche und das Handelskapital vom Staat hochgezüchtet werden mußten.«13 Es kann also nicht davon gesprochen werden, dass Frankreich im »siede de Louis XIV« einen wirklichen Übergang zur manufaktu­ riellen Wirtschaft vornahm. Natürlich gab es vereinzelt große Ma­ nufakturbetriebe; genannt wird immer das Beispiel der Tuchmanu­ faktur Van Robais in Abbeville, die von Colbert begründet worden war und die um 1720 etwa Tausend Spinnerinnen in ihrem Fabrik­ areal beschäftigte - aber Savarys Dictionnaire uni·versel de commerce von 1726 bekundet, es gäbe in Frankreich kein zweites Unternehmen dieser Art. Eine weitere vergleichbare Manufaktur kommt erst in der

13

H. Hausherr, a. a. 0„ S. 256 f.

20

Die Aufklärung

zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hinzu: die Seidenfabrik von Vau­ casson, die auch noch als etwas Außergewöhnliches angesehen wurde.14 Die piece de resistance des französischen Nationalwohlstands war auch noch im ganzen 18. Jahrhundert die Landwirtschaft, und es ist darum auch nicht so erstaunlich, dass die Physiokraten den Grund­ besitz als beste Anlage von Geldvermögen empfohlen (und dies auch selbst praktiziert) haben. Ausgedehnte Land- und Weingüter galten als eine solide Grundlage auch für das städtische und höfische Leben. Allerdings, »der französische Adel legte kein Interesse für die Selbst­ bewirtschaftung seiner Güter an den Tag. Sie wurden von ihm an die Bauern in Pacht ausgetan«,15 und das gleiche gilt für das wohlha­ bende Bürgertum. So führte das Aufkaufen von Land zu einem Sys­ tem von Pacht- und Unterpachtverhältnissen und zur Überführung der Landwirtschaft in ein kapitalistisches Ausbeutungssystem, des­ sen Vehikel die Grundrente war, sodass die juridisch fortgeltende Feudalverfassung »nunmehr ausschließlich auf einem fiskalischen Prinzip beruhte. Auf diesem Prinzip war auch das Verhältnis der Seigneure zu der letzten, der niedersten Stufe der feudalen Stufen­ leiter aufgebaut, zu den zinspflichtigen Hintersassen. Es waren dies in der Mehrzahl Bauern, doch gab es unter den Zinsleuten auch ade­ lige Aftervasallen, sowie Bürger und Geistliche, welchen, ebenso wie den Bauern und unter denselben Voraussetzungen, verschiedene Ab­ gaben und Dienstleistungen auferlegt waren.«16 Das mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass auch Teile des Adels 1789 zu Trä­ gern der revolutionären Bewegung wurden. So ist der Bevölkerungs­ anstieg Frankreichs zwischen 1600 und 1670 von sechzehn Millionen auf vierundzwanzig Millionen wesentlich auch durch die Intensivie­ rung der Landwirtschaft mitbedingt, welche bessere Lebensverhält­ nisse auf dem Lande zur Folge hatte, während die Auspowerung durch Steuern, Abgaben, Pachten, Dienstleistungen usw. nach 1670 zu einem Bevölkerungsrückgang führte und durch zahlreiche Berichte über die Not auf dem Lande belegt ist. Es brauchte dann ein halbes Jahrhundert, bis 1789 bei Ausbruch der Französischen Revolution Frankreich wieder eine Einwohnerzahl von etwa fünfundzwanzig Millionen erreichte, was dann auch das allmähliche Aufblühen eines über das ganze Land verbreiteten, aber meist nur lokal bedeutenden

14 J. Kulischer, 15

Ebd.

16

Ebd„ S. 80.

a. a.

0„ S. 157.

Ausgangslage um 1700

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Kleingewerbes mit sich brachte (worüber die Encyclopedie reichlich Auskunft gibt). »Jetzt wirkte sich die Steigerung des europäischen Luxus für Frankreich voll aus; in allen Modewaren, Möbeln, Spiri­ tuosen und Weinen behielt es die führende Stellung und konnte sie für seinen Export nutzen. Das Volumen des Außenhandels überstieg kurz vor der Revolution das jeden anderen Landes.«17 Der Blick auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Frank­ reichs im 18. Jahrhundert darf schließlich die Auswirkungen der Hugenottenvertreibung nicht vergessen. Das Edikt von N antes 1598 hatte die Religionsstreitigkeiten, so schien es, endgültig begraben. Die protestantischen Hugenotten erhielten Gewissensfreiheit, örtlich begrenzte Kultfreiheit, Zulassung zu allen Ämtern und das Recht, in rund hundert sog. »Sicherheitsplätzen« Garnisonen auf Staatskosten zu unterhalten. Ihrer Treue konnte der König umso mehr gewiss sein, als die äußeren Feinde Frankreichs, Spanien und Habsburg-Öster­ reich, die militanten politischen Vorkämpfer der Gegenreformation waren. Auch die Minister-Kardinäle Richelieu und Mazarin tasteten den Religionsfrieden nicht an, ja Richelieu ergriff im dreißigjährigen Krieg sogar Partei für die protestantischen Schweden gegen den ka­ tholischen Kaiser. Die Hugenotten erwiesen sich als »genau so loyale Untertanen wie die Katholiken; die reformierten Prediger vertraten die T hese des Gottesgnadentums nicht weniger eifrig und überzeugt als ihre katholischen Kollegen.«18 Dass Louis XIV. 1685 das Edikt von Nantes unter dem Einfluss der Jesuiten aufhob, war weder innen­ noch außenpolitisch sinnvoll. »Für Frankreich hatte der Rückfall in die konfessionelle Unduldsamkeit überaus peinliche Folgen sowohl in wirtschaftlicher wie in politischer Hinsicht. Denn die >Refugies< rekrutierten sich gerade aus den Schichten, die ökonomisch am reg­ samsten und infolgedessen am geeignetsten waren, die Pläne Col­ berts verwirklichen zu helfen.«1'' Die Abwanderung der Hugenotten bedeuteten einen nur schwer zu verkraftenden Verlust an hochqua­ lifizierten Kräften und an Vermögenswerten und in einem damit eine Stärkung jener Länder, die die Flüchtlinge aufnahmen und ihnen angemessene Wirkungsfelder boten. »Nicht bloß eingewanderte (pro­ testantische) Handwerker waren gegangen, sondern auch viele ein­ heimische; ihnen folgten die hugenottischen Unternehmer, nachdem

17 H. Hausherr, a. a. 0., S. 258. 18 Peter Richard Rahden, Französische Geschichte, Leipzig 1943, S. 98. 19

Ebd., S. 99 f.

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Die Aufklärung

sie ihre Kapitalien ins Ausland geschafft hatten. Das war ein dop­ pelter Verlust. ( ) Es gewannen die Konkurrenten und Feinde Frank­ „.

reichs, die die Hugenotten mit offenen Armen aufnahmen und mit ihnen das eigene Gewerbe stärkten, besonders Holland, England und Brandenburg.«20 Dieser ökonomische und politische Rückschlag, den Frankreich nach 1685 erlitt und zu dem noch der Bankrott der von dem Schot­ ten John Law ins Lebens gerufenen und vom Staat begünstigten Spe­ kulationsunternehmen kam (1720),21 bei dem weite Kreise große Vermögenswerte einbüßten, hatte nachhaltige Folgen, die über eine Generation andauerten. »Frankreich war verarmt, das Geldwesen zer­ rüttet, die Barmittel des Staates wie der Privaten erschöpft, die Wirt­ schaft stagnierte, weil jeder Unternehmungsgeist fehlte.«22 In den ideologischen Auseinandersetzungen der Frühaufklärung spielen wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden - diese langwährenden Krisenerscheinungen erstaunlicherweise überhaupt keine Rolle. Bei ihnen - gleichgültig aus welcher literarischen Fraktion sie stammen erscheint Frankreich als das Paradigma des Fortschritts und der kul­ turellen Vervollkommnung der Menschheit. Gegenüber seinen westlichen Nachbarländern blieb das Deutsche Reich, obwohl der volksreichste Staat Europas, in der ökonomi­ schen Entwicklung im Rückstand. Nicht einmal so sehr wegen eines Vorlaufs der westlichen Staaten England, Frankreich, Niederlande im Entwicklungsstand der Produktionsmittel, sondern vor allem wegen der politischen Zersplitterung in hunderte von selbständigen und gegeneinander wirkenden Kleinstaaten, die die einem zentral regierten Großstaat zugute kommenden Impulse der dynastischen Politik eines absolutistischen Monarchen in den Nachteil wechsel­ seitiger Schädigung und Lähmung verkehrten. Konnte Louis XIV. mit einigem Recht sagen »l'etat c'est moi« - so musste ein solcher Anspruch zum Beispiel im Munde eines Landgrafen von Hessen­ Kassel wie eine Karikatur wirken. Das Elend des Deutschen Reichs spiegelt sich schon in den po­ litischen Denkschriften, die Leibniz während seiner Tätigkeit im Dienste des Erzbischofs von Mainz, des Kanzlers des Reichs, und auch später verfasste. Und an den von ihm geschilderten Übel-

20

H. Hausherr, a. a. 0„ S. 257.

21

Ebd„ S. 196 f.

22

Ebd„ S. 196.

Ausgangslage um 1700

23

ständen änderte sich auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wemg. Das Deutsche Reich war als ein lockerer Verband vor Klein- und Mittelstaaten - zeitweilig etwa zweitausend selbständige Reichs­ stände! - aus dem Westfälischen Frieden (1648) hervorgegangen; die Reichseinheit war nur noch symbolisch durch den »Supremat« des Kaisers und einige Bundesinstanzen (Reichstag, Reichskammerge­ richt, Reichshofrat) gewahrt, im übrigen war allen Reichsständen nach Art. VIII § 1 des Vertrags von Münster die landesherrliche Souveränität zugestanden; sie sollen »in freier Ausübung der Lands­ hoheit in kirchlichen wie weltlichen Dingen in ihren Vollmachten und Hoheitsrechten und im Besitz all dieser Dinge kraft dieses Ver­ trages so bestätigt und gesichert sein, daß sie von niemandem jemals unter irgend einem Vorwand tatsächlich gestört werden können oder dürfen.« Und diese Souveränität war sogar auf das Recht zu selbständiger, wenn auch nicht reichsfeindlicher, Außenpolitik ausgedehnt (§ 2): »Vor allem aber sollen alle Reichsstände das Recht haben, unter sich und mit auswärtigen Staaten Bündnisse zu schließen zu ihrer Erhal­ tung und Sicherung, jedoch derart, daß solche Bündnisse sich nicht gegen Kaiser und Reich und den Reichsfrieden oder vor allem gegen diesen Vertrag richten, und in allem vorbehaltlich des Eides, wodurch jeder dem Kaiser und dem Reiche verpflichtet ist.« Es liegt auf der Hand, dass unter den Bedingungen solcher poli­ tischer Zersplitterung und territorialer Aufspaltung in zahllose kleine Staatsgebilde mit auseinanderstrebenden Interessen sich ein kulturel­ les Zentrum nicht ausbilden konnte. Wer in Deutschland sich der Wissenschaft oder Literatur widmete, hatte kein staatlich initiiertes und gefördertes Institut, wie die 1635 von Richelieu gegründete Aca­ demie frarn;:aise oder die 1660 von Karl II. bestätigte Royal Society, sondern musste sich in individuellen Kontakten den Kreis von Korrespondenzpartnern schaffen, dessen er zur Kritik und Förde­ rung seiner eigenen Forschung bedurfte. Aus dieser Erfahrung hat Leibniz zeit seines Lebens an der Errichtung von wissenschaft­ lichen Zentren gearbeitet, die das geistige Leben der Nation orga­ nisieren und für den gesellschaftlichen Fortschritt nutzbar machen sollten. Schon als Dreiundzwanzigjähriger hat er 1669 den Entwurf zu einer »Philadelphischen Gesellschaft« ausgearbeitet, in dem es u. a. heißt:

24

Die Aufklärung

»Es werden die Künste und Wissenschaften vermehrt werden durch eine allgemeine Korrespondenz, so umfassend sie nur sein kann, sowie durch sorgfältigste Vertiefung in die Natur der Dinge. Beides, die Erfindung selbst wie auch das Eingießen der Erfin­ dung in die Geiste, kann sowohl durch einzelne geschehen wie auch durch die gemeinschaftlichen Bemühungen einer weit ausgedehnten Sozietät. Es ist jedoch offensichtlich, dass bei weitem mehr mit größerem Nutzeffekt durch die Sozietät erreicht werden kann als durch die Mühe einzelner, die untereinander unverbunden sind und gleichsam auf einer Rennbahn ohne Ziel keuchen.« Deutschland könne, so meinte Leibniz zwei Jahre später in dem

Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät in Deutsch­ land zu Aufnehmen der Künste und Wissenschaften (1671), durch die Konzentration und Förderung der Wissenschaften auch den tech­ nisch-wirtschaftlichen Rückstand gegenüber seinen großen Nach­ barländern aufholen, weil durch eine Akademie »Manufakturen darin zu stiften und per consequens Kommerzien dahin zu ziehen

( ) ein „.

,

sicher Banko zu formieren, in Kompagnien zu treten, bei den for­ mierten Aktien zu erhandeln, die Deutschen zur Handlung zur See aufzumuntern

( ) die Schulen zu verbessern ( ) die Handwerke mit „.

,

„.

,

Vorteilen und Instrumenten zu erleichtern« seien.21 Solche Pläne finden aber noch dreißig Jahre lang kein Gehör bei den Fürsten; erst die Königin Sophie Charlotte von Preußen, die als hannoversche Prinzessin die Schülerin von Leibniz und später stets seine Gönnerin und Vertraute gewesen ist, ermöglichte ihrem großen Freund und Lehrer die Gründung der kurbrandenburgischen Sozietät der Wis­ senschaften zu Berlin, der späteren Preußischen Akademie der Wis­ senschaften

(1700).

Sicher waren es die Folgen des Dreißigjährigen Krieges gewesen, die die »deutsche Misere« verstärkt und die Rückständigkeit des Lan­ des besiegelt hatten. Die Anfänge aber reichen schon weiter zurück. In seiner brillanten Darstellung der Lage Europas um

23

1618

-

also vor

Zu seinen Projekten bemerkt Leibniz allerdings illusionslos: »Aber leider ge­ het es mit uns in Manufakturen, Kommerzien, Mitteln, Miliz, Justiz, Regie­ rungsform mehr und mehr zum schlechten, da dann kein Wunder, dass auch Wissenschaften und Künste zu Boden gehen.« Gottfried Wilhelm Leibniz, Politische Schriften, hg. von Hans Heinz Holz, Frankfurt am Main/Wien 1966, Bd. II, S. 51.

Ausgangslage um 1700

25

dem Ausbruch des Krieges - hat Golo Mann das zerfallende Deutsche Reich trefflich charakterisiert: »Es war ein Chaos sich bekämpfender, durchkreuzender, an ein­ ander vorbeizielender Willenszentren, wenn der Wille überhaupt ein Zentrum hatte und wußte, was ihm noch zu wollen übrig blieb.«24 Zunftschranken in den selbständigen Städten hinderten die Entwick­ lung des Gewerbes, Zoll- und Handelsschranken erschwerten den Warenverkehr und lenkten den internationalen Transfer auf andere Wege, hohe Abgaben an die geldbedürftigen Territorialherren ver­ minderten das Investitionskapital, die konfessionelle Spaltung ver­ tiefte die Gräben zwischen den einzelnen deutschen Ländern; so konnte ein aufstrebendes Gewerbebürgertum kaum entstehen, und der Adel hielt an seinen Vorrechten und an der Ausnutzung des Grundeigentums fest, mit wachsendem, am Standard der entwickel­ teren Nachbarländer orientiertem Luxusbedürfnis und immer stär­ kerer Ausbeutung und Bedrückung der Bauern. Der Krieg allerdings vernichtete dann jede Möglichkeit, aus der Entwicklung in den Nachbarstaaten zu lernen, Gewinn zu ziehen und den Rückstand aufzuholen. Die Feldzüge der dreißig Jahre fan­ den ja in Mitteleuropa statt, die Heere plünderten das Land aus, die dauernden Kontributionen zur Aufstellung neuer Heere ließen die Städte und kleineren Staaten verarmen. Wo Zahlen vorliegen, weisen sie übereinstimmend während der Kriegsjahre einen Bevölkerungs­ rückgang auf ein Drittel der ursprünglichen Einwohnerzahl, eine Ver­ mögensschrumpfung auf ebenfalls ein Drittel und die Verminderung der Handwerksbetriebe und Produktionsstätten im gleichen Um­ fang aus. Es brauchte zwei Generationen, das heißt bis zum Ende des Jahrhunderts, bis der Vorkriegsstand wieder erreicht war. Auch wenn der ökonomische Niedergang Deutschlands durch den Krieg nicht ausgelöst, sondern nur verstärkt wurde, so blieb doch das Kriegstrauma über lange Zeit ein Moment der deutschen Be­ wusstseinslage und hatte Konsequenzen für die Problemstellungen der deutschen Philosophie bis hin zu Immanuel Kants Schrift Vom ewigen Frieden (1795).25

24

Golo Mann, Das Zeitalter des dreißigjährigen Krieges, in: Golo Mann/ Alfred Heuss (Hg.), Propyläen-Weltgeschichte, Bd. V II, Frankfurt am Main/Berlin 1964, Taschenbuchausgabe 1976, S. 146.

25

Leibniz' philosophisches, religionspolitisches und staatspolitisches Bemühen kann ganz unter diesem Gesichtspunkt verstanden werden. Vgl. Hans Heinz

26

Die Aufklärung

Und ähnlich hatte ja auch in Frankreich der Abbe de Saint Pierre auf die Folge von Kriegen, die Louis XIV. führte, mit dem Konzept einer Friedensordnung reagiert, die durch einen europäischen Staaten­ bund gesichert sein sollte.26 In dieser wie in fast jeder Hinsicht folgte die deutsche Aufklärung den Gedankenmustern, die von der franzö­ sischen vorgegeben waren.27 Während sich in England und Frankreich aus den Krisen des frühbürgerlichen Absolutismus die Bedingungen herausschälten, die die technische Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur als eine sprunghafte Erweiterung der Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern auch als deren produktive öko­ nomische Nutzung ermöglichten, geriet Deutschland infolge seiner politischen Zersplitterung in immer größeren Rückstand, obwohl es durchaus am Wissensfortschritt der Zeit teilhatte. Das Nebeneinan­ der von intellektuellem Fortschritt und ökonomischem Zurückblei­ ben wird bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Charakte­ ristikum der deutschen Verhältnisse.28 Immerhin lassen sich gesamteuropäisch die Zustände um 1700 nicht gerade als Inbegriff des commune bonum darstellen. Kriege,

Holz, Leibniz, eine Monographie, Leipzig 1983; derselbe: Leibniz und Euro­ pa, Festvortrag am Leibniz-Tag der Leibniz-Sozietät 1996, Sitzungsberichte der Leibniz-Soziatät Es gibt zahlreiche politische und juristische Memoran­ den von Leibniz zu einer europäischen Friedensordnung, aber auch Nieder­ schriften, die den inneren sozialen Frieden zum Ziel haben; viel Zeit und Arbeit hat er in seine Anstrengungen zur Herstellung des konfessionellen Friedens, letztlich mit dem Ziel der Wiedervereinigung der Konfessionen in­ vestiert; und das philosophische Konzept einer Ordnung kompossibler Ver­ schiedener ist der Versuch, die logisch-ontologische Grundlage für die Idee einer friedlichen, harmonischen Welt zu finden.

26

Abbe de St. Pierre, Projet pour rendre la paix perpetuelle en Europe, 3 Bd. Utrecht 1713. Vgl. dazu Werner Bahner, Der Friedensgedanke in der Litera­ tur der französischen Aufklärung, in: Werner Krauss/Hans Mayer, Grund­

positionen der französischen Aufklärung, Berlin 1955, S. 139 ff.

27 Nicolao Merker hat in seiner vorzüglichen Darstellung der deutschen Auf­ klärung, Die Aufklärung in Deutschland, München 1982, deren selbständigen Charakter doch wohl überschätzt. Wo die deutschen Aufklärer, auch auf europäischen Niveau, einen eigenen Akzent setzten, geschah das da, wo sie (im Gegensatz zu den Tendenzen der westeuropäischen Aufklärung) an den metaphysischen Systemkonzepten der Leibniz-Tradition festhielten und sie in die Problemstellungen des 18. Jahrhunderts einbrachten, also eigentlich »alt­ modisch« blieben. Kant konnte dann an diese ungebrochene schulphiloso­ phische Linie einer konstruktiven Systemphilosophie anknüpfen.

28 Siehe dazu Georg Lukacs, Fortschritt und Reaktion in der deutschen Lite­ ratur, Berlin 1947.

Ausgangslage um 1700

27

Spekulationsbankrotte, Staatsverschuldung, Auseinanderklaffen von höfischem Luxus und Verarmung weiter Bevölkerungsschichten, An­ steigen von Bettel und Kriminalität und deren Bekämpfung durch die Einrichtung von menschenunwürdigen Zucht- und Arbeits­ häusern bieten ein Bild, dem eher die spätere Zivilisationskritik eines Rousseau als das Fortschrittspathos eines Fontenelle gerecht zu werden scheint. Wenn man auch einen Teil des Optimismus der Früh­ aufklärung der Zugehörigkeit der Intellektuellen zum Umkreis des Hofes zurechnen, also in die Gattung der Panegyrik einreihen muss, so erklärt dies doch nicht die vom breiten gebildeten Publikum mitgetragene Grundstimmung, in einem Zeitalter des Aufschwungs der Menschheit zu leben. Es waren im Wesentlichen die ideellen Aspekte der Befreiung des Selbstdenkens aus den Zwängen der geist­ lichen Autorität, der Verbreiterung von Bildungsinhalten, der wis­ senschaftlichen Innovationen und der Erziehung zum Gebrauch der eigenen Vernunft- wie dies noch in Kants Aufklärungsaufsatz nach­ klingt-, die den Zeitgeist bestimmten. Wie sehr auch die Frühaufklärung sich von der vorangegangen Periode ideologisch absetzte, sie realisierte doch letzten Endes die weltanschaulichen Konsequenzen, die aus dem cartesischen Akt der Selbstbefreiung des Denkens zu ziehen waren. Ein Jahrhundert nach Descartes war das Bedürfnis, alle die Fäden zu zerreißen, die ihn noch mit der Tradition der mittelalterlichen Philosophie verbanden, so stark, dass man sich kaum bewusst machte, wie die Geburt der Moderne durch den Discours de la methode verkündet wird. Nur bei Fontenelle finden wir immer wieder den Hinweis auf die epochale Bedeutung des Descartes; Voltaire wird dann für lange das Bild der cartesischen Wende verdunkeln. Das Selbstbewusstsein derer, die sich für die Vorkämpfer der Moderne hielten, suchte seine Bestätigung in der Zurückweisung der V äter, die ihnen den Boden bereitet hatten.

2. Das Lob der Moderne Das 18. Jahrhundert stellt sich, zum erstenmal in der Geschichte der Philosophie, programmatisch unter die Devise der Modernität. Die Konfrontation, die in der Querelle des anciens et des modernes aus­ getragen wird, hat grundsätzlich anderen Charakter als die Gegen­ überstellung der via moderna und via antiqua in der mittelalterli­ chen Logik oder als die devotio moderna in der spätmittelalterlichen

28

Die Aufklärung

Religiosität. Diese stellten sich neben das Alte, ohne es hinter sich lassen zu wollen. Nun aber wird der Begriff des Neuen mit dem Kon­ zept der Linearität nicht nur des zeitlichen Verlaufs, sondern auch der Abfolge der inhaltlichen Bestimmungen verbunden, deren spätere die früheren qualitativ übertreffen sollen. Dieses Konzept bezieht seine Evidenz aus dem Fortschritt des wissenschaftlichen Wissens und der technischen Kenntnisse. Jede Entdeckung und jede Erfin­ dung tragen in der Tat dazu bei, dass jede Generation der vorherge­ henden gegenüber einen Vorsprung gewinnt. »Neue Wahrheiten wer­ den aus denen geboren, die vor ihnen gefunden wurden; je weiter die Zahl der Generationen voranschreitet, umso edler sind sie im Hin­ blick auf die Erforschung der Wahrheit«, sagt Fontenelle in seinem Nachruf auf Malebranche.29 Ungeachtet dieser Orientierung am Wissensfortschritt entzündet sich die Debatte jedoch an der Frage der Vergleichbarkeit der Qua­ lität literarischer Werke. Die Meisterschaft der griechischen und la­ teinischen Dichtungen hatte bis dahin unbestritten als Vorbild, oft als schlechthin unerreichbares Vorbild gegolten, dem die Neueren nachzueifern hätten. Charles Perrault forderte die Vertreter dieser antikisierend normativen Ästhetik und Kulturtheorie heraus, als er in seinem am 27. Januar 1687 in der Academie franc,;aise vorgetra­ genen Poem Le siede de Louis le Grand den Vorrang der Gegenwart vor der Antike pries, und um den kulturpolitischen Charakter dieses Vorstoßes zu unterstreichen, ließ Perrault ein halbes Jahr später, am 25. August 1687, den Abbe Lavau ein Gedicht an den König vor­

tragen, das l'avantage que Sa Majeste fait remporter a son siede sur tous les siedes behandelte, und in dem das Zeitalter Ludwigs XIV. höher gestellt wird als das augusteische, das doch mit Vergil und Horaz maßstäbliche Höhepunkte erreicht hatte.10 Nun war dieser Anspruch gerade in der Literatur sicher vermes­ sen. Die Generation der großen Klassiker des französischen T hea­ ters, Corneille, Racine, Moliere, erreichte ihren Gipfel im zweiten

29 Bernard de Fontenelle, Oeuvres VI, S. 399 ff.: »De nouvelles verites naissaient des precedentes; et en cette matiere, plus !es generations sont nombreuses, plus elles sont noble.«

30

Werner Krauss, Essays zur französischen Literatur, Berlin/Weimar 1968, S. 157 f. 1685 hatte schon Furetiere geschrieben, »que !es anciens etaient de­ meure au milieu de la carriere que ceux-ci (seil. !es modernes) ont heureuse­ ment fourni.« Ebd„ S. 156 (»Die Alten waren in der Mitte des Weges stehen geblieben, den die Modemen glücklicherweise zu Ende gegangen sind«).

Ausgangslage um 1700

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Drittel des 17. Jahrhunderts; nach der Jahrhundertwende, als die

Querelle voll entbrannt war, gab eine abschlaffende literarische Qua­ lität gewiss keinen Grund, sich den antiken Mustern überlegen zu fühlen.31 Das modernistische Argument galt auch nicht eigentlich dem Vergleich individueller Größen. Fontenelles Bildwort deutet das an: Ein Zwerg, der auf den Schultern eines Riesen stehe, reiche immer noch höher als dieser. Die Linearität der Zeit wird hier als ein additiver Prozess begriffen, mit jedem Schritt weiter werden zugleich die Inhalte vermehrt, Kultur ist ein Vermögensbestand, der immer reicher wird, der sich akkumuliert. Wir haben an der Größe derer von einst teil und bringen zugleich noch unser Eigenes hinzu.12 Die Gegenwart wird so an die Geschichte geknüpft durch die Erinne­ rung - eine Erinnerung aber, die nicht einfach bewundernd hinnimmt, sondern das Vergangene kritisch prüft und aneignet. Der blinde Re­ spekt vor der Antike (le respect aveugle de l'antiquite) war unge­ schichtlich und hemmte den Fortschritt: »Unsere V äter dachten so; wollen wir behaupten, klüger zu sein als sie?« - gegen diese Einstel­ lung muss ein anderes Verhältnis zum überlieferten gewonnen werden.33 Die logische Figur des »Aufhebens« der Geschichte in der dreifachen Bedeutung des Annullierens, des Aufbewahrens und des Hinaufhebens auf eine höhere Stufe wird erst von Hegel formuliert werden, doch das Problem und die Richtung seiner Auflösung sind schon in Fontenelles Digression sur les Anciens et les Modernes an­ gelegt. Allerdings wird dort der Fortschritt der Menschheit noch mit den Lebensaltern verglichen, die nicht nur zunehmende Reife, son­ dern auch einen Wechsel der Interessenschwerpunkte mit sich brin­ gen: »So hat ein Mensch, der seit dem Anfang der Welt bis zur Ge­ genwart gelebt hat, seine Kindheit gehabt, in der er sich nur mit den

31 Werner Krauss, Essays, a. a.O., S. 163 f.: »Was den Modernisten unrecht gab, das war das schnelle Absinken der Literatur von dem zur Zeit von Perrault noch eingenommenen klassischen Höhepunkt. Vor allem diese Erfahrung, aber auch die Unhaltbarkeit der modernistischen Kritik am klassischen Altertum bewirkten, daß in der Folgezeit das ganze Gebiet der Literatur von der Habenseite des Fortschritts weggeschrieben wurde.«

32

Fontenelle schreibt in der Digression sur les Anciens et les Modernes: »Ein kultivierter Schöngeist ist sozusagen aus allen Geistern der vergangenen Jahrhunderte zusammengesetzt; er ist nichts anderes als eben der Geist, der sich während jener Zeiten kultiviert hat.« Zitiert nach Werner Krauss, Fon­

tenelle, München 1969, S. 154. - Das Buch enthält neben der Abhandlung von Krauss eine 160 Seiten starke Textauswahl.

33

Ebd„ S. 56: »Nos peres l'ont cru; pretendrions-nous etre plus sages qu'eux?«

30

Die Aufklärung

dringendsten Bedürfnissen des Lebens beschäftigte; seine Jugend, wo er im Bereich der Vorstellungskraft, wie etwa der Poesie oder der Beredsamkeit, schon hinreichend weit fortgeschritten war und sogar schon verständig zu denken begann, wenn auch mit weniger Soli­ dität als Feuer. Jetzt steht er im Mannesalter, wo er mit mehr Kraft und Klarheit denkt als je zuvor: aber er wird noch weiter fortschrei­ ten, wenn ihn nicht die Kriegsleidenschaft zu lange in Anspruch nimmt und ihm nicht Verachtung für die Wissenschaften eingeflößt wird, zu denen er endlich zurückgekehrt ist.«14 Im Modell der Lebensstadien ist jedoch die Finalität des Alters und Todes impliziert, auf den Fortschritt folgt wieder Abstieg und Verfall." Ein organizistisches Geschichtsverständnis müsste zurück­ führen auf eine stoische Zyklentheorie. Dieser Gedanke hielte sich im Rahmen eines theoriegeschichtlich vertrauten Musters; aber er steht quer zu der Intention, die Fontenelle und die anderen Moder­ nisten der

Querelle verfolgen. »Bei der Darstellung der Gegenwart

wird der Verfasser sich mit einem Schlage bewusst, dass der Reife der Menschheit nicht Alter und Tod folgen, sondern der Ausblick auf unbegrenzten Fortschritt. Die Erkenntnis, dass die Geschichte der Menschheit einer anderen Gesetzlichkeit gehorcht als die Ge­ schichte des Menschen, war von fundamentaler Bedeutung. An die Stelle der zyklischen Geschichtstheorie drängt sich die Vorstellung eines linearen, mechanisch konzipierten Wachstums der Erkennt­ nisse und Erfahrungen.«36 Der Paradigmenwechsel wird erkennbar. Damit Geschichte unter der Kategorie Fortschritt17 gefasst werden kann, muss sie gemäß einer linearen dynamischen Struktur begriffen

34

Ebd., S. 154: »Ainsi cet homme qui a vecu depuis le commencement du monde jusqu'a present, a eu son enfance, Oll il ne s'est occupe que des besoins !es plus pressants de la vie; sa jeunesse, Oll il a assez bien reussi aux choses d'imagination, telles que la poesie et l'eloquence, et Oll meme il a commence a raisonner, mais avec moins de solidite que de feu. II est maintenant dans l'age de virilite, oll il raisonne avec plus de force, et a plus de lumieres que jamais; mais il serait bien plus avance, si la passion de la guerre ne l'avait occupe longtemps, et ne lui avait donne du mepris pour !es sciences auxquelles il est enfin revenu.«

35

Noch Oswald Spenglers Morphologie der Kulturen orientiert sich an diesem Muster. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Wien 1918/Mün­ chen 1922.

36

Werner Krauss, Essays, a. a. 0„ S. 159.

37

Vgl. Hans Heinz Holz, Bewegung - Veränderung - Fortschritt, Annalen der

internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie, V, Köln 1988, S. 31 ff.

Ausgangslage um 1700

31

werden; das Modell der cartesischen Mechanik bot sich an. Erst da­ durch erhielt der Begriff der Modernität jene axiologische Zuspit­ zung, durch die er zu einem Kampfwort gegen Konservativismus, Stagnation und Reaktion werden konnte - bis hin zu seiner inhalt­ lichen Entleerung, sodass schließlich das Neue als solches, nur um seiner Neuheit willen, für wertüberlegen angesehen wird. Am Anfang dieser Entwicklung steht jedoch noch nicht der Formalismus der reinen Sukzessivität, sondern die qualitative Bestimmung der Stadien in der Zeitfolge: »Ein Wissenschaftler unseres Jahrhunderts enthält zehnmal einen Wissenschaftler des augusteischen Jahrhunderts; aber er hat auch zehnmal mehr Mittel zum Erwerb des Wissens gehabt.«38 Und dieser Fortschritt ist nicht nur ein quantitativer, sondern hat auch den Typus Wissenschaftlichkeit verändert: »Die Mathematik hat seit einiger Zeit nicht nur eine unendliche Anzahl von Wahrheiten der Gattung, die ihr angehören, erlangt, sondern sie hat auch ganz allgemein in den Geistern eine Präzision erzeugt, die vielleicht kost­ barer ist als alle diese Wahrheiten selbst.

(„.) Der berühmte Descartes

hat den Geometern Wege gelehrt, die sie noch nicht kannten, und den Physikern eine Unendlichkeit von Gesichtspunkten eröffnet.«39 Wie schwierig die Zuordnung literarischer und politischer Fraktio­ nen ist, zeigt gerade das Beispiel der

Querelle. Die modernes waren

die Vertreter des absolutistischen Königtums und mit Colbert auch seiner Versuche, die Wirtschaft des Landes, vor allem Gewerbe und Handel, zu modernisieren; sie waren frühbürgerlich-fortschrittlich in ihrer Wissenschaftsgesinnung - und das führte sie an die Seite des Königs, dessen dynastische Kriegspolitik gerade diesem Fortschritt und seinen gesellschaftlichen Trägern nachteilig war. Die dagegen standen eher auf der Seite der

anciens noblesse d'epee, also der alt­

feudalen Kräfte, die in der Niederschlagung der Fronde gerade erst entmachtet worden waren und deren Wertvorstellungen bei den an­ ciens anklingen. Aber weil diese nun an römisch-stoische oder gar griechisch-athenische Gesinnung anknüpfen, nähern sie sich repu­ blikanisch-demokratischen Idealen. »Nur Bürgerstolz vor Königs­ thronen kann Boileau dazu bewegen, im Plenum der Akademie an dem Ungeschmack einer poetischen Verherrlichung des regierenden Königs Anstoß zu nehmen.

(„.) Es läßt sich nicht sagen, daß Boileau („.) La Bruyere gab in den

ganz einfach eine Kulturreaktion vertrat.

38

Fontenelle, nach Werner Krauss, a. a. 0„ S. 155.

39

Ebd„ S. 175.

32

Die Aufklärung

folgenden Jahren die Antwort darauf. Er hat in den Caracteres eine Aphorismensammlung geboten. Er steht darin auf der Seite Boileaus und der anciens, aber es ist bezeichnend, daß er nicht eigentlich die antike Dichtung, sondern die antike Freiheitsgesinnung in den Vor­ dergrund stellt, die Anlehnung an die großen antiken Ideale einer frei gewachsenen Kultur, an der das Volksganze beteiligt war. (...) La Bruyere hat fühlen lassen, daß auf Seiten der anciens eine politische Unabhängigkeit gegenüber dem Allmachtsanspruch des Absolutis­ mus bestand, während die modernes durchaus die Vertreter einer offiziellen Staatsdoktrin waren.«40 Die anciens verteidigten in gewisser Weise den Geist der Konsolidierungs- und Aufstiegszeit Frankreichs nach den Religionswirren, den Staat der Richelieu und Mazarin gegen die ausufernde Machtpolitik des Königs. Die modernes feierten einen König, der gerade das Edikt von Nantes aufgehoben und der Ge­ dankenfreiheit einen schweren Schlag versetzt hatte. Perraults Hymne auf den König war wohl auch ein strategischer Zug, um die Intellek­ tuellen auf die Politik Ludwigs festzulegen und nach der Unter­ drückung und Flucht der Hugenotten die Einheit des Staates unter dem »allerchristlichsten König« zu festigen. Dass dies nicht einmal den Parteigängern der modernes ganz leicht fiel, zeigt die versteckte Kritik an der Kriegspolitik, die im Schluss der oben zitierten Passage aus Fontenelles Digression enthalten ist. Andererseits konnte Fon­ tenelle, als Sekretär auf Lebenszeit der Academie frarn;:aise und als einflussreicher Zensor, segensreich für eine freie und weltliche Lite­ ratur und Philosophie wirken. Diese Widersprüche gehören zur Aufklärung, bis hin zu Malesherbes, der als Zensor genötigt ist, die

Encyclopedie zu verbieten und die Auflage des Werks gleichzeitig in seinem Hause vor der Beschlagnahmung versteckt. In der Literatur erscheinen diese Widersprüche schon früh als Thema (zum Beispiel bei Marivaux), in der Philosophie hingegen werden sie vor der Jahr­ hundertmitte nicht reflektiert. Im Grunde genommen hat die Querelle das ganze Jahrhundert über gedauert, wenn sie auch später nicht mehr unter diesem Namen fortgesetzt wurde. Rousseaus erster Discours Sur les sciences et les

arts von 1750 ist ein Gipfelpunkt des kulturkritischen Antimoder­ nismus, Condorcets Esquisse d'un tableau historique des progres de

40

Werner Krauss, Die Literatur der französischen Frühaufklärung, Frankfurt am Main 1971, 5. 16.

-

Ders., Notate aus Vorlesungen von Werner Krauss zur

Periodisierung der Aufklärung, TOPOS 8, Bonn 1996, S. 19 f.

Ausgangslage um 1700

33

l'esprit humain von 1794 der letzte Höhepunkt der Verteidigung des Fortschrittsgedankens. Die erste Phase der Querelle, die »mit der er­ zwungenen Versöhnung zwischen Perrault und Boileau, die sich die Hände schütteln«41 in der Akademie abgebrochen wird, lässt das Gleichgewicht der Positionen erkennen: Fortschritt in den Wis­ senschaften und Historizität der Literatur und Kunst gehören zu verschiedenen Kategorialsystemen. Quantitative Zunahme der Kennt­ nisse ist auch eine qualitative Steigerung des Wissens. Die Ver­ änderung der Darstellungsmittel der Künste dagegen bedeutet nicht notwendig eine qualitative Verbesserung, sondern zunächst einmal einen Perspektivenwechsel. Wissensentwicklung lässt sich in einem linearen Folgeschema beschreiben, Kunstentwicklung bedarf eines multidimensionalen Ordnungssystems. Der Waffenstillstand zwi­ schen anciens und modernes von 1700 stellte die Philosophie des Fort­ schritts vor ein neues Problem: »Eine Theorie, die zweigleisig war, musste aufgestellt werden, eine Theorie die den Fortschritt der Wis­ senschaften der Gesellschaft vereinigte mit dem Niedergang der eigentlichen Kunst der Dichtung, vor allem der Lyrik. Diese Lehre hat der Ästhetiker Dubos aufgestellt. (... ) 1719 erschien das große Werk über die Grundfragen der Ästhetik: Reflexions critiques sur la poesie et la peinture.«42 Indem Dubos das Verhältnis von Natür­ lichkeit und artifizieller Form zur Kernfrage machte, bereitete er die kunsttheoretische Diskussion bis in die Zeit der deutschen Klassik vor: Herders Lehre vom Ursprung der Dichtung, Goethes Unter­ scheidung von »einfacher Nachahmung der Natur, Manier und Stil« und Schillers geschichtsphilosophische Deutung der Kunst nach den zwei Typen der naiven und sentimentalischen Dichtung stehen noch in der Verlängerung der Dubos'schen Perspektive. Die Antithese Natürlichkeit - Kunstform gab dann das Thema für die zweite Phase der Querelle ab, den sog. Homerstreit. Ein Schüler Fontenelles, Houdar de la Motte, hatte 1713 anlässlich der Homer-Übersetzung der Madame Dacier in einem Discours sur Homere die Epen des griechischen Dichters als barbarisch, ungeord­

net und Ausdruck einer primitiven Bildung verunglimpft. Frau Dacier antwortete scharf mit der Abhandlung De la corruption du gout, worauf de la Motte 1714 mit Reflexions sur la critique rea­ gierte: »In dieser zweiten Epoche wird das Problem spezifiziert auf

41

Werner Krauss, Notate, a. a. 0„ S. 25.

42

Ebd„ S. 24.

34

Die Aufklärung

die Frage, nicht, was uns die klassische Kultur im allgemeinen wert ist und was nicht, sondern auf die Frage, ob Homer eigentlich ein großer Dichter oder nur ein archaischer Stümper ist, ob man in ihm nur die hilflosen Versuche eines nicht gekonnten Naturalismus er­ blicken sollte oder ob es der Herzton der Menschheit ist, ein immer­ währender Zauber. Es ist zu sagen, dass die anciens sich doch be­ trächtlich vertieft hatten, dass sie von ihrer Gegnern gelernt hatten, dass sie die Geschichtlichkeit der Antike selbst eingesehen hatten.Die Verstellung gehört zu den namhaftesten Auszeichnungen dieses Jahrhunderts< (Essais II, 18). >Die Betrügerei (

„.

) ernährt und erhält den größten Teil der mensch­

lichen Verrichtungen< (Essais III, 1). Man zerfleischt sich unter dem Vorwand hochedler Motive, die niedrige Interessen bemänteln.«58 Montaigne transformiert die humanistische Denkfigur des Beispiels­ falls, exemplum, an dem man sich orientieren könne, indem wir ihn analog und nicht wörtlich auslegen, in die entgegengesetzte Funk­ tion der Ausnahme: Es gibt keine verbindliche Regel, unter die sich die Wirklichkeiten typologisch klassifiziert subsumieren ließen. Jeder

57

Zu einem positiven und kämpferischen Begriff von Weisheit vgl. Ernst Bloch, Über den Begriff Weisheit, Gesamtausgabe, Bd. 10, Frankfurt am Main S. 355 ff.

58

Jean Starobinski, Montaigne, München 1986, S. 11. Starobinski spricht von einer »Verhexung durch den Schein« (ebd„ S. 13) und schreibt: »Die Welt, die Montaigne anklagt, ist ein Labyrinth, in dem die Täuschungen sozusagen Gesetzeskraft haben« (ebd„ S. 14). Ich sehe weniger Anklage als Bitterkeit und Traurigkeit. »Wir sind nicht so sehr von Übeln erfüllt wie von Leere; wir sind auch nicht so elend, wie wir nichtig sind« (Montaigne, Essais III, 10).

74

Die Aufklärung

Fall ist singulär.''' »Die vermeintliche Regel verflüchtigt sich und geht in der Unregelmäßigkeit des Universums der Phänomene auf. ( ) Der „ .

Skandal der Deviation wird beseitigt, wenn das Privileg eines unbe­ streitbaren Zieles und beispielhaften Weges verschwindet.«60 Diese Einstellung erlaubt zwar eine wissenschaftlich-kritische Beschäftigung mit den Dingen der Welt, die auf präziser Beobachtung beruht, aber gewiss keinen Entwurf eines umgreifenden systematischen Zusam­ menhangs. Was bei Montaigne nur die persönliche Haltung des gelehrten Di­ lettanten, des vornehmen und durchaus weltläufigen Humanisten war (der seine Reduite im Bibliotheksturm auch wieder zu verlassen bereit war, wenn eine gesellschaftliche Aufgabe oder Pflicht ihn rief'1), wurde zum wissenschaftstheoretischen Programm bei Pierre Bayle. Sein Dictionnaire historique et critique war von ungeheuerer Wir­ kung, fünf Auflagen gab es zwischen 1697 und 1740, kein geringerer als Johann Christoph Gottsched übersetzte die vier mächtigen Fo­ lianten ins Deutsche.62 Zwischen Dogmatikern und Agnostikern hält Bayle die skeptische Mitte aus wohlerwogenen Gründen der Unge­ nauigkeit des historischen und überhaupt des Erfahrungswissens. »Die allgemeinste Einteilung, die man unter den philosophischen Richtungen zu machen gewohnt ist, besteht in der Unterscheidung zwischen jenen, die glauben die Wahrheit gefunden zu haben; jenen, die glauben, dass sie nicht gefunden werden kann; und jenen, die nicht glauben, sie gefunden zu haben, sie indessen ihr Leben lang suchen.« (Letztere sind die Pyrrhoniker oder Skeptiker). »Was mich angeht, so möchte ich Pyrrhoniker sein, ich stimme weder der einen

59

»Seine Behauptung ist nicht, daß das einzelne exemplum als solches Über­ tragbar sei. Im Gegenteil, jeder Fall liegt anders, und mit tieferem Verständ­ nis, gar vollem Einvernehmen unter den Beteiligten ist nicht zu rechne.« Ralf Konersmann, Ein jeder Mensch in seinem Turm, Frankfurter Al/gemeine Zei­

tung, 17.11.1992, S. L 6. 60

Starobinski, a.a.O„ S. 39.

61 1557 wird Montaigne Parlamentsrat in Bordeaux. 1571 zieht er sich auf sein Schloss zurück mit der »unumstößlichen Absicht«, den Affairen der Welt in Zukunft fernzubleiben. Doch schon zwei Jahre später wird er als Berater des Königs tätig, um zwischen den feindlichen Parteien des Religionskrieges zu vermitteln. 1581 unternimmt er eine längere Italienreise, wird zum Bürger­ meister von Bordeaux gewählt, als welcher er bis 1585 amtiert.

62 Pierre Bayle, Dictionnaire historique et critique, Rotterdam 1697. Deutsche Übersetzung von Johann Christoph Gottsched, Leipzig 1741-1744, 4 Bände.

Die Hauptströmungen der Aufklärung

75

noch der anderen Seite zu.«63 Bayle exemplifiziert seine Zweifels­ gründe genau in seinen historischen Untersuchungen. Motive und Ziele handelnder Personen kann man nicht wirklich kennen, weil sie im Inneren einer Person verschlossen sind und alle Aussagen trügen mögen. Quellen sind unzuverlässig, weil sie von der Parteilichkeit der Autoren gefärbt sind, und man sieht das an den Widersprüchen zwi­ schen verschiedenen historischen Quellen. Mehr noch gilt das für Zeugen, die nicht nur ihre Sympathie und Antipathie bekunden, son­ dern auch die Einseitigkeit und Relativität des Standpunkts, von dem aus sie das Geschehen beobachten; wir selbst leiden ja als Miterle­ bende unserer Zeit unter dieser Beschränktheit. Ganz zu schweigen von den erkenntnistheoretischen Kurzschlüssen, wie zum Beispiel der Hinnahme eines post hoc als propter hoc. So konzipierte Bayle seinen Dictionnaire als ein Nachschlagewerk der Fehler, die die Geschichts­ schreiber vor ihm gemacht hatten: »Ich war willens, ein Wörterbuch der Fehler zu verfertigen; die Vollkommenheit eines solchen Werks erfordert, daß darinnen alle Fehler, so wohl große als kleine ange­ merket werden;

(„.) weil also die beste Art, meinen Entwurf auszu­

führen, dem Murren der Gelehrten am meisten ausgesetzet war; weil sie die Anmerkungen, daran wenig gelegen war, vermehret haben würde; so mußte ich mich entschließen, diesen Vorsatz zu verlassen.«64 Wenn Bayle also auch seine Methode der Reduktion auf den Kern, der nach Destruktion der Irrtümer übrig bleibt, nicht durchhalten konnte, so ist doch der Aufbau der Lemmata, deren Schwergewicht bei den die widersprechenden Überlieferungen konfrontierenden An­ merkungen liegt, ein Zeugnis für die skeptische Enthaltsamkeit gegen Deutungen und Konstruktionen von Zusammenhängen. Man könnte sagen, der Dictionnaire sei ein frühes Manifest des historischen Po­ sitivismus gegen die Hermeneutik." Die systemkritische Intention Bayles wird an seinem Vernunft­ begriff deutlich: »Die menschliche Vernunft

(„.) hat eine zerstörende

und keine bauende Kraft: Sie ist zu nichts geschickt, als Zweifel zu erregen und sich rechts und links zu drehen und zu wenden, um

63

Pierre Bayle, Vorrede zum Dictionnaire, deutsche Ausgabe 1741, S. 1.

64

Ebd.

65

Dass Bayle dennoch der Systematik nicht abhold war, wenn es um Gegen­ stände des reinen Denkens geht, zeigt sein Systeme de Philosophie, contenant

la Logique et la Metaphysique.

76

Die Aufklärung

einen Streit zu verewigen«66 - eine Formulierung, die sich heute die Anhänger der »negativen Dialektik« zu eigen machen könnten. Er nennt die Vernunft »eine Schnellläuferin, die nicht weiß, wo sie an­ halten soll, und die, wie eine andere Penelope, ihr eigenes Werk selbst zerstört.

(„.) Sie ist geeigneter zu zertrümmern als aufzubauen, sie

weiß besser, was die Dinge nicht sind, als was sie sind.«67 Diese skeptische Haltung, die die Vernunft gegen sich selbst richtet, kann allerdings bis zur offenen Vernunftfeindschaft führen, die dann in Affirmation des Glaubens umschlägt: »Es scheint also sere Vernunft ein Weg zur Verwirrung sey.

(„.) daß un­ („.) Es ist also eine glück­

liche Vorbereitung zu dem Glauben, wenn man die Gebrechen der Vernunft erkennet.«68 So bleibt der Skeptizismus, den Bayle für die höchste Form der Vernünftigkeit ausgibt, in sich ambivalent. Er taugte nicht für das Selbstverständnis einer Generation, die das Wissen als die Bedingung für die Freiheit des Menschen und die Vernunft als die Instanz der Verbindlichkeit des Wissens ansah. Wohl aber reichte Bayles Scharf­ sinn aus, um der Zersetzung des rationalistischen Systemkonzepts durch den Empirismus eine durchschlagskräftige Spitze zu verleihen. Nach Bayles

Dictionnaire hätte wohl niemand in Frankreich eine En­

zyklopädie akzeptiert, die wie die Alsteds auf der Grundlage eines deduktiven Systems der Wissenschaften verfasst worden wäre.69 Ob­ wohl Wolff, der den Enzyklopädie-Gedanken bei Diderot schürte, die Idee der

Scientia generalis im Sinne hatte,70 verschob sich in der

Reaktion der französischen gelehrten Welt die Perspektive, die Fehler­ kritik in Bayles

Dictionnaire war eine Warntafel, seine Orientierung

auf die Fakten und sein kritischer Quellenvergleich ein Wegweiser. Dabei war d'Alembert durchaus ein systematischer Kopf, der auch die Notwendigkeit sah, die Masse des Wissens in eine Ordnung zu bringen, die logische oder doch wenigstens faktische Abhängigkei­ ten sehen ließ. »Als

Methodisches Sachwörterbuch der Wissenschaf­ ten, Künste und Gewerbe soll es von Wissenschaften und Künsten freien wie mechanischen - die allgemeinen Prinzipien enthalten, auf

66 Bayle, Dictionnaire, a.a.O„ Bd. III, S. 310. 67 Bayle, Reponse aux questions d'un provincial, Rotterdam 1704 ff„ Bd. III, S. 725. 68 69

Bayle, Dictionnaire, a.a.O„ Bd. III, S. 749. Bayle selbst hat allerdings das Lob, das die Cartesianer Alsted zollten, in den

Dictionnaire übernommen. A.a.O„ Bd. I, S. 167. 70

Zur Leibniz-Tradition einer Wissenschaftsarchitektur vgl. H. H. Holz, Leib­

niz, Leipzig 1983, S. 121 ff.

Die Hauptströmungen der Aufklärung

77

denen sie beruhen, und darüber hinaus über die wichtigsten Einzel­ heiten berichten, die ihre Zusammensetzung und ihren Gehalt be­ stimmen.(...) So ist doch unschwer zu erkennen, daß Wissenschaften und Künste sich gegenseitig weiterhelfen und daß infolgedessen etwas Gemeinsames sie verbinden muß.« Daraus folgt, dass »der erste Schritt, den wir bei unserer Untersuchung zu tun haben«, es ist, »die Genealogie und Verwandtschaftsbeziehungen unserer Kenntnisse, ihre Ursachen und Unterscheidungsmerkmale« zu erforschen.71 Aller­ dings wird statt einer Ontologie der Gegenstandsbereiche eher eine Psychologie der Erfahrungsinhalte geliefert. Hier zeigt sich die wissenschaftstheoretische Konsequenz eines strengen Sensualismus. Wenn die Reflexion der Erfahrung nicht so sehr vom gegenständ­ lichen Sinn ihrer Inhalte ausgeht, sondern von den subjektiven Be­ dingungen ihrer Gegebenheit, kann auch nur noch ein im Subjekt liegendes Gliederungs- und Ordnungsprinzip gefunden werden. Kants erkenntnistheoretische Wende zum Transzendentalismus bereitet sich auf dem Boden des Empirismus vor. Dabei verfährt d' Alembert durchaus systematisch. Von der sinn­ lichen Selbsterfahrung geht er über zur Erkenntnis der Außenwelt, und er bedient sich dabei einer Unterscheidung von selbstevidentem Innen und vermitteltem Außen, die man als eine sensualistische Va­ riante des Cartesianismus bezeichnen könnte. »Alle unsere unmittel­ baren Erkenntnisse lassen sich auf sinnliche Erfahrungen zurückfüh­ ren. (...) Die Existenz unserer Sinnesempfindungen steht unbestreit­ bar fest. (...) Das erste, was unsere Sinnesempfindungen uns lehren und wir nicht von ihnen trennen können, ist unsere Existenz.(...)Die zweite Erkenntnis, die wir unseren Sinnesempfindungen verdanken, ist diejenige der Existenz der Außenwelt, in die unser eigener Kör­ per einzubeziehen ist, da er uns sozusagen als etwas Äußerliches er­ scheint.(...) Die Existenz der Dinge, auf die wir unsere Sinnesemp­ findungen beziehen und die uns als deren Ursache erscheinen, (ist) als gesichert zu betrachten.«72 Allerdings braucht d' Alembert, anders als Descartes, keine Instanz, die die Gewissheit der Außenwelt ga­ rantiert, da diese in den Sinnen enthalten ist und wir kraft unserer Sinnlichkeit in die Außenwelt einbezogen sind. Der gegenständliche Gehalt der Sinneseindrücke ist durch die Natur der Sinne, willens-

71

d' Alembert, Discours preliminaire de l'Encyclopedie, deutsch und französisch Hamburg 1955, S. 12.

72 Ebd„ S. 14 und 16.

78

Die Aufklärung

unabhängige Rezeptoren zu sein, verbürgt und wird durch die Kraft und Kohärenz der Sinneswahrnehmungen bestätigt. Diese Gewiss­ heit ist indessen nicht durch Vernunftschluss beweisbar, sondern durch Instinkt »selbstgegeben.«71 So kann d' Alembert gleichsam durch eine phänomenologische Reduktion die Notwendigkeit einer transzendenten Instanz der Erkenntnisgewissheit umgehen und statt­ dessen die Selbsterfahrung des eigenen Körpers, Lust und Schmerz als Reaktionen auf die Außenwelteinwirkungen, zum Fundament der Erkenntnis machen. Die nächste Stufe ist die »Gesellschaftsbildung« (jormation des societes),74 die Verständigung zwischen den Individuen und also die Bildung von Zeichen voraussetzt. »Die Mitteilung der Ideen ist Grund­ bedingung und Stütze einer solchen Vereinigung und verlangt ge­ bieterisch die Erfindung von Zeichen. Hier liegt also der Ursprung der Gesellschaftsbildung und gleichzeitig auch der Ursprung der Spra­ chen.«'' Auf dieser Ebene werden im System des Wissens die Fertig­ keiten und Wissenschaften der täglichen Bedürfnisbefriedigung ange­ siedelt."' Von diesen Kenntnissen gehen wir zu Abstraktionen über, die einerseits den Inhalt der sich weiterentwickelnden Wissenschaf­ ten ausmachen, andererseits die Reflexion auf die Verstandestätigkeit selbst provozieren und damit zu den philosophischen Disziplinen überleiten. »Wir stellen an den Dingen sehr viele Eigenschaften fest, die aber meist in einem einzigen Gegenstand so ineinander über­ gehen, daß wir sie zur gründlicheren Einzeluntersuchung jede für sich vornehmen müssen. (

„.

) Auf diese Weise entkleidet unser Geist

planvoll durch Abstraktionen die Materie aller sinnfälligen Eigen­ schaften.«77 Nun könnte das Denken, das in sich nur noch die idealen Re­ präsentationen der Wirklichkeit vorfindet, und sich selbst betrach­ tend allein die »Schattenbilder«

(jant6mes) betrachtet, in den Irrtum

verfallen, diese zweite Welt (Nietzsche wird »Hinterwelt« sagen) der Zeichen und Abstraktionen und ihre Beziehungen untereinander sei die eigentliche Wirklichkeit. Demgegenüber bleibt d' Alembert fest

73

D' Alembert distanziert sich ebd. davon, die Evidenz für das Werk eines hö­ heren Wesens (l'ouvrage d'un Etre superieur) zu halten.

74 75

Ebd„ S. 22. Ebd„ S. 22. Die Aufnahme des Konzepts von Condillac, der ebenso von den Sinneseindrücken zu Zeichensystemen aufstieg, ist unverkennbar.

76

Ebd„ S. 26.

77

Ebd„ S. 30 und 32 f.

Die Hauptströmungen der Aufklärung

79

auf dem Boden eines utilitaristischen Materialismus und fordert die Rückkehr in die Körperwelt (rentree dans le monde corporel): »Diese sich unmittelbar auf unsere Bedürfnisse beziehenden Dinge müssen auch das wichtigste Ziel unserer Nachforschungen sein. Die mathe­ matischen Abstraktionen erleichtern uns zwar ihre Kenntnis, sind uns aber nur nützlich, wenn wir nicht bei ihnen stehen bleiben.«78 Damit hat d'Alembert die Basis für das enzyklopädistische Ver­ fahren gefunden. Er kann gegen jeden Konstruktivismus, der die logische Verknüpfung der Begriffe vornimmt, die Selbständigkeit der Tatsachen im Verhältnis zueinander ausspielen und deren Abhängig­ keitsbeziehungen als Folge materieller (nicht primär logischer) Pro­ zesse verstehen; die Rekonstruktion faktischer Verbindungen sei der wahrhaft systematische Geist«, dem der »System-Geist« entgegen­ gesetzt sei, vor dem man sich hüten müsse.''' Diese Antithese wird zum Leitmotiv des Discours preliminaire und legitimiert den lexi­ kalischen Aufbau der Encyclopedie. Zwar setzt d'Alembert noch den Ordnungszusammenhang der Einzelteile in der Welt voraus, aber er hält dieses Ganze als Einheit wegen der Schwäche unseres Erkennt­ nisvermögens nicht für darstellbar. Nur aus der Sicht Gottes (oder des Laplaceschen Dämons) wäre die Welt als Welt aufzufassen. »Die Zusammenhangslosigkeit vieler dieser Eigenschaften in unseren Augen und das Auftreten verschiedenartiger Erkenntnisse sind lediglich die traurige Folge unserer unzureichenden Einsicht. (...) Das Weltall selbst würde durch die Möglichkeit einer umfassenden Betrachtung von einem einzigen Gesichtspunkt aus, wenn man es so ausdrücken darf, zu einer einzigen Tatsache und einer großen Wahrheit.«80 D'Alembert fällt mit dieser Formulierung hinter Leibniz zurück, der gerade an jedem singulären monadischen Standort in der Welt deren Totalität perspektivisch zentriert perzipiert (gespiegelt) findet. Für Leibniz bedarf es keines besonderen herausgehobenen Orts und Gesichtspunkts (»God's eyes' view«), um die Welt als Welt zu ver­ gegenständlichen; sie ist vielmehr in jedem Augenblick an jedem Ort mehr oder weniger deutlich vergegenwärtigt. Einerseits bringt der Sensualismus - gegenüber Descartes - eine radikale Verweltlichung

78 79

Ebd, S. 36. Ebd„ S. 38 f. »Diese Reduktion bildet den wahren systematischen Geist, den für den System-Geist zu nehmen man sich jedoch wohl hüten muß.« Die gleiche Entgegensetzung werden wir bei Friedrich Engels wiederfinden.

80

Ebd„ S. 52.

80

Die Aufklärung

des cogito und damit den entschiedenen Übergang zum Materialis­ mus, andererseits aber gibt er - gegenüber Leibniz - die vermittelte Subjekt-Objekt-Einheit preis und zerfällt die Perzeption in die Glie­ der einer zweistelligen Subjekt-Objekt-Relation, in der das Ganze nicht mehr repräsentiert werden kann und die Gegenstände nur noch als einzelne herausgehoben in den Erkenntnisprozess eingehen. Die Encyclopedie ist Ausdruck dieses Widerspruchs, demgegenüber der Materialismus des 18. Jahrhunderts die Möglichkeit einer dialekti­ schen Auflösung nicht findet. Auch Diderot bleibt in den programmatischen Enzyklopädie­ Konzepten um 1750 in diesem Widerspruch befangen. Er erkennt und darin steht er Hegel schon näher als d' Alembert -, dass eine Enzyklopädie ihrer Idee nach ein System der Totalität sein müsste. »Die Enzyklopädie duldet - streng genommen - überhaupt keine Auslassung. Wird in einem gewöhnlichen Wörterbuch ein Artikel weggelassen, so wird es dadurch unvollkommen. In einer Enzyklo­ pädie zerreißt dies den Zusammenhang und schadet der Form und dem Inhalt.«81 Die Erfüllung dieses Postulats würde eine verbale 1 : 1Reproduktion der realen Welt bedeuten und ist in einem endlichen Werk schlechterdings unmöglich. Immerhin ist es denkbar, ein Schema der Vollständigkeit anzugeben, in dem die klassifikatorische logische Ordnung der Tatsachen nach Wissenschaftsregionen (Disziplinen) vorgezeichnet wird, in der dann jeder mögliche Artikel seinen Ort finden würde. Diderot beruft sich dabei auf Ephraim Chambers, den englischen Verfasser einer Enzyklopädie,82 als deren Bearbeitung ur­ sprünglich das französische Unternehmen geplant war, ehe es eine ganz neue Gestalt bekam; im Grunde aber ist das Modell eines arbor Porphyrii scientiarum am Entwurf Alsteds orientiert.83 »Mit dem eng­ lischen Autor haben wir erkannt, daß der erste Schritt zur sinnvollen und wohldurchdachten Ausarbeitung einer Enzyklopädie darin be­ stehen muß, einen Stammbaum aller Wissenschaften und Künste auf­ zustellen, der den Ursprung jedes Zweiges unserer Kenntnisse, ihre wechselseitigen Verbindungen und ihren Zusammenhang mit dem

81

Denis Diderot,

Philosophische Schriften, hg. und übers. von Theodor Lücke,

Berlin 1961, Bd. I, S. 116. 82

Ephraim Chambers,

Cyclopedia, or Universal Dictionary of Art and Sciences,

London 1728. 83

Diderot, a. a. O„ S. 114: »Man besaß ja schon Enzyklopädien, und Leibniz wußte das, als er andere verlangte. «

Die Hauptströmungen der Aufklärung

81

gemeinsamen Stamm zeigen und uns dazu dienen sollte, die ver­ schiedenen Artikel in Beziehung zu ihren Hauptgegenständen zu bringen.«84 Aber diesem Ordnungsbedürfnis unseres Denkens steht nun eine Natur gegenüber, die sich uns nur als eine Summe disparater Ein­ zeldinge darbietet. Die aus dem Nominalismus in den Empirismus übergegangene Voraussetzung, dass nur die Singularia an sich selbst wirklich sind, legt sich hier quer zur Intention, »von den Grund­ prinzipien einer Wissenschaft oder Kunst ohne Unterbrechung bis zu den letzten Konsequenzen vorzugehen und von diesen letzten Kon­ sequenzen bis zu ihren Grundprinzipien zurückzugehen, von dieser Wissenschaft oder Kunst unmerklich zu einer anderen überzugehen und, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, eine literarische Reise um die Welt machen zu können, ohne sich zu verirren.«85 Das System der Wissenschaften, auf das d' Alembert und Diderot die Encyclo­

pedie beziehen, löst sich in der Durchführung dann doch in die Zu­ sammenstellung vieler Einzelteile auf, die sich in vielen Fällen zwar ergänzen mögen, aber nicht konstruktiv verfugt sind, sondern addi­ tiv aneinandergereiht. Schon die große Anzahl von Mitarbeitern, die keineswegs von einer homogenen philosophischen Grundlage ausgingen, und die über fünf­ zehn Jahre sich hinziehende Arbeit an der Encyclopedie bedingten den additiven Aufbau nach Art eines »Vocabulariums«.86 Die Ency­

clopedie sollte das Gemeinschaftswerk der progressiven Gelehrten­ welt Frankreichs sein, ein Sammelbecken, in das die Manifestationen des modernen wissenschaftlichen Geistes einströmen und ihre Ver­ treter sich als eine Fraktion gegenüber dem universitären Traditiona­ lismus und klerikalen Obskurantismus vereinigen. Die Encyclopedie war gleichermaßen ein Instrument, den sich die bürgerlichen Pro­ duzenten als Wissenshilfe beim Fortschritt von Wissenschaften und Technik bedienen konnten, wie eine politische Waffenschmiede des 3. Standes, der dort seine Argumentation für den Emanzipations­

kampf geschärft fand. Die Kollektivität der Entstehung der Encyclopedie war durch das Ausmaß des Unternehmens gefordert. Ein Werk, »das später einmal

84

Ebd., S. 116. Die Formulierung deckt sich inhaltlich mit der d' Alemberts.

85

Ebd., S. 115.

86 Diderot gebraucht das Wort ebd., S. 150 passim.

82

Die Aufklärung

alle Kenntnisse der Menschen enthalten soll«,87 geht über das Ver­ mögen eines einzelnen oder einiger weniger hinaus. »Wenn man den unermesslichen Stoff einer Enzyklopädie überblickt, erkennt man deutlich nur eins: nämlich dass sie keinesfalls das Werk eines einzi­ gen Menschen sein kann. ( ) Ich glaube nicht, dass es einem einzel­ „.

nen vergönnt ist, alles kennenzulernen, was man kennenlernen kann, alles zu verwenden, was es gibt, alles zu sehen, was man sehen kann, und alles zu verstehen, was verständlich ist.«88 Diderot ist stolz darauf, dass er die Elite des französischen Geistes um sein Unternehmen hat sammeln können, und man merkt ihm die Enttäuschung an, wenn sich im Laufe des langen und von äußeren Anfeindungen und Ver­ folgungen behinderten Entstehungsprozesses anfängliche Mitarbei­ ter zurückziehen: zuerst Voltaire, dann 1758 auch d' Alembert. Doch bis zuletzt blieb die Encyclopedie ein Gemeinschaftswerk, und gerade als solches hat sie die französische (und im weiteren Sinne europäische) Öffentlichkeit bildungspolitisch mobilisiert.89 Ihr Man­ gel an systematischer Enzyklopädistik war zugleich ihre weltanschau­ liche Stärke. »Die wahre Bedeutung der Enzyklopädie liegt in der kollektiven Abfassung dieses Werkes, also darin, daß für die einzelnen Artikel wohl immer ein Autor beauftragt wurde, daß aber dieser Autor nicht zeichnet. Er zeichnet nicht, weil der Eindruck erweckt werden sollte, daß dieses ungeheuere Werk nicht in ein paar Köpfen ausgedacht ist, sondern daß es das Produkt einer gesamten Gesell­ schaft ist, daß also die ganze Wissenschaft dahinter steht.«90 An­ dererseits hat diese Kollektivität - die sich jeder konzeptionellen Organisierbarkeit entzog - auch dazu beigetragen, die einheitliche Perspektive der Encyclopedie, die den Herausgebern anfänglich noch vorschwebte, zerbröseln zu lassen.

87

Ebd„ S. 116.

88

Ebd„ S. 150. Schon im Prospekt heißt es entsprechend von Francis Bacon: »Da dieses außerordentliche Genie nicht in der Lage war, die Geschichte all dessen zu schreiben, was man wußte, schrieb er die Geschichte all dessen, was man erlernen mußte.« Ebd„ S. 117.

89

Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Enzy­ klopädie, Berlin 1993. - Für Deutschland vgl. Roland Mortier, Diderot in Deutschland 1750-1850, Stuttgart 1967, S. 117 ff. Allerdings ist Mortier sehr Robert Darnton,

undifferenziert in seiner Einschätzung der Diderot-Rezeption, sodass Zwi­ schentöne meist verloren gehen.

90 Werner Krauss, Notate aus den Vorlesungen von Werner Krauss zu den En­ zyklopädisten, TOPOS 8, Bonn 1996, S. 31.

Die Hauptströmungen der Aufklärung

83

Diese Gefahr hat Diderot bald erkannt. Schreibt er im Prospekt noch von der unverbundenen Besonderheit der einzelnen Dinge in der Natur, so heißt es dann in den Gedanken zur Interpretation der Natur: »Die absolute Unabhängigkeit einer einzigen Tatsache ist je­ doch unvereinbar mit der Idee vom Ganzen, und ohne die Idee vom Ganzen gibt es keine Philosophie mehr.«91 Diese Einsicht, die auf Hegels »Das Wahre ist das Ganze« vorausweist, hat Diderot im wei­ teren Verlauf seines Lebens nicht mehr preisgegeben; sie mit dem en­ zyklopädischen Prinzip der Mannigfaltigkeit in Einklang zu bringen, führte ihn über die Enzyklopädisten hinaus zu einer, allerdings noch unausgearbeiteten, Vorstellung von Dialektik des Naturzusammen­ hangs." Unausgearbeitet bleibt diese Dialektik, weil Diderot zwar die Not­ wendigkeit sieht, Gegensätze in einem Kontinuum zu vermitteln, wohl auch eine vermittelnde Instanz anzugeben, aber den Umschlag innerhalb des Kontinuums von einer »Qualität«, einer »Art«, einem »Modus« in den anderen nicht als Diskontinuität begreift, also die

lex continui nicht als Gattungsgesetz fasst, das die gegensätzlichen Arten von Kontinuität und Diskontinuität übergreift. »Diderot grün­ det den Zusammenhang also nur auf die Kontinuität. Das Moment des Diskontinuierlichen ist für ihn kein reales, sondern nur ein ge­ dachtes. Deshalb kann er kein konsistentes Prinzip des Zusammen­ hangs konzipieren,« und er scheitert daran, »daß er nicht zeigen kann, wie das Ganze produziert wird.«93 Weil ihm so ein Prinzip der Kon­ struktion der Veränderung fehlt, muss sich ihm die prozessuale Wirk­ lichkeit auf ein unauflösbares zenonisches Paradox reduzieren. »Wenn die Erscheinungen nicht miteinander verknüpft sind, gibt es keine Philosophie. W ären die Erscheinungen alle verknüpft, so könnte der

91 Diderot, a. a. O„ S. 125. 92 Vgl. hierzu Renate Wahsner, Das Verhältnis von Mathematik und Physik aus der Sicht von Denis Diderot, oder: Diderots Ansätze zu einer Naturdialektik, in NTM-Schriftenreihe Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin, Jg. 24 (1987) Heft 1, S. 13 ff. 93 Ebd„ S. 15. Diderot schreibt: »Wenn sich die Dinge nach und nach, in un­ merklichen feinen Übergängen verändern, so muß die Zeit, die nie stillsteht, zwischen den Formen, die einst existiert haben, den Formen die heute exis­ tieren, und den Formen, die in fernen, künftigen Jahrhunderten existieren werden, schließlich den größten Unterschied hervorbringen«, a. a. 0„ S. 466. Damit knüpft er an Leibniz an, verkennt aber die Bedeutung des Umschlags bei ihm.

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Die Aufklärung

Zustand jeder einzelnen doch unbeständig sein. Wenn der Zustand der Dinge aber in unaufhörlicher Veränderung begriffen ist; wenn die Natur trotz der Kette, die die Erscheinungen verbindet, noch am Werk ist, so gibt es keine Philosophie.«94 Da Bewegung und Verän­ derung jedoch durch die Erfahrung verbürgt sind und das Sein nur als zeitliches perzipiert werden kann, ist Diderot genötigt, die Grund­ elemente der Dialektik - die Dimensionen der Zeitlichkeit und Ver­ änderung - in seinen Naturbegriff aufzunehmen. »Man wird ersehen, warum ich in einige meiner Grundsätze die Begriffe des Vergange­ nen, des Gegenwärtigen und des Zukünftigen einbezogen und in die Definition, die ich von der Natur gegeben habe, die Idee von der Aufeinanderfolge aufgenommen habe.Ma­ terieNaturZum ewigen FriedenZum ewigen Friedengeschichtlichtranszendental< nicht eng kantianisch gebraucht. Siehe Stephan Otto, Vico als Transzendentalphilo­ soph, Archiv für Geschichte der Philosophie, Band 63, Heft 3, S. 67 ff. (1981). Ders., Umrisse einer transzendentalphilosophischen Rekonstruktion der Phi­ losophie Vicos anhand des Liber metaphysicus, in: St. Otto/H. Viechtbauer (Hg.), Sachkommentar zu Giambattista Vico >Liber metaphysicusin die W üste< (wenn diese W üste auch nur das Kloster von Port Royal des Champs oder von Saint­ Cyran war) zurückzuziehen und im absolutesten Sinne ausschließ­ lich für Gott zu leben.«70 Innerhalb des Jansenismus gab es verschiedene Reaktionen auf die geschichtliche Lage. Eine moderate Gruppe um Arnauld und Nicole hielt zwar die Welt für verderbt, aber »gerechte« (und gerechtfer­ tigte) Institutionen - wie Königtum, Justiz, Militär - und eigene Hand­ lungen für möglich und sinnvoll. Aus dieser Gruppe ging eine Frak­ tion hervor, die sogar den aktiven Kampf gegen das Übel in der Welt zu führen befürwortete. Der radikalere Flügel, der von Martin de Barcos, dem Abt von Saint-Cyran angeführt wurde, verwarf jedes Engagement in der Welt, auch den Kampf für Gott und die Wahr­ heit, und forderte den vorbehaltlosen Rückzug in die Einsamkeit, weil die Welt unverbesserbar schlecht und sündig sei. Pascal schloß sich zunächst dem Kreis um Arnauld an. Die gegen die Hauptfeinde der Jansenisten, die Jesuiten, gerichteten Lettres pro­ vinciales sind von der Geisteshaltung bestimmt, aktiv die Ideologie

der Jansenisten zu verteidigen und für das Rechte einzutreten. Mit dem verurteilenden päpstlichen Dekret von 1656, das 1657 vom König übernommen wurde, änderte sich Pascals Einstellung. Er hält nun das weltliche Engagement für nutzlos, die Wendung zur religiösen Inner­ lichkeit wird radikal. Aus dieser Radikalisierung sind die Pensees her­ vorgegangen. Gegenüber einer Welt- und Gesellschaftslehre, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Vernunftprinzipien zu grün­ den hätte (wie wir es in der Logique gesehen hatten), wird nun zur Hauptaufgabe des Menschen die Gewinnung und Behauptung seiner

70

Ebd„ a.a. 0„ S. 11. Dem politischen Expansionsprogramm und der ökono­ mischen Entwicklungspolitik der Regierung musste eine solche Abwendung tragender Schichten vom Staat gefährlich erscheinen. Daher die U nterdrü­ ckungsmaßnahmen gegen die Jansenisten. »Die Jahre 1637-38, über die es unseres Wissens keine zusammenhängende wissenschaftliche Arbeit gibt, spie­ len in der Geschichte Frankreichs eine entscheidende Rolle. In diesen Jahren tritt Frankreich aktiv in den Dreißigjährigen Krieg ein; werden in allen Pro­ vinzen Intendants ernannt, was eine wesentliche Schwächung der Parlamente zur Folge hat; erlebt das Land einen Höhepunkt der Bauernaufstände; er­ scheinen Descartes' >Discours de la Methode< und Corneilles' >CidSieh, so handelte ich, so dachte ich, so war ich! Ich habe das Gute und das Böse mit dem gleichen Freimut erzählt. Ich habe nichts Schlimmes verschwiegen, nichts Gutes hinzugefügt, und wenn es mir manchmal begegnete, daß ich einen bedeutungslosen Zierat verwandte, so geschah es nur, um eine Lücke zu füllen, die mir mangelnde Erinnerung verursachte. Ich habe als wahr das voraussetzen können, was, wie ich wußte, wahr sein konnte, nie das, was meines Wissen falsch war. (... ) Ewiges Wesen, versammle um mich die unzählbare Schar meiner Mitmenschen; sie sollen meine Bekenntnisse hören, über meine Nichtswürdigkeit seufzen und über meine Nöte erröten. ( ...)«9 Warum sollte der Leser ob Rousseaus Schandtaten seufzen und rot werden? Es könnte sie ja auch leidenschaftslos beurteilen, den Bekenner verwerfen oder ihn rechtfertigen, wie es die Einsicht in die Umstände gestattet. Aber Rousseau will kein Urteil. Er will Affekte, und selbst wo er bewusst schockiert, erwartet er noch fühlende An­ teilnahme. Welcher Zynismus spricht nicht aus dem Briefe, den er am 20. April 1754 an Madame de Francueil richtet: »Jawohl Madame, ich habe meine Kinder ins Waisenhaus gesteckt. Ich habe mit ihrem Unterhalt die dafür geschaffene Einrichtung be­ traut. Wenn mein Elend und meine Krankheiten mir die Möglichkei­ ten rauben, einer so lieben Sorge nachzukommen, dann ist dies ein Unglück, für das man mich beklagen, und kein Verbrechen, das man mir vorhalten sollte. Ich schulde ihnen den Lebensunterhalt und habe ihnen, da ich ihn nicht selbst zu geben vermochte, den besten oder

9

Rousseau, Bekenntnisse (Werke in 4 Bänden, a. a. 0„ Bd. I), S. 9.

Rousseau

201

sichersten verschafft. Dieser Punkt steht obenan. Danach kommt die Achtung für ihre Mutter, der man nicht an die Ehre gehen sollte. Sie kennen meine Lage, ich verdiene Tat um Tag mein Brot mit viel Mühe, wie sollte ich da noch eine Familie ernähren? Und wenn ich mich zum Beruf des Autors gezwungen sah, wie sollten die häusli­ chen Sorgen und der Kinderlärm mir in meiner Dachstube die für eine einträgliche Arbeit erforderliche geistige Ruhe lassen?«10 Da ist jedes Wort verlogen. Klingt es nicht wie ein Hohn, das Fin­ delhaus als die beste der möglichen Welten für seine eigenen Kinder zu betrachten? Kinder zur Welt zu bringen, sei eine Sache der Natur, meint Rousseau - der eine königliche Pension ausgeschlagen hat - und die Natur bringe genug hervor, um sie zu ernähren. »Doch ist es der Stand der Reichen, der dem meinigen das Brot für meine Kinder stiehlt.«11 Die Sozialanklage dient zur Tarnung der eigenen Verant­ wortungslosigkeit, der Jammer über den schlechten Stand seiner Ge­ sundheit ist eitle Hypochondrie. Als Rousseau dies schrieb, war er knapp 40 Jahre alt und fast 30 Lebensjahre standen ihm noch bevor. Aber Jahr für Jahr wiederholte sich die Wehklage um seinen nahen Tod. Idealist und Kanaille zugleich - so bezeichnete Nietzsche den Ver­ fasser der Bekenntnisse.12 Sein Idealismus ließ ihn die Natur in jeder ihrer Äußerungen gut finden, die Menschenwelt hingegen übel; und dem Bösen durfte man wohl, so lautete die zynische Folgerung, auch ohne Skrupel zuwiderhandeln. Gut also ist es, den natürlichen Trieben zu folgen und Kinder zu zeugen; böse ist eine Gesellschaft, die mit ihren jungen, unmündigen Bürgern nichts anzufangen weiß; folglich darf der Vater die Gesellschaft zwingen, ihrer Sorgepflicht nachzu­ kommen, indem er die Kinder ins Waisenhaus gibt. Gewiss, der So­ phismus ist leicht durchschaubar, aber Rousseau trägt ihn mit einem Ton des Selbstmitleids vor, der an die Rührseligkeit eines Schmieren­ komödianten gemahnt. Und er hat Erfolg damit, besonders bei den Damen der Gesellschaft. Empfindsamkeit ist Mode.

10

Rousseau an Mme. de Franceuil, 20. 4. 1754. Deutsch nach Winfried Schrö­ der, Rousseau, ein Lesebuch, a.a.O„ S. 361.

11

Ebd„ S. 362.

12

Friedrich Nietzsche, Werke, ed. Schlechta, München 1955, Bd. II, S. 1023: »

Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und Kanaille in einer Per­

son; der die moralische >Würde< nötig hatte, um seinen eigenen Aspekt aus­ zuhalten; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung.«

202

Die Wiederkehr des Irrationalen

Rührseligkeit dient als Rechtfertigung für die Immoralität des Genies. Der Geniekult gedeiht auf der Basis der Empfindsamkeit.13 Soziale Rebellion vermischt mit individueller nihilistischer Lebens­ führung. Sind hier nicht die Aspekte modernen Literatentums vor­ gezeichnet? Der Zyniker und Nihilist Rousseau aber wurde, in der Auseinandersetzung mit dem pessimistischen Skeptiker Voltaire, zum leidenschaftlichen, hymnischen Verfechter des Guten in der Welt. Böse ist nur der Mensch, der der Natur entfremdet ist, der sich nicht mehr zu verhalten weiß, wie die Natur es gebietet. Er selbst stürzt sich in Ungemach und muss die Leiden erdulden, die er dann irrend der Natur zur Last legt. Voltaire hatte das furchtbare Erdbeben von Lissabon, dem Zehntausende zum Opfer gefallen waren, als Zeugnis für den natürlichen Übelstand der Welt angeklagt.14 Rousseau entgeg­ nete ihm, dass nicht die Natur die schrecklichen Folgen der Erschüt­ terung bewirkte, sondern die naturwidrige Existenz des Menschen. Er schreibt an Voltaire: »Gestehen Sie zum Beispiel, daß es nicht die Natur war, die dort 20 000 sechs- bis siebenstöckige Häuser hingestellt hatte, und daß,

wenn die Einwohner dieser großen Stadt mehr zerstreut und beque­ mer gewohnt hätten, der Schaden viel geringer oder vielleicht gleich Null gewesen wäre. Alle wären bei der ersten Erderschütterung ge­ flohen, und am nächsten Tage hätte man sie zwanzig Meilen weiter entfernt so vergnügt gesehen, als wäre nichts geschehen. Aber nein, man muß bleiben, sich an das alte Gemäuer klammern, sich neuen Erdstößen aussetzen, weil das, was man zurückläßt, mehr wert ist als das, was man hinwegtragen kann. Wieviel Unglückliche sind bei diesem schrecklichen Ereignisse umgekommen, der eine, weil er seine Kleider, der andere, weil er seine Papiere, und wieder ein anderer, weil er sein Geld retten wollte! Weiß man denn nicht, daß die Person eines jeden Menschen der geringste Teil seiner selbst geworden ist, und daß es fast nicht der Mühe lohnt, sie zu retten, wenn man alles übrige verliert?«15

13

Vgl. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen

Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Darmstadt 1985. 14 Voltaire wandte sich mit polemischer Leidenschaft gegen den Theodizee-Ge­ danken. Das Erdbeben von Lissabon wurde ihm zum Beispielsfall dafür, dass die Welt nicht als »wohl eingerichtet« oder gar als »beste aller möglichen« aufgefasst werden dürfe.

15 Rousseau an Voltaire, 18.8.1756, nach Kircheisen, a.a.O„ S. 56.

Rousseau

203

Es ist derselbe Rousseau, der in Briefen und autobiographischen Schriften mit immer neuen Wendungen seine bemitleidenswerte Armut beklagt und hier mit großspuriger zivilisationskritischer Atti­ tude die Bedürfnislosigkeit preist, ein Diogenes der Neuzeit, bei dem das kynische Ideal der Genügsamkeit und Tugendhaftigkeit in Zy­ nismus umschlägt: Natürlich ist Rousseaus Tirade die rhetorische Wiederaufnahme der Motive des ersten Discours (worauf wir zurück­ kommen), die er ein Jahr zuvor, noch um Einvernehmen mit Voltaire bemüht, herunterzuspielen bemüht war. Voltaire hatte ihm, durch­ aus wohlwollend, scherzhaft geschrieben: »Man bekommt Lust, auf allen vieren zu laufen, wenn man Ihr Werk liest. Da ich mich dieser Gewohnheit aber schon seit Jahren entschlagen habe, empfinde ich leider, daß es mir nicht möglich ist, sie wieder aufzunehmen.«16 Rousseau hatte ebenso scherzhaft geantwortet: »Versuchen Sie also nicht, auf alle viere zurückzufallen, niemandem in der Welt könnte das schlechter gelingen als Ihnen: Sie richten uns nur allzugut auf unseren beiden Beinen auf, als daß Sie sich nicht mehr der Ihren bedienen sollten.«17 Dann aber, eingepackt in viele Schmeicheleien für den großen Voltaire, tat er so, als sei seine Kritik am Nutzen der Wissenschaften nur gegen den Missbrauch des Wissens durch das ge­ meine Volk gerichtet, was dem elitären Aufklärungspapst gefallen sollte: »Wenn es richtig ist, daß große Geister die Menschen be­ lehren, so muß der gemeine Mensch ihre Unterweisungen empfan­ gen. (...)Das Volk nimmt die Schriften der Weisen nicht auf, um sich zu bilden, sondern um Urteile zu fällen.«18 Es könnte scheinen, als handele es sich hier um charakterliche Zweideutigkeiten, über die man hinwegsehen könnte, wenn es um den gedanklichen Gehalt von Rousseaus Thesen geht - so wie man über Voltaires Eitelkeit und Intrigenhaftigkeit hinwegsehen kann, wenn man den Sachgehalt seiner Schriften erörtert. Doch in der Tat liegt es bei Rousseau anders. Seine Gedanken beziehen ihre Legiti­ mation aus der Subjektivität seiner Empfindungen, nicht aus der Logizität des Arguments oder aus der Genauigkeit der Wirklich­ keitsbeschreibung und Analyse. Was in der Logique de Port Royal noch als raison und science unumstößlich festgehalten worden war, zerfließt hier in die Bekundung von persönlichen Eindrücken und

16

Voltaire an Rousseau, 30.8.1755, nach Schröder, a.a.0., S. 364.

17

Rousseau an Voltaire, 7.9.1755, nach Schröder, a.a.O„ S. 367.

18

Ebd„ S. 368 f.

204

Die Wiederkehr des Irrationalen

Gemütszuständen. Nicht das Argument, sondern die private Lebens­ einstellung soll einer Auffassung zur Durchschlagskraft verhelfen. Der Schluss des schon zitierten Briefes an Voltaire zeigt deutlich die­ sen rhetorischen Gestus: »Ich kann nicht umhin, mein Herr, bei die­ ser Gelegenheit einen sehr seltsamen Widerspruch zwischen Ihnen und mir in bezug auf den Gegenstand dieses Briefes anzuführen. Von Ruhm übersättigt, über eitle Größe erhaben, leben Sie frei im Schoße des Überflusses; Ihrer Unsterblichkeit ganz gewiß, philosophieren Sie ruhig über die Natur der Seele, und wenn der Körper oder das Herz leidet, so haben Sie Tronchin als Arzt zum Freunde. Dennoch finden Sie nur Schlechtes auf der Welt. Und ich, ein unbedeutender, armer und von einem unheilbaren Leiden gequälter Mensch, denke in meiner Einsamkeit mit Vergnügen nach und finde, daß alles gut ist. Woher kommt dieser augenscheinliche Widerspruch? Sie selbst haben die Erklärung dafür gegeben: Sie genießen, ich aber hoffe, und die Hoffnung verschönt alles.«19

3. Dialektik der Geschichte Voltaire war nicht so sehr über eitle Größe erhaben, wie Rousseau ihm schmeichelte. Er verwand diesen Brief nie und wurde aus einem wohlwollenden Gönner zu einem erbitterten, intrigierenden Gegner Rousseaus, der dem aus Frankreich Vertriebenen die Aufnahme in seiner Heimatstadt Genf unmöglich machte und die Indizierung des auch in Frankreich verbrannten Emile betrieb. Man würde allerdings Voltaire unrecht tun, schriebe man seine Feindschaft gegen Rousseau, die sich zu den unerfreulichsten For­ men denunziatorischer Polemik steigerte, nur beleidigter Eitelkeit zu. Der tiefere Grund des Zerwürfnisses - auch Diderot und d' Alembert brechen, aus jeweils anderen Anlässen, mit Rousseau - ist der un­ überbrückbare geschichtsphilosophische, und das heißt auch politi­ sche Gegensatz, der mit der Veröffentlichung des ersten Discours sichtbar wurde: »Gewiß waren es vor allem Gegensätze prinzipieller Natur, die den Bruch mit den Philosophen der Aufklärung unvermeid­ lich machten. Die Aufklärung hatte einen neuen Typus geschaffen. Anstelle der Vereinzelung der bisher geltenden stoischen überliefe-

19

Rousseau an Voltaire, 18. 8. 1756, a.a.O„ S. 66 f.

Rousseau

205

rung wurde der Platz des Philosophen in der Mitte der Gesellschaft seiner Gegenwart gefunden. Man empfand den Rückzug Jean-Jacques Rousseaus auf sein individuelles Dasein als Flucht. Der Gegensatz zwischen Rousseau und den Aufklärungsphilosophen wurde vor allem in der Geschichtsphilosophie offenbar.«20 Mit der These, die Kulturgeschichte der Menschheit sei eine Ver­ fallsgeschichte - die spätere decadence-Theorien vorbereitete - hatte Rousseau das Zentrum aufklärerischer Fortschrittserwartung getrof­ fen und eine polemische Gegenposition gegen den Geist der En­ cyclopedie bezogen. Dass er auch noch aus traditionell religiöser Per­ spektive im Emile den Atheismus und Materialismus angriff, machte das Maß voll - und muss besonders Voltaire erbittert haben.21 Die Auf­ klärung schied sich nun in zwei kontroverse Lager: das bürgerliche, selbst wieder in Fraktionen gespaltene, dem Voltaire, die Enzyklo­ pädisten und die Materialisten angehörten, und dessen Grundsätze durch einen metaphysischen und anthropologischen Materialismus, durch Wissenschafts- und Forstschrittsorientierung, durch eine von Montesquieu formulierte konstitutionelle Rechts- und Staatskon­ zeption, kurz allgemein durch die Berufung auf die Vernunft bestimmt wurden; und eine von Rousseau repräsentierte basisdemokratisch­ plebejische Linie, die geschichtstheoretisch progressiv, jedoch welt­ anschaulich mit gefährlichen reaktionären Zügen (Irrationalismus, Fortschritts- und Wissenschaftsfeindlichkeit, anarchisch-individua­ listische Lebenseinstellungen) vermischt war.22 Wir lassen gemäß der programmatischen Einschränkung dieser Pro­ blemgeschichte auf die Denkfiguren der Dialektik die welthistorisch bedeutende Funktion des Contrat social und der Antithese von vo­ lonte generale und ·volonte de tous, von citoyen und bourgeois außer

20 Werner Krauss, a.a. 0„ S. 300. 21

Ebd„ S. 301: »Zwar greift seine politisch-gesellschaftliche Lehre weit über die Aufklärung hinaus, aber zugleich tut er in anderer Hinsicht einen Schritt zu­ rück, indem er dem Atheismus von Helvetius, Diderot und d'Holbach ein theistisches System entgegensetzt.«

22

Dieser Widerspruch setzt sich bis zur französischen Revolution fort. Robes­ pierres Rousseauismus ist ambivalent; allerdings hat Robespierre keineswegs alle rousseauistischen Züge übernommen, es bleibt bei ihm auch der Impuls der Materialisten und Enzyklopädisten präsent. Die Ideologie der Vorrevo­ lutions- und Revolutionszeit ist vielfältig und in sich widersprüchlich, wie die gesellschaftliche Situation. Zu Robespierre vgl. Georges Labica, Robes­

pierre. Une politique de la philosophie, Paris 1990.

206

Die Wiederkehr des Irrationalen

Betracht und konzentrieren uns auf das geschichtsphilosophische Grundschema der beiden Discours.23 Ihr Übersetzer, Kurt Weigand, hat in einer facettenreichen Interpretation das gegenüber aller frü­ heren Kulturkritik Neue und Fundamentale hervorgehoben (womit er zugleich die Ablehnung durch die Aufklärer erklärt): Rousseau formuliert mehr als eine Zivilisationskritik aus dem Geist überfei­ nerter Bukolik, obwohl die Verliebtheit der höfischen Gesellschaft in das artifizielle »einfache Leben« der Schäferspiele zu seinem Er­ folg beigetragen hat;24 was jedoch den Discours über klassischen Kul­ turpessimismus und kokette intellektuelle Spielerei weit hinaushob, war die Prätention, eine geschichtliche Notwendigkeit zu erkennen. Die stoische heimarmene wird aus einem zyklischen in ein lineares Modell der Geschichtszeit übertragen und so jede Versöhnung mit der Zukunft, aber auch jede Versöhnung mit der Notwendigkeit des Verfalls vermittels der Zukunft (die die Zeit wieder wenden wird) ausgeschlossen. Weigand spricht von »Rousseaus Gesetz«, dem er die Fassung gibt: »Diesem Gesetz zufolge entarten die Sitten in dem Maße, in dem Kunst und Wissenschaft fortschreiten. Der Mensch fiel, während er stieg; er hielt seinen Verfall für seine Vollendung.«25 Dies ist in der Tat das Schema einer »negativen Historik«26 - und wer in den Kategorien der Negation bzw. der Negativität die Form­ bestimmtheit der Dialektik sieht, der muss Rousseau zum Prä-Hegel, gar zum Prä-Marx befördern und in seinem Oeuvre, das durchweg mit Ausnahme des Contrat social - von der prägenden Kraft der Negativität bestimmt wird, die erste große Manifestation der Ge­ schichtsdialektik sehen.27 Rousseau ist allerdings den meisten Aufklä­ rungsphilosophen überlegen in der Einsicht in die Widersprüche, die

23

In diesen konzentriert sich die kulturkritische Position Rousseaus, von der er auch später nicht abgewichen ist.

24

Vgl. dazu Weigand, a.a.O„ S. XVII: »Keiner seiner Bewunderer - vielleicht Duclos ausgenommen - dachte ernstlich daran, die so emphatisch dargebote­ nen Ansichten zu teilen. ( ) Die Befehdeten empfanden seine Argumente als „.

bloße Pointen.« 25

Ebd„ S. XXVIII. Vgl. dazu Rousseau im 1. Discours, a.a. 0„ S. 15: »In dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste zur Vollkommenheit fort­ schritten, sind unsere Seelen verderbt worden « (siehe oben). Und im 2. Dis­ cours: »Da alle Fortschritte der menschlichen Gattung sie unaufhörlich von ihrem ersten Zustand entfernen, berauben wir uns umso mehr der Mittel zur Erlangung der wichtigsten von allen Kenntnissen, je mehr wir neue aufhäufen.«

26

Ebd„ S. LVI.

27

Zu dieser Deutung neigt nicht nur Kurt Weigand, sondern auch Iring Fetscher.

Rousseau

207

den Geschichtsprozess vorantreiben. Aber der Aspekt der Dialektik, demgemäß im Kampf der Gegensätze und in der Inkompatibilität der bestimmten Widersprüche eine neue Qualität und Struktur der Wirk­ lichkeit entsteht, kommt bei Rousseau überhaupt nicht in den Blick: »Verfolgen wir den Fortschritt der Ungleichheit durch diese verän­ dernden Revolutionen, so finden wir, daß die erste Etappe die Einfüh­ rung der Gesetze und des Eigentumsrechts, die zweite die Einsetzung der Ämter und die dritte und letzte die Verwandlung der legitimen Ge­ walt in willkürliche war. Auf diese Art wurde der Stand der Reichen und der Armen durch die erste Epoche ermöglicht, der der Mächtigen und der Schwachen durch die zweite und der der Herren und Knechte durch die dritte. Das ist der höchste Grad der Ungleichheit und das Ziel, zu dem alle anderen hinführen - bis neue Revolutionen die Regie­ rung vollkommen auflösen oder der legitimen Einrichtung annähern.«28 Die drei Stufen (Eigentum stitutionen

=

=

Gegensatz von Reich und Arm; In­

Gegensatz von Mächtigen und Schwachen; Gewalt

=

Gegensatz von Herr und Knecht) unterscheiden sich nicht qualitativ. Das durch Gesetze garantierte Eigentum impliziert Institutionen, und deren Durchsetzungsfähigkeit beruht auf Gewalt.29 Hier ist keine Dialektik am Werk. Allein indem Rousseau die Eigentumsfrage ins Zentrum seiner Beschreibung der Verfallsgeschichte der Menschheit stellt, akzentuiert er eine Perspektive, die später von sozialistischen Theoretikern vertieft wird; ich sehe allerdings nicht, dass er einsichts­ voller als Proudhon gewesen wäre, dessen Slogan »Eigentum ist Dieb­ stahl« auch schon bei Rousseau hätte stehen können. Rousseau no­ tiert mit Nachdruck den Zusammenhang von Luxus auf der einen und Elend auf der anderen Seite - aber auch hier in der Form eines Zusammenfalls antithetischer Momente, nicht als Entspringen des Gegenteils aus einer Position, also des Elends

aus dem gesellschaft­

lichen Wohlstand." Dass zunehmender gesellschaftlicher Wohlstand was Adam Smith dann

wealth of nations nennt - aus dem Fortschritt

von Wissen, Wissenschaft und Technik hervorgeht, ist Rousseau durchaus bewusst. Diese Position der »Modernen« in der

Querelle

28

2. Discours, a.a.O„ S. 251.

29

Vgl. Hans Heinz Holz, Macht und Recht, in Helmuth Plessner (Hg.), Sym­

philosophein, München 1953, S. 64 ff. 30

Hegel hat Luxus und Elend als Produkte der Befriedigung der Bedürfnisse über die Bildung privatrechtlich gesicherten Eigentums abgeleitet und damit die Marxsche Akkumulationstheorie vorbereitet. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rechtsphilosophie, §§ 189-195.

208

Die Wiederkehr des Irrationalen

bestreitet er nicht. Er setzt nur den Wertakzent konträr: Dieser Fort­ schritt ist schlecht, er führt zum Verfall der Sitten.31 »So war zu allen Zeiten Luxus, Ausschweifung und Sklaverei die Strafe für die ehrgei­ zigen Anstrengungen, die uns aus der glücklichen Unwissenheit füh­ ren sollten, in die uns die ewige Weisheit verwiesen hatte.«12 Das Gegenbild ist das eines einfachen Lebens der Urzeit. Rous­ seau übernimmt hier einen Topos, der sich durch das gesamte Auf­ klärungszeitalter zieht, die Exotik als kritische Instanz gegenüber der eigenen Gesellschaft, die Utopie des »guten Wilden«;13 er über­ trägt das Idealbild aus dem topographischen Modell der Ferne in das historiographische der Vorzeit, wobei der theologische Archetyp des paradiesischen Standes der Unschuld vor dem Sündenfall geschichts­ philosophisch gedeutet wird. »Man kann nicht über die Sitten nach­ denken, ohne sich gern des Bildes der Einfachheit der Urzeiten zu entsinnen: ein schönes, allein von den Händen der Natur geschmück­ tes Gelände, dem man ohne Unterlass die Augen entgegengewandt hält, und man fühlt Trauer, dass man sich davon entfernt hat. Als die unschuldigen und tugendhaften Menschen es liebten, die Götter zu Zeugen ihres Handelns zu haben, lebten sie zusammen in ihren Hüt­ ten. Bald darauf, als sie böse geworden waren, wurden sie dieser un­ bequemen Zuschauer müde und verbannten sie in prächtige Tempel. Schließlich jagten sie sie ganz davon, um sich selber darin einzu­ richten; zumindest unterschieden sich die Göttertempel nicht mehr von den Bürgerhäusern. Das wurde nun der Gipfel der Verderbnis. Die Laster waren niemals weitergetrieben als wo man sie auf Mar­ morsäulen am Eingang der Paläste der Großen, eingegraben auf ko­ rinthische Kapitelle, sozusagen öffentlich verteidigt sah.«34 Diese Umkehrung des Richtungssinns der Geschichte, die statt der »Erziehung des Menschengeschlechts«15 nur einen Prozess der De­ kadenz sehen möchte, rückt Rousseau nun ganz und gar in das Vor­ feld romantischer und reaktionärer Kulturphilosophien. Bei ihm er-

31 Nietzsche bezeichnet Rousseau bösartig als »Moraltarantel«, Werke, a. a. 0„ Bd. I, S. 1013. 32

1. Discours, a. a. 0„ S. 27.

33 Wolffs Rede über die Sineser, Montesquieus Lettres persanes, Diderots Nach­

trag zu >Bougainvilles Reise< sind Zeugnisse dieser Projektion kritischer Nar­ men auf eine idealisierte Fremdwelt. 34 1. Discours, a. a. 0„ S. 41. 35

Lessing befindet lapidar: »Man könnte verschiedenes gegen ihn einwenden.«

Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, München 1972, Bd. III, S. 291.

Rousseau

209

scheint wegweisend das Motiv, die Barbarei Spartas gegen die Kultur Athens auszuspielen.36 Voltaires Zorn gegen diesen einstigen Mit­ streiter der Encyclopedie wird angesichts solcher Parteinahme gegen Vernunft, Wissenschaft und Fortschritt verständlich.

4. Europäische Wirkung Rousseau war zeit seines Lebens mit sich selbst entzweit, nie gelang es ihm, mit seinem Körper in Übereinstimmung zu sein, und auch an seinem Geiste, auf den er zugleich so stolz war, zweifelte er immer wieder. Ja in seinen letzten Lebensjahren verzichtete er, der berühmte Schriftsteller, ganz und gar auf das Schreiben und brachte sich in einer Pariser Dachstube lieber mit dem Kopieren von Noten durch, als dass er noch eine Zeile veröffentlicht hätte. Auch darin wirkt Rousseau so modern. Er ist bewusst und un­ verhüllt zwiespältig. Er kehrt die Widersprüchlichkeit seiner Person heraus, ohne eine Integration seiner gegensätzlichen Wesenszüge zu erstreben. Indem er die kontradiktorischen Möglichkeiten seiner Exis­ tenz offen vorlebt, stellt er die neue Erkenntnis vom Menschen dar, vom Menschen als einem schillernden, unbestimmten, keineswegs aus Vernunft determinierten Geschöpf der Natur. Im Grunde hat Rousseau sich nie von den Voraussetzungen seines ersten Discours entfernt. An die Stelle von Maß und Vernunft hat er eh und je Lei­ denschaft und Formlosigkeit gesetzt. Sein Leben sprengt die Regeln verständigen Verhaltens, seine Werke missachten die Gesetze der lite­ rarischen Gattungen; im Leben wie im Schreiben ist alles quellendes, wucherndes, ungebändigtes Dasein. Die Explosionskraft, mit der er die Konventionen der höfischen Epoche sprengt und diese Epoche der Selbstzerstörung ausliefert, legt den Weg frei für die Französi­ sche Revolution, die aus der Rationalität der Aufklärung erwachsen, der unbezähmbaren Leidenschaft bedurfte, um ausbrechen zu können. Rousseau versteht die Welt im Protest gegen die verfestigten Ord­ nungen des Verstandes. Er schafft damit Raum für die Autonomie des Gefühls. Die Ordnungen des Verstandes waren indessen auch die Ordnungen der Staatsraison, die sich verstandesgemäß gab, um die Freiheit zu unterdrücken. Rousseaus Protest ist ein Protest gegen

36

1. Discours, a. a. 0



S. 21.

210

Die Wiederkehr de s Irrationalen

den Absolutismus des 18. Jahrhunderts in Frankreich. Darum ist sein Freiheitspathos fortgeschrittener als das seiner deutschen Nachfol­ ger, wenn auch unreflektierter. Was bei Kant und im subjektiven Idealismus als die ideelle Befreiung des erkennenden Subjekts voll­ zogen wird, nämlich der Aufweis der Subjektivität der Erkenntnis selbst - das ist bei Rousseau noch die reale politische Freiheit des In­ dividuums, das gegen den Zwang der Gesellschaftsordnung rebelliert. Erscheint bei Kant die Selbstbestimmung des Menschen als die Auto­ nomie seiner Erkenntnisfunktionen, so ist sie bei Rousseau das erste Prinzip des Staatsrechts. Wie eine Vorwegnahme der Fanfarenklänge des Kommunistischen Manifests tönen die ersten Sätze des Contrat social: »Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.

Mancher hält sich für den Herrn der andern, der dennoch mehr Sklave ist als sie. Wie ist es zu dieser Veränderung gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann sie rechtmäßig machen? Wenn ich nur die Gewalt und die daraus entspringende Wirkung in Betracht zöge, würde ich sagen: solange ein Volk zu gehorchen gezwungen ist und gehorcht, tut es gut daran; sobald es sein Joch abschütteln kann und es abschüttelt, tut es noch besser daran; denn wenn es seine Freiheit durch dasselbe Recht, das sie ihm geraubt hat, zurückerlangt, ist es entweder berechtigt, sie sich wieder zu nehmen, oder man war nicht berechtigt, sie ihm zu entziehen. (...) Diese allen gemeinsame Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen. Es ist sein erstes Gesetz, über seine eigene Erhaltung zu wachen; seine ers­ ten Dienste schuldet er sich selbst; sobald er erwachsen ist, ist er allein Richter über die zu seiner Erhaltung tauglichen Mittel und wird da­ durch sein eigener Herr. ( ...) Da alle gleich und frei geboren sind, übereignen sie ihre Freiheit lediglich zu ihrem Nutzen.«37 Das klingt anders als die misanthropische Gesellschaftskritik im zweiten Discours. Das ist der Ton, von dem sich die Revolutionäre aller Zeiten angesprochen fühlten, er ist es, der bei Robespierre wei­ terklingt. Hier greift Rousseau auf die Prinzipien zurück, die die Aufklärungsphilosopie bestimmten: Freiheit, das heißt Selbstbestim­ mung aus Vernunft. In der Revolution wird offenkundig, dass eine Freiheit, die nicht Vernunft, sondern Interessen zu ihrem Inhalt macht, sich selbst zerstören würde. Freiheit erfüllt sich nur in der allgemeinen Vernunft, und dies ist es, was den Begriff der Tugend

37

Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, Kapitel 1, Werke, Bd. IV, a.a.O., S. 270.

Rousseau

211

bei Robespierre auszeichnet. Sie ist keine individuelle und morali­ sche, sondern eine gesellschaftliche und politische. Robespierre trans­ formiert Rousseaus moralische Tugendlehre in eine politische. Der kategoriale Transformator ist die ·volonte generale. In ihr wird die Allgemeinheit der Vernunftprinzipien zum Impuls, der das Handeln der Menschen antreibt. »Damit sich die Behauptung der Prinzipien praktisch durchsetzen, ausbreiten und ihre Spuren in der Welt hinter­ lassen konnte, mußte sich das Denken faktisch mit einer durchschla­ genden Tatkraft, einer zusätzlichen Kraft verbünden. Mit anderen Worten, die spekulative Vernunft durfte nicht abgesondert im Reich der Ideen verbleiben, sondern mußte sich mit einer eindringlichen Gefühlskraft doppeln: ihre Ausbreitung selbst hing davon ab

(„.)«38

Rousseau setzte die Leidenschaften in Bewegung. So wurde er zu einem französischen Ereignis und blieb es als der große Anreger, der noch in Bergson und Sartre lebendig ist. Aber Franzose im Sinne der lateinischen und cartesischen Tradition der Nation war er eigentlich nicht; wie ein erratischer Block liegt er in der Landschaft dieser Kul­ tur. Kongenial war ihm der deutsche Sturm und Drang, Lenz und Klinger, der junge Goethe und der junge Schiller. Die Räuber sind ein Werk aus dem Geiste Rousseaus, und seine volle Inkarnation hat er im Werther gefunden, der noch zu Lebzeiten Rousseaus erschie­ nen und nicht weniger sensationell wirkte als die Nouvelle Heloise. Rousseau wirkte binnen kurzem weit über die Grenzen Frank­ reichs hinaus. Nicht so sehr allerdings durch sein Verdikt gegen Kunst und Wissenschaft, in dem er die Inhalte der Kulturkritik einer spä­ teren Generation vorausnahm. Hegel entdeckte darin den Umschlag des Positiven in sein Gegenteil, die Negativität im Herzen der Posi­ tivität, die Widersprüchlichkeit alles Historischen an sich selbst. Marx führte das Thema fort, entwickelte die Selbstentfremdung und Selbst­ entäußerung des Menschen im Zivilisationsprozess als Inhalt der Ge­ sellschaftskritik über Rousseaus apen,uhafte Feststellung hinaus, in­ dem er den Grund dieses Prozesses in den Produktionsverhältnissen freilegte. Hegel wie Marx setzen dem Verfall des Menschseins in der Zivilisation nun allerdings kein sentimentales Bild einer vermeintli­ chen Natürlichkeit entgegen und kennen auch keinen seligen Urzu­ stand des Menschen in seiner natürlichen Verfassung. Wie Hegel ent­ larvt auch Marx die biblische Paradiesvorstellung vom unschuldigen

38

Jean Starobinski,

1789-Die Embleme der Vernunft,

Paderborn 1981, S.

50.

212

Die Wiederkehr des Irrationalen

Menschen der Urzeit, der erst durch den Sündenfall der Zivilisation böse geworden sei. Ihr Humanismus nimmt die Negativität als not­ wendigen Durchgang auf dem Wege des Fortschritts hin - Hegels Einsicht in die Rolle der Negation und der Vermittlung erlaubt kei­ nen naiven Rousseauismus mehr; und Marx setzt als Zielvorstellung einen Endzustand der »Vorgeschichte der Menschheit«, der besser ist als die Ausgangslage, nämlich das Reich der Freiheit als Reich der Kultur. Marx hat die rousseauistische Kulturkritik und die darin lie­ gende rückwärtsgewandte Utopie vom Kopf auf die Füße gestellt: nicht retour a la nature, sondern »Naturalisierung des Menschen, Humanisierung der Natur.« Das waren späte, sozusagen retardierte Wirkungen, denen wir uns noch heute als höchst aktuellen Momenten unseres geschichtlichen Seins gegenüber sehen. Unmittelbar jedoch löste Rousseau ein anderes aus: Er enthemmte die aufgestaute Gefühlsseligkeit, den Überschwang, der in einer zeremoniellen Lebensweise in die strengen Regeln des höfischen Rituals eingefangen worden war. »Die Rehabilitierung des Primitiven, des Kindes, des Tugendhaften und des Volkes konnte nur sensationell wirken, wo es als Ausnahme und Entdeckung empfunden wurde. Nur auf dem höfischen Hintergrund ist der Naive >interes­ santRousseauismus< wurde zum Modetrend, und kei­ neswegs alles, was sich unter diesem Namen sammelte, ist dem Stamm­ vater zu- und anzurechnen. Selbst die griffige Formel retour a la nature findet sich nicht bei ihm und ist eine journalistische Verein­

fachung. Aber der Impuls, was er auch in Bewegung setzte, ging von ihm aus. Er setzte das Individuum in sein Recht ein. Es durfte nun die Stilform des Ancien Regime durchbrechen, seine Besonderheit ge­ wahren, ganz und gar es selbst sein. Erstmals wurde Individualität ein Wertbegriff, ein Wertbegriff, der unabhängig war von den mora­ lischen Qualitäten des Individuums oder seiner Stellung in der Hier­ archie der Gemeinschaft. Der höchste Rang des Menschseins ver­ wirklichte sich im Originalgenie - der Ausdruck entstand, wie die Sache, in jenen Jahren. Die Aufklärungszeit hatte Allgemeinverbind­ lichkeiten konstituiert: der Verstand, die Sprache, der Naturbegriff des Naturrechts - sie beanspruchen Gültigkeit für alle Menschen. Indem sie als anthropologische Wesensmerkmale ausgezeichnet werden, ist etwas festgestellt, worin der Einzelne mit jedem anderen Einzel­ nen übereinstimmt. Die Gattungsbestimmungen lassen dem Indivi­ duum nur den geringen Spielraum des mehr oder weniger. Jetzt entdeckte der Einzelne seine Einzigartigkeit im Gefühl. Alle Menschen fühlen zwar - und insofern sind sie menschlich verbun­ den; was sie aber fühlen, ist prinzipiell nur ihr unverwechselbares, unmittelbares Eigenes, durch das sie gerade zu dem werden, was sie sind. Die Sprache reicht nicht, um dieses Gefühl auszusagen, der Verstand kann es schon gar nicht erfassen, und als Natur ist es un­ übersetzbar in die Formeln der Zivilisation. Der Naturbegriff wandelt sich, er gerät in Widerspruch zur Kultur, statt mit ihr zu koinzi­ dieren. Die >unberührte< Natur wird zum Ideal, nicht die kultivierte.

41 Siehe dazu Roland Barthes, Der Baum des Verbrechens; und Pierre Klos­ sowski, Der ruchlose Philosoph; beide in: Das Denken von Sade, hg. von Tel Quel, deutsch München 1969, S. 7 ff. und 39 ff.

214

Die Wiederkehr des Irrationalen

Von all dem zehren wir noch heute. Wohl verstellen wir uns die Natur selbst umso mehr, je eifriger wir sie suchen - hier setzt sich wieder die Dialektik der Zivilisation durch, die Rousseau im ersten

Discours beschrieben hat.Je seltener es uns indessen gelingt, der na­ türlichen Natur habhaft zu werden, desto hartnäckiger jagen wir ihr als einem gepriesenen Ideal nach. Die Sehnsucht nach der vom Men­ schen noch nicht verdorbenen Welt, der Überdruss an der Zivilisation sind geblieben. Die Vorliebe für Reisebücher gibt es seit Rousseau, gleichfalls den Hang zur Exotik. Dergleichen kennen wir in der deutschen Literatur unseres Jahr­ hunderts von Waldemar Bonsels' Indienfahrt bis zu Ernst Jüngers

Sarazenenturm. Ein großer Teil romantischer Irrealismus steckt darin, der schon bei Rousseau angelegt war, ebenso wie eine berechtigte Anti­ Stellung zu einem pervertierten, ungenügenden Leben. Beide Affekte bekommen, je weiter die geschichtliche Entwicklung fortschreitet, einen rückschrittlichen Akzent, der ihnen auch bereits bei Rousseau anhaftet. Retour a la nature war ein Revolutionsruf gegen die natur­ widrige Gesellschaft, doch zugleich ein Lockruf in ferne, obschon höchst unmenschliche Vorzeiten. Dass der humane Prozess zunächst stärker durchschlug, lag an der Bereitschaft der vorrevolutionären Epoche. Rousseaus Wirkung stand im Zeichen des Jahres 1789, das seine Schatten vorauswarf. Im 19. und im 20. Jahrhundert musste sich der Effekt umkehren: der Protest gegen die Kultur galt als Votum für die Barbarei. So ist Rousseaus Philosophie seltsam ambivalent, verbindet sich mit sehr entgegengesetzten historischen Tendenzen. Auch die Entdeckung der Subjektivität ist doppelgesichtig. Sie ist einerseits ein Moment in der Freisetzung des Menschen auf seine eigenen persönlichen Möglichkeiten hin, ein entscheidender Zug der Selbstbefreiung des Menschen aus der Objektivität, in die ihn die konventionellen Lebensordnungen verbannten. War das Individuum zuvor versteinert in der Anpassung an die Welt, deren Strukturen alles einzelne bestimmen - so wird es nun zum Schöpfer dieser Welt, deren Formen es als seine eigenen versteht. Anderseits aber ist das Subjekt damit seiner Bindung an die vor­ geordnete Realität beraubt und auf sich selbst zurückgeworfen. Was sind dann noch die Maßstäbe seines Verhaltens in der Welt, wenn sein Verhältnis zur Welt ausschließlich auf die eigene schöpferische Leistung reduziert wird? Bei Kant, dessen Abhängigkeit von Rous­ seau feststeht, sind es die Kategorien des Verstandes - doch mit wel­ chem Recht? Fichte, der den Rousseauismus in konsequenter Weise

Rousseau

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fortdenkt, lässt schon das Nicht-Ich, also die objektive Welt, vom Ich gesetzt werden; und dieses Ich Fichtes ist reine Tathandlung, nichts sonst. Ein inhaltsleerer Aktivismus zeichnet sich hier ab, der sich von da bis zum Existenzialismus in gerader Linie fortsetzt. Da heißt es bei Fichte: »Das Ich ist frei, indem und dadurch, dass es sich freisetzt, sich befreit. Und es setzt sich frei, oder befreit sich, indem es frei ist. Bestimmung und Sein sind eins; Handelndes und Behan­ deltes sind eins; eben, indem das Ich sich zum Handeln bestimmt, handelt es in diesem Bestimmen; und indem es handelt, bestimmt es sich.« 42 Das klingt höchst abstrakt, aber die Konsequenzen sind unschwer zu erkennen. >Der Mensch schafft sich selbstGedanken< und >Sensationen< bestimme ich sie konkret als >Körper< und >Seele< gleich mir, d. h. als >DuWille< Fichtes wird zum konkret praktisch wirkenden Gefühl, zur >LiebeRelations of ideas< and >Matters of fact

Ich). Als Inhalt des

Grundsatzes ist gegeben ein Nichtich überhaupt, als möglicher Inhalt eines Grundsatzes überhaupt« (ebd.). Mit spinozistischer Konsequenz macht Schel­ ling die Negation zum Vehikel der Deduktion des Nicht-Ich, so wie die Negation bei Spinoza die Attribute und Modi an der Substanz zu unterschei­ den gestattet und diese damit aus der intensionalen Einheit des Ganzen in die extensionale Mannigfaltigkeit ihrer Affektionen überführt.

19 F. W. J. Schelling, Vom Ich als Prinzip der Philosophie (1795), in: Sämmtliche Werke, a.a.O„ Bd. I, S. 149 ff., hier: S. 168.

406

Der transzendentale Idealismus

allem Objekt entgegengesetzt ist, alles Objekt ausschließt.«20 Dieses absolute Ich muss demgemäß von jedem denkenden, das heißt Ob­ jekte habenden Ich wesentlich ·verschieden sein, da das Objekte ha­ bende, denkende Ich als solches schon ein Gesetztes, nicht ein Setzen­ des ist. Das absolute Ich kann nur als reines Setzen aufgefasst werden, als actus purus, welches der ontologische Titel für Gott war. Gott aber wäre in der theoretischen Philosophie nur als deren Objekt be­ stimmt, und mithin gerade das Gegenteil dessen, als was er begriffen werden sollte.21 Eine theologische Interpretation des absoluten Ich bleibt folglich ausgeschlossen. Doch gerade darum schwankt die Vor­ stellung des absoluten Ich auf eine merkwürdig unentschiedene Weise zwischen der Undenkbarkeit eines universell gemeinten »ganz An­ deren« und dem Solipsismus eines Ich, das allein ich selbst bin. Der Schritt über die Fichtesche Position hinaus ist bereits in dem Übergang vom gesetzten Objekt zum reinen Setzen angelegt. Ist nämlich das reine Setzen verschieden von der Subjekthaftigkeit des Subjekts, die ja korrelativ zur Objekthaftigkeit des Objekts ist - und das Subjekt selbst existiert ja als gesetztes auch immer nur in objekt­ hafter Weise-, so muss der Unterschied des Absoluten vom Objekt, des Setzens vom Gesetzten in diesem selbst erscheinen. Nun ist je­ doch das Gegebene das Gesetzte - und zwar total: Die Natur (oder alles, was ist) erscheint, insofern sie ist, als Gesetztes; als gesetzte Natur jedoch verweist sie auf ein Setzendes, das von ihr nicht ver­ schieden sein darf, sonst wäre es ja, bezogen auf ein Gesetztes, auch wiederum nur ein Gesetztes, Bedingtes. Das Unbedingte kann also nur die gesetzte Natur sein, insofern sie sich selbst setzt. »Nur das, was durch sich selbst ist, gibt sich selbst die Form der Identität, denn nur das, was schlechthin ist, weil es ist, ist seinem Seyn selbst nach durch Identität, das heißt durch sich selbst bedingt; da hingegen die Existenz jedes andern Existierenden nicht bloß durch seine Identität, sondern durch etwas außer derselben bestimmt ist.«22 Der Unter-

20 21

Ebd„ S. 169. Ebd„ S. 168, Anm. I. - Darum weist Schelling hier auch Spinozas Substanz­ Begriff ab: »Auch Spinoza hat nirgends bewiesen, daß das Unbedingte im Nicht-Ich liegen könne und liegen müsse; vielmehr setzt er, nur durch seinen Begriff des Absoluten geleitet, dieses geradezu in ein absolutes Objekt, gleichsam als ob er voraussetzte, daß jeder, der ihm nur einmal den Begriff des Unbedingten eingeräumt hätte, ihm darin von selbst folgen würde, daß es nothwendig in ein Nicht-Ich gesetzt werden müsse« ( ebd„ S. 171 ) .

22

Ebd„ S. 178.

Natur und schöpferischer Geist

407

schied zwischen Gesetztem und Setzendem ist also ein Selbstunter­ schied der Natur: Diese ist als natura naturans zugleich natura natu­

rata, und sie wird als natura naturata zugleich als natura naturans gedacht.21 Schellings Abwendung vom cartesisch-kantisch-fichteschen Stand­ punkt des »reinen Ich« lässt sich an der Konstruktion des Begriffs der Natur als einer in sich selbst unterschiedenen ablesen. Wir folgen seiner Argumentation: »Da alles, von dem man sagen kann, daß es ist, bedingter Natur ist, so kann nur das Seyn selbst das Unbedingte sein. Aber da das ein­ zelne Seyn als ein bedingtes sich nur als bestimmte Einschränkung der produktiven Thätigkeit (des einzigen und letzten Substrats aller Realität) denken läßt, so ist das Seyn selbst dieselbe produktive Thä­ tigkeit in ihrer Uneingeschränktheit gedacht.«24 Dieses Sein könnte durchaus noch als das Sein des Ich, welches das cogito in sich findet, begriffen werden. Mit dem cogito sind aber dessen Objekte gesetzt keine cogitatio ohne cogitata.25 Nur von den Objekten her wird re­ duktiv das reine cogito »ausgefällt«, es bleibt übrig als die Fähigkeit, alle möglichen Objekte zu denken. So kann im cogito das Absolute nicht gefunden werden, es ist selbst unter die Objektivität subsumiert - und so ist von den Objek­ ten, von allen Objekten auszugehen. »Insofern wir das Ganze der Objekte nur als den Inbegriff des Seyns kennen, ist uns dieses Ganze als eine bloße Welt, das heißt ein bloßes Produkt.«26 Das Produkt in­ dessen ist Resultat eines Produzierens. Wie wir gesehen haben, kann das absolute Produzieren von seinem Produkt nicht verschieden, son­ dern nur unterschieden sein. Genauer noch: der Unterschied muss im Absoluten selbst liegen, Selbstunterschied oder Identität des Nicht­ Identischen. »Insofern wir das Ganze der Objekte nicht bloß als Pro­ dukt, sondern nothwendig zugleich als produktiv setzen, erhebt es sich für uns zur Natur, und diese Identität des Produkts und der Pro­

duktivität, und nichts anderes, ist selbst im gemeinen Sprachgebrauch durch den Begriff der Natur bezeichnet. Die Natur als bloßes Produkt

23

Ontologisch geht die natura naturata aus der natura naturans hervor, gno­ seologisch entwickeln wir die Idee der natura naturans aus der Gegebenheit der natura naturata.

24

F. W. J. Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphi­ losophie (1799), in: a.a.O„ Bd. III, S. 269 ff„ hier: S. 283.

25

Vgl. R. Winter, Gegenstand und Identität, Diss. Marburg/Lahn 1980.

26

F. W. J. Schelling, Sämmtliche Werke, a.a. 0„ Bd. III, S. 284.

408

Der transzendentale Idealismus

(natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (und auf diese allein geht alle Theorie). Da das Objekt nie unbedingt ist, so muss etwas schlechthin Nichtobjektives in die Natur gesetzt werden, dieses absolut Nichtobjektive ist eben jene ursprüngliche Produktivität der Natur. Jene Identität der Pro­ duktivität und des Produkts im ursprünglichen Begriff der Natur wird ausgedrückt durch die gewöhnlichen Ansichten der Natur als eines Ganzen, das von sich selbst die Ursache zugleich und die Wirkung und in seiner (durch alle Erscheinungen hindurchgehenden) Dupli­ zität wieder identisch ist.«27 Der Begriff einer Natur im Selbstunterschied denkt Natur als selbstbezüglich oder reflexiv. Damit ist der Naturbegriff seiner Form­ bestimmtheit nach als dialektisch ausgewiesen. Die Erfüllung dieser Form mit den Inhalten der Erfahrung ist die Aufgabe einer Philo­ sophie der Natur, von der verlangt wird, sie »solle die Möglichkeit einer Natur das heißt der gesamten Erfahrungswelt aus Principien ableiten.«28 Dies kann ebenso spinozistisch wie kantianisch verstanden werden, als allgemeine Ontologie oder als transzendentale Erkennt­ niskritik. Schelling macht jedoch sogleich deutlich, dass es ihm um die Totalität und Einheit der wirklichen Welt, nicht bloß unserer Vor­ stellungen geht. »Die Naturphilosophie als das Entgegengesetzte der Transcendentalphilosophie ist von der letzteren hauptsächlich da­ durch geschieden, daß sie die Natur (nicht zwar insofern sie Pro­ dukt, aber insofern sie produktiv zugleich und Produkt ist) als das Selbständige setzt, daher sie am kürzesten als der Spinozismus der Physik bezeichnet werden kann.«29 Das ist eine deutliche Absage an Kant und Fichte, eine Rückwendung zur Realphilosophie mit dem Ziele, in der Realität selbst die ideale Ordnung aufzufinden, derge­ stalt, »daß also das Ideelle auch hinwiederum aus dem Reellen ent­ springen und aus ihm erklärt werden muß.«30 Die Einheit von Produktivität und Produkt erfahren wir an uns selbst: Als natürliches Lebewesen bin ich bedingtes und gesetztes Sein; auch als intelligible Person, die in ihrer Identität beharrt, bin

27

Ebd.

28

F. W. J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797), a. a. O„ Bd. II, S. 11 ff„ hier: S. II.

29

A. a. O„ Bd. III, S. 273.

30

Ebd„ S. 272.

Natur und schöpferischer Geist

409

ich gesetzt. Indessen erfahren wir uns zugleich als Subjekte, spontan, frei, tätig. Und dass wir gesetzt sind, vermögen wir wiederum zum Gegenstand unserer Denk-Tätigkeit zu machen, wir verhalten uns zu uns selbst als Naturwesen reflexiv. »Sobald der Mensch sich selbst mit der äußeren Welt in Widerspruch setzt, ist der erste Schritt zur Philosophie geschehen. Mit jener Trennung zuerst beginnt Reflexion; von nun an trennt er, was die Natur auf immer vereinigt hatte, trennt den Gegenstand von der Anschauung, den Begriff vom Bilde, endlich (indem er sein eigenes

Objekt

wird) sich selbst von sich selbst.«31

Die Reflexion offenbart uns die Entzweiung von Produktivität und Produkt an uns selbst. Aber sie kann diese Entzweiung nicht aufhe­ ben - es sei denn um den Preis der Aufhebung der ganzen Welt. Denn das individuelle Ich, dessen ich mir im

cogito

bewusst werde, ist als

ein besonderes stets auch ein bedingtes und gesetztes; es müsste sich denn solipsistisch zum Ganzen machen, wollte es sich als Produkt einer eigenen unbedingten Produktivität setzen.32 So setzt jede Refle­ xion den Gegenstand voraus, auf den sie sich bezieht; das Denken kann die Objekte (in Bezug auf die es doch erst Denken sein kann) so wenig erzeugen, wie Münchhausen sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpfe hätte ziehen können; die Reflexionsphilosophie im­ pliziert per

definitionem

die Trennung von Subjekt und Objekt, die

Entzweiung von Mensch und Natur.13 Eine erkenntniskritische Philo-

31

A.a.O„ Bd. II, S. 13.

32

Dies ist die Konsequenz aus Fichte, die Jean Paul Sartre mit aller Radikalität wieder aufgenommen hat, wenn er sagt: der Mensch schafft sich selbst. Vgl. H. H. Holz, Jean Paul

33

Sartre, Meisenheim/Glan 1951.

Wie nahe der junge Schelling dabei an das Marxsche Problem der Aufhebung der Philosophie in der Praxis kommt, zeigen die folgenden Formulierungen: »Das Wesen des Menschen ist Handeln

(„.) Sobald er sich selbst zum Objekt

macht, handelt nicht mehr der ganze Mensch, er hat einen T heil seiner T hä­ tigkeit aufgehoben, um über den anderen reflektieren zu können.« Im Handeln waren Gegenstand und Vorstellung noch zur Einheit zusammengeschlossen, mit dem Übergang zur Reflexion fallen sie auseinander. Die Aufgabe der Philosophie ist es dann, diese Spaltung wieder aufzuheben: »Darum eignet sie der Reflexion nur

negativen Werth zu. Sie geht von jener ursprünglichen Freiheit wieder zu vereinigen, was im menschlichen Geiste ursprünglich und nothwendig vereinigt war, d. h. um jene Trennung

Trennung aus, um durch

auf immer aufzuheben. Und da sie, inwieweit sie selbst nur durch jene Tren­ nung nothwendig gemacht - selbst nur ein nothwendiges Übel - eine Disci­ plin der verirrten Vernunft war - so arbeitet sie in diesem Betracht zu ihrer eigenen Vernichtung.« F. W. J. Schelling,

Sämmtliche Werke, a.a. 0„ Bd. II,

S. 13 f. - Zum Prinzip der Aufhebung der Philosophie durch ihre Verwirk-

410

Der transzendentale Idealismus

sophie, die diese Entzweiung im Dualismus von Ding an sich und Erscheinung, von Noumenon und Phaenomenon verewigt, kann ge­ rade nicht zu einem einheitlichen Prinzip von Natur und Mensch, von Objekt und Subjekt gelangen. Sie wagt es nicht, den nächsten Schritt zu tun und den naiven Realismus des Alltagsverstandes nach Durchlaufen der kritischen Reflexion zu restituieren. Diesen Schritt will die Naturphilosophie Schellings leisten: »Nun haben wir aber ausdrücklich Dinge als unabhängig von uns gesetzt. Uns dagegen fühlen wir als abhängig von den Gegenständen. Denn unsere Vor­ stellung ist selbst nur reell, insofern wir genöthigt sind, zwischen ihr und den Dingen Übereinstimmung anzunehmen. Also können wir die Dinge nicht zu Wirkungen unserer Vorstellungen machen. Es bleibt daher nichts übrig, als die Vorstellungen von den Dingen abhängig zu machen, diese als Ursachen, jene als Wirkungen zu betrachten.«14 Der realistische Ansatz ist beachtlich. Nun liefern uns aber die Vorstellungen nur eine unendliche Vielheit von Dingen, allerdings in einer Ordnung der Koexistenz und Sukzession, für die nach dem Gesagten auch zu gelten hat: ihr »Grund muß also in den Dingen liegen.«35 Die Vorstellung fasst jedoch die Einheit, die das Prinzip dieser Ordnung sein müsste, im Gegensatz zur Vielheit; Einheit ist unterschieden von der Mannigfaltigkeit, sie wird als homogen ge­ dacht. In einer homogenen Materie findet sich indessen kein Grund, warum diese an einer Stelle anders beschaffen sein solle als an einer anderen; die qualitativ verschiedene Vielheit (Quantität) wird so nicht deduzierbar. Darum muss die Materie aus einem aktiven, ihr inne­ wohnenden und sie ausmachenden Moment begriffen werden, näm­ lich als Kraft, und dies ist der letzte metaphysische Terminus, zu dem die Philosophie vordringen kann: »Allein von Einwirkungen, wodurch Kräfte eingepflanzt werden, habt ihr keinen Begriff. Ihr wißt nur, wie Materie, das heißt selbst Kraft gegen Kraft wirkt; und

lichung in der Praxis des Proletariats kommt allerdings erst Marx, weil er das Handeln des Menschen als Arbeit, als Produktion zur Reproduktion seines Lebens, als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur in der F orm der Öko­ nomie begreifen kann. Menschliche Geschichte ist die aus der Natur (und ihrer Geschichte) entspringende Entgegensetzung des Menschen gegen die Natur, die doch selbst immer innerhalb der Gattungsallgemeinheit der Natur geschieht. Vgl. hierzu G. Harmsen, Natuur, geschiedenis, filosofie, Nijmegen 1974. 34 F. W. J. Schelling, Sämmtliche Werke, a. a. 0., Bd. II, S. 16. 35 Ebd., S. 30.

Natur und schöpferischer Geist

411

wie auf etwas, das ursprünglich nicht Kraft ist, gewirkt werden könne, begreifen wir gar nicht (...) Also könnt ihr Materie ohne Kraft gar nicht denken.«36 Nicht von außen, durch einen transzendenten Ein­ fluss, kommt die Bewegtheit und damit die Differenzierung zur Vielheit in die Materie hinein, sondern diese selbst ist nichts anderes als eben das aktive Prinzip der Natur. Schon Leibniz hat gegen Des­ cartes eingewandt, die physikalische Wirklichkeit könne nicht erklärt werden, wenn man die materielle Substanz auf das Merkmal der Aus­ dehnung reduziere; es bedürfe vielmehr des Begriffs der Kraft - und das sei ein metaphysischer Begriff.37 Indem Schelling seine Konzeption der Natur auf eine aktive, mit Kraft ausgestattete und als Kraft sich verwirklichende Materie grün­ det, knüpft er an die Tradition der Leibnizschen Metaphysik an, die durch Kants Kritik verschüttet worden war. Er ist sich dessen auch durchaus bewusst, wie die programmatische Äußerung über die Ak­ tualität von Leibniz zeigt: »Die Zeit ist gekommen, da man seine Phi­ losophie wiederherstellen kann.«18 Von da an sind die Bezugnahmen auf Leibniz in Schellings Naturphilosophie häufig, eine Tradition wird aufgenommen, in der Lessing, Herder und Goethe standen und aus der Schelling später sich - in ausdrücklicher Wendung gegen Spinoza und Leibniz - wieder ausgrenzte.19 Diese spätere Wendung braucht uns hier nicht zu interessieren; auch nicht, in welchem Zusammenhang sie mit dem Seinsbegriff steht, der in der Philosophie der Offenbarung leitend wird und der ein (par­ tiell legitimes, obschon ins T heologische gewendetes) Interesse an der Unmittelbarkeit gegen die Hegelsche Grundkategorie der »Vermitt­ lung« (und damit auch gegen die Leibnizsche harmonie universelle)

36 37

Ebd., S. 23. G. W. Leibniz, z.B. Discours de Metaphysique, cap. 18, in: Kleine Schriften zur Metaphysik, a. a.O., S. 108 f.

38

F. W. J. Schelling, Sämmtliche Werke, a. a.O„ Bd. II, S. 20. Hier auch die scharfe Kritik an Kants Missinterpretation der Leibnizschen Philosophie: »Doppelt unerträglich ist es daher, daß man jetzt erst für seine Philosophie die rechten Worte gefunden haben will, und daß die Kantische Schule ihm ihre Erdichtungen aufdringt - ihn Dinge sagen läßt, von denen allen er gerade das Gegentheil gelehrt hat.«

39 Vgl. H. H. Holz, Schelling über Leibniz, in: Deutsche Zeitschrift für Phi­ losophie, Jg. 2 (1954), Heft 4, S. 755 ff. An derBestimmung des eigenen Ver­ hältnisses zur Leibniz-Tradition ließe sich der Bruch in Schellings philoso­ phisch-weltanschaulicher Position exemplifizieren und als in der Tat einBruch, wenn auch nicht übergangslos zustande gekommen, aufzeigen.

412

Der transzendentale Idealismus

artikuliert.40 Hier kommt es uns vielmehr darauf an zu sehen, aus welchen theoretischen Quellen und aus welcher Problemauffassung die dialektische Naturphilosophie Schellings entspringt.'' Leibniz hat (mit dem naturwissenschaftlichen Materialismus seiner Zeit) darauf bestanden, dass physikalische Sachverhalte, die sich letzt­ lich auf Bewegungen zurückführen lassen,42 nur auf physikalische, das heißt mechanische Weise erklärt werden dürfen, wenn auch die Mechanik selbst nicht mit dem Instrumentarium der Mechanik be­ gründet werden könne.41 Indessen hat er zugleich geltend gemacht, dass die Ausdehnung allein und die nur auf sie bezogene Bewegung zur Erklärung der qualitativen Mannigfaltigkeit nicht ausreichen, und dass die Ausdehnung selbst als Aktion (das Wort als ein nomen actionis) verstanden werden müsse.44 Die Aktion beruht aber auf einem

40 Vgl. F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, SW Bd. XIII u. XIV. Die Existenz-Frage des späten Schelling hat E. Bloch, Subjekt - Objekt, in: Werke, Bd. 6, Frankfurt/Main 1962, S. 395 ff„ als eine zwar auf Abwege führende, aber doch berechtigterweise eine, von Hegel beiseite geschobene, Problema­ tik aufgreifende Reaktion auf Hegel zu begreifen versucht. - Dass Heideggers Seins-Philosophie aus Schelling schöpft, macht die Lektüre die Philosophie der Offenbarung deutlich - ohne die Wendung gegen Hegels Panlogismus als einen verborgenen (und theologisch versteckten) materialistischen Denkanstoß kenntlich zu machen, als welcher er bei Schelling (malgre lui) dechiffriert werden kann - so z. B. in dem Programm, man habe »von dem absolut außer dem Denken befindlichen Seyn auszugehen « (F. W. J. Schelling, Sämmtliche Werke, a. a. 0„ Bd. XIII, S. 127). 41 In Schellings Problemexposition scheint mir ein Hinweis auf Erfordernisse zu liegen, denen eine Dialektik der Natur zu genügen hat. 42 G. W. Leibniz, Entwürfe zu einem Buch über die Naturwissenschaft, deutsch von Wolf von Engelhardt, in: Schöpferische Vernunft, Münster/Köln 19552, S. 324: »Am Körper aber kann, solange allein die Materie betrachtet wird, oder das, was den Raum ausfüllt, nichts anderes auf deutliche Weise begriffen werden als Größe und Gestalt, die beide im Prinzip des Raumes enthalten sind, und die Bewegung, die die Veränderung des Raumes ist. Deshalb kann, was materiell ist, durch Größe, Gestalt und Bewegung erklärt werden. « 43 G. W. Leibniz, Specimen dynamicum, deutsch von A. Buchenau, in: Haupt­ schriften zur Grundlegung der Philosophie, Hamburg 1904 (1966' ), S. 256 ff. Hier S. 271: »(„.) daß man die Möglichkeit, alle körperlichen Erscheinungen von mechanisch wirkenden Ursachen herzuleiten, anerkennt, zugleich aber einsieht, daß die mechanischen Gesetze selbst, in ihrer Allgemeinheit, aus höheren Gründen herstammen („.)« 44 G. W. Leibniz, Gegen Descartes, deutsch a. a. O„ S. 329 ff„ hier 333 und 331: »(„.) daß es unter der Voraussetzung durchgehender Raumerfüllung unmög­ lich wäre, irgendeine Veränderung wahrzunehmen, wenn in der Materie nichts anderes vorhanden wäre als die Masse selbst und die wechselseitige Ver-

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Moment des Aktiven (der Aktivität), durch das erst das Seiende kon­ stituiert wird und das, da es prinzipiell unendlich wie die Gesamt­ heit alles Seienden sein müsste und folglich keine Verschiedenheit an sich selbst hervorbrächte, jeweils durch ein ihm entgegengesetzt wir­ kendes aktives Moment des Widerstandes gehemmt sein muss, wenn es die Besonderheit eines bestimmten Seienden bedingen soll. Beide Momente - das der Aktivität (als Prinzip der Veränderung) und das der Widerständigkeit (als Prinzip der Beharrung) sind für Leibniz nur Arten ein und desselben »ursprünglichen inneren Prinzips«,45 eben der Kraft, die als ·vis activa und vis passiva Tätigkeit und Hemmung ist. Nun hat Josef König gezeigt, dass der Leibnische Begriff der Kraft, »als das Prinzip des Handelns und des Leidens«," das von Hegel explizierte Grundverhältnis einer dialektischen Logik aus­ drückt, nämlich »das übergreifende Allgemeine ist.«47 Die Leibniz­ sche Idee der Natur ist also dadurch gekennzeichnet, dass »die Natur als das Prinzip der Bewegung und Ruhe definiert« ist und »daß jeder Körper eine bewegende Kraft, ja eine innerliche, wirkliche Bewegung schon vom Ursprunge der Dinge an in sich enthält.